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Teil 1
Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus
Volkswirtschaftslehre Das internationale Standardwerk der Makro- u...
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Teil 1
Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus
Volkswirtschaftslehre Das internationale Standardwerk der Makro- und Mikroökonomie Übersetzung aus dem Amerikanischen von Regina Berger, Annemarie Pumpernig und Brigitte Hilgner
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Teil 1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-636-03112-9 (Studienausgabe) ISBN 978-3-636-03113-6 (Premiumausgabe)
3., aktualisierte Auflage 2007
© 2005 by mi-Fachverlag, Redline GmbH, Landsberg am Lech. Ein Unternehmen von Süddeutscher Verlag | Mediengruppe.
© der Originalausgabe 2005 by McGraw-Hill/Irwin, New York Die englische Originalausgabe erschien 2005 bei McGraw-Hill unter dem Titel Economics.
Übersetzung: Regina Berger, Annemarie Pumpernig und Brigitte Hilgner, Wien Redaktion: Jan W. Haas, Berlin Lektorat: Michael Schickerling, Landsberg am Lech Umschlaggestaltung: Jarzina Kommunikations-Design, Köln Satz: Jürgen Echter, Landsberg am Lech Druck: Verlagsdruckerei Kessler, Bobingen Printed in Germany
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Für den Studenten: Volkswirtschaftslehre und Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1
Die Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Kapitel 1 Anhang 1 Kapitel 2 Kapitel 3
Die Grundlagen der Volkswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramme richtig lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markt und Staat in der modernen Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gundelemente von Angebot und Nachfrage. . . . . . . . . . . . . . . .
19 39 49 79
Teil 2
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte . . . .
101
Kapitel 4
Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11
Anwendungsmöglichkeiten der Angebotsund Nachfrageanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachfrage und Konsumverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geometrische Analyse des Konsumentengleichgewichts . . . . . . . . . Produktion und ihre Organisation im Unternehmen . . . . . . . . . . . . Kostenanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktion, Kostentheorie und Entscheidungsprozesse in Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Marktes bei vollkommenen Wettbewerbs . . . . . . . . . . . Unvollständiger Wettbewerb und Monopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oligopol und monopolistischer Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unsicherheit und Spieltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil 3
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Anhang 14
Wie Märkte die Einkommen bestimmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Arbeitsmarkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boden und Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327 351 381 406
Kapitel 5 Anhang 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Anhang 7
103 129 209 161 185 209 217 245 269 297
4 Teil 4 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19
Teil 5
Inhaltsverzeichnis
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . .
417
Komparativer Vorteil und Protektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuern und Staatsausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie werden Märkte effizienter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419 455 487 517 547
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen . . . . . . . . . . . . . . .
575
Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26
Makroökonomie im Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtwirtschaftliche Daten für die USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Messen wirtschaftlicher Aktivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsum und Investitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Multiplikatormodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzmärkte und der Sonderfall Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentralbank und Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
659 679 707 745
Teil 6
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft . . . . . . . . . . . .
775
Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30
Der Prozess des Wirtschaftswachstums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . Wechselkurse und das internationale Währungssystem . . . . . . . . . . Offene Volkswirtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
777 807 837 865
Teil 7
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . .
897
Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34
Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots . . . . . . . Die Sicherung der Preisstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie . . . . . Wachstums- und Stabilitätspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
899 929 961 989
Kapitel 20 Anhang 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23
577 601 603 633
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021 Wörterbuch englisch – deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093 Autoreninformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103
Vorwort
Das 20. Jahrhundert war in vielen Teilen der Welt durch einen rasanten Anstieg des Lebensstandards gekennzeichnet, von dem insbesondere die reichen Länder Nordamerikas, Westeuropas und Ostasiens profitierten. Und nun beschäftigt uns die Frage: Bringt das 21. Jahrhundert eine Neuauflage der Erfolge des vergangenen Jahrhunderts? Wird der Wohlstand der Privilegierten sich auf die breite Masse in den armen Entwicklungsländern übertragen? Oder werden die apokalyptischen Reiter – Hunger, Krieg und Seuchen – Afrika weiter fest im Griff halten und vielleicht zu weiteren verheerenden Angriffen ansetzen? Die Antworten auf diese Fragen hängen weitgehend vom wirtschaftlichen Erfolg der Staaten ab, von dem, was sie im Hinblick auf Bildung, Investitionen und Außenhandel sowie im Gesundheitswesen zuwege bringen.
Die wachsende Bedeutung der Märkte In den letzten 25 Jahren hat sich die Einstellung der Menschen ebenso drastisch geändert wie das Szenario der wirtschaftlichen Institutionen. Dutzende Staaten verabschiedeten sich von ihren sozialistischen und kollektivistischen Systemen und setzten stattdessen auf die Marktwirtschaft. So unterschiedliche Länder wie Irland, Botswana und die Philippinen erzielten ein starkes Wirtschaftswachstum. Zu keiner Zeit in der Geschichte konnten so viele Menschen eine so
nachhaltige Periode wirtschaftlicher Prosperität genießen wie in den letzten 50 Jahren. Man könnte vermuten, dass mit zunehmendem wirtschaftlichem Erfolg das Interesse an ökonomischen Fragen abebben würde, doch paradoxerweise ist heute das Verständnis der dauerhaften Wahrheiten, welche die Ökonomie bereithält, für das Leben des Einzelnen und ganzer Nationen wichtiger denn je. In den Vereinigten Staaten kam der Lebensstandard zuletzt zwar nicht so recht vom Fleck, doch das Produktivitätswachstum konnte in den vergangenen zehn Jahren wieder enorm aufholen, sodass in den USA heute eine Kombination aus rapidem Produktionswachstum und rückläufigen Erwerbstätigenzahlen herrscht. Betrachtet man das größere Bild, so ist die Welt enger zusammengerückt, gekittet durch Computer und Kommunikationssysteme, die einen immer stärker ausgeprägten globalen Wettbewerbsmarkt mit sich bringen. Schwellenländer wie China, Indien und Russland – drei Giganten, die bis vor kurzem bewusst auf zentrale Planung setzten – benötigen heute eine profunde Kenntnis der Institutionen einer Marktwirtschaft, wollen sie zum Lebensstandard der Reichen aufschließen. Zugleich wächst die Sorge um den Zustand unserer Umwelt weltweit, und die Notwendigkeit, Abkommen zum Schutz und zur Bewahrung unseres kostbaren natürlichen Erbes zu treffen, wird zunehmend erkannt. Alle diese faszinierenden Entwicklungen fließen in das moderne Drama, das wir Ökonomie nennen, ein.
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Die Wiedergeburt der Volkswirtschaftslehre Seit über einem halben Jahrhundert dient dieses Buch nun schon als Standardlehrbuch, das Studenten in den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt in die Volkswirtschaftslehre einführt. Jede neue Auflage filtert erneut das Beste aus den Konzepten der großen Ökonomen heraus, die sich Gedanken über die Funktionsweise der Märkte und gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten auf den Lebensstandard der Menschen machen. Die Volkswirtschaftslehre hat sich seit der ersten Ausgabe im Jahr 1948 grundlegend verändert. Und gerade weil die Wirtschaftswissenschaft vor allem ein lebendiger und in Entwicklung begriffener Organismus ist, entsteht Volkswirtschaftslehre mit jeder neuen Auflage neu, wobei den Autoren die anspruchsvolle Aufgabe zukommt, die jüngsten Ideen der modernen Ökonomen vorzustellen und zu zeigen, wie dieser Lehrgegenstand zur weltweiten Wohlstandsmehrung beitragen kann. Wir stehen dabei vor folgender Frage: Wie können wir Ihnen eine möglichst klare, präzise und zugleich interessante Einführung in die Grundsätze der modernen Volkswirtschaftslehre und in die Institutionen des amerikanischen und weltweiten Wirtschaftsgefüges bieten? Unser vorrangiges Ziel ist es, die volkswirtschaftlichen Entwicklungen zu verfolgen und auf die den jeweiligen Tendenzen zugrunde liegenden Prinzipien hinzuweisen, die weit über die Schlagzeilen des Tages hinaus Bestand haben.
Die 18. Auflage Volkswirtschaft ist eine dynamische Wissenschaft – in ihrem Wandel spiegeln sich die wechselnden Trends der Wirtschaftspolitik, Umwelt, Weltwirtschaft und der Gesamtgesellschaft. Ebenso wie die Wirtschaft und unsere Umwelt entwickelt sich auch dieses Buch, dessen neueste Auflage durch folgende sieben Merkmale gekennzeichnet ist:
Vorwort
1. Die Kernthesen der Volkswirtschaftslehre. Häufig erscheint uns die Ökonomie als eine endlose Abfolge immer neuer Rätsel, Probleme und Dilemmata. Doch es gibt, wie erfahrene Dozenten mittlerweile wissen, einige wenige Konzepte, die jedem wirtschaftlichen Geschehen zugrunde liegen. Kennt man diese Grundkonzepte, scheint man plötzlich schneller zu lernen, und das mit bedeutend mehr Spaß. Wir haben daher beschlossen, uns auf die Kernthesen der Volkswirtschaftslehre zu konzentrieren – auf jene dauerhaften Wahrheiten, die im neuen Jahrhundert dieselbe Bedeutung haben werden wie im alten. Mikroökonomische Konzepte wie Knappheit, Effizienz, der Nutzen der Spezialisierung und das Prinzip des komparativen Vorteils werden Bestand haben, solange die Knappheit von Gütern selbst bestehen bleibt. Darüber hinaus benötigen Studenten der Makroökonomie eine solide Wissensgrundlage in den Fragen des gesamtwirtschaftlichen Angebots und der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, und sie müssen die Rolle der nationalen und internationalen Währungen verstehen. Die Leser dieses Buches werden die weithin anerkannten Theorien des Wirtschaftswachstums kennen lernen, sollten aber auch Einblick in die widerstreitenden Konjunkturtheorien erhalten. 2. Innovation in der Volkswirtschaftslehre. Die Wirtschaftswissenschaften haben in ihrem Verständnis der Rolle der Innovationen große Fortschritte erzielt. Wir sind bereits an die schwindelerregenden Veränderungen auf dem Computersektor gewöhnt, wo Monat für Monat neue Produkte und Programme auf den Markt kommen. Das Internet hat unsere Kommunikation revolutioniert und spielt eine immer größere Rolle in der Produktwerbung. Wir möchten aber auch auf die Bedeutung der Innovation in der Volkswirtschaftslehre selbst hinweisen. Ökonomen sind auf ihre Weise ebenfalls Tüftler, Neuerer und Erfinder. Die Geschichte zeigt, dass volkswirtschaftliche Ideen, sobald man sie auf reale Probleme anwendet, enorme Umwälzungen
Vorwort
auslösen können. Zu den bedeutendsten Innovationen, die wir auf diesem Gebiet beobachten, gehört die Anwendung der Ökonomie auf umweltpolitische Probleme mit dem so genannten „Emissionshandel“. Andere wichtige ökonomische Neuerungen, die in diesem Buch besprochen werden, sind verbesserte regulatorische Mechanismen und der radikale neue Schritt der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung. Eine der einflussreichsten wirtschaftlichen Innovationen der letzten Jahre ist die Messung der Verbraucherpreise. Wir erklären, welche Auswirkungen die Verhaltensökonomie auf die Konsumtheorie hat. Erläutert wird auch die Netzwerkökonomie, und wir beschreiben, welchen Einfluss sie auf die wirtschaftliche Effizienz und Marktmacht sowie auf die Debatte darüber hat, wie man etwa dem monopolistischen Verhalten von Microsoft begegnen sollte. Eine der für unsere gemeinsame Zukunft wichtigsten Innovationen ist der Umgang mit globalen öffentlichen Gütern, etwa im Zusammenhang mit dem Klimawandel, und wir analysieren neue Ansätze zur Bekämpfung internationaler Umweltprobleme, darunter das Kyoto-Protokoll. 3. Small is Beautiful. Die Themen der Ökonomie haben sich in den letzten 50 Jahren deutlich erweitert. Immer noch weht die Fahne der Volkswirtschaftslehre über ihrem traditionellen Reich, dem Markt, aber sie deckt mittlerweile auch die Bereiche Umwelt, Rechtswissenschaften, statistische und historische Methoden, Kunst, geschlechtsspezifische und Rassendiskriminierung, ja sogar die Familie ab. In ihrem Kern jedoch bleibt Ökonomie die Wissenschaft von der Entscheidungsfreiheit, und das bedeutet für uns, die Autoren, dass wir für dieses Buch die wichtigsten und beständigsten Themen auswählen mussten. Mit einem Überblick über die volkswirtschaftlichen Strömungen ist es wie mit einer Mahlzeit: Small is beautiful – kleine Portionen verdaut man einfach besser. Die Auswahl der Themen für dieses Buch hat uns vor viele schwierige Entscheidungen
7 gestellt. Um besser beurteilen zu können, welche Fragen für den informierten Bürger und die neue Ökonomengeneration von Bedeutung sind, befragen wir laufend Lehrkräfte und führende Wissenschaftler. Wir haben sogar eine Liste der wichtigsten Konzepte erstellt und uns von altem Material verabschiedet, wenn es uns als nicht mehr so wichtig oder überholt erschien. In jeder Phase mussten wir uns die Frage stellen, ob das Textmaterial nach unserem besten Wissen und Gewissen unverzichtbar für das Verständnis der Ökonomie des 21. Jahrhunderts ist. Erst wenn wir diese Frage bejahen konnten, fanden Lehrinhalte Eingang in diese Auflage. Das Ergebnis unseres Auswahlprozesses liegt nun in Form dieses Buches vor, das in den letzten beiden Ausgaben mehr als ein Viertel seines Gewichts abgespeckt hat. Landwirtschaft, Gewerkschaften, marxistische Ökonomie, der Trugschluss des fixen Arbeitsangebots (Lump-of-Labor-Fallacy) und Gesundheitsökonomie wurden weggelassen, um Raum für Umweltökonomie, Netzwerkökonomie, die Behandlung des Konjunkturzyklus und Finanzökonomie zu schaffen. 4. Politische Themen im neuen Jahrhundert. Für viele Studenten besteht der Glanz der Ökonomie in ihrer Relevanz für die staatliche Politik. Diese 18. Auflage betont die Rolle des Staates in Mikro- und Makroökonomie. Wenn Gesellschaften wachsen, beginnen sie die Umwelt und die Ökosysteme ihrer natürlichen Umwelt zu überrollen. Die in Kapitel 18 präsentierte Umweltökonomie hilft den Studenten, die Externalitäten wirtschaftlicher Tätigkeiten zu erkennen, während im Anschluss unterschiedliche Ansätze analysiert werden, wie man die von Menschen erschaffenen Wirtschaftssysteme mit den natürlichen Systemen in Einklang bringen könnte. Neue Beispiele – etwa Reformen in der steuerlichen Behandlung von Dividenden, Mindestlöhne, das internationale Outsourcing wirtschaftlicher Tätigkeiten, der Wert von Marken sowie Probleme des Bi-
8 lanzbetrugs – erfüllen die graue volkswirtschaftliche Theorie mit Leben. Ein zweiter Bereich von zentraler Bedeutung ist die Finanz- und Geldwirtschaft. Wir haben uns dem Thema Geldwirtschaft ganz neu gestellt und ein eigenes Kapitel „Finanzmärkte und der Sonderfall Geld“ verfasst. Darin wird die Geldwirtschaft in den größeren Kontext der Finanzwirtschaft gestellt, und das Kapitel befasst sich ebenso wie jenes über die Tätigkeit der Zentralbanken mit der entscheidenden Rolle, die Geld im Konjunkturzyklus spielt. Durch Rückgriffe auf die Geschichte, wirtschaftliche Chroniken und auf die Erfahrung der Autoren können wir auch in der 18. Auflage wieder Fallstudien und empirische Belege zur Illustration volkswirtschaftlicher Theorien anbieten. Das Dilemma der Armutsbekämpfung zeigt sich anhand der Wohlfahrtsreformen des Jahres 1996. Die Notwendigkeit, einen wirtschaftlichen Ansatz in der Umweltpolitik zu finden, wird am Beispiel der globalen Erwärmung illustriert, und unser Verständnis makroökonomischer Analysen verbessert sich zusehends, wenn wir erkennen, wie staatliche Defizite die nationalen Sparguthaben auffressen. 5. Globalisierungsdebatten. Das letzte Jahrzehnt war durch hartnäckige Kämpfe um die Rolle des internationalen Handels in unseren Volkswirtschaften gekennzeichnet. Bisweilen hört man die Behauptung, der Rückgang der Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie der USA sei auf den Export dieser Arbeitsplätze nach Mexiko oder China zurückzuführen, wenngleich eine sorgfältige Analyse der Arbeitsmarkttrends eine solche Behauptung in Frage stellt. Wo auch immer die Gründe dafür liegen mögen, in den USA zeichnet sich seit der Jahrtausendwende ganz eindeutig ein rasches Produktionswachstum ab, das aber mit einem Beschäftigungsrückgang einhergeht. Eine der wichtigsten Debatten der letzten Jahre betraf die „Globalisierung“ rund um die zunehmende wirtschaftliche Integration
Vorwort
verschiedener Länder. Die US-Amerikaner mussten feststellen, dass heute kein Land mehr eine wirtschaftliche Insel ist. Einwanderung und internationaler Handel haben tiefgreifende Auswirkungen auf die angebotenen Güter, auf die Preise, die wir bezahlen, und die Löhne, die wir verdienen. In den USA können terroristische Angriffe der Wirtschaft enormen Schaden zufügen, während in Afrika Kriege zu Hungersnöten führen und auf den Lebensstandard drücken. Niemand kann die Auswirkungen der stetig wachsenden Handels- und Kapitalflüsse verstehen, ohne die Theorie des komparativen Vorteils studiert zu haben. Die 18. Auflage von Volkswirtschaftslehre enthält daher mehr Material über die internationale Wirtschaft und die Wechselwirkungen zwischen internationalem Handel und den binnenwirtschaftlichen Entwicklungen. 6. Die konkurrierenden Schulen der Makroökonomie. Eine der Hauptschwierigkeiten im Verständnis unserer modernen Volkswirtschaften besteht in den unterschiedlichen Ansätzen konkurrierender makroökonomischer Schulen. Häufig müssen sich Dozenten fragen, wie ihre Studenten einen Gegenstand verstehen sollen, dessen Exponenten untereinander so uneinig sind. Doch so abfällig manche Äußerungen über die Zersplitterung der modernen Makroökonomie auch sein mögen – wir halten die herrschende Vielfalt für ein Zeichen von Gesundheit und bevorzugen die lebendige Debatte gegenüber einem selbstzufriedenen, alles überdeckenden Konsens. Die 18. Auflage von Volkswirtschaftslehre analysiert die wichtigsten Schulen der modernen Makroökonomie im Rahmen der Organisationsstruktur von gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und gesamtwirtschaftlichem Angebot. Wir zeigen, wie die Makroökonomie der keynesianischen, der klassischen und neoklassischen sowie der realen Konjunkturtheorie und die verschiedenen monetaristischen Schulen zu verstehen sind, nämlich als Strömungen, die einfach unterschiedliche Aspekte der Erwartungen auf dem Markt, der
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Vorwort
Markträumung und der Gesamtnachfrage auf dem Markt betonen. Jede dieser Schulen wird kurz und prägnant präsentiert und – ohne zu polemisieren – mit der Konkurrenz verglichen. Für jede Theorie werden empirische Belege angeführt und evaluiert. Die wichtigsten Schulen sind in Kapitel 33, „Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie“, dargestellt. Außerdem verweisen wir auf wichtige politische Implikationen der verschiedenen Ansätze. Ökonomen gehen heute vermehrt dazu über, die bestimmenden Faktoren für ein langfristiges Wirtschaftswachstum, die jüngsten Zuwächse im Produktivitätswachstum und die Entwicklung von Innovationen und neuem technologischem Know-how zu untersuchen. Hierbei gilt es, das Wirtschaftswachstum an die Spitze und ins Zentrum unserer Überlegungen zu stellen, um unseren Studenten die moderne Debatte über die Rolle von Staatsverschuldung und Defiziten verständlich zu machen. Die 18. Auflage von Volkswirtschaftslehre stellt sich dieser Aufgabe, indem sie Wachstumstheorien und Daten im zentralen Abschnitt über die Makroökonomie zusammenfasst. 7. Klarheit und Transparenz. Obwohl die vorliegende Auflage von Volkswirtschaftslehre viel Neues enthält, war unser Hauptziel auf dieser Reise durch die Gefilde der Volkswirtschaft eine möglichst klare und transparente Darstellung. Studenten der Wirtschaftswissenschaften unterscheiden sich in ihrem familiären und Bildungshintergrund, und sie kommen mit einer Menge Vorwissen und bestimmten Vorstellungen darüber, wie die Welt funktioniert, in die Hörsäle. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Wertvorstellungen der Studenten zu ändern. Wir bemühen uns, interessierten Studenten ein Verständnis der dauerhaften volkswirtschaftlichen Grundsätze zu vermitteln, die sie so besser anwenden können, um die Welt zu verändern: zu ihrem eigenen Nutzen sowie zu demjenigen ihrer Familien und ihres Umfeldes. Nichts fördert das Verständnis wirtschaftlicher Zusammen-
hänge mehr als eine klare, einfache Darlegung. Wir haben jede einzelne Seite in diesem Buch unter diesem Gesichtspunkt überarbeitet und dazu Tausende von Meinungen und Vorschlägen zahlreicher Lehrkräfte und Studenten eingeholt, die wir nach Möglichkeit berücksichtigt und in diese 18. Auflage haben einfließen lassen.
Freiwillige vor VWL-Kurse können ebenso in Form einer Kurzeinführung von der Dauer eines Trimesters wie in jahrelangen Intensivlehrgängen abgehalten werden. Dieses Buch wurde sehr sorgfältig zusammengestellt, sodass es sich in den unterschiedlichsten Situationen anwenden lässt. Spezifisches Material für Fortgeschrittene wurde in eigene Abschnitte und Kapitel sortiert. Diese sollen neugierige Studenten und die Teilnehmer fortgeschrittener Kurse ansprechen, in denen die gesamte Disziplin gründlich gelehrt wird. Wir haben in den Übungen zu den Kapiteln auch einige schwierigere Fragen angeführt, um besonders Interessierten ein paar harte Nüsse zum Knacken zu geben. Wenn in Ihrem Kurs rasch vorgegangen wird, werden Sie die ausgeklügelte Strukturierung des schwierigeren Materials zu schätzen wissen. In Crashkursen können die Abschnitte für Fortgeschrittene und Interessierte problemlos übersprungen werden, während man sich ganz auf die Kerngebiete der volkswirtschaftlichen Analyse konzentriert, ohne den Faden der ökonomischen Theorien aus den Augen zu verlieren. Dieses Buch stellt selbst für fortgeschrittene junge Wirtschaftswissenschaftler noch so manche Herausforderung dar. Uns liegen Schreiben führender moderner Ökonomen vor, in denen sie uns erklären, auf ihrem gesamten Weg zum Dr. rer.oec. hätten sie sich stets auf Volkswirtschaftslehre verlassen können.
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Das Format In der vorliegenden 18. Auflage wurden wichtige Themen nach Möglichkeit näher illustriert. Unsere Leser stoßen dabei immer wieder auf Warnhinweise für Einsteiger, praktische volkswirtschaftliche Anwendungsbeispiele und biografisches Material über große Ökonomen der Vergangenheit und Gegenwart an. Diese zentralen Themen werden übrigens nicht zusammenhanglos präsentiert, sondern sind in die betreffenden Kapitel integriert, sodass der Leser, wenn er sich mit ihnen beschäftigt, seinen Gedankenfluss nicht unterbrechen muss. Zu den Neuerungen der vorliegenden Auflage gehören einige Übungsfragen am Ende der einzelnen Kapitel mit spezieller Betonung kurzer Problemstellungen, die zur Festigung der wichtigsten im jeweiligen Kapitel behandelten Konzepte beitragen. Ist ein Begriff im Text fett gedruckt, so bedeutet dies, dass er an der betreffenden Stelle zum ersten Mal auftritt und als wichtiger volkswirtschaftlicher Terminus definiert wird. Trotz der zahlreichen Änderungen hat sich der seit der ersten Auflage vorherrschende Stil von Volkswirtschaftslehre in keiner Weise verändert: Wir bleiben bei unserem Konzept der einfachen Sätze, verständlichen Erklärungen und kurzen, prägnanten Tabellen und Grafiken.
Wer mit der Makroökonomie beginnen möchte… Zwar wurde diese Auflage wie die früheren so konzipiert, dass zunächst der gesamte Themenkreis der Mikroökonomie behandelt wird, doch einige Dozenten bevorzugen den Einstieg über die Makroökonomie. Viele Fachleute sind davon überzeugt, dass Anfänger leichter Zugang zu makroökonomischen Themen finden und daher rascher ein Interesse an der Ökonomie entwickeln, wenn sie zunächst mit makroökonomischen Problemstellungen konfrontiert werden. Wir haben
Vorwort
nach beiden Reihenfolgen unterrichtet und festgestellt, dass beide Ansätze durchaus brauchbar sind. Dieses Buch wurde daher so konzipiert, dass Sie damit unabhängig von Ihrer Herangehensweise arbeiten können. Lehrkräfte, die zunächst die Mikroökonomie durchnehmen möchten, können die Kapitel der Reihe nach vortragen. Wer hingegen Makroökonomie für den besseren Einstieg hält, sollte von Teil I direkt auf Teil V springen und darf sich dabei darauf verlassen, dass Darstellung und Querverweise eigens mit Rücksicht auf seine Bedürfnisse gewählt wurden.
Zusätzliche Lehr- und Lernhilfen Die in dieser Auflage enthaltenen Grafiken und Abbildungen können elektronisch als Powerpoint-Folien angesehen werden (in englischer Sprache). Sie finden die Folien auf unserer Website (www.mhhe.com/samuelson18). Hier können auch Kapitelzusammenfassungen, praktische Tests zur Selbstbenotung, WebFragen und Links zu den Websites abgerufen werden, die zur weiteren Recherche am Ende eines jeden Kapitels vorgeschlagen werden.
Volkswirtschaftslehre im Computerzeitalter Das elektronische Zeitalter hat die Art, wie Lehrkräfte und Studenten Zugang zu Informationen erhalten, von Grund auf verändert. In der Ökonomie eröffnet uns die Informationsrevolution einen hervorragenden Zugang zu volkswirtschaftlichen Statistiken und Forschungsarbeiten. Ein wesentliches Merkmal der vorliegenden 18. Auflage ist der Abschnitt „Volkswirtschaftslehre und Internet“, der unmittelbar im Anschluss an dieses Vorwort eingefügt wurde. Dieser kleine Abschnitt bietet einen Überblick über die Situation der Volkswirtschaftslehre auf der Datenautobahn. Darüber hinaus enthält jedes Kapitel am Ende einen aktualisierten Abschnitt mit Vorschlägen für weiterführenden Lesestoff sowie
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Vorwort
Adressen von Websites, die sich für vertiefende Studien eignen oder zusätzliche Daten und Fallstudien anbieten.
Dank Dieses Buch hat nur zwei Autoren, aber eine Vielzahl wertvoller Mitarbeiter. Wir sind unseren Kollegen, Lektoren, Studenten und dem Personal von McGraw-Hill für ihre Beiträge zur termingerechten Fertigstellung der 18. Auflage von Volkswirtschaftslehre zu großem Dank verpflichtet. Unter den Kollegen am MIT, in Yale und anderswo, die uns großzügigerweise mit Hinweisen und Vorschlägen unterstützt haben, möchten wir William C. Brainard, E. Cary Brown, John Geanakoplos, Robert J. Gordon, Lyle Gramely, Paul Joskow, Alfred Kahn, Richard Levin, Robert Litan, Barry Nalebuff, Merton J. Peck, Gustav Ranis, Herbert Scarf, Robert M. Solow, James Tobin, Janet Yellen und Gary Yohe besonders hervorheben. Profitiert haben wir aber auch vom unermüdlichen Engagement vieler Lehrkräfte, deren wertvolle Unterrichtserfahrung in diese Auflage eingeflossen ist. Unser besonderer Dank gilt außerdem den Lektoren dieser 18. Auflage. Es sind dies: Mohammad Akacem, University of Colorado, Denver Mohua Das, Centre College George Euskirchen, Thomas More College Adam Forest, Seattle University Satyajit Ghosh, University of Scranton Aroop Mahanty, University of Maryland Donald Milley, Youngstown State University Ibrahim Oweiss, Georgetown University Dennis Petruska, Youngstown State University Edward Scahill, University of Scranton Die Studenten am MIT, in Yale, aber auch an anderen Colleges und Universitäten haben uns bei der Abfassung dieses Buches als „virtuelles College“ gedient. Von ihnen werden wir laufend getestet; sie fordern uns heraus und haben uns so hoffentlich gehol-
fen, in dieser Auflage weniger Fehler zu machen als in der vorigen. Obwohl wir sie natürlich nicht alle nennen können, ist ihr wertvoller Einfluss in jedem einzelnen Kapitel spürbar. Nancy King in New Haven möchten wir wegen ihrer großen logistischen Hilfe besonders erwähnen. Dieses Projekt wäre außerdem ohne das hervorragende Team von McGraw-Hill, das dieses Buch in jedem Stadium wie ein Kind gehegt und gepflegt hat, nie zustande gekommen. Wir danken – in chronologischer Reihenfolge ihres Auftretens – vor allem folgenden Personen: Cheflektorin Lucille Sutton, Lektorin Karen Minnich, Lektoratsassistentin Becca Hicks, Projektmanagerin Susanne Riedell, Herstellungsleiterin Becky Szura und Marketingleiter Marty Quinn. Dieser Gruppe von Spitzenkräften ihres Fachs gelang es schließlich, einen Stoß Disketten und einen Berg Papier in ein fein abgestimmtes Kunstwerk zu verwandeln.
Ein Wort an den selbstständigen Studenten Sie haben in Ihren Geschichtslehrbüchern über Revolutionen gelesen, die Zivilisationen bis in ihre Grundfesten erschütterten – religiöse Konflikte, Kriege um politische Befreiung, Kämpfe gegen Kolonialismus und Imperialismus. Noch vor einem Jahrzehnt schienen wirtschaftliche Revolutionen in Osteuropa, in der früheren Sowjetunion, in China und anderswo die Gesellschaften dieser Länder zu spalten. Junge Menschen rissen Mauern nieder, hoben etablierte Mächte aus dem Sattel und gingen für Demokratie und Marktwirtschaft auf die Straßen, weil sie mit ihren zentralistisch geführten sozialistischen Regierungen unzufrieden waren. Studenten wie Sie selbst agitieren, demonstrieren und gehen in vielen Ländern sogar ins Gefängnis, um radikale Ideen studieren und aus westlichen Lehrbüchern wie diesem lernen zu dürfen, in der Hoffnung, irgendwann
12 die Freiheit und den wirtschaftlichen Wohlstand demokratischer Marktwirtschaften zu genießen.
Der Markt der volkswirtschaftlichen Theorien Für welchen Markt agitieren eigentlich die Studenten unterdrückter Gesellschaften? Auf den folgenden Seiten werden Sie über Märkte für Aktien und Anleihen, mexikanische Pesos und europäische Euros, Hilfsarbeiter und hoch spezialisierte Neurochirurgen lesen. Wahrscheinlich haben Sie in der Zeitung schon über das Bruttoinlandsprodukt, den Verbraucherpreisindex, den Aktienmarkt und die Arbeitslosenquote gelesen. Nach einem gründlichen Studium dieses Buches werden Sie genau wissen, was diese Begriffe bedeuten. Wichtiger noch, Sie werden die bedeutenden volkswirtschaftlichen Kräfte verstehen, die hinter diesen Begriffen stehen. Es gibt aber auch einen Markt der Ideen, auf dem konkurrierende volkswirtschaftliche Schulen ihre Theorien feilbieten und versuchen, die Gemeinde ihrer wissenschaftlichen Kollegen zu überzeugen. Wir möchten Ihnen
Vorwort
in den folgenden Kapiteln einen fairen und unparteiischen Überblick über die Denkweisen der intellektuellen Giganten unseres Berufsstandes bieten – von den frühen Ökonomen wie Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx bis hin zu den Titanen unserer Tage wie John Maynard Keynes, Milton Friedman und James Tobin.
Also dann – Gute Reise! Wundern Sie sich nicht, wenn Sie vor Ihrer Reise ins Land der Märkte von unbestimmten Ängsten geplagt werden – das ist durchaus normal. Doch fassen Sie sich ein Herz. Sie müssen nämlich wissen: Wir, die Autoren, beneiden Sie, den Anfänger, um die bevorstehende aufregende Erkundungsfahrt in die Welt der Ökonomie! Das ist eine Erfahrung, die man so packend leider nur ein einziges Mal im Leben machen kann. Also lassen Sie sich von uns noch einmal zurufen: Gute Reise! Paul A. Samuelson William D. Nordhaus
Für den Studenten: Volkswirtschaftslehre und Internet
Das Informationszeitalter hat unser aller Leben grundlegend umgewälzt. Sein Einfluss auf Wissenschaftler und Studenten ist so groß, weil es jedermann kostengünstig und schnell Zugang zu enormen Informationsmengen eröffnet. Das Internet, ein riesiges und stetig wachsendes öffentliches Netz untereinander verbundener Rechner und Informationen, verändert für jeden von uns Studium, Einkaufsgewohnheiten, Kulturaustausch und Kommunikation mit Freunden und Angehörigen. Als Volkswirtschaftler erhalten wir über das Internet raschen Zugang zu Statistiken und Forschungsdaten. Auf einen einfachen Mausklick finden wir die neueste Arbeitslosenquote, erhalten Informationen zu den Themen Armut und Einkommensverteilung oder können die Verflechtungen unseres Bankensystems ergründen. Noch vor wenigen Jahren hätte es vielleicht Wochen gedauert, die Daten zur Analyse eines wirtschaftlichen Problems zu beschaffen. Heute, mit einem Computer und ein wenig Übung, ist diese Aufgabe in wenigen Minuten erledigt. Dieses Buch ist kein Handbuch für das erfolgreiche Surfen auf der Datenautobahn. Diese Fertigkeit lässt sich problemlos in einschlägigen Kursen oder auch im Selbststudium erlernen. Nein, wir möchten Ihnen verraten, wo sich die wichtigsten Quellen für volkswirtschaftliche Daten und Forschungsinformationen befinden. Mit diesem „Plan“ und einigen rudimentären Navigationskenntnissen können Sie die verschiedenen Websites erkunden und werden dort eine reiche Fülle an Daten, Informationen, Studien und
Chatrooms finden. Außerdem haben wir an das Ende jedes Kapitels eine Liste mit den nützlichsten Websites gestellt, die Sie verwenden können, um die Hauptthemen der einzelnen Kapitel weiter zu verfolgen. Bitte beachten Sie, dass einige dieser Websites gratis benutzt werden können, während bei anderen eine Registrierung erforderlich oder der Zugang nur über ein College oder eine Universität möglich ist; wiederum andere sind gebührenpflichtig. Die Gepflogenheiten ändern sich außerdem rasch, und obwohl wir bemüht waren, überwiegend kostenlos zugängliche Sites anzuführen, wollten wir doch qualitativ hochwertige Internetseiten nicht nur deshalb weglassen, weil sie gebührenpflichtig sind.
Daten und Institutionen Das Internet ist heute eine unverzichtbare Quelle nützlicher Daten und Informationen. Da die meisten volkswirtschaftlichen Daten von staatlichen Stellen bereitgestellt werden, sollte man sich zunächst auf den Webpages staatlicher Behörden und internationaler Organisationen auf die Suche begeben. Ein Ausgangspunkt für staatliche Statistiken aus den USA wäre etwa die Site www.fedstats. gov, die Bundesstatistiken aus einer Hand sowie Links zu über 70 staatlichen statistischen Institutionen bietet. Die Quellen sind nach Themenbereichen oder Behörden geordnet und verfügen über eine durchgehende Suchfunktion. Eine weitere gute Einfüh-
14 rungsseite in das amerikanische Statistiksystem auf Bundesebene ist der Economic Statistics Briefing Room unter www.whitehouse. gov/fsbr/esbr.html. Zusätzlich betreibt das US-Handelsministerium eine sehr große Datenbank unter www.stat-usa.gov, doch die Verwendung eines Teils dieser Datenbank erfordert ein Abonnement (das Sie möglicherweise über Ihre Universität bekommen). Die beste eigenständige statistische Quelle für Daten über die Vereinigten Staaten ist der so genannte Statistical Abstract of the United States, der einmal jährlich herausgegeben wird. Er steht unter der Adresse www.census. gov/compendia/statab online zur Verfügung. Einen Überblick über die US-Wirtschaft bietet der Economic Report of the President unter www.gpoaccess.gov/eop/index.html. Ein Großteil der wichtigsten Wirtschaftsdaten wird von speziellen Behörden veröffentlicht. So findet man etwa allgemeine Daten über das US-Handelsministerium (Department of Commerce), zu dem auch das Bureau of Economic Analysis (BEA, www.bea.gov) und das Census Bureau (www.census.gov) gehören. Die BEA-Website beinhaltet alle Daten und Artikel, die im Survey of Current Business veröffentlicht werden, darunter auch Daten über das Bruttoinlandsprodukt sowie Handels-, Kapitalund Leistungsbilanzen, internationale Handels- und Investitionsflüsse, Daten zu Industrieproduktion, Wirtschaftswachstum und Haushaltseinkommen sowie Arbeits- und Regionaldaten. Die Website des Census Bureau bietet weit mehr als nur reine Volkszählungsergebnisse. Hier findet man Wirtschaftsumfragen ebenso wie Informationen über Wohnungsbau, Einkommensstatistiken und Armut, die staatlichen Finanzen, Landwirtschaft, Außenhandel, Bauwesen, Produktion, Transport sowie über den Groß- und Einzelhandel. Zusätzlich zum Angebot dieser Publikationen durch das Census Bureau können Nutzer über die Website maßgeschneiderte Auszüge aus bekannten
Vorwort
Mikrozensus-Ergebnissen erhalten, darunter Survey of Income und Program Participation, Consumer Expenditure Survey, Current Population Survey, American Housing Survey und natürlich die jüngste Volkszählung. Das Bureau of Labor Statistics (unter www.bls.gov) bietet einfachen Zugang zu häufig nachgefragten Arbeitsdaten, einschließlich der jeweiligen Beschäftigungsund Arbeitslosenzahlen, Preise und Lebensbedingungen, Löhne, sowie zu Produktivität und Technologie. Ebenso verfügbar sind Arbeitsmarktdaten aus jüngsten Volkszählungen und Lohnstatistiken aus dem jeweiligen Employment Statistics Survey. Eine nützliche Quelle für Finanzdaten ist die Website des Federal Reserve Board (der USZentralbank) unter www.federalreserve.gov. Diese Seite bietet historische Wirtschafts- und Finanzdaten der USA, darunter die täglichen Zinssätze, Geld- und Wirtschaftsindikatoren, Wechselkurse, Zahlungsbilanzdaten sowie Preisindizes. Zusätzlich stellt das Office of Management and Budget unter www.gpoaccess.gov/usbudget/index.html das Bundesbudget und zugehörige Dokumente zur Verfügung. Internationale Statistiken sind häufig schwerer zu finden. Die Weltbank informiert unter www.worldbank.org über ihre Programme und Publikationen, der Internationale Währungsfonds oder IMF (International Monetary Fund) unter www.imf.org. Die UNO-Website (www.unsystem.org) ist ein wenig langsam und verwirrend, bietet jedoch Links zu den meisten internationalen Institutionen und deren Datenbanken. Eine gute Informationsquelle über die Industriestaaten ist die OECD, die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, unter www.oecd.org/home. Die OECDWebsite enthält zahlreiche Informationen über Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Wissenschaft und Technologie, Landwirtschaft, Energie, öffentliche Verwaltung und andere Themen.
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Vorwort
Wirtschaftsforschung und Journalismus Das Internet wird derzeit in Windeseile zur Bibliothek der ganzen Welt. Zeitungen, Magazine und wissenschaftliche Publikationen erscheinen immer häufiger in elektronischer Form. Die meisten von ihnen präsentieren einfach nur das, was bereits auf Papier gedruckt wurde. Einige interessante Quellen finden sich beim Economist unter www.economist.com und bei der Financial Times (www.ft.com). Das Wall Street Journal unter http://online.wsi.com/public/us ist derzeit teuer und als Informationsquelle vom Kosten-Nutzen-Verhältnis her unbefriedigend. Laufende politische Themen werden unter www.policy.com diskutiert. Das Online-Magazin Slate unter www.slate.com enthält gelegentlich ausgezeichnete volkswirtschaftliche Artikel. Was wissenschaftliche Publikationen angeht, stellen viele Journale ihre Texte online zur Verfügung. WebEc bietet unter www. helsinki.fi/WebEc/ eine Liste der Websites vieler verschiedener Wirtschaftszeitschriften. Die Archive zahlreicher Journale stehen außerdem unter www.jstor.org zur Verfügung. Es gibt mittlerweile einige Websites, die unterschiedlichste Ressourcen bündeln und zusammenfassen. Ein Ausgangspunkt wäre etwa Resources for Economists on the Internet, finanziert von der American Economic Association und herausgegeben von Bill Goffe, unter www.rfe.org. Neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse in Form von Arbeitspapieren bietet die Website des National Bureau of Economic Research (NBER) unter www.nber.org. Die NBERSeite enthält auch allgemeine Ressourcen, darunter Links zu Datenquellen und offiziellen US-Konjunkturdaten. Eine hervorragende Seite, die als Archiv und Ablage von Arbeitspapieren dient, befindet sich unter econwpa.wustl.edu/wpawelcome.html. Diese Seite eignet sich besonders für die Suche nach Hintergrundmaterial für Seminar- und Diplomarbeiten.
Haben Sie eigentlich schon gehört, dass man die Volkswirtschaftslehre auch als die trostlose Wissenschaft bezeichnet? Unter netec.mcc.ac.uk/JokEc.html können Sie über Ökonomenwitze, die meist auf Kosten der Ökonomen selbst gehen, herzlich lachen.
Ein Wort zur Warnung Denken Sie daran, dass angesichts des rapiden technologischen Wandels unsere Liste schon bald nicht mehr aktuell sein wird. Täglich erscheinen neue Sites mit wertvollen Informationen und Daten, andere verschwinden fast ebenso rasch. Bevor Sie sich nun auf die Reise in die wunderbare Welt des Internets begeben, möchten wir Ihnen noch ein klein wenig Expertenweisheit mit auf den Weg geben. Denken Sie einfach an das alte Sprichwort: Sorgfalt zahlt sich aus. Im Fall des Internets bedeutet dies, dass man sich unbedingt vergewissern sollte, ob Quellen und Daten verlässlich sind. Das Netz lässt sich wie andere elektronische Medien auch einfach gebrauchen und genauso einfach missbrauchen. In der Volkswirtschaftslehre ist das WWW das, was einem Gratisessen am nächsten kommt. Doch Sie sollten sich Ihr Gericht vorher sorgfältig zusammenstellen, damit es mundet und gut verdaulich ist.
Deutschsprachige Websites Es gibt praktisch zu allen in diesem Buch behandelten Themen und Konzepten zahlreiche deutschsprachige Websites. Sie werden vielfach von einzelnen Universitätsinstituten ins Netz gestellt und unterscheiden sich erheblich im Hinblick auf Inhalt und Umfang sowie in Bezug auf ihre Kurz- oder Langlebigkeit. Einige Professoren bieten Übersichten oder Inhaltsangaben ihrer Vorlesungen
16 im aktuellen Semester – wer nicht an der betreffenden Universität studiert, wird daraus wenig Nutzen ziehen. Mitunter sind diese Übersichten um Literaturverzeichnisse ergänzt – das ist hilfreicher, aber vermutlich werden Sie dort, wo Sie selbst studieren, entsprechende Literaturlisten bekommen. Wer sich ausführlich mit einzelnen Aspekten befassen will, wird ohnehin bibliografieren müssen. Manche Lehrstühle bieten auch Hintergrundwissen und/oder Übungsaufgaben zu einzelnen Themen – Letztere nicht immer mit Lösung, was darauf hindeutet, dass sie für die Studenten am betreffenden Institut gedacht sind und in eigenen Übungsveranstaltungen besprochen werden. Es wird in diesem Buch generell auf Empfehlungen derartiger oder ähnlicher Websites verzichtet, weil sie sich häufig von Semester zu Semester ändern und ein Zusatznutzen für den Leser dieses Buches nicht immer gegeben ist. Aufgelistet werden, außer Angaben zur gängigen Fachliteratur, nur solche Websites, bei denen man annehmen kann, dass sie bis zur nächsten Auflage dieses Buches Bestand haben werden und einen Nutzen bieten können. Im Bereich Mikroökonomie handelt es sich dabei vielfach um Websites, die Begriffsdefinitionen (mit oder ohne Beispiele) aufführen; in der Makroökonomie werden überwiegend Hinweise auf Quellen aktueller Wirtschaftsdaten beziehungsweise Untersuchungen der tatsächlichen Wirtschaftsentwicklung gegeben. Die umfassendste Sammlung aktueller und historischer Wirtschaftsdaten bietet das Statistische Bundesamt unter www.destatis.de. Eine gute Hilfe bei der Beschaffung wissenschaftlicher Literatur ist Gallileus (www.lalisio.com). Die Website ermöglicht die bequeme Suche innerhalb eines umfassenden Pools an Büchern sowie Zeitschriften- und Zeitungsartikeln. Die gewünschte Literatur kann bestellt und zur elektronischen Weiterverarbeitung heruntergeladen werden.
Vorwort
Teil 1
Die Grundlagen
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A. Einleitung
KAPITEL 1 Die Grundlagen der Volkswirtschaft
Das Zeitalter des Rittertums ist dahin; das der Sophisten, Krämer und Pfennigfuchser hat obsiegt. Edmund Burke
Zu Beginn Ihrer Studien stellen Sie sich vielleicht die Frage nach dem Warum – warum sollten Sie sich mit Volkswirtschaft beschäftigten? Nun, viele Leute tun das, und aus einer ganzen Reihe von Gründen. Manche hoffen sicher auf das schnelle Geld. Andere würden sich wie Analphabeten fühlen, verstünden sie nichts von den Gesetzen des Angebots und der Nachfrage. Wieder andere wollen wissen, wie das Computer- und Informationszeitalter unsere Gesellschaft prägt oder warum in den letzten Jahren die Einkommensungleichheit in den USA so drastisch zugenommen hat.
Wem die Stunde schlägt Alle genannten Gründe, sich für das Studium der Volkswirtschaft zu entscheiden, und noch viele andere mehr, sind nachvollziehbar und sinnvoll. Und doch gibt es nach unserer Erkenntnis einen Hauptgrund, die Grundlagen der Ökonomie kennen zu lernen: Unser ganzes Leben lang – sozusagen von der Wiege bis zur Bahre – haben wir mit den brutalen Wahrheiten der Ökonomie zu kämpfen. Als Wähler müssen wir Entscheidungen treffen, deren Inhalt wir gar nicht verstehen können, ohne die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre zu kennen. Ohne die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen sind wir nicht umfassend über den internationalen Handel, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Internet oder die Wechselbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit informiert. Die Berufswahl ist die wichtigste wirtschaftliche Entscheidung unseres Lebens. Unsere Zukunft hängt aber nicht nur von unseren Fähigkeiten ab, sondern auch von den ökonomischen Kräften, die, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können, etwa unser Gehalt bestimmen. Etwas ökonomisches Verständnis kann beispielsweise sehr
20 hilfreich sein, wenn wir die Ersparnisse, die von unserem Einkommen übrig bleiben, anlegen. Natürlich macht uns das Studium der Volkswirtschaft nicht gleich zum Genie. Fehlt uns aber jedes wirtschaftliche Verständnis, sind wir jedenfalls im Nachteil. Diese Frage sollte damit also beantwortet sein. Wir, die Autoren, hoffen jedoch darüber hinaus, dass Sie das Studium der Volkswirtschaft nicht nur als nützlich, sondern auch persönlich als faszinierend empfinden werden. Ganze Generationen von Studenten haben, häufig sehr zu ihrer Überraschung, festgestellt, wie stimulierend die Erforschung wirtschaftlicher Zusammenhänge sein kann.
Knappheit und Effizienz: Ein Zwilling kommt selten allein Was bedeutet eigentlich der Begriff Ökonomie oder Volkswirtschaft? Nun – das, was diese Vokabel beschreibt, ist in den letzten 50 Jahren enorm angewachsen und umfasst heute eine ganze Reihe von Themenstellungen. Doch wie definieren wir diese rasch expandierenden Fächer und Themen?1 Hier die wichtigsten Aufgaben der Ökonomik: • Die Volkswirtschaftslehre befasst sich mit dem Verhalten der Finanzmärkte, etwa mit Zinssätzen und Aktienkursen. • Sie untersucht die Gründe, warum manche Menschen und Länder hohe Einkommen erzielen, andere aber arm sind. Gleichzeitig zeigt sie Möglichkeiten auf, den Lebensstandard der Armen zu heben, ohne der Wirtschaft Schaden zuzufügen.
1 Diese Liste enthält mehrere volkswirtschaftliche Fachausdrücke. Zum Verständnis der Volkswirtschaftslehre gehört unbedingt auch das Beherrschen ihrer Terminologie. Wenn Sie einen bestimmten Begriff oder einen Satz nicht verstehen, schlagen Sie bitte im Glossar hinten in diesem Buch nach. Darin sind die meisten der in diesem Buch verwendeten Fachausdrücke erklärt. Alle fett gedruckten Begriffe werden im Glossar erläutert.
Die Grundlagen
Teil 1
• Sie verfolgt das Auf und Ab der Konjunkturzyklen, der Arbeitslosigkeit sowie der Inflation und erkundet Maßnahmen zu deren Dämpfung. • Sie erforscht Handel und Finanzwesen auf internationaler Ebene und fragt nach den Auswirkungen der Globalisierung. • Sie verfolgt das Wachstum in den Entwicklungs- und Schwellenländern und erarbeitet Vorschläge für einen effizienten Ressourceneinsatz. • Sie fragt, wie staatliche Politik erfolgreich für wichtige Ziele, etwa für ein rasches Wirtschaftswachstum, einen effizienten Einsatz der Mittel, für Vollbeschäftigung, Preisstabilität und eine gerechte Einkommensverteilung, eingesetzt werden kann. Doch so aussagekräftig diese Auflistung auch ist, man könnte sie jederzeit um ein Vielfaches erweitern. Und wenn wir nach der Quintessenz all dieser Definitionen suchen, erkennen wir ein gemeinsames Thema: Die Volkswirtschaftslehre oder Ökonomie ist die Wissenschaft vom Einsatz knapper Ressourcen zur Produktion wertvoller Wirtschaftsgüter durch die Gesellschaft und von der Verteilung dieser Güter in der Gesellschaft. Hinter dieser Definition stecken zwei wesentliche, immer wiederkehrende ökonomische Grundsätze: Güter sind knapp, und die Gesellschaft muss ihre Ressourcen effizient einsetzen. Die Volkswirtschaftslehre bezieht ihre Bedeutung gerade aus der Knappheit der Güter und aus dem Wunsch nach ihrem effizienten Einsatz. Versuchen Sie einmal, sich eine Welt ganz ohne Knappheit vorzustellen. Welche Folgen hätte es, könnte man unbegrenzte Mengen aller Güter herstellen oder die Bedürfnisse der Menschheit vollständig befriedigen? Die Leute müssten mit ihren beschränkten Einkommen nicht mehr haushalten, denn sie bekämen ohnehin alles, was sie wollen; die Unterneh-
Kapitel 1
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Die Grundlagen der Volkswirtschaft
men bräuchten sich wegen der Arbeitskosten und Sozialleistungen für ihre Mitarbeiter keine grauen Haare wachsen zu lassen; Regierungen würden sich nicht mit Steuern, Ausgaben oder Umweltverschmutzung herumschlagen, denn all das wäre völlig uninteressant. Mehr noch: Weil wir alles Gewünschte haben könnten, würde sich kein Mensch mehr Gedanken über die Einkommensverteilung zwischen Individuen oder Gruppen machen. In einem solchen Paradies wären alle Güter genauso frei wie der Sand in der Wüste oder das Wasser im Meer. Die Preise wären alle Null, Märkte überflüssig. Und die gesamte Volkswirtschaftslehre? Vollkommen uninteressant und unnötig. Offenbar hat aber bisher keine einzige Gesellschaft dieses Utopia der unbegrenzten Möglichkeiten erreicht. Unsere Welt ist nach wie vor von Knappheit geprägt, und sie ist voll von Wirtschaftsgütern. Knappheit bedeutet, dass weniger Güter vorhanden sind, als eigentlich erwünscht wären. Ein objektiver Beobachter müsste uns wohl zustimmen, dass selbst nach zwei Jahrhunderten starken Wirtschaftswachstums der Produktionsoutput der USA nicht ausreicht, um alle Wünsche zu befriedigen. Betrachtet man die Summe aller Wünsche und Bedürfnisse, stellt man sehr schnell fest, dass es einfach nicht genügend Güter und Dienstleistungen gibt, um auch nur einen Bruchteil der vorhandenen Konsumbedürfnisse zu befriedigen. Unsere nationale Produktionsleistung müsste um ein Vielfaches größer sein, wollten alle Amerikaner den durchschnittlichen Lebensstandard eines Arztes oder Baseballstars erreichen. Und außerhalb der USA, vor allem in Afrika, leiden Hunderte Millionen von Menschen bis heute unter akutem Hunger und großer Armut. Angesichts der grenzenlosen Bedürfnisse kommt es also darauf an, wie eine Wirtschaft aus ihren knappen Ressourcen das Optimum herausholen kann. Damit kommen wir zum entscheidenden Begriff der Effizienz. Effizienz bezeichnet den möglichst effektiven Einsatz der Ressourcen einer Gesellschaft zur Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse
ihrer Menschen. Stellen Sie sich im Gegensatz dazu eine Wirtschaft mit unkontrollierten Monopolen oder gesundheitsschädlicher Umweltverschmutzung oder einer korrupten Regierung vor. Sie würde weniger produzieren, als auf Grund ihrer Ressourcen möglich wäre, oder ihren Konsumenten eine verzerrte Kombination aus Gütern anbieten – beides eine ineffiziente Allokation der verfügbaren Produktionsfaktoren. Volkswirtschaftlich betrachtet sprechen wir von Effizienz, wenn eine Wirtschaft niemanden besser stellen kann, ohne zugleich einen anderen schlechter zu stellen. Das Wesen des Wirtschaftens besteht in der Anerkennung der Knappheit als Realität und in einer gesellschaftlichen Organisation, die einen möglichst effizienten Ressourceneinsatz zulässt. Dazu kann die Volkswirtschaftslehre einen entscheidenden Beitrag leisten.
Mikroökonomie und Makroökonomie Zumeist wird Adam Smith als Begründer der Mikroökonomie bezeichnet, jenes Zweiges der Volkswirtschaft, der sich heute mit dem Verhalten einzelner Wirtschaftseinheiten wie der Märkte, der Unternehmen und der Haushalte beschäftigt. In seinem Schlüsselwerk, The Wealth of Nations (Der Reichtum der Nationen, erschienen 1776), legte Smith dar, wie sich einzelne Preise bilden; er studierte die Entstehung der Preise für Grund und Boden, Arbeit sowie Kapital und untersuchte die Stärken und Schwächen des Marktmechanismus. Vor allem aber erkannte er die bemerkenswerte Effizienz der Märkte und sah, dass aus dem Eigennutz des Einzelnen volkswirtschaftlicher Nutzen erwächst. Diese Themen sind bis heute von Bedeutung, und obwohl die Mikroökonomie seit den Tagen des Adam Smith enorme Fortschritte gemacht hat, wird er von Politikern und Ökonomen gleichermaßen bis heute zitiert.
22 Der andere große Zweig der Volkswirtschaftslehre ist die Makroökonomie, die sich mit der wirtschaftlichen Gesamtleistung befasst. Die Makroökonomie in ihrer modernen Form entstand erst im Jahr 1936, als John Maynard Keynes sein revolutionäres Werk General Theory of Employment, Interest and Money (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) veröffentlichte. England und die Vereinigten Staaten steckten damals noch in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, und ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung war ohne Erwerbseinkommen. Aus seiner ganz neuen Perspektive analysierte Keynes die Auslöser der Konjunkturzyklen, bei denen es abwechselnd zu Perioden hoher Arbeitslosigkeit und hoher Inflation kommt. Heute beschäftigt sich die Makroökonomie mit einer breiten Palette an Themen, etwa mit den Faktoren, die die Investitionen und den Konsum einer Gesellschaft bestimmen, oder mit der Frage, welche Kontrolle die Zentralbanken über Geldmenge und Zinssätze ausüben, was zu internationalen Finanzkrisen führt und warum einige Staaten kräftig wachsen, andere aber stagnieren. Doch wie sehr sich die Makroökonomie seit der keynesianischen Revolution auch entwickelt hat, Keynes’ Themenstellungen definieren bis heute diesen Wissenschaftszweig. Es sind diese beiden Zweige – Mikroökonomie und Makroökonomie –, die zusammen die moderne Volkswirtschaftslehre ausmachen.
Die Logik der Volkswirtschaft Die Wirtschaft ist ein enorm komplexes Gebilde verschiedenster menschlicher Aktivitäten wie Kaufen, Verkaufen, Handeln, Investieren und Überzeugen. Somit besteht der eigentliche Zweck der Volkswirtschaftslehre wie auch dieses Buches darin, dieses komplexen Gebilde zu verstehen. Wie gehen Ökonomen an ihre Aufgabe heran?
Die Grundlagen
Teil 1
Ökonomen bedienen sich eines wissenschaftlichen Ansatzes, um die Wirtschaft zu verstehen. Dazu gehören die Beobachtung wirtschaftlicher Aktivitäten sowie die Erstellung statistischer Daten und historischer Aufzeichnungen. Zu komplexen Fragen wie etwa hinsichtlich der Auswirkungen staatlicher Defizite oder der Ursachen von Inflation haben historische Recherchen eine Fülle von Erkenntnissen geliefert. In vielen Fällen greift die Volkswirtschaftslehre auf Analysen und Theorien zurück. Theoretische Ansätze erlauben den Ökonomen Verallgemeinerungen, wenn sie etwa über die Vorteile des internationalen Handels und der Spezialisierung oder über die Nachteile von Zöllen und Quoten sprechen. Darüber hinaus haben Ökonomen eine spezielle Technik, die Ökonometrie, entwickelt, die statistische Methoden auf wirtschaftliche Problemstellungen anwendet. Mithilfe der Ökonometrie können die Wissenschaftler aus riesigen Datenbergen einfache Beziehungen ableiten. Und doch sollte sich der aufstrebende Jungökonom vor verbreiteten wirtschaftlichen Irrtümern hüten. Da wirtschaftliche Zusammenhänge häufig sehr komplex sind und zahlreiche Variablen beinhalten, verschwimmt oft der konkrete Grund hinter einem Ereignis oder der wahre Einfluss politischer Maßnahmen auf die Wirtschaft. Daher hier einige verbreitete volkswirtschaftliche Irrtümer: • Der „Post-hoc-Irrtum“. Hier wird zu Unrecht eine Kausalität angenommen, wo keine besteht. Dieser Irrtum tritt auf, wenn wir aufgrund der zeitlichen Aufeinanderfolge zweier Ereignisse annehmen, das zweite sei durch das erste verursacht worden.2 Als Beispiel mag hier die Interpretation der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA dienen. Einige aufmerksame 2 x„Post hoc“ ist eine Abkürzung für das Lateinische „post hoc, ergo propter hoc“. Übersetzt bedeutet es „danach und daher notwendigerweise infolgedessen“.
Kapitel 1
Die Grundlagen der Volkswirtschaft
Beobachter hatten festgestellt, dass die Preise vor oder im Zuge von Wachstumsperioden steigen. Daraus schlossen sie, die Anhebung von Löhnen und Preisen müsse die adäquate Reaktion auf eine wirtschaftliche Depression sein. Es folgte eine ganze Reihe neuer Gesetze und Vorschriften zur – übrigens sehr ineffizienten – Erhöhung von Löhnen und Preisen. Doch führten diese Maßnahmen zum erwünschten Wirtschaftsaufschwung? Nun, das kann praktisch ausgeschlossen werden. Tatsächlich bremsten diese Maßnahmen sogar den Aufschwung, der erst eintrat, als die gesamtwirtschaftlichen Ausgaben aufgrund der militärischen Anstrengungen in Vorbereitung auf den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zu steigen begannen. • Der Irrtum, nicht „alles andere konstant“ zu belassen. Ein weiterer verbreiteter Irrtum ist es, bei der Betrachtung eines Faktors nicht alle anderen Faktoren unverändert zu lassen. So könnten wir uns beispielsweise fragen, ob eine Erhöhung der Steuern die staatlichen Einnahmen letztlich erhöht oder senkt. Dazu haben einige die sehr verlockende These angeführt, wir könnten gleichzeitig niedrigere Steuern sowie höhere Staatseinnahmen haben. Sie erklärten, die Senkung der Steuersätze werde zugleich die staatlichen Einnahmen erhöhen und das Budgetdefizit senken. Dabei verwiesen sie auf die Steuerkürzungen der Administration Kennedy-Johnson im Jahr 1964, die die Steuersätze deutlich senkte, worauf im Jahr 1965 die staatlichen Einnahmen stiegen. Niedrigere Steuersätze hätten folglich zu höheren Einnahmen geführt. Doch was stimmt nicht an dieser Schlussfolgerung? Die Argumentation übersieht die Tatsache, dass die Wirtschaft im Zeitraum von 1964 bis 1965 kräftig wuchs. Da die Einkommen der Menschen stiegen, erhöhten sich auch die staatlichen Einnahmen, und zwar trotz niedrigerer Steuersätze. Gründliche Studien haben ergeben, dass der Staat bei weitem mehr eingenom-
23 men hätte, wären die Steuern nicht gesenkt worden. Man hatte also vergessen, die anderen, nicht untersuchten Faktoren (in diesem Fall die volkswirtschaftlichen Gesamteinkommen) unverändert zu belassen. Denken Sie daran: Bei der Analyse der Auswirkungen einer Variable auf das gesamte Wirtschaftssystem gilt es, unbedingt alle anderen Variablen konstant zu belassen. • Der Trugschluss der Verallgemeinerung. Manchmal schließen wir von einem Teil voreilig auf das Ganze. Ökonomisch betrachtet unterscheidet sich das Ganze jedoch häufig von der Summe seiner Teile. Wenn Sie also stillschweigend annehmen, dass für das Ganze gelten muss, was für einen Teil zutrifft, verfallen Sie in den Trugschluss der Verallgemeinerung. Deshalb hier einige wahre Aussagen, die Sie möglicherweise überraschen, falls auch Sie zur Verallgemeinerung neigen: (1) Wenn ein Landwirt eine Riesenernte einfährt, steigt sein Einkommen. Fällt jedoch die Ernte in einem Jahr insgesamt sehr gut aus, sinken die landwirtschaftlichen Einkommen. (2) Wenn ein Mensch viel Geld bekommt, steigt sein Lebensstandard. Erhält jeder mehr Geld, wirkt sich das auf den Wohlstand der Gesellschaft nachteilig aus. (3) Wird auf ein Produkt einer bestimmten Sparte ein hoher Zoll verhängt, profitieren die Hersteller voraussichtlich davon; werden allgemein hohe Zölle verhängt, so wirkt sich das auf den Großteil der Produzenten und Konsumenten negativ aus. Dabei beinhalten diese Beispiele keinerlei Tricks. Sie sind nur das Ergebnis eines Systems interagierender Individuen. Häufig verhält sich die Gesellschaft ganz anders als einzelne Personen. Wir sprechen diese verbreiteten Irrtümer hier nur kurz an. Später, wenn wir die Werkzeuge der Ökonomik vorstellen, werden wir einige Beispiele anführen, wie die Missachtung der ökonomischen Logik zu falschen, ja bisweilen auch recht kostspieligen Irrtümern
24 führen kann. Wenn Sie sich durch das ganze Buch hindurchgearbeitet haben, können Sie aber gern noch einmal zurückblättern und überlegen, warum jede der obigen Aussagen tatsächlich richtig ist.
Kühler Kopf im Dienste des sozialen Gewissens Die Ökonomik ist im letzten Jahrhundert bildlich gesprochen von einem kleinen Samenkorn zu einem großen Baum herangewachsen. Unter seinen ausladenden Ästen finden wir Erklärungen für die Vorteile des internationalen Handels, Hinweise, wie sich Arbeitslosigkeit und Inflation bekämpfen lassen, Formeln zur Prüfung Ihres persönlichen Pensionsfonds und sogar Vorschläge für den Verkauf von Emissionsrechten. Überall auf der Welt arbeiten Ökonomen an der Sammlung von Daten und an der Verbesserung unseres Verständnisses wirtschaftlicher Trends. Sie könnten sich nun fragen, was diese Armee von Wirtschaftswissenschaftlern, die da ständig misst, analysiert und rechnet, eigentlich bezweckt. Oberstes Ziel der Wirtschaftswissenschaften ist es, die Lebensbedingungen der Menschen in ihrem täglichen Umfeld zu verbessern. Bei der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts geht es nicht um ein abgehobenes Zahlenspiel. Höhere Einkommen bedeuten gute Ernährung, gesunde Wohnungen und heißes Wasser. Sie bedeuten sicheres Trinkwasser und Schutz gegen die immer wiederkehrenden Plagen der Menschheit. Höhere Einkommen bedeuten aber noch mehr als Nahrung und Wohnungen. Länder mit hohen Einkommen verfügen über genügend Ressourcen, um Schulen zu bauen, damit die Jugend lesen lernt und moderne Maschinen und Computer bedienen kann. Mit weiter steigenden Einkommen kann sich dieses Land sogar wissenschaftliche Forschung und die Erarbeitung maßgeschneiderter landwirtschaftlicher Techniken leisten, und es kann Impfstoffe gegen verbreitete Krankheiten entwickeln. Mit den durch das Wirt-
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schaftswachstum freigesetzten Ressourcen haben die Menschen genügend Zeit, um künstlerischen Ambitionen wie Literatur und Musik nachzugehen, und die Bevölkerung genießt ihre Freizeit, um zu lesen, Kultur zu konsumieren oder selbst zu produzieren. Auch wenn ein einheitliches Muster wirtschaftlicher Entwicklungen fehlt, und obwohl sich die Kulturen weltweit voneinander unterscheiden, ist die Bekämpfung von Hunger, Krankheit und Naturkatastrophen ein universelles humanitäres Ziel. Doch Jahrhunderte menschlicher Geschichte zeigen auch, dass ein soziales Gewissen allein die Hungrigen nicht satt und die Kranken nicht gesund macht. Ein freier und effizienter Markt produziert nicht unbedingt eine sozial verträgliche Einkommensverteilung. Um den optimalen Weg zu wirtschaftlichem Fortschritt oder zu einer gerechten Verteilung der Produktionsleistung einer Gesellschaft zu finden, ist ein kühler Kopf erforderlich, einer, der Kosten und Nutzen der verschiedenen Ansätze objektiv abwägt und nach Kräften bemüht ist, in seiner Analyse nicht den Wunsch zum Vater des Gedankens werden zu lassen. Bisweilen erfordert der wirtschaftliche Fortschritt die Schließung einer altmodischen Fabrik. Manchmal, wie bei der Einführung der Marktwirtschaft in den ehemals kommunistischen Ländern, muss alles zunächst schlechter werden, bevor es besser werden kann. Besonders schwierig ist der richtige Weg etwa im Gesundheitswesen zu finden, wo begrenzte Ressourcen buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. Sie kennen vielleicht das Prinzip, wonach jeder seinen Möglichkeiten entsprechend geben und seinen Bedürfnissen entsprechend bekommen sollte. Die Regierungen mussten feststellen, dass keine Gesellschaft lange Zeit hindurch ausschließlich nach diesem utopischen Postulat funktionieren kann. Um eine Wirtschaft gesund zu erhalten, muss die Regierung der Bevölkerung Anreize bieten, damit diese arbeitet und spart. Die Gesellschaft kann ihre Arbeitslosen eine gewisse Zeit hindurch erhalten, doch wenn die Arbeitslo-
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Die Grundlagen der Volkswirtschaft
senversicherung zu lange zu viel auszahlt, werden die Betroffenen zu sehr vom Staat abhängig und hören auf, nach Arbeit zu suchen. Wenn sie glauben, der Staat müsse sie erhalten, kann diese Einstellung der Wirtschaft Schaden zufügen. Dass staatliche Programme hehre Ziele verfolgen, bedeutet nicht, dass sie sorglos und ineffizient betrieben werden sollten. Die Gesellschaft muss das richtige Gleichgewicht zwischen marktwirtschaftlicher Disziplin und staatlichen Sozialprogrammen finden. Indem uns ein kühler Kopf jene Informationen beschafft, die unser soziales Gewissen benötigt, leistet die Wirtschaftswissenschaft einen wichtigen Beitrag zur Sicherung einer prosperierenden und gerechten Gesellschaft.
B. Die drei Grundfragen der Wirtschaft Jede menschliche Gesellschaft – ob fortschrittlicher Industriestaat, planwirtschaftlich geführtes Land oder isolierte Stammesgesellschaft – muss sich den drei Grundfragen der Wirtschaft stellen und diese lösen. Jede Gesellschaft muss einen geeigneten Weg suchen zu bestimmen, was produziert wird, wie es produziert wird und für wen es produziert wird. Und diese drei grundlegenden Fragen wirtschaftlicher Organisation – was, wie und für wen – sind heute noch genauso relevant wie in den ersten Tagen menschlicher Zivilisation. Betrachten wir diese drei Fragen ein wenig näher: • Was wird produziert und in welchen Mengen? Eine Gesellschaft muss entscheiden, wie viel von den zahlreichen möglichen Gütern und Dienstleistungen sie produzieren will und wann diese produziert werden sollen. Wollen wir heute Tiefkühlpizzas oder Hemden herstellen? Wenige, dafür aber
qualitativ hochwertige Hemden oder viele billige? Werden wir die knappen Ressourcen zur Produktion möglichst vieler Konsumgüter benutzen (Pizza)? Oder entscheiden wir uns für weniger Konsumgüter, dafür aber für mehr Investitionsgüter (beispielsweise für die Maschinen, mit denen man Tiefkühlpizzas herstellt), die in Zukunft Produktion und Konsum steigern sollen? • Wie wird produziert? Eine Gesellschaft muss festlegen, wer die Produktion mit welchen Ressourcen und welchen Produktionstechniken übernehmen soll. Wer betreibt die Landwirtschaft und wer unterrichtet? Wird Strom aus Erdöl, Kohle oder Sonnenlicht erzeugt? Werden die Fabriken von Menschen oder Robotern betrieben? Für wen wird produziert? Wer kommt in den Genuss der Produkte wirtschaftlicher Aktivität? Ist die Einkommens- und Wohlstandsverteilung fair und gerecht? Wie verteilt sich das Inlandsprodukt auf die einzelnen Haushalte? Sind viele Leute arm und einige wenige reich? Erzielen Lehrer, Sportler, Mechaniker oder Spekulanten die höchsten Einkommen? Gesteht die Gesellschaft den Armen ein Mindestmaß an Konsum zu oder gilt, dass wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll? Positive oder normative Ökonomik Bei der Behandlung ökonomischer Fragen müssen wir unbedingt zwischen Fakten und Wertvorstellungen unterscheiden. Die positive Ökonomik beschreibt die Fakten einer Wirtschaft, während sich die normative Ökonomik mit Werturteilen befasst. In der positiven Ökonomik geht es um Fragen wie die folgenden: Warum verdienen Ärzte mehr als Türsteher? Führt der Freihandel für den Großteil der Amerikaner zu höheren oder niedrigeren Einkommen? Welche Auswirkungen haben Computer auf die Produktivität? So schwierig diese Fragen zu beantworten sind, durch gründliche Analyse und mithilfe empirischer Daten lassen sie sich lösen. Deshalb gehören sie zur positiven Ökonomik.
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In der normativen Ökonomik geht es um ethisches Verhalten und Normen der Fairness. Sollten Bedürftige vom Staat, der sie unterstützt, zum Arbeiten angehalten werden? Ist ein Anstieg der Arbeitslosigkeit wünschenswert, um einer rasanten Teuerung entgegenzuwirken? Sollte die US-Regierung Microsoft zerschlagen, weil das Unternehmen das Kartellrecht verletzt hat? Es gibt auf diese Fragen keine richtige und keine falsche Antwort, weil es hierbei um Moral und Werturteile, nicht um Fakten geht. Eine Lösung bedarf hier politischer Debatten und Entscheidungen, die volkswirtschaftliche Analyse allein genügt nicht.
Marktwirtschaft, Planwirtschaft und Mischsysteme Auf welche unterschiedliche Weisen kann eine Gesellschaft die Fragen des Was, Wie und Für Wen beantworten? Verschiedene Gesellschaften verfügen über alternative Wirtschaftssysteme, und die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich mit den diversen Mechanismen, die einer Gesellschaft zur Lösung der Frage, wie sie ihre knappen Ressourcen einsetzt, zur Verfügung stehen. Wir unterscheiden im Allgemeinen zwischen zwei grundlegend verschiedenen Wirtschaftsformen. Auf der einen Seite trifft der Staat den Großteil der wirtschaftlichen Entscheidungen, wobei einige an der Spitze der Hierarchie stehen und den anderen weiter unten auf der Leiter ihre Anweisungen geben. Auf der anderen Seite des Spektrums fallen die Entscheidungen auf Märkten, wo sich Einzelpersonen (Haushalte) oder Unternehmen freiwillig über den Austausch von Gütern und Dienstleistungen einigen, in der Regel durch das Bezahlen von Geld. Untersuchen wir einmal kurz jede dieser beiden Wirtschaftsformen. In den Vereinigten Staaten und zunehmend auch in den meisten anderen Ländern werden wirtschaftliche Fragen überwiegend
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durch den Markt gelöst. Deshalb heißen diese Wirtschaftssysteme Marktwirtschaften. Eine Marktwirtschaft ist eine Wirtschaftsform, in der Haushalte und private Unternehmen die wichtigsten Entscheidungen über Produktion und Konsum treffen. Ein System aus Preisen, Märkten, Gewinnen und Verlusten, Anreizen und Belohnungen bestimmt das Was, Wie und Für wen. Unternehmen produzieren die Güter, von denen sie sich den höchsten Gewinn versprechen (was), mit den kostengünstigsten Produktionsmethoden (wie). Der Konsum wird durch die Entscheidung der Haushalte darüber bestimmt, wie sie ihr Einkommen aus Arbeit und Vermögen ausgeben wollen (für wen). Der Extremfall einer Marktwirtschaft, in der der Staat praktisch keine wirtschaftlichen Entscheidungen trifft, wird als Laissezfaire-System bezeichnet. Im Gegensatz dazu ist eine Planwirtschaft oder Zentralverwaltungswirtschaft ein System, in dem der Staat alle wichtigen Entscheidungen über Produktion und Verteilung trifft. In einer Planwirtschaft, wie sie in der Sowjetunion beinahe während des ganzen 20. Jahrhunderts bestand, besitzt der Staat den Großteil der Produktionsmittel (Grund und Boden sowie Kapital); ihm gehören außerdem in den meisten Wirtschaftsbereichen die Unternehmen und er leitet ihren Betrieb; er selbst ist der größte Arbeitgeber und sagt den Arbeitnehmern, wie sie ihre Arbeit zu verrichten haben; und der Staat entscheidet in einer Planwirtschaft auch darüber, wie die Produktion auf die verschiedenen Güter und Dienstleistungen verteilt werden soll. Kurz zusammengefasst bedeutet Planwirtschaft, dass der Staat selbst aufgrund des Eigentums an Ressourcen und seiner Macht, Entscheidungen durchzusetzen, die drei Hauptfragen des Wirtschaftens beantwortet. Keine Gesellschaft unserer Zeit lässt sich vollständig der einen oder der anderen dieser beiden diametral entgegengesetzten Kategorien zuordnen. Alle Gesellschaften verfügen eigentlich über ein Mischsystem mit Elementen aus Markt- und Planwirtschaft. Eine absolute Marktwirtschaft hat es noch nie gege-
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Die Grundlagen der Volkswirtschaft
ben (wobei das England des 19. Jahrhunderts diesem Ideal schon sehr nahe kam). In den USA werden heute die meisten Entscheidungen durch den Markt gefällt. Trotzdem spielt der Staat eine gewichtige Rolle, indem er die Funktionen des Marktes überwacht; er erlässt Gesetze zur Ordnung des Wirtschaftslebens, er produziert beispielsweise Bildungs- und Polizeidienstleistungen und sorgt für den Schutz der Umwelt. Moderne Gesellschaften weisen zumeist ein wirtschaftliches Mischsystem auf.
C. Die Technologischen Möglichkeiten einer Gesellschaft Jedes Gewehr, jedes neue Kriegsschiff und jede abgefeuerte Rakete bedeutet in letzter Konsequenz einen Diebstahl von den Hungernden, die nicht gespeist werden können. Präsident Dwight D. Eisenhower
Die Ressourcen – Arbeit, technologisches Wissen, Fabriken und Maschinen, Grund und Boden sowie Energie – sind in jeder Wirtschaft begrenzt. Mit der Entscheidung, was auf welche Weise produziert werden soll, befindet die Wirtschaft in Wahrheit darüber, wie ihre Ressourcen angesichts einer Unzahl völlig unterschiedlicher Möglichkeiten zur Herstellung von Gütern und Dienstleistungen eingesetzt werden sollen. Wie viel Fläche wird für den Getreideanbau bereitgestellt? Wie viel für den Wohnungsbau? Wie viele Fabriken sollen Computer erzeugen? Wie viele Pizzas? Wie viele Kinder werden zu Berufssportlern und wie viele zu professionellen Ökonomen, oder wie viele sollen Computer programmieren?
Angesichts der nicht zu übersehenden Tatsache, dass die Güter im Gegensatz zu den Bedürfnissen knapp sind, muss eine Wirtschaft über den Einsatz ihrer beschränkten Ressourcen entscheiden. Sie muss unter verschiedenen Kombinationen von Wirtschaftsgütern (was) wählen, sich für eine Produktionstechnik entscheiden (wie) und darüber befinden, wer die Güter konsumieren soll (für wen).
Input und Output Um diese drei Grundfragen der Wirtschaft zu beantworten, hat jede Gesellschaft Entscheidungen hinsichtlich der Inputs und Outputs ihrer Wirtschaft zu treffen. Inputs sind Waren oder Dienstleistungen, die ihrerseits der Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen dienen. Eine Wirtschaft setzt die ihr zur Verfügung stehenden Technologien ein, um mit Hilfe der Inputs Outputs zu erzeugen. Outputs sind die verschiedenen nützlichen Güter und Dienstleistungen, die aus der Produktion hervorgehen und die entweder konsumiert oder im weiteren Produktionsprozess eingesetzt werden. Sehen wir uns die „Produktion“ einer Pizza näher an: Wir könnten Eier, Mehl, Hitze, Pizzaofen und den Arbeitseinsatz des Kochs als die Inputs bezeichnen. Die knusprige Pizza ist der Output. An einer Universität zählen der Zeitaufwand in der Fakultät, die Labors und Hörsäle, die Skripten und dergleichen zum Input, während der Output in informierten, produktiven und gut bezahlten Bürgern besteht. Ein anderer Begriff für Input ist Produktionsfaktor. Die Produktionsfaktoren lassen sich in drei Hauptkategorien unterteilen: Grund und Boden, Arbeit und Kapital. • Grund und Boden – oder ganz allgemein natürliche Ressourcen – sind ein Geschenk der Natur an unsere Produktionsprozesse. Zum Produktionsfaktor Boden gehören die Felder, auf denen wir unsere Landwirtschaft betreiben, oder die Grundstücke für
28 unsere Häuser, Fabriken und Straßen; in diese Kategorie fallen aber auch Energieressourcen für unsere Autos, Heizungen oder Haushalte sowie Bodenschätze wie Kupfer, Erz oder Sand. In einer immer dichter besiedelten Welt müssen wir die Palette natürlicher Ressourcen um Umweltressourcen wie saubere Luft und Trinkwasser erweitern. • Arbeit als Produktionsfaktor bedeutet die Zeit, die Menschen für die Produktion aufwenden – wenn sie in Automobilfabriken, in der Landwirtschaft, als Lehrer in den Schulen oder als Pizzaköche arbeiten. Tausende von Berufen und Aufgaben mit verschiedensten Anforderungsprofilen werden von arbeitenden Menschen verrichtet. Arbeit ist zugleich der vertrauteste und auch wichtigste Produktionsfaktor einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft. • Kapital beinhaltet jene dauerhaften Güter einer Wirtschaft, die produziert werden, damit andere Güter erzeugt werden können. Zu den Kapital- oder Investitionsgütern gehören Maschinen, Straßen, Computer, Hämmer, LKWs, Stahlwerke, Autos, Waschmaschinen und Gebäude. Wie wir später noch sehen werden, ist es für die wirtschaftliche Entwicklung unabdingbar, einen Grundstock an spezialisierten Investitionsgütern anzusammeln. Bezüglich der drei Grundfragen des Wirtschaftens muss eine Gesellschaft entscheiden, (1) was oder welche Outputs sie produzieren soll und in welcher Menge; (2) wie sie sie produzieren soll – welche Technologien also dazu herangezogen werden sollen, mit den Inputs die gewünschten Outputs zu produzieren –; und (3) für wen die Outputs produziert und wie sie verteilt werden sollen.
Die Grundlagen
Teil 1
Die Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve Länder können nicht über eine unbegrenzte Menge aller Güter verfügen. Durch das Angebot an Produktionsfaktoren und Technologien sind ihnen Grenzen gesetzt. Dramatisch sichtbar wird die Notwendigkeit, sich zwischen beschränkten Möglichkeiten zu entscheiden, in Kriegszeiten. In der Debatte über einen möglichen Irakkrieg der USA wollten die Menschen wissen, wie viel dieser Krieg kosten würde. Müsste man US-$ 50 Milliarden oder US-$ 100 Milliarden oder vielleicht sogar noch mehr aus der zivilen Wirtschaft abziehen, um den Irak besetzen und ihn anschließend wieder aufbauen zu können? Und als die Ausgabenprognosen in immer schwindelerregendere Höhen stiegen, fragten die Leute natürlich: Warum investieren wir in die Politik in Bagdad und nicht in die von New York, oder warum sanieren wir die Stromversorgung im Nahen Osten statt jene im Mittleren Westen der USA? Wie uns das Zitat von US-Präsident Eisenhower (ober der Kapitelüberschrift) lehrt, steht umso weniger Produktionsleistung für den zivilen Konsum und für neue Investitionen zur Verfügung, je mehr davon in militärische Aufgaben fließt. Treiben wir nun diese Entscheidungsnotwendigkeit auf die Spitze und stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die nur zwei Wirtschaftsgüter hervorbringt, nämlich Kanonen und Butter. Kanonen stehen hier für die Militärausgaben, Butter für zivile Ausgaben. Nehmen wir einmal an, unsere Wirtschaft beschließt, ihre gesamte Energie für die Produktion ziviler Güter einzusetzen, in unserem Fall Butter. Jährlich kann davon eine maximale Menge produziert werden. Diese Höchstmenge hängt von der Quantität und Qualität der Ressourcen der betreffenden Wirtschaft sowie von der Produktivität ab, mit der sie eingesetzt werden. Wir unterstellen hier einmal, dass unsere Wirtschaft mit der vorhandenen Technologie und den ihr zur Verfügung
Kapitel 1
29
Die Grundlagen der Volkswirtschaft
stehenden Ressourcen maximal 5 Millionen Pfund Butter jährlich erzeugen kann. Stellen Sie sich nun im Gegensatz dazu vor, dass alle Ressourcen in die Produktion von Alternative Produktionsmöglichkeiten Möglichkeiten
Butter (Millionen Pfund)
Kanonen (in Tausend)
A
0
15
B
1
14
C
2
12
D
3
9
E
4
5
F
5
0
Kanonen gehen. Auch in diesem Fall kann die Wirtschaft wegen der erwähnten Beschränkungen nur eine bestimmte Menge produzieren. Nehmen wir an, dass 15.000 Kanonen eines gewissen Modells produziert werden können, wenn keine Butter erzeugt wird. Das sind die beiden Extreme. Dazwischen liegt ein breites Feld potenzieller Kombinationen. Wenn wir auf ein wenig Butter verzichten, können wir zumindest ein paar Kanonen erzeugen. Wenn wir mit noch weniger Butter auskommen, werden es eben mehr Kanonen sein. Punkt F in Tabelle 1-1 zeigt das eine Extrem, bei dem nur Butter, jedoch keine Kanonen produziert werden, während A für das gegenteilige Extrem steht, bei dem sämtliche Ressourcen in die Kanonenproduktion flie-
Tabelle 1-1: Die Knappheit der Ressourcen erfordert eine mengenmäßigen Entscheidung zwischen Kanonen und Butter
15
A
B
Kanonen (in Tausend)
12
15
G A
C
D
9
E 3
C
9
F
D
E 3
F 2 3 4 Butter (Millionen Pfund)
1
2 3 4 Butter (in Millionen Pfund)
5
B
Abbildung 1-2: Eine fortlaufende Kurve verbindet die eingezeichneten Punkte der numerischen Produktionsmöglichkeiten
6
1
I
U
6
0
0
B
12 Kanonen (in Tausend)
Die Knappheit der Produktionsfaktoren und Technologie schränkt die Möglichkeiten der Produktion von Kanonen und Butter ein. Auf unserem Weg von Position A zu B ... bis schließlich zu F verschieben wir die Produktionsfaktoren Arbeit, Maschinen und Boden von der Kanonenindustrie in die Butterproduktion, die wir damit steigern können.
Die Produktionsmöglichkeitskurve
5
Abbildung 1-1: Die Produktionsmöglichkeiten im Diagramm Diese Abbildung zeigt uns die alternativen ProduktionsKombinationspaare aus Tabelle 1-1.
Diese Kurve zeigt die Funktion, nach der die Gesellschaft Kanonen durch Butter ersetzen kann. Es wird ein bestimmter Stand der Technologie und eine fixe Inputmenge angenommen. Punkte, die außerhalb der Kurve liegen (wie Punkt I), sind nicht erreichbar. Jeder Punkt innerhalb der Kurve, etwa U, zeigt an, dass Ressourcen nicht oder nicht bestmöglich genutzt werden, wie beispielsweise in Zeiten der Rezession, wenn die Arbeitslosenrate hoch ist.
30 ßen. Dazwischen – also in den Punkten E, D, C und B – wird zugunsten der Kanonen auf immer mehr Butter verzichtet. Wie, werden Sie nun fragen, kann eine Nation aus Butter Kanonen machen? Butter wird natürlich nicht physisch, sondern durch einen alchemistischen Prozess, in dem wirtschaftliche Ressourcen von einem Zweck in einen anderen umgeleitet werden, in Kanonen verwandelt. Wir können die Produktionsmöglichkeiten unserer Wirtschaft in dem Diagramm in Abbildung 1-1 anschaulicher darstellen. In diesem Diagramm tragen wir Butter auf der waagrechten Achse und Kanonen auf der senkrechten Achse auf. (Sollten Sie mit den verschiedenen Diagrammen nicht zurechtkommen oder nicht wissen, wie man eine Tabelle in ein Diagramm umwandelt, sehen Sie bitte im Anhang zu diesem Kapitel nach.) Wir ermitteln Punkt F in Abbildung 1-1 aus den Daten in Tabelle 1-1, indem wir auf der waagrechten Achse fünf Buttereinheiten nach rechts und auf der senkrechten Kanonenachse 0 Einheiten nach oben rücken; E erhalten wir, indem wir 4 Buttereinheiten nach rechts und 5 Kanoneneinheiten nach oben gehen; A wird schließlich ermittelt, indem wir Butter auf 0 setzen und bei den Kanonen 15 Einheiten nach oben gehen. Wenn wir alle dazwischenliegenden Positionen im Diagramm einzeichnen, die die möglichen Kombinationen von Kanonen und Butter darstellen, erhalten wir eine kontinuierliche Kurve, die in Abbildung 1-2 als Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve (PMK) vorliegt. Die Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve (PMK) zeigt die maximalen Produktionsmengen, die eine Wirtschaft angesichts ihres technologischen Know-hows und der verfügbaren Menge an Produktionsfaktoren erzielen kann. Die PMK stellt die Gesamtheit der Güter und Dienstleistungen dar, die eine Gesellschaft produzieren kann.
Die Grundlagen
Teil 1
Die PMK in der Praxis Die Produktionsmöglichkeitenkurve in Abbildung 1-2 bezieht sich konkret auf Kanonen und Butter, doch die gleiche Analyse ist auch für jede sonstige Kombination zulässig. Je mehr Ressourcen der Staat einsetzt, um öffentliche Güter wie Autobahnen zu errichten, desto weniger wird für die Produktion privater Güter wie Wohnungen übrig bleiben; je mehr wir uns für unsere Ernährung auszugeben entschließen, desto weniger bleibt uns für Bekleidung; je mehr eine Gesellschaft sofort konsumiert, desto weniger Kapitalgüter zur künftigen Erzeugung weiterer Konsumgüter kann sie produzieren. Die Diagramme in den Abbildungen 1-3 bis 1-5 stellen einige wichtige praktische Anwendungen der PMK dar. Abbildung 1-3 zeigt die Auswirkungen des Wirtschaftswachstums auf die Produktionsmöglichkeiten eines Landes. Ein Mehr an Inputs oder eine verbesserte Technologie ermöglicht einem Land die Produktion einer größeren Gesamtmenge von Gütern und Dienstleistungen und verschiebt somit die PMK nach außen. Die Abbildung zeigt auch, dass arme Länder den Großteil ihrer Ressourcen für die Produktion von Nahrungsmitteln aufwenden müssen, während sich reiche Länder mit wachsendem Produktionspotenzial mehr Luxus erlauben können. Abbildung 1-4 zeigt, dass die Wahl auch zwischen privaten Gütern (die zu einem bestimmten Preis gekauft werden) und öffentlichen Gütern (die durch Steuern bezahlt werden) getroffen werden muss. Arme Länder können sich nur wenige öffentliche Güter wie ein staatliches Gesundheitswesen und ein höheres Bildungswesen leisten. Mit steigendem Wirtschaftswachstum nimmt jedoch der Anteil der öffentlichen Güter am Output ebenso wie die Bedeutung der Umweltqualität zu. Abbildung 1-5 stellt eine Wirtschaft dar, die zwischen (a) gegenwärtigen Konsumgütern und (b) Investitions- oder Kapitalgütern (Maschinen, Fabriken etc.) entscheiden muss. Indem sie am sofortigen Konsum spart und
Kapitel 1
31
Die Grundlagen der Volkswirtschaft
(a) Armes Land
(b) Reiches Land L
Luxusgüter (Autos, Stereoanlagen, …)
Luxusgüter (Autos, Stereoanlagen, …)
L
A
B
A
N
N lebensnotwendige Güter (Nahrung, …)
lebensnotwendige Güter (Nahrung, …)
Abbildung 1-3: Auswärtsverschiebung der PMK infolge des Wirtschaftswachstums (a) Vor Beginn seiner Entwicklung ist das Land arm. Es muss alle seine Ressourcen für die Ernährung einsetzen und kann sich keinen Luxus leisten. (b) Die Zunahme der Produktionsfaktoren und der technische Wandel verschieben die PMK nach außen. Mit einsetzendem Wirtschaftswachstum bewegt sich ein Land von A nach B und steigert so seinen Nahrungskonsum im Vergleich zum erhöhten Konsum an Luxusgütern nur wenig. Es kann je nach Wunsch aber auch beide Güter vermehrt konsumieren.
(a) Gesellschaft an der Grenze zum Wirtschaftswachstum
(b) Urbane Gesellschaft Pu Öffentliche Güter (Autobahnen, …)
Öffentliche Güter (Autobahnen, …)
Pu
A
B
A
Pr Private Güter (Nahrung, …)
Pr Private Güter (Nahrung, …)
Abbildung 1-4: Eine Wirtschaft muss zwischen öffentlichen und privaten Gütern wählen (a) Ein armes Land lebt von der Hand in den Mund, und für Luxus wie Autos oder öffentliche Güter wie Autobahnen oder ein staatliches Gesundheitswesen bleibt nur wenig übrig. (b) Ein moderner Industriestaat ist reicher und kann sich dafür entscheiden, einen größeren Einkommensanteil für öffentliche Güter und staatliche Dienstleistungen (Straßen, Umweltschutz und Bildungswesen) auszugeben.
32
Die Grundlagen
(a) Heutige Entscheidung
Teil 1
(b) Künftige Folgen
Kapitalinvestition
I
Kapitalinvestition
I
La
nd
3
La
nd
2
B3
La
nd
1
A3
B2 A2 A1
0
B1
C
Gegenwärtiger Konsum
0
C
Gegenwärtiger Konsum
Abbildung 1-5: Investitionen zugunsten eines künftigen Konsums erfordern Opfer beim gegenwärtigen Konsum Ein Land kann entweder Güter zum sofortigen Konsum (Pizzas und Konzerte) oder Investitionsgüter (Pizzaöfen und Konzertsäle) produzieren. (a) Drei Länder nehmen die gleiche Ausgangsposition ein. Sie haben dieselbe PMK, wie Sie der linken Abbildung entnehmen können, aber ihre Investitionsraten sind unterschiedlich. Land 1 investiert nicht in seine Zukunft und bleibt in A1 (nur Maschinen werden ersetzt). Land 2 verzichtet auf einen Teil seines Konsums und investiert in A2. Land 3 opfert einen großen Teil seines gegenwärtigen Konsums zugunsten umfassender Investitionen. (b) In den folgenden Jahren haben Länder, die investiert haben, die Nase vorn. Das sparsame Land 3 konnte daher seine PMK weit nach außen verschieben, während Land 1 seine PMK gar nicht verändert hat. Investitionsstarke Länder dürfen sich künftig über höhere Investitionen und einen höheren Konsum freuen.
mehr Investitionsgüter herstellt, kann eine Wirtschaft schneller wachsen und so eventuell künftig mehr von beiden Gütern (Konsum- und Investitionsgütern) erzeugen. Tauschware Zeit Die Transformationskurve kann austauschbare Güter auch abseits des Marktes, direkt aus dem täglichen Leben, darstellen. Eine der wichtigsten Entscheidungen, die Menschen treffen müssen, betrifft den Einsatz ihrer Zeit. Für sämtliche Aktivitäten, denen Leute nachgehen, steht ihnen immer nur ein beschränktes Angebot an Zeit zur Verfügung. Als Student bleiben Ihnen vielleicht zehn Stunden Studium bis zu den bevorstehenden Prüfungen in Wirtschaft und Geschichte. Wenn Sie nur Geschichte lernen, bekommen Sie wahrscheinlich in diesem Fach eine gute Note, schneiden aber in Wirtschaft entsprechend schlecht ab. Dasselbe gilt umgekehrt. Wenn Sie die Noten
auf diese beiden Prüfungen als den „Output“ Ihrer Studien betrachten, können Sie eine PMK anhand Ihrer beschränkten zeitlichen Möglichkeiten aufzeichnen. Interessant wäre auch eine PMK von Studium und Freizeit. Wo würden Sie sich selbst auf dieser PMK sehen? Wo Ihre lebenslustigen, aber faulen Freunde?
Opportunitätskosten Das Leben ist voll von Wahlmöglichkeiten. Da Ressourcen knapp sind, müssen wir überlegen, wofür wir unser Einkommen oder unsere Zeit aufwenden wollen. Bei Entscheidungen wie der, ob Sie ein Wirtschaftsstudium beginnen, ein Auto kaufen oder das College besuchen möchten, müssen Sie stets die Kosten Ihrer Entscheidung in Form verlorener Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Die Kosten einer nicht gewählten Alternative werden als die Opportunitätskosten der Entscheidung bezeichnet.
Kapitel 1
33
Die Grundlagen der Volkswirtschaft
Das Konzept dieser Opportunitätskosten lässt sich anhand der PMK darstellen. Betrachten Sie die Kurve in Abbildung 1-2, die den möglichen Entscheidungen zwischen Kanonen und Butter entspricht. Nehmen wir an, das Land beschließt, die Kanonenproduktion von 9.000 Stück in D auf 12.000 Stück in C zu erhöhen. Worin bestehen die Opportunitätskosten dieser Entscheidung? Sie könnten diese Kosten in Dollar berechnen. Doch in der Ökonomie müssen wir immer erst den „Schleier des Geldes lüften“, um die tatsächlichen Auswirkungen alternativer Entscheidungen zu erfahren. Auf der untersten Ebene bestehen die Opportunitätskosten für die Bewegung von D zu C in der Butter, auf die wir für die Produktion der zusätzlichen Kanonen verzichten müssen. In unserem Beispiel belaufen sich die Opportunitätskosten von 3.000 zusätzlichen Kanonen auf 1 Million Pfund an nicht erzeugter Butter. Oder gehen wir das ganz reale Beispiel der Eröffnung einer Goldmine in der Nähe des Yellowstone-Nationalparks durch. Die Bergbaugesellschaft argumentiert, die Mine verursache nur geringe Kosten, weil die Einnahmen des Nationalparks dadurch kaum beeinträchtigt würden. Ein Ökonom würde jedoch einwenden, dass die Dollareinnahmen keinen geeigneten Maßstab für die entstehenden Kosten darstellen. Wir sollten uns fragen, ob die einzigartigen und kostbaren Qualitäten des Yellowstone-Nationalparks durch den Betrieb einer Goldmine beeinträchtigt würden, verursacht dieser doch Lärm, eine nicht unerhebliche Verschmutzung von Wasser und Luft und einige Nachteile für die Besucher. So gering die Dollarkosten auch sein mögen, die Opportunitätskosten in Form eines verdorbenen Naturparadieses könnten dagegen massiv zu Buche schlagen. In einer Welt der Knappheit bedeutet die Wahl einer Möglichkeit immer den Verzicht auf eine andere. Die Opportunitätskosten einer Entscheidung entsprechen dem Wert des nicht gewählten Gutes oder der nicht gewählten Dienstleistung.
Effizienz Bei all den vorangegangenen Erläuterungen sind wir implizit von der Annahme einer effizient funktionierenden Wirtschaft ausgegangen – einer Wirtschaft, die sich auf, nicht aber innerhalb ihrer PMK befindet. Denken Sie daran, dass Effizienz bedeutet, die Ressourcen einer Wirtschaft möglichst effektiv einzusetzen, um die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen bestmöglich zu befriedigen. Ein wichtiger Aspekt der allgemeinen wirtschaftlichen Effizienz ist die Produktionseffizienz. Wir sprechen von Produktionseffizienz, wenn eine Wirtschaft nicht mehr von einem Gut erzeugen kann, ohne zugleich bei einem anderen Abstriche machen zu müssen, wenn sie sich also auf Ihrer PMK befindet. Doch überlegen wir einmal, warum Produktionseffizienz nur auf der PMK stattfindet. Beginnen wir bei der Situation, die durch Punkt D in Abbildung 1-2 dargestellt wird. Nehmen wir an, der Markt verlangt die Produktion einer weiteren Million Pfund Butter. Würden wir die durch die PMK auferlegte Beschränkung einfach ignorieren, hielten wir vielleicht eine Produktionssteigerung bei Butter ohne Einschränkung der Kanonenproduktion für möglich, etwa indem wir uns zu Punkt I rechts von Punkt D bewegen. Doch Punkt I befindet sich außerhalb der Kurve im „unzugänglichen“ Bereich. Ausgehend von D können wir keinesfalls mehr Butter produzieren, ohne zugleich auf einige Kanonen zu verzichten. Daher ist Punkt D effizient, Punkt I aber nicht erreichbar. Ein weiterer Aspekt der Produktionseffizienz lässt sich anhand der PMK illustrieren: Auf der PMK zu stehen bedeutet, dass die vermehrte Produktion eines Gutes unweigerlich zum Verzicht auf andere Güter führt. Wenn wir also mehr Kanonen herstellen, ersetzen oder substituieren wir Butter durch Kanonen. Die Substitution ist eines der unabänderlichen Gesetze einer Volkswirtschaft mit Vollbeschäftigung, und die PMK zeigt die
34 gesamte Palette der Wahlmöglichkeiten einer Gesellschaft. Ungenutzte Ressourcen und Ineffizienz. Selbst flüchtigen Beobachtern des modernen Lebens dürfte es nicht entgangen sein, dass eine Gesellschaft auch über ungenutzte Ressourcen wie unbeschäftigte Arbeitskräfte, stillstehende Fabrikanlagen und brachliegendes Land verfügt. Wenn Ressourcen nicht genutzt werden, befindet sich die Wirtschaft nicht auf ihrer PMK, sondern irgendwo innerhalb der Kurve. In Abbildung 1-2 stellt Punkt U einen Punkt innerhalb der PMK dar. In U produziert die Gesellschaft nur 2 Einheiten Butter und 6 Einheiten Kanonen. Ein Teil der Ressourcen wird nicht genutzt, und indem wir auch diese ungenutzten Ressourcen einsetzen, können wir unseren Output sämtlicher erzeugter Güter steigern; die Wirtschaft bewegt sich so von Punkt U zu Punkt D und produziert daher zugleich mehr Butter und mehr Kanonen: Sie verbessert ihre Effizienz. Wir können unsere Kanonen bekommen und trotzdem mehr Butter essen. Eine bedeutende Quelle der Ineffizienz sind die Konjunkturzyklen. Zwischen 1929 und 1933, während der Weltwirtschaftskrise, sank die Produktionsleistung der amerikanischen Wirtschaft um beinahe ein Viertel. Dies war nicht auf eine Verschiebung der PMK, sondern auf verschiedene Schocks zurückzuführen, die die Ausgaben drosselten und die Wirtschaft in den Bereich innerhalb ihrer PMK zurückkatapultierten. Dann erhöhte die Aufrüstung für den Zweiten Weltkrieg die Nachfrage, und die Produktionsleistung wuchs wieder kräftig, während die Wirtschaft auf ihre PMK zurückkehrte. Ähnliches ereignet sich in Zeiten der Rezession. Als die Produktionsleistung der US-Wirtschaft in den Jahren 1982 oder 1991 zurückging oder als die japanische Wirtschaft in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts stagnierte, geschah dies nicht wegen eines plötzlichen Rückgangs der Produktivität dieser Länder. Vielmehr hatten Reibungsverluste und rückläufige Ausgaben die betroffenen Staaten hinter ihre PMK zurückgedrängt.
Die Grundlagen
Teil 1
Doch ein konjunktureller Abschwung ist keineswegs der einzige Grund für das Zurückfallen einer Wirtschaft hinter ihre PMK. Ein besonders dramatischer Produktionsrückgang ereignete sich Anfang der neunziger Jahre, als einige Länder ihre kommunistischen planwirtschaftlichen Systeme abgeschafft und sich dem freien Markt zugewandt hatten. Aufgrund der Unterbrechung der bisherigen organisatorischen Abläufe und Produktionsmuster sank der Output, und die Arbeitslosigkeit stieg, als sich die Unternehmen auf die geänderten Marktbedingungen und die neuen Regeln des Kapitalismus einstellten. Niemals sonst kam es in Friedenszeiten zu einem so nachhaltigen Einbruch der Produktionsleistung wie in den „realen Konjunkturzyklen“ der postkommunistischen Wirtschaften. So schmerzhaft dieser Übergang in die Marktwirtschaft auch war, für die postkommunistischen Länder erwies sich der anfängliche Konjunktureinbruch nur als vorübergehendes Handicap. Jene Länder, die ihre Reformen frühzeitig eingeleitet und auch besonders gründlich durchgeführt hatten, wie Polen und Slowenien, schafften als erste die Wende und konnten ihr Outputniveau aus kommunistischen Zeiten bereits wieder überschreiten. Ihre PMK verschiebt sich von neuem nach außen. Länder, die ihre Reformen hinauszögern, wie die Ukraine, oder vom Krieg gezeichnete Staaten wie Serbien müssen laufend Einbußen in ihrem realen Output wie auch im Lebensstandard hinnehmen. Lassen Sie uns nun am Ende dieses einleitenden Kapitels kurz auf unser Eröffnungsthema zurückkommen: Warum gerade Volkswirtschaft studieren? Die beste Antwort auf diese Frage liefert uns wahrscheinlich Keynes in den abschließenden Zeilen seines berühmten Werks The General Theory of Employment, Interest and Money: Die Ideen der Ökonomen und politischen Philosophen haben, ob sie nun richtig oder falsch sind, mehr Einfluss, als gemeinhin angenommen wird. Eigentlich wird die Welt kaum von
Kapitel 1
35
Die Grundlagen der Volkswirtschaft
etwas anderem bestimmt. Jene Pragmatiker, die meinen, sie seien völlig frei von allen intellektuellen Einflüssen, sind tatsächlich zumeist Sklaven irgendeines längst verstorbenen Ökonomen. Verrückte Machtträger, die Stimmen hören, holen sich ihre Wahnsinnsideen in Wahrheit von irgendeinem akademischen Schreiberling der letzten Jahre. Ich bin ganz sicher, dass die Macht der Eigeninteressen im Vergleich zum stetigen Vordringen der Ideen bei weitem überschätzt wird. Das alles passiert nicht von heute auf morgen, sondern braucht seine Zeit. In der Ökonomie und in der politischen Philosophie gibt es nicht viele, die sich noch im Alter von 25 oder 30 Jahren von neuen
Theorien beeinflussen lassen, sodass jene Ideen, die Beamte und Politiker, ja sogar politische Agitatoren, zu den laufenden Ereignissen äußern, ziemlich wahrscheinlich nicht neuesten Datums sind. Früher oder später sind es aber immer Ideen und nicht Eigeninteressen, die über die gefährliche Frage von Gut oder Böse entscheiden.
Um zu verstehen, wie sich mächtige volkswirtschaftliche Ideen auf die zentralen Fragen der Menschheit auswirken – das ist letztlich der Grund, warum wir uns mit dem Thema Ökonomie auseinandersetzen.
Zusammenfassung A. Einleitung 1.
2.
3.
Was ist die Volkswirtschaftslehre oder Ökonomik? Die Volkswirtschaftslehre ist die Lehre von den Entscheidungen der Gesellschaften über den Einsatz knapper Produktionsressourcen, die alternative Einsatzmöglichkeiten zulassen, um verschiedene Güter zu produzieren und diese unter verschiedenen Gruppen aufzuteilen. Wir studieren Wirtschaft, um nicht nur die Welt, in der wir leben, sondern auch die vielen anderen, potenziellen Welten verstehen zu können, von denen uns die Reformer laufend überzeugen wollen. Güter sind deshalb knapp, weil Menschen immer viel mehr haben möchten, als die Wirtschaft erzeugen kann. Wirtschaftsgüter sind knapp, sie sind nicht frei, und die Gesellschaft muss Entscheidungen zwischen beschränkt verfügbaren Gütern treffen, die sie mit den vorhandenen Ressourcen produzieren kann. Die Mikroökonomie befasst sich mit dem Verhalten der einzelnen Wirtschaftseinheiten, also der Märkte, Unternehmen und Haushalte. Die Makroökonomie steht hingegen für eine weiter gefasste, gesamtwirtschaftliche Perspektive. Hüten Sie sich in der Volkswirtschaftslehre stets vor dem Trugschluss der Verallgemeinerung und vor dem Post-hoc-Irrtum, und vergessen Sie nie, alle gerade nicht relevanten Faktoren konstant zu belassen.
B. Die drei Grundfragen der Wirtschaft 4.
5.
Jede Gesellschaft muss für sich drei wesentliche Fragen beantworten: Was, wie und für wen? Was und in welchen Mengen wird aus der breiten Palette aller möglichen Güter und Dienstleistungen produziert? Wie werden Ressourcen zur Produktion der gewählten Güter eingesetzt? Für wen werden die Güter produziert (das heißt, wie werden Einkommen und Konsum zwischen den verschiedenen Einzelpersonen und Klassen verteilt)? Die Gesellschaften beantworten diese Fragen auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Die heute bedeutendsten Wirtschaftsformen sind die Plan- und die Marktwirtschaft. Die Plan- oder Zentralverwaltungswirtschaft unterliegt einer zentralistischen staatlichen Kontrolle; im Gegensatz dazu wird die Marktwirtschaft durch ein informelles System von Preisen und Gewinnen bestimmt, in dem die meisten Entscheidungen von Privatpersonen und Unternehmen getroffen werden. Alle Gesellschaften verfügen über eine ganz spezifische Kombination aus Planund Marktwirtschaft; alle weisen ein wirtschaftliches Mischsystem auf.
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Die Grundlagen
C Die technologischen Möglichkeiten einer Gesellschaft 6.
7.
Angesichts vorgegebener Ressourcen und Technologien lässt sich die Produktionsentscheidung zwischen zwei Gütern, wie etwa Butter und Kanonen, in einer Produktionsmöglichkeiten- oder Transformationskurve (PMK) zusammenfassend darstellen. Die PMK zeigt uns, wie die Produktion eines Gutes (beispielsweise Kanonen) gegen die Produktion eines anderen Gutes (etwa Butter) getauscht wird. In einer Welt der Knappheit führt die Wahl einer Option zum Verzicht auf eine andere. Der Wert jener Güter oder Dienstleistungen, auf die verzichtet wurde, wird als deren Opportunitätskosten bezeichnet. Produktionseffizienz ist gegeben, wenn die Herstellung eines Gutes nicht ohne Zurücknahme der Produktion eines anderen Gutes gesteigert werden kann. Dieser Umstand wird durch die PMK illustriert. Befindet sich eine Wirt-
8.
9.
Teil 1
schaft auf ihrer PMK, kann sie von einem Wirtschaftsgut nicht mehr erzeugen, ohne von einem anderen weniger erzeugen zu müssen. Produktionsmöglichkeiten- oder Transformationskurven veranschaulichen eine Vielzahl grundlegender ökonomischer Prozesse: wie das Wirtschaftswachstum die PMK nach außen verschiebt, wie ein Staat im Zuge seiner Entwicklung vergleichsweise immer weniger Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Güter erzeugt, wie ein Land zwischen privaten und öffentlichen Gütern zu wählen hat und wie sich Gesellschaften zwischen Konsumgütern und Kapitalgütern, die den künftigen Konsum erhöhen, entscheiden müssen. Gesellschaften befinden sich bisweilen innerhalb ihrer PMK. Bei hoher Arbeitslosigkeit oder wenn Unruhen oder ineffiziente staatliche Maßnahmen die Wirtschaftsaktivitäten hemmen, wird die Wirtschaft ineffizient und fällt daher hinter ihre PMK zurück.
Begriffe zur Wiederholung Grundlegende Konzepte Knappheit und Effizienz Freie Güter im Vergleich zu Wirtschaftsgütern Mikroökonomie und Makroökonomie Normative im Vergleich zu beschreibender Ökonomie Trugschluss der Verallgemeinerung, Post-hoc-Irrtum „Alles andere konstant halten“ Kühler Kopf im Dienste des sozialen Gewissens
Die drei Grundfragen der Wirtschaft
Wahl zwischen Produktionsmöglichkeiten
Was, wie und für wen Die verschiedenen Wirtschaftssysteme: Planwirtschaft und Marktwirtschaft Laissez-faire Wirtschaftliches Mischsystem
Input und Output Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve (PMK) Produktionseffizienz und Ineffizienz Opportunitätskosten
Kapitel 1
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Die Grundlagen der Volkswirtschaft
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Robert Heilbroner, The Worldly Philosophers, 7. Aufl. (Touchstone Books, 1999). Das Buch enthält eine interessante Biografie der großen Ökonomen und beschreibt deren Ideen und Einfluss. Das bedeutendste Werk zur Geschichte der Wirtschaftsanalyse stammt von Joseph Schumpeter: History of Economic Analysis, (McGraw-Hill, New York, 1954). Deutschsprachige Literatur: Eine Fülle von Artikeln zu volkswirtschaftlichen Themen bietet das 25.000 Stichwörter umfassende, mehrbändige Gabler Volkswirtschaftslexikon, 4. Aufl. (Gabler, Wiesbaden, 1997). Etwas knapper, aber ebenfalls nützlich ist Artur Wolls Wirtschaftslexikon, 9. Aufl. (Oldenbourg, München, 2000).
Websites Eines der hervorragendsten volkswirtschaftlichen Bücher aller Zeiten ist Adam Smiths The Wealth of Nations (Der Reichtum der Nationen; oft und in vielen Verlagen erschienen, Ersterscheinungsdatum 1776). The Wealth of Nations finden Sie unter: www.bibliomania.com/NonFiction/Smith/Wealth/index.html. Besuchen Sie eine der VWL-Referenzseiten wie Resources for Economists on the Internet (www.rfe.org.) Browsen Sie durch einige Abschnitte, um sich mit der Website vertraut zu machen. Vielleicht möchten Sie konkret nach Ihrer Universität suchen, sich aktuelle Zeitungsartikel ansehen oder einige Wirtschaftsdaten nachschlagen. Zwei Seiten, die ausgezeichnete Analysen wirtschaftspolitischer Themen bieten, sind jene der Brookings Institution (www.brook.edu) und jene des American Enterprise Institute (www.aei.org). Jedes dieser Institute publiziert Bücher und informiert über die eigene Tätigkeit online. Ein nützliches Wirtschaftslexikon mit Kurzdefinitionen von Fachbegriffen findet man unter www.suchmaschine-webkatalog.de/vwl-lexikon/. Gut verständliche Erläuterungen von Begriffen aus dem Bereich Arbeit, Wirtschaft und Sozialpolitik bietet: www.igmetall.de/direkt/lexikon. Wer über die Theorie hinausgehen und sich mit realen, aktuellen Wirtschaftsfragen beschäftigen möchte, findet ein großes Literaturangebot vor. Die Stiftung Marktwirtschaft beispielsweise gibt regelmäßig Studien zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen heraus; Informationen hierzu sind unter www.stiftungmarktwirtschaft.de zu finden. Veröffentlichungen zur Wirtschaft und wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland bietet auch die Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de/themen.
Übungen 1.
Der große britische Ökonom Alfred Marshall (1842–1924) erfand viele der in der modernen Wirtschaftstheorie gängigen Werkzeuge, interessierte sich jedoch vor allem für die praktische Anwendung dieser Werkzeuge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Marshall erklärte in seiner Einführungsvorlesung: „Es wird mein dringendstes Bemühen sein, die Zahl jener zu erhöhen, die die Universität Cambridge mit kühlem Kopf und warmem Herzen in die Welt entsendet; Leute, die bereit sind, ihr Bestes zu geben, um die sozialen
Leiden ihrer Umwelt zu lindern; entschlossen, sich erst zufrieden zu geben, wenn sie allen die wichtigsten Voraussetzungen für ein gebildetes und kultiviertes Leben eröffnet haben.“ [Memorials of Alfred Marshall, A.C. Pigou, Hrsg. (MacMillan and Co., London, 1925), S. 174, mit geringfügigen Anpassungen] Erklären Sie, wie ein kühler Kopf erst jene entscheidende positive Wirtschaftsanalyse ermöglicht, mit der sich die normativen Werturteile eines warmen Herzens oder sozialen Gewissens umsetzen lassen. Können Sie sich mit
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2.
3.
4.
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6.
Die Grundlagen
der Sichtweise Marshalls identifizieren, was die Funktion des Lehrers betrifft? Akzeptieren Sie seine Intentionen? Der bereits verstorbene George Stigler, ein bedeutender konservativer Ökonom der Chicagoer Schule, schrieb: „Keine grundlegend egalitäre Gesellschaft war je in der Lage, ein effizientes und progressives Wirtschaftssystem aufzubauen oder zu erhalten. Es entspricht der allgemeinen Erfahrung, dass irgendeine Art differenzierender Belohnung erforderlich ist, um Arbeitskräfte zu motivieren.“ [The Theory of Price, 3. Ausg. (Macmillan, New York, 1966), S. 19.] Handelt es sich bei diesen Aussagen um positivistische oder normative Ökonomie? Erörtern Sie Stiglers Ansicht im Lichte des Zitats von Alfred Marshall in Frage 1. Sehen Sie einen Widerspruch zwischen beiden? Definieren Sie jeden der folgenden Begriffe genau und führen Sie Beispiele an: PMK, Knappheit, Produktionseffizienz, Input, Output. Mit zunehmendem Reichtum wird Zeit die wichtigste knappe Ressource des Menschen. Nehmen wir an, Sie wären sehr reich, hätten aber nur wenige Stunden Freizeit pro Woche. Nennen Sie einige Beispiele, wie Sie Ihre Zeit noch ökonomischer einteilen könnten. Vergleichen Sie, wozu reiche und wozu arme Menschen ihre Zeit verwenden. Nehmen Sie an, das Land Ökonomien produziert Haarschnitte und Hemden mit einem gewissen Input an Arbeit. Ökonomien stehen dazu 1.000 Arbeitsstunden zur Verfügung. Ein Haarschnitt erfordert etwa eine halbe Arbeitsstunde, während für ein Hemd fünf Arbeitsstunden aufgewendet werden müssen. Erstellen Sie eine Transformationskurve für Ökonomien. Nehmen Sie an, die wissenschaftlichen Erfindungen hätten die Produktivität der gesellschaftlichen Ressourcen zur Erzeugung von Butter verdoppelt, während die Produktivität in
7.
8.
Teil 1
der Kanonenerzeugung gleich geblieben ist. Zeichnen Sie die Transformationskurve in Abbildung 1-2 noch einmal unter Berücksichtigung dieser Annahme. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, wir würden unsere natürlichen Ressourcen zusehends plündern. Nehmen Sie an, dass zur Produktion zweier Güter (Konzerte und Benzin) nur zwei Inputs (Arbeit und natürliche Ressourcen) nötig sind und dass sich die Technologie dieser fiktiven Gesellschaft im Zeitverlauf nicht verbessert. Zeigen Sie, welchen Verlauf die PMK nehmen müsste, wären die natürlichen Ressourcen bereits erschöpft. Was würde sich im Falle neuer Erfindungen und technologischen Fortschritts an Ihrer Antwort ändern? Erklären Sie ausgehend von diesem Beispiel, warum immer wieder behauptet wird, Wirtschaftswachstum sei ein „Wettrennen zwischen Ausbeutung und Erfindung“. Nehmen Sie an, Herr Fleißig hätte 10 Stunden Zeit für sein Studium der Fächer Volkswirtschaft und Geschichte. Zeichnen Sie eine PMK der Noten, die Herr Fleißig angesichts seiner begrenzten zeitlichen Ressourcen bekommen kann. Sollte Fleißig ineffizient studieren, indem er beispielsweise laute Musik hört und immer wieder mit seinen Freunden in die Kneipe geht, wie sähe es dann mit seinem Output bezogen auf seine PMK aus? Wie würde sich dagegen die Noten-PMK von Herrn Fleißig verändern, könnte er seinen Studieninput von 10 auf 15 Stunden erhöhen?
ANHANG 1 Diagramme richtig lesen Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Chinesisches Sprichwort
Um sich in der Volkswirtschaft zurechtzufinden, benötigt man erst eine gewisse Grundkenntnis von Diagrammen und Kurven. Diese sind als Werkzeuge für den Ökonomen ebenso wichtig wie Hammer und Säge für den Zimmermann. Sollten Sie also bisher noch nie mit Diagrammen zu tun gehabt haben, nehmen Sie sich doch gleich zu Beginn ein wenig Zeit dafür – Sie werden sehen, eine sinnvolle Investition! Was ist überhaupt ein Diagramm? Ein Diagramm zeigt uns, in welcher Beziehung zwei oder mehrere Datenreihen oder Variablen zueinander stehen. In derVolkswirtschaft sind Diagramme deshalb so wichtig, weil sie Alternative Produktionsmöglichkeiten Möglichkeiten
Nahrung
Maschinen
A
0
150
B
10
140
C
20
120
D
30
90
E
40
50
F
50
0
Tabelle 1A-1: Nahrung und Maschinen: die möglichen Produktionskombinationen Die Tabelle zeigt sechs potenzielle Produktionskombinationen, die mit den gegebenen Ressourcen eines Landes produziert werden können. Das Land kann zwischen den sechs möglichen Kombinationen wählen.
es uns unter anderem ermöglichen, ökonomische Konzepte zu analysieren und historische Trends zu untersuchen. Sie werden in diesem Buch eine ganze Reihe verschiedener Diagramme finden. Einige zeigen, wie sich gewisse Variable im Laufe der Zeit verändern, aus anderen wird die Beziehung zwischen verschiedenen Variablen untereinander ersichtlich (ein solches Beispiel werden Sie gleich kennen lernen). Jedes Diagramm in diesem Buch soll Ihnen das Verständnis für ein bedeutendes ökonomisches Gesetz oder einen wichtigen Trend erleichtern.
Die Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve Das erste Diagramm, dem Sie in diesem Buch begegnet sind, war die Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve PMK. Wie wir bereits erörtert haben, stellt die PMK die maximale Menge zweier Güter oder Dienstleistungen dar, die angesichts der in einer Wirtschaft vorhandenen beschränkten Ressourcen, sofern diese zur Gänze ausgelastet werden, zugleich produziert werden können. Betrachten wir eine wichtige Anwendung dieses Beispiels, nämlich die Entscheidung zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln und Maschinen. Die für unsere PMK nötigen Daten sind Tabelle 1A-1 zu entnehmen, die dem Beispiel in Tabelle 1-1 weitge-
40
Diagramm der vorhandenen Produktionsmöglichkeiten Die in Tabelle 1A-1 enthaltenen Daten lassen sich auch in Diagrammform darstellen. Im Diagramm stellen wir jedes der Datenpaare aus der Tabelle als einen Punkt oder als zweidimensionale Ebene dar. Abbildung 1A-1 zeigt die Beziehung zwischen der Nahrungsmittel- und Maschinenproduktion aus Tabelle 1A-1 als Diagramm. Jedes Zahlenpaar wird durch einen Punkt in diesem Diagramm eingetragen. Die in Tabelle 1A-1 mit A bezeichnete Reihe wird in Abbildung 1A-1 als Punkt A dargestellt; ebenso wird mit den Reihen B, C etc. verfahren. In Abbildung 1A-1 entsprechen die vertikale Linie links und die horizontale Linie unten den beiden Variablen: Nahrungsmitteln und Maschinen. Eine Variable ist ein Untersuchungsgegenstand, der sich definieren und messen lässt und zu verschiedenen Zeiten oder an verschiedenen Orten unterschiedliche Werte annimmt. Wichtige, in der Volkswirtschaft untersuchte Variablen sind beispielsweise Preise, Mengen, Arbeitsstunden, Bodenflächen, Einkommen in Dollar etc. Die horizontale Linie auf dem Diagramm wird als die waagrechte oder X-Achse bezeichnet. In Abbildung 1A-1 wird der Nahrungsmitteloutput auf der schwarzen waagrechten Achse gemessen. Die senkrechte Linie trägt die Bezeichnung senkrechte oder Y-Achse. In Abbil-
150
A
Teil 1
B
120
Maschinen
hend gleicht. Erinnern Sie sich? Die verschiedenen angegebenen Möglichkeiten entsprechen einer bestimmten Produktionsmenge an Nahrungsmitteln und einem bestimmten Ausstoß an Maschinen. Bei steigender Nahrungsmittelmenge sinkt die Maschinenproduktion. Würde also die Wirtschaft in unserem Beispiel 10 Nahrungsmitteleinheiten produzieren, könnte sie maximal 140 Maschinen herstellen, während bei einem Nahrungsmitteloutput von 20 Einheiten nur 120 Maschinen vom Band laufen würden.
Die Grundlagen
C
90
D
60
E 30
F 0
10
20 30 Nahrung
40
50
Abbbildung 1A-1: Sechs mögliche Produktionskombinationen Nahrung/Maschinen In dieser Abbildung sehen Sie die Daten aus Tabelle 1A-1 grafisch aufbereitet. Es handelt sich um exakt dieselben Daten, die jedoch deutlicher werden, wenn man sie grafisch darstellt.
dung 1A-1 misst sie die Zahl der produzierten Maschinen. Punkt A auf der senkrechten Achse steht für 150 Maschinen. Die Ecke links unten, in der die beiden Achsen einander schneiden, wird als Ursprung oder Nullpunkt bezeichnet. In Abbildung 1 A-1 steht er für 0 Einheiten Nahrungsmittel und 0 Einheiten Maschinen.
Die durchgezogene Kurve In den meisten ökonomischen Beziehungen können sich die Variablen nur geringfügig oder auch in so großen Schritten wie in Abbildung 1A-1 ändern. Wir zeichnen daher im allgemeinen ökonomische Beziehungen als kontinuierliche Kurven. Abbildung 1A-2 zeigt die PMK als durchgezogene Kurve, mit der die Punkte von A bis F verbunden wurden. Durch den Vergleich von Tabelle 1A-1 und Abbildung 1A-2 können wir erkennen, warum in der Wirtschaftswissenschaft Diagramme so häufig verwendet werden. Die kontinuierlich verlaufende PMK spiegelt die Wahlmöglichkeiten der Wirtschaft in der
Anhang 1
41
Diagramme richtig lesen
Produktion wider. Sie illustriert anschaulich, welche Arten von Gütern jeweils in welcher Menge vorhanden sind. Wir können aus ihr auf einen Blick das Verhältnis zwischen Maschinen- und Nahrungsmittelproduktion erkennen.
hung zwischen der Veränderung von Y und der Veränderung von X. Wir können Abbildung 1A-3 benutzen, um zu zeigen, wie wir die Steigung einer Geraden, etwa der Geraden BD, messen. Stellen wir uns die Bewegung von B nach D Die Produktionsmöglichkeitskurve (PMK) oder Transformationskurve
Steigung und Kurven
(a): Inverse Beziehung
Y
150
A B C
120
Maschinen
Abbildung 1A-2 zeigt das Verhältnis zwischen der maximalen Nahrungsmittel- und Maschinenproduktion. Eine ganz wichtige Methode, um das Verhältnis zwischen zwei Variablen zu beschreiben, bietet uns die Steigung der Kurve. Der Anstieg oder die Steigung einer Kurve gibt die Veränderung einer Variablen infolge der Veränderung einer anderen Variablen wieder. Genauer gesagt handelt es sich um die Veränderung der Variablen Y auf der senkrechten Achse pro Einheit Veränderung der Variablen X auf der waagrechten Achse. Nehmen wir an, in Abbildung 1A-2 sei die Nahrungsmittelproduktion von 25 auf 26 Einheiten gestiegen. Die Steigung der Kurve in Abbildung 1A-2 zeigt uns die präzise Veränderung der Maschinenproduktion, die infolgedessen stattfinden würde. Die Steigung ist ein exaktes numerisches Maß der Bezie-
D
90
60 E 30
0
10
20 30 Nahrung
F 50
40
Abbildung 1A-2: Die Produktionsmöglichkeitenkurve (PMK) oder Transformationskurve Eine durchgezogene Kurve, die Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve, verbindet die eingetragenen Produktionskombinationen. (b): Direkte Beziehung
Y
E A D 1
C s
B
B
s
1
C
D A E
X
X
Abbildung 1A-3: Berechnung der Steigung von Geraden (gerade verlaufenden Kurven) Die Steigung einer Gerade ist sehr leicht als „Δy dividiert durch Δx“ zu berechnen. So entspricht sowohl bei (a) als auch bei (b) der numerische Wert der Steigung Δy/Δx = CD/BC = s/l = s. Bitte beachten Sie, dass CD in (a) negativ ist, was eine negative Steigung oder ein inverses Verhältnis zwischen X und Y anzeigt.
42
Die Grundlagen
in zwei Schritten vor. Als Erstes erfolgt eine horizontale Bewegung von B nach C, die einen Anstieg des X-Wertes um eine Einheit (ohne Veränderung von Y) zeigt. Daran schließt sich eine kompensierende vertikale Bewegung nach oben oder unten an, die in Abbildung 1A-3 als s bezeichnet ist. (Die erste, horizontale Verschiebung um eine Einheit dient nur der Bequemlichkeit. Die Formel gilt aber für Bewegungen jeder Größenordnung.) Diese zweistufige Bewegung bringt uns von einem Punkt auf der Geraden zu einem anderen. Da die Bewegung BC eine Steigung von X um eine Einheit bedeutet, zeigt die Länge von CD (in Abbildung 1A-3 als s bezeichnet) die Veränderung von Y pro zusätzlicher Einheit von X an. In einem Diagramm heißt diese Veränderung die Steigung der Linie ABDE. Anstieg oder Steigung lässt sich auch als „AY durch AX“ definieren. AY ist der vertikale Abstand, in Abbildung 1A-3 beispielsweise der Abstand von C nach D. Dx ist der horizontale Abstand, in Abbildung 1A-3 also BC. „AY durch AX“ wäre in diesem Fall CD durch BC. Die Steigung von BD ist daher CD/BC. (Für jene unter Ihnen, die sich mit Differenzial- und Integralrechnungen auskennen, verweist Frage 7 am Ende dieses
Anhangs auf die Beziehung zwischen Steigungen und Ableitungen.) Um den Begriff Steigung zu verstehen, sollte man folgende Punkte berücksichtigen: 1. Eine Steigung kann als Zahl ausgedrückt werden. Sie misst die Veränderung von Y pro zusätzlicher Einheit X oder „AY durch AX“. 2. Bei einer Geraden ist die Steigung überall konstant. 3. Die Steigung einer Kurve zeigt an, ob die Beziehung zwischen X und Y direkt oder invers ist. Direkte Beziehungen bedeuten, dass sich die Variablen in dieselbe Richtung bewegen (sie steigen oder fallen also gemeinsam), während man von inversen Beziehungen spricht, wenn sich die Variablen in entgegengesetzter Richtung entwickeln (wenn eine steigt, während die andere fällt). Somit zeigt eine negative Steigung eine inverse Beziehung zwischen X und Y wie in Abbildung 1A-3(a) an. Warum? Weil eine Steigerung von X eine Zurücknahme von Y erfordert. Bisweilen wird die Steigung mit der Steilheit der Kurve verwechselt. Diese Schlussfol-
(a)
(b)
Y
Y
2
2
1
1
0
Teil 1
1 2 3 4
X
0
1
2
3
4
X
Abbildung 1A-4: Steilheit ist nicht dasselbe wie Steigung Bitte beachten Sie, dass obwohl (a) steiler aussieht als (b), beide Kurven genau dasselbe Verhältnis darstellen. Die Steigung beträgt in beiden Fällen 1/2, aber die X-Achse wurde in (b) gestreckt.
Anhang 1
43
Diagramme richtig lesen
gerung kann, muss aber nicht richtig sein. Die Steilheit der Kurve hängt nämlich von dem im Diagramm verwendeten Maßstab ab. Die Bilder (a) und (b) in Abbildung 1A-4 zeigen exakt dasselbe Größenverhältnis. Bei (b) ist jedoch der horizontale Maßstab im Vergleich zu (a) gestreckt. Wenn Sie genau rechnen, werden Sie entdecken, dass die Steigung in beiden Fällen identisch (nämlich 1/2) ist.
Steigung einer gekrümmten Kurve Eine gekrümmte oder nichtlineare Kurve ist eine Linie, deren Steigung sich verändert. Manchmal wollen wir die Steigung in einem bestimmten Punkt ermitteln, etwa in Punkt B der Abbildung 1A-5. Wir erkennen zwar, dass die Steigung in Punkt B positiv ist, sehen aber nicht, wie wir sie berechnen können. Um die Steigung einer verlaufenden, gekrümmten Kurve in einem bestimmten Punkt festzustellen, müssen wir die Steigung jener Geraden errechnen, die die Kurve im frag-
lichen Punkt berührt, jedoch nicht schneidet. Eine solche Gerade wird als Tangente der gekrümmten Kurve bezeichnet. Anders betrachtet ist die Steigung einer gekrümmten Kurve im gegebenen Punkt gleich der Steigung der an diesen Punkt angelegten Tangente. Wenn wir die Tangente zeichnen, können wir die Steigung der Tangente mit der üblichen, bereits erörterten Messmethode (rechter Winkel) ermitteln. Um die Steigung in Punkt B in Abbildung 1A-5 zu ermitteln, konstruieren wir einfach die Strecke FBJ als Tangente, die wir in Punkt B an die Kurve anlegen. Anschließend berechnen wir die Steigung der Tangente als NJ/ MN. Ebenso ergibt die Tangente GH die Steigung der gekrümmten Kurve in Punkt D. Ein weiteres Beispiel für die Steigung einer nichtlinear verlaufenden Kurve sehen Sie in Abbildung 1A-6. Diese zeigt einen für die Mikroökonomie typischen Fall: Es handelt sich um eine glockenförmige Kurve mit eiY
Y
Nullsteigung
J
C
G
ng
ive Po
gu
sit
D
tei
B
eS
E D
tiv
Ste
H
ga
N
igu
ng
Ne
M
B A
E X
F A
X
Abbildung 1A-5: Tangente als Steigung einer gekrümmten Kurve Durch Anlegen einer Tangente lässt sich die Steigung einer gekrümmten Kurve in einem gegebenen Punkt berechnen. So bildet die Linie FBMJ die Tangente zur gerade verlaufenden ABDE-Kurve in Punkt B. Die Steigung in B wird als Steigung der Tangente berechnet, also als NJ/MN.
Abbildung 1A-6: nichtlinearer Kurven
Unterschiedliche
Steigungen
In der Volkswirtschaftslehre stoßen wir immer wieder auf Kurven, die erst ansteigen, irgendwo einen Höhepunkt erreichen und dann wieder abfallen. Im ansteigenden Bereich von A nach C ist die Steigung positiv (siehe Punkt B). Im abfallenden Bereich von C nach E ist die Steigung negativ (siehe Punkt D). Am höchsten Punkt der Kurve, in C, beträgt die Steigung Null. (Wie verhält sich eine U-förmige Kurve? Wo weist sie die geringste Steigung auf?)
44
Verschiebung von, und Bewegung entlang von Kurven Eine in der Volkswirtschaftslehre wichtige Unterscheidung betrifft die Verschiebung von Kurven und die Bewegung entlang von Kurven. Wir können diesen Unterschied in Abbildung 1A-7 erkennen. Die innere Transformationskurve gibt die PMK in Abbildung 1A-2 wieder. In Punkt D entscheidet sich die Gesellschaft für die Produktion von 30 Einheiten Nahrung und 90 Einheiten Maschinen. Sollte die Gesellschaft jedoch plötzlich beschließen, bei gegebener PMK mehr Nahrung zu erzeugen, dann könnte sie sich entlang der PMK bis zu Punkt E bewegen. Diese Bewegung entlang der Kurve drückt die Entscheidung für mehr Nahrung und weniger Maschinen aus. Nehmen Sie nun an, die innere PMK würde die Produktionsmöglichkeiten der Gesellschaft für das Jahr 1990 darstellen. Be-
Teil 1
trachten wir dasselbe Land im Jahr 2000, so erkennen wir, dass sich seine PMK von der inneren Kurve des Jahres 1990 zur äußeren Kurve des Jahres 2000 verschoben hat. (Diese Verschiebung ist auf technologischen Wandel oder zusätzliche Kapazitäten der Faktoren Arbeit oder Kapital zurückzuführen.) Im Jahr 2000 entscheidet sich diese Gesellschaft vielleicht für Punkt G, was bedeutet, dass sie mehr Nahrung und Maschinen erzeugt, als dies sowohl in D als auch in E der Fall war. Das Entscheidende an diesem Beispiel ist die Unterscheidung zwischen einer Bewegung entlang der Kurve wie im ersten Fall (von D zu E) und einer Verschiebung der Kurve wie im zweiten Fall (von D zu G).
Spezielle Diagramme Die PMK ist eines der wichtigsten Diagramme der Wirtschaftswissenschaften, weil sie das Verhältnis zwischen zwei volkswirtschaftlichen Variablen (Nahrung und Maschinen 210 180 150 Maschinen
nem Maximum im Punkt C. Wir können unsere Methode der Ermittlung des Anstiegs als Steigung der Tangente verwenden und sehen, dass die Steigung der Kurve im ansteigenden Bereich der Kurve immer positiv ist, ebenso wie sie im abfallenden Bereich immer negativ ist. An der Spitze oder im höchsten Punkt der Kurve ist die Steigung immer exakt Null. Eine Steigung von Null bedeutet, dass eine winzige Bewegung der Variablen X um die Spitze auf den Wert der Y-Variablen keinen Einfluss hat.3
Die Grundlagen
120 G D
90 60
E
30 3 Alle jene, die sich für Algebra interessieren, merken sich die Steigung einer Linie am besten wie folgt: Eine gerade Linie (oder eine lineare Beziehung) wird mit der Formel Y = a+bX angegeben. Für diese Linie ist die Steigung der Kurve b, und sie misst die Veränderung von Y bei Änderung von X um eine Einheit. Eine gekrümmte Kurve oder ein nichtlineares Verhältnis beinhaltet neben Konstanten und dem X-Term weitere Terme. Ein Beispiel für ein nichtlineares Verhältnis ist die quadratische Gleichung Y = (X– 2)2. Sie können leicht erkennen, dass die Steigung dieser Gleichung negativ ist, wenn X < 2, und dass sie positiv ist, wenn X > 2. Welche Steigung ergibt sich für X = 2? Für die Freunde der Differential- und Integralrechnung: Eine Steigung von Null liegt vor, wenn die Ableitung einer gleichmäßigen Kurve gleich Null ist. Sie können mit dieser Rechenmethode den Nullsteigungspunkt einer Kurve, die durch die Funktion Y = (X–2)2 definiert ist, finden und darstellen.
2000 1990
0
10
20
30 40 Nahrung
50
60
70
Abbildung 1A-7: Verschiebung von Kurven oder Bewegung entlang von Kurven Bei der Verwendung von Diagrammen ist unbedingt darauf zu achten, dass zwischen einer Bewegung entlang der Kurve (wie vom investitionsintensiven Punkt D zum investitionsschwachen Punkt E) und einer Verschiebung der Kurve (wie von D in einem früheren Jahr zu G in einem späteren Jahr) unterschieden wird.
45
Diagramme richtig lesen
oder Kanonen und Butter) darstellt. Sie werden jedoch auf den folgenden Seiten auch noch mit zahlreichen anderen Diagrammen Bekanntschaft machen. Zeitreihen. Einige Diagramme zeigen, wie sich eine bestimmte Variable im Zeitablauf verhält. Bei Zeitreihendiagrammen wird die Zeit auf der waagrechte Achse aufgetragen, während die untersuchten Variablen (in diesem Fall das Schulden-BIP-Verhältnis) auf der senkrechten Achse stehen. Diagramm, welches das Verhältnis des amerikanischen Haushaltsdefizits zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) darstellt, würde zeigen dass der Verschuldungsgrad während jedes größeren Krieges einen dramatischen Anstieg verzeichnete. Streudiagramme. Manchmal werden einzelne Punkte dargestellt, zu sehen etwa in Abbildung 1A-1. Sehr häufig begegnen uns allerdings auch Variablen-Kombinationen für verschiedene Jahre. Ein wichtiges makroökonomisches Beispiel für ein Streudiagramm ist die Konsumfunktion, die in Abbildung 1A-8 dargestellt ist. Dieses Streudiagramm zeigt das gesamte verfügbare Volkseinkommen auf der waagrechten und den gesamten Konsum (die Ausgaben der Haushalte für Güter wie Lebensmittel, Kleidung und Haushalt) auf der senkrechten Achse. Beachten Sie, dass der Konsum sehr eng mit dem Einkommen zusammenhängt, was für das Verständnis der Veränderungen in den Bereichen Volkseinkommen und Produktion ganz wesentlich ist. Diagramme mit mehr als einer Kurve. Häufig erweist es sich als sinnvoll, zwei Kurven im selben Diagramm einzuzeichnen, wodurch ein sogenanntes „Multikurvendiagramm“ entsteht. Diese Diagramme können zwei verschiedene Beziehungen gleichzeitig
darstellen, etwa die Reaktion der Kaufbereitschaft der Konsumenten auf den Preis (Nachfrage) und die Reaktion der Produktion auf den Preis (Angebot). Durch die Darstellung beider Relationen in einem Diagramm können wir ermitteln, wie sich Preis und Produktionsmenge auf einem bestimmten Markt einstellen werden. Und damit ist unser kurzer Exkurs über Diagramme auch schon abgeschlossen. Sie werden sehen, sobald Sie mit den hier erklärten, grundlegenden Prinzipien zurechtkommen, werden Sie die Diagramme in diesem Buch und anderswo als unterhaltsam und informativ erleben. Konsumausgaben (Mrd. US-$, Preise von 2000)
Anhang 1
9.000
c
8.000
2003 2000
7.000 6.000 1995
5.000
1990
4.000 1980
3.000
1970
2.000 1.000
c
1960
0 0
2.000
4.000
6.000
8.000 10.000
Verfügbares Einkommen (Mrd. US-$, Preise 2000)
Abbildung 1 A-8: Das Streudiagramm der Konsumfunktion zeigt ein wichtiges Gesetz der Makroökonomie Die beobachteten Ausgabenhöhen für den Konsum fallen in die Nähe der CC-Linie, die das Durchschnittsverhalten im Zeitablauf darstellt. So liegt etwa der rote Punkt für das Jahr 2003 so nahe an der CC-Linie, dass er sich aus dem Linienverlauf ohne weiteres hätte vorhersagen lassen, noch bevor das Jahr zu Ende war. Streudiagramme zeigen uns, wie eng die Beziehung zwischen zwei Variablen ist.
46
Die Grundlagen
Teil 1
Zusammenfassung des Anhangs 1.
2.
3.
Diagramme sind ein wichtiges Hilfsmittel der modernen Volkswirtschaft. Sie sorgen für die praktische und übersichtliche Darstellung von Daten oder Beziehungen zwischen Variablen. Folgendes müssen Sie wissen, um Diagramme zu verstehen: Was wird auf den beiden Achsen (der waagrechten und der senkrechten Achse) aufgetragen? In welchen Einheiten wird auf jeder Achse gemessen? Welches Verhältnis wird mit der Kurve oder den Kurven des jeweiligen Diagramms dargestellt? Die Beziehung zwischen den beiden Variablen einer Kurve ergibt sich durch ihren Anstieg oder ihre Steigung. Die Steigung wird als „AY
4.
durch AX“ oder als Zunahme von Y pro zusätzlicher Einheit von X definiert. Bei einer positiven Steigung besteht eine direkte Beziehung zwischen den beiden Variablen; sie bewegen sich zugleich nach oben oder unten. Bei einer negativen Steigung besteht eine inverse Beziehung zwischen den beiden Variablen. Außerdem begegnen uns bisweilen spezielle Diagramme: Zeitreihen, die zeigen, wie sich eine bestimmte Variable im Zeitablauf verhält; Streudiagramme, die uns Beobachtungen über ein Variablenpaar ermöglichen, und Mehrkurvendiagramme, die zwei oder mehr Beziehungen in einem einzigen Diagramm verbinden.
Begriffe zur Wiederholung Was macht ein Diagramm aus?
Diagrammbeispiele
Die waagrechte oder X- Achse Die senkrechte oder Y -Achse Die Steigung als „AY durch AX“ Die Steigung (negativ, positiv, Null) Die Tangente als Steigung einer gekrümmten Kurve
Zeitreihen Streudiagramme Multikurvendiagramme
Übungen 1.
2.
3.
Erörtern Sie folgende Problemstellung: Nach einem achtstündigen Schlaf bleiben Ihnen insgesamt 16 Stunden für Freizeit und Studium. Sagen wir, die Freizeit sei die Variable X, während die Studienzeit als Y-Variable angenommen wird. Zeichnen Sie in Ihrem Diagramm eine lineare Beziehung zwischen allen Kombinationen von X und Y ein. Achten Sie auf die richtige Beschriftung von Achsen und Ursprung. Wie sieht in Frage 1 die Steigung der Linie aus, die die Beziehung zwischen Studien- und Freizeit darstellt? Handelt es sich um eine Gerade? Nehmen wir einmal an, Sie benötigen genau 6 Stunden Freizeit täglich, nicht mehr und nicht weniger. Markieren Sie im Diagramm den Punkt, der den 6 Stunden Freizeit entspricht. Achten Sie nun auf die Bewegung entlang der Kurve: Suchen Sie den nächsten Punkt unter der Annahme, dass Ihnen auch 4 Stunden Freizeit genügen. Markieren Sie diesen Punkt.
4.
5.
6.
Führen Sie nun eine Verschiebung der Kurve durch: Sie stellen fest, dass auch weniger Schlaf ausreichend sein müsste, sodass Sie nun 18 Stunden täglich für Freizeit und Studium zur Verfügung haben. Zeichnen Sie die neue (verschobene) Kurve. Führen Sie eine Woche lang Aufzeichnungen über Ihre eigenen Freizeit- und Studiengewohnheiten. Zeichnen Sie daraus ein Zeitreihendiagramm der täglichen Freizeit- und Studienstunden. Zeichnen Sie als nächstes ein Streudiagramm der Freizeit- und Studienstunden. Erkennen Sie eine Beziehung zwischen den beiden Variablen? Loggen Sie sich auf der Website des Bureau of Economic Analysis unter www.bea.gov ein. Klicken Sie nun auf „Gross Domestic Product“. Klicken Sie auf der nächsten Seite „Interactive NIPA data“ an. Klicken Sie nun auf „Frequently Requested NIPA Tables“. Gehen Sie zu „Table 1.2 (Real Gross Domestic Product)“, das Ihnen den gesamtwirtschaftlichen Output anzeigt.
Kapitel 1
47
Die Grundlagen der Volkswirtschaft
Dabei erfahren Sie voraussichtlich die aktuellen Quartalsdaten. a. Zeichnen Sie ein Diagramm, das die Zeitreihe für das reale BIP der letzten sechs Quartale darstellt. Zeigt der allgemeine Trend aufwärts oder abwärts? (Wir werden im makroökonomischen Abschnitt weiter hinten in diesem Buch erfahren, dass eine abwärts gerichtete Kurve als Rezession bezeichnet wird.) b. Zeichnen Sie ein Streudiagramm der „Importe“ auf der vertikalen Achse und des „Bruttoinlandsprodukts“ auf der horizontalen Achse. Beschreiben Sie die Beziehung zwischen den aufgetragenen Zahlen. (Aus makroökonomischer Perspektive handelt es sich hierbei um die Grenzneigung zum Import.)
7.
Für die Rechenkünstler unter Ihnen: Die Steigung einer kontinuierlichen Kurve ist deren Ableitung. Sie finden nachstehend die Gleichungen für zwei inverse Nachfragekurven (wobei der Preis eine Funktion des Output ist). Nehmen Sie für jede Kurve an, dass die Funktion nur dann gilt, wenn P ≥ 0 und X ≥ 0. a. P = 100 – 5X b. P = 100 – 20X + 1X2 Bestimmen Sie die Steigung jeder Nachfragekurve, wenn X = 0 und wenn X = 1. Wie lautet die Bedingung, unter der das Gesetz der abwärts verlaufenden Nachfragekurve für lineare Nachfragekurven wie a gilt? Ist Kurve b konkav (glockenförmig) oder konvex (tassenförmig)?
49 Das wirtschaftliche Mischsystem
KAPITEL 2 Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Jeder Mensch ist bemüht, sein Kapital so einzusetzen, dass er daraus den größtmöglichen Wert bezieht. Er möchte damit im Allgemeinen nicht dem öffentlichen Interesse dienen und weiß auch nicht, wie sehr er diesem dient. Er hat ausschließlich seine eigene Sicherheit, seinen eigenen Nutzen im Sinn. Und er wird dabei von einer unsichtbaren Hand geleitet, letztlich doch ein Ziel zu verfolgen, das nicht in seiner Absicht lag. Indem der Mensch seinen eigenen Nutzen anstrebt, fördert er häufig den Nutzen der Gesellschaft wirksamer, als hätte er dies beabsichtigt. Adam Smith The Wealth of Nations – Der Reichtum der Nationen (1776)
Im vorliegenden Lehrbuch befassen wir uns primär mit der Marktwirtschaft der modernen Industriestaaten. Vor deren Entstehung, im Mittelalter, bestimmten überwiegend Aristokratie und bedeutende Handelsstädte die wirtschaftlichen Aktivitäten Europas und Asiens. Doch vor etwa 200 Jahren ließen die Herrschenden in ihrem Bemühen, die Preise und Produktionsmethoden zu kontrollieren, allmählich nach. Der Feudalismus machte nach und nach dem Markt oder dem, was wir als „Marktmechanismus“ oder „Konkurrenzkapitalismus“ bezeichnen, Platz. Im Großteil Europas und Nordamerikas entwickelte sich das 19. Jahrhundert zum Zeitalter des Laissez-faire („einfach gewähren lassen“). Diese Wirtschaftsdoktrin lehrt, der Staat solle sich so wenig wie möglich in wirtschaftliche Angelegenheiten einmischen und diese von privaten Käufern und Verkäufern entscheiden lassen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten viele Staaten auf diese Wirtschaftsphilosophie. Doch vor etwa 100 Jahren begannen sich die meisten Länder angesichts ihrer Erfahrungen mit zahlreichen Auswüchsen des Kapitalismus – wie Korruption, gesundheitsgefährdenden Produkten und Armut – von ihrer ungebremsten Laissez-faire-Politik wieder abzuwenden. Die Rolle des Staates wurde immer wichtiger, weil dieser nun die Monopole regelte, Einkommensteuern erhob und begann, ein Netz der sozialen Sicherheit für Alte, Arbeitslose und Arme zu knüpfen. Dieses neue System, wir sprechen vom Wohlfahrtsstaat, ist so organisiert, dass der Markt die Aktivitäten des täglichen wirtschaftlichen Lebens bestimmt, während der Staat über die soziale Situation wacht und Pensionen, ein Gesundheitswesen und andere Erfordernisse für bedürftige Familien bereitstellt. Im ausgehenden 20. Jahrhundert verlagerte sich der Trend wieder, als konservative Regierungen in vielen Ländern Steuersenkungen einleiteten und die staatliche Kont-
50 rolle der Wirtschaft lockerten. Zahlreiche zuvor staatliche Unternehmen wurden „privatisiert“, Einkommensteuern gesenkt und die ehemals großzügigen Wohlfahrtsprogramme gekürzt, um dem rapiden Anstieg der Staatsausgaben entgegenzuwirken. Besonders drastisch fiel die Wende zum Markt in Russland und in den zuvor kommunistischen Ländern Osteuropas aus. Nachdem sie Jahrzehnte hindurch die Vorteile einer staatlich betriebenen Planwirtschaft gelobt hatten, verwarfen diese Länder ab etwa 1990 ihre bisherigen Konzepte und wagten den schwierigen Übergang hin zu einer dezentralen, vom Markt bestimmten Wirtschaft. China wird zwar nach wie vor von der diktatorischen kommunistischen Partei regiert, erlebt aber seit etwa 30 Jahren einen echten Boom, nachdem im Land der Mitte private und ausländische Unternehmen zugelassen worden waren. Auch andere, zuvor eher arme Regionen wie Taiwan, Hongkong und Chile erfreuen sich eines raschen Einkommenszuwachses, seit sie sich dem Kapitalismus zugewandt und die Rolle des Staates in der Wirtschaft zurückgenommen haben. Diese historische Episode der Verschiebung der Grenzen zwischen Staat und Markt wirft viele Fragen auf. Was genau ist eigentlich eine Marktwirtschaft und warum erweist sie sich als ein so starker Wachstumsmotor? Wofür steht der Begriff „Kapital“ in „Kapitalismus“? Welche staatlichen Kontrollen sind erforderlich, damit Märkte effektiv funktionieren können? Wir sollten uns nun mit den Grundsätzen befassen, auf denen die Marktwirtschaft beruht, und überlegen, welche Rolle der Staat im Wirtschaftsleben zu spielen hat.
A. Was ist ein Markt? In einem Land wie den USA werden die meisten wirtschaftlichen Entscheidungen durch den Markt getroffen, also beginnen wir unsere systematische Recherche hier.
Die Grundlagen
Teil 1
Wer löst die drei Grundfragen wirtschaftlicher Organisation, nämlich was, wie und für wen in einer Marktwirtschaft produziert wird? Vielleicht überrascht es Sie, dass in einer Marktwirtschaft kein einzelner Mensch, auch keine Organisation oder Regierung für die Lösung wirtschaftlicher Probleme zuständig ist. Stattdessen betreiben Millionen von Unternehmen und Konsumenten völlig freiwillig Handel, weil sie ihre jeweilige wirtschaftliche Situation verbessern wollen, und sie werden in ihren Aktivitäten unmerklich durch ein System von Preisen und Märkten koordiniert. Um sich vor Augen zu führen, wie erstaunlich dieser Umstand ist, denken Sie doch einmal an die Stadt New York. Ohne einen konstanten Fluss von Wirtschaftsgütern in die Stadt hinein und wieder aus ihr heraus wären die New Yorker praktisch innerhalb einer Woche verhungert. Damit New York funktioniert, müssen also zahlreiche Güter angeliefert werden. Aus den umliegenden Bezirken, aus 50 Bundesstaaten und aus den entlegensten Ecken der Welt werden Güter tage- und wochenlang in Richtung New York transportiert. Doch wie können 10 Millionen Menschen nachts ruhig schlafen, ohne sich panisch vor einem Zusammenbruch dieses überaus komplexen wirtschaftlichen Vorgangs, von dem ihr Leben abhängt, zu fürchten? Die überraschende Antwort lautet, dass dieses Wirtschaftssystem ohne Zwang oder zentrale Lenkung allein durch den Markt koordiniert wird. Jeder Bürger der USA sieht, was der Staat alles tut, um das wirtschaftliche Leben zu kontrollieren: Er erhebt Mautgebühren auf Brücken, platziert Polizisten auf den Straßen, reguliert den Handel mit Medikamenten, erhebt Steuern, sendet seine Armee in weit entfernte Länder etc. Doch wir denken nur selten darüber nach, wie gut unser wirtschaftliches System ohne staatliche Eingriffe funktioniert. Millionen Menschen produzieren täglich Tausende Güter, freiwillig, ohne Be-
Kapitel 2
Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
fehl einer zentralen Verwaltung, ohne großen, umfassenden Plan.
Wirtschaftsordnung, nicht Chaos Der Markt erscheint als ein enormes Durcheinander von Verkäufern und Käufern. Ist es da nicht ein echtes Wunder, dass Nahrung in ausreichender Menge produziert, an den richtigen Ort transportiert wird und schließlich in genießbarer Form auf unserem Teller landet? Doch ein genauerer Blick auf New York oder einen anderen Wirtschaftsraum zeigt uns deutlich, dass einem Marktsystem nichts Chaotisches oder Wunderbares anhaftet. Es handelt sich einfach um ein System mit einer inneren Logik. Und das funktioniert. Eine Marktwirtschaft ist ein überaus komplexer Mechanismus zur Koordinierung von Menschen, Handlungen und Geschäftsbeziehungen durch ein System von Preisen und Märkten. Zugleich stellt der Marktmechanismus ein Kommunikationsmedium für das Wissen und die Aktivitäten von Milliarden unterschiedlicher Akteure dar. Ohne jede zentrale „Intelligenz“ und ohne Vorausberechnung löst er die Probleme der Produktion und Verteilung mit ihren Milliarden unbekannter Variabler und Beziehungen, Probleme, die jeden der schnellsten Supercomputer unserer Tage bei weitem überfordern würden. Niemand hat den Markt geplant, und doch funktioniert er bemerkenswert gut. In einer Marktwirtschaft ist kein einzelner Mensch und auch keine einzelne Organisation für Produktion, Konsum, Verteilung und Preisgestaltung verantwortlich. Doch wie bestimmen die Märkte Preise, Löhne und Produktion? Ursprünglich war ein Markt einfach ein Ort, an dem Käufer und Verkäufer einander physisch, von Angesicht zu Angesicht, gegenübertraten. Der Marktplatz – man stelle sich ruhig Butterberge, Käsepyramiden, Frischfisch und Kisten voller Gemüse vor – war in vielen Dörfern und Städten ein gewohnter Anblick, ein Ort, an dem die Landwirte ihre Waren zum Verkauf anboten. In den USA gibt es auch heute
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noch bedeutende Märkte, auf denen sich zahlreiche Händler einfinden, um ihre Geschäfte abzuwickeln. So werden etwa Weizen und Mais am Board of Trade in Chicago, Öl und Platin hingegen an der New Yorker Warenbörse gehandelt, während Edelsteine im Diamantenbezirk von New York City ihren Eigentümer wechseln. Allgemein definiert sind Märkte Orte, an denen Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten, Güter und Dienstleistungen austauschen und Preise festlegen. Es gibt Märkte für fast alles. Sie können Werke alter Meister in einem Auktionshaus in New York, Emissionszertifikate am Chicago Board of Trade, aber in vielen großen Städten auch illegale Drogen von speziellen Zustelldiensten kaufen. Ein Markt kann, wie der Aktienmarkt, an einem zentralen Ort stattfinden. Er kann aber auch, wie der Arbeitsmarkt, dezentral organisiert sein. Möglicherweise existiert er auch, wie zunehmend der „E-Commerce“ im Internet, nur elektronisch. Ein Markt ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten, um Preis und Menge einer Ware oder Dienstleistung zu ermitteln. In einem Marktsystem hat alles einen Preis, nämlich den Wert der Ware, ausgedrückt in Geld (die Rolle des Geldes wird in Abschnitt B dieses Kapitels behandelt). Die Preise stellen dabei jene Bedingungen dar, zu welchen die Haushalte und Unternehmen bereit sind, bestimmte Güter auszutauschen. Wenn ich einwillige, vom Händler einen gebrauchten Ford für US-$ 8.050 zu kaufen, bedeutet das, dass der Ford für mich mehr als US-$ 8.050 wert ist, während dem Händler US-$ 8.050 mehr wert sind als der von mir gekaufte Ford. Der Gebrauchtwagenmarkt hat den Preis für diesen Wagen festgesetzt und ihn auf dem Weg des freiwilligen Handels jener Person zugesprochen, für die er den höchsten Wert darstellt. Zusätzlich haben Preise für Produzenten wie auch für Konsumenten Signalwirkung. Sobald die Konsumenten mehr von einem
52 Wirtschaftsgut nachfragen, steigt dessen Preis, wodurch ein Signal an die Produzenten gesandt wird, mehr von diesem Gut anzubieten. Wird aufgrund einer fürchterlichen Seuche weniger Rindfleisch produziert, sinkt das Rindfleischangebot und steigen die Hamburgerpreise. Der höhere Preis motiviert die Landwirte, ihre Rinderproduktion zu erhöhen, und er motiviert die Konsumenten, anstelle von Hamburgern und Rindersteak andere Produkte zu wählen. Was für die Verbrauchsgütermärkte gilt, lässt sich ebenso auf Faktormärkte anwenden, beispielsweise auf Grund und Boden oder Arbeit. Werden für die neuen DotcomUnternehmen mehr Programmierer benötigt, steigt tendenziell auch der Preis der Programmierer (das heißt, ihr Stundenlohn). Die Verschiebung im Preisgefüge führt zu einem Abfluss von Arbeitskräften in Richtung des wachsenden Berufszweigs. Preise koordinieren die Entscheidungen von Produzenten und Konsumenten auf einem Markt. Höhere Preise dämpfen zumeist die Nachfrage bei den Konsumenten und kurbeln gleichzeitig die Produktion an. Geringere Preise hingegen fördern die Kauflust der Leute und wirken sich hemmend auf die Produktion aus. Preise sind also das ausgleichende Element im Marktmechanismus. Marktgleichgewicht. Zu jedem Zeitpunkt kaufen gewisse Leute, während andere verkaufen; erfinden Unternehmen neue Produkte, während zugleich die Staaten Gesetze zur Regelung dieser Produkte erlassen; eröffnen ausländische Unternehmen Betriebe in den USA, während amerikanische Unternehmen ihre Produkte im Ausland absetzen. Und dabei, mitten in all diesem Trubel, lösen die Märkte selbsttätig die Probleme des Was, Wie und Für wen. Weil sie einen Ausgleich zwischen allen in der Wirtschaft wirkenden Kräften herstellen, bewirken die Märkte ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Das Marktgleichgewicht stellt den Ausgleich zwischen all den verschiedenen Käu-
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fern und Verkäufern her. Alle Haushalte und Unternehmen wollen – je nach herrschendem Preis – bestimmte Gütermengen kaufen oder verkaufen. Der Markt ermittelt den Gleichgewichtspreis, der sowohl die Wünsche der Käufer als auch jene der Verkäufer berücksichtigt. Ein überhöhter Preis würde zu einer Übersättigung mit Gütern und damit zu einem überhöhten Produktionsvolumen führen; ein zu geringer Preis hingegen hätte lange Schlangen in den Geschäften und einen Mangel an Gütern zur Folge. Preise, bei denen die Käufer genau jene Menge zu kaufen wünschen, die die Verkäufer verkaufen wollen, implizieren ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage.
Wie lösen Märkte die drei Grundfragen der Volkswirtschaft? Wir haben gesehen, wie Preise auf einem bestimmten Markt ein Gleichgewicht zwischen Konsum und Produktion (man könnte auch sagen: zwischen Nachfrage und Angebot) herbeiführen. Doch wie verhält es sich, wenn wir verschiedene Märkte – Benzin, Autos, Grund und Boden, Arbeit, Kapital und was es sonst noch gibt – gemeinsam betrachten? Alle diese Märkte wirken zusammen und führen zu einem umfassenden Gleichgewicht zwischen Preisen und Produktion. Indem der Ausgleich zwischen Verkäufern und Käufern (Angebot und Nachfrage) hergestellt wird, löst eine Marktwirtschaft gleichzeitig die drei Probleme des Was, Wie und Für wen. Hier eine grobe Definition des Marktgleichgewichts: 1. Was produziert wird (also welche Güter und Dienstleistungen), entscheiden letztlich die Konsumenten, deren Geldausgaben als eine Art „Stimmzettel“ fungieren – natürlich nicht nur alle zwei oder vier Jahre anlässlich von Wahlen, sondern in den täglichen Kaufentscheidungen. Das Geld, das die Konsumenten in die Kassen
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
der Unternehmen fließen lassen, sorgt für Gehälter, Mieten und Dividenden, die die Konsumenten als Arbeitnehmer, die sie ja ebenfalls sind, in Form ihres Einkommens erhalten. Unternehmen, die ihre Gewinne maximieren möchten, versuchen, ihre Produktionskosten für ein bestimmtes Produktionsvolumen so gering wie möglich zu halten. Gewinne sind der Nettoertrag oder die Differenz zwischen der Summe aller Verkäufe und der Summe aller Kosten. Unternehmen geben Bereiche auf, in denen sie Geld verlieren; zugleich aber werden sie von den hohen Gewinnen angezogen, die ihnen durch die Produktion stark nachgefragter Güter winken. Zu den rentabelsten Tätigkeiten gehören heute die Produktion und der Verkauf medizinischer Wirkstoffe – ob diese Hilfe gegen Depressionen, Ängste, Impotenz oder sonstige menschliche Gebrechen versprechen. Angelockt durch die hier zu erzielenden hohen Gewinne investieren Unternehmen Milliarden Dollar in die Erforschung neuer und immer besserer Medikamente. 2. Wie produziert wird, entscheidet sich durch den Wettbewerb zwischen verschiedenen Produzenten. Die beste Möglichkeit für die Produzenten, die Preiskonkurrenz zu bestehen und die eigenen Gewinne zu maximieren, besteht in einer Minimierung ihrer Kosten durch den Einsatz möglichst effizienter Produktionsmethoden. Manchmal bedeuten Veränderungen einfach eine Verbesserung, also vielleicht nur eine minimale Nachjustierung der Produktionsanlagen oder eine neue Zusammenstellung der Produktionsfaktoren, umso einen geringfügigen Kostenvorteil herauszuschlagen, der auf einem wettbewerbsorientierten Markt oft entscheidend sein kann. Daneben kam und kommt es jedoch immer wieder auch zu entscheidenden technologischen Fortschritten, etwa als die Dampfmaschine das Pferd ablöste, weil Dampf pro Arbeitseinheit einfach billiger war, oder als man anstatt mit der Bahn auch mit dem Flugzeug
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reisen konnte, was sich als effizienteste Fortbewegungsmöglichkeit auf Langstrecken erweisen sollte. Gegenwärtig scheinen wir übrigens wieder einen sehr dramatischen Wandel zu erleben: Vor unseren Augen vollzieht sich der Übergang zur radikal neuen Technologie der Computer, die viele Tätigkeiten von der Supermarktkasse bis zum Hörsaal revolutionieren. 3. Für wen produziert wird – also wer konsumiert und wie viel –, hängt weitgehend von Angebot und Nachfrage auf den Faktormärkten ab. Faktormärkte (die Märkte für Produktionsfaktoren) bestimmen die Höhe der Löhne und Pachten, Zinssätze und Gewinne. Die zugehörigen Preise heißen daher Faktorpreise. Derselbe Mensch kann ein Gehalt aus seiner Arbeit, Dividenden aus seinen Aktien, Zinsen aus einem Sparguthaben und zusätzlich noch Pacht oder Miete von einem Grundstück oder einer Eigentumswohnung beziehen. Aus allen diesen Erträgen von Produktionsfaktoren können wir die Markteinkommen der Wirtschaftssubjekte, der Menschen, ermitteln. Die Verteilung der Einkommen in der Bevölkerung ergibt sich daher durch die Faktormengen (Arbeitsstunden, Hektar Land etc.) und durch die Faktorpreise (Stundenlohn, Pachthöhe etc.). Denken Sie jedoch daran, dass Einkommen mehr umfasst als nur den Lohn für schweißtreibende Arbeit oder den Genuss einer Rente. Hohe Einkommen können auch ererbt, durch Glück erworben oder durch Fähigkeiten, die auf dem Markt besonders geschätzt werden, erzielt werden. Häufig werden Leute mit niedrigen Einkommen als faul dargestellt, doch in Wahrheit verdienen sie wenig, weil sie schlecht ausgebildet und diskriminiert sind oder in einer Region mit wenigen Jobs und niedrigen Löhnen wohnen. Wenn wir jemanden in der Schlange vor dem Arbeitsamt stehen sehen, sollten wir dem Gesetz von Angebot und Nachfrage danken, dass es uns selbst besser ergeht.
54 Wer regiert den Markt? Ja, tatsächlich: Wer regiert den Markt? Geben Großkonzerne wie Microsoft und General Motors den Ton an? Oder sollte man eher auf den Kongress und den amerikanischen Präsidenten tippen? Denkbar wären doch auch die Werbemogule von Madison Avenue? So einflussreich all diese Persönlichkeiten und Unternehmen sind – die Antwort lautet nein. Im Grunde wird die Wirtschaft von den Kräften des Geschmacks und der Technologie beherrscht. Ein bestimmender Faktor sind die Präferenzen, man könnte auch sagen, der Geschmack der Bevölkerung. Die Konsumenten entscheiden nämlich anhand ihrer angeborenen und erworbenen Präferenzen, wobei sie ihre Wahl durch den Einsatz ihrer Kaufkraft zum Ausdruck bringen, über die definitive Verwendung der Ressourcen einer Wirtschaft. Sie bestimmen den jeweiligen Punkt auf der Transformationskurve (PMK). Der zweite bedeutende Faktor sind die in einer Gesellschaft verfügbaren Produktionsfaktoren und Technologien. Die Wirtschaft kann nicht einfach aus ihrer PMK heraustreten. Wir können zwar nach Hongkong fliegen, doch es gibt leider noch keinen Flug zum Mars. Die Ressourcen einer Wirtschaft setzen also den Wahlmöglichkeiten der Konsumenten Grenzen. Die Konsumnachfrage muss genau mit dem Güter- und Dienstleistungsangebot der Unternehmen übereinstimmen und bestimmt so, was produziert wird. Wenn Sie sich fragen, warum manche Technologien auf dem Markt versagen, sollten Sie vielleicht an die „Doppelherrschaft“ von Geschmack und Technologie denken. Vom Stanley Steamer (einem dampfbetriebenen Auto) bis zur rauchfreien Premiere-Zigarette, die leider nicht nur rauch-, sondern auch geschmacklos war, berichtet die Wirtschaftsgeschichte immer wieder von Produkten, die nie einen Markt fanden. Wie werden nutzlose Produkte vom Markt verdrängt? Proklamiert eine staatliche Behörde den Wert neuer Produkte? Nein, das ist gar nicht nötig. Unbrauch-
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Teil 1
bare Produkte verschwinden von selbst vom Markt, weil die Verbraucher sie zum gängigen Marktpreis nicht nachfragen. Sie verursachen Verluste statt Gewinnen. Das erinnert uns daran, dass Gewinne die Belohnung oder Bestrafung der Unternehmen darstellen und den Marktmechanismus steuern. Wie ein Bauer, der seinen Esel mit Stock und Karotte antreibt, generiert das Marktsystem Gewinne und Verluste und veranlasst auf diese Weise die Unternehmen, ihre Güter effizient zu produzieren.
Preise und Märkte bildlich betrachtet Wir können das Wirtschaftsleben als Kreislauf darstellen, wie Sie ihn in Abbildung 2-1 vor sich sehen. Auf diese Weise erhalten wir eine übersichtliche Darstellung davon, wie Konsumenten und Produzenten interagieren, wenn es darum geht, jeweils die Preise und Produktionsmengen auf der Input- und Outputseite zu bestimmen. Beachten Sie die zwei Arten von Märkten im Wirtschaftskreislauf. Oben in der Abbildung finden Sie die Gütermärkte oder den Produktionsoutput, sagen wir Pizza oder Schuhe; unten sehen Sie die Input- oder Faktormärkte wie Boden und Arbeit. Weiterhin können Sie erkennen, wie bestimmte Entscheidungen durch die zwei Hauptakteure getroffen werden, nämlich durch Haushalte und Unternehmen. Die Haushalte kaufen Güter und verkaufen Produktionsfaktoren; die Unternehmen verkaufen Güter und kaufen Produktionsfaktoren. Haushalte verwenden ihr Einkommen aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft und anderer Inputs zum Kauf von Gütern, die von den Unternehmen hergestellt werden; die Unternehmen bestimmen die Preise ihrer Güter anhand der Kosten für Arbeit und Produktionsanlagen. Die Preise auf den Gütermärkten werden festgesetzt, indem die Nachfrage der Konsumenten mit dem Angebot der Unternehmen in ein Gleichgewicht gebracht wird.
Kapitel 2
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Produktmärkte Nachfrage
Angebot
Schuhe Schuhe
Schuhe
Wohnungen Wohnungen
Preise auf den Gütermärkten
Pizza Pizza
Wohnungen Pizza
Kaufkraft der Konsumenten
Was
Produktionskosten (in Geldeinheiten)
Konsumenten
Wie
Unternehmen
Eigentum an Produktionsfaktoren
Für wen
Produktivität der Inputfaktoren
Arbeit Boden Kapitalgüter
Arbeit Preise auf den Faktormärkten (Löhne, Renten, Zins)
Boden Kapitalgüter Nachfrage
Angebot Faktormärkte
Abbildung 2-1: Der Markt verlässt sich darauf, dass Angebot und Nachfrage die drei Wirtschaftsprobleme lösen. Wir sehen hier den Kreislauf einer Marktwirtschaft. Die Kaufentscheidungen der Konsumenten (also von Haushalten, öffentlicher Hand und Ausländern) treten in eine Wechselwirkung zum Angebot auf den Gütermärkten (oben) und bestimmen dadurch mit, was produziert wird. Die Unternehmensnachfrage nach Produktionsfaktoren oder Inputs trifft auf den Faktormärkten (unten) auf das Arbeitsangebot und sonstige Inputs, wodurch Löhne, Renten und Zinsen bestimmt werden; auf diese Weise beeinflussen die Einkommen, für wen produziert wird. Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen in Bezug auf den möglichst billigen Kauf von Faktorinputs und Verkauf von Gütern entscheidet darüber, wie Güter produziert werden.
All das klingt sehr kompliziert. Aber es vermittelt uns ein Gesamtbild des eng verwobenen Netzes voneinander abhängiger Angebote und Nachfragen, die durch den Marktmechanismus so verbunden sind, dass die volkswirtschaftlichen Grundfragen des Was, Wie und Für wen gelöst werden können. Studieren Sie Abbildung 2-1 sorgfältig. Schon nach einigen Minuten werden Sie die Funktionsweise der Marktwirtschaft besser verstehen.
Die unsichtbare Hand Der erste, der die Ordnung hinter dem Marktsystem erkannte, war Adam Smith. In einer der berühmtesten Textpassagen der gesamten Volkswirtschaftslehre, die zu Beginn des Kapitels aus seinem Werk Der Reichtum der Nationen zitiert ist, erkannte Smith die Harmonie zwischen privaten und öffentlichen Interessen: Er argumentierte, dass jedes Individuum trotz egoistischer Verfolgung
56 seines eigenen, persönlichen Vorteils „von einer unsichtbaren Hand geleitet wird, letztlich doch ein Ziel zu verfolgen, das es ursprünglich nicht beabsichtigt hatte. Indem der Mensch seinen eigenen Nutzen anstrebt, fördert er häufig den Nutzen der Gesellschaft wirksamer, als hätte er dies beabsichtigt.“ Legen Sie an dieser Stelle eine Pause ein und lassen Sie sich dieses Paradoxon, das im Jahr 1776 formuliert wurde, einmal durch den Kopf gehen. 1776 wurde übrigens auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung veröffentlicht. Es ist wohl kein Zufall, dass diese beiden Ideen zur selben Zeit entstanden. Während die Amerikaner ihre Freiheit von der Tyrannei proklamierten, predigte Adam Smith eine revolutionäre Doktrin, die Handel und Industrie den Fängen einer feudalen Aristokratie entriss. Smith vertrat die Auffassung, dass in der besten aller möglichen Welten ein Eingreifen des Staates in den Wettbewerb am Markt fast immer schädlich ist. Smiths Erkenntnis vom Funktionieren des Marktmechanismus inspiriert die moderne Volkswirtschaft immer wieder von neuem – und zwar sowohl die Bewunderer als auch die Kritiker des Kapitalismus. Wirtschaftstheoretiker haben bewiesen, dass die Wirtschaft, allerdings unter dem Vorbehalt des vollständigen Wettbewerbs, effizient funktioniert. (Denken Sie daran: Eine Wirtschaft produziert effizient, wenn sie niemandes Wohlstand vermehren kann, ohne zugleich einen anderen schlechter zu stellen.) Nach zwei Jahrhunderten, in denen wir Erfahrungen sammeln und Theorien entwickeln konnten, entdecken wir aber auch den eingeschränkten Anwendungsbereich dieser wichtigen Doktrin. Wir wissen heute, dass es „Marktversagen“ gibt und dass Märkte nicht immer zum effizientesten Ergebnis führen. Ein besonders wichtiger Bereich, in dem der Markt versagt, sind Monopole und andere Formen des unvollständigen Wettbewerbs. Ein zweites Versagen der unsichtbaren Hand zeigt sich, wenn es zu Spillovers oder externen Effekten (Externalitäten) außerhalb des Marktes kommt. Positive Externalitäten, etwa wissen-
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schaftliche Entdeckungen, sind hier ebenso zu nennen wie negative Externalitäten, beispielsweise die Umweltverschmutzung. Ein letzter Vorbehalt bezieht sich schließlich auf die Einkommensverteilung, die aus politischen oder ethischen Gründen häufig alles andere als wünschenswert erscheint. Sollte auch nur irgendeines dieser Elemente auftreten, bricht Adam Smiths Doktrin der unsichtbaren Hand zusammen, und der Staat muss eingreifen, um die beschädigte unsichtbare Hand zu reparieren. Zusammenfassend: Adam Smith hat eine ganz bemerkenswerte Eigenschaft der wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft entdeckt. Unter den Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs, und sofern es zu keinem Marktversagen kommt, gelingt es den Märkten, das Maximum an nützlichen Gütern und Dienstleistungen aus den vorhandenen Ressourcen herauszuholen. Wo jedoch Monopole, Umweltverschmutzung oder ähnliche Formen von Marktversagen auftreten, kann dies die bemerkenswerte Effizienz der unsichtbaren Hand untergraben. Adam Smith: Der Begründer der Ökonomik „Denn welcher Absicht gilt all die Mühseligkeit und all die lärmende Geschäftigkeit dieser Welt? Was ist der Endzweck von Habsucht und Ehrgeiz und der Jagd nach Reichtum, Macht und Vorrang?“ Das schrieb der Schotte Adam Smith (1723 bis 1790), der für die soziale Welt der Ökonomie entdeckte, was Isaac Newton für den physischen Himmel fand. Smith beantwortete diese Fragen in seinem Werk The Wealth of Nations (1776; deutsch: Der Reichtum der Nationen), in dem er die selbstregulierende, natürliche Ordnung beschrieb, in der das „Öl“ des Eigennutzes das wirtschaftliche Getriebe auf beinahe wundersame Art und Weise „schmiert“. Smith glaubte, „Mühseligkeit und lärmende Geschäftigkeit“ führten zur Verbesse-
Kapitel 2
Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
rung des Loses des einfachen Bürgers. „Konsum ist der einzige Endzweck jeder Produktion.“ Smith war der erste Apostel des Wirtschaftswachstums. Zu Beginn der Industriellen Revolution wies er bereits auf die enormen Produktivitätszuwächse durch Spezialisierung und Arbeitsteilung hin. In einem berühmten Beispiel beschrieb er die spezialisierte Produktion einer Nadelfabrik, in der „der eine Arbeiter den Draht zieht, der andere ihn streckt, ein Dritter ihn schneidet, … und so weiter. So waren 10 Arbeiter imstande, täglich etwa 48.000 Nadeln herzustellen, jeder also ungefähr 4.800 Stück. Hätten sie indes alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet, so hätte der Einzelne gewiss nicht einmal 20, vielleicht sogar keine einzige Nadel am Tag zustande gebracht.“ Smith sah als das Ergebnis der Arbeitsteilung einen allgemeinen Wohlstand, der sich bis in die niedrigsten Schichten erstreckt. Überlegen Sie, was er sich denken würde, sähe er heute, was zwei Jahrhunderte Wirtschaftswachstum hervorgebracht haben! Smith schrieb auf Hunderten von Seiten gegen unzählige Fälle staatlicher Dummheit und Einmischung an. Da ist etwa ein Weber. Er lebt im 17. Jahrhundert, ist Mitglied einer Gilde und möchte seine Webtechnik verbessern. Die Stadtgilde kommt daraufhin zu folgender Entscheidung: „Wenn ein Weber ein Tuch nach seiner eigenen Erfindung herstellen möchte, muss er eine Genehmigung von den Stadtrichtern einholen, um die von ihm gewünschte Zahl und Länge der Fäden verwenden zu dürfen, nachdem die Frage zuvor von vier der ältesten Kaufleute und vier der ältesten Weber der Gilde erörtert wurde.“ Smith wandte ein, dass solche Einschränkungen – ob sie vom Staat oder von einem Monopol verfügt werden, ob in Produktion oder Außenhandel – die Funktionsweise des Marktsystems beeinträchtigen und letztlich Arbeitern und Konsumenten schaden. Doch sollte man daraus nicht schließen, dass Smith ein Befürworter des Establishments war. Er misstraute jeder gefestigten Macht, jedem privaten Monopol und ebenso allen öffentlichen Monarchien. Er trat
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stets für das einfache Volk ein. Aber wie viele große Ökonomen wusste er aus seiner Forschungsarbeit, dass der Weg zur Hölle der Verschwendung mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Vor allem anderen belegt Adam Smiths visionäre Darstellung der „unsichtbaren Hand“ seinen nachhaltigen Einfluss auf die moderne Ökonomik.
B. Handel, Geld und Kapital Seit den Tagen Adam Smiths hat sich die Marktwirtschaft ganz enorm entwickelt. Reife, entwickelte kapitalistische Volkswirtschaften wie jene der USA, Westeuropas und Japans zeichnen sich durch drei wesentliche Merkmale aus: Handel und Spezialisierung, Geld und Sachkapital. • Eine entwickelte Volkswirtschaft verfügt über ein komplexes Handelsnetz zwischen den agierenden Personen und Ländern, das erst mit massiver Spezialisierung und ausgeklügelter Arbeitsteilung möglich wird. • Die heutigen, modernen Volkswirtschaften arbeiten in hohem Maße mit Geld oder anderen Zahlungsmitteln. Der Geldfluss ist sozusagen der Blutkreislauf unseres Systems. Geld liefert die Messlatte für den wirtschaftlichen Wert von Dingen und sorgt für die Finanzierung des Handels. • Die Technologien unserer modernen Industrie beruhen auf dem Einsatz riesiger Mengen an Sachkapital: Präzisionsmaschinen, Großraumfabriken, Lagerbestände. Kapitalgüter machen die menschliche Arbeitskraft zu einem weitaus effizienteren Produktionsfaktor und ermöglichen eine gegenüber früheren Zeiten um ein Vielfaches höhere Produktivität.
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Handel, Spezialisierung und Arbeitsteilung Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert hängen unsere heutigen Volkswirtschaften massiv von der Spezialisierung der Haushalte und Unternehmen ab, die durch ein weitläufiges Handelsnetz miteinander verbunden sind. Die westlichen Länder kamen deshalb in den Genuss eines kräftigen Wirtschaftswachstums, weil die einzelnen Arbeitskräfte in ihren jeweiligen Jobs dank Spezialisierung enorm produktiv wurden und ihre Produktionsleistung gegen die von ihnen benötigten Güter eintauschen konnten. Spezialisierung tritt ein, wenn Menschen ihre Bemühungen auf ganz bestimmte Aufgaben konzentrieren. Sie erlaubt es jedem Einzelnen und jedem Land, die eigenen, spezifischen Fähigkeiten und Ressourcen möglichst vorteilhaft einzusetzen. Eine der Grunderkenntnisse des Wirtschaftslebens besagt, dass möglichst nicht jeder alles – und mit mittelmäßigem Erfolg – erledigen sollte, sondern dass eine Arbeitsteilung anzustreben ist, wobei der Produktionsprozess in eine Reihe kleiner, hoch spezifischer Schritte oder Aufgaben zerlegt wird. Die Arbeitsteilung erlaubt es hoch gewachsenen Menschen, Basketball zu spielen, belesenen oder zahlenkundigen Menschen zu unterrichten und eloquenten Menschen, Autos zu verkaufen. Bisweilen dauert es viele Jahre, um die Ausbildung für einen bestimmten Beruf abzuschließen. Ein Neurochirurg muss beispielsweise in den USA bis zur Berufszulassung nach dem Studium noch eine rund 14-jährige Ausbildung durchlaufen. Zugleich sind auch Kapitalgüter sowie Grund und Boden hoch spezialisiert. So stellt etwa der Sandstreifen zwischen einer großen Stadt und dem warmen Meer eine kostbare Immobilie dar; anderswo, etwa in Frankreich oder Kalifornien, findet man hervorragende Weingebiete; wieder andere Grundstücke grenzen an Hochseehäfen und dienen als internationale Handelszentren.
Die Grundlagen
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Aber auch Kapital ist hoch spezialisiert. Die Entwicklung des Computerprogramms, mit dem wir dieses Buch schreiben und gestalten konnten, nahm über ein Jahrzehnt in Anspruch, und trotzdem eignet es sich überhaupt nicht, um etwa eine Erdölraffinerie zu managen oder schwierige Zahlenprobleme zu lösen. Eines der eindrucksvollsten Spezialisierungsbeispiele sind jene hoch spezialisierten Computerchips, die heute das Motormanagement unserer Autos übernehmen, dessen Effizienz erhöhen und sogar als „Black Box“ zur Aufzeichnung von Unfalldaten dienen können. Erst die unglaubliche Effizienz der Spezialisierung hat das komplexe Handelsnetz zwischen den Menschen und Staaten ermöglicht, das wir heute alle kennen. Kaum jemand produziert noch etwas vollständig allein. Stattdessen zerlegen wir alles in winzige Einzelschritte. So unterrichten wir vielleicht einen sehr kleinen Bruchteil des gesamten Lehrplans an einem College, entleeren Parkuhren oder analysieren die DNA der Fruchtfliege. Im Gegenzug bekommen wir für unsere spezialisierte Arbeit ein Einkommen, mit dem wir Produkte aus allen Lebensbereichen und Teilen der Welt einkaufen können. Die Idee der Vorteilhaftigkeit von Handelsbeziehungen stellt eine der zentralen Erkenntnisse der Volkswirtschaft dar. Bestimmte Menschen oder Länder spezialisieren sich auf bestimmte Produkte und treten in einen freiwilligen Austausch, um ihre Produkte zu verkaufen und einzukaufen, was sie selbst benötigen. Japan ist durch die Spezialisierung in der Herstellung von Gütern wie Autos und Unterhaltungselektronik enorm produktiv geworden. Das Land exportiert einen Großteil seiner Waren und bezahlt damit den Import von Rohstoffen. Dagegen mussten Länder, die Autarkie anstrebten und versuchten, ihren Bedarf überwiegend selbst herzustellen, entdecken, dass dieser Weg direkt in die Stagnation führt. Der Handel bereichert alle Länder und erhöht den Lebensstandard aller.
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Zusammenfassend: Entwickelte Volkswirtschaften bemühen sich um Spezialisierung und Arbeitsteilung, wodurch sie die Produktivität ihrer Ressourcen erhöhen. Einzelpersonen und Länder tauschen freiwillig jene Produkte, auf deren Herstellung sie sich spezialisiert haben, gegen die Produkte anderer und vergrößern auf diese Weise sowohl die Bandbreite als auch die Menge der konsumierten Güter enorm, wodurch in der Folge der Lebensstandard aller steigt. Globalisierung Man kann heute praktisch keine Zeitung aufschlagen, ohne sofort auf die neuesten Trends der „Globalisierung“ zu stoßen. Was genau ist mit diesem Begriff gemeint? Was kann die Volkswirtschaftslehre zum Verständnis der mit der Globalisierung einhergehenden Fragen beitragen? Globalisierung ist ein gebräuchlicher Begriff für zunehmende wirtschaftliche Integration zwischen den Staaten. Die wachsende Integration sehen wir heute im dramatischen Anstieg der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalflüsse über alle nationalen Grenzen hinweg. Ein wesentliches Merkmal der Globalisierung ist die spektakuläre Steigerung des Anteils von Importen und Exporten am nationalen Output. Angesichts immer niedrigerer Transport- und Kommunikationskosten, aber auch des raschen Abbaus von Zöllen und sonstigen Handelsbarrieren, hat sich in den letzten 50 Jahren der Anteil des Handels am nationalen Output der USA mehr als verdoppelt. Heute stehen heimische und ausländische Produzenten aus allen Teilen der Welt im Wettbewerb um ihre Preise und Entwürfe. Das steigende Handelsaufkommen wird von einer zunehmenden Spezialisierung im Produktionsprozess selbst begleitet, bei der verschiedene Produktionsphasen in andere Länder „outgesourct“ werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die Barbie-Puppe:
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Plastik und Haar kommen aus Taiwan und Japan. Früher wurden hier auch die Teile zusammengesetzt, doch diese Tätigkeiten wurden mittlerweile in noch kostengünstigere Länder, nämlich Indonesien, Malaysia und China, ausgelagert. Die Gussformen kommen aus den USA, die Farben ebenso. China steuert Arbeit und Baumwolle für die Barbie-Bekleidung bei. Die Puppen werden für US-$ 10 je Stück verkauft, wovon 35 Cent auf die chinesische Arbeit, 65 Cent auf ausländisches Material, US-$ 1 auf Gewinn und Transport in Hongkong und der ganze Rest auf den Gewinn von Mattel sowie deren Marketingund Transportkosten in den USA entfallen. Es gibt viele Belege, wonach dieser Prozess der Aufteilung des Produktionsprozesses für die Produktionstätigkeit in den USA und anderen einkommensstarken Ländern typisch ist. Ein zweites Merkmal der Globalisierung ist die zunehmende Integration der Finanzmärkte. Diese äußert sich in rasch zunehmenden grenzüberschreitenden Darlehenstransaktionen, aber auch in der Konvergenz des Zinsniveaus verschiedener Länder. Hauptgründe für die Integration der Finanzmärkte sind der Abbau von Beschränkungen im Kapitalfluss zwischen den Staaten, geringere Kosten und Innovationen auf den Finanzmärkten, insbesondere die Anwendung neuartiger Finanzinstrumente. Zweifellos hat die Zusammenführung der Finanzmärkte Handelsgewinne erbracht, weil Länder mit hohem Kapitalbedarf für ihre Produktion Darlehen bei anderen Ländern mit hohen Spareinlagen aufnehmen können. In den letzten zwanzig Jahren hat sich Japan als wichtigster Kreditgeber der Welt erwiesen. Da überrascht es, dass die USA zum weltgrößten Kreditnehmer geworden sind – teils wegen der geringen nationalen Sparrate, teils aber auch wegen der technologischen Dynamik ihrer Computer- und Biotechnologieindustrie. Die Integration der Güter- und Finanzmärkte hat beeindruckende Gewinne in Form niedrigerer Preise, vermehrter Innovation und eines schnelleren Wirtschaftswachstums mit sich gebracht. Allerdings
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sind diese Gewinne mit einigen sehr schmerzlichen Nebenwirkungen verbunden. Eine Konsequenz der wirtschaftlichen Integration sind die hohe Arbeitslosigkeit und die entgangenen Gewinne, die auftreten, wenn ausländische Billigproduzenten unsere heimischen Betriebe ablösen. Die arbeitslose Textilarbeiterin und der bankrotte Sojabauer werden sich kaum mit der Tatsache trösten, dass die Konsumenten heute für Bekleidung und Nahrungsmittel weniger ausgeben. Die Verlierer des verstärkten internationalen Handels treten denn auch als unermüdliche Apologeten eines „Protektionismus“ in Form von Zöllen und Importquoten auf. Eine zweite unangenehme Nebenwirkung sehen wir in den internationalen Finanzkrisen, die durch die zunehmende Integration der Finanzmärkte ausgelöst werden. Im letzten Jahrzehnt haben wirtschaftliche Probleme in Russland, Brasilien und Argentinien einen deutlichen Spillover-Effekt auf die Aktien- und Anleihenmärkte überall auf der Welt gezeitigt. Die ansteckende Wirkung kleiner Störungen ist ein direktes Resultat eng verbundener Märkte. Amerikanische Investoren legten ihr Geld auf der Suche nach höheren Erträgen in Thailand an. Aber diese Investoren werden es auch sofort wieder abziehen, sobald sie Ärger riechen, und das kann eine Finanzkrise auslösen, sollten einzelne Länder versuchen, die Wechselkurse oder Finanzinstitute angesichts einer massiven Attacke von Spekulanten zu stützen. Die Globalisierung wirft für die Politik zahlreiche neue Fragen auf: Sind die Handelsgewinne die Kosten wert, die im Inland in Form sozialer Probleme und Entfremdung auftreten? Sollten die Staaten Investoren daran hindern, Gelder so rasch zu bewegen, dass sie damit die heimischen Finanzmärkte gefährden? Führt die Integration letztlich zu mehr Ungleichheit? Sollten internationale Organisationen als Kreditgeber letzter Instanz für Länder mit finanziellen Schwierigkeiten auftreten? Diese Fragen gehen Politikern überall auf der Welt durch den Kopf, wenn sie überlegen, wie sie auf die Globalisierung reagieren sollten.
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Geld: Das Schmiermittel im Gütertausch Während sich Menschen durch Spezialisierung auf bestimmte Aufgaben konzentrieren können, lassen sich mit Hilfe des Geldes unsere spezialisierten Leistungen und Produkte gegen eine breite Palette an Gütern und Dienstleistungen eintauschen, die von anderen produziert werden. Geld in Form von Papier-, Hartgeld oder Schecks ist ein Zahlungsmittel und wird zum Kauf von Gütern eingesetzt. Geld ist eine Art Schmiermittel, das den Waren- und Dienstleistungsaustausch erleichtert. Wird Geld als vertrauenswürdiges Zahlungsmittel für Waren und zur Tilgung von Schulden von allen akzeptiert, erleichtert dies den Handel. Stellen Sie sich doch vor, wie kompliziert das Wirtschaftsleben wäre, müssten wir ständig Ware gegen Ware tauschen, sobald wir nur eine Pizza essen oder in ein Konzert gehen möchten. Welche Güter oder Dienstleistungen könnten Sie der Pizzeria Santa Lucia denn überhaupt anbieten? Welche Gegenleistung würde Ihr College für Ihre Ausbildung akzeptieren? Geld fungiert als allgegenwärtiger Vermittler zwischen Käufern und Verkäufern, der mühelos und Milliarden Mal jeden Tag kleine Verbindungen herstellt und damit dem Eigeninteresse der Betroffenen dient. Die im Umlauf befindliche Geldmenge wird von den Staaten über die Zentralbanken reguliert. Doch was für Schmiermittel typisch ist, passiert bisweilen leider auch mit Geld: es überhitzt sich. Geld kann außer Kontrolle geraten und eine Hyperinflation, das heißt, eine rasante Teuerung auslösen. Wenn das geschieht, wollen die Leute ihr Geld lieber möglichst rasch ausgeben, bevor es wertlos wird, und vermeiden es daher, Geld in Zukunftsprojekte zu investieren. Genau so ereignete es sich während der achtziger Jahre in einigen lateinamerikanischen Staaten, deren Inflationsraten auf über 1.000 Prozent, ja sogar bis auf 10.000 Prozent jährlich kletterten. Stellen Sie sich einmal vor, Sie bekommen Ihr Gehalt und
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
schon am nächsten Wochenende hat es 20 Prozent seines Wertes verloren! Geld ist ein Tauschmittel. Der richtige Umgang mit der Geldmenge gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Wirtschaftspolitik aller Staaten.
Kapital Ein entwickelter Industriestaat wie die USA benötigt eine enorme Palette an Gebäuden, Maschinen, Computern, Software und vielen anderen Dingen. Diese sind die Produktionsfaktoren, auch Kapital genannt. Es handelt sich dabei um für die Produktion erforderliche Faktoren, die ihrerseits auch produziert wurden, man könnte auch sagen, um einen dauerhaften Input der Wirtschaft, der zugleich ihr Output ist. Die meisten von uns haben keine Vorstellung davon, wie sehr unser tägliches Leben direkt oder indirekt von Kapital abhängt, gehören doch die Autobahnen, auf denen wir fahren, ebenso wie die Kabel, über die wir Strom und Kabelfernsehen beziehen, ja sogar die Häuser, in denen wir wohnen, in diese Kategorie. Der gesamte Nettokapitalstock der US-Wirtschaft beläuft sich auf über US-$ 30 Billionen und schließt das Kapital der öffentlichen Hand, der Unternehmen und Haushalte mit ein. Auf die Bewohner umgelegt, entspricht dies einem Kapital von über US-$ 110.000 pro Person. Wie wir bereits gesehen haben, ist Kapital einer der drei Hauptproduktionsfaktoren. Die anderen beiden, Boden und Arbeit, werden häufig als primäre Produktionsfaktoren bezeichnet. Damit soll ausgedrückt werden, dass das Angebot an diesen Produktionsfaktoren zumeist von nichtwirtschaftlichen Faktoren abhängt, etwa von der Fruchtbarkeit und der Geografie eines Landes. Kapital hingegen muss, bevor man es nutzen kann, erst erzeugt werden. So bauen einige Unternehmen Textilmaschinen, die anschließend eingesetzt werden, um Hemden zu produzieren. Andere konstruieren und erzeugen Trakto-
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ren, die benötigt werden, um Mais anzubauen. Der Einsatz von Kapital erfordert zeitaufwändige, umfassende Produktionsmethoden. Tatsächlich hat man schon vor langer Zeit die Erfahrung gemacht, dass indirekte und über Umwege führende Produktionstechniken häufig effizienter sind als direkte Methoden. So wäre die direkteste Fischfangmethode die, bis zu den Knien in einen Fluss zu waten und dort die Forellen eigenhändig herauszufischen. Doch damit würde man sich wohl mehr Frust als Fische einhandeln. Mithilfe einer Angel (die uns als Kapitalausstattung dient) nutzen wir die Zeit, die wir mit dem Fischen verbringen, viel produktiver, weil wir damit nämlich viel mehr Fische fangen. Entschließen wir uns dazu, noch mehr Kapital einzusetzen und uns Netze und ein Fischerboot zuzulegen, wird die Fischerei plötzlich so produktiv, dass wir damit viele Leute ernähren und jenen, die unsere Spezialnetze und die gesamte Ausrüstung bedienen, ein gutes Leben ermöglichen können. Wachstum durch Verzicht auf sofortigen Konsum. Wenn die Leute zu sparen bereit sind, also auf den sofortigen zugunsten eines zukünftigen Konsums verzichten, kann die Gesellschaft ihre Ressourcen in neue Kapitalgüter investieren. Ein größerer Kapitalbestand hilft einer Wirtschaft rascher zu wachsen, weil er die PMK nach außen verschiebt. Blättern Sie noch einmal zurück zu Abbildung 1-5. Hier sehen Sie, wie der Verzicht auf sofortigen Konsum zugunsten von Investitionen die künftigen Produktionsmöglichkeiten verbessert. Hohe Spar- und Investitionsraten erklären unter anderem, wie Japan, Korea und andere asiatische Länder so rasch wachsen konnten. Dagegen sparen und investieren arme Länder meist nur wenig – sie starten bereits mit Verzögerung und fallen immer weiter zurück, weil sie nicht genügend produktives Kapital akkumulieren können. Zusammenfassend: In der Wirtschaft geht es unter anderem darum, auf sofortigen Konsum zu verzichten
62 und stattdessen das vorhandene Kapital zu vermehren. Jedes Mal, wenn wir etwas investieren – eine neue Fabrik oder Straße bauen, die Ausbildung verlängern oder qualitativ verbessern oder unsere Bestände an nutzbarer Technologie und Know-how erhöhen –, fördern wir die künftige Produktivität unserer Wirtschaft und damit auch den künftigen Konsum.
Die Grundlagen
Teil 1
Interessanterweise lässt sich unsere wertvollste wirtschaftliche Ressource, die Arbeit, nicht in eine Ware umwandeln, die man als Privateigentum kaufen und verkaufen kann. Seit der Abschaffung der Sklaverei verstößt es gegen das Gesetz, die menschliche Erwerbskraft wie alle anderen Kapitalgüter zu behandeln. Niemand darf sich selbst verkaufen; man kann lediglich seine Arbeitskraft gegen Entlohnung zur Verfügung stellen.
Kapital und Privateigentum In einer Marktwirtschaft befindet sich Kapital zumeist in Privateigentum, und der Einzelne bezieht ein Einkommen aus seinem Kapital. Für jeden Flecken Land gibt es eine Übertragungsurkunde oder einen Eigentumstitel; beinahe jede Maschine und jedes Gebäude gehört einem einzelnen Menschen oder einem Unternehmen. Eigentumsrechte verleihen den Eigentümern die Möglichkeit, ihre Kapitalgüter nach ihrem Ermessen zu verwenden, auszutauschen, anzustreichen, auszugraben, anzubohren oder auszubeuten. Diese Kapitalgüter haben auch einen Marktwert, und man kann sie zu jedem beliebigen erzielbaren Preis auf dem Markt kaufen und verkaufen. Diese Möglichkeit des Einzelnen, Kapital zu besitzen und daraus Nutzen zu ziehen, gibt dem Kapitalismus seinen Namen. Doch obwohl unsere Gesellschaft auf Privateigentum aufgebaut ist, unterliegen die Eigentumsrechte Beschränkungen. Die Gesellschaft bestimmt, wie viel von „Ihrem“ Eigentum Sie Ihren Erben überlassen dürfen und welcher Teil davon in Form von Erbschafts- und Vermögenssteuer dem Staat zufließen soll. Die Gesellschaft legt fest, wie sehr Ihre Fabrik die Umwelt verschmutzen darf und wo Sie Ihr Auto parken dürfen und wo nicht. Auch Ihr Heim ist nur scheinbar Ihre Burg. Sie müssen sich an die Bauordnung halten und möglicherweise sogar etwas von Ihrem eigenen Grund und Boden abtreten, damit dort eine Straße gebaut werden kann.
Eigentumsrechte an Kapital und Umweltverschmutzung Eigentumsrechte definieren die Möglichkeiten, die eine Person oder ein Unternehmen hat, Kapitalgüter und anderes Eigentum in einer Marktwirtschaft zu besitzen, zu kaufen, zu verkaufen und einzusetzen. Diese Rechte können aufgrund der Gesetze eingeklagt werden, die den rechtlichen Rahmen einer Volkswirtschaft vorgeben. Ein effizienter und akzeptabler rechtlicher Rahmen für eine Marktwirtschaft beinhaltet die Definition von Eigentumsrechten, ein Vertragsrecht und ein System zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten. Wie die ehemals kommunistischen Staaten heute feststellen, ist es sehr schwierig, eine Marktwirtschaft zu betreiben, in der es keine Gesetze zur Durchsetzung von Verträgen oder zur Gewährleistung des Rechts von Unternehmen gibt, ihre Gewinne auch zu behalten. Wenn der rechtliche Rahmen zusammenbricht, wie etwa im früheren Jugoslawien oder in einem von Drogen beherrschten Staat wie Kolumbien, bekommen die Bewohner Angst um ihr Leben und haben weder Zeit noch Lust, langfristige Investitionen in die Zukunft zu tätigen. Die Produktion geht zurück, die Lebensqualität sinkt. Tatsächlich wurden viele der schlimmsten Hungersnöte Afrikas durch Bürgerkriege und den Zusammenbruch der Rechtsordnung, nicht durch ungünstige Wetterbedingungen ausgelöst. Ein weiteres Beispiel für die Schädigung der Wirtschaft durch mangelhafte Eigentumsrechte ist die Umwelt. Wasser und
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Luft sind im Allgemeinen frei zugängliche Ressourcen; das heißt, sie gehören niemandem und werden von niemandem kontrolliert. Es gilt das Motto: Was alle angeht, kümmert keinen. Das heißt, die Leute bedenken bei diesen Gütern häufig nicht, welche Kosten ihre Handlungen nach sich ziehen. Wenn jemand ein Gewässer verschmutzt oder Abgase in die Luft bläst, müssen die Kosten, die in Form schmutzigen Wassers und giftiger Luft anfallen, von anderen getragen werden. Im Gegensatz dazu werfen die Leute in der Regel keinen Müll auf ihren eigenen Rasen oder verbrennen Kohle in ihrem Wohnzimmer, weil sie in diesem Fall die Kasten selbst tragen müssten. Deshalb haben manche Ökonomen in den letzten Jahren vorgeschlagen, Eigentumsrechte auch auf ökologische Güter auszudehnen, indem Verschmutzungszertifikate verkauft oder versteigert werden, die man auf eigenen Märkten handeln kann. Und es gibt auch schon erste Belege dafür, dass diese Erweiterung der Eigentumsrechte einen sehr wirksamen Anreiz zur effizienten Verringerung von Umweltverschmutzung darstellt.
Eine moderne Volkswirtschaft muss ganz spezielle Eigenschaften aufweisen, um möglichst produktiv zu sein. Arbeitsteilung und hoch spezialisiertes Kapital erlauben es dem Einzelnen, sich selbst auf einem bestimmten Gebiet zu spezialisieren. Doch all die spezialisierten Individuen, Unternehmen und Länder können nur überleben, weil der mit Geld geschmierte Handel es verschiedenen Personen und Ländern erlaubt, ihre Produkte problemlos zu verkaufen und ebenso problemlos das Nötige einzukaufen. Die Spezialisierung hat eine enorme Effizienz zur Folge; die gesteigerte Produktion ermöglicht den Handel; das Geld macht diesen Handel schnell und effizient; und ein ausgeklügeltes Finanzsystem dient dazu, die Ersparnisse einiger in das Kapital anderer zu verwandeln.
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C. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft Auf einem idealen Markt werden alle Güter und Dienstleistungen freiwillig zu Marktpreisen gegen Geld ausgetauscht. Mit einem solchen System lässt sich ohne Eingreifen des Staates der größtmögliche Nutzen aus den Ressourcen einer Gesellschaft ziehen. In der realen Welt entspricht jedoch keine Wirtschaft vollständig diesem idealisierten Szenario einer problemlos funktionierenden unsichtbaren Hand. Stattdessen hat jeder Markt unter Unzulänglichkeiten zu leiden, die Missstände wie Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit und extremen Reichtum oder extreme Armut hervorrufen. Deshalb hält sich kein einziger Staat an keinem Ort der Welt, so konservativ er auch regiert sein mag, ganz aus der Wirtschaft heraus. In modernen Gesellschaften übernimmt der Staat in Reaktion auf die Mängel des Marktmechanismus zahlreiche Aufgaben. Militär, Polizei, nationale Wetterdienste und Autobahnbau sind heute typische Bereiche staatlicher Aktivität. Gesellschaftlich wünschenswerte Aufgaben wie die Erkundung des Weltraums und die wissenschaftliche Forschung profitieren von staatlicher Subventionierung. Der Staat reguliert einzelne Bereiche (wie etwa das Bankenwesen und medizinische Wirkstoffe) und finanziert andere (wie das Bildungs- und Gesundheitswesen). Außerdem erhebt der Staat von seinen Bürgern Steuern und gibt einen Teil des so eingenommenen Geldes an die Alten und Bedürftigen weiter. Wie aber erfüllt der Staat seine Funktion? Er veranlasst seine Bürger, Steuern zu zahlen, Vorschriften einzuhalten und bestimmte kollektive Güter und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Aufgrund seines Machtmonopols kann der Staat Funktionen erfüllen, die bei freiwilligem Austausch nicht möglich wären. Staatliche Vorschriften meh-
64 ren Freiheit und Konsum jener, die davon profitieren, verringern aber zugleich Einkommen und Chancen jener, die besteuert werden oder staatlichen Kontrollen unterliegen. Staaten haben in einer Marktwirtschaft drei wesentliche wirtschaftliche Funktionen: die Erhöhung der Effizienz, die Förderung der sozialen Gerechtigkeit und die Sicherung von volkswirtschaftlicher Stabilität und Wachstum. 1. Staaten erhöhen die Effizienz, indem sie den Wettbewerb fördern, Externalitäten wie Umweltverschmutzung eindämmen und öffentliche Güter zur Verfügung stellen. 2. Staaten fördern die soziale Gerechtigkeit, indem sie Steuern und Ausgabenprogramme zur Umverteilung in Richtung bestimmter Gruppen einsetzen. 3. Staaten sichern volkswirtschaftliche Stabilität und Wachstum, indem sie Arbeitslosigkeit und Inflation bekämpfen und zugleich das Wachstum fördern, und sie tun das mittels ihrer Haushalts- und Geldpolitik. Jede dieser Funktionen wollen wir uns nun ein wenig näher ansehen.
Die Grundlagen
Teil 1
durch den vollständigen Wettbewerb einem Ausgleich unterworfen sind. Unter diesen Umständen führt der Markt zu einer effizienten Ressourcenallokation, sodass sich die Wirtschaft auf ihrer Produktionsmöglichkeitskurve befindet. Wenn alle Wirtschaftszweige den Prüfungs- und Ausgleichsmechanismen des vollständigen Wettbewerbs unterworfen sind, produzieren die Märkte, wie wir später in diesem Buch noch sehen werden, das effizienteste Bündel an Outputs mit den effizientesten zur Verfügung stehenden Techniken und unter Einsatz der geringsten möglichen Inputmengen. Aber leider können sich die Märkte in vielerlei Hinsicht vom vollständigen Wettbewerb entfernen. Zu den drei Hauptgründen zählen unvollständige Wettbewerbsbedingungen, etwa Monopole, externe Effekte (auch Externalitäten oder Spillover-Effekte genannt) wie die Umweltverschmutzung und schließlich öffentliche Güter wie die Verteidigung oder das Autobahnnetz eines Landes. In jedem dieser Fälle führt das Marktversagen zu Ineffizienzen in Produktion oder Konsum, und der Staat kann bei der Korrektur dieser Missstände wertvolle Dienste leisten.
Unvollständiger Wettbewerb
Effizenz Adam Smith erkannte, dass die Vorteile des Marktmechanismus nur bei vollständigem Wettbewerb richtig zur Geltung kommen können. Was aber versteht man unter vollständigem Wettbewerb? Der Begriff bezieht sich auf einen Markt, auf dem kein Unternehmen oder Konsument mächtig genug ist, um den Marktpreis zu beeinflussen. So gilt beispielsweise der Weizenmarkt als vollständiger Markt oder Wettbewerbsmarkt, weil auch die größte Weizenfarm nur einen winzigen Bruchteil des gesamten auf der Welt produzierten Weizens erzeugen und daher keinen spürbaren Einfluss auf den Weizenpreis nehmen kann. Die Doktrin von der unsichtbaren Hand gilt für jede Wirtschaft, in der alle Märkte
Eine schwerwiegende Abweichung vom effizienten Markt stellt der unvollständige Wettbewerb oder das Monopol dar. Während im vollständigen Wettbewerb weder einzelne Unternehmen noch einzelne Konsumenten Einfluss auf die Preisbildung nehmen können, sprechen wir von unvollständigem Wettbewerb, wenn ein einzelner Käufer oder Verkäufer in der Lage ist, Einfluss auf den Preis einer Ware oder Dienstleistung zu nehmen. Nehmen wir an, die lokale Telefongesellschaft oder eine Gewerkschaft hätten genügend Einfluss, um die Telefongebühren oder den Stundenlohn zu beeinflussen – schon entsteht ein gewisses Maß an unvollständigem Wettbewerb. Und sobald diese Situation eintritt, bewegt sich die Gesellschaft hinter ihre PMK zurück. Das ist beispielsweise der
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Fall, wenn ein einzelner Verkäufer (ein Monopolist) die Preise erhöht, um höhere Gewinne zu erzielen. Der Output des von ihm angebotenen Wirtschaftsgutes würde dadurch unter das Effizienzniveau gedrückt, die Volkswirtschaft erlitte einen Schaden. In einer solchen Situation ist das Marktmerkmal der unsichtbaren Hand beeinträchtigt. Doch welche Auswirkungen hat der unvollständige Wettbewerb? Er führt zu Preisen, die über den Gestehungskosten liegen, während die Einkäufe durch die Konsumenten unter das Effizienzniveau sinken. Das Muster überhöhter Preise und eines zu geringen Outputs ist sozusagen das Markenzeichen der mit dem unvollständigen Wettbewerb verbundenen Ineffizienzen. In der Praxis treffen wir in beinahe allen Wirtschaftszweigen ein gewisses Maß an unvollständigem Wettbewerb an. So gibt es auf manchen Flugrouten keinerlei Konkurrenz für die dort fliegenden Gesellschaften, während auf anderen Strecken ein besonders harter Konkurrenz- und Preisdruck herrscht. Das Extrembeispiel eines unvollständigen Wettbewerbs stellt der Monopolist dar – ein einziger Anbieter, der allein den Preis für ein bestimmtes Wirtschaftsgut oder eine Dienstleistung bestimmt. Microsoft etwa ist mit der Produktion des Betriebssystems Windows als Monopolist aufgetreten. Im 20. Jahrhundert ergriffen die meisten Staaten gezielte Maßnahmen gegen extreme Auswüchse des unvollständigen Wettbewerbs. Bisweilen regulieren sie Preise und Gewinne von Monopolbetrieben wie den lokalen Wasser-, Telefon- und Stromgesellschaften. Zusätzlich verhindern meist kartellrechtliche Bestimmungen des Staates (Antitrustgesetze) Maßnahmen wie Preisdiktate oder Absprachen über die Aufteilung von Märkten. Der wichtigste Schritt zur Bekämpfung des unvollständigen Wettbewerbs ist jedoch die Öffnung des Marktes für Konkurrenten aus dem Inund Ausland. Nur wenige Monopole widerstehen einem solchen Konkurrenzangriff, sofern der Staat sie nicht durch Zölle oder Regulierungsbestimmungen schützt.
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Externe Effekte (Externalitäten) Eine zweite mögliche Ineffizienz ergibt sich durch so genannte externe Effekte, auch Spillover-Effekte oder Externalitäten genannt, die zur unerwünschten Verlagerung von Kosten oder Nutzen führen. Markttransaktionen bedeuten freiwilligen Tausch, wobei Menschen Güter oder Dienstleistungen gegen Geld tauschen. Kauft etwa ein Unternehmen ein Hähnchen, um daraus ein Fertiggericht herzustellen, so bezieht es das Hähnchen von seinem Eigentümer auf dem Hähnchenmarkt, und der Verkäufer erhält mit dem Kaufpreis den vollen Wert des Hähnchens erstattet. Wenn man sich die Haare schneiden lässt, bezahlt man dafür dem Friseur den vollen Wert für seinen Zeitaufwand, seine beruflichen Fähigkeiten und die Lokalmiete. Allerdings finden zahlreiche Interaktionen abseits der Märkte statt. Obwohl etwa Flughäfen eine ganze Menge Lärm produzieren, bezahlen sie in der Regel die Anwohner nicht für die Nutzung des Luftraums über ihren Häusern. Andererseits geben manche Unternehmen Unsummen für Forschung und Entwicklung aus, die in Form positiver externer Effekte der gesamten restlichen Gesellschaft zugute kommen. Die Forschungsabteilung von AT&T hat beispielsweise den Transistor erfunden und die elektronische Revolution eingeleitet, doch die Gewinne von AT&T sind dadurch, gemessen am sozialen Gesamtnutzen, nur geringfügig gestiegen. Sobald es zu Externalitäten kommt, nützt oder schadet eine wirtschaftliche Aktivität Akteuren, die außerhalb des jeweiligen Marktes stehen. Dies bedeutet, dass es offensichtlich auch wirtschaftliche Transaktionen ohne entsprechende wirtschaftliche Abgeltung in Form einer Bezahlung geben muss. Externe Effekte (oder Spillover-Effekte) treten auf, wenn die wirtschaftliche Aktivität von Unternehmen oder Individuen bei marktfernen Akteuren zu Kosten oder einem Nutzen führt.
66 Die Staaten haben heute zumeist mehr mit negativen als mit positiven externen Effekten zu kämpfen. Je höher die Bevölkerungsdichte und je größer das Produktionsvolumen an Energie, Chemikalien und anderen Materialien, desto eher entwickeln sich negative Externalitäten oder Spillover-Effekte in der ganzen Bandbreite von der geringfügigen Belästigung bis hin zur ernsthaften Bedrohung. Und genau da tritt der Staat auf den Plan. Staatliche Regulierung soll externe Effekte wie Luft- und Wasserverschmutzung, Schäden durch rücksichtslosen Bergbau, Sondermüll, gesundheitsgefährdende Substanzen und Nahrungsmittel oder radioaktives Material eindämmen. Staaten agieren in vielerlei Hinsicht wie Eltern, die immer nur „nein“ sagen: Du darfst deine Arbeiter keinen gefährlichen Situationen aussetzen. Du darfst keine gefährlichen Rauchgase durch deinen Schornstein jagen. Du darfst keine bewusstseinsverändernden Drogen verkaufen. Du darfst nicht Auto fahren, ohne den Sicherheitsgurt anzulegen. Und so weiter. Die richtige Balance zwischen freiem Markt und staatlicher Regulierung zu finden, ist eine schwierige Aufgabe, die einer gründlichen Analyse der Kosten und des Nutzens jedes möglichen Ansatzes bedarf. Trotzdem spricht sich heute kaum noch jemand für die Rückkehr in einen Wildwuchs der Wirtschaft aus, in dem die Unternehmen Gefahrstoffe wie etwa Plutonium hinkippen können, wo sie wollen.
Öffentliche Güter Obwohl negative externe Effekte wie die Umweltverschmutzung oder der Treibhauseffekt immer wieder für Schlagzeilen sorgen, fallen positive externe Effekte wirtschaftlich oft stärker ins Gewicht. Wichtige Beispiele für positive Externalitäten sind etwa die
Die Grundlagen
Teil 1
Errichtung des Straßennetzes, ein nationaler Wetterdienst, staatliche Subventionierung der Grundlagenforschung oder Maßnahmen zur Förderung der öffentlichen Gesundheit. Alle diese Güter kann man nicht auf Märkten kaufen und verkaufen. Im privaten Sektor würde es gar nie zur Produktion dieser öffentlichen Güter kommen, weil der Nutzen in der Bevölkerung so breit gestreut ist, dass ein einzelnes Unternehmen oder ein einzelner Konsument keinen wirtschaftlichen Anreiz darin sähe, die Dienstleistung zu erbringen und eine Gegenleistung dafür einzutreiben. Das Extrembeispiel für einen positiven externen Effekt ist das öffentliche Gut. Öffentliche Güter sind Leistungen, die jeder genießen und von denen niemand ausgeschlossen werden kann. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Armee eines Landes. Wenn ein Land in den Krieg zieht – um Terroristen zu bekämpfen, Massenvernichtungswaffen zu suchen, um Land oder Öl zu stehlen oder patriotische Gefühle in der Bevölkerung zu schüren –, müssen alle die Zeche zahlen, ob sie wollen oder nicht. Da die Bereitstellung öffentlicher Güter durch private Anbieter in der Regel unzureichend ist, muss der Staat einspringen und die Produktion dieser öffentlichen Güter fördern. Indem er öffentliche Güter wie Landesverteidigung oder Leuchttürme kauft, verhält er sich genau wie jeder andere, der große Ausgaben tätigt. Durch den Einsatz von genügend Kaufkraft auf bestimmten Gebieten bewirkt er den Zufluss von Ressourcen in diese Richtung. Sobald der Staat seine Entscheidung durch den Einsatz von Mitteln zum Ausdruck gebracht hat, übernimmt der Marktmechanismus das Ruder und kanalisiert die Ressourcen hin zu den Unternehmen, die dann die benötigten Leuchttürme oder Panzer produzieren.
Kapitel 2
Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Sind Leuchttürme öffentliche Güter? Leuchttürme dienten lange Zeit hindurch als Paradebeispiel für ein öffentliches Gut. Sie retten Leben und Ladung auf Schiffen. Doch die Leuchtturmwärter können schließlich von den Schiffen keine Gebühr erheben; und selbst wenn sie es könnten, hätte es keinen effizienten sozialen Zweck für sie, Geldstrafen über Schiffe zu verhängen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen. Am effizientesten wird das Licht eines Leuchtturms kostenlos zur Verfügung gestellt, denn es kostet schließlich nicht mehr, 100 Schiffe vor den gefährlichen Felsklippen zu warnen als ein einziges. Doch diese Ansicht geriet ins Wanken, als der Nobelpreisträger und Ökonom Ronald Coase die Geschichte der Leuchttürme in England und Wales untersuchte und erfuhr, dass diese privat betrieben wurden. Coase stellte fest, dass die in Lizenz von der Krone vergebenen englischen Leuchttürme rentabel betrieben und durch staatlich genehmigte, so genannte „Leuchtgebühren“ finanziert wurden, die man von den Schiffen in nahe gelegenen Häfen erhob. Daraus zog Coase folgende Schlussfolgerung: „Im Gegensatz zur Ansicht vieler Ökonomen können die Dienste eines Leuchtturms von einem privaten Unternehmen erbracht werden.” Bisweilen schloss man daraus sogar, dass Leuchttürme gar keine öffentlichen Güter darstellen. Doch man sollte ein wenig genauer hinsehen. Die beiden Hauptmerkmale öffentlicher Güter sind Kosten von Null für die Erbringung der jeweiligen Dienstleistung an eine weitere Person („nonrivalry“, keine rivalisierenden Güter) und die Unmöglichkeit, Einzelne von deren Inanspruchnahme auszuschließen („nonexcludability“, Nichtausschlussprinzip). Beide Merkmale gelten aber für Leuchttürme. Doch ein „öffentliches Gut“ ist nicht notwendiger Weise ein „durch die öffentliche Hand bereitgestelltes Gut“. Häufig wird es von niemandem bereitgestellt. Wird es hingegen von Privaten bereitgestellt, impliziert dies nicht, dass es auch effizient bereitgestellt wird oder dass ein Marktmecha-
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nismus seine Finanzierung bewirken kann. Das Beispiel aus England zeigt den interessanten Fall, in dem, falls die Bereitstellung des öffentlichen Gutes mit einem anderen Gut oder einer anderen Dienstleistung verknüpft werden kann (in diesem Fall mit der Tonnage der Schiffe) und falls der Staat privaten Personen das Recht gibt, Gebühren, die eigentlich Steuern sind, zu erheben, ein alternativer Mechanismus zur Finanzierung des öffentlichen Gutes gefunden werden kann. Ein solcher Ansatz wäre aber kaum denkbar, ließen sich die Gebühren nicht einfach mit der Tonnage der Schiffe verbinden (wie in internationalen Gewässern). Und er wäre undenkbar, würde sich der Staat weigern, das Recht zur Eintreibung von Gebühren bei den Schiffseignern zu privatisieren. Die amerikanische Erfahrung sieht ganz anders aus. In den Vereinigten Staaten herrschte von Anfang an die Meinung vor, der Staat solle der Schifffahrt die nötige Unterstützung anbieten. So sah eine der ersten Handlungen des ersten Kongresses und das erste amerikanische Gesetz über Aufgaben der öffentlichen Hand vor, dass „die erforderliche Unterstützung, Wartung und Reparatur aller Leuchttürme, Leuchtbalken [und] Bojen ... aus dem Staatsschatz der Vereinigten Staaten bestritten werden soll.“ Doch wie viele öffentliche Güter wurden auch die Leuchttürme unzureichend finanziert, und es ist interessant festzustellen, was geschah, wenn in der Folge die nötigen Navigationshilfen fehlten. Ein faszinierender Fall wird von der Ostküste Floridas berichtet, einer tückischen Wasserstraße mit einem 300 Kilometer langen Riff, das auf einer der gefährlichsten HurricaneStrecken nur wenige Fuß unter der Wasserfläche liegt. Diese stark befahrene Wasserstraße war durch heftige Stürme, häufige Schiffbrüche und Piraterie gekennzeichnet. Es gab in Florida bis 1825 keine Leuchttürme, und auch der private Sektor sorgte hier nicht für Sicherheit. Doch der Markt reagierte heftig auf die gefährliche Situation. Der private Sektor brachte eine blühende „Wrackindustrie“ hervor. Da gab es die so genannten Wreckers, Kutter, die in der Nähe
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des tückischen Riffs warteten, bis ein unglückliches Schiff auf Grund lief. Dann erschien umgehend der Wrecker, bot seine Hilfe an, rettete Leben und Ladung und schleppte das Schiff in den nächsten Hafen, nicht ohne einen beträchtlichen Teil des Betrages zu fordern, den die Schiffsfracht ausmachte. Mitte des 19. Jahrhunderts war Wrecking der bedeutendste Wirtschaftszweig Südfloridas, und er machte Key West zur reichsten Stadt im damaligen Amerika. Die Wrecker erzielten wahrscheinlich eine gute Wertschöpfung, aber wiesen keines der Merkmale des öffentlichen Gutes auf, das ein Leuchtturm nun einmal ist. Außerdem bedeutete die Schifffahrt unter diesen Bedingungen ein erhebliches Risiko, war die Fracht doch zumeist nicht versichert. Oder Wrecker und Schiffskapitäne bereicherten sich durch Absprachen auf Kosten der Eigentümer und Versicherungsgesellschaften. Erst als der staatlich finanzierte U.S. Lighthouse Service überall im Kanal von Florida Leuchttürme zu bauen begann, sank die Zahl der Schiffswracks – und die Wrecker waren aus dem Geschäft. Heute sind Leuchttürme kein zentrales Anliegen staatlicher Politik mehr, sondern interessieren vor allem die Touristen. Sie wurden mittlerweile weitgehend durch satellitengestützte GPS-Systeme ersetzt, ebenfalls ein öffentliches Gut, das der Staat kostenlos zur Verfügung stellt. Doch die Geschichte der Leuchttürme erinnert uns an die Probleme, die auftreten können, wenn öffentliche Güter nicht effizient angeboten werden.
Steuern. Der Staat muss die Einnahmen, mit denen er die öffentlichen Güter und Umverteilungsprogramme bezahlen kann, natürlich irgendwoher beziehen. Er bekommt sie aus den Steuern, die auf Einkommen und Unternehmenserträge, auf Gehälter, auf den Verkauf von Verbrauchsgütern und aus anderen Quellen erhoben werden. Der Staat erhebt auf all seinen Ebenen – Gemeinden, Länder, Bund – Steuern, um seine Ausgaben tätigen zu können.
Die Grundlagen
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Der Begriff Steuern klingt wie eine andere Art von „Preis“ – in diesem Fall handelt es sich um den Preis, den wir für öffentliche Güter zu bezahlen haben. Aber Steuern unterscheiden sich auch in einem ganz wesentlichen Aspekt von Preisen. Man bezahlt sie nicht freiwillig. Jeder unterliegt den Steuergesetzen, und wir alle sind verpflichtet, einen Teil der Kosten für die öffentlichen Güter zu tragen. Natürlich entscheiden wir durch unsere demokratischen Prozesse als Bürger über die öffentlichen Güter ebenso wie über die Steuern, mit denen sie bezahlt werden. Aber es fehlt einfach die enge Verbindung zwischen Ausgabe und Konsum, die wir von den privaten Gütern her kennen. Ich zahle schließlich nur dann für einen Hamburger, wenn ich ihn auch essen möchte, aber meine Steuern zur Finanzierung der Verteidigungsausgaben und des öffentlichen Schulwesens muss ich selbst dann leisten, wenn mir diese Dienstleistungen überhaupt kein Anliegen sind.
Soziale Gerechtigkeit Unsere Erörterung des Marktversagens etwa infolge von Monopolen oder externen Effekten hat sich bisher auf Mängel in der Allokationsfunktion der Märkte konzentriert – Mängel, die sich durch staatliche Eingriffe korrigieren lassen. Doch nehmen wir einmal absolut effizientes Funktionieren der Wirtschaft an – immer auf ihrer PMK, niemals dahinter, mit konstanter Ausgewogenheit zwischen öffentlichen und privaten Gütern etc. Selbst bei perfektem Funktionieren des Marktsystems kann das Ergebnis Mängel aufweisen. Die Märkte produzieren nicht notwendigerweise eine sozial gerechte Einkommensverteilung. Eine Marktwirtschaft kann sogar völlig inakzeptable Ungleichheiten bei Einkommen und Konsum hervorbringen. Doch warum löst der Marktmechanismus das Problem des Für wen häufig nur völlig unzureichend? Der Grund liegt darin, dass die Einkommen von multiplen Faktoren wie von
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
den Bemühungen des Einzelnen, von seiner Ausbildung, ererbtem Vermögen, Faktorpreisen und wohl auch von einer gewissen Portion Glück abhängen, die man hat oder eben nicht. Die sich daraus ergebende Einkommensverteilung mutet im Endeffekt nicht immer gerecht an. Vor allem aber, und Sie erinnern sich bestimmt noch: Die Güterproduktion richtet sich nach der Kaufkraft, nicht nach den dringlichsten Bedürfnissen der Menschen. So kann es dazu kommen, dass die Katze der Reichen genau jene Milch trinkt, die für die Gesundheit der Kinder der Armen so dringend nötig wäre. Aber geschieht dies deshalb, weil der Markt versagt? Keineswegs. Der Marktmechanismus tut schon das Seine – er verschafft den Leuten mit der entsprechenden Kaufkraft die gewünschten Güter. So kann sogar das effizienteste Marktsystem zu himmelschreiender Ungerechtigkeit führen. Häufig ist die Einkommensverteilung in einem Marktsystem bereits bei der Geburt vorgezeichnet. Alljährlich listet das Forbes Magazine die 400 reichsten Amerikaner auf, und es ist schon beeindruckend zu sehen, wie viele von ihnen ihren Reichtum ererbt oder aus dem geerbten Vermögen erwirtschaftet haben, weil sie dieses als Sprungbrett zu noch größerem Reichtum nutzen konnten. Würde irgendjemand diesen Umstand als gerecht oder gar ideal bezeichnen? Sollte es einem Menschen gestattet sein, Milliardär zu werden, nur weil er 5.000 Quadratmeilen Farmland oder den gesamten Familienbestand an Ölquellen erbt? Und genau daran krankt es unter dem Laissez-faire-Kapitalismus. In der amerikanischen Geschichte wirkte das Wirtschaftswachstum zumeist wie die Flut, die alle Boote hebt, also die Einkommen der Armen ebenso wie jene der Reichen steigen lässt. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten haben Veränderungen in der Familienstruktur und sinkende Löhne, nicht oder schlecht ausgebildeter Arbeitskräfte, diesen Trend umgekehrt. Mit der Rückbesinnung auf den Markt stieg die Zahl der Obdachlosen und boomte die Kinderarmut
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ebenso wie die Verelendung der Innenstädte der USA. Einkommensungleichheiten können politisch oder moralisch unerwünscht sein. Ein Land braucht das Ergebnis der Wettbewerbsmärkte nicht einfach als vorherbestimmt und unabänderlich hinzunehmen. Die Leute können sich über die Einkommensverteilung Gedanken machen und sie schließlich für unfair befinden. Wenn eine demokratische Gesellschaft mit der Verteilung der Kaufkraft unter einem Laissez-faire-Marktsystem unzufrieden ist, kann sie Maßnahmen ergreifen, um die bestehende Einkommensverteilung zu verändern. Nehmen wir an, die Wähler beschließen, die Einkommensunterschiede zu verringern. Welche Werkzeuge stehen dazu dem Staat zur Verfügung? Zunächst kann er eine progressive Besteuerung einführen und hohe Einkommen stärker als niedrige besteuern. Er könnte hohe Vermögens- oder Erbschaftssteuern verfügen, um die Privilegienkette zu unterbrechen. Staatliche Einkommens- und Erbschaftssteuern sind übrigens Beispiele einer progressiven Besteuerung mit Umverteilungswirkung. Da jedoch niedrige Steuersätze jenen, die über gar kein Einkommen verfügen, herzlich wenig nützen, kann der Staat zusätzlich Transferleistungen vorsehen und den Bürgern Gelder direkt auszahlen. Zu den genannten Transferleistungen gehören heute beispielsweise Unterstützungen für Alte, Blinde, Behinderte und Familien mit Kindern ebenso wie Arbeitslosenunterstützung für Leute ohne Job. Dieses System von Transferzahlungen sorgt für ein „soziales Sicherheitsnetz“, das die weniger vom Glück Begünstigten vor der Verelendung bewahren soll. Und schließlich gewährt der Staat den niedrigen Einkommensgruppen bisweilen Unterstützungen in Form von Lebensmittelbons, subventionierten Gesundheitsdiensten und Mietzuschüssen – obwohl sich etwa in den Vereinigten Staaten die Ausgaben für diese Dienste im Rahmen der staatlichen Gesamtausgaben vergleichsweise bescheiden ausnehmen.
70 Und diese Sozialprogramme sind in den letzten zwanzig Jahren zunehmend unpopulärer geworden. Da die Reallöhne der Mittelklasse stagnieren, fragen sich die Leute natürlich, warum sie eigentlich Obdachlose oder Behinderte, die nicht arbeiten, unterstützen sollen. Was kann nun die Volkswirtschaftslehre zur Debatte über soziale Gerechtigkeit beitragen? Die Wirtschaftswissenschaft kann normative Fragen, also etwa, wie viel von unserem Markteinkommen, falls überhaupt, in Form von Transferleistungen armen Familien zugute kommen soll, gar nicht beantworten. Es handelt sich hierbei um eine politische Frage, die nur auf dem Umweg über die Wahlurnen zu beantworten ist. Sehr wohl kann die Wirtschaftswissenschaft jedoch Kosten und Nutzen verschiedener Umverteilungssysteme analysieren. Ökonomen haben eine Menge Zeit auf die Frage verwendet, ob und inwieweit die verschiedenen Instrumentarien zur Umverteilung der Einkommen (wie Steuern und Lebensmittelbons) zu Verschwendung führen (also dazu, dass die Begünstigten weniger arbeiten oder sich eher Drogen als Lebensmittel kaufen). Sie haben auch darüber nachgedacht, ob man armen Leuten lieber Geld als Sachleistungen zukommen lassen sollte und ob sich dadurch die Armut effizienter bekämpfen lässt. Die Wirtschaftswissenschaft kann die Frage, wie viel Armut erträglich und gerechtfertigt ist, nicht beantworten. Sie kann aber bei der Entwicklung wirksamer Programme zur Armutsbekämpfung helfen.
Wirtschaftswachstum und Stabilität Schon seit seinen Anfängen wird der Kapitalismus von zeitweiligen Inflationsschüben (steigenden Preisen) und Rezessionen (hoher Arbeitslosigkeit) erschüttert. Allein seit dem Zweiten Weltkrieg waren beispielsweise in den Vereinigten Staaten zehn Rezessionen zu verzeichnen, die bisweilen Millionen von
Die Grundlagen
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Amerikanern arbeitslos machten. Diese Fluktuationen werden als Konjunkturzyklen bezeichnet. Dank der wissenschaftlichen Beiträge von John Maynard Keynes und seinen Schülern wissen wir heute, wie sich die schlimmsten Auswüchse des Wirtschaftskreislaufs vermeiden lassen. Durch den umsichtigen Einsatz fiskal- und geldpolitischer Maßnahmen können die Staaten Produktivität, Beschäftigung und Inflation wirksam beeinflussen. Unter der Fiskalpolitik eines Staates versteht man dessen Möglichkeit, Steuern zu erheben und Ausgaben zu tätigen. Als Geldpolitik bezeichnet man hingegen die Festlegung der Geldmenge und der Zinssätze. Diese Instrumentarien wirken sich auf Investitionen in Kapitalgüter und andere zinssensible Ausgaben aus. Durch den Einsatz dieser beiden für die Makroökonomie grundlegenden Werkzeuge können die Staaten Einfluss auf das Gesamtausgabenniveau, die Wachstumsrate und die Produktionsmenge ebenso wie auf den Beschäftigungsstand und die Arbeitslosigkeit, aber auch auf das Preisniveau und die Inflationsrate einer Wirtschaft nehmen. Die Regierungen verschiedener moderner, industrialisierter Länder konnten in den vergangenen fünfzig Jahren die Erkenntnisse der Keynesianischen Revolution teilweise sehr erfolgreich anwenden. Angetrieben durch eine aktive Geld- und Fiskalpolitik, erlebten die Marktwirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg eine Periode bisher unbekannten Wachstums. In den 1980er Jahren waren die Staaten zunehmend darauf bedacht, makroökonomische Strategien zu entwerfen, mit denen sich langfristige Ziele, etwa im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum und Produktivität, verfolgen lassen. (Der Begriff Wirtschaftswachstum bezeichnet das Wachstum der gesamten Outputleistung eines Landes, während sich Produktivität auf den Output pro Inputeinheit oder die Effizienz bezieht, mit der die Produktionsmittel eingesetzt werden.) So wurden in den meisten Industriestaaten die Steuersätze gesenkt, um die Spar-
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Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
neigung zu erhöhen und Produktionsanreize zu schaffen. Viele Ökonomen verweisen auf die Bedeutung des öffentlichen Sparens durch geringere Budgetdefizite als eine Möglichkeit, Ersparnisse und Investitionen eines Landes anzuheben. Makroökonomische Strategien zur Stabilisierung und Förderung des WirtschaftsVersagen der Marktwirtschaft
wachstums beinhalten fiskal- oder haushaltspolitische Maßnahmen (Steuereinnahmen und Staatsausgaben) ebenso wie geldpolitische Maßnahmen (Einflussnahme auf Zinssätze und Kreditkonditionen). Seit der Entwicklung der Makroökonomie in den 1930er Jahren konnten Staaten immer wieder erfolgreich die schlimmsten Exzesse von Inflation und Arbeitslosigkeit eindämmen.
Staatliches Eingreifen
Jüngste wirtschaftspolitische Beispiele
Ineffizienz: Monopole
Förderung des Wettbewerbs
Kartellrechtliche Bestimmungen, Deregulierung
Externe Effekte (Externalitäten oder Spillover-Effekte)
Intervention auf Märkten
Umweltschutzgesetze, Rauchverbote
Öffentliche Güter
Förderung nützlicher Aktivitäten
Aufbau von Leitsystemen, öffentliches Bildungswesen
Einkommensumverteilung
Progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen
Ungleichheit: Inakzeptable Einkommens- und Vermögensungleichheit
Einkommenszuschüsse oder Transferleistungen (z.B. Lebensmittelmarken) Makroökonomische Probleme: Konjunkturzyklen (hohe Inflation und Arbeitslosigkeit)
Wirtschaftspolitische Stabilisierung
Geldpolitik (z.B. Änderung der Geldmenge und der Zinssätze) Fiskalpolitik (z.B. Steuern und Ausgabenprogramme)
Geringes Wirtschaftswachstum
Wachstumsförderung
Hebung der Steuereffizienz Anhebung der nationalen Sparrate durch Verringerung des Budgetdefizits oder Erhöhung des Budgetüberschusses
Tabelle 2-1: Der Staat kann Marktmängel beheben
In Tabelle 2-1 ist die wirtschaftliche Rolle des modernen Staates zusammengefasst. Sie verweist auf die wichtigen Funktionen des Staates bei der Effizienzförderung, einer gerechteren Einkommensverteilung und bei der Verfolgung der makroökonomischen Ziele Wachstum und Stabilität. In allen entwickel-
ten Industriestaaten besteht heute ein wirtschaftliches Mischsystem, in dem der Markt Produktionsoutput und Preise in den meisten Einzelsektoren bestimmt, während der Staat mit Steuerprogrammen, staatlichen Ausgaben und Geldmarktregulierungen die Gesamtwirtschaft lenkt.
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Götterdämmerung im Wohlfahrtstaat? Im Jahr 1942 erklärte der große, aus Österreich stammende Harvard-Ökonom Joseph Schumpeter, die USA seien ein „kapitalistischer Staat im Sauerstoffzelt“, der sich auf dem Weg in den Sozialismus befinde. Die Erfolge des Kapitalismus würden Entfremdung und Selbstzweifel nähren und so Effizienz und Innovation unterlaufen. Doch er sollte sich irren. In den folgenden fünfzig Jahren engagierte sich der Staat sowohl in Nordamerika als auch in Westeuropa vermehrt in der Wirtschaft, und es kam zur eindrucksvollsten wirtschaftlichen Entwicklung aller Zeiten. Das kräftige Wirtschaftswachstum war von einer wachsenden Skepsis bezüglich der Rolle des Staates begleitet. Kritiker des Staates nannten ihn aufdringlich und behaupteten, Staaten würden Monopole schaffen, staatliches Versagen sei ebenso verbreitet wie Marktversagen, hohe Steuern verzerrten die Ressourcenallokation, die Sozialversicherung würde die Arbeiter in den kommenden Jahrzehnten über Gebühr belasten, Umweltschutzvorschriften schadeten dem Unternehmertum und staatliche Versuche zur Stabilisierung der Wirtschaft müssten im besten Fall fehlschlagen, während sie im schlechtesten Fall die Inflation anheizten. Kurz gesagt, für manche stellte der Staat das Problem und nicht die Lösung dar. Wächter der freien Wirtschaft: Friedrich Hayek und Milton Friedman Ökonomen sind auch nur Menschen, und so gehen ihre Meinungen und Ideologien oft beträchtlich auseinander. Nachdem staatliche Politik bei der Mobilisierung der Kriegswirtschaft in den USA und in Großbritannien so erfolgreich den Sieg über Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg herbeigeführt hatte, und da die aktive makroökonomische Politik selbst die Weltwirtschaftskrise besiegt zu haben schien,
Die Grundlagen
Teil 1
wurde die Ideologie des Laissez faire unter den Wirtschaftswissenschaftlern der freien Welt bald zu einem Minderheitenprogramm. Doch zwei bedeutende Ökonomen legten ihre Skepsis bezüglich der Vorteile massiver staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft niemals ab: Friedrich Hayek (1899–1992), geboren in Wien und in London und Chicago tätig, sowie Milton Friedman (1912–2006), Lehrer an der University of Chicago und in Stanford, die für ihre wissenschaftlichen Innovationen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Ihre Arbeiten werden von konservativen und „liberalen“ Wirtschaftstheoretikern bis heute sehr geschätzt. Hayeks einflussreichstes Werk befasste sich mit der Effizienz verschiedener Formen wirtschaftlicher Organisation. In den 1920er und 1930er Jahren tobte eine intensive Debatte darüber, ob Ressourcen im Sozialismus überhaupt effizient eingesetzt werden können. Oskar Lange und Abba Lerner meinten, ein sozialistisches Unternehmen könnte seine Preise nach Art der Kapitalisten gestalten und so eine Marktwirtschaft ohne die monopolistischen Tendenzen des Kapitalismus nachbilden. Hayek brachte dagegen gewichtige Einwände vor. Er wies darauf hin, dass man ja Kosten und Produktionsmöglichkeiten nicht kenne. Nur mit den Anreizen eines privaten Systems mit freiem Unternehmertum ließen sich die unter den Millionen von Akteuren verstreuten Informationen effektiv mobilisieren und nutzen. Kein System könne Innovationen hervorbringen, ohne durch das Zuckerbrot der Gewinne und die Peitsche des Konkurses dazu angeregt zu werden. Die moderne Ökonomie mit ihrer Betonung der verstreuten und asymmetrischen Information schuldet den brillanten Erkenntnissen Hayeks viel. Hayeks Bestseller und sein in der Öffentlichkeit am meisten beachtetes Werk war The Road to Serfdom (Der Weg zur Knechtschaft). Darin warnte er, der Weg zur Hölle der totalitaristischen Tyrannei und ökonomischen Ineffizienz sei mit den guten Vorsätzen bescheidener Eingriffe in freie Märkte und private Untenehmen gepflastert.
Kapitel 2
Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Friedmans statistische und analytische Forschung umfasste eine enorme Bandbreite. Er dokumentierte, wie gering die Unterschiede zwischen der Sparrate der Reichen und jener der Armen langfristig ausfällt, wenn man sie nur um die vorübergehenden Ausschläge der Einkommen nach oben und unten bereinigt. Diese Arbeit mündete in die Konsumtheorie des permanenten Einkommens (die in den Makroökonomiekapiteln dieses Buches behandelt wird). Zusammen mit Anna Schwartz verfasste Friedman Monetary History of the United States, 1876–1960 (1963), eine geldpolitische Geschichte der USA. Das Buch leitete die monetaristische Revolution ein und führte zu Erkenntnissen der Makroökonomen darüber, wie die Geldmenge sich auf die gesamtwirtschaftlichen Ausgaben, Preise und Produktionsmengen auswirkt. Friedman trug zur Überzeugung der Wirtschaftswissenschaftler bei, dass die staatliche Geldpolitik tatsächlich einen Einfluss auf die gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten ausübt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand in den USA, in Westeuropa und Asien, aber auch in den früheren Sowjetstaaten und China eine spürbare Wende in Richtung Markt und Wettbewerb und weg von der zentralistischen Kommandowirtschaft statt. Kein anderer Vertreter der Ökonomengilde erlangte sowohl als Architekt als auch als Exponent dieser Entwicklung eine solche Bedeutung wie Milton Friedman. Sein Klassiker, Capitalism and Freedom (1962, deutsch: Kapitalismus und Freiheit) legt dar, warum ein rationaler Denker bei gleichzeitiger Befürwortung des freien internationalen Handels und weitestgehender Deregulierung gegen Mindestlohn, die staatliche Zulassung von Chirurgen und das Verbot von Drogen wie Heroin und Kokain auftreten kann. Alle ernsthaften Ökonomen sollten seine Argumente sorgfältig studieren.
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Das moderne wirtschaftliche Mischsystem In der Gewichtung der Verdienste von Staat und Markt vereinfacht die öffentliche Debatte die komplexen Entscheidungen, die die Gesellschaften zu treffen haben, auf unzulässige Weise. Die Märkte haben in einigen Ländern Wunder gewirkt. Aber ohne die geeigneten rechtlichen und politischen Strukturen und ohne das übergelagerte gesellschaftliche Kapital, das Handel und private Investitionen fördert, führte der Markt auch zu einem korrupten Kapitalismus mit massiven Ungleichheiten, zu verbreiteter Armut und einem sinkenden Lebensstandard. In der Wirtschaft hat der Erfolg viele Väter, während das Versagen oft als Waise dasteht. Der Erfolg der Marktwirtschaften lässt viele Beobachter die zahlreichen Erfolge eines kollektiven Vorgehens übersehen, durch die das vergangene Jahrhundert gekennzeichnet war. Staatliche Programme haben erfolgreich mit Armut und Hunger aufgeräumt, und sie haben die Geißel schrecklicher Krankheiten wie Tuberkulose und Pocken von uns genommen. Staatliche Gelder haben die Leute lesen gelehrt und ihre Lebenserwartung erhöht. Militärische und diplomatische Aktionen konnten viele gefährliche Despoten stürzen. Makroökonomische Erfolge haben Inflation und Arbeitslosigkeit etwas von ihrem Schrecken genommen. Staatlich subventionierte Wissenschaft ist in die Atomstrukturen eingedrungen, hat das DNA-Molekül entdeckt und den Weltraum erkundet. Natürlich gehören diese Erfolge nicht dem Staat allein. Staaten nutzen menschliche Genialität mittels des Marktmechanismus und helfen so, diese sozialen Ziele zu erreichen. Und in manchen Fällen verhielten sich Staaten wie Prediger, die einfach nicht wussten, wann es genug war. Die Debatte über Erfolge und Versagen des Staates zeigt neuerlich, dass die Grenzziehung zwischen Markt und Staat ein anhaltendes Problem darstellt. Die Werkzeuge der
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Die Grundlagen
Ökonomie sind jedenfalls unbedingt erforderlich, damit Gesellschaften den goldenen Mittelweg zwischen Laissez-faire-Marktwirtschaft und demokratischem Regelwerk finden können. Ein gutes wirtschaftliches Mischsystem unterliegt zwangsweise einigen Beschränkungen. Jene, die den Staat auf einen Polizisten und einige Leuchttürme redu-
Teil 1
zieren möchten, leben jedenfalls im Land der Träume. Eine effiziente und humane Gesellschaft erfordert beide Hälften des Mischsystems – Markt und Staat. Wollte eine moderne Volkswirtschaft ohne sie auskommen, gliche das dem Versuch, mit einer Hand zu klatschen.
Zusammenfassung A. Was ist ein Markt? 1.
2.
3.
In einer Wirtschaft wie jener der USA werden die meisten Entscheidungen auf Märkten getroffen. Der Marktmechanismus bringt Käufer und Verkäufer zusammen, sodass sie Handel treiben und Preise und Produktionsmengen bestimmen können. Adam Smith stellte die Behauptung auf, die unsichtbare Hand der Märkte sorge für das optimale wirtschaftliche Ergebnis, und zwar einfach, indem der Einzelne seine eigenen Interessen verfolgt. Und obwohl die Märkte alles andere als vollkommen sind, haben sie sich doch als bemerkenswert effektiv erwiesen, wenn es darum ging, die drei Grundfragen der Wirtschaft, nämlich das Was, Wie und Für wen, zu lösen. Der Marktmechanismus zur Beantwortung der Fragen des Was und des Wie funktioniert wie folgt: Die durch den Einsatz ihrer Geldmittel zum Ausdruck gebrachten Präferenzen der Leute wirken sich auf die Warenpreise aus; diese Preise dienen als Richtlinie für die Mengen der zu produzierenden Güter. Wenn die Leute größere Mengen eines Gutes nachfragen, können die Unternehmen davon profitieren, indem sie die Produktion des betreffenden Gutes erhöhen. Unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen ist ein Unternehmen gezwungen, die kostengünstigste Produktionsmethode zu wählen, indem es Arbeit, Grund und Boden sowie andere Faktoren möglichst effizient einsetzt. Andernfalls erleidet es Verluste und verschwindet vom Markt. Zugleich mit den Problemen des Was und Wie wird auch die Frage des Für wen über den Preismechanismus gelöst. Die Einkommensverteilung wird durch das Eigentum an Produktionsfaktoren (Grund und Boden, Arbeit und Kapital) und durch die Faktorpreise bestimmt. Leute, die fruchtbares Land besitzen oder be-
sonders viele Fußballtore schießen, erwerben sich damit eine hohe Kaufkraft, mit der sie Verbrauchsgüter kaufen können. Dagegen erzielen Leute ohne Besitz oder mit Fähigkeiten, einer Hautfarbe oder einem Geschlecht, die der Markt nicht schätzt, nur geringe Einkommen.
B. Handel, Geld und Kapital 4.
5.
Im Laufe ihrer Entwicklung spezialisieren sich die Volkswirtschaften zunehmend. Erst die Arbeitsteilung ermöglicht die Zerlegung einer Aufgabe in eine ganze Reihe kleinerer Schritte, die dann jeweils von einer bestimmten Arbeitskraft rascher erledigt werden können. Die Spezialisierung ergibt sich aus der steigenden Tendenz, den Produktionsprozess in Einzelschritte zu zergliedern, die viele spezialisierte Fähigkeiten und Kenntnisse erfordern. Mit zunehmender Spezialisierung von Arbeitskräften und Staaten konzentrieren sich diese vornehmlich auf bestimmte Waren und tauschen ihren Produktionsüberschuss gegen Güter, die von anderen produziert werden. Freiwilliger Handel auf der Grundlage der Spezialisierung nützt allen. Der Handel mit spezialisierten Gütern und Dienstleistungen basiert heute auf Geld als Zahlungs- und Schmiermittel für die vielen Rädchen im Getriebe des Handels. Geld ist das universell akzeptierte Tauschmittel – Bargeld ebenso wie Schecks. Es wird zur Bezahlung aller möglichen Dinge, vom Apfelkuchen bis zum Zebrafell, verwendet. Indem sie Geld einnehmen, können sich Einzelpersonen wie auch Staaten auf die Produktion weniger Güter spezialisieren, die sie dann gegen andere tauschen; ohne Geld würden wir viel Zeit mit der ständigen Suche nach Tauschobjekten vergeuden.
Kapitel 2
6.
Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
Kapitalgüter – das sind produzierte Produktionsmittel wie Maschinen, Bauten und Lagerbestände an Halbfertigwaren – ermöglichen zergliederte Produktionsmethoden, die viel zum Output eines Landes beitragen. Diese Methoden benötigen Zeit und Ressourcen, um in Gang zu kommen, und sie erfordern daher einen zeitweiligen Verzicht auf sofortigen Konsum zugunsten eines größeren zukünftigen Konsums. Die Eigentumsordnung einer Wirtschaft ergibt sich aus den Regeln, die festlegen, wie Kapital und andere Vermögenswerte gekauft, verkauft und verwendet werden können. Ein Wirtschaftssystem, in dem die Eigentumsrechte völlig unbeschränkt sind, gibt es nirgendwo.
C. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft 7.
8.
Obwohl der Marktmechanismus eine bewundernswerte Methode zur Produktion und Allokation von Gütern darstellt, führt Marktversagen bisweilen zur Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Ergebnisses. Hier kann der Staat einspringen und dieses Versagen korrigieren. Die Rolle des Staates in einer modernen Volkswirtschaft besteht darin, die Effizienz sicherzustellen, eine ungerechte Einkommensverteilung zu kompensieren und Wirtschaftswachstum und Stabilität zu fördern. Es gelingt den Märkten nicht, eine effiziente Ressourcenallokation zu erreichen, wenn unvollständiger Wettbewerb herrscht oder wenn externe Effekte auftreten. Der unvollständige Wettbewerb, etwa in Form von Monopolen, führt zu erhöhten Preisen und geringerem Output. Um dagegen anzukämpfen, regelt der
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Staat die einzelnen Wirtschaftsbereiche oder erlegt ihnen kartellrechtliche Beschränkungen auf. Externe Effekte treten auf, wenn Aktivitäten Kosten oder einen Nutzen für andere, marktferne Personen oder Gruppen verursachen. Der Staat kann sich dafür entscheiden, einzuschreiten und diese Spillover-Effekte zu regeln (wie im Fall der Luftverschmutzung) oder für die Bereitstellung öffentlicher Güter zu sorgen (wie im Fall der Landesverteidigung). 9. Märkte führen nicht notwendigerweise zu einer gerechten Einkommensverteilung; sie schaffen bisweilen sogar eine unannehmbare Ungleichheit in Bezug auf Einkommensverteilung und Konsummöglichkeiten. Als Reaktion darauf können die Staaten die Einkommensstrukturen (das Für wen), die sich durch die Gehälter, Mieten, Zinsen und Dividenden am Markt ergeben, verändern. Moderne Staaten setzen Steuersysteme ein, um die Erträge für Transferoder Sozialprogramme zu erwirtschaften und um ein finanzielles Sicherheitsnetz unter den Bedürftigen zu spannen. 10. Seit der Entwicklung der Makroökonomie in den 1930er Jahren übernimmt der Staat auch noch eine dritte Rolle: Mit Hilfe seiner Fiskal(Erhebung von Steuern und Staatsausgaben) und Geldpolitik (Einflussnahme auf Kredite und Zinssätze) wirkt er im Sinne einer Förderung des langfristigen Wirtschaftswachstums und der Produktivität und trägt zur Eindämmung der Auswüchse des Wirtschaftskreislaufs, also der Inflation und Arbeitslosigkeit, bei. Seit 1980 gerät das wirtschaftliche Mischsystem, das wir als Wohlfahrtsstaat bezeichnen, im anhaltenden Kampf über die Grenzziehung zwischen Staat und Markt zunehmend in die Defensive.
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Die Grundlagen
Teil 1
Begriffe zur Wiederholung Der Marktmechanismus Markt, Marktmechanismus Gütermärkte und Märkte für Produktionsfaktoren (Faktormärkte) Preise als Signale Marktgleichgewicht Vollkommener und unvollkommener Wettbewerb Adam Smiths Doktrin von der unsichtbaren Hand
Kennzeichen einer modernen Ökonomie Spezialisierung und Arbeitsteilung Geld Produktionsfaktoren (Grund und Boden, Arbeit, Kapital) Kapital, Privateigentum und Eigentumsrechte
Die wirtschaftliche Rolle des Staates Effizienz, soziale Gerechtigkeit, Stabilität Ineffizienzen: Monopole und Externalitäten (auch externe Effekte oder Spillover-Effekte) Einkommensungleichheiten in der Marktwirtschaft Makroökonomische Politik, Fiskal- und Geldpolitik, Stabilisierung und Wachstum
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine interessante Erörterung der Globalisierung findet sich in: „Symposium on Globalization in Perspective“, Journal of Economic Perspectives, Herbst 1998. Beispiele für die Schriften liberaler Ökonomen: Milton Friedman, Capitalism and Freedom (University of Chicago Press, 1963; deutsch: Kapitalismus und Freiheit, Piper 2004) und Friedrich Hayek, The Road to Serfdom (University of Chicago Press, 1994; deutsch: Der Weg zur Knechtschaft, Olzog 2003). Ein starkes Plädoyer für staatliche Interventionen findet sich in einer Geschichte der 1990er Jahre, verfasst vom Nobelpreisträger und Berater Präsident Clintons, Joseph E. Stiglitz, The Roaring Nineties: A New History of the World’s Most Prosperous Decade (Norton, New York, 2003; deutsch: Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom, Siedler 2004). Paul Krugmans Kolumnen in der New York Times sind ein praktischer Leitfaden durch die modernen wirtschaftlichen Themen aus der Sicht eines der renommiertesten amerikanischen Ökonomen. Sein jüngstes Buch, The Great Unraveling: Losing Our Way in the New Century (Norton, New York, 2003; deutsch: Der große Ausverkauf. Wie die Bush-Regierung Amerika ruiniert, Campus 2004), bietet eine Zusammenstellung seiner Kolumnen seit Anfang 2000. Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie eine kleine Wirtschaft ohne Geld organisiert ist, findet sich in R.A. Radford, „The Economic Organization of a P.O.W. Camp”, Economica, Bd. 12, November 1945, S. 189–201. Deutschsprachige Literatur: Werner Güth, Markt- und Preistheorie (Springer, Berlin, Heidelberg, 1994); Thomas von Lingen, Marktgleichgewicht oder Marktprozess. Perspektiven der Mikroökonomie (Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, 1993).
Kapitel 2
Markt und Staat in der modernen Wirtschaft
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Websites Wirtschaftsanalysen aus der letzten Zeit und eine Erörterung der wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen finden Sie im Economic Report of the President unter www.gpoaccess.gov/eop/. Informationen über das Bundesbudget der USA sind unter www.whitehouse.gov erhältlich; diese Site dient auch als Einstieg in den sehr nützlichen Economic Statistics Briefing Room. Wichtige Themen aus konservativer und wirtschaftsliberaler Sicht finden Sie auf der Website des Cato Institutes unter www.cato.org.
Übungen 1.
2.
3.
Was bestimmt die Zusammensetzung der Produktion eines Landes? In manchen Fällen sprechen wir von der „Souveränität der Konsumenten“ und meinen damit, dass die Konsumenten entscheiden, wofür sie, je nach ihrer Präferenz und den herrschenden Marktpreisen, ihre Einkommen ausgeben möchten. In anderen Fällen werden Entscheidungen auf politischer Ebene getroffen. Überdenken Sie folgende Beispiele: Transport, Bildungswesen, Polizei, Energieeffizienz technischer Geräte, Kostenübernahme medizinischer Leistungen, Fernsehwerbung. Erläutern Sie für all diese Gebiete, ob die Allokation von souveränen Konsumenten oder durch politische Entscheidung vorgenommen wird. Würden Sie persönlich die Allokationsmethode bei einer dieser Leistungen ändern wollen? Wenn nur begrenzte Mengen eines Gutes verfügbar sind, muss eine Methode gefunden werden, um dieses knappe Gut entsprechend zu verteilen. Mögliche Verteilungsmethoden wären etwa Auktionen, Rationierungsbons oder ein Vorgehen nach dem Grundsatz „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Welche Stärken und Schwächen hat jedes dieser Systeme? Erklären Sie genau, in welchem Sinn ein Marktmechanismus knappe Güter und Dienstleistungen „rationiert“. In diesem Kapitel werden zahlreiche „Mängel“ oder Fehler des Marktes erörtert, Gebiete, auf denen die unsichtbare Hand ein schlechter Motor der Wirtschaft ist, und auch die Rolle des Staates wird besprochen. Aber könnte der Staat nicht auch Fehler begehen, wenn er versucht, ein Marktversagen zu kompensieren, und könnten diese Fehler nicht möglicherweise sogar schlimmer sein als das ursprüngliche Marktversagen? Überlegen Sie sich einige Beispiele für ein „Versagen des Staates“. Können Sie sich einen Fall vorstel-
4.
5.
6.
7.
8.
9.
len, in dem der Staat so schwerwiegende Fehler begeht, dass es besser wäre, die Mängel des Marktes einfach hinzunehmen, als daran herumzubasteln? Erwägen Sie folgende Fälle eines staatlichen Eingreifens: Vorschriften zur Eindämmung der Luftverschmutzung, Einkommenszuschüsse für die Armen und Preisregulierung eines Telefonmonopols. (a) Erklären Sie bitte für jeden dieser Fälle das Marktversagen, (b) beschreiben Sie eine staatliche Maßnahme zur Lösung des Problems und (c) erklären Sie, wie sich aus dieser Maßnahme (siehe die Definition in Frage 3) ein „Staatsversagen“ ergeben könnte. Dem Kreislauf der Güter und Produktionsfaktoren, wie er in Abbildung 2-1 dargestellt ist, entspricht auch ein Einkommens- und Ausgabenfluss. Zeichnen Sie ein Kreisdiagramm des Geldflusses in dieser fiktiven Wirtschaft und stellen Sie dabei einen Vergleich mit dem Güter- und Faktorkreislauf her. Welche Rolle spielt das Geld im Geldkreislauf? Führen Sie drei Ihnen bekannte Beispiele für Spezialisierung und Arbeitsteilung an. Auf welchen Gebieten spezialisieren Sie und Ihre Freunde sich? Was haben Sie vor? Welche Gefahren birgt die „Überspezialisierung“? „Lincoln befreite die Sklaven. Und mit einem einzigen Federstrich vernichtete er so einen Großteil des im Süden über viele Jahre hindurch akkumulierten Kapitals.“ Kommentieren Sie diese Aussage. Die nachstehende Tabelle zeigt einige der größten Ausgabenpositionen der amerikanischen Bundesregierung. Erklären Sie, wie sich jede dieser Positionen zur wirtschaftlichen Rolle des Staates verhält. Warum gilt der Ausspruch „Keine Steuer ohne Wahlrecht“ zwar für öffentliche, nicht aber für private Güter? Erklären Sie, wie der Einzelne (a) gegen Steuern für militärische Ausgaben,
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Die Grundlagen
die ihm überhöht erscheinen, (b) gegen die hohe Straßenmaut auf einer Brücke und (c)
gegen die zu hohen Ticketpreise für einen Flug von New York nach Miami „protestieren“ kann.
Wichtige Ausgabenpositionen der US-Bundesregierung Budgetposition
Teil 1
Bundesausgaben 2005 (in Mrd. US-$)
Soziale Sicherheit
515
Gesundheitswesen und Medicare-Programm
547
Nationale Verteidigung
451
Einkommenssicherung
348
Zinsendienst auf Staatsverschuldung
178
Natürliche Ressourcen und Umwelt
31
Internationale Angelegenheiten
38
Quelle: Office of Management and Budget, Budget of the United States Government, Haushaltsjahr 2005
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KAPITEL 3 Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
Was ist ein Zyniker? Ein Mensch, der nur den Preis, nicht aber den Wert der Dinge des Lebens kennt Oscar Wilde
Märkte sind dynamisch wie das Wetter: Auch sie sind einem ständigen Wechsel von stürmischen und ruhigen Zeiten unterworfen. Und ähnlich der Klimaforschung zeigt ein sorgfältiges Studium der Märkte, dass ihren scheinbar zufälligen Bewegungen bestimmte Kräfte zugrunde liegen. Um Preise und Outputs einzelner Märkte prognostizieren zu können, müssen wir uns zuerst mit der Analyse von Angebot und Nachfrage befassen. Nehmen wir etwa die Benzinpreise, die in Abbildung 3-1 dargestellt sind. (Dieses Diagramm zeigt den „realen Benzinpreis“, d. h. den inflationsbereinigten Preis.) Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschen von Autos besessen waren und in die Vorstädte zogen, stieg die Nachfrage nach Benzin und anderen Erdölprodukten stark an. Dann, in den siebziger Jahren, drosselten Lieferengpässe, Kriege zwischen den Förderländern und politische Revolutionen die Produktion. Die Folge waren Preisspitzen im Gefolge der Jahre 1973 und 1979. In den darauf folgenden Jahren ließ eine Kombination aus Energiesparmaßnahmen, kleineren Autos, der Entstehung der Informationsgesellschaft und Produktionssteigerungen überall auf der Welt die Ölpreise sinken. Der Irakkrieg des Jahres 2003 stieß die Ölmärkte neuerlich in Turbulenzen. Wie Abbildung 3-1 zeigt, sank der reale Benzinpreis (in Preisen des Jahres 2003) von etwa US-$ 2,80 pro Gallone im Jahre 1980 auf rund US-$ 1,60 zu Beginn des Jahres 2004. Die Volatilität der Ölpreise ist zu einem großen Teil auf die Lieferengpässe durch Kriege oder Revolutionen zurückzuführen. Wo liegen die Ursachen dieser dramatischen Veränderungen? Die Wirtschaftswissenschaft verfügt über ein ausgezeichnetes Instrumentarium zur Erklärung dieser und zahlreicher anderer Veränderungen in unserer Wirtschaftswelt. Es handelt sich hierbei um die Theorie von Angebot und Nachfrage. Diese Theorie zeigt uns, dass die Präferenzen der Konsumenten für die Güternachfrage verantwortlich sind, während die Produktionskosten der Unternehmen das Warenangebot bestimmen. Benzinpreiserhöhungen sind entweder
80
Die Grundlagen
Teil 1
2,0
Irakkrieg
Zweiter Ölschock
2,4
1,6
1,2
0,8 1965
Erster Golfkrieg
2,8
Erster Ölschock
Benzinpreis (US-$/Gallone, Preise von 2003)
3,2
1970
1975
1980
1985 Jahr
1990
1995
2000
2005
Abbildung 3-1: Der Benzinpreis bewegt sich mit der Veränderung von Angebot und Nachfrage Der Benzinpreis war im Lauf der letzten vier Jahrzehnte starken Schwankungen unterworfen. Angebotsrückgänge in den 1970er Jahren führten zu zwei dramatischen „Ölschocks“, die soziale Unruhen auslösten und Rufe nach einer stärkeren Regulierung laut werden ließen. Der durch neue Energiespartechniken bedingte Nachfragerückgang führte nach 1980 zu einem langjährigen Nachgeben der Preise. Die Werkzeuge von Angebot und Nachfrage sind für das Verständnis dieser Trends von entscheidender Bedeutung. Quelle: US-Energieministerium und US-Arbeitsministerium. Der Benzinpreis wurde anhand des Verbraucherpreisindex in das Preisniveau des Jahres 2003 umgerechnet.
auf eine gestiegene Benzinnachfrage oder auf ein rückläufiges Ölangebot zurückzuführen. Dasselbe gilt für jeden Markt von InternetAktien über Diamanten bis hin zu Grundstücken: Veränderungen in Angebot und Nachfrage führen zu Veränderungen der Produktionsmengen und der Preise. Wenn man versteht, wie Angebot und Nachfrage funktionieren, weiß man schon eine ganze Menge über unsere Marktwirtschaft. In diesem Kapitel wollen wir die Theorie von Angebot und Nachfrage erörtern und zeigen, wie sie sich auf Wettbewerbsmärkten auf einzelne Waren auswirkt. Wir beginnen mit den Nachfragekurven und diskutieren dann die Angebotskurven. Nachdem wir uns diese grundlegenden Instrumente erarbeitet haben, können wir untersuchen, wie sich der Marktpreis im Schnittpunkt der beiden Kurven bildet: genau an jenem Punkt, an dem sich die Kräfte von Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht befinden. Es ist die Veränderung der
Preise, der so genannte Preismechanismus, der zum Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage führt. Das Kapitel schließt dann mit einigen praktischen Beispielen angewandter Angebots- und Nachfrageanalysen.
A. Die Nachfragefunktion Gesunder Menschenverstand wie auch gewissenhafte wissenschaftliche Beobachtungen sagen uns, dass die Menge eines Gutes, das die Leute kaufen, von seinem Preis abhängt. Je höher der Preis eines Artikels unter sonst konstanten Bedingungen1 ist, desto we1 Später in diesem Kapitel erörtern wir die anderen Faktoren, die die Nachfrage beeinflussen, darunter Einkommen und Präferenzen der Konsumenten. Der Begriff „wenn alles andere konstant bleibt“ oder „ceteris paribus“ bedeutet einfach, dass wir den Preis ändern, aber alle anderen Nachfragefaktoren unverändert belassen werden.
niger sind die Konsumenten von diesem Artikel zu kaufen gewillt. Dagegen gilt: Je niedriger der Marktpreis, desto mehr wird gekauft. Es gibt also eine genau definierte Beziehung zwischen dem Marktpreis einer Ware und der von dieser Ware nachgefragten Menge, sofern alle anderen Faktoren unverändert bleiben. Die Beziehung zwischen Preis und gekaufter Menge wird als Nachfragefunktion oder Nachfragekurve bezeichnet. Betrachten wir ein ganz einfaches Beispiel. In Tabelle 3-1 sehen Sie eine hypothetische Nachfragefunktion für Cornflakes. Bei jedem Preis können wir feststellen, welche Menge Cornflakes die Konsumenten kaufen. Bei einem angenommenen Preis von US-$ 5 pro Packung kaufen die Konsumenten 9 Millionen Packungen pro Jahr. Bei einem niedrigeren Preis werden plötzlich mehr Cornflakes gekauft. Wie Sie sehen, führt der Preis von US-$ 4 pro Packung zum Verkauf von 10 Millionen Packungen. Wird der Preis noch einmal gesenkt (P), nämlich auf US-$ 3, steigt die nachgefragte Menge (Q) wiederum an, und zwar auf 12 Millionen Packungen. Und so weiter. Wir können die
A B C D E
81
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
Nachfragefunktion für Cornflakes (1) (2) Preis Nachgefragte (US-$ pro Menge (Millionen Packung) Packungen pro Jahr) P Q 5 9 4 10 3 12 2 15 1 20
Tabelle 3-1: Die Nachfragefunktion setzt die nachgefragte Menge in Relation zum Preis Die Konsumenten wollen bei jedem Marktpreis eine bestimmte Menge Cornflakes kaufen. Wenn der Preis von Cornflakes fällt, steigt die Nachfrage nach diesem Produkt.
nachgefragte Menge für jeden in Tabelle 3-1 angegebenen Preis bestimmen.
Die Nachfragekurve Die grafische Darstellung der Nachfragefunktion ist die Nachfragekurve. Wir zeigen diese Nachfragekurve in Abbildung 3-2, einem Diagramm, bei dem die nachgefragte Cornflakes-Menge auf der waagrechten und der Cornflakes-Preis auf der senkrechten Achse aufgetragen sind. Beachten Sie bitte, dass Menge und Preis in einem inversen Verhältnis zueinander stehen, wobei Q ansteigt, wenn P fällt. Die Steigung der Kurve ist negativ, sie verläuft sozusagen von Nordwesten nach Südosten. Diese wichtige EigenP 5
Cornflakes (US-$ pro Packung)
Kapitel 3
4
3
2
1
D A
B
C
D
E D
0
5 10 15 20 Cornflakes-Menge (Millionen Packungen pro Jahr)
Q
Abbildung 3-2: Eine abwärts geneigte Nachfragekurve setzt die nachgefragte Menge in Relation zum Preis In der Nachfragekurve für Cornflakes wird der Preis (P) auf der senkrechten Achse eingetragen, während die nachgefragte Menge (Q) auf der waagrechten Achse gemessen wird. Jedes Zahlenpaar (P/Q) aus Tabelle 3-1 wird als Punkt dargestellt, wobei durch alle diese Punkte eine Kurve, die Nachfragekurve DD, gezogen wurde. Die negative Steigung der Nachfragekurve illustriert das Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs.
82 schaft wird als das Gesetz des negativen (fallenden) Nachfrageverlaufs bezeichnet. Dieses Gesetz basiert ebenso auf dem gesunden Menschenverstand wie auf wirtschaftstheoretischen Überlegungen, und es wurde an praktisch allen Gütern empirisch getestet und verifiziert, ob es sich nun um Cornflakes, Benzin, Autos oder illegale Drogen handelt. Das Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs: Wenn der Preis für eine Ware angehoben wird (und alle anderen Faktoren gleich bleiben), neigen die Käufer dazu, weniger von dieser Ware zu kaufen. Ebenso erhöht sich, wenn der Preis gesenkt wird und alle anderen Einflussfaktoren unverändert bleiben, die nachgefragte Menge. Die nachgefragte Menge sinkt tendenziell, wenn die Preise steigen. Das ist auf zwei Gründe zurückzuführen: Der erste ist der Substitutionseffekt. Sobald der Preis einer Ware steigt, werde ich versuchen, diese Ware durch eine andere zu ersetzen (bei überhöhten Rindfleischpreisen steige ich eben auf Hähnchen um). Ein zweiter Grund, warum ein höherer Preis die nachgefragte Menge reduziert, ist der Einkommenseffekt. Dieser Effekt kommt ins Spiel, weil mich ein erhöhter Preis etwas ärmer macht, als ich war. Durch einen, sagen wir, verdoppelten Benzinpreis sinkt mein Realeinkommen, und ich werde daher natürlich versuchen, weniger Benzin und auch weniger andere Güter zu verbrauchen.
Marktnachfrage Unsere bisherige Diskussion bezieht sich einfach auf „die“ Nachfragekurve. Aber um wessen Nachfrage handelt es sich hier eigentlich? Meine? Ihre? Die aller Leute? Der bestimmende Faktor für die Nachfrage sind die Präferenzen des Einzelnen. Trotzdem beziehen wir uns in diesem Kapitel immer auf die Marktnachfrage, die die Summe aller individuellen Nachfragefunktionen darstellt. Die Marktnachfrage ist das, was wir in der realen Welt beobachten können.
Die Grundlagen
Teil 1
Die Marktnachfragekurve lässt sich durch Addition der von allen Konsumenten zu jedem Preis nachgefragten Mengen ermitteln. Gehorcht nun die Marktnachfragekurve ebenso dem Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs? Ja, absolut. Wenn die Preise zum Beispiel sinken, ziehen die niedrigeren Preise durch den Substitutionseffekt neue Kunden an. Außerdem führt ein Preisrückgang aufgrund des Einkommens- und des Substitutionseffekts zu zusätzlichen Warenkäufen bestehender Kunden. Im Gegensatz dazu wird ein Preisanstieg einer Ware einige von uns veranlassen, weniger von dieser Ware zu kaufen. Die explosive Entwicklung der Computernachfrage Wir können das Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs anhand der Entwicklung des Computermarktes veranschaulichen. Die ersten PCs waren sehr teuer, ihre Rechenleistung dagegen eher bescheiden. Man fand sie in einigen wenigen Unternehmen und noch weniger Haushalten. Kaum zu glauben, dass Studenten noch vor 20 Jahren die meisten ihrer Arbeiten ganz einfach mit der Hand schrieben. Der Preis, den wir für Rechenleistung zu bezahlen haben, ist im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte jedoch drastisch gesunken. Dieser Umstand veranlasste zahlreiche neue Käufer, sich ihren ersten Computer zuzulegen. PCs fanden in Arbeit, Schule und Unterhaltung immer weitere Verbreitung. Kurz nach der Jahrtausendwende, als Computer mit der Entwicklung des Internet neuerlich an Wert gewannen, sprangen noch mehr Menschen auf den fahrenden Computerzug auf. Schließlich wurden im Jahr 2002 weltweit PCs im Wert von rund US-$ 100 Millionen verkauft. Abbildung 3-3 zeigt die Preis- und Mengenentwicklung von Computern und Peripheriegeräten in den USA anhand der statistischen Berechnungen des USHandelsministeriums. Die Preise spiegeln die Anschaffungskosten von Computern in konstanter Qualität wider – das heißt, die
Kapitel 3
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
rasanten qualitativen Fortschritte beim durchschnittlichen PC sind berücksichtigt. Sie sehen, dass die sinkenden Preise in Kombination mit verbesserter Software, weiteren nützlichen Anwendungen von Internet bis E-Mail und anderen Faktoren, ein explosives Wachstum des ComputerOutputs zur Folge hatten.
Die Kräfte hinter der Nachfragekurve Was bestimmt nun die Marktnachfragekurve von Cornflakes, Benzin oder Computern? Welche Menge einer Ware bei einem gegebenen Preis nachgefragt wird, hängt von einer ganzen Reihe von Gründen ab: dem durchschnittlichen Einkommensniveau, der Bevölkerungszahl, den Preisen und der Verfügbarkeit ähnlicher Produkte, dem Geschmack des Einzelnen und der Allgemeinheit und anderen speziellen Einflussfaktoren. • Das Durchschnittseinkommen der Konsumenten ist ein wesentlicher Faktor für die Nachfrage. Bei steigenden Einkommen neigt der Einzelne dazu, mehr von beinahe allen Gütern zu kaufen, auch wenn die Preise gleich bleiben. So verzeichnen Autokäufe bei steigenden Einkommen einen drastischen Anstieg. • Die Marktgröße, etwa gemessen anhand der Bevölkerungszahl, wirkt sich ebenfalls deutlich auf die Marktnachfragekurve aus. Die 35 Millionen Kalifornier beispielsweise kaufen normalerweise 30 Mal so viele Äpfel und Autos wie die 1 Million Bewohner von Rhode Island. • Auch Preise und Verfügbarkeit von untereinander in Beziehung stehenden Gütern beeinflussen die Nachfrage. Eine besonders wichtige Beziehung besteht zwischen Substitutionsgütern, die mehr oder weniger dieselbe Funktion haben, etwa Cornflakes und Haferflocken, Kugelschreibern und Bleistiften, kleinen und großen Autos oder Erdöl und Erdgas. Die Nachfrage nach Gut A ist zumeist niedrig, wenn der
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Preis für das Substitutionsgut B niedrig ist. (Was meinen Sie? Wird die Nachfrage nach Schreibmaschinen Ihrer Meinung nach eher steigen oder eher sinken, wenn der Erdgaspreis steigt?) • Zusätzlich zu diesen objektiven Elementen müssen wir eine ganze Reihe subjektiver Elemente berücksichtigen, die wir als Geschmäcker und Präferenzen bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl kultureller und historischer Einflüsse. Sie können echte psychologische oder physiologische Bedürfnisse widerspiegeln (nach Flüssigkeit, Liebe, Nervenkitzel), aber auch mit künstlich erzeugten Bedürfnisse (nach Zigaretten, Drogen oder Modesportarten) zusammenhängen. Oft enthalten sie ein gewichtiges Traditions- oder religiöses Element (der Verzehr von Rindfleisch ist in den USA sehr beliebt, in Indien aber verpönt; auch nehmen wir beispielsweise staunend zur Kenntnis, dass Quallencurry in Japan eine Delikatesse ist). • Schließlich wird die Nachfrage nach bestimmten Waren auch von speziellen Einflussfaktoren bestimmt. So ist zum Beispiel die Nachfrage nach Regenschirmen im regnerischen Seattle hoch, im sonnigen Phoenix hingegen gering; die Nachfrage nach Klimaanlagen steigt bei heißem Wetter, und die Nachfrage nach Autos ist in New York, wo das öffentliche Verkehrsnetz gut ausgebaut ist und die Suche nach einem Parkplatz zum Alptraum werden kann, gering. Dazu kommen noch die Erwartungen bezüglich zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklungen, insbesondere was die Preise betrifft, die einen gewichtigen Einfluss auf die Nachfrage haben können. Die für die Nachfrage bestimmenden Faktoren sind in Tabelle 3-2 zusammengefasst; als Beispiel werden Autos verwendet.
84
Die Grundlagen
100.000
Teil 1
1963
Computerpreise (2000 5 100)
10.000 1980
1.000
100 2003
10 0,001
0,01 0,1 1 10 100 Computerproduktion (Milliarden Stück, Preise von 2000)
1.000
Abbildung 3-3: Sinkende Computerpreise bewirken enorme Steigerung von Leistung pro Dollar Die Preise von Computern samt Zubehör wie etwa Druckern werden danach bemessen, wie viel die Konsumenten für den Kauf einer bestimmten Kombination aus Leistungsmerkmalen (etwa Speicher oder Prozessorgeschwindigkeit) ausgeben. Seit 1963 sind die Preise für Computerleistung auf weniger als ein Tausendstel geschrumpft. Dieser Preisrückgang in Kombination mit Einkommenssteigerungen und der zunehmenden Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten waren ausschlaggebend dafür, dass der Produktionsoutput um das 150.000-fache gesteigert werden konnte. Quelle: US-Handelsministerium; Schätzungen des realen Outputs und der Preise. Bitte beachten Sie den Maßstab in der Darstellung.
Nachfrageverschiebungen Mit der Entwicklung des Wirtschaftslebens verändert sich auch die Nachfrage ununterbrochen. Nachfragekurven sind nur in Lehrbüchern starr. Warum verschiebt sich die Nachfragekurve? Weil sich noch andere Einflussfaktoren als der Preis der Ware verändern. Sehen wir uns in einem Beispiel an, wie sich die Nachfragekurve durch eine Veränderung einer anderen Variablen als dem Preis verschiebt. Wir wissen, dass das Durchschnittseinkommen der Amerikaner während des lang anhaltenden wirtschaftlichen Booms der neunziger
Jahre deutlich angestiegen ist. Da ein solcher Anstieg einen kräftigen Einkommenseffekt auf die Nachfrage nach Autos bewirkt, ist zu erwarten, dass die Menge der nachgefragten Autos in jeder Preisklasse steigen wird. Wenn die Durchschnittseinkommen zum Beispiel um 10 Prozent steigen, könnte zum Beispiel die zu einem Preis von US-$ 10.000 nachgefragte Autozahl von 10 auf 12 Millionen Einheiten ansteigen. Das würde eine Verschiebung der Nachfragekurve bedeuten, weil der Anstieg der nachgefragten Menge andere Faktoren widerspiegelt als nur den Preis des Gutes.
85
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
Faktoren mit Einfluss auf die Nachfragekurve 1. Durchschnittseinkommen
Mit steigenden Einkommen kaufen die Leute mehr Autos.
2. Bevölkerungszahl
Eine Zunahme der Bevölkerung treibt die Autoverkaufszahlen nach oben.
3. Preise verwandter Güter
P
Beispiel Auto
Niedrigere Benzinpreise erhöhen die Nachfrage nach Autos.
4. Präferenzen
Ein neues Auto zu haben wird zum Statussymbol.
5. Spezielle Einflüsse
Unter speziellen Einflüssen versteht man etwa das Angebot an alternativen Transportmitteln, die Sicherheit der Fahrzeuge, erwartete künftige Preissteigerungen usw.
Tabelle 3-2: Die Nachfragekurve hängt von zahlreichen Faktoren ab
Den Nettoeffekt, den all die genannten Veränderungen der zugrunde liegenden Einflussfaktoren letztlich bewirken, bezeichnen wir als Nachfrageanstieg. Ein Anstieg der Autonachfrage ist in Abbildung 3-4 als Verschiebung der Nachfragekurve nach rechts dargestellt. Bitte beachten Sie: Diese Verschiebung bedeutet, dass unabhängig vom Preis mehr Autos gekauft werden. Testen Sie sich doch bitte selbst, indem Sie folgende Fragen beantworten: Wird ein warmer Winter die Nachfragekurve für Heizöl nach links oder nach rechts verschieben? Weshalb geschieht das? Wie stünde es um die Nachfrage nach Baseball-Tickets, sollten auf
Automobilpreise (in Tausend Dollar pro Stück)
Kapitel 3
D′
14
D
12 10 8 6 4 D′
2 D 0
4 8 12 16 20 Anzahl der nachgefragten Autos (Millionen pro Jahr)
24
Q
Abbildung 3-4: Nachfragesteigerung bei Autos Verändern sich die für die Nachfrage ausschlaggebenden Faktoren, verändert sich auch die Nachfrage nach Autos. Hier sehen wir die Auswirkungen steigender Durchschnittseinkommen, einer steigenden Bevölkerungszahl und niedrigerer Benzinpreise auf die Autonachfrage. Wir bezeichnen das als Verschiebung der Nachfragekurve oder Erhöhung der Nachfrage.
einmal alle jungen Amerikaner das Interesse an dieser Sportart verlieren und sich stattdessen für Basketball begeistern? Wie würde sich ein neuerlicher drastischer Preissturz bei Computern auf die Nachfrage nach Schreibmaschinen auswirken? Welche Auswirkungen sind auf die Nachfrage nach einer College-Ausbildung zu erwarten, wenn die Löhne der Arbeiter sinken, während Investmentbanker und Computerwissenschaftler immer mehr verdienen? Wenn sich andere Einflussfaktoren auf das Kaufvolumen als der Preis einer Ware ändern, sprechen wir von einer Nachfrageverschiebung. Die Nachfrage steigt (oder sinkt), wenn die zu jedem Preis nachgefragte Menge steigt (oder sinkt).
86
Bewegung entlang einer Kurve oder Verschiebung der Kurve selbst? Verwechseln Sie bitte nie Bewegungen entlang von Kurven mit Kurvenverschiebungen. Unterscheiden Sie unbedingt zwischen einer Veränderung der Nachfrage (und somit einer Verschiebung der Nachfragekurve) und einer Veränderung der nachgefragten Menge (also der Bewegung hin zu einem anderen Punkt auf derselben Nachfragekurve infolge einer Preisänderung). Eine Änderung der Nachfrage ergibt sich, sobald sich einer der Faktoren, die der Nachfragekurve zugrunde liegen, verändert. Nehmen wir das Beispiel Pizza: Bei steigendem Einkommen werden die Konsumenten mehr Pizzas kaufen, auch wenn sich der Pizzapreis nicht verändert. Mit anderen Worten, höhere Einkommen erhöhen die Nachfrage und verschieben die Nachfragekurve für Pizzas nach rechts. Es handelt sich also um eine Verschiebung der Pizzanachfrage. Davon zu unterscheiden ist eine Veränderung der nachgefragten Menge, die eintritt, weil die Kunden bei sinkenden Pizzapreisen dazu tendieren, mehr Pizzas zu kaufen, vorausgesetzt, dass alle anderen Faktoren konstant bleiben. Hier ergeben sich die höheren Verkaufszahlen nicht aus einem Nachfrageanstieg, sondern aus dem Preisverfall. Diese Veränderung bedeutet eine Verschiebung entlang der Nachfragekurve, keine Kurvenverschiebung. Eine Bewegung entlang der Nachfragekurve sagt aus, dass alle anderen Faktoren konstant geblieben sind, während sich der Preis verändert hat.
B. Die Angebotsfunktion Wenden wir uns nun von der Nachfrage ab und dem Angebot zu. Zur Angebotsseite eines Marktes gehören typischerweise jene Bedingungen, zu denen die Unternehmen ihre Produkte produzieren und verkaufen. Das Angebot an Tomaten sagt uns etwas über die Tomatenmenge, die zu jedem Tomaten-
Die Grundlagen
Teil 1
preis verkauft wird. Genauer ausgedrückt, setzt die Angebotsfunktion die von einem Gut angebotene Menge in Beziehung zu seinem Marktpreis, wenn alle anderen Faktoren konstant bleiben. Zu den konstant bleibenden Faktoren zählen in diesem Fall die Preise, die Preise ähnlicher Güter und die staatliche Politik. Die Angebotsfunktion (oder die Angebotskurve) eines Gutes stellt die Beziehung zwischen seinem Marktpreis und jener Menge dieses Gutes dar, die die Produzenten zu produzieren und zu verkaufen gewillt sind, wenn alle anderen Faktoren konstant bleiben.
Die Angebotskurve Tabelle 3-3 zeigt eine hypothetische Angebotsfunktion für Cornflakes, und in Abbildung 3-5 sind die Daten aus der Tabelle in eine Angebotskurve übertragen. Diese Daten zeigen, dass bei einem Cornflakes-Preis von einem Dollar pro Packung überhaupt keine Cornflakes produziert werden. Bei einem Angebotsfunktion für Cornflakes (1)
(2)
Preis (US-$ pro Packung)
Nachgefragte Menge (Millionen Packungen pro Jahr)
P
Q
A
5
18
B
4
16
C
3
12
D
2
7
E
1
0
Tabelle 3-3: Die Angebotsfunktion setzt die angebotene Menge in Beziehung zum Preis Die Tabelle zeigt für jeden Preis die CornflakesMenge, die die Produzenten herstellen und verkaufen möchten. Beachten Sie die positive Relation zwischen Preis und angebotener Menge.
Kapitel 3
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
A
5 Cornflakes-Preis (US-$ pro Packung)
Gesetz anhand von Wein. Wenn die Gesellschaft mehr Wein will, muss in die beschränkten Gebiete, die sich für die Produktion von Weintrauben eignen, zusätzliche Arbeit investiert werden. Jeder neue Beschäftigte bringt eine jeweils geringere Produktionssteigerung mit sich. Der Preis für die zusätzliche Weinproduktion muss daher steigen. Durch die Erhöhung des Weinpreises „überzeugt“ die Gesellschaft nun die Weinproduzenten, mehr Wein zu produzieren und zu verkaufen. Die Angebotskurve für Wein weist somit eine positive Steigung auf. Dieselben Überlegungen gelten auch für viele andere Güter.
S
P
B
4
C
3
D
2
E 1
87
S
Die Kräfte hinter der Angebotskurve 0
5 10 15 20 Cornflakes-Menge (Millionen Packungen pro Jahr)
Q
Abbildung 3-5: Die Angebotskurve setzt die angebotene Menge in Relation zum Preis Die Angebotskurve stellt die Preis-Mengen-Kombinationen aus Tabelle 3-3 grafisch dar. Eine fortlaufende Kurve wird durch die aufgetragenen Punkte gelegt, und wir erhalten die steigende Angebotskurve SS.
derart niedrigen Preis setzen die Lebensmittelhersteller ihre Fabriken und Anlagen nach Möglichkeit für die Produktion anderer Getreideprodukte (etwa Haferflocken) ein, die gewinnträchtiger erscheinen als Cornflakes. Mit steigendem Cornflakes-Preis werden jedoch laufend größere Mengen dieses Gutes produziert. Je höher die Cornflakes-Preise klettern, desto lohnender finden es die Nahrungsmittelproduzenten, mehr Arbeitskräfte und Maschinen für die Cornflakes-Erzeugung einzusetzen, und desto mehr Cornflakes-Produktionsstätten werden errichtet. All das führt zu einem zunehmenden Output an Cornflakes bei diesem höheren Marktpreis. Abbildung 3-5 zeigt den typischen Fall einer aufsteigenden Angebotskurve einzelner Waren. Ein wichtiger Grund dafür ist das „Gesetz der abnehmenden Grenzerträge“ – ein Konzept, über das wir später noch mehr erfahren werden. Veranschaulichen wir dieses wichtige
Wenn wir die Kräfte untersuchen, die den Verlauf der Angebotskurve bestimmen, so ist der entscheidende Punkt, dass die Produzenten Güter wegen der Gewinne und nicht zum Spaß oder zu wohltätigen Zwecken produzieren. Ein der Angebotskurve zugrunde liegender gewichtiger Faktor sind die Produktionskosten. Wenn die Produktionskosten eines Gutes im Verhältnis zum Marktpreis niedrig sind, ist es für die Produzenten gewinnträchtig, große Mengen davon auf den Markt zu bringen. Bei Produktionskosten, die gemessen am Marktpreis eines Gutes hoch sind, produzieren die Unternehmen wenig, stellen auf andere Produkte um oder verschwinden vielleicht einfach vom Markt. Die Produktionskosten werden vor allem durch die Faktorpreise und durch den technologischen Fortschritt bestimmt. Die Faktorpreise, etwa für Arbeit, Energie und Maschinen, wirken sich aus nahe liegenden Gründen stark auf die Produktionskosten aus. Als beispielsweise in den siebziger Jahren der Ölpreis kräftig anzog, stiegen in der Folge auch die Energiepreise für die Produzenten, was ihre Produktionskosten in die Höhe trieb und die Angebotsmengen drückte. Als im Gegensatz dazu in den letzten drei Jahrzehnten die Computerpreise zurückgingen, ersetzten die Unternehmen andere Inputs zunehmend durch computerisierte Prozesse, wie zum Beispiel in
88 der Lohnverrechnung oder in der Buchhaltung. Dadurch erhöhte sich das Angebot. Ein für die Produktionskosten ebenso wichtiger Faktor ist der technologische Fortschritt, den man mit jenen Veränderungen umschreiben kann, die bei gegebenem Output den dafür benötigten Input verringern. Dieser Fortschritt umfasst alles von Aufsehen erregenden wissenschaftlichen Neuerungen über verbesserte Anwendungsmöglichkeiten bestehender Technologien bis hin zu einer Umgestaltung der Arbeitsprozesse. So war etwa während des letzten Jahrzehnts ein rapider Anstieg der Produktivität der Unternehmen zu beobachten. Heute sind für die Herstellung eines Autos sehr viel weniger Arbeitsstunden nötig als noch vor zehn Jahren. Es ist dem Fortschritt zu verdanken, dass die Autohersteller zum selben Preis mehr Autos produzieren können. Ein weiteres Beispiel: Wenn die Käufer dank Internethandel bessere Möglichkeiten haben, die Preise der Produktionsverfahren für die von ihnen hergestellten Güter zu vergleichen, sinken die Produktionskosten. Aber die Produktionskosten sind keineswegs der einzige für die Angebotskurve bestimmende Faktor. Das Angebot wird auch von den Preisen verwandter Güter beeinflusst, vor allem von solchen, die alternative Outputs des Produktionsprozesses sind. Sobald der Preis für ein Substitutionsgut steigt, wird weniger von einem anderen Substitutionsgut angeboten. Autohersteller bauen zumeist mehrere verschiedene Modelle im selben Werk. Steigt die Nachfrage nach einem Modell und damit auch sein Preis, wird einfach ein größerer Teil der Fertigungsstraßen auf das verstärkt nachgefragte Produkt umgestellt, und zugleich geht das Angebot an den anderen Modellen zurück. Oder ein ganzes Autowerk kann bei erhöhter Nachfrage und höheren Preisen auf Lkw-Produktion umgestellt werden, was natürlich einen geringeren Pkw-Ausstoß zur Folge hat. Staatliche Politik übt ebenfalls einen großen Einfluss auf die Angebotskurve aus. Schließlich entscheiden ökologische und gesundheitspolitische Überlegungen staatlicher
Die Grundlagen
Teil 1
Stellen darüber, welche Technologien eingesetzt werden dürfen, während zugleich die Steuergesetzgebung und Bestimmungen über Mindestlöhne die Produktionskosten drastisch in die Höhe treiben. Auf dem lokalen Strommarkt beeinflusst die staatliche Politik sowohl die Zahl der Marktteilnehmer als auch die Preise, die sie verlangen. Die Handelspolitik der Regierung übt einen starken Einfluss auf das Angebot aus. Wenn zum Beispiel ein Freihandelsvertrag den USMarkt für mexikanische Schuhe öffnet, erhöht sich das gesamte Schuhangebot in den Vereinigten Staaten. Faktoren, die die Angebotskurve beeinflussen
Beispiel Auto
1 . Technologie
CAD und CAM senken die Produktionskosten und erhöhen das Angebot.
2. Faktorpreise
Niedrigere Löhne der Arbeiter in der Autoindustrie senken die Produktionskosten und erhöhen das Angebot.
3. Preise verwandter Güter
Bei sinkenden LKW-Preisen steigt das LKW-Angebot.
4. Wirtschaftspolitische Maßnahmen
Die Beseitigung von Importquoten und Zöllen auf importierte Autos erhöht das Autoangebot.
5. Spezielle Einflüsse Einkäufe und Auktionen im Internet ermöglichen den Konsumenten einen einfachen Preisvergleich zwischen den Anbietern und vertreiben teure Anbieter vom Markt. Tabelle 3-4: Das Angebot wird von den Produktionskosten und anderen Faktoren bestimmt
Kapitel 3
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
Und auch spezielle Einflussfaktoren haben Auswirkungen auf die Angebotskurve. Das Wetter spielt eine wichtige Rolle für die Landwirtschaft und die Skiindustrie. Die Computerindustrie zeichnet sich durch einen starken Innovationsgeist aus, der zu einem stetigen Strom neuer Produkte führt. Auch die Marktstruktur wirkt sich auf die Angebotssituation aus, und Erwartungen bezüglich zukünftiger Preisentwicklungen finden ebenfalls ihren Niederschlag in den Angebotsentscheidungen der Wirtschaft. Tabelle 3-4 fasst die für die Angebotskurve bestimmenden Faktoren anhand des Beispiels Automobil zusammen.
Angebotsverschiebungen Unternehmen wechseln bekanntlich laufend die Zusammensetzung ihrer Produkte und Dienstleistungen. Doch was steckt hinter den unaufhörlichen Veränderungen des Angebotsverhaltens? Wenn die Angebotsmenge von anderen Faktoren als dem Preis einer Ware beeinflusst wird, sprechen wir von einer Angebotsverschiebung. Das Angebot steigt (oder sinkt), wenn die zu jedem Marktpreis angebotene Menge steigt (oder sinkt). Sobald sich die Autopreise verändern, ändern die Produzenten ihre Produktion und die angebotenen Mengen, doch das Angebot und die Angebotskurve verschieben sich dadurch nicht. Wenn sich jedoch andere Einflussfaktoren verändern, ändert sich auch das Angebot, und die Angebotskurve verschiebt sich. Betrachten wir einmal eine Verschiebung des Angebots auf dem Automobilmarkt. Das Angebot würde steigen, wenn die Einführung eines Kosten sparenden CAD-Systems und automatisierter Herstellungsmethoden die Arbeitskosten für die Herstellung von Autos senken könnte; derselbe Effekt träte ein, wenn sich die Arbeiter mit Lohnkürzungen einverstanden erklärten, die Produktionskosten in Japan niedriger wären oder wenn die Regierung die Umweltschutzvorschriften für
89
die betreffende Branche lockerte. Jedes dieser Elemente würde das Autoangebot in den USA zu jedem beliebigen Marktpreis erhöhen. Beachten Sie dazu Abbildung 3-6 mit einem Anstieg des Autoangebots. Wenn Sie nun testen wollen, ob Sie die Verschiebung der Angebotskurve bereits verstanden haben, durchdenken Sie einmal folgende Beispiele: Wie würde sich die weltweite Angebotskurve für Erdöl verhalten, sollte eine Revolution in Saudi-Arabien die Ölproduktion drosseln? Was geschähe mit der Angebotskurve für Kleidung, käme es zu drastischen Erhöhungen der Zölle auf chinesische Importe in die USA? Wie sähe es mit der Angebotskurve von Computern aus, brächte Intel einen neuen Computerchip auf den Markt, der die Rechengeschwindigkeit dramatisch erhöht? Bisher haben wir Angebot und Nachfrage unabhängig voneinander betrachtet. Wir kennen die Mengen, die zum jeweiligen Preis freiwillig gekauft beziehungsweise verkauft werden. Wir haben festgestellt, dass die Konsumenten verschiedene Mengen an Cornflakes, Autos und Computern nachfragen, die von den Preisen dieser Güter abhängen, und dass die Hersteller bereitwillig verschiedene Mengen dieser oder jener Güter produzieren, ebenfalls abhängig vom Preis. Doch wie können wir beide Seiten des Marktes zusammenbringen? Die Antwort lautet: Angebot und Nachfrage produzieren gemeinsam ein Preis- und Mengengleichgewicht bzw. ein Marktgleichgewicht. Das Marktgleichgewicht stellt sich bei jenem Preis und jener Menge ein, bei denen die Kräfte von Angebot und Nachfrage ebenfalls im Gleichgewicht sind. Im Gleichgewichtspreis entspricht jene Menge, die die Käufer kaufen wollen, genau der Menge, die die Verkäufer verkaufen wollen. Wir bezeichnen diesen Zustand deshalb als Gleichgewicht, weil bei ausgeglichenen Angebots- und Nachfragekräften keinerlei Grund für ein Steigen oder Sinken der Preise besteht, solange alle anderen Einflussfaktoren unverändert bleiben.
90
Die Grundlagen
P
Zur Erinnerung: Kurvenverschiebungen und Bewegung entlang von Kurven
Autopreis (1 Einheit = US-$ 1.000)
S S′
14 12 10 8 6 4 S 2 0
Teil 1
S′ 4
8 12 16 20 Angebotene Automenge (Millionen pro Jahr)
24
Q
Abbildung 3-6: Erhöhtes Autoangebot Mit sinkenden Produktionskosten steigt das Autoangebot. Die Produzenten liefern zu jedem Preis mehr Autos, sodass sich die Angebotskurve nach rechts verschiebt. (Welche Folgen hätte eine staatliche Einschränkung der Autoimporte für die Angebotskurve?)
Gehen wir doch das Cornflakes-Beispiel in Tabelle 3-5 durch, um zu verstehen, wie Angebot und Nachfrage ein Marktgleichgewicht herstellen; die Zahlen in dieser Tabelle sind den Tabellen 3-1 und 3-3 entnommen. Um den Marktpreis und die Marktmenge zu ermitteln, stellen wir jenen Preis fest, an dem die nachgefragte und die verkaufte Menge übereinstimmen. Versuchen wir es einmal mit einem Preis von US-$ 5 pro Packung. Kann das lange gut gehen? Wohl eher nicht. Wie Reihe A in Tabelle 3-5 zeigt, wollten die Produzenten bei einem Preis von US-$ 5 zwar 18 Millionen Packungen pro Jahr verkaufen, die Käufer aber nur 9 Millionen kaufen. Die zu einem Preis von US-$ 5 angebotene Menge übersteigt die Nachfrage, und die CornflakesRegale in den Supermärkten würden wohl überquellen. Stehen aber zu wenige Kunden vor zu hohen Cornflakes-Bergen, muss der Cornflakes-Preis sinken, wie in Spalte (5) unserer Tabelle 3-5 deutlich zu sehen ist.
Bitte beachten Sie bei der Beantwortung der im vorigen Absatz gestellten Fragen, dass ein Unterschied zwischen einer Bewegung entlang der Kurve und einer Verschiebung der Kurve selbst besteht. Nehmen wir zum Beispiel die Benzinpreise, die in Abbildung 3-1 dargestellt sind. Als der Ölpreis in den 1970er Jahren stieg und wegen der politischen Unruhen dieser Zeit weniger Öl gefördert wurde, verschob sich die Angebotskurve zurück nach links. Als jedoch die Benzinumsätze in Reaktion auf den höheren Preis zurückgingen, war das eine Bewegung entlang der Nachfragekurve. Wirkt die Geschichte der Computerpreise und -mengen in Abbildung 3-3 auf Sie eher wie eine Verschiebung des Angebots oder wie eine Verschiebung der Nachfrage? (Frage 8 am Ende dieses Kapitels geht näher auf dieses Thema ein.) Wie würden Sie eine Erhöhung der Hähnchenproduktion beschreiben, die durch steigende Hähnchenpreise ausgelöst wurde? Wie einen Anstieg der Hähnchenproduktion aufgrund eines Rückgangs des Futterpreises?
Nun, dann probieren wir es noch einmal mit US-$ 2. Räumt dieser Preis den Markt? Ein schneller Blick in Zeile D zeigt uns, dass bei einem Preis von US-$ 2 die Nachfrage das Angebot übersteigt. Bei diesem Preis beginnen sich die Cornflakes-Regale in den Läden zu leeren. Auf der verzweifelten Suche nach seinen Cornflakes gibt der Käufer schließlich klein bei und bietet ein wenig mehr für sein Lieblingsfrühstück, wie Spalte (5), Tabelle 3-5, zeigt. Wir könnten noch diverse andere Preise durchgehen, aber es ist deutlich erkennbar, dass der Gleichgewichtspreis bei US-$ 3 liegt, wie aus Zeile C in Tabelle 3-5 ersichtlich. Bei einem Preis von US-$ 3 entspricht die Nachfrage der Konsumenten genau jener Menge, die die Produzenten zu erzeugen gewillt sind, also jeweils 12 Einheiten. Nur bei einem Preis von US-$ 3 können Konsumenten und Anbieter übereinstimmende Entscheidungen treffen.
Kapitel 3
91
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
(1)
Möglicher Preis (US-$ pro Packung) A
Kombination von Angebot und Nachfrage bei Cornflakes (2) (3) (4) Nachgefragte Angebotene Menge Menge (Millionen (Millionen Zustand des Packungen Packungen Marktes pro Jahr) pro Jahr) 9 18 Überschuss
(5)
Druck auf die Preise sinkend sinkend
B
10
16
Überschuss
C
12
12
Gleichgewicht
D
15
7
Mangel
steigend
E
20
0
Mangel
steigend
neutral
Tabelle 3-5: Der Gleichgewichtspreis stellt sich auf dem Niveau ein, auf dem die nachgefragte der angebotenen Menge entspricht Die Tabelle zeigt die zu verschiedenen Preisen angebotenen und nachgefragten Mengen. Nur bei einem Gleichgewichtspreis von US-$ 3 pro Packung stimmen angebotene und nachgefragte Menge überein. Ist der Preis zu niedrig, tritt eine Knappheit ein, und der Preis wird voraussichtlich steigen. Ein zu hoher Preis führt zu einem Überschuss, der den Preis drückt.
Ein Marktgleichgewicht stellt sich bei dem Preis ein, bei dem die nachgefragte Menge der angebotenen Menge entspricht. Bei diesem Gleichgewicht gibt es keine Preistendenzen nach oben oder unten. Der Gleichgewichtspreis wird auch Markträumungspreis genannt. Damit soll ausgedrückt werden, dass bei diesem Preis alle Angebots- und Nachfragevorstellungen befriedigt werden, dass die Auftragsbestände in den Büchern ausgeglichen sind und dass Konsumenten wie auch Produzenten rundum zufrieden sind.
C. Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage Sehr gut lässt sich das Marktgleichgewicht mit Hilfe des Angebots- und Nachfragediagramms in Abbildung 3-7 erklären. In dieser Abbildung wird die Angebotskurve aus Abbildung 3-5 mit der Nachfragekurve aus Abbildung 3-2 kombiniert. Voraussetzung dafür
ist natürlich, dass beide Kurven im selben Maßstab gezeichnet sind. Das Marktgleichgewicht können wir ermitteln, indem wir nach dem Preis suchen, bei dem die nachgefragte Menge genau der angebotenen Menge entspricht. Der Gleichgewichtspreis ergibt sich aus der Schnittstelle zwischen Angebots- und Nachfragekurve in Punkt C. Woher wissen wir, dass das Marktgleichgewicht im Schnittpunkt zwischen Angebotsund Nachfragekurve liegt? Nun, wiederholen wir unser früheres Experiment. Beginnen wir mit dem überhöhten Preis von US-$ 5 pro Packung, oben auf der Preisachse in Abbildung 3-7. An diesem Punkt wollen die Produzenten mehr verkaufen, als die Konsumenten zu kaufen gewillt sind. Das Ergebnis ist ein Angebotsüberhang, d.h. eine größere nachgefragte als angebotene Menge, in der Abbildung durch den schwarzen Strich mit der Aufschrift „Überhang“ gekennzeichnet. Die Pfeile entlang der Kurven zeigen die Richtung, in die der Preis tendiert, wenn ein Überhang vorliegt. Beim niedrigen Preis von US-$ 2 pro Packung entsteht auf dem Markt eine Fehlmen-
92
Die Grundlagen
P 5
D
Teil 1
In Punkt C, und nur dort, befinden sich die Kräfte von Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht, und der Preis hat sich auf einem dauerhaften Niveau eingependelt.
S Überhang
Preis (US-$ pro Packung)
4
C
3
Gleichgewichts-Punkt
2 Fehlmenge
1 S
Gleichgewichtspreis und Gleichgewichtsmenge stellen sich dort ein, wo die freiwillig angebotene der freiwillig nachgefragten Menge entspricht. Auf einem vollkommenen Markt tritt dieses Gleichgewicht im Punkt der Überschneidung von Angebots- und Nachfragekurve ein. Zum Gleichgewichtspreis gibt es weder einen Überhang noch eine Fehlmenge.
D
0
10 15 20 5 Menge (Millionen Packungen pro Jahr)
Q
Abbildung 3-7: Das Marktgleichgewicht stellt sich im Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve ein Marktgleichgewichtspreis und Gleichgewichtsmenge stellen sich im Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve ein. Bei einem Preis von US-$ 3 in Punkt C bieten die Unternehmen freiwillig genau so viel an, wie die Konsumenten nachfragen. Ist der Preis zu niedrig (beträgt er beispielsweise US-$ 2), so übersteigt die nachgefragte die angebotene Menge; es kommt zu einer Knappheit, und die Preise ziehen an, bis sie den Gleichgewichtspreis erreichen. Womit hätten wir bei einem Preis von US-$ 4 zu rechnen?
ge, also ein Überhang der Nachfrage gegenüber dem Angebot, hier gekennzeichnet durch die schwarze Linie mit der Aufschrift „Fehlmenge“. Bei einer Knappheit führt der Wettbewerb um die knappen Güter zwischen den Konsumenten zu einem Preisanstieg, wie in der Abbildung durch die nach oben gerichteten Pfeile erkennbar ist. Wir sehen nun deutlich, dass sich das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage genau in Punkt C einstellt, jenem Punkt, an dem sich die Angebots- und die Nachfragekurve kreuzen. In Punkt C, wo der Preis US-$ 3 pro Packung beträgt und die Menge bei 12 Einheiten liegt, sind die nachgefragte und die angebotene Menge gleich: Hier gibt es keine Fehlmengen oder Überschüsse und keine Tendenzen steigender oder fallender Preise.
Auswirkungen einer Verschiebung von Angebot oder Nachfrage Eine Analyse des Angebots- und Nachfragemechanismus verschafft uns viel weiter reichende Erkenntnisse als nur eine Bestimmung des Preis- und Mengengleichgewichts. Sie kann uns auch helfen vorherzusagen, welche Auswirkungen Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf Preise und Mengen haben werden. Wechseln wir zu einem anderen Beispiel, unserem Grundnahrungsmittel Brot. Nehmen wir an, eine permanente Schlechtwetterfront treibt den Preis von Weizen, einer wichtigen Zutat von Brot, in die Höhe. Damit wird die Angebotskurve für Brot nach links verschoben. Wir erkennen dies in Diagramm 3-8(a), wo sich die Angebotskurve für Brot drastisch von SS zu S'S' verschiebt. Im Gegensatz dazu hat sich die Nachfragekurve nicht verschoben, da die Nachfrage der Leute nach Sandwichs vom Wetter im Anbaugebiet kaum beeinflusst wird. Was geschieht auf dem Brotmarkt? Die schlechte Ernte veranlasst die Bäcker, weniger Brot zum alten Preis zu produzieren, was dazu führt, dass die nachgefragte Menge die angebotene bald übersteigt. Dadurch aber steigt der Brotpreis, ein Anreiz, mehr Brot zu produzieren. Das erhöht die Angebotsmenge, während gleichzeitig weniger Anreiz zum Konsum besteht, sodass die Nachfragemenge sinkt. Der Preis steigt genau so lange, bis Angebots- und
Kapitel 3
(a) Verschiebung des Angebots D
P
93
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
S′
(b) Verschiebung der Nachfrage
S
P
D′
D
S
E′
Preis
Preis
E″
E
E
S′
D′ S
S D
D Q
Menge
Q Menge
Abbildung 3-8: Verschiebungen von Angebot oder Nachfrage führen zu einer Änderung des Gleichgewichtspreises und der Gleichgewichtsmenge (a) Verschiebt sich das Angebot nach links, kommt es beim ursprünglichen Preis zu einer Knappheit. Der Preis steigt, bis die freiwillig nachgefragte mit der freiwillig angebotenen Menge im neuen Gleichgewichtspunkt E' wieder übereinstimmt. (b) Eine Verschiebung der Nachfragekurve führt zu einem Nachfrageüberhang. Der Preis steigt, und Gleichgewichtspreis wie auch Gleichgewichtsmenge verschieben sich nach oben, nach E''.
Nachfragemenge einander im neuen Gleichgewichtspreis wieder entsprechen. Wie Abbildung 3-8(a) zeigt, stellt sich das neue Gleichgewicht in E' im Schnittpunkt der neuen Angebotskurve S'S' und der ursprünglichen Nachfragekurve ein. Das bedeutet, dass eine schlechte Ernte (oder eine Verschiebung der Angebotskurve nach links) die Preise erhöht und entsprechend dem Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs im Gegenzug die Nachfrage drosselt. Nehmen wir an, eine neue Backtechnologie senkt die Kosten und erhöht dadurch die angebotene Menge. Die Angebotskurve verschiebt sich nach unten und nach rechts. Zeichnen Sie eine neue S'' S''-Kurve und einen neuen Gleichgewichtspunkt E'''„ ein. Warum ist der Gleichgewichtspreis niedriger? Warum ist die Gleichgewichtsmenge größer? Wir können die Angebots- und Nachfragefunktion auch für die Überlegung nutzen, wie
sich Veränderungen der Nachfrage auf das Marktgleichgewicht auswirken. Wenn wir von einem drastischen Anstieg der Haushaltseinkommen ausgehen, ergibt sich daraus, dass alle mehr Brot essen wollen. Sie ersehen das aus Abbildung 3-8(b) als „Nachfrageverschiebung“, bei der die Konsumenten zu jedem Preis eine größere Menge Brot nachfragen. Die Angebotskurve verschiebt sich daher von DD nach rechts zu D'D'. Die Nachfragekurve führt beim alten Preis zu einer Brotknappheit. Jetzt balgen sich die Konsumenten um das Brot, und in den Bäckereien bilden sich lange Warteschlangen. Damit treiben sie die Preise in die Höhe, bis Angebot und Nachfrage bei einem höheren Preis wieder im Gleichgewicht sind. In Abbildung 3-8(b) hat die erhöhte Nachfrage zu einer „Verschiebung des Marktgleichgewichts von E nach E'' geführt.
94
Die Grundlagen
Verschiebungen von Nachfrage und Angebot Wenn die Nachfrage steigt, ... verschiebt sich die Nachfragekurve nach rechts und Wenn die Nachfrage zurückgeht, ... verschiebt sich die Nachfragekurve nach links und Wenn das Angebot steigt, ... verschiebt sich die Angebotskurve nach rechts und Wenn das Angebot zurückgeht, ... verschiebt sich die Angebotskurve nach links und
Teil 1
Auswirkungen auf Preis und Menge Preis Menge Preis Menge Preis Menge Preis Menge
Tabelle 3-6: Die Auswirkungen verschiedener Nachfrage- und Angebotsverschiebungen auf Preis und Menge
In beiden Beispielen von Verschiebungen – einer Verschiebung des Angebots und einer Verschiebung der Nachfrage – hat sich eine der Angebots- oder Nachfragekurve zugrunde liegende Variable verändert. Bei der Angebotsverschiebung könnte eine Veränderung der Technologie oder der Faktorpreise eingetreten sein. Bei der Nachfragekurve hat einer der für die Konsumentennachfrage ausschlaggebenden Faktoren – Einkommen, Bevölkerungszahl, Preise von miteinander in Beziehung stehenden Gütern, persönlicher Geschmack – zu einer Veränderung der Nachfragefunktion geführt, er hat sie verschoben (siehe Tabelle 3-6). Sobald sich die Faktoren, die der Nachfrage oder dem Angebot zugrunde liegen, verändern, führt dies zu einer Verschiebung der Nachfrage oder des Angebots und zu Veränderungen im Marktgleichgewicht von Preisen und Mengen.
Die Interpretation von Preis- und Mengenschwankungen Bemühen wir noch einmal unser Brot-Beispiel. Nehmen wir an, Sie lenken Ihre Schritte zur Bäckerei und müssen erkennen, dass sich der Brotpreis über Nacht verdoppelt hat. Können Sie nun daraus schließen, dass offensichtlich die Nachfrage nach Brot erstaunlich gestiegen ist, oder sollten Sie eher auf höhere Produktionskosten tippen? Die Antwort lautet, dass sich dies ohne weitere Informationen nicht herausfinden lässt. Jeder der beiden
Faktoren könnte Schuld tragen, vielleicht ist auch eine Kombination beider Faktoren im Spiel. Betrachten wir ein anderes Beispiel. Ist ein Rückgang im Verkauf von Flugtickets auf die gestiegenen Preise oder auf eine geringere Nachfrage nach Flugreisen insgesamt zurückzuführen? Fluglinien sind an einer Beantwortung dieser Frage höchst interessiert. Ökonomen haben eigentlich ständig mit derartigen Fragen zu tun. Welche Schlüsse sollen sie ziehen, wenn sich die Preis- oder Mengenverhältnisse auf einem Markt ändern? Liegt die Veränderung im Bereich des Angebots oder der Nachfrage? In seltenen und nur in ganz einfachen Fällen gibt die gleichzeitige Betrachtung von Preis und Menge Aufschluss darüber, ob sich nun die Angebots- oder die Nachfragekurve verschoben hat. So lässt zum Beispiel ein Anstieg des Brotpreises, der mit einem Rückgang der Menge Hand in Hand geht, auf eine Verschiebung der Angebotskurve nach links (einen Angebotsrückgang) schließen. Ein Anstieg des Preises, der von einer Erhöhung der Menge begleitet wird, deutet hingegen darauf hin, dass sich die Nachfragekurve für Brot nach rechts verschoben haben könnte (eine Erhöhung der Nachfrage). Dieser Punkt wird in Abbildung 3-9 illustriert. Die Menge nimmt sowohl in Bild (a) als auch in Bild (b) zu. Aber in (a) steigt der Preis, während er in (b) fällt. Abbildung 3-9(a) zeigt eine erhöhte Nachfrage oder eine Verschiebung der Nachfragekurve. Infolge dieser Verschiebung erhöht sich die nachgefragte Gleichgewichtsmenge von 10 auf 15 Einhei-
Kapitel 3
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
ten. Dagegen wird in Abbildung 3-9(b) der Fall einer Bewegung entlang der Nachfragekurve dargestellt. In diesem Fall lässt eine Verschiebung des Angebots das Marktgleichgewicht von Punkt E zu Punkt E''„ wandern. Die Folge ist, dass sich die nachgefragte Menge von 10 auf 15 Einheiten ändert. Aber die Nachfrage verändert sich in diesem Fall nicht; stattdessen erhöht sich die nachgefragte Menge, weil sich die Konsumenten als Reaktion auf eine Preisänderung entlang ihrer Nachfragekurve von E hin zu E''„ bewegen. Der schwer fassbare Begriff „Gleichgewicht“ Der Begriff „Gleichgewicht“ ist einer der am schwierigsten zu definierenden Begriffe der Volkswirtschaftslehre. Wir kennen das Gleichgewicht aus unserem täglichen Leben, wenn wir zum Beispiel beobachten, wie eine Orange auf dem Boden einer Schüssel liegt oder wenn wir ein ruhendes Pendel betrachten. In der Ökonomie bedeutet Gleichgewicht, dass sich die verschiedenen auf einem Markt wirksamen Kräfte in Balance befinden, sodass die resultierenden Preise und Mengen die Wünsche von Käufern und Anbietern in Einklang bringen. Ein zu niedriger Preis führt zu einem Ungleichgewicht: Die die Nachfrage steigernden Kräfte sind stärker als die das Angebot fördernden Kräfte. Dadurch kommt es zu einer überhöhten Nachfrage oder zu einer Knappheit. Wir wissen auch, dass ein vollkommener Markt ein Mechanismus zur Herstellung eines Gleichgewichts ist. Bei zu niedrigen Preisen heben die nachfragenden Konsumenten diese wieder auf Gleichgewichtsniveau. Wie aus der folgenden Äußerung eines führenden Ökonomen zu entnehmen, ist der Begriff „Gleichgewicht“ jedoch mit Vorsicht zu genießen: „Halten Sie mir bloß keine Vorträge über das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Das Ölangebot entspricht immer der Nachfrage. Der Unterschied ist einfach nicht feststellbar.“ Als Buchhalter hätte der Mann Recht. Natürlich muss der von den Ölproduzenten verzeichnete Umsatz den von den Ölkonsumenten
95
verzeichneten Ölkäufen genau entsprechen. Doch diese Rechenkunststücke können das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht aufheben. Wichtiger ist: Wenn wir das Wesen des wirtschaftlichen Gleichgewichts nicht verstehen, können wir auch nicht erkennen, welchen Einfluss die verschiedenen Kräfte auf den Markt ausüben. Als Wirtschaftswissenschaftler sind wir daran interessiert, jene Verkaufsmenge zu ermitteln, die den Markt räumt, und das bedeutet die Gleichgewichtsmenge. Wir wollen auch wissen, zu welchem Preis die Konsumenten bereitwillig kaufen, was die Hersteller bereitwillig produzieren. Nur zu diesem Preis werden sowohl die Käufer als auch die Verkäufer mit ihren Entscheidungen zufrieden sein. Nur zu diesem Preis und zu dieser Menge gibt es keine Veränderungstendenzen bei Preis und Menge. Allein durch die Betrachtung des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage dürfen wir hoffen, paradoxe Phänomene wie die Tatsache zu verstehen, dass die Löhne und Gehälter in Städten trotz starker Zuwanderung nicht sinken, dass die Grundsteuer die Mieten nicht nach oben treibt und dass schlechte Ernten die Einkommen der Landwirte erhöhen (ja, Sie haben richtig gelesen!).
Angebot, Nachfrage und Einwanderung Ein überaus komplexes, aber faszinierendes und wichtiges Beispiel von Angebot und Nachfrage ist die Rolle, die die Einwanderung bei der Bestimmung von Löhnen und Gehältern spielt. Fragt man die Menschen, werden sie einem wahrscheinlich sagen, dass die Einwanderung nach Kalifornien oder Florida die Gehälter der Menschen in diesen Regionen nach unten drückt. Alles nur eine Frage von Angebot und Nachfrage. Sie könnten auf Abbildung 3-10(a) verweisen, die eine Angebots- und Nachfrageanalyse der Immigration zeigt. Laut dieser Analyse verschiebt die Einwanderung in eine Region die Angebotskurve für Arbeit nach rechts und drückt damit die Löhne und Gehälter.
96
Die Grundlagen
(a) Verschiebung der Nachfrage
Teil 1
(b) Bewegung entlang der Nachfragekurve
P
P D∞ D
D
S
S
Preis
Preis
E′
S′
E
E S
S D′
E″
D
S′ D Q
10
Q
15
10
Menge
15 Menge
Abbildung 3-9: Verschiebung und Bewegung entlang von Kurven Beginnen wir mit einem ursprünglichen Gleichgewicht in E und einer Menge von 10 Einheiten. In (a) produziert eine Nachfragesteigerung (also eine Verschiebung der Nachfragekurve) ein neues Gleichgewicht von 15 Einheiten in E'. In (b) führt eine Angebotsverschiebung zu einer Bewegung entlang der Nachfragekurve von E' nach E''.
Sorgfältige ökonomische Studien ziehen jedoch diese einfache Argumentation in Zweifel. Eine aktuelle Studie kommt zu folgendem Schluss: [Die] Auswirkungen der Immigration auf den Arbeitsmarkt ortsansässiger Personen sind gering. Es gibt keine Hinweise auf wirtschaftlich signifikante Rückgänge bei der Beschäftigung Einheimischer. Die meisten empirischen Analysen … kommen zu der Erkenntnis, dass ein zehnprozentiger Anstieg des Einwandereranteils an der Bevölkerung die Löhne und Gehälter der ansässigen Bevölkerung um höchstens 1 Prozent nach unten drückt.2
Wie können wir eine so geringe Auswirkung der Einwanderer auf Löhne und Gehälter erklären? Arbeitsökonomen betonen die hohe geografische Mobilität der amerikanischen Bevölkerung. Das bedeutet, dass sich Einwanderer rasch über das gesamte Bundesgebiet ausbreiten. Nach ihrer Ankunft 2 Rachel M. Friedberg und Jennifer Hunt, „The Impact of Immigrants on Host Country Wages, Employment, and Growth“, Journal of Economic Perspectives, Spring 1995, pp. 23–44.
ziehen sie in Städte, wo sie Jobs bekommen – Arbeiter ziehen meistens in jene Städte, in denen die Nachfrage nach Arbeitskräften bedingt durch eine starke lokale Wirtschaft bereits im Steigen begriffen ist. Dieser Punkt wird in Abbildung 3-10(b) illustriert, wo eine Verschiebung des Arbeitskräfteangebots nach S' mit einer stärkeren Nachfragekurve, D', verbunden ist. Der neue Gleichgewichtslohn in E'' ist derselbe wie der ursprüngliche Lohn in E. Ebenso zu berücksichtigen ist, dass gebürtige Amerikaner oft ausziehen, sobald Einwanderer zuziehen, sodass das gesamte Angebot an Arbeitskräften unverändert bleibt. Das ließe die Angebotskurve für Arbeit ebenso wie die Löhne unverändert. Das Thema Immigration eignet sich gut, um die Aussagekraft einfacher Werkzeuge von Angebot und Nachfrage zu demonstrieren.
Zuteilung über den Preis Machen wir einmal eine Bestandsaufnahme dessen, was der Marktmechanismus zu leisten imstande ist. Indem er den Gleichge-
Kapitel 3
97
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
(b) Immigration in wachsenden Städten
(a) Nur Immigration
D
D
E
S′
S
S′
Lohnhöhe
Lohnhöhe
S
D′
E″
E
E′
S
S
S′
S′ D
D
D′
Arbeitsmenge
Arbeitsmenge
Abbildung 3-10: Auswirkung der Einwanderung auf die Gehälter In (a) verursachen Neuzuwanderer eine Verschiebung der Angebotskurve von SS nach S'S' und drücken damit die Gleichgewichtslöhne. Häufiger aber kommt es zu einer Zuwanderung in Städte mit expandierendem Arbeitsmarkt. In diesen Fällen, sie sind in (b) illustriert, fallen die Änderungen im Lohnniveau unbedeutend aus, weil das höhere Angebot an Arbeitskräften auf einen Arbeitsmarkt mit steigender Nachfrage trifft.
wichtspreis und die Gleichgewichtsmenge regelt, kommt es zu einer Allokation oder Verteilung der knappen Güter einer Gesellschaft auf alle möglichen Verwendungszwecke. Doch wer übernimmt die Zuteilung? Ein Planungsausschuss? Der Kongress? Der Präsident? Nein. Es ist der Markt, der durch die Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage auch die Zuteilung regelt. Eine Zuteilung über die Brieftasche sozusagen. Welche Güter, was, wird produziert? Diese Frage wird durch die Signale der Marktpreise beantwortet. Hohe Ölpreise regen die Ölproduktion an, während niedrige Lebensmittelpreise die produktiven Ressourcen aus der Landwirtschaft abziehen. Die Leute mit der höchsten Kaufkraft üben den größten Einfluss auf die Entscheidung darüber aus, welche Güter produziert werden sollen. Für wen wird produziert? Die Dicke der Brieftasche diktiert die Verteilung von Einkommen und Konsum. Leute mit höheren Einkommen haben die größeren Häuser, mehr Kleidung und längere Urlaube. Mit der Unterstützung durch ausreichende Barmittel lassen
sich die dringendsten Bedürfnisse durch die Nachfragekurve problemlos befriedigen. Und sogar die Frage des Wie wird von Angebot und Nachfrage entschieden. Wenn der Maispreis im Keller ist, zahlt es sich für die Landwirte nicht aus, ihre teuren Traktoren und Bewässerungssysteme dafür einzusetzen. Sobald die Ölpreise steigen, bohren die Ölgesellschaften eben auch in schwierigen Offshore-Lagen und leisten sich bei ihrer Suche nach neuen Lagerstätten kostspielige seismische Geräte und Techniken. Durch diese Einführung in die Kräfte von Angebot und Nachfrage erhalten wir einen ersten Überblick darüber, welche Wechselwirkung zwischen unserem Bedürfnis nach Gütern, ausgedrückt durch die Nachfrage, und den Kosten der Güter, ausgedrückt durch das Angebot, besteht. Wir werden in der Folge noch Gelegenheit haben, unser Verständnis dieser Mechanismen zu vertiefen und einige praktische Anwendungen näher zu betrachten. Aber schon dieser erste Einblick liefert uns ein sehr wertvolles Werkzeug für die Interpretation der Wirtschaft, in der wir leben.
98
Die Grundlagen
Teil 1
Zusammenfassung 1.
Eine Analyse von Angebot und Nachfrage zeigt uns, wie der Marktmechanismus die drei Probleme des Was, Wie und Für wen in den Griff bekommt. Ein Markt führt Nachfrage und Angebot zusammen. Die Nachfrage stammt von Konsumenten, die mit ihrem Geld über verfügbare Güter und Dienstleistungen abstimmen, während die Unternehmen bei der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen die Maximierung ihrer Gewinne im Auge haben.
gen. Weitere Elemente, die sich auf das Angebot auswirken, umfassen die Preise miteinander in Beziehung stehender Güter, staatliche Eingriffe und spezifische Einflussfaktoren.
C. Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage 6.
A. Die Nachfragefunktion 2.
3.
Die Nachfragefunktion stellt das Verhältnis zwischen der nachgefragten Menge und dem Preis eines Wirtschaftsgutes dar, wenn alle anderen Einflussfaktoren gleich bleiben (ceteris paribus). Eine solche Nachfragefunktion, grafisch dargestellt durch die Nachfragekurve, belässt die anderen Faktoren wie Haushaltseinkommen, den persönlichen Geschmack und die Preise der anderen Güter unverändert. Beinahe alle Güter gehorchen dem Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs, das besagt, dass die nachgefragte Menge bei steigenden Preisen abnimmt. Dieses Gesetz wird durch die negative Steigung der Nachfragekurve dargestellt. Zahlreiche Einflüsse liegen der Nachfragefunktion für den Markt als Ganzes zugrunde: die durchschnittlichen Haushaltseinkommen, die Bevölkerungszahl, die Preise zueinander in Beziehung stehender Güter, persönliche Vorlieben und spezifische Einflussfaktoren. Bei einer Änderung dieser Einflussfaktoren verschiebt sich die Nachfragekurve.
7.
8.
B. Die Angebotsfunktion 4.
5.
Die Angebotsfunktion (oder Angebotskurve) weist das Verhältnis zwischen der Menge eines Wirtschaftsgutes, das die Produzenten verkaufen wollen, und dem Preis dieses Gutes unter „ceteris paribus“-Bedingungen aus, also unter der Bedingung, dass alle anderen Faktoren konstant bleiben. Die angebotene Menge reagiert normalerweise positiv auf den Preis, sodass die Angebotskurve ansteigt. Das Angebot wird jedoch auch durch andere Faktoren als den Preis des Gutes beeinflusst. Den wichtigsten Einflussfaktor bilden die Produktionskosten, die ihrerseits vom Stand der Technologie und von den Faktorpreisen abhän-
9.
Das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf einem vollkommenen Markt tritt bei jenem Preis ein, bei dem sich die Kräfte von Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht befinden. Der Gleichgewichtspreis ist der Preis, bei dem sich die nachgefragte Menge mit der angebotenen Menge trifft. Grafisch können wir das Gleichgewicht im Schnittpunkt der Angebots- und der Nachfragekurve darstellen. Bei einem Preis über dem Gleichgewicht wollen die Produzenten mehr erzeugen, als die Konsumenten zu kaufen gewillt sind, was zu einem Güterüberhang führt und einen Druck auf die Preise auslöst. Ein zu niedriger Preis führt zu einer Fehlmenge, und die Konsumenten treiben den Preis ihrerseits in die Höhe, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Verschiebungen der Angebots- und der Nachfragekurve verändern das Preis- und Mengengleichgewicht. Eine Steigerung der Nachfrage, die die Nachfragekurve nach rechts verschiebt, erhöht sowohl den Gleichgewichtspreis als auch die Gleichgewichtsmenge. Ein höheres Angebot, das die Angebotskurve nach rechts verschiebt, bedeutet eine Senkung der Preise und eine Steigerung der nachgefragten Menge. In einer korrekt durchgeführten Angebots- und Nachfrageanalyse ist (a) eine Änderung der Nachfrage oder des Angebots (die zu einer Verschiebung der Kurve führt) von einer Veränderung der nachgefragten oder angebotenen Menge (die einer Bewegung entlang der Kurve entspricht) zu unterscheiden; (b) ist darauf zu achten, dass alle anderen Einflussfaktoren konstant bleiben, was eine Unterscheidung zwischen den Auswirkungen einer Preisänderung und den Auswirkungen einer Veränderung anderer Faktoren erfordert; und (c) ist stets auf das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu achten, das an dem Punkt eintritt, an dem sich Preis und Menge in Balance befinden. Die auf dem Markt gebildeten Preise sorgen auch für die Verteilung des knappen Angebots an Gütern unter den Nachfragern.
Kapitel 3
Die Grundelemente von Angebot und Nachfrage
99
Begriffe zur Wiederholung Angebots- und Nachfrageanalyse Nachfragefunktion oder -kurve, DD Das Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs Einflussfaktoren auf die Nachfragekurve Angebotsfunktion oder -kurve, SS
Einflussfaktoren auf die Angebotskurve Gleichgewichtspreis und -menge Verschiebungen der Angebots- und Nachfragekurven ceteris paribus Zuteilung über den Preis
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Angebots- und Nachfrageanalysen sind das wichtigste und nützlichste Werkzeug der Mikroökonomie. Sie wurden von dem großen britischen Ökonomen Alfred Marshall in seinem Buch The Principles of Economics, 9. Aufl., entwickelt (New York, Macmillan, [1890] 1961). Zur Vertiefung Ihres Verständnisses können Ihnen Lehrbücher über Grundzüge der Mikroökonomie dienen. Zwei empfehlenswerte Werke sind: Hal R. Varian, Intermediate Microeconomics: A Modern Approach, 6. Aufl. (Norton, New York, 2002), sowie Edwin Mansfield und Gary Yohe, Microeconomics: Theory and Applications, 10. Aufl. (Norton, New York, 2000). Eine aktuelle Studie der wirtschaftlichen Fragen der Immigration findet sich in George Borjas, Heaven’s Door: Immigration Policy and the American Economy (Princeton University Press, Princeton, N.J., 1999). Deutschsprachige Literatur: Alfred E. Ott, Grundzüge der Preistheorie, 3. Aufl. (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1989); Susanne Wied-Nebbeling, Preistheorie und Industrieökonomik, 4. Aufl. (Springer, Berlin Heidelberg, 2004)
Websites Die Zahl der Websites zum Thema Ökonomie steigt sprunghaft an, und es ist schwierig, einen Überblick über die nützlichen unter ihnen zu behalten. Ein guter Ausgangspunkt ist immer www.rfe.org/. Die Suchmaschine Google bietet unter http://directory.google.com/Top/Science/Social_Sciences/ _Economics/ eine eigene volkswirtschaftliche Website. Deutschsprachige Erläuterungen zum Aufbau der Angebots- und Nachfragefunktion bietet die Website www.mikrooekonomie.de/ef/ma/efmadi.htm. Eine von der National Academy of Sciences durchgeführte aktuelle Studie der Auswirkungen der Immigration auf die amerikanische Gesellschaft mit dem Titel The New Americans (1997) findet sich unter www.nap.edu. Diese Site bietet freien Zugang zu über 1000 Studien der Bereiche Ökonomie und anderer Sozial- und Naturwissenschaften.
Übungen 1.
a.
b.
Definieren Sie genau, was man unter einer Nachfragefunktion oder -kurve versteht. Erklären Sie das Gesetz des abnehmenden Nachfrageverlaufs. Zeigen Sie das Gesetz des abnehmenden Nachfrageverlaufs anhand von zwei Fällen, die Sie aus eigener Erfahrung kennen. Definieren Sie den Begriff der Angebotsfunktion bzw. -kurve. Weisen Sie nach, dass ein Angebotszuwachs eine Verschiebung der Angebotskurve nach rechts und nach unten bedeutet. Stellen Sie dem eine Ver-
2.
3.
schiebung der Nachfragekurve nach rechts und nach oben gegenüber, die durch eine gesteigerte Nachfrage ausgelöst wird. Was könnte die Nachfrage nach Hamburgern erhöhen? Was könnte das Angebot erhöhen? Welche Auswirkungen hätten Tiefkühl-Billigpizzas (a) auf das Marktgleichgewicht bei Hamburgern, (b) auf die Entlohnung der Teenager, die bei McDonalds arbeiten? Erklären Sie, warum sich der Preis auf vollkommenen Märkten beim Gleichgewichtsschnittpunkt von Angebot und Nachfrage einpendelt.
100
4.
5.
6.
Die Grundlagen
Erklären Sie, was passiert, wenn sich der Marktpreis als zu hoch oder zu niedrig erweist. Erklären Sie, warum jede der folgenden Aussagen falsch ist: a. Frost in den Kaffeeplantagen Brasiliens senkt den Kaffeepreis. b. Der „Schutz“ der amerikanischen Textilproduzenten vor chinesischen Importen senkt die Preise für Bekleidung in den Vereinigten Staaten. c. Der rasante Anstieg der Studiengebühren senkt die Nachfrage nach einem Collegestudium. d. Der Kampf gegen die Drogenmafia, der es ermöglicht, immer mehr importiertes Kokain abzufangen, senkt den Preis für einheimisches Marihuana. Die vier Gesetze von Angebot und Nachfrage lauten wie folgt: Setzen Sie die richtigen Wörter ein. Veranschaulichen Sie jedes Gesetz mit einem Angebots- und Nachfragediagramm. a. Eine Steigerung der Nachfrage führt im Allgemeinen zu einer Erhöhung der Preise und der nachgefragten Menge. b. Ein Rückgang der Nachfrage führt im Allgemeinen zu einer ________________ der Preise und einer _____________ der nachgefragten Menge. c. Eine Steigerung des Angebots führt im Allgemeinen zu einer Senkung der Preise und einer Erhöhung der nachgefragten Menge. d. Ein Rückgang des Angebots führt im Allgemeinen zu einer ________________ der Preise und einer _____________ der nachgefragten Menge. Erklären Sie für jede der folgenden Aussagen, ob sich die nachgefragte Menge wegen einer Verschiebung der Nachfrage oder einer Preisänderung verändert, und zeichnen Sie ein Diagramm, um Ihre Antwort zu veranschaulichen: a. Infolge der Kürzungen der Militärausgaben sinken die Preise für Armeestiefel.
Preis (US-$/Pizza) 10 8 6 4 2 0
b.
7.
8.
9.
Teil 1
Die Fischpreise fallen, seit der Papst es seinen Katholiken gestattet, auch am Freitag Fleisch zu essen. c. Höhere Erdölsteuern dämpfen den Benzinverbrauch. d. Der Schwarze Tod im Europa des 14. Jahrhunderts verteuerte die Arbeitskraft. Sehen Sie sich das Benzinpreisdiagramm in Abbildung 3-1 auf S. n an. Zeigen Sie dann anhand eines Angebots- und Nachfragediagramms die Auswirkungen jedes der folgenden Faktoren auf Preis und nachgefragte Menge: a. Verbesserungen der Transportmöglichkeiten senken in den 1960er Jahren die Importkosten für Erdöl in die Vereinigten Staaten. b. Nach dem Krieg des Jahres 1973 drosseln die Ölproduzenten ihre Produktion stark. c. Nach 1980 erhöht sich die Kilometerleistung der Autos pro Liter Benzin. d. Ein Kälterekordwinter in den Jahren 1995 bis 1996 führt zu einem unerwarteten Anstieg der Nachfrage nach Heizöl. e. Ein weltweiter wirtschaftlicher Aufschwung in den Jahren 1999–2000 führt zu einem scharfen Anstieg der Ölpreise. Sehen Sie sich Abbildung 3-3 an. Gleicht das Preis-Mengen-Verhältnis eher einer Angebotskurve oder einer Nachfragekurve? Nehmen wir an, dass die Nachfragekurve in diesem Zeitraum unverändert blieb. Zeichnen Sie die Angebotskurven für die Jahre 1972 und 2000, die die (P, Q)-Paare für diese Jahre ergeben hätten. Erklären Sie, welche Kräfte zu der Verschiebung der Angebotskurve geführt haben könnten. Zeichnen Sie anhand der folgenden Daten die Angebots- und Nachfragekurve und ermitteln Sie Gleichgewichtspreis und -menge. Was geschähe, würde sich die Nachfrage nach Pizzen bei jedem Preis verdreifachen? Was, wenn der ursprüngliche Pizzapreis mit US-$ 4 pro Pizza festgelegt würde?
Angebot und Nachfrage für Pizzas Nachgefragte Menge (Pizzen pro Semester) 0 10 20 30 40 125
Angebotene Menge (Pizzen pro Semester) 40 30 20 10 0 0
Teil 2
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
103
KAPITEL 4 Anwendungsmöglichkeiten der Angebotsund Nachfrageanalyse
Man kann einen Papagei nicht einfach zum Ökonomen machen, indem man ihm die Wörter „Angebot“ und „Nachfrage“ beibringt. Anonym
Nachdem wir uns zur Einleitung einen groben Überblick über die Volkswirtschaft verschafft haben, wollen wir uns nun dem Verhalten einzelner Unternehmen, Konsumenten und Märkte zuwenden. Die individuellen Märkte spiegeln einen guten Teil der großen Ereignisse und der Dramatik der Wirtschaftsgeschichte wider, aber auch die Kontroversen der Wirtschaftspolitik. Wir werden uns im Rahmen der Mikroökonomie mit den Gründen für die enormen Einkommensunterschiede auseinander setzen, wie sie zum Beispiel zwischen einem Neurochirurgen und einem Textilarbeiter zu beobachten sind. Die Mikroökonomie ist entscheidend, will man verstehen, warum die Computerpreise so rasant gefallen sind und warum die Nutzung von Computern exponentiell zugenommen hat. Wir können nicht hoffen, den erbitterten Diskussionen über das Gesundheitswesen oder über den Mindestlohn folgen zu können, ohne die Werkzeuge von Angebot und Nachfrage auf diese Sektoren anzuwenden. Selbst Themen wie illegale Drogen oder Kriminalität und Bestrafung rücken in ein neues Licht, wenn man überlegt, wodurch sich die Nachfrage nach Suchtmitteln von der nach anderen Gütern unterscheidet. Aber das Verständnis von Angebot und Nachfrage verlangt mehr, als nur Worte nachzuplappern. Die mikroökonomische Analyse wirklich zu beherrschen bedeutet die Ableitung von Angebots- und Nachfragekurven zu verstehen, verschiedene Kostenkonzepte kennen zu lernen und zu erkennen, wodurch sich der vollständige Wettbewerb vom Monopol unterscheidet. Auf unserer Reise durch die faszinierende Welt der Mikroökonomie werden wir uns mit diesen und anderen wichtigen Themen befassen. Unser Studium der Mikroökonomie beginnt mit einer Analyse der Produktmärkte – der Märkte für Güter und Dienstleistungen. Wir werden untersuchen, woher die Nachfrage der Konsumenten kommt, wie Unternehmen Entscheidungen treffen und wie Preise und Gewinne die Zuteilung der Ressourcen auf einem vollkommenen Markt koordinie-
104
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
ren. Außerdem werden wir im zweiten Teil jene Formen des Marktversagens behandeln, die entstehen, wenn die Wirtschaft durch Monopole oder andere Ausprägungen unvollständigen Wettbewerbs beeinflusst wird. In den darauf folgenden Abschnitten werden wir die Faktormärkte und die Rolle des Staates in einem modernen gemischten Wirtschaftssystem beleuchten.
A. Preiselastizität von Nachfrage und Angebot Mithilfe der Theorie von Angebot und Nachfrage lassen sich eine ganze Reihe praktischer Fragen beantworten. Wenn im Mittleren Osten ein Krieg oder eine Revolution ausbricht und der Rohölpreis steigt, welcher Teil der Preiserhöhung wird dann auf den Benzinpreis übergewälzt? Nützt oder schadet eine Anhebung des Mindestlohnes Arbeitern, die ein niedriges Einkommen beziehen? Wenn eine Fluglinie, die in finanziellen Turbulenzen steckt, ihre Ticketpreise senkt, kann sie dann so viel mehr Tickets absetzen, dass ihr Gesamtumsatz tatsächlich steigt? Damit aus der Theorie von Angebot und Nachfrage ein wirklich brauchbares Werkzeug entsteht, müssen wir wissen, wie stark Angebot und Nachfrage auf Preisänderungen reagieren. Bestimmte Kaufentscheidungen, wie zum Beispiel Urlaubsreisen, sind von Preisänderungen sehr leicht beeinflussbar. Andere Güter, wie Lebensmittel oder elektrischer Strom, sind Notwendigkeiten des täglichen Lebens, was bedeutet, dass die Kaufbereitschaft der Konsumenten in diesem Sektor kaum auf Preisänderungen reagiert. Die quantitative Beziehung zwischen dem Preis und der gekauften Menge wird mithilfe des entscheidenden Konzepts der Elastizität ermittelt. Wie wertvoll dieses neue Konzept
Teil 2
ist, werden wir in der zweiten Hälfte dieses Kapitels erkennen, wo wir die mikroökonomischen Auswirkungen von Steuern und anderen Arten von staatlichen Eingriffen untersuchen.
Preiselastizität der Nachfrage Betrachten wir als Erstes die Reaktion der Konsumentennachfrage auf Preisänderungen: Die Preiselastizität der Nachfrage (manchmal einfach als „Preiselastizität“ bezeichnet) misst, inwieweit sich die nachgefragte Menge eines Gutes infolge von Preisänderungen verändert. Die genaue Definition der Preiselastizität lautet: prozentuale Änderung der nachgefragten Menge dividiert durch prozentuale Änderung des Preises. Die Güter variieren in ihrer Preiselastizität oder Empfindlichkeit auf Preisänderungen enorm. Bei hoher Preiselastizität eines Gutes sprechen wir von einer „elastischen“ Nachfrage, was bedeutet, dass die nachgefragte Menge auf Preisänderungen stark reagiert. Wenn die Preiselastizität eines Gutes gering ist, bezeichnen wir die Nachfrage als „unelastisch“, was bedeutet, dass die nachgefragte Menge nur schwach auf Preisänderungen reagiert. Bei lebensnotwendigen Gütern wie Nahrungsmitteln, Schuhen, Treibstoffen und verschreibungspflichtigen Medikamenten ist die Nachfrage zumeist unelastisch. Solche Güter braucht man unbedingt zum Leben; man kann auf sie nicht verzichten, nur weil ihr Preis steigt. Im Gegensatz dazu lassen sich Luxusgüter, wie etwa ein Skiurlaub in Europa, ein 17 Jahre alter Scotch Whisky oder italienische Designeranzüge mühelos ersetzen, sollte ihr Preis steigen. Güter, die man problemlos substituieren kann, weisen meist eine elastischere Nachfrage auf als jene, für die es keinerlei Ersatz gibt. Würden alle Nahrungsmittel oder Schuhpreise morgen um 20 Prozent steigen, käme trotz-
Kapitel 4
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
dem niemand auf die Idee, dass die Menschen nun nicht mehr essen oder barfuß umher laufen würden. Deshalb bezeichnet man die Nachfrage nach Lebensmitteln und Schuhen als preisunelastisch. Wenn auf der anderen Seite der Rinderwahnsinn den Preis für britisches Rindfleisch nach oben treibt, können die Fleischesser auf Rindfleisch aus anderen Ländern oder auf Lamm- oder Hühnerfleisch umsteigen. Deshalb zeichnet sich britisches Rindfleisch durch eine hohe Preiselastizität aus. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Preiselastizität eines Gutes ist die Zeit, die den Leuten bleibt, um auf Preisänderungen zu reagieren. Ein gutes Beispiel dafür ist Benzin. Stellen Sie sich vor, Sie machen gerade eine Reise quer durch die USA und plötzlich steigt der Benzinpreis. Glauben Sie, dass Sie Ihr Auto in diesem Fall sofort verkaufen und Ihren Urlaub abbrechen werden? Wahrscheinlich nicht. Kurzfristig gesehen würde man die Nachfrage nach Benzin als sehr unelastisch einstufen. Auf längere Sicht werden Sie aber wahrscheinlich Ihr Verhalten an die gestiegenen Benzinpreise anpassen. Sie könnten sich ein kleineres, sparsameres Auto kaufen, mit dem Fahrrad fahren, die Bahn nehmen, sich näher an Ihrem Arbeitsplatz niederlassen oder einer Fahrgemeinschaft beitreten. Die Möglichkeit, die Konsummuster anzupassen, führt dazu, dass die Nachfrageelastizität auf lange Sicht gesehen höher ist als kurzfristig. Die Preiselastizität einzelner Güter wird von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt: Die Elastizität ist tendenziell höher, wenn es sich um Luxusgüter handelt, wenn Ersatzgüter verfügbar sind und wenn die Konsumenten länger Zeit haben, um ihr Verhalten anzupassen.
Berechnung der Elastizität Wenn es uns gelingt zu beobachten, wie sehr sich die nachgefragte Menge angesichts einer Preisänderung verändert, können wir die Elastizität berechnen. Die genaue Definition der Preiselastizität, ED, ist die prozentuale
105
Änderung der nachgefragten Menge dividiert durch die prozentuale Änderung des Preises. Der Einfachheit zuliebe lassen wir die Minuszeichen weg, sodass die Elastizitäten alle positiv sind. Numerisch lässt sich der Koeffizient der Preiselastizität nach folgender Formel berechnen: Preiselastizität der Nachfrage = ED prozentuale Änderung der nachgefragten Menge =
prozentuale Preisänderung
Wenden wir uns nun den verschiedenen Kategorien der Preiselastizität im Detail zu: • Wenn eine einprozentige Preisänderung eine mehr als einprozentige Änderung der nachgefragten Menge nach sich zieht, spricht man von einer preiselastischen Nachfrage. Wenn zum Beispiel eine einprozentige Preissteigerung eines Gutes einen fünfprozentigen Nachfragerückgang nach sich zieht, ist die Preiselastizität der Nachfrage dieses Gutes sehr hoch. • Wenn eine einprozentige Preisänderung eine weniger als einprozentige Änderung der nachgefragten Menge nach sich zieht, spricht man von einer preisunelastischen Nachfrage. Dieser Fall ist beispielsweise dann gegeben, wenn ein einprozentiger Preisanstieg die Nachfrage um nur 0,2 Prozent senkt. • Ein wichtiger Sonderfall liegt vor, wenn die Elastizität der Nachfrage den Wert 1 annimmt, wenn also die prozentuale Mengenänderung genau so groß ist wie die prozentuale Preisänderung. In diesem Fall führt ein einprozentiger Preisanstieg zu einem ebenfalls einprozentigen Nachfragerückgang. Wie wir später noch sehen werden, impliziert dies, dass die Gesamtausgaben für das betreffende Wirtschaftsgut (P Q) trotz Preisänderung gleich bleiben.
106
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Fall A: Preis =
P 200
90 und Menge = 240
Fall B: Preis = 110 und Menge = 160
180
prozentuelle Preisänderung:
160 140 P2
120 Preis
Teil 2
D
prozentuelle Mengenänderung:
B A
100 P1
80
D
ΔP/P = 20/100 = 20 % ΔQ/Q = –80/200 = –40 %
Preiselastizität = ED = 40/20 = 2
60
Tabelle 4-1: Beispiel eines Gutes mit elastischer Nachfrage
40 20
Q2 0
40
Q1
80 120 160 200 240 280 320 360 Menge
Q
Abbildung 4-1: Eine elastische Nachfrage reagiert auf Preiserhöhungen mit einem Rückgang der nachgefragten Menge Ursprünglich liegt das Marktgleichgewicht in Punkt A. Als Reaktion auf eine zwanzigprozentige Preissteigerung geht die nachgefragte Menge um 40 Prozent auf Punkt B zurück. Die Preiselastizität beträgt ED = 40/20 = 2. Die Nachfrage ist daher im Bereich von A bis B elastisch.
Um die Elastizitätsberechnung zu veranschaulichen, betrachten wir den einfachen Fall einer Reaktion auf eine Preiserhöhung, wie er in Abbildung 4-1 dargestellt wird. In der ursprünglichen Situation betrug der Preis 90 und die nachgefragte Menge 240 Einheiten. Eine Preiserhöhung auf 110 führte dazu, dass die Konsumenten ihre Käufe auf 160 Einheiten senkten. In Abbildung 4-1 befanden sich die Konsumenten anfänglich bei Punkt A, bewegten sich dann aber entlang ihrer Nachfragefunktion zu Punkt B, als der Preis stieg. Tabelle 4-1 zeigt, wie wir die Preiselastizität berechnen. Die Preissteigerung beträgt 20 Prozent, der daraus resultierende Nachfragerückgang 40 Prozent. Die Preiselastizität der Nachfrage beträgt damit offensichtlich ED = 40/20 = 2. Die Preiselastizität ist größer als 1, daher weist dieses Gut im Bereich von A nach B eine preiselastische Nachfrage auf. In der Praxis ist die Berechnung der Elastizität ein wenig kniffelig. Sie beinhaltet drei wichtige Schritte, die mit großer Sorgfalt angewendet werden müssen.
Stellen wir uns eine Situation vor, in der der Preis eines Gutes von 90 auf 100 angehoben wird. Die Preiselastizität ist das Prozentverhältnis der Mengenänderung dividiert durch das Prozentverhältnis der Preisänderung. Die Minuszeichen vor den Zahlen werden weggelassen, denn Elastizitäten sind immer positiv.
1. Denken Sie daran, dass wir immer das Minuszeichen weglassen und dadurch alle prozentualen Änderungen als positive Zahlen behandeln. Deshalb muss die Elastizität immer positiv ausgedrückt werden, auch wenn sich Preise und Nachfragemengen aufgrund der negativen Nachfrageverlaufskurven in entgegengesetzte Richtungen bewegen. 2. Beachten Sie bitte, dass sich die Elastizitätsdefinition auf prozentuale, also relative Änderungen von Preis und Nachfrage stützt, nicht auf die absoluten Änderungen. Das hat den interessanten Effekt, dass eine Änderung der Maßeinheiten ohne Auswirkung auf die Elastizität bleibt. Ob wir den Preis in Cent oder in Dollar messen, ist für die Preiselastizität also gleichgültig. 3. Beachten Sie, dass zur Ermittlung der prozentualen Änderungen von Preis und Menge die Durchschnittsberechnung herangezogen wird. Die Formel für eine prozentuale Änderung lautet DP/P. Der Wert von DP in Tabelle 4-1 beträgt eindeutig 20 = 110 – 90. Nicht so offensichtlich ist hingegen, welchen Wert wir für P im Nenner einsetzen sollen. Ist es der ursprüngliche Wert 90, der Endwert 110 oder irgendein Wert dazwischen?
Kapitel 4
Bei sehr geringen prozentualen Änderungen, etwa von 100 auf 99, ist es ziemlich egal, ob wir 99 oder 100 als Nenner einsetzen. Bei einer größeren Differenz hingegen ergibt sich hier ein signifikanter Unterschied. Um Unklarheiten möglichst zu vermeiden, verwenden wir daher den Durchschnittspreis als Basispreis für die Berechnung der Preisänderung. In Tabelle 4-1 verwenden wir den Durchschnittswert der beiden Preise [P = (90 + 110)/2 = 100] als Basis oder Nenner für die Elastizitätsformel. Und entsprechend verwenden wir die Durchschnittsmenge [Q = (160 + 240)/2 = 200] als Grundlage für die Messung der prozentualen Mengenänderung. Die exakte Formel zur Berechnung der Elastizität lautet daher:
Q P E D ----------------------------------- ----------------------------------( Q1 Q2 ) 2 ( P 1 P 2 )/2 wobei P1 und Q1 den ursprünglichen Preis und die ursprüngliche Menge und P2 und Q2 den neuen Preis und die neue Menge bezeichnen.
Preiselastizität in Diagrammen Die Preiselastizität lässt sich auch in Diagrammen darstellen. Abbildung 4-2 zeigt die drei möglichen Varianten von Elastizitäten. In jedem der angegebenen Fälle halbiert sich (a) elastische Nachfrage P 1.000
107
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
der Preis, und die Konsumenten ändern in der Folge die nachgefragte Menge von A nach B. In Abbildung 4-2(a) führt die Halbierung des Preises zu einer Verdreifachung der nachgefragten Menge. Wie in Abbildung 4-1 zeigt dieser Fall eine preiselastische Nachfrage. In Abbildung 4-2(c) hat die Halbierung des Preises einen nur fünfzigprozentigen Anstieg der nachgefragten Menge zur Folge; es handelt sich daher um eine preisunelastische Nachfrage. Der Grenzfall mit einer Nachfrageelastizität von 1 wird in Abbildung 4-2(b) aufgezeigt: In diesem Beispiel entspricht die Verdoppelung der nachgefragten Menge genau der Halbierung des Preises. Abbildung 4-3 zeigt die wichtigen Extremfälle, bei denen die Preiselastizitäten unendlich und null sind oder, mit anderen Worten, die Nachfrage vollkommen elastisch und vollkommen unelastisch ist. Eine vollkommen unelastische Nachfrage oder eine Nachfrage mit einer Elastizität von null bedeutet, dass die nachgefragte Menge auf die Preisänderung überhaupt nicht reagiert. Diese Form der Nachfrage entspricht einer senkrechten Nachfragekurve. Im Gegensatz dazu führt bei einer vollkommen elastischen Nachfrage eine geringfügige Preisänderung bereits zu einer unendlich großen Änderung der nachgefragten Menge, wie in der waagrechten Nachfragekurve in Abbildung 4-3 dargestellt.
(b) Nachfrageelastizität von 1 P
D A
1,00
(c) unelastische Nachfrage P
D A
4
D A
D
B
0,50
D
Preis (US-$)
B
500
Preis (US-$)
Preis (US-$)
3 2
B
1 D
0
1 2 Menge (Millionen)
3
Q
1.000 2.000 Menge (Millionen)
Abbildung 4-2: Die Preiselastizität der Nachfrage zerfällt in drei Kategorien
Q
0
5 10 15 20 Menge (Millionen)
Q
108
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
P 200
D
Preis
150
100
50
0
vollkommen unelastische Nachfrage
D′
D′ vollkommen elastische Nachfrage
D 200
100
300
Q
Menge
Abbildung 4-3: Die vollkommen elastische und die vollkommen unelastische Nachfrage Die beiden Extreme der Nachfrageelastizität sind einerseits senkrechte Nachfragekurven, die eine vollkommen unelastische Nachfrage (ED = 0) darstellen, und andererseits waagrechte Nachfragekurven, die eine vollkommen elastische Nachfrage abbilden (ED = ).
Elastizität und Steigung dürfen nicht verwechselt werden Wir sollten die Elastizität einer Kurve nie mit ihrer Steigung verwechseln. Diese Unterscheidung fällt uns leicht, wenn wir die linearen Nachfragekurven untersuchen, die wir häufig in illustrierenden Beispielen finden. Wir stellen die Nachfrage oft als gerade oder lineare Linien dar – denn diese sind am einfachsten zu zeichnen. Daraus ergibt sich die logische Frage: Wie sieht eigentlich die Preiselastizität einer geraden Nachfragekurve aus? Die Antwort auf diese Frage ist überraschend: Entlang einer linearen Nachfragekurve variiert die Preiselastizität von null bis unendlich! Tabelle 4-2 enthält eine detaillierte Reihe von Elastizitätsberechnungen, wobei dieselbe Technik wie in Tabelle 4-1 angewandt wurde. Diese Tabelle zeigt, dass lineare Nachfragekurven mit einer hohen Preiselastizität beginnen, wobei der Preis hoch und die Nachfragemenge gering ist, und mit einer geringen Elastizität enden, wobei der Preis niedrig und die Nachfragemenge groß ist. Damit wird ein wichtiger Punkt angesprochen. Wenn Sie eine Nachfragekurve in
Teil 2
einem Diagramm sehen, dürfen Sie im Allgemeinen nicht davon ausgehen, dass eine steile Steigung der Nachfragekurve eine unelastische Nachfrage, eine flache Steigung jedoch eine elastische Nachfrage bedeutet. Die Steigung ist nicht identisch mit der Elastizität, denn die Steigung der Nachfragekurve hängt von den Veränderungen von P und Q ab, während die Elastizität von den prozentualen Veränderungen von P und Q abhängig ist. Die einzigen Ausnahmen sind die Extremfälle einer vollständigen Elastizität und einer unelastischen Nachfrage. Zur Erläuterung sehen Sie sich doch bitte Abbildung 4-2(b) näher an. Diese Nachfragekurve ist ganz offensichtlich keine gerade Linie mit konstanter Steigung. Trotzdem weist sie eine konstante Nachfrageelastizität von ED = 1 auf, weil die prozentuale Preisänderung überall genau der prozentualen Mengenänderung entspricht. Denken Sie also immer daran: Elastizität ist etwas ganz anderes als Steigung.
Abbildung 4-4 zeigt die Falle, in die wir tappen können, wenn wir Steigung und Elastizität verwechseln. Sie sehen hier eine lineare oder gerade Nachfragekurve. Weil sie linear ist, ist ihre Steigung an jeder Stelle identisch. Aber der obere Teil der Linie weist in der Nähe von A eine sehr geringe prozentuale Preisänderung bei äußerst großer prozentualer Mengenänderung auf, und die Elastizität ist daher extrem hoch. Die Preiselastizität ist also hoch, wenn wir uns ganz oben auf der linearen DD-Kurve befinden. Wenn wir uns im Gegensatz dazu im unteren Teil der linearen Nachfragekurve befinden, ist die Preiselastizität kleiner als eins. In der Nähe der horizontalen Achse liegt sie nahe bei null. Allgemeiner ausgedrückt: Die Nachfrage ist oberhalb des Mittelpunktes M jeder geraden Linie elastisch, wobei ED > 1. Im Mittelpunkt entspricht die Nachfrageelastizität dem Grenzfall, wobei ED = 1. Unterhalb des Mittelpunkts ist sie hingegen unelastisch, wobei ED < 1. Während also die Extremfälle der vollkommen elastischen und der vollkommen unelas-
Kapitel 4
109
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
Numerische Berechnung des Elastizitätskoeffizienten ΔQ
Q
ΔP
P
0
Q1 Q2 P 1 P 2 Q P - --------------------------------------------------- ----------------------E D ----------------------------Q Q /2 P P 2 /2 2 2 1 2 1
6 10
10
2
5
5
10 2 ------ ---- 1
(elastisch)
2
15
3
10 2 ------ --- 1 15 3
(Elastizität von 1)
2
25
1
10 2 ------- ---- 0,2
(unelastisch)
5
5
4 10
20
2 10
30
25
1
0
Tabelle 4-2: Berechnung der Preiselastizität entlang einer linearen Nachfragekurve ΔP bezeichnet die Preisänderung, d.h., ΔP = P2 – P1, während die Mengenänderung ΔQ = Q2 – Q1. Die Elastizität wird als numerischer Wert berechnet, indem die prozentuale Preisänderung als ΔP dividiert durch den Durchschnittspreis errechnet wird [(P2 + P1)/2]. Danach wird die prozentuale Mengenänderung als ΔQ/Q berechnet, wobei Q die Durchschnittsmenge darstellt [(Q2 + Q1)/2]. Das daraus resultierende Verhältnis gibt als Ergebnis die numerische Preiselastizität der Nachfrage, ED, an, wobei negative Vorzeichen wegzulassen sind. Bitte beachten Sie, dass auf der Geraden die Elastizität im oberen Bereich hoch, unten gering und in der Mitte 1 ist.
tischen Nachfrage aus der Steigung der Nachfragekurve allein ermittelt werden können, können die Elastizitäten für alle anderen, dazwischen liegenden Fälle – und dies trifft auf beinahe alle Güter zu – nicht durch die Steigung allein ermittelt werden. (In Abbildung 4-5 finden Sie eine Möglichkeit zur Berechnung der Elastizität aus einem Diagramm.)
Die Elastizität auf der Gerade P 4
D A ED > 1
3 B ED = 1 2 M ED < 1 1
R
Z 0
1
2
3
D 4
Q
Abbildung 4-4: Steigung und Elastizität sind nicht dasselbe Alle Punkte auf der gerade verlaufenden Nachfragekurve haben dieselbe Steigung. Hingegen ist die Nachfrage oberhalb von Punkt M elastisch, darunter jedoch unelastisch. Im Mittelpunkt beträgt die Nachfrageelastizität 1. Nur im Falle vertikal oder horizontal verlaufender Geraden wie in Abbildung 4-3 lässt sich die Preiselastizität allein aus der Steigung ableiten.
Eine verkürzte Methode zur Berechnung der Elastizität. Die Preiselastizität einer Nachfragekurve kann anhand einer ganz einfachen Regel berechnet werden: Die Elastizität einer Geraden an einem Punkt ergibt sich durch das Verhältnis der Länge des Abschnitts unterhalb des Punktes zur Länge des Abschnitts oberhalb des Punktes. Sehen Sie sich zu diesem Zweck zunächst Abbildung 4-4 an. Beachten Sie, dass beim Mittelpunkt M die Länge des oberen Abschnitts (AM) und die des unteren (MZ) genau gleich sind; deshalb beträgt die Elastizität MZ/AM = 1. Bei Punkt B ergibt diese Formel ED = BZ/AB = 3/1 = 3; bei R ED = 1/3.
110
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Abbildung 4-5 P 4
sen Sie jetzt auch, wie sich der Gesamtertrag nach einer Preisänderung entwickeln wird:
A D
1. Bei preisunelastischer Nachfrage verringert eine Preissenkung den Gesamtertrag.
B
3 2
2. Bei preiselastischer Nachfrage erhöht eine Preissenkung den Gesamtertrag.
D
1 Z 0
Teil 2
1
2
3
Q
4
Abbildung 4-5: Eine einfache Regel zur Berechnung der Nachfrageelastizität Die Nachfrageelastizität ergibt sich durch das Verhältnis der Länge des geraden Linienabschnitts unterhalb des Punktes zur Länge des Linienabschnitts oberhalb des Punktes. Das bedeutet, dass die Elastizität bei Punkt B mit 3 berechnet werden kann. Für nicht lineare Nachfragekurven zeichnen Sie einfach die Tangente und berechnen Sie ihre Elastizität.
Da Sie nun wissen, wie man ED für eine Gerade berechnet, können Sie diesen Wert für jeden Punkt einer gekrümmten Nachfragekurve ermitteln, wie in Abbildung 4-5 gezeigt. (1) Ziehen Sie die Geradentangente an Ihren Punkt der Kurve (z.B. an Punkt B in Abbildung 4-5), und berechnen Sie dann (2) ED für die Gerade an diesem Punkt (z.B. ED bei B = 3). Das Ergebnis ist die korrekte Elastizität der Kurve in Punkt B.
Elastizität und Ertrag Viele Unternehmen wollen wissen, ob steigende Preise die Erträge heben oder senken. Diese Frage hat für Unternehmen wie Fluglinien, Baseball-Teams und Magazine natürlich große Bedeutung, denn sie müssen darüber entscheiden, ob es sich lohnen könnte, die Preise anzuheben, und ob die höheren Preise die geringere Nachfrage ausgleichen würden. Betrachten wir zunächst die Beziehung zwischen Preiselastizität und Gesamtertrag. Der Gesamtertrag ist definiert als Preis mal Menge (oder P Q). Kaufen die Konsumenten 5 Einheiten eines Gutes zu je US-$ 3, beträgt der Gesamtertrag US-$ 15. Wenn Sie die Preiselastizität der Nachfrage kennen, wis-
3. Im Grenzfall der Nachfrageelastizität von 1 bewirkt eine Preissenkung keinerlei Veränderung des Gesamtertrages. Der Begriff der Preiselastizität wird heute im Zuge des Bestrebens der Unternehmen, die Kunden in Gruppen unterschiedlicher Elastizität zu unterteilen, weithin verwendet. Pioniere in der Anwendung dieser Technik waren die Fluglinien (siehe den folgenden Kasten). Ein weiteres Beispiel sind Softwareunternehmen, die für ihre Produkte eine breite Palette verschiedener Preise verwenden, um die verschiedenen Elastizitäten zu nutzen. Wenn Sie zum Beispiel hier und heute ein neues Betriebssystem kaufen wollen, ist Ihre Elastizität gering. Davon wird der Anbieter profitieren, indem er Ihnen einen relativ hohen Preis berechnet. Wenn Sie es andererseits mit dem Upgrade nicht so eilig haben, können Sie in Ruhe nach dem besten Preis Ausschau halten, sodass Ihre Elastizität hoch ist. In diesem Fall wird der Verkäufer versuchen, das Geschäft zu machen, indem er einen relativ niedrigen Preis berechnet. Fliegen Sie am Finanzhimmel der „Air Elastizität“ Die Kenntnis der Nachfrageelastizität ist den amerikanischen Fluglinien alljährlich Milliarden von Dollar wert. Im Idealfall würden die Fluglinien Geschäftsreisenden natürlich gern einen relativ hohen Preis verrechnen, während sie den Preis für Urlauber und Freizeitreisende niedrig genug halten würden, um
Kapitel 4
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
eine maximale Auslastung zu garantieren. Auf diese Weise könnten die Erträge gesteigert und die Profite maximiert werden. Mit ihrer Absicht, von den unelastisch reagierenden Geschäftsreisenden einen hohen Preis und von den überaus elastisch reagierenden Freizeitreisenden einen geringeren Preis zu verlangen, stehen die Fluglinien vor einem schwierigen Problem: Sie müssen die beiden Klassen von Passagieren getrennt halten. Wie können sie die Geschäftsreisenden davon abhalten, die billigen Touristentickets zu kaufen, und es zugleich den Urlaubsreisenden verwehren, einfach jene Sitze zu besetzen, die die Geschäftsreisenden für teures Geld bereitwillig gekauft hätten? Die Fluglinien lösen dieses Problem, indem sie auf ihre verschiedenen Kunden jene Art von „Preisdiskriminierung“ anwenden, die die verschiedenen Preiselastizitäten nutzt. Preisdiskriminierung bedeutet, von verschiedenen Kunden für dieselbe Dienstleistung verschiedene Preise zu verlangen. Viele Fluglinien bieten Reisenden, die im Voraus planen und deren Aufenthalt länger ist, vergünstigte Tarife an. Eine Möglichkeit zur Trennung der beiden Gruppen besteht darin, Personen, die über ein Wochenende (Samstagnacht) bleiben, einen preiswerten Tarif anzubieten. Diese Regel soll Geschäftsreisende fern halten, die am Wochenende zuhause sein wollen. Außerdem werden auch bei Buchungen in letzter Minute oft keine Nachlässe gewährt. Der Grund liegt darin, dass viele Geschäftsreisen bei unvorhergesehenen Krisen in letzter Minute geplant werden – ein weiterer Fall von preisunelastischer Nachfrage. Die Fluglinien haben ungeheuer ausgefeilte Computerprogramme entwickelt, die ihnen bei der Vergabe der freien Sitze helfen, um sicherzustellen, dass Passagiere mit niedriger Elastizität nicht von Billigtarifen profitieren können.
111
Das Paradoxon der Superernte Wir können die Elastizität zur Illustration eines Paradoxons verwenden, das zu den berühmtesten der Volkswirtschaftslehre zählt: des Paradoxons der Superernte. Stellen Sie sich vor, dass die Natur den Landwirten in einem bestimmten Jahr eine besonders reiche Ernte beschert. Ein kalter Winter macht den Schädlingen den Garaus; der Frühling setzt früh ein, sodass die Aussaat bald beginnen kann, Tod bringende Fröste bleiben den Landwirten erspart, die Natur nährt die hoffnungsvollen Keimlinge mit warmem Regen, und ein sonniger Oktober besiegelt die Rekordernte vollends. Zu Jahresende setzt sich Familie Jones vergnügt an den Schreibtisch, um ihr Jahreseinkommen zu berechnen. Sie sollte sich auf eine ziemliche Überraschung gefasst machen: Das gute Wetter und die Superernte haben sich auf ihr Einkommen und auf das der anderen Landwirte negativ ausgewirkt. Wie das? Die Antwort liegt in der Elastizität der Nachfrage nach Lebensmitteln. Die wichtigen Nahrungsmittelmärkte, etwa für Weizen und Mais, sind in der Regel unelastisch; bei diesen lebensnotwendigen Gütern hängt der Verbrauch kaum vom Preis ab. Das bedeutet jedoch auch, dass die Farmer bei einer guten Ernte insgesamt einen schlechteren Gesamtertrag erzielen als bei einer Missernte. Das zusätzliche Angebot durch eine üppige Ernte drückt den Preis, doch der niedrigere Preis bewirkt zumeist keinen Anstieg der Nachfrage. Eine geringe Preiselastizität bei Nahrungsmitteln bedeutet daher, dass gute Ernten (hoher Wert Q) einen geringen Ertrag (geringer Wert P Q) zur Folge haben. Um uns diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, gehen wir zu Abbildung 4-2 zurück. Wir zeigten eingangs, wie der Ertrag im Diagramm selbst zu messen ist. Der Gesamtertrag ist das Produkt von Preis mal Menge, P Q. Weiterhin gilt, dass die Fläche eines Rechtecks immer das Produkt aus Länge mal Breite ist. Deshalb lässt sich der Gesamtertrag für jeden Punkt einer Nachfragekurve durch die Berechnung der Fläche des Recht-
112
Wert der Nachfrageelastizität
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Beschreibung
Definition
Teil 2
Auswirkung auf die Erträge
Größer als 1 (ED > 1)
Elastische Nachfrage
Prozentuale Änderung der nachgefragten Menge ist größer als die prozentuelle Preisänderung
Gleich 1 (ED = 1)
(Nachfrageelastizität von 1)
Prozentuale Änderung der nachgeUnveränderte fragten Menge entspricht der prozen- Erträge tualen Preisänderung bei sinkendem Preis
Kleiner als 1 (ED < 1)
Unelastische Nach- Prozentuale Änderung der nachgefrage fragten Menge ist kleiner als die prozentuale Preisänderung
ecks ermitteln, das durch die Werte von P und Q für diesen Punkt gebildet wird. Als Nächstes sehen wir uns die Beziehung zwischen Elastizität und Ertrag für den Fall in Abbildung 4-2(b) an, bei dem die Elastizität genau 1 beträgt. Beachten Sie bitte, dass der schattierte Ertragsbereich (P Q) für beide Punkte A und B US-$ 1.000 Millionen beträgt. Die schattierten Flächen, die den Gesamtertrag darstellen, sind wegen der einander ausgleichenden Veränderungen der Basis Q und der Höhe P gleich groß. Und genau das ist es, was wir für den Grenzfall einer Nachfrage mit der Elastizität von 1 erwartet haben. Überdies ist ersichtlich, dass sich Abbildung 4-2(a) auf eine elastische Nachfrage bezieht. In dieser Abbildung erweitert sich das Ertragsrechteck von US-$ 1.000 Millionen auf US-$ 1.500 Millionen, sobald sich der Preis halbiert. Da der Gesamtertrag steigt, sobald der Preis sinkt, kann die Nachfrage als elastisch bezeichnet werden. In Abbildung 4-2(c) schrumpft das Ertragsrechteck von US-$ 40 Millionen auf US$ 30 Millionen, wenn sich der Preis halbiert; die Nachfrage ist also unelastisch. Welches Diagramm zeigt nun den Fall der Landwirtschaft, in der eine Superernte geringere Gesamterträge für die Farmer bedeutet? Nun, es handelt sich offensichtlich um Abbildung 4-2(c). Welches Diagramm stellt den Fall der Urlaubsreisen dar, bei denen ein
Die Erträge steigen bei sinkendem Preis
Sinkende Erträge bei sinkendem Preis
geringerer Preis höhere Erträge gewährleisten würde? Richtig, Abbildung 4-2(a). In Tabelle 4-3 finden Sie die wichtigsten Punkte, die Sie sich im Zusammenhang mit der Preiselastizität merken sollten. Tabaksteuern und Rauchen Welche Auswirkungen haben Tabaksteuern auf das Rauchen? Manche Leute meinen, Rauchen sei eine solche Sucht, dass Raucher für ihre täglichen Glimmstängel jeden Preis bezahlen würden. Ökonomen erschließt sich die Antwort auf diese Frage aus der Preiselastizität. In New Jersey fand ein interessantes Experiment statt, denn der US-Bundesstaat verdoppelte 1998 die Tabaksteuer von 40 Cent auf 80 Cent pro Packung. Diese Steuererhöhung trieb den Durchschnittspreis für Zigaretten von US-$ 2,40 auf US-$ 2,80 pro Packung nach oben. Laut einer Schätzung von Ökonomen nahm der Zigarettenkonsum nach Bereinigung um den in den Nachbarstaaten getätigten Konsum und dortige Verkäufe von 52 Millionen auf 47,5 Millionen Packungen ab. Anhand der Elastizitätsformel können Sie selbst die kurzfristige Elastizität mit 0,59 errechnen. (Vergewissern Sie sich bitte, ob Sie dieselbe Zahl erhalten.) Detailliertere statistische Studien ergeben ähnliche Schätzungen. Es zeigte sich daher in diesem Fall empirisch, dass die Zigarettennachfrage auf kurze Sicht unelastisch ist, aber klar auf die Zigarettenpreise reagiert.
Kapitel 4
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
Preiselastizität des Angebots Natürlich verändert sich bei steigenden oder fallenden Preisen nicht nur die Nachfrage, also der Konsum. Die Unternehmen machen ihre Entscheidung über die Produktionsmenge ebenfalls vom Preis abhängig. Wirtschaftswissenschaftler definieren die Preiselastizität des Angebots als das Ausmaß der Veränderung der angebotenen Menge eines Gutes in Abhängigkeit von seinem Marktpreis.
113
Sie sehen also deutlich, dass die Preiselastizität des Angebots genauso definiert wird wie die Preiselastizität der Nachfrage. Der einzige Unterschied besteht darin, dass beim Angebot die Reaktion der Menge auf den Preis positiv ist, während sie bei der Nachfrage negativ ausfällt. Die exakte Definition der Preiselastizität des Angebots, ES, lautet wie folgt: prozentuale Änderung der angebotenen Menge
Die Preiselastizität des Angebots ist daher die prozentuale oder relative Änderung der angebotenen Menge dividiert durch die prozentuale oder relative Änderung des Preises. Wie bei der Nachfrageelastizität gibt es polare Extreme einer hohen und niedrigen Angebotselastizität. Nehmen wir einmal an, die angebotene Menge ist vollkommen fix, wie zum Beispiel bei verderblichem Fisch, der zu jedem erzielbaren Preis verkauft werden muss. Damit haben wir den Extremfall eines vollkommen unelastischen (starren) Angebots oder einer senkrechten Angebotskurve. Am anderen Ende des Spektrums führt eine minimale Preissenkung zu einem Rückgang der angebotenen Menge auf null, während die geringste Preissteigerung ein unendlich großes Angebot nach sich zieht. Hier ist das Verhältnis zwischen der prozentualen Änderung der angebotenen Menge und der prozentualen Preisänderung extrem groß und führt zu einer waagrechten Angebotskurve. Es handelt sich daher um den entgegengesetzten Extremfall eines vollkommen oder unendlich elastischen Angebots. Zwischen diesen beiden Extremen ist das Angebot mehr oder weniger elastisch bzw. unelastisch, je nachdem, ob die prozentuale Mengenänderung größer oder kleiner ist als die prozentuale Preisänderung. In dem Grenzfall, in dem die Preiselastizität des Angebots den Wert 1 annimmt, entspricht der prozentuale Anstieg der angebotenen Menge genau dem prozentualen Preisanstieg.
ES =
prozentuale Preisänderung
In Abbildung 4-6 sehen Sie drei besondere Fälle von Angebotselastizität: (a) Die senkrechte Angebotskurve zeigt ein vollkommen unelastisches Angebot; (c) die waagrechte Angebotskurve spiegelt ein vollkommen elastisches Angebot wider; (b) der dazwischen liegende Fall einer durch den Ursprung verlaufenden geraden Linie zeigt den Grenzfall der Elastizität von eins.1 Welche Faktoren wirken sich auf die Angebotselastizität aus? Der wichtigste Faktor ist die Leichtigkeit, mit der sich die Produktion steigern lässt. Wenn alle Produktionsfaktoren problemlos zu den gängigen Marktpreisen aufgetrieben werden können, wie dies etwa in der Textilindustrie der Fall ist, lässt sich die Produktion schon bei einer geringen Preissteigerung kräftig erhöhen. Dies bedeutet, dass hier die Preiselastizität relativ groß ist. Wenn jedoch andererseits die Produktionskapazität stark eingeschränkt ist, was beispielsweise bei den südafrikanischen Goldminen der Fall ist, löst auch eine starke Erhöhung des Goldpreises nur eine minimale Reaktion auf die Fördermengen aus – ein anschauliches Beispiel für ein unelastisches Angebot. Ein weiterer wichtiger Faktor im Zusammenhang mit der Angebotselastizität ist die Zeit. Bei einer gegebenen Preisänderung 1 Die Elastizität einer Angebotskurve, die keine gerade Linie ist, lässt sich wie folgt ermitteln: (a) Ziehen Sie die gerade Linie, die die Kurve an einem Punkt als Tangente berührt, und (b) messen Sie dann die Elastizität dieser Tangente.
114
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
die Branche in diesem Zeitraum keine neuen Arbeitskräfte anzieht. Auf lange Sicht jedoch, wenn neue Fischerboote gebaut, neue Arbeitskräfte angelockt und neue Fischfarmen errichtet werden, könnte sich das Fischangebot als überaus preiselastisch erweisen, wie in Fall (c) in Abbildung 4-6 zu sehen ist.
Angebotselastizitäten P (a) ES = 0 (b) E′S = 1,0
Preis
Teil 2
(c) E″S = ∞
Q
– Q
B. Anwendungen auf wichtige ökonomische Fragen
Menge
Abbildung 4-6: Die Angebotselastizität hängt von der Reaktion der Produzenten auf den Preis ab Bei fixem Angebot beträgt die Angebotselastizität 0, wie in Kurve (a) gezeigt. Kurve (c) zeigt eine unendlich große Mengenreaktion auf Preisänderungen. Der dazwischen liegende Fall (b) tritt ein, wenn Mengen und Preisänderung prozentual gleich stark ausfallen.
scheint die Wirkung auf die angebotenen Mengen umso stärker auszufallen, je länger die Anbieter Zeit haben zu reagieren. Unmittelbar nach einem Preisanstieg sind die Unternehmen häufig nicht in der Lage, ihren Produktionsinput, also Arbeit, Materialien und Kapital, zu vermehren, sodass das Angebot sehr unelastisch auf den Preis reagiert. Im Lauf der Zeit werden die Unternehmen aber neue Mitarbeiter aufnehmen, neue Fabriken bauen und ihre Kapazitäten ausbauen, sprich, die Angebotselastizität steigt. Wir können anhand von Abbildung 4-6 zeigen, wie sich das Angebot im Beispiel der Fische mit der Zeit ändert. Die Angebotskurve (a) könnte für den Fisch an dem Tag gelten, an dem er zu Markte getragen wird, wo er einfach abgestoßen wird, unabhängig davon, was er einbringt. Kurve (b) könnte für einen mittleren Zeitraum von etwa einem Jahr gelten, wenn man davon ausgeht, dass die Zahl der Fischerboote gleich bleibt und
Nachdem wir mit unserer Studie der Elastizität nun das Fundament gelegt haben, wollen wir zeigen, wie dieses Werkzeug unser Verständnis vieler grundlegender wirtschaftlicher Trends und vieler politischer Fragen verbessern kann. Wir beginnen mit einer der größten Veränderungen seit der Industriellen Revolution: dem Wandel der Landwirtschaft. Als Nächstes untersuchen wir anhand der Benzinsteuer die Auswirkungen von Steuern auf eine Industrie. Dann analysieren wir die Folgen verschiedener staatlicher Eingriffe in die Märkte.
Die Ökonomie der Landwirtschaft Unser erstes Anwendungsbeispiel für die Angebots- und Nachfrageanalyse wollen wir der Landwirtschaft entnehmen. Im ersten Teil dieses Abschnitts betrachten wir einige wirtschaftliche Grundbegriffe aus dem Bereich der Landwirtschaft. Anschließend wollen wir die Theorie von Angebot und Nachfrage dazu verwenden, um die Auswirkungen staatlicher Eingriffe auf die Märkte für landwirtschaftliche Produkte zu untersuchen.
115
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
Reale landwirtschaftliche Preise (1982 = 1, Verhältnismaßstab)
Kapitel 4
2,4 Landwirtschaftliche Preise dividiert durch VPI
2,0
1,6
1,2
Rückläufiger Trend von 2 % jährlich 0,8
0,4
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Abbildung 4-7: Die Preise der wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte sind stark gesunken Einer der wichtigen wirtschaftlichen Faktoren in den USA ist der stetige Rückgang der Preise grundlegender landwirtschaftlicher Produkte wie jener von Weizen, Mais, Sojabohnen und dergleichen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verzeichneten die Preise landwirtschaftlicher Produkte gegenüber dem allgemeinen Preisniveau einen Rückgang von 2 Prozent. Beachten Sie die vorübergehende Umkehrung dieser Entwicklung in den 1970er Jahren, als Rohstoffe knapp waren. (Quelle: US-Bureau of Labor Statistics.)
Der langsame und stetige Rückgang der Landwirtschaft Die Landwirtschaft war einmal der wichtigste Wirtschaftszweig der heutigen Industrieländer. Noch vor 100 Jahren lebte die halbe amerikanische Bevölkerung von der Landwirtschaft und arbeitete auf Farmen, aber diese Zahl hat sich bis zum heutigen Tag auf weniger als 3 Prozent verringert. Zugleich sind die Preise für landwirtschaftliche Produkte im Vergleich zu den Einkommen und zu anderen Preisen drastisch gesunken. Abbildung 4-7 zeigt den stetigen Rückgang der Preise landwirtschaftlicher Produkte in den letzten 50 Jahren. Während sich das mittlere Familieneinkommen mehr als verdoppelt hat, stagnieren die landwirtschaftlichen Einkommen. Die Landwirtschaftspolitiker jam-
mern über den Niedergang der bäuerlichen Familienbetriebe. Ein einziges Diagramm kann die Ursache für die rückläufige Tendenz der Preise für landwirtschaftliche Produkte besser erklären als eine ganze Bibliothek von Büchern und Leitartikeln. Abbildung 4-8 zeigt ein ursprüngliches Gleichgewicht bei hohen Preisen in Punkt E. Bitte beachten Sie, was mit der Landwirtschaft im Laufe der Jahre geschieht. Da die meisten Nahrungsmittel lebensnotwendige Güter sind, steigt die Nachfrage nach ihnen langsam; die Nachfrageverschiebung fällt jedoch im Vergleich zu den wachsenden Durchschnittseinkommen bescheiden aus. Und wie steht es mit dem Angebot? Obwohl fälschlicherweise immer wieder behauptet wird, die Landwirtschaft sei konser-
116
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Angebotszuwächse übersteigen deutlich die bescheidenen Nachfragezuwächse und führen zu einem Abwärtstrend der Preise für landwirtschaftliche Produkte im Vergleich zu den Preisen anderer wirtschaftlicher Güter. Und genau das trat in den vergangenen Jahrzehnten ein, wie aus Abbildung 4-7 ersichtlich ist.
P D
D′ S S′
Preis
E
S
E′ S′
0
D Menge
Teil 2
D′ Q
Abbildung 4-8: Die Probleme der Landwirtschaft haben ihre Ursache im zunehmenden Angebot und der preisunelastischen Nachfrage Das Gleichgewicht in Punkt E stellt die Bedingungen des Landwirtschaftssektors vor einigen Jahrzehnten dar. Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten steigt langsamer als die durch den technologischen Fortschritt ermöglichte enorme Angebotszunahme. Aus diesem Grund sinken die Wettbewerbspreise in der Landwirtschaft. Wegen der preisunelastischen Nachfrage sinken außerdem bei steigendem Angebot die Einkommen der Landwirte.
vativ und technisch zurückgeblieben, zeigen statistische Studien ganz deutlich, dass die Produktivität (Output pro Einheit Input) im Landwirtschaftssektor rascher angestiegen ist als in beinahe allen anderen Sparten. Im Zuge der Mechanisierung wurden durch den Einsatz von Traktoren, Bearbeitungs- und Erntemaschinen bedeutende Fortschritte erzielt. Dasselbe galt für Düngung und Bewässerung, aber auch für spezielle Züchtungen und die Entwicklung genetisch veränderter Pflanzen. Durch all diese Innovationen konnte die Produktivität in der Landwirtschaft enorm erhöht werden. Der rasche Anstieg der Produktivität sorgte seinerseits für ein immer größeres Angebot, wie der Verschiebung der Angebotskurve von SS nach S'S' in Abbildung 4-8 zu entnehmen ist. Was muss daher beim neuen Wettbewerbsgleichgewicht geschehen? Bedeutende
Erntebeschränkungen. In Reaktion auf die sinkenden Einkommen intervenierten die Landwirte oft bei der Regierung und drängten auf wirtschaftliche Unterstützung. Im Lauf der Jahre unternahmen die Regierungen im In- und Ausland viel, um den Landwirten unter die Arme zu greifen. Sie hoben die Preise durch Maßnahmen zur Preisstützung, sie drosselten Importe durch Zölle und Quoten, und manchmal schickten sie den Landwirten, die sich verpflichteten, ihren Böden brachliegen zu lassen, einfach Schecks. Das Paradoxon der Superernte findet hier eine interessante Anwendung. Viele Regierungen versuchen den Landwirten zu helfen, indem sie ihre Produktion drosseln. Wie kann eine solche Vorgehensweise im Interesse der Landwirte liegen? Abbildung 4-9 zeigt die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser politischen Maßnahme. Wenn das Landwirtschaftsministerium von jedem Landwirt verlangt, weniger zu produzieren, bedeutet das eine Verschiebung der Angebotskurve nach oben und nach links. Da aber die Nahrungsmittelnachfrage unelastisch ist, erhöhen die Erntebeschränkungen nicht nur den Preis der produzierten Güter, sondern sie erhöhen tendenziell auch die Gesamterträge und -einnahmen der Farmer. Während Superernten den Landwirten schaden, erhöhen Erntebeschränkungen ihr Einkommen. Dies trifft natürlich die Konsumenten, die durch Erntebeschränkungen und höhere Preise „bestraft“ werden – Zustände, als hätte eine Naturkatastrophe zu einer Lebensmittelknappheit geführt. Produktionsbeschränkungen sind typische Markteingriffe von Regierungen, die die Einkommen einer Gruppe auf Kosten einer an-
Kapitel 4
deren erhöhen. In späteren Kapiteln werden wir sehen, dass eine solche Politik ineffizient ist: Der Vorteil für die Landwirte ist geringer als der Schaden für die Konsumenten.
Die Auswirkungen von Steuern auf Preis und Menge Staaten belegen bekanntlich eine ganze Reihe von Gütern mit Steuern – Zigaretten und Alkohol, Löhne und Gewinne. Mit Hilfe der Angebots- und Nachfrageanalyse können wir voraussagen, wer letztlich die Lasten einer Steuer trägt und wie sich die Steuer auf die Produktionsleistung auswirkt.
len aufzeigen, wie sie Produktion und Marktpreise beeinflusst. Obwohl amerikanische Politiker von Zeit zu Zeit über die Höhe der Benzinsteuer lamentieren, ist sie in den Vereinigten Staaten weit niedriger als in den meisten europäischen Ländern. Viele Ökonomen und Umweltschützer treten auch in den Vereinigten Staaten für viel höhere Benzinsteuern ein. Sie weisen darauf hin, dass eine höhere Steuer eine dämpfende Wirkung auf den Verbrauch hätte, was sich sowohl positiv auf die Umweltqualität auswirken wie auch unsere Abhängigkeit von unverlässlichen ausländischen Ölquellen reduzieren würde. Ein konkretes Beispiel: Nehmen wir an, dass die US-Regierung beschließt, den Ölverbrauch zu drosseln, indem sie eine Ben-
P
P S′
S
E′
Preis
Beschränkungen nach der Ernte
Einzelhandelspreis (US-$/Gallone)
D
B
E
A
Beschränkungen vor der Ernte
D
1,5
S′
S
D X
Q
Menge
Abbildung 4-9: Programme zur Erntebeschränkung erhöhen Preise und landwirtschaftliche Einkommen Vor der Anbaubeschränkung befindet sich der vollkommene Markt in einem Produktionsgleichgewicht in Punkt E. Wenn die Regierung die Produktion einschränkt, wird die Angebotskurve nach links zu S'S' verschoben, sodass sich das Gleichgewicht zu E' verlagert und der Preis auf B steigt. Beachten Sie, dass das neue Ertragsrechteck 0BE'S' größer ist als das ursprüngliche Ertragsrechteck 0AEX – die unelastische Nachfrage führt zu einem höheren Ertrag.
Wir wollen dazu beispielsweise den Fall einer Benzinsteuer betrachten, und wir wol-
1,00
S′ 0,90
S E
1,0 0,5
S′ E′
2,0
0,10 S D
0
0
117
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
50 100 Menge (Milliarden Gallonen)
150
Q
Abbildung 4-10: Die Benzinsteuer trifft Konsumenten und Produzenten Was versteht man unter der Inzidenz einer Steuer? Eine Steuer von US-$ 1 auf Benzin verschiebt die Angebotskurve überall um US-$ 1 nach oben, wodurch sich eine neue Angebotskurve S'S' ergibt, die parallel zur ursprünglichen Angebotskurve SS verläuft. Die neue Angebotskurve schneidet DD im neuen Gleichgewicht E', wo der Preis für die Konsumenten auf 90 Cent gestiegen und der Preis für die Produzenten um 10 Cent gesunken ist. Die roten Pfeile zeigen Veränderungen von P und Q an. Beachten Sie, dass die Konsumenten die Hauptlast der Steuer tragen.
zinsteuer von US-$ 1 pro Gallone einführt. Natürlich würde jeder umsichtige Gesetzge-
118
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
ber zögern, die Benzinsteuer drastisch anzuheben, ohne zuvor die möglichen Folgen eines solchen Schritts sicher beurteilen zu können. Er würde Klarheit über die Inzidenz der Steuer haben wollen. Mit Inzidenz meinen wir die letztendliche Auswirkung einer Steuer auf die Realeinkommen der Produzenten oder Konsumenten. Die Tatsache, dass die Unternehmen die Steuern überweisen, bedeutet nicht, dass diese ihre Gewinne reduzieren. Mithilfe des Modells von Angebot und Nachfrage können wir analysieren, wer die Last tatsächlich trägt, mit anderen Worten, welche Inzidenz die Steuer hat. Es könnte durchaus sein, dass die Steuerbelastung auf den Konsumenten überwälzt wird und der Verbraucherpreis für Benzin tatsächlich um einen ganzen Dollar in die Höhe schnellt. Vielleicht aber reduzieren die Konsumenten ihren Benzinverbrauch so stark, dass die Steuerlast zur Gänze bei den Ölgesellschaften verbleibt. Wie sich bei einem Ergebnis irgendwo zwischen den angesprochenen Extremsituationen die Steuerlast wirklich verteilt, lässt sich nur mit Hilfe der Angebots- und Nachfrageanalyse feststellen. Abbildung 4-10 liefert die Antwort. Sie zeigt das ursprüngliche Gleichgewicht vor Einführung der Steuer bei E, im Schnittpunkt der Kurven SS und DD, bei einem Benzinpreis von einem Dollar pro Gallone und einem Gesamtverbrauch von 100 Milliarden Gallonen jährlich. Wir stellen die Einführung der Steuer von einem Dollar pro Gallone auf dem Benzinmarkt als Verschiebung der Angebotskurve nach oben dar, wobei die Nachfragekurve unverändert bleibt. Die Nachfragekurve verschiebt sich nicht, weil die nachgefragte Menge für jeden Einzelhandelspreis nach der Steuererhöhung unverändert bleibt. Bitte beachten Sie, dass die Nachfragekurve für Benzin relativ unelastisch ist. Im Gegensatz dazu verschiebt sich die Angebotskurve ganz deutlich um einen Dollar nach oben. Dies deshalb, weil die Produzenten eine gegebene Menge (sagen wir 100 Milliarden Gallonen) nur dann zu verkaufen
Teil 2
gewillt sind, wenn sie denselben Nettopreis dafür erhalten wie zuvor. Das bedeutet, dass bei jeder angebotenen Menge der Marktpreis genau in Höhe der neuen Steuer angehoben werden muss. Waren die Produzenten ursprünglich bereit, 80 Milliarden Gallonen zu US-$ 0,90 je Gallone zu verkaufen, so sind sie künftig bereit, dieselbe Menge zu einem Einzelhandelspreis von US-$ 1,90 zu verkaufen (wobei ihnen nach Abzug der Steuer wie zuvor US-$ 0,90 je Gallone verbleiben). Wo wird der neue Gleichgewichtspreis liegen? Die Antwort finden wir im Schnittpunkt der neuen Angebots- mit der neuen Nachfragekurve, also in E', dort, wo S'S' und DD aufeinander treffen. Wegen der Verschiebung der Angebotskurve ist der Preis höher. Die angebotene und nachgefragte Menge ist zurückgegangen. Wenn wir das Diagramm genau studieren, stellen wir fest, dass der neue Gleichgewichtspreis von US-$ 1 auf etwa US$ 1,90 gestiegen ist. Die neue Produktionsmenge, bei der sich Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht befinden, ist von 100 Milliarden auf etwa 80 Milliarden Gallonen gefallen. Wer bezahlt letzten Endes die Steuer? Wie steht es um die Inzidenz? Offensichtlich entfällt ein kleiner Teil auf die Ölindustrie, weil sie nur noch 90 Cent (US-$ 1,90 abzüglich US-$ 1 Steuer) anstatt des früheren Dollars erhält. Aber den Großteil der Belastung hat der Konsument zu tragen, weil der Einzelhandelspreis um 25 Cent anzieht, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass das Angebot zwar einigermaßen preiselastisch, die Nachfrage jedoch relativ preisunelastisch ist. Subventionen. Während Steuern verwendet werden, um den Konsum einer Ware zu drosseln, werden Subventionen eingesetzt, um die Produktion zu fördern. Ein allgemein bekanntes Beispiel für eine subventionierte Produktion ist die Landwirtschaft. Wir können die Auswirkungen von Subventionen auf einen Markt studieren, indem wir die Angebotskurve nach unten verschieben. Die allge-
Kapitel 4
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
119
Höchst- oder Mindestgrenzen für Preise
schen Zeiten beschränken die Regierungen die Zinssätze, die Kreditgeber verlangen dürfen. In Kriegszeiten verfügen Regierungen oft Lohn- und Preiskontrollen, um eine Inflationsspirale zu verhindern. Während der Energiekrise der 1970er Jahre wurden die Benzinpreise kontrolliert. Heute gibt es zunehmend strenge Beschränkungen der Preise, die Ärzte oder Krankenhäuser in den USA verrechnen dürfen, und einige große Städte, darunter New York, haben Mietpreiskontrollen für Wohnungen eingeführt.2 Vorschläge zur Erhöhung der Mindestlöhne zählen zu den umstrittensten Fragen der Wirtschaftspolitik. Diese Eingriffe in die Gesetze von Angebot und Nachfrage unterscheiden sich ganz wesentlich von den staatlich auferlegten Steuern, auf die der Markt über Angebot und Nachfrage ja reagieren kann. Obwohl immer ein politischer Druck besteht, die Preise möglichst niedrig und die Löhne und Gehälter möglichst hoch zu halten, lehrt die Erfahrung, dass sektorspezifische Preis- und Lohnkontrollen zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Verzerrungen führen. Wie schon Adam Smith wusste, als er gegen den Merkantilismus seiner Zeit ankämpfte, leiden die meisten Wirtschaftssysteme unter Ineffizienzen, ausgelöst durch wohlgemeinte, aber nicht hinreichend durchdachte Eingriffe in die Mechanismen von Angebot und Nachfrage. Die Festlegung von Preisober- oder -untergrenzen auf einem Markt führt immer wieder zu überraschenden, oft auch zu pervertierten wirtschaftlichen Effekten. Wollen Sie wissen, warum? Zwei wichtige Beispiele staatlicher Eingriffe sind der Mindestlohn und die Preiskontrollen bei Benzin. Diese Beispiele veranschaulichen die überraschenden Nebenwirkungen, die entstehen können, wenn eine Regierung in die Festlegung von Preis und Menge durch den Markt eingreift.
In manchen Fällen verfügt der Staat, anstatt ein Wirtschaftsgut zu besteuern oder zu subventionieren, Preisober- und -untergrenzen. Die Geschichte ist voller Beispiele. Seit bibli-
2 Mietpreiskontrollen werden in Frage 9 am Ende dieses Kapitels behandelt.
meinen Regeln für Subventionen verhalten sich zu denen für Steuern genau parallel. Allgemeine Regeln für Steuerüberwälzung. Benzin ist nur ein Beispiel dafür, wie Inzidenzen analysiert werden können. Mit diesem neuen Hilfsmittel können wir verstehen, wie sich Tabaksteuern sowohl auf die Preise als auch auf den Verbrauch an Zigaretten auswirken; welchen Einfluss Importsteuern oder Zölle auf den Außenhandel ausüben und wie Grundsteuern, Sozialversicherungsabgaben und Körperschaftssteuern Grundstückspreise, Löhne und Zinsniveau beeinflussen. Die Kernfrage für die Feststellung der Inzidenz einer Steuer sind die relativen Elastizitäten von Angebot und Nachfrage. Wenn sich die Nachfrage im Verhältnis zum Angebot unelastisch verhält, wie es beim Benzin der Fall ist, wird der Großteil der Kosten auf die Konsumenten übergewälzt. Wenn das Angebot im Gegensatz dazu im Verhältnis zur Nachfrage unelastisch ist, wie es zum Beispiel bei Grundstücken der Fall ist, müssen die Anbieter den Großteil der Steuer tragen. Hier eine allgemeine Regel zur Ermittlung der Steuerinzidenz: Die Inzidenz einer Steuer ist ein Ausdruck der Wirkung, die die Steuer auf die Einkommen von Produzenten und Konsumenten hat. Allgemein gilt, dass die Inzidenz von den relativen Elastizitäten von Angebot und Nachfrage abhängt. Eine Steuer wird nach vorne auf die Konsumenten überwälzt, wenn die Nachfrage im Verhältnis zum Angebot unelastisch ist, und sie wird nach hinten auf die Produzenten zurückgewälzt, wenn das Angebot weniger elastisch ist als die Nachfrage.
120
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Der Streit um den Mindestlohn Der Mindestlohn legt einen Mindeststundentarif fest, den die Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern zu zahlen verpflichtet sind. In den Vereinigten Staaten wurde der staatlich festgelegte Mindestlohn im Jahre 1938 eingeführt; die Regierung verlangte seinerzeit, dass alle von dem Gesetz betroffenen Arbeiter mindestens 25 Cent pro Stunde erhielten. 1947 betrug der Mindestlohn ganze 65 Prozent des Lohns, der Produktionsarbeitern durchschnittlich bezahlt wurde (siehe Abbildung 4-11). Obwohl er von Zeit zu Zeit erhöht wurde, bröckelte der Mindestlohn im Vergleich zu den durchschnittlichen Löhnen
ab und belief sich Ende 2003 mit US-$ 5,15 pro Stunde auf nur 34 Prozent des in der Produktion durchschnittlich bezahlten Lohns. Das ist eine Frage, an der sich die Geister der bekanntesten Ökonomen scheiden. So erklärte der Nobelpreisträger Gary Becker trocken: „Hebt man den Mindestlohn an, verlieren die Leute ihre Arbeit.“ Eine andere Fraktion von Nobelpreisgewinnern konterte: „Wir sind der Meinung, dass der staatliche Mindestlohn moderat erhöht werden kann, ohne die Beschäftigungschancen signifikant zu gefährden.“ Ein weiterer Ökonom, Alan Blinder aus Princeton, einer der Wirtschaftsberater Präsident Clintons, schrieb Folgendes:
Mindestlohn/ Fertigungslohn
4,0
Relative teenage
Relative unemployment Jugendarbeitslosigkeit (right scale)
Mindestlohn/Fertigungslohn
0,55
3,6
0,50
3,2
0,45
2,8
0,40
2,4
0,35
2,0
0,30
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Verhältnis Jugendarbeitslosigkeit zur Gesamtarbeitslosigkeit
4,4
0,65
0,60
Teil 2
1,6
Abbildung 4-11: Mindestlohn und Jugendarbeitslosigkeit, 1947–2002 Die durchgängige Linie zeigt die Höhe der Mindestlöhne im Vergleich zu einem durchschnittlichen Stundenlohn in der Produktion. Beachten Sie den allmählichen Rückgang des Mindestlohns gegenüber den anderen Löhnen im Lauf der letzten 50 Jahre. Darüber hinaus zeigt die durchbrochene schwarze Linie das Verhältnis der Jugendarbeitslosigkeit zur allgemeinen Arbeitslosigkeit. Erkennen Sie eine Beziehung zwischen den beiden Linien? Was verrät uns diese Beziehung über das Streitthema Mindestlohn? Quelle: Die Daten stammen vom US-Arbeitsministerium. Hintergrundinformationen über den Mindestlohn finden Sie auf der Website des US-Arbeitsministeriums unter www.dol.gov/esa/minwage/q-a.htm.
Kapitel 4
121
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
Die Menschen, die am wenigsten verdienen, leiden seit Jahren. Sie brauchen jede Hilfe, die sie bekommen können, und sie brauchen sie schnell. Ca. 40 Prozent aller Mindestlohnempfänger sind Alleinverdiener in ihren Haushalten, und ca. zwei Drittel der Teenager, die sich mit dem Mindestlohn zufrieden geben müssen, leben in Haushalten mit unterdurchschnittlichen Einkommen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob eine moderate Anhebung des Mindestlohns die Beschäftigungschancen beeinträchtigen würde oder nicht. Wenn ja, wäre eine solche Wirkung sehr gering. (New York Times, 23. Mai 1996)
Wie sollen sich Laien ein Urteil über eine Frage bilden, in der die Experten so geteilter Meinung sind? Wie können wir diese offensichtlich widersprüchlichen Aussagen einordnen? Zunächst sollten wir uns klar machen, dass Aussagen darüber, ob eine Anhebung des Mindestlohns wünschenswert wäre, persönliche Werturteile beinhalten. Solche Experten könnten von der besten positiven Ökonomie beeinflusst sein und trotzdem unterschiedliche Empfehlungen über wichtige politische Fragen abgeben. Eine kühle Analyse würde ergeben, dass die Diskussion um die Mindestlöhne in erster Linie um Interpretationsfragen kreist und dass ihr keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über empirische Erkenntnisse zugrunde liegen. Sehen wir uns einmal Abbildung 4-12 an, die den Markt für Hilfsarbeiter darstellt. Die Abbildung zeigt, dass ein Mindestlohn für die meisten Jobs eine Lohnuntergrenze festlegt. Während der Mindestlohn über den Gleichgewichtspreis bei M steigt, bei dem der Markt geräumt wird, bewegt sich die Gesamtzahl der Jobs die Nachfragekurve entlang nach oben zu E, was bedeutet, dass die Beschäftigung zurückgeht. Die Lücke zwischen der angebotenen und der nachgefragten Zahl an Arbeitskräften wird als U dargestellt, die Höhe der Arbeitslosigkeit. Mithilfe der Angebots- und Nachfrageanalyse erkennen wir, dass es wahrscheinlich einen Rückgang der Beschäftigung bei Hilfs-
D
E
Wmin
S
U LF
WMarkt
M S D Ungelernte Hilfskräfte
Abbildung 4-12: Auswirkungen des Mindestlohns Wenn wir den Mindestlohn hoch über dem Gleichgewichtspunkt des freien Marktes bei WMarkt mit Wmin festlegen, ergibt dies das Beschäftigungsniveau bei E. Wie die Pfeile zeigen, geht die Beschäftigung von M auf E zurück. Darüber hinaus beträgt die Arbeitslosigkeit, also die Differenz zwischen den bei LF angebotenen Arbeitskräften und der Beschäftigung bei E, U. Bei einer unelastischen Nachfragekurve wird das Einkommen der Niedriglohnarbeiter durch eine Anhebung des Mindestlohns erhöht. Um das zu illustrieren, schraffieren Sie das Rechteck der gesamten Löhne vor und nach der Erhöhung des Mindestlohns.
arbeitern geben wird. Aber um welche Größenordnungen wird es sich dabei handeln? Und wie werden die Auswirkungen auf das Lohneinkommen der Arbeiter mit niedrigem Einkommen sein? Diese Fragen können wir anhand von empirischen Daten betrachten. Den meisten Studien zufolge würde eine 10-prozentige Erhöhung des Mindestlohns die Beschäftigung von Teenagern zwischen 1 und 3 Prozent senken. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung Erwachsener sind noch geringer. Einige aktuelle Studien siedeln die Auswirkungen auf die Beschäftigung nahe bei null an, während eine Studiengruppe zu der Auffassung gelangt, dass die Beschäftigung sogar steigen könnte. Liest man daher die Zitate der bekannten Ökonomen aufmerksam, erkennt man, dass manche von ihnen gering mit „insignifikant“ gleichsetzen, während andere betonen, dass zumindest einige Jobs verloren gehen könnten. Unser Beispiel in Abbildung 4-12 zeigt einen Fall,
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
wo der Rückgang der Beschäftigung (abgebildet als Differenz zwischen M und E) sehr gering ist, während die von dem Mindestlohn verursachte Arbeitslosigkeit (dargestellt durch die U-Linie) relativ hoch ist. Abbildung 4-11 zeigt die Entwicklung des Mindestlohns und der Arbeitslosigkeit von Jugendlichen über die letzten 50 Jahre. Mit der schwächer werdenden Arbeiterbewegung ging das Verhältnis zwischen Mindestlohn und Fertigungslohn von 65 Prozent 1947 im Jahre 2003 auf nur etwa ein Drittel zurück. Die Beschäftigungsrate von Jugendlichen verzeichnete in diesem Zeitraum einen leichten Aufwärtstrend. Es lohnt sich, die Muster der Veränderungen daraufhin zu untersuchen, ob sie Auswirkungen des Mindestlohns auf die Jugendarbeitslosigkeit erkennen lassen. Ein weiterer Diskussionspunkt bezieht sich auf die Auswirkungen des Mindestlohns auf die Einkommen. Praktisch jede Studie kommt zu dem Schluss, dass die Nachfrage nach Niedriglohnarbeitern preisunelastisch ist. Den soeben zitierten Ergebnissen zufolge liegt die Preiselastizität zwischen 0,1 und 0,3. Das führt uns zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass eine Anhebung des Mindestlohns die Einkommen der Niedriglohnarbeiter insgesamt erhöht. Angesichts der soeben angeführten Elastizitäten erhöht eine 10-prozentige Erhöhung des Mindestlohns die Einkommen der betroffenen Gruppen um 7 bis 9 Prozent. Abbildung 4-12 zeigt, dass die Einkommen der Niedriglohnarbeiter trotz des Rückgangs ihrer gesamten Beschäftigung steigen. Man erkennt dies durch einen Vergleich der Einkommensrechtecke unter den Gleichgewichtspunkten E und M (siehe Frage 8e am Ende dieses Kapitels). Die Auswirkungen auf die Einkommen sind ein weiterer Grund, warum Uneinigkeit über den Mindestlohn besteht. Jene, die sich nur um das Wohlergehen der Niedrigeinkommensgruppen sorgen, könnten der Meinung sein, dass moderate Ineffizienzen ein kleiner Preis für höhere Einkommen sind. Andere, die sich den Kopf eher über die kumulativen
Teil 2
Kosten von Markteingriffen oder über die Auswirkungen höherer Kosten auf Preise, Gewinne und internationale Wettbewerbsfähigkeit zerbrechen, könnten argumentieren, dass solche Ineffizienzen ein zu hoher Preis sind. Wieder andere könnten der Meinung sein, dass ein Mindestlohn ein ineffizientes Mittel ist, Gruppen mit niedrigen Einkommen Kaufkraft zu verleihen. Ihnen sind direkte Einkommenstransfers oder staatliche Lohnsubventionen lieber, als Sand in das Getriebe des Lohnsystems zu streuen. Wie wichtig sind Ihnen diese drei Anliegen jeweils? Je nach Ihren Prioritäten könnten Sie bezüglich der Zweckmäßigkeit einer Erhöhung des Mindestlohns zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.
Energiepreiskontrollen Ein weiteres Beispiel für staatliche Eingriffe ist die Verordnung einer Preisobergrenze durch den Staat. Eine solche Preisobergrenze wurde in den Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren eingeführt. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Wir kehren zu unserer Analyse des Benzinmarktes zurück, um zu erfahren, wie Preisobergrenzen funktionieren. Hier die angenommenen Fakten: Die Ölpreise steigen plötzlich stark an. Die Gründe dafür liegen darin, dass das Ölkartell das Angebot reduziert hat und die Nachfrage stark ist, aber sie könnten auch in politischen Unruhen im Mittleren Osten aufgrund eines Krieges oder einer Revolution liegen. Abbildung 3-1 (S. 80) zeigt die Ergebnisse der Interaktion von Angebot und Nachfrage auf den Ölmärkten, wobei Kriege und Revolutionen in den Jahren 1973, 1979, 1990 und 2003 zu Preissteigerungen führten. Die Politiker, die diesen drastischen Preisanstieg natürlich mit Argusaugen beobachten, greifen korrigierend ein. Sie behaupten, die Konsumenten würden durch die Profitgier der Ölgesellschaften „übervorteilt“, und sind besorgt, die steigenden Preise könnten eine Inflationsspirale bei den Lebenshaltungskosten in Gang setzen. Sie beklagen die
Kapitel 4
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
dramatischen Auswirkungen der steigenden Preise auf arme und alte Mitbürger. Schließlich rufen sie die Regierung auf, „doch etwas zu unternehmen“. Angesichts steigender Preise könnte die US-Regierung geneigt sein, diesen Argumenten zu folgen und eine Preisobergrenze für Öl einzuführen, wie es in den Jahren 1973 bis 1981 tatsächlich geschah. Aber wie wirkt sich eine solche Preisobergrenze aus? Nehmen wir an, der Benzinpreis liege ursprünglich bei einem Dollar pro Gallone. Dann, aufgrund eines drastischen Rückgangs des Ölangebots, steigt der Benzinpreis auf zwei Dollar pro Gallone. Werfen wir nun einen Blick auf den Benzinmarkt nach dem Angebotsschock. In Abbildung 4-13 liegt das Gleichgewicht nach dem Schock bei Punkt E. Nun tritt die Regierung auf den Plan und verabschiedet ein Gesetz, das den Höchstpreis für Benzin beim alten Stand von einem Dollar pro Gallone festlegt. Wir können uns diesen gesetzlichen Höchstpreis als die Höchstpreislinie CJK in Abbildung 4-13 vorstellen. P
Preis (US-$/Gallone)
3
D′
S
E
2
1
D
C
J
S
Gleichgewichtsniveau ohne Preisobergrenze K
D′
D
vorgeschriebener Höchstpreis Fehlmenge bei Einziehung einer Preisobergrenze
Q
Menge (Milliarden Gallonen)
Abbildung 4-13: Preiskontrollen führen zu Engpässen Ohne gesetzliche Preisdeckelung würde der Preis auf E steigen. Beim vorgeschriebenen Höchstpreis von US-$ 1 halten sich Angebot und Nachfrage nicht die Waage, und es entstehen Engpässe. Es ist also eine formelle oder informelle Rationierungsmethode erforderlich, um die knappen Güter aufzuteilen und die tatsächliche Nachfrage auf D'D' zu senken.
123
Bei der gesetzlichen Preisobergrenze stimmen die angebotenen und die nachgefragten Mengen nicht überein. Die Konsumenten fragen viel mehr Benzin nach, als die Produzenten zum kontrollierten Preis anzubieten bereit sind. Dies zeigt sich durch die Kluft zwischen J und K. Diese Kluft ist so groß, dass die Förderanlagen schon bald stillstehen werden. Irgendjemand bekommt dann eben kein Benzin mehr. Könnte hier der freie Markt sein Werk tun, würde der Markt bei einem Preis von 2 Dollar oder darüber zum Ausgleich kommen und geräumt werden. Die Konsumenten würden zwar schimpfen, aber dennoch zähneknirschend den höheren Preis entrichten. Jedenfalls dann, wenn die einzige Alternative lauten würde, auf Benzin zu verzichten. Der Markt kann jedoch nicht geräumt werden, weil die Produzenten mit einem höheren Preis gegen die Gesetze verstoßen würden. Was folgt, ist daher eine Phase enttäuschter Konsumentenhoffnungen und Warenknappheit – ein Spiel wie die Reise nach Jerusalem, bei dem schließlich irgendjemand ohne Benzin ausscheidet, weil die Förderanlagen stillstehen. Das unzureichende Benzinangebot muss nun irgendwie rationiert werden. Zu Beginn lässt sich die Rationierung vielleicht nach dem Grundsatz „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ regeln, wobei allenfalls auch beim einzelnen Käufer die Menge rationiert werden kann. Aber es bilden sich Schlangen, und der Zeitaufwand für die Beschaffung des gewünschten Treibstoffs steigt. Schließlich entwickelt sich eine Form von Rationierungsmechanismus abseits des Preises. Bei Benzin und anderen lagerfähigen Gütern lässt sich die Knappheit beispielsweise verwalten, indem man die Leute sich anstellen lässt – eine Rationierung über die Warteschlange. Manchmal gehen jene, die Zugang zu dem Gut haben, zu Schwarzmarktpraktiken über, entscheiden sich also für gesetzwidrige Verkäufe über dem vorgeschriebenen Preis. Es herrscht ein hohes Maß an Verschwendung, weil die Leute ihre kostbare Zeit damit verbringen müssen, ihre Be-
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
dürfnisse zumindest notdürftig zu befriedigen. Manchmal entwickelt der Staat eine effizientere Methode der nicht preisbestimmten Rationierung, indem er offiziell bestimmte Benzinmengen oder Gutscheine zuteilt. Bei einer Gutscheinrationierung oder -bewirtschaftung muss jeder Käufer sowohl über einen Gutschein als auch über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügen, um die Güter kaufen zu können – in Wirklichkeit existieren hier also zwei Zahlungsmittel. Mit der Einführung der Rationierung und Vergabe der Gutscheine je nach „Bedarf“ wird die Warenfehlmenge zum Verschwinden gebracht, weil die Nachfrage durch die Gutscheine beschränkt wird. Aber wie verändern Rationierungsgutscheine eigentlich das Bild von Angebot und Nachfrage? Natürlich muss der Staat genau so viele Gutscheine ausgeben, dass die Nachfragekurve auf D'D' in Abbildung 4-13 gesenkt wird, wo Angebot und neue Nachfrage beim vorgeschriebenen Höchstpreis ausgeglichen sind. Preiskontrollen für Güter wie Energie sind in den meisten Marktwirtschaften mit oder ohne offizielle Rationierung aus der Mode gekommen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die legale und illegale Umgehung von Preiskontrollen mit der Zeit zugenom-
Teil 2
men hat und dass jedwede günstige Auswirkungen, die die Kontrollen auf die Konsumenten haben mögen, schließlich durch Ineffizienzen außer Kraft gesetzt werden. Inbesondere wenn eine Substitution problemlos möglich ist (d.h., wenn die Elastizitäten von Angebot oder Nachfrage hoch sind), sind Preiskontrollen kostspielig, schwer zu verwalten und ineffektiv. Während Preiskontrollen in den meisten Branchen kaum vorkommen, verbreiten sie sich heute im Gesundheitswesen. In Teil 4 werden wir sehen, dass Preiskontrollen in der Medizin zu denselben Ineffizienzen führen wie jene, die wir vor einigen Jahrzehnten auf dem Benzinmarkt beobachten konnten. Hier müssen wir eine wichtige, grundlegende Lektion lernen: Güter sind immer knapp. Die Gesellschaft kann niemals die Wünsche aller ihrer Mitglieder erfüllen. Zu normalen Zeiten rationiert der Preis das knappe Angebot. Sobald der Staat auf den Plan tritt und sich in Angebot und Nachfrage einmischt, können die Preise ihre Rolle als Rationierungsinstrument nicht mehr erfüllen. Verschwendung, Ineffizienz und Verschärfung bestehender Krisen sind daher im Gefolge derartiger staatlicher Eingriffe immer anzutreffen.
Zusammenfassung A. Elastizität von Nachfrage und Angebot 1.
Die Preiselastizität der Nachfrage misst die quantitative Reaktion der Nachfrage auf eine Preisänderung. Die Preiselastizität der Nachfrage (ED) wird als prozentuale Änderung der nachgefragten Menge dividiert durch die prozentuale Änderung des Preises definiert. Das heißt: Preiselastizität der Nachfrage = ED prozentuale Änderung der nachgefragten Menge =
prozentuale Preisänderung
2.
In dieser Rechnung wird das Vorzeichen stets positiv gesetzt, und für P und Q werden die Durchschnittswerte aus dem alten und dem neuen Wert herangezogen. Wir unterscheiden bei der Preiselastizität drei Kategorien: (a) Die Nachfrage ist elastisch, wenn die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge größer ist als die prozentuale Preisänderung; das heißt ED > 1. (b) Die Nachfrage ist unelastisch, wenn die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge geringer ist als die prozentuale Preisänderung; hier ist also ED < 1. (c) Wenn die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge genau der prozentualen Preisänderung entspricht, haben wir es
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3.
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Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
mit jenem Grenzfall der Nachfrageelastizität zu tun, für den gilt: ED = 1. Die Preiselastizität ist eine aus Prozentsätzen ermittelte Zahl, die keinesfalls mit der Steigung verwechselt werden darf. Die Nachfrageelastizität trifft eine Aussage über die Auswirkungen einer Preisänderung auf den Gesamtertrag. Eine Preissenkung erhöht den Gesamtertrag, wenn die Nachfrage elastisch ist; eine Preissenkung mindert den Gesamtertrag, wenn die Nachfrage unelastisch ist; im Grenzfall einer Nachfrageelastizität von 1 hat die Preisänderung keinerlei Auswirkungen auf den Gesamtertrag. Die Preiselastizität der Nachfrage ist bei lebensnotwendigen Gütern wie Nahrungsmitteln und Wohnungen gering, während sie bei Luxusgütern wie Schneemobilen und Flugreisen hoch ist. Die Preiselastizität wird auch dadurch beeinflusst, inwieweit Substitutionsgüter für das betreffende Gut vorhanden sind und wie viel Zeit die Konsumenten haben, sich auf die Preisänderungen einzustellen. Die Preiselastizität des Angebots misst die prozentuale Änderung des von den Produzenten gelieferten Outputs, wenn sich der Marktpreis um einen bestimmten Prozentsatz ändert.
125
B. Anwendungen auf wichtige ökonomische Fragen 7.
8.
9.
Ein besonders anschauliches Gebiet zum Studium der Wirkungsweise von Angebot und Nachfrage ist die Landwirtschaft. Verbesserungen in der Agrartechnologie bedeuten, dass das Angebot stark steigt, während die Nachfrage nach Lebensmitteln weniger zunimmt, als den Einkommenssteigerungen der Konsumenten entsprechen würde. Daher fallen die Preise für Nahrungsmittel auf dem freien Markt tendenziell. Kein Wunder also, dass viele Staaten eine ganze Reihe von Programmen eingeführt haben, etwa Flächenstilllegungen, um die Einkommen ihrer Landwirte anzuheben. Eine Produktsteuer (Verbrauchssteuer auf ein Wirtschaftsgut) verschiebt das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Die Steuerlast (oder die Wirkung auf die Einkommen) trifft die Konsumenten in dem Ausmaß stärker als die Produzenten, in dem die Nachfrage im Vergleich zum Angebot unelastisch ist. Staaten greifen von Zeit zu Zeit in die Mechanismen der Wettbewerbsmärkte ein, indem sie Höchst- oder Mindestgrenzen für Preise festsetzen. In einer solchen Situation muss die angebotene Menge nicht mehr der nachgefragten Menge entsprechen; Preisobergrenzen führen zu einem Nachfrageüberschuss, während Preisuntergrenzen einen Angebotsüberschuss zur Folge haben. Manchmal kann der Eingriff die Einkommen einer bestimmten Gruppe erhöhen, wie es bei Landwirten oder bei Arbeitskräften in Niedriglohnbranchen der Fall ist. Verzerrungen und Ineffizienz sind oft die Folge.
Begriffe zur Wiederholung Elastizitätskonzepte Preiselastizität von Nachfrage und Angebot elastische und unelastische Nachfrage, Nachfrageelastizität von 1 ED = prozentuale Änderung von Q / prozentuale Änderung von P Determinanten der Elastizität Gesamtertrag = P Q Beziehung zwischen Elastizität und Ertragsänderung
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse Inzidenz einer Steuer Verzerrungen durch Preiskontrollen Rationierung über den Preis im Vergleich zur Rationierung über die Warteschlange
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Wenn Sie über ein bestimmtes Konzept, wie zum Beispiel die Elastizität, mehr erfahren wollen, werden Sie oft in einer Wirtschaftsenzyklopädie wie John Black, Oxford Dictionary of Economics, 2. Aufl. (Oxford, New York, 2002), oder David W. Pearce (Hrsg.), The MIT Dictionary of Modern Economics (MIT Press, Cambridge, Mass., 1992), fündig. Die umfassendste Enzyklopädie, die in vier Bänden viele komplexe Themen behandelt, ist The New Palgrave: A Dictionary of Economics von John Eatwell, Murray Milgate, and Peter Newman (Macmillan, London, 1987). Der Mindestlohn hat eine erbitterte Diskussion unter den Ökonomen entfacht. Ein aktuelles Buch zweier Arbeitsökonomen weist nach, dass der Mindestlohn nur geringe Auswirkungen auf die Beschäftigung hat: David Card und Alan Krueger, Myth and Measurement: The New Economics of the Minimum Wage (Princeton University Press, Princeton, N.J., 1997). Deutschsprachige Literatur: Peter Engelhard und Heiko Geue, Angewandte Mikroökonomik. Fallstudien und Lösungen (Vahlen, München, 1998).
Websites Derzeit gibt es keine verlässlichen Online-Wörterbücher für volkswirtschaftliche Begriffe. Allerdings werden einige nützliche Websites angeboten, die das Verständnis grundlegender wirtschaftlicher Begriffe wie Angebot und Nachfrage oder Elastizität fördern. Eine übersichtliche Online-Enzyklopädie der Volkswirtschaft findet sich unter der Internetadresse www.econlib.org/library/CEE.html. Dieses Nachschlagewerk ist zwar weitgehend verlässlich, deckt aber nur wenige Themen ab. Bisweilen bietet die kostenlose Site der Encyclopedia Britannica unter www.britannica.com Hintergrundinformationen oder historisches Material. Wenn Sie nirgendwo fündig werden, könnte die allgemeine volkswirtschaftliche Website der Helsinki School of Economics, www.hse.fi/EN/frontpage, die rasant wächst und OnlineMaterialien aus vielen Gebieten enthält, eine Hilfe sein. Detaillierte Informationen zum Themenbereich „Mikroökonomie“ einschließlich kommentierter Literaturhinweise bietet Prof. Dr. Wilhelm Lorenz unter www.mikroo.de/moframe.htm. Aktuelle Fragen wie Mindestlöhne werden oft in Strategiepapieren auf der Website des Economic Policy Institute diskutiert, eines Think Tank, der sich hauptsächlich mit wirtschaftlichen Arbeitnehmerfragen befasst: www.epinet.org.
Übungen 1.
2.
3.
„Eine gute Ernte senkt in den meisten Fällen die Einkommen der Farmer.“ Illustrieren Sie diese Behauptung mit Hilfe eines Angebotsund Nachfragediagramms. Geben Sie für jedes der nachfolgenden Güterpaare an, welches Gut Ihrer Meinung nach preiselastischer ist, und begründen Sie Ihre Meinung: Parfüm und Salz; Penicillin und Eiscreme; Autos und Autoreifen; Eiscreme und Schoko-Eiscreme. „Der Preis fällt um 1 Prozent, was die nachgefragte Menge um 2 Prozent in die Höhe treibt. Die Nachfrage ist daher elastisch (ED > 1).“ Wenn Sie nun im obigen Satz 2 Prozent auf 0,5 Prozent ändern, welche beiden anderen Änderungen müssen in dem Zitat vorgenommen werden?
4.
Betrachten Sie einen vollkommenen Markt für Wohnungen. Welche Auswirkungen auf das Gleichgewicht zwischen Menge und Preis wären nach den folgenden Änderungen (ceteris paribus) zu erwarten? Erklären Sie Ihre Antwort in jedem einzelnen Fall mit Hilfe von Angebot und Nachfrage. a. Einkommenssteigerungen bei den Konsumenten. b. Eine Steuer auf Wohnungsmieten von US$ 10 monatlich. c. Eine staatliche Verordnung, die eine Preisobergrenze für Wohnungsmieten bei 200 Dollar monatlich festlegt.
Kapitel 4
Anwendungsmöglichkeiten der Angebots- und Nachfrageanalyse
d.
5.
6.
7.
8.
Eine neue Bautechnik, die es ermöglicht, Wohnungen zu den halben Kosten zu errichten. e. Eine zwanzigprozentige Steigerung der Löhne der Bauarbeiter. Jemand schlägt die Anhebung des Mindestlohns um 10 Prozent vor. Schätzen Sie die Auswirkung einer solchen Anhebung auf die Beschäftigung und die Einkommen der betroffenen Arbeiter unter Berücksichtigung der in diesem Kapitel angeführten Argumente. Schreiben Sie unter Verwendung der von Ihnen abgeleiteten Zahlen einen kurzen Aufsatz, in dem Sie erklären, wie Sie entscheiden würden, wenn Sie eine Empfehlung über den Mindestlohn abgeben müssten. Ein konservativer Kritiker staatlicher Wirtschaftsprogramme hat folgenden Satz geschrieben: „Der Staat kann vor allem eines gut: Warenengpässe und Überschüsse produzieren.“ Erklären Sie, was er damit meint, und verwenden Sie dazu Beispiele wie Mindestlöhne oder Zinsobergrenzen. Zeigen Sie grafisch, dass die Wirkung von Mindestlöhnen darin besteht, dass die Gesamteinnahmen (Löhne mal nachgefragter Arbeitskraft) der ungelernten Arbeiter sinken, wenn die Nachfrage nach diesen ungelernten Arbeitskräften preiselastisch ist. Überlegen Sie sich, was geschähe, wenn eine Abgabe von US-$ 2.000 auf importierte Autos erhoben würde. Zeigen Sie die Auswirkungen dieses Importzolls auf Angebot und Nachfrage sowie auf Gleichgewichtspreis und -menge bei amerikanischen Autos. Erklären Sie, warum sich die amerikanischen Autohersteller und Arbeiternehmer in der Automobilbranche für Importbeschränkungen stark machen. Elastizitätsprobleme: a. Man schätzt, dass die internationale Nachfrage nach Rohöl eine kurzfristige Preiselastizität von 0,05 aufweist. Welche Auswirkungen hätte ein Embargo, das das weltweite Ölangebot um 5 Prozent drosselte, bei einem ursprünglichen Ölpreis von US-$ 30 pro Fass auf den Ölpreis und die Ölmenge? (Nehmen wir bei diesem Problem an, dass die Ölangebotskurve vollkommen unelastisch ist.) b. Um zu zeigen, dass die Elastizitäten unabhängig von den verwendeten Maßeinheiten sind, blättern Sie bitte zu Tabelle 3-1 zurück. Berechnen Sie die Elastizitäten zwischen jedem der angegebenen Nachfragepaare. Ändern Sie die Preiseinheit von Dollar auf Cents; ändern Sie die Mengenangaben von Millionen Schachteln auf Tonnen,
9.
127
und als Umrechnungsmaßstab verwenden Sie 10.000 Packungen = 1 Tonne. Berechnen Sie nun die Elastizitäten in den ersten beiden Reihen neu. Erklären Sie, warum Sie zum selben Ergebnis gelangen. c. Nachfragestudien kommen zu dem Schluss, dass die Preiselastizität der Nachfrage nach der Droge Kokain 0,5 ist. Nehmen Sie an, dass die Hälfte der Abhängigen in New York City Einbrüche und Überfälle begehen, um ihre Sucht befriedigen zu können. Zeigen Sie anhand der Angebotsund Nachfrageanalyse, welche Auswirkung auf die Kriminalität in NewYork City ein Drogenverbotsprogramm hätte, in dessen Folge es gelingt, das Kokainangebot auf dem Markt New York um 50 Prozent zu senken. (Nehmen wir für diese Übung an, dass das Angebot vollkommen unelastisch ist.) Welche Auswirkungen hätte eine Lockerung der Angebotsbeschränkungen auf die kriminellen Aktivitäten und auf den Drogenkonsum, wenn die Regierung ihr Verbot lockerte und den Kokainpreis um 50 Prozent senkte? Diskutieren Sie die Auswirkungen auf Preis und Drogenabhängigkeit, wenn durch ein gezieltes Programm die Hälfte der Kokainabhängigen geheilt werden könnte. d. Können Sie erklären, warum die Landwirte in einer Depression einem Regierungsprogramm zustimmen könnten, das verlangt, Schweine zu töten und in der Erde zu verscharren? e. Sehen Sie sich die in Abbildung 4-12 gezeigten Auswirkungen des Mindestlohns an. Zeichnen Sie die Rechtecke des Gesamteinkommens mit und ohne Mindestlohn ein. Welches Rechteck ist größer? Setzen Sie die Auswirkungen des Mindestlohns in Beziehung zur Preiselastizität der Nachfrage nach Hilfsarbeitern. Niemand bezahlt gern Miete. Und doch treiben die Grundstücksknappheit und der städtische Wohnbau die Mieten in den Städten oft sprunghaft in die Höhe. In Reaktion auf steigende Mieten und den daraus folgenden Unmut gegenüber den Vermietern führen Regierungen manchmal Mietpreiskontrollen ein. Diese beschränken die jährlichen Mieterhöhungen auf einen geringen Prozentsatz, sodass die kontrollierten Mietpreise oft weit unterhalb der freien Marktpreise bleiben. a. Zeichnen Sie Abbildung 4-13 neu, um die Auswirkungen von Mietpreiskontrollen für Wohnungen zu zeigen.
128 b.
c.
d.
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Welche Auswirkungen können Mietpreiskontrollen auf die Zahl der leerstehenden Wohnungen haben? Welche Optionen, die nicht mit Mietzahlungen einhergehen, könnten sich als Substitut für höhere Mieten anbieten? Erklären Sie die Worte eines europäischen Kritikers von Mietpreiskontrollen: „Außer Bomben kann nichts eine Stadt so wirkungsvoll zerstören wie Mietpreiskontrollen.“ (Ein kleiner Hinweis: Welche Auswirkungen haben Mietpreiskontrollen auf die Erhaltung von Wohnungen und Häusern?)
Teil 2
10. Gehen Sie das Beispiel der Tabaksteuer in New Jersey (S. ¢) noch einmal durch. Zeichnen Sie auf Millimeterpapier oder auf dem Computer Angebots- und Nachfragekurven, die die Preise und Mengen vor und nach Einführung der Steuer widerspiegeln. (Abbildung 4-10 zeigt das Beispiel für eine Benzinsteuer.) Nehmen wir für dieses Beispiel an, dass die Angebotskurve vollkommen elastisch ist. [Zusatzaufgabe: Eine Nachfragekurve mit konstanter Preiselastizität nimmt die Form Y = AP2 an, wobei Y die nachgefragte Menge, P der Preis, A die Skalenkonstante und e der (absolute) Wert der Preiselastizität ist. Ermitteln Sie die Werte von A und e, die die korrekte Nachfragekurve für die Preise und Mengen im New-Jersey-Beispiel ergeben.]
129
KAPITEL 5 Nachfrage und Konsumverhalten
O streite nicht was nötig sei! Der schlechtste Bettler hat bei der größten Not noch Überfluss. König Lear
Tagtäglich treffen wir unzählige Entscheidungen darüber, wofür wir unser knappes Geld und unsere knappe Zeit verwenden wollen. Sollen wir frühstücken oder lieber ein wenig länger schlafen? Sollen wir am Abend lesen oder uns mit Freunden treffen? Ein neues Auto kaufen oder das alte reparieren lassen? Unser Geld gleich ausgeben oder etwas für die Zukunft zurücklegen? Indem wir zwischen den konkurrierenden Bedürfnissen und Wünschen abwägen, treffen wir jene Entscheidungen, die unser tägliches Leben ausmachen. Das Ergebnis all unserer Einzelentscheidungen ist das, was den Nachfragekurven und Preiselastizitäten, von denen wir in den vorigen Kapiteln gesprochen haben, zugrunde liegt. In diesem Kapitel wollen wir uns mit den Grundlagen der Entscheidungen und des Verhaltens der Konsumenten befassen. Wir werden erkennen, dass wir die beobachteten Muster der Marktnachfrage durch die Tatsache erklären können, dass sich der Einzelne für jenen Warenkorb entscheidet, den er gegenüber allen anderen Konsumgüterkombinationen bevorzugt. Außerdem werden wir lernen, den Nutzen zu messen, den jeder von uns aus seiner Teilnahme an einer Marktwirtschaft bezieht.
Auswahlverhalten und Nutzenthorie Bei der Erklärung des Konsumverhaltens stützt sich die Volkswirtschaft auf die fundamentale Prämisse, dass der Einzelne jene Güter und Dienstleistungen auswählt, die ihm am wertvollsten erscheinen. Um zu beschreiben, wie die Konsumenten zwischen den verschiedenen Konsummöglichkeiten wählen, haben die Ökonomen vor hundert Jahren den Begriff des Nutzens eingeführt. Mithilfe dieses Begriffs konnten sie die Nachfragekurve ableiten und ihre Merkmale erklären. Was meinen wir mit dem Begriff Nutzen? Mit einem Wort: Nutzen bedeutet Bedürfnis-
130
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
befriedigung. Genauer gesagt, beschreibt der Begriff, wie die Konsumenten verschiedene Güter und Dienstleistungen bewerten. Wenn Warenkorb A für Herrn Müller einen höheren Nutzen hat als Warenkorb B, so zeigt das an, dass Herr Müller A gegenüber B bevorzugt. Nutzen wird oft am subjektiven Vergnügen oder an der subjektiven Nützlichkeit gemessen, die ein Mensch durch den Konsum eines Gutes oder einer Dienstleistung erfährt. Doch hüten Sie sich vor der Vorstellung, Nutzen sei ein psychologischer Begriff oder ein Gefühl, das sich beobachten und messen ließe. Der Begriff des Nutzens ist stattdessen ein wissenschaftliches Konstrukt, das es den Ökonomen ermöglicht zu verstehen, wie die Konsumenten ihre beschränkten Ressourcen auf die Waren verteilen, die ihre Bedürfnisse befriedigen. Im Sinne der Nachfragetheorie sagen wir, dass die Menschen danach trachten, ihren Nutzen zu maximieren, was bedeutet, dass sie jenes Bündel an Konsumgütern wählen, das sie unter allen Möglichkeiten bevorzugen.
Grenznutzen und das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens Wie lässt sich der Begriff des Nutzens auf die Nachfragetheorie anwenden? Angenommen, durch den Konsum der ersten Einheit eines Gutes wie Eiscreme erreichen Sie ein bestimmtes Maß an Zufriedenheit oder Nutzen. Nun stellen Sie sich vor, Sie konsumierten eine zweite Einheit. Ihr Gesamtnutzen steigt, weil Ihnen die zweite Einheit des Gutes zusätzlichen Nutzen verschafft. Was aber passiert, wenn Sie sich danach noch für eine dritte oder vierte Einheit desselben Gutes entscheiden? Irgendwann erhöhen Sie ihren Nutzen damit nicht mehr, sondern es wird Ihnen übel! Das bringt uns zu dem in der Volkswirtschaftslehre äußerst wichtigen Konzept des Grenznutzens. Durch eine zusätzliche Portion Eiscreme erhalten Sie einen bestimmten zusätzlichen Nutzen. Dieser zusätzliche Nutzen wird als Grenznutzen bezeichnet.
Teil 2
Der Begriff „Grenz-“ ist in der „Volkswirtschaftslehre von größter Bedeutung, und er wird immer im Sinne von „zusätzlich“ verwendet. Der Grenznutzen beschreibt den zusätzlichen Nutzen, den Ihnen der Konsum einer zusätzlichen Einheit eines Gutes verschafft. Ökonomen, die vor hundert Jahren über den Nutzen nachzudenken begannen, formulierten das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Diesem Gesetz zufolge nimmt der Zusatz- oder Grenznutzen ab, je mehr von einem Gut konsumiert wird. Warum? Der Nutzen steigt doch, wenn wir mehr von einem Gut konsumieren! Doch nach dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens steigt der Nutzen in immer geringerem Ausmaß, wenn wir mehr von einem Gut konsumieren. Der Anstieg des Gesamtnutzens verlangsamt sich, weil der Grenznutzen (der zusätzliche Nutzen durch die letzte von einem Gut konsumierte Einheit) geringer wird, wenn wir mehr von diesem Gut konsumieren. Der abnehmende Grenznutzen ergibt sich aus der Tatsache, dass Ihre durch das betreffende Gut verursachte Freude und Befriedigung nachlassen, wenn Sie mehr und mehr davon konsumieren. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens besagt, dass der Grenznutzen mit zunehmender Menge eines konsumierten Gutes in aller Regel abnimmt.
Ein Zahlenbeispiel Wir können den Nutzen in Tabelle 5-1 numerisch darstellen. Die Tabelle zeigt in Spalte (2), dass der Gesamtnutzen (U) wächst, wenn der Konsum (Q) steigt, dass aber sein Wachstum geringer wird. Spalte (3) misst den Grenznutzen als zusätzlich gewonnenen Nutzen, wenn eine zusätzliche Einheit des Gutes konsumiert wird. Wenn jemand also 2 Einheiten konsumiert, beträgt der Grenznutzen 7 – 4 = 3 Einheiten dieses Gutes (wir nennen diese Einheiten „Nutzeneinheiten“).
Kapitel 5
Nachfrage und Konsumverhalten
(1) (2) Menge eines Gesamtnutzen konsumierten Gutes Q U 0
0
1
4
2
7
3
9
4
10
5
10
(3) Grenznutzen
MU 4 3 2 1 0
Tabelle 5-1: Der Nutzen steigt mit dem Konsum Wenn wir größere Mengen eines Gutes oder einer Dienstleistung wie Pizza oder Konzerte konsumieren, steigt der Gesamtnutzen. Die Nutzensteigerung von einer Einheit zur nächsten wird als „Grenznutzen“ bezeichnet – als jener zusätzliche Nutzen, der durch die letzte zusätzliche Einheit des jeweiligen Gutes erzielt wird. Aufgrund des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens sinkt der Grenznutzen mit steigendem Konsumniveau.
Betrachten Sie als Nächstes Spalte (3). Die Tatsache, dass der Grenznutzen mit einem höheren Konsum zurückgeht, veranschaulicht das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Abbildung 5-1 stellt die Daten aus Tabelle 5-1 in einer Grafik dar. In Teil (a) addieren sich die grauen Blöcke auf jeder Konsumstufe zum Gesamtnutzen. Zusätzlich zeigt die geglättete graue Kurve den geglätteten Nutzenverlauf für die jeweiligen Konsumeinheiten. Sie zeigt einen immer langsamer wachsenden Nutzen. Abbildung 5-1(b) stellt die unterschiedlichen Grenznutzen dar. Jeder der grau unterlegten Blöcke des Grenznutzens ist ebenso groß wie der entsprechende Block des Gesamtnutzens in (a). Die gerade schwarze Linie in (b) ist die geglättete Kurve des Grenznutzens. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens impliziert, dass die Grenznutzenkurve (MU) in Abbildung 5-1(b) nach unten verlaufen muss. Das entspricht genau der Aussage, wonach die Gesamtnutzenkurve in Abbildung 5-1(a) konkav, glockenförmig aussehen muss.
131 Verhältnis zwischen Gesamt- und Grenznutzen. Anhand von Abbildung 5-1 können wir leicht feststellen, dass der mit dem Konsum einer bestimmten Menge verbundene Gesamtnutzen der Summe der Grenznutzen bis zu diesem Punkt entspricht. Nehmen wir zum Beispiel an, dass 3 Einheiten konsumiert werden. Spalte (2) in Tabelle 5-1 zeigt, dass der Gesamtnutzen 9 Einheiten beträgt. In Spalte (3) erkennen wir, dass die Summe der Grenznutzen der ersten 3 Einheiten ebenfalls 4 + 3 + 2 = 9 Einheiten beträgt. Abbildung 5-1(b) zeigt uns, dass der gesamte Bereich unter der Grenznutzenkurve bei einer konkreten konsumierten Menge – gemessen entweder durch die Blöcke oder durch den Bereich unter der geglätteten Grenznutzenkurve MU – ebenso hoch sein muss wie die Höhe der Gesamtnutzenkurve für dieselbe Anzahl von Einheiten in Abbildung 5-1(a). 1 Ob wir nun Tabellen oder Diagramme benutzen, um diese Beziehung zu untersuchen, wir erkennen in jedem Fall, dass der Gesamtnutzen der Summe aller addierten Grenznutzen entspricht. Die Geschichte der Theorie vom Nutzen Die moderne Nutzentheorie stammt aus dem Utilitarismus, einer der Hauptströmungen westlicher Philosophie in den letzten beiden Jahrhunderten. Der Begriff des Nutzens entstand bald nach 1700, als die Grundprinzipien der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelt wurden. So beobachtete Daniel Bernoulli, Mitglied einer brillanten Schweizer Mathematikerfamilie, im Jahre 1738, dass sich der Einzelne so verhält, als wäre ihm das Geld, das er in einer fairen Wette gewinnen könnte, weniger wert als das Geld, das er verliert. Das bedeutet, dass der Mensch eine Aversion gegen jedes Risiko hat und dass jeder zusätzliche Dollar an Reichtum ihm immer weniger zusätzlichen Nutzen beschert.1
1 Die wirtschaftliche Risiko-, Unsicherheits- und Spieltheorie wird in Kapitel 11 behandelt.
132
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
(a) Gesamtnutzen
Teil 2
(b) Grenznutzen
U
MU 5
5 Grenznutzen
Gesamtnutzen
10
0
1
2
3
4
5
Q
0
Menge
1
2 3 Menge
4
5
Q
Abbildung 5A-1: Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens Der Gesamtnutzen in (a) steigt mit dem Konsum, aber er steigt nicht genauso stark wie der Konsum, was den abnehmenden Grenznutzen signalisiert. Diese Beobachtung hat die Ökonomen früherer Zeiten dazu bewogen, das Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs zu formulieren. Die grauen Blöcke zeigen den durch jede neu hinzukommende Einheit bewirkten Zusatznutzen. Die Tatsache, dass der Gesamtnutzen in immer geringerem Maß steigt, wird in (b) durch die abwärts verlaufenden Stufen des Grenznutzens dargestellt. Wenn wir unsere Einheiten immer kleiner machen, werden die Stufen letztlich geglättet, sodass der Gesamtnutzen zu der durchgehenden schwarzen Kurve in (a) wird. Außerdem lässt sich der durchgehende Grenznutzen, der in (b) durch die schwarze abfallende Kurve dargestellt wird, von der Steigung der durchgehenden Kurve in (a) nicht unterscheiden. Eine frühe Einführung des Begriffs „Nutzen“ in der Sozialwissenschaft ist dem englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748–1831) zuzuschreiben. Nach seinen Studien der Rechtstheorie und unter dem Einfluss der Lehren von Adam Smith wandte sich Bentham dem Studium jener Prinzipien zu, die für die Entstehung einer sozialen Gesetzgebung maßgebend sind. Er schlug vor, die Gesellschaft nach dem „Prinzip des Nutzens“ zu organisieren, den er als „Besitz eines Objektes ... zur Erzeugung von Freude, Vorteil oder Glück oder zur Vermeidung ... von Schmerzen, Nachteilen oder Unglück“ definierte.2 Nach Meinung von Bentham sollten alle Gesetze nach utilitaristischen Prinzipien gestaltet werden, um „das größte Glück für die größtmögliche Anzahl [von Menschen]“ zu fördern. Zu seinen weiteren gesetzgeberi-
schen Vorschlägen zählten einige modern anmutende Ideen über Verbrechen und Bestrafung; so meinte er beispielsweise, eine Zufügung von „Schmerzen“ durch strenge Bestrafung könnte auf Kriminelle abschreckend wirken. Benthams Ansichten über den Nutzen erscheinen heute vielen Leuten übermäßig vereinfacht. Vor 200 Jahren aber waren sie revolutionär, weil sie betonten, dass sozialund wirtschaftspolitische Maßnahmen im Hinblick auf bestimmte Ziele getroffen werden sollten, während frühere Rechtfertigungen sich zumeist auf die Tradition, den Willen des Königs oder religiöse Lehrmeinungen beriefen. Heute begründen zahlreiche politische Denker Gesetzesvorschläge mit utilitaristischen Erklärungen dessen, was zum bestmöglichen Ergebnis für die größtmögliche Anzahl von Personen führt.
Kapitel 5
Nachfrage und Konsumverhalten
Der nächste Schritt in der Entwicklung der Nutzentheorie erfolgte, als die neoklassischen Ökonomen wie beispielsweise William Stanley Jevons (1835–1882) das Nutzenkonzept Benthams erweiterten und damit auch das Konsumverhalten erklärten. Nach Ansicht Jevons ist Wirtschaftstheorie die „Berechnung von Freude und Schmerz“ und zeigt, wie rational handelnde Menschen ihre Konsumentscheidungen aufgrund des zusätzlichen Nutzens oder Grenznutzens eines jeden Gutes treffen. Viele Utilitaristen des 19. Jahrhunderts glaubten, der Nutzen stelle eine seelische Realität dar – direkt und in Kardinalzahlen messbar, nicht anders als Länge oder Temperatur. Zur Bestätigung des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens beobachteten sie ihre eigenen Gefühle.
Ordinaler Nutzen. Die heutigen Ökonomen weisen im Allgemeinen den Begriff eines Kardinal- (oder in Kardinalzahlen messbaren) Nutzens zurück, den die Konsumenten beim Konsum von Gütern und Dienstleistungen verspüren oder erfahren. Der Nutzen erscheint nicht auf einem Display wie die getankte Benzinmenge auf einer Zapfsäule. Für die moderne Nachfragetheorie zählt stattdessen das Prinzip des in Ordinalzahlen messbaren Nutzens. Nach diesem Ansatz müssen die Konsumenten nur bestimmen, wie sie die Nutzen verschiedener Warenbündel für sich bewerten. Die Frage lautet hier also: „Wird Güterbündel A Güterbündel B vorgezogen?“ Oder: „Möchte ich lieber ein Salamisandwich oder einen SchokoladenMilchshake?“ Nicht mehr als dieser „in Ordinalzahlen messbare Nutzen“ ist erforderlich, um die allgemeinen Eigenschaften der Nachfragekurven für Wirtschaftsgüter zu ermitteln, die wir in diesem Kapitel und im zugehörigen Anhang beschreiben wollen.32
2 Siehe Bentham im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels. Beachten Sie, dass der Begriff „Nutzen“ von Bentham ganz anders verwendet wurde als heute, wo er zumeist etwas Nützliches bezeichnet.
133
Prinzip des gleichen Grenznutzens: Gleicher Grenznutzen pro Geldeinheit für sämtliche Güter Wir wollen nun die Nutzentheorie dazu verwenden, die Konsumnachfrage zu erklären und die Eigenschaften von Nachfragekurven zu beschreiben. Wir nehmen an, dass ein Konsument versucht, seinen Nutzen zu maximieren, was bedeutet, dass er jenen Warenkorb wählt, den er allen anderen verfügbaren Möglichkeiten vorzieht.3 Worin bestehen die Auswirkungen der Nutzenmaximierung? Nun, ich würde nicht erwarten, dass mir das letzte Ei, das ich kaufe, genau denselben Grenznutzen verschafft wie das letzte Paar Schuhe, das ich kaufe, weil Schuhe pro Einheit ja viel mehr kosten als Eier. Eine vernünftigere Regel wäre: Wenn Gut A doppelt so viel kostet wie Gut B, sollten wir Gut A nur kaufen, wenn sein Grenznutzen mindestens doppelt so hoch ist wie der Grenznutzen von Gut B. Diese Regel führt uns zum Prinzip des gleichen Grenznutzens, dem zufolge ich meinen Konsum nach Möglichkeit so gestalten sollte, dass mir die letzte für jedes Gut ausgegebene Geldeinheit denselben Grenznutzen bringt. In einer solchen Situation erziele ich aus meinen Käufen ein Höchstmaß an Befriedigung oder Nutzen.
3 Eine Aussage wie „Situation A wird Situation B vorgezogen“ – für die wir gar nicht zu wissen brauchen, wie sehr A gegenüber B vorgezogen wird – wird als dimensionslose oder „ordinale“ Aussage bezeichnet. Wir sprechen von einem ordinalen Nutzen. Ordnungszahlen geben eine gewisse Reihenfolge an – erstens, zweitens, drittens –, für die jedoch kein quantitatives Maß existiert, das den Abstand zwischen den einzelnen Schritten angibt. Wir könnten die Bilder in einer Galerie nach der Reihenfolge ihrer Schönheit ordnen, ohne ein quantitatives Maß für Schönheit zur Verfügung zu haben. In bestimmten, ganz speziellen Situationen ist allerdings auch das Konzept des kardinalen oder dimensionalen Nutzens von Vorteil. Ein Beispiel für eine Messung in Kardinalzahlen ist etwa dann gegeben, wenn wir sagen, dass eine Substanz bei 100 K (Kelvin) zweimal so heiß ist wie bei 50 K. Das Verhalten von Menschen unter unsicheren Bedingungen wird heute häufig unter Heranziehung des kardinalen Nutzenkonzeptes analysiert. Mit diesem Thema werden wir uns in Kapitel 11 näher auseinandersetzen.
134
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Prinzip des gleichen Grenznutzens: Die grundlegende Bedingung für die größtmögliche Bedürfnisbefriedigung oder den größtmöglichen Nutzen ist das Prinzip des gleichen Grenznutzens. Laut diesem Prinzip erzielt ein Konsument mit einem gegebenen Einkommen, der mit gegebenen Marktpreisen konfrontiert ist, die maximale Bedürfnisbefriedigung oder den maximalen Nutzen, wenn der Grenznutzen der letzten für jedes Gut ausgegebenen Geldeinheit genau derselbe ist wie der Grenznutzen der letzten für ein anderes Gut ausgegebenen Geldeinheit. Warum muss diese Bedingung erfüllt sein? Erbrächte irgendein Gut einen größeren Grenznutzen pro Geldeinheit, würde ich meinen Nutzen erhöhen, indem ich Geld von anderen Gütern abziehe und mehr für dieses Gut ausgebe – bis der Grenznutzen pro Geldeinheit bedingt durch das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens so weit sinkt, dass ein Gleichgewicht gegenüber dem Grenznutzen anderer Güter hergestellt ist. Wäre bei irgendeinem Gut der Grenznutzen pro Geldeinheit geringer, als durchschnittlich zu erzielen ist, würde ich einfach weniger davon kaufen, bis der Grenznutzen der letzten dafür ausgegebenen Geldeinheit wieder auf das Durchschnittsniveau angestiegen ist.4 Der durchschnittliche Grenznutzen pro Geldeinheit aller Güter im Konsumgleichgewicht wird als Einkommens-Grenznutzen bezeichnet. Er misst den zusätzlichen Nutzen, der erreicht würde, könnte der Konsument den Gegenwert einer zusätzlichen Geldeinheit konsumieren. Diese grundlegende Bedingung des Konsumgleichgewichts lässt sich mithilfe von 4 In einigen Bereichen der Volkswirtschaft ist die Unteilbarkeit von Einheiten wichtig und kann nicht einfach übergangen werden. So lassen sich Hondas anders als beispielsweise Apfelsaft nicht in willkürlich kleine Teile zerteilen. Nehmen wir an, ich kaufe einen, bestimmt jedoch nicht zwei Hondas. Dann ist der Grenznutzen des ersten Autos umso vieles größer als der Grenznutzen derselben Anzahl von Dollars, die ich anderswo ausgeben könnte, dass ich dadurch zum Kauf dieser ersten Einheit angeregt werde. Der Grenznutzen, den der zweite Honda erbringen würde, ist jedoch umso vieles geringer, dass ich ihn auf keinen Fall kaufen werde. Wenn bei einem Gut Unteilbarkeit eine Rolle spielt, kann unsere Gleichgewichtsbedingung als Ungleichgewichtsbedingung neu formuliert werden.
Teil 2
Grenznutzen (MUs) und Preisen (Ps) der verschiedenen Güter folgendermaßen knapp darstellen:5
MUGut 1 MUGut 2 --------------------- = ---------------------P1 P2 MUGut 3 = ---------------------=… P3 = MU pro Geldeinheit Einkommen
Warum fallen Nachfragekurven? Wenn wir die genannte Grundregel auf das Konsumentenverhalten anwenden, sehen wir umgehend, warum Nachfragenkurven fallen. Aus Gründen der Einfachheit halten wir den durchschnittlichen Grenznutzen pro Geldeinheit Einkommen konstant. Dann erhöhen wir den Preis von Gut 1. Ohne Veränderung der konsumierten Menge liegt das erste Verhältnis (d.h. MUGut 1/P1) unter dem MU pro Geldeinheit aller anderen Güter. Der Konsument muss daher den Konsum von Gut 1 anpassen. Er tut dies aller Wahrscheinlichkeit nach, indem er (a) seinen Konsum von Gut 1 senkt, wodurch (b) der MU von Gut 1 steigt, bis (c) beim neuen, geringeren Konsumniveau von Gut 1 der neue Grenznutzen pro Geldeinheit, die für Gut 1 ausgegeben wird, wieder dem MU pro Geldeinheit, die für andere Güter ausgegeben wird, entspricht. Ein höherer Preis für ein Gut reduziert den vom Konsumenten gewünschten Konsum dieses Gutes; dies zeigt, warum die Nachfragekurve negativ verläuft und daher fällt.
5 Der kritische Leser fragt sich nun sicher, ob die folgende mathematische Gleichung einen kardinalen Nutzen impliziert (siehe Fußnote 3). Die Antwort lautet nein. Ein Ordnungsmaß für den Nutzen lässt sich dehnen, während wir zugleich immer dieselbe Beziehung des „größer als“ oder „kleiner als“ beibehalten (als würden wir mit einem Gummiband messen). Wenn die Nutzenskala gestreckt wird (etwa durch Verdoppelung oder Multiplikation mit 3,14159), können Sie erkennen, dass sich alle Zähler in der Gleichung um denselben Betrag verändern, sodass die Konsum-Gleichgewichtsbedingung nach wie vor erfüllt ist. Dies wird im Anhang näher ausgeführt, wenn wir uns der Indifferenzkurve bedienen.
Kapitel 5
135
Nachfrage und Konsumverhalten
Freizeit und optimale Zeitverteilung Ein spanischer Trinkspruch wünscht dem Freund: „Gesundheit, Reichtum und die Zeit, beides zu genießen“. Diese Sentenz besagt, dass wir unser Zeitbudget ebenso verwalten müssen wie unser Geldbudget. Die Zeit ist der große Gleichmacher – haben doch auch die Reichsten nur 24 Stunden pro Tag zum „Ausgeben“. Sehen wir einmal, inwieweit sich die bereits durchgeführte Allokationsanalyse knapper Geldmittel auch auf unser Zeitbudget anwenden lässt. Betrachten wir dazu die Freizeit, eine Zeit, die häufig als „Zeit, in der wir tun können, was wir wollen“ bezeichnet wird. In der Freizeit kommen unsere persönlichen Spleens zum Vorschein. Francis Bacon, Philosoph des 17. Jahrhunderts, war überzeugt davon, dass das höchste menschliche Plaisir die Gartenarbeit sei. Der Staatsmann Winston Churchill, ein Mann unseres Jahrhunderts, schrieb über seinen Urlaub: „Ich verbrachte einen herrlichen Monat mit dem Bau einer Hütte und dem Diktieren eines Buches: 200 Ziegel und 2.000 Wörter täglich.“ Aber ganz egal, welche Vorlieben Sie haben, das Prinzip der Nutzentheorie lässt sich in jedem Fall darauf anwenden. Nehmen wir an, dass Ihnen nach allen Verpflichtungen täglich drei Stunden Zeit bleiben, die Sie mit Gärtnern, Mauern oder dem Schreiben eines Geschichtsbuches verbringen können. Wie teilen Sie Ihre Zeit am besten ein? Lassen wir dabei die Möglichkeit außer Acht, dass Sie mit einer der genannten Tätigkeiten eventuell auch Ihr zukünftiges Einkommen aufbessern könnten. Nehmen wir stattdessen an, dass Sie damit ausschließlich Konsum und sonstige Zwecke verfolgen, die Ihnen einen Nutzen einbringen. Die Prinzipien des Konsumentenverhaltens bei Auswahlentscheidungen legen den Schluss nahe, dass Sie den besten Gebrauch von Ihrer Zeit machen,
indem Sie die Grenznutzen der jeweils letzten Minute, die Sie für jede der genannten Aktivitäten aufwenden, ausgleichen. Um ein weiteres Beispiel anzuführen, nehmen wir an, Sie wollten Ihr Wissen in Ihren Universitätskursen maximieren, haben jedoch nur ein begrenztes Maß an Zeit dafür zur Verfügung. Sollten Sie alle Fächer genau gleich lang studieren? Wohl eher nicht. Sie werden feststellen, dass dieselbe Studienzeit für Volkswirtschaft, Geschichte und Chemie in der letzten Minute nicht denselben Wissenszuwachs ergibt. Wenn die letzte Minute in Chemie ein größeres Grenzwissen bewirkt als in Geschichte, werden Sie Ihr Gesamtwissen dadurch vermehren, dass Sie zusätzliche Minuten von Geschichte abziehen und für Chemie verwenden, und so weiter, bis die letzte Minute in jedem Fach auch dasselbe zusätzliche Wissen erbringt. Dieselbe Regel des maximalen Nutzens pro Zeiteinheit lässt sich auf viele verschiedene Lebensbereiche anwenden, einschließlich sozialer Hilfsdienste, Umweltschutzmaßnahmen oder Diäten. Es handelt sich dabei nicht nur um ein ökonomisches Gesetz. Dies ist ein Gesetz der rationalen Entscheidung. Sind Konsumenten Zauberer? Diese gesamte Diskussion klingt, als ob Konsumenten mathematische Zauberer wären, die den Grenznutzen routinemäßig auf die zehnte Dezimalstelle genau berechnen und in ihrem Alltag komplizierte Gleichungssysteme lösen. Eine solche unrealistische Sichtweise machen wir uns in der Volkswirtschaftsicher nicht zu Eigen. Wir wissen, dass die meisten Entscheidungen Routineentscheidungen sind und dass die Menschen manchmal nutzloses Zeug kaufen oder sich von skrupelloser Werbung übertölpeln lassen. Was hingegen wohl angenommen
136
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
werden darf, ist die weitgehende Beständigkeit des Konsumenten in seinen Vorlieben und Handlungsweisen – dass er also nicht wie wild um sich schlägt und sich nicht selbst unglücklich machen will, indem er laufend falsch urteilt oder rechnet. Wenn eine ausreichend große Anzahl von Menschen die meiste Zeit folgerichtig und vorhersehbar handelt, wenn sie Fehlgriffe in ihrem Kaufverhalten vermeidet und im Allgemeinen das jeweils bevorzugte Güterbündel wählt, führt unsere wissenschaftliche Theorie zu einer durchaus passablen Annäherung an die Fakten. Aber wie immer müssen wir auf Situationen achten, in denen irrationale oder inkonsistente Verhaltensweisen auftreten. Ein neuer Forschungsbereich ist die verhaltensorientierte oder behavioristische Ökonomik, die anerkennt, dass Zeit und Gedächtnis der Menschen beschränkt sind und dass überall Muster irrational erscheinender Verhaltensweisen zu beobachten sind. Dieser Ansatz versucht zu erklären, warum Haushalte zu wenig für die Pension sparen, warum sich auf Aktienmärkten Spekulationsblasen bilden oder wie sich Gebrauchtwagenmärkte verhalten, wenn die Menschen nur über eingeschränkte Informationen verfügen. Die Nobelpreise der Jahre 2001 und 2002 gingen an George Akerlof von der University of California in Berkeley für die Entwicklung eines besseren Verständnisses der Rolle asymmetrischer Informationen und einiger „wohlbekannter, aber scheinbar wesensfremder Phänomene“ des Marktes, sowie an Daniel Kahneman von der Universität Princeton und Vernon L. Smith von der George Mason University für deren „Analyse des Urteilsvermögens und der Entscheidungsfindung des Menschen ... und für empirische Tests der Vorhersagen der Wirtschaftstheorie durch Experimentalökonomen.“
Teil 2
Ein alternativer Ansatz: Substitutionsund Einkommenseffekt Das Konzept des Grenznutzens hat sich bei der Erklärung des wichtigen Gesetzes des negativen Nachfrageverlaufs als sehr nützlich erwiesen. Aber im Laufe der letzten Jahrzehnte haben Ökonomen einen alternativen Ansatz in der Nachfrageanalyse entwickelt – einen Ansatz, in dem der Grenznutzen nicht mehr gebraucht wird. Dieser Alternativansatz verwendet „Indifferenzkurven“, die im Anhang zu diesem Kapitel erläutert werden, um die wichtigsten Annahmen im Zusammenhang mit dem Konsumentenverhalten klar und widerspruchsfrei herauszuarbeiten. Der neue Ansatz hat sich auch bei der Erklärung jener Faktoren bewährt, die das Ausmaß der Veränderung der nachgefragten Menge in Abhängigkeit vom Preis – die Preiselastizität der Nachfrage – bestimmen. Die Indifferenzanalyse fragt nach dem Substitutionseffekt und dem Einkommenseffekt einer Preisänderung. Durch Betrachtung dieser Faktoren können wir erkennen, warum die nachgefragte Menge eines Gutes abnimmt, wenn sein Preis steigt.
Substitutionseffekt Mit dem Substitutionseffekt lässt sich die Abwärtsneigung der Nachfragekurven am logischsten erklären. Wenn der Kaffeepreis steigt, während die anderen Preise gleich bleiben, ist Kaffee relativ teurer geworden. Wenn Kaffee relativ teurer geworden ist, wird weniger Kaffee, dafür aber mehr Tee oder Cola gekauft. Ähnlich ist es mit E-Mails: Da diese Art der Kommunikation billiger und schneller ist als das Versenden von normalen Briefen, wickeln immer mehr Menschen ihre Korrespondenz auf elektronischem Weg ab. Allgemeiner ausgedrückt: Der Substitutionseffekt besagt, dass der Konsument bei steigendem Preis eines Gutes dazu tendiert, dieses teurere Gut durch ande-
Kapitel 5
Nachfrage und Konsumverhalten
re Güter zu ersetzen, um seine Bedürfnisse auf billigere Weise zu befriedigen. Konsumenten verhalten sich hier wie Unternehmen, wenn sie durch Preiserhöhungen bei einem Produktionsmittel dazu veranlasst werden, anstelle der verteuerten Produktionsmittel billigere einzusetzen. Durch diesen Substitutionsprozess können die Unternehmen einen gegebenen Output bei den geringstmöglichen Gesamtkosten produzieren. Und auch die Konsumenten können dieselbe Zufriedenheit zu geringeren Kosten erwerben, indem sie teurere durch billigere Güter ersetzen.
Einkommenseffekt Wenn Ihr Einkommen fix ist, wirkt eine Preiserhöhung darüber hinaus wie eine Senkung Ihres „realen Einkommens“. (Reales Einkommen bedeutet die tatsächliche Menge an Gütern und Dienstleistungen, die Sie mit Ihrem Einkommen kaufen können.) Wenn ein Preis steigt und die Einkommen gleich bleiben, sinken die Realeinkommen der Konsumenten, weil sie es sich nicht leisten können, dieselbe Menge an Gütern zu kaufen wie davor. Das führt zum so genannten Einkommenseffekt, der die Auswirkung einer Preisänderung auf die nachgefragte Menge eines Gutes bezeichnet, die infolge der Veränderung der realen Einkommen der Konsumenten eintritt. Da ein geringeres Realeinkommen im Allgemeinen mit einem Konsumrückgang einhergeht, verstärkt der Einkommenseffekt normalerweise den Substitutionseffekt, indem er eine Abwärtsneigung der Nachfragekurve bewirkt. Um ein quantitatives Maß für den Einkommenseffekt zu erhalten, untersuchen wir die Einkommenselastizität eines Gutes. Einkommenselastizität bedeutet die relative, also prozentuale Änderung der nachgefragten Menge dividiert durch die prozentuale Änderung des Einkommens, wobei alle anderen Faktoren, beispielsweise die Preise, konstant bleiben. Hohe Einkommenselastizitäten, wie zum Beispiel für Flugreisen oder Yachten, weisen da-
137 rauf hin, dass die Nachfrage nach diesen Gütern mit steigenden Einkommen rasant wächst. Niedrige Einkommenselastizitäten, wie zum Beispiel bei Lebensmitteln oder Zigaretten, sind ein Hinweis auf eine schwache Reaktion der Nachfrage bei steigenden Einkommen. Einkommens- und Substitutionseffekt bestimmen über die wichtigsten Merkmale der Nachfragekurven verschiedener Güter. Unter bestimmten Umständen ist die sich ergebende Nachfragekurve stark preiselastisch, etwa in Bereichen, in denen der Konsument viel für ein bestimmtes Gut ausgibt, dieses jedoch problemlos substituiert werden kann. In diesem Fall ist sowohl der Einkommensals auch der Substitutionseffekt stark ausgeprägt, und die nachgefragte Menge reagiert auf Preiserhöhungen sehr empfindlich. Aber stellen Sie sich eine Ware wie Salz vor, die nur einen sehr geringen Teil des Budgets der Konsumenten in Anspruch nimmt. Salz lässt sich nicht so einfach durch andere Güter ersetzen und wird in kleinen Mengen als Ergänzung wichtigerer Güter gebraucht. Bei Salz sind sowohl die Einkommens- als auch die Substitutionseffekte gering, und die Nachfrage ist eher preisunelastisch. Berechnung der Einkommenselastizität Nehmen wir an, Sie wären ein Stadtplaner in Santa Fe, New Mexico, und die zunehmende Nachfrage nach Wasser der Haushalte in dieser trockenen Region würde Ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Sie lassen daher Umfragen durchführen und erhalten für das Jahr 2000 folgende Daten: Die Einwohnerzahl beträgt 62.000 Personen; das prognostizierte Bevölkerungswachstum beträgt 20 Prozent alle zehn Jahre; der jährliche Wasserverbrauch pro Kopf betrug im Jahr 2000 1.000 Gallonen; die Pro-KopfEinkommen sollen Prognosen zufolge im nächsten Jahrzehnt um 25 Prozent steigen, und die Einkommenselastizität des ProKopf-Verbrauchs an Wasser beträgt 0,50. Sie schätzen daher den Wasserbedarf für 2010 (bei unveränderten Preisen) wie folgt ein:
138
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
$ 10
Teil 2
(a) Smiths Nachfrage
(b) Browns Nachfrage
(c) Ihre kombinierte Nachfrage
P
P
P
d1
$ 10
$ 10
D
d2
a1
1
$5
2
Preis
$5
Preis
Preis
Marktnachfragekurve a2
$5
1
2
A = a1+ a2
D
d2 d1 0
1
2 3 Menge1
q1
0
1
2 3 Menge2
4
q2
0
1
5 2 3 4 Gesamtmenge
6
Q = q1+q2
Abbildung 5-2: Ableitung der Marktnachfrage von der Einzelnachfrage Wir addieren nun die Nachfragekurven aller Einzelkonsumenten und erhalten so die Marktnachfragekurve. Bei jedem Preis, wie etwa bei US-$ 5, addieren wir die von jeder Person nachgefragten Mengen, um die nachgefragte Marktmenge zu erhalten. Die Abbildung zeigt, wie wir bei einem Preis von US-$ 5 Smiths nachgefragte 1 Einheit und Browns 2 Einheiten addieren, um die Marktnachfrage von 3 Einheiten zu erhalten. Wasserverbrauch 2010 = Einwohnerzahl im Jahr 2000 x Bevölkerungswachstumsfaktor x Wasserverbrauch pro Kopf x [1 + (Einkommenszwachs Einkommenselastizität)] = 62.000 x 1,2 1.000 x (1 + 0,25 x 0,50) = 83.700.000 Anhand dieser Daten prognostizieren Sie zwischen 2000 und 2010 eine Zunahme des gesamten Wasserverbrauchs der Haushalte um 35 Prozent.
Von der individuellen Nachfrage zur Marktnachfrage Nachdem wir die Prinzipien analysiert haben, die der Nachfrage des Einzelnen nach Kaffee oder E-Mail zugrunde liegen, wollen wir als Nächstes untersuchen, wie sich die Gesamtnachfrage eines Marktes aus der Nachfrage der einzelnen Konsumenten ableitet. Die
Nachfragekurve eines Gutes für den gesamten Markt ergibt sich durch Summierung der einzelnen von allen Konsumenten nachgefragten Mengen. Jedem Konsumenten lässt sich eine Nachfragekurve zuordnen, entlang derer die zum jeweiligen Preis nachgefragte Menge eingetragen werden kann. Im Allgemeinen ist diese Kurve abwärts und nach rechts geneigt. Wäre die Nachfrage aller Konsumenten absolut gleich und gäbe es eine Million Konsumenten, müssten wir uns die Marktnachfragekurve als millionenfache Vergrößerung der Nachfragekurve jedes einzelnen Konsumenten vorstellen. Aber die Menschen sind nicht alle ganz gleich. Manche haben ein hohes Einkommen, andere verdienen nur wenig. Manche sind ganz verrückt nach Kaffee, während andere doch lieber zu Cola greifen. Um die Kurve für den gesamten Markt ermitteln zu können, brauchen wir nur die Gesamtsumme dessen zu berechnen, was all die einzelnen Konsumenten zu einem gegebenen Preis
139
Nachfrage und Konsumverhalten
nachfragen werden. Wir tragen anschließend diese Gesamtsumme als einen Punkt auf der Marktnachfragekurve ein. Wenn wir wollen, können wir auch eine numerische Nachfragetabelle anfertigen, indem wir die von allen Einzelpersonen zu jedem gegebenen Marktpreis nachgefragten Mengen summieren.6 Die Marktnachfragekurve ist die Summe der Einzelnachfragen zu jedem Preis. Abbildung 5-2 zeigt, wie die einzelnen Nachfragekurven dd horizontal zu addieren sind, um die Marktnachfragekurve DD zu erhalten.
Nachfrageverschiebungen Wir wissen, dass Preisänderungen bei Kaffee Auswirkungen auf die nachgefragte Kaffeemenge haben. Wir können dies aus Budgetstudien, aus unserer Erfahrung und aus der Beobachtung unseres eigenen Verhaltens ableiten. In Kapitel 3 haben wir einige der wichtigen nicht preisbestimmten Einflussfaktoren auf die Nachfrage kurz besprochen. Nun wollen wir diese frühere Diskussion im Lichte unserer Analyse des Konsumentenverhaltens neu aufnehmen. Eine Einkommenssteigerung erhöht im Allgemeinen die Menge, die wir von den meisten Gütern zu kaufen gewillt sind. Lebensnotwendige Güter sind davon allerdings weniger betroffen als die meisten anderen Güter; die Nachfrage nach Luxusgütern steigt hingegen überdurchschnittlich. Zusätzlich gibt es einige Güter, die ein anormales Verhalten zeigen. Sie werden als inferiore Güter bezeichnet, deren Kaufmenge bei steigenden Einkommen sinken kann, weil die Leute es sich nun leisten können, sie durch andere, als besser empfundene Güter zu ersetzen. Suppenknochen, Busreisen zwischen Städten und Schwarzweiß-Fernsehgeräte sind für viele Amerikaner von heute Beispiele inferiorer Güter. 6 Hier und in anderen Kapiteln verwenden wir für die individuellen Nachfrage- und Angebotskurven Kleinbuchstaben (dd und ss) und für die Marktnachfrage- und -angebotskurven Großbuchstaben (DD und SS).
P D″ D
Preis
Kapitel 5
D′
A
A′
A″
D″ 0
D Menge
D′ Q
Abbildung 5-3: Die Nachfragekurve verschiebt sich bei Änderungen des Einkommens oder der Preise anderer Güter Wenn die Einkommen steigen, wollen die Konsumenten normalerweise mehr von einem Gut kaufen und erhöhen dadurch die Nachfrage oder verschieben sie nach außen. (Erklären Sie, warum höhere Einkommen DD nach D'D' verschieben). In ähnlicher Weise erhöht oder verschiebt ein Anstieg des Preises eines Substitutionsgutes die Nachfragekurve (z.B. von DD nach D'D'). Erklären Sie, warum ein verringertes Einkommen die Nachfrage im Allgemeinen nach D“D“ verschiebt! Warum würde ein Sinken der Hähnchenpreise die Hamburgernachfrage nach D'D' verschieben?
Was bedeutet das in Bezug auf die Nachfragekurve? Die Nachfragekurve erklärt ja, wie die nachgefragte Menge eines Gutes auf eine Preisänderung reagiert. Zusätzlich wirken sich auf die Nachfrage auch noch die Preise anderer Güter, die Einkommen der Konsumenten und spezifische Einflussfaktoren aus. Die Nachfragekurve wurde unter der Annahme erstellt, dass alle diese anderen Faktoren konstant bleiben (ceteris paribus). Was aber, wenn sich diese anderen Einflussfaktoren ebenfalls ändern? Dann verschiebt sich die gesamte Nachfragekurve nach rechts oder nach links. Abbildung 5-3 zeigt Veränderungen jener Faktoren, die sich auf die Nachfrage auswirken. Bei gegebenen Einkommen und Preisen für andere Güter können wir die Nachfragekurve für Kaffee als DD einzeichnen. Nehmen wir an, Preis und Menge befinden sich in
140
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Punkt A. Angenommen, die Einkommen steigen, während die Preise für Kaffee und andere Güter unverändert bleiben. Da Kaffee ein normales Gut mit einer positiven Einkommenselastizität ist, werden die Leute mehr Kaffee kaufen. Die Nachfragekurve für Kaffee wird sich daher nach rechts verschieben, sagen wir nach D'D', wobei A' die nun nachgefragte Kaffeemenge darstellt. Sollten die Einkommen sinken, müssten wir mit einem Rückgang der Nachfrage und der gekauften Menge rechnen. Diese Abwärtsbewegung illustrieren wir durch D''D'' und A''.
Substitutionsund Komplementärgüter Jedermann weiß, dass eine Preiserhöhung bei Rindfleisch die Nachfrage nach dieser Fleischart dämpft. Wir haben aber gesehen, dass sich ein Preisanstieg auch auf die Nachfrage nach anderen Gütern auswirkt. So erhöht beispielsweise ein höherer Rindfleischpreis die Nachfrage nach Substitutionsgütern wie Hähnchen. Ein höherer Rindfleischpreis kann die Nachfrage nach Gütern wie Hamburgerbrötchen und Ketchup verringern, die häufig zusammen mit Hamburgern – für die Rindfleisch verwendet wird – verzehrt werden. Aller Voraussicht nach wird er aber kaum Auswirkungen auf die Nachfrage nach Lehrbüchern der Volkswirtschaft haben. Wir sagen daher, dass Rindfleisch und Hähnchen Substitutionsgüter sind. Die Güter A und B sind Substitutionsgüter, wenn eine Preiserhöhung bei Gut A die Nachfrage nach dem Substitutionsgut B erhöht. Hamburger und Hamburgerbrötchen oder Autos und Benzin sind jedoch Komplementärgüter. Sie werden deshalb als komplementär bezeichnet, weil eine Preiserhöhung bei A zu einem Nachfragerückgang bei B führt. Dazwischen liegen die unabhängigen Güter, etwa Rindfleisch und Lehrbücher, wo eine Preisänderung bei A keinerlei Auswirkungen auf B hat. Versuchen Sie nun, die Güterpaare Rehbraten und Preiselbeeren, Heizöl und Kohle, College und
Teil 2
Lehrbücher, Schuhe und Schuhbänder, Salz und Schuhbänder einzuordnen. Nehmen wir einmal an, Abbildung 5-3 beziehe sich auf die Nachfrage nach Rindfleisch. Ein Preissturz bei Hähnchen kann sich durchaus so auswirken, dass die Konsumenten weniger Rindfleisch kaufen. Die Rindfleisch-Nachfragekurve würde sich damit nach links, sagen wir nach D''D'' verschieben. Aber was, wenn der Preis von Hamburgerbrötchen sinkt? Die daraus resultierende Veränderung von DD, sofern eine solche eintreten sollte, läge in Richtung zunehmender Rindfleischkäufe, das heißt, einer Rechtsverschiebung der Nachfragekurve. Warum diese völlig unterschiedliche Reaktion? Weil Hähnchen ein Konkurrenz- oder Substitutprodukt für Rindfleisch ist, während Hamburgerbrötchen Ergänzungs- oder Komplementärprodukte von Rindfleisch sind. Zusammenfassung der Schlüsselbegriffe: • Der Substitutionseffekt tritt ein, wenn ein höherer Preis zur Substitution der Güter, deren Preis gestiegen ist, durch andere Güter führt. • Der Einkommenseffekt ist die Veränderung der von einem Gut nachgefragten Menge, weil die Änderung des Preises dieses Guts eine Veränderung des Realeinkommens eines Konsumenten bewirkt. • Die Einkommenselastizität ist die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge eines Gutes dividiert durch die prozentuale Änderung des Einkommens. • Güter sind Substitute, wenn eine Preiserhöhung bei einem Gut die Nachfrage nach dem anderen verstärkt. • Güter sind Ergänzungsprodukte, wenn eine Preiserhöhung bei einem Gut die Nachfrage nach dem anderen senkt. • Güter sind unabhängig, wenn eine Preisänderung bei einem Gut keine Auswirkungen auf die Nachfrage nach dem anderen Gut hat.
Kapitel 5
141
Nachfrage und Konsumverhalten
Empirische Schätzungen von Preis- und Einkommenselastizität In zahlreichen Anwendungsbeispielen der Volkswirtschaftslehre kommt es darauf an, eine numerische Schätzung der Preiselastizität vorzunehmen. So möchte beispielsweise ein Autohersteller beurteilen können, welche Auswirkungen höhere Neuwagenpreise durch den Einbau kostspieliger Abgaskontrollanlagen auf die Nachfrage haben. Ein College muss einfach wissen, wie sich höhere Studiengebühren auf die Zahl der Studienanfänger auswirken werden. Und ein Herausgeber muss die Folgen von Preiserhöhungen bei Lehrbüchern für seine Verkaufszahlen errechnen. Alle diese Anwendungen erfordern eine numerische Schätzung der Preiselastizität. Ähnliche Entscheidungen hängen auch von der Einkommenselastizität ab. Ein Staat, der sein Straßen- oder Eisenbahnnetz plant, muss die Auswirkungen steigender Einkommen auf den Autoverkehr abschätzen; er muss berücksichtigen, wie sich höhere Einkommen auf den Energieverbrauch auswirken, wenn er Maßnahmen gegen Luftverschmutzung oder gegen den Treibhauseffekt plant; oder wenn ermittelt wird, welche Investitionen in Stromnetz und Energieversorgung zu tätigen sind, müssen zuvor die Einkommenselastizitäten zur Schätzung des Stromverbrauchs bekannt sein. Ökonomen haben sehr nützliche statistische Techniken entwickelt, um Preis- und Einkommenselastizitäten zu ermitteln. Die quantitativen Schätzungen leiten sich von Marktdaten über nachgefragte Mengen, Preise, Einkommen und andere Variablen ab. Die Tabellen 5-2 und 5-3 zeigen einige ausgewählte Schätzungen von Elastizitäten.
Die Ökonomie der Suchtmittel In einer freien Marktwirtschaft überlässt die Regierung den Bürgern die Entscheidung darüber, was sie mit ihrem Geld kaufen wollen. Wenn einige teure Autos kaufen wollen,
Gut Tomaten Grüne Erbsen Staatliches Glücksspiel Taxifahrten Möbel Kinofilme Schuhe Rechtsanwaltsdienste Krankenversicherung Busfahrten Haushaltsstrom
Preiselastizität 4,60 2,80 1,90 1,24 1,00 0,87 0,70 0,61 0,31 0,20 0,13
Tabelle 5-2: Ausgewählte Schätzungen der Preiselastizität der Nachfrage Schätzungen der Preiselastizität der Nachfrage variieren stark. Die Elastizität ist normalerweise bei Gütern, für die es jederzeit problemlos Ersatz, also Substitutionsgüter gibt, hoch, wie zum Beispiel bei Tomaten oder Erbsen. Eine geringe Preiselastizität zeichnet hingegen Güter wie elektrischen Strom aus, die wir im täglichen Leben brauchen und für die es keinen einfachen Ersatz gibt. Quelle: Heinz Kohler, Microeconomics: Theory and Applications (Heath, Lexington, Mass., 1992).
während andere Wert auf luxuriöse Häuser legen, unterstellen wir, dass sie selbst wissen, was am besten für sie ist, und dass die Regierung ihre Präferenzen im Interesse der persönlichen Freiheit respektieren sollte. In einigen Fällen, wenn auch selten und mit großer Zurückhaltung, besteht die Regierung darauf, Erwachsene in ihrer Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Dabei handelt es sich um Fälle von meritorischen Gütern, deren Konsum an sich für wünschenswert erachtet wird, und um das Gegenteil, demeritorische Güter, deren Konsum als schädlich gilt. Bei diesen Gütern schreiben wir bestimmten Konsumaktivitäten so schwerwiegende Auswirkungen zu, dass es wünschenswert erscheint, die privaten Entscheidungen des Einzelnen außer Kraft zu setzen. Heute bieten die meisten Gesellschaften ihren Bürgern kostenlose Bildung und medizinische Notfallbetreuung an; andererseits bestraft
142
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Gut
Einkommenselastizität
Autos
2,46
Wohneigentum
1,49
Möbel
1,48
Bücher
1,44
Mahlzeiten im Restaurant
1,40
Kleidung
1,02
Ärztliche Dienstleistungen
0,75
Tabak
0,64
Eier
0,37
Margarine
–0,20
Schweinefleischprodukte
–0,20
Mehl
–0,36
Tabelle 5-3: Einkommenselastizitäten ausgewählter Produkte Luxusgüter, deren Verbrauch mit zunehmendem Einkommen rasant ansteigt, weisen eine hohe Einkommenselastizität auf. Eine negative Einkommenselastizität kennzeichnet im Gegensatz dazu „inferiore Güter“, bei denen die Nachfrage mit steigendem Einkommen sinkt. Die Nachfrage nach vielen Gütern des alltäglichen Bedarfs wie Kleidung steigt proportional mit dem Einkommen. Quelle: Heinz Kohler, Microeconomics: Theory and Applications (Heath, Lexington, Mass., 1992).
oder verbietet die Gesellschaft auch den Konsum schädlicher Substanzen, wie sie in Zigaretten, Alkohol und Rauschmitteln wie Heroin enthalten sind. Einer der umstrittensten Fälle demeritorischer Güter betrifft Suchtmittel. Ein Suchtmittel ist eine Substanz, bei der der Konsum den Wunsch nach weiterem Konsum erzeugt. Starke Raucher und Heroinsüchtige mögen den Erwerb ihrer Gewohnheit bitter bereuen. Aber eine Sucht macht es dem Betroffenen ihrer Natur nach schwer, die einmal erworbene Gewohnheit abzulegen. Bei Personen, die regelmäßig Zigaretten rauchen oder Heroin konsumieren, ist es viel wahrscheinlicher als bei anderen Personen, dass sie nach diesen Substanzen verlangen. Die Nachfrage ist bei
Teil 2
starken Suchtmitteln sehr preisunelastisch. Im Vergleich dazu hängt die heutige Nachfrage nach konventionellen Gütern weniger stark von gestrigen Konsummustern ab. Auf den Suchtmittelmärkten werden beträchtliche Umsätze erzielt. Die Konsumentenausgaben für Tabakprodukte beliefen sich 2002 in den Vereinigten Staaten auf US-$ 76 Milliarden, während die Gesamtausgaben für Alkoholika US-$ 126 Milliarden betrugen. Die entsprechenden Zahlen für illegale Drogen sind weniger gesichert, doch belaufen sich die Ausgaben für diese Substanzen aktuellen Schätzungen zufolge in den USA auf rund US-$ 65 Milliarden jährlich. Der Konsum dieser Substanzen wirft schwerwiegende politische Probleme auf, denn wie allgemein bekannt ist, können Suchtmittel die Gesundheit ihrer Konsumenten beeinträchtigen und Kosten und Schäden für die Gesellschaft verursachen. So fordern Suchtmittel jährlich ca. 450.000 vorzeitige Todesfälle – abgesehen von den vielfältigen gesundheitlichen Problemen, die dem Rauchen zuzuschreiben sind. Zehntausend tödliche Autounfälle jährlich sind auf den Einfluss von Alkohol zurückzuführen, nicht zu reden von Versagen in Schule, Arbeit und Familie oder den hohen HIV-Infektionsraten durch intravenöse Heroinverabreichung. Zu den Schäden für die Gesellschaft gehören Eigentumsdelikte, die die Benutzer stark süchtig machender, teurer Drogen begehen; die medizinischen Versorgungskosten von Konsumenten von Drogen, Zigaretten oder Tabak; die rasante Verbreitung ansteckender Krankheiten, vor allem von AIDS und Lungenentzündung, und die Tendenz Süchtiger, neue Benutzer mit ihrem Laster anzustecken. Ein politischer Ansatz, der in den Vereinigten Staaten oft verfolgt wird, besteht darin, Verkauf und Verwendung von Suchtmitteln zu verbieten und das Verbot mit strafrechtlichen Maßnahmen zu verstärken. Aus wirtschaftlicher Sicht kann das Verbot als scharfer Anstieg der Angebotskurve interpretiert werden. Nach der Verschiebung der Angebotskurve nach oben ist der Preis des Suchtmittels viel höher. Während der Prohibition (1920–1933)
Kapitel 5
Nachfrage und Konsumverhalten
waren die Alkoholpreise ca. drei Mal so hoch wie zuvor. Schätzungen zufolge wird Kokain heute für mindestens das Zwanzigfache seines freien Marktpreises verkauft. Welche Auswirkungen haben Angebotsbeschränkungen auf den Konsum von Suchtmitteln? Und welchen Einfluss hat das Verbot auf die Verletzungen, die die Süchtigen sich selbst und der Gesellschaft zufügen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns mit der Natur der Nachfrage nach Suchtmitteln befassen. Allem Anschein nach stehen Gelegenheitskonsumenten illegaler Drogen billige Substitute wie Alkohol und Tabak zur Verfügung, sodass bei ihnen die Preiselastizität der Nachfrage relativ hoch ist. Im Gegensatz dazu sind hart gesottene Benutzer oft nach bestimmten Substanzen süchtig, sodass ihre Nachfrage preisunelastisch ist. D
Drogenpreis
Pillegal
B S′ (illegale Drogen)
A S′
Plegal
S (legale Drogen)
H
C S
0
F
G
D
Drogenmenge
Abbildung 5-4: Suchtmittelnachfrage stark süchtiger Konsumenten Die Suchtmittelnachfrage stark abhängiger Konsumenten von Drogen wie Heroin ist preisunelastisch. Wenn ein Verbot das Angebot daher von SS nach S'S' verschiebt, werden die Gesamtausgaben für Drogen von 0HCG auf 0ABF steigen. Bei stark preisunelastischen Drogen bedeutet das, dass die Ausgaben für Drogen bei eingeschränktem Angebot steigen. Wie sieht es nach einem Verbot mit den kriminellen Aktivitäten aus, wenn die Süchtigen einen erheblichen Anteil ihres Einkommens durch Diebstahl erzielen? Können Sie erkennen, warum manche Menschen milderen Drogengesetzen oder in diesem Fall sogar einer Legalisierung das Wort reden?
143 Ein mögliches Ergebnis wird in Abbildung 5-4 gezeigt. Hier sehen Sie die Auswirkungen der Abkehr von der Drogenlegalisierung oder -entkriminalisierung und des Übergangs zum Drogenverbot, die das Angebot für eingefleischte Konsumenten eines stark süchtig machenden Rauschgifts wie Heroin von SS auf S'S' verknappen. In diesem Fall ist die Nachfrage hochgradig preisunelastisch. Infolge der Verschiebung des Angebots und der Preiserhöhung steigen die Gesamtausgaben für Drogen stark an. Die Ausgaben für solche Drogen können so hoch sein, dass die Konsumenten in die Beschaffungskriminalität abdriften. Das Ergebnis ist nach Meinung zweier Ökonomen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, dass „der Markt für illegale Drogen die Kriminalität fördert, die Stadtzentren zerstört, für die Verbreitung von AIDS sorgt, Exekutivorgane und Politiker korrumpiert, Armut erzeugt und verschlimmert und den moralischen Zusammenhalt der Gesellschaft unterminiert.“7 Andere argumentieren, dass der Drogengebrauch hochgradig preissensibel ist, vor allem bei Gelegenheitskonsumenten, wie in Abbildung 5-5 gezeigt. So könnte ein Teenager mit einem Suchtmittel experimentieren, wenn er es sich leisten kann, während ein hoher Preis (in Verbindung mit Knappheit) ihn kaum in Richtung Sucht dirigieren würde. In diesem Fall sind Angebotsbeschränkungen geeignet, den Konsum, aber auch die Ausgaben für Suchtmittel stark zu reduzieren. Eines der größten Probleme bei der Regulierung des Suchtmittelkonsums entsteht durch die Substitutionsmuster dieser Produkte. Viele Drogen sind eher enge Substitute, als dass sie einander ergänzen. Folglich, so warnen Experten, könnte der Preisanstieg einer Substanz Konsumenten dazu bewegen, auf andere schädliche Substanzen umzusteigen. So konsumieren Jugendliche in Staaten, in denen der Konsum von Marihuana strafrechtlich geahndet wird, mehr Alkohol und Tabak. 7 Siehe Miron und Zwiebel im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
144
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Das Wertparadoxon
S′ (illegale Drogen) D
Drogenpreis
Pillegal
A
S′
B
S (legale Drogen) Plegal
C
H S
0
Vor mehr als zwei Jahrhunderten beschrieb Adam Smith in seinem Buch Der Reichtum der Nationen das Wertparadoxon:
F
G
D
Suchtmittelmenge
Abbildung 5-5: Suchtmittelnachfrage stark abhängiger Konsumenten Im Fall von Gelegenheitskonsumenten (Personen, die nicht süchtig sind oder die problemlosen Zugang zu Substitutionsprodukten haben) kann die Nachfrage ziemlich elastisch sein. In diesem Fall haben Beschränkungen oder Preissteigerungen erhebliche Auswirkungen auf den Verbrauch. Da die Nachfrage darüber hinaus preiselastisch ist, gehen die Gesamtausgaben für Drogen von 0HCG auf 0ABF zurück. Das unterstreicht die Argumentation jener, die für eine starke Beschränkung der Verfügbarkeit von Suchtmitteln eintreten.
Es liegt also auf der Hand, dass die Suchtmittelpolitik extrem komplexe Fragen aufwirft. Doch liefert die Wirtschaftstheorie der Nachfrage einige wichtige Erkenntnisse, was die Auswirkungen alternativer Ansätze anbelangt. Erstens argumentiert sie, dass das Anheben der Preise von Suchtmitteln die Zahl der Gelegenheitskonsumenten reduzieren kann, die vom Markt angelockt werden. Zweitens weist sie uns darauf hin, dass viele der negativen Folgen illegaler Drogen vom Verbot von Suchtmitteln und nicht von ihrem Konsum an sich herrühren. Viele aufmerksame Beobachter kommen zu dem paradoxen Schluss, dass die allgemeinen Kosten von Suchtmitteln – für die Konsumenten, für andere Personen und für die verwüsteten Stadtzentren, in denen der Drogenhandel floriert – niedriger wären, wenn die staatlichen Verbote gelockert und die finanziellen Mittel, die derzeit in Angebotsbeschränkungen fließen, statt dessen in Behandlung und Beratung investiert würden.
Nichts ist nützlicher als Wasser; aber man kann damit kaum etwas kaufen. Ein Diamant hingegen hat kaum einen Gebrauchswert; doch wird er bereitwillig gegen eine Vielzahl anderer Güter eingetauscht.
Anders ausgedrückt: Wie kommt es, dass Wasser, das lebenswichtige Elixier, so wenig Wert hat, während für Diamanten, die normalerweise nur zum Vorzeigen verwendet werden, ein Vermögen bezahlt wird? Während Adam Smith dieses Paradoxon vor 200 Jahren beschäftigte, können wir uns einen Dialog zwischen einem wissbegierigen Studenten und einem Adam Smith unserer Tage wie folgt vorstellen: Student: Wie können wir das Wertparadoxon lösen? Der moderne Smith: Die einfachste Antwort ist, dass sich die Angebots- und Nachfragekurven für Wasser bei einem sehr niedrigen Preis schneiden, während Angebot und Nachfrage bei Diamanten einen sehr hohen Gleichgewichtspreis ergeben. Student: Aber Sie haben immer gelehrt, mehr in Erwägung zu ziehen als nur die Kurven. Warum schneiden einander Angebot und Nachfrage bei Wasser bei einem so niedrigen und bei Diamanten bei einem so hohen Preis? Der moderne Smith: Die Antwort lautet, dass Diamanten sehr selten sind und dass die Kosten für den Gewinn neuer Steine außerordentlich hoch sind, während Wasser relativ häufig vorkommt und in vielen Gegenden dieser Erde nur wenig kostet. Student: Aber wo bleibt in diesem Bild der Nutzen?
Kapitel 5
Nachfrage und Konsumverhalten
Der moderne Smith: Sie haben Recht, dass diese Antwort das Kostenargument noch immer nicht mit der ebenso gültigen Tatsache in Einklang bringt, dass die weltweiten Wasserressourcen um ein Vielfaches wichtiger sind als die weltweiten Diamantenvorkommen. Deshalb müssen wir Ausschau nach einer zweiten Wahrheit halten: Der Gesamtnutzen des Wassers bestimmt nicht seinen Preis oder seine Nachfrage. Der Wasserpreis wird vielmehr durch seinen Grenznutzen bestimmt; durch die Nützlichkeit des letzten Glases Wasser. Da es so viel Wasser gibt, ist dieses letzte Glas schon sehr günstig zu haben. Obwohl die ersten Tropfen so unendlich viel wert sind wie das Leben selbst, werden die letzten Tropfen nur dazu benötigt, um den Rasen zu sprengen oder das Auto zu waschen. Student: Jetzt habe ich verstanden. Das volkswirtschaftliche Wertkonzept ist ganz leicht zu begreifen, wenn man sich vorstellt, dass in der Volkswirtschaft der Schwanz mit dem Hund wedelt. Der Schwanz des Grenznutzens wedelt mit dem Hund der Preise und Mengen. Der moderne Smith: Genau! Wir stellen also fest, dass ein immens wertvolles Gut wie Wasser für einen Pappenstiel verkauft wird, weil der letzte Wassertropfen auch nur einen Pappenstiel wert ist. Wir können diesen Dialog wie folgt wiedergeben: Je mehr es von einem Gut gibt, desto geringer wird die letzte Einheit dieses Gutes geschätzt. Es ist daher offensichtlich, warum Wasser einen geringen Preis erzielt und warum etwas absolut Lebensnotwendiges wie Luft überhaupt ein freies Gut sein kann. In beiden Fällen sind es die großen vorhandenen Mengen, die den Grenznutzen derart nach unten drücken und so den Preis dieser lebenswichtigen Güter niedrig halten.
Konsumentenrente Das oben ausgeführte Wertparadoxon unterstreicht, dass der ausgewiesene Geldwert ei-
145 nes Gutes (gemessen als Preis Menge) als Indikator für den wirtschaftlichen Gesamtwert dieses Gutes äußerst irreführend sein kann. Der gemessene wirtschaftliche Wert der Luft, die wir einatmen, ist null, und doch ist der Beitrag, den die Luft zu unserem Wohlbefinden leistet, unschätzbar groß. Die Kluft zwischen dem Gesamtnutzen eines Gutes und seinem gesamten Marktwert wird als Konsumentenrente bezeichnet. Dieser „Gewinn“ entsteht, weil wir infolge des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens „mehr bekommen, als wir bezahlen“. Die Konsumentenrente existiert vor allem deshalb, weil wir für jede Einheit eines Gutes, das wir kaufen, denselben Betrag bezahlen, von der ersten bis zur letzten Einheit. Wir bezahlen für jedes Ei oder jedes Glas Wasser denselben Preis. Deshalb kostet uns jede Einheit eigentlich genau so viel, wie die letzte Einheit wert ist. Aber wegen des fundamentalen Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens sind die ersten Einheiten für uns mehr wert als die letzten. Wir genießen daher bei jeder dieser früheren Einheiten einen Gewinn. Abbildung 5-6 veranschaulicht das Konzept der Konsumentenrente in dem Fall, dass der Nutzen in Geldeinheiten gemessen werden kann. Hier konsumiert jemand Wasser, das pro Gallone US-$ 1 kostet. Gezeigt wird das durch die horizontale rostfarbene Linie bei US-$ 1. Der Konsument überlegt, wie viele Gallonen er zu diesem Preis kaufen soll. Die erste Gallone ist sehr viel wert, da sie seinen extremen Durst stillt, und der Konsument wäre sogar bereit, US-$ 9 für sie zu bezahlen. Doch diese erste Gallone kostet nur den Marktpreis von US-$ 1, also hat der Konsument einen Gewinn von US-$ 8 erzielt. Betrachten wir die Sache anhand der zweiten Gallone. Sie wäre dem Konsumenten US$ 8 wert, aber auch sie kostet nur US-$ 1, der Gewinn beträgt US-$ 7. Und so fort bis zur neunten Gallone, die dem Konsumenten nur noch 50 Cent wert ist und die er daher nicht kauft. Das Konsumgleichgewicht stellt sich bei Punkt E ein, jenem Punkt, an dem
146
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
bildung 5-7 ist die horizontale Summierung der einzelnen Nachfragekurven. Die Logik der einzelnen Konsumentenrenten überträgt sich auf den Markt als Ganzes. Der Bereich der Marktnachfragekurve über der Preislinie, in Abbildung 5-7 NER, stellt den gesamten Zusatznutzen für den Konsumenten dar.
Konsumentenrente für einen einzelnen P
9 8 Nachfragekurve des Konsumenten nach Wasser
6 5 4 3
Wasserpreis
2 E
0
1
2
3 4 5 6 Wassermenge
7
8
9
Da die Konsumenten für alle konsumierten Einheiten nur den Preis der letzten Einheit bezahlen, erzielen sie einen Nutzengewinn gegenüber den Kosten. Die Konsumentenrente entspricht dem zusätzlichen Wert, den die Konsumenten gegenüber dem Preis erzielen, den sie für ein Wirtschaftsgut bezahlt haben.
q
Abbildung 5-6: Aufgrund des abnehmenden Grenznutzens ist die Kundenzufriedenheit größer, als dem bezahlten Betrag entsprechen würde Die sinkende Nachfrage nach Wasser spiegelt den abnehmenden Grenznutzen von Wasser wider. Bitte beachten Sie, wie viel zusätzliche Zufriedenheit oder Konsumentenrente sich aus den früheren Einheiten ergibt. Addiert man sämtliche grauen Konsumentenrenten (US-$ 8 für Einheit 1 + US-$ 7 für Einheit 2 + … + US-$ 1 für Einheit 8), so erhält man die gesamte Konsumentenrente von US-$ 36 für Wasserkäufe. Im dargestellten vereinfachten Fall stellt der Bereich zwischen der Nachfragekurve und der Preiskurve die gesamte Konsumentenrente dar.
8 Gallonen Wasser zum Preis von jeweils US$ l gekauft werden. An dieser Stelle machen wir jedoch eine wichtige Entdeckung: Obwohl der Konsument insgesamt nur US-$ 8 bezahlt hat, beträgt der Gesamtwert des Wassers US-$ 44. Dieser Wert ergibt sich durch Addition der Grenznutzen (= $ 9 + $ 8 ... + $ 2). Der Konsument kann sich daher über einen Gewinn von US-$ 36 gegenüber dem bezahlten Betrag freuen. Abbildung 5-6 untersucht den Fall eines einzelnen Konsumenten, der Wasser kauft. Wir können das Konzept der Konsumentenrente aber auch auf den Markt als Ganzes anwenden. Die Marktnachfragekurve in Ab-
Konsumentenrente für einen Markt P Preis und Grenznutzen von Wasser (gemessen in Dollar)
Preis und Grenznutzen von Wasser (gemessen in Dollar)
10
7
Teil 2
$9
R D
8 7 6 5 4
Konsumentenrente
3 2
P= $ 1 0
Wasserpreis
N
E Gesamte Einkäufe
M
D Q
Wassermenge
Abbildung 5-7: Die gesamte Konsumentenrente ist der Bereich unter der Nachfragekurve und über der Preislinie Die Nachfragekurve misst, wie viel die Konsumenten freiwillig für jede konsumierte Einheit bezahlen würden. Daher zeigt der gesamte Bereich unter der Nachfragekurve (0REM) den Gesamtnutzen aus dem Konsum von Wasser. Indem man die Marktkosten des Wassers für die Konsumenten (entsprechend 0NEM) subtrahiert, erhält man die Konsumentenrente aus dem Wasserkonsum in Form des grauen Dreiecks NER. Diese Methode ist für die Messung des Nutzens öffentlicher Güter und der Verluste aus Monopolen und Importzöllen überaus nützlich.
Kapitel 5
Nachfrage und Konsumverhalten
Anwendungsmöglichkeiten der Konsumentenrente Das Konzept der Konsumentenrente kann uns helfen, zahlreiche staatliche Entscheidungen zu bewerten. Wie kann der Staat beispielsweise zu einer Entscheidung über den Wert einer neuen Autobahn oder der Bewahrung eines Erholungsortes gelangen? Nehmen wir an, der Bau einer neuen Autobahn wird vorgeschlagen. Da jeder sie gebührenfrei benützen kann, wird sie keine Einnahmen erbringen. Der Wert für die Nutzer ergibt sich durch die Zeitersparnis oder durch vermehrte Sicherheit und lässt sich als Zusatznutzen (Konsumentenrente) des einzelnen Konsumenten messen. Um schwierigeren Problemen des Nutzenvergleichs zwischen verschiedenen Personen aus dem Weg zu gehen, begnügen wir uns mit der Annahme, es gäbe 10.000 Nutzer, die in jeder Hinsicht absolut identisch sind. Nehmen wir an, dass die individuelle Konsumentenrente für die Autobahn US-$ 350 beträgt. Die Autobahn hebt den wirtschaftlichen Wohlstand der Konsumenten, wenn ihre Gesamtkosten unter US-$ 3,5 Millionen liegen (10.000 $ 350). Ökonomen verwenden die Konsumentenrente, wenn sie eine Kosten-Nutzen-Analyse durchführen, bei der versucht wird, die Kosten und Nutzen eines Regierungsprogramms zu ermitteln. Üblicherweise empfehlen Ökonomen, eine gebührenfrei benutzbare Straße zu bauen, sofern ihre gesamte Konsumentenrente die Kosten übersteigt. Ähnliche Analysen und Berechnungen werden in der Umweltpolitik angewendet, beispielsweise zur Beurteilung der Frage, ob man Naturschutzgebiete zur Erholung erhalten oder neue Umweltauflagen vorschreiben soll.
147 Das Konzept der Konsumentenrente weist uns auch auf das enorme Privileg hin, das wir als Bürger moderner Gesellschaften genießen. Jeder von uns kann eine große Menge äußerst wertvoller Güter nutzen, die er zu günstigen Preisen kaufen kann. Diese Erkenntnis macht sehr bescheiden. Wenn Sie jemanden kennen, der mit seiner wirtschaftlichen Produktivität prahlt oder mit seinem Realeinkommen auftrumpft, sollten Sie ihm einen Augenblick des Innehaltens ans Herz legen. Was könnte er mit seinem Gehalt kaufen, wenn man ihn mit seinen spezialisierten Fähigkeiten auf einer unbewohnten Wüsteninsel aussetzte? Noch genauer gefragt: Was könnte irgendjemand von uns kaufen, gäbe es die Ausrüstungsgüter, die Zusammenarbeit mit anderen und das technische Wissen nicht, das jede Generation von den früheren Generationen erbt? Wenn wir über diese Frage nachdenken, wird nur allzu deutlich, dass wir von einer ökonomischen Welt profitieren, die wir nicht geschaffen haben. Wie es der große britische Soziologe L.T. Hobhouse einmal ausgedrückt hat: Der Industriekapitän, der meint, er habe seine Karriere und sein Unternehmen selbst „aufgebaut“, findet in Wahrheit ein fertiges Sozialsystem in Form von ausgebildeten Arbeitern, Maschinen, einem Markt, Frieden und Ordnung vor, einen riesigen Apparat und eine allgegenwärtige Atmosphäre, das gemeinsame Werk von Millionen von Menschen und vielen, vielen Generationen. Lässt man den ganzen Sozialfaktor außer Acht, [sind] wir nichts als ... Wilde, die sich von Wurzeln, Beeren und Gewürm ernähren.
Da wir uns nun mit den wesentlichen Grundlagen der Nachfrage vertraut gemacht haben, wollen wir einen Blick auf Kosten und Angebot werfen.
148
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Zusammenfassung 1.
2.
3.
4.
5.
Die Marktnachfrage oder Nachfragekurven sind ein Mechanismus, der sich aus dem Auswahlprozess der Einzelpersonen ergibt, die sich für jenes Bündel an Gütern und Dienstleistungen entscheiden, dem sie persönlich den Vorzug geben. Ökonomen erklären die Konsumentennachfrage anhand des Nutzenkonzepts. Der Begriff des Nutzens bezeichnet die relative Zufriedenheit, die ein Konsument durch die Verwendung der verschiedenen Güter erfährt. Das zusätzliche Maß an Zufriedenheit, die er aus dem Konsum einer zusätzlichen Einheit eines Gutes bezieht, wird als Grenznutzen bezeichnet, wobei „Grenz“ in diesem Zusammenhang den zusätzlichen oder vermehrten Nutzen bedeutet. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens besagt, dass der durch die jeweils letzte konsumierte Einheit eines Gutes erzielte Grenznutzen bei zunehmender Konsummenge dieses Gutes abnimmt. Ökonomen unterstellen, dass die Konsumenten ihre knappen Einkommen so verwenden, dass sie daraus die größtmögliche Zufriedenheit oder den größtmöglichen Nutzen schöpfen. Um seinen Nutzen zu maximieren, muss ein Konsument das Prinzip des gleichen Grenznutzens erfüllen, dem zufolge die Grenznutzen der letzten Geldeinheit, die er für jedes einzelne Gut bezahlt, gleich sein müssen. Erst wenn der Grenznutzen pro eingesetzter Geldeinheit für Äpfel, Schinken, Kaffee und alles andere gleich ist, erzielt der Konsument die größte Bedürfnisbefriedigung aus seinem begrenzten Geldeinkommen. Aber beachten Sie, dass der Grenznutzen eines kleinen Flakons Parfüm zu US-$ 50 nicht dem Grenznutzen eines Glases Cola für 50 Cents entspricht. Nein, ihr jeweiliger Grenznutzen dividiert durch ihren Einheitspreis ist bei optimalem Mitteleinsatz des Konsumenten gleich. Das bedeutet, dass der Grenznutzen pro jeweils eingesetzter letzter Geldeinheit, MU/P, gleich sein muss. Der gleiche Grenznutzen oder Nutzen pro Ressourceneinheit ist eine grundlegende Wahlregel. Nehmen wir irgendeine knappe Ressource, wie zum Beispiel die Zeit. Wenn Sie den Wert oder den Nutzen dieser Ressource maximieren wollen, so sorgen Sie dafür, dass der Grenznutzen pro Einheit dieser Ressource für alle Verwendungszwecke ausgeglichen ist. Die Marktnachfragekurve für alle Konsumenten wird abgeleitet, indem die individuellen Nachfragekurven jedes einzelnen Konsumenten horizontal addiert werden. Eine Nachfragekurve
6.
7.
kann sich aus vielerlei Gründen verschieben. So bewirkt beispielsweise eine Erhöhung des Einkommens eine Verschiebung der DD-Kurve nach rechts und erhöht so die Nachfrage; eine Preiserhöhung bei einem Substitutionsgut (z.B. Hähnchen anstelle von Rindfleisch) führt ebenso zu einer Rechtsverschiebung der Nachfragekurve. Eine Preissteigerung bei einem Komplementärgut (z.B. Hamburgerbrötchen bei Rindfleisch) verursacht jedoch eine Verschiebung der DD-Kurve abwärts und nach links. Aber auch andere Faktoren wie der sich wandelnde Geschmack der Leute, die Bevölkerungszahl oder die Erwartungen der Menschen können sich auf die Nachfrage auswirken. Wir können uns zusätzlichen Einblick in die Faktoren verschaffen, die zu einer abwärtsgerichten Neigung der Nachfragekurve führen, indem wir die Auswirkungen einer Preissteigerung in Substitutions- und Einkommenseffekte unterteilen. (a) Der Substitutionseffekt tritt auf, wenn ein höherer Preis dazu führt, dass für das teurer gewordene Gut andere Güter substituiert werden, um Bedürfnisse zu befriedigen; (b) der Einkommenseffekt bedeutet, dass ein Preisanstieg das reale Einkommen verringert und dadurch auch den gewünschten Konsum der meisten Güter drosselt. Bei der Mehrzahl der Güter verstärken Substitutions- und Einkommenseffekte einer Preiserhöhung einander und führen zum Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs. Wir messen die quantitative Reaktion der Nachfrage auf das Einkommen mithilfe der Einkommenselastizität, also der prozentualen Änderung der nachgefragten Menge dividiert durch die prozentuale Einkommensänderung. Merken Sie sich die Grundregel, dass es der Schwanz in Form des Grenznutzens ist, der mit dem Markthund der Preise und Mengen wedelt. Diese Tatsache wird durch das Konzept der Konsumentenrente unterstrichen. Wir bezahlen für die letzte Packung Milch denselben Preis wie für die erste. Doch aufgrund des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens ist der Grenznutzen der ersten gekauften Packungen größer als der Grenznutzen der letzten Packung. Das bedeutet, dass wir bereit gewesen wären, für jede der ersten Packungen einen höheren Preis zu bezahlen als den Marktpreis. Der gesamte zusätzliche Wert gegenüber dem Marktwert wird als Konsumentenrente bezeichnet. Diese Konsumentenrente ist das Maß für den Vorteil, den wir daraus gewinnen,
Kapitel 5
149
Nachfrage und Konsumverhalten
dass wir alle Einheiten zum selben niedrigen Preis erwerben können. Bei grober Vereinfachung können wir die Konsumentenrente als den Bereich zwischen der Nachfragekurve und der Preislinie messen. Dieses Konzept gilt für
zahlreiche politische Entscheidungen – etwa ob eine Gemeinde die hohen Kosten für eine Straße oder Brücke auf sich nehmen oder ob sie ein Gebiet zu einer Naturschutzzone umwidmen sollte.
Begriffe zur Wiederholung Nutzen, Grenznutzen Utilitarismus Gesetz des abnehmenden Grenznutzens Verschiebungen der Nachfrage durch Einkommen und andere Faktoren Ordinaler Nutzen Prinzip des gleichen Grenznutzens – gleicher MU der zuletzt ausgegebenen Geldeinheit für jedes Gut: MU1/P1 = MU2/P2 = MU pro Geldeinheit Einkommen
Marktnachfrage im Vergleich zur individuellen Nachfrage Einkommenselastizität Substitute, Komplimentärgüter, unabhängige Güter Substitutions- und Einkommenseffekt Meritorische Güter, demeritorische Güter Wertparadoxon Konsumentenrente
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine vertiefende Behandlung der Konsumtheorie findet sich in einschlägigen Lehrbüchern; einige gute Quellen sind auch im Abschnitt „Leseempfehlungen“ von Kapitel 3 angegeben. Die Konsumenten sind zur Beurteilung des Nutzens verschiedener Produkte oft auf Hilfe angewiesen. In Verbraucherberichten finden Sie Artikel, die versuchen, Produkte zu bewerten. Manchmal werden „Kaufempfehlungen“ für Produkte abgegeben, wenn Nachforschungen ergeben haben, dass das betreffende Produkt den höchsten Nutzen pro ausgegebener Geldeinheit erbringt. Jeffrey A. Miron und Jeffrey Zwiebel, „The Economic Case against Drug Prohibition“, Journal of Economic Perspectives, Herbst 1995, S. 175–192, ist eine hervorragende nichtmathematische Studie der wirtschaftlichen Auswirkungen des Drogenverbots. Der Utilitarismus wurde in Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals (1789), eingeführt.
Websites Statistische Daten über die Ausgaben für den privaten Konsum (Vereinigte Staaten) finden sich auf der Website des Bureau of Economic Analysis, www.bea.gov. Daten über Haushaltsbudgets veröffentlicht das Bureau of Labor Statistics, Consumer Expenditures, unter www.bls.gov. Praktische Richtlinien für Konsumenten bietet eine Regierungssite, www.consumer.gov. Die Organisation Public Citizen wirbt in Washington für „sicherere Medikamente und medizinische Geräte, sauberere und sicherere Energiequellen, eine sauberere Umwelt, fairen Handel und eine offenere und demokratischere Regierung“. Die Website dieser Organisation, www.citizen.org, enthält Artikel zu vielen Fragen aus den Themenbereichen Konsum, Arbeit und Umwelt.
150
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Es gibt auch eine Reihe neuer Sites, die sich mit verhaltensorientierter Ökonomie auseinandersetzen, zum Beispiel www.business2.com/webguide/_0,1660,65005,00.html. Unter http://nobelprize.org/ nobel_prizes/economics finden sich zahlreiche Artikel über sowie Video-Interviews mit Nobelpreisträgern. Eine nützliche deutschsprachige Websites zum Grenznutzen ist beispielsweise: www.mikrooekonomie.de/ hh/g2/hhg2gg.htm (zur Einkommenselastizität), www.mikrooekonomie.de/hh/g2/hhg2gg.htm (zum Grenznutzen) sowie www.finanz-xl.de/lexikon/Nutzen.html (zum Wertparadoxon).
Übungen 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Erläutern Sie die Bedeutung des Begriffs „Nutzen“. Worin besteht der Unterschied zwischen dem Gesamtnutzen und dem Grenznutzen? Erklären Sie das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens und führen Sie ein numerisches Beispiel an. Tom Wu kauft allwöchentlich zwei Hamburger zu jeweils US-$ 2, acht Coladosen zu je 50 Cents und acht Pizzaschnitten zu je US-$ 1, aber er kauft keine Hotdogs zu je US-$ 1,50. Was können Sie daraus bezüglich Toms Grenznutzen bei jedem der vier Güter ableiten? Bilden Sie Güterpaare aus den im Folgenden aufgezählten Gütern, die Sie als Komplementär-, Substitutions- oder als voneinander unabhängige Güter einstufen können: Rindfleisch, Ketchup, Lammfleisch, Zigaretten, Kaugummi, Schweinefleisch, Radio, Fernsehen, Flugreisen, Busreisen, Taxis und Taschenbücher. Zeigen Sie die sich ergebende Verschiebung der Nachfragekurve für ein Gut, wenn der Preis eines anderen Gutes steigt. Wie würde sich eine Einkommensänderung auf die Nachfragekurve für Flugreisen auswirken? Auf die Nachfragekurve für Busreisen? Warum ist es falsch zu sagen: „Der Nutzen wird maximiert, wenn der Grenznutzen aller Güter genau derselbe ist?“ Korrigieren Sie diese Aussage und begründen Sie die Änderung, die Sie vornehmen. Hier ein Vorschlag, die Konsumentenrente in Bezug auf Kinobesuche zu erkennen: a. Wie viele Filme haben Sie im vergangenen Jahr gesehen? b. Wie viel haben Sie im letzten Jahr insgesamt für Filmbesuche bezahlt? c. Wie viel würden Sie höchstens bezahlen, um die Filme zu sehen, die Sie im letzten Jahr gesehen haben? d. Ziehen Sie b von c ab. Das ist Ihre Konsumentenrente bei Filmen. Betrachten Sie folgende Tabelle, die den Nutzen verschieden langer Skiurlaube ausweist:
7.
8.
9.
Auf Skiern verbrachte Tage
Gesamtnutzen (US-$)
0
0
1
70
2
110
3
146
4
176
5
196
6
196
Erstellen Sie eine Tabelle, die den Grenznutzen für jeden einzelnen Skitag ausweist. Nehmen Sie an, dass es eine Million Leute mit exakt denselben Präferenzen wie jenen in der Tabelle gibt – wie würde die Marktnachfrage nach Skiurlauben aussehen? Wie hoch wären Gleichgewichtspreis und Gleichgewichtsmenge der Skiurlaubstage bei einem Liftkartenpreis von US-$ 40 pro Tag ? Berechnen Sie für jedes der in Tabelle 5-2 angeführten Güter die Auswirkungen einer Preisverdoppelung auf die nachgefragte Menge. Ebenso für die Güter in Tabelle 5-3: Welche Auswirkungen hätte eine 50-prozentige Erhöhung der Konsumenteneinkommen? Wenn Sie die identischen Nachfragekurven von immer mehr Leuten addieren (ähnlich wie in dem Verfahren in Abbildung 5-2), wird die Marktnachfragekurve bei gleichem Maßstab immer flacher. Zeigt diese Tatsache an, dass die Nachfrageelastizität immer größer wird? Begründen Sie Ihre Antwort genau. Eine interessante Anwendung von Angebot und Nachfrage auf Suchtmittel vergleicht alternative Techniken der Angebotsbeschränkung. Nehmen wir bei diesem Problem an, dass die Nachfrage nach Suchtmitteln vollkommen unelastisch ist.
Kapitel 5
a.
Nachfrage und Konsumverhalten
Ein Ansatz (der heute für Heroin und Kokain verwendet wird und während der Prohibition für Alkohol zur Anwendung kam) besteht darin, das Angebot an den Staatsgrenzen einzudämmen. Zeigen Sie, wie diese Vorgehensweise den Preis erhöht und das Gesamteinkommen der Drogenanbieter hebt. b. Ein alternativer Ansatz (der heute bei Tabak und Alkohol angewendet wird) besteht darin, die betreffenden Güter kräftig zu besteuern. Zeigen Sie mithilfe des in Kapitel 4 entwickelten Steuermechanismus, wie dieser Ansatz das Gesamteinkommen der Drogenanbieter verringert. c. Kommentieren Sie den Unterschied zwischen den beiden Ansätzen. 10. Nehmen wir an, Sie sind sehr reich und sehr dick. Ihr Arzt hat Ihnen empfohlen, Ihre Energiezufuhr auf täglich 2.000 Kalorien zu beschränken. Wie sieht Ihr Konsumgleichgewicht für Lebensmittel aus? 11. Numerische Aufgabe zur Konsumentenrente: Nehmen wir an, dass die Nachfrage nach Fahrten über eine Brücke die Form Y = 1.000.000 – 50.000.000 P annimmt, wobei Y die Zahl der Fahrten über die Brücke und P die Maut für die Brückennutzung ist. a. Berechnen Sie die Konsumentenrente bei einer Brückenmaut von US-$ 0,1 und 20. b. Nehmen wir an, dass die Brücke US-$ 1.800.000 kostet. Berechnen Sie die Mauthöhe, bei der der Brückeneigentümer die Gewinnschwelle erreicht, bei dem sich Kosten und Einnahmen genau ausgleichen. Wie hoch ist die Konsumentenrente bei dieser Maut? c. Nehmen wir an, dass die Brücke US-$ 8 Millionen kostet. Erklären Sie, warum die Brücke gebaut werden sollte, obwohl keine Maut zur Deckung der Kosten erhoben wird.
151
ANHANG 5 Geometrische Analyse des Konsumentengleichgewichts
Vor einem Jahrhundert entdeckte der Ökonom Vilfredo Pareto (1848–1923), dass alle wichtigen Elemente der Nachfragetheorie auch ohne das Nutzenkonzept analysiert werden können. Pareto entwickelte das, was wir heute als Indifferenzkurve bezeichnen. Dieser Anhang erklärt die moderne Indifferenzanalyse und leitet dann mithilfe dieses neuen Werkzeugs die wichtigsten Schlussfolgerungen für das Konsumverhalten ab.
Die Indifferenzkurve Beginnen Sie mit der Annahme, Sie seien ein Konsument, der verschiedene Kombinationen zweier Güter, sagen wir, von Nahrungsmitteln und Kleidung, zu gegebenen Preisen kauft. Nehmen Sie nun für jede Kombination dieser beiden Güter an, dass Sie entweder eine der anderen vorziehen oder aber den beiden Güterpaaren indifferent gegenüberstehen. Werden Sie etwa gebeten, zwischen Kombination A mit 1 Einheit Nahrungsmitteln und 6 Einheiten Kleidung und Kombination B mit 2 Einheiten Nahrungsmitteln und 3 Einheiten Kleidung zu wählen, könnten Sie (1) A gegenüber B vorziehen, (2) B gegenüber A vorziehen oder (3) A und B als gleichwertig empfinden. Nehmen wir an, dass A und B für Sie völlig gleichwertig sind – dass es Ihnen also gleichgültig ist, welche von beiden Kombinationen Sie erhalten. Betrachten wir nun einige wei-
tere Güterkombinationen, denen Sie ebenso indifferent gegenüberstehen, wie in der Tabelle zu Abbildung 5A-1 angegeben. Abbildung 5A-1 zeigt diese Kombinationen in einem Diagramm. Wir tragen Kleidungseinheiten auf einer Achse und Nahrungseinheiten auf der anderen auf. Jede unserer vier Güterkombinationen wird von ihrem Punkt A, B, C, D dargestellt. Aber diese vier Kombinationen sind keinesfalls die einzigen, denen Sie gleichgültig gegenüberstehen. Eine weitere Gruppe, wie zum Beispiel 11/2 Einheiten Nahrungsmittel und 4 Einheiten Kleidung, könnte ebenso wie viele andere nicht gezeigte Kombinationen als mit A, B, C oder D gleichwertig angesehen werden. Die Kurve in Abbildung 5A-1, die die vier Punkte verbindet, ist eine Indifferenzkurve. Die Punkte auf der Kurve stellen jeweils Güterkombinationen dar, denen der Konsument indifferent gegenübersteht, die für ihn also gleichwertig sind; sie alle erscheinen ihm im selben Maß wünschenswert.
Substitutionsgesetz Die Indifferenzkurven erscheinen als schüsselförmige oder zum Ursprung hin konvexe Kurven. Wenn Sie sich daher entlang der Kurve nach rechts unten bewegen – eine Bewegung, die zunehmende Mengen an Nahrung und geringere Mengen an Kleidung bedeutet –, wird die Kurve flacher. Die Kurve wird so gezeichnet, um eine Eigenschaft aufzuzeigen,
Anhang 5
Eine Konsumenten-Indifferenzkurve
Gleichwertige Kombinationen Nahrung
C A B C D
A
6 5 Bekleidung
153
Geometrische Analyse des Konsumentengleichgewichts
1 2 3 4
Bekleidung 6 3 2 11/2
4 B
3
C
2
D 1
0
1
2
3 4 Nahrung
5
6
F
Abbildung 5A-1: Indifferenzkurve für ein Güterpaar Als Kompensation für die Aufgabe eines Gutes erhält man mehr von einem anderen. Für den Konsumenten ist Situation A ebenso wünschenswert wie B, C oder D. Die Kombinationen von Nahrung und Kleidung, die dieselbe Zufriedenheit ergeben, werden als durchgängige Indifferenzkurve gezeichnet. Diese ist konvex, entsprechend dem Substitutionsgesetz, das besagt, dass das Substitutionsverhältnis oder die Steigung der Indifferenzkurve umso geringer ausfällt, je mehr man von einem Gut erhält.
die in der Realität zumeist auftritt und die als Substitutionsgesetz bezeichnet wird: Je knapper ein Gut ist, desto größer ist sein relativer Substitutionswert; sein Grenznutzen steigt im Verhältnis zum Grenznutzen jenes Gutes, das in großen Mengen vorhanden ist. Wenn Sie daher in Abbildung 5A-1 von A nach B gehen, tauschen Sie drei der sechs Kleidungseinheiten für eine zusätzliche Lebensmitteleinheit ein. Doch beim Schritt von B nach C opfern Sie nur noch eine Einheit ihres verbleibenden Bekleidungsangebotes, um eine dritte Lebensmitteleinheit zu bekommen – also ein Tausch eins zu eins. Für eine vierte Lebensmitteleinheit würden Sie schließlich nur noch eine halbe Einheit von Ihrem schwindenden Bekleidungsvorrat hergeben. Wenn wir die Punkte A und B in Abbildung 5A-1 verbinden, stellen wir fest, dass die Steigung der sich daraus ergebenden Linie (unter Vernachlässigung des negativen
Vorzeichens) einen Wert von 3 hat. Verbinden wir B und C, erhalten wir eine Steigung von 1; verbinden wir C und D, so beträgt der Anstieg 1/2. Diese Zahlen – 3, l, 1/2 – sind die Substitutionsraten (manchmal auch als Grenzraten der Substitution bezeichnet) zwischen den beiden Gütern. Je kleiner die einzelnen Schritte entlang der Kurve werden, desto stärker nähert sich die Substitutionsrate der tatsächlichen Steigung der Indifferenzkurve an. Die Steigung der Indifferenzkurve ist das Maß für den relativen Grenznutzen der Güter oder für die Substitutionsbedingungen, zu denen der Konsument – bei sehr kleinen Veränderungen – bereit wäre, ein bisschen weniger von einem Gut für ein bisschen mehr von einem anderen Gut zu tauschen. Eine konvexe Indifferenzkurve wie in Abbildung 5A-1 entspricht dem Gesetz der Substitution. In dem Maß, in dem die Menge an Nahrungsmitteln, die Sie konsumieren, steigt – und immer weniger Bekleidung zur
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Verfügung steht –, müssen Nahrungsmittel relativ billiger werden, um Sie gewissermaßen dazu zu überreden, noch ein wenig mehr Nahrung unter Verzicht auf ein wenig Kleidung zu akzeptieren. Der genaue Verlauf und die Steigung einer Indifferenzkurve variieren natürlich von Verbraucher zu Verbraucher, aber typischerweise nimmt die Indifferenzkurve eine Form an, wie sie in Abbildung 5A-1 und 5A-2 dargestellt ist.
Teil 2
C 6
A
5
Bekleidung
154
4 3
B C
2
U4
D
U3 U2 U1
Die Indifferenzenkarte Die Tabelle in Abbildung 5A-1 stellt nur eine Möglichkeit unter unendlich vielen möglichen Tabellen dar. Wir könnten mit einer stärker präferierten Verbrauchssituation beginnen und einige der verschiedenen Kombinationen auflisten, die dem Verbraucher dieses hohe Befriedigungsniveau erbringen. Eine solche Tabelle könnte mit 2 Einheiten Nahrung und 7 Einheiten Bekleidung begonnen haben; eine andere mit 3 Einheiten Nahrung und 8 Einheiten Bekleidung. Jede dieser Tabellen lässt sich grafisch darstellen, und jede hat eine entsprechende Indifferenzkurve. Abbildung 5A-2 zeigt vier solcher Kurven. Die Kurve aus Abbildung 5A-1 wird als U3 bezeichnet. Dieses Diagramm gleicht einer geografischen Landkarte mit Höhenlinien. Eine Person, die sich auf einer solchen Karte entlang des durch eine bestimmte Höhenlinie angegebenen Pfades bewegt, klettert dabei weder in die Höhe noch steigt sie ab. Ebenso wird das Befriedigungsniveau des Verbrauchers, der sich entlang einer einzigen Indifferenzkurve von einer Position zu einer anderen bewegt, durch das anders zusammengesetzte Konsumpaket weder steigen noch sinken. In Abbildung 5A-2 sind nur einige wenige der möglichen Indifferenzkurven eingezeichnet. Beachten Sie bitte, dass wir, wenn wir die Menge beider Güter erhöhen und uns auf unserer Höhenkarte daher immer weiter nach Nordosten bewegen, damit aufeinander folgende Indifferenzkurven queren. Wir erreichen so ein immer größeres Maß an Be-
0
1
2
3 4 Nahrung
5
6
F
Abbildung 5A-2: Ein Bündel von Indifferenzkurven Die als U1, U2, U3 und U4 bezeichneten Kurven stellen Indifferenzkurven dar. Welche Indifferenzkurve ist die für den Konsumenten günstigste?
dürfnisbefriedigung (unter der Annahme, dass der Konsument durch zunehmende Mengen beider Güter eine größere Befriedigung erzielt). Daher steht die Kurve U3 für ein höheres Maß an Befriedigung als U2; U4 gewährleistet ein höheres Befriedigungsniveau als U3 usw.
Budgetgerade oder Budgetbeschränkung Legen wir nun für einen Augenblick die Höhenkarte mit den speziellen VerbraucherIndifferenzkurven beiseite und weisen wir unserem Verbraucher ein fixes Einkommen zu. Nehmen wir an, er kann täglich US-$ 6 ausgeben und ist mit fixen Preisen für jede einzelne Lebensmittel- und Bekleidungseinheit konfrontiert – US-$ 1,50 für Nahrung, US-$ 1 für Kleidung. Es versteht sich, dass er sein Geld für jede mögliche Kombination von Nahrung und Kleidung ausgeben könnte. In einem Extremfall könnte er 4 Einheiten Nahrung und überhaupt keine Kleidung kaufen; im anderen könnte er sich für 6 Einheiten Kleidung entscheiden und auf Nahrung ver-
Anhang 5
155
Geometrische Analyse des Konsumentengleichgewichts
Die Budgetgerade eines Konsumenten
Alternative Konsummöglichkeiten Nahrung
C 6 N
M
5 N
4 3 2 1 0
Bekleidung 0 11/2 3 4 1/2 6
Bekleidung
4 3 Budgetgerade des Konsumenten
2
M 0
1
2
3 4 Nahrung
5
6
F
Abbildung 5A-3: Das Einkommen setzt den Ausgaben des Konsumenten Grenzen Die Grenzen des Ausgabenbudgets lassen sich einer numerischen Tabelle entnehmen. Das Gesamtbudget (zusammengesetzt aus $ 1,50F + $ 1C), ergibt immer exakt US-$ 6 an Einkommen. Wir können die Budgetgrenze als Gerade zeichnen, deren absolute Steigung dem Verhältnis PF/PC entspricht. NM ist die Budgetgerade des Konsumenten. Bei einem Einkommen von US-$ 6 und Nahrungs- und Bekleidungspreisen von US-$ 1,50 und US$ 1 kann sich der Konsument für jeden beliebigen Punkt auf dieser Budgetgerade entscheiden. (Warum beträgt die Steigung $ 1,50 / $ 1 = 3/2?)
zichten. Die Tabelle zu Abbildung 5A-3 zeigt einige der Möglichkeiten, wie unser Verbraucher seine US-$ 6 anlegen könnte. Abbildung 5A-3 stellt diese fünf Möglichkeiten dar. Beachten Sie, dass alle Punkte auf einer Geraden liegen, die als NM bezeichnet wird. Darüber hinaus liegt jeder andere erreichbare Punkt, wie 3 1/3 Nahrungseinheiten und 1 Kleidungseinheit, auf NM. Die Budgetgerade NM summiert alle möglichen Kombinationen der beiden Güter, die das Einkommen des Konsumenten verschlingen würden.8 Der Anstieg von NM (unter Vernachlässigung des Vorzeichens) beträgt 3/2 8 Dies deshalb, weil in dem Fall, dass wir die Mengen an gekaufter Nahrung und Bekleidung als F und C bezeichnen, sich die Gesamtausgaben für Nahrung auf US-$ 1,50 F und die Gesamtausgaben für Kleidung auf US-$ 1C belaufen müssen. Wenn das tägliche Einkommen und die täglichen Ausgaben US-$ 6 betragen, gilt folgende Gleichung: $ 6 = $ 1,50F + $ 1C. Dabei handelt es sich um eine lineare Gleichung, die Gleichung der Budgetgeraden NM. Bitte beachten Sie: Arithmetischer Anstieg von NM = $ 1,50 : $ 1 = Nahrungspreis : Kleidungspreis
und kennzeichnet das Verhältnis des Nahrungspreises zum Kleidungspreis. Dieser Anstieg bedeutet, dass der Verbraucher angesichts der gegebenen Preise jedes Mal, wenn er auf 3 Kleidungseinheiten verzichtet (wodurch er im Diagramm 3 vertikale Einheiten nach unten wandert), 2 Nahrungseinheiten dazugewinnt (d.h. 2 horizontale Einheiten nach rechts gehen kann). Wir bezeichnen die Gerade NM als Budgetgerade oder Budgetbeschränkung des Verbrauchers.
Die Gleichgewichtsposition im Tangentialpunkt Nun können wir unsere beiden Puzzleteile zusammensetzen. Die Achsen in Abbildung 5A-3 entsprechen jenen der Abbildungen 5A-1 und 5A-2. Wir können die schwarze
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Budgetgerade NM über diese rostfarbene Verbraucher-Indifferenzkurvenkarte legen, wie in Abbildung 5A-4 gezeigt wird. Dem Verbraucher steht es frei, sich irgendwo entlang der NM zu bewegen. Positionen rechts und über NM sind nicht möglich, weil sie ein Einkommen von mehr als US-$ 6 erfordern würden; Positionen links und unter NM sind hingegen irrelevant, weil wir davon ausgehen, dass der Verbraucher seine gesamten US-$ 6 ausgibt. Wohin wird sich der Verbraucher bewegen? Natürlich zu dem Punkt, an dem er die größte Befriedigung erzielt – also zur höchstmöglichen Indifferenzkurve –, in diesem Fall der rostfarbene Punkt B. Bei B berührt die Budgetgerade die Indifferenzkurve U3 gerade, quert sie aber nicht. An diesem Tangentialpunkt, an dem die Budgetgerade eine Indifferenz-Höhenlinie gerade mal berührt, sie aber nicht quert, liegt die höchste NutzenHöhenlinie, die der Konsument erreichen kann. Geometrisch betrachtet befindet sich der Konsument dort im Gleichgewicht, wo der Anstieg der Budgetgeraden (der dem Verhältnis von Nahrungs- zu Kleidungspreisen entspricht) genau dem Anstieg der Indifferenzkurve entspricht (die ihrerseits dem Verhältnis des Grenznutzens der beiden Güter entspricht). Das Konsumentengleichgewicht wird an dem Punkt erreicht, an dem die Budgetlinie die höchste Indifferenzkurve als Tangente berührt. An diesem Punkt entspricht die Substitutionsrate des Konsumenten gerade dem Anstieg der Budgetgeraden. Anders ausgedrückt entspricht die Substitutionsrate oder die Steigung der Indifferenzkurve dem Verhältnis des Nahrungs-Grenznutzens zum Kleidungs-Grenznutzen. Deshalb ist unsere Tangentialbedingung nur ein anderer Ausdruck dafür, dass das Preisverhältnis dem Grenznutzenverhältnis entsprechen muss; im Gleichgewicht erzielt der Verbraucher denselben Grenznutzen aus der letzten
Teil 2
Konsumentengleichgewicht C 6 N 5 4 Bekleidung
156
3
B
2
U4
1
U3 U2 U1
0
1
2
3
4
M
5
6
F
Nahrung
Abbildung 5A-4: Die vom Konsumenten am stärksten präferierte und erreichbare Güterkombination wird in B erreicht. Wir können nun die Budgetgerade und die Indifferenzkurve in einem Diagramm verbinden. Die für einen Konsumenten mit fixem Einkommen erreichbare höchste Indifferenzkurve ergibt sich aus Punkt B, dem Tangentialpunkt zwischen Budgetgerade und höchstgelegener Indifferenzkurve. Im Tangentialpunkt B entspricht das Substitutionsverhältnis dem Preisverhältnis PF /PC. Das bedeutet, dass der Grenznutzen aller Güter deren Preis entspricht, wobei der Grenznutzen des letzten für jedes Gut ausgegebenen Dollars jeweils gleich hoch ist.
für Nahrung ausgegebenen Geldeinheit wie aus der letzten für Kleidung ausgegebenen Geldeinheit. Wir können daher folgende Gleichgewichtsbedingung ableiten:
PF MUF ------- = Substitutionsrate = -----------PC MUC Dieselbe Bedingung haben wir auch im Hauptteil des Kapitels für die Nutzentheorie abgeleitet.
Anhang 5
Geometrische Analyse des Konsumentengleichgewichts
Einkommens- und Preisänderungen Zwei bedeutende Anwendungsmöglichkeiten von Indifferenzkurven werden häufig dazu herangezogen, um die Auswirkungen (a) einer Änderung des Geldeinkommens und (b) einer Preisänderung bei einem der beiden Güter zu beurteilen.
Einkommensänderung Nehmen wir zunächst an, das tägliche Einkommen unseres Verbrauchers würde auf die Hälfte schrumpfen, während die beiden Preise unverändert blieben. Wir könnten eine neue Tabelle erstellen, ähnlich jener für Abbildung 5A-3, die die neuen Konsummöglichkeiten angibt. Übertragen wir diese Punkte in ein Diagramm wie in Abbildung 5A-5, werden wir feststellen, dass die neue Budgetgerade die Position N'M' in Abbildung 5A-5 einnimmt. Die Gerade hat sich parallel nach innen verschoben.9 Der Konsument kann C 6
N
Bekleidung
5 4 3
I N′
B
2
U4 B′
1
U3 U2 U1
I M′ 0
1
2
M 3
4
5
6
F
Nahrung
Abbildung 5A-5: Die Auswirkung von Einkommensänderungen auf das Gleichgewicht Eine Einkommensänderung verschiebt die Budgetgerade parallel. So verschiebt eine Halbierung des Einkommens auf US-$ 3 die Gerade NM zu N'M' und damit das Gleichgewicht zu Punkt B'. (Zeigen Sie, wo der neue Tangentialpunkt liegen müsste.) 9 Die Bedingung für die neue Budgetgerade N'M' lautet nun: $ 3 = $ 1,50F + $ 1C.
157
sich nun frei entlang dieser neuen (und niedrigeren) Budgetgeraden bewegen. Um seine Befriedigung zu maximieren, wird er sich zu der höchsten erreichbaren Indifferenzkurve oder zu Punkt B' bewegen. Hier gilt wie oben eine Tangentialbedingung für das Konsumentengleichgewicht.
Einzelne Preisänderung Lassen wir unseren Konsumenten nun wieder zu seinem bisherigen Tageseinkommen von US-$ 6 zurückkehren, aber nehmen wir an, dass der Nahrungsmittelpreis von US$ 1,50 auf US-$ 3 steigt, während der Kleidungspreis unverändert bleibt. Wieder müssen wir die Änderung der Budgetgeraden untersuchen. Diesmal stellen wir fest, dass sie sich an Punkt N gedreht hat und nun NM'' ist, wie in Abbildung 5A-6 gezeigt.10 Die praktische Bedeutung einer solchen Verschiebung liegt auf der Hand. Da der Kleidungspreis unverändert bleibt, kann Punkt N nach wie vor erreicht werden. Aber da der Lebensmittelpreis gestiegen ist, ist Punkt M (er stellt 4 Lebensmitteleinheiten dar) nun außer Reichweite. Bei Lebensmittelkosten von US-$ 3 pro Einheit können maximal 2 Einheiten täglich gekauft werden, wenn das Tageseinkommen US-$ 6 beträgt. Die neue Budgetgerade verläuft also nach wie vor durch N, muss jedoch in N gedreht werden und durch M'' verlaufen, einem Punkt, der links von M liegt. Das Gleichgewicht liegt nun in B'', und wir stehen vor einer neuen Tangentialsituation. Der höhere Nahrungsmittelpreis hat ganz offensichtlich den Nahrungskonsum verringert, während der Kleidungsverbrauch sowohl steigen als auch sinken kann. Wenn Sie diese Mechanismen besser verstehen wollen, arbeiten Sie doch die Fälle einer Einkommenserhöhung und eines Preisverfalls bei Kleidung oder Nahrung an einem Beispiel heraus!
10 Die Budgetgleichung für NM'' lautet nun: $ 6 = $ 3F + $ 1C.
158
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
C 6
N
Bekleidung
5 PF
4 B″ 3
B
B′′′ U4
2
U3 1 M″ 0
1
2
U2 U1
M 3
4
5
6
F
Nahrung
Abbildung 5A-6: Die Auswirkungen von Preisänderungen auf das Gleichgewicht Eine Preissteigerung bei Nahrungsmitteln lässt die Budgetgerade bei einer Rotation um N von NM zu NM'' wandern. Das neue Tangentialgleichgewicht stellt sich in B'' bei weniger Nahrung und entweder mehr oder weniger Bekleidung ein.
Ableitung der Nachfragekurve Wir können nun bereits die Nachfragekurve ableiten. Sehen Sie sich Abbildung 5A-6 sehr genau an. Beachten Sie, dass wir gemäß der Ceteris-paribus-Regel vorgegangen sind, als
Teil 2
wir den Nahrungsmittelpreis von US-$ 1,50 pro Einheit auf US-$ 3 pro Einheit angehoben haben. Die durch die Indifferenzkurven dargestellten Präferenzen wurden nicht verändert, und auch das Einkommen und die Bekleidungspreise wurden unverändert belassen. Wir befinden uns daher in der idealen Situation, um die Nachfragekurve für Nahrung zu verfolgen. Bei einem Preis von US$ 1,50 kauft der Verbraucher 2 Einheiten Nahrung, was als Gleichgewichtspunkt B dargestellt wird. Wenn der Preis auf US-$ 3 pro Einheit steigt, wird eine Einheit Nahrung gekauft, und der Gleichgewichtspunkt liegt in B''. Wenn Sie die Budgetgerade entsprechend einem Nahrungsmittelpreis von US$ 6 pro Einheit zeichnen, liegt das Gleichgewicht in B''', und der Nahrungskauf sinkt auf 0,45 Einheiten. Zeichnen Sie nun den Nahrungsmittelpreis im Verhältnis zu den Nahrungskäufen ein und belassen Sie weiterhin alles andere konstant. Sie haben damit eine eindeutige, abwärts gerichtete Nachfragekurve aus den Indifferenzkurven abgeleitet. Beachten Sie, dass dies möglich war, ohne den Begriff „Nutzen“ auch nur einmal zu gebrauchen – wir haben unsere Ableitung ausschließlich auf die messbaren Indifferenzkurven gestützt.
Zusammenfassung des Anhangs 1.
2.
Eine Indifferenzkurve stellt die Punkte gleichermaßen wünschenswerter Güterkombinationen dar. Die Indifferenz-Höhenlinien werden üblicherweise konvex gezeichnet (in Form einer Schüssel), was dem Gesetz vom abnehmenden relativen Grenznutzen entspricht. Wenn ein Konsument über ein fixes Einkommen verfügt, das er vollständig ausgibt, und wenn er mit den Marktpreisen zweier Güter konfrontiert ist, zwingt ihn das, sich entlang einer Geraden zu bewegen, die als Budgetgerade oder Budgetbeschränkung (auch Budgetrestriktion) bezeichnet wird. Der Anstieg dieser Geraden hängt vom Verhältnis der beiden Marktpreise ab; ihre Position hängt von der Höhe des Einkommens des Konsumenten ab.
3.
4.
Der Verbraucher bewegt sich entlang seiner Budgetgeraden, bis er die höchste für ihn erreichbare Indifferenzkurve erreicht. An diesem Punkt berührt die Budgetgerade eine Indifferenzkurve, schneidet diese jedoch nicht. Das Gleichgewicht ist daher im Berührungspunkt erreicht, dort, wo der Anstieg der Budgetgeraden (Verhältnis der Preise) genau dem Anstieg der Indifferenzkurve (Substitutionsrate oder Verhältnis der Grenznutzen zweier Güter) entspricht. Damit erhalten wir einen zusätzlichen Beweis dafür, dass im Gleichgewicht die jeweiligen Grenznutzen proportional zu den Preisen sind. Ein Einkommensrückgang verschiebt die Budgetgerade parallel nach innen, was zumeist
Anhang 5
Geometrische Analyse des Konsumentengleichgewichts
dazu führt, dass von beiden Gütern weniger gekauft wird. Eine Preisänderung bei einem Gut allein wird, ceteris paribus, dazu führen, dass sich die Budgetgerade dreht und ihre Steigung ändert. Nach einer Preis- oder Einkommensänderung wird der Verbraucher neuerlich einen Tangentialpunkt der höchsten Be-
159
friedigung erreichen. An jedem einzelnen Tangentialpunkt ist der Grenznutzen pro Geldeinheit für jedes Gut gleich. Indem wir den alten und den neuen Gleichgewichtspunkt vergleichen, können wir die üblicherweise abwärts gerichtete Nachfragekurve zeichnen.
Begriffe zur Wiederholung Indifferenzkurven Steigung oder Substitutionsrate Budgetgerade oder Budgetbeschränkung Konvexer Verlauf von Indifferenzkurven und Gesetz des abnehmenden relativen Grenznutzens Optimale Tangentialbedingung: PF/PC = Substitutionrate = MUF/MUC
Übungen 1.
2.
Zeichnen Sie die Indifferenzkurven (a) zwischen Komplementärgütern wie linken und rechten Schuhen und (b) zwischen perfekten Substituten wie zwei Flaschen Cola, die in einem Geschäft nebeneinander stehen. Betrachten wir beispielhaft Schweinefleischprodukte und Yachten. Zeichnen Sie eine Gruppe von Indifferenzkurven und Budgetgeraden wie die von Abbildung 5A-5, die Schweinefleischprodukte als inferiore Güter und Yachten als „Luxusgüter“ mit einer Einkommenselastizität ausweisen, die höher ist als 1.
161
KAPITEL 6 Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
The business of America is business. Calvin Coolidge
Bevor wir unser tägliches Brot essen können, muss irgendjemand es backen. Genauso hängen die Möglichkeiten einer Wirtschaft, Autos zu bauen, Strom zu erzeugen, Computerprogramme zu schreiben und jene Masse an Gütern und Dienstleistungen anzubieten, die das Bruttoinlandsprodukt ausmachen, von ihrer Produktionskapazität ab. Die Produktionskapazität eines Landes wird durch Umfang und Qualität des Arbeitsangebots, durch Quantität und Qualität des Kapitalbestandes, durch das technische Know-how sowie durch die Fähigkeit, dieses Know-how einzusetzen, und durch die Beschaffenheit seiner öffentlichen und privaten Institutionen bestimmt. Warum ist der Lebensstandard in Nordamerika hoch? Warum ist er im tropischen Afrika gering? Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir einen Blick auf die Produktionsmaschinerie werfen und feststellen, wie gut sie läuft. Wir wollen untersuchen, wie die Marktkräfte das Güter- und Dienstleistungsangebot bestimmen. In den folgenden drei Kapiteln werden wir die drei wichtigen Themen Produktion, Kosten und Angebot behandeln und zeigen, wie sie untereinander verbunden sind. Zunächst wenden wir uns den Grundlagen der Produktionstheorie zu und betrachten, wie Unternehmen aus Produktionsfaktoren erstrebenswerte Güter erzeugen. Die Produktionstheorie lässt uns auch verstehen, warum Produktivität und Lebensstandard im Laufe der Zeit gestiegen sind und wie Unternehmen ihre internen Abläufe gestalten. Mithilfe unseres Wissens über die Produktion werden wir in Kapitel 7 die wichtigen Konzepte der Unternehmenskosten entwickeln. Unternehmen entscheiden auf der Grundlage der Kosten und Produktivität der einzelnen Inputs darüber, welche Produktionsfaktoren sie im Produktionsprozess verwenden wollen. Und schließlich wollen wir anhand der Produktions- und Kostentheorie aufzeigen, wie Unternehmen über ihre Produktionsmengen entscheiden. Damit erarbeiten wir uns die Grundlage für die Angebotskurve, die wir ja schon zuvor in unserer
162
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Grobanalyse von Angebot und Nachfrage behandelt haben.
A. Produktionstheorie und Grenzprodukte Die Grundlagen Eine moderne Volkswirtschaft zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt von Produktionstätigkeiten aus. In der Landwirtschaft werden mit Hilfe von Dünger, Saatgut, Boden und Arbeitseinsatz beispielsweise Weizen oder Mais erzeugt. Eine moderne Fabrik setzt Produktionsfaktoren wie Energie, Rohmaterialien, komplizierte computergesteuerte Maschinen und Arbeitskräfte ein, um Traktoren, Fernsehgeräte oder Zahnpastatuben herzustellen. Fluggesellschaften bieten ihren Passagieren mit Hilfe von Flugzeugen, Treibstoff, Arbeit und computergestützten Reservierungssystemen die Möglichkeit, rasch ein ganzes Netz von Routen zu befliegen. Eine Wirtschaftsprüfungskanzlei setzt Kugelschreiber, Computer, Papier, Bürofläche und Arbeit ein und macht daraus Bilanzprüfungen oder Steuererklärungen für ihre Kunden. Wir unterstellen nun, dass sie alle, Landwirtschaft, Fabrik, Fluglinie oder Wirtschaftsprüfungskanzlei, immer danach trachten, möglichst effizient oder zu niedrigsten Kosten zu produzieren. Mit anderen Worten: Alle diese Unternehmen versuchen, zu jeder Zeit den größtmöglichen Output aus den gegebenen Inputs herauszuholen und jede Verschwendung tunlichst zu vermeiden. Später, wenn es um die Entscheidung geht, welche Güter oder Dienstleistungen produziert und verkauft werden sollen, müssen wir zusätzlich unterstellen, dass Unternehmen ihre Gewinne maximieren wollen.
Teil 2
Die Produktionsfunktion Wir haben über Inputs wie Boden und Arbeit und über Outputs wie Weizen und Zahnpasta gesprochen. Doch wie viel Output erhält man aus einer fixen Kombination von Inputs? In der Praxis hängt die Antwort auf diese Frage vom Stand der Technologie und des technischen Know-hows ab. Zu jeder Zeit kann angesichts bestimmter Vorgaben an technischem Know-how, Boden, Maschinenbeständen usw. nur eine bestimmte Menge an Traktoren oder Zahnpasta durch eine gegebene Menge an Arbeitskraft produziert werden. Die Beziehung zwischen dem erforderlichen Maß an Input und dem zu erreichenden Output wird als Produktionsfunktion bezeichnet. Die Produktionsfunktion sagt aus, welche maximale Produktionsmenge bei gegebenem Faktoreinsatz erzeugt werden kann. Sie gilt jeweils für einen bestimmten Stand der Technik und des technologischen Know-hows. Stellen wir uns doch ein Handbuch mit technischen Spezifikationen vor, das die Produktionsfunktion für die Erzeugung von Elektrizität angibt. Auf der einen Seite sehen wir die Spezifikationen verschieden dimensionierter Gasturbinen mit ihren Inputs (Investitionskosten, Treibstoffverbrauch, erforderliche Arbeitskräfte zum Betrieb der Turbine) und ihren Outputs (erzeugte Elektrizitätsmenge). Auf der nächsten Seite finden wir Beschreibungen verschieden großer kohlebefeuerter Heizkraftwerke mit ihren Inputs und Outputs, und auf einer weiteren Seite sind Kernkraftwerke, Solaranlagen usw. beschrieben. Gemeinsam stellen sie die Produktionsfunktion für die Stromerzeugung dar. Oder denken Sie an eine schlichte Tätigkeit wie das Ausheben eines Grabens. Vor unserem Fenster würden wir hier in Amerika einen großen und sicherlich sehr teuren Schaufelbagger sehen, bedient von einer Person, die ihrerseits von einer anderen Person beaufsichtigt wird. Dieses Team kann in zwei
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
Stunden problemlos einen 1,5 Meter tiefen und 15 Meter langen Graben ausheben. Zu Besuch in Vietnam bekämen wir dagegen 50 Arbeiter zu Gesicht, die jeweils nur mit einer Schaufel bewaffnet wären. Wahrscheinlich wäre derselbe Graben erst nach einem Tag harter Arbeit fertig. Die beiden Techniken – eine kapitalintensiv, die andere arbeitsintensiv – gehören zur Produktionsfunktion des Grabenaushebens. Es gibt also viele Millionen verschiedener Produktionsfunktionen: Jedes Produkt und jede Dienstleistung hat eine eigene. Die meisten sind nirgendwo außer in der Vorstellung der Menschen festgehalten. In Bereichen, in denen sich die Technologie rasch verändert, etwa in der Telekommunikation und in der Biotechnologie, sind Produktionsfunktionen schon bald nach ihrer Erstellung veraltet. Einige – als Beispiel seien hier die Entwürfe für ein medizinisches Labor oder für ein Haus in den Klippen genannt – werden eigens für einen bestimmten Standort und Zweck erstellt und wären anderswo völlig unbrauchbar. Dennoch sind Produktionsfunktionen eine nützliche Methode, um die Produktionsmöglichkeiten eines Unternehmens darzustellen.
Gesamt-, Durchschnitts- und Grenzprodukt Die Produktionsfunktion eines Unternehmens ermöglicht es uns, drei bedeutende Produktionskonzepte zu berechnen: das Gesamt-, das Durchschnitts- und das Grenzprodukt. Wir beginnen mit der Berechnung der gesamten physischen Produktionsmenge oder des Gesamtprodukts, das die Gesamtanzahl der produzierten Outputs in physischen Einheiten wie Bushels (bei Weizen) oder Tuben (bei Zahnpasta) ausweist. Abbildung 6-1(a) und Spalte (2) von Tabelle 6-1 zeigen das Konzept des Gesamtprodukts. In diesem Beispiel sehen wir, wie sich das Gesamtprodukt verändert, wenn die Zahl der Arbeitskräfte erhöht wird. Das Gesamtprodukt beginnt bei Null, wenn keine einzige
163
Arbeitskraft eingesetzt wird, und es erhöht sich mit zunehmendem Arbeitseinsatz bis auf maximal 3.900 erzeugte Einheiten, wenn 5 Arbeitseinheiten beschäftigt werden.1 Sobald wir das Gesamtprodukt kennen, lässt sich mühelos ein ebenso wichtiges Konzept daraus ableiten: das des Grenzprodukts. Denken Sie daran, dass die Vorsilbe „Grenz-“ für unsere Zwecke immer „zusätzlich“ bedeutet. Das Grenzprodukt oder die Grenzproduktivität eines Inputs oder Produktionsfaktors entspricht der zusätzlichen Menge oder dem zusätzlichen Output, die bzw. der durch eine zusätzliche Einheit erzeugt werden kann, während alle anderen Faktoren konstant bleiben. Nehmen wir an, Boden, Maschinen und alle anderen Inputs würden konstant gehalten. In diesem Fall ist das Grenzprodukt der Arbeit der durch eine zusätzliche Arbeitseinheit zu erreichende zusätzliche Output. In der dritten Spalte von Tabelle 6-1 wird das Grenzprodukt berechnet. Das Grenzprodukt der Arbeit beginnt bei 2.000 für die erste Arbeitseinheit und fällt dann auf nur noch 100 Einheiten für die fünfte Arbeitseinheit. Berechnungen der Grenzproduktivität wie diese tragen entscheidend zum Verständnis der Bildung von Löhnen und anderen Faktorpreisen bei. Das letzte Konzept, das wir in diesem Zusammenhang besprechen möchten, ist das des Durchschnittsprodukts, das den Gesamtoutput, dividiert durch die gesamten Inputeinheiten, darstellt. Spalte (4) in Tabelle 6-1 weist das durchschnittliche Arbeitsprodukt mit 2.000 Einheiten pro Arbeiter bei einem Arbeiter, 1.500 Einheiten pro Arbeiter bei zwei Arbeitern usw. aus. In diesem Beispiel geht das Durchschnittsprodukt im Verlauf der gesamten Bandbreite zusätzlicher Arbeitsinputs immer weiter zurück. 1 In diesem Kapitel sprechen wir von „Arbeitseinheiten“ als Input im Produktionsprozess. Es ist üblich, Arbeit in Form von Arbeitsstunden (Personenstunden) zu messen, um die Tatsache zu berücksichtigen, dass nicht alle Menschen die gleiche Wochenarbeitszeit haben. Der Einfachheit halber verwenden wir hier jedoch nur die Zahl der Arbeiter und nehmen an, sie alle hätten dieselben Arbeitszeiten.
164
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
(a) Gesamtprodukt
Teil 2
(b) Grenzprodukt
TP 4.000
Grenzprodukt (pro Arbeitseinheit)
MP
Gesamtprodukt
3.000
2.000
1.000
0
1
2
3
4
5
3.000
2.000
1.000
0
1
2
3
4
5
Arbeit
Arbeit
Abbildung 6-1: Das Grenzprodukt als Ableitung vom Gesamtprodukt Diagramm (a) zeigt die Gesamtproduktkurve, die ansteigt, wenn zusätzliche Arbeitsinputs hinzukommen, während alles andere konstant bleibt. Dennoch steigt das Gesamtprodukt mit jeder zusätzlichen Arbeitseinheit um einen immer kleineren Wert. (Vergleichen Sie die Zunahme durch den ersten und den fünften Arbeiter.) Durch Verbindung der Punkte erhalten wir die rote Gesamtproduktkurve. Diagramm (b) zeigt die kleiner werdenden Stufen des Grenzprodukts. Überzeugen Sie sich, ob Sie verstanden haben, warum jedes dunkle Rechteck in (b) seinem Gegenstück in (a) entspricht. Der Bereich in (b) unter der roten Grenzproduktkurve (oder die Summe der dunklen Rechtecke) summiert sich zum Gesamtprodukt in (a).
Abbildung 6-1 zeigt die Gesamt- und Grenzprodukte aus Tabelle 6-1. Studieren Sie diese Abbildung sorgfältig, um die Beziehung zwischen den Grenzproduktblöcken in (b) und den Änderungen der Gesamtproduktkurve in (a) zu verstehen.
Das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge (Ertragsgesetz) Mithilfe der Produktionsfunktionen können wir nun eines der bekanntesten Gesetze der gesamten Volkswirtschaft, das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge, kurz Ertragsgesetz genannt, verstehen: Das Ertragsgesetz besagt, dass wir laufend geringere zusätzliche Erträge erhalten, wenn wir einen Input bei unveränderten sonstigen Faktoren immer weiter erhöhen. Mit anderen Worten, das Grenzprodukt jeder Inputeinheit sinkt, wenn sich die Menge dieses Inputs erhöht, während alle anderen Faktor konstant bleiben.
Das Ertragsgesetz drückt eine sehr grundlegende Beziehung aus: Wenn von einem Input wie Arbeit bei gleich bleibender Menge der anderen Produktionsfaktoren wie Land, Maschinen usw. mehr eingesetzt wird, steht dieser vermehrten Arbeitskraft eine immer geringere Menge der anderen Faktoren zur Bearbeitung zur Verfügung. Auf dem Boden wird es immer enger, die Maschinen sind überlastet, und die Grenzproduktivität des Faktors Arbeit nimmt ab. Das Ertragsgesetz lässt sich griffiger fassen, wenn wir uns vorstellen, wir müssten als Landwirte das in Tabelle 6-1 dargestellte Experiment durchführen. Bei einer bestimmten Größe der landwirtschaftlichen Fläche und gleicher Menge der anderen Inputs nehmen wir zunächst einmal an, es würde überhaupt keine Arbeit eingesetzt. Ohne Arbeitsinput auch kein Maisoutput. Dementsprechend weist Tabelle 6-1 das Produkt bei einem Arbeitseinsatz von null mit null aus.
Kapitel 6
(1) Arbeitseinheiten 0
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
(2) Gesamtprodukt
(3) Grenzprodukt
(4) Durchschnittsprodukt
0 2.000
1
2.000
2.000 1.000
2
3.000
1.500 500
3
3.500
1.167 300
4
3.800
950 100
5
3.900
780
Tabelle 6-1: Gesamt-, Grenz- und Durchschnittsprodukt Die Tabelle zeigt das Gesamtprodukt, das sich für verschiedene Arbeitsinputs ergibt, wenn die anderen Inputs (Kapital, Boden usw.) und der Stand des technischen Know-hows unverändert bleiben. Aus dem Gesamtprodukt können wir die wichtigen Prinzipien des Grenz- und Durchschnittsprodukts ableiten.
Wir setzen nun bei derselben Größe landwirtschaftlicher Nutzfläche eine erste Arbeitseinheit ein. Dabei stellen wir fest, dass wir 2.000 Scheffel Mais produzieren können. In einem nächsten Schritt steigern wir den Input von einer auf zwei Arbeitseinheiten, während wir alle anderen Faktoreinsätze gleich belassen. Die zweite Arbeitseinheit kann nur noch 1.000 Scheffel Mais zusätzlich produzieren, also weniger, als die erste Arbeitseinheit gebracht hat. Bei der dritten Arbeitseinheit ist das Grenzprodukt noch niedriger als bei der zweiten, und die vierte Arbeitseinheit erbringt wieder ein bisschen weniger. Das in Tabelle 6-1 dargestellte hypothetische Beispiel illustriert also das Ertragsgesetz. Außerdem zeigt uns Abbildung 6-1 auch das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge für den Produktionsfaktor Arbeit, wenn Boden
165
und die anderen Faktoren konstant bleiben. Wir erkennen, dass die Grenzproduktkurve bei steigendem Arbeitseinsatz fällt, und nichts anderes besagt das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge. In Abbildung 6-1(a) ergeben die abnehmenden Grenzerträge eine konkave oder kuppelförmige Gesamtproduktkurve. Was für die Arbeit gilt, trifft ebenso auf Boden und die anderen Produktionsfaktoren zu. Wir können Boden und Arbeit vertauschen, also die eingesetzte Arbeitskraft konstant belassen, während wir die bearbeitete Fläche variieren. Die Grenzproduktivität des Bodens entspricht der Änderung der Gesamtproduktionsmenge, die sich aus einer zusätzlichen Bodeneinheit ergibt, wenn alle anderen Faktoreinsätze unverändert bleiben. Das Grenzprodukt jedes Inputs (Arbeit, Boden, Maschinen, Wasser, Dünger usw.) lässt sich berechnen, und dieses Grenzprodukt kann auf jeden Output (Weizen, Mais, Stahl, Sojabohnen usw.) angewendet werden. Bei genauerem Hinsehen würden wir feststellen, dass auch alle anderen Inputs dem Gesetz der abnehmenden Grenzerträge folgen. Abnehmende Erträge in landwirtschaftlichen Experimenten Besonders anschaulich ist das Ertragsgesetz in der Landwirtschaft zu beobachten. Farmer Tilly setzt immer mehr Arbeitszeit ein, auf seinen Feldern wird gründlicher gesät und gejätet, die Bewässerungsgräben werden immer präziser und die Vogelscheuchen besser geölt. Irgendwann jedoch erweist sich der zunehmende Arbeitseinsatz als immer unproduktiver. Das dritte Umgraben des Feldes oder das vierte Ölen der Geräte erhöht den Ertrag kaum noch. Schließlich wird der zusätzlich erwirtschaftete Output sehr, sehr gering und immer mehr Leute drängen sich auf der Farm. Dabei zeigt sich: Zu viele Landarbeiter verderben die Ernte. Wirtschaftswissenschaftler führen häufig Experimente durch, um die Auswirkungen unterschiedlicher Inputkombinationen auf den Output zu ermitteln. Abbildung 6-2 zeigt die Er-
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
gebnisse eines Experiments, in dem verschiedene Phosphordosierungen (P2O5) auf zwei verschiedene Felder aufgebracht wurden, wobei Fläche, Stickstoffdüngung, Arbeit und alle sonstigen Inputs konstant gehalten wurden. Im wirklichen Leben werden Experimente durch „Zufallsfehler“ erschwert – in diesem Fall primär durch die unterschiedliche Bodenqualität. Sie sehen, dass das Ertragsgesetz schon bald, nach etwa 100 Pfund Phosphor je Morgen, zuschlägt. Über einem Niveau von 300 Pfund je Morgen rutscht das Grenzprodukt des zusätzlichen Phosphordüngers sogar in den negativen Bereich.
Abnehmende Erträge sind ein wesentlicher Faktor, will man erklären, warum etwa viele Länder Asiens so arm sind. Der Lebensstandard im übervölkerten Indien oder in Bangladesh ist deshalb so gering, weil hier so viele Landwirte auf so wenig Land tätig sind, nicht weil die Leute dort unfähig sind oder auf wirtschaftliche Anreize nicht reagieren. Wir können zur Illustration des Ertragsgesetzes auch ein Studium heranziehen. Sie haben vielleicht festgestellt, dass die erste Stunde Ihres Volkswirtschaftsstudiums an einem bestimmten Tag sehr produktiv war. Sie haben neue wirtschaftliche Gesetze und Fakten kennen gelernt, Einsichten gewonnen und sich über die geschichtliche Entwicklung informiert. In der zweiten Stunde hat ihre Aufmerksamkeit noch ausgereicht, um ein wenig im Buch zu blättern, allerdings haben Sie nicht mehr allzu viel aufgenommen. Aber spätestens in der dritten Lernstunde bricht das Ertragsgesetz mit voller Wucht durch, und am nächsten Tag können Sie sich an absolut nichts mehr von dem, was Sie in dieser dritten Stunde gelernt haben, erinnern. Sagt das Ertragsgesetz eigentlich etwas darüber aus, warum man besser langsam und stetig mitlernen und nicht versuchen sollte, sich noch möglichst am Tag vor der Prüfung alles einzutrichtern? Das Ertragsgesetz ist eher eine weithin beobachtete empirische Gesetzmäßigkeit als
Teil 2
150
Maisertag (Scheffel/Morgen)
166
100
50
0
0
100 200 300 Phosphordüngung (Pfund/Morgen)
400
Abbildung 6-2: Rückläufige Erträge in der Maisproduktion Agrarfachleute haben auf zwei Feldern Experimente mit unterschiedlicher Phosphordosierung durchgeführt, um die Produktionsfunktion für Mais im westlichen Iowa zu ermitteln. Bei der Durchführung des Experiments achtete man besonders darauf, alle sonstigen Faktoren, etwa Stickstoffdüngung, Wasser und Arbeitsaufwand, unverändert zu belassen. Aufgrund der Unterschiede bei Boden und Mikroklima können nicht einmal penibelste Forscher geringfügige Abweichungen vermeiden, woraus sich der gezackte Verlauf der Kurven erklärt. Wenn Sie die Einzeldaten zu einer Kurve verbinden, erkennen Sie, dass jede zusätzliche Dosis rückläufige Erträge zur Folge hat und dass das Grenzprodukt bei einer Phosphordüngung von rund 300 negativ wird. Quelle: Earl O. Heady, John T. Pesek und William C. Brown, Crop Response Surfaces and Economic Optima in Fertilizer Use (Agricultural Experiment Station, Iowa State College, Ames, Iowa, 1955) Tafel A-15.
eine universelle Wahrheit, wie wir sie etwa dem Gesetz der Schwerkraft zubilligen. Man findet es in zahlreichen empirischen Studien wieder, aber es wurden auch durchaus schon jene Ausnahmen gefunden, die die Regel bestätigen. Außerdem gelten die abnehmenden Grenzerträge nicht für jedes Produktionsniveau. Die ersten Arbeitsinputs könnten in Wirklichkeit sehr wohl das Grenzprodukt erhöhen, weil ein Mindestmaß an Arbeitsinput notwendig sein kann, um über-
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
haupt zum Feld zu gelangen und dort eine Schaufel in die Hand zu nehmen. Trotz dieser Einschränkungen gilt das Ertragsgesetz jedoch in den allermeisten Situationen.
Skalenerträge Abnehmende Erträge und Grenzprodukte beschreiben die Veränderung des Produktionsergebnisses bei Erhöhung eines einzelnen Inputs, wenn alle anderen Inputs konstant bleiben. Wir haben gesehen, dass zunehmender Arbeitseinsatz bei einer gegebenen Fläche verfügbaren Ackerlandes den Lebensmitteloutput immer weniger steigert. Doch manchmal interessieren uns die Auswirkungen aller zusätzlich eingesetzten Inputs. Wie beispielsweise würde sich die Weizenproduktion entwickeln, könnte man Boden, Arbeit, Wasser und andere Inputs im selben Ausmaß steigern? Oder wie stünde es um die Produktion von Traktoren, würden die jeweiligen Mengen an Arbeit, Computern, Robotern, Stahl und Produktionsfläche verdoppelt? Diese Fragen beziehen sich auf die so genannten Skalenerträge (auch Niveauerträge genannt), mit anderen Worten, auf die Auswirkungen einer Vervielfachung der Inputs auf die produzierte Menge. Dabei lassen sich drei wichtige Fälle unterscheiden: • Konstante Skalenerträge liegen vor, wenn eine Änderung aller Inputs zu einer Veränderung des Outputs im selben Verhältnis führt. Werden beispielsweise Boden, Kapital und die anderen Faktoreinsätze verdoppelt, so verdoppelt sich bei konstanten Skalenerträgen auch die Produktionsmenge. Zahlreiche Gewerbebetriebe (beispielsweise Friseure in den USA oder Handwebstühle in einem Entwicklungsland) weisen konstante Erträge auf. • Zunehmende Skalenerträge treten ein, wenn eine Erhöhung aller Inputs zu einem überproportionalen Anstieg des Outputs
167
führt. So könnte beispielsweise ein Ingenieur, der die Pläne für einen kleinen chemischen Betrieb entwirft, zu der allgemeinen Erkenntnis gelangen, dass eine Vermehrung des Einsatzes von Arbeit, Kapital und Material um 10 Prozent das Produktionsergebnis um mehr als 10 Prozent steigert. Technische Studien haben ergeben, dass bei zahlreichen industriellen Produktionsprozessen bis zu den größten heute üblichen Anlagen leicht steigende Skalenerträge eintreten. • Abnehmende Skalenerträge treten auf, wenn eine gleichmäßige Erhöhung aller Inputs zu einer unterproportionalen Erhöhung des Gesamtoutputs führt. In vielen Prozessen kann eine Erhöhung der Inputs letztlich an einen Punkt führen, ab dem es zu Ineffizienzen kommt. Diese könnten auf einen exzessiven Management- oder Kontrollaufwand zurückzuführen sein. In der Stromerzeugung mussten etwa die Unternehmen feststellen, dass allzu große Kraftwerke ein zu hohes Ausfallrisiko bedeuten. Viele Produktionstätigkeiten, in denen natürliche Ressourcen eine Rolle spielen, etwa die Bearbeitung eines Weinberges oder die Versorgung einer Stadt mit sauberem Trinkwasser, weisen abnehmende Skalenerträge auf. Die Produktion zeigt konstante, abnehmende oder zunehmende Skalenerträge, je nachdem ob eine gleichmäßige Erhöhung aller Faktoren zu einem überproportionalen, unterproportionalen oder proportionalen Anstieg der Produktionsmenge führt. Techniker stellen sehr häufig fest, dass moderne Massenproduktionsmethoden eine gewisse Mindestgröße der Fabriken voraussetzen. In Kapitel 2 haben wir darauf hingewiesen, dass Unternehmen bei steigender Produktionsleistung den Produktionsprozess häufig in getrennte Arbeitsschritte unterteilen und sich so Spezialisierung und Arbeitsteilung zunutze machen. Außerdem ermög-
168
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
licht die Produktion im größeren Maßstab eine intensivere Nutzung spezialisierter Kapitalausstattung und Automation sowie die Anwendung von CAD/CAM-Methoden, um einfache und Routinearbeiten rasch erledigen zu können. Die Informationstechnologie zeichnet sich oft durch hohe Skalenerträge aus. Dies zeigt recht anschaulich etwa Microsoft Windows 98. Die Entwicklung dieses Programms kostete über US-$ 1 Milliarde für Forschung, Entwicklung, Beta-Tests und Werbung. Trotzdem verursacht es fast keine Kosten, Windows 98 auf einem neuen Computer zu speichern, weil dazu nur einige Sekunden Computerzeit erforderlich sind. Wir werden noch sehen, dass ausgeprägte Skaleneffekte häufig Unternehmen mit erheblicher Marktmacht hervorbringen und daher für die staatliche Wirtschaftspolitik ein ernsthaftes Problem darstellen.
Kurz- und langfristige Betrachtungsweise Produktion erfordert nicht nur Arbeit und Boden, sondern auch Zeit. Riesige Pipelinesysteme werden nicht über Nacht errichtet, doch wenn sie einmal in Betrieb sind, halten sie jahrzehntelang. Landwirte können nicht mitten in der Saison ihren Anbauplan ändern. An großen Elektrizitätswerken wird vielleicht ein Jahrzehnt lang geplant, gebaut, getestet und kommissioniert. Sobald aber die Kapitalausstattung in die konkrete Form eines riesigen Autowerks gebracht wurde, kann dieses Kapital wirtschaftlich nicht mehr herausgelöst und an einen anderen Standort verschoben oder einer anderen Verwendung zugeführt werden. Um auch die Rolle der Zeit bei Produktion und Kosten zu berücksichtigen, unterscheiden wir daher eine kurz- und eine langfristige Betrachtungsweise. Als kurzfristig wird eine Zeitdauer beschrieben, in der die Unternehmen ihre Produktion durch eine Änderung variabler Faktoren wie diverser Rohmaterialien oder der eingesetzten Ar-
Teil 2
beitskräfte anpassen können, während sich fixe Faktoren wie Kapital nicht so schnell verändern lassen. Als langfristig wird jener Zeitraum beschrieben, der ausreicht, um alle Faktoren einschließlich des Kapitals anpassen zu können. Zum besseren Verständnis dieser beiden Konzepte wollen wir einmal überlegen, wie die Stahlproduktion auf Änderungen der Nachfrage reagieren könnte. Nehmen wir etwa an, Nippon Steel fährt seine Hochöfen mit 70-prozentiger Auslastung, und plötzlich steigt völlig unerwartet die Nachfrage nach Stahl, weil etwa das Werk eines Konkurrenten stillgelegt werden musste. Um sich der höheren Stahlnachfrage anzupassen, kann das Unternehmen seine Produktion steigern, indem es die Arbeiter Überstunden machen lässt und seine Anlagen und Maschinen intensiver nutzt. Faktoren, die kurzfristig vermehrt eingesetzt werden können, bezeichnen wir als variable Faktoren. Es könnte aber auch sein, dass die höhere Stahlnachfrage mehrere Jahre lang anhält. Nippon Steel würde in diesem Fall seinen Kapitalbedarf analysieren und eine Erhöhung der hauseigenen Produktionskapazitäten beschließen. Allgemeiner ausgedrückt, würde ein Unternehmen in einer solchen Situation wohl auch alle seine fixen Faktoren überprüfen – Faktoren, die sich aus physikalischen oder rechtlichen Gründen kurzfristig nicht ändern lassen. Der Zeitraum, der erforderlich ist, um alle Faktoreinsätze, fixe wie variable, ändern zu können, wird als langfristig bezeichnet. Langfristig könnte Nippon neue und effizientere Produktionsverfahren einführen, eine Bahnanbindung anstreben oder auch ein neues computergestütztes Kontrollsystem einführen; ebenso könnte das Unternehmen möglicherweise ein neues Werk in Mexiko eröffnen. Lassen sich alle Faktoren anpassen, steigt die Stahl-Gesamtproduktionsmenge, und auch die Effizienz kann erhöht werden. Für eine effiziente Produktion sind sowohl Zeit als auch konventionelle Produktionsfak-
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
toren wie Arbeit erforderlich. Wir unterscheiden daher in Produktion und Kostenanalyse zwischen zwei unterschiedlich langen Zeitperioden. Als kurzfristig wird dabei ein Zeitraum betrachtet, innerhalb dessen nur einige, nämlich die variablen Faktoreinsätze angepasst werden können. Fixe Faktoren wie Anlagen und Ausstattung lassen sich dagegen kurzfristig nicht vollständig ändern oder anpassen. Als langfristig wird ein Zeitraum bezeichnet, in dem alle fixen und variablen Faktoren, derer sich das Unternehmen bedient, einschließlich Kapital, verändert werden können. 2 Das duftet ja köstlich! Die Produktionsprozesse in einer modernen Marktwirtschaft sind überaus komplex. Wir können diesen Umstand anhand eines schlichten Hamburgers veranschaulichen. Je länger sich die Amerikaner an ihrem Arbeitsplatz aufhalten und je weniger Zeit sie in ihren Küchen verbringen, desto stärker steigt die Nachfrage nach Fertignahrung. So genannte TV-Dinners haben den Einkauf von Karotten und Erbsen im Laden ersetzt, während die Zahl der Hamburger, die bei McDonald's über den Ladentisch wandern, bereits in die Milliarden geht. Der Wechsel hin zu industriell verarbeiteter Nahrung hat allerdings den Nachteil, dass das Essen, nachdem es gewaschen, sortiert, geschnitten, blanchiert, eingefroren, aufgetaut und neuerlich erhitzt wurde, häufig seinen Geschmack eingebüßt hat. Als Konsument wünscht man sich jedoch, dass ein Hamburger riecht und schmeckt wie ein Hamburger und nicht wie gekochte Pappe. An diesem Punkt setzt die „Produktion von Aromen und Gerüchen“ ein. Unternehmen wie International Flavors and Fragrances (IFF) stellen den Geschmack von Potato Chips, Frühstücksflocken, Eiscreme, Keksen und allen sonstigen Arten industriell produzierter Nahrung her, sie erzeugen aber auch die Düfte vieler exquisiter Parfums, Seifen und Shampoos. Wenn Sie sich die Etiketten der Produkte, die Sie im Lebensmittelhandel einkaufen, einmal durchlesen, werden Sie häufig Hinweise auf „natürliche Inhalts-
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stoffe“ oder „künstliche Inhaltsstoffe“ finden; dabei handelt es sich um Verbindungen wie Amylazetat (Bananengeschmack) oder Benzaldehyd (Mandelgeschmack). Doch diese uns meist unbekannten Chemikalien bewerkstelligen Unglaubliches. Ein Nahrungsforscher berichtet uns über seine Erfahrungen in den Labors von IFF: [Nachdem wir einen Duftteststreifen aus Papier in jedes der Fläschchen im Labor getaucht hatten,] schloss ich die Augen. Anschließend atmete ich tief ein und konnte vor meinem inneren Auge aus den Glasflaschen ein Nahrungsmittel nach dem anderen auftauchen lassen. Ich roch frische Kirschen, schwarze Oliven, Röstzwiebeln und Shrimps. [Die] erstaunlichste Kreation verblüffte mich jedoch sehr. Mit geschlossenen Augen roch ich plötzlich einen gut gegrillten Hamburger. Das Aroma war geradezu unheimlich echt. Es roch, als würde jemand im selben Raum Frikadellen auf einem heißen Grill wenden. Als ich meine Augen wieder öffnete, lag da jedoch nur ein schmaler weißer Streifen aus Papier.2
Diese Geschichte erinnert uns daran, dass „Produktion“ in einer modernen Wirtschaft viel mehr ist als nur der Anbau von Kartoffeln oder das Gießen von Stahl. Bisweilen müssen Dinge wie ein Hühnchen und Kartoffeln in winzige Bestandteile zerlegt und dann mit neuen, irgendwo auf der Welt künstlich hergestellten Komponenten wieder zusammengesetzt werden. Diese komplexen Produktionsprozesse finden wir in jedem Sektor, von Medikamenten, die unseren Gemütszustand ändern oder unser Blut verdünnen können, bis hin zu Finanzinstrumenten, die die mit einem Darlehen verbundenen Zahlungsströme auseinandernehmen, neu zusammenstellen und so verkaufen. Und meistens sind wir völlig ahnungslos, welche exotischen Substanzen sich in der einfachen Schachtel aus Recyclingpapier, in die unser 2-Dollar-Hamburger gelegt wurde, tatsächlich befinden.
2 Eric Schlosser, Fast Food Nation (Perennial Press, New York, 2002), S. 129.
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Technologischer Wandel Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass die Gesamtproduktion der USA im letzten Jahrhundert um mehr als das Zehnfache angestiegen ist. Ein Teil dieses Zuwachses ist den vermehrten Inputs, beispielsweise Arbeit und Maschinen, zuzuschreiben. Aber einen großen Teil des Outputzuwachses verdanken wir dem technologischen Fortschritt, der zu Verbesserungen in Produktion und Lebensstandard geführt hat. In mancherlei Hinsicht hat der technologische Fortschritt zu wirklich dramatischen Umwälzungen geführt: Großraumjets haben die Anzahl der Passagiermeilen pro Inputeinheit um beinahe 50 Prozent erhöht. Die Glasfasertechnologie konnte im Bereich der Telekommunikation die Kosten senken und gleichzeitig die Verlässlichkeit erhöhen. Und Verbesserungen in der Computertechnologie haben die Rechnergeschwindigkeit in drei Jahrzehnten auf mehr als das Tausendfache gesteigert. In anderen Bereichen tritt der technologische Wandel subtiler zutage, beispielsweise wenn die Unternehmen ihre Produktionsmethoden ändern, um eine Vergeudung von Ressourcen zu vermeiden und den Output zu erhöhen. Wir unterscheiden zwischen Prozessinnovation, die dann gegeben ist, wenn neues technisches Know-how die Produktionstechnik für bestehende Produkte verbessert, und Produktinnovation, wenn neue oder verbesserte Produkte auf den Markt gebracht werden. Eine Prozessinnovation ermöglicht es beispielsweise den Unternehmen, bei gleich bleibendem Faktoreinsatz mehr zu produzieren oder aber sich mit derselben Produktionsmenge zu begnügen, dafür aber weniger an Input aufwenden zu müssen. Mit anderen Worten, Prozessinnovationen entsprechen einer Verschiebung der Produktionsfunktion. In Abbildung 6-3 ist zu sehen, wie technologischer Fortschritt in Form einer Prozessinnovation die Gesamtproduktionskurve ver-
Teil 2
schiebt. Die untere Linie stellt den möglichen Output oder die Produktionsfunktion eines bestimmten Sektors im Jahr 1995 dar. Nehmen wir an, die Produktivität oder der Output je Inputeinheit würden in diesem Sektor jährlich um 4 Prozent steigen. Würden wir uns den Sektor zehn Jahre später wieder ansehen, könnten wir wahrscheinlich feststellen, dass die Veränderungen im technischen und praktischen Know-how zu einer Erhöhung der Produktionsmenge pro Inputeinheit um 48 Prozent geführt haben [(1 + 0,04)10 = 1,48]. Als Nächstes wenden wir uns Produktinnovationen zu, bei denen es um neue oder verbesserte Produkte geht. Es ist viel schwieriger, die Bedeutung von Produktinnovationen zu quantifizieren, aber zur Hebung des Lebensstandards tragen sie unter Umständen noch mehr bei als Prozessinnovationen. Die heute verfügbaren Güter und Dienstleistun8.000 Technologie 2005
7.000 6.000 Gesamtprodukt
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5.000
Technologie 1995
4.000 3.000 2.000 1.000 0
1
2
3
4
5
Input
Abbildung 6-3: Der technologische Wandel verschiebt die Produktionsfunktion nach oben Die durchgängige Linie stellt die maximal erreichbare Produktionsleistung für jedes Inputniveau bei gegebenem Stand der Technik für das Jahr 1995 dar. Als Ergebnis technologischer und organisatorischer Verbesserungen verschiebt der technologische Wandel die Produktionsfunktion nach oben und ermöglicht in diesem Fall für das Jahr 2005 bei jedem Inputniveau einen um 50 Prozent höheren Output.
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
gen unterscheiden sich ganz erheblich von dem, was vor 50 Jahren angeboten wurde. Um dieses Lehrbuch herzustellen, haben die Autoren auf Computersoftware, Mikroprozessoren, Internetseiten und Datenbanken zurückgreifen können, die zur Abfassung früherer Ausgaben nicht zur Verfügung standen. Medizin, Kommunikation und Unterhaltungsindustrie sind weitere Gebiete, auf denen enorme Produktinnovationen erzielt wurden. Ja, alles was mit dem Internet zu tun hat, vom ECommerce bis zur E-Mail, fand man vor 20 Jahren noch nicht einmal in der ScienceFiction-Literatur. Nur so zum Spaß und um diese Entwicklung besser zu begreifen, sollten Sie einmal versuchen, Produkte oder Produktionsprozesse aufzuspüren, die sich nicht verändert haben, seit Ihre Großeltern die Schulbank gedrückt haben! Abbildung 6-3 zeigt den glücklichen Fall eines technologischen Fortschritts. Ist auch der gegenteilige Fall – ein technologischer Rückschritt – denkbar? In einer gut funktionierenden Marktwirtschaft lautet die Antwort auf diese Frage schlicht nein. Und das ist tatsächlich einer der größten Vorteile der Marktwirtschaft gegenüber einer durch staatliches Diktat gelenkten Wirtschaft. In einer Marktwirtschaft erledigen sich minderwertige Technologien sozusagen von selbst, während andere, die als brauchbar und vorteilhaft erkannt werden und die Produktivität steigern, freudig begrüßt werden, weil sie die Gewinne der Unternehmen, der Träger der Innovation, erhöhen. Würde ein Erfinder eine teure neue Mausefalle auf den Markt bringen, mit der noch niemals eine Maus gefangen wurde, fände sich kein gewinnorientiertes Unternehmen bereit, diese zu produzieren; sollte sich irgendein schlecht geführtes Unternehmen aber doch auf ein solches Unterfangen einlassen, müsste es wohl vergeblich auf Kunden unter den von einer Mäuseplage heimgesuchten Hausbesitzern warten. Gut funktionierende Märkte produzieren Innovationen mit besseren Mausefallen und anderen einwandfrei funktionierenden Gütern und Dienstleistungen.
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Abnorme Sonderfälle können jedoch zu einem technologischen Rückschritt führen, und das selbst in einer Marktwirtschaft. Ein Unternehmen, dessen Produktion keinen ausreichenden staatlichen Regelungen unterworfen ist, könnte beispielsweise ein sozial schädliches Verfahren einführen – es könnte beispielsweise toxische Abwässer in einen Fluss einleiten, einfach weil dieses Verfahren billiger wäre. Hier stellt sich der wirtschaftliche Vorteil nur ein, weil die sozialen Kosten der Umweltverschmutzung nicht in die Kalkulation der Produktionskosten dieses Unternehmens eingehen. Könnte man die Kosten, die die Vergiftung des Flusses verursacht, in die Unternehmensrechnung einbringen, entweder durch strenge Beachtung des Verursacherprinzips oder durch drastische steuerliche Maßnahmen, wäre ein solcher technologischer Rückschritt hingegen nicht gewinnträchtig. Auf Wettbewerbsmärkten ergeht es schlechten Produkten wie einst den Dinosauriern: Sie sterben aus. Netzwerke Viele Produkte sind für sich allein genommen ziemlich nutzlos, gewinnen aber an Wert, wenn sie in Verbindung mit anderen eingesetzt werden. Sie ergänzen einander sehr stark. Ein wichtiges Beispiel für diese spezielle Konstellation sind Netzwerke, die Verbindung mehrerer Menschen oder Elemente durch ein bestimmtes Medium. Da gibt es Netzwerke, die sich über physische Verbindungen definieren, wie Telekommunikationssysteme, Stromübertragungsnetze, Computer-Cluster, Pipelines und Straßen, aber auch indirekte Netze, die entstehen, wenn Menschen untereinander kompatible Systeme (wie das Betriebssystem Windows) verwenden oder dieselbe Sprache (etwa Englisch) sprechen. Um zu verstehen, was ein Netzwerk ist, überlegen Sie sich einmal, wie weit Sie mit Ihrem Auto kämen, gäbe es nicht ein ausgedehntes Netz von Tankstellen, oder welchen Nutzen Ihr Telefon oder E-Mail für Sie hätte, wären Sie die einzige Person mit einem
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Telefon oder Computer. Kredit- und sonstige Geldkarten schätzen wir nur deshalb, weil sie an vielen Orten akzeptiert werden. Netzwerkmärkte sind etwas ganz Spezielles, weil ihre Konsumenten einen Nutzen nicht nur aus der Verwendung eines Gutes, sondern auch aus der Zahl der anderen Teilnehmer, die das gleiche Gut verwenden, ziehen. Man spricht in diesem Fall von Netzwerkexternalitäten durch Adoption. Wenn ich ein Telefon anschaffe, kann jeder, der ebenfalls ein Telefon hat, mit mir kommunizieren. Dass ich diesem Netzwerk beitrete, bewirkt somit positive Externalitäten für andere. Die Netzwerkexternalität ist der Grund dafür, warum viele Kollegen allen ihren Studenten und der Fakultät einen universellen E-Mail-Zugang verschaffen – der Wert der E-Mail-Funktion ist einfach viel höher, wenn sich alle daran beteiligen. Abbildung 6-4 zeigt, wie nützlich sich der Beitritt eines Einzelnen zu einem Netzwerk für die anderen Teilnehmer erweist. Ökonomen haben zahlreiche wichtige Eigenschaften entdeckt, die Netzwerkmärkte auszeichnen. Zunächst werden Netzwerkmärkte als „wackelig“ bezeichnet, das heißt, ihr Gleichgewicht ruht nur auf einem oder wenigen Produkten. Da es die Konsumenten ablehnen, Produkte zu kaufen, die sich dann möglicherweise mit der vorherrschenden Technologie als inkompatibel erweisen, entsteht eine starke Tendenz in Richtung eines einzelnen Produkts, das sich gegenüber allen Konkurrenzprodukten durchsetzt. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür sind Computer-Betriebssysteme: Microsoft Windows ist teilweise auch deshalb zum alles beherrschenden System geworden, weil die Konsumenten sichergehen wollten, dass ihre Computer die gesamte verfügbare Software unterstützen würden. (Übrigens finden Sie eine Erörterung des sehr spannenden kartellrechtlichen Verfahrens gegen Microsoft in Kapitel 17.) Ein zweites interessantes Merkmal ist der Umstand, dass auf Netzwerkmärkten „die Vergangenheit zählt“. Berühmtheit hat hier die Tastatur mit ihrer Buchstabenfolge QWERTZ erlangt, die Sie etwa beim Schreiben auf Ihrem Computer benutzen. Vielleicht
Teil 2
möchten Sie wissen, wie diese ganz bestimmte und völlig willkürlich scheinende Anordnung zustande gekommen ist. Das Design der QWERTZ-Tastatur gründete im 19. Jahrhundert auf der leidvollen Erfahrung, dass häufig benutzte Buchstaben wie „e“ und „o“ möglichst weit auseinander gehalten werden mussten, wenn sich die Mechanik der damaligen Schreibmaschinen mit ihren Typen nicht verheddern sollte. Als schließlich elektronische Schreibmaschinen auf den Markt kamen, hatten bereits viele Millionen Menschen das Tippen auf diesen alten mechanischen Geräten erlernt. Man hätte nun die QWERTZ-Tastatur durch eine andere, effizientere ersetzen können, doch das wäre einerseits teuer und andererseits schwer zu koordinieren gewesen. Deshalb wurde die Anordnung der Buchstaben bis zum heutigen Tage beibehalten. Dieses Beispiel zeigt, wie unglaublich stabil eine eingebettete Netzwerktechnologie sein kann. Ein ähnlicher Fall, der vielen Umweltschützern schlaflose Nächte bereitet, ist die „verschwenderische“ amerikanische Kultur im Umgang mit dem Auto: Es wird schwierig werden, das bestehende Netzwerk aus Autos, Straßen, Tankstellen und Wohnorten zugunsten umweltfreundlicherer Alternativen wie besserer Massenverkehrsmittel aufzugeben. Drittens: Weil Netzwerke ein kompliziertes Wechselspiel von Skaleneffekten, Erwartungen, Dynamik und instabilen Gleichgewichten beinhalten, führen sie zu wirklich faszinierenden Geschäftsstrategien. Das Merkmal des in die eine oder andere Richtung neigenden Gleichgewichts führt tendenziell zu Märkten, die vom Prinzip des Alles oder Nichts gekennzeichnet sind („The winner takes – it all“), mit intensiver Rivalität in den Frühphasen, aber nur noch wenigen Marktteilnehmern, sobald sich die siegreiche Technologie durchgesetzt hat. Außerdem sind Netzwerkmärkte häufig träge, das heißt, sobald ein Produkt einen deutlichen Vorsprung erzielt hat, kann es für die anderen sehr schwierig werden, diesen wieder aufzuholen. Diese Merkmale führen dazu, dass die Unternehmen häufig danach trachten, von Anfang an die Nase vorne zu haben.
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
Nehmen wir an, Sie würden ein Netzwerkprodukt erzeugen. Um von ihrer frühen Führung zu profitieren, möchten Sie die Nutzer vielleicht davon überzeugen, dass Sie die Nummer Eins sind, weshalb Sie Ihre Umsätze möglichst aufbauschen. Vielleicht ordnen Sie auch Ihre Preisgestaltung der Marktdurchdringung unter und bieten frühen Nutzern Ihre Dienste sehr billig an. Sie könnten Ihr Produkt aber auch mit einem anderen, beliebten Produkt in Verbindung bringen. Oder Sie äußern öffentlichkeitswirksam Zweifel an der Qualität oder Zukunft Ihrer Konkurrenz. Vor allem aber würden Sie bestimmt massiv in Werbemaßnahmen investieren, um die Nachfragekurve für Ihr Produkt nach außen zu verschieben. Gehen Sie aus diesem Wettbewerb schließlich als glücklicher Sieger hervor, können Sie mit Ihrem Netzwerk von den Skaleneffekten profitieren und Ihre Monopolgewinne genießen. Trotzdem sollten Sie sich Ihrer dominanten Position keineswegs zu sicher sein. Sobald Zweifel an Ihrer Führungsposition entstehen, kann leicht eine teuflische Abwärtsspirale entstehen. Netzwerke werfen schwerwiegende Fragen im Zusammenhang mit politischen Interventionen auf. Soll eine Regierung Standards vorgeben, um den Wettbewerb unter allen Umständen zu gewährleisten? Sollte der Staat Netzwerkbranchen regulieren? Wie sollten Monopolisten – Beispiel Microsoft – kartellrechtlich behandelt werden, wenn sie nach einem harten Konkurrenzkampf nun als Gewinner dastehen, sich aber wettbewerbsschädlicher Taktiken bedienen? Diese Fragen gehen heute vielen Politikern durch den Kopf.3
Produktivität und aggregierte Produktionsfunktion Produktivität Eine der bedeutendsten Kennzahlen volkswirtschaftlicher Leistung ist die Produktivität. Produktivität ist ein Konzept zur Messung des Verhältnisses zwischen dem Ge-
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samtoutput und einem gewichteten Inputdurchschnitt. Zwei bedeutende Varianten der Produktivität sind die Arbeitsproduktivität, die den Output je Arbeitseinheit errechnet, und die Gesamtfaktorproduktivität, die den Output je Einheit der Gesamtinputs misst (typischerweise bestehend aus Kapital und Arbeit). 3 Während der Wachstumsphase der ausklingenden 1990er Jahre konnte die US-Wirtschaft sowohl ihren Gesamtoutput als auch ihre Produktivität kräftig steigern. Von 1995 bis 2000 wuchs der US-Unternehmenssektor im Durchschnitt um 4,7 Prozent jährlich. In dieser Zeit stiegen die Arbeitsstunden um 2,0 Prozent pro Jahr. Die Differenz entsprach der Steigerung der Arbeitsproduktivität, die in dieser Zeit durchschnittlich 2,7 Prozent betrug.
Produktivitätswachstum durch Skaleneffekte Die Produktivität wächst aufgrund von Skaleneffekten und technologischem Fortschritt. Skaleneffekte und Massenproduktion waren im vergangenen Jahrhundert bedeutende Produktivitätsfaktoren. Die meisten Produktionsprozesse sind heute sehr viel umfangreicher als im 19. Jahrhundert. Ein großes Schiff konnte um die Mitte des 19. Jahrhunderts 2.000 Tonnen Güter befördern, während die heutigen Supertanker mehr als 1 Million Tonnen Öl laden und befördern. Welche Auswirkungen hätte wohl ein allgemeiner Übergang zu größeren Einheiten in der Wirtschaft? Bei überwiegend steigenden Erträgen würden größere Input- und Produktionseinheiten die Produktivität steigern. Unter der Annahme, dass sich die Inputs eines typischen Unternehmens ohne Veränderung der Technologie um 10 Prozent erhöhten, könnte der Output aufgrund der Skaleneffekte beispielsweise um 11 Prozent steigen. Skaleneffekte hätten in diesem Fall eine Steigerung der 3 Am Ende des Kapitels finden Sie einige Literaturempfehlungen zu diesem Thema.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Adam
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Beth
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NetzwerkDrehscheibe
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Carlos
Dorothy
7
6
Ed
Abbildung 6-4: Die Vorteile der Vernetzung steigen mit der Zahl der Teilnehmer Nehmen wir an, jede Person erzielte aufgrund jeder zusätzlichen Person, die an ein Telefon- oder E-Mail-Netz angeschlossen ist, einen Nutzen von US-$ 1. Entschließt sich Ed zur Teilnahme, erzielt er einen Nutzen von US-$ 4 durch seine Verbindung mit Adam, Beth, Carlos und Dorothy. Doch zugleich tritt auch ein „externer Einstiegseffekt“ ein, weil jede der vier bereits vernetzten Personen durch Eds Beitritt einen Zusatznutzen von US-$ 1 erzielt, insgesamt also US-$ 4 an externem Zusatznutzen. Aufgrund dieser Wirkung von Netzwerken gilt: Aller Anfang ist schwer. (Dies ergibt sich deutlich aus dem geringen Beitrittsnutzen für die erste und zweite Person.) Doch das Gleichgewicht „weist“ in Richtung vollständiger Einstieg, wenn möglichst viele Personen im Netzwerk verbunden sind. (Wie hoch ist übrigens der Nutzen für die zehnte Person, die dem Netzwerk beitritt?)
Gesamtfaktorproduktivität um 1 Prozent zur Folge. Obwohl in vielen Bereichen das Potenzial für steigende Skalenerträge groß ist, können sich die Skalenerträge ab einem gewissen Punkt wieder rückläufig entwickeln. Wenn die Unternehmen immer größer und größer werden, entstehen zugleich immer komplexere Probleme in Management und Koordination. Im rück-
sichtslosen Streben nach immer höheren Profiten kann ein Unternehmen auf immer neue geografische Märkte und in neue Produktnischen vorstoßen und sich schließlich mehr aufbürden, als es zu bewältigen in der Lage ist. Ein Unternehmen kann nur einen Geschäftsführer haben, ebenso nur einen Finanzchef und einen Vorstand. Da nun weniger Zeit für Marktsondierung und Entscheidungsfindung zur Verfü-
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
gung steht, stellen die Topmanager dieses Großunternehmens möglicherweise eines Tages fest, dass sie sich bereits allzu weit von den Tagesentscheidungen entfernt haben, weshalb sich nach und nach Fehler einschleichen. Wie große Imperien, die im Zuge ihrer Ausdehnung gewissermaßen nirgends mehr wirklich präsent sind, stellen solche Kolosse unter den Unternehmen irgendwann fest, dass ihnen kleinere und flexiblere Konkurrenten stark zusetzen. Managementtheoretiker berichten, der weltweit größte Autohersteller, General Motors, sei von der Außenwelt wie auch vom Konkurrenzdruck zunehmend isoliert worden. Er habe daher nur noch langsam auf Veränderungen auf dem Automarkt im Gefolge des Ölpreisschocks der 1970er Jahre reagiert und schließlich bedeutende Marktanteile an kleinere, flinkere Mitbewerber verloren. Während also die Technologie konstante oder zunehmende Skalenertrage im Idealfall durchaus zulassen würde, können Management und Kontrollerfordernisse gerade in Riesenunternehmen schließlich zu einer rückläufigen Ertragsentwicklung führen.
Empirische Schätzungen der aggregierten Produktionsfunktion Da wir nun die Prinzipien der Produktionstheorie kennen gelernt haben, können wir sie praktisch anwenden und die Wirtschaftsleistung der US-Wirtschaft untersuchen. Dazu müssen wir die Gesamtproduktion, die Menge an eingesetzten Produktionsfaktoren (wie Arbeit, Kapital und Boden) und die Gesamtproduktivität betrachten. Hier einige wichtige Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften: • Im 20. Jahrhundert ist die Gesamtproduktivität infolge technologischen Fortschritts und einer besseren Ausbildung der Arbeitskräfte gestiegen. Die durchschnittliche Steigerung der Gesamtproduktivität lag im 20. Jahrhundert knapp unter 1,5 Prozent jährlich.
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• Der Kapitalbestand ist stärker gestiegen als die Anzahl der Arbeitsstunden. Den Arbeitskräften stehen somit mehr Kapitalgüter zur Verfügung. In der Folge legten Arbeitsproduktivität und Löhne jährlich um mehr als das genannte Produktivitätswachstum von 1,5 Prozent zu. • Die Kapitalrendite (die Profitrate) hätte eigentlich sinken müssen, weil jeder einzelnen Kapitaleinheit nun weniger Arbeitsleistung gegenübersteht. Tatsächlich aber blieb die Kapitalrendite konstant. • Im 20. Jahrhundert wuchs die Arbeitsproduktivität durchschnittlich um etwas über 2 Prozent jährlich. Vom Beginn der 1970er bis zur Mitte der 1990er Jahre weisen alle Produktivitätsmessungen eine deutliche Verlangsamung des Wachstums aus, und in der Folge stagnierten Reallöhne wie Lebensstandard in dieser Periode. Seit Mitte der 1990er Jahre ist es, weitgehend bedingt durch die Computerrevolution, zu einem drastischen Aufschwung des Produktivitätswachstums gekommen, das heute Werte knapp unterhalb der historischen Norm aufweist. Wir möchten diesen Abschnitt mit einem abschließenden Wort über die Schwierigkeiten einer präzisen Messung des Produktivitätswachstums beenden. Jüngste empirische Studien lassen den Schluss zu, dass wir das Produktivitätswachstum offensichtlich stark unterschätzt haben. Untersuchungen über medizinische Versorgung, Kapitalgüter, Unterhaltungselektronik, Computer, Software und Beleuchtung legen den Schluss nahe, dass unsere Messlatte der Produktivität grobe Mängel aufweist. Ein besonderes Problem ergibt sich dadurch, dass der wirtschaftliche Wert neuer und verbesserter Produkte nicht berücksichtigt wird. Als etwa CDs die früheren Langspielplatten ersetzten, ignorierte unsere Messung der Produktivität die erhöhte Haltbarkeit und bessere Tonqualität der neuen Speichermedien. Eine Studie ergab eine jährlich um 5 Prozent höhere Produktivität
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
bei der Behandlung von Herzinfarkten, als konventionelle Messungen auswiesen. Manche Experten glauben, die tatsächlichen Produktivitätssteigerungen könnten doppelt so hoch sein, wie offizielle Schätzungen angeben.
B. Unternehmensarten Das Wesen des Unternehmens Bisher haben wir über Produktionsfunktionen gesprochen, als handele es sich um Maschinen, die völlig selbstständig und ohne Zutun von außen funktionierten: Man nehme ein Schwein und erhalte eine Wurst. Tatsächlich aber liegt der Großteil der gesamten Produktion in den Händen spezialisierter Unternehmen – nämlich all jener Klein-, Mittel- und Großbetriebe, die eine moderne Wirtschaft ausmachen. Warum aber findet eigentlich Produktion im Allgemeinen eher in Unternehmen als in unserem privaten Keller statt? Firmen oder Unternehmen gibt es aus vielerlei Gründen, doch der wichtigste Grund lautet: Unternehmen sind spezialisierte Organisationen, die sich mit dem Management des Produktionsprozesses befassen. Zu ihren wichtigen Funktionen gehören die Nutzung der Vorteile einer Massenproduktion, dieBeschaffung von Finanzmitteln und die Organisation der Produktionsfaktoren. Der einleuchtendste Grund, der die Organisation der Produktion in Unternehmen als vernünftig erscheinen lässt, liegt in der Wirtschaftlichkeit der Massenproduktion. Effiziente Produktionsmethoden erfordern hoch spezialisierte Maschinen und Betriebe, Fertigungsstraßen und Arbeitsteilung in zahlreichen kleinen Arbeitsschritten. Studien belegen, dass etwa die effiziente Produktion von Autos Produktionsraten von zumindest 300.000 Einheiten jährlich erfordert.
Teil 2
Wir dürfen wohl kaum damit rechnen, dass sich Arbeiter spontan zusammentun, um jeden Arbeitsschritt korrekt und in der richtigen Reihenfolge zu erledigen. Oder wie wahrscheinlich ist es schon, dass 25 Leute sich zu einer Baseball-Mannschaft mit Werfern, Fängern und Schlägern zusammenfinden, die alle in der richtigen Reihenfolge und mit der bestmöglichen Strategie agieren? Wir brauchen daher die Unternehmen, damit sie den Produktionsprozess koordinieren, Grund und Boden kaufen oder pachten und für Kapital, Arbeit und Rohstoffe sorgen. Bestünde keine Notwendigkeit für Spezialisierung und Arbeitsteilung, könnte jeder von uns seinen eigenen elektrischen Strom, seine eigene Digitaluhr und Musik-CD in der hauseigenen Werkstatt herstellen. Die Tatsache, dass wir das nicht können, überrascht wohl niemanden. Effizienz erfordert einfach die Produktion im großen Maßstab, organisiert in Unternehmen. Als zweite Funktion übernehmen Unternehmen die Beschaffung von Ressourcen für die Massenproduktion. Die Entwicklung eines neuen Passagierflugzeugs kostet deutlich mehr als 1 Milliarde Dollar; die Kosten für Forschung und Entwicklung eines neuen PCProzessors, beispielsweise eines Pentium von Intel, liegen ebenso hoch. Woher sollen diese immensen Geldmittel kommen? Im 19. Jahrhundert war es noch häufig möglich, reiche und risikofreudige Einzelpersonen für die Finanzierung von Unternehmen zu gewinnen. Aber die Tage der sagenumwobenen Industriemagnaten sind einfach vorbei. Die heutige Wirtschaft mit ihren Privatunternehmen muss die Mittel für die Produktion aus den Unternehmensgewinnen oder aus Darlehen, die auf den Finanzmärkten aufgenommen werden, beziehen. Eine privat finanzierte Produktion wäre praktisch unmöglich, könnten die Unternehmen nicht alljährlich Milliardensummen für ihre neuen Projekte auftreiben. Ein dritter Grund für die Existenz von Unternehmen besteht im Management des Produktionsprozesses. Der Manager ist jene
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Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
Person, die die Produktion organisiert, die neue Ideen, Produkte oder Prozesse einführt, die Geschäftsentscheidungen trifft und auch für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich zeichnet. Schließlich wäre es zu viel verlangt, müsste sich die Produktion selbst organisieren. Irgendjemand muss den Bau einer neuen Fabrik überwachen, mit den Gewerkschaften verhandeln und den Einkauf des benötigten Materials übernehmen. Wollten Sie sich als Präsident eines erstklassigen Fußballteams versuchen, müssten Sie die Verhandlungen um ein geeignetes Stadion führen, neue Spieler einkaufen, sich um Sponsoren kümmern, Spieltermine organisieren und Tickets verkaufen. Sobald alle diese Produktionsfaktoren vorhanden sind, muss noch irgendjemand die täglichen Aktivitäten überwachen, damit auch die effektive und ehrliche Durchführung der Arbeiten gewährleistet ist. Unternehmen sind spezialisierte Gebilde, die sich mit dem Management des Produktionsprozesses befassen. Die Produktion wird deshalb in Unternehmen organisiert, weil Effizienz im Regelfall Produktion im großen Maßstab, die Beschaffung erheblicher finanzieller Mittel und die Überwachung des laufenden Betriebs erfordert.
Große, kleine und winzige Unternehmen Marktwirtschaftliche Produktion findet in einer Unzahl unterschiedlich organisierter Unternehmen stat: von der winzigen Einzelfirma bis hin zu den Industriegiganten, die das Wirtschaftleben in einer kapitalistischen Wirtschaft dominieren. Gegenwärtig gibt es in den USA mehr als 18 Millionen verschiedene Unternehmen. Die Mehrzahl von ihnen sind Kleinstbetriebe, die einer einzigen Person gehören – so genannte Einzelfirmen. Andere sind Personengesellschaften, die sich im Eigentum von zwei oder vielleicht auch
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200 Partnern befinden. Die größten Unternehmen sind zumeist Kapitalgesellschaften. Der Zahl nach überwiegen die kleinsten Einheiten. Was jedoch Umsatz und Kapital der Unternehmen, ihre politische und wirtschaftliche Macht, Beschäftigtenstand und Lohnzahlungen betrifft, beherrschen einige hundert wirklich große Kapitalgesellschaften unsere Wirtschaft.
Die Einzelfirma Am unteren Ende des Spektrums befindet sich die Einzelfirma, der klassische Kleinbetrieb, den wir alle kennen. In einem kleinen Laden werden vielleicht ein paar hundert Dollar täglich umgesetzt, und er ernährt seinen Besitzer nur mit Mühe. Von diesen Unternehmen gibt es eine Unzahl, aber ihr Gesamtumsatz fällt kaum ins Gewicht. Die meisten Kleinbetriebe erfordern jedoch ein Übermaß an persönlichem Engagement und Einsatz. Und obwohl ein Selbstständiger nicht selten 50 oder 60 Stunden wöchentlich arbeitet und auf jeden Urlaub verzichtet, beträgt die durchschnittliche Lebensdauer seines Betriebes gerade einmal ein Jahr. Trotzdem finden sich immer wieder Leute, die es auf eigene Faust versuchen wollen. Vielleicht gehen sie irgendwann als Gründer einer wirklich erfolgreichen Firma in die Geschichte ein, die für einen Millionenbetrag aufgekauft wird.
Die Personengesellschaft Ein Unternehmen verlangt häufig nach einer entsprechenden Kombination von Fähigkeiten – etwa nach Rechtsanwälten oder Ärzten, die sich auf unterschiedlichen Gebieten spezialisiert haben. Tun sich zwei oder mehr Personen zusammen, können sie eine Personengesellschaft gründen. Jeder von ihnen erklärt sich bereit, einen bestimmten Teil der Arbeit und des Kapitals einzubringen, einen gewissen Prozentsatz des Gewinns für sich zu beanspruchen und natürlich Verluste oder
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Schulden gemeinsam mit seinen Partnern zu tragen. Heute bestreiten Personengesellschaften nur noch einen kleinen Teil der gesamten wirtschaftlichen Aktivität. Der Grund liegt darin, dass diese Unternehmensform bestimmte Nachteile mit sich bringt, die sie für Großbetriebe ungeeignet macht. Ihr Hauptnachteil ist die unbeschränkte Haftung. Die Gesellschafter haften ohne jede Einschränkung für alle Schulden, die die Personengesellschaft eingeht. Wenn Ihnen 1 Prozent der Personengesellschaft gehört und Ihr Geschäft ein Flop wird, wird man Sie auffordern, 1 Prozent aller Rechnungen zu begleichen, während die anderen Partner die restlichen 99 Prozent einzubringen haben. Sind Ihre Partner zahlungsunfähig, müssen Sie hingegen die gesamten Schulden begleichen, auch wenn Sie dazu ihren Privatbesitz verkaufen müssen. Die Gefahr der unbeschränkten Haftung und die Schwierigkeiten der Kapitalbeschaffung erklären, warum Personengesellschaften praktisch immer klein sind, kleine Privatbetriebe wie Landwirtschaften oder Kleinhandelsbetriebe. Für die meisten anderen Geschäftsfelder sind Personengesellschaften einfach zu riskant.
Die Kapitalgesellschaft Der Großteil aller wirtschaftlichen Aktivitäten findet auf entwickelten Märkten in privaten Kapitalgesellschaften statt. In früheren Jahrhunderten wurden Unternehmenssatzungen durch besondere Akte des Monarchen oder des Gesetzgebers verliehen. Die britische East India Company war eine mit besonderen Privilegien ausgestattete Kapitalgesellschaft und beherrschte als solche über ein Jahrhundert lang Indien. Im 19. Jahrhundert mussten Eisenbahngesellschaften häufig ebenso viel Geld aufwenden, um ihre Gründungsurkunde vom Gesetzgeber absegnen zu lassen, wie es kostete, die Gleisanlagen zu errichten. Im letzten Jahrhundert wurden allerdings nach und nach Gesetze
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erlassen, die beinahe jedermann das Privileg zugestanden, eine Kapitalgesellschaft für nahezu jeden Unternehmenszweck zu gründen. Heute ist die amerikanische Kapitalgesellschaft eine Unternehmensform mit eigener Satzung und eigenem Sitz in einem der 50 Bundesstaaten oder im Ausland, und sie gehört einer gewissen Zahl von Aktionären. Die Kapitalgesellschaft hat eine eigene Rechtspersönlichkeit und kann als solche im eigenen Namen ein- und verkaufen, Darlehen aufnehmen, Güter und Dienstleistungen produzieren und Verträge abschließen. Außerdem bietet die Kapitalgesellschaft den Vorteil der beschränkten Haftung, sodass das Investment der Eigentümer in die Gesellschaft strikt auf einen bestimmten Betrag beschränkt bleibt. Die moderne Kapitalgesellschaft zeichnet sich durch folgende wichtige Eigenschaften aus: • Das Eigentum an der Kapitalgesellschaft ergibt sich aus dem Eigentum an den Stammaktien der Gesellschaft. Gehören Ihnen 10 Prozent der Anteile an einer Gesellschaft, sind Sie ihr zehnprozentiger Eigentümer. Publikumsgesellschaften werden an Börsen wie etwa der New Yorker Börse bewertet. Und auf diesen Aktienbörsen werden die Titel der größten Kapitalgesellschaften gehandelt und daher große Teile des nationalen Risikokapitals investiert. • Im Prinzip kontrollieren die Aktionäre die Kapitalgesellschaften, die sich in ihrem Eigentum befinden. Sie erhalten Dividenden entsprechend den Gesellschaftsanteilen, die sie besitzen, sie ernennen die Direktoren und stimmen über wichtige Fragen ab. Aber verfallen Sie nicht dem Irrtum, Aktionäre hätten eine wichtige Rolle in der Führung von Riesenkonzernen zu spielen. In der Praxis üben die Aktionäre von Großunternehmen praktisch gar keine Kontrolle aus, weil die Streuung zu groß ist, um die Geschäftsleitung zu überstimmen.
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Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
• Die Vorstände und Aufsichtsräte der Kapitalgesellschaften sind rechtlich befugt, Entscheidungen für die Gesellschaft zu treffen. Sie beschließen, was auf welche Weise produziert wird. Sie verhandeln mit den Gewerkschaften und entscheiden, ob sie das Unternehmen verkaufen sollten, wenn sich ein Käufer dafür interessiert. Wenn die Zeitungen melden, irgendeine Kapitalgesellschaft habe wieder einmal 20.000 Arbeitnehmer auf die Straße gesetzt, dann wurde diese Entscheidung von den Managern getroffen. Kapitalgesellschaften gehören den Aktionären, werden jedoch von Managern geleitet und betrieben. Vor- und Nachteile von Kapitalgesellschaften. Warum beherrschen Kapitalgesellschaften die Marktwirtschaft so sehr? Nun, einfach weil es sich bei dieser Unternehmensform um eine besonders effiziente Methode zum Betrieb eines Unternehmens handelt. Eine Kapitalgesellschaft ist eine Rechtspersönlichkeit, die Geschäfte abschließen kann. Außerdem gewährleistet eine Kapitalgesellschaft eine durchgängige Nachfolge in der Geschäftsführung und ein kontinuierliches Bestehen unabhängig davon, wie oft die Eigentümer, die Aktionäre, wechseln. Kapitalgesellschaften sind alles andere als MiniDemokratien, und deshalb können ihre Manager Entscheidungen rasch und häufig auch rücksichtslos treffen – ein deutlicher Gegensatz zu den staatlichen Entscheidungsprozessen in wirtschaftlichen Fragen. Darüber hinaus dürfen sich die Aktionäre der Kapitalgesellschaften über eine beschränkte Haftung freuen, die sie vor der Übernahme von Schulden oder Verlusten der Gesellschaft über ihren Kapitalbeitrag hinaus schützt. Wenn wir Aktien für US-$ 1.000 kaufen, können wir damit nicht mehr als unsere ursprüngliche Investition verlieren. Kapitalgesellschaften haben aber auch einen bedeutenden Nachteil: Ihre Gewinne werden zusätzlich besteuert. Bei anderen, nicht in dieser Rechtsform geführten Unternehmen gilt jedes Einkommen nach Abzug
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der Aufwendungen als persönliches Einkommen und wird dementsprechend besteuert. Kapitalgesellschaften aber werden in dieser Beziehung anders behandelt: Der Staat fordert zuerst seinen Anteil an den Unternehmensgewinnen und danach an den Dividendeneinkommen der Aktionäre. Die Bush-Regierung schlug 2003 vor, Dividenden von der Individualbesteuerung zu entbinden, um diese doppelte Belastung abzuschaffen. Der Kongress diskutierte über diesen Vorschlag, und heraus kam ein Kompromiss ... der nur wenige Jahre hielt. Die Höchstgrenze der Individualsteuer auf Dividenden wurde auf 15 Prozent gesenkt, für ein Jahr (2008) wurde sie sogar vollständig abgeschafft, um allerdings für 2009 wieder eingeführt zu werden. (Dieses bizarre Ergebnis hängt mit den Beschränkungen zusammen, denen die Einnahmenverluste aus der Steuersenkung 2003 unterliegen.) Manchmal ergreifen Kapitalgesellschaften Schritte, die die Öffentlichkeit gegen sie aufbringen und den Staat zum Handeln zwingen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren Kapitalgesellschaften in Betrugsaffären, Preisabsprachen und Bestechungsskandale verwickelt, die zur Verabschiedung von Gesetzen im Bereich des Kartellrechts (Antitrust-Gesetze) und des Wertpapierrechts führten. Aber auch in den letzten Jahren kam es rund um Kapitalgesellschaften zu verschiedenen Skandalen, als man feststellte, dass einige von ihnen gravierende Bilanzfälschungen begangen und viele Manager sich selbst enorme Bonuszahlungen und Aktienbezugsrechte gesichert hatten. Macht korrumpiert bekanntlich bisweilen, ob im privaten oder im öffentlichen Leben. Eine effiziente Produktion erfordert häufig große Unternehmenseinheiten, die Kapitalinvestitionen in Milliardenhöhe benötigen. Kapitalgesellschaften mit ihrer beschränkten Haftung und praktischen Managementstruktur können sehr viel privates Kapital anziehen, eine ganze Palette verwandter Güter produzieren und auch das Anlegerrisiko auf viele Schultern verteilen.
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Produktion im Unternehmen oder am Markt? Wenn es stimmt, dass Märkte so unglaublich effizient funktionieren, stellt sich unmittelbar die Frage, warum dann die Produktion weitgehend in großen Organisationen, sprich in Unternehmen, stattfindet. Eine verwandte Frage lautet: Warum entscheiden sich manche Unternehmen für eine integrierte Produktionsstruktur, während andere große Teile ihrer Umsätze auslagern? AT&T war beispielsweise vor 1982 ein sowohl vertikal wie auch horizontal integrierter Konzern, der eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung betrieb, Telefone installierte und vermietete und außerdem noch selbst die zugehörigen Telefondienste anbot. Dagegen werden die meisten PCs von AssemblingBetrieben „produziert“, die Festplatten, Schaltkreise, Monitore und Tastaturen von externen Anbietern kaufen, um sie anschließend zusammengebaut anzubieten. Diese zentralen Fragen der industriellen Organisation wurden erstmals von Ronald Coase in einer bahnbrechenden Studie gestellt, für die er 1991 den Nobelpreis erhielt. Die interessante Arbeit analysiert die Wettbewerbsvorteile, die die Organisation der Produktion im Rahmen der hierarchischen Kontrolle von Unternehmen gegenüber den Einzelverträgen des Marktes bietet. Wie kann die Produktion in großen Organisationen effizient sein? Der Hauptgrund dafür liegt wahrscheinlich in der Schwierigkeit, wirklich „umfassende“ Verträge zu konzipieren, die alle Eventualitäten berücksichtigen. Nehmen wir beispielsweise an, die Firma Snoozer Inc. wäre der Meinung, einen brandheißen neuen Wirkstoff entdeckt zu haben, mit dem sich krankhafte Faulheit kurieren lässt. Soll Snoozer in eigenen Labors daran forschen oder den Auftrag an die WilyLabs, Inc. vergeben? Das Problem mit Auslagerungen besteht in den zahlreichen Unwägbarkeiten, die Einfluss auf die Rentabilität des Wirkstoffs haben könnten. Was, wenn sich herausstellte, dass der Wirkstoff auch gegen andere Beschwerden hilft? Was geschähe im Fall einer unvorhergesehenen Ände-
Teil 2
rung der rechtlichen Situation in Bezug auf Patente, Steuern oder den internationalen Handel oder bei einer Klage wegen der Verletzung von Patenten? Infolge dieser trotz aller vertraglicher Vereinbarungen nicht auszuschließenden Eventualitäten geht das Unternehmen das Risiko des so genannten Holdup-Problems ein. Nehmen wir an, WilyLabs hätte entdeckt, dass die Anti-Faulheitspille nur in Kombination mit einem anderen Medikament von WilyLabs funktioniert. WilyLabs geht also zu Snoozer und sagt: „Tut mir Leid, Kollegen, aber wenn ihr beide Wirkstoffe haben wollt, kostet euch das weitere US-$ 100 Millionen.“ Ein echter Holdup, ein Fall von Wegelagerei. Die Angst, in Situationen erpresst zu werden, die beziehungsspezifische Investitionen und die Vollständigkeit der vertraglichen Vereinbarungen erfordern würden, veranlasst Snoozer dazu, die Forschung am neuen Wirkstoff doch lieber intern zu betreiben, um die Kontrolle über das Forschungsergebnis zu behalten. Der jüngste Trend in vielen Branchen ist eine Bewegung weg von hoch integrierten Unternehmensformen hin zum „Outsourcing“, der Auslagerung der Produktion. Ganz massiv macht sich dieser Trend in der Computerbranche bemerkbar, etwa anhand von „Big Blue“ IBM, einem Unternehmen, das einmal fast ebenso stark integriert war wie AT&T. Auslagerungen können in Situationen, in denen wie in der PCBranche die Komponenten zu Massenware geworden und standardisiert sind, sinnvoll sein. Ein weiteres Beispiel ist der Sportartikelhersteller Nike, der einen Großteil seiner Produktion auslagert, weil die einschlägigen Verfahren standardisiert sind, während der eigentliche Wert von Nike in Designs und Warenzeichen liegt. Außerdem gibt es heute neue Vertragsformen, die das „Holdup-Problem“ minimieren, etwa langfristige Lieferverträge, bei deren Vergabe der gute Ruf der Beteiligten eine wichtige Rolle spielt. Wer sich mit Organisationen beschäftigt, weiß um die Bedeutung großer Unternehmen für den Innovations- und Produktivitätsfortschritt. Im 19. Jahrhundert transpor-
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
tierten Eisenbahnen nicht nur Weizen von den Farmen auf den Markt, sondern führten auch die Zeitzonen ein. Ein pünktlicher Verkehr nach Fahrplan wurde für sie erstmals zum entscheidenden Kriterium, weil die Nichteinhaltung der Fahrpläne zu Unfällen und der Zerstörung von Zügen führte.
181
Wie die tragische Geschichte der zentralen Planwirtschaften so drastisch vor Augen führt, können wir ohne die organisatorischen Fähigkeiten der modernen, privatwirtschaftlich geführten Unternehmen weder Grund und Boden noch Arbeit oder Kapital richtig nutzen.
Zusammenfassung A. Produktionstheorie und Grenzproduktivität 1.
2.
3.
4.
Die Beziehung zwischen Produktionsmenge (wie Weizen, Stahl oder Autos) und Quantität der eingesetzten Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden und Kapital) wird als Produktionsfunktion bezeichnet. Das Gesamtprodukt entspricht der gesamten Produktionsleistung. Das Durchschnittsprodukt lässt sich durch Division des Gesamtoutputs durch die gesamte Inputmenge ermitteln. Wir können das Grenzprodukt oder die Grenzproduktivität eines Faktors als den zusätzlichen Output berechnen, der durch jede zusätzlich eingesetzte Inputeinheit erzeugt wird, wenn alle anderen Inputs konstant belassen werden. Entsprechend dem Gesetz der abnehmenden Grenzerträge nimmt die Grenzproduktivität jedes Inputs im Allgemeinen ab, wenn sich ceteris paribus die Menge dieses Inputs erhöht. Skalenerträge spiegeln die Auswirkungen einer gleichmäßigen Anhebung aller Inputs auf den Output wider. Eine Technologie, bei der eine Verdoppelung aller Faktoreinsätze exakt zu einer Verdoppelung der Produktionsmenge führt, weist konstante Skalenerträge auf. Sollte die Verdoppelung der Inputs zu weniger als einer Verdoppelung (mehr als einer Verdoppelung) der Outputmenge führen, spricht man von abnehmenden (zunehmenden) Skalenerträgen. Da die Umsetzung von Entscheidungen Zeit beansprucht und da Kapital und andere Faktoren häufig recht langlebig sind, kann sich die Anpassung der Produktion im Zeitablauf unterschiedlich gestalten. Als kurzfristig wird dabei ein Zeitraum bezeichnet, in dem die variablen Faktoren, beispielsweise Arbeit oder Materialinputs, problemlos verändert werden können. Langfristig kann auch der Kapitalbestand (die Maschinen und Anlagen eines Unternehmens)
5.
6.
abgeschrieben und ersetzt werden. Langfristig lassen sich daher alle Inputs, fixe ebenso wie variable, anpassen. Technologischer Fortschritt bedingt eine Veränderung jener Techniken, die der Produktion zugrunde liegen, wenn also beispielsweise ein neues Produkt oder ein neues Produktionsverfahren erfunden oder ein altes Produkt oder ein altes Verfahren verbessert wird. In solchen Situationen wird dieselbe Produktionsmenge mit geringeren Faktoreinsatzmengen produziert, oder aber es lässt sich mit denselben Faktoreinsatzmengen die Produktionsmenge erhöhen. Technologischer Fortschritt verschiebt die Produktionsfunktion nach oben. Versuche zur Messung einer aggregierten Produktionsfunktion am Beispiel der amerikanischen Wirtschaft bestätigen zumeist die Theorien der Produktion und der Grenzproduktivität. Im 20. Jahrhundert hat der technische Fortschritt zu einer Produktivitätssteigerung sowohl der Arbeit als auch des Kapitals geführt. Die Gesamtfaktorproduktivität (gemessen als Verhältnis zwischen Gesamtoutput und Gesamtinput) konnte in den letzten 100 Jahren alljährlich um etwa 1,5 Prozent gesteigert werden, wobei allerdings seit 1970 die Produktivitätssteigerungen merklich langsamer verlaufen und die Reallöhne stagnieren. Wenn wir jedoch die Bedeutung neuer und verbesserter Produkte zu gering bewerten, ergibt sich daraus eine zu niedrige Schätzung des Produktivitätswachstums.
B. Die rechtliche Organisation von Unternehmen 7.
8.
Unternehmen sind spezialisierte Gebilde, die sich mit dem Management des Produktionsprozesses befassen. Unternehmen gibt es in vielerlei Formen und Größen – manchmal als winzige Einzelfirmen, manchmal als Personengesellschaften, zumeist
182
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
jedoch als Kapitalgesellschaften. Jede Rechtsform hat ihre Vor- und Nachteile. Kleinunternehmen sind flexibel, können neue Produkte vermarkten und verschwinden möglicherweise auch wieder rasch. Sie leiden allerdings unter dem grundlegenden Nachteil, keine großen Kapitalbeträge von verschiedenen Investoren anhäufen zu können. Die heutigen Großunternehmen, die Kapitalgesellschaften, deren Eigentümern der Staat eine beschränkte Haftung zubilligt, können hingegen Milliardenbeträge an Kapital durch Darlehensaufnahmen bei Ban-
9.
Teil 2
ken, aber auch durch die Emission von Anleihen oder Aktien auftreiben. In einer modernen Wirtschaft produzieren Unternehmen deshalb die meisten Güter und Dienstleistungen, weil die wirtschaftlichen Vorteile der Massenproduktion es erforderlich machen, dass der Output in großen Mengen produziert wird, weil die Produktionstechnologie weitaus mehr Kapital verlangt, als ein Einzelner freiwillig riskieren würde, und weil eine effiziente Produktion ein umsichtiges Management und die Koordination von Aufgaben durch eine zentrale Einheit erfordert.
Begriffe zur Wiederholung Inputs, Outputs, Produktionsfunktion Gesamt-, Durchschnitts- und Grenzprodukt Abnehmendes Grenzprodukt und Ertragsgesetz Konstante, zunehmende und abnehmende Skalenerträge Kurzfristig im Vergleich zu langfristig Technologischer Fortschritt: Prozess- und Produktinnovation Produktivität Netzwerkökonomie: Netzwerkexternalitäten (Adoption), instabile Gleichgewichte, die Vergangenheit zählt, „Alles-oder-nichts“-Märkte Aggregierte Produktionsfunktion Gründe für das Entstehen von Unternehmen: Skaleneffekte, Finanzierungsbedarf, Führungsstrukturen Die wichtigsten Unternehmensformen: Einzelgesellschaft, Personengesellschaft, Kapitalgesellschaft Unbeschränkte im Vergleich zu beschränkter Haftung Unternehmen im Vergleich zum Markt und das Holdup-Problem
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Ronald Coases Klassiker trägt den Titel „The Nature of the Firm“, Economica, November 1937. Besonders für Studenten eignet sich ein neuerer, keineswegs technischer Überblick über das Thema aus dem Symposion „The Firm and Its Boundaries“, Journal of Economic Perspectives, Herbst 1998. Eine gut durchdachte Analyse der Netzwerkeffekte findet sich im Symposion des Journal of Economic Perspectives, Frühling 1994. Faszinierend ist außerdem die Studie über Netzwerke und New Economy in Kapitel 7 des Werks von Carl Shapiro und Hal R. Varian, Information Rules: A Strategic Guide to the Network Economy (Harvard Business School Press, Cambridge, Mass., 1997). Die Geschichte über die falsche Interpretation der Energierevolution der 1970er Jahre durch General Motors erzählt Daniel Yergin in: The Epic Quest for Oil, Money, and Power (Simon and Schuster, New York, 1992). Wer sich für die komische Seite der GM-Geschichte interessiert, findet diese in dem MichaelMoore-Film Roger and Me locker aufbereitet. Deutschsprachige Literatur: Christian-Uwe Behrens und Franz W. Peren, Grundzüge der gesamtwirtschaftlichen Produktionstheorie (Vahlen, München, 1998).
Kapitel 6
Produktion und ihre Organisation im Unternehmen
183
Websites Eine der interessantesten Websites über Netzwerke stammt von Hal R. Varian, dem Dekan der School of Information Management and Systems an der University of California in Berkeley. Diese Seite mit dem Namen „The Economics of the Internet, Information Goods, Intellectual Property and Related Issues“ finden Sie unter www.sims.berkeley.edu/resources/infoecon.
Übungen 1.
2.
3.
Erklären Sie das Konzept der Produktionsfunktion. Beschreiben Sie die Produktionsfunktion für Hamburger, Konzerte, Haarschnitte und eine Universitätsausbildung. Eine Produktionsfunktion hat die Form X = L1/2, wobei X = Output und L = Input an Arbeitskraft (ceteris paribus). a. Konstruieren Sie eine Zeichnung wie jene in Abbildung 6-1 und eine Tabelle wie Tabelle 6-1 für folgende Inputs: L = 0, 1, 2, 3 und 4. b. Erläutern Sie, ob diese Produktionsfunktion abnehmende Arbeitserträge aufweist. Welche Werte müsste der Exponent in dieser Produktionsfunktion annehmen, damit die Arbeitserträge steigen? Die folgende Tabelle beschreibt die tatsächliche Produktionsfunktion für Ölpipelines. Setzen Sie die fehlenden Werte für die Grenz- und Durchschnittsprodukte ein:
5.
6.
7. (1)
(2)
Pumpleistung PS
Gesamtprodukt (Barrels pro Tag)
10.000
86.000
(3) (4) 18-Zoll-Rohr Grenzprodukt Durchschnitts(Barrels produkt pro Tag (Barrels und PS) pro Tag und PS) ––––– –––––
20.000
114.000
30.000
134.000
––––– ––––– ––––– –––––
40.000
150.000
50.000
164.000
––––– –––––
4.
–––––
Zeichnen Sie anhand der Daten aus Frage 3 die Produktionsfunktion der Förderungsmenge im Verhältnis zur Leistung in PS. Zeichnen Sie im selben Diagramm die Kurven für das Durchschnitts- und das Grenzprodukt ein.
Angenommen, Sie erhalten die Catering-Konzession für die Sportveranstaltungen an Ihrer Universität. Sie verkaufen Würstchen, Getränke und Kartoffelchips. Welche Inputs an Kapital, Arbeit und Materialien müssen Sie einbringen? Welche Schritte würden Sie unternehmen, sollte die Nachfrage nach Würstchen zurückgehen, um den Output kurzfristig zu senken? Was könnten Sie sich langfristig überlegen? Eine in der Volkswirtschaft wichtige Unterscheidung betrifft Verschiebungen der Produktionsfunktion und Bewegungen entlang der Produktionsfunktion. Nennen Sie anhand der Catering-Konzession aus Frage 5 Beispiele für die Verschiebung und für die Bewegung entlang der Produktionsfunktion. Illustrieren Sie die Beispiele in einem Diagramm, das das Verhältnis zwischen Würstchenproduktion und dazu eingesetzter Arbeit illustriert. Von Substitution spricht man, wenn Unternehmen einen Input durch einen anderen ersetzen, beispielsweise wenn ein Farmer bei steigenden Löhnen Traktoren anstelle von Arbeitskräften einsetzt. Überlegen Sie sich die folgenden Änderungen im Verhalten eines Unternehmens. Welche Veränderungen sind dabei auf eine Substitution eines Faktors durch einen anderen bei unverändertem Stand der Technik und welche auf einen technologischen Fortschritt zurückzuführen? Illustrieren Sie die Fälle jeweils grafisch durch eine Produktionsfunktion. a. Bei steigendem Ölpreis ersetzt ein Unternehmen die Ölfeuerung in seinen Anlagen durch eine Gasfeuerung. b. Ein Buchladen verringert seinen Personalstand nach der Eröffnung einer InternetVerkaufswebsite um 60 Prozent. c. Im Zeitraum zwischen 1970 und 2000 baut eine Druckerei 200 Druckereiarbeiter ab, stellt jedoch zugleich 100 Leute ein, die die neuen Computer bedienen. d. Nach einer erfolgreichen Gewerkschaftskampagne zugunsten einer gewerkschaft-
184
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
lichen Organisation der Büroarbeitskräfte kauft ein College neue Computer für die Fakultät und baut Sekretärinnen ab. 8. Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, das unter Einsatz von Boden und Arbeit Weizen produziert. Definieren und vergleichen Sie die abnehmenden Grenzerträge und die sinkenden Skalenerträge. Erklären Sie, wie es möglich sein kann, dass sinkende Grenzerträge bei einem Input und konstante Skalenerträge bei beiden Inputs auftreten. 9. Zeigen Sie, dass das Durchschnittsprodukt bei stetig abnehmendem Grenzprodukt immer über dem Grenzprodukt liegt. 10. Denken Sie das Beispiel eines Netzwerkes in Abbildung 6-4 noch einmal durch. Nehmen Sie an, dass in jedem Monat nur ein neuer Teilnehmer hinzukommen kann, und gehen Sie dazu die Teilnehmer, beginnend bei Adam, im Uhrzeigersinn durch. a. Erstellen Sie eine Tabelle, in der Sie die Werte für die neu Beitretenden sowie den externen Wert für die anderen (d.h. den Wert für alle anderen im Netzwerk) eintragen, sobald eine weitere Person hinzukommt. (Ein kleiner Hinweis: Die Einträge für Ed lauten auf jeweils US-$ 4.) Berechnen Sie anschließend den gesamten sozialen Nutzen für jede Mitgliederzahl. Stellen Sie die Beziehung zwischen der Größe des Netzwerkes und dem gesamten gesellschaftlichen Nutzen grafisch dar. Erklären Sie, warum hier der Nutzen immer weiter steigt, anstatt abzunehmen. b. Nehmen wir die Beitrittskosten mit US-$ 4,50 an. Zeichnen Sie ein Diagramm, in dem Sie darstellen, wie sich die Mitgliedschaften im Laufe der Zeit verändern, wenn das Netzwerk von Anfang an aus sechs Leuten besteht. Zeichnen Sie ein weiteres Diagramm unter der Annahme von drei Gründungsmitgliedern. An welchem Punkt weist das Gleichgewicht in Richtung universelle Mitgliedschaft? c. Nehmen wir an, Sie sind der Sponsor des in Abbildung 6-4 dargestellten Netzwerkes. Wie hoch sollten Sie den Preis für die Inbetriebnahme des Netzwerkes ansetzen, wenn es erst ein oder zwei Mitglieder umfasst?
Teil 2
185
KAPITEL 7 Kostenanalyse
Kosten spiegeln lediglich konkurrierende Anreize wider. Frank Knight, Risk, Uncertainty, and Profit (1921)
Wohin auch immer die Produktion sich bewegt, die Kosten folgen ihr wie ein Schatten. Unternehmen müssen für ihre Inputs bezahlen: Schrauben, Lösungsmittel, Software, Schwämme, Sekretärinnen und Statistiker. In gewinnorientierten Unternehmen ist man sich bei der Planung von Produktions- und Verkaufszielen stets der Tatsache bewusst, dass jeder Dollar an unnötigen Kosten die Gewinne des Unternehmens um eben diesen Betrag schmälert. Doch der Einfluss der Kosten reicht weiter als nur bis zur Entscheidung über Produktion und Gewinne. Kosten bestimmen die Wahl der Inputs, wirken sich auf die Anlagestrategien aus und entscheiden sogar über die Frage, ob ein Betrieb eingestellt werden sollte oder nicht. Ist es kostengünstiger, weitere Arbeitskräfte einzustellen oder Überstunden zu bezahlen? Eine neue Fabrik zu eröffnen oder eine alte auszubauen? Zu Hause in neue Maschinen zu investieren oder doch lieber die Produktion ins Ausland zu verlagern? Unternehmen sind bestrebt, die für sie effizienteste Produktionsmethode zu wählen, mit der sie möglichst viel zu möglichst geringen Kosten produzieren können. In diesem Kapitel wollen wir eine gründliche Kostenanalyse vornehmen. Zu Beginn befassen wir uns dabei mit der ganzen Bandbreite volkswirtschaftlicher Kosten, darunter auch mit dem wichtigen Begriff der Grenzkosten. Danach wollen wir untersuchen, wie die Buchhalter eines Unternehmens in der Praxis ihre Kosten erfassen. Und schließlich werden wir uns noch dem Begriff der Opportunitäts- oder Alternativkosten widmen, einem sehr weit gefassten Konzept, das sich auf eine Vielzahl von Entscheidungen anwenden lässt. Diese ausgiebige Erörterung des Themas Kosten soll schließlich unsere Grundlage zum Verständnis der Angebotsentscheidungen von Unternehmen bilden.
186
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
A. Die volkswirtschaftliche Kostenanalyse Gesamtkosten: Fixkosten und variable Kosten Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, das eine Produktionsleistung q erbringt, wozu es die Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit und Material einsetzt. Das Unternehmen kauft seine Produktionsfaktoren auf den Faktormärkten. Den Kostenrechnern des Unternehmens kommt dabei die Aufgabe zu, die bei jeder möglichen Produktionsmenge q entstehenden Kosten zu errechnen. Tabelle 7-1 zeigt die Gesamtkosten (TC) für alle Produktionsmengen q. Bei Betrachtung der Spalten (1) und (4) sehen wir, dass TC steigt, sobald q steigt. (1)
(2)
(3)
(4)
Fixkosten
Gesamtkosten TC
Menge
FC
Variable Kosten VC
q
(US-$)
(US-$)
(US-$)
0 1 2 3 4 5 6
55 55 55 55 55 55 55
0 30 55 75 105 155 225
55 85 110 130 160 210 280
Tabelle 7-1: Fixe, variable und Gesamtkosten Die Kosten eines Unternehmens setzen sich im Wesentlichen aus den Fixkosten (die auf eine Änderung der Produktionsmenge nicht reagieren) und den variablen Kosten (die sich mit Steigerung der Produktionsmenge erhöhen) zusammen. Die Gesamtkosten entsprechen demnach der Summe aus fixen und variablen Kosten: TC = FC + VC.
Teil 2
Nun, das ist auch kein Wunder, denn schließlich ist ein Mehr an Arbeit und anderen Inputs erforderlich, um größere Mengen zu produzieren; und zusätzliche Produktionsfaktoren bedeuten auch zusätzliche Kosten. Zwei Einheiten zu produzieren kostet insgesamt US-$ 110, drei Einheiten kosten US-$ 130 usw. Wir setzen in unserer Erörterung des Themas voraus, dass das Unternehmen immer zu den geringstmöglichen Kosten produziert.
Fixkosten In den Spalten (2) und (3) von Tabelle 7-1 sind die Gesamtkosten in zwei Komponenten aufgegliedert: in die gesamten Fixkosten (FC) und in die gesamten variablen Kosten (VC). Was aber sind die Fixkosten eines Unternehmens? Diese bisweilen auch als „Overhead“ oder als „Betriebskosten“ bezeichnete Position beinhaltet etwa die Pacht für das Fabrikgelände oder die Büromiete, Leasingzahlungen für die Betriebsausstattung, den Zinsendienst für bestehende Darlehen oder die Gehälter der unbefristet Beschäftigten. Diese Kosten fallen auch dann an, wenn das Unternehmen keinerlei Produktion erzielt, und sie ändern sich nicht mit der Produktionshöhe. Eine Anwaltskanzlei hat beispielsweise einen Büromietvertrag über zehn Jahre, aus dem ihr selbst dann die vereinbarten Verpflichtungen erwachsen, wenn die Kanzlei plötzlich aus irgendeinem Grund nur noch halb so viel Umsatz machen sollte wie bisher. Da die Fixkosten FC in jedem Fall und unabhängig von der Produktionsmenge bezahlt werden müssen, bleiben sie mit US-$ 55 in Spalte (2) konstant.
Variable Kosten Spalte (3) in Tabelle 7-1 zeigt die variablen Kosten (VC). Als variable Kosten werden jene Kosten bezeichnet, die sich mit der Produktionsmenge verändern. Beispiele für variable Kosten sind etwa die für die Produktion benötigten Rohstoffe (z.B. Stahl in der Autoindustrie), die Löhne der Fließbandarbeiter oder der Strom für die Maschinen. In einem Supermarkt
Kapitel 7
187
Kostenanalyse
fallen unter anderem die Löhne der Kassiererinnen unter die variablen Kosten, weil der Filialleiter ihre Arbeitszeit je nach dem zu erwartenden Kundenandrang anordnen kann. Per definitionem beginnen VC bei null, wenn q ebenfalls null ist. VC ist jener Teil der TC, der mit dem Output steigt; der Anstieg der TC zwischen zwei beliebigen Outputs entspricht übrigens genau dem Anstieg der VC. Warum? Nun, die FC bleiben mit US-$ 55 bei allen Produktionsmengen konstant und können beim Kostenvergleich zwischen verschiedenen Produktionsmengen daher weggelassen werden. Fassen wir die besprochenen Kostenkonzepte zusammen: Gesamtkosten stellen die in Geld ausgedrückten Mindestgesamtausgaben dar, die benötigt werden, um eine bestimmte Produktionsmenge q zu erzielen. Die Gesamtkosten TC steigen, sobald q steigt. Fixkosten stellen den gesamten, in Geld ausgedrückten Ausgabenbetrag dar, der selbst dann aufgewendet werden muss, wenn keine Produktionsleistung erzielt wird. Fixkosten bleiben durch Änderungen der Produktionsmenge unbeeinflusst. Variable Kosten sind Ausgaben, die mit der Produktionsmenge variieren. Dazu gehören Rohmaterialien, Löhne und Treibstoffe, eben alle Kosten, die keine Fixkosten sind. Per definitionem gilt daher immer: TC = FC + VC
Erzielbare Mindestkosten Jeder, der jemals ein Unternehmen geleitet hat, weiß, dass ein Kostenplan wie in Tabelle 7-1 nur eine grobe Vereinfachung darstellt. Warum ist das so? Nun, um das niedrigste mögliche Kostenniveau zu errechnen, müssen Unternehmensleiter dafür sorgen, dass sie jeweils möglichst wenig für die erforderlichen Inputs wie Energie bezahlen. Sie müssen darauf achten, dass die kostengünstigsten Fabrikationstechniken schon in der Betriebsplanung berücksichtigt
wurden und dass nur ehrliche, aufrichtige Mitarbeiter eingestellt werden; darüber hinaus haben sie in diesem Zusammenhang noch unzählige weitere Entscheidungen zu treffen. Nehmen wir an, Sie wären Eigentümer eines Baseball-Teams. Sie müssen die Spielergehälter vereinbaren, Manager auswählen, mit den Verkäufern verhandeln, müssen sich um Stromrechnungen und andere Kosten kümmern und überlegen, welche Versicherungen und in welcher Höhe Sie benötigen, und Sie müssen sich mit den 1.001 sonstigen Fragen herumschlagen, die der möglichst kostengünstige Betrieb eines Baseball-Teams mit sich bringt. Die in Tabelle 7-1 angegebenen fixen und variablen Kosten sind als Mindestkosten das Ergebnis genau dieser tage- und nächtelangen Arbeit eines Teammanagers.
Definition der Grenzkosten Die Grenzkosten sind eines der zentralen volkswirtschaftlichen Konzepte. Mit diesem Begriff, Grenzkosten (MC), werden alle zusätzlichen Kosten bezeichnet, die bei der Erzeugung jeweils einer zusätzlichen Produktionseinheit anfallen. Produziert ein Unternehmen beispielsweise 1.000 CDs zu Gesamtkosten von US-$ 10.000 und kostet es US-$ 10.006, eine mehr, nämlich 1.001 CDs herzustellen, so liegen die Grenzkosten für die Produktion der 1.001. CD bei US-$ 6. Manchmal sind die Grenzkosten für die Herstellung einer zusätzlichen Produktionseinheit minimal. Für eine Fluglinie, die mit leeren Maschinen unterwegs ist, beschränken sich die Kosten für den Transport eines zusätzlichen Passagiers allenfalls auf das, was Verpflegung und ein Freigetränk ausmachen; es ist weder zusätzliches Kapital (Flugzeuge) noch zusätzliche Arbeit (Piloten und Stewardessen) erforderlich. In anderen Fällen hingegen sind die Grenzkosten für eine zusätzliche Produktionseinheit hoch. Denken Sie an ein Stromversorgungsunternehmen. Unter normalen Umständen kann es genügend Strom produzieren, indem es seine kostengünstigsten und effizien-
188
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
testen Anlagen nützt. Aber an einem heißen Sommertag, wenn jedermann seine Klimaanlage eingeschaltet hat und der Stromverbrauch in die Höhe schnellt, müssen selbst die teuren und ineffizienten Generatoren angeworfen werden. Diese zusätzliche Stromleistung verursacht daher hohe Grenzkosten für das Versorgungsunternehmen. In Tabelle 7-2 sind die Daten aus Tabelle 7-1 aufbereitet, um zu zeigen, wie wir die Grenzkosten errechnen. Die rostfarbenen MC-Daten in Spalte (3) von Tabelle 7-2 ergeben sich aus der Subtraktion der TC in Spalte (2) von den TC der jeweils nächsthöheren Produktionsmenge. Deshalb betragen die MC der ersten Einheit US-$ 30 (US-$ 85 – US-$ 55). Die Grenzkosten der zweiten Einheit liegen bei US-$ 25 (US-$ 110 – US-$ 85). Und so weiter. Anstatt die Grenzkosten der TC-Spalte zu entnehmen, könnten wir sie auch durch Subtraktion der einzelnen VC in Spalte (3) der Tabelle 7-1 von den VC in der darunter liegenden Zeile ermitteln. Warum? Nun, die variablen Kosten steigen immer im Gleichklang mit den Gesamtkosten, mit dem einzigen Unterschied, dass VC (per definitionem)
Teil 2
bei 0 und nicht beim konstanten FC-Niveau beginnen. (Überprüfen Sie, dass 30 – 0 = 85 – 55 und 55 – 30 = 110 – 85 und so weiter.) Die Produktionsgrenzkosten entsprechen den Zusatzkosten, die durch die Produktion einer zusätzlichen Einheit des jeweiligen Outputs entstehen. Grenzkosten im Diagramm. Abbildung 7-1 enthält eine Darstellung der Gesamt- und Grenzkosten. Sie zeigt, dass TC in einem bestimmten Verhältnis zu MC steht, ebenso wie das Gesamtprodukt zum Grenzprodukt oder der Gesamtnutzen zum Grenznutzen in einer ganz bestimmten Beziehung steht. Welche Form nehmen wohl MC-Kurven an? Empirische Studien haben ergeben, dass die Grenzkostenkurven für die meisten Produktionstätigkeiten kurzfristig (d.h., solange der Kapitalbestand unverändert bleibt) U-förmig sind, wie das Beispiel in Abbildung 7-1(b) zeigt. Diese U-förmige Kurve fällt in der Anfangsphase ab, erreicht schließlich ihr Minimum und beginnt wieder zu steigen. Die Grenzkosten des Softwarevertriebs
(1)
(2)
(3)
Menge
Gesamtkosten TC
Grenzkosten MC
q
(US-$)
(US-$)
0
55
1
85
2
110
3
130
4
160
5
210
30 25 30 –– 50
Tabelle 7-2: Berechnung der Grenzkosten Kennen wir erst einmal die Gesamtkosten, ist die Berechnung der Grenzkosten einfach. Um die MC für die fünfte Einheit zu berechnen, subtrahieren wir die Gesamtkosten für vier Einheiten von den Gesamtkosten für fünf Einheiten, d.h. MC = US-$ 210 – US-$ 160 = US-$ 50. Setzen Sie nun bitte selbst die Grenzkosten für die vierte Einheit ein.
Als der Software-Gigant Microsoft den Markt für Internet-Browser erobern wollte, verschenkte er ganz einfach den firmeneigenen Browser, Internet Explorer (IE), und zwar entweder als Einzelprodukt oder im Paket mit dem Betriebssystem Windows. Die Konkurrenz beklagte sich über das rücksichtslose Verhalten von Microsoft. Doch sollte man sich nicht zunächst fragen, wie MS den Browser einfach verschenken konnte, ohne eine ganze Menge Geld zu verlieren? Die Antwort liegt in den Grenzkosten: Zwar brachte die Entwicklung des Internet Explorer für Microsoft ganz enorme Kosten mit sich, doch die Grenzkosten für den Vertrieb jeweils einer zusätzlichen Produkteinheit waren praktisch null. Mit anderen Worten, Microsoft kostete die Abgabe von einer Million plus einem IE nicht mehr als die von einer Million IE. Solange die Grenzkosten des IE null betrugen, entstand durch das Verschenken des Produkts für Microsoft keinerlei finanzieller Verlust.
Kapitel 7
189
Kostenanalyse
(a) Gesamtkosten
(b) Grenzkosten MC
TC
80 TC
Grenzkosten (US-$)
Gesamtkosten (US-$)
200
100
MC 60
40
20
0
1
2
3
4
5
q
0
Produktionsmenge
1
2
3
4
5
q
Produktionsmenge
Abbildung 7-1: Die Beziehung zwischen Gesamtkosten und Grenzkosten In der vorliegenden Abbildung sind die Daten aus Tabelle 7-2 im Diagramm dargestellt. Die Grenzkosten in (b) werden berechnet, indem man die Zusatzkosten, die laut (a) für jede zusätzliche Produktionseinheit anfallen, feststellt. Um daher die Produktions-MC für die fünfte Einheit ermitteln zu können, subtrahieren wir US-$ 160 von US-$ 210 und erhalten MC = US-$ 50. Eine durchgängige schwarze Kurve wurde in (a) durch die einzelnen TC-Punkte gezogen, und eine durchgängige schwarze Kurve verbindet auch in (b) die unterschiedlichen MC-Stufen.
Durchschnittskosten Wir beenden unsere Auflistung der Kostenkonzepte mit einer Erörterung der verschiedenen Arten von Durchschnitts- oder Stückkosten. Tabelle 7-3 erweitert die Daten aus den Tabellen 7-1 und 7-2 um drei neue Messgrößen: Durchschnittskosten, durchschnittliche Fixkosten und durchschnittliche variable Kosten.
Durchschnitts- oder Stückkosten Wie die Grenzkosten sind auch die Durchschnittskosten (AC) ein Konzept, das im Geschäftsleben laufend praktisch angewendet wird. Durch den Vergleich zwischen Durchschnittskosten und Preis oder Durchschnittsertrag können die Unternehmen feststellen, ob sie Gewinne erzielen oder nicht. Durchschnittskosten sind die Gesamtkosten, dividiert durch die Gesamtanzahl der produzier-
ten Einheiten, wie in Spalte (6) der Tabelle 7-3 ausgewiesen. Daher gilt: Durchnittskosten =
Gesamtkosten Produktionsmenge
=
TC q
= AC
In Spalte (6) müssen, wenn nur 1 Einheit produziert wird, die Durchschnittskosten den Gesamtkosten entsprechen: US-$ 85/1 = US-$ 85. Doch für q = 2 gilt AC = TC/2 = US-$ 110/2 = US-$ 55, wie hier ersichtlich. Beachten Sie bitte, dass die Durchschnittskosten zunächst immer weiter sinken. (Warum dies so ist, werden wir in Kürze erklären.) AC erreicht den niedrigsten Wert von US-$ 40 bei q = 4 und steigt dann langsam wieder an. Abbildung 7-2 bildet die Kostendaten aus Tabelle 7-3 ab. Abbildung 7-2(a) stellt die Gesamt-, Fix- und variablen Kosten bei unterschiedlichen Produktionsmengen dar. Abbildung 7-2(b) zeigt die verschiedenen Durchschnittskostenkonzepte in Verbindung mit einer
190
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
(1)
(2 Fixkosten
(3) Variable Kosten
(4) Gesamtkosten
(5) Grenzkosten pro Einheit
Menge q 0
FC (US-$) 55
VC (US-$) 0
TC = FC + VC (US-$) 55
MC (US-$)
1
55
30
85
Teil 2
(6) (7) DurchDurchschnitts- schn. Fixkosten kosten pro Einheit pro Einheit AC = TC/q (US-$) unendlich
(8) Durchschn. variable Kosten pro Einheit AFC = FC/q AVC = VC/q (US-$) (US-$) unendlich nicht definiert
30 85
55
30
55
27 1/2
27 1/2
43 1/3
18 1/3
25
40*
13 3/4
26 1/4
42
11
–
46 2/3
9 1/6
37 1/2
52 6/7
7 6/7
45
60
6 7/8
53 1/8
25 2
55
55
110
3
55
75
130
20
4*
55
105
160
5
55
155
210
30 40* 50 –
6
55
225
280
7
55
–
370
90 110 8
55
–
480
* Niedrigster Wert der Durchschnittskosten
Tabelle 7-3: Alle Kostenkonzepte sind von der Gesamtkostenfunktion abgeleitet Wir können alle Kostenkonzepte von den TC in Spalte (4) ableiten. Die Spalten (5) und (6) sind diejenigen, auf die wir uns konzentrieren müssen: Die Grenzkosten werden durch Subtraktion der angrenzenden TC-Zeilen errechnet und sind rot eingezeichnet. Die mit einem Asterisk versehenen MC von 40 bei einem Output von 4 sind die geglätteten MC aus Abbildung 7-2(b). Beachten Sie in Spalte (6) den Mindestkostenpunkt von US-$ 40 auf der U-förmigen AC-Kurve in Abbildung 7-2(b). (Erkennen Sie, warum die mit einem Asterisk versehenen MC den ebenfalls mit einem Asterisk versehen AC im Minimum entsprechen? Berechnen Sie außerdem die fehlenden Zahlen und setzen Sie diese ein.)
geglätteten Grenzkostenkurve. Diagramm (a) veranschaulicht, wie sich die Gesamtkosten mit den variablen Kosten verändern, während die Fixkosten unverändert bleiben. Nun wenden Sie sich bitte Diagramm (b) zu. Es stellt die U-förmig gekrümmte AC-Kurve dar, die aus der TC-Kurve abgeleitet wird. Abbildung 7-3 zeigt schließlich, in welcher Beziehung die Grenzkosten zum Anstieg der Gesamtkostenkurve stehen.
Durchschnittliche fixe und variable Kosten In der gleichen Weise, wie wir die Gesamtkosten in fixe und variable Kosten eingeteilt haben, können wir auch die Durchschnittskosten in ihre fixen und variablen Komponenten zerlegen. Die Durchschnittsfixkosten (AFC) sind definiert als FC/q. Da die gesamten Fixkosten eine Konstante sind, ergibt sich durch Division derselben durch einen stei-
Kapitel 7
191
Kostenanalyse
(b) Durchschnittskosten, Grenzkosten
800
80
TC
700 Kosten (US-$)
600 500 400
Gesamtkosten TC
300 200
Variable Kosten
100 0
Fixkosten 1
2
3
4
5 6 Menge
7
8
9
10
q
Durchschnitts- u. Grenzkosten (US-$)
(a) Gesamtkosten, fixe und variable Kosten
MC
AC
70 AVC
60 50 M
40 30
M′
20 10 0
1
2
3
4
5 6 Menge
7
8
9
AFC q 10
Abbildung 7-2: Alle Kostenkurven lassen sich aus der Gesamtkostenkurve ableiten (a) Die Gesamtkosten setzen sich aus fixen und variablen Kosten zusammen. (b) Die rote Grenzkostenkurve fällt erst ab und steigt dann wieder an, wie durch die MC-Daten in Spalte (5) von Tabelle 7-3 angegeben. Bitte beachten Sie, dass MC die AC-Kurve in ihrem Minimum schneidet.
genden Output eine stetig fallende Durchschnittsfixkostenkurve [siehe Spalte (7) in Tabelle 7-3]. Mit anderen Worten, wenn ein Unternehmen größere Produktionsmengen verkauft, kann es seine Overheadkosten auf eine größere Zahl produzierter Einheiten aufteilen. Eine Softwarefirma könnte beispielsweise einen großen Stab von Programmierern einstellen, damit diese ein neues Grafikprogramm entwickeln. Die Zahl der verkauften Kopien wirkt sich nicht direkt auf die Zahl der erforderlichen Programmierer aus, daher gelten diese als Fixkosten. Wenn das Programm ein Verkaufserfolg wird, sind die AFC für die Programmierer gering. Erweist sich das Programm als Fehlschlag, liegen die AFC dagegen hoch. Die gestrichelte graue AFC-Kurve in Abbildung 7-2(b) sieht wie eine Hyperbel aus, und sie nähert sich beiden Achsen: Sie fällt, wenn sich die konstanten FC auf immer mehr Einheiten verteilen, immer weiter ab – bis knapp vor die Horizontalachse. Wenn wir für q Bruchzahlen zulassen, beginnen die AFC unendlich hoch, indem begrenzte FC auf einen immer geringeren Wert von q verteilt werden. Die durchschnittlichen variablen Kosten (AVC) entsprechen den variablen Kosten, dividiert durch
die Produktionsmenge: AVC = VC/q. Wie Sie Tabelle 7-3 ebenso wie Abbildung 7-2(b) entnehmen können, fallen in diesem Beispiel die AVC zuerst ab und steigen dann wieder an.
Mindestdurchschnittskosten Verwechseln Sie bitte keinesfalls Durchschnittskosten mit Grenzkosten – ein Fehler, den man nur allzu leicht begeht. Die Durchschnittskosten können sehr viel höher oder niedriger als die Grenzkosten liegen, wie Abbildung 7-2(b) zeigt. Doch Abbildung 7-2(b) veranschaulicht auch, dass eine wichtige Beziehung zwischen MC und AC besteht: Wenn die MC einer zusätzlichen Outputeinheit unter ihren AC liegen, sinken die AC. Und wenn die MC über den AC liegen, steigen die AC. An dem Punkt, an dem gilt, dass MC = AC, verläuft die AC-Kurve flach. In der typischen U-förmigen AC-Kurve entspricht dieser Punkt zugleich jenem Punkt, an dem die AC den Mindeststand erreichen. Überprüfen Sie das bitte selbst im Diagramm. Merken Sie sich außerdem die folgenden wichtigen Regeln:
192
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Beziehung zwischen Steigung und Grenzkosten
Gesamtkosten
Gesamtkostenkurve
d′ c
a b Tangente
Menge
Abbildung 7-3: Die Beziehung zwischen Steigung und Grenzkosten Betrachten Sie die Gesamtkostenkurve unter dem Mikroskop und untersuchen Sie den Kostensprung von q = 3.999 zu q = 4.000. Die Abbildung zeigt den Unterschied zwischen (1) MC als Kostensteigerung, die ein endlicher Schritt zwischen zwei Punkten von q auslöst, und (2) MC als Kosten einer winzigen Mengenveränderung, die durch die Tangentialsteigung in einem gegebenen q-Punkt gemessen wird. Der Abstand von a nach b stellt 1 zusätzliche Outputeinheit dar, der Abstand von b nach d die damit einhergehende Steigerung der Gesamtkosten. Es gilt daher: MC = (d – b) / (b – a), die erste und einfachste Definition der Grenzkosten. Die zweite Definition der Grenzkosten ist jene, die sie als Steigung der Gesamtkostenkurve beschreibt. Die Steigung der Kurve in Punkt a ist durch die Tangentialsteigung in Punkt a gegeben, die ihrerseits durch die Entfernung von b zu c, dividiert durch die Einheitsdistanz a zu b gegeben ist. Im Grenzbereich, wo die Zusatzeinheiten immer kleiner werden und wir die Verhältnisse im neuen, kleineren Dreieck neu berechnen müssen, wird die Diskrepanz zwischen den beiden Definitionen vernachlässigbar gering. Das bedeutet, bd/ bc nähert sich 1, wenn sich b an a annähert.
• Wenn die Grenzkosten unter den Durchschnittskosten liegen, senken Sie die Durchschnittskosten. • Wenn die MC über den AC liegen, erhöhen Sie die AC. • Wenn die MC genau den AC entsprechen, fallen oder steigen die AC in diesem Punkt nicht und befinden sich auf ihrem Mindestniveau. Daher gilt am tiefsten Wert einer U-förmigen AC-Kurve: MC = AC = geringstmögliche AC.
Teil 2
Diese Beziehung ist äußerst wichtig. Sie bedeutet nichts anderes, als dass ein Unternehmen, das sich um möglichst niedrige Durchschnitts-Produktionskosten bemüht, jene Produktionsmenge wählen muss, bei der die Grenzkosten den Durchschnittskosten entsprechen. Warum ist das so? Wenn die MC-Kurve unterhalb der AC-Kurve liegt, kostet die letzte produzierte Einheit weniger als die Durchschnittskosten aller zuvor produzierten Einheiten. Kostet die letzte Einheit weniger als die vorherigen, müssen die neuen AC (d.h. die AC einschließlich der letzten Einheit) geringer sein als die alten AC, weshalb die ACKurve fallend ist. Befindet sich die MC-Kurve hingegen oberhalb der AC-Kurve, so liegen die Kosten für die letzte Einheit über den Durchschnittskosten der früheren Einheiten. Daher müssen die neuen Durchschnittskosten (die AC einschließlich der letzten Einheit) höher als die alten AC sein. Wenn schließlich die MC genau den AC entsprechen, liegen die Kosten für die letzte Einheit genau in derselben Höhe wie die Durchschnittskosten für alle vorherigen Einheiten. Daher sind die neuen AC, die bereits die letzte Einheit umfassen, und die alten AC gleich hoch; die AC-Kurve hat eine Steigung von null, wenn gilt: AC = MC. Um die Beziehung zwischen Grenz- und Durchschnittskosten besser verstehen zu können, betrachten Sie bitte die Kurven in Abbildung 7-2(b) und die Zahlen in Tabelle 7-3. Beachten Sie, dass die MC bei den ersten drei Einheiten unter den AC liegen und dass die AC daher fallen. Exakt bei vier Einheiten sind AC und MC gleich hoch. Ab der fünften Einheit überschreiten die MC die AC und ziehen diese stetig nach oben. Grafisch bedeutet dies, dass die ansteigende MC-Kurve die AC-Kurve genau in jenem Punkt schneidet, in dem sie sich nach oben wendet: Die AC-Kurve wird von der ansteigenden MC-Kurve immer in ihrem Minimum geschnitten. Was nun unsere Kostenkurven betrifft, so muss die AC-Kurve abfallen, wenn die MC-Kurve unter der AC-Kurve liegt.
Kapitel 7
193
Kostenanalyse
Die Beziehung zwischen Produktion und Kosten Was bestimmt eigentlich den Verlauf der Kostenkurve eines Unternehmens? Offensichtlich sind die Inputpreise für Arbeit und Boden wichtige Faktoren, die sich auf die Kosten auswirken. Höhere Mieten und Löhne bedeuten auch höhere Kosten, was Ihnen sicherlich jeder Unternehmer bestätigen wird. Doch die Kostenkurve eines Unternehmens hängt auch ganz wesentlich von seiner Produktionsfunktion ab. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, denken Sie bitte daran, dass die Kosten des Unternehmens sinken, wenn durch technologische Fortschritte derselbe Output mit geringerem Input erzeugt werden kann und sich die Kostenkurve daher nach unten verschiebt. Sobald Sie die Faktorpreise und die Produktionsfunktion kennen, können Sie die Kostenkurve berechnen. Nehmen wir an, ein Unternehmen möchte eine bestimmte Produktionsmenge erzeugen. Die Produktionsfunktion (unter Berücksichtigung der Faktorpreise) sagt uns, welche Inputkombination für die gewünschte Produktionsleistung dieses Unternehmens die geringsten Kosten verursacht. Wenn wir die Gesamtkosten der kostengünstigsten Inputkombination für jede mögliche Produktionsmenge berechnen, erhalten wir die in den Tabellen 7-1 bis 7-3 dargestellten Gesamtkosten. Mithilfe der Produktionsdaten und Faktorkosten berechnen wir für jede Produktionsmenge die Gesamtproduktionskosten, die in Spalte (6) der Tabelle 7-4 eingetragen sind. Wir können die Ableitung der Kosten aus den Produktionsdaten anhand eines einfachen numerischen Beispiels veranschaulichen, wie in Tabelle 7-4 dargestellt. Nehmen wir an, Bauer Smith hätte 10 Morgen Land gepachtet und die erforderlichen Arbeitskräfte eingestellt, um Weizen anzubauen. Die Jahrespacht beläuft sich auf US-$ 5,5 je Morgen, die Arbeitskraft kostet US-$ 5 pro Arbeiter. Wenn er moderne land-
wirtschaftliche Methoden einsetzen kann, wird Bauer Smith entsprechend der in den ersten drei Spalten der Tabelle 7-4 dargestellten Produktionsfunktion produzieren. In diesem Beispiel stellen die Ausgaben für den Boden Fixkosten dar (weil Bauer Smith seinen Pachtvertrag auf zehn Jahre abgeschlossen hat), während Arbeit zu den variablen Kosten zählt (weil Landarbeiter, anders als Universitätsprofessoren, in den USA jederzeit eingestellt und wieder entlassen werden können). Nehmen wir als Beispiel die Gesamtproduktionskosten für 3 Tonnen Weizen. Entsprechend der gegebenen Produktionsfunktion kann Bauer Smith diese Menge Weizen mit 10 Morgen Land und 15 Arbeitseinheiten produzieren. Die Gesamtkosten für die Produktion von 3 Tonnen Weizen betragen (10 Morgen US-$ 5,80 je Morgen) + (15 Arbeiter US-$ 5 pro Arbeiter) = US-$ 130. Mit derselben Berechnungsmethode erhalten wir alle anderen Gesamtkostenzahlen in Spalte (6) von Tabelle 7-4. Beachten Sie bitte, dass die so ermittelten Gesamtkosten identisch mit jenen in den Tabellen 7-1 bis 7-3 sind, sodass die anderen Kostenberechnungen in den Tabellen (z.B. MC, FC, VC, AC, AFC und AVQ) ebenfalls auf das Beispiel der Produktionskosten von Bauer Smith angewandt werden können.
Abnehmende Erträge und U-förmige Kostenkurven Die Beziehung zwischen Kosten und Produktion erklärt, warum Kostenkurven zumeist Uförmig verlaufen. Wie Sie sich wahrscheinlich noch erinnern, haben wir in der Produktionsanalyse in Kapitel 6 zwischen Kurz- und Langfristigkeit unterschieden. Diese Unterscheidung gilt auch für die Kosten: • Kurzfristig bedeutet einen Zeitraum, der lang genug ist, um die variablen Produktionsfaktoren wie Material und Arbeit anzupassen, jedoch zu kurz, um alle Produktionsfaktoren variieren zu können. Kurzfristig können fixe oder Overhead-Faktoren wie Anlagen und Be-
194
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
Produktion
Faktorinput Boden
Faktorinput Arbeit
Bodenpacht
Arbeitslohn
Gesamtkosten
(Tonnen Weizen)
(Morgen)
(Arbeiter)
(US-$ pro Morgen)
(US-$ pro Arbeiter)
(US-$)
0
10
0
5,5
5
55
1
10
6
5,5
5
85
2
10
11
5,5
5
110
3
10
15
5,5
5
130
4
10
21
5,5
5
160
5
10
31
5,5
5
210
6
10
45
5,5
5
280
7
10
63
5,5
5
370
8
10
85
5,5
5
480
Tabelle 7-4: Die Kosten lassen sich aus Produktionsdaten und Faktorkosten ableiten Bauer Smith pachtet 10 Morgen Weizen-Anbaufläche und stellt zur Bearbeitung Landarbeiter (variable Kosten) ein. Nach der landwirtschaftlichen Produktionsfunktion ermöglicht der umsichtige Einsatz von Arbeit und Boden Inputs und Erträge, wie in den Spalten (1) bis (3) der Tabelle ausgewiesen. Unter der Annahme von Faktorpreisen in Höhe von US-$ 5,50 je Morgen Boden und US-$ 5 je Arbeiter erhalten wir die Produktionskosten Smiths in Spalte (6). Alle anderen Kostenkonzepte (wie auch jene aus Tabelle 7-3) lassen sich aus den Gesamtkostendaten errechnen.
triebsausstattung nicht vollständig verändert oder angepasst werden. Deshalb sind die Arbeits- und Materialkosten im Normalfall variable Kosten, während die Kapitalkosten zu den Fixkosten gehören. • Langfristig lassen sich alle Inputs anpassen – Arbeit ebenso wie Rohstoffe und Kapital. Langfristig sind daher alle Kosten vari1 abel und nicht fix. Bitte beachten Sie Folgendes: Ob man von fixen oder variablen Kosten spricht, hängt von der betrachteten Zeitdauer ab. Kurzfristig gelten beispielsweise die Flugzeuge, die eine Fluglinie besitzt, als Fixkosten. Langfristig hingegen kann eine Gesellschaft die Größe ihrer Flotte beeinflussen, indem sie Flugzeuge abstößt oder kauft. Es gibt einen regen Markt für gebrauchte Flugzeuge, und es stellt für Fluglinien kein Problem dar, uner1 Eine umfassende Erörterung des Konzepts der Lang- und Kurzfristigkeit finden Sie in Kapitel 6.
wünschte Maschinen zu verkaufen. Normalerweise zählt das Produktionskapital kurzfristig zu den Fixkosten, Arbeit jedoch zu den variablen Kosten. Diese Regel trifft zwar nicht immer zu (denken Sie an das Beispiel mit den Computerprogrammierern oder an eine Anstellung als Universitätsprofessor), aber im Allgemeinen lassen sich Arbeitsinputs leichter anpassen als Kapital. Warum aber ist die Kostenkurve U-fömig? Betrachten wir einmal einen kurzfristigen Zeitraum, in dem Kapital zu den Fixkosten, Arbeit hingegen zu den variablen Kosten zu zählen ist. Eine solche Situation ist durch abnehmende Erträge des variablen Faktors, der Arbeit, gekennzeichnet, weil jeder zusätzlichen Arbeitseinheit weniger Kapital gegenübersteht. In der Folge steigen die Grenzkosten der Produktion, weil die von jeder zusätzlichen Arbeitseinheit erbrachte Leistung immer geringer wird. Mit anderen Worten, die abnehmenden Grenzerträge beim variablen Faktor implizieren steigende kurz-
Kapitel 7
195
Kostenanalyse
(b) führen zu MC mit positiver Steigung
(a) Abnehmende Erträge… 100
B
Grenzkosten (US-$ pro Tonne Weizen)
Grenzprodukt der Arbeit (zusätzliche Tonnen Weizen pro zusätzlicher Arbeitskraft)
0,3
0,2
A 0,1
0
D
L 0
20
40 Arbeit
60
80
AC 60 40 20 0
80
MC D
A B Q 0
20
40 60 Produktionsmenge
80
100
Abbildung 7-4: Abnehmende Erträge und U-förmige Kostenkurven Die U-förmige Grenzkostenkurve in (b) ergibt sich aus dem Verlauf der Grenzproduktkurve in (a). Wenn der Boden fix, die Arbeit jedoch variabel ist, steigt das Grenzprodukt in (a) zunächst links von B an, findet seinen Höhepunkt in B und fällt dann wieder bei D ab, wenn die abnehmenden Erträge durch den Faktor Arbeit einsetzen. Die Grenzkostenkurve leitet sich aus den Produktionsdaten ab. Im Bereich links von B in Abbildung (b) – beispielsweise in Punkt A – bedeutet ein steigendes Grenzprodukt, dass die Grenzkosten sinken; in B erreicht das Grenzprodukt seinen Höhepunkt bei minimalen Grenzkosten; im Bereich rechts von B (z.B. in D) erhöhen sich die Grenzkosten der Produktion bei sinkendem Grenzprodukt der Arbeit. Insgesamt führt das zunächst steigende und dann wieder sinkende Grenzprodukt der variablen Faktoren zu einer U-förmigen Grenzkostenkurve.
fristige Grenzkosten. Das zeigt auch, warum abnehmende Erträge irgendwann zu steigenden Grenzkosten führen. Abbildung 7-4, die exakt dieselben Daten wie Tabelle 7-4 enthält, illustriert diese Tatsache. Hier sehen wir, dass der Bereich des zunehmenden Grenzprodukts den sinkenden Grenzkosten entspricht, während der Bereich der abnehmenden Grenzerträge steigende Grenzkosten impliziert. Wir können die Beziehung zwischen den Gesetzen der Produktivität und den Kostenkurven wie folgt zusammenfassen: Kurzfristig, wenn bestimmte Faktoren wie das Kapital fix sind, weisen die variablen Faktoren eine erste Phase steigender Grenzerträge auf, worauf eine Phase abnehmender Erträge folgt. Die entsprechenden Kostenkurven zeigen eine erste Phase abnehmender Grenzkosten, worauf eine Phase steigender Grenzkosten folgt, sobald die Grenzerträge sinken.
Wie Unternehmen ihre Produktionsfaktoren auswählen Grenzproduktivität und die Kostenoptimierungsregel (Least-cost-Regel) Jedes Unternehmen muss entscheiden, wie es seine Produktion gestalten will. Soll Strom mit Öl oder Kohle erzeugt werden? Sollen Autos in den USA oder in Mexiko gefertigt werden? Sollen Schüler von Studenten oder von fertig ausgebildeten Akademikern unterrichtet werden? Mit diesem Abschnitt schließen wir die Lücke zwischen Produktion und Kosten, indem wir mithilfe des Grenzkostenkonzepts darstellen, wie Unternehmen bei gegebenen Faktorpreisen die kostengünstigsten Kombinationen an Produktionsfaktoren auswählen. Wir werden in unserer Analyse von der entscheidenden Annahme ausgehen, dass Unternehmen bestrebt sind, ihre Produktionskosten zu minimieren. Diese Annahme der Kostenminimierung erscheint übrigens
196
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
nicht nur für im Wettbewerb stehende Unternehmen sinnvoll, sondern ebenso für Monopolisten und sogar für gemeinnützige Organisationen wie Universitäten oder Spitäler. Sie besagt nur, dass das Unternehmen danach trachten sollte, seine Produktion möglichst kostengünstig zu gestalten, damit ein möglichst hoher Anteil des Ertrages für Gewinne oder andere Ziele erhalten bleibt. Ein einfaches Beispiel zeigt, wie ein Unternehmen zwischen verschiedenen Kombinationen von Produktionsfaktoren wählen könnte. Nehmen wir an, die Techniker des Unternehmens hätten errechnet, dass das angestrebte Produktionsvolumen von 9 Einheiten auf zwei mögliche Arten erreicht werden kann. In beiden Fällen kostet die Energie (E) US-$ 2 je Einheit, während die Arbeitskosten (L) mit US-$ 5 pro Stunde zu veranschlagen sind. Mit Option 1 ergibt sich eine Input-Zusammensetzung von E = 10 und L = 2. Option 2 zeigt E = 4 und L = 5. Welcher der beiden Möglichkeiten ist der Vorzug zu geben? Zu den gängigen Marktpreisen für die Inputs betragen die Gesamtproduktionskosten für Option 1 ($ 2 10) + ($ 5 2) = $ 30, während die Gesamtkosten für Option 2 ($ 2 4) + ($ 5 5) = $ 33 betragen. Also wäre Option 1 die bevorzugte, weil kostengünstigste Inputkombination. In der Praxis gibt es zumeist mehrere und nicht nur zwei mögliche Inputkombinationen. Wir brauchen jedoch nicht erst die Kosten jeder einzelnen Kombination zu errechnen, um festzustellen, wie wir am kostengünstigsten produzieren. Eine einfache Methode zur Ermittlung der kostengünstigsten Inputkombination lautet wie folgt: Beginnen Sie, indem Sie das Grenzprodukt jedes Inputs berechnen, wie wir das in Kapitel 6 getan haben. Dividieren Sie anschließend das Grenzprodukt jedes Inputs durch seinen Faktorpreis. Sie kennen nun das Grenzprodukt je Dollar Input. Die kostenoptimale Kombination von Produktionsmitteln ist gefunden, wenn die Grenzproduktivität für alle Inputs gleich ist. Dies bedeutet, dass der zusätzliche Beitrag zur Produktionsleistung jedes einzel-
Teil 2
nen Dollars in Form von Boden, Erdöl usw. genau gleich hoch sein muss. Führt man diesen Gedankengang fort, so kann ein Unternehmen seine Gesamtproduktionskosten minimieren, wenn das Grenzprodukt pro Dollar Input für jeden Produktionsfaktor ausgeglichen werden kann. Diesen Umstand bezeichnen wir als Least-Cost- oder Kostenoptimierungsregel. Least-Cost-Regel: Um eine bestimmte Produktionsleistung mit den geringstmöglichen Kosten erzielen zu können, muss ein Unternehmen bei der Beschaffung der Produktionsfaktoren darauf achten, dass das Grenzprodukt pro Geldeinheit, die für jeden einzelnen Produktionsfaktor ausgegeben wird, gleich hoch ist. Das heißt: Grenzpunkt von L Preis von L Grenzpunkt von A =
Preis von A
=…
Diese Regel für Unternehmen entspricht haargenau dem, was auch die Konsumenten tun, wenn sie ihren Nutzen maximieren, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben. Bei der Analyse der Auswahlentscheidungen der Konsumenten haben wir gesehen, dass diese ihre Kaufentscheidungen im Sinne der Nutzenoptimierung so treffen sollten, dass der Grenznutzen pro ausgegebenem Dollar für jedes Gut gleich hoch ist. Aber die Least-Cost-Regel lässt sich auch folgendermaßen verstehen: Unterteilen Sie jeden Faktor in kleine Pakete zu je US-$ 1. (In unserem obigen Beispiel mit Energie und Arbeit entspricht US-$ 1 an Arbeitskosten etwa einem Fünftel einer Arbeitsstunde, während US-$ 1 für Energie eine halbe Energieeinheit darstellt). Die Least-Cost-Regel besagt nun, dass das Grenzprodukt jeder Dollareinheit für die Produktionsfaktoren gleich sein muss. Wären die Grenzprodukte je US-$ 1 Input nicht gleich, könnten Sie den Input mit der niedrigeren Grenzproduktivität je Dollar reduzie-
Kapitel 7
197
Kostenanalyse
ren und dafür mehr von jenen Inputs verwenden, die eine hohe Grenzproduktivität erzielen, um denselben Output zu geringeren Kosten herzustellen. Als logische Folge der Least-Cost-Regel ergibt sich somit die Substitutionsregel. Substitutionsregel: Wenn der Preis für einen Produktionsfaktor sinkt, während alle anderen Faktorpreise gleich bleiben, profitiert ein Unternehmen davon, den verbilligten Faktor anstelle der sonstigen Optionen einzusetzen. Ziehen wir als Beispiel die Arbeit (L) heran. Sinkende Arbeitskosten führen zu einer Erhöhung des Verhältnisses MPL/PL gegenüber MP/P der anderen Produktionsfaktoren. Ein vermehrter Einsatz von Arbeit verringert nach dem Gesetz der abnehmenden Grenzerträge MPL und senkt daher MPL/PL. Ein niedrigerer Preis und ein niedrigeres MP der Arbeit bewirken hingegen einen Ausgleich zwischen dem Grenzprodukt je Dollar für den Faktor Arbeit und diesem Verhältnis für die anderen Produktionsfaktoren.
B. Volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Kostenrechnung Von General Motors bis hin zum kleinen Laden um die Ecke verwenden die Unternehmen mehr oder weniger komplexe Systeme zur Kostenkontrolle. Viele Kostenkategorien im betrieblichen Rechnungswesen gleichen weitgehend den volkswirtschaftlichen Kostenkonzepten, die wir zuvor dargelegt haben. Trotzdem gibt es einige wesentliche Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie Unternehmen die Kosten bestimmen und wie Volkswirte an dieselbe Aufgabe herangehen. In diesem Abschnitt werden wir die Grundlagen des betrieblichen Rech-
nungswesens vorstellen und auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten zur volkswirtschaftlichen Kostenberechnung hinweisen.
Die Gewinn- und Verlustrechnung Beginnen wir mit einem kleinen Unternehmen; nennen wir es Hot Dog Ventures, Inc. Wie der Name schon sagt, verkauft dieser Betrieb köstliche Würstchen in einem kleinen Laden, und zwar vor allem an Studenten. Die Geschäftstätigkeit umfasst den Ankauf von Rohstoffen (Würstchen, Semmeln und Brot, teurem Senf und Kaffee für die Espressomaschine) sowie die Anstellung von Mitarbeitern, die die Snacks herstellen und verkaufen. Außerdem musste das Unternehmen einen Kredit in Höhe von US-$ 100.000 für Küchengeräte und andere Einrichtungen des kleinen Restaurants aufnehmen, und es bezahlt für das Geschäftslokal Miete. Die Gründer der Hot Dog Ventures haben hochfliegende Pläne, also haben sie das Unternehmen als Kapitalgesellschaft eintragen lassen und Stammaktien ausgegeben (siehe Kapitel 6 über die verschiedenen Rechtsformen der Unternehmen). Um festzustellen, ob Hot Dog Ventures einen Gewinn erwirtschaftet, müssen wir die Gewinn- und Verlustrechnung des Unternehmens zu Rate ziehen, die Tabelle 7-5 zu entnehmen ist. Dort finden wir folgende Angaben: (1) die Verkaufserlöse der Hot Dog Ventures für 2004, (2) die Aufwändungen, die diesen Erlösen gegenüberstehen, und (3) den Nettoertrag oder die Gewinne, die nach Abzug der Aufwändungen verbleiben – womit schon klipp und klar ausgedrückt ist, was die Gewinn- und Verlustrechnung eigentlich aussagt. Nettoertrag (Gewinn) = Gesamterlös – Gesamtaufwand Diese Definition ergibt die berühmte „Bottom Line“, das Endergebnis an Gewinnen, das Unternehmen maximieren wollen. Diese
198
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Gewinn- und Verlustrechnung der Hot Dog Ventures, Inc. (1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2004) (1)
Nettoerlöse (nach Abzug aller Preisnachlässe und Rabatte)
$ 250.000
abzüglich Aufwendungen: (2)
Material
(3)
Löhne
90.000
(4)
Sonstige Betriebsaufwendungen (Strom, Gas, Wasser etc.)
10.000
(5)
$ 50.000
Entspricht: Umsatzaufwendungen
(6)
Verkaufs- und Verwaltungsaufwand
15.000
(7)
Miete für Geschäftsräumlichkeiten
5.000
(8)
Abschreibung
(9) (10)
15.000
Betriebsaufwendungen
$ 185.000
Nettoerlöse
185.000 $ 65.000
Abzüglich: (11)
Zinsaufwendungen für Geschäftsausstattungsdarlehen
6.000
(12)
Bundes- und Gemeindesteuern
4.000
(13)
Nettoerträge (oder Gewinne) vor Einkommensteuer
(14)
Abzüglich: Körperschaftssteuer
(15)
Nettoerträge (oder Gewinne nach Steuern
(16)
Abzüglich: Ausbezahlte Dividenden (für Stammaktien)
(17)
Zuführung zu einbehaltenen Gewinnen
$ 55.000 18.000 $ 37.000 15.000 $ 22.000
Tabelle 7-5: Die Gewinn- und Verlustrechnung weist die Gesamtumsätze und Aufwendungen für die Berichtsperiode aus
Unternehmensgewinne sind in vielerlei Hinsicht der volkswirtschaftlichen Definition von Gewinnen sehr ähnlich. Sehen wir uns nun die Gewinn- und Verlustrechnung ein wenig genauer an, wobei wir oben beginnen wollen. In der ersten Zeile sind die Umsatzerlöse mit US-$ 250.000 ausgewiesen. Die Zeilen 2 bis 9 geben die Aufwändungen für verschiedene Produktionsfaktoren an, die im Produktionsprozess eingesetzt werden. So stellen beispielsweise die Löhne die jährlichen Kosten für die Beschäftigten dar, während die Mietaufwändungen den Jahreskosten für die Gebäudenutzung entsprechen. Die Position Verkaufs- und Verwaltungsaufwand umfasst die Aufwändungen für Werbung und Büro, während „sonstige Betriebsaufwendungen“ unter anderem die Stromkosten beinhalten.
Die ersten drei Aufwandskategorien, Material, Löhne und sonstige Betriebsaufwendungen, entsprechen im Wesentlichen den variablen Kosten des Unternehmens oder seinen Umsatzaufwendungen. Die nächsten drei Positionen, die den Zeilen 6 bis 8 zu entnehmen sind, entsprechen den Fixkosten von Hot Dog Ventures, da sie kurzfristig nicht verändert werden können. Zeile 8 führt einen Begriff auf, den wir bisher noch nicht besprochen haben, nämlich die Abschreibung. Er bezieht sich auf den Kapitalaufwand. Unternehmen können Kapital entweder mieten oder ihre Kapitalgüter selbst besitzen. Im Fall der von der Hot Dog Ventures gemieteten Räumlichkeiten haben wir die Miete in Position (7) der Gewinn- und Verlustrechnung abgezogen.
Kapitel 7
199
Kostenanalyse
Komplizierter wird die Sache, wenn das Unternehmen seine Kapitalgüter selbst besitzt. Nehmen wir an, die Küchenausstattung habe eine geschätzte Lebensdauer von zehn Jahren und sei danach nutz- und wertlos. Tatsächlich wird ja alljährlich im Zuge des Produktionsprozesses ein Teil der Küchenausstattung „verbraucht“. Wir nennen diese verbrauchte Menge „Abschreibung“ und berechnen damit die Aufwendungen für den Kapital-Input in diesem Jahr. Abschreibung ist ein Maß für die jährlichen Kosten eines Kapital-Inputs, den ein Unternehmen selbst besitzt. Dieselbe Überlegung gilt für sämtliche Kapitalgüter eines Unternehmens. Lastwagen gehen kaputt, Computer veralten und sogar Gebäude fallen irgendwann einmal in sich zusammen. Für all das berechnet das Unternehmen eine Wertminderung. Es gibt zahlreiche Formeln zur Berechnung der jährlichen Abschreibung, aber sie alle folgen zwei wichtigen Prinzipien: (a) Die Abschreibung des betreffenden Wertes muss den historischen Kosten oder dem Anschaffungspreis entsprechen; und (b) die Abschreibung wird während der buchhalterischen Nutzungsdauer, die sich an der tatsächlichen Nutzungsdauer orientiert, in Form jährlicher Aufwendungen verbucht. Wir wissen damit auch schon, wie die Abschreibung für die Hot Dog Ventures zu berechnen wäre. Die Geschäftsausstattung wird über eine Nutzungsdauer von zehn Jahren abgeschrieben, sodass der Wert von US-$ 150.000 für die Geschäftsausstattung unter Zugrundelegung der einfachsten Abschreibungsmethode eine jährliche Abschreibung von US-$ 15.000 bedingt. Besäße die Hot Dog Ventures ihr Geschäftsgebäude selbst, so müsste sie auch dieses abschreiben. Die Addition aller bisherigen Kosten ergibt die Betriebsaufwendungen (Zeile 9). Das Netto-Betriebsergebnis stellt die Nettoerlöse abzüglich der Betriebsaufwendungen dar (Zeile 1 abzüglich Zeile 9). Aber haben wir damit schon alle Produktionsaufwendungen berücksichtigt? Nicht ganz. Zeile 11 weist die jährlichen Zinsaufwendungen für den
Kredit von US-$ 100.000 aus. Diese sind als die Kosten für die Aufnahme von Kapital zur Unternehmensfinanzierung anzusehen. Obwohl es sich dabei um Fixkosten handelt, wird diese Position zumeist getrennt von den anderen Fixkostenpositionen ausgewiesen. Bundes- und Gemeindesteuern, beispielsweise Vermögenssteuer, stellen weitere Aufwendungen dar. Zieht man die Zeilen 11 und 12 ab, erhält man einen Gesamtbetrag von US-$ 55.000 an Gewinnen vor Einkommensteuern. Wie teilen sich diese Gewinne auf? Etwa US$ 18.000 gehen in Form der Körperschaftssteuer an den Staat. Danach verbleibt ein Gewinn von US-$ 37.000 nach Steuern. Die Dividenden in Höhe von US-$ 15.000 wurden ausbezahlt, sodass ein Betrag von US-$ 22.000 verbleibt, der als einbehaltener Gewinn in das Unternehmen rückgeführt wird. Beachten Sie bitte auch hier wieder, dass sich der Gewinn als Restbetrag aus den Umsatzerlösen abzüglich der Aufwendungen ergibt.
Die Bilanz Im betrieblichen Rechnungswesen geht es jedoch um mehr als nur um Gewinne und Verluste, die Antriebskräfte der Wirtschaft. So gehört zum betrieblichen Rechnungswesen auch die Bilanz, die ein Bild von der jeweiligen finanziellen Situation eines Unternehmens zu einem bestimmten Zeitpunkt zeichnet. In der Bilanz wird der Wert eines Unternehmens, einer Person oder eines Staates zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgewiesen. Auf der einen Seite der Bilanz stehen die Aktiva (Vermögenswerte und Rechte des Unternehmens). Auf der anderen, der Passivseite, finden sich zwei Positionen, nämlich die Verbindlichkeiten (Schulden und sonstige Verpflichtungen des Unternehmens) und das Eigenkapital (der Nettowert, der den Gesamtvermögenswerten abzüglich der gesamten Verbindlichkeiten entspricht). Eine wichtige Unterscheidung zwischen der Gewinn- und Verlustrechnung und der
200
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Bilanz ist jene zwischen fixen Beständen und dynamischen Strömen. Eine Bestandsgröße stellt ein bestimmtes Niveau einer Variablen dar, etwa die Wassermenge in einem See oder in unserem Fall den Geldwert eines Unternehmens. Eine Flussgröße bezieht sich hingegen auf die Veränderung je Zeiteinheit, vergleichbar dem aus einem See in einen Fluss abströmenden Wasser oder dem Strom der Erträge und Aufwendungen in und aus einem Unternehmen. Die Gewinn- und Verlustrechnung misst die Ströme in ein Unternehmen hinein und aus ihm heraus, während die Bilanz den Bestand an Aktiva und Passiva zum Ende eines Geschäftsjahres darstellt. Die fundamentale Gleichung oder ausgleichende Beziehung der Bilanz besteht darin, dass die gesamten Vermögenswerte eines Unternehmens den gesamten Verbindlichkeiten zuzüglich des Eigenkapitals entsprechen. Gesamtvermögenswerte (Aktiva) = Gesamtverbindlichkeiten + Eigenkapital Wir können diese Gleichung auch umstellen und erhalten: Eigenkapital = Vermögen (Aktiva) – Verbindlichkeiten Sehen wir uns dazu Tabelle 7-6 mit der einfachen Bilanz der Hot Dog Ventures, Inc. an. Links stehen die Aktiva, rechts die Passiva – Verbindlichkeiten und Eigenkapital. Neben dem Eintrag für das Eigenkapital wurde bewusst etwas Platz freigelassen, weil hier gemäß unserer fundamentalen Bilanzgleichung nur eine einzige Zahl eingetragen werden kann, nämlich US-$ 200.000. Unter der Annahme, dass sich eine Position der Bilanz verändert (etwa durch einen Vermögenszugang), muss sich eine entsprechende Änderung auch auf der anderen Seite vollziehen, damit die Gleichung wieder stimmt (in diesem Fall könnte es sich um eine Vermögensminderung, höhere Verbindlichkeiten oder eine Erhöhung des Eigenkapitals handeln).
Teil 2
Um zu illustrieren, dass das Eigenkapital immer einen Ausgleich zwischen den beiden Seiten der Bilanz herstellt, nehmen wir einmal an, unserem Unternehmen wären Hotdogs im Wert von US-$ 40.000 verdorben. Der Buchhalter berichtet das folgendermaßen: „Die Unternehmensaktiva haben sich um US-$ 40.000 verringert; die Verbindlichkeiten bleiben unverändert. Das bedeutet einen Rückgang des Eigenkapitals um US-$ 40.000, und ich muss daher die Position Eigenkapital von zuvor US-$ 200.000 auf US-$ 160.000 berichtigen.“ So sehen die Aufzeichnungen von Buchhaltern aus. Wir fassen unsere Analyse der Bilanzierungsgrundsätze wie folgt zusammen: 1. Die Gewinn- und Verlustrechnung zeigt den Strom der Umsätze, Aufwendungen und Erträge während des Jahres oder der Buchhaltungsperiode. Sie misst den Geldfluss in das und aus dem Unternehmen, also den Fortschritt, den das Unternehmens während des Jahres erzielt hat. 2. Die Bilanz zeigt eine Momentaufnahme der Finanzsituation des Unternehmens. Sie gleicht einem Wasserstandsmesser in einem See. Ihre wichtigsten Bestandteile sind die Vermögenswerte (Aktiva), die Verbindlichkeiten und das Eigenkapital.
Bilanzierungsgrundsätze Beim Studium der Bilanz in Tabelle 7-6 könnten Sie sich folgende Frage stellen: „Wie wird denn der Wert der verschiedenen Positionen bestimmt? Wie weiß ein Buchhalter, dass die Ausstattung eines Unternehmens einen Wert von US-$ 150.000 darstellt?“ Die Antwort lautet, dass sich Buchhalter einer Reihe allgemein anerkannter Regeln oder Bilanzierungsgrundsätze bedienen, um die meisten dieser Fragen zu lösen. Die wichtigste Annahme, die jeder Bilanz zugrunde gelegt wird, lautet, dass der Wert beinahe jeder Position deren Anschaffungskosten (historischen Kosten) entspricht. Dieser Grundsatz
Kapitel 7
201
Kostenanalyse
Bilanz der Hot Dog Ventures, Inc. (31. Dezember 2004) Aktiva
Passiva Verbindlichkeiten
Umlaufvermögen:
Kurzfristige Verbindlichkeiten:
Barbestände
20.000
Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen
20.000
Lagerbestand
80.000
Wechselverbindlichkeiten
30.000
Anlagevermögen: Maschinen
Langfristige Verbindlichkeiten: 150.000
Anleiheverbindlichkeiten
100.000
Eigenkapital Aktienkapital: Stammaktien Gesamt
350.000
Gesamt
350.000
Tabelle 7-6: Die Bilanz weist Aktiva und Passiva sowie das Eigenkapital eines Unternehmens zu einem Stichtag aus
unterscheidet sich vom volkswirtschaftlichen „Wert“-Prinzip, das wir im nächsten Abschnitt behandeln werden. Die Lagerbestände an Hotdog-Brötchen werden beispielsweise zum Anschaffungspreis ausgewiesen. Ein gerade erst gekauftes Anlagegut – irgendein Teil der Geschäftsausstattung oder ein Gebäude – wird zum Kaufpreis bewertet (entsprechend dem Bilanzierungsgrundsatz, wonach die Anschaffungskosten maßgeblich sind). Ältere Kapitalgüter werden zum Kaufpreis abzüglich der Abschreibungen bis zum jeweiligen Zeitpunkt bewertet, was der abnehmenden Nutzbarkeit dieser Güter Rechnung trägt. Buchhalter bedienen sich der Anschaffungskosten als Bewertungsmaßstab, weil sie damit zu einer objektiven Evaluierung gelangen, die sich zudem jederzeit überprüfen lässt. In Tabelle 7-6 ist das Umlaufvermögen jenes Vermögen, das innerhalb eines Jahres umgesetzt wird, während das Anlagevermögen die
Kapitalgüter sowie Grund und Boden darstellt. Die einzelnen Positionen brauchen kaum näher erläutert zu werden. Barbestände bezeichnen die vorhandenen Münzen, Papiergeld und Bankeinlagen. Barbestände sind die einzige Aktivposition, deren Wert exakt ermittelt wird und keinen Schätzwert darstellt. Auf der Seite der Passiva stellen die Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen sowie die Wechselverbindlichkeiten jene Beträge dar, die anderen für gekaufte Güter oder Gelddarlehen geschuldet werden. Anleiheverbindlichkeiten bezeichnen langfristige Darlehen, die auf dem Markt gehandelt werden. Die letzte Bilanzposition ist das Eigenkapital oder Aktienkapital des Unternehmens. Es handelt sich hierbei um den Nettowert der Aktiva abzüglich der Passiva des Unternehmens, bewertet zu historischen Kosten. Das Eigenkapital muss in unserem Fall US-$ 200.000 betragen.
202
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Finanzbetrug Bei der Beschäftigung mit den Grundsätzen der Rechnungslegung fällt auf, dass für die exakte Bewertung der einzelnen Positionen ein gutes Urteilsvermögen erforderlich ist. Ende der 1990er Jahre haben viele Unternehmen, die unter einem enormen Druck standen, in möglichst kurzer Zeit hohe Gewinne zu erzielen, ihre Bilanzen manipuliert, um entweder ausgezeichnete Ergebnisse vorzutäuschen oder Verluste zu vertuschen. Unter den bemerkenswerten Beispielen dieser Praxis sind etwa jene zu finden, die ihr verkauftes Vermögen als Umsatzerlöse auswiesen (Enron, Global Crossing); manche aktivierten den Mittelabfluss, erfassten aber zugleich Zuflüsse als kurzfristige Erlöse (Enron, Qwest); andere gaben den Schrottwert ihrer LKW im Laufe der Zeit immer höher an (Abfallmanagement), aber auch die höhere Bewertung ungenutzter Deponieflächen kam vor, obwohl diese nach und nach aufgefüllt wurden (Abfallwirtschaft), und einige Unternehmen meldeten einfach positive Proforma-Daten, wenngleich die Wirklichkeit nicht so rosig aussah (Amazon.com, Yahoo und Qualcomm, um nur einige aus einer ganzen Reihe von Dotcom-Firmen zu nennen, die diese Praxis nur teilweise überlebt haben). Als der Betrug schließlich ruchbar wurde, schlitterten WorldCom und Enron in den Konkurs. Der Aufstieg und Fall von Enron Wenn Sie wissen möchten, wie Bilanzbetrug funktioniert, sollten Sie das Beispiel Enron studieren. Der Energieversorger Enron begann als (tatsächlich) rentables Unternehmen, dem das größte überregionale Erdgasleitungsnetz der USA gehörte. Um sein rasches Wachstum erhalten zu können, nahm der Konzern den Handel von Erdgas-Terminkontrakten auf und übertrug dann sein „Geschäftsmodell“ auf andere Märkte. Nach und nach begannen die Gewinne jedoch abzubröckeln, und Enron verbarg diesen Umstand vor den Investoren. Nun fragen Sie sich vielleicht, wie es einem so großen, an der Börse notierten Konzern gelingen kann,
Teil 2
praktisch sämtliche Beteiligten über so lange Zeit, nämlich bis 2001, zu täuschen? Erstens waren einige der Geschäftszweige von Enron tatsächlich neu, sodass die Investoren möglicherweise durchaus begründet eine Zeitlang glaubten, diese wären auch solide. Warum es das Unternehmen aber schaffte, sein Versagen vor jedermann zu verbergen, hat vier Gründe, die nur in ihrer Gesamtheit verständlich werden. Erstens begann Enron, als es in Schwierigkeiten geriet, sich einige unscharfe Bestimmungen in der Bilanzgesetzgebung zunutze zu machen – etwa jene, die wir weiter oben beschrieben haben. Ein Beispiel dafür war der Deal, der unter der Bezeichnung „Project Braveheart“ lief und mit Blockbuster Video zu tun hatte. Bei dieser Transaktion wurden Erträge, die für die nächsten 20 Jahre – eine reine Prognose – mit einem Zeitwert von US-$ 111 Millionen angesetzt worden waren, von Enron als laufende Erträge verbucht, obwohl schon die Prognose auf höchst dubiosen Annahmen beruhte. Zweitens beschloss das Unternehmen, die Detaildaten vieler Finanztransaktionen gar nicht erst auszuweisen, und verheimlichte seinen Aktionären beispielsweise Hunderte von Partnerschaften. Drittens verhielten sich die Aufsichtsräte und externen Wirtschaftsprüfer passiv und zweifelten die Bilanzen von Enron nie an, ja, sie fragten in einigen Fällen nicht einmal genauer nach. Und schließlich, viertens, verzichtete die Anlegergemeinde, also etwa die großen Investmentfonds, weitgehend auf eigenständige Analysen der von Enron vorgelegten Zahlen, obwohl das Unternehmen in Spitzenzeiten US-$ 70 Milliarden an Investorengeldern anzog.2 Der Fall Enron erinnert uns schmerzlich daran, dass die Finanzmärkte und selbst die größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Investmentmanager betrogen und zur Veranlagung von Milliarden und Abermilliarden Dollar verleitet werden können, wenn ein Unternehmen eine derart aggressive und betrügerische Bilanzierungspraxis an den Tag legt. Die Geschichte einer kriminellen Bilanzfälschung dieses Ausmaßes führt uns aber auch drastisch die Bedeutung eines vernünftigen Rechnungswesens und die Notwendigkeit der Kontrolle durch den Staat und nichtstaatliche Organisationen vor Augen.
Kapitel 7
Kostenanalyse
C. Opportunitätskosten In diesem Abschnitt wollen wir uns dem Thema Kosten aus einem weiteren Blickwinkel heraus nähern. Denken Sie daran, dass einer der Kardinalsätze der Volkswirtschaft lautet: Ressourcen sind knapp. Das bedeutet, dass wir uns jedes Mal, wenn wir uns dazu entscheiden, eine Ressource in einer bestimmten Weise einzusetzen, der Möglichkeit berauben, dieselbe Ressource auf eine andere Weise zu nutzen. Wir können das in unserem Leben immer wieder beobachten, wenn wir darüber entscheiden müssen, was wir mit unserer beschränkten Zeit und unserem beschränkten Einkommen anfangen wollen. Gehen wir ins Kino oder lernen wir für den Test in der kommenden Woche? Wollen wir lieber eine Reise nach Mexiko unternehmen oder ein neues Auto kaufen? Möchten wir nach dem Universitätsabschluss noch ein postgraduales Studium absolvieren oder gleich zu arbeiten beginnen?2 In jedem dieser Fälle kostet uns die getroffene Entscheidung etwas, nämlich die Möglichkeit, stattdessen etwas anderes zu tun. Die beste verpasste Alternative wird als Opportunitätskosten der Entscheidung bezeichnet, ein Konzept, das uns ganz kurz schon in Kapitel 1 begegnet ist und das wir hier noch etwas gründlicher erarbeiten möchten. Die direkten monetären Kosten, wenn wir ins Kino gehen, anstatt zu lernen, bestehen in dem Preis, den wir für die Kinokarte ausgeben, während die Opportunitätskosten zusätzlich auch noch die Möglichkeit berücksichtigen, dass wir bei unserem Test nächste Woche schlechter abschneiden könnten. Zu den Opportunitätskosten einer Entscheidung gehören sämtliche Konsequenzen dieser Entscheidung, ob sie nun Geldtransaktionen betreffen oder nicht.
2 In den Leseempfehlungen dieses Kapitels finden sich Hinweise auf weitere Analysen zum Thema.
203 Beim Treffen von Entscheidungen fallen Opportunitätskosten an, weil die Auswahl einer Möglichkeit in einer Welt der Knappheit bedeutet, dass wir auf andere Möglichkeiten verzichten müssen. Opportunitätskosten bezeichnen den Wert des wertvollsten entgangenen Gutes oder der entgangenen Dienstleistung. Ein wichtiges Beispiel für Opportunitätskosten sind die Kosten einer universitären Ausbildung. Haben Sie im Jahr 2003 eine amerikanische öffentliche Universität besucht, so betrugen die Gesamtkosten für Unterricht, Bücher und Fahrtkosten vielleicht US-$ 6.000. Entspricht das Opportunitätskosten von US-$ 6.000 für Ihre Ausbildung? Ganz und gar nicht! Sie müssen zusätzlich die Opportunitätskosten für die Zeit mit einrechnen, die Sie mit Ihrem Studium und dem Besuch der Vorlesungen verbracht haben. Ein Ganztagsjob für einen neunzehnjährigen Schulabgänger mit Highschool-Abschluss hätte Ihnen im Jahr 2003 ein Jahresgehalt von durchschnittlich US-$ 22.000 eingebracht. Addieren wir nun die eigentlichen Geldausgaben und das entgangene Einkommen, so stellen wir fest, dass die Opportunitätskosten für den Collegebesuch US-$ 28.000 (entsprechend US-$ 6.000 + US-$ 22.000) und nicht nur US-$ 6.000 betragen. Auch die Entscheidungen von Unternehmen verursachen Opportunitätskosten. Lassen sich diese in jedem Fall aus der Gewinnund Verlustrechnung herauslesen? Nicht unbedingt. Im Allgemeinen enthalten die Bücher der Unternehmen nur jene Transaktionen, bei denen tatsächlich Geldbewegungen stattfinden. Im Gegensatz dazu bemühen sich Volkswirte stets darum, den „Schleier des Geldes zu lüften“, um die eigentlichen Folgen der Geldflüsse offen zu legen und den echten Ressourcenverbrauch einer Aktivität zu messen. Aus diesem Grund berücksichtigen Volkswirte in ihren Überlegungen sämtliche Kosten, ob sie monetäre Transaktionen betreffen oder nicht. Es gibt mehrere wichtige Opportunitätskosten, die einer Gewinn- und Verlustrechnung nicht zu entnehmen sind. So kann beispielsweise in einem Kleinbetrieb die Familie
204
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
zahlreiche unbezahlte Arbeitsstunden einbringen, ohne dass diese irgendwo als Kosten erscheinen. Auch der Kapitalaufwand für die finanziellen Beiträge des Eigentümers zu seinem Unternehmen bleibt unberücksichtigt. Ebenso fehlen die Kosten, die die Umweltverschmutzung durch das Unternehmen verursacht, wenn es giftige Abfälle in einen Fluss einleitet. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind jedoch alle diese Positionen echte Kosten, die der Wirtschaft entstehen. Illustrieren wir das Konzept der Opportunitätskosten anhand des Eigentümers der Hot Dog Ventures. Dieser Eigentümer bringt allwöchentlich 60 Arbeitsstunden in sein Unternehmen ein, erhält aber kein „Gehalt“. Zum Jahresende haben die Hot Dog Ventures, wie aus Tabelle 7-5 ersichtlich, einen Gewinn von US-$ 37.000 erwirtschaftet – gar nicht schlecht für ein so junges Unternehmen. Oder vielleicht doch nicht so gut? Ein Volkswirt würde darauf verweisen, dass der Wert eines Produktionsfaktors zu berücksichtigen ist, gleichgültig, wem er nun gehört. Wir müssten somit auch die Eigenleistung des Eigentümers als Kosten bewerten, und zwar selbst dann, wenn der Eigentümer nicht direkt bezahlt, sondern in Form von Gewinnen entlohnt wird. Da dem Eigentümer ja auch andere Arbeitsmöglichkeiten offen stünden, müssen wir seine Arbeitsleistung im Sinne entgangener Gelegenheiten bewerten. Eine sorgfältige Untersuchung könnte dabei ergeben, dass der Eigentümer von Hot Dog Ventures einen ähnlichen und ebenso interessanten Job finden könnte, in dem er für jemand anderen arbeiten und dabei US-$ 60.000 verdienen würde. Diese US-$ 60.000 stellen die Opportunitätskosten dar, oder anders ausgedrückt: die deshalb nicht erzielten Einkünfte, weil der Eigentümer beschlossen hat, unbezahlter Eigentümer eines kleinen Unternehmens zu werden und auf eine Arbeit als bezahlter Mitarbeiter eines anderen Unternehmens zu verzichten. Aus diesem Grund, würde der Volkswirt fortfahren, müssen wir die tatsächlichen Gewinne der Hot Dog Ventures erst noch berechnen.
Teil 2
Wir ziehen dazu von den ermittelten Gewinnen von US-$ 37.000 die Opportunitätskosten in Höhe von US-$ 60.000 für die Arbeit des Eigentümers ab, wodurch sich ein Nettoverlust von US-$ 23.000 ergibt. Das heißt, obwohl ein Betriebswirt zu der Ansicht gelangen kann, die Hot Dog Ventures seien wirtschaftlich zu führen, erscheint dasselbe Unternehmen dem Volkswirt als unrentabler Verlustbetrieb.
Opportunitätskosten und Märkte Ich kann mir vorstellen, dass Sie nun vielleicht seufzen und stöhnen: „Da kennt man sich doch überhaupt nicht mehr aus! Zuerst heißt es, der Preis sei ein gutes Maß für die wahren volkswirtschaftlichen Kosten auf dem Markt. Dann wird einem weisgemacht, die Opportunitätskosten seien das eigentlich richtige Konzept. Können sich Volkswirte eigentlich nie zu einer klaren Aussage durchringen?“ Nun, darf ich Ihnen eine schlichte Erklärung für dieses Dilemma anbieten? Auf gut funktionierenden Märkten entsprechen die Preise den Opportunitätskosten. Nehmen wir an, ein Gut wie Weizen wird auf einem vollkommenen, dem Wettbewerb ausgesetzten Markt gekauft und verkauft. Wenn ich meinen Weizen auf den Markt bringe, erhalte ich eine Reihe von Angeboten möglicher Käufer: US-$ 2.502, US-$ 2.498 und US-$ 2.501 je Scheffel. Diese Preise stellen den Wert meines Weizens dar, den beispielsweise drei Mühlen zu bezahlen bereit sind. Ich entscheide mich für den höchsten gebotenen Preis: US-$ 2.502. Die Opportunitätskosten dieses Verkaufs entsprechen dem Wert der besten vorhandenen Alternative. Das wäre in diesem Fall das zweithöchste Angebot von US-$ 2.501, das beinahe gleich hoch wie der Preis ist, den ich schließlich akzeptiert habe. Je stärker sich der Markt an den vollständigen Wettbewerb annähert, desto näher beieinander liegen auch die Angebote, bis schließlich das zweithöchste Angebot (das unserer Definition nach den Opportunitätskosten entspricht), genau dem Höchstgebot (dem Preis) entspricht. Auf
Kapitel 7
Kostenanalyse
Wettbewerbsmärkten konkurrieren zahlreiche Käufer um die Ressourcen, bis jener Preis geboten wird, der der bestmöglichen Alternative und daher auch den Opportunitätskosten entspricht. Opportunitätskosten außerhalb der Märkte. Das Konzept der Opportunitätskosten spielt vor allem bei der Analyse jener Transaktionen eine entscheidende Rolle, die abseits der Märkte stattfinden. Wie misst man den Wert einer Straße oder eines Parks? Einer Gesundheits- oder Sicherheitsvorschrift? Sogar die Art und Weise, wie Studenten ihre Zeit einteilen, kann mit Hilfe der Opportunitätskosten erklärt werden. • Der Begriff der Opportunitätskosten erklärt, warum Studenten in der Wochen nach den Prüfungen zumeist länger vor dem Fernsehapparat sitzen als in der Woche vor den Prüfungen. Für das Fernsehen vor der Prüfung sind die Opportunitätskosten hoch, weil die alternative Nutzung der Zeit (das Studieren) wegen des besseren Studienerfolges einen hohen Wert darstellt. Nach den Prüfungen hat Zeit geringere Opportunitätskosten. • Nehmen wir an, der amerikanische Staat möchte vor der kalifornischen Küste nach Öl bohren. Sofort erhebt sich ein Proteststurm. Ein Verfechter der Bohrungen sagt: „Warum diese Aufregung? Dort draußen gibt es wertvolles Öl, und Meerwasser bleibt ja immer noch genug übrig. Dieses Öl ist sehr billig für unser Land.“ Und doch könnten die Opportunitätskosten ziemlich
205 hoch ausfallen. Wenn durch die Bohrungen Öl austritt und die Strände verunreinigt würden, könnte dies den Erholungswert der Region beeinträchtigen. Auch wenn sich Opportunitätskosten nicht immer problemlos messen lassen, sind sie trotzdem genauso real wie der Wert des Öls unter dem Wasser. Der nicht beschrittene Weg. Opportunitätskosten sind daher ein Maß für das, was aufgegeben wird, wenn wir eine Entscheidung treffen. Was dachte sich wohl der bedeutende amerikanische Dichter Robert Frost dabei, als er schrieb: Zwei Wege trennten sich im Wald und ich – Wählte den weniger begangnen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.
An welchen anderen, nicht beschrittenen Weg hatte Frost wohl gedacht? An ein städtisches Leben? Einen Beruf, in dem es ihm nicht möglich gewesen wäre, von Wegen und Mauern und Birken zu schreiben? Stellen Sie sich die unermesslichen Opportunitätskosten für uns alle vor, hätte sich Robert Frost für den häufiger begangenen Weg entschieden! Aber kehren wir doch von der Poesie wieder zum praktischen Kostenkonzept zurück. Entscheidend ist folgender Punkt: Die volkswirtschaftlichen Kosten berücksichtigen zusätzlich zu den tatsächlichen Geldausgaben alle Opportunitätskosten, die entstehen, weil Ressourcen auch anderweitig eingesetzt werden könnten.
206
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Zusammenfassung A. Kostenanalyse 1.
2.
3. 4. 5. 6.
7.
Die Gesamtkosten (TC) lassen sich in Fixkosten (FC) und variable Kosten (VC) unterteilen. Fixkosten werden durch Produktionsentscheidungen nicht verändert, während variable Kosten für Positionen wie Arbeit oder Material anfallen, die mit dem Produktionsvolumen steigen. Grenzkosten (MC) sind jene zusätzlichen Gesamtkosten, die durch eine zusätzliche Produktionseinheit entstehen. Die durchschnittlichen Gesamtkosten (AC) sind die Summe aus stetig abnehmenden durchschnittlichen Fixkosten (AFC) und durchschnittlichen variablen Kosten (AVC). Die kurzfristigen Durchschnittskosten ergeben im Allgemeinen eine U-förmige Kurve, die in ihrem Minimum immer von der ansteigenden MC-Kurve geschnitten wird. Einige nützliche Formeln, die Sie sich merken sollten: TC = FC + VC AC = TC/q AC = AFC + AVC Im Minimum der U-förmigen AC-Kurve gilt: MC = AC = AC-Minimum. Kosten und Produktivität sind wie Spiegelbilder. Gilt das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge, sinkt die Grenzproduktivität, und die MC-Kurve steigt. In einer ersten Phase steigender Erträge fällt die MC-Kurve zu Beginn ab. Wir können Kosten- und Produktionskonzepte anwenden, wenn wir verstehen wollen, wie ein Unternehmen die jeweils bestmögliche Kombination an Produktionsfaktoren auswählt. Unternehmen, die ihre Gewinne maximieren möchten, versuchen, ihre Produktionskosten für ein bestimmtes Produktionsvolumen so gering wie möglich zu halten. Das Unternehmen folgt in diesem Fall der LeastCost-Regel: Die verschiedenen Produktionsfaktoren werden so ausgewählt, dass das Grenzprodukt pro Dollar Input für alle Inputs gleich hoch ist. Das heißt: MPL/PL = MPA/PA = …
B. Volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Kostenrechnung 8.
Um die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung verstehen zu können, muss man folgende wichtige Grundsätze kennen: a. Das Wesen der Gewinn- und Verlustrechnung (Erfolgsrechnung); die Ermittlung des Gewinns als Restwert; die Abschreibung des Anlagevermögens. b. Die entscheidende Beziehung zwischen Vermögen (Aktiva), Verbindlichkeiten und Eigenkapital in einer Bilanz; die weitere Unterteilung in Finanz- und Sachanlagevermögen bzw. kurz- und langfristige Positionen; Eigenkapital als Restwert.
C. Opportunitätskosten 9.
Die volkswirtschaftliche Definition der Kosten ist breiter gefasst als die buchhalterische, betriebswirtschaftliche Definition. Volkswirtschaftlich erfasste Kosten enthalten nicht nur die tatsächlichen Ausgaben, sondern auch die subtileren Opportunitätskosten, wie beispielsweise den möglichen Ertrag aus der Arbeitskraft des Eigentümers. Diese Opportunitätskosten sind sehr eng an das Angebot und die Nachfrage auf Märkten, die dem Wettbewerb ausgesetzt sind, geknüpft, sodass der Preis im Allgemeinen nahe an den Opportunitätskosten für marktgängige Güter und Dienstleistungen liegt. 10. Die wichtigste Anwendung der Opportunitätskosten ergibt sich bei nicht auf Märkten gehandelten Gütern wie etwa reiner Luft oder Gesundheit oder einem bestimmten Erholungswert, häufig sehr wertvollen Gütern also, die allerdings nicht auf dem Markt gekauft oder verkauft werden können.
Kapitel 7
Kostenanalyse
207
Begriffe zur Wiederholung Gesamtkosten: Fixkosten und variable Kosten Grenzkosten Kostenoptimierungsregel: MP L MP A MP jeder Faktor ------------- = -------------- = ------------------------------------------PL PA P jeder Faktor TC = FC + VC AC = TC/q = AFC + AVC
Konzepte des betrieblichen Rechnungswesens Gewinn- und Verlustrechnung (Erfolgsrechnung): Umsätze, Aufwendungen und Erlöse Abschreibung Fundamentale Bilanzgleichung Aktiva, Passiva und Eigenkapital Bestands- und Flussgrößen Opportunitätskosten Kostenkonzepte in der Volks- und in der Betriebswirtschaft
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine gründlichere Erörterung der Kostenanalyse und Produktionstheorie finden Sie in den einschlägigen Lehrbüchern für fortgeschrittene Studienkurse. Siehe dazu die Liste in Kapitel 3. Zu den Themen betriebliche Kosten, Produktion und Entscheidungsprobleme erscheinen in Business Week, Fortune, Forbes und The Economist immer wieder interessante Artikel. Eine hervorragende und nicht allzu technische Analyse des Betrugsfalls Enron ist dem Artikel von Paul M. Healy und Krishna G. Palepu, „The Fall of Enron” Journal of Economic Perspectives, Spring 2003, pp. 3–26, zu entnehmen.
Websites In Wirtschaftsmagazinen findet man häufig ausgezeichnete Studien zu den Themen Kosten und Produktion. Gehen Sie dazu auf die Websites der oben genannten Wirtschaftsblätter, www.businessweek.com, www.fortune.com, www.forbes.com, und www.economist.com. Einige dieser Seiten sind gebührenpflichtig oder erfordern zumindest eine Anmeldung. Daten zu einzelnen Unternehmen veröffentlicht die amerikanische Securities and Exchange Commission unter www.sec.gov/edgarhp.htm. Es gibt zahllose Gruppen, Organisationen und Unternehmen, die gute und nützliche Glossare ins Internet stellen. Ein Blick auf die folgenden Begriffsammlungen ist durchaus lohnend: www.finanzenlexikon.de/lexikon/, konzipiert für den Praktiker aus den Bereichen Rechnungswesen, Controlling, Buchhaltung, aber auch für Studenten interessant; www.papierkram.net/steuerlexikon, das rund 1.500 Begriffe mit vielen praxisbezogenen Kommentaren und vergleichsweise detaillierten Angaben enthält.
208
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Übungen 1.
2. 3.
4.
Addieren Sie zu den US-$ 55 an Fixkosten aus Tabelle 7-3 zusätzlich US-$ 90 an FC. Berechnen Sie nun die gesamte Tabelle neu, wobei die VC gleich bleiben, die FC aber einen neuen Wert, nämlich US-$ 145, annehmen. Wie entwickeln sich MC und AVC? Wie TC, AC, AFC? Überprüfen Sie, dass die Mindest-AC nun q* = 5 betragen, wobei gilt: AC = $ 60 = MC Erklären Sie, warum MC die AC und AVC im Minimum Ihrer U-Form schneidet. „Die allgemeine Wehrpflicht ermöglicht es dem Staat, sich selbst und das Volk über die tatsächlichen Kosten einer großen Armee hinwegzutäuschen.“ Vergleichen Sie die Budgetkosten und Opportunitätskosten eines Berufsheeres (mit guter Entlohnung) mit jenen eines Heeres mit allgemeiner Wehrpflicht (und schlechter Entlohnung der Soldaten). Wie wirkt sich das Konzept der Opportunitätskosten auf die Kostenanalyse aus? Betrachten Sie die Daten in Tabelle 7-7, die eine ähnliche Situation wie in Tabelle 7-4 beschreibt. a. Berechnen Sie TC, VC, PC, AC, AVC und MC. Zeichnen Sie die AC- und MC-Kurve auf Millimeterpapier. b. Nehmen Sie eine Verdoppelung der Arbeitskosten an. Berechnen Sie nun die neuen AC
(1) Produktionsmenge
(2)
(3)
Bodeninput Arbeitsinput
5.
und MC. Zeichnen Sie die neuen Kurven und vergleichen Sie sie mit jenen aus Teilaufgabe a. c. Nehmen Sie nun an, die gesamte Faktorproduktivität würde sich verdoppeln (d.h. doppelte Produktionsleistung für jede Kombination von Produktionsfaktoren). Wiederholen Sie die Übung unter Teilaufgabe b. Können Sie zwei wesentliche Faktoren erkennen, die den Verlauf der Kostenkurven von Unternehmen beeinflussen? Erläutern Sie die Fehler in den folgenden Aussagen: a. Die Durchschnittskosten nehmen beim tiefsten Stand der Grenzkosten ihr Minimum an. b. Da sich Fixkosten nie ändern, sind die durchschnittlichen Fixkosten bei jeder Produktionsmenge konstant. c. Die Durchschnittskosten steigen immer, wenn die Grenzkosten steigen. d. Die Opportunitätskosten einer Ölförderung im Yosemite Park sind null, weil kein Unternehmen dort irgendetwas produziert. e. Ein Unternehmen minimiert seine Kosten, wenn es für jeden Produktionsfaktor denselben Betrag aufwendet.
(4)
(5)
Pacht
Arbeitslohn
(Tonnen Weizen)
(Morgen)
(Arbeiter)
(US-$ je Morgen)
(US-$ je Morgen)
0
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0
12
5
1
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6
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3
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15
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5
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5
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12
5
6
15
45
12
5
7
15
63
12
5
Tabelle 7-7.
ANHANG 7 Produktion, Kostentheorie und Entscheidungsprozesse in Unternehmen
Eine numerische Produktionsfunktion Produktion und Kostenanalyse haben ihre Wurzeln im Konzept der Produktionsfunktion, mit der die maximale, durch verschiedene Faktorkombinationen erzielbare Produktionsmenge ermittelt werden kann. Tabelle 7A-1 beginnt mit dem Zahlenbeispiel einer konstanten Skalenertrags-Produktionsfunktion, in der die Inputmengen entlang der Achsen und die Produktionsmengen in den Gitterpunkten der Tabelle eingetragen sind. Auf der Y-Achse wurden die diversen Faktormengen an Boden in Einheiten von 1 bis 6 eingezeichnet, während entlang der X-Achse die Mengeneinheiten des Faktors Arbeit ebenfalls von 1 bis 6 aufgetragen sind. Die Produk-
tionsmengen, die den eingesetzten Bodenund Arbeitsmengen entsprechen, können den Angaben in der Tabelle entnommen werden. Sind wir an der exakten Produktionsmenge interessiert, die erzeugt werden kann, wenn 3
Boden (A)
Die in Kapitel 6 beschriebene Produktionstheorie und die Kostenanalyse des vorliegenden Kapitels gehören zu den fundamentalen Bausteinen der Mikroökonomie. Ein gründliches Verständnis von Produktions- und Kostentheorie ist unbedingt nötig, um zu erkennen, wie die volkswirtschaftliche Knappheit schließlich zur Preisbildung auf dem Markt führt. Dieser Anhang soll die genannten Konzepte noch ein wenig weiter entwickeln und führt als neuen Begriff die „Kurve gleicher Produktionsmengen“ oder Isoquante ein.
6
346
490
600
692
775
846
5
316
448
548
632
705
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4
282
400
490
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3
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423
490
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600
2
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282
346
400
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490
1
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200
245
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346
0
1
2
4
5
6
3 Arbeit (L)
Tabelle 7A-1: Tabellarische Darstellung einer Produktionsfunktion, die eine bestimmte Produktionsmenge mit den zu ihrer Erzeugung benötigten verschiedenen Faktorkombinationen (Boden und Arbeit) in Beziehung setzt Sind 3 Einheiten Boden und 2 Einheiten Arbeit verfügbar, so lassen sich damit nach Aussage des Produktionstechnikers maximal 346 Einheiten erzeugen. Bitte beachten Sie, mit welchen sonstigen Faktorkombinationen sich die 346 Einheiten erzeugen lassen. Überlegen Sie sich die möglichen Faktorkombinationen für eine Produktion von 490 Einheiten. (Die in der vorliegenden Tabelle dargestellte Produktionsfunktion ist der Spezialfall einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, die durch die FormelQ = 100 2LAdefiniert ist.
210
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Einheiten Boden und 2 Einheiten Arbeit zur Verfügung stehen, zählen wir 3 Bodeneinheiten hinauf und gehen dann 2 Arbeitseinheiten nach rechts. Wie wir sehen, lautet die Lösung 346. Ebenso sehen wir, dass 3 Bodeneinheiten und 6 Arbeitseinheiten eine Produktionsmenge von q = 600 ergeben. Denken Sie bitte daran, dass die Produktionsfunktion die maximale Produktionsmenge bei einem gegebenen Stand von Technologie und technischem Wissen zu einer bestimmten Zeit darstellt.
Das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge (Ertragsgesetz) Tabelle 7A-1 führt uns das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags anschaulich vor Augen. Erinnern Sie sich, dass das Grenzprodukt der Arbeit jene zusätzliche Produktionsmenge darstellt, die sich durch den Einsatz einer zusätzlichen Arbeitseinheit ergibt, wenn Grund und Boden sowie die anderen Produktionsfaktoren konstant bleiben. In jedem Punkt von Tabelle 7A-1 können wir das Grenzprodukt der Arbeit ermitteln, indem wir das Produktionsergebnis von jener Zahl subtrahieren, die in derselben Reihe eine Position weiter rechts steht. Daher beträgt das Grenzprodukt eines zusätzlichen Arbeiters bei 2 Einheiten Boden und 4 Einheiten Arbeit 48, berechnet als 448 minus 400. Unter dem „Grenzprodukt“ oder der „Grenzproduktivität des Bodens“ verstehen wir jene zusätzliche Produktionsmenge, die aus einer zusätzlichen Bodeneinheit entsteht, wenn der Arbeitsinput konstant bleibt. Sie wird durch den Vergleich mit der darüberliegenden Position in der jeweiligen Spalte ermittelt. Wenn wir daher 2 Einheiten Boden und 4 Einheiten Arbeit haben, wird das Grenzprodukt des Bodens aus Spalte vier als 490 – 400 oder 90 ermittelt. Wir können das Grenzprodukt jedes unserer beiden Produktionsfaktoren problemlos ermitteln, indem wir jeweils übereinander liegende Einträge in vertikalen Spalten oder nebeneinander liegende Werte in horizontalen
Teil 2
Reihen der Tabelle 7A-1 miteinander vergleichen. Nachdem wir uns die Definition des Grenzproduktes eines Produktionsfaktors erarbeitet haben, können wir nun ganz einfach das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags ableiten: Das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags besagt, dass bei steigendem Input eines Produktionsfaktors, wenn die anderen Faktoren konstant bleiben, das Grenzprodukt des vermehrten Inputs zumindest irgendwann abnehmen wird. Um dies zu illustrieren, halten wir den Faktor Boden in Tabelle 7A-1 konstant, indem wir einfach in einer bestimmten Reihe bleiben, beispielsweise bei 2 Einheiten Boden. Nun erhöhen wir den Input an Arbeit von 1 auf 2 Einheiten, von 2 auf 3 Einheiten und so weiter. Wir wirkt sich das jeweils auf die Produktionsmenge q aus? Bei Erhöhung von 1 auf 2 Einheiten Arbeit steigt die Produktionsmenge von 200 auf 282, also um 82 Einheiten. Mit der nächsten zusätzlichen Arbeitseinheit erhalten wir nur noch 64 zusätzliche Produktionseinheiten, berechnet als 346 – 282. Die Grenzerträge sinken. Kommt eine weitere Arbeitseinheit hinzu, können noch 54 zusätzliche Produktionseinheiten erzielt werden, dann 48 Einheiten und schließlich nur noch 42 Einheiten. Sie werden sicherlich feststellen, dass dieses Gesetz auch in den anderen Reihen seine Gültigkeit behält und dass es ebenso bei variierender Bodenmenge gilt, wenn die Arbeitseinheiten konstant gehalten werden. Wir können anhand dieses Beispiels überprüfen, ob unsere intuitive Erklärung für das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge, nämlich die Annahme, dass das Gesetz deshalb gilt, weil der fixe Faktor im Vergleich zum variablen abnimmt, auch gerechtfertigt ist. Danach stehen jeder zusätzlichen Einheit des variablen Faktors immer geringere Mengen des fixen Faktors zur Verfügung. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der Grenzertrag zurückgeht. Wenn diese Erklärung nun tatsächlich stets zutrifft, müsste eigentlich die Produktionsmenge proportional ansteigen, wenn beide Fakto-
Anhang 7
211
Produktion, Kostentheorie und Entscheidungsprozesse in Unternehmen
ren zugleich erhöht werden. Wird der Arbeitsinput von 1 auf 2 Einheiten und der Bodeninput zugleich von 1 auf 2 Einheiten erhöht, sollten wir dieselbe Steigerung der Produktionsmenge wie bei einer Erhöhung von 2 auf 3 Einheiten verzeichnen. Dies lässt sich anhand unserer Tabelle 7A-1 bestätigen. Im ersten Schritt vollzieht sich eine Steigerung der Produktionsmenge von 141 auf 282 Einheiten, im zweiten Schritt von 282 auf 423, also jeweils ein Anstieg um 141 Einheiten.
Kostenoptimale Kombination von Produktionsfaktoren bei gegebener Produktionsmenge Die numerische Produktionsfunktion gibt die verschiedenen Möglichkeiten an, wie sich eine bestimmte Produktionsmenge erzielen lässt. Aber auf welche der zahlreichen Möglichkeiten sollte die Wahl des Unternehmens fallen? Wenn die erwünschte Produktionsmenge q = 346 ist, stehen nicht weniger als vier verschiedene Kombinationen von Boden- und Arbeitsinputs, ausgewiesen als A, B, C und D in Tabelle 7A-2, zur Verfügung. Was nun die Beurteilung dieser verschiedenen Möglichkeiten durch den Techniker betrifft, der eine Produktionsmenge von 346 Einheiten erzeugen möchte, so sind alle möglichen Kombinationen gleichwertig. Aber der Betriebswirt, der ja nach Kostenoptimierung strebt, sucht die kostengünstigste Kombination. Nehmen wir an, der Preis für Arbeit beträgt US-$ 2, während Boden US-$ 3 pro Einheit kostet. Die Gesamtkosten sind bei diesen gegebenen Inputpreisen der dritten Spalte von Tabelle 7A-2 zu entnehmen. Im Fall der Kombination A betragen die Gesamtkosten für Arbeit und Boden US-$ 20, entsprechend (1 US-$ 2) + (6 US-$ 3). Verändert sich einer der beiden Inputpreise, so verändert sich auch die Gewichtung der Inputs, sodass weniger von dem Input verwendet wird, dessen Preis gestiegen ist. (Sie müssen sich das wie beim Substitutionseffekt in Kapitel
(1)
(2)
Faktorkombinationen
(3)
(4)
Gesamtkosten,
Gesamtkosten, wenn gilt PL = $ 2 PA = $ 1 (US-$)
Arbeit L
Boden A
wenn gilt PL = $ 2 PA = $ 3 (US-$)
A
1
6
20
–
B
2
3
13
7
C
3
2
12
–
D
6
1
15
–
Tabelle 7A-2: Faktoreinsatz und Produktionskosten bei gegebener Produktionsmenge Nehmen Sie an, ein Unternehmen hätte sich für die Erzeugung von 346 Produktionseinheiten entschieden. Damit kann es jede der vier möglichen Inputkombinationen wählen, die als A, B, C und D ausgewiesen sind. Weiter unten in der Auflistung wird die Produktion immer arbeitsintensiver und weniger bodenintensiv. Bitte setzen Sie selbst die fehlenden Zahlen ein. Die Entscheidung des Unternehmens zwischen den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten hängt von den Faktorpreisen ab. Überprüfen Sie, dass die kostenminimale Lösung C lauten muss, wenn PL = US-$ 2 und PA = US-$ 3. Weisen Sie nach, dass eine Preissenkung bei Boden von US-$ 3 auf US-$ 1 das Unternehmen zur Wahl der bodenintensiveren Kombination B veranlassen müsste.
5 vorstellen, als es um die Konsumnachfrage ging.) Sind die Faktorpreise bekannt, lässt sich die kostengünstigste Produktionsmethode durch Berechnung der Kosten verschiedener Inputkombinationen errechnen.
Kurven gleicher Produktionsmenge oder Isoquanten Die einfache numerische Analyse dessen, wie ein Unternehmen seine Produktionsfaktoren kombinieren kann, um seine Kosten zu minimieren, wird im Diagramm noch anschaulicher. Wir verwenden daher den DiagrammAnsatz und zeichnen zwei neue Kurven: die Kurve gleicher Produktionsmenge oder Isoquante und die Isokostenlinie.
212
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
A 6
A 6 A
5 Boden
Boden
5 4 B
3
C
TC
3
1
q = 346
TC TC
4
2
2
TC TC TC
=
D 1 0
Teil 2
q 1
2
3
4
5 Arbeit
6
7
8
9
0 L
Abbildung 7A-1: Isoquanten Die Punkte auf der Isoquante stellen die verschiedenen möglichen Faktorkombinationen aus Boden und Arbeit dar, die zur Produktion von 346 Einheiten benötigt werden.
Wandeln wir Tabelle 7A-1 in eine kontinuierliche Kurve um, indem wir eine geglättete Kurve durch alle Punkte ziehen, für die gilt: q = 346. Diese Kurve, die in Abbildung 7A-1 zu sehen ist, gibt alle möglichen Kombinationen von Arbeit und Boden an, die zu einer Produktionsmenge von 346 führen. Wir bezeichnen sie als Kurve gleicher Produktionsmenge oder Isoquante, und sie verhält sich analog der Konsumenten-Indifferenzkurve, die wir im Anhang zu Kapitel 5 erörtert haben. Sie sollten nun in der Lage sein, die entsprechende Isoquante für eine Produktionsmenge von 490 Einheiten in Abbildung 7A-1 einzuzeichnen, indem Sie die Daten aus Tabelle 7A-1 zugrunde legen. Eigentlich könnte man sogar eine unbegrenzte Anzahl dieser Isoquanten einzeichnen.
Isokostenlinien Bei vorgegebenen Arbeits- und Bodenpreisen kann das Unternehmen die Gesamtkosten für die Punkte A, B, C und D oder für jeden anderen Punkt auf der Isoquante ermitteln. Das Unternehmen minimiert seine Kosten, wenn es jenen Punkt auf seiner Iso-
1
=
=
=
=
=
$1
$9
$1
$1
8
5
2
$6
$3 2
3
4 5 Arbeit
6
7
8
9
L
Abbildung 7A-2: Isokostenkurven Jeder Punkt auf einer gegebenen Isokostenlinie steht für Gesamtkosten in gleicher Höhe. Die Linien verlaufen deshalb als Geraden, weil die Faktorpreise konstant sind; sie weisen jeweils eine negative Steigung auf, die dem Verhältnis von Arbeitspreis zu Bodenpreis, US-$ 2 / US-$ 3, entspricht, und verlaufen daher auch parallel.
quante auswählt, bei dem die niedrigsten Gesamtkosten entstehen. Eine einfache Methode, um die kostenoptimale Produktions-Inputkombination zu erkennen, besteht in der Konstruktion von Isokostenlinien. Wir sehen sie in Abbildung 7A-2, in der die Gruppe paralleler Geraden eine Reihe von Isokostenlinien bei einem Arbeitspreis von US-$ 2 und einem Bodenpreis von US-$ 3 darstellt. Um die Gesamtkosten für jeden Punkt zu ermitteln, lesen wir einfach die Zahl über jener Isokostenlinie ab, die durch den betreffenden Punkt verläuft. Die Linien sind alle gerade und parallel, weil wir unterstellen, dass das Unternehmen von jedem Input bei konstanten Preisen kaufen kann, soviel es will. Die Linien sind etwas flacher als 45º, weil der Preis für Arbeit PL etwas geringer ist als der Preis für Boden PA. Wir können daher sagen, dass der arithmetische Wert der Steigung einer jeden Isokostenlinie dem Verhältnis des Arbeitspreises zum Bodenpreis entsprechen muss – in diesem Fall P/P = 2/3.
Anhang 7
Produktion, Kostentheorie und Entscheidungsprozesse in Unternehmen
Isokostenlinie als Tangente der Isoquante: Ermittlung des Least-cost-Punktes (Minimalkostenkombination) Durch die Verbindung von Isoquanten und Isokostenlinien können wir die optimale, also die kostenminimierende Position des Unternehmens ermitteln. Beachten Sie, dass die optimale Faktorkombination bei jenem Punkt gegeben ist, an dem der gegebene Output von q = 346 zu den geringsten Kosten produziert werden kann. Um einen solchen Punkt zu finden, legen Sie einfach die einfache rostfarbene Isoquante über die Gruppe grauer Isokostenlinien, wie in Abbildung 7A-3 gezeigt. Das Unternehmen bewegt sich, solange es in der Lage ist, auf niedrigere Kostenlinien umzusteigen, stets entlang der roten konvexen Faktorsubstitution zur Kostenminimierung in der Produktion A
q A
6
$1
Boden
5 4
$1
3
$9
2
$6
1
$3
0
2
1
$1
8
213
Kurve in Abbildung 7A-3. Das kostenoptimale oder Least-cost-Gleichgewicht stellt sich ein, wo eine Isoquante die niedrigste Isokostenlinie berührt, aber nicht schneidet. Das ist der Tangentialpunkt, in dem der Anstieg der Isoquante genau dem Anstieg einer Isokostenlinie entspricht und wo die beiden Kurven einander nur berühren. Wir wissen bereits, dass der Anstieg der Isokostenkurven PL/PA beträgt. Aber welchen Wert hat die Steigung der Isoquante? Erinnern Sie sich bitte an den Anhang zu Kapitel 1, wo wir ausgeführt haben, dass die Steigung an einem Punkt einer gekrümmten Linie der Tangente dieser Kurve am fraglichen Punkt entspricht. Was die Isoquante betrifft, so stellt diese Steigung die „Substitutionsrate“ (oder Grenzrate der Substitution) zwischen den beiden Faktoren dar. Sie hängt von den jeweiligen Grenzprodukten der beiden Produktionsfaktoren, nämlich MPL/MPA, ab, genau wie beim Substitutionsverhältnis zweier Güter entlang einer Konsumenten-Indifferenzkurve, das dem Verhältnis der Grenznutzen der beiden Güter entspricht, wie wir zuvor bereits gesehen haben (siehe Anhang zu Kapitel 5).
5
B q = 346
C D
2
3
4 5 Arbeit
6
q 7
8
9
L
Abbildung 7A-3: Die kostengünstigste Faktorkombination ergibt sich in C Die Faktorkombination mit den geringsten Kosten ergibt sich in C. Das Unternehmen möchte seine Produktionskosten bei einer gegebenen Produktionsmenge von 346 Einheiten minimieren. Es ist deshalb bestrebt, entlang der rostfarbenen Isoquante die kostengünstigste Inputkombination zu wählen. An dem Punkt, an dem die Isoquante die tiefste Isokostenkurve berührt, ohne sie zu schneiden, befindet sich die kostenminimale Position. In diesem Tangentialpunkt entsprechen Faktorpreise und Grenzprodukte einander, wobei die Grenzprodukte pro Dollar gleich hoch sind.
Least-cost- oder Minimalkostenbedingungen Mit Hilfe des Diagramms haben wir damit die Bedingungen abgeleitet, unter denen ein Unternehmen seine Produktionskosten minimiert: 1. Das Verhältnis der Grenzprodukte zweier beliebiger Produktionsfaktoren muss dem Verhältnis ihrer Faktorpreise entsprechen. Grenzprodukt der Arbeit =
Grenzprodukt des Bodens Preis der Arbeit
= Steigung der Isoquante =
Preis des Bodens
214
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
2. Wir können Bedingung 1 aber auch anders und verständlicher formulieren. Aus der letzten Gleichung ergibt sich, dass das Grenzprodukt pro Geldeinheit, das aus der letzten für jeden Produktionsfaktor ausgegebenen Geldeinheit erwirtschaftet wurde, gleich sein muss.
Teil 2
Aber geben Sie sich nicht mit abstrakten Erklärungen zufrieden. Behalten Sie stets die allgemein verständliche volkswirtschaftliche Erklärung im Kopf, die uns zeigt, wie ein Unternehmen seine Ausgaben auf die diversen Produktionsfaktoren so aufteilt, dass das Grenzprodukt pro ausgegebener Geldeinheit ausgeglichen wird.
Grenzproddukt von L Preis von L
Grenzprodukt von A =
Preis von A
=…
Zusammenfassung des Anhangs 1.
2.
Eine Produktionsfunktions-Tabelle zeigt uns die möglichen Produktionsmengen, die bei jeder Spalte (Arbeit) in Verbindung mit jeder Zeile (Boden) erzielt werden können. Wenn man alle anderen Faktoren konstant hält, lassen sich für jeden variablen Faktor abnehmende Grenzerträge nachweisen, , indem man die Abnahme des Grenzprodukts in jeder beliebigen Zeile oder Spalte ausrechnet. Eine Kurve gleicher Produktionsmengen oder Isoquante stellt die alternativen Inputkombinationen dar, mit denen jeweils dieselbe Produktionsmenge erzeugt werden kann. Die Steigung oder die Substitutionsrate entlang
einer solchen Isoquante entspricht den relativen Grenzprodukten (z.B. MPL/MPA). Kurven gleicher Gesamtkosten sind parallele Linien mit einer Steigung, die dem Verhältnis der Faktorpreise entspricht (PL/PA). Das kostenoptimale Gleichgewicht stellt sich im Tangentialpunkt ein, wo eine Isoquante die niedrigste TCKurve berührt, aber nicht schneidet. Im kostenoptimalen Gleichgewicht sind die Grenzprodukte proportional zu den Faktorpreisen, wobei die Grenzprodukte pro Dollar, der für jeden einzelnen Produktionsfaktor ausgegeben wird, gleich sind (d.h. gleiche MPi/Pi).
Begriffe zur Wiederholung Kurven gleicher Produktionsmenge oder Isoquanten Parallele Linien gleicher Gesamtkosten Substitutionsrate = MPL/MPA PL/PA als Steigung paralleler Isokostenlinien Kostenoptimaler Tangentialpunkt: MPL/MPA = PL/PA oder MPL/PL = MPA /PA
Anhang 7
Produktion, Kostentheorie und Entscheidungsprozesse in Unternehmen
215
Übungen 6.
Weisen Sie nach, dass durch eine Erhöhung der Löhne bei konstanten Bodenrenten die schwarzen Isokostenlinien steiler werden und der Tangentialpunkt C in Abbildung 7A-3 nach Nordwesten (also nach links oben) in Richtung B verschoben wird, wobei der billiger gewordene Produktionsfaktor den anderen, teureren Faktor substituiert. Erklären Sie das Ergebnis, wenn wir Kapital durch Arbeit substituieren. Wie werden wohl Gewerkschaftsführer dazu stehen?
7.
Wie sieht die kostenoptimale Faktorkombination aus, wenn die Produktionsfunktion durch Tabelle 7A-1 gegeben und die Preise in Abbildung 7A-3 dargestellt sind, wobei q = 346? Wie müsste das kostenoptimale Ergebnis für dieselben Faktorpreise lauten, würde sich der Output auf q = 692 verdoppeln? Wie hat sich die „Faktorintensität“ oder das Verhältnis Boden-Arbeit verändert? Können Sie erkennen, warum dieses Ergebnis bei konstanten Skalenerträgen für jede Änderung der Produktionsmenge gelten muss?
217
KAPITEL 8 Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
Die Produktionskosten hätten keinen Einfluss auf den Marktpreis, würden sie sich nicht auf das Angebot auswirken.
Jeder Markt hat zwei Seiten: Angebot und Nachfrage. Nachdem wir uns eingehend mit diesen beiden Komponenten auseinandergesetzt haben, wollen wir untersuchen, wie sich der Markt als Ganzes verhält. Dieses erste Kapitel über Unternehmensseite analysiert das Verhalten vollkommener Märkte; es handelt sich dabei um idealisierte Wettbewerbsmärkte, in denen alle Unternehmen und Konsumenten zu klein und zu schwach sind, um den Preis zu beeinflussen. Wir beginnen mit einer Untersuchung der Angebotsentscheidungen verschiedener Marktteilnehmer. Danach analysieren wir einige spezielle Fälle von Wettbewerbsmärkten. Das Kapitel endet mit dem Nachweis, dass Wirtschaftszweige mit vollständigem Wettbewerb effizient sind. Nachdem wir den wichtigsten Fall des vollkommenen Wettbewerbs gemeistert haben, wollen wir uns in den folgenden Kapiteln mit dem Monopol und anderen Formen des unvollständigen Wettbewerbs befassen.
A. Das Angebotsverhalten von Unternehmen im vollständigen Wettbewerb
John Stuart Mill
Das Verhalten eines Unternehmens im vollständigen Wettbewerb Beginnen wir mit einer Analyse von Unternehmen, die im vollständigen Wettbewerb stehen. Als Eigentümerin oder Eigentümer eines solchen Unternehmens müssen Sie natürlich über die Produktionsmenge entscheiden. Wie viel Weizen sollte Bauer Smith produzieren, wenn der Scheffel Weizen einen Preis von US-$ 3 erzielt?
218
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Wenn wir das Angebotsverhalten von Unternehmen im vollständigen Wettbewerb analysieren, stellen wir zwei Dinge fest: Erstens gehen wir davon aus, dass unser im Wettbewerb stehendes Unternehmen die Gewinne maximiert. Zweitens beobachten wir, dass der perfekte Wettbewerb eine Welt atomistischer Firmen ist, die Preisnehmer sind.
Gewinnmaximierung Warum möchte ein Unternehmen seine Gewinne maximieren? Wie Sie sich sicher erinnern, besteht der Gewinn im Gesamtertrag abzüglich der Gesamtkosten. Gewinne haben dieselbe Funktion wie das Nettoeinkommen eines Beschäftigten, eben nur für Unternehmen. Sie stellen jenen Geldbetrag dar, den ein Unternehmen in Form von Dividenden an seine Eigentümer ausbezahlt, den es in neue Anlagen und maschinelle Ausstattung reinvestieren oder mit dem es selbst Finanzinvestitionen tätigen kann. Alle diese Aktivitäten erhöhen den Wert des Unternehmens für seine Eigentümer. Die Gewinnmaximierung erfordert ein effizientes Management der internen Abläufe in einem Unternehmen (Verschwendung vermeiden, Arbeitsmoral heben, effiziente Produktionsprozesse wählen etc.) und kluge Marktentscheidungen (Ankauf der richtigen Menge an Produktionsfaktoren zu geringstmöglichen Kosten und Auswahl der optimalen Produktionsmenge). Da für die Höhe der Gewinne sowohl die Kosten als auch die Erlöse eine Rolle spielen, muss das Unternehmen seine Kostenstruktur gut im Griff haben, um Gewinne erzielen zu können. Blättern Sie noch einmal zu Tabelle 7-3 im vorigen Kapitel, um sicherzugehen, dass Ihnen die wichtigen Begriffe der Gesamtkosten, Durchschnittskosten und Grenzkosten vertraut sind.
Teil 2
Vollständiger Wettbewerb Der vollständige Wettbewerb ist eine Welt der Preisnehmer. Ein im vollständigen Wettbewerb stehendes Unternehmen verkauft ein homogenes Produkt (eines, das mit dem von anderen Branchenteilnehmern verkauften Produkt identisch ist). Das Unternehmen ist im Vergleich zu seinem Markt so klein, dass es keinen Einfluss auf den Marktpreis nehmen kann; es betrachtet den Preis daher als eine gegebene Größe. Wenn eine Landwirtin ein homogenes Produkt wie Weizen verkauft, kann sie mit zahlreichen potenziellen Käufern rechnen, die gewillt sind, den Marktpreis von US-$ 3 pro Scheffel zu bezahlen. Wie auch die Konsumenten die Preise, die von Internet-Zugangsprovidern oder Kinos verlangt werden, im Allgemeinen akzeptieren müssen, akzeptieren Unternehmen zwangsläufig die Marktpreise für Weizen oder Öl, die sie produzieren. Wir können uns einen Mengenanpasser (Preisnehmer) im vollständigen Wettbewerb (a) Branche
(b) Unternehmen
P D
S
P
d
d
A S
D Q
Branchenproduktion
q Unternehmenproduktion
Abbildung 8-1: Die Nachfragekurve ist für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb vollkommen elastisch Die Branchennachfragekurve links zeigt die unelastische Nachfrage beim Marktgleichgewicht in Punkt A. Die Nachfragekurve für das im vollständigen Wettbewerb stehende Unternehmen auf der rechten Seite verläuft jedoch waagrecht (d.h., sie ist absolut elastisch). Die Nachfragekurve rechts verläuft waagrecht, weil ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb einen so kleinen Prozentsatz des Marktes innehat, dass es zum Marktpreis jede gewünschte Menge verkaufen kann.
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
besser vorstellen, wenn wir untersuchen, wie die Nachfrage für ein im vollständigen Wettbewerb stehendes Unternehmen aussieht. Abbildung 8-1 zeigt die Nachfragekurve für die Gesamtbranche (die DD-Kurve) und stellt sie der Nachfragekurve, mit der es ein einzelnes, im Wettbewerb stehendes Unternehmen zu tun hat (die dd-Kurve), gegenüber. Da ein Wirtschaftszweig unter Wettbewerbsbedingungen von Unternehmen bevölkert wird, die gemessen am Gesamtmarkt klein sind, entspricht die Nachfragekurve dieses Unternehmens nur einem winzigen Segment der Nachfragekurve der Gesamtbranche. Grafisch dargestellt ist der Anteil des einzelnen Unternehmens an der Nachfragekurve so gering, dass aus der Froschperspektive des Marktteilnehmers im vollständigen Wettbewerb die Nachfragekurve dd absolut horizontal und unbegrenzt elastisch erscheint. Abbildung 8-1 zeigt, dass die Elastizität der Nachfrage für einen einzelnen Mitbewerber viel größer erscheint als für den Gesamtmarkt. Da im Wettbewerb stehende Unternehmen keinen Einfluss auf die Preisbildung nehmen können, ist der Preis jeder verkauften Einheit einfach der zusätzliche Erlös, den das Unternehmen damit einnimmt. Bei einem Marktpreis von US-$ 40 pro Einheit kann das im Wettbewerb stehende Unternehmen jede gewünschte Menge zu US-$ 40 verkaufen. Wenn es daher beschließt, anstelle von 100 Einheiten 101 Einheiten zu verkaufen, erhöht sich sein Ertrag um genau US-$ 40. Prägen Sie sich die folgenden wichtigen Erkenntnisse genau ein: 1. Unter den Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs gibt es zahlreiche kleine Unternehmen, die ein identisches Produkt erzeugen und jeweils zu klein sind, um auf den Marktpreis Einfluss zu nehmen. 2. Für das Unternehmen im vollständigen Wettbewerb gilt eine völlig waagrechte Nachfragekurve (dd-Kurve).
219
3. Der zusätzliche Erlös aus jeder zusätzlich verkauften Einheit entspricht daher dem Marktpreis.
Angebot unter Wettbewerbsbedingungen: Grenzkosten entsprechen dem Preis Wenn nun Kosten und Nachfrage fix sind und die Unternehmen Gewinne erzielen möchten – wie kann ein Unternehmen im Wettbewerb zu einer Entscheidung über die anzubietende Menge gelangen? Nehmen wir an, Sie leiteten Billy Bob Tuckers Schuhfirma und müssten entscheiden, bei welcher Produktionsmenge Ihr Gewinn maximiert wird. Tabelle 8-1 enthält dieselben Kostendaten mal Tausend, die bereits in Tabelle 7-3 im vorhergehenden Kapitel enthalten waren. Bei diesem Beispiel nehmen wir an, dass der Marktpreis für Schuhe bei US-$ 40 pro Paar liegt. Angenommen, Billy Bob verkauft zu Beginn 3.000 Paar. Das bringt ihm einen Gesamterlös von US-$ 40 3.000 = US-$ 120.000 mit Gesamtkosten von US-$ 130.000, sodass dem Unternehmen ein Verlust von US-$ 10.000 entsteht. Sie nehmen nun Ihren Betrieb unter die Lupe und erkennen, dass der Erlös aus dem Verkauf jeder Einheit US-$ 40 beträgt, während die Grenzkosten nur US-$ 21 betragen. Das bedeutet, dass Ihnen der Verkauf weiterer Einheiten mehr einbringt, als er kostet. Deshalb erhöhen Sie Ihre Produktion auf 4.000 Einheiten. Bei dieser Produktionsmenge erzielt das Unternehmen einen Ertrag von US-$ 40 4.000 = US-$ 160.000 bei Kosten von US-$ 160.000, sodass kein Gewinn erzielt wird. Voller Stolz auf Ihren Erfolg beschließen Sie nun, noch ein wenig mehr zu erzeugen, sagen wir 5.000 Einheiten. Bei dieser Produktionsmenge erwirtschaftet das Unternehmen einen Ertrag von US-$ 40 5.000 = US-$ 200.000 bei Kosten von US-$ 210.000. Sie verzeichnen also schon wieder einen Verlust von US-$ 10.000. Was ist da schief gelaufen?
220
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
Menge
Gesamtkosten
Grenzkosten pro Einheit
Durchschnittskosten
Preis
Gesamterlös
Gewinn
q
TC
MC
AC
P
TR
π
(US-$)
(US-$)
(US-$)
(US-$)
(US-$)
(US-$)
0
55.000
1.000
85.000
27
85
40
40.000
–45.000
2.000
110.000
22
55
40
80.000
–30.000
3.000
130.000
21
43,33
40
120.000
–10.000
3.999
159.960,01
38,98
40,000 +
40
159.960
40
40
160.000
–0,01
39,99 4.000
160.000
40
0
40,01 4.001
160.040,01
40,02
40,000 +
40
160.040
5.000
210.000
60
42
40
200.000
–0,01 –10.000
Tabelle 8-1: Die gewinnmaximale Produktionsmenge ergibt sich dort, wo gilt: Grenzkosten = Preis. Diese Tabelle bedient sich der Kostendaten aus dem vorigen Kapitel (siehe Tabelle 7-3). Die rostfarbenen Grenzkostenzahlen in Spalte (3) werden anhand geringfügiger Mengenanpassungen rund um jede Produktionsmenge berechnet. Wie Sie sehen, bewegen sich die tatsächlichen MC von 3.999 auf 4.000 Einheiten und von 4.000 auf 4.001 Einheiten. Bildet man den Durchschnitt dieser Werte, ergeben sich am Punkt der minimalen Durchschnittskosten MC von 40. Die dunklen MC-Zahlen können aber auch von der durchgehenden MC-Kurve abgelesen werden. Als nächstes sehen wir uns den mit jeder Produktionsmenge einhergehenden Gewinn in Spalte (7) an. Bitte beachten Sie, dass sich der maximale Gewinn bei der Produktionsmenge einstellt, bei welcher der Preis den MC entspricht. Wenn die Produktionsmenge über diesen Wert hinaus ausgedehnt wird, liegt der zusätzliche Ertrag von US-$ 40 pro Einheit unter den zusätzlichen Kosten, sodass der Gewinn sinkt. Was geschieht, wenn die Produktion unterhalb einer Menge q von 4.000 festgelegt wird?
Bei Überprüfung Ihrer Bücher stellen Sie fest, dass die Grenzkosten bei einer Produktionsmenge von 5.000 Einheiten US-$ 60 betragen, also höher sind als der Marktpreis von US-$ 40, und dass Sie daher mit der letzten produzierten Einheit US-$ 20 (entspricht dem Preis abzüglich MC) verlieren. Jetzt geht Ihnen ein Licht auf: Der maximale Gewinn ergibt sich bei jener Produktionsmenge, bei der die Grenzkosten dem Preis entsprechen. Der dieser Aussage zugrunde liegende Gedanke lautet, dass das im Wettbewerb stehende Unternehmen so lange zusätzliche Gewinne erzielen kann, wie der Preis über den
Grenzkosten der letzten Einheit liegt. Der Gesamtgewinn erreicht seinen höchsten Wert – wird also maximiert –, sobald durch den Verkauf zusätzlicher Mengen kein zusätzlicher Gewinn mehr erzielt werden kann. Am Punkt des höchsten Gewinns erbringt die letzte produzierte Einheit einen Erlös, der genau den Kosten dieser Einheit entspricht. Wie hoch ist nun dieser zusätzliche Erlös? Er entspricht dem Preis pro Einheit. Und was sind die zusätzlichen Kosten? Es sind die Grenzkosten. Überprüfen wir diese Regel, indem wir uns Tabelle 8-1 näher ansehen. Beginnen wir mit der gewinnträchtigsten Produktionsmen-
221
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
ge von 4.000 Paar Einheiten. Verkauft Billy Bob eine einzige Einheit mehr, erhält sie dafür einen Preis von US-$ 40, während die Grenzkosten dieser Einheit US-$ 40,01 betragen. Das Unternehmen verliert also bei der 4.001. Einheit Geld. Ebenso käme es für das Unternehmen zu einem Verlust von US-$ 0,01, würde es eine Einheit weniger produzieren. Das beweist, dass die gewinnträchtigste Produktionsmenge für das Unternehmen genau bei q = 4.000 liegt, an jenem Punkt also, an dem der Preis den Grenzkosten entspricht. Regel für die Angebotsmenge eines Unternehmens unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs: Ein Unternehmen, das nach Gewinnmaximierung strebt, wählt eine Produktionsmenge, bei der die Grenzkosten dem Preis entsprechen: Grenzkosten = Preis oder MC = P Abbildung 8-2 illustriert die Angebotsentscheidung eines Unternehmens. Wenn der Marktpreis US-$ 40 beträgt, überprüft das Unternehmen seine Kostendaten in Tabelle 8-1 und stellt fest, dass die Produktionsmenge, die den Grenzkosten von US-$ 40 entspricht, bei 4.000 Einheiten liegt. Das bedeutet, dass das Unternehmen bei einem Marktpreis von US-$ 40 bestrebt sein wird, 4.000 Einheiten zu produzieren und zu verkaufen. Wir finden diese gewinnmaximierende Menge in Abbildung 8-2 am Schnittpunkt der Preislinie bei US-$ 40 und der MC-Kurve in Punkt B. Im Allgemeinen kann ein Unternehmen mithilfe seiner Grenzkostenkurve seine optimale Produktionsmenge ermitteln: Die Gewinnmaximierung wird bei jener Produktionsmenge erreicht, bei der Preis- und Grenzkostenkurve einander schneiden. Wir haben dieses Beispiel so gestaltet, dass das Unternehmen bei der gewinnmaximierenden Produktionsmenge keinen Gewinn erzielt, wobei die Gesamterlöse den Gesamtkosten entsprechen. (Beachten Sie, dass alle
Angebote und Grenzkosten eines Unternehmens P AC
80 MC 60
Preis, AC,MC (US-$)
Kapitel 8
A
d′ 40
d′
B
d
d d′′
C
d′′ 20
0
1
2
3 4 5 Menge (in Tausend)
6
7
q
Abbildung 8-2: Die Angebotskurve des Unternehmens entspricht seiner steigenden Grenzkostenkurve Für ein gewinnmaximierendes Unternehmen im vollständigen Wettbewerb entspricht die ansteigende Grenzkostenkurve (MC) der Angebotskurve. Bei einem Marktpreis auf d'd' bietet das Unternehmen eine Produktionsmenge an, die im Schnittpunkt A liegt. Erklären Sie, warum die Schnittpunkte B und C das Gleichgewicht für d bzw. d'' darstellen. Der grau schattierte Bereich stellt den Verlust bei einer Produktion auf dem Niveau A zu einem Preis von US-$ 40 dar.
Opportunitätskosten einschließlich der Arbeitskraft des Eigentümers und der Kapitalkosten berücksichtigt werden.) Punkt B ist der Break-even-Punkt (die Gewinnschwelle), jene Produktionsmenge, bei der das Unternehmen einen Gewinn von Null erzielt. Im Break-even-Punkt entspricht der Preis den Durchschnittskosten, daher decken die Erlöse gerade die Kosten ab. Was aber, wenn ein Unternehmen eine falsche Entscheidung über seine Produktionsmenge trifft? Nehmen wir an, das Unternehmen würde in Abbildung 8-2 bei einem Marktpreis von US-$ 40 Produktionsmenge A wählen. Es würde Geld verlieren, weil die Grenzkosten der letzten Einheiten über dem Preis liegen. Wir können mithilfe des grau unterlegten Dreiecks in Abbildung 8-2 den Gewinnausfall berechnen, sollte das Unternehmen seine Produktionsmenge fälschlicherweise bei Punkt A wählen. Das Dreieck zeigt an, um wie viel die Grenzkosten MC bei
222
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
einer Produktionsmenge zwischen B und A den Preis übersteigen. Die allgemeine Regel lautet daher: Ein Unternehmen, das auf Gewinnmaximierung bedacht ist, entscheidet sich für jene Produktionsmenge, bei der die Grenzkosten dem Preis entsprechen. Im Diagramm bedeutet das, dass die Grenzkostenkurve eines Unternehmens seiner Angebotskurve entspricht.
Gesamtkosten und die Betriebseinstellungsbedingung Unsere allgemeine Regel für die Angebotsmenge eines Unternehmens lässt eine Möglichkeit offen – dass nämlich der Preis so niedrig ist, dass das Unternehmen es vorzieht, den Betrieb einzustellen. Wäre es nicht möglich, dass Billy Bob beim Gleichgewicht von P = MC eine ganze Stange Geld verliert und es daher vorzieht, dicht zu machen? Im Allgemeinen wird ein Unternehmen den Betrieb dann schließen, wenn kurzfristig die variablen Kosten nicht mehr gedeckt werden können. Nehmen wir beispielsweise an, das Unternehmen sieht sich mit einem Marktpreis von US-$ 35 konfrontiert, dargestellt durch die horizontale Linie d''d'' in Abbildung 8-2. Bei diesem Preis entsprechen die MC dem Preis in Punkt C, einem Punkt, an dem der Preis unter den durchschnittlichen Produktionskosten liegt. Wird das Unternehmen den Entschluss fassen, weiter zu produzieren, auch wenn es sich damit einen Verlust einhandelt? Überraschenderweise lautet die richtige Antwort: ja. Das Unternehmen muss danach trachten, seine Verluste zu minimieren, was einer Maximierung der Gewinne gleichkommt. Die Produktion bei Punkt C würde zu einem Verlust von nur US-$ 20.000 führen, während eine Schließung einen Verlust von US-$ 55.000 mit sich brächte (die Fixkosten). Das Unternehmen wäre daher gut beraten, mit der Produktion fortzufahren.
Teil 2
Um diesen Gedankengang zu verstehen, denken Sie bitte daran, dass ein Unternehmen, selbst wenn es gar nichts produziert, nach wie vor seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen muss. Kurzfristig bleibt dem Unternehmen nichts anderes übrig, als seine Fixkosten wie etwa Kreditzinsen an die Bank, Mieten für die Geschäftsräume und die Gehälter der Geschäftsführer weiterhin zu bezahlen. Die restlichen Kosten des Unternehmens bestehen aus den variablen Kosten wie zum Beispiel denjenigen für Material, Arbeitskräfte und Treibstoff. Es wäre von Vorteil, die Produktion mit mindestens P = MC aufrecht zu erhalten, solange die Erlöse die variablen Kosten abdecken. Die kritische Marktpreisuntergrenze, bei der die Erlöse genau den variablen Kosten entsprechen (oder bei der die Verluste genau den Fixkosten entsprechen), wird als Betriebsminimum bezeichnet. Bei Preisen über dem Betriebsminimum produziert das Unternehmen entlang seiner Grenzkostenkurve, weil das Unternehmen dadurch zwar Geld verlieren könnte, durch die Schließung jedoch noch größere Verluste in Kauf nehmen müsste. Bei Preisen, die unter dem Betriebsminimum liegen, produziert das Unternehmen überhaupt nichts mehr, weil es den Verlust durch eine Schließung auf die Fixkosten begrenzt. Und so gelangen wir zu der Betriebseinstellungsregel: Betriebseinstellungsregel: Das Betriebsminimum ist der Punkt, an dem die Erlöse die variablen Kosten gerade abdecken oder an dem die Verluste den Fixkosten entsprechen. Wenn der Preis so weit fällt, dass der Preis geringer ist als die durchschnittlichen variablen Kosten, kann das Unternehmen durch Betriebseinstellung seine Gewinne maximieren (seine Verluste minimieren). Abbildung 8-3 zeigt das Betriebsminimum und die Gewinnschwelle (den Break-evenPunkt) eines Unternehmens. Der Breakeven-Punkt liegt dort, wo der Preis den AC entspricht, während das Betriebsminimum dann erreicht wird, wenn der Preis den AVC
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
Verluste, indem sie die Fixkosten bezahlen und den Betrieb weiter führen, solange die Verluste niedriger sind als die Fixkosten.
Gewinnschwelle und Betriebsminimum: P
MC AC
Beispiel: Schließung von Bohrstätten
Preis, AC, MC
AVC M d
Gewinnschwelle
d
M′ PS Betriebsminimum
q
0
223
Menge
Abbildung 8-3: Die Angebotskurve des Unternehmens bewegt sich die MC-Kurve entlang nach unten zum Betriebsminimum Die Angebotskurve des Unternehmens entspricht seiner MC-Kurve, solange der Erlös höher ist als die variablen Kosten. Sobald der Preis unter das Betriebsminimum PS fällt, übersteigen die Verluste die Fixkosten, und das Unternehmen stellt die Produktion ein. Daher stellt die durchgängige rostfarbene Kurve die Angebotskurve des Unternehmens dar.
entspricht. Deshalb entspricht die Angebotskurve des Unternehmens der durchgehenden rostfarbenen Linie in Abbildung 8-3. Sie verläuft entlang der vertikalen Achse bis zu dem Preis, der dem Betriebsminimum entspricht, springt zum Betriebsminimum in M', wo P dem Niveau der AVC entspricht, und verläuft dann weiter die MC-Kurve hinauf, wenn die Preise über dem Betriebsminimum liegen. Die Analyse der Betriebseinstellungsbedingungen führt zu dem überraschenden Schluss, dass Unternehmen, die nach Gewinnmaximierung trachten, ihren Betrieb vielleicht auch dann weiter führen, wenn sie Verluste schreiben. Diese Bedingung gilt insbesondere für Unternehmen mit hohen Schulden, die daher hohe Fixkosten haben (Fluglinien sind ein gutes Beispiel). Diese Unternehmen erzielen eine Maximierung ihrer Gewinne und eine Minimierung ihrer
Ein anschauliches Beispiel für die praktische Bedeutung der Betriebseinstellungsregel kommt aus der Ölindustrie. Im Jahr 1985, als der Preis für Rohöl US-$ 27 pro Barrel betrug, gab es in den USA etwa 35.000 Bohrstätten. Schon im nächsten Jahr allerdings fiel ihre Zahl auf unter 19.000, also um beinahe die Hälfte. Waren plötzlich die Vorkommen ausgebeutet? Wohl kaum. Was tatsächlich geschah: Der Durchschnittspreis für Rohöl fiel dramatisch bis auf US-$ 14 pro Barrel. Die Gewinne, nicht die Ölquellen, waren versiegt. In der Folge legten die Ölgesellschaften einfach ihre Bohrungen still. Dasselbe funktioniert natürlich genauso in der umgekehrten Richtung. Während des Golfkriegs in den neunziger Jahren stieg der Ölpreis, und die Bohrungen wurden forciert, weil die Ölgesellschaften durch die höheren Gewinnerwartungen entsprechend motiviert waren.
B. Das Angebotsverhalten ganzer Wirtschaftszweige bei vollständigem Wettbewerb Bislang haben wir uns in unserer Erörterung des Themas auf Einzelunternehmen beschränkt. Doch ein vollkommener Wettbewerbsmarkt besteht aus vielen Unternehmen, und wir interessieren uns für das Verhalten dieser Unternehmen als Gruppe, nicht nur für dasjenige eines Einzelbetriebs. Wie gelangen wir aber vom Einzelfall zur Gesamtheit? Von Billy Bobs Betrieb zur gesamten Schuhindustrie?
224
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Ermittlung des Marktangebotes durch Addition der Angebotskurven aller Unternehmen
benen Preis addieren. Die horizontale Addition der Produktionsmengen beim jeweiligen Preis ergibt die Branchen-Angebotskurve.
Nehmen wir an, wir hätten es mit einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt für Schuhe zu tun. Unternehmen A bringt zu einem gegebenen Preis eine bestimmte Menge an Schuhen auf den Markt, Unternehmen B eine andere Menge, und dasselbe tun die Firmen C, D und so weiter. In jedem Einzelfall wird die angebotene Menge durch die Grenzkosten des Unternehmens bestimmt. Die gesamte, zu einem bestimmten Preis auf den Markt gebrachte Angebotsmenge entspricht daher der Summe der einzelnen Mengen, die alle Unternehmen zu diesem Preis anbieten.1 Diese Überlegung führt uns zu folgender Beziehung zwischen individuellem und Marktangebot:
Kurz- und langfristiges Gleichgewicht
Um die Marktangebotskurve für ein Gut zu ermitteln, müssen wir die Angebotskurven aller einzelnen Produzenten dieses Gutes horizontal addieren. Abbildung 8-4 zeigt das anhand zweier Unternehmen. Um zur Branchen-Angebotskurve SS zu gelangen, müssen wir beim selben Preis die Angebotskurven der einzelnen Firmen ss horizontal addieren. Bei einem Preis von US-$ 40 bietet Unternehmen A 4.000 Einheiten an, während Unternehmen B mit 11.000 Einheiten auf den Markt drängt. Deshalb addiert man zur Berechnung der Branchen-Angebotskurve (Abbildung 8-4(c)) die beiden Angebote und erhält die Angebotsmenge für die Gesamtbranche bei einem Preis von US-$ 40 mit 15.000 Einheiten. Umfasst eine Branche 2 Millionen anstatt nur zwei Unternehmen, lässt sich der Output der gesamten Branche ebenso bestimmen, indem wir alle 2 Millionen Einzelmengen zum gege1 Wie Sie sich erinnern, wird die Marktnachfragekurve DD ähnlich ermittelt, indem die einzelnen dd-Nachfragekurven horizontal summiert werden.
Alfred Marshall, ein großer Ökonom, der um die vorletzte Jahrhundertwende in Cambridge lehrte, trug zur Entwicklung der Instrumentarien bei, mit denen wir uns heute den Themenbereichen von Angebot und Nachfrage nähern. Er stellte fest, dass Nachfrageverschiebungen kurzfristig größere Preisanpassungen und geringere Mengenanpassungen verursachen als langfristig. Wir können diese Beobachtung besser verstehen, wenn wir bei der Betrachtung des Marktgleichgewichtes zwei Zeiträume unterscheiden, die den verschiedenen Kostenkategorien entsprechen: (1) ein kurzfristiges Gleichgewicht, wenn jeder Veränderung der Produktionsmenge immer dasselbe fixe Kapitalvolumen gegenüber steht, und (2) ein langfristiges Gleichgewicht, wenn Kapital und alle anderen Faktoren variabel sind, sodass die Unternehmen frei in den Wirtschaftszweig eintreten oder ihn verlassen können. Markteintritt und Ausscheiden von Unternehmen Auf lange Sicht gilt der „freie Markteintritt und -austritt von Unternehmen“. Die Entstehung (der Eintritt) und das Verschwinden (Ausscheiden) von Unternehmen sind wichtige Faktoren, die die Entwicklung einer Marktwirtschaft beeinflussen können. Unternehmen treten in eine Branche ein, wenn sie gegründet werden oder wenn sich ein bestehendes Unternehmen entschließt, in einen neuen Sektor vorzustoßen. Unternehmen scheiden aus dem Markt aus, wenn sie die Produktion einstellen. Sie können sich freiwillig zurückziehen, weil ein Produktionszweig unprofitabel geworden ist, oder sie können in
Kapitel 8
(a) Angebot von Unternehmen A
P
(c) Marktangebot P
s
80
80
60
60
60
40 4 20
s
40
Preis (US-$)
80
Preis (US-$)
Preis (US-$)
(b) Angebot von Unternehmen B
s
P
11
20
40
5 10 15 Menge A (in Tausend)
qA
0
S
4
11
Marktangebotskurve
20 s
0
225
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
5 10 15 Menge B (in Tausend)
S qB
0
5 10 15 20 25 Gesamtmenge (in Tausend)
Q = qA + qB
Abbildung 8-4: Durch Addition aller Angebotskurven der Unternehmen können wir das Marktangebot ableiten Die Diagramme zeigen, dass sich die Marktangebotskurve (SS) aus zwei Einzelangebotskurven (ss) zusammensetzt. Wir addieren die von jedem Unternehmen bei einem Preis von US-$ 40 angebotenen Mengen horizontal und erhalten das Marktangebot bei einem Preis von US-$ 40. Dasselbe gilt für jeden Preis und jede beliebige Anzahl von Unternehmen. Gäbe es 1.000 Unternehmen, die mit A identisch sind, würde die Marktangebotskurve aussehen wie die Angebotskurve von Unternehmen A bei einer tausendfachen Vergrößerung des Maßstabs auf der X-Achse. Konkurs gehen, wenn sie nicht mehr imstande sind, ihre Rechnungen zu bezahlen. Wir sprechen von freiem Markteintritt und -austritt, wenn keine Eintritts- oder Austrittsbarrieren wie staatliche Bestimmungen oder geistige Eigentumsrechte (wie z.B. Patente oder Software) bestehen. Die Zahl der Geburten und Todesfälle von Unternehmen in einer dynamischen Wirtschaft wie jener der USA ist überraschend hoch. Anfang 1996 gab es in den USA 5,5 Millionen Unternehmen. In diesem Jahr schieden 512.000 Firmen aus, während 598.000 gegründet wurden. Die meisten Unternehmen ziehen sich still zurück, aber manche legen auch einen geräuschvollen Abgang hin, wie es zum Beispiel beim Telekommunikationsriesen WorldCom der Fall war, der nach einem gigantischen Buchhaltungsbetrug mit Aktiva von 104 Millionen US-$ Schiffbruch erlitt. In den Jahren 2001–2003 sah sich die Luftfahrtbranche gezwungen, Kosten zu senken und angesichts zunehmender terroristischer Bedrohungen Kapazitäten abzubauen. Im Zuge dieser Entwicklung mussten mehrere Fluglinien das Handtuch werfen. Obwohl kontinuierlich verlaufende Kostenkurven
die Dramatik von Ein- und Austritten nicht immer perfekt widerspiegeln, ist die zugrunde liegende Logik von P, MC und AC doch eine starke Triebfeder für Wachstum und Niedergang großer Wirtschaftszweige.
Illustrieren wir diesen Unterschied zwischen dem kurz- und langfristigen Gleichgewicht einmal anhand eines Beispiels. Betrachten wir dazu den Markt für Frischfisch, dessen Angebot aus einer lokalen Fischereiflotte stammt. Nehmen wir an, die Nachfrage nach Fisch steigt; dieser Fall ist in Abbildung 8-5(a) als Verschiebung von DD nach D'D' dargestellt. Wenn die Preise steigen, bemühen sich die Kapitäne der Fangflotte natürlich, ihren Fang zu erhöhen. Kurzfristig können sie zwar keine neuen Boote auftreiben, aber sie können mehr Leute einstellen und länger arbeiten. Ein höherer Input variabler Faktoren führt zu einer größeren Menge Fisch entlang der kurzfristigen Angebotskurve SSSS, die wir in Abbildung 8-5(a) sehen. Die kurzfristige Angebotskurve schneidet die neue Nachfragekurve in Punkt E', dem Punkt des kurzfristigen Gleichgewichts.
226
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
(a) kurzfristiges Gleichgewicht P
(a) langfristiges Gleichgewicht SS
D′
D′
P
D
D
SL E″
E′ Preis
Preis
E D′ SS
SL
E D′ D
D
Q
0
Teil 2
Menge
Q
0 Menge
Abbildung 8-5: Die Auswirkungen einer Nachfragesteigerung auf den Preis fallen je nach Zeitdauer unterschiedlich aus Wir unterscheiden zwischen (a) Perioden, in denen die Unternehmen nur für Anpassungen beim Einsatz des Faktors Arbeit und der anderen variablen Faktoren genügend Zeit haben (kurzfristiges Gleichgewicht) und (b) Perioden, in denen die vollständige Anpassung des Einsatzes der Faktoren – und zwar der fixen wie der variablen – möglich ist (langfristiges Gleichgewicht). Je mehr Zeit für Anpassungen zur Verfügung steht, desto größer fällt die Elastizität der Angebotsreaktion und desto geringer die Preissteigerung aus.
Die hohen Preise führen zu hohen Gewinnen, die auf lange Sicht bewirken, dass mehr Schiffe gebaut und mehr Seeleute in die Branche gelockt werden. Außerdem können neue Unternehmen gegründet werden oder in den Markt eintreten. Damit erhalten wir die langfristige Angebotskurve SLSL in Abbildung 8-5(b) und das langfristige Gleichgewicht im Punkt E''. Der Schnittpunkt der langfristigen Angebotskurve mit der neuen Nachfragekurve führt zu dem langfristigen Gleichgewicht, das wir erhalten, wenn sich alle wirtschaftlichen Bedingungen (einschließlich der Anzahl der Boote, der Werften und Unternehmen) an das neue Nachfrageniveau angepasst haben. Langfristiges Branchenangebot. Welche Form hat die langfristige Angebotskurve für eine bestimmte Branche? Nehmen wir an, es bestünde freier Marktzugang für gleiche Unternehmen. Wenn diese gleichen Unternehmen sich allgemein verfügbarer Inputs wie unge-
lernter Arbeitskräfte bedienen, die sie aus den zahlreichen anderen Einsatzmöglichkeiten abwerben können, ohne damit die Preise dieser Inputs zu verändern, erhalten wir den Fall der konstanten Kosten, der durch die horizontale Angebotskurve SLSL in Abbildung 8-6 dargestellt ist. Im Gegensatz dazu können wir aber auch annehmen, dass manche der in der Branche eingesetzten Inputs relativ knapp sind – z.B. fruchtbare Weingärten in der Weinbranche oder knappe Strände für die Sommerurlaube. Deshalb weist die Angebotskurve für Wein oder Tourismus einen positiven Anstieg auf, wie durch SLSL' in Abbildung 8-6 gezeigt wird. Warum muss die langfristige Angebotskurve in Branchen, die knappe Produktionsfaktoren einsetzen, eigentlich ansteigen? Denken wir an das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge. Im Fall des knappen Gutes Weingärten verwenden die Unternehmen einen Input-Mix mit mehr Arbeit und weniger
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
P 60 S L′
50
Preis
40
SL
SL
30 20 10 Q = Σq
0 Branchenmenge
Abbildung 8-6: Das langfristige Branchenangebot hängt von den Kostenbedingungen ab Bei freiem Marktzutritt und -austritt und in einer Situation, in der jede beliebige Zahl von Unternehmen nach identischen, unveränderten Kostenkurven produzieren kann, fällt die langfristige SLSLKurve bei den Mindestdurchschnittskosten jedes Unternehmens oder beim Break-even-Preis horizontal aus. Wird in einer Branche ein spezieller Faktor eingesetzt, beispielsweise knappe Immobilien in Strandlage, muss die langfristige Angebotskurve eine positive Steigung wie SLSL’ aufweisen, weil größere Produktionsmengen mit weniger geeigneten Produktionsfaktoren hergestellt werden müssen.
vom knappen Boden, und sie erzielen damit immer geringere Grenzerträge. Trotzdem sind alle Arbeitseinheiten gleich teuer, und deshalb steigen die MC für Wein. Diese langfristig steigende MC-Kurve bedeutet, dass auch die langfristige Angebotskurve ansteigen muss.
Die langfristige Sicht für einen im Wettbewerb stehenden Wirtschaftszweig Unsere Analyse der Break-even-Bedingungen hat uns gezeigt, dass auch unprofitable Unternehmen eine Zeitlang im Geschäft bleiben können. Das kann speziell bei Unternehmen mit hohen fixen Kapitalkosten der Fall sein. Dank dieser Analyse können wir verstehen, warum viele der größten amerika-
227
nischen Unternehmen wie zum Beispiel General Motors in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs im Geschäft blieben, obwohl sie Milliardenbeträge verloren. Solche Verluste werfen eine beunruhigende Frage auf: Ist es möglich, dass sich der Kapitalismus in Richtung einer „Euthanasie der Kapitalisten“ bewegt, einer Situation, in der der verstärkte Wettbewerb zu chronischen Verlusten führt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die langfristigen Betriebseinstellungsbedingungen analysieren. Wir haben gezeigt, dass Unternehmen schließen, wenn sie ihre variablen Kosten nicht mehr abdecken können. Doch auf lange Sicht sind alle Kosten variabel. Ein Unternehmen, das Verluste schreibt, kann seine Darlehen zurückzahlen, seine Manager entlassen und seine Mietverträge auslaufen lassen. Langfristig werden alle Verpflichtungen wieder zu Optionen. Unternehmen bleiben daher auf lange Sicht nur dann auf dem Markt, wenn der Preis auf dem Break-evenNiveau oder darüber liegt, wenn er also den durchschnittlichen Kosten entspricht. Es gibt daher einen kritischen Breakeven-Punkt, unter dem der Preis auf Dauer nicht zu liegen kommen darf, will ein Unternehmen auf dem Markt bleiben. Das bedeutet, dass der langfristige Preis die variablen Kosten wie Arbeit, Material, Ausstattung, Steuern und andere Ausgaben, aber auch die Opportunitätskosten wie eine marktgängige Rendite für das vom Eigentümer investierte Kapital, abdecken muss. Deshalb muss der Preis langfristig auf dem Niveau der langfristigen durchschnittlichen Gesamtkosten oder darüber liegen. Was geschieht nun, wenn der Preis langfristig unter dieses kritische Break-even-Niveau fällt? Unternehmen, die keinen Gewinn erzielen, werden die Branche nach und nach wieder verlassen. Da weniger Unternehmen produzieren, verschiebt sich die kurzfristige Marktangebotskurve nach links und der Preis steigt (zeichnen Sie das Diagramm bitte selbst). Irgendwann zieht der Preis schließ-
228
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
lich wieder so stark an, dass der Geschäftszweig nicht mehr unprofitabel ist. Doch derselbe Vorgang funktioniert auch in die entgegengesetzte Richtung. Nehmen wir an, der langfristige Preis liegt über den langfristigen durchschnittlichen Gesamtkosten, was dazu führt, dass die Unternehmen Gewinne schreiben. Nun können wir davon ausgehen, dass der Zugang zur Branche langfristig absolut frei ist, sodass jede beliebige Anzahl gleicher Unternehmen sich zu der gewinnträchtigen Branche gesellen und zu denselben Kosten wie die bereits in der Branche tätigen Unternehmen produzieren kann. In dieser Situation werden neue Unternehmen von der Aussicht auf Gewinne angezogen, und die Angebotskurve verschiebt sich nach rechts, während der Preis fällt. Schließlich sinkt der Preis so weit, dass es für keinen weiteren Mitbewerber mehr gewinnträchtig wäre, in die Branche zu drängen. Wir können daraus den Schluss ziehen, dass sich der Preis in einem Wirtschaftszweig langfristig auf jenen kritischen Punkt zu bewegt, an dem identische Unternehmen ihre gesamten Kosten im Wettbewerb gerade abdecken können. Unter diesem kritischen langfristigen Preis würden Unternehmen die Branche verlassen, bis der Preis wieder auf das Niveau der langfristigen Durchschnittskosten steigt. Über diesem langfristigen Preis würden neue Mitbewerber auf den Markt drängen und so eine Senkung des Marktpreises auf den langfristigen Gleichgewichtspreis erzwingen, bei dem unter Wettbewerbsbedingungen eine Kostendeckung gerade noch erreicht werden kann. Langfristiges Break-even-Gleichgewicht: Bei einer im Wettbewerb stehenden Branche mit identischen, frei in den Markt ein- und austretenden Unternehmen lautet die langfristige Gleichgewichtsbedingung wie folgt: Für jedes identische Unternehmen entspricht der Preis den Grenzkosten sowie den langfristigen Mindest-Durchschnittskosten: P = MC = minimale langfristige AC = Breakeven-Preis
Teil 2
Dies ist die Bedingung, unter der der Gewinn langfristig gegen null tendiert („zero-economic-profit“). Was die langfristige Rentabilität des wettbewerbsorientierten Kapitalismus anbelangt, kommen wir zu einem überraschenden Schluss. Wir stellen fest, dass die Wettbewerbskräfte die Unternehmen langfristig in Richtung Gewinnschwelle treiben. Auf lange Sicht erzielen im Wettbewerb stehende Unternehmen eine normale Rendite auf ihre Investitionen, aber nicht mehr. Gewinnträchtige Wirtschaftszweige ziehen neue Unternehmen an, was zu Preissenkungen und niedrigeren Gewinnen führt, bis sich die Gewinne gegen null bewegen. Im Gegensatz dazu streben Unternehmen in nicht gewinnträchtigen Branchen nach besseren Renditechancen in anderen Wirtschaftszweigen; Preise und Gewinne tendieren daraufhin nach oben. Im langfristigen Gleichgewicht einer im Wettbewerb stehenden Branche wird daher kein Gewinn erzielt.
C. Sonderfälle von Wettbewerbsmärkten Wir haben nun den grundlegenden Mechanismus von Angebot und Nachfrage entwickelt. In diesem Abschnitt wollen wir unser Studium von Angebot und Nachfrage ein wenig vertiefen. Zunächst werden wir einige allgemeine Aussagen über Wettbewerbsmärkte betrachten, um uns schließlich einigen Sonderfällen zuzuwenden.
Allgemeine Regeln Wir haben die Auswirkungen von Angebotsund Nachfrageverschiebungen auf Wettbewerbsmärkten bereits analysiert. Diese Erkenntnisse gelten für praktisch jeden vollkom-
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Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
menen Wettbewerbsmarkt, gleich ob für Kabeljau, Braunkohle, Kiefernholz, japanische Yen, IBM-Aktien oder Erdöl. Gibt es einige allgemeingültige Regeln? Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die Auswirkungen von Angebots- und Nachfrageverschiebungen auf den Preis und auf die gekaufte und verkaufte Menge. Denken Sie bitte immer daran, dass wir unter einer Angebots- oder Nachfrageverschiebung eine Verschiebung der Angebotsoder Nachfragekurve verstehen, nicht aber eine Verschiebung entlang der Kurve.
P
D′ D
Angebot bei konstanten Kosten
Preis
Kapitel 8
N
S
E
E′
S
D′
Nachfrageregel: (a) In aller Regel treibt eine Erhöhung der Nachfrage nach einem Gut bei unveränderter Angebotskurve den Preis dieses Gutes in die Höhe. (b) Bei den meisten Gütern bewirkt eine erhöhte Nachfrage auch eine Erhöhung der nachgefragten Menge. Ein Rückgang der Nachfrage hat die gegenteilige Wirkung. Angebotsregel: (b) Ein vermehrtes Angebot eines Gutes (bei konstanter Nachfragekurve) führt im Allgemeinen zu einer Preissenkung und einer Erhöhung der Kauf- und Verkaufsmenge. Ein Angebotsrückgang hat den gegenteiligen Effekt. Diese beiden Angebots- und Nachfrageregeln stellen eine Zusammenfassung der qualitativen Auswirkungen einer Verschiebung von Angebot und Nachfrage dar. Doch die quantitativen Auswirkungen auf Preis und Menge hängen vom genauen Verlauf der Angebots- und Nachfragekurven ab. In den nun folgenden Fällen werden wir die Reaktionen in einigen wichtigen Kosten- und Angebotssituationen untersuchen.
Konstante Kosten Die Produktion vieler Güter wie zum Beispiel Textilien kann ausgedehnt werden, indem einfach ein Vielfaches an Fabriken, Maschinen und Arbeitskräften eingesetzt wird. Die Herstellung von 200.000 Hemden täglich verlangt nichts anderes als die Herstellung von 100.000 Hemden täglich, nur im doppel-
D 0
M
M′
Q
Menge
Abbildung 8-7: Der Fall konstanter Kosten
ten Maßstab. Nehmen wir darüber hinaus an, dass die Textilindustrie Boden, Arbeitskräfte und andere Inputs im selben Verhältnis verwendet wie die restliche Wirtschaft. In diesem Fall verläuft die langfristige Angebotskurve SS in Abbildung 8-7 bei konstanten Kosten pro Einheit horizontal. Ein Nachfragezuwachs von DD auf D'D' verschiebt den Schnittpunkt auf E', wobei Q steigt, P jedoch gleich bleibt.
Steigende Kosten und abnehmende Erträge Im letzten Abschnitt ging es um Güter wie Wein oder Strandgrundstücke, wo die Produkte bestimmte knappe Inputs erfordern. Im Fall des Weinbaus sind gute Lagen rar. Die jährliche Weinproduktion kann in einem gewissen Maß erhöht werden, indem mehr Arbeitskräfte und Düngemittel pro Hektar eingesetzt werden. Doch wenn zu den fixen Kosten eines Faktors wie Grund und Boden variable Produktionsfaktoren wie zum Beispiel Arbeitskräfte hinzukommen, kommt das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge zum Tragen. Deshalb steigen auch die Grenzkosten für die Produktion von Wein bei zunehmender Menge. Abbildung 8-8 zeigt die ansteigende
230
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
P
P
S D′
S
fixes Angebot D
D′ D
E′
E′ N′
Preis
Preis
N′
Angebot bei steigenden Kosten
E N
E N
D′
D 0
D
D′
S M
M′ Menge
S 0
Q
Abbildung 8-8: Der Fall steigender Kosten
Angebotskurve SS. Wie wird der Preis durch die zunehmende Nachfrage beeinflusst? Die Abbildung zeigt, dass eine höhere Nachfrage den Preis dieses Gutes bei identischen Unternehmen sowie freiem Marktzutritt und -austritt auch langfristig erhöht.
Vollkommen unelastisches (fixes) Angebot und volkswirtschaftliche Rente Manche Güter oder Produktionsfaktoren sind hinsichtlich ihrer Mengen absolut fix, und zwar unabhängig vom Preis. Es gibt eben nur eine Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Auch die ursprüngliche Ausstattung mit Grund und Boden durch die Natur kann als fixe Größe betrachtet werden. Und sogar eine weitere Anhebung des Grundstückspreises kann das Viertel um die Kreuzung zwischen der 57. Straße und der Fifth Avenue in New York nicht vergrößern. Bessere Bezahlung würde Spitzensportler sicher nicht dazu motivieren, noch mehr zu trainieren. Da die angebotene Menge unabhängig vom Preis konstant ist, wird der Preis für einen derartigen Produktionsfaktor als Rente oder reine volkswirtschaftliche Rente bezeichnet.
Q
M Menge
Abbildung 8-9: Faktoren mit fixem Angebot erzielen eine Rente
Wenn das Angebot vom Preis unabhängig ist, verläuft die Angebotskurve im relevanten Bereich senkrecht. Ganz unabhängig von den Grundstückspreisen werden Grundstücke weiterhin ihren Beitrag zur Produktion leisten. Abbildung 8-9 zeigt den Fall von Grund und Boden, bei dem ein höherer Preis keinerlei Produktionssteigerung bewirken kann. Eine steigende Nachfrage nach einem fixen Produktionsfaktor wirkt sich nur auf dessen Preis aus. Die angebotene Menge bleibt unverändert. Und die Preissteigerung entspricht exakt der Aufwärtsbewegung der Nachfrage. Wenn auf ein mengenunelastisches Gut eine Steuer erhoben wird, wird die Steuer in ihrer vollen Höhe vom Anbieter (beispielsweise vom Grundbesitzer) bezahlt (oder auf ihn überwälzt). Der Anbieter hat also die gesamte Steuer aus der volkswirtschaftlichen Rente zu tragen. Der Konsument kauft exakt dieselbe Menge des Gutes oder der Dienstleistung wie zuvor, und zu keinem höheren Preis.
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
Rückwärts gekrümmte Angebotskurve Unternehmen in armen Ländern müssen häufig die Erfahrung machen, dass ihre Arbeiter nach Lohnerhöhungen nur noch kürzere Zeit arbeiten. Wenn der Lohn verdoppelt wird, kommt es vor, dass die Arbeiter, anstelle weiterhin sechs Tage pro Woche zu arbeiten, nun nur noch drei Tage arbeiten und die restlichen drei Tage fischen gehen. Denselben Effekt kann man bisweilen auch in Hochlohnländern feststellen. Wenn die Reallöhne durch den Einsatz verbesserter Technologien steigen, entsteht bei den Arbeitnehmern das Bedürfnis, einen Teil ihrer Einkommenssteigerung in Form längerer Freizeit und früheren Pensionsgenusses zu konsumieren. In Kapitel 5 wurden Einkommens- und Substitutionseffekte beschrieben, die erklären, warum die Angebotskurve für Arbeit rückwärts gekrümmt sein kann. Abbildung 8-10 zeigt, wie eine Angebotskurve für Arbeit möglicherweise aussieht. Zu Beginn steigt das Arbeitsangebot, wobei höhere Löhne zu größerem Arbeitseinsatz führen. Aber nach dem Wendepunkt T führen P S Arbeitsangebot E′
Preis (US-$)
N′
T
S 0
M′
M Menge
die höheren Löhne dazu, dass die Arbeitnehmer weniger arbeiten, dafür aber mehr Freizeitstunden in Anspruch nehmen. Eine gestiegene Nachfrage erhöht die Arbeitspreise, wie wir in der Nachfrageregel zu Beginn dieses Abschnitts festgehalten haben. Doch bitte beachten Sie, dass wir zur Nachfrageregel (b) den Zusatz „für die meisten Güter“ hinzugefügt haben, denn nun verringert die erhöhte Nachfrage die Menge der angebotenen Arbeit. Die rückwärts gekrümmte Angebotskurve kann auf vielen Gebieten nachgewiesen werden. Eines der interessantesten Beispiele trat ein, als die ölreichen Länder ihre Ölproduktion drosselten, nachdem sich der Ölpreis Anfang der siebziger Jahre vervierfacht hatte.
Angebotsverschiebungen Alle obigen Diskussionen bezogen sich auf eine Verschiebung der Nachfrage, nicht jedoch des Angebotes. Um die Angebotsregel zu analysieren, müssen wir nun eine Angebotsverschiebung bei konstanter Nachfrage betrachten. Wenn das Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs gilt, muss ein erhöhtes Angebot zu sinkenden Preisen und größeren nachgefragten Gütermengen führen. Zeichnen Sie doch Ihre eigene Angebots- und Nachfragekurve und verifizieren Sie die folgenden quantitativen Folgerungen aus der Angebotsregel: (c) Ein vermehrtes Angebot senkt P dann am stärksten, wenn die Nachfrage unelastisch ist. (d) Ein vermehrtes Angebot erhöht Q dann am wenigsten, wenn die Nachfrage unelastisch ist.
E
N
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Q
Abbildung 8-10: Die rückwärts gekrümmte Angebotskurve
Welche nahe liegenden Gründe können wir für diese Regeln anführen? Wählen Sie als Beispiel einer elastischen Nachfrage das Auto und als Beispiel einer unelastischen Nachfrage die Stromversorgung.
232
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
D. Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit auf Wettbewerbsmärkten Evaluierung des Marktmechanismus Eine der bemerkenswerten Erscheinungen des letzten Jahrzehnts war die „Wiederentdeckung des Marktes“. In zahlreichen Ländern überall auf der Welt gab man die massiven Interventionen der „ZentralverwaltungsWirtschaft“ und staatliche Reglementierung auf, um Raum für die subtilere Koordination durch die unsichtbare Hand zu schaffen. Nachdem wir die grundlegende Funktionsweise vollkommener Märkte erörtert haben, ist die Frage sicher berechtigt, wie gut sie in der Praxis funktionieren. Welche Noten können wir ihnen für die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Menschen geben? Bekommt die Gesellschaft bei gegebenen Inputs viele Kanonen und eine große Menge Butter? Oder schmilzt die Butter schon auf dem Weg zum Laden, während die Kanonenrohre durchhängen? In diesem Kapitel geben wir einen Überblick über die Effizienz vollkommener Wettbewerbsmärkte. Nachdem wir die Faktormärkte und die Rolle des Staates analysiert haben, folgen in späteren Kapiteln weitere Analysen.
Das Effizienzkonzept Wenn wir eine Volkswirtschaft analysieren, interessieren wir uns in erster Linie für das Konzept der Allokationseffizienz oder Effizienz (manchmal auch Pareto-Effizienz oder Pareto-Optimalität genannt). Eine Wirtschaft ist effizient, wenn sie so organisiert ist, dass sie
Teil 2
ihren Konsumenten bei gegebenen Ressourcen und gegebener Technologie der Volkswirtschaft die von ihnen am meisten gewünschten Güter und Dienstleistungen bietet. Von Allokationseffizienz (oder Effizienz) kann man sprechen, wenn niemand durch eine andere Organisation der Produktion besser gestellt werden kann, ohne dass dadurch zugleich jemand anderer schlechter gestellt wird. Unter den Bedingungen allokativer Effizienz lässt sich eine Steigerung der Bedürfnisbefriedigung oder des Nutzens für eine Person nur durch Schmälerung des Nutzens für eine andere Person erreichen. Wir können uns das Effizienzkonzept ganz ähnlich wie die Produktionsmöglichkeitenkurve vorstellen. Eine Volkswirtschaft, die sich innerhalb der PMK bewegt, ist eindeutig ineffizient. Wenn wir uns hin zur PMK bewegen, bedeutet dies, dass niemand eine Beeinträchtigung seines Nutzens hinzunehmen braucht. Eine effiziente Wirtschaft befindet sich daher zumindest auf ihrer PMK. Aber das Effizienzkonzept geht noch darüber hinaus und verlangt nicht nur die richtige Zusammensetzung der zu produzierenden Güter, sondern auch die entsprechende Allokation unter den Konsumenten, so dass deren Bedürfnisbefriedigung maximiert wird.
Effizienz des Wettbewerbsgleichgewichts Eine der wichtigsten Aussagen der gesamten Volkswirtschaftslehre lautet, dass die Ressourcenallokation über die Wettbewerbsmärkte effizient ist. Diese wichtige Erkenntnis setzt voraus, dass alle Märkte vollkommene Märkte sind und dass keine äußeren Einflüsse wie Umweltverschmutzung oder unvollständige Informationen auf sie einwirken. Aber auch wenn die Volkswirtschaft effizient ist, sagt dies nichts über die Gerechtigkeit der Einkommensverteilung in vollkommenen Märkten aus. In diesem Ab-
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Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
schnitt wollen wir ein vereinfachtes Beispiel dazu verwenden, das allgemeine Prinzip zu beleuchten, das der Effizienz vollkommener Märkte zugrunde liegt. Stellen Sie sich die abstrakte Situation vor, dass alle Menschen gleich sind. Nehmen Sie weiter an: (a) Alle Menschen arbeiten in der Nahrungsmittelproduktion. Je mehr sie arbeiten und je weniger Freizeit ihnen daher bleibt, desto mühsamer wird jede zusätzliche schweißtreibende Arbeitsstunde. (b) Jede zusätzliche konsumierte Lebensmitteleinheit erbringt einen geringeren Grenznutzen (MU).2 (c) Da die Nahrungsmittelproduktion auf vorgegebenen Flächen erfolgt, ergibt jede Arbeitsminute nach dem Gesetz der abnehmenden Grenzerträge immer weniger an zusätzlicher Nahrung. Abbildung 8-11 zeigt Angebot und Nachfrage für unsere vereinfachte Wettbewerbswirtschaft. Wenn wir die identischen Angebotskurven unserer identischen Bauern horizontal addieren, erhalten wir die nach oben hin ansteigende MC-Kurve. Wie wir bereits früher in diesem Kapitel gesehen haben, ist die MC-Kurve zugleich auch die Angebotskurve dieser Branche, was in der Abbildung durch MC = SS zum Ausdruck gebracht wird. Außerdem ist die Nachfragekurve einfach die horizontale Addition gleicher Grenznutzen der einzelnen Grenznutzen- (oder Nahrungsmittelnachfrage-)Kurven. Sie wird durch die Kurve MU = DD für Nahrungsmittel dargestellt, die eine negative Steigung aufweist. Der Schnittpunkt der Kurven SS und DD ergibt das Wettbewerbsgleichgewicht für Nahrung. Im Punkt E bieten die Bauern genau das an, was die Konsumenten zum Marktgleichgewichtspreis zu kaufen wünschen. Jeder Bauer arbeitet bis zu dem kritischen Punkt, an dem sich die absteigende NahrungsmittelkonsumGrenzkostenkurve mit der ansteigenden Nah2 Um die Analyse zu vereinfachen, messen wir das Wohlergehen in fixen Freizeitnutzeneinheiten („utils“) [oder Freizeitausfall durch schweißtreibende Arbeit („disutils“)]. Nun gehen wir weiter davon aus, dass jede verlorene Freizeitstunde einen konstanten Grenznutzen aufweist, sodass in diesen Freizeit-Arbeits-Einheiten alle Nutzen und Kosten berücksichtigt sind.
P
B
MU = DD
F MU, MC, P
Kapitel 8
MC = SS
E P*
A F Q Q* Menge
Abbildung 8-11: Im Wettbewerbsgleichgewicht E sind Grenzkosten und Nutzen von Nahrungsmitteln exakt ausgeglichen Viele identische Bauern-Konsumenten bringen ihre Nahrungsmittel auf den Markt. Die in Stufen aufwärts verlaufende Kurve MC = DD addiert die Grenzkostenkurven, während die stufenweise abwärts verlaufende Kurve MU = DD die horizontale Addition der Bewertung der Nahrungsmittel durch die Konsumenten darstellt. Im Wettbewerbs-Marktgleichgewicht E entspricht der Grenzgewinn aus der letzten Nahrungsmitteleinheit den bei der Produktion der letzten Nahrungsmitteleinheit in E aufgewendeten Grenzkosten (ausgedrückt in Freizeitverzicht). Die Kosten der Nahrungsmittelproduktion sind durch die dunkelgrauen Bereiche dargestellt. Die hellen rostfarbenen Bereiche oberhalb der SS-Kurve und unterhalb der Preislinie addieren sich zur „Produzentenrente“. Die Summe von Konsumentenund Produzentenrente ist die „volkswirtschaftliche Rente“ oder der Gesamtgewinn aus der Produktion in diesem Wirtschaftszweig. Wirtschaftliche Effizienz bedeutet, dass die volkswirtschaftliche Rente (der gesamte rostfarbene Bereich) maximiert wird. Jede andere Produktionsmenge würde die volkswirtschaftliche Rente verringern. So zeigt zum Beispiel der hellgraue Bereich rechts von E den wirtschaftlichen Verlust durch die Produktion von zu großen Mengen an Nahrungsmitteln in FF.
rungsmittelanbau-Grenznutzenkurve schneidet. Abbildung 8-11 zeigt ein neues Konzept, die wirtschaftliche Rente, die als rostfarbener Bereich zwischen den Angebots- und Nachfragekurven im Gleichgewicht dargestellt ist. Die
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
wirtschaftliche Rente ist die Summe der im 5. Kapitel beschriebenen Konsumentenrente – des Bereichs zwischen der Nachfragekurve und der Preislinie – und der Produzentenrente – des Bereichs zwischen der Preislinie und der SS-Kurve. Die Produzentenrente beinhaltet die Renten und Gewinne von Firmen und Eigentümern spezialisierter, in der Branche eingesetzter Inputs und gibt den Überschluss der Erträge gegenüber den Produktionskosten an. Die volkswirtschaftliche Rente drückt den aus Produktion und Konsum eines Gutes zusätzlich gewonnenen Nettonutzen oder Wohlstand aus. Sie entspricht der Konsumentenrente plus der Produzentenrente. Eine gründliche Analyse des Wettbewerbsgleichgewichts zeigt, dass es die in dieser Branche verfügbare volkswirtschaftliche Rente maximiert. Aus diesem Grund ist es wirtschaftlich effizient. Im Wettbewerbsgleichgewicht E in Abbildung 8-11 hat der repräsentative Konsument einen größeren Nutzen, d.h. eine höhere volkswirtschaftliche Rente als bei jeder anderen möglichen Ressourcenallokation. Eine weitere Möglichkeit, die Effizienz des Wettbewerbsgleichgewichts zu betrachten, ist der Vergleich der wirtschaftlichen Auswirkungen einer kleinen Änderung des Gleichgewichts bei E. Wie der folgende Dreistufenprozess zeigt, ist die Allokation effizient, wenn MU = P = MC. 1. P = MU. Die Konsumenten entscheiden sich für den Kauf von Nahrungsmitteln bis zu jenem Betrag, bei dem gilt: P = MU. Folglich gewinnt jede Person aus der letzten konsumierten Nahrungsmitteleinheit P Nutzeneinheiten oder Utils. (Zufriedenheits-Utils werden in Form des konstanten Grenznutzens von Freizeit gemessen, wie in Fußnote 2 erläutert.) 2. P = MC. Als Produzent bietet jede der Personen aus unserem Beispiel Nahrungsmittel bis zu dem Punkt an, an dem der Nahrungsmittelpreis genau den MC der letzten angebotenen Nahrungsmittelein-
Teil 2
heit entspricht (wobei hier die MC die Kosten des Freizeitverzichts sind, der zur Produktion der letzten Nahrungsmitteleinheit erforderlich ist). Der Preis entspricht daher den Freizeit-Utils, auf die für die Produktion dieser letzten Nahrungsmitteleinheit verzichtet werden muss. 3. Wenn wir diese beiden Gleichungen zusammenfügen, erkennen wir, dass MU = MC. Das bedeutet, dass die durch die letzte konsumierte Nahrungsmitteleinheit gewonnenen Nutzeneinheiten exakt den durch den Zeitaufwand für die Produktion dieser letzten produzierten Nahrungsmitteleinheit verlorenen Freizeit-Utils entsprechen. Und genau diese Bedingung, wonach der Grenzgewinn aus der letzten konsumierten Einheit genau den Grenzkosten der Gesellschaft für die letzte produzierte Einheit entspricht, ist es, die uns garantiert, dass ein Wettbewerbsgleichgewicht effizient ist.
Gleichgewicht bei einer Vielzahl von Konsumenten und Märkten Wenden wir uns nun nach unserer stark vereinfachten Darstellung mit identischen Bauern und Konsumenten einer Wirtschaft zu, in der es Millionen unterschiedlicher Unternehmen, Hunderte Millionen von Menschen und unzählige Güter gibt. Kann auch in dieser komplexen Welt eine Wirtschaft unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs effizient sein? Die Antwort lautet „ja“, oder besser gesagt, „ja, wenn …“. Effizienz besteht nur, sofern einige strenge Voraussetzungen erfüllt sind, auf die wir in späteren Kapiteln zu sprechen kommen werden. Zu diesen Voraussetzungen gehören einigermaßen gut informierte Konsumenten, konkurrierende Produzenten und das Fehlen äußerer Einflussfaktoren wie Umweltverschmutzung oder unzulängliches Wissen. Solche Volkswirtschaften mit einem System vollkommener Wettbewerbsmärkte verdienen den ersten Preis in Sachen Allokationseffizienz.
Kapitel 8
Abbildung 8-12 zeigt, wie ein Wettbewerbssystem ein Gleichgewicht zwischen Nutzen und Kosten für ein einzelnes Wirtschaftsgut bei nicht identischen Unternehmen und Konsumenten hervorbringt. Links addieren wir die Nachfragekurven aller Konsumenten horizontal und erhalten so die Marktnachfragekurve DD in der Mitte. Rechts addieren wir alle MC-Kurven der einzelnen Unternehmen und erhalten ebenso in der Mitte die Branchenangebotskurve SS. Im Wettbewerbsgleichgewicht in Punkt E erhalten die Konsumenten links die Menge, die sie von dem Gut genau zu dem Preis kaufen wollen, der die effizienten sozialen MC repräsentiert. Rechts sorgt der Gleichgewichtsmarktpreis auch für eine effiziente Produktionsallokation unter den Unternehmen. Der graue Bereich unterhalb der SSKurve in der Mitte stellt die minimierte Summe der grauen Kostenbereiche rechts dar. Jedes Unternehmen richtet seine Produktionsmenge so ein, dass MC = P. Die Produktionseffizienz kann deshalb erreicht werden, (a) Konsumentennachfrage P
weil keine andere Organisation der Produktion möglich ist, bei der dieselbe Produktionsmenge von der Branche zu geringeren Kosten hergestellt werden könnte. Gütervielzahl. Unsere Wirtschaft produziert nicht nur Nahrungsmittel, sondern natürlich auch Kleidung, Filme, Urlaube und viele, viele andere Güter. Wie lässt sich unsere Analyse anwenden, wenn die Konsumenten zwischen einer Vielzahl von Produkten auswählen können? Auch hier gelten exakt die gleichen Prinzipien, aber es tritt eine weitere Bedingung hinzu: Konsumenten, die ihren Nutzen optimieren wollen, verteilen ihre Geldausgaben so auf verschiedene Güter, dass der Grenznutzen der letzten Geldeinheit für jedes konsumierte Gut gleich hoch ist. Unter diesen Idealbedingungen ist eine Wettbewerbswirtschaft mit einer Vielzahl von Gütern und Produktionsfaktoren effizient. Mit anderen Worten: Eine Wirtschaft mit vollständigem Wettbewerb ist dann effizient,
(b) Branchenoutput
P
(c) Angebote der Unternehmen
P D
d2 Lebensmittelpreis
235
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
P
P
P
d1 sC
S P*
E1
sA
E
E2
sB
EA
EB EC
S d1 q1 Person 1
Person 2
sA
D
d2 q2
Q Markt
sB
sC
qA qB qC Unternehmen A Unternehmen B Unternehmen C
Abbildung 8-12: Unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs kommt es zu einer Zusammenführung von Konsumentennachfrage und Produzentenkosten (a) Die Einzelnachfragen sind links dargestellt. Wir addieren die dd-Kurve der Konsumenten horizontal und erhalten so die Marktnachfragekurve DD in der Mitte. (b) Der Markt bringt alle Konsumentennachfragen und Unternehmensangebote zusammen und führt so zu dem Marktgleichgewicht in E. Die horizontale Nahrungsmittelpreislinie zeigt, wo jeder Konsument links und jeder Produzent rechts das Gleichgewicht erreicht. In P* lässt sich feststellen, wie der MU aller Konsumenten mit dem MC jedes Unternehmens gleichgesetzt wird, was Allokationseffizienz zur Folge hat. (c) Für jedes im Wettbewerb stehende Unternehmen kommt es zu einer Gewinnmaximierung, wenn die Angebotskurve durch die ansteigende MC-Kurve gegeben ist. Der graue Bereich stellt die Produktionskosten jedes Unternehmens für die Herstellung der Menge in E dar. Bei Preisen, die den Grenzkosten entsprechen, erzeugt die Branche zu niedrigstmöglichen Gesamtkosten.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
wenn die privaten Grenzkosten den sozialen Grenzkosten entsprechen und wenn beide dem Grenznutzen entsprechen. Jede Branche muss einen Ausgleich zwischen MC und MU finden. Wenn beispielsweise Filme doppelt so hohe MC wie Hamburger aufweisen, müssen auch P und MU von Filmen doppelt so hoch sein wie jene von Hamburgern. Erst dann werden die MU, die den P entsprechen, dasselbe Niveau wie die MC aufweisen. Durch den Ausgleich von Preis und Grenzkosten sorgt der Wettbewerb dafür, dass eine Wirtschaft Allokationseffizienz erreichen kann. Der vollkommene Markt ist ein Instrument zur Verbindung (a) der Bereitschaft der Konsumenten mit entsprechender Kaufkraft, für Güter zu bezahlen, mit (b) den Grenzkosten dieser Güter, die durch das Angebot der Unternehmen repräsentiert werden. Unter bestimmten Bedingungen garantiert der Wettbewerb Effizienz, was bedeutet, dass kein zusätzlicher Nutzen eines Konsumenten erzielbar ist, ohne zugleich den Nutzen eines anderen Konsumenten zu schmälern. Das trifft auch in einer Welt mit unzähligen Produktionsfaktoren und Produkten zu.
Die zentrale Rolle der Identität von Preis und Grenzkosten In diesem Kapitel wird besonders auf die zentrale Rolle des Wettbewerbs und der Grenzkosten für eine effiziente Ressourcenallokation hingewiesen. Doch die Bedeutung der Grenzkosten reicht weit über den vollständigen Wettbewerb hinaus. Jede Gesellschaft oder Organisation, die danach strebt, ihre Ressourcen möglichst effektiv einzusetzen, orientiert sich an den Grenzkosten, um ihre Produktionseffizienz zu steigern, gleichgültig, ob es sich dabei um eine kapitalistische oder kommunistische Wirtschaft, eine gewinnorientierte oder gemeinnützige Organisation, eine Universität oder eine Kirchengemeinschaft, ja sogar eine Familie handelt.
Teil 2
Die tragende Rolle der Grenzkosten in einer Marktwirtschaft erklärt sich wie folgt: Nur wenn die Preise den Grenzkosten entsprechen, holt diese Wirtschaft den maximalen Output und die größtmögliche Bedürfnisbefriedigung aus ihren knappen Ressourcen an Grund und Boden, Arbeit und Kapital heraus. Erst wenn jedes Unternehmen seine Grenzkosten an die Grenzkosten jedes anderen Unternehmens angleicht, was der Fall ist, wenn alle MC dem marktüblichen Preis entsprechen, erzeugt der gesamte Wirtschaftszweig seinen Gesamtoutput zu geringstmöglichen Gesamtkosten. Und erst wenn der Preis den Grenzkosten aller Unternehmen entspricht, schöpft die Gesellschaft ihr Produktionspotential optimal aus und befindet sich auf ihrer Produktionsmöglichkeitenkurve. Die Grenzkosten als Messlatte für eine effiziente Ressourcenallokation Die Verwendung der Grenzkosten als Messlatte für eine effiziente Ressourcenallokation ist nicht auf gewinnmaximierende Unternehmen beschränkt, sondern lässt sich auf alle wirtschaftlichen Problemstellungen anwenden – ja sogar auf sämtliche Problemstellungen, bei denen Knappheit im Spiel ist. Nehmen wir an, Sie sind davon überzeugt, dass die chinesische Planwirtschaft durch eine Form des Sozialismus mit marktwirtschaftlicher Komponente ersetzt werden sollte. Sie bestehen darauf, dass die sozialistischen Firmen Weizen effizient produzieren müssen. Effizienz setzt voraus, dass die Grenzkosten für Weizen und alle anderen Güter festgelegt werden, bei denen ein – wie auch immer gearteter – Preis den Produktions-Grenzkosten aller landwirtschaftlichen Produktionseinheiten und Unternehmen entspricht. Oder nehmen wir an, Sie werden mit der Lösung eines kritischen Umweltproblems wie der globalen Erwärmung oder des sauren Regens beauftragt. Bald werden Sie feststellen, dass die Grenzkosten einen entscheidenden Einfluss darauf haben, dass Sie Ihre Umweltziele auf eine möglichst effiziente Weise erreichen. Indem
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
Sie sicherstellen,dass die Grenzkosten für die Verringerung der Emissionen oder die Reinigung der Umwelt in allen Sektoren identisch sind, können Sie garantieren, dass Sie Ihre Umweltziele zu den niedrigstmöglichen Kosten erreichen. Wir lernen schnell, dass in einer Welt der Knappheit selbst für hehre Ziele der effizienteste Weg beschritten werden sollte.
Einschränkungen Wir haben nun die Wirkung der unsichtbaren Hand – die beachtlichen Effizienzvorteile von Wettbewerbsmärkten – kennen gelernt. Doch nun müssen wir diese Erkenntnisse einschränken, indem wir auf Mängel des Marktes hinweisen. Es gibt zwei wichtige Bereiche, in denen es Märkten nicht gelingt, ein gesellschaftliches Optimum zu erreichen. Erstens können Märkte in Situationen ineffizient sein, in denen Umweltverschmutzung und andere äußere Faktoren eine Rolle spielen oder in denen Wettbewerb oder Information unvollkommen sind. Zweitens führt die Einkommensverteilung auf Wettbewerbsmärkten bisweilen trotz ihrer Effizienz zu Zuständen, die als sozial nicht wünschenswert oder akzeptabel betrachtet werden müssen. Wir werden diese beiden Punkte in späteren Kapiteln ausführlich besprechen, wollen sie an dieser Stelle aber doch in knapper Form skizzieren.
Marktversagen Worin bestehen die Formen von Marktversagen, die das idyllische Bild, das wir in unserer Diskussion effizienter Märkte gezeichnet haben, trüben? Die wichtigsten sind unvollkommener Wettbewerb, äußere Faktoren und unzulängliche Informationen. Unvollkommener Wettbewerb. Wenn ein Unternehmen in einem bestimmten Markt über eine bestimmte Marktmacht verfügt (sagen wir, es handelt sich um ein Monopol durch
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ein patentiertes Arzneimittel oder ein lokales Elektrizitätsmonopol), kann dieses Unternehmen den Preis seines Produkts über seine Grenzkosten hinaus anheben. Die Konsumenten kaufen von solchen Gütern weniger, als sie es unter Wettbewerbsbedingungen tun würden, und ihre Zufriedenheit sinkt. Dieser Rückgang der Konsumentenzufriedenheit ist für die von einem unvollkommenen Wettbewerb geschaffenen Ineffizienzen typisch. Externalitäten. Auch Externalitäten können wichtige Gründe für Marktversagen sein. Erinnern Sie sich, dass Externalitäten dann ins Spiel kommen, wenn bestimmte Nebeneffekte von Produktion oder Konsum nicht in den Marktpreisen enthalten sind. So kann eine Energiegesellschaft zum Beispiel Schwefeldämpfe in die Atmosphäre blasen, die die benachbarten Häuser und die Gesundheit der Menschen schädigen. Wenn das Unternehmen die Schäden nicht bezahlt, erreicht die Umweltverschmutzung ineffizient hohe Werte, und das Wohlergehen der Konsumenten leidet. Aber nicht alle Externalitäten sind schädlich. Einige sind sogar nützlich, wie zum Beispiel solche, die auf Wissen erzeugenden Aktivitäten beruhen. Als Chester Carlson zum Beispiel das Kopierverfahren erfand, wurde er zum Millionär; aber trotzdem konnte er nur einen winzigen Bruchteil des Nutzens für sich verbuchen, der Millionen von Sekretärinnen, Schülern und Studentinnen zugute kam, denen Milliarden Stunden mühevoller Plackerei erspart blieben. Weitere positive externe Effekte entstehen durch öffentliche Gesundheitsprogramme wie zum Beispiel Impfungen gegen Pocken, Cholera oder Typhus – zumal Impfungen nicht nur die geimpfte Person schützen, sondern auch andere Menschen, die diese Personen andernfalls angesteckt hätte. Unzulängliche Informationen. Eine dritte wichtige Form von Marktversagen ergibt sich aus unzulänglichen Informationen. Die Theorie der unsichtbaren Hand geht davon aus, dass Käufer und Verkäufer über vollständige Informationen hinsichtlich der Güter und
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Dienstleistungen verfügen, die sie kaufen und verkaufen. Es wird angenommen, dass Unternehmen alles über die Produktionsfunktionen wissen, die für den Betrieb in ihrer Branche relevant sind. Man nimmt an, dass die Konsumenten jedes Detail bezüglich der Qualität und der Preise von Gütern kennen – wie zum Beispiel, welche Autos pannenanfällig oder wie sicher und wirksam bestimmte Medikamente oder Angioplastik sind. Es liegt auf der Hand, dass die Realität wenig mit dieser idealisierten Welt gemein hat. Die entscheidende Frage lautet: Welchen Schaden richten Informationen an, die weniger als vollkommen sind? In einigen Fällen fällt der Effizienzverlust nur gering aus. Mir werden kaum große Nachteile entstehen, wenn ich mir ein Schokoladeneis kaufe, das etwas zu süß ist, oder wenn ich die genaue Temperatur des Biers, das aus dem Zapfhahn kommt, nicht kenne. In anderen Fällen ist der Schaden schon größer. Nehmen wir den Fall des Stahlmoguls Eben Byers, der vor hundert Jahren versuchte, seine körperlichen Beschwerden mit Radithor zu kurieren, einem Mittel, das als Aphrodisiakum und Allheilmittel angepriesen wurde. Spätere Analysen ergaben, dass Radithor nichts anderes war als destilliertes Wasser, das mit Radium versetzt war. Byers, dessen Kiefer und andere Knochen sich zersetzten, starb einen jämmerlichen Tod. Auf diese Art unsichtbarer Hand können wir gern verzichten.
Teil 2
Eine der wichtigen staatlichen Aufgaben besteht darin, jene Bereiche zu identifizieren, in denen Informationsdefizite wirtschaftlich signifikant sind – Drogen sind ein Beispiel –, um anschließend entsprechende Abhilfemaßnahmen zu ergreifen.
Die Rolle staatlicher Eingriffe Sollten Regierungen angesichts der möglichen Ineffizienzen und Ungleichheiten des Marktkapitalismus durch Regulierung, korrigierende Besteuerung und Transferzahlungen für die Armen eingreifen? Ist eine Gesellschaft schon dann zufrieden, wenn nur die größtmögliche Menge Brot produziert wird? Oder muss eine moderne Demokratie den Reichen einige Brotwecken wegnehmen und sie an die Armen verteilen? Auf diese Fragen kann es keine „richtigen“ Antworten geben. Es handelt sich um normative Fragen, die am besten auf dem Stimmzettel beantwortet werden. Die positive Ökonomik kann keine Aussage darüber treffen, welche Maßnahmen eine Regierung ergreifen sollte, um die Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten des Marktes zu korrigieren. Aber sie kann wertvolle Erkenntnisse über die potenziellen Ineffizienzen und negativen Nebenwirkungen verschiedener Eingriffe und Maßnahmen liefern, sodass es gelingt, die Ziele einer modernen Gesellschaft möglichst effektiv zu erreichen.
Zusammenfassung A. Das Angebotsverhalten von Unternehmen bei vollständigem Wettbewerb 1.
Ein im vollkommenen Wettbewerb stehendes Unternehmen verkauft ein homogenes Produkt und ist zu klein, um den Marktpreis zu beeinflussen. Ein solches Unternehmen ist bestrebt, seinen Gewinn zu maximieren. Zu diesem Zweck wird es jene Produktionsmenge wählen, bei der der Preis den Produktions-Grenzkosten
2.
entspricht, d.h. P = MC. Im Diagramm ergibt sich das Gleichgewicht eines im vollständigen Wettbewerb stehenden Unternehmens dort, wo die aufsteigende MC-Angebotskurve die horizontale Nachfragekurve schneidet. Die variablen Kosten dienen als Grundlage für die Ermittlung des kurzfristigen Betriebsminimums eines Unternehmens. Unterhalb dieses Minimums übersteigen die Verluste des Unternehmens seine Fixkosten. Es wird daher die Produktion einstellen, sobald der Preis unter den Betriebseinstellungspreis fällt.
Kapitel 8
3.
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
Bei der langfristigen Angebotskurve SLSL eines im vollständigen Wettbewerb stehenden Wirtschaftszweiges müssen der Marktzutritt neuer und das Ausscheiden alter Unternehmen mit berücksichtigt werden. Langfristig laufen alle Geschäftsbeziehungen eines Unternehmens aus. Es bleibt nur dann im Rennen, wenn die Preise zumindest ebenso hoch sind wie die langfristigen Durchschnittskosten. Zu diesen Kosten gehören die Ausgaben für Arbeitskräfte, Kredite, Lieferanten oder Mieten, aber auch die Opportunitätskosten wie mögliche Renditen aus den Vermögenswerten des Unternehmens.
B. Das Angebotsverhalten ganzer Wirtschaftszweige bei vollständigem Wettbewerb 4.
5.
6.
7.
Die ansteigende MC-Kurve jedes Unternehmens entspricht seiner Angebotskurve. Will man die Angebotskurve einer ganzen Gruppe von Unternehmen am Markt ermitteln, müssen ihre jeweiligen Angebotskurven horizontal addiert werden. Die Angebotskurve des Wirtschaftszweiges ist daher zugleich die Grenzkostenkurve für den im vollständigen Wettbewerb stehenden Wirtschaftszweig. Da die Unternehmen ihre Produktionsmenge im Laufe der Zeit anpassen können, unterscheiden wir zwei verschiedene periodenbezogene Betrachtungsweisen: (a) ein kurzfristiges Gleichgewicht, bei dem variable Faktoren wie Arbeit veränderlich sind, fixe Faktoren wie Kapital und die Zahl der Unternehmen hingegen nicht, und (b) ein langfristiges Gleichgewicht, bei dem sich die Anzahl der Unternehmen und Produktionsanlagen sowie alle anderen Bedingungen vollständig an die jeweils neuen Nachfragebedingungen anpassen. Wenn die Unternehmen freien Zutritt zum Markt haben und ebenso frei wieder aus dem Markt ausscheiden können und wenn kein Unternehmen einen spezifischen Vorteil in Bezug auf Know-how oder Standort hat, so sorgt langfristig der Wettbewerb dafür, dass die Unternehmen in der Branche keine überhöhten Gewinne erzielen können. Deshalb impliziert einerseits freies Ausscheiden, dass der Preis nicht unter den Break-even-Punkt fallen kann, und andererseits freier Marktzutritt, dass der Preis im langfristigen Gleichgewicht die langfristigen Durchschnittskosten nicht überschreiten kann. Wenn ein Wirtschaftszweig einfach durch Vervielfachung seiner Produktion expandieren
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kann, ohne die Preise seiner Produktionsfaktoren in die Höhe zu treiben, verläuft die daraus resultierende Angebotskurve horizontal. Wenn ein Wirtschaftszweig branchenspezifische Produktionsfaktoren wie knappe Strandgrundstücke einsetzt, weist seine Angebotskurve langfristig einen positiven Anstieg auf.
C. Sonderfälle von Wettbewerbsmärkten 8. Erinnern Sie sich an die allgemeinen Regeln, die für Angebot und Nachfrage unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs gelten: Nach der Nachfrageregel führt ein Anstieg der Nachfrage nach einem Gut (bei unveränderter Angebotskurve) normalerweise dazu, dass der Preis des Gutes ebenso steigt wie die nachgefragte Menge. Ein Rückgang der Nachfrage hat die gegenteilige Wirkung. Nach der Angebotsregel führt ein Anstieg des Angebots eines Gutes (bei unveränderter Nachfragekurve) normalerweise dazu, dass der Preis des Gutes ebenso sinkt wie die verkaufte Menge. Ein Angebotsrückgang hat den gegenteiligen Effekt. 9. Wichtige Sonderfälle sind konstante und steigende Kosten, ein vollkommen unelastisches Angebot (das zu einer volkswirtschaftlichen Rente führt) und eine rückwärts gekrümmte Angebotskurve. Diese Sonderfälle erklären viele wichtige Marktphänomene.
D. Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit auf Wettbewerbsmärkte 10. Die Analyse vollkommener Märkte zeigt die Regeln der effizienten Organisation einer Gesellschaft auf. Allokationseffizienz ist gegeben, wenn keine Möglichkeit besteht, Produktion und Verteilung so umzugestalten, dass dadurch das Befriedigungsniveau aller steigen würde. Anders ausgedrückt: Allokationseffizienz besteht, wenn es keinem Einzelnen besser gehen kann, ohne dass dadurch zugleich ein anderer schlechter gestellt wird. 11. Unter idealen Bedingungen erreicht eine Wettbewerbswirtschaft Allokationseffizienz. Effizienz setzt voraus, dass alle Unternehmen im vollkommenen Wettbewerb stehen und dass keine externen Effekte wie Umweltverschmutzung oder bessere Informationen vorhanden sind. Effizienz bedeutet, dass die volkswirtschaftliche Rente maximiert wird, wobei die
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
volkswirtschaftliche Rente der Konsumentenrente plus der Produzentenrente entspricht. 12. Effizienz ist gegeben, weil (a) der Grenznutzen (in Freizeit ausgedrückt) jeweils dem Preis entspricht, wenn die Konsumenten ihre Bedürfnisbefriedigung maximieren; (b) konkurrierende Produzenten Güter anbieten und dabei die Produktionsmenge so wählen, dass die Grenzkosten genau dem Preis entsprechen; (c) MU = P und MC = P gilt und daraus folgt, dass MU = MC. So entsprechen die sozialen Grenzkosten für die Produktion eines Gutes unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs genau der Bewertung ihres Grenznutzens in Form von Gütern oder Freizeit, auf die verzichtet wird. Und genau diese Bedingung, wonach der Grenzgewinn für die Gesellschaft aus der letzten konsumierten Einheit den Grenzkosten der Gesellschaft für diese letzte produzierte Einheit entspricht, ist es, die uns garantiert, dass ein Wettbewerbsgleichgewicht effizient ist. 13. Die Bedingungen, unter denen ein effizientes Wettbewerbsgleichgewicht erreicht werden
kann, sind stark eingeschränkt: Es darf keine externen Effekte und keinen unvollkommenen Wettbewerb geben, und Konsumenten und Produzenten müssen über vollständige Informationen verfügen. Die Existenz von Unvollkommenheiten führt zu einem Zusammenbruch der Bedingung Preisverhältnis = Grenzkostenverhältnis = Grenznutzenverhältnis und damit zu Ineffizienz. 14. Die Auswirkungen vollkommener Märkte können auch bei größter Effizienz bisweilen sozial unerwünscht sein. Wettbewerbsmärkte sorgen nicht unbedingt für eine Situation, in der die Ideale einer Gesellschaft hinsichtlich gerechter Einkommensverteilung und Konsummöglichkeiten verwirklicht sind. Gesellschaften können das Laissez-faire-Gleichgewicht so modifizieren, dass auf die Einkommensverteilung Einfluss genommen wird, um auf diese Weise eine wahrgenommene Ungerechtigkeit der Kaufkraft auszugleichen.
Begriffe zur Wiederholung Angebot unter Bedingungen vollständigen Wettbewerbs P = MC als Bedingung für Gewinnmaximum ss-Angebots- und MC-Kurve eines Unternehmens Break-even-Bedingung, wobei P = MC = AC Betriebsminimum, wobei P = MC = AVC Summierung der individuellen ss-Kurven, um die Branchen-SS-Kurve zu erhalten Kurz- und langfristiges Gleichgewicht Bedingung, unter der der Gewinn langfristig gegen null tendiert Produzentenrente + Konsumentenrente = volkswirtschaftliche Rente Effizienz = Maximierung der volkswirtschaftlichen Rente
Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit Allokationseffizienz, Pareto-Effizienz Bedingung für Allokationseffizienz: MU = P = MC Effizienz vollkommener Märkte Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit
Teil 2
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
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Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Effizienz des vollkommenen Wettbewerbs ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der Mikroökonomie. Werke zur Mikroökonomie für fortgeschrittene Leser wie die in Kapitel 4 aufgelisteten Titel erläutern die grundlegenden Erkenntnisse. Kenneth Arrow, John Hicks und Gerard Debreu erhielten den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Beiträge zur Entwicklung der Theorie des vollkommenen Wettbewerbs und seiner Beziehung zur wirtschaftlichen Effizienz. Ihre Arbeiten zu diesem Thema, enthalten in Assar Lindbeck, Nobel Lectures in Economics (University of Stockholm, 1992), sind überaus nützlich. Zitate dieser Ökonomen finden sich auch auf der unten aufgelisteten Website der Nobelpreisträger. Deutschsprachige Fachliteratur: Gerd Aberle: Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, 2. überarb. Aufl. (Kohlhammer, Stuttgart, 1992); Peter Oberender (Hrsg.), Effizienz und Wettbewerb (Duncker & Humblot, Berlin, 2005).
Übungen 1.
2.
Erklären Sie, warum jede der folgenden Aussagen über Unternehmen, die ihren Gewinn maximieren wollen und im Wettbewerb stehen, falsch ist. Formulieren Sie jede Aussage neu, indem Sie sie korrigieren: a. Ein Unternehmen strebt bei vollständigem Wettbewerb nach einer Produktionsmenge, bei der der Preis den durchschnittlichen variablen Kosten entspricht. b. Das Betriebsminimum eines Unternehmens liegt dort, wo der Preis unter das Durchschnittskostenminimum absinkt. c. Die Angebotskurve eines Unternehmens hängt nur von seinen Grenzkosten ab. Jedes andere Kostenkonzept ist für die Angebotsentscheidung irrelevant. d. Die Regel P = MC für Wirtschaftszweige im vollständigen Wettbewerb gilt für MC-Kurven mit positiver, horizontaler und negativer Steigung. e. Das Unternehmen setzt bei vollständigem Wettbewerb seinen Preis auf Höhe seiner Grenzkosten fest. Nehmen wir an, Sie sind ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb, das Computerchips produziert. Ihre Produktionskapazität beträgt 1.000 Einheiten pro Jahr. Ihre Grenzkosten belaufen sich auf US-$ 10 pro Chip bis zur Kapazitätsauslastung. Ihre Fixkosten betragen US-$ 10.000, wenn die Produktion positiv ist, und US-$ 0, wenn Sie Ihr Werk schließen. Wie hoch sind Ihre gewinnmaximierenden Produktionsmengen und der Gewinn bei einem Marktpreis von (a) US-$ 5 pro Chip, (b) US-$ 15
3.
4.
pro Chip und (c) US-$ 25 pro Chip? Erklären Sie für Fall (b), warum die Produktion positiv ist, obgleich Sie einen negativen Gewinn verzeichnen. Eine der wichtigsten Regeln der Volkswirtschaft, aber auch der Wirtschaft und des Lebens überhaupt, ist das Prinzip der versunkenen Kosten, etwa nach dem Motto: „Was vorbei ist, ist vorbei.“ Diese Maxime soll besagen, dass versunkene Kosten (versunken in dem Sinn, dass sie unwiederbringlich verloren sind) im Zuge neuer Entscheidungen zu ignorieren sind. Will man rationale Entscheidungen treffen, sollten nur zukünftige Kosten, und zwar unter Einbeziehung der Grenz- und variablen Kosten, Berücksichtigung finden. Um das zu verstehen, überlegen Sie Folgendes: Wir können die Fixkosten in Tabelle 8-1 als Kostenniveau bei einer Produktionsmenge von null berechnen. Wie hoch sind die Fixkosten? Bei welcher Produktionsmenge für das Unternehmen in Tabelle 8-1 können wir von Gewinnmaximierung sprechen, wenn der Preis US-$ 40 beträgt und die Fixkosten bei US-$ 0 liegen? US$ 55.000? US-$ 100.000? US-$ 1.000.000.000? Minus US $ 30.000? Erklären Sie die Implikationen, die sich ergeben, wenn ein Unternehmen darüber zu entscheiden hat, ob es schließen sollte. Untersuchen Sie die Kostendaten in Tabelle 8-1. Berechnen Sie die Angebotsentscheidung eines gewinnmaximierenden Unternehmens unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs, wenn der Preis US-$ 21, US-$ 40 und
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6.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
US-$ 60 beträgt. Wie hoch wäre für jeden der drei Preise der Gesamtgewinn? Was würde sich langfristig bei jedem der drei genannten Preisniveaus in Bezug auf den Neueintritt oder das Ausscheiden von identischen Unternehmen ergeben? Berechnen Sie bitte anhand der Kostendaten aus Tabelle 8-1 die Preiselastizität des Angebots zwischen P = 40 und P = 40,02 für das einzelne Unternehmen. Legen Sie dabei die Annahme zugrunde, dass es 2.000 identische Unternehmen gibt, und erstellen Sie eine Tabelle, die das Angebot des Wirtschaftszweiges angibt. Wie ist die Preiselastizität des Angebots für den gesamten Wirtschaftszweig bei P = 40 und P = 40,02? Studieren Sie Abbildung 8-12, und Sie werden erkennen, dass der Mitbewerber C überhaupt nichts produziert. Erklären Sie, warum die Produktionsmenge, bei der Unternehmen C seinen Gewinn maximiert, bei qc = 0 liegt. Wie würden sich die Produktionskosten für den gesamten Wirtschaftszweig entwickeln, würde Unternehmen C 1 Einheit produzieren, Unternehmen B jedoch 1 Einheit weniger als die Produktionsmenge unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs? Nehmen wir an, Unternehmen C sei ein kleiner Tante-Emma-Laden. Warum wird C von den Supermärkten A und B vom Markt verdrängt? Wie stehen Sie zu der Frage, ob Unternehmen C auf dem Markt bleiben soll? Welche volkswirtschaftlichen Folgen hätte es, würde der Staat über gesetzliche Bestimmungen den Markt zu gleichen Teilen auf den Tante-EmmaLaden und die Supermärkte A und B aufteilen? Häufig hängt die Nachfrage der Konsumenten nach einem Gut von der Nutzung dauerhafter Güter ab, beispielsweise in den Bereichen Wohnen oder Transport. Dann zeigt die Nachfrage ein mit dem Zeitablauf unterschiedliches Reaktionsmuster, ähnlich dem Angebotsmuster. Ein gutes Beispiel dafür ist Benzin. Kurzfristig ist der Automobilbestand fix, während die Konsumenten langfristig auch neue Autos oder Fahrräder kaufen können. Welche Beziehung besteht zwischen Kurz- oder Langfristigkeit und der Preiselastizität der Nachfrage für Benzin? Skizzieren Sie die kurzund langfristigen Nachfragekurven für Benzin. Zeigen Sie die Auswirkung eines Rückgangs des Benzinangebots in beiden Perioden. Beschreiben Sie die Auswirkung einer Ölknappheit auf den Benzinpreis und die nachgefragte Menge sowohl auf kurze als auch auf lange Sicht. Beschreiben Sie zwei neue Nachfrageregeln (c) und (d) parallel zu den im allgemeinen
Teil 2
Abschnitt von Punkt C oben diskutierten Angebotsregeln, die die lang- und kurzfristigen Auswirkungen einer Angebotsverschiebung auf Preis und Menge in Beziehung setzen. 8. Interpretieren Sie folgenden Dialog: A: „Wie ist es möglich, dass der Gewinn unter Wettbewerbsbedingungen langfristig bei null liegt? Wer, um alles in der Welt, arbeitet umsonst?“ B: „Durch den Wettbewerb werden nur übermäßige Gewinne verhindert. Bei einem Gleichgewicht und unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs wird das Management für seine Arbeit bezahlt, und auch die Eigentümer erhalten ihre normale Kapitalrendite – nicht mehr und nicht weniger.“ 9. Stellen Sie sich drei Unternehmen vor, die Schwefel in den kalifornischen Himmel blasen. Wir bezeichnen die Umweltschutz- oder Schadstoffverringerungseinheiten als Angebot. Jedes Unternehmen verfügt über einen Kostensenkungsplan, und wir sagen, dass diese Pläne durch die MC-Kurven der Unternehmen A, B und C in Abbildung 8-12 dargestellt werden. a. Interpretieren Sie das „Markt“-Angebot (den in der Mitte von Abbildung 8-12 dargestellten MC-Plan) zur Senkung der Schwefelemissionen. b. Unterstellen Sie, die Umweltschutzbehörde würde beschließen, dass eine Schadstoffreduktion um 10 Einheiten anzustreben ist. Wie sieht die effiziente Allokation von Umweltschutzmaßnahmen zwischen den drei Unternehmen aus? c. Nehmen wir an, die Umweltschutzbehörde würde beschließen, dass die ersten beiden Unternehmen jeweils eine Schadstoffsenkung von 5 Einheiten vorzunehmen haben. Wie hoch sind die dadurch entstehenden Zusatzkosten? d. Nehmen wir an, dass die Umweltschutzbehörde eine „Umweltschutzgebühr“ festlegt, um den Schadstoffausstoß auf 10 Einheiten zu reduzieren. Können Sie anhand von Abbildung 8-12 bestimmen, wie hoch diese Gebühr sein müsste? Können Sie sagen, wie jedes Unternehmen darauf reagieren würde? Wären die daraus abzuleitenden Umweltschutzmaßnahmen effizient? e. Erklären Sie die Bedeutung der Grenzkosten für die effiziente Eindämmung der Umweltverschmutzung anhand dieses Falles. 10. In jedem Wettbewerbsmarkt, wie ihn Abbildung 8-11 darstellt, bildet der Bereich oberhalb der Marktpreislinie und unterhalb der DD-Kur-
Kapitel 8
Analyse des Marktes bei vollkommenem Wettbewerb
ve die Konsumentenrente (siehe Diskussion in Kapitel 5). Der Bereich oberhalb der SS-Kurve und unterhalb der Preislinie ist die Produzentenrente und entspricht für die Unternehmen der Branche oder die Eigentümer spezieller Inputs in die Branche den Gewinnen plus Rente. Die Summe der Produzenten- und Konsumentenrente ist die volkswirtschaftliche Rente, die den Nettobeitrag des betreffenden Gutes zum Nutzen über die Produktionskosten hinaus misst. Können Sie eine Produktionsumstrukturierung beschreiben, die die volkswirtschaftliche Rente von Abbildung 8-11 im Vergleich zum Wettbewerbsgleichgewicht in Punkt E erhöhen würde? Wenn Ihnen das nicht gelingt, ist das Gleichgewicht allokationseffizient (oder Pareto-effizient). Definieren Sie den Begriff „Allokationseffizienz“, beantworten Sie dann die Frage und erklären Sie Ihre Antwort.
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KAPITEL 9 Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Das Beste an Monopolgewinnen ist ein ruhiges Leben. J. R. Hicks
Der vollständige Wettbewerb ist ein idealisierter Markt, bestehend aus atomistischen Firmen, die Preisnehmer sind. Solche Firmen sind zwar leicht zu analysieren, aber schwer zu finden. Wenn Sie sich einen Ford oder einen Toyota kaufen, wenn Sie Ihre Hamburger von McDonald's oder Wendy's oder Ihren Computer von Dell oder Apple beziehen, haben Sie es in jedem Fall mit Unternehmen zu tun, die groß genug sind, um Einfluss auf den Marktpreis zu nehmen. Die meisten Märkte in unserer Wirtschaft werden von einer Handvoll großer Unternehmen, häufig sogar von nur zwei oder drei Unternehmen, dominiert. Willkommen also in der Welt, in der wir leben, der Welt des unvollständigen Wettbewerbs.
A. Die Formen des unvollständigen Wettbewerbs Die wichtigsten Formen des unvollständigen Wettbewerbs sind Monopol, Oligopol und monopolistischer Wettbewerb. Wir werden sehen, dass unter den Bedingungen unvollständigen Wettbewerbs bei gegebener Technologie die Preise höher und die Produktionsmengen geringer ausfallen als im vollständigen Wettbewerb. Aber Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb haben neben diesen Lastern auch Tugenden. Große Unternehmen nutzen in ihrer Produktion Skaleneffekte und können sich einen Großteil jener Innovationen zugute halten, die das langfristige Wirtschaftswachstum ankurbeln. Wenn Sie die Funktionsweise von Märkten mit unvollständigem Wettbewerb begreifen, verstehen Sie schon eine Menge von der modernen industriellen Wirtschaft. Was genau meinen wir mit vollständigem Wettbewerb? Sie haben bereits erfahren, dass ein vollkommener Wettbewerbsmarkt
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
ein Markt ist, auf dem jedes einzelne Unternehmen zu klein ist, um Einfluss auf den Marktpreis nehmen zu können. Nach dieser doch eher strengen Definition sind nur wenige Märkte der amerikanischen Wirtschaft vollkommene Wettbewerbsmärkte. Denken Sie nur an Flugzeuge, Aluminium, Autos, Computersoftware, Frühstücksflocken, Kaugummi, Zigaretten, Stromversorgung, Kühlschränke oder Weizen. Wie viele der genannten Güter werden auf vollkommenen Märkten angeboten? Flugzeuge, Aluminium oder Autos ganz sicherlich nicht. Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es überhaupt nur einen einzigen Aluminiumproduzenten in den USA – nämlich Alcoa. Aber auch heute produzieren die vier größten US-Produzenten drei Viertel des gesamten in den USA erzeugten Aluminiums. Der internationale Markt für Flugzeuge in der Zivilluftfahrt wird von nur zwei Unternehmen, nämlich Boeing und Airbus, kontrolliert. Auch in der Automobilindustrie geben die Großen Fünf (darunter Toyota und Honda) mit beinahe 80 Prozent der amerikanischen Produktion im Bereich PKW und Klein-LKW den Ton an. In der Softwareindustrie vollziehen sich gigantische Innovationen, und doch stammen die meisten Softwareanwendungen von der Steuerbuchhaltung bis zur Textverarbeitung von einigen wenigen dominierenden Marktteilnehmern. Wie steht es aber um die Wirtschaftsgüter Frühstücksflocken, Kaugummi, Zigaretten und Kühlschränke? Diese Märkte werden von relativ wenigen Unternehmen sogar noch stärker dominiert. Aber auch der Strommarkt entspricht keinesfalls der Definition des vollständigen Wettbewerbs. An den meisten Orten verkauft ein einziger Versorgungsbetrieb den gesamten Strom für die ansässige Bevölkerung. Den wenigsten von uns wird es wirtschaftlich sinnvoll erscheinen, eine Windmühle zu bauen, um selbst Strom zu erzeugen! Bei Betrachtung unserer Güterliste stellen wir fest, dass nur Weizen der strengen Definition des vollständigen Wettbewerbs entspricht. Alle anderen Güter, von Autos bis hin zu Zigaretten, bestehen den Wettbe-
Teil 2
werbstest nicht, und zwar aus einem einfachen Grund: Einige wenige Unternehmen der Branche können den Marktpreis durch Steuerung der Verkaufsmengen beeinflussen. Um es anders auszudrücken: Sie kontrollieren in einem gewissen Ausmaß den Preis der von ihnen erzeugten Güter.
Definition des unvollständigen Wettbewerbs Ein Unternehmen, das den Marktpreis für seine Produktion spürbar beeinflussen kann, wird als „Marktteilnehmer im unvollständigen Wettbewerb“ bezeichnet. Unvollständiger Wettbewerb herrscht in einem Wirtschaftszweig immer dann, wenn einzelne Anbieter ein gewisses Maß an Kontrolle über den Preis ihrer Produkte ausüben. Unvollständiger Wettbewerb bedeutet nicht, dass ein Unternehmen die absolute Kontrolle über den Preis seines Produkts hat. Nehmen wir etwa den Markt für Erfrischungsgetränke, auf dem Coca-Cola und Pepsi zusammen den größten Marktanteil besitzen und auf dem ganz offensichtlich ein unvollständiger Wettbewerb herrscht. Wenn der gängige Preis der Erfrischungsgetränke anderer Produzenten 75 Cents beträgt, kann Pepsi den Dosenpreis problemlos mit 70 oder 80 Cents festsetzen, ohne dass dies das Unternehmen gefährdet. Ein Preis von US-$ 40 oder 5 Cents pro Dose wäre natürlich nicht möglich, da sich das Unternehmen damit die wirtschaftliche Grundlage entziehen würde. Das führt uns zu dem Schluss, dass ein Unternehmen bei unvollständigem Wettbewerb einen gewissen Einfluss auf die Preise seiner Produkte hat, nicht aber die vollständige Kontrolle über sie. Zusätzlich hängt das Ausmaß der Preiskontrolle vom jeweiligen Wirtschaftszweig ab. In manchen Branchen mit unvollständigem Wettbewerb erscheint die Macht der Monopole sehr gering. Im Computer-Einzelhandel beispielsweise entscheiden oft schon einige
Kapitel 9
247
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
wenige Prozentpunkte Preisunterschied über den Verkaufserfolg eines Unternehmens. Auf dem Markt für Betriebssysteme verfügt Microsoft hingegen über ein faktisches Monopol und kann dadurch starken Einfluss auf den Preis für seine Windows-Software nehmen. Grafische Darstellung. In Abbildung 9-1 sind die unterschiedlichen Nachfragekurven von im vollständigen und im unvollständigen Wettbewerb stehenden Unternehmen grafisch dargestellt. Abbildung 9-1(a) erinnert uns daran, dass sich ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb einer horizontalen Nachfragekurve gegenüber sieht, was bedeutet, dass es jede gewünschte Menge zum gängigen Marktpreis verkaufen kann. Ein Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb hat es hingegen mit einer abwärts geneigten Nachfragekurve zu tun. Wie wir in Abbildung 9-1(b) sehen, drückt ein Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb den Marktpreis für sein Produkt, wenn es seinen Umsatz
ausweitet, weil es zu einer Abwärtsbewegung auf seiner Nachfragekurve dd kommt. Wir können den Unterschied zwischen vollständigem und unvollständigem Wettbewerb auch anhand der Preiselastizität feststellen. Die Nachfrage bei einem Unternehmen im vollständigen Wettbewerb ist vollkommen elastisch. Bei einem Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb ist die Elastizität begrenzt. Misst man genau nach, so zeigt sich, dass die Preiselastizität in Punkt B von Abbildung 9-1(b) bei etwa 2 liegt.
Formen unvollständigen Wettbewerbs Eine reife industrielle Wirtschaft wie jene in den Vereinigten Staaten muss man sich wie einen Dschungel voller unterschiedlicher Formen der Spezies unvollständiger Wettbewerbsteilnehmer vorstellen. Die Dynamik der PC-Branche, hervorgerufen durch rapide (b) Nachfragekurve eines Unternehmens im unvollständigen Wettbewerb
(a) Nachfragekurve eines Unternehmens unter Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs
P
d
0
Preis (US-$ pro Einheit)
Preis (US-$ pro Einheit)
P
d
q Produktionsmenge des Unternehmens
d′
d
B
d d′ 0
q
Produktionsmenge des Unternehmens
Abbildung 9-1: Der Lackmustest für unvollständige Wettbewerbsbedingungen ist die abwärts geneigte Nachfragekurve des Unternehmens (a) Das Unternehmen im vollständigen Wettbewerb kann entlang seiner horizontalen dd-Kurve jede beliebige Menge verkaufen, ohne den Marktpreis zu drücken. (b) Das Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb muss hingegen feststellen, dass seine Nachfragekurve abwärts gerichtet ist, wenn höhere Preise den Umsatz senken. Und sofern es sich bei einem solchen Unternehmen nicht um einen geschützten Monopolisten handelt, wird eine Preissenkung bei der Konkurrenz die eigene Nachfragekurve merklich nach links (nach d'd') verschieben.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
technologische Fortschritte bei Computern, unterscheidet sich deutlich von den Wettbewerbsmustern der weniger lebendigen Bestattungsbranche. Trotzdem kann man einiges über einen Wirtschaftszweig erfahren, indem man genau auf die Marktstruktur achtet, insbesondere auf Anzahl und Größe der Anbieter und darauf, welchen Prozentsatz dieses Marktes der größte Anbieter kontrolliert. Ökonomen teilen unvollständige Wettbewerbsmärkte nach der jeweiligen Marktstruktur in drei unterschiedliche Kategorien ein.
Teil 2
Aber selbst Monopolisten müssen sich dann und wann dem Wettbewerb stellen. Manch ein Pharmaunternehmen stellt fest, dass ein Konkurrent ein ganz ähnliches Medikament auf den Markt gebracht hat; Handys machen dem traditionellen Telefon Konkurrenz, und Bill Gates muss stündlich damit rechnen, dass hinter dem nächsten Busch eine kleine Firma hervorspringt, die nur darauf wartet, Microsoft aus dem bequemen Monopolsattel zu werfen. Langfristig ist kein Monopol vor den Angriffen von Mitbewerbern gefeit.
Monopol Wie unvollständig kann der unvollständige Wettbewerb eigentlich werden? Den Extremfall stellt das Monopol dar: ein einzelner Anbieter, der die uneingeschränkte Kontrolle über eine Branche innehat. (Er wird „Monopolist“ genannt, ein Wort, das sich vom griechischen mono „eins“ und polist „Verkäufer“ ableitet.) Er ist der einzige Produzent in seiner Branche, und es gibt keinen verwandten Wirtschaftszweig, der ein vergleichbares Substitutionsgut erzeugen würde. Echte Monopolisten sind heute kaum mehr zu finden. Im typischen Fall verdanken sie ihre Existenz dem Schutz des Staates. So erhält beispielsweise ein Pharmaunternehmen, das ein neues Wundermedikament entdeckt, ein Patent, das es für einige Jahre zum alleinigen Anbieter dieses Medikaments macht. Ein weiteres wichtiges Beispiel für Monopole sind lokale Versorgungsbetriebe, wie zum Beispiel das Unternehmen, das Ihren Haushalt mit Wasser versorgt. Hier haben wir es tatsächlich mit einem einzigen Anbieter einer Dienstleistung zu tun, für die keine entsprechenden Substitutionsleistungen zur Verfügung stehen. Eines der wenigen Beispiele eines Monopols ohne staatlichen Schutz ist Microsoft Windows, dem es gelungen ist, seine Monopolstellung durch den Aufbau von Netzwerken sowie durch raue (und bisweilen illegale) Taktiken gegen seine Konkurrenten zu behaupten.
Oligopol Der Terminus Oligopol bedeutet „wenige Anbieter“. In diesem Zusammenhang kann „wenige“ eine Zahl zwischen zwei und etwa zehn bis 15 Unternehmen bedeuten. Ein Oligopol ist dadurch gekennzeichnet, dass jedes einzelne Unternehmen Einfluss auf den Marktpreis nehmen kann. In der Luftfahrt kann die Entscheidung einer einzigen Fluglinie, ihre Ticketpreise zu senken, einen Preiskrieg auslösen, der auch zu einer Senkung der Flugpreise aller Konkurrenten führt. Oligopolistische Wirtschaftszweige sind in der amerikanischen Wirtschaft häufig anzutreffen, vor allem in den Bereichen Produktion, Transport und Kommunikation. So gibt es beispielsweise nur einige wenige Autohersteller, obwohl diese zahlreiche verschiedene Modelle verkaufen. Dasselbe gilt für den Haushaltsgerätemarkt: Die Läden sind voll von zahlreichen verschiedenen Kühlschrankund Geschirrspülermodellen, die jedoch von einigen wenigen Herstellern produziert werden. Es mag Sie überraschen zu hören, dass auch die Branche der Frühstücksflocken-Produzenten ein Oligopol darstellt, obwohl man doch meinen könnte, dass eine Unzahl verschiedener Frühstücksflocken auf dem Markt angeboten wird.
Kapitel 9
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Monopolistischer Wettbewerb Im Fall dieser letzten Kategorie unvollständigen Wettbewerbs, zumeist als monopolistischer Wettbewerb bezeichnet, produziert eine Vielzahl an Herstellern eine große Zahl an differenzierten Produkten. Diese Marktstruktur hat viele Züge des vollständigen Wettbewerbs, weil zahlreiche Anbieter auftreten, von denen keiner einen größeren Marktanteil besitzt. Sie unterscheidet sich allerdings auch vom vollständigen Wettbewerb, weil die von den verschiedenen Unternehmen angebotenen Produkte nicht identisch sind. Differenzierte Produkte sind solche, deren Hauptmerkmale variieren. PCs unterscheiden sich zum Beispiel in Bezug auf Geschwindigkeit, Speicher, Festplatte, Modem, Größe oder Gewicht. Da Computer differenziert sind, können sie zu leicht unterschiedlichen Preisen verkauft werden. Der klassische Fall eines monopolistischen Wettbewerbs ist das Tankstellen-Vertriebssystem. Vielleicht fahren Sie ja immer wieder zu Ihrer lokalen Shell-Tankstelle, obwohl diese ein wenig teurer ist, einfach weil sie auf Ihrem Weg zur Arbeit liegt. Sollte jedoch der Preis bei Shell so anziehen, dass er um mehr als ein paar Cent über dem des Konkurrenten Merit liegt, werden Sie schließlich doch zu Merit wechseln, auch wenn das einen kleinen Umweg bedeutet. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig der Standort bei der Produktdifferenzierung ist. Es dauert seine Zeit, zur Bank oder in den Supermarkt zu gehen, und der Zeitaufwand für die Erreichung der einzelnen Geschäfte beeinflusst unsere Kaufentscheidungen. Der Gesamtpreis eines Gutes beinhaltet nicht nur seinen Geldpreis, sondern auch die Opportunitätskosten von Suche, Fahrtzeit und anderen nicht in Geldeinheiten ausdrückbaren Kosten. Da die Gesamtpreise lokaler Güter niedriger sind als die Preise von Gütern entlegener Orte, kaufen die Leute normalerweise in der Nähe ihres Wohn- oder Arbeitsortes. Diese Überlegung erklärt auch, warum große Einkaufszentren so beliebt sind: Hier finden die Konsumenten eine breite Palette von
249
Gütern und sparen gleichzeitig Einkaufszeit. Einkaufen im Internet erfreut sich zunehmender Beliebtheit, denn der Zeitaufwand für den Online-Kauf kann selbst unter Berücksichtigung der Versandkosten sehr niedrig sein, vergleicht man ihn mit dem Zeitaufwand dafür, sich ins Auto zu setzen oder zu Fuß zum nächsten Laden zu gehen. Die Produktqualität ist heute ein zunehmend wichtiger Bestandteil der Produktdifferenzierung. Die Güter unterscheiden sich in ihren Merkmalen und in ihren Preisen. Heute läuft auf den meisten PCs dieselbe Software, und auf dem Markt gibt es zahlreiche Anbieter. Trotzdem herrscht in der PCBranche ein monopolistischer Wettbewerb, weil sich die Computer bezüglich Rechengeschwindigkeit, Größe, Speicher, Reparaturservice und Ergänzungen wie CDs, DVDs, Internetverbindungen und Soundsystemen unterscheiden. Es gibt eine ganze Menge im monopolistischen Wettbewerb stehende Computermagazine, die ihre Aufgabe darin sehen, die Unterschiede zwischen den Computern herauszuarbeiten, die von im monopolistischen Wettbewerb stehenden Herstellern produziert werden! Wettbewerb und Konkurrenz Beim Studium von Oligopolen ist es wichtig zu erkennen, dass ein unvollständiger Wettbewerb nicht dasselbe ist wie die Abwesenheit von Wettbewerb. Wirklich harte Konkurrenz findet man gerade auf Märkten, auf denen es nur wenige konkurrierende Unternehmen gibt. Betrachten Sie doch etwa den mörderischen Konkurrenzkampf zwischen den Fluglinien, wo häufig nur zwei oder drei Linien eine bestimmte Destination anfliegen, die sich aber trotzdem in regelmäßigen Abständen einen erbitterten Preiskrieg liefern. Wie können wir die Rivalität von Oligopolisten vom vollständigen Wettbewerb unterscheiden? Konkurrenz umfasst ein breites Spektrum an Verhaltensweisen zur Erhöhung von Gewinnen und Marktanteilen. Sie umfasst Werbung, um die Nachfrage-
250
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
kurve nach außen zu verschieben, Preissenkungen, um das Geschäft anzukurbeln, und Studien zur Verbesserung der Produktqualität oder zur Entwicklung neuer Produkte. Der vollkommene Wettbewerb sagt nichts über Konkurrenz aus, sondern bedeutet nur, dass kein einzelnes Unternehmen der Branche den Marktpreis beeinflussen kann. Tabelle 9-1 zeichnet ein Bild der verschiedenen möglichen Kategorien unvollständigen und vollständigen Wettbewerbs. Sie stellt eine wichtige Zusammenfassung der unterschiedlichen Marktstrukturen dar, und es empfiehlt sich, sie gründlich zu studieren.
Teil 2
Ursachen für die Unvollkommenheiten des Marktes Warum stellen wir in bestimmten Wirtschaftszweigen einen nahezu vollständigen Wettbewerb fest, während andere Branchen von einer Handvoll Unternehmen kontrolliert werden? Die meisten Fälle unvollständigen Wettbewerbs lassen sich auf zwei wesentliche Gründe zurückführen. Erstens gibt es in einem Wirtschaftszweig tendenziell weniger Anbieter, wenn Skaleneffekte und eine damit einhergehende Kostensenkung in der
Verschiedenartige Marktstrukturen Struktur Anzahl der Produ- Teil der WirtAusmaß der zenten und Ausschaft, in dem Preiskontrolle maß der Produkt- die entsprechende durch das differenzierung Struktur Unternehmen vorherrscht Vollständiger Viele Produzenten, Finanzmärkte und Nicht gegeben Wettbewerb identische landwirtschaftProdukte liche Produkte Unvollständiger Wettbewerb MonopolisViele Produzenten; Einzelhandel tischer viele echte oder (Pizza, Bier, …), Wettbewerb empfundene Un- PCs terschiede zwischen Produkten Oligopol Wenige Produzen- Stahl, Chemikalien Gering ten, geringer oder kein Unterschied zwischen Produkten Wenige Produzen- Autos, Textverten, eine gewisse arbeitungsProduktdifferensoftware zierung Monopol Ein einziger Produ- Lizenzmonopole Beträchtlich zent; Produkt (Strom, Wasser); ohne nahe Substi- Microsoft Wintutionsgüter dows; patentierte Arzneimittel
Vermarktungsstrategien
Marktaustausch oder Auktion
Werbung und Wettbewerb über die Qualität; Preisfestsetzung
Werbung
Tabelle 9-1: Verschiedenartige Marktstrukturen In den meisten Branchen herrscht unvollkommener Wettbewerb. Hier finden Sie die wichtigsten Kennzeichen der verschiedenen Marktstrukturen.
Kapitel 9
Produktion eine besondere Bedeutung haben. Unter diesen Bedingungen können große Unternehmen einfach billiger produzieren und damit die Kleinen unterbieten, die das häufig nicht überleben. Zweitens tendieren Märkte zum unvollständigen Wettbewerb, wenn neue Mitbewerber „Zutrittsbarrieren“ überwinden müssen. Eine so genannte „Marktzutrittsbarriere“ kann durch gesetzliche Vorschriften oder durch Reglementierung geschaffen werden, wodurch die Zahl der Bewerber begrenzt wird. In anderen Fällen mag es wirtschaftliche Faktoren geben, die es für neue Mitbewerber teuer machen, auf einem Markt
Branche Bierbrauereien
Zigaretten Glasflaschen
Zement Kühlschränke Erdöl
251
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Fuß zu fassen. Wir werden beide Ursachen des unvollständigen Wettbewerbs aber noch näher untersuchen.
Kosten und Marktunvollkommenheit Technologie und Kostenstruktur eines Wirtschaftszweiges können die Feststellung erleichtern, wie viele Unternehmen in dieser Branche ein Auskommen finden und wie groß sie sein werden. Die entscheidende Frage lautet, welche Bedeutung Skaleneffekte in einem bestimmten Wirtschaftszweig haben. Kommen Skaleneffekte zum Tragen, kann ein Unternehmen seine Durchschnittskosten
(1)
(2)
(3)
Anteil an der Gesamtproduktion (USA), den ein Unternehmen braucht, um von Skalenerträgen profitieren zu können (%)
Tatsächlicher DurchschnittsMarktanteil der größten drei Unternehmen der Branche (%)
Hauptgründe für Großbetriebe
10–14
13
6–12
23
4–6
22
2
7
14–20
21
4–6
8
Notwendigkeit, ein nationales Markenimage aufzubauen und die Investitionen zu koordinieren Werbung und Imagedifferenzierung Notwendigkeit zentral organisierter Planungs- und Produktionsstrukturen Notwendigkeit der Risikostreuung und Kapitalaufbringung Markterfordernisse und Länge der Produktionsdurchgänge Risikostreuung bei Rohölgeschäften und Koordinierung von Investitionen
Tabelle 9-2: Der Branchenwettbewerb hängt von den Kostenstrukturen ab In dieser Studie wurden die Auswirkungen der Kostenstrukturen auf die Konzentrationsmuster untersucht. Spalte (1) zeigt den geschätzten Punkt, an dem die Kurve der langfristigen Durchschnittskosten anzusteigen beginnt, und zwar als Anteil am gesamten Branchenoutput. Vergleichen Sie diesen Wert mit dem durchschnittlichen Marktanteil jeder der drei größten Firmen in Spalte (2). Quelle: F. M. Scherer und David Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 3. Aufl. (Houghton Mifflin, Boston, 1990).
252
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
durch Anheben der Produktionsmenge zumindest in einem gewissen Ausmaß senken. Das bedeutet, dass größere Unternehmen gegenüber kleinen Mitkonkurrenten einen Kostenvorteil haben. Wenn Skaleneffekte eine wichtige Rolle spielen, werden ein oder mehrere Unternehmen ihre Produktion bis auf ein Niveau erhöhen, bei dem sie schließlich den Großteil der Gesamtproduktionsmenge herstellen. Vielleicht dominiert dann ein einziger Anbieter die gesamte Branche. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass wenige große Anbieter den Hauptteil des Outputs kontrollieren oder dass viele Unternehmen mit jeweils geringfügig verschiedenen Produkten den Ton angeben. Doch unabhängig davon, wie sich die Branchenstruktur auf Grund von Skaleneffekten darstellt, werden wir in jedem Fall eine Art des unvollständigen Wettbewerbs anstelle einer atomistischen Konkurrenz im vollständigen Wettbewerb der Preisnehmer und Mengenanpasser vorfinden.
Teil 2
Viele Branchen verzeichnen zunehmende Skaleneffekte. Zahlreiche, durchaus gründliche ökonometrische und technische Studien bestätigen die Annahme, dass viele Wirtschaftszweige mit Ausnahme der Landwirtschaft langfristig sinkende Durchschnittskosten aufweisen. So zeigt beispielsweise Tabelle 9-2 die Ergebnisse einer Studie über sechs amerikanische Wirtschaftszweige. Diese lässt den Schluss zu, dass in vielen Wirtschaftszweigen jener Punkt, an dem die geringsten Durchschnittskosten erzielt werden können, bei einem beträchtlichen Anteil an der Produktionsleistung des gesamten Wirtschaftszweiges – bei 10, 20 oder sogar 50 Prozent – liegt. Diese Wirtschaftszweige sind zumeist oligopolistisch organisiert, das heißt, dass in ihnen nur wenige große Produzenten agieren. Um genauer zu verstehen, welchen Einfluss die Produktionskosten auf die Marktstruktur haben können, betrachten wir einen Fall, der sich positiv auf den vollständigen
(c) Vollständiger Wettbewerb
(b) Oligopol
P
P
(a) Natürliches Monopol P
D
D
D MC
AC AC, MC, P
AC, MC, P
AC, MC, P
AC
MC
D
AC MC D
D
0
2 1
3
4
10.000
Q 12.000
0
200 100
300
Q
0
100
200
300
Q
Abbildung 9-2: Die Marktstruktur hängt von den jeweiligen Kosten- und Nachfragefaktoren ab Kosten- und Nachfrageverhältnisse wirken sich auf die Marktstrukturen aus. Unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen (a) ist die Branchen-Gesamtnachfrage DD im Vergleich zur effizienten Größe eines einzelnen Anbieters so groß, dass der Markt die Koexistenz zahlreicher Unternehmen unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen zulässt. In (b) steigen die Kosten bei einer im Verhältnis zur Branchen-Gesamtnachfrage DD höheren Produktionsmenge an. Die Koexistenz zahlreicher Wettbewerber ist hier unmöglich, und es wird sich ein Oligopol bilden. Wenn die Kosten schnell und unbeschränkt fallen, wie im Fall des natürlichen Monopols von (c), kann ein Unternehmen expandieren und ein Branchenmonopol erlangen.
Kapitel 9
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Wettbewerb auswirkt. Abbildung 9-2(a) zeigt einen Wirtschaftszweig, bei dem das Durchschnittskostenminimum schon bei einer relativ geringen Produktionsmenge erreicht wird. Jedes Unternehmen, das seine Produktionsmenge darüber hinaus erhöhen möchte, sieht sich mit rapide steigenden Produktionskosten konfrontiert. Deshalb verträgt dieser Wirtschaftszweig eine große Zahl an effizient operierenden Unternehmen, was ja eine Voraussetzung für den vollständigen Wettbewerb darstellt. Abbildung 9-2(a) zeigt die Kostenkurven in der im vollkommenen Wettbewerb stehenden Landwirtschaftsbranche. Studieren wir nun Abbildung 9-2(b), die einen Wirtschaftszweig zeigt, in dem die Unternehmen bis zu einem gewissen Punkt von den Skaleneffekten profitieren, oberhalb dessen allerdings durch Steigerung der Produktionsmenge keine Vorteile mehr erzielt werden können, weil ab diesem Punkt die Durchschnittskosten zu steigen beginnen. Trotzdem verläuft die AC-Kurve relativ flach und steigt nicht schnell genug an, um einen Zusammenbruch des vollständigen Wettbewerbs zu verhindern; das bedeutet, dass die beschränkte Nachfragekurve der Branche nur einer relativ geringen Zahl von Unternehmen eine gemeinsame Existenzgrundlage am Punkt der Mindestdurchschnittskosten ermöglicht. Eine solche Kostenstruktur führt zu einem Oligopol. Zahlreiche Wirtschaftszweige in den USA – darunter Stahl, Autos, Zement und Öl – weisen eine Nachfrage- und Kostenstruktur auf, die jener in Abbildung 9-2(b) weitgehend gleicht. Ein letzter wichtiger Fall ist das natürliche Monopol. Ein natürliches Monopol ist ein Markt, in dem der Branchenoutput nur von einem einzigen Unternehmen auf effiziente Weise produziert werden kann. Dieser Fall tritt ein, wenn die Technologie über eine breite Produktionspalette hinweg, die so groß ist wie die gesamte Nachfrage, Skalenvorteile bietet. Abbildung 9-2(c) zeigt die Kostenkurven eines natürlichen Monopolisten. Die Technologie zeichnet sich durch ständig zunehmende Skaleneffekte aus, wes-
253
halb die Durchschnitts- und Grenzkosten laufend sinken. Bei steigender Produktionsmenge kann das Unternehmen seine Preise immer weiter senken und trotzdem Gewinne verzeichnen, weil die durchschnittlichen Produktionskosten immer weiter fallen. Die friedliche Koexistenz Tausender Mitbewerber auf einem vollkommenen Markt ist deshalb unmöglich, weil ein großes Unternehmen deutlich effizienter wirtschaftet als kleine Unternehmen. Einige wichtige Beispiele natürlicher Monopole sind die lokalen Telefon-, Strom-, Gasund Wasserversorger sowie Anbieter von Langstreckenverbindungen wie Eisenbahnen, Straßen und Stromübertragung. Viele der wichtigsten natürlichen Monopole sind „Netzwerkbranchen“ (siehe Kapitel 6). Technische Fortschritte können die natürlichen Monopole jedoch unterminieren. Der Großteil der US-Bevölkerung wird heute von zwei Mobiltelefonnetzen versorgt, die anstelle von Kabeln Funkwellen verwenden und die Nachfrage nach terrestrischen Telefondiensten abbröckeln lassen. Ähnliche Trends sind auf anderen Märkten wie Kabelfernsehen zu beobachten, da diese natürlichen Monopole von Konkurrenten unterwandert werden, die sie in heiß umkämpfte Oligopole verwandeln.
Marktzutrittsbarrieren Obwohl unterschiedliche Produktionskosten der wichtigste Bestimmungsfaktor von Marktstrukturen sind, verhindern auch Marktzutrittsbarrieren den effektiven Wettbewerb. Marktzutrittsbarrieren sind Faktoren, die es neuen Unternehmen schwer machen, in einem Wirtschaftszweig Fuß zu fassen. Ist die Schwelle hoch, gibt es wahrscheinlich nur einige wenige Unternehmen und einen beschränkten Konkurrenzdruck. Skaleneffekte sind häufige Marktzutrittsbarrieren, aber es gibt auch noch weitere Faktoren wie beispielsweise gesetzliche Beschränkungen, hohe Zutrittskosten, Werbung und Produktdifferenzierung.
254
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Gesetzliche Beschränkungen. Bisweilen schränkt der Staat den Wettbewerb in bestimmten Wirtschaftszweigen ein. Zu den wichtigen gesetzlichen Beschränkungen gehören Patente, beschränkte Zulassung sowie Außenhandelszölle und Mengenbeschränkungen. Ein Patent wird einem Erfinder gewährt, um eine zeitlich begrenzte exklusive Nutzung (oder ein Monopol) des patentierten Produktes oder Verfahrens zu gestatten. So erhalten Pharmaunternehmen oft wertvolle Patente für neue Arzneimittel, in die sie Hunderte von Millionen US-Dollar an Forschungs- und Entwicklungsgeldern investiert haben. Patente sind eine der wenigen Formen staatlich anerkannter Monopole, die von Ökonomen normalerweise befürwortet werden. Die Staaten gewähren Patentmonopole, um Forschung und Entwicklung zu fördern. Ohne die Aussicht auf einen Monopolpatentschutz würden sich Unternehmen oder Erfinder kaum bereit finden, Zeit und Ressourcen in Neuentwicklungen zu investieren. Der vorübergehend hohe Monopolpreis und die daraus resultierende Ineffizienz ist der Preis, den die Gesellschaft für die Erfindung bezahlt. Die Staaten verhängen auch Marktzutrittsbeschränkungen in vielen Wirtschaftszweigen. Im typischen Fall wird bestimmten Versorgungsbetrieben wie Telefon-, Strom- und Wassergesellschaften ein Lizenz-Monopol für ein bestimmtes Gebiet gewährt. Damit erhält das Unternehmen das Exklusivrecht, eine bestimmte Dienstleistung zu erbringen, und willigt im Gegenzug ein, seine Gewinne zu beschränken und allen Kunden in der Region seine Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, auch wenn einige Kunden unprofitabel sein sollten. Historiker, die sich mit Zöllen beschäftigen, haben den Ausspruch geprägt: „Der Zoll ist die Mutter des Kartells.“ (Zur Analyse dieses Themas siehe Frage 10 am Ende dieses Kapitels.) Schließlich kann der Staat auch Importbeschränkungen verhängen, mit der Wirkung, dass ausländische Mitbewerber vom Markt ferngehalten werden. Es ist durchaus möglich, dass der Markt eines einzi-
Teil 2
gen Landes für ein Produkt so klein ist, dass er nur zwei oder drei Unternehmen einer bestimmten Branche verträgt, während der Weltmarkt groß genug ist, um eine sehr große Anzahl von Unternehmen aufnehmen zu können. Schließlich könnte eine protektionistische Politik die Branchenstruktur aus Abbildung 9-2(a) hin zu (b) oder sogar (c) verändern. Wenn die Märkte durch die Abschaffung von Zöllen in einer großen Freihandelszone ausgeweitet werden, wird ein lebendiger und effektiver Wettbewerb gefördert, und die Monopole verlieren so ihre Macht. Eines der eindrucksvollsten Beispiele eines verstärkten Wettbewerbs lässt sich derzeit anhand der Europäischen Union studieren, die während der letzten drei Jahrzehnte konsequent die Zölle zwischen den Mitgliedsstaaten abgebaut und so von den größeren Märkten für die Unternehmen ebenso wie von einer geringeren Branchenkonzentration profitiert hat. Hohe Zutrittskosten. Zusätzlich zu den gesetzlich auferlegten Marktzutrittsbarrieren gibt es auch ökonomische Barrieren. In einigen Wirtschaftszweigen kann einfach der Eintrittspreis sehr hoch sein. Nehmen wir die Flugzeugindustrie als Beispiel. Die hohen Kosten für Planung, Entwicklung und Tests neuer Flugzeuge wirkt auf potenzielle Neulinge abschreckend. Es ist abzusehen, dass nur zwei Unternehmen – Boeing und Airbus – in der Lage sein werden, die US-$ 10–15 Milliarden zu investieren, die zur Entwicklung der nächsten Flugzeuggeneration erforderlich sind. Zusätzlich profitieren die arrivierten Unternehmen von immateriellen Investitionen, und gerade diese können für potenzielle Neulinge in der Branche sehr teuer werden. Denken Sie an die Software-Industrie. Sobald ein Spreadsheetprogramm (wie Excel) oder ein Textverarbeitungsprogramm (wie Microsoft Word) auf breite Akzeptanz gestoßen ist, wird es für potenzielle Neueinsteiger schwierig, auf diesem Markt Fuß zu fassen. Benutzer, die den Umgang mit einem Pro-
Kapitel 9
255
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
gramm erlernt haben, zögern zumeist, auf ein anderes umzusteigen. Um daher die Computerbenutzer dazu zu bringen, ein neues Programm auszuprobieren, muss jedes neue Unternehmen auf diesem Markt eine enorm aufwändige Werbekampagne starten, die teuer ist und deren Ziel, nämlich zu einer Rentabilität des beworbenen Produktes beizutragen, nicht notwendigerweise erreicht wird. (Erinnern Sie sich an unsere Diskussion über Netzwerkeffekte in Kapitel 6.) Werbung und Produktdifferenzierung. Manchmal gelingt es einzelnen Unternehmen, mit Hilfe von Werbung und Produktdifferenzierung Marktzutrittsbarrieren gegen potenzielle Konkurrenten zu errichten. Werbung kann die Bekanntheit eines Produktes sehr fördern und stärkt die Loyalität zu bekannten Marken. So geben beispielsweise Coca-Cola und Pepsi zusammen Hunderte von Millionen US-Dollar jährlich für die Bewerbung der jeweiligen Marke aus, was den Marktzutritt für mögliche Rivalen auf dem Cola-Getränkemarkt außerordentlich teuer macht. Zusätzlich kann auch die Produktdifferenzierung eine Marktzutrittsbarriere errichten und die Macht der Produzenten auf ihrem Markt stärken. In vielen Branchen, wie bei Frühstücksflocken, Autos, Haushaltsgeräten und Zigaretten, ist es üblich, dass eine geringe Anzahl von Herstellern eine riesige Palette an verschiedenen Marken, Modellen und Produkten auf den Markt bringt. Teilweise soll die Verschiedenartigkeit der Produkte eine möglichst breite Kundenschicht ansprechen. Doch die enorme Anzahl differenzierter Produkte dient auch dazu, potenzielle Mitbewerber abzuhalten. Die Nachfrage nach jedem der individuell differenzierten Produkte ist so gering, dass es dadurch nur wenigen Unternehmen möglich ist, am tiefsten Punkt ihrer U-förmigen Kostenkurve zu operieren. In der Folge verschiebt sich die DD-Kurve des vollständigen Wettbewerbs in Abbildung 9-2(a) so weit nach links, dass sie schließlich genauso aussieht wie die Nachfragekurven des Monopols und des Oligopols,
die in Abbildung 9-2(b) und (c) dargestellt sind. So führt also die Differenzierung ebenso wie die Zölle zu einer vermehrten Konzentration und einem zunehmend unvollständigen Wettbewerb. Was ist der Wert einer Marke? In einer Welt der differenzierten Produkte verdienen manche Unternehmen aufgrund des Werts ihrer Marken viel Geld. Von Markenwert spricht man, wenn ein Unternehmen ein Produkt besitzt, das als besser, zuverlässiger oder geschmackvoller gilt als andere Marken- oder Nichtmarkenprodukte. Laut Schätzungen des Magazins Business Week waren 2003 folgende Marken am wertvollsten:1 Rang
Marke
Markenwert 2003 (Mrd. US-$)
1
Coca-Cola
70,5
2
Microsoft
65,2
3
IBM
51,8
4
GE
42,3
5
Intel
31,1
6
Nokia
29,4
7
Disney
28,0
8
McDonald’s
24,7
9
Marlboro
22,2
10
Mercedes
21,4
Das bedeutet im Fall von Coca-Cola, dass der Marktwert des Unternehmens um US-$ 70 Milliarden höher lag, als dies durch seine Anlagen, seine Ausrüstung und andere Vermögensgegenstände gerechtfertigt erscheint. Wie stellen Unternehmen den Markenwert fest, und wie wird er aufrecht erhalten? Erstens verfügen sie meistens über ein innovatives Produkt, wie zum Beispiel einen neuen Drink oder ein Betriebssystem, eine nette Cartoon-Figur oder ein hochwertiges Auto. Zweitens erhalten sie ihren Markenwert durch inten-
1 Business Week, 4. August 2003, im Internet verfügbar unter bwnt.businessweek.com/brand/2003/index.asp
256
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
sive Werbung, wobei ein Produkt wie Marlboro-Zigaretten oft mit einem gut aussehenden Darsteller in einer romantischen Umgebung in Verbindung gebracht wird. Drittens schützen sie ihre Marken mithilfe von geistigen Eigentumsrechten wie Patenten und Urheberrechten. In gewissem Sinn ist der Markenwert das, was von früheren Innovationen übrig bleibt.
Gesamt- und Grenzerlös (1)
0
(3)
200
(4) Grenzerlös MR (US-$)
0 + 180
180
180 + 140
2
160
320 + 100
3 In diesem Abschnitt werden wir die extremste Form des unvollständigen Wettbewerbs untersuchen, nämlich das Monopol. Unsere Analyse wird die wichtigsten Nachteile des unvollständigen Wettbewerbs beleuchten, die darin bestehen, dass es zu einer Mengeneinschränkung und zu einer Anhebung der Preise kommt. Als einen wesentlichen Teil dieser Analyse wollen wir ein neues Konzept, nämlich den Grenzerlös, einführen, der für Oligopolisten ebenso wie für Unternehmen im vollständigen Wettbewerb von großer Bedeutung ist.
(2)
Menge Preis Gesamtq P = AR = TR/q erlös (US-$) TR = P x q (US-$)
1
B. Grenzerlös und Monopol
Teil 2
140
420 + 60
4
120
480
+ 40 + 20
5
100
500 ––
6
80
480 -60
7
60
–– -100
8
40
320 -140
Das Konzept des Grenzerlöses Preis, Menge und Gesamterlös Nehmen wir an, ein Unternehmen hätte das alleinige Monopol für seinen Wirtschaftszweig. Bei diesem Unternehmen könnte es sich um den glücklichen Eigentümer eines Patentes für ein neues Medikament gegen Krebs handeln oder vielleicht um den Eigentümer des Betriebscodes für ein wertvolles Computerprogramm. Welchen Preis sollte der Monopolist, der seine Gewinne maximieren möchte, für seine Produkte oder Dienstleistungen verlangen, und für welche Produktionsmenge sollte er sich entscheiden?
9
––
180 -180
10
0
0
Tabelle 9-3: Der Grenzerlös leitet sich von der Nachfragefunktion ab Der Gesamterlös (TR) in Spalte (3) ergibt sich durch Multiplikation von P mit q. Um den Grenzerlös (MR) zu ermitteln, erhöhen wir q um eine Einheit und berechnen die Änderung des Gesamterlöses. MR ist niedriger als P, was auf den entgangenen Erlös infolge der Tatsache zurückzuführen ist, dass der Preis für die vorherigen Einheiten gesenkt wurde, um eine weitere Produktionseinheit q verkaufen zu können. Bitte beachten Sie, dass MR positiv ist, solange die Nachfrage elastisch ist. Wenn die Nachfrage aber unelastisch wird, wird MR negativ, obwohl der Preis nach wie vor positiv ist.
Kapitel 9
257
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Um diese Fragen beantworten zu können, benötigen wir ein neues Konzept – das des Grenzerlöses (MR). Aus der Nachfragekurve eines Unternehmens erkennen wir das Verhältnis zwischen Preis (P) und verkaufter Menge (q). Diese Werte sind in Spalte (1) und (2) von Tabelle 9-3 und als schwarze Nachfragekurve (dd) für den Monopolisten in Abbildung 9-3(a) angegeben.
Nun kalkulieren wir den Gesamterlös bei jeder Produktionsmenge durch Multiplikation von Preis und Menge. Spalte (3) in Tabelle 9-3 zeigt, wie der Gesamterlös (TR) zu berechnen ist, nämlich einfach als P q. Demnach erbringen 0 Einheiten einen TR von 0; 1 Einheit ergibt TR = US-$ 180 1 = US-$ 180; 2 Einheiten ergeben US-$ 160 2 = US-$ 320; und so weiter.
(a) Grenzerlös $/q 200
d AR
(b) Gesamterlös
A
$
100
Ed = 1 b
Grenzerlös
Gesamterlös
500
d AR q 10
B 0
5 Produktion
Ed > 1 a
Ed < 1 c
TR q 0
5 Produktion des Unternehmens
10
des Unternehmens
–100 C MR
Abbildung 9-3: Die Grenzerlöskurve ergibt sich aus der Nachfragekurve (a) Die rostfarbenen Stufen zeigen die Anstiege des Gesamterlöses aus jeder zusätzlichen Produktionseinheit. MR fällt von Anfang an unter P. MR wird mit unelastischer dd negativ. Eine Glättung der ansteigenden MRStufen ergibt die durchgängige, dünne rostfarbene MR-Kurve, die im Falle der geradlinigen dd immer eine doppelt so hohe Steigung wie dd haben wird. (b) Der Gesamterlös weist eine glockenförmige Kurve auf – Anstieg von null, wobei q = 0, bis zu einem Maximum (wo dd eine Elastizität von 1 aufweist), danach neuerlicher Abfall auf null, wobei P = 0. Die Steigung von TR ergibt die geglätteten MR, ebenso wie der in Sprüngen anwachsende TR die ansteigenden MR-Stufen widerspiegelt. Quelle: Tabelle 9-3
258
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
In diesem Beispiel einer geradlinigen oder linearen Nachfragekurve steigt der Gesamterlös zunächst mit der Produktionsmenge, weil die Senkung von P, die notwendig ist, um zusätzliche Mengen q verkaufen zu können, in diesem oberen, elastischen Bereich der Nachfragekurve gering ausfällt. Doch am Mittelpunkt der geradlinigen Nachfragekurveerreicht der TR seinen Höchstwert. Dies tritt bei q = 5, P = 100 ein, wobei TR = US-$ 500. Eine weitere Erhöhung von q über diesen Punkt hinaus führt dazu, dass das Unternehmen den unelastischen Nachfragebereich erreicht. Bei unelastischer Nachfrage führt eine Preissenkung nicht mehr zu einer proportionalen Umsatzsteigerung, sodass der Gesamterlös sinkt. Abbildung 9-3(b) zeigt, dass der TR eine glockenförmige Kurve bildet, die von null bei einem sehr hohen Preis bis zu einem Maximum von US-$ 500 ansteigt und dann wieder auf null abfällt, wenn sich der Preis dem Nullpunkt nähert. Wie findet man den Preis, bei dem die Erlöse ein Maximum erreichen? In Tabelle 9-3 sehen Sie, dass TR maximiert wird, wenn q = 5 und P = 100. Dies ist jener Punkt, bei dem die Nachfrageelastizität genau 1 beträgt. Beachten Sie bitte, dass der Preis pro Einheit als Durchschnittserlös (AR) bezeichnet werden kann, um ihn vom Gesamterlös zu unterscheiden. Wir erhalten daher P = AR, indem wir TR durch q dividieren (genau so, wie wir zuvor AC durch Division von TC durch q erhalten haben). Überzeugen Sie sich, dass wir, wäre Spalte (3) vor Spalte (2) geschrieben worden, Spalte (2) durch Division hätten errechnen können.
Grenzerlös und Preis Das letzte neue Konzept ist der Grenzerlös. Der Grenzerlös (MR) ist die Erhöhung des Erlöses, die durch eine zusätzlich verkaufte Einheit entsteht. Der MR kann dabei positiv oder negativ sein.
Teil 2
Tabelle 9-3 zeigt den Grenzerlös in Spalte (4). Der MR wird durch Subtraktion des Gesamterlöses aus den angrenzenden Produktionsmengen errechnet. Subtrahieren wir den TR, den wir durch den Verkauf von q Einheiten erhalten, vom TR, den wir durch den Verkauf von q + 1 Einheiten erhalten, so ist die Differenz der Zusatzerlös oder MR. Bei einer Bewegung von q = 0 zu q = 1 erhalten wir somit MR = US-$ 180 – US-$ 0. Der Schritt von q = 1 zu q = 2 führt zu MR = US-$ 320 – US-$ 180 = US-$ 140. MR ist positiv, bis wir q = 5 erreichen. Ab hier wird er negativ. Was bedeutet eigentlich dieser seltsame Begriff des negativen Grenzerlöses? Besagt er vielleicht, dass das Unternehmen die Konsumenten dafür bezahlt, dass sie die Güter überhaupt abnehmen? Nein, keineswegs. Der negative Grenzerlös MR bedeutet, dass das Unternehmen, um weitere Einheiten verkaufen zu können, den Preis für frühere Einheiten so weit senken muss, dass der Gesamterlös abnimmt. Wenn beispielsweise das Unternehmen 5 Einheiten verkauft, erhält es: TR (5 Einheiten) = 5 US-$ 100 = US-$ 500 Nehmen wir nun an, dass das Unternehmen eine weitere Produktionseinheit verkaufen möchte. Da es sich um ein im unvollständigen Wettbewerb stehendes Unternehmen handelt, kann es seinen Umsatz nur erhöhen, indem es den Preis senkt. Um daher 6 Einheiten zu verkaufen, senkt es den Preis von US-$ 100 auf US-$ 80. Es erzielt durch die sechste verkaufte Einheit einen Erlös von US-$ 80, erhält aber nur 5 US-$ 80 für die ersten 5 Einheiten, woraus sich folgende Rechnung ergibt: TR (6 Einheiten) = 5 US-$ 80 + (1 US-$ 80) = US-$ 400 + US-$ 80 = US-$ 480 Der Grenzerlös zwischen 5 und 6 Einheiten beträgt US-$ 480 – US-$ 500 = US-$ –20. Die für die ersten fünf Einheiten erforderliche Preissenkung war so groß, dass sogar nach dem Verkauf einer weiteren, sechsten Ein-
Kapitel 9
259
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
heit der Gesamterlös fallen musste. Und genau das geschieht, wenn der MR negativ ist. Um Ihre Kenntnisse zu testen, füllen Sie bitte die frei gelassenen Stellen in Spalte (2) bis (4) von Tabelle 9-3 aus. Beachten Sie bitte, dass trotz des negativen MR der AR oder Preis nach wie vor positiv ist. Verwechseln Sie den Grenzerlös nicht mit dem Durchschnittserlös oder Preis. Tabelle 9-3 zeigt Ihnen, dass hier ein Unterschied besteht. Außerdem sind in Abbildung 9-3(a) die Nachfragekurve (AR) und die Grenzerlöskurve (MR) eingezeichnet. Wenn Sie Abbildung 9-3(a) genau untersuchen, werden Sie feststellen, dass die dargestellten rostfarbenen Stufen der MR eindeutig unter der schwarzen dd-Kurve des AR liegen. Tatsächlich wird MR negativ, sobald AR den halben Weg bis zum Nullpunkt zurückgelegt hat. Zusammenfassend: Bei abwärtsgerichteter Nachfragekurve gilt: P > MR (= P – geringerer Erlös für alle vorherigen q)
Elastizität und Grenzerlös Welche Beziehung besteht zwischen der Preiselastizität der Nachfrage und dem Grenzerlös? Der Grenzerlös ist positiv, wenn die Nachfrage elastisch ist, null, wenn die Nachfrageelastizität den Wert 1 hat, und negativ, wenn die Nachfrage unelastisch ist. Dieses Ergebnis stellt eigentlich nur eine Variante der Elastizitätsdefinition dar, die wir in Kapitel 4 besprochen haben. Erinnern Sie sich: Die Nachfrage ist elastisch, wenn eine
Preissenkung zu einer Erlössteigerung führt. In einer solchen Situation steigert eine Preissenkung die Nachfrage so sehr, dass der Erlös steigt und der Grenzerlös positiv ist. In Tabelle 9-3 steigt beispielsweise, wenn der Preis im elastischen Bereich von P = US-$ 180 auf P = US-$ 160 fällt, die nachgefragte Menge immerhin so stark, dass sich der Gesamterlös erhöht und der Grenzerlös positiv ausfällt. Was geschieht, wenn die Nachfrageelastizität den Wert 1 annimmt? Eine Preissenkung entspricht dann prozentual genau der damit einhergehenden Outputsteigerung, und der Grenzerlös ist daher null. Können Sie erkennen, warum der Grenzerlös im unelastischen Bereich immer negativ ist? Warum ist der Grenzerlös im Falle der unendlich elastischen Nachfragekurve des Unternehmens im vollständigen Wettbewerb immer positiv? Tabelle 9-4 stellt die wichtigen Elastizitätsverhältnisse dar. Achten Sie darauf, dass Sie sie verstehen und sie anwenden können.
Gewinnmaximierende Bedingungen Wir können nun jenes Gleichgewicht ermitteln, das für den Monopolisten zum Gewinnmaximum führt. Was muss ein Monopolist angesichts einer gegebenen Nachfragekurve tun, um seinen Gesamtgewinn (TP) zu maximieren? Definitionsgemäß entspricht der Gesamtgewinn dem Gesamtertrag abzüglich der gesamten Kosten; in Symbolen: TP = TR – TC = (P q) – TC. Um seinen Gewinn zu maximieren, muss das Unternehmen jenen Gleichgewichtspreis und jene Menge finden, die den größten Gewinn oder die größte Differenz zwischen TR
Wenn Nachfrage: Beziehung zwischen Q und P Wirkung von Q auf TR Elastisch (ED > 1) % Änderung Q > % Änderung P Höhere Q erhöht TR Elastizität von 1 (ED = 1) % Änderung Q = % Änderung P Höhere Q lässt TR unverändert Unelastisch (ED < 1) % Änderung Q < % Änderung P Höhere Q senkt TR
Grenzerlös MR > 0 MR = 0 MR < 0
Tabelle 9-4: Beziehungen zwischen Nachfrageelastizität, Output, Preis, Gesamterlös und Grenzerlös
260
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
und TC ergeben. Daraus leitet sich die wichtige Erkenntnis ab, dass das Gewinnmaximum dann erreicht wird, wenn die Produktionsmenge so groß ist, dass der Grenzerlös des Unternehmens seinen Grenzkosten entspricht. Eine Möglichkeit, die Erfüllung dieser Bedingung für ein Gewinnmaximum festzustellen, besteht darin, eine Kosten- und Erlöstabelle wie Tabelle 9-5 heranzuziehen. Um jene Menge und jenen Preis zu finden, bei denen sich ein maximaler Gewinn erzielen lässt,
Teil 2
muss der Gesamtgewinn in Spalte (5) berechnet werden. Diese Spalte sagt nun aus, dass die optimale Menge, die bei 4 Einheiten liegt, einen Preis von US-$ 120 pro Einheit erfordert. Damit wird ein Gesamterlös von US-$ 480 erzielt, und nach Abzug der Gesamtkosten von US-$ 250 errechnet sich ein Gesamtgewinn von US-$ 230. Ein kurzer Blick genügt, um festzustellen, dass keine andere Preis-Mengen-Kombination zu einem so hohen Gesamtgewinn führt.
Übersicht über die gewinnmaximale Situation eines Unternehmens (1) Menge
(2) Preis
q
P (US-$)
0
200
1 2 3 4* 5 6 7 8
180 160 140 120 100 80 60 40
(3) Gesamterlös TR (US-$) 0 180 320 420 480 500 480 420 320
(4) Gesamtkosten TC (US-$)
(5) Gesamtgewinn TP (US-$)
145
– 145
175 200 220 250 300 370 460 570
(6) Grenzerlös MR (US-$)
(7) Grenzkosten MC (US-$) MR > MC
+180
30
+140
25
+100
20
+60
30
+40
40
+20
50
–20
70
–60
90
–100
110
+5 + 120 + 200 + 230
MR = MC
+ 200 + 110 – 40 MR < MC
– 250
* gewinnmaximales Gleichgewicht
Tabelle 9-5: Die gewinnmaximalen q und P eines Unternehmens liegen dort, wo die Grenzkosten dem Grenzerlös entsprechen Die Gesamt- und die Grenzkosten der Produktion werden nun mit dem Gesamt- und dem Grenzerlös kombiniert. Die Bedingung für das Gewinnmaximum ist erfüllt, wo MR = MC, wobei q* = 4, P* = US-$ 120 und TP-Maximum = US-$ 230 = (US-$ 120 4) – US-$ 250.
Kapitel 9
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Eine zweite und gleichwertige Möglichkeit, zur selben Lösung zu gelangen, besteht im Vergleich des Grenzerlöses in Spalte (6) mit den Grenzkosten in Spalte (7). Solange jede zusätzliche Outputeinheit mehr Erlös einbringt, als sie kostet – das heißt, solange MR größer ist als MC –, erhöht sich der Gewinn des Unternehmens. Das Unternehmen sollte also die Produktionsmenge so lange steigern, als MR größer ist als MC. Nehmen Sie nun im Gegensatz dazu an, dass bei einer bestimmten Outputmenge MR niedriger ist als MC. Das bedeutet, dass eine Erhöhung des Outputs zu einem geringeren Gewinn führen würde, sodass das gewinnmaximierende Unternehmen gut daran täte, die Produktionsmenge zu drosseln. Der Punkt der höchsten Gewinne liegt natürlich dort, wo der Grenzerlös genau den Grenzkosten entspricht, wie von den Daten in Tabelle 9-5 gezeigt. Die Regel zur Ermittlung des Maximalgewinns lautet daher: Das Gewinnmaximum eines Monopolisten wird bei jenem Preis (P*) und jener Menge (q*) erreicht, bei denen der Grenzerlös genau den Grenzkosten entspricht: MR = MC, bei P* und q* mit dem größtmöglichen Gewinn Die angeführten Beispiele zeigen die Logik hinter der Regel MC = MR zur Gewinnmaximierung auf, aber wie lässt sie sich rein intuitiv ableiten? Werfen wir einen kurzen Blick auf Tabelle 9-5 und nehmen wir an, dass Monopolist q = 2 produziert. An diesem Punkt beträgt sein MR aus der Produktion einer zusätzlichen Einheit US-$ 100, während seine MC US-$ 20 ausmachen. Wenn er daher eine zusätzliche Einheit produziert, erzielt das Unternehmen damit zusätzliche Gewinne von MR – MC = US-$ 100 – US-$ 20 = US-$ 80. Und tatsächlich zeigt uns Spalte (5) in Tabelle 9-5, dass der zusätzliche Gewinn durch die Erhöhung von 2 auf 3 Einheiten genau US-$ 80 beträgt. Wenn daher MR höher als MC liegt, lassen sich durch eine Anhebung der Produktions-
261
menge zusätzliche Gewinne erzielen; wenn dagegen MC größer ist als MR, sind höhere Gewinne nur zu erreichen, indem q gedrosselt wird. Nur bei MR = MC kann das Unternehmen den Gewinn maximieren, da sich an diesem Punkt durch eine Änderung der Produktionsmenge die Gewinne nicht mehr erhöhen lassen.
Das Monopolgleichgewicht im Diagramm Abbildung 9-4 zeigt das Monopolgleichgewicht. Teil (a) kombiniert die Kosten- und Erlöskurve des Unternehmens. Der Punkt des maximalen Gewinns ist bei einer Produktionsmenge erreicht, bei der MC genau MR entspricht; das ist in ihrem Schnittpunkt bei E der Fall. Das Monopolgleichgewicht oder der Punkt des maximalen Gewinns wird bei einer Produktionsmenge von q* = 4 erreicht. Um den gewinnmaximierenden Preis zu ermitteln, gehen wir von E vertikal nach oben zur ddKurve, die wir an Punkt G erreichen, wo P = US-$ 120. Die Tatsache, dass der Durchschnittserlös in G über den Durchschnittskosten in Punkt F liegt, garantiert einen positiven Gewinn. Die tatsächliche Gewinnhöhe ergibt sich durch die rostfarbig schattierte Fläche in Abbildung 9-4(a). Dieselbe Geschichte erzählt uns auch Teil (b) mit Gesamterlös-, Gesamtkosten- und Gesamtgewinnkurve. Die Gesamterlöskurve verläuft glockenförmig; die Gesamtkosten steigen an. Die vertikale Differenz zwischen beiden entspricht dem Gesamtgewinn, der im negativen Bereich beginnt und auch dort endet. Dazwischen ist TP positiv und erreicht seinen Maximalwert bei US-$ 230, wenn q* = 4. Bei der gewinnmaximalen Produktionsmenge verlaufen die schwarzen TR- und TC-Kurven (die in den betreffenden Punkten MR und MC entsprechen) parallel und daher gleich. Würden die jeweiligen Kurven nicht parallel zueinander stehen, sondern auseinander verlaufen (wie bei q = 2), so könnte das Unternehmen zusätzliche Gewinne erwirtschaften, indem es
262
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
(a) Gewinnmaximierung $/q 200
d MC
G 100
AC F E d q
0
2
4
6
8
10
–150 MR
(b) Gesamtkosten, -erlös und -gewinn $ 600
Im Maximalgewinnpunkt verlaufen die Steigungen von TC und TR parallel
TC
Gesamtkosten
400
Gesamterlös $ 230 Im Maximalgewinnpunkt ist die Steigung null und verläuft waagrecht
200
$ 230
0
TR 2
4
6
8
q
10 Gesamtgewinn
– 200 TP
Abbildung 9-4: Das gewinnmaximale Gleichgewicht lässt sich entweder anhand der Gesamt- oder anhand der Grenzkurven zeigen
Teil 2
(a) In E, wo die MC- die MR-Kurve schneidet, liegt die Gleichgewichtsposition des Maximalgewinns. Jede Bewegung weg von E geht mit einem Gewinnrückgang einher. Der Preis liegt auf der Nachfragekurve in Punkt G über E; und da P über AC liegt, ist der Maximalgewinn positiv. (Können Sie erklären, warum das rostfarbig unterlegte Rechteck den Gesamtgewinn misst? Und warum die grau unterlegten Dreiecke beiderseits von E den Rückgang des Gesamtgewinns ausweisen, der sich aus einer Abweichung von MR = MC ergäbe?) (b) Dieses Bild enthält die gleiche Aussage bezüglich der Gewinnmaximierung wie (a), verwendet aber die Gesamtkonzepte anstelle der Grenzkonzepte. Die TR-Kurve zeigt den Gesamterlös, während die TC-Kurve die Gesamtkosten darstellt. (Warum nimmt TR bei q = 0 und bei q = 10 den Wert 0 an?) Der Gesamtgewinn (TP) entspricht TR – TC oder geometrisch betrachtet der vertikalen Distanz von TC nach TR. Am Punkt des maximalen Gewinns ist die Differenz zwischen der Gesamterlös- und der Gesamtkostenkurve am größten. Die Steigung jeder Kurve entspricht ihrem Grenzwert (beispielsweise entspricht die Steigung von TR dem MR). Am Gewinnmaximum verlaufen TR und TC parallel und weisen daher eine identische Steigung MR = MC auf.
q erhöht. Bei q* = 4 sind Grenzkosten und Grenzerlös ausgeglichen. An diesem Punkt erreicht der Gesamtgewinn (TP) seinen Maximalwert, weil eine zusätzliche Kosteneinheit genau einer zusätzlichen Erlöseinheit entspricht. Ein Monopolist maximiert seine Gewinne, indem er die Produktionsmenge in einer Höhe festlegt, bei der MC = MR. Da der Monopolist eine abwärts gerichtete Nachfragekurve hat, bedeutet das, dass P > MR. Da der Preis für den gewinnmaximierenden Monopolisten über den Grenzkosten liegt, drosselt der Monopolist die Produktion unter jenes Niveau, das bei vollständigem Wettbewerb zu erwarten wäre.
Kapitel 9
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
263
Vollständiger Wettbewerb als Grenzfall des unvollständigen Wettbewerbs
Sonderfall P = MC, die wir im letzten Kapitel für ein im vollständigen Wettbewerb stehendes Unternehmen abgeleitet haben.
Obwohl wir die MR- und MC-Regel nur auf Monopolisten angewendet haben, die ihre Gewinne maximieren möchten, lässt sich diese Regel weit über die vorliegende Analyse hinaus anwenden. Wenn wir ein wenig nachdenken, erkennen wir leicht, dass die Regel MC = MR ebenso für ein gewinnmaximierendes Unternehmen im vollständigen Wettbewerb gilt. Wir gehen dazu in zwei Schritten vor:
Da ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb jede beliebige Menge zum Marktpreis verkaufen kann, gilt am Punkt des maximalen Gewinns: MR = P = MC.
1. MR für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb. Die erste Frage lautet: Wie sieht der MR für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb aus? Im vollständigen Wettbewerb drückt der Verkauf zusätzlicher Einheiten niemals den Preis, und der „entgangene Erlös für alle vorherigen q“ ist daher null. Preis und Grenzerlös sind für Unternehmen im vollständigen Wettbewerb identisch. Unter Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs entspricht der Preis dem Durchschnittserlös, der seinerseits dem Grenzerlös entspricht (P = MR = AR). Die dd-Kurve und die MR-Kurve eines Unternehmens im vollständigen Wettbewerb fallen als horizontale Linien zusammen. 2. MR = P = MC für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb. Außerdem können wir erkennen, dass die Logik, die beim Monopolisten zur Gewinnmaximierung führt, ebenso für Unternehmen im vollständigen Wettbewerb gilt, wobei jedoch das Ergebnis ein wenig abweicht. Die wirtschaftliche Logik zeigt, dass die Gewinne bei einem Produktionsniveau maximiert werden, bei dem MC exakt MR entspricht. Doch laut Schritt 1 oben entspricht MR für ein im vollständigen Wettbewerb stehendes Unternehmen P. Deshalb wird die Gewinnmaximierungsbedingung MR = MC zum
Sie können dieses Resultat auch veranschaulichen, wenn Sie Abbildung 9-4(a) nachzeichnen. Gilt das Diagramm für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb, so verläuft die dd-Kurve horizontal zum Marktpreis und fällt mit der MR-Kurve zusammen. Der Schnittpunkt und der Punkt der Gewinnmaximierung MR = MC ergibt sich daher auch bei P = MC. Wir erkennen daraus, dass die allgemeine Regel zur Gewinnmaximierung für den vollständigen Wettbewerb ebenso gilt wie für den unvollständigen Wettbewerb.
Das Marginalprinzip (Grenzbetrachtung): Was vorbei ist, ist vorbei Wir beschließen dieses Kapitel mit einer allgemeinen Aussage über den Nutzen der Marginal- oder Grenzanalyse in der Volkswirtschaftslehre. Zwar sollten Sie sich lieber nicht darauf verlassen, mit Hilfe der volkswirtschaftlichen Theorien große Reichtümer erwerben zu können, aber Sie können immerhin darauf bauen, dass Sie einige neue Erkenntnisse über Kosten und Nutzen gewinnen werden. Eine der wichtigsten Lehren der Volkswirtschaft besagt, dass man immer die Grenzkosten und den Grenznutzen aller Entscheidungen betrachten und frühere oder versunkene Kosten einfach ignorieren sollte. Wir könnten es auch so formulieren: Was vorbei ist, ist nun einmal vorbei. Blicken Sie nie zurück. Es ist sinnlos, Vergangenem eine Träne nachzuweinen oder dem gestrigen Verlust nachzutrauern. Stellen Sie lieber kühle Berechnungen über die Zusatzkosten an, die
264
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Ihnen durch jede Entscheidung entstehen, und wägen Sie diese gegen zusätzliche Vorteile ab. Treffen Sie Ihre Entscheidungen aufgrund von Grenzkosten und Grenznutzen.
Dies ist das Marginalprinzip, das besagt, dass jedermann seine Gewinne oder seine Bedürfnisbefriedigung maximiert, indem er nur Grenzkosten und Grenznutzen einer Entscheidung berücksichtigt. Es gibt unzählige Situationen, in denen sich dieses Marginalprinzip anwenden lässt. Wir haben soeben gesehen, dass das Marginalprinzip des Ausgleichs von Grenzkosten und Grenzerlös die Regel für die Gewinnmaximierung von Unternehmen ist. Ein weiteres Anwendungsbeispiel sind kluge Investitionsentscheidungen. Wenn eine Entscheidung getroffen werden muss, beispielsweise ob man in ein Unternehmen investieren oder ein Haus verkaufen sollte, lohnt es sich immer, frühere Gewinne oder Verluste außer Acht zu lassen und nur aufgrund der Grenzerträge und -kosten zu entscheiden. Das Marginalprinzip ist eine der wichtigsten Lektionen der Volkswirtschaft. Monopolisten der amerikanischen Gründerzeit Da wirtschaftliche Abstraktionen das menschliche Drama des Monopols leicht verbergen, schließen wir dieses Kapitel mit einem Bericht über eine der farbigsten Perioden US-amerikanischer Wirtschaftsgeschichte. Da sich die Gesetze und Sitten unserer Zeit ständig ändern, haben die Monopolisten des heutigen Amerika nur wenig mit den brillanten, skrupellosen und oft unehrlichen Räuberbaronen der amerikanischen Gründerzeit (1870–1914) gemein. Legendäre Figuren wie Rockefeller, Gould, Vanderbilt, Frick, Carnegie, Rothschild und Morgan fühlten sich berufen, ganze Wirtschaftszweige wie Eisenbahnbau oder Ölgewinnung zu begründen und zu finanzieren, die westliche Grenze voranzutreiben, ihre Konkurrenten zu vernichten und ihren Erben unermessliche Vermögen zu hinterlassen.
Teil 2
Die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts brachten Amerika ein robustes Wirtschaftswachstum, das von einem unglaublichen Maß an Bestechung und Korruption geschmiert wurde. Daniel Drew, ein Viehdieb, Pferdehändler und Eisenbahner, erfand den Trick des „Rinderwässerns“. Dabei ließ er die Rinder längere Zeit dursten, bis sie im Schlachthaus ankamen. Dann ließ er ihnen große Mengen Salz verabreichen, bis er ihnen schließlich – kurz vor dem Abwiegen – eine wahre Wasserorgie ermöglichte. Später pflegten Tycoons ihre „Rinder zu wässern“, indem sie den Wert ihrer Wertpapiere künstlich aufblähten. Die Eisenbahnunternehmer, die zur amerikanischen Westküste vorstießen, zählten zu den skrupellosesten Unternehmern aller Zeiten. Der Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien wurde durch enorme staatliche Landzuteilungen ermöglicht, und Bestechungsgelder sowie Aktiengeschenke an zahlreiche Mitglieder des Kongresses und der Regierung taten das ihre, um die Projekte voranzutreiben. Kurz nach dem Bürgerkrieg versuchte der gerissene Eisenbahnunternehmer Jay Gould, den gesamten Goldvorrat der Vereinigten Staaten aufzukaufen, und mit ihm auch das Geldangebot des Landes. Gould warb später für seine Eisenbahn, indem er die Route seiner nördlichen Linie – die während eines Großteils des Jahres verschneit war – als tropisches Paradies voller Orangenhaine, Bananenplantagen und Affen anpries. Am Ende des Jahrhunderts war mithilfe all der Bestechungen, Landzuteilungen, gewässerten Rinder und fantastischen Versprechen das großartigste Eisenbahnsystem der Welt entstanden. Die Geschichte von John D. Rockefeller ist ein Sinnbild der Monopolwirtschaft des 19. Jahrhunderts. Rockefeller hatte die Vision, dass die in den Kinderschuhen steckende Ölindustrie enorme Reichtümer in sich barg, und begann Ölraffinerien zu errichten. Er war ein pedantischer Manager und daher bestrebt, „Ordnung“ in die Reihen der streitsüchtigen Spekulanten zu bringen. So kaufte er Konkurrenten auf und konsolidierte seine Kontrolle über die
Kapitel 9
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
Branche, indem er die Eisenbahngesellschaften dazu brachte, ihm hohe geheime Rabatte einzuräumen und ihm Informationen über seine Konkurrenten zu liefern. Als sie ihm die Stirn zu bieten versuchten, weigerten sich Rockefellers Eisenbahnen, ihr Öl zu transportieren und kippten es sogar auf den Boden. Im Jahr 1878 kontrollierte John D. bereits 95 Prozent aller Pipelines und Ölraffinerien der Vereinigten Staaten. Die Preise wurden angehoben und stabilisiert, der ruinöse Wettbewerb fand ein Ende, und das Monopol war erreicht. Rockefeller entwickelte eine geniale neue Methode, um die Kontrolle über seine Allianz aufrechtzuerhalten: Er gründete einen „Trust“, dessen Aktionäre ihre Aktien „Treuhändern“ überantworteten, die das Geschäft im Sinne der Gewinnmaximierung führten. Andere Branchen imitierten den Standard Oil Trust, und schon bald gab es Kerosin-, Zucker-, Whisky-, Blei-, Salz- und Stahl-Trusts. Diese Praktiken brachten Agrarier und Populisten so auf, dass die Regierung bald Antitrust-Gesetze verabschiedete (siehe Kapitel 17). Im Jahre 1910 wurde die Standard Oil Corporation nach dem ersten großen Sieg der Progressiven gegen das „Big Business“ aufgelöst. Ironischerweise profitierte Rockefeller von dieser Aufspaltung sogar, da der Kurs der Standard-Oil-Aktien in die Höhe schoss, als sie öffentlich angeboten wurden.
265
Große Monopole produzierten großen Reichtum. Während es in den USA 1861 drei Millionäre gab, war ihre Zahl im Jahr 1900 bereits auf 4.000 angewachsen (US-$ 1 Million zur Jahrhundertwende entsprechen ca. US-$ 100 Millionen unserer Zeit). Dieser große Reichtum kurbelte seinerseits den Konsum an (ein Begriff, der von Thorstein Veblen in seinem 1899 erschienenen Werk The Theory of the Leisure Class in die Volkswirtschaftslehre eingeführt wurde). Wie europäische Päpste und Aristokraten früherer Zeiten waren nun auch die amerikanischen Tycoons bestrebt, ihre Reichtümer in bleibenden Monumenten zu manifestieren. Das Geld wurde für luxuriöse Paläste wie das „Marble House“ ausgegeben, das heute noch in Newport, Rhode Island, zu sehen ist, für den Kauf riesiger Kunstsammlungen, die heute das Herzstück großer amerikanischer Museen wie des New York Metropolitan Museum of Art bilden, und für die Gründung von Stiftungen und Universitäten wie jener, die nach Stanford, Carnegie, Mellon und Rockefeller benannt sind. Lange nachdem ihre privaten Monopole von der Regierung aufgebrochen oder von Konkurrenten aufgekauft wurden, und lange nachdem ihr Reichtum von ihren Erben verprasst und von späteren Unternehmergenerationen übernommen wurde, beeinflusst das philanthropische Vermächtnis der amerikanischen Räuberbarone noch immer Kunst, Wissenschaft und Bildung in den USA.2
2 Siehe die Hinweise unter „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
266
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Zusammenfassung A. Die Formen des unvollständigen Wettbewerbs
B. Grenzerlös und Monopol 5.
1.
2.
3.
4.
Der Großteil aller heute anzutreffenden Marktstrukturen ist irgendwo im Spektrum zwischen vollständigem Wettbewerb und reinem Monopol angesiedelt. Unter den Bedingungen unvollständigen Wettbewerbs hat ein Unternehmen einen gewissen Einfluss auf die Preisbildung, was sich in der abwärts gerichteten Nachfragekurve nach den Produkten dieses Unternehmens widerspiegelt. Wichtige Marktformen sind (a) das Monopol, bei dem ein einziges Unternehmen den gesamten Output eines Wirtschaftszweiges erzeugt; (b) das Oligopol, bei dem einige wenige Anbieter ähnlicher oder differenzierter Produkte die Produktion in einem bestimmten Wirtschaftszweig dominieren; (c) der monopolistische Wettbewerb, bei dem eine große Anzahl kleiner Unternehmen verwandte, aber geringfügig differenzierte Produkte erzeugt; und (d) der vollständige Wettbewerb, in dem eine große Anzahl kleiner Unternehmen das gleiche Produkt herstellt. In den ersten drei Fällen haben es die jeweiligen Unternehmen mit abwärts gerichteten Nachfragekurven zu tun. Skaleneffekte oder mit zunehmender Größe sinkende Durchschnittskosten sind eine wichtige Ursache unvollständigen Wettbewerbs. Wenn die Unternehmen durch Erhöhung der Produktionsmengen ihre Kosten senken können, verhindert dies den vollständigen Wettbewerb deshalb, weil nur wenige Unternehmen in der Lage sind, im jeweiligen Wirtschaftszweig besonders effizient zu produzieren. Wenn die für größtmögliche Effizienz notwendige Mindestgröße eines Unternehmens bezogen auf den nationalen oder regionalen Markt bedeutend ist, führt diese Kostenstruktur zu einem unvollständigen Wettbewerb. Zusätzlich zu sinkenden Kosten führen auch Marktzutrittsbarrieren zu einem unvollständigen Wettbewerb, wobei diese die Form von gesetzlichen Beschränkungen (Patente oder staatliche Reglementierung), hohen Marktzutrittskosten, Werbung und Produktdifferenzierung annehmen können.
Wir können die Gesamterlöskurve eines Unternehmens problemlos von seiner Nachfragekurve ableiten. Aus der Gesamterlösfunktion oder -kurve lässt sich der Grenzerlös ableiten, also der zusätzliche Erlös durch den Verkauf einer zusätzlichen Einheit. Für das Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb liegt der Grenzerlös unter dem Preis, weil dabei der entgangene Erlös für alle vorherigen Outputeinheiten zu berücksichtigen ist, der sich ergibt, wenn das Unternehmen gezwungen ist, seinen Preis zu senken, um eine zusätzliche Outputeinheit verkaufen zu können. Bei abwärts gerichteter Nachfragekurve gilt: P = AR > MR = P – entgangener Erlös für alle vorhergehenden q.
6.
7.
8.
9.
Erinnern Sie sich an die Regeln von Tabelle 9-4 in Bezug auf Nachfrageelastizität, Preis und Menge, Gesamterlös und Grenzerlös. Ein Monopolist ermittelt den Punkt seiner Gewinnmaximierung bei MR = MC, das heißt, wenn die letzte verkaufte Einheit einen Zusatzerlös in derselben Höhe wie die entstandenen Zusatzkosten erbringt. Dasselbe Ergebnis, MR = MC, lässt sich auch grafisch aus dem Schnittpunkt der MR- und der MC-Kurve oder aus der identischen Steigung der Gesamterlösund der Gesamtkostenkurve ableiten. In jedem Fall muss in der Gleichgewichtsposition des Gewinnmaximums gelten, dass Grenzerlös = Grenzkosten. Für Unternehmen im vollständigen Wettbewerb entspricht der Grenzerlös dem Preis. Deshalb ergibt sich die gewinnmaximale Produktionsmenge bei MC = P. Volkswirtschaftliche Überlegungen führen uns zum äußerst wichtigen Marginalprinzip. Wenn Sie Entscheidungen zu treffen haben, berücksichtigen Sie den zukünftigen Grenznutzen und die Grenzkosten, und lassen Sie versunkene Kosten, die bereits bezahlt sind, außer Acht.
Kapitel 9
Unvollständiger Wettbewerb und Monopol
267
Begriffe zur Wiederholung Die Formen des unvollständigen Wettbewerbs Vollständiger und unvollständiger Wettbewerb Monopol, Oligopol, monopolistischer Wettbewerb Produktdifferenzierung (staatlich und wirtschaftlich bedingte) Marktzutrittsbarrieren
Grenzerlös und Monopol Grenz- (oder Zusatz-)Erlös, MR MR = MC als Bedingung für die Gewinnmaximierung MR = P, P = MC für im vollständigen Wettbewerb stehende Unternehmen Natürliches Monopol Marginalprinzip
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Monopoltheorie wurde von Alfred Marshall um 1890 entwickelt; siehe sein Werk Principles of Economics, 9. Aufl. (Macmillan, New York, 1961). Einen hervorragenden Überblick über Monopol und Industrieökonomik bietet F. M. Scherer und David Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 3. Aufl. (Houghton Mifflin, Boston, 1990). Die amerikanische Gründerzeit ließ in den USA den „Boulevardjournalismus“ entstehen, der viele Sensationsgeschichten hervorbrachte, wie Matthew Josephson, The Robber Barons (New York, Harcourt Brace, 1934). Ein ausgewogenerer Bericht findet sich in Ron Chernow, Titan: The Life of John D. Rockefeller, Sr. (Random House, New York, 1998). Deutschsprachige Literatur: Hans-Heinrich Barnikel (Hrsg.): Wettbewerb und Monopol (Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt, 1968); Wilhelm M. Breuer: Zur politischen Ökonomie des Monopols: Einführung in die Probleme der Monopoltheorie (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1975).
Websites Eine der wichtigsten Rechtskontroversen entspann sich im letzten Jahrzehnt über die Frage, ob Microsoft über ein Monopol bei PC-Betriebssystemen verfüge. Diese Frage wird in den „Findings of Fact“ des Microsoft-Antitrust-Verfahrens von Richter Thomas Penfield Jackson (5. November 1999) eingehend diskutiert. Seine Meinung und weitere Entwicklungen sind unter www.microsoft.com/ presspass/legalnews.asp nachzulesen.
Übungen 1.
Nennen Sie die Unterschiede zwischen vollständigem und unvollständigem Wettbewerb. Welche Hauptformen unvollständigen Wettbewerbs gibt es? In welche Kategorie würden Sie Gene-
2.
ral Motors einordnen? Ihre lokale Pizzeria? Microsoft? Ihre Universität? Erklären Sie, warum jede der folgenden Aussagen falsch ist: Geben Sie jeweils die richtige Antwort an.
268 a.
3.
4.
5.
6.
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Ein Monopolist maximiert den Gewinn, wenn MC = P. b. Je größer die Preiselastizität, desto deutlicher liegt der Preis eines Monopolisten über seinen MC. c. Monopolisten ignorieren das Marginalprinzip. d. Monopolisten maximieren den Umsatz. Sie produzieren daher mehr als Unternehmen im vollständigen Wettbewerb, und ihre Preise sind niedriger. Wie lautet der numerische Wert des MR, wenn die dd eine Elastizität von 1 aufweist? Erklären Sie Ihre Antwort. In seinem Gutachten zum Microsoft-AntitrustVerfahren schrieb Richter Jackson: „[D]rei wichtige Fakten weisen darauf hin, dass Microsoft eine Monopolstellung hat. Erstens ist der Marktanteil von Microsoft für Intel-kompatible PC-Betriebssysteme extrem groß und stabil. Zweitens wird der dominante Marktanteil von Microsoft durch eine hohe Marktzutrittsbarriere geschützt. Und drittens – und weitgehend infolge dieser Zutrittsbarriere – haben die Microsoft-Kunden keine wirtschaftliche Alternative zu Windows.“ (Siehe Website-Hinweis in den Leseempfehlungen zu diesem Kapitel.) Warum weisen diese Elemente auf ein Monopol hin? Müssen alle drei gegeben sein? Wenn nicht, welche sind entscheidend? Erläutern Sie Ihre Argumentation. Abbildung 9-4 zeigt die Position des gewinnmaximalen Gleichgewichts. Erklären Sie detailliert, warum sie ein und dieselbe Tatsache auf zwei verschiedene Weisen beschreibt: nämlich, dass ein Unternehmen seine Produktionsmenge ab dem Punkt nicht weiter erhöht, an dem die Zusatzkosten für eine erhöhte Produktionsmenge genau seinem Zusatzerlös entsprechen. Zeichnen Sie Abbildung 9-4(a) noch einmal für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb. Warum verläuft dd horizontal? Erklären Sie, warum die horizontale dd-Kurve mit MR zusammenfällt. Stellen Sie anschließend den Schnittpunkt von MR und MC fest, an dem das Gewinnmaximum erreicht wird. Warum ergibt dies die Wettbewerbsbedingung MC = P? Zeichnen Sie nun Abbildung 9-4(a) noch einmal für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb. Zeigen Sie, dass die Steigungen
Teil 2
von TR und TC auch für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb im Gleichgewichtspunkt des Gewinnmaximums identisch sind. 7. Das Computerunternehmen Banana hat Produktionsfixkosten von US-$ 100.000, wobei jede Arbeitseinheit US-$ 600 und jede Materialsowie Treibstoffeinheit US-$ 400 kostet. Die Konsumenten würden bei einem Preis von US$ 3.000 keine Banana-Computer kaufen, aber pro Preissenkung um US-$ 10 erhöht sich der Umsatz an Banana-Computern um 1.000 Einheiten. Berechnen Sie die Grenzkosten und den Grenzerlös für das Unternehmen Banana Computer und bestimmen Sie den Monopolpreis und die Monopolmenge für dieses Unternehmen. 8. Weisen Sie nach, dass ein nach Gewinnmaximierung strebender Monopolist niemals im preisunelastischen Bereich seiner Nachfragekurve operiert. 9. Erklären Sie den Fehler in folgender Aussage: „Ein Unternehmen, das sich um Gewinnmaximierung bemüht, verlangt immer den höchsten Preis, den der Markt trägt.“ Formulieren Sie die Aussage richtig und verwenden Sie das Konzept des Grenzerlöses, um den Unterschied zwischen richtiger und falscher Aussage zu erklären. 10. Überlegen Sie anhand der entsprechenden Beschreibung in diesem Kapitel, wie Trusts organisiert wurden, um Branchen wie Öl und Stahl zu monopolisieren. Erklären Sie das Sprichwort: „Der Zoll ist die Mutter des Kartells.“ Illustrieren Sie Ihre Analyse anhand von Abbildung 9-2. Erklären Sie anhand des Diagramms, warum die Senkung der Zölle und der Abbau anderer Handelsbarrieren die Macht der Monopole schmälert. 11. Für die Rechenkünstler unter Ihnen: Sie können die Gewinnmaximierungsbedingung rechnerisch leicht ermitteln. Definieren Sie TP (q) = Gesamtgewinn, TC (q) = Gesamtkosten und TR (q) = Gesamterlös. Der Grenz-Sowieso ist die Ableitung des Mengen-Sowieso, sodass gilt: dTR/dq = TR' (q) = Grenzerlös MR. a. Erklären Sie, warum TP = TR – TC. b. Zeigen Sie, dass sich die maximale Gewinnfunktion dort einstellt, wo TC (q) = TR (q). Interpretieren Sie diese Erkenntnis.
269
KAPITEL 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Putnam (Braniff Airlines): Wollen Sie mir etwas vorschlagen? Crandall (American Airlines): Ja. Ich hätte da schon einen Vorschlag: Sie erhöhen Ihre ... Ticketpreise um 20 Prozent, und ich ziehe gleich am nächsten Morgen nach. ... Da haben Sie was davon und ich auch. Putnam: Wir können doch hier nicht über unsere Preisgestaltung reden. Crandall: Oh ..., Howard. Wir können über jedes ... Thema reden, über das wir reden wollen. Ein zwischen Howard Putnam, dem früheren CEO von Braniff Airlines, und Robert Crandall, dem ehemaligen Chef von American Airlines, aufgenommenes Gespräch (die Punkte markieren jeweils Kraftausdrücke, die hier nicht wiedergegeben sind)
In den früheren Kapiteln haben wir uns mit den Marktstrukturen im vollständigen Wettbewerb und mit dem vollständigen Monopol befasst. Doch wenn Sie die US-amerikanische Wirtschaft analysieren, werden Sie feststellen, dass diese Extremfälle selten auftreten. Viel häufiger begegnet uns ein Mittelding, eine von zahlreichen Formen des unvollständigen Wettbewerbs. In den meisten Wirtschaftszweigen steht heute eine kleine Anzahl von Unternehmen im Wettbewerb miteinander. Welche Merkmale zeichnen nun diese Zwischenformen des unvollständigen Wettbewerbs aus? Wie setzen ihre Vertreter die Preise fest? Um diese Fragen beantworten zu können, sehen wir uns erst einmal genauer an, was im Oligopol und bei monopolistischem Wettbewerb geschieht, wobei wir besonders darauf achten wollen, welche Rolle Konzentrationen und strategische Interaktionen in diesem Zusammenhang spielen. Im nächsten Abschnitt geht es dann um große Kapitalgesellschaften, die vorherrschende Form wirtschaftlicher Organisation im modernen Kapitalismus. Wir beschließen das Kapitel mit einem Vergleich zwischen volkswirtschaftlichen Kosten und volkswirtschaftlichem Nutzen des unvollständigen Wettbewerbs.
A. Das Verhalten von Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb Blättern Sie bitte zu Tabelle 9-1 (S. 250) zurück, die folgende Hauptformen des Marktes aufzählt: (1) den vollständigen Wettbewerb, in dem eine große Anzahl von Unternehmen ein identisches Produkt erzeugt; (2) den monopolistischen Wettbewerb, der dann auftritt, wenn eine große Anzahl von Unternehmen geringfügig differenzierte Produkte
270
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
erzeugt, während es sich (3) beim Oligopol um eine Zwischenstufe des unvollständigem Wettbewerbs handelt, bei der ein Wirtschaftszweig von einigen wenigen Unternehmen dominiert wird. Die am stärksten konzentrierte Marktstruktur ist (4) das Monopol, wobei ein einziges Unternehmen die gesamte Produktionsleistung einer Branche erbringt. Ökonomen benötigen häufig, vor allem jedoch zur Beantwortung der Frage, ob der Staat auf einem Markt eingreifen sollte oder nicht, einen quantitativen Maßstab zur Messung der Marktmacht. Marktmacht ist das Ausmaß der Kontrolle, die ein einzelnes Unternehmen oder eine kleine Anzahl von Unternehmen auf die Preis- und Produktionsentscheidungen eines Wirtschaftszweiges ausüben kann.
Teil 2
Marktmacht kann man messen Das häufigste Maß für die Marktmacht ist die Konzentrationsrate in einem Wirtschaftszweig, wie in Abbildung 10-1 dargestellt. Die VierUnternehmens-Konzentrationsrate etwa wird als jener Anteil der gesamten Produktionsmenge (oder Leistungen) eines Wirtschaftszweiges definiert, der auf die vier größten Unternehmen entfällt. Dementsprechend bezieht sich die Acht-Unternehmens-Konzentrationsrate auf den Prozentsatz des von den acht größten Unternehmen erzeugten Outputs. In einem reinen Monopol müsste die Vierwie auch die Acht-Unternehmens-Konzentrationsrate 100 Prozent betragen, im vollständigen Wettbewerb hingegen wäre sie knapp über null, weil hier ja selbst die größten Anbieter nur einen winzigen Bruchteil des gesamten Branchenoutputs erzeugen.
Konzentration der im produzierenden Gewerbe der USA, gemessen am Wert des jeweiligen Liefervolumens, 1997 Die vier größten Unternehmen
Die vier nächstgrößten Unternehmen
Zigaretten
99 %
Autos
1% 10 %
88 %
Haushaltsgeräte
83 %
15 %
Frühstücksflocken
83 %
11 %
Eisen und Stahl Damenbekleidung
23 %
45 %
Computer
20 %
33 % 6%
4%
2% Maschinenbau 0
1% 20 40 60 80 Prozentsatz des Gesamtvolumens
100
Abbildung 10-1: Konzentrationsraten sind ein quantitatives Maß der Marktmacht Im Fall von Kühlschränken, Autos und in vielen anderen Sektoren sorgen einige wenige Unternehmen für den Großteil der US-Produktion. Vergleichen Sie diese Situation mit dem Ideal des vollständigen Wettbewerbs, wo die einzelnen Unternehmen zu klein sind, um Einfluss auf den Marktpreis zu nehmen. Quelle: Bureau of the Census, Daten aus 1997.
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Viele Ökonomen halten die traditionellen Konzentrationsraten für einen weitgehend unzureichenden Maßstab der Marktmacht. Als Alternative, die der bedeutenden Rolle der dominanten Unternehmen eher gerecht wird, bietet sich der Herfindahl-HirschmanIndex (HHI) an. Dieser wird durch Addition der Quadrate der prozentualen Marktanteile aller Marktteilnehmer errechnet. Im vollständigen Wettbewerb läge der HHI nahe null, während ein vollständiges Monopol einen HHI von 10.000 aufwiese. (Die genaue Formel und ein Beispiel dazu finden Sie in Frage 2 am Ende dieses Kapitels.) Der Unterschied zwischen diesen beiden Maßstäben zeigt sich, wenn man bedenkt, dass die Vier-Unternehmens-Konzentrationsrate der Bierindustrie und der Airlines mit 85 und 71 Prozent recht ähnlich ausfällt. Tatsächlich aber wird die US-Bierindustrie ganz eindeutig von Anheuser-Busch dominiert, während der Marktanteil der führenden Airline sehr viel geringer ist. Wenn wir den alternativen Index berechnen, so beträgt der HHI der Bierindustrie 2.757, jener der Airline-Branche aber nur 1.434. Eine Warnung zum Thema Konzentrationsmessungen Obwohl Konzentrationsmessungen in der Volkswirtschaftslehre ebenso wie im Zuge rechtlicher Erhebungen häufig durchgeführt werden, sind sie aufgrund des internationalen Wettbewerbs und struktureller Veränderungen oft irreführend. Die konventionellen Messmethoden berücksichtigen nur die Inlandsproduktion, während sie Importe vernachlässigen. Aufgrund der massiven Zunahme ausländischer Konkurrenz in den letzten 30 Jahren ist die tatsächliche Marktmacht der Unternehmen eines Landes viel geringer, als uns die konventionellen Messungen glauben machen. Das führt dazu, dass die Konzentrationsdaten in Branchen, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, die Marktmacht übertrieben darstellen. So gibt das konventionelle Konzentrationsmaß in
271
Abbildung 10-1 an, die vier größten Autohersteller würden gemeinsam 88 Prozent des US-Marktes beherrschen. Nach Einbeziehung der Importe sinkt jedoch die Konzentrationsrate der vier Konzerne auf nur noch 60 Prozent des Gesamtmarktes. Außerdem vernachlässigen Konzentrationsmessungen die Auswirkungen des Wettbewerbs aus anderen Sektoren. Konzentrationsraten wurden zumeist jeweils für einen eng gefassten Wirtschaftszweig wie beispielsweise für die lokalen Telefongesellschaften ermittelt. In Wirklichkeit weht der raue Wind des Wettbewerbs aber manchmal aus einer ganz anderen Richtung. Mobiltelefone stellen eine ernstzunehmende Bedrohung für das konventionelle Festnetztelefon dar, obwohl es sich hierbei um eine andere Branche handelt. Um der aktuellen technologischen Konvergenz Rechnung zu tragen, beurteilt die USamerikanische Regulierungsbehörde für Telekommunikation, die Federal Communications Commission, Telekomgesellschaften heute anhand ihrer Marktanteile in verschiedenen Segmenten wie Kabel-TV, Mobil- und Festnetztelefonie. Letztlich benötigen wir aber in zahlreichen juristischen Belangen einen Maßstab für die Marktkonzentration, etwa für das in Kapitel 17 behandelte Kartellrecht. Eine Abgrenzung des Marktes samt allen darin auftretender Bewerber kann nützlich sein, um festzustellen, ob monopolistischer Missbrauch tatsächlich eine Gefahr darstellt oder nicht.
Das Wesen des unvollständigen Wettbewerbs Anhand der Analyse der für die Konzentration einer Branche entscheidenden Elemente sind Ökonomen zu dem Schluss gelangt, dass das Ausmaß der Konzentration von drei wichtigen Faktoren abhängt. Es sind dies Skaleneffekte, Marktzutrittsbarrieren und strategische Interaktion (wobei die beiden ersten Faktoren im vorigen Kapitel analysiert wurden, während der dritte Gegenstand ei-
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
ner detaillierten Erörterung im nächsten Kapitel sein wird): • Kosten. Wenn die Mindesteffizienzgröße eines Unternehmens bereits einen erheblichen Anteil des gesamten Branchenoutputs ausmacht, können nur wenige Unternehmen mit Gewinn überleben, weshalb sich ein Oligopol bildet. • Wettbewerbsbarrieren. Bei ausgeprägten Skaleneffekten oder staatlichen Marktzutrittsbarrieren ist die Zahl der Anbieter in einem Sektor eingeschränkt. • Strategische Interaktion. Sind auf einem Markt nur wenige Unternehmen tätig, werden sie ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander bald feststellen. Strategische Interaktion, ein echtes neues Merkmal des Oligopols und Inspirationsquelle für die Spieltheorie, tritt dann auf, wenn das Geschäft jedes einzelnen Unternehmens vom Verhalten seiner Mitbewerber abhängt. Doch warum zeigen sich Ökonomen überhaupt besorgt über Wirtschaftszweige, in denen ein nur unvollständiger Wettbewerb herrscht? Nun, diese Wirtschaftszweige verstoßen in mehrfacher Hinsicht gegen das öffentliche Interesse. So führt ein unvollständiger Wettbewerb im Allgemeinen zu Preisen, die über den Grenzkosten liegen. Manchmal lässt ohne die Anreize des Wettbewerbs auch die Qualität der erbrachten Leistungen zu wünschen übrig. Doch sowohl hohe Preise als auch Qualitätsmängel sind alles andere als wünschenswert. Auf Grund ihrer überhöhten Preise erzielen oligopolistische Wirtschaftszweige häufig (nicht immer) abnorm hohe Gewinne. Die Gewinne der hoch konzentrierten Tabakund Pharmaindustrie waren etwa schon mehrmals Ziel heftiger politischer Attacken. Doch sorgfältige Studien zeigen, dass konzentrierte Wirtschaftszweige zumeist nur geringfügig höhere Gewinne erzielen als weniger konzentrierte Bereiche. Dies ist eine ver-
Teil 2
blüffende Feststellung, und sie hat insbesondere die Kritiker des Big Business überrascht, die eigentlich erwartet hätten, dass die größten Unternehmen auch die fettesten Gewinne verbuchen. Historisch gesehen war eines der Hauptargumente, die zur Verteidigung des unvollständigen Wettbewerbs vorgebracht wurden, die Verantwortung, die große Konzerne in der modernen Wirtschaft für Forschung und Entwicklung (F&E) und für Innovationen übernehmen. Dahinter steckt sicher mehr als ein Körnchen Wahrheit, denn häufig haben besonders hoch konzentrierte Branchen auch besonders hohe F&E-Ausgaben je Dollar Umsatz, weil sie bemüht sein müssen, einen technologischen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz herauszuarbeiten. Doch es ist ebenso richtig, dass Einzelpersonen und kleine Unternehmen viele der bedeutendsten technologischen Durchbrüche erzielt haben. Wir werden uns mit dieser wichtigen Frage weiter unten in diesem Kapitel näher befassen.
Theorien des unvollständigen Wettbewerbs So wichtig die Konzentration in einem Wirtschaftszweig sein mag, sagt sie doch nicht alles aus. Um das Verhalten der Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb zu erklären, hat die Ökonomik daher ein eigenes Fachgebiet entwickelt, das als Industrieökonomik bezeichnet wird. Mit diesem sehr umfangreichen Fach können wir uns hier nicht befassen. Doch sehen wir uns drei der wichtigsten Fälle unvollständigen Wettbewerbs näher an: das Kollusionsoligopol, den monopolistischen Wettbewerb und das Oligopol mit wenigen Konkurrenten.
Kollusionsoligopol Das Ausmaß unvollständigen Wettbewerbs auf einem Markt hängt nicht nur von der Zahl und Größe der dort agierenden Unter-
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
nehmen, sondern auch von ihrem Verhalten ab. Wenn nur einige wenige Unternehmen auf einem Markt tätig sind, sehen sie genau, was die Konkurrenz tut, und sie können darauf reagieren. Wird eine bestimmte Strecke beispielsweise nur von zwei Fluglinien beflogen, und erhöht eine der beiden die Flugpreise, muss die andere entscheiden, ob sie nachziehen oder den niedrigeren Ticketpreis beibehalten möchte, um den Konkurrenten zu unterbieten. Mit dem Begriff strategische Interaktion wird die Abhängigkeit der Geschäftsstrategie eines Unternehmens vom Verhalten der Konkurrenz beschrieben. Auf einem Markt, auf dem nur wenige Unternehmen agieren, haben diese die Wahl zwischen kooperativem und unkooperativem Verhalten. Unternehmen agieren unkooperativ, wenn sie nur im eigenen Interesse handeln und weder ein ausdrückliches noch ein stillschweigendes Abkommen mit anderen Unternehmen besteht. Dieses Verhalten führt zum Entstehen von Preiskriegen. Unternehmen operieren hingegen kooperativ, wenn sie versuchen, den Wettbewerb untereinander auf ein Minimum zu beschränken. Arbeiten Unternehmen in einem Oligopol aktiv zusammen, betreiben sie die so genannte Kollusion. Dieser Begriff bezeichnet ein Verhalten, bei dem zwei oder mehrere Unternehmen ihre Preise oder Produktionsmengen gemeinsam festlegen, den Markt untereinander aufteilen oder Geschäftsentscheidungen miteinander abstimmen. In den Anfängen des amerikanischen Kapitalismus, noch bevor es wirksame Antitrust-Gesetze gab, sprachen sich die Oligopolisten sehr häufig untereinander ab und bildeten einen so genannten Trust oder ein Kartell. Ein Kartell ist ein Zusammenschluss unabhängiger Unternehmen, die ähnliche Produkte erzeugen und zusammenwirken, um die Preise hoch und die Produktionsmengen gering zu halten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist heute eine Kollusion von Unternehmen zur gemeinsamen Preisfestsetzung oder Aufteilung der Märkte in den Vereinigten Staaten ebenso wie in den meis-
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ten anderen Staaten streng verboten. (Die Antitrust- oder Kartellgesetze, die sich mit einem solchen Verhalten beschäftigen, sind in Kapitel 17 beschrieben.) Trotzdem fühlen sich Unternehmen häufig versucht, eine stillschweigende Kollusion einzugehen, indem sie ohne explizite Vereinbarungen auf einen allzu harten Wettbewerb verzichten. Wenn Unternehmen stillschweigend zusammenarbeiten, verlangen sie häufig dieselben (überhöhten) Preise, steigern so ihre Gewinne und vermindern das Geschäftsrisiko. Eine neuere Untersuchung hat ergeben, dass etwa 9 Prozent der großen Unternehmen – zugegebenermaßen oder nicht – untereinander illegale Preisabsprachen treffen oder dafür bereits verurteilt wurden. In den vergangenen Jahren wurden unter anderem gegen die Produzenten von Babynahrung, Scheuerlappen und koscheren Nahrungsmitteln für das jüdische Pessach-Fest Untersuchungen wegen möglicher Preisabsprachen eingeleitet, aber auch Privatuniversitäten, Kunsthändler, Fluglinien und die Telekommunikationsbranche stehen im Verdacht der Kollusion. Eine Kollusion, sollte sie gelingen, kann sich durchaus bezahlt machen. Stellen Sie sich einen Wirtschaftszweig mit vier Unternehmen vor – nennen wir sie die Unternehmen A B, C und D –, die den ruinösen Preiskrieg untereinander satt haben. Sie kommen stillschweigend überein, dieselben Preise zu verrechnen und einander nicht mehr zu unterbieten. Diese Unternehmen hoffen auf ein Kollusionsoligopol, in dem sie gemeinsam jenen Preis finden werden, der ihren gemeinsamen Gewinn maximiert. Abbildung 10-2 illustriert die Situation eines Oligopolisten. Die Nachfragekurve von A, wir nennen sie DADA, wird unter der Annahme gezogen, dass alle anderen Unternehmen der Preispolitik von A folgen und dieselben Preise verlangen werden. Die Nachfragekurve jedes einzelnen beteiligten Unternehmens weist dieselbe Elastizität auf wie die DDKurve der Branche. Auf Unternehmen A entfällt ein Viertel des gemeinsamen Mark-
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
tes, solange alle Unternehmen denselben Preis verlangen. Das gewinnmaximale Gleichgewicht für das Kollusionsoligopol liegt in Abbildung 10-2 im Punkt E, also im Schnittpunkt zwischen der MC- und der MR-Kurve des Unternehmens. Die entsprechende Nachfragekurve ist unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die anderen Unternehmen denselben Preis wie A verlangen, DADA. Der für das Kollusionsoligopol optimale Preis liegt in Punkt G auf DADA, also genau oberhalb von Punkt E. Dieser Preis ist identisch mit dem Monopolpreis: Er liegt deutlich über den Grenzkosten und beschert den Kollusionsoligopolisten einen hübschen Monopolgewinn. P DA MC
G Preis
AC
E
MR
DA Q
0 Menge
Abbildung 10-2: Kollusionsoligopole sind Monopolen sehr ähnlich Sofern sie Erfahrungen mit verheerenden Preiskriegen haben, werden Unternehmen sicherlich wissen, dass auf jede Preissenkung eine Preissenkung der Konkurrenz folgt. Deshalb kann Oligopolist A seine Nachfragekurve mit DADA veranschlagen, weil er davon ausgeht, dass die anderen ähnliche Preise berechnen werden. Wenn die Firmen Absprachen treffen, um gemeinsam einen gewinnmaximalen Preis festzulegen, so wird sich dieser Preis nur unwesentlich von dem Preis eines einzelnen Monopolisten unterscheiden. Können Sie erkennen, warum die Gewinne dem grau unterlegten Rechteck entsprechen?
Teil 2
Wenn es Oligopolisten gelingt, zur Maximierung ihrer Gewinne zusammenzuarbeiten, wobei auch die wechselseitige Abhängigkeit zu bedenken ist, erzielen sie damit den Preis, die Produktionsmenge und den Gewinn eines Monopolisten. So entzückt natürlich viele Oligopolisten über derart hohe Gewinne wären, bestehen in der Realität doch zahlreiche Hindernisse auf dem Weg zur Kollusion. Erstens sind Kollusionen verboten. Zweitens können einzelne der beteiligten Unternehmen aus der Vereinbarung ausscheren und ausgewählten Kunden günstigere Preise gewähren, was ihren Marktanteil vergrößert. Heimliche Preisnachlässe sind vor allem auf jenen Märkten wahrscheinlich, auf denen die Preise geheim gehalten werden, wo die Produktdifferenzierung groß ist und mehr als nur ein paar Unternehmen agieren oder auf denen sich ein rascher technologischer Wandel vollzieht. Drittens führt der zunehmende internationale Handel dazu, dass viele Unternehmen einem intensiven Wettbewerb durch ausländische ebenso wie durch inländische Unternehmen ausgesetzt sind. Die Erfahrung zeigt, wie schwierig es ist, ein erfolgreiches Kartell zu führen, und zwar gleichgültig, ob die Absprachen offen oder stillschweigend erfolgen. Ein Serien-Thriller auf diesem Gebiet ist die Geschichte des internationalen Ölkartells OPEC, der Organisation erdölexportierender Staaten. Die OPEC ist eine internationale Organisation, die für ihre Mitgliedstaaten – unter ihnen Saudi-Arabien, Iran und Algerien – Förderquoten festlegt. Proklamiertes Ziel des Kartells ist „die Sicherung fairer und stabiler Preise für die Rohölproduzenten, eines effizienten, wirtschaftlichen und gesicherten Rohölangebots für die Verbraucherstaaten und einer fairen Kapitalrendite für jene, die Investitionen in die Ölindustrie tätigen“: Kritiker meinen, es handle sich bei der OPEC in Wirklichkeit um ein Kollusionsmonopol, das versuche, die Gewinne der Förderländer zu maximieren.
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Die OPEC wurde im Jahre 1973 schlagartig berühmt, als sie die Rohölförderung massiv drosselte und die Ölpreise daraufhin in ungeahnte Höhen stiegen. Doch damit ein Kartell erfolgreich sein kann, müssen seine Mitglieder niedrige Produktionsquoten festsetzen und diese dann auch diszipliniert einhalten. Nach einigen Jahren bricht jedoch jedes Mal ein Ölpreiskampf aus, weil einige OPECMitgliedsländer ihre Quoten nicht einhalten. Auf besonders spektakuläre Weise geschah dies 1986, als Saudi-Arabien die Ölpreise von US-$ 28 je Barrel auf unter US-$ 10 drückte. Es ist nämlich besonders schwierig, ein Kartell unter verfeindeten Teilnehmern durchzusetzen, die – wie Irak, Iran und Kuwait – nicht nur Preiskriege untereinander ausfechten. Ein weiteres Problem der OPEC liegt darin begründet, dass die Organisation zwar die Förderquoten, nicht aber die Preise aushandelt. Dies kann zu massiven Preisschwankungen führen, weil die Nachfrage unberechenbar und in hohem Maße preisunelastisch ist. Die Ölpreise schwanken immer dann besonders stark, wenn politische Ereignisse die Situation im Nahen und Mittleren Osten aufheizen – zuletzt anlässlich der Vorbereitungen zur Invasion im Irak, Anfang 2003. Die zivile Luftfahrt ist ein weiteres Beispiel für einen Markt mit immer wiederkehrenden – und gescheiterten – Kollusionsversuchen. Fluglinien wären eigentlich ideale Kandidaten für eine solche Zusammenarbeit. Schließlich gibt es nur einige wenige große Airlines, und viele Strecken werden nur von einer oder zwei Linien beflogen. Doch erinnern Sie sich noch an das Zitat am Anfang des Kapitels, in dem der Chef einer Airline einem anderen eine Preisabsprache anbot? Seit diesem Gespräch landete Braniff bereits zweimal vor dem Konkursrichter. Zwei große Airlines, United und US Airways, mussten im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 Konkurs anmelden. Wir schließen daraus, dass selbst für den Fall einer effektiven Kollusion unter den Fluglinien diese der Branche zumindest keine Gewinne zu bescheren scheint. Die Erfahrung lehrt,
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dass eine Fluglinie eigentlich nur dann überhöhte Preise verlangen kann, wenn sie de facto ein Monopol auf alle Flüge zu einer bestimmten Destination hat.
Monopolistischer Wettbewerb Stehen am einen Ende des Spektrums die Kollusionsoligopole, so finden wir am anderen den monopolistischen Wettbewerb. Der monopolistische Wettbewerb gleicht dem vollständigen Wettbewerb in dreifacher Hinsicht: Es treten zahlreiche Käufer und Verkäufer auf, Marktzutritt und -austritt sind problemlos, und die Unternehmen nehmen die Preise ihrer Mitbewerber als gegeben an. Der Unterschied zum vollständigen Wettbewerb besteht jedoch darin, dass die Produkte unter Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs gleich sind, während sich der monopolistische Wettbewerb durch Produktdifferenzierung auszeichnet. Monopolistischer Wettbewerb ist ein besonders weit verbreitetes Phänomen. Sehen Sie sich doch einmal die Regale in den Supermärkten an, und Sie werden eine überwältigende Anzahl unterschiedlicher Marken von Frühstücksflocken, Shampoos und Tiefkühlnahrung vorfinden. Innerhalb jeder Produktgruppe sind zwar die Produkte oder Dienstleistungen verschieden, aber doch ähnlich genug, um miteinander zu konkurrieren. Einige weitere Beispiele für den monopolistischen Wettbewerb: In einem Bezirk kann es mehrere Lebensmittelhändler geben, die die gleichen Produkte führen, allerdings an verschiedenen Standorten. Auch Tankstellen verkaufen das gleiche Produkt, aber sie konkurrieren über ihren Standort und den Markennamen. Die mehreren Hundert Magazine im Zeitschriftenregal sind genauso Akteure im monopolistischen Wettbewerb wie die etwa 50 miteinander konkurrierenden PCMarken. Die Liste ist unendlich lang. Für unsere Belange interessiert uns aber Folgendes: Die Produktdifferenzierung gibt jedem Anbieter einen gewissen Spielraum, seine Preise zu erhöhen oder zu senken, und
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
zwar einen größeren Spielraum als bei vollständigem Wettbewerb. Aufgrund der Produktdifferenzierung kommt es zu einer Abwärtsneigung der Nachfragekurve für jeden Verkäufer. Abbildung 10-3 könnte sich beispielsweise auf eine Fischerei-Fachzeitschrift im monopolistischen Wettbewerb beziehen, die sich in einem kurzfristigen Gleichgewicht in G befindet. Ihre Nachfragekurve dd zeigt das Verhältnis zwischen den verkauften Exemplaren und dem Preis an, wenn die Preise anderer Magazine unverändert bleiben. Die Nachfragekurve der Fischereizeitung ist abwärts geneigt, weil sie sich von den anderen ein wenig unterscheidet, wenn auch nur hinsichtlich ihres Spezialgebietes. Der gewinnmaximale Preis befindet sich an Punkt G. Da der Preis in G über den Durchschnittskosten liegt, erwirtschaftet das Magazin einen ansehnlichen Gewinn, der durch die Fläche ABGC dargestellt wird. Der monopolistische Wettbewerb vor dem Marktzutritt von Konkurrenten P
d MC G
Preis
C
AC B A E
d MR
Q
0 Menge
Abbildung 10-3: Unternehmen im monopolistischen Wettbewerb produzieren viele ähnliche Güter Im monopolistischen Wettbewerb verkaufen zahlreiche kleine Unternehmen differenzierte Produkte und sehen sich daher einer abwärts verlaufenden Nachfragekurve gegenüber. Jedes Unternehmen nimmt die Preise seiner Konkurrenten als gegeben an (Preisnehmer). Das Gleichgewicht liegt in MR = MC, also E, und der Preis in G. Da der Preis über AC liegt, erzielt das Unternehmen einen Gewinn in Höhe des Bereichs ABGC.
Teil 2
Doch unsere Fischereizeitung hat kein Monopol auf die Autoren oder Druckereien oder auch auf das Know-how in Sachen Fischfang. Neue Magazine können auf den Markt drängen, indem sie einen Fachredakteur einstellen, eine zündende neue Idee und ein Logo entwickeln, eine Druckerei finden und Mitarbeiter einstellen. Da Fischereimagazine Gewinne abwerfen, kommen Unternehmer mit neuen Produkten auf den Markt. Mit den neuen Mitbewerbern verschiebt sich die Nachfragekurve für die Produkte der bereits existierenden, im monopolistischen Wettbewerb stehenden Magazine nach links, denn auch die neuen Produkte naschen am gleichen Kuchen mit. Es entsteht letztlich eine Situation, in der immer weitere Fischereimagazine am Markt erscheinen, bis der gesamte Gewinn (einschließlich der entsprechenden Opportunitätskosten für Zeit, Können und Kapital der Eigentümer) gegen null gedrückt wird. Abbildung 10-4 zeigt das endgültige langfristige Gleichgewicht für den typischen Anbieter. Im Gleichgewicht verringert sich die Nachfrage bzw. wird nach links verschoben, bis die neue Nachfragekurve d'd' die AC-Kurve des Unternehmens berührt (aber niemals über diese hinausgeht). Punkt G' stellt ein langfristiges Gleichgewicht für den Wirtschaftszweig dar, weil die Gewinne auf null reduziert sind und niemand einen Anreiz hat, auf den Markt zu drängen, oder gezwungen wird, den Markt zu verlassen. Diese Analyse lässt sich am Beispiel der PC-Industrie gut darstellen. Ursprünglich erwirtschafteten Computerhersteller wie Apple oder Compaq große Gewinne. Doch ganz offensichtlich waren die Marktzutrittsbarrieren in der PC-Branche niedrig, und zahlreiche Unternehmen versuchten hier ihr Glück. Heute gibt es Dutzende PC-Hersteller, die jeweils nur einen kleinen Anteil am Computermarkt innehaben, als Ausgleich für ihre Mühe jedoch keine Gewinne erzielen. Das Modell des monopolistischen Wettbewerbs eröffnet eine wichtige Erkenntnis über den Kapitalismus: Die Rentabilität ist bei der
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Der monopolistische Wettbewerb nach dem Marktzutritt von Konkurrenten P
Preis
MC d′
AC G′
E′
d′
Q
0 MR ′ Menge
Abbildung 10-4: Freier Marktzutritt für eine Vielzahl monopolistischer Wettbewerber verhindert Gewinne Die typische ursprüngliche, gewinnträchtige ddKurve in Abbildung 10-3 wird durch den Marktzutritt neuer Konkurrenten nach links unten zu d'd' verschoben. Der Marktzutritt neuer Mitbewerber kann erst gestoppt werden, wenn der Anbieter auf eine langfristige, nicht gewinnträchtige Tangente wie in G' gedrückt wird. Im langfristigen Gleichgewicht bleibt der Preis über MC, und jeder Produzent befindet sich auf dem linken, absteigenden Ast seiner langfristigen AC-Kurve.
angeführten Form des unvollständigen Wettbewerbs langfristig gleich null, weil immer neue Unternehmen mit differenzierten Produkten auf den Markt drängen. Im langfristigen Gleichgewicht unter den Bedingungen monopolistischen Wettbewerbs liegen die Preise über den Grenzkosten, während gleichzeitig der Gewinn auf null geschrumpft ist. Manche Kritiker meinen, der monopolistische Wettbewerb sei per se ineffizient, obwohl die Wertschöpfung, also die Gewinne unter Berücksichtigung aller Opportunitätskosten, bei null liegt. Sie argumentieren, er bringe ein Übermaß an neuen Produkten hervor, und der Verzicht auf überflüssige
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Produktdifferenzierungen könnte die Kosten wie auch die Preise senken. Um diese Überlegungen verstehen zu können, sehen Sie sich bitte noch einmal den langfristigen Gleichgewichtspreis in G' aus Abbildung 10-4 an. In diesem Punkt liegt der Preis über den Grenzkosten, und daher wird die Produktionsmenge unter das ideale Wettbewerbsniveau gedrückt. Diese volkswirtschaftliche Kritik des monopolistischen Wettbewerbs hat schon etwas Faszinierendes an sich. Man muss ziemlich gewieft sein, will man den Nutzen für die Menschheit beschreiben, der durch die Einführung von Apfel-Zimt-Cornflakes zusätzlich zu den bereits angebotenen Nuss-Honigund Vollkornprodukten entsteht . Manch einer hat auch Mühe, den Sinn hinter den zahlreichen Tankstellen zu erkennen, die häufig an allen vier Ecken einer Kreuzung postiert sind. Und doch steckt Logik hinter der großen Vielfalt an Waren und Dienstleistungen, die eine moderne Marktwirtschaft hervorbringt. Eine zu geringe Zahl monopolistischer Wettbewerber könnte bei gleichzeitigen Kostensenkungen durchaus zu einer Beeinträchtigung des Wohlergehens der Konsumenten führen, die auf die gewohnte Produktvielfalt verzichten müssten. Die sozialistische Planungswirtschaft hat versucht, die Produktion auf eine kleine Zahl von Gütern zu standardisieren – graue Hemden als Standarduniform, sozusagen –, doch die Konsumenten in diesen Ländern waren angesichts der bunten Vielfalt in den Marktwirtschaften rings um sie herum höchst unzufrieden. Menschen bezahlen für Wahlfreiheit oft gern ein wenig mehr.
Konkurrenz zwischen wenigen Mitbewerbern Für unser drittes Beispiel eines unvollständigen Wettbewerbs wenden wir uns wieder den Märkten zu, auf denen nur einige wenige Unternehmen miteinander konkurrieren. Diesmal konzentrieren wir uns jedoch nicht
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
auf mögliche Kollusionen, sondern wir betrachten den faszinierenden Fall der strategischen Interaktion. Strategische Interaktion ist auf zahlreichen Märkten festzustellen, auf denen es relativ wenige Anbieter gibt. Nicht anders als jeder Tennisspieler muss sich auch ein Unternehmen fragen, wie der „Gegner“ auf Veränderungen in wichtigen Geschäftsbelangen reagieren wird. Falls General Electric ein neues Kühlschrankmodell herausbringt, was wird Whirlpool als Hauptrivale auf dem US-amerikanischen Markt unternehmen? Wie agiert United Airlines, wenn American Airlines die Ticketpreise für Transkontinentalflüge senkt? Nehmen wir als Beispiel die Flugverbindung zwischen New York und Washington, die gegenwärtig Delta und US Airways anbieten. Dieser Markt wird als Duopol bezeichnet, weil er von zwei Unternehmen beherrscht wird. Angenommen, Delta dächte daran, seinen Ticketpreis um 10 Prozent zu senken. Es könnte mit einer Gewinnsteigerung rechnen, solange US Airways nicht reagiert, doch die Gewinne würden gleich wieder verpuffen, wenn US Airways nachzöge. Sofern keine Kollusion möglich ist, muss Delta daher gründlich überlegen, wie US Airways wohl auf die Preisentwicklung beim Konkurrenzunternehmen reagieren wird. Die beste Methode dazu wäre eine Schätzung, welche Maßnahmen US Airways auf welche Schritte des eigenen Unternehmens hin ergreift, umso die Gewinne mit der richtig erkannten strategischen Interaktion zu maximieren. Diese Analyse fällt in den Bereich der Spieltheorie, der wir uns schon bald zuwenden werden. Übrigens findet man ähnliche strategische Interaktionen in vielen großen Branchen: im Fernsehen, in der Automobilindustrie, ja sogar bei Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften. Im Gegensatz zu den simplen Ansätzen des Monopols und des vollständigen Wettbewerbs stellt sich heraus, dass sich das Verhalten von Oligopolisten nicht so einfach erklären lässt. Unterschiedliche Kosten- und Nachfragestrukturen, verschiedene Wirt-
Teil 2
schaftszweige, sogar unterschiedliche Temperamente der Firmenchefs führen zu jeweils anderen strategischen Preisgestaltungsstrategien. Manchmal empfiehlt es sich in einem solchen Umfeld sogar, die eigenen Reaktionen mit einem Schuss Unwägbarkeit zu würzen, um die Opposition aus dem Gleichgewicht zu bringen. Durch den Wettbewerb zwischen einigen wenigen Unternehmen kommt ein völlig neues Element des Wirtschaftslebens ins Spiel: Dieser Wettbewerb zwingt die Unternehmen, die Reaktionen von Mitbewerbern auf Preisund Mengenänderungen zu berücksichtigen, und er bedingt strategische Überlegungen auf diesen Märkten.
Spieltheorie Zur gründlichen Analyse strategischer Interaktionen wenden Ökonomen eine faszinierende Wirtschaftstheorie an, die als Spieltheorie bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um die Auswertung von Situationen, in die zwei oder mehr Entscheidungsträger mit gegensätzlichen Zielen eingebunden sind. Betrachten Sie folgende Feststellungen aus der Spieltheorie zum Thema unvollständiger Wettbewerb: • Bei einer zunehmenden Zahl unkooperativer Oligopolisten nähern sich Preise und Mengen im jeweiligen Wirtschaftszweig einer Produktion unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen an. • Entscheiden sich die Unternehmen eher für die Kollusion als für den Wettbewerb, entsprechen Marktpreise und Marktmengen weitgehend den im Monopol anzutreffenden Bedingungen. Experimente lassen jedoch darauf schließen, dass mit zunehmender Zahl der Unternehmen Kollusionsabsprachen schwieriger werden und dass die Wahrscheinlichkeit eines Ausscherens Einzelner und eines nicht kooperativen Verhaltens steigt.
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
• In vielen Situationen gibt es für ein Oligopol kein stabiles Gleichgewicht. Die strategische Interaktion kann zu instabilen Ergebnissen führen, wenn die Unternehmen einander drohen, bluffen, Preiskriege vom Zaun brechen, vor stärkeren Unternehmen kapitulieren, schwache Gegner sanktionieren, ihre Absichten signalisieren oder einfach vom Markt verschwinden. Im nächsten Kapitel wollen wir die Spieltheorie genauer beleuchten.
Preisdiskriminierung Unternehmen mit Marktmacht können ihre Gewinne bisweilen durch die so genannte Preisdiskriminierung steigern. Von Preisdiskriminierung spricht man, wenn dasselbe Produkt an verschiedene Kundengruppen zu verschiedenen Preisen verkauft wird. Bedenken Sie folgendes Beispiel: Sie sind Geschäftsführer eines Unternehmens, das ein erfolgreiches Finanzprogramm für private Anwender namens MyMoney verkauft. Ihr Marketingleiter sagt Ihnen Folgendes: Sehen Sie mal, Boss. Unseren Marktforschungsdaten zufolge lassen sich unsere Käufer in zwei unterschiedliche Kategorien einteilen: (1) die derzeitigen Kunden, die von MyMoney ohnehin nicht loskommen, weil sie bereits ihre gesamte Vermögensverwaltung mit unserem Programm betreiben, und (2) potenzielle Neukunden, die bisher mit anderen Programmen arbeiten. Was meinen Sie, sollten wir nicht unsere Preise anheben, Neukunden aber einen Rabatt gewähren, um ihre Bereitschaft zum Wechsel zu fördern? Ich habe mir die Zahlen angesehen. Wenn wir eine Preiserhöhung von US-$ 20 auf US-$ 30 vornehmen, aber all jenen, die bisher eine andere Software verwenden, einen Nachlass von US-$ 15 gewähren, so haben wir davon nur Vorteile.
Dieser Vorschlag fasziniert Sie. Ihre hauseigene Volkswirtin zeichnet die Nachfrage-
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kurve, die Sie in Abbildung 10-5 sehen. Sie stellt fest, dass Ihre bestehenden Kunden eine deutlich preisunelastischere Nachfrage aufweisen als potenzielle Neukunden, weil diese erhebliche Kosten für den Wechsel von einem anderen Programm zu tragen haben. Sollte Ihr Rabatt-Programm funktionieren und Sie den Markt erfolgreich in zwei Kategorien aufteilen können, so ergeben die nackten Zahlen, dass Ihr Gewinn von US-$ 1.200 auf US-$ 1.350 steigt. (Damit Sie diese Analyse auch ganz sicher verstehen, schätzen Sie doch bitte anhand der Zahlen in Abbildung 10-5, wie hoch der Monopolpreis und die Gewinne ausfallen, wenn Sie einen Einzelmonopolpreis festlegen und zwischen den beiden Märkten preisdiskriminierend vorgehen.) Preisdiskriminierung wird heute häufig angewandt, insbesondere bei Gütern, die sich nicht einfach vom Niedrig- zum Hochpreismarkt hin verschieben lassen. Hier einige Beispiele: • Dieselben Lehrbücher werden in Europa billiger verkauft als in den USA. Warum also kaufen nicht einfach die Großhändler eine große Menge in Europa und unterbieten den US-Markt? Nun, ein protektionistischer Importzoll weiß das zu verhindern. Sie als Einzelperson können Ihre Bücher aber sehr wohl billiger einkaufen, indem Sie sie online im Ausland erwerben. • Fluglinien sind wahre Meister der Preisdiskriminierung (siehe dazu unsere Erörterung der „Air Elastizität“ in Kapitel 4). Sie unterteilen den Markt, indem sie die Ticketpreise für Kunden, die zu Spitzenzeiten, und andere, die in flauen Zeiten reisen, für Geschäfts- und Freizeitkunden und für mehr oder weniger flexible Kunden splitten. So füllen sie ihre Maschinen, ohne allzu große Einbußen bei den Erträgen hinnehmen zu müssen. • Lokale Versorgungsunternehmen verwenden häufig „zweigeteilte“ Preise (auch als nichtlineare Preise bezeichnet), um einen
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
(a) Alte Kunden
Teil 2
(b) Neue Kunden
P
P
60
Po* 30
30
Do
Einheitspreis
20
Pn* 15 Dn 30
60
q
MRo
30
60
q
MRn
Abbildung 10-5: Unternehmen können durch Preisdiskriminierung ihre Gewinne steigern Sie sind ein monopolistischer Anbieter von Computersoftware mit Grenzkosten von null, der seinen Gewinn maximieren möchte. Ihr Markt umfasst alte Kunden in (a) und Neukunden in (b). Die bereits bestehenden, alten Kunden weisen eine unelastischere Nachfrage auf, weil sie der Wechsel zu anderen Programmen teuer zu stehen käme. Wenn Sie einen Einheitspreis festsetzen müssen, maximieren Sie Ihren Gewinn (es sind dies US-$ 1.200) bei einem Preis von US-$ 20. Doch nehmen wir einmal an, Sie könnten Ihren Markt zwischen gebundenen Altkunden und zögerlichen Neukunden segmentieren. Damit ließe sich Ihr Gewinn auf ($ 30 30) + ($ 15 30) = US-$ 1.350 steigern.
Teil ihrer Betriebskosten wieder hereinzuspielen. Sehen Sie sich einmal Ihre Telefon- oder Stromrechnung näher an: Meistens bezahlen Sie eine „Anschlussgebühr“ und einen „Einheitspreis“ für tatsächlich in Anspruch genommene Leistungen. Weil der Anschluss selbst sehr viel preisunelastischer ist als die verbrauchten Einheiten, ermöglicht eine solche Zweiteilung es dem Verkäufer, die Einheitspreise zu senken und den Gesamtumsatz zu steigern. • International tätige Unternehmen stellen oft fest, dass die ausländische Nachfrage elastischer ist als die inländische. Sie setzen den Preis im Ausland daher niedriger an als im Inland. Diese Praxis bezeichnet man als „Dumping“, und aufgrund internationaler Handelsvereinbarungen ist sie in vielen Fällen verboten. • Es kommt sogar vor, dass Unternehmen einzelne Funktionen ihrer Spitzenproduk-
te künstlich unterdrücken, damit das Produkt dann auf einem Niedrigpreismarkt billiger angeboten werden kann. IBM hat beispielsweise die Druckgeschwindigkeit eines Laserdruckers von 10 auf 5 Seiten pro Minute gesenkt, um das langsame Modell billiger verkaufen zu können, ohne dem eigenen Spitzenprodukt Konkurrenz zu machen. Wie wirkt sich Preisdiskriminierung eigentlich volkswirtschaftlich aus? Überraschenderweise führt sie häufig zu einem Zuwachs an Wohlfahrt. Um das zu verstehen, sollten Sie daran denken, dass Monopole ihre Preise erhöhen und die Umsätze senken, um höhere Gewinne zu erzielen. Auf diese Weise erreichen sie vielleicht den Markt der Kaufwilligen, verlieren jedoch den Markt all derer, die bei der Kaufentscheidung zögern. Durch gestaffelte Preise für Zahlungswillige (denen man hohe Preise zumuten kann) und Zahlungsunwillige (die vielleicht keinen Fenster-
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
platz bekommen oder ein schlechteres, aber billigeres Produkt erhalten) kann der Monopolist einerseits seine Gewinne steigern, andererseits aber auch die Kundenzufriedenheit erhöhen.1
B. Innovation und Information Die Welt des unvollständigen Wettbewerbs wird von vielen unterschiedlichen Spezies bevölkert, von riesigen Konzernen ebenso wie von winzigen E-Commerce-Anbietern im Internet. Ein Großteil der Produktionsleistung einer modernen Volkswirtschaft stammt aus Großkonzernen wie General Electric, General Motors und Wal-Mart. Knapp ein Drittel unserer Gesamtproduktion entfällt auf die größten 500 Unternehmen. Diese Organisationen unterscheiden sich qualitativ von anderen, im Wettbewerb stehenden Unternehmen. Sie besitzen enorme Ressourcen und operieren global und auf vielen Märkten gleichzeitig. Ihr Überleben hängt nicht nur von der Preisgestaltung, sondern auch von der Entwicklung neuer Produkte, neuer Technologien und neuer Märkte ab, mit denen sie ihr künftiges Geschäft bestreiten müssen. In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit dem Verhalten großer Unternehmen und den Fragen, die sich im Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung der Information als Wirtschaftsgut ergeben. Wir beginnen mit der Untersuchung der Funktionen von Kontrolle und eingeschränkter Rationalität. Danach wenden wir uns der Bedeutung großer Unternehmen für die Entwicklung von Innovationen zu und erörtern die neuen Themen rund um das Internet und das drängen-
1 Als Beispiel für die Erhöhung der Effizienz durch eine perfekte Preisdiskriminierung lesen Sie bitte Frage 3 am Ende dieses Kapitels.
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der werdende Problem der geistigen Eigentumsrechte.
Das Verhalten großer Unternehmen Trennung von Eigentum und Unternehmensleitung Der erste Schritt zum Verständnis des Verhaltens großer Unternehmen besteht in der Erkenntnis, dass es sich bei diesen zumeist um Publikumsgesellschaften handelt. Die Aktien dieser Gesellschaften können von jedermann gekauft werden und sind zumeist auf zahlreiche Investoren verteilt. Nehmen wir einen Konzern wie AT&T. Im Jahr 1999 zählte AT&T über 5 Millionen Aktionäre, die zusammen einen Wert von fast US-$ 147 Milliarden ihr Eigen nannten. Kein Einzelaktionär besaß auch nur 1 Prozent dieses Unternehmens. Und auch wenn einige große Software- und Internetgesellschaften hier eine Ausnahme bilden, ist ein solcher Streubesitz typisch für große börsennotierte Unternehmen. Da der Aktienbesitz an den großen Unternehmen so breit gestreut ist, sind in diesen Organisationen Eigentum und Geschäftsleitung zumeist getrennt. Einzelne Eigentümer können somit nicht direkt Einfluss auf die Geschäftstätigkeit großer Unternehmen ausüben. Und obwohl die Aktionäre den Vorstand oder Verwaltungsrat, der aus einer Gruppe von Leuten aus dem Unternehmen und qualifizierten Kandidaten von außerhalb besteht, wählen, ist es zumeist die bezahlte Geschäftsleitung, die die wichtigsten Entscheidungen bezüglich Unternehmensstrategie und Tagesgeschäft trifft. Die Geschäftsleitung verfügt über eine spezielle Ausbildung und die notwendigen Managementfähigkeiten, und sie ist mit allen internen Angelegenheiten und Details des Unternehmens am besten vertraut.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
In den meisten Fällen kommt es zu keiner Zielkollision zwischen Geschäftsleitung und Aktionären. Höhere Gewinne nützen schließlich allen Seiten. Und doch gibt es drei wichtige potenzielle Interessenskonflikte zwischen Managern und Eigentümern. Erstens können sich die Manager selbst hohe Gehälter, Aktienbezugsrechte, Spesenkonten, Bonuszahlungen und großzügige Pensionsregelungen genehmigen, die auf Kosten der Aktionäre gehen. Niemand wird vom Geschäfts-führer eines großen Unternehmens verlangen, dass er sich für den Mindestlohn abplagt, doch in den letzten Jahren sind die Managergehälter in den USA drastisch gestiegen. Einige Führungskräfte notleidender Unternehmen – oder auch von Firmen wie WorldCom oder Enron, die vor dem Konkursrichter landeten – bezogen Gehälter und sonstige Leistungen von insgesamt US-$ 100 Millionen und mehr. Warum, so fragen Ökonomen, sind die Gehälter amerikanischer Manager oft zehn oder zwanzig Mal höher als jene ihrer Kollegen in anderen Ländern? Ein zweiter Interessenskonflikt ergibt sich im Zusammenhang mit der Einbehaltung der Gewinne. Das Management eines Unternehmens versucht aus verständlichen Gründen, Gewinne nach Möglichkeit einzubehalten und in die Expansion des Unternehmens zu investieren, anstatt sie in Form von Dividenden auszuschütten. Und doch gibt es Situationen, in denen Gewinne mit größerem Nutzen außerhalb des eigenen Unternehmens angelegt werden könnten. In manchen Fällen wäre es für die Aktionäre günstiger, ließe sich das Unternehmen bereitwillig von einem anderen Unternehmen aufkaufen oder würde es sich selbst liquidieren und den Erlös auszahlen. Dagegen sind nur wenige Beispiele von Geschäftsführern großer Unternehmen bekannt, die sich selbst arbeitslos machen und das Unternehmen schließen.
Teil 2
Rationalität und Faustregeln Ökonomen üben sich gern in der Formulierung von Theorien über das optimale Verhalten von Unternehmen, das zu einem maximalen Nutzen für die Konsumenten und zu höchsten Gewinnen für die Anbieter führt. Aber im wirklichen Leben stehen uns allen eben nur beschränkte Ressourcen und Informationen zur Verfügung, und unsere Entscheidungen können daher nur auf der Grundlage unzureichender Informationen oder Analysen getroffen werden. Das ständige Streben nach dem absolut höchsten Gewinn oder Nutzen würde einfach zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Konsumenten haben nicht den lieben langen Tag die Muße, nach dem allerbilligsten Salat zu suchen. Ein Konzern kann nicht viele Millionen Dollar für Ökonomen ausgeben, die die Preiselastizität jedes einzelnen seiner zahlreichen Produkte berechnen. Stattdessen haben wir es, wie Nobelpreisträger Herbert Simon betonte, mit Unternehmen oder Konsumenten zu tun, die mit eingeschränkter Rationalität vorgehen. Das heißt, sie versuchen einfach gute Entscheidungen zu treffen, anstatt ewig der allerbesten Entscheidung hinterherzujagen. In gewissen Situationen kann die Anwendung einer Faustregel oder einer anderen vereinfachten Vorgehensweise die wirtschaftlich sinnvollste Möglichkeit darstellen, Entscheidungen zu treffen. So ist es beispielsweise in Unternehmen und dabei vor allem in solchen, die auf Märkten mit unvollständigem Wettbewerb tätig sind, üblich, die Preise nach der Methode „Produktionskosten plus Gewinnaufschlag“ (Ermittlung des Verkaufspreises durch Aufschlag eines Gewinns auf die Selbstkosten) festzulegen. Und das funktioniert folgendermaßen: Anstatt die Preise durch einen Vergleich zwischen MR und MC zu ermitteln, schlagen die Unternehmen auf die errechneten Durchschnittskosten eines Produktes einen fixen Prozentsatz – sagen wir 20 Prozent der Durchschnittskosten – auf. Der so ermittelte Betrag ergibt den Verkaufspreis. Beachten Sie bitte, dass dieser Preis, sollte alles wie geplant ablaufen,
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alle direkten Kosten und Overheadkosten deckt und dem Unternehmen noch eine Gewinnspanne verschafft. Bedeutet diese Praxis, dass Unternehmen ihre Gewinne nicht maximieren? Teilweise ja. Eine bessere Erklärung wäre jedoch, dass Aufschläge auf die Durchschnittskosten eine recht nützliche Faustregel darstellen, um in einer Welt der eingeschränkten Rationalität mit knappen Ressourcen sparsam umzugehen. Manager haben mehr zu tun, als sich über die Höhe der Preise den Kopf zu zerbrechen. Einfache Preisaufschläge können zwar die Gewinne nicht bis auf die letzte Dezimalstelle maximieren, aber sie kommen diesem Ziel angesichts des knappen Zeitangebots von Managern doch recht nahe.
Information, Innovation und die Ökonomik Schumpeters Die Wirtschaftstheorie hat ein Faible für den vollständigen Wettbewerb, den sie als effizienteste Marktstruktur preist. Für sie setzen Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb die Preise zu hoch an, erzielen überhöhte Gewinne und vernachlässigen die Produktqualität. Doch gerade diese Geringschätzung des Monopols wurde durch einen der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, Joseph Schumpeter, infrage gestellt. Er argumentierte, die Triebfeder der wirtschaftlichen Entwicklung sei die Innovation, und Monopolisten seien im Kapitalismus die eigentlichen Quellen aller Neuerungen. Joseph Schumpeter: Der Ökonom als Romantiker Der im altösterreichischen Kaiserreich geborene Joseph Schumpeter (1883–1950), ein legendärer Gelehrter, der seine Forschungen quer durch das ganze Spektrum der Sozialwissenschaften betrieb, führte ein sehr buntes Privatleben.
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Er begann ein Studium der Rechtswissenschaften, Ökonomik und Politik an der Universität Wien – damals eines der internationalen Zentren der Wirtschaftswissenschaften und Heimat der „österreichischen Schule der Ökonomie“, die heute dem Laissez-faire-Kapitalismus zuneigt. Er wurde zum jüngsten Universitätsprofessor des Kaiserreiches ernannt und war sowohl der Schrecken als auch das Vorbild seiner Studenten. Sechs Monate nach Antritt seiner Lehrstelle an der Universität Czernowitz (im Osten des untergehenden Reiches, an der Grenze zu Russland gelegen), stürmte er in die Bibliothek und legte sich mit dem Bibliothekar an, weil dieser den Studenten die Bücher nicht kostenlos zur Verfügung stellen wollte. Nach einem deftigen Austausch von Beleidigungen forderte der Bibliothekar Schumpeter zum Duell, das dieser dank seiner aristokratischen Ausbildung gewann, indem er dem Bibliothekar einen Streifschuss an der Schulter zufügte. Nach diesem Vorfall hatten seine Studenten jedoch den gewünschten unbeschränkten Zugang zu den Büchern. Zwischen Duellen, der Brüskierung der schwerfälligen Fakultät, zu deren Sitzungen er in Reithosen erschien, und diversen Trinkgelagen widmete sich Schumpeter der Verbreitung der Wirtschaftstheorie auf dem europäischen Kontinent, begründete die Ökonometrie und reiste nach England und in die Vereinigten Staaten. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges absolvierte er eine verheerend kurze Karriere als österreichischer Staatssekretär für Finanzen. Später wechselte er nach Harvard, wo er sich zunehmend frustriert fühlte, weil die Theorien seines großen Rivalen, John Maynard Keynes, die gesamte Ökonomik beherrschten, während seine Heimat im Krieg versank. Schumpeters Schriften behandelten breite Gebiete der Ökonomie, Soziologie und Geschichte, doch die besondere Passion des Gelehrten galt der Wirtschaftstheorie. Sein meisterhaftes Werk Geschichte der ökonomischen Analyse (veröffentlicht posthum, 1954) bleibt als Überblick über die Entstehung der modernen Ökonomik
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
unübertroffen. Sein „populäres“ Werk, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), führte die Schumpetersche Hypothese über die technologische Überlegenheit des Monopols aus und entwickelte die Theorie der Konkurrenzdemokratie, die später zur Public-Choice-Theorie weiterentwickelt wurde. Ahnungsvoll sagte er voraus, der Kapitalismus werde infolge der Verdrossenheit der Eliten untergehen. Wäre er heute am Leben, würde er möglicherweise in die Klage der Konservativen einstimmen, wonach der Wohlfahrtsstaat die Marktwirtschaft ihrer Vitalität beraubt.
Informationsökonomie Schumpeters Klassiker Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1911) brach mit der traditionellen statischen Sichtweise seiner Zeit und betonte die Bedeutung des Unternehmers als Innovator oder als jene Person, die „neue Kombinationen“ in Form neuer Produkte oder Organisationsmethoden einführt. Innovationen ziehen zwar vorübergehend überhöhte Innovationsgewinne nach sich, doch diese verschwinden im Laufe der Zeit durch die Nachahmung anderer wieder. Als Romantiker sah Schumpeter den Unternehmer als Helden des Kapitalismus, einen Menschen mit „überlegenem Intellekt und Willen“, der seine Motivation aus Eroberungsdrang und Freude am Schaffen zieht. Die Sicht des Kapitalismus als dynamischer Prozess inspirierte eine neue Generation von Wachstumstheoretikern wie Paul Romer von der Stanford University, der eine an Schumpeter angelehnte Theorie der induzierten Innovation als Ergänzung zum traditionellen neoklassischen Wachstumsmodell entwickelte. In der modernen Interpretation der Visionen Schumpeters wird besonders auf das Spezialproblem im Zusammenhang mit der Informationsökonomie verwiesen. Information unterscheidet sich grundsätzlich von allen anderen Gütern. Da die Produktion von Informationen hohe Kosten verursacht, ihre Reproduktion aber billig ist, unterliegen Infor-
Teil 2
mationsmärkte schwerwiegenden Formen des Marktversagens. Denken Sie beispielsweise an die Produktion eines Computerprogramms wie Windows XP. Die Entwicklung nahm mehrere Jahre in Anspruch und kostete Microsoft über US-$ 1 Milliarde. Und doch können Sie eine Kopie des Programms legal für etwa US$ 199 erwerben oder vielleicht auch nur US-$ 5 für eine Raubkopie bezahlen. Dasselbe Phänomen tritt im Verlagswesen, in der Pharmaindustrie, der Unterhaltungsbranche und in anderen Bereichen auf, deren Güter sich durch einen hohen Informationsgehalt auszeichnen. In all diesen Bereichen können Forschung und Entwicklung an einem Produkt zu einem jahrelangen, mühsamen Prozess geraten. Doch sobald das Werk fertig auf Papier, im Computer oder auf CD vorliegt, kann es von anderen mehr oder weniger gratis reproduziert und verwendet werden. Die Unfähigkeit eines Unternehmens, den gesamten Geldwert seiner Produktentwicklungen abzuschöpfen, wird als Nicht-Internalisierbarkeit bezeichnet. Fallstudien kamen zu dem Ergebnis, dass die soziale Rentabilität einer Erfindung (also der Wert von Erfindungen für alle Konsumenten und Produzenten) um ein Vielfaches höher ist als der internalisierbare private Gewinn für den Erfinder (das heißt, der finanzielle Wert der Erfindung für den Erfinder). Information ist teuer in der Produktion, aber billig in der Reproduktion. Man müsste daher erwarten, dass private Forschung und Entwicklung in dem Ausmaß, in dem die Erträge aus Erfindungen nicht internalisierbar sind, finanziell unterdotiert sind, wobei sich ein Investitionsmangel vor allem in der Grundlagenforschung bemerkbar macht. Die Nicht-Internalisierbarkeit und hohe soziale Rentabilität der Forschung führen dazu, dass die meisten Länder Grundlagenforschung im Gesundheitswesen und in der Wissenschaft staatlich subventionieren.
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Geistige Eigentumsrechte Die Staaten wissen seit langem, dass Kreativität besonderer Unterstützung bedarf, weil der Lohn für die Produktion wertvoller Informationen wie Erfindungen durch Nachahmung geschmälert wird. Die US-Verfassung ermächtigt daher den Kongress, „den Fortschritt der Wissenschaft und der angewandten Künste zu fördern, indem während einer begrenzten Zeit den Autoren und Erfindern das Exklusivrecht auf ihre Werke und Entdeckungen zuerkannt wird“. Auf diese Weise schaffen Sondergesetze über Patente, Copyrights sowie über Geschäftsgeheimnisse und elektronische Medien geistige Eigentumsrechte. Damit soll dem Eigentümer ein spezieller Schutz gegen die Reproduktion und Nutzung des Materials durch andere, die den Eigentümer oder Autor der Werke dafür nicht entlohnen, geboten werden. Das erste geistige Eigentumsrecht war das Patent, dem zufolge die US-Regierung auf begrenzte Zeit, derzeit sind es 20 Jahre, ein Monopol für eine „neuartige, nicht offensichtliche und nützliche“ Erfindung erteilt. Copyright-Gesetze bieten auch rechtlichen Schutz gegen die unbefugte Reproduktion von Originalwerken wie Texten, Musik, Videos, Software, Kunst und Informationsgütern auf verschiedenen Speichermedien. Warum aber sollten Staaten Monopole fördern? Patente und Copyrights errichten ihrer Wirkung nach Eigentumsrechte an Büchern, Musik und Ideen. Durch die Gewährung von Eigentumsrechten ermutigt der Staat Künstler und Erfinder, Zeit, Mühe und Geld in den kreativen Prozess zu investieren. Man könnte auch sagen, indem er den Erfindern ein Monopol über ihr geistiges Eigentum gibt, erhöht der Staat die Internalisierbarkeit und schafft so Anreize für die Erfindung nützlicher neuer Produkte, für das Schreiben von Büchern, Komponieren von Musikstücken und für das Programmieren von Computer-Software. Ein Patent bedingt außerdem die Bekanntgabe der technologischen Daten einer Erfindung, wodurch weite-
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re Erfindungen und Nachahmungen gefördert werden. Als Beispiele für erfolgreiche Patente können die Baumwoll-Engreniermaschine, das Telefon, der Xerox-Kopierer und viele pharmazeutische Wirkstoffe, die sich in der Folge als Bestseller erwiesen, angeführt werden.
Das Internet-Dilemma Erfindungen zur Verbesserung der Kommunikation gibt es nicht erst seit Beginn der Neuzeit. Die rasche Verbreitung elektronischer Speichermedien, aber auch der Zugang zu und die Übertragung von Informationen zeigen jedoch das Dilemma, vor das uns Anreize zur Schaffung von Information stellen. Zahlreiche neue Informationstechnologien verursachen enorme Anlauf- oder auch versunkene Kosten, aber praktisch keinerlei Grenzkosten. Angesichts der geringen Kosten elektronischer Informationssysteme wie des Internets ist es technologisch möglich, die meisten Informationen jedem überall und praktisch ohne Grenzkosten zur Verfügung zu stellen. Bitte beachten Sie, dass der vollständige Wettbewerb hier nichts taugt, weil ein Preis, der Grenzkosten von praktisch null entspricht, eben auch keinerlei Ertrag und somit auch keine überlebensfähigen Unternehmen bedeutet. Die Informationsökonomie verdeutlicht den Konflikt zwischen Effizienz und Anreizen. Einerseits könnten sämtliche Informationen gratis zur Verfügung gestellt werden – Datenbanken, Lehrbücher, Filme, Konzerte. Das Gratisangebot von Information erscheint ökonomisch effizient, weil der Preis den Grenzkosten entspricht, wobei diese bei null liegen. Doch das kostenlose Angebot von geistigem Eigentum würde den Gewinnanreiz, zum Angebot neuer Daten, Bücher und Konzerte verringern oder gar vernichten, weil Autoren und Künstler keinerlei Ertrag oder Gewinn aus ihrer kreativen Tätigkeit ziehen könnten. Die Gesellschaft hatte mit diesem Dilemma bereits in der Vergangenheit zu kämpfen. Da aber die Kosten der
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Reproduktion und Übertragung bei elektronischen Informationen so viel geringer sind als bei traditionellen Informationen, wird es immer schwieriger, zu einer vernünftigen Politik und zur Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte zu gelangen. Experten weisen darauf hin, wie schwierig Copyright-Gesetze häufig durchzusetzen sind, vor allem in der Anwendung über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Vor kurzem gerieten die USA in einen Handelsstreit mit China, weil China nichts gegen die illegale Reproduktion amerikanischer Filme, Musik und Software unternahm. Eine Film-DVD, für die man in den USA US-$ 25 bezahlt, erhält man in China für rund 50 Cent. Doch warum sollten Staaten gegen diese Art der Piraterie vorgehen? Die Internalisierbarkeit wird durch die Stärkung geistiger Eigentumsrechte erhöht. Sie wird aber auch erhöht, wenn das Unternehmen, das die Innovation hervorgebracht hat, einen großen Anteil am jeweiligen Markt hält. Wenn Microsoft 95 Prozent aller PC-Betriebssysteme verkauft, profitiert das Unternehmen natürlich massiv von Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet. Kleine Unternehmen haben hingegen weniger Möglichkeiten, den Wert ihrer Erfindungen zu internalisieren, insbesondere dort, wo die Copyright-Gesetze schwach ausgeprägt sind. Wenn ich ein neues Spiel erfinde und es nicht patentrechtlich oder anderweitig schützen kann, ist mein Anteil am gesamten Computermarkt so klein, dass ich praktisch keinerlei Nutzen davon habe.
Schumpeters Hypothese Dieses Dilemma ließ Joseph Schumpeter seine gewagte Hypothese zugunsten der Monopole formulieren: Der moderne Lebensstandard der Massen hat sich während der Periode des relativ unbehinderten „Big Business“ entwickelt. Wollten wir alle Güter aufzählen, die das Budget eines heutigen Arbeiters umfasst, und würden wir die Preisentwicklung der einzelnen Positionen
Teil 2
seit dem Jahr 1899 verfolgen, ... so wären wir wohl von dem enormen Fortschritt überwältigt, der angesichts der spektakulären Qualitätsverbesserungen nicht kleiner, sondern größer als jemals zuvor erscheint. ... Aber damit nicht genug. Wenn wir uns ... auf jene Gebiete konzentrieren, in denen der Fortschritt besonders augenfällig war, so führt uns die Spur nicht vor die Tore jener Unternehmen, die unter Bedingungen eines relativ freien Wettbewerbs tätig sind, sondern eben vor die Tore der großen Konzerne – die, wie im Falle der landwirtschaftlichen Mechanisierung, auch viel zum Fortschritt in dem Wettbewerb ausgesetzten Sektoren beigetragen haben –, und plötzlich taucht der schockierende Verdacht auf, das Big Business könnte womöglich mehr zur Schaffung unseres Lebensstandards als zu seiner Vereitelung beigetragen haben.2
Was ist eigentlich unter dem kritischen Blick der Wissenschaft aus dieser mutigen Hypothese Schumpeters geworden? Die Faktenlage ist viel komplexer, als die simple Annahme vermuten lassen würde. Erstens traf diese Ansicht möglicherweise vor 100 Jahren noch eher zu, als die großen Unternehmen gemessen am heutigen Standard eigentlich winzig waren und als die meisten von ihnen Mühe hatten, ausreichend Kapital zur Schaffung von Innovationen aufzutreiben. Es steht auch fest, dass der Tante-Emma-Laden um die Ecke kaum F&E betreibt. Gründliche Studien haben allerdings ergeben, dass Einzelpersonen und Kleinunternehmen eine zunehmend bedeutende Rolle für Innovationen und Erfindungen spielen. Tabelle 10-1 zeigt uns, wie viel F&E die verschiedenen Unternehmensgruppen betreiben und wie es um ihr jeweiliges Verhältnis zwischen F&E und Umsätzen bestellt ist. Tatsächlich waren Forschung und Entwicklung in der Vergangenheit die Domäne der Großen. Seit etwa zehn Jahren jedoch, insbesondere aber mit der steigenden Bedeutung von New Economy und Internetfirmen, wei2
J. A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy (Harper, New York, 1942; deutsch: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, UTB 1993), S. 81.
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Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Unternehmensgröße (Mitarbeiterzahl)
F&E-Rate (in %)
Gesamte F&E der Unternehmen (in Mrd. US-$)
1983
1999
1999
Unter 500
2,2
8,9
31,3
500 bis 999
k. A.
4,0
6,4
1.000 bis 4.999
2,0
3,1
23,9
5.000 bis 9.999
1,3
2,2
14,2
10.000 bis 24.999
2,3
2,8
24,5
25.000 oder mehr
3,4
2,0
59,9
Tabelle 10-1: Forschung und Entwicklung nach Unternehmensgröße Noch vor 20 Jahren trugen Großkonzerne den überwiegenden Teil der Forschungs- und Entwicklungsarbeit (F&E). Doch vor etwa zehn Jahren und mit steigender Bedeutung des Internet und anderer Vertreter der New Economy übernahmen Kleinunternehmen die Führung im Erfindungs- und Innovationsgeschäft. Heute verfügen sie gemessen am Umsatz über eine höhere F&E-Rate als die meisten Industriegiganten. Quelle: National Science Foundation, Research and Development in Industry, 1999, erhältlich unter www.nsf.gov/sbe/srs/
tet sich die Forschung in kleinen Unternehmen rapide aus. Kleinbetriebe mit weniger als 500 Mitarbeitern tragen heute ein Fünftel der gesamten F&E-Aktivitäten, die größten der Großen nicht ganz zwei Fünftel. Die Studienergebnisse zeigen aber auch, dass Kleinunternehmen für einen überproportionalen Anteil an wichtigen Erfindungen und Innovationen verantwortlich zeichnen. Außerdem stellten John Jewkes und seine Kollegen, als sie die Geschichte der wichtigsten Erfindungen unseres Jahrhunderts aufzeichneten, fest, dass weniger als die Hälfte dieser Erfindungen aus den Labors der großen Unternehmen stammen. Die Bedeutung von Erfindungen aus Kleinbetrieben erwies sich in den letzten Jahren, als plötzlich wichtige neue Produkte wie aus dem Nichts aufzutauchen schienen. Es ist, als würden wir täglich Werbesendungen über irgendein neues Softwarepaket bekommen, das von einer völlig unbekannten Startup-Firma entwickelt
wurde. Ein Investor drückte sich sehr plakativ aus, als er sagte: „Auf der Suche nach wirklich tollen Ideen sehe ich mich in Firmen um, in denen sich drei Leute unter 25 in Sandalen tummeln.“ Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zwischen Innovation und Marktmacht eine komplexe Beziehung besteht. Da große Unternehmen wesentliche Beiträge zu Forschung und Innovation geleistet haben, sollten wir mit Behauptungen vorsichtig sein, wonach Größe in jeder Beziehung von Übel ist. Zugleich gilt es aber auch anzuerkennen, dass Kleinunternehmen und selbst Einzelpersonen einige der revolutionärsten Durchbrüche erzielt haben und einen immer größeren Teil der von der Industrie finanzierten Forschungs- und Entwicklungsarbeit leisten. Will ein Staat rasche Innovationen, muss er für eine möglichst große Vielfalt der Ansätze und Trägerorganisationen sorgen.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
C. Eine Bilanz des unvollständigen Wettbewerbs Politiker neigen dazu, „kleine und mittelständische Unternehmen“ und den „bäuerlichen Familienbetrieb“ in den Himmel zu loben, während das „Big Business“ mit seinen „obszönen Profiten“ verdammt wird. Doch rechtfertigt die volkswirtschaftliche Analyse dieses etwas romantische Bild? Im vorliegenden Abschnitt wollen wir die Auswirkungen des unvollständigen Wettbewerbs auf die heutige Wirtschaft behandeln. Wir beginnen mit einer Darstellung der Mechanismen, mit denen der unvollständige Wettbewerb die Ressourcenallokation verzerrt. Anschließend wollen wir eine quantitative Schätzung der durch unvollständigen Wettbewerb bedingten Ineffizienzen vornehmen. Wir schließen mit einer Analyse der politischen Maßnahmen, die der Staat treffen kann, um die Nachteile durch unvollständigen Wettbewerb zu begrenzen.
Volkswirtschaftliche Kosten des unvollständigen Wettbewerbs Die Kosten überhöhter Preise und unzureichender Produktionsmengen Unsere Analyse hat gezeigt, wie Unternehmen bei unvollständigem Wettbewerb die Produktionsmengen senken und die Preise erhöhen und somit weniger als unter vollkommenen Wettbewerbsbedingungen produzieren. Dies lässt sich am besten anhand der Monopole aufzeigen, der extremsten Form des unvollständigen Wettbewerbs. Um zu erkennen, wie und warum das Monopol die Produktionsmenge zu gering hält, stellen
Teil 2
Sie sich vor, die Kaufkraft wäre gleichmäßig verteilt und alle Wirtschaftszweige mit Ausnahme eines einzigen funktionierten nach den Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs, sodass die Grenzkosten MC der Produktionsmenge P entsprechen und keine Externalitäten zur Wirkung kommen. In einer solchen Welt ist der Preis der korrekte wirtschaftliche Standard oder das richtige Maß der Knappheit: Der Preis misst sowohl den Grenznutzen des Konsums für die Haushalte als auch die Grenzkosten der Güterproduktion durch die Unternehmen. Nun tritt die Firma „Monopol“ auf den Plan. Ein Monopolist ist kein böses Unternehmen – es beraubt niemanden und zwingt auch die Konsumenten nicht, seine Produkte zu konsumieren. Nein, die „Monopol Inc.“ nutzt die Tatsache aus, dass sie einziger Anbieter eines Gutes oder einer Dienstleistung ist. Indem sie ihre Produktionsmenge ein wenig knapp hält, erhöht sie ihre Preise über die Grenzkosten hinaus. Da im Sinne der Effizienz die Gleichung P = MC gelten muss, liegt der Output des Monopolisten unter dem effizienten Output. Der Grenzwert des so angebotenen Gutes liegt daher für die Konsumenten über den Grenzkosten. Dasselbe gilt übrigens auch für Oligopole und monopolistischen Wettbewerb, wenn die Unternehmen die Preise über den Grenzkosten ansetzen. Das ruhige Leben des Monopolisten Der bedeutende britische Ökonom J. R. Hicks schrieb: „Der wertvollste aller Monopolgewinne ist ein ruhiges Leben.“ Damit meinte er, dass die Marktmacht es dem Management ermöglicht, alternative Ziele anzustreben, die nicht unbedingt der Gewinnmaximierung dienen. Bisweilen kann ein nicht gewinnmaximierendes Verhalten ebenso schädlich sein wie die Gewinnmaximierung. Wir haben einige dieser Trends – etwa die Vergabe wertvoller Aktienbezugsrechte – bereits weiter oben in diesem Kapitel behandelt.
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Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Messung der Ineffizienzen durch unvollständigen Wettbewerb Wir können die Effizienzverluste durch den unvollständigen Wettbewerb mit einer vereinfachten Version unseres Monopoldiagramms darstellen, wie sie in Abbildung 10-6 vorliegt. Bei vollständigem Wettbewerb würde das Gleichgewicht in jenem Punkt erreicht, in dem gilt: MC = P, also in Punkt E. Bei einem universellen und vollständigen Wettbewerb läge die Produktionsmenge in diesem Wirtschaftszweig bei 6, der Preis bei 100. Vielleicht sind die monopolistischen Bedingungen durch Verhängung eines Zolls, vielleicht durch Importbeschränkungen entstanden; vielleicht hat auch der Staat den Marktzutritt anderer Unternehmen durch Regulierung unterbunden oder es einer Gewerkschaft gestattet, die Arbeit in einem Sektor zu monopolisieren. Gleichgültig, warum das Monopol besteht, der Monopolist gleicht seine MC dem MR (nicht dem P der Branche) an, wodurch sich das Gleichgewicht in Abbildung 10-5 auf Q = 3 und P = 150 verlagert. Der rot unterlegte Bereich GBAF stellt den Gewinn des Monopolisten dar, der einem Gewinn von null im Wettbewerbsgleichgewicht gegenüberzustellen ist.
P 200
D
G
(P*)150
Preis, MC, AC
Aus der Geschichte sind uns zahlreiche Fälle bekannt, in denen Monopolisten schlechte Produkte oder Dienstleistungen anboten. Die Konsumenten beklagen sich häufig über einen trägen Monopolisten vor Ort, der nie neue Produkte herausbringt und Jahr für Jahr auf denselben alten Dienstleistungen besteht. Solange AT&T ein Monopol auf Telefone und Zubehör hatte, mussten sich die Kunden jahrelang mit den einfachen schwarzen Apparaten zufrieden geben. Als aber Konkurrenz auf dem Markt erschien, gab es auf einmal Telefone in allen Farben, Formen und mit jeder Menge Zubehör (etwa mit Anrufbeantwortern und Faxgeräten).
B
E 100
F
MC = AC
A
50
D MR
0
2
4 (Q*)
8
Q
6 Menge
Abbildung 10-6: Monopolisten bewirken durch Mengenbeschränkungen Effizienzverluste Monopolisten halten die Produktionsmenge knapp und treiben so Preise wie Gewinne in die Höhe. Würde im betreffenden Sektor vollständiger Wettbewerb herrschen, läge das Gleichgewicht in Punkt E, wo der volkswirtschaftliche Nutzen maximiert wird. Bei der monopolistischen Produktionsmenge in Punkt B (wo gilt: Q = 3 und p = 150), liegt der Preis über den MC, und die Konsumentenrente geht verloren. Durch Addition aller Verluste an Konsumentenrente zwischen Q = 3 und Q = 6 ergibt sich eine monopolbedingte Ineffizienz im Ausmaß des grau unterlegten Bereichs ABE. Zusätzlich erwirtschaftet der Monopolist Gewinne (die eigentlich Konsumentenrente hätten sein sollen), die durch den rot unterlegten Bereich GBAF dargestellt sind.
Effizienzverluste durch Monopole werden bisweilen als Nettowohlfahrtsverlust bezeichnet. Der Begriff bezieht sich auf den Verlust an Wohlstand, der durch Preis- und Mengenverzerrungen, etwa infolge von Monopolen, Steuern, Zöllen oder Quoten, entsteht. Die Konsumenten könnten eine hohe Konsumentenrente genießen, würde ein neues Schmerzmittel zu Grenzkosten verkauft. Sobald jedoch der Hersteller das Produkt monopolisiert, etwa mittels eines Patents, und die Preise auf Monopolniveau anhebt, verlieren die Konsumenten mehr, als der Monopolist gewinnt. Dieser unter dem Strich verbleibende Verlust an Wohlstand wird als Nettowohlfahrtsverlust bezeichnet.
290
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Wir können den Nettowohlfahrtsverlust durch Monopole bildlich wie in Abbildung 10-6 darstellen. Punkt E entspricht dem Effizienzniveau der Produktion, bei dem gilt: MC = P. Für jede Einheit, um die der Monopolist den Output unter E drückt, entspricht der Effizienzverlust dem Vertikalabstand zwischen der Nachfrage- und der Grenzkostenkurve. Der gesamte Nettowohlfahrtsverlust aus der Mengendrosselung eines Monopolisten ist die Summe all dieser Verluste; er wird durch das grau unterlegte Dreieck ABE dargestellt. Um dies zu verstehen, sollten wir uns daran erinnern, dass die DD-Kurve den Grenzwert des Gutes für den Konsumenten auf jedem Outputniveau entspricht, während die MC-Kurve die Opportunitätskosten des Einsatzes der Produktion für dieses anstatt für andere Güter darstellt. So stellt etwa bei Q = 3 der Vertikalabstand zwischen B und A die Differenz zwischen dem Wert und den Kosten einer geringfügigen Outputsteigerung von Q dar. Addiert man all diese Differenzen von Q = 3 bis Q = 6, so erhält man den schattierten Bereich ABE. Diese Technik, mit der sich die Kosten von Marktmängeln durch „kleine Dreiecke“ von Nettowohlfahrtsverlusten wie in Abbildung 10-6 messen lassen, ist auch auf andere Bereichen anwendbar. Bei Außenhandelszöllen und Importbeschränkungen, bei Steuern und Subventionen sowie bei Externalitäten kann man ganz ähnlich vorgehen.
Interventionsstrategien Als sich der große, marktorientierte Ökonom Milton Friedman mit dem Problem des unvollständigen Wettbewerbs auseinander setzte, schrieb er: „Hier besteht nur die Wahlmöglichkeit zwischen drei Übeln: dem privaten, unregulierten Monopol, dem privaten, vom Staat regulierten Monopol und dem staatlichen Unternehmen.“ Wir beschließen dieses Kapitel mit einer Untersuchung der wichtigsten politischen Strategien, welche die
Teil 2
öffentliche Hand verfolgt, um dem Missbrauch von Marktmacht zu begegnen. Die ersten drei politischen Maßnahmen bilden den Kern einer modernen staatlichen Wirtschaftspolitik gegenüber dem Big Business. 1. Die wichtigste Maßnahme zur Bekämpfung der Marktmacht ist die Antitrustpolitik, das Kartellrecht. Man versteht darunter gesetzliche Vorschriften, die eine bestimmte Art des Verhaltens (Preiskartelle etwa) verbieten oder bestimmte Marktstrukturen verhindern (beispielsweise reine Monopole und Oligopole mit hoher Marktkonzentration). Diesen wichtigen politischen Eingriff werden wir detailliert in Kapitel 17 besprechen. 2. Ganz allgemein lassen sich wettbewerbsvermeidende Missbräuche durch die gezielte Förderung des Wettbewerbs bekämpfen. Es gibt zahlreiche staatliche Maßnahmen, mit denen eine heftige Konkurrenz auch zwischen großen Unternehmen gefördert werden kann. Besondere Bedeutung hat hier der Beseitigung von Marktzutrittsbarrieren. Dazu gehört die Förderung und Ermutigung kleiner Unternehmen und die Unterbindung der Abschottung der heimischen Märkte gegenüber dem Wettbewerb aus dem Ausland. 3. Während der letzten 100 Jahre hat der USamerikanische Staat ein neues Instrumentarium zur staatlichen Lenkung der Wirtschaft entwickelt: die Regulierung. Die entsprechenden Regelungen bevollmächtigen spezielle Behörden, die Preise, Produktionsmengen sowie den Marktzutritt und -austritt von Unternehmen in regulierten Wirtschaftszweigen wie bei den öffentlichen Versorgungsbetrieben und öffentlichen Verkehrsmitteln zu kontrollieren. Anders als in der Antitrustpolitik, die den Unternehmen sagt, was sie nicht tun dürfen, wird den Unternehmen im Wege staatlicher Regulierung verordnet, was sie tun müssen und welche Preise sie für ihre Produkte verlangen dürfen. Es handelt
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
sich dabei letztlich um eine staatliche Kontrolle, ohne dass der Staat Eigentumsrechte an den kontrollierten Bereichen innehat. Dieser Ansatz wurde früher für Sektoren gewählt, die man als „natürliche Monopole“ ansah, wie etwa die Stromversorgung oder die Telekommunikation. Heute ist der wichtigste staatlich geregelte Bereich das Gesundheitswesen, wie wir in Teil Vier sehen werden. Die nächsten drei Strategien werden zwar hin und wieder versucht, kommen aber in modernen Marktwirtschaften wie den USA nur selten zur Anwendung: 4. Staatliches Eigentum an Monopolen ist ein Ansatz, der außerhalb der Vereinigten Staaten früher sehr häufig anzutreffen war. Bei einigen natürlichen Monopolen wie Wasser, Erdgas und Stromversorgung wird unterstellt, dass eine effiziente Produktion nur durch einen einzigen Anbieter zu gewährleisten ist. In diesen Fällen besteht das eigentliche Dilemma in der Entscheidung, ob der Staat die Unternehmen besitzen oder nur regulieren sollte. Die meisten Marktwirtschaften haben den Regulierungsweg beschritten, und seit einigen Jahren „privatisieren“ viele Staaten Industriezweige wie Telefongesellschaften, die früher staatlich betrieben wurden, verkaufen sie also an private Eigentümer. 5. Preiskontrollen für einen Großteil der Güter und Dienstleistungen stellen eine Methode dar, die besonders in Kriegszeiten zum Einsatz kam, einerseits als Möglichkeit zur Eindämmung der Inflation, andererseits aber auch, um die Preise in Wirtschaftszweigen mit starker Konzentration niedrig zu halten. Untersuchungen legen nahe, dass diese Methode eher plump ist: Sie führt zu zahlreichen Verzerrungen und Umgehungshandlungen, die die Effizienz einer Wirtschaft untergraben. Die letzte Erfahrung mit Preiskontrollen in den USA während der siebziger Jahre zeigt,
291
dass sich bei zu niedrigen Preisen lange Warteschlangen vor den Tankstellen bildeten, während andererseits bei Rindfleisch, Erdgas und sogar bei unverzichtbaren Gütern wie Toilettenpapier Engpässe auftraten. Wollte man die gesamte Wirtschaft einer Preiskontrolle unterwerfen, um gegen einige wenige Monopolisten vorzugehen, wäre dies so, als wollte man einen ganzen Garten vergiften, nur um ein paar kleine Käfer loszuwerden. Heute kommen Preiskontrollen außerhalb des Gesundheitssektors nur noch selten zum Einsatz. 6. Steuern dienen bisweilen dem Ziel, die Einkommensverteilung sozial verträglicher zu gestalten. Indem der Staat Monopolisten besteuert, kann er deren Monopolgewinne verringern, wodurch die sozial unerwünschten Auswirkungen des Monopols ein wenig gemildert werden. Doch selbst wenn Steuern einige Gerechtigkeitsprobleme lösen, so sind sie doch schlecht geeignet, Verzerrungen der Produktionsmengen zu verhindern. Eine Steuer, die keinen lenkenden Effekt hat, zieht zwar die Gewinne vom besteuerten Unternehmen ab, hat jedoch keinerlei Auswirkungen auf die Produktionsmenge. Führt die Steuer zu einer Erhöhung der Grenzkosten, entfernt sich dadurch der Monopolist aller Voraussicht nach nur noch weiter von der effizienten Produktionsmenge, weil er nämlich seine Preise anheben und die Produktionsmenge noch weiter drosseln wird. Die Bilanz des unvollständigen Wettbewerbs Wie sähe eigentlich eine Bilanz aus, die die Vorteile des unvollständigen Wettbewerbs dessen Nachteilen gegenüberstellt? Als erstes sei bemerkt, dass die Frage „Monopol oder Wettbewerb“ zu stark vereinfacht und daher nicht sinnvoll ist, vergleichbar etwa der Frage, ob große Tiere schöner und besser sind als kleine. Wie in unserem obigen Überblick dargelegt, gibt es eine
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
große Zahl unterschiedlicher Ausformungen des unvollständigen Wettbewerbs. Die meisten von ihnen haben sich in Reaktion auf besonders unangenehm empfundene Probleme der jeweiligen Märkte entwickelt. Automobilwerke sind große Publikumsgesellschaften, weil sie Kapital beschaffen müssen, um die Effizienzvorteile der Massenproduktion zu nutzen; Rechtsanwälte dagegen sind eher in Form von Gemeinschaftskanzleien organisiert, sodass sie ihre jeweiligen Fähigkeiten in einen Pool einbringen und ihren Klienten Vertrauenswürdigkeit vermitteln können; Universitäten sind gemeinnützige Organisationen, weil sich Gewinnstreben und Lehrtätigkeit nur schlecht vertragen; Bauernhöfe werden von Familien betrieben, weil hier eine ganze Palette verschiedener Fertigkeiten gefordert ist und sie sich zumeist in dünn besiedelten Gegenden befinden. In fast all diesen Fällen muss, wie Milton Friedman erklärt, der Staat zwischen mehreren Übeln wählen, um exzessive Marktmacht zu beschränken. Nach zwei Jahrhunderten mit ganz verschiedenen Marktstruk-
Teil 2
turen gelangten viele Ökonomen zu dem Schluss, dass die Förderung eines lebendigen Wettbewerbs zwischen nicht regulierten Unternehmen nach wie vor das geringste dieser Übel ist. Der Abbau von Marktzutritts- und -austrittsbarrieren sowie wirksame Kollusionsverbote sind die optimale Formel zur Vermeidung monopolistischer Preise und zur Ankurbelung rascher Innovationen. Die wesentlichen Punkte dieser Strategie könnte man zu folgenden Merksätzen zusammenfassen: • • • •
• •
Staatliche Wettbewerbsschranken sollten abgebaut werden. Achtung: „Der Zoll ist die Mutter des Monopols.“ Der lebendige Wettbewerb durch ausländische Konkurrenz ist zu fördern. Wo es möglich erscheint, sollten Versteigerungen und Ausschreibungsverfahren stattfinden. Künftige technologische Trends sind zu akzeptieren. Kleine Unternehmen müssen ermutigt werden, den Wettbewerb mit der Konkurrenz aufzunehmen.
Zusammenfassung A. Das Verhalten von Unternehmen bei unvollständigem Wettbewerb 1.
2.
Wiederholen wir noch einmal die vier wichtigsten Marktstrukturen: (a) Vollständiger Wettbewerb. Hierbei handelt es sich um einen Markt, auf dem kein Unternehmen groß genug ist, um Einfluss auf den Marktpreis ausüben zu können. (b) Monopolistischer Wettbewerb. Eine große Anzahl von Unternehmen erzeugt nur geringfügig unterschiedliche Produkte. (c) Oligopol. Bei dieser Zwischenform des unvollständigen Wettbewerbs wird ein Sektor von einigen wenigen Unternehmen beherrscht. (d) Monopol. Ein Unternehmen stellt das gesamte Produktionsvolumen eines Sektors her. Die Messung der Marktkonzentration hilft uns, das Ausmaß an Marktmacht in einem Wirtschaftszweig bei unvollständigem Wettbewerb
3.
4.
festzustellen. Wirtschaftszweige mit starker Konzentration zeichnen sich durch höhere F&E-Kosten, nicht aber durch überdurchschnittliche Erträge aus. Hohe Zutrittsbarrieren und vollständige Kollusion können zu einem Kollusionsoligopol führen. Bei einer derartigen Marktstruktur entsteht ein Preis-Mengen-Verhältnis ähnlich jenem in einem monopolistischen Wirtschaftszweig. Eine weitere verbreitete Struktur ist der monopolistische Wettbewerb, den wir in zahlreichen Einzelhandelssparten antreffen. Er ist durch eine Vielzahl kleiner Unternehmen mit geringen Unterschieden in der Produktqualität (beispielsweise verschiedenen Standorten der Tankstellen) gekennzeichnet. Diese Produktdifferenzierung bedeutet für jedes Unternehmen eine abwärts gerichtete Nachfragekurve dd. Langfristig frisst der freie Marktzugang die Gewinne auf, weil die betroffenen Sektoren ihr
Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
5.
6.
Gleichgewicht dort erreichen, wo die AC-Kurven der Unternehmen eine Tangente zu ihren Nachfragekurven dd bilden. In diesem Tangentialgleichgewicht liegen die Preise über den Grenzkosten, aber der Sektor zeigt eine größere Qualitäts- und Leistungsvielfalt als unter Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs. Als Letztes ist hier noch die strategische Interaktion zu nennen, bei der ein Wirtschaftszweig nur aus einer Handvoll Unternehmen besteht. Wenn eine kleine Anzahl von Unternehmen auf einem Markt zueinander in Konkurrenz tritt, muss jedes dieser Unternehmen auf strategische Interaktionen achten. Durch den Wettbewerb zwischen einigen wenigen Unternehmen kommt ein völlig neues Element des Wirtschaftslebens ins Spiel: Die Unternehmen sind gezwungen, die Reaktionen von Mitbewerbern auf Preis- und Mengenänderungen zu berücksichtigen und strategische Überlegungen anzustellen. Wir sprechen von Preisdiskriminierung, wenn dasselbe Produkt zu verschiedenen Preisen an verschiedene Kunden verkauft wird. Preisdiskriminierung tritt häufig auf, wo Anbieter ihren Markt in verschiedene Segmente teilen können.
B. Innovation und Information 7.
8.
Eine gründliche Studie des tatsächlichen Verhaltens von Oligopolisten enthüllt bestimmte Verhaltensweisen, die von den üblichen volkswirtschaftlichen Annahmen über Gewinnmaximierung abweichen. So stellt die eingeschränkte Rationalität eine Einschränkung der möglichen Gewinnmaximierung dar. Dieses Prinzip besagt, dass es Zeit und Geld kostet, Entscheidungen umfassend informiert zu treffen, weshalb sich Unternehmensleiter auch mit suboptimalen Entscheidungen zufrieden geben und häufig eine praktikable Faustregel anwenden, um möglichst wenig Zeit für Sondierung und Entscheidungsfindung aufwenden zu müssen. Ein verbreitetes Beispiel für dieses vereinfachte Verfahren ist die Preisfestsetzung durch Aufschlagen eines bestimmten Prozentsatzes auf die Produktionskosten. Denken Sie außerdem daran, dass Marktmacht den Unternehmen das Leben leicht macht. Schumpeter verwies auf die Bedeutung des „Innovators“, der „neue Kombinationen“ in Form neuer Produkte oder Organisationsmethoden einführt und dafür mit vorübergehen-
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den Unternehmensgewinnen belohnt wird. Schumpeters Hypothese besagt, dass die traditionelle Monopoltheorie die Dynamik des technologischen Wandels ignoriert. Dieser Ansicht zufolge sind Monopole und Oligopole die bedeutendste Quelle der Innovation und unseres steigenden Lebensstandards. Die Zerschlagung großer Unternehmen zugunsten des Wettbewerbs könnte zwar kurzfristig zu Preissenkungen führen, würde aber die Gefahr mit sich bringen, dass im Zuge der Fragmentierung auch der technologische Fortschritt gebremst wird. 9. Die heutige Informationsgesellschaft offenbart die Schwierigkeiten einer effizienten Produktion und Verteilung neuen und verbesserten Wissens. Information unterscheidet sich von herkömmlichen Wirtschaftsgütern, weil sie besonders teuer in der Herstellung und billig in der Reproduktion ist. Die Unfähigkeit eines Unternehmens, den gesamten Geldwert seiner Investitionen abzuschöpfen, wird als NichtInternalisierbarkeit bezeichnet. Zur Verbesserung der Internalisierbarkeit beschließt der Staat Sondergesetze zur Regelung von Patenten, Copyrights, Geschäftsgeheimnissen und elektronischen Medien. Die Verbreitung elektronischer Systeme wie des Internet zeigt auf drastische Weise das Dilemma einer effizienten Preisgestaltung für Informationsdienste auf.
C. Bilanz des unvollständigen Wettbewerbs 10. Die Macht der Monopole führt häufig zu ökonomischer Ineffizienz, wenn die Preise über die Grenzkosten hinaus oder einfach mangels Wettbewerbsdrucks ansteigen und wenn die Produktqualität zu wünschen übrig lässt. 11. Um den Missbrauch durch unvollständigen Wettbewerb abzustellen, haben Staaten in früheren Zeiten häufig auf Besteuerung, Preiskontrollen und Verstaatlichung zurückgegriffen. Heute kommen diese Methoden in entwickelten Marktwirtschaften kaum noch zur Anwendung. Die drei wichtigsten Instrumente der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik sind heute Regulierung, Kartellrecht und Förderung des Wettbewerbs. Von diesen drei Möglichkeiten erscheint die Förderung des Wettbewerbs durch eine Senkung der Marktzutrittsbarrieren, wo immer dies möglich ist, am wichtigsten.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Begriffe zur Wiederholung Modelle des unvollständigen Wettbewerbs Konzentration: Konzentrationsraten, HerfindahlHirschman-Index Marktmacht Strategische Interaktion. Stillschweigende und explizite Kollusion Unvollständiger Wettbewerb: Kollusionsoligopol Monopolistischer Wettbewerb Oligopol einiger weniger Unternehmen Gleichgewicht bei einem Gewinnniveau von null im monopolistischen Wettbewerb Ineffizienz von P > MC
Aspekte des unvollständigen Wettbewerbs Trennung von Eigentum und Geschäftsleitung Grenzen der Gewinnmaximierung: Eingeschränkte Rationalität Preisbildung durch Gewinnaufschlag Die Schumpetersche Hypothese Informationsökonomie: Nicht-Internalisierbarkeit Schutz geistiger Eigentumsrechte Dilemma der effizienten Produktion von Information bzw. Wissen Nettowohlfahrtsverlust Ältere Ansätze: Besteuerung Preiskontrolle Verstaatlichung Aktuelle Ansätze: Regulierung Kartellrecht Förderung des Wettbewerbs
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Einen hervorragenden theoretischen Überblick über das Thema Oligopol liefert das Buch von F. M. Scherer und David Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 3. Aufl. (Houghton Mifflin, Boston, 1990). Die Schumpetersche Hypothese wurde von Joseph Schumpeter in Capitalism, Socialism and Democracy, (Harper & Row, New York, 1942; deutsch: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, UTB, München 1993) entwickelt. Belege für diese Hypothese finden Sie auch im oben genannten Werk von Scherer und Ross. Viele der ökonomischen, betrieblichen und politischen Fragen im Zusammenhang mit der neuen Informationsökonomie werden in einem populärwissenschaftlichen Buch zweier bedeutender Wirtschaftswissenschaftler, Carl Shapiro und Hal R. Varian, erörtert: Information Rules (Harvard Business School Press, Cambridge, Mass., 1998). Die ökonomischen Aspekte des Internet werden in Jeffrey K. MacKie-Mason und Hal Varian, „Economic FAQs about the Internet”, Journal of Economic Perspectives, Sommer 1994, S. 92, behandelt. Deutschsprachige Literatur: Kurt Wilhelm Rothschild: „Preistheorie und Oligopol“, in: Alfred E. Ott (Hrsg.): Preistheorie (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1965), S. 354–375; Paul M. Sweezy: „Die Nachfrage beim Oligopol“, ebenfalls in: Alfred E. Ott (Hrsg.): Preistheorie, S. 320.
Websites Eine der interessantesten Websites über das Internet und geistige Eigentumsrechte stammt von Hal R. Varian, dem Dekan der School of Information Management and Systems an der University of California in Berkeley. Diese Seite unter dem Titel „The Economics of the Internet, Information Goods, Intellectual Property and Related Issues“ finden Sie unter www.sims.berkeley.edu/resources/infoecon. Informieren Sie sich außerdem auf der Webpage des „Program for Research on the Information Economy“ unter der Leitung von Jeffrey MacKie-Mason von der Universität Michigan: www.si.umich.edu/~prie.
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Kapitel 10 Oligopol und monopolistischer Wettbewerb
Die OPEC ist im Internet unter www.opec.org vertreten. Hier finden Sie eine Menge interessanter Lektüre aus der Sicht der Ölproduzenten, bei denen es sich in vielen Fällen um arabische Länder handelt. Daten und Methoden im Zusammenhang mit Branchen-Konzentrationsmessungen sind einer Publikation des US-Statistikamtes, Bureau of the Census, zu entnehmen: www.census.gov/prod/ec97/m31s-cr.pdf.
Übungen 1.
Betrachten Sie noch einmal die Begriffe Kollusionsoligopol und monopolistischer Wettbewerb, zwei Theorien des unvollständigen Wettbewerbs, die in diesem Kapitel erörtert wurden. Erstellen Sie eine Tabelle, in der Sie den vollständigen Wettbewerb, das Monopol und die beiden Theorien hinsichtlich folgender Cha-
Unternehmen Apfel Computer
2.
Umsatz
rakteristika vergleichen: (a) Anzahl der Unternehmen; (b) Ausmaß der Kollusion; (c) Verhältnis zwischen Preis und Grenzkosten; (d) Verhältnis zwischen Preis und langfristigen Durchschnittskosten; (e) Effizienz. Betrachten Sie einen Wirtschaftszweig mit folgenden Umsätzen:
Unternehmen
Umsatz
1.000
Fettuccini Computer
200
Banane Computer
800
Grapefruit Computer
150
Kumquats Computer
600
Hamburger Computer
100
Delta Computer
400
Löskaffee Computer
Endivien Computer
300
Jasmin Computer
Der Herfindahl-Hirschman Index (HHI) wird definiert als: HHI = (Marktanteil von Unternehmen 1 in %)2 + (Marktanteil von Unternehmen 2 in %)2 + … + (Marktanteil des letzten Unternehmens in %)2 a. Berechnen Sie die Vier- und Acht-Unternehmens-Konzentrationsrate. b. Berechnen Sie den HHI für den Wirtschaftszweig. c. Nehmen Sie an, Apfel Computer und Banane Computer würden bei gleichbleibendem Umsatz ihrer Computer fusionieren. Berechnen Sie den neuen HHI. 3. Zu einer „vollständigen Preisdiskriminierung“ kommt es, wenn jedem Konsumenten für ein Produkt der jeweils höchste mögliche Preis in Rechnung gestellt wird. In diesem Fall kann der Monopolist die gesamte Konsumentenrente für sich verbuchen. Zeichnen Sie eine Nachfragekurve für jeden der sechs Konsumenten und vergleichen Sie (a) die Situation, in der alle Konsumenten denselben Preis bezahlen, mit (b) einem Markt unter den Bedingungen vollständiger Preisdiskriminierung. Erklären Sie das paradoxe Ergebnis, dass eine vollständige Preisdiskriminierung die Ineffizienz des Monopols beseitigt.
4.
5.
50 1
„Es ist doch naiv, Monopole zu mehreren konkurrierenden Einheiten zerschlagen zu wollen, selbst wenn es sich nur um eine Handvoll Unternehmen handelte, weil die Hauptursache für die Bildung von Monopolen in den durch Massenproduktion ermöglichten niedrigeren Produktionskosten liegt. Und auch wenn es plötzlich mehr Anbieter gibt, bewegt sich der Preis immer nahe an den Grenzkosten.“ Diskutieren Sie beide Teile dieser Aussage. Eine interessante, von zwei Ökonomen durchgeführte Studie über das Internet aus jüngerer Zeit ergibt Folgendes: Die traditionelle Preisgestaltung bewährt sich nicht [bei Informationsdiensten]. Wenn Sie einen Tisch gekauft haben, den wir auch gerne hätten, müssen wir uns im Normalfall an den Tischler oder das Möbelhaus wenden, um ebenfalls einen zu kaufen – wir können nicht einfach Ihren Tisch kopieren. Doch bei Informationsgütern taugen die gängigen Preisgestaltungsmodelle nicht. Sobald die versunkenen Kosten für die Entwicklung einer Software investiert sind, sinken die Reproduktionskosten auf fast null. Dies ist [bei elektronischen Informationen] ein viel gravierenderes Problem als jenes, dem Verlagshäuser mit dem unbefugten Kopieren von Büchern gegenüberstehen, weil im ersten
296
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
MC = P = MU aus Kapitel 8 für diese Analyse ganz wesentlich?
Fall die Reproduktionskosten quasi null betragen.3
6.
7.
8.
9.
3 Zusammengefasst aus MacKie-Mason und Varian, zitiert im Abschnitt Leseempfehlungen.
P
MC Price
Analysieren Sie dieses Zitat unter dem Gesichtspunkt der Informationsökonomie. Erklären Sie, warum die Internalisierbarkeit für ein Buch oder eine Website ein Problem darstellt, nicht aber für einen Stuhl oder einen Kanister Benzin. Inwiefern könnte die Verteuerung von Fotokopien oder des Zugangs zum Internet die Effizienz beeinträchtigen? Setzen Sie diese Frage in Beziehung zur Schumpeterschen Hypothese. Erklären Sie die folgenden Aussagen: a. Im Drogerieeinzelhandel hat jeder einzelne Laden zwar ein klein wenig Marktmacht, erzielt aber trotzdem keinen Gewinn. b. Nach der Theorie der eingeschränkten Rationalität bedeutet Effizienz für General Electric, den Preis für Kühlschränke nicht anzupassen, sodass immer und überall gilt: MC = MR. Der Staat beschließt, einen Monopolisten mit einem konstanten Steuersatz von US-$ x pro Einheit zu besteuern. Erläutern Sie die Auswirkungen auf Produktionsmenge und Preis. Befindet sich das Gleichgewicht nach Steuern näher am Idealgleichgewicht von P = MC, oder ist es weiter entfernt? Unternehmen betreiben häufig Lobbying für Zölle oder Einfuhrbeschränkungen, um sich vor dem Wettbewerb durch Importe zu schützen. a. Nehmen wir an, der Monopolist aus Abbildung 10-6 hätte einen ausländischen Mitbewerber, der seine Produktionsmenge vollkommen elastisch zu einem Preis anbieten kann, der geringfügig über den AC = MC des Monopolisten liegt. Zeigen Sie die Auswirkungen des Markteintritts des ausländischen Konkurrenten. b. Welche Auswirkungen auf Preis und Menge wären zu erwarten, würde ein prohibitiv hoher Zoll auf ein ausländisches Gut erhoben? (Prohibitiv ist ein Zoll dann, wenn er Importe de facto verhindert.) Welchen Einfluss hätte ein niedriger Zoll? Erklären Sie die folgende Aussage analytisch: „Der Zoll ist die Mutter des Kartells“. Erklären Sie mit Worten und mit Hilfe eines Diagramms, warum ein monopolistisches Gleichgewicht verglichen mit Unternehmen im vollständigen Wettbewerb zu volkswirtschaftlicher Ineffizienz führt. Warum ist die Bedingung
Teil 2
d
E
AC
d
q
0 Quantity
Abbildung 10-7: 10. Im langfristigen Gleichgewicht erreichen sowohl vollkommene als auch monopolistische Märkte eine Tangentialbeziehung zwischen der Nachfragekurve dd des Unternehmens und seiner Durchschnittskostenkurve AC. Abbildung 10-4 zeigt die Tangentialbeziehung eines Unternehmens bei monopolistischem Wettbewerb, Abbildung 10-7 jene eines Unternehmens bei vollständigem Wettbewerb. Erörtern Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Situationen im Hinblick auf: a. die Elastizität der Nachfragekurve nach dem Produkt des Unternehmens b. das Ausmaß der Divergenz zwischen Preis und Grenzkosten c. Gewinne d. volkswirtschaftliche Effizienz 11. Lesen Sie die Geschichte der OPEC noch einmal nach. Zeichnen Sie ein Modell von Angebots- und Nachfragekurven, bei denen das Angebot absolut preisunelastisch ist. Weisen Sie nach, dass ein Kartell, das ein quantitatives Ziel festsetzt (die unelastische Angebotskurve), bei preisunelastischer Nachfrage mit größeren Preisschwankungen als bei preiselastischer Nachfrage zu rechnen hat, wenn sich (a) die Nachfragekurve ein wenig (um einen Prognoseirrtum) horizontal verschiebt oder wenn (b) eine Verschiebung der Angebotskurve eintritt (etwa weil ein Kartellmitglied ausschert).
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KAPITEL 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Strategisches Denken ist die Kunst, den Gegner auszustechen, wohl wissend, dass dieser dasselbe vorhat. Avinash Dixit und Barry Nalebuff, Thinking Strategically (1991)
Das Leben ist voller Unsicherheiten und strategischer Verhaltensweisen. Werfen wir nur einen kurzen Blick auf die Geschichte der Ölsuche in Russland. In der Phase des wirtschaftlichen Umbruchs der neunziger Jahre ging die russische Ölproduktion stark zurück, und Russland fiel von seiner Position als weltgrößter Ölproduzent auf Platz drei zurück. Westliche Ölgesellschaften wurden eingeladen, sich an Investitionen und Modernisierungsmaßnahmen auf den russischen Ölfeldern zu beteiligen. Stellen Sie sich vor, Sie wären mit dem Aufbau eines Jointventures von Texaco in Sibirien betraut. Mit welchen Hindernissen müssten Sie rechnen? Nun, natürlich birgt der Aufbau eines solchen Jointventures dieselben Risiken in sich, denen sich jeder Ölproduzent weltweit gegenüber sieht – ein Preissturz, ein Embargo oder ein Angriff auf einen Ihrer Tanker durch ein feindliches Regime sind jederzeit denkbar. Darüber hinaus aber beschäftigt Sie die Unsicherheit des Operierens in einem völlig neuen Gebiet. Sie und Ihre Mitarbeiter sind mit den geologischen Formationen, mit dem Gelände, durch das das Öl transportiert werden muss, mit den Erfolgsaussichten der Bohrungen sowie mit dem Ausbildungsstand der Arbeitskräfte nicht vertraut. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten bedrückt Sie eine Reihe von politischen Risiken in der Zusammenarbeit mit einer gespaltenen Zentralregierung in Moskau, mit autonomen Regionen, lokalen Behörden und der berüchtigten russischen Mafia. Sie betätigen sich schließlich in einem Land, in dem Eigentumsrechte, die Notwendigkeit zu bestechen sowie die Höhe der steuerlichen Abgaben einerseits von Ihrer Fähigkeit zu schachern und andererseits von der Launenhaftigkeit der Bürokratie abhängen. Die Probleme, die ein solches TexacoUnternehmen hätte, verdeutlichen, dass wirtschaftliche Aktivitäten oft unter komplexen Bedingungen stattfinden, die in den grundlegenden volkswirtschaftlichen Theorien nicht berücksichtigt werden. Mit diesem Thema
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
befasst sich die ökonomische Theorie der Unsicherheit, die die Auswirkungen der vielen Unsicherheitsfaktoren analysiert, welche das Wirtschaftsleben mit sich bringt. Unsere Ölgesellschaft muss sich mit Unsicherheiten bezüglich der Bohrungen, der schwankenden Kosten und Preise und der sich verschiebenden Märkte auseinandersetzen. Auch Haushalte sind gezwungen, die Unsicherheit der zukünftigen Beschäftigungssituation, des zukünftigen Einkommens sowie der Erfolgsaussichten einer Investition in eine weitere Ausbildung oder in Vermögenswerte in ihrer Planung zu berücksichtigen. Gelegentlich werden die Menschen von Katastrophen wie verheerenden Wirbelstürmen, Erdbeben oder Krankheiten heimgesucht. Eine zweite Theorie, als Spieltheorie bekannt, analysiert Aspekte des Wirtschaftslebens wie Schachern und Feilschen und die Entwicklung von Strategien. Auf vollkommenen Märkten sind alle Akteure Preisnehmer, die in ihr Kalkül nicht mit einzubeziehen brauchen, wie die anderen Akteure auf ihr Vorgehen reagieren. Trotzdem sind strategische Entscheidungen in den meisten Fällen unverzichtbar. Unsere Ölgesellschaft muss unter Umständen damit rechnen, dass eine große Ölfundstelle einfach von der russischen Regierung enteignet wird. Ein oligopolistisches Unternehmen muss sich den Kopf darüber zerbrechen, wie andere Firmen auf seine Preis- oder Produktionsentscheidungen reagieren werden. Wird eine Preissenkung in einen Preiskrieg münden? Kann dieser Preiskrieg das Unternehmen in den Bankrott treiben? Die meisten großen Unternehmen führen Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften, um Löhne und Arbeitsbedingungen festzulegen. Könnte eine zu starre Haltung nicht auch lähmende Streiks zur Folge haben? Elemente des Verhandelns finden wir auch in der Wirtschaftspolitik. Den Entscheidungen eines Staates über Steuern und Ausgaben gehen oft schwierige Verhandlungen voraus: etwa zwischen politischen Parteien, dem Präsidenten und dem Kongress oder auch zwi-
Teil 2
schen den verschiedenen Interessensgruppen im Kongress. Ja, sogar innerhalb der Familien wird verhandelt und strategisch agiert, wenn es etwa darum geht, die Hausarbeit zu verteilen und das Familieneinkommen aufzuteilen. Zu einer umfassenden Untersuchung des realen Wirtschaftslebens gehört unbedingt auch eine eingehende Erforschung des faszinierenden Zusammenwirkens von Unsicherheit und Strategie.
A. Die ökonomische Theorie des Risikos und der Unsicherheit Unseren bisherigen Markttheorien haben wir immer die Annahme zugrunde gelegt, dass alle Informationen über Kosten und Nachfragemengen verfügbar sind und dass die Unternehmen das Verhalten anderer Unternehmen prognostizieren können. In der Realität aber herrschen Unsicherheit und Risiko vor. Sehen wir uns einmal an, wie sich das Bild verdüstert, wenn Sie im Ölgeschäft sind und sich entschließen, nach dem schwarzen Gold zu graben. Zu Beginn veranschlagen Sie die Kosten für die Errichtung eines Bohrlochs mit US-$ 100 Millionen. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine Schätzung, da Sie nicht wissen können, wie tief gebohrt werden muss, um auf Öl zu stoßen. Auch ist fraglich, ob die Ausrüstung hält oder nicht und wie viel Zeit die Mannschaft benötigt. Außerdem können aufgrund der Unsicherheit über Preise und Fördermengen keine Aussagen hinsichtlich der Rentabilität der Bohrung gemacht werden. Die Preisunsicherheit ist angesichts der stark schwankenden Ölpreise, die in den letzten 20 Jahren einmal bei US-$ 10 pro Barrel und dann wieder bei US-$ 38 lagen, verständlich. Die größere Sorge gilt jedoch zweifellos der Fördermenge, da diesbezüglich noch größere Unsicherheit
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
herrscht. Es muss sich erst zeigen, ob das Bohrloch trocken ist, ob es zu unergiebig ist, um die Kosten zu decken, oder ob es sich als lukrative, sprudelnde Ölquelle entpuppt. Diese Probleme betreffen natürlich nicht nur die Ölbranche. Für praktisch alle Unternehmen ändern sich die Output-Preise monatlich: Die Faktorkosten unterliegen starken Schwankungen, und das Verhalten von Konkurrenten lässt sich nicht vorhersehen. Es liegt im Wesen des Geschäftslebens, heute zu investieren, um in Zukunft Gewinne zu erwirtschaften, man könnte auch sagen: Vermögen anzuhäufen, das dann gegen zukünftige Unsicherheiten als Sicherheit eingesetzt werden kann. Wirtschaft ist ein riskantes Geschäft. Die moderne Volkswirtschaftslehre hat nützliche Instrumente entwickelt, mit denen die Unsicherheit in die Analyse des Verhaltens von Unternehmen und Haushalten einbezogen werden kann. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich daher mit der Rolle des Marktes bei der zeitlichen und räumlichen Risikostreuung; er stellt eine Theorie des individuellen Verhaltens bei Unsicherheit vor und illustriert die wesentlichen Theorieelemente anhand des Versicherungsmarktes. Die folgenden Themen bieten einen kurzen Einblick in die faszinierende Welt von Risiko und Wirtschaftsleben.
Spekulation: Die Bewegung von Vermögenswerten oder Gütern durch Zeit und Raum Betrachten wir zunächst einmal die Rolle der Spekulationsmärkte. Spekulation bedeutet Kauf und Verkauf mit dem Ziel, aus den Preisschwankungen Profit zu schlagen. Ein Spekulant möchte billig kaufen und teuer verkaufen. Bei den Spekulationsobjekten kann es sich um Getreide, Öl, Eier, Aktien oder ausländische Währungen handeln. Spekulanten kaufen diese Güter nicht um ihrer selbst willen. Das letzte, wovon ein Spekulant
träumt, ist ein Eierlieferant, der mit der ganzen Fracht direkt vor seinem Haus vorfährt! Stattdessen versucht er von Preisänderungen zu profitieren. Viele halten Spekulation für eine etwas anrüchige Angelegenheit, vor allem wenn sie ihre Wurzeln in Buchhaltungsbetrug und Insiderinformationen hat. Doch Spekulation kann für die Gesellschaft auch durchaus nützlich sein. Die wirtschaftliche Funktion der Spekulanten besteht darin, Güter aus Zeiten des Überflusses in Zeiten der Knappheit zu „verschieben“. Und auch wenn Spekulanten niemals ein leibhaftiges Fass Öl oder eine Wagenladung Eier zu Gesicht bekommen, können sie dazu beitragen, die Preisdifferenzen dieser Waren zwischen verschiedenen Regionen und über die Zeit hinweg auszugleichen. Sie tun das, indem sie die Güter kaufen, wenn sie in großen Mengen verfügbar und günstig zu haben sind, und sie verkaufen, wenn sie knapp und teuer sind. Dieses Verhalten kann die Effizienz eines Marktes tatsächlich verbessern.
Arbitrage und ortsgebundene Preisstrukturen Die einfachste Situation ist diejenige, in der ein Spekulant durch seine Tätigkeit die regionalen Preisunterschiede reduziert oder eliminiert, indem er ein und dieselbe Ware kauft. Diese Aktivität nennt man Arbitrage – den Kauf von Gütern oder Vermögenswerten auf einem Markt mit dem Ziel, sie auf einem anderen Markt unmittelbar wieder zu verkaufen und aus dem Preisunterschied Gewinn zu schlagen. Nehmen wir an, der Preis für ein Scheffel Weizen liegt in Chicago um 50 Cent höher als in Kansas City. Nehmen wir weiter an, dass für Versicherung und Transport Kosten in Höhe von 10 Cent pro Scheffel anfallen. Das bedeutet, dass ein Arbitrageur (jemand, der Arbitrage-Geschäfte durchführt) pro Scheffel Weizen 40 Cent Gewinn erwirtschaften kann, indem er den Weizen in Kansas kauft,
300
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
nach Chicago bringt und dort wieder verkauft. In der Folge werden sich die Preise angleichen, und der Preisunterschied wird zu keinem Zeitpunkt mehr als 10 Cent pro Scheffel betragen. Allgemeiner ausgedrückt: Die Preisunterschiede zwischen Märkten sind bei Arbitrage im Allgemeinen geringer als die Kosten für die Bewegung der Güter von einem Markt zum anderen. Die Preise identischer Güter, die auf unterschiedlichen Märkten gehandelt werden, finden einen Ausgleich durch das bekannt hektische Agieren der Spekulanten: das gleichzeitige Sprechen an mehreren Telefonen mit verschiedenen Brokern, um Preisunterschiede zu erfahren und mit billigem Einkauf und teurem Verkauf entsprechende Gewinne zu erzielen. Auch hier können wir wieder die unsichtbare Hand bei ihrer Arbeit beobachten. Die Verlockung des Geldes schafft den Anreiz, Preisunterschiede über alle Märkte hinweg zu glätten und somit die Effizienz der Märkte zu steigern.
Spekulation und Preisverhalten im Zeitablauf Mithilfe des Drucks, den Spekulanten auf die Märkte ausüben, werden sowohl zeitlich als auch räumlich ganz spezielle Preisstrukturen geschaffen. Doch sind diese Strukturen aufgrund der Schwierigkeit, Prognosen für die Zukunft zu erstellen, nicht perfekt: Das Marktgleichgewicht wird laufend gestört, bildet sich jedoch auch immer wieder neu, vergleichbar etwa der Oberfläche eines Sees, auf die der Wind bläst. Betrachten wir ein landwirtschaftliches Produkt wie Weizen, der nur einmal pro Jahr geerntet wird und mehrere Jahre lang zur zukünftigen Verwendung gelagert werden kann. Um Knappheiten zu vermeiden, muss dafür gesorgt sein, dass der Weizen das ganze Jahr über ausreicht. Wie erreicht der Markt ohne staatliche Regulierung effiziente Preis-
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und Allokationsstrukturen? Nun, das Gleichgewicht wird durch die Aktivitäten der gewinnorientiert handelnden Spekulanten herbeigeführt. Ein gut informierter Weizenhändler weiß, dass der Weizen, sollte im Herbst die gesamte Menge auf einmal auf den Markt gebracht werden, wegen des Überangebotes nur einen sehr niedrigen Preis erzielen würde. Einige Monate später wäre der Weizen jedoch bereits knapp, und es könnten hervorragende Preise erzielt werden. Also kann ein Spekulant Gewinne erwirtschaften, indem er (1) im Herbst Weizen kauft, solange er billig ist, (2) diesen lagert und (3) ihn zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Preis gestiegen ist, verkauft. Als Ergebnis seiner Vorgehensweise steigen der Herbstpreis und das Angebot im Frühling, während der Frühlingspreis sinkt. Diese spekulativen Käufe und Verkäufe führen dazu, dass das Angebot und somit auch der Preis über das Jahr gleichmäßig verteilt werden. Herrscht starker Wettbewerb zwischen den Spekulanten, sind zudem keine übertriebenen Gewinne zu erzielen. Das Einkommen der Spekulanten setzt sich aus dem für das investierte Kapital gezahlten Zins, einem angemessenen Lohn für ihren Zeitaufwand und einer Risikoprämie je nach dem zu tragenden Risiko zusammen. Es gibt eine und nur eine monatliche Preisstruktur, die für konkurrierende Spekulanten zu einem Nullgewinn führt. Bei kurzem Nachdenken wird verständlich, dass es sich dabei nicht um konstante Preisstrukturen handeln kann. Vielmehr bewirkt eine unter Wettbewerbsbedingungen auf dem Spekulationsmarkt entstandene Preisstruktur tiefe Preise nach der Herbsternte mit anschließenden allmählichen Preissteigerungen, bis kurz vor der nächsten Ernte ein Spitzenwert erreicht wird. Die Lager- und Zinskosten durch die Weizenlagerung lassen den Preis in der Regel von Monat zu Monat in die Höhe klettern. Abbildung 11-1 zeigt, wie sich der
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Getreidepreis
P
Herbst Frühling Ernte
Herbst Ernte
Frühling
Herbst Ernte
Abbildung 11-1: Spekulanten bewirken, dass sich der Preis einer Ware im Zeitverlauf ausgleicht Bei Lagerung eines Gutes muss der erwartete Preisanstieg auch die Lagerkosten berücksichtigen. Im Gleichgewicht ist der Preis zur Erntezeit am niedrigsten, wonach er durch Lagerhaltung, Versicherungskosten und Zinszahlungen bis zur nächsten Ernte ansteigt. Dieses flexible Muster gleicht den Konsum übersaisonal aus. Anderenfalls hätte eine reichliche Ernte extrem niedrige Herbst- und enorm hohe Frühlingspreise zur Folge.
Preis über einen hypothetischen jährlichen Zyklus hinweg verhält. Die Spekulation lässt das Prinzip der unsichtbaren Hand zutage treten. Durch den Ausgleich von Angebot und Preisen erhöht die Spekulation die wirtschaftliche Effizienz. Die Güter werden von Perioden des Überschussangebots zu Perioden des Nachfrageüberhangs verteilt. So kauft der Spekulant zu einem Zeitpunkt, an dem Preis und Grenznutzen des Gutes niedrig sind, und verkauft zu einem Zeitpunkt, an dem Preis und Grenznutzen des Gutes hoch sind. Indem Spekulanten ihr Eigeninteresse verfolgen (Gewinne), dienen sie gleichzeitig dem öffentlichen Interesse (Gesamtnutzen).
Die Beseitigung von Risiken durch Kurssicherungsgeschäfte (Hedging) Eine wichtige Funktion von Spekulationsmärkten besteht darin, die Beseitigung von Risiken durch Kurssicherungsgeschäfte zu ermöglichen. Von Kurssicherung oder Hedging spricht man, wenn das mit dem
Besitz eines Vermögenswertes oder einer Ware verbundene Risiko durch gegenläufige Geschäfte verringert wird. Betrachten wir doch einmal, wie das funktioniert. Stellen Sie sich eine Inhaberin eines Getreidelagers vor. Sie kauft im Herbst 2 Millionen Scheffel Getreide aus Kansas, lagert es sechs Monate ein und verkauft es im Frühling für einen Gewinn von 10 Cent pro Scheffel. Damit sind gerade einmal ihre Kosten abgedeckt. Das Problem ist, dass Getreidepreise schwanken. Steigt der Getreidepreis, verbucht sie unerwartete Zusatzgewinne. Fällt der Preis jedoch stark, werden ihre Lagergewinne zur Gänze aufgefressen, und im schlimmsten Fall könnte sie sogar in den Bankrott getrieben werden. Die Eigentümerin des Warenlagers möchte ihr Geld aber mit der Einlagerung von Getreide und nicht mit Getreidepreisspekulationen verdienen. Wie wird ihr das gelingen? Sie kann das Preisrisiko umgehen, indem sie ihre Investitionen absichert. Die Eigentümerin führt eine solche Absicherung durch, indem sie das Getreide in dem Augenblick weiter verkauft, in dem sie es von den Landwirten erwirbt, anstatt abzuwarten, bis es sechs Monate später geliefert wird. Nachdem sie im September 2 Millionen Scheffel gekauft hat, verkauft sie das Getreide sofort zur zukünftigen Lieferung zu einem vereinbarten Preis, der nur die Lagerkosten von 10 Cent pro Scheffel abdeckt. Dadurch schützt sie sich gegen jegliche Getreidepreisrisiken. Durch Hedging können sich Unternehmen gegen das Risiko von Preisänderungen absichern.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Spekulation Doch wer kauft das Getreide, und wann? Hier greifen die Spekulanten und der spekulative Markt in das Geschehen ein. Der Spekulant erklärt sich damit einverstanden, den Weizen von der Eigentümerin des Lagers zu einem jetzt vereinbarten Preis zur späteren Auslieferung zu kaufen. Dadurch wird das
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Risiko vom ursprünglichen Eigentümer auf den Spekulanten übertragen. Sie werden sich nun fragen, warum eigentlich der Spekulant bereit ist, das Getreidepreisrisiko zu übernehmen. Nun, vielleicht ist er davon überzeugt, dass die Getreidepreise steigen und er somit eine überdurchschnittliche Rendite auf sein eingesetztes Kapital erzielen wird; vielleicht hat er einen „Futureskontrakt“ (bei dem die Lieferung zu einem zukünftigen Zeitpunkt versprochen wird) an Käufer veräußert, die den Getreidepreis vor dessen möglichem Anstieg fixieren wollten; vielleicht hat er an Investoren verkauft, die eine kleine Getreideposition in ihr Portfolio aufnehmen wollten. Der Punkt ist, dass irgendjemand zu irgendeinem Zeitpunkt aus wirtschaftlichen Gründen motiviert war, die Getreidepreisschwankungen ihres Risikos zu berauben. Spekulationsmärkte dienen sowohl der Verbesserung der Preis- und Allokationsstrukturen über Zeit und Raum hinweg als auch der Risikoübertragung. Diese Aufgaben werden von Spekulanten wahrgenommen, die in ihrem Bestreben, aus Preisänderungen Gewinn zu schlagen, die Wirkung der unsichtbaren Hand sichtbar machen. Wenn wir hinter den Schleier des Geldes blicken, sehen wir, dass die ideale Spekulation Güter von Zeiten des Überflusses (wenn die Preise niedrig sind) in Zeiten des Mangels (wenn die Preise hoch sind) umleitet. Unsere bisherige Diskussion deutet darauf hin, dass ideale Spekulationsmärkte die wirtschaftliche Effektivität steigern können. Sehen wir uns doch einmal an, wie das funktioniert. Wir unterstellen, dass identische Konsumenten identische Nutzenfunktionen aufweisen, wobei der Nutzen, der in einem Jahr erzielt werden kann, unabhängig von dem in allen anderen Jahren erzielbaren Nutzen ist. Nehmen wir nun an, dass im ersten von zwei Jahren eine gute Ernte erzielt wird, etwa drei Einheiten pro Person. Im zweiten Jahr führt eine schlechte Ernte dazu, dass auf jede Person nur eine Einheit entfällt. Wie sollte unter der Annahme, dass man diesen
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Ausfall exakt voraussehen könnte, der Konsum der insgesamt vier Einheiten auf die beiden Jahre verteilt werden? Wenn wir Lager-, Zins- und Versicherungskosten außer Acht lassen, so gilt: Der Gesamtnutzen und die wirtschaftliche Effizienz für beide Jahre können nur dann maximiert werden, wenn der Konsum in beiden Jahren gleich hoch ist. Warum hat ein gleichmäßiger Konsum Vorteile gegenüber anderen möglichen Verteilungen des zur Verfügung stehenden Ganzen? Nun, wegen des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens. So könnten wir argumentieren: „Nehmen Sie an, ich konsumiere im ersten Jahr mehr als im zweiten. Mein Grenznutzen (MU) ist im ersten Jahr niedrig und im zweiten hoch. Wenn ich nun einen Teil der Ernte des ersten Jahres in das zweite Jahr hinüberrette, verlagere ich Konsum aus Zeiten mit niedrigem Grenznutzen in Zeiten mit hohem Grenznutzen. Bei angeglichenem Konsumniveau sind die Grenznutzen gleich und ich maximiere meinen Gesamtnutzen.“ Eine Grafik veranschaulicht dieses Argument. Wenn Nutzen in Geldeinheiten gemessen werden kann und jede Geldeinheit denselben Grenznutzen hat, muss die Nachfragekurve für risikobehaftete Güter genauso aussehen wie die Grenznutzenfunktion in Abbildung 5-1 auf Seite 132. Die beiden Kurven von Abbildung 11-2(a) zeigen, was ohne Übertragung und bei ungleichem Konsum passieren würde. Die Preisbildung erfolgt zuerst in A1, im Schnittpunkt von S1S1 und DD, und dann in A2, wo das geringere Angebot S2S2 die DDKurve schneidet. Der Gesamtnutzen der grau schattierten Flächen würde sich nur zu (4 + 3 + 2) + 4 oder US-$ 13 addieren. Wird jedoch eine Einheit in das zweite Jahr übertragen, wie in Abbildung 11-2(b) dargestellt, werden die Preise und Mengen in El und E2 ausgeglichen, und der durch die grau schattierten Flächen dargestellte Gesamtnutzen addiert sich zu (4 + 3) + (4 + 3) oder US-$ 14 pro Kopf. Eine kurze Analyse zeigt, dass der Nutzenzuwachs von US-$ 1 durch den rostfarbenen Block in Abbildung 11-2(b) gemessen wird, der übrigens nichts
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
(a) Ohne Übertrag P1 4
S1
(b) Mit Übertrag P1
P2 S2
D
4
D
4
A2
P2
D
4 E1
3 2
A1
1
3
3
2
2
1 D
0 S1
Q1
E2
2
1 D
0
Q2
0
D
1 D
Q1
0
D
Q2
S2
Abbildung 11-2: Lagerung aus Spekulationsgründen kann die Effizienz steigern Die grau unterlegten Bereiche stellen den Gesamtnutzen dar, der jedes Jahr erzielt wird. Wird eine Einheit in ein zweites Jahr übertragen, gleicht dieses Q sowie P und MU aus und erhöht den Gesamtnutzen um den Bereich des rostfarbenen Blocks. Dieses Diagramm gilt gleichermaßen für eine ganze Reihe von Situationen. Es könnte mit den Überschriften „(a) Ohne Arbitrage quer über die Regionalmärkte“ und „(b) Mit Arbitrage quer über Märkte“ versehen werden. Wir können dieses Diagramm auch verwenden, um die Risikoaversion darzustellen, wenn wir es „(a) Mit riskantem Glücksspiel“ und „(b) Ohne riskantem Glücksspiel“ nennen. Die Versicherung dient dann dazu, die Leute von (a) nach (b) zu bringen, indem die Risiken auf viele unabhängige potenzielle Glücksspiele verteilt werden.
anderes darstellt als den zusätzlichen Grenznutzen der zweiten Einheit gegenüber der dritten. Das zeigt, warum die Gleichheit der Grenznutzen, die durch die Idealspekulation erreicht wird, optimal ist. Unsere Diskussion hat sich bisher auf eine einzige Art der Spekulation und der Arbitrage konzentriert – jene mit Waren. Noch wichtiger sind heute aber spekulative Aktivitäten mit Finanzwerten wie Aktien, Anleihen, Hypotheken und Devisen. Täglich wechseln Vermögenswerte im Wert von Billionen USDollar durch Spekulation, Hedging und Vermögensanlage die Hände. Die allgemeinen Prinzipien, die der Finanzspekulation zugrunde liegen, Hedging und Arbitrage, sind genau dieselben wie die oben beschriebenen, auch wenn noch mehr auf dem Spiel steht. Das ideale Spekulationsverhalten erfüllt die überaus wichtige Funktion, die Konsumschwankungen zu verringern und (in einer Welt, in der der Einzelne mit einem sinkenden Grenznutzen konfrontiert ist) den Gesamtnutzen zu mehren und die Allokationseffizienz zu verbessern.
Risiko und Unsicherheit Welche Einstellungen haben die Menschen zum Risiko? Warum versuchen sie, sich gegen große Risiken abzusichern? Welche Institutionen einer Marktwirtschaft helfen ihnen, große Risiken zu vermeiden? Warum versagen Märkte, wenn es darum geht, ganz bestimmte Situationen zu versichern? Diesen Fragen wollen wir uns nun zuwenden. Wenn wir Auto fahren, Hausbesitzer sind oder in den Aktienmarkt investieren, riskieren wir unser Leben, unsere Gesundheit oder unser Vermögen. Und wie verhalten sich Menschen angesichts von Risiken? Im Wesentlichen trachten sie danach, schwerwiegende Risiken für ihr Einkommen und ihren Konsum zu vermeiden. Man bezeichnet dies als „risikoaverses Verhalten“. Von Risikoaversion spricht man, wenn der Nutzenverlust, der dadurch entsteht, dass man eine gegebene Menge an Einkommen verliert, größer ist als der Nutzenzuwachs, der entsteht, wenn man dieselbe Menge an Einkommen hinzugewinnt.
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Nehmen wir als Beispiel eine Wette, bei der wir US-$ 1.000 gewinnen, wenn eine Münze auf Kopf fällt, und US-$ 1.000 verlieren, sollte sie auf Zahl fallen. Dieses Spiel hat einen Erwartungswert von null (entsprechend einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 US-$ 1.000 plus einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 –US-$ 1.000). Ein Spiel mit einem Erwartungswert von null wird als fair bezeichnet. Menschen, die alle fairen Spiele ablehnen, sind risikoavers. Im Sinne der Nutzendefinition aus Kapitel 5 ist Risikoaversion gleichbedeutend mit einem sinkenden Grenznutzen des Einkommens. Risikoavers zu sein bedeutet, dass der Nutzenzuwachs aus zusätzlichem Einkommen geringer bewertet wird als die Verringerung des Nutzens bei Verlust der gleichen Höhe an Einkommen. Bei einer fairen Wette (wie das Werfen einer Münze um US-$ 1.000) ist der erwartete Dollarwert null. Doch in der Nutzentheorie bedeutet dies, dass der erwartete Nutzwert negativ ist, weil der erzielbare Nutzen geringer ist als der mögliche Nutzenverlust. Mithilfe von Abbildung 11-2 können wir das Konzept der Risikoaversion näher erläutern. Angenommen, Situation (b) ist die Ausgangsposition. Sie haben dieselbe Menge an Konsum in Zustand 1 und 2, also jeweils zwei Einheiten. Eine „risikofreudige“ Person kommt nun zu Ihnen und sagt: „Lassen Sie uns um eine Einheit eine Münze werfen.“ Der Risikofreudige bietet Ihnen tatsächlich die Chance an, zu Situation (a) zu gelangen, wo Sie entweder drei Einheiten konsumieren können, sollte „Kopf“ erscheinen, oder aber nur noch eine Einheit, sollte die Münze auf „Zahl“ fallen. Wenn Sie sorgfältig kalkulieren, erkennen Sie, dass der Erwartungsnutzen – sollten Sie die Wette ablehnen und in Situation (b) bleiben – 7 Nutzeneinheiten beträgt (= 1/2 7 Einheiten + 1/2 7 Einheiten), gegenüber 6 1/2 Nutzeneinheiten (1/2 9 Einheiten + 4 Einheiten) für den Fall, dass Sie die Wette annehmen sollten. Dieses Beispiel zeigt, dass Sie als risikoaverses Individuum mit sinkendem Grenznutzen
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Handlungen vermeiden werden, die die Unsicherheit vergrößern, ohne einen entsprechenden Gewinn erwarten zu lassen. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Getreidebauer. Da Sie sich schon mit den natürlichen Gefahren der Landwirtschaft herumschlagen müssen, möchten Sie allen mit dem Getreidepreis verbundenen Risiken natürlich aus dem Weg gehen. Nehmen wir an, der erwartete Weizenpreis läge bei US-$ 4 pro Scheffel. Dieser Erwartungswert setzt sich aus zwei möglichen und jeweils gleich wahrscheinlichen Zuständen, also entweder einem Preis von US-$ 3 oder einem Preis von US-$ 5 pro Scheffel, zusammen. Wenn Sie das Preisrisiko nicht umgehen können, sind Sie dazu gezwungen, in einer Lotterie mitzuspielen, die es Ihnen ermöglicht, Ihre Ernte von 10.000 Scheffel entweder für US-$ 30.000 oder für US-$ 50.000 zu verkaufen, abhängig nur davon, auf welche Seite die Getreidepreismünze fällt. Aufgrund Ihrer Risikoaversion und Ihres sinkenden Grenznutzens wollen Sie lieber auf Nummer Sicher gehen. Das heißt, Sie gleichen das Risiko lieber aus, indem Sie Ihr Getreide zum erwarteten Preis von US-$ 4 verkaufen und somit US-$ 40.000 erwirtschaften. Warum? Weil Sie ein Verlust von US-$ 10.000 stärker schmerzt, als Ihnen ein Gewinn von US-$ 10.000 an zusätzlichem Nutzen beschert. Schrumpft Ihr Einkommen auf US-$ 30.000, sind Sie gezwungen, auf wichtige Ausgaben wie Unterrichtsstunden am College oder ein neues Dach zu verzichten. Andererseits fallen die zusätzlichen US-$ 10.000 weniger ins Gewicht, weil Sie sich dafür vielleicht luxuriöse Dinge wie einen tollen Winterurlaub oder einen neuen, 100 PS starken klimatisierten Rasenmäher leisten würden. Die Menschen sind im Allgemeinen risikoavers und ziehen die Sicherheit einem unsicheren Konsumniveau vor: Sie bevorzugen Ergebnisse mit einem geringeren Unsicherheitsfaktor und gleich bleibenden Durchschnittswerten. Deshalb führt eine Vorgehensweise, die geeignet ist, Unsicherheit oder
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Risiko in Bezug auf den Konsum von Wirtschaftssubjekten zu reduzieren, zu einem ökonomischem Wohlfahrtszuwachs. Der beunruhigende Anstieg des Glücksspiels Das Glücksspiel ist historisch gesehen ein „Laster“, das – gemeinsam mit illegalen Drogen, kommerziellem Sex, Alkohol und Tabak – vom Staat eingedämmt wird. Die Einstellung zu derartigen Aktivitäten ist starken Schwankungen unterworfen. Im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die öffentliche Haltung zum Glücksspiel ebenso gelockert, wie sich diejenige gegenüber harten Drogen und Tabak verschärft hat. 1978 war das Glücksspiel nur in einem einzigen US-Bundesstaat zugelassen. Ende der neunziger Jahre waren es schon 27 Staaten. Hand in Hand mit diesem Anstieg ging die rasante Zunahme der staatlichen Lotterien. Alles in allem war das Glücksspiel in den letzten 20 Jahren einer der am schnellsten wachsenden Sektoren der (legalen) Wirtschaft. Glücksspiel ist nicht identisch mit Spekulation. Während die ideale Spekulation die wirtschaftlichen Wohlfahrt mehrt, erwachsen aus dem Glücksspiel schwerwiegende wirtschaftliche Probleme. Erstens werden beim Glücksspiel abgesehen vom Freizeitwert keine Güter oder Dienstleistungen produziert. In der Sprache der Spieltheorie, die in der zweiten Hälfte dieses Kapitels beschrieben wird, ist das Glücksspiel für die Spieler ein „Negativsummenspiel“ – das heißt, dass die Spieler auf lange Sicht (fast) sicher verlieren, weil das Casino oder der Staat an allen Wetten mitverdient. Außerdem verstärkt das Glücksspiel durch seine ureigene Natur die Ungleichheit. Menschen, die sich mit demselben Geldbetrag an einem Glücksspieltisch niederlassen, verlassen ihn mit höchst unterschiedlichen Beträgen. Die Familie eines Spielers muss damit rechnen, in der einen Woche finanziell gesehen in den höchsten Sphären zu schweben, um gleich darauf wieder hart am Boden aufzuschlagen, wenn sich das Glück wendet.
Manche Beobachter meinen darüber hinaus, dass das Glücksspiel negative soziale Auswirkungen hat. Beispiele sind Spielsucht, Kriminalität, politische Korruption und Infiltration des Glücksspiels durch das organisierte Verbrechen. Wie dürfen wir angesichts der gewichtigen ökonomischen Argumente gegen das Glücksspiel den aktuellen Trend verstehen, das Glücksspiel zu legitimieren und staatliche Lotterien zu betreiben? Ein Grund liegt darin, dass Staaten, die nach Steuereinnahmen gieren, unter jedem Busch nach neuen Einnahmequellen suchen. Deshalb rationalisieren sie Lotterien und Casinos als Möglichkeit, private Laster zugunsten des öffentlichen Interesses zu kanalisieren, indem sie einen Teil der Gewinne abschöpfen und damit öffentliche Projekte finanzieren. Außerdem kann das legale Glücksspiel illegale Manipulatoren vertreiben und die Rentabilität des organisierten Verbrechens etwas verringern. Ungeachtet dieser Argumente stellen viele Beobachter Aktivitäten in Frage, bei denen der Staat durch die Förderung irrationaler Verhaltensweisen jener profitiert, die sich diese Verhaltensweisen am wenigsten leisten können.
Versicherung und Risikostreuung Risikoaverse Menschen sind bestrebt, Risiken zu vermeiden. Das ist jedoch gar nicht so einfach. Wenn ein Haus bis auf die Grundmauern abbrennt, wenn jemand bei einem Verkehrsunfall getötet wird oder wenn ein Hurrikan seine zerstörerische Spur durch Florida zieht, muss irgendjemand irgendwo die Kosten tragen. Märkte bewältigen Risiken mithilfe der Risikostreuung. Nach dieser Methode wird ein Risiko, das für den Einzelnen sehr hoch ist, so verteilt, dass es zu einem kleinen Risiko für eine große Anzahl von Menschen wird. Risikostreuung wird hauptsächlich mithilfe von Versicherungen betrieben, wodurch das Spiel sozusagen umgekehrt wird.
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So wetten Hausbesitzer, die eine Feuerversicherung abgeschlossen haben, auf gewisse Weise mit der Versicherungsgesellschaft, ob ihr Haus abbrennt oder nicht. Sollte es nicht abbrennen, büßt der Hausbesitzer nur eine geringe Versicherungsprämie ein. Brennt es jedoch tatsächlich ab, ist die Versicherungsgesellschaft verpflichtet, dem Hausbesitzer den Verlust bis zu einer vereinbarten Höhe zu ersetzen. Was für die Feuerversicherung gilt, gilt gleichermaßen für Lebens-, Unfall-, Kfz- und jede andere Art von Versicherung. Die Versicherungsgesellschaft streut ihrerseits das Risiko, indem sie viele verschiedene Risiken zusammenfasst: Sie kann Millionen von Häusern, Leben oder Autos versichern. Der Vorteil für die Versicherungsgesellschaft liegt darin, dass man für die gesamte Bevölkerung statistisch sehr genau vorhersagen kann, was für ein Individuum nicht vorhersagbar ist. Angenommen, die Inland Feuerversicherungsgesellschaft versichert 1 Million Häuser, die jeweils einen Wert von US-$ 100.000 repräsentieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Haus abbrennt, liegt bei 1:1.000 pro Jahr. Der erwartete Schaden für Inland beträgt somit 0,001 US-$ 100.000 = US-$ 100 je Haus. Die Versicherung berechnet daher jedem Hausbesitzer US-$ 100 für das Risiko und zusätzlich US-$ 100 für die Verwaltung und als Rücklage. Die Hauseigentümer haben die Wahl zwischen einem sicheren Verlust von US-$ 200 und dem mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1.000 eintretenden verheerenden Verlust von US-$ 100.000. Aufgrund ihrer Risikoaversion entschließen sich die Hauseigentümer, um auch die geringe Wahrscheinlichkeit eines verheerenden Verlustes auszuschließen, dazu, eine Feuerversicherung abzuschließen, obwohl die Kosten dafür den zu erwartenden Verlust übersteigen. Versicherungsgesellschaften können ihre Prämien so festsetzen, dass sie einen Gewinn erwirtschaften. Zugleich aber erzielen auch die Versicherten einen Gewinn gegenüber dem
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Erwartungswert. Woher stammt dieser Gewinn? Er resultiert aus dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Die Versicherung überträgt die Risiken von risikoaversen Personen oder solchen, die überproportional hohen Risiken ausgesetzt sind, auf jene, die weniger risikoavers sind oder die Risiken leichter tragen können. Obwohl die Versicherung nur eine Art Glücksspiel zu sein scheint, erzielt sie genau den gegenteiligen Effekt. Die Natur teilt uns Risiken zu, und die Versicherung hilft uns die einzelnen Risiken zu reduzieren, indem sie sie verteilt.
Kapitalmärkte und Risikoverteilung Eine andere Form der Risikoverteilung finden wir auf dem Kapitalmarkt, wo das finanzielle Eigentum an physischem Kapital durch das gemeinschaftliche Eigentum an einem Unternehmen unter vielen Miteigentümern gestreut werden kann. Denken Sie etwa an eine Investition zur Entwicklung eines neuen Zivilflugzeugs. Hier ist für eine umfassende Neuplanung inklusive Forschung und Entwicklung mit US-$ 2 Milliarden an Investitionen innerhalb von zehn Jahren zu rechnen. Es kann jedoch keine Absatzgarantie für dieses neue Flugzeug geben; niemand weiß mit Sicherheit, ob sich die Investition tragen wird. Und so verwundert es nicht, dass nur wenige Menschen das Vermögen oder die Bereitschaft zu einem derart riskanten Wagnis aufbringen. In einer Marktwirtschaft lässt sich ein solches Ziel durch eine breite Streuung des Eigentums erreichen. Ein Unternehmen wie Boeing gehört zahlreichen Aktionären, die jeweils nur geringe Anteile am Gesamtunternehmen halten. Teilen Sie doch einmal rein hypothetisch den Besitz von Boeing gleichmäßig auf 10 Millionen Individuen auf. Bei einem Projektvolumen von US-$ 2 Milliarden ergibt sich eine Investition von US-$ 200 pro Person. Dieses geringe Risiko ist der Einzelne zu tragen bereit, wenn ihm die
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Dividende für Boeing-Aktien attraktiv erscheint. Eines der spannendsten und am schnellsten wachsenden volkswirtschaftlichen Forschungsgebiete ist die Finanzökonomik. Die Finanzökonomik untersucht, wie Investoren ihre Mittel so zuteilen können, dass der Ertrag bei einer gegebenen Risikostufe maximiert wird, und wie sich die Preise von Aktien und anderen Finanzwerten verhalten. Die Finanzmärkte haben die Ökonomie in die Haushalte und Universitäten gebracht, zu Millionen von Menschen, die online investieren, für eine Universitätsausbildung sparen oder ihre Pensionsfonds managen. Die Finanzökonomik wird in dem Kapitel über Makroökonomie eingehend behandelt. Durch die Aufteilung riskanter Anlagen auf mehrere Eigentümer können die Kapitalmärkte die Risiken verteilen und viel größere Investitionen und Risiken fördern, als sie für einzelne Eigentümer vertretbar wären.
Marktversagen aufgrund unvollkommener Information In unserer bisherigen Analyse haben wir angenommen, dass Investoren und Konsumenten über die Risiken, denen sie gegenüberstehen, bestens informiert sind und dass die Spekulations- und Versicherungsmärkte effektiv funktionieren. In Wirklichkeit werden Märkte, die Risiken und Unsicherheit unterliegen, von Marktversagen heimgesucht. Darunter sind vor allem das Risiko unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens (moral hazard) und das Ausscheiden der besseren Risiken (adverse selection) zu nennen. Im Falle eines solchen Marktversagens können die Märkte falsche Signale aussenden, wirtschaftliche Anreize werden verzerrt, oder der entsprechende Markt existiert de facto nicht. Aufgrund solcher Marktversagen kann der Staat beschließen zu intervenieren, indem er eine Sozialversicherung anbietet.
307 Das Risiko unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens und die Gefahr des Ausscheidens der besseren Risiken Obwohl Versicherungen zweifellos eine nützliche Einrichtung zur Risikostreuung sind, sind sie nicht immer verfügbar. Der Grund dafür liegt darin, dass effiziente Versicherungsmärkte nur unter beschränkten Bedingungen existieren können. Was sind die Voraussetzungen für effiziente Versicherungsmärkte? Erstens muss eine große Zahl versicherbarer Ereignisse vorhanden sein. Nur dann können die Unternehmen die Risiken so verteilen, dass sich Risiken, die für den Einzelnen groß sind, auf viele Menschen verteilen und dadurch klein werden. Ferner müssen diese Ereignisse voneinander statistisch unabhängig sein. Keine umsichtige Versicherungsgesellschaft wird alle ihre Feuerpolicen für ein und dasselbe Gebäude oder alle ihre Erdbebenpolicen nur in San Francisco anbieten. Versicherungsgesellschaften sind bestrebt, möglichst viele verschiedene, unabhängige Risiken zu versichern. Zusätzlich müssen genügend empirische Daten über diese Ereignisse zur Verfügung stehen, die es den Versicherungsgesellschaften ermöglichen, die zu erwartenden Verluste zuverlässig zu schätzen. So wurde nach den Terroranschlägen des 11. September die Privatversicherung gegen Terroranschläge abgeschafft, weil die Versicherungsgesellschaften die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Angriffe nicht verlässlich einschätzen können (siehe Frage 3 am Ende dieses Kapitels). Schließlich muss die Versicherung relativ frei sein von unehrlichem und fahrlässigem Verhalten (moral hazard). Moral hazard ist am Werk, wenn die Versicherung riskante Verhaltensweisen fördert und dadurch die Wahrscheinlichkeit von Verlusten erhöht. In vielen Fällen spielt die Gefahr unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens keine Rolle. Nur wenige Menschen werden den Tod riskieren, weil sie eine großzügige
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Lebensversicherung abgeschlossen haben. In manchen Bereichen wird jedoch die Gefahr des unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens zum Problem. Studien belegen, dass Krankenversicherungen die Zahl der durchgeführten kosmetischen Operationen und die Inanspruchnahme einer Dauerpflege, wie sie von Pflegeheimen angeboten wird, erhöhen. Die meisten Krankenversicherungspolicen schließen diese Leistungen daher aus. Erst wenn diese idealen Bedingungen erfüllt sind, also wenn es viele, voneinander relativ unabhängige Risiken gibt, deren Eintreffen sich genau abschätzen lässt und bei denen nicht die Gefahr eines Missbrauchs durch unehrliches oder fahrlässiges Verhalten besteht, werden die privaten Versicherungsmärkte gedeihen können. Ausscheiden der besseren Risiken. Manchmal werden aufgrund von negativer Auslese keine privaten Versicherungen angeboten. Dieses Problem stellt sich dann ein, wenn vor allem Personen, die einem hohen Risiko unterliegen, eine bestimmte Versicherung abschließen. Unterstellen wir zum Beispiel, dass es in der Gesellschaft gleich viele gesunde wie kranke Menschen gibt. Die gesunden Bürger erhalten jährlich medizinische Betreuung im Wert von ca. US-$ 2.000, während für die Kranken – von denen manche unter AIDS oder Krebs leiden – durchschnittliche Kosten von US-$ 8.000 anfallen. Wenn alle versichert wären, würden sich die durchschnittlichen Kosten auf US-$ 5.000 pro Jahr belaufen. Nehmen wir nun an, dass das Blaue Kreuz für alle einen einheitlichen Versicherungspreis festlegt. Das könnte der Fall sein, weil die Regierung die Nichtdiskriminierung der Versicherten vorschreibt. Oder der Grund könnte in asymmetrischer Information liegen, wobei die Versicherten zwar über ihren gesundheitlichen Status Bescheid wissen, nicht aber die Versicherungsgesellschaft. In jedem Fall würden sich die Kranken sehr gern beim Blauen Kreuz versichern, während es die
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Gesunden aufgrund der hohen Prämien vorziehen würden, auf eine Versicherung zu verzichten. Da die Gesunden nicht versichert sind, deckt die Versicherung nur die Risiken der kostenintensiven Kranken ab. Daher muss der Versicherungspreis auf US-$ 8.000 steigen, um kostendeckend zu sein. Wir erkennen, dass einheitliche Krankenversicherungspreise zum Ausscheiden der besseren Risiken führen. Dadurch steigen die Kosten, der Deckungsgrad sinkt, und es entsteht ein unvollkommener Markt. Ähnliche Marktversagen sind besonders wichtige Faktoren bei Invaliditätsversicherung und Pflegeversicherung.
Sozialversicherung Die Sozialversicherung ist eine vom Staat bereitgestellte Pflichtversicherung, die bei drastischem Marktversagen durchaus ihre BerechtiNotendurchschnittsversicherung? Betrachten Sie folgendes fantastisches Angebot: Sie surfen im Web und stoßen auf ein neues Unternehmen namens G-Insure.com, das eine „Notendurchschnittsversicherung“ für Studierende anbietet. Dieses Unternehmen verspricht, den Studierenden gegen eine moderate Prämie den Einkommensverlust zu ersetzen, den sie aufgrund von schlechten Noten zu gewärtigen haben. Das klingt gut, schließlich sind die Einkommensrisiken für die meisten Arbeitnehmer hoch. Können Sie bei genauerem Nachdenken erkennen, warum G-Insure.com mit fast hundertprozentiger Sicherheit betrügerisch agiert? Warum würden ehrliche Versicherungsunternehmen eine solche Versicherung niemals anbieten? Der Grund liegt darin, dass die Noten zu stark vom individuellen Einsatz abhängen und dass ein solcher Markt unter unehrlichen und fahrlässigen Verhaltensweisen und negativer Auslese zu leiden hätte. Diese Probleme führen zu einem „Marktversagen“ in dem Sinn, dass sich Angebot und Nachfrage an einem Versicherungsnullpunkt schneiden.
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gung hat, wenn private Anbieter nicht für ein entsprechendes Angebot sorgen. Unter diesen Umständen kann der Staat mit einer allgemeinen und weit gefassten Versicherung eingreifen. Die Steuer- und Regulierungsinstrumente des Staates sowie die Aussicht, durch eine umfassende Deckung die Gefahr des Ausscheidens der besseren Risiken abzuwenden, machen die staatliche Sozialversicherung zu einer sozialpolitisch durchaus sinnvollen Maßnahme. Ein wichtiges Sozialversicherungsbeispiel ist die Arbeitslosenversicherung. Dies ist ein Beispiel eines privaten Marktes, der nicht funktionieren kann, weil so viele Voraussetzungen für eine Privatversicherung verletzt werden. Die Versicherungsgesellschaften weigern sich wegen der großen Gefahr eines unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens (bei hohen Arbeitslosengeldern könnte sich manch einer freiwillig in die Arbeitslosigkeit begeben), eine Arbeitslosenversicherung anzubieten. Auch das ausgeprägte Ausscheiden der besseren Risiken (von Arbeitslosigkeit besonders häufig betroffene Gruppen würden das Angebot wohl verstärkt wahrnehmen) und das gehäufte Auftreten von Arbeitslosigkeit (die in Zeiten einer Rezession drastisch zunimmt) halten die auf dem Markt tätigen Versicherungsgesellschaften davon ab, eine Arbeitslosenversicherung anzubieten. In wohlhabenden Ländern herrscht jedoch heute die Überzeugung, dass die Menschen ein Netz sozialer Sicherheit benötigen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Deshalb werden staatliche Arbeitslosigkeitsversicherungen angeboten. Der Staat kann das Problem unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens nicht beseitigen, aber durch die universelle Abdeckung aller abhängig Beschäftigten wird eine negative Auslese vermieden. Ein weiteres wichtiges Beispiel von Fällen, in denen der Staat einschreitet, ist die Krankenversicherung für Senioren. Wir haben auf die Probleme des Ausscheidens der besseren Risiken hingewiesen, die sich einstellen, wenn gesunde Menschen eine Versicherung ablehnen und diese sich auf Versicherungsnehmer beschränkt, deren Versicherungs-
schutz kostspielig ist. Die Negativauslese ist ein besonders schwerwiegendes Problem für ältere Bevölkerungsgruppen, weil fast 20 Prozent der gesamten, von einem Menschen verursachten medizinischen Kosten, auf das letzte Lebensjahr entfallen. Um eine negative Auswahl zu vermeiden, bietet die Regierung in den USA Medicare an, eine universelle Krankenversicherung für ältere Bürger, die mit Prämien sowie den Steuerbeiträgen der aktiven Arbeitnehmer finanziert wird.
B. Spieltheorie Das Wirtschaftsleben ist voller Situationen, in denen Menschen, Unternehmen oder Länder um eine Vormachtstellung kämpfen. So brechen in Oligopolen, die wir im vorhergehenden Kapitel behandelt haben, bisweilen richtiggehende Wirtschaftskriege aus. Ein solcher Konkurrenzkampf war beispielsweise im vorigen Jahrhundert zu beobachten, als Vanderbilt und Drew auf ihren jeweiligen Eisenbahnlinien die Frachtgebühren abwechselnd unterboten. In den letzten Jahren versuchte Southwest Airlines, Kunden durch Flugpreise weit unter dem marktüblichen Tarif von den größeren Konkurrenten abzuwerben. Bei ihrer Reaktion mussten die großen Fluglinien wie American oder United bedenken, wie Southwest wohl auf ihre Reaktion reagieren würde, und so weiter. Eine solche Situation ist typisch für jenen Bereich der Ökonomik, der als Spieltheorie bezeichnet wird. Die Spieltheorie beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie zwei oder mehr Spieler oder Parteien ihre Strategien wählen, die sich auf alle Teilnehmer wechselseitig auswirken. Diese Theorie mag etwas befremdlich klingen, ist aber voller relevanter Anwendungsmöglichkeiten. Im Wesentlichen wurde sie von John von Neumann (1903–1957) entwickelt, einem aus Ungarn stammenden genialen Mathematiker. Ökonomen verwenden die Spieltheorie, um die Interaktionen von
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Oligopolisten, Konflikte zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, die Außenhandelspolitik von Staaten, internationale Umweltschutzabkommen, die Bedeutung des Firmenwertes und eine ganze Reihe anderer Situationen zu analysieren. Die Spieltheorie eröffnet neue Erkenntnisse in so völlig unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Kriegsführung und Alltagsleben. Sie führt unter anderem zu dem Schluss, dass unter ganz bestimmten Umständen ein Verhaltensmuster nach einem sorgfältig überlegten Zufallsprinzip die beste Strategie sein kann. So sollte ein Wachdienst seine Runden nach dem Zufallsprinzip drehen, keinesfalls aber immer nach demselben Zeitplan. Und Sie sollten von Zeit zu Zeit beim Pokern bluffen, nicht nur, um bei einem schlechten Blatt ein Vermögen zu gewinnen, sondern auch, um sicherzustellen, dass die anderen Mitspieler nicht aussteigen, wenn Sie mit einem guten Blatt hoch pokern.
Über die Festlegung von Preisen Beginnen wir am besten mit der Dynamik von Preiswettkämpfen. Sie sind Chef eines etablierten Unternehmens, Amazing.com, dessen Motto „Wir lassen uns preislich nicht unterbieten“ lautet. Beim Öffnen Ihres Browsers entdecken Sie, dass nEwBooks, ein neu gegründeter Internet-Buchhändler, eine Annonce mit dem Wortlaut „Unsere Preise sind um 10 Prozent günstiger“ geschaltet hat. Abbildung 11-3 zeigt die Dynamik, die sich daraus entwickelt. Die senkrechten rostfarbenen Pfeile stellen die Preissenkungen bei nEwBooks dar, die waagrechten rostfarbenen Pfeile zeigen die strategische Reaktion von Amazing, nämlich jede Preiskürzung mitzumachen. Wenn wir die Struktur von Reaktion und Gegenreaktion nachzeichnen, erkennen wir, dass diese Form der Konkurrenz bei einem Preis von null im beiderseitigen Ruin endet. Warum? Weil der einzige Preis, der beiden Strategien gerecht wird, null ist: 90 Prozent von null sind immer noch null.
Teil 2
P1
Preisgestaltung bei nEwBooks
310
$20 Amazing zieht nach
$10
0
nEwBooks unterbietet
$10
$20
P2
Preisgestaltung bei Amazing
Abbildung 11-3: Was geschieht, wenn zwei Unternehmen einander unbedingt unterbieten wollen? Hier werden die einzelnen Schritte einer dynamischen Unterbietung nachvollzogen, im Zuge derer die Preise der Konkurrenten immer weiter sinken.
Schließlich beginnt es den beiden Firmen zu dämmern: Wenn eine von ihnen den Preis senkt, wird es ihr die andere nachtun. Nur wenn sie kurzsichtig sind, werden sie glauben, einander auf lange Sicht unterbieten zu können. Bald wird sich jede der beiden Firmen fragen: Was wird mein Konkurrent tun, wenn ich meinen Preis senke, wenn ich ihn anhebe oder wenn ich unverändert lasse? Sobald Sie sich darüber Gedanken machen, wie andere auf Ihre Vorgehensweise reagieren könnten, haben Sie auch schon das Reich der Spieltheorie betreten.
Die Grundlagen Wir werden die grundlegenden Konzepte der Spieltheorie untersuchen, indem wir uns ein duopolistisches Preisspiel ansehen. Ein Duopol ist ein Markt, auf dem nur zwei Unternehmen aktiv sind. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass beide Unternehmen dieselbe Kosten- und Nachfragestruktur besitzen. Darüber hinaus können sich beide Unternehmen frei entscheiden, ob sie ihren bisherigen Preis beibehalten oder einen niedrigeren
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Preis, der unter ihren Grenzkosten liegt, wählen und so nach Möglichkeit den Konkurrenten aus dem Markt drängen sollten. Das Neue an diesem duopolistischen Spiel ist die Abhängigkeit der Unternehmensgewinne sowohl von der eigenen Strategie als auch von der Strategie des Konkurrenten. Ein nützliches Hilfsmittel zur Darstellung der Interaktion zwischen zwei Unternehmen oder Menschen ist eine zweiseitige so genannte Auszahlungsmatrix (payoff table). Diese stellt eine Möglichkeit dar, die Strategien und Ergebnisse eines Spiels zwischen zwei Spielern aufzuzeigen. Abbildung 11-4 zeigt die Auszahlungsmatrix im duopolistischen Preisspiel unserer beiden Unternehmen. Danach kann ein Unternehmen zwischen den in den Spalten bzw. Zeilen aufgelisteten Möglichkeiten wählen. So hat nEwBooks die Wahl zwischen seinen zwei Spalten und Amazing zwischen seinen zwei Zeilen. In unserem Beispiel muss sich jedes Unternehmen für die Beibehaltung des bisherigen Preises oder für den Beginn eines
Preiskrieges durch die Wahl eines niedrigeren Preises entscheiden. Die Kombination der beiden Entscheidungen jedes der beiden Duopolisten führt zu vier möglichen Ergebnissen, die in den vier Feldern der Matrix dargestellt sind. Feld A links oben zeigt das Ergebnis für den Fall, dass beide Unternehmen den bisherigen Preis beibehalten; in D ist das Resultat für den Fall des Preiskrieges dargestellt; B und C zeigen schließlich, was geschieht, wenn ein Konkurrent den bisherigen Preis und der andere den Preiskrieg wählt. Die Zahlen in den einzelnen Feldern zeigen die so genannten Auszahlungen oder Payoffs der beiden Unternehmen, also den Gewinn, den jeder von ihnen in jedem der vier möglichen Fälle erzielt. Die rostfarbenen Zahlen links unten zeigen die Auszahlungen an den Spieler links (Amazing); die schwarzen Einträge rechts oben stehen für die Auszahlungen an den Spieler oben (nEwBooks). Da es sich um identische Unternehmen handelt, sind die Resultate gespiegelt.
Preisgestaltung bei Amazing
Ein Preiskrieg Preisgestaltung bei nEwBooks Preiskrieg
Bisheriger Preis* A Bisheriger Preis*
†
$ 10 C
$ 10 B
$ –100
$ –10 $ –10 D
$ –50
Preiskrieg $ –100
$ –50
* Dominante Strategie Dominantes Gleichgewicht
†
Abbildung 11-4: Auszahlungsmatrix für einen Preiskrieg Die Auszahlungsmatrix zeigt die mit verschiedenen Strategien einhergehenden Auszahlungsfunktionen. Amazing.com hat die Wahl zwischen zwei Strategien, die als seine zwei Zeilen dargestellt sind; nEwBooks kann zwischen seinen beiden Strategien wählen, die in den beiden Spalten angegeben sind. Die Einträge in den jeweiligen Feldern zeigen die Gewinne für die beiden Mitspieler. So spielt Amazing zum Beispiel in Feld C „Preiskrieg“, während nEwBooks „bisheriger Preis“ spielt. Das Ergebnis ist, dass Amazing einen Gewinn von US-$–100 (rostfarben) erzielt, während nEwBooks einen Gewinn von US-$–10 verbucht. Denkt man die besten Strategien für jeden Spieler durch, so erhält man das Dominanzgleichgewicht in Feld A.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Alternativstrategien Da wir nun die grundlegende Spielstruktur beschrieben haben, sehen wir uns als Nächstes das Verhalten der Spieler an. Das neue Element der Spieltheorie besteht darin, nicht nur die eigenen Handlungen zu analysieren, sondern auch die Interaktion zwischen den eigenen Zielen und Schachzügen und jenen des Gegners. Wer versucht, seinen Gegner zu überlisten, sollte jedoch immer daran denken, dass dieser dasselbe im Sinn hat. Der Spieltheorie liegt somit folgende Leitphilosophie zugrunde: Man wählt seine Strategie, indem man sich die Frage stellt, welches Verhalten unter der Annahme, dass der Gegner die eigene Strategie analysiert und das tut, was für ihn selbst am besten ist, am sinnvollsten ist. Und nun wenden wir diese Maxime auf unser duopolistisches Beispiel an. Zuerst sollten Sie beachten, dass unsere beiden Unternehmen den höchsten gemeinsamen Gewinn bei Ergebnis A erzielen. Beide verdienen US-$ 10, wenn sie die Preise unverändert belassen. Das andere Extrem wäre ein Preiskrieg, in dem beide die Preise senken und starke Verluste hinnehmen müssen. Dazwischen liegen zwei interessante Strategien, bei denen sich nur ein Unternehmen am Preiskrieg beteiligt. So verfolgt nEwBooks im Fall C eine konservative Preispolitik, während Amazing einen Preiskrieg anzettelt. Amazing erobert den größten Teil des Marktes, verliert aber viel Geld, weil es unter den Selbstkosten verkauft, während nEwBooks, das zu normalen Preisen verkauft, anstatt auf das Dumping einzusteigen, die bessere Wahl getroffen hat. Dominante Strategie. Von allen möglichen Strategien ist die so genannte dominante Strategie der einfachste Fall. Der Begriff bezeichnet eine Situation, in der einer der Spieler eine in jedem Fall beste Strategie besitzt, gleichgültig, wie sich der Konkurrent verhält.
Teil 2
Betrachten Sie doch einmal die Möglichkeiten von Amazing in unserem Rechenbeispiel. Sollte nEwBooks die alten Preise beibehalten, verbucht Amazon US-$ 10 Gewinn, wenn auch hier weiterhin die alten Preise gelten, und verliert US-$ 100, wenn das Unternehmen einen Preiskrieg beginnt. Andererseits verliert Amazing bei Beibehaltung der alten Preise US-$ 10, sollte nEwBooks einen Preiskrieg anzetteln, und US-$ 50, wenn sich das Unternehmen selbst auf den Preiskrieg einlässt. Sie sehen, dass dieselbe Argumentation auch auf nEwBooks anzuwenden ist. Ganz gleich, welche Strategie die andere Firma gewählt hat – die beste Strategie besteht für beide Unternehmen darin, normale Preise zu verlangen. Die Beibehaltung des bisherigen Preises ist für beide Unternehmen die dominante Strategie in unserem Preiskriegspiel. Wenden beide (oder alle) Spieler eine dominante Strategie an, so bezeichnen wir das Ergebnis als dominantes Gleichgewicht. Das Ergebnis in Abbildung 11-4 stellt ein dominantes Gleichgewicht dar, weil hier beide Unternehmen ihrer dominanten Strategie folgen. Nash-Gleichgewicht. In den meisten interessanten Situationen stellt sich jedoch kein dominantes Gleichgewicht ein, und wir müssen daher in unserer Überlegung fortfahren. Verwenden wir doch unser Duopolbeispiel, um einen solchen Fall zu illustrieren. In diesem Beispiel, das wir als Konkurrenzspiel bezeichnen, überlegt jedes Unternehmen, ob es den bisherigen Preis beibehalten oder den Preis auf ein monopolistisches Niveau anheben und Monopolgewinne anstreben sollte. Das Konkurrenzspiel ist in Abbildung 11-5 dargestellt. Die Unternehmen können bei ihrem bisherigen Preis im Gleichgewicht bleiben, das ja das Ergebnis des vorangegangenen Preiskriegspiels darstellt. Oder sie können ihre Preise anheben – in der Hoffnung auf Monopolgewinne. Unsere beiden Unternehmen haben in Feld A den höchsten gemeinsamen Profit erzielt. Hier erwirtschaften sie einen Gesamtgewinn von US-$ 300, indem sie beide der Hochpreisstrategie fol-
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Das Konkurrenzspiel Preisgestaltung bei nEwBooks Bisheriger Preis*
Preisgestaltung bei Amazing
Erhöhter Preis A Erhöhter Preis
$ 200 B
$ 100 C
$ 150
$ –20 $ –30 D*
$ 10
Bisheriger Preis* $ 150
$ 10
* Nash-Gleichgewicht
Abbildung 11-5: Sollte es ein Duopolist mit dem Monopolpreis versuchen? Im Konkurrenzspiel kann jedes Unternehmen US-$ 10 verdienen, indem es seinen normalen Preis beibehält. Heben beide die Preise auf Monopolniveau an, werden beider Gewinne maximiert. Die Versuchung für jedes Unternehmen, den anderen zu „betrügen“ und den eigenen Gewinn durch eine Preissenkung zu erhöhen, stellt sicher, dass das Nash-Gleichgewicht des bisherigen Preises aufrechterhalten wird, sofern keine Kollusion vorliegt.
gen. Situation A würde sicherlich eintreten, wenn sich die Firmen absprechen und einen Monopolpreis vereinbaren. Der andere Extremfall ist die Wettbewerbsstrategie des bisherigen Preises, mithilfe derer jedes Unternehmen US-$ 10 Gewinn erzielt. Dazwischen liegen zwei interessante mögliche Strategien, wenn ein Unternehmen weiterhin den bisherigen Preis und das andere einen hohen Preis wählt. So verfolgt etwa in Feld C nEwBooks eine Hochpreisstrategie, die jedoch von Amazing unterboten wird. Amazing übernimmt den größeren Marktanteil und erzielt höhere Gewinne als in jeder anderen Situation, während nEwBooks Geld verliert. In Feld B setzt Amazing auf hohe Preise, aber die weiterhin niedrigen Preise von nEwBooks machen diese Strategie für Amazing zu einem Verlustgeschäft. In diesem Beispiel des Konkurrenzspiels verfolgt Amazing eine dominante Strategie. Das Unternehmen profitiert durch die Entscheidung, auf jeden Fall das niedrige Preisniveau beizubehalten, gleichgültig, wie sich nEwBooks verhält. Andererseits verfügt nEwBooks jedoch über keine dominante Strategie, weil das Unternehmen auf die bisherigen Preise setzen sollte, wenn Amazon eben-
falls beim alten Preisniveau bleibt, und eine Hochpreispolitik betreiben sollte, wenn Amazon dies gleichfalls tut. Das stellt nEwBooks vor ein fürchterliches Dilemma. Soll das Unternehmen hoch pokern und hoffen, dass Amazing ihm folgt? Oder auf Nummer Sicher gehen und auf normale Preise setzen? Wenn nEwBooks die Vor- und Nachteile durchdenkt, wird es erkennen, dass es auf normale Preise setzen sollte. Der Grund ist ganz einfach – nEwBooks sollte zunächst versuchen, sich in Amazing hinein zu versetzen. Es wird dann unmittelbar erkennen, dass Amazing bei den alten Preisen bleiben muss, gleichgültig, was nEwBooks tut, weil das die dominante Strategie von Amazing ist. nEwBooks muss seine bestmögliche Strategie daher unter der Annahme finden, dass Amazing seine dominante Strategie wählt. Folgerichtig wird Amazing auf die konservative Preispolitik setzen. Das verdeutlicht die grundlegende Regel der Spieltheorie: Man gründe seine Strategien auf der Annahme, dass der Gegner in jedem Fall in seinem eigenen Interesse handeln wird. Dieses Phänomen nennen wir NashGleichgewicht, benannt nach dem Mathematiker John Nash, der für seine Entdeckung einen Nobelpreis erhielt. Als Nash-Gleichge-
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wicht bezeichnet man einen Gleichgewichtszustand, in dem kein Spieler bei gegebener Strategie der anderen ein besseres Ergebnis erzielen kann. Mit anderen Worten: Die Strategie jedes Spielers ist eine bestmögliche Reaktion auf die Strategie des anderen Spielers.1 Das Nash-Gleichgewicht wird manchmal auch als nichtkooperatives Gleichgewicht bezeichnet, da jede Partei die Strategie wählt, die für sie selbst die beste ist – ohne Absprache oder Kooperation mit den anderen Spielern und ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl oder eine andere Partei. Wir können nachweisen, dass die mit Sternchen markierten Strategien in Abbildung 11-5 ein Nash-Gleichgewicht darstellen. Das bedeutet, dass weder nEwBooks noch Amazing ihre Gewinne gegenüber dem (normalen) Gleichgewicht verbessern können, solange die Konkurrenz nicht ihre Strategie ändert. Sobald Amazing zu seiner Hochpreisstrategie wechselt, sinken die Unternehmensgewinne von US-$ 10 auf US-$ –20. Hebt jedoch nEwBooks seinen Preis gegenüber dem normalen Nash-Gleichgewichtspreis an, sinken seine Gewinne von US-$ 10 auf US-$ –30. (Weisen Sie nach, dass das dominante Gleichgewicht in Abbildung 11-4 ebenfalls ein Nash-Gleichgewicht darstellt.)
Einige wichtige Beispiele der Spieltheorie Kollusion oder nicht – das ist die Frage Ist das nichtkooperative Nash-Gleichgewicht ein effizientes Gleichgewicht, das im besten 1 Genauer ausgedrückt: Nehmen wir an, Unternehmer A wählt Strategie SA, während Unternehmen B sich für Strategie SB entscheidet. Das Strategiepaar (SA*, SB*) stellt ein Nash-Gleichgewicht dar, sofern keiner der Spieler eine bessere Strategie findet und der andere Spieler bei seiner Strategie bleibt. Solange Spieler A also Strategie SA* verfolgt, kann B nichts Besseres tun, als an Strategie SB* festzuhalten. Dasselbe gilt auch umgekehrt. In dieser Diskussion geht es um Spiele mit zwei Teilnehmern, doch die Analyse (und insbesondere auch das wichtige Nash-Gleichgewicht) lässt sich auch auf Spiele mit vielen Teilnehmern („n–Personen-Spiele“) übertragen.
Teil 2
Interesse beider Beteiligter liegt? Eine der wichtigsten Lektionen der Spieltheorie lautet, dass das nichtkooperative Gleichgewicht für die Beteiligten auch ineffizient sein kann. Abbildung 11-5 unterstreicht diesen Punkt. Das Nash-Gleichgewicht in Feld D (Sternchen) beschert den Duopolisten insgesamt weniger Gewinn als jede der anderen Lösungen. Das beste gemeinsame Ergebnis wäre A, wo beide Duopolisten auf den hohen Preis setzen und einen Gesamtgewinn von US-$ 300 erzielen würden. Das schlechteste Ergebnis wäre das nichtkooperative Nash-Gleichgewicht mit einem Gesamtgewinn von US-$ 20. Wie kann das Nash-Gleichgewicht überleben, wenn beide Oligopolisten damit weniger verdienen als bei jedem anderen Ergebnis? Erinnern wir uns an Adam Smiths Maxime: „Vertreter desselben Gewerbes treffen einander selten ... doch das Gespräch endet ... in irgendwelchen Mauscheleien mit dem Ziel, die Preise zu erhöhen.“ Warum sprechen sich die Firmen nicht einfach ab und erhöhen die Preise auf Monopolniveau? Denken wir an das kooperative Gleichgewicht, das eintritt, wenn die Spieler im Gleichklang agieren und Strategien festlegen, die ihre gemeinsamen Vorteile maximieren. Sie können beschließen, ein Kartell zu bilden, einen überhöhten Preis festzusetzen und den Gewinn untereinander aufzuteilen. Selbstverständlich sind die Duopolisten somit auf Kosten der Konsumenten begünstigt. Aber es ist nicht immer so einfach, die Lösung des kooperativen Monopols zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Zunächst sind Kartelle und Absprachen, die den Wettbewerb beschränken, in den meisten Marktwirtschaften illegal. Doch die größte Hürde ist das Eigeninteresse. Sagen wir, dass anhand einer Preisabsprache vereinbart wurde, den Preis mit (hoch, hoch) festzulegen (Feld A von Abbildung 11-5). Dann entschließt sich Amazing im Geheimen, einen Teil der Ware zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen, sich also effektiv auf Feld C zu bewegen. Amazing könnte damit eine Zeitlang davon-
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
kommen, ohne dass jemand etwas merkt. In dieser Zeit würde Amazing höhere Gewinne erzielen, nämlich US-$ 150 statt US-$ 100. Aber irgendwann würde nEwBooks bemerken, dass die Unternehmensgewinne schwinden. Das Unternehmen würde dann wohl seine Strategie überdenken, zu dem Schluss gelangen, dass der Zusammenhalt im Kartell nicht mehr besteht, und seine Preise wieder auf das alte Niveau senken. Ist das kooperative Gleichgewicht (hoch, hoch) nicht durchsetzbar, bewegen sich die Unternehmen rasch zum nichtkooperativen oder Nash-Gleichgewicht gemäß Resultat D (normal, normal). Wir können diese Überlegungen auch im Hinblick auf einen vollkommenen Markt anstellen. Ein vollkommenes Wettbewerbsgleichgewicht ist ein Nash- oder nichtkooperatives Gleichgewicht, was bedeutet, dass jedes Unternehmen und jeder Konsument bei seinen Entscheidungen die Preise aller anderen Mitspieler als gegeben annimmt. In diesem Gleichgewicht maximiert jedes Unternehmen seine Gewinne und jeder Konsument seinen Nutzen, was zu einem Nullgewinn führt, bei dem die Preise den Grenzkosten entsprechen. Erinnern wir uns an Adam Smiths Lehre von der unsichtbaren Hand: „Durch die Verfolgung seiner (individuellen) Eigeninteressen fördert der Mensch die Interessen der Gesellschaft oftmals besser, als hätte er dies beabsichtigt.“ Das Paradoxon der unsichtbaren Hand besteht gerade darin, dass das wirtschaftliche Ergebnis sozial effizient ist, obwohl sich der Einzelne nicht kooperativ verhält. Außerdem ist das Wettbewerbsgleichgewicht ein Nash-Gleichgewicht in dem Sinn, dass sich ein Einzelner durch Veränderung seiner Strategien niemals besser stellen kann, solange alle anderen an ihrer Strategie festhalten. In einer vollkommenen Wettbewerbswelt führt nichtkooperatives Verhalten zu einem sozial wünschenswerten Zustand wirtschaftlicher Effizienz. Dagegen wäre die wirtschaftliche Effizienz beeinträchtigt, sollten einige Parteien (wie
unsere zwei Duopolisten) kooperieren und eine Preiserhöhung auf Monopolniveau wie in Feld A beschließen. Das erklärt auch, warum Staaten kartellrechtliche Bestimmungen erlassen wollen, die harte Strafen für Preisabsprachen oder Marktaufteilungen vorsehen.
Das Gefangenendilemma In unserem Beispiel einer Preisunterbietung in Abbildung 11-5 haben wir gesehen, dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen zu einem Niedrigpreisergebnis führt. Darüber hinaus haben wir gesehen, wie eine wundervolle Fügung des Wirtschaftslebens, Adam Smiths unsichtbare Hand, unter vollkommenen Marktbedingungen eine effiziente Ressourcenallokation bewirkt. Doch die segensreiche Wirkung der unsichtbaren Hand ist nicht immer zu spüren. Das zeigt sich im Gefangenendilemma, einem der berühmtesten Spiele. Abbildung 11-6 stimmt mit Abbildung 11-5 überein; hier bezieht sie sich auf die Gefängnisinsassen Molly und Knuckles, ein Ganovenpärchen. Der Staatsanwalt verhört beide einzeln und teilt ihnen Folgendes mit: „Ich habe gegen beide von euch genug in der Hand, um euch für ein Jahr hinter Gittern verschwinden zu lassen. Aber ich biete euch ein Geschäft an: Wenn du allein gestehst, kommst du mit einem Strafmaß von 3 Monaten davon, während dein Partner 10 Jahre lang sitzen wird. Wenn ihr beide gesteht, bekommt ihr beide 5 Jahre.“ Was soll Molly tun? Soll sie gestehen und auf eine kurze Strafe hoffen? Drei Monate sind besser als das Jahr, das sie bekäme, würde sie weiter schweigen. Doch halt – es gibt noch einen besseren Grund, ein Geständnis abzulegen. Nehmen wir an, Molly legt kein Geständnis ab, während Knuckles genau dies ohne ihr Wissen tut. Dann bekommt Molly 10 Jahre! In dieser Situation ist es für Molly eindeutig besser zu gestehen und 5 Jahre statt 10 Jahre einzusitzen.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Gefangenendilemma Molly Gestehen* Knuckles
A*
Nicht gestehen 5 Jahre B
10 Jahre
Gestehen* 5 Jahre C Nicht gestehen
3 Monate 3 Monate D
1 Jahr
1 Jahr
10 Jahre *Nash Gleichgewicht
Abbildung 11-6: Gestehen oder nicht gestehen – das ist das Gefangenendilemma Gleichgültig, was der andere Gefangene tut: Unter diesen Umständen ist es für jeden einzelnen der beiden Gefangenen auf jeden Fall besser zu gestehen und sich unkooperativ (oder egoistisch) zu verhalten. Doch nur durch Kooperation oder Altruismus können beide gemeinsam auf Feld D gelangen und Langzeit-Gefängnisstrafen vermeiden.
Knuckles steckt im selben Dilemma: Wenn er nur wüsste, was Molly denkt, oder was Molly denkt, dass Knuckles denkt, dass Molly denkt, oder … Die entscheidende Einsicht lautet hier, dass beide Gefangenen, wenn sie durch Ablegen eines Geständnisses egoistisch handeln, lange Gefängnisstrafen bekommen. Nur wenn sie zusammenspielen oder altruistisch denken, kommen sie mit kurzen Strafen davon.
Das Umweltverschmutzungsspiel Ein weiteres wichtiges Beispiel, in seiner Struktur dem Gefangenendilemma ähnlich, ist das Umweltverschmutzungsspiel, das in Abbildung 11-7 dargestellt ist. Stellen Sie sich eine Wirtschaft mit externen Effekten wie zum Beispiel Umweltverschmutzung vor. In einer Welt der unregulierten Firmen würde es jedes gewinnmaximierende Unternehmen vorziehen, die Umwelt zu verpesten, anstatt teure Umweltschutzinvestitionen zu tätigen. Außerdem müssten Unternehmen, die in einer solchen Welt altruistisch agieren und ihren Abfall entsorgen, mit höheren Produktionskosten und daher auch mit höheren Preisen und in der Folge mit weniger Kunden
rechnen. Wären diese Kosten sehr hoch, würde ein solches Unternehmen sogar in Konkurs gehen. Der Druck des darwinistisch harten Wettbewerbs zwingt alle Unternehmen dazu, im Nash-Gleichgewicht von Feld D in Abbildung 11-7 zu verharren; hier kann kein Unternehmen seine Gewinne durch die Vermeidung von Umweltverschmutzung steigern. Das Umweltverschmutzungsspiel führt uns beispielhaft eine Situation vor Augen, in der der Mechanismus der unsichtbaren Hand zur Herstellung eines effizienten vollkommenen Wettbewerbes zusammenbricht. Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der sich das Nash-Gleichgewicht als ineffizient erweist. Wenn das Nash-Gleichgewicht gefährlich ineffizient wird, kann der Staat eingreifen. Durch effiziente Regulierungen, Emissionsabgaben oder womöglich durch Einführung effizienter Eigentumsrechte kann er die Unternehmen dazu anhalten, zum Ergebnis A (also zum Zustand geringe Verschmutzung/geringe Verschmutzung) zu wechseln. In diesem Gleichgewicht erzielen die Unternehmer dieselben Gewinne wie in der Situation mit hoher Umweltverschmutzung, aber zugleich wird unsere Umwelt wieder ein Stück gesünder.
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Das Verschmutzungsspiel U.S. Steel Geringe Verschmutzung Starke Verschmutzung* Oxy Steel
A Geringe Verschmutzung
$ 100 C
Starke Verschmutzung*
$ 100 B
$ 120
$ –30 $ –30 D*
$ 120
$ 100
$ 100
* Nash-Gleichgewicht
Abbildung 11-7: Nichtkooperatives Verhalten führt zu mehr Umweltverschmutzung Im tödlichen Verschmutzungsspiel setzt jedes gewinnmaximierende Unternehmen Schadstoffe in Luft und Wasser frei. Führt ein einzelnes Unternehmen Umweltschutzmaßnahmen ein, erhöht es seine Preise, um die Kosten abzudecken. Dadurch verliert es Marktanteile und leidet unter rückläufigen Gewinnen. Das nichtkooperative Nash-Gleichgewicht in D führt zu der verschmutzungsintensiven Lösung rechts unten. Der Staat kann dieses Problem überwinden, indem er das kooperative Gleichgewicht in A erzwingt, wo die Gewinne beider Unternehmen gleich hoch sind und die Umweltverschmutzung eingedämmt wurde.
Tödliche Rüstungswettläufe Die Spieltheorie findet breite Anwendung in der Politikwissenschaft, in militärischen Strategien und in der Evolutionsbiologie. Ein besonders gefährliches Spiel mit einem ineffizienten, nichtkooperativen Gleichgewicht, das sich in der Geschichte der Menschheit oft wiederholt hat, ist das des Rüstungswettlaufs. Nehmen wir an, Sie sind Supermacht A, die der feindlichen Supermacht B gegenübersteht oder mit dem Aufstieg von Supermacht C rechnen muss. Sie möchten sichergehen, dass Sie über die nötigen Nuklearwaffen verfügen, um Aggressoren abzuschrecken. Da Sie sich bezüglich der Absichten Ihres Gegners nicht sicher sind, gehen Sie auf Nummer Sicher, indem Sie dafür sorgen, dass Ihr Waffenarsenal immer ein kleines bisschen größer ist als das ihres Gegners. Ihre Generäle sagen Ihnen, dass das nichts anderes ist als eine umsichtige Militärpolitik. Nun versetzen Sie sich in R hinein, der Sie argwöhnisch beim Aufbau Ihrer Militär-
macht beobachtet. R kennt Ihre Absichten nicht. Seine Generäle raten ihm ebenfalls zu einer vorausblickenden Überlegenheitsstrategie. Deshalb möchte A 10 Prozent mehr Bomben als R besitzen, und R möchte 10 Prozent mehr Bomben als A sein Eigen nennen. Das ist der Auslöser für einen gefährlichen Rüstungswettlauf. Nun glauben Sie nur nicht, dieses Beispiel sei aus der Luft gegriffen. Der nichtkooperative Rüstungswettlauf zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Zeitraum 1945–1991 führte zu massiven Militärausgaben und einem Arsenal von fast 100.000 nuklearen Sprengköpfen. Eine derartige Situation erfordert kooperative Lösungen, bei denen die Parteien gemeinsam versuchen, die Waffenlager abzubauen. Rüstungskontrollverträge verschieben das Ergebnis von einem ineffizienten, nichtkooperativen Gleichgewicht hin zu einem weniger ineffizienten kooperativen Ergebnis. Auf diese Weise lassen sich Sicherheit und Wohlergehen aller Beteiligten verbessern.
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Eine Gesellschaft des „Alles oder nichts?“ Ist es möglich, dass das Wirtschaftsleben zunehmend zu einem gigantischen Turnier verkommt – einer zivilen Form des Rüstungswettlaufs? Fragen Sie sich einmal, was folgende Dinge miteinander gemein haben: Bestseller, Patente, Gewinner olympischer Goldmedaillen, Supermodels, siegreiche Klagen, Nobelpreisgewinner und Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sie sind alle Ergebnisse von Alles-oder-nichts-Spielen – Situationen, in denen die Gewinne in erster Linie von der relativen anstatt von der absoluten Leistung abhängen. Bei einem 400-MeterLauf gibt es nur einen Goldmedaillengewinner; nur eine Partei kann ein Gerichtsverfahren gewinnen; und nur ein Buch kann an erster Stelle einer Bestsellerliste stehen. Vergleichen Sie solche Situationen mit Fabrikarbeitern, deren Einkommen von einer absoluten Grenzproduktivität und nicht von einer relativen bestimmt wird. Ein gemeinsames Merkmal solcher Wettbewerbe besteht darin, dass die Belohnungen ganz oben stark konzentriert sind. Das Supermodel Claudia Schiffer verdiente 1998 angeblich US-$ 10,5 Millionen, während sich die meisten anderen Models mit sehr wenig oder mit gar nichts zufrieden geben müssen. Bestsellerautoren wie Stephen King oder Danielle Steel erhalten für die Rechte an ihren Büchern bis zu US-$ 60 Millionen, während der durchschnittliche Autor nicht viel mehr als den Mindestlohn verdient. Der Komiker Jerry Seinfeld verdiente 1998 angeblich US-$ 300 Millionen. Im Gegensatz dazu erhielten in einem der letzten Jahre nur ein Zehntel der Mitglieder der Schauspielergewerkschaft irgendein Honorar für ihren Auftritt in Filmen, während aufstrebende Stars das Loch in der Brieftasche mit Aktivitäten wie Taxi fahren und Kellnern zu stopfen versuchten. Abbildung 11-8 illustriert das Alles-odernichts-Spiel. Der glückliche oder talentierte Gewinner hat einen enormen Anreiz, sich an dem Alles-oder-nichts-Turnier zu beteili-
Teil 2
gen, denn im Siegesfall erhält er ein Einkommen von US-$ 300.000. Der Zweite steht vor der Wahl, in einer Branche wie der verarbeitenden Industrie zu arbeiten, in der die absolute Leistung zählt, oder sich an einem Turnier in den Bereichen Unterhaltung, Sport oder Recht zu beteiligen. Wenn der Zweite glaubt, eine faire Siegeschance zu haben, wird er an dem Rennen teilnehmen, weil er seine zu erwartenden Einkünfte in einer Alles-oder-nichts-Branche auf US-$ 100.000 und in konventionellen Berufen auf US-$ 50.000 schätzt. Das Ergebnis ist das „überbevölkerte“ Gleichgewicht unten rechts, wo beide an dem Turnier teilnehmen. Das Volkseinkommen ist hier höher als beim „langweiligen“ Gleichgewicht, wo es keine spannenden Wettbewerbe gibt, aber niedriger als beim effizienten Ergebnis, wo der Zweite nicht an dem Wettbewerb teilnimmt. Ein ineffizientes Alles-oder-nichts-Gleichgewicht erzeugt die größte Einkommensungleichheit aller Ergebnisse. Eine faszinierende Studie von Robert Frank und Philip Cook erforscht die Konsequenzen eines Phänomens, das sie die „Alles-oder-nichts-Gesellschaft“ nennen. Folgendes Zitat zeigt, wie die Spieltheorie diesen wichtigen Teil des Wirtschaftslebens erhellt: Während die Anhänger der freien Marktwirtschaft argumentieren, dass Marktanreize zu sozial effizienten Ergebnissen führen, behaupten wir, dass Alles-oder-nichtsMärkte zu viele Bewerber anziehen, was zu ineffizienten Verbrauchs- und Investitionsmustern und oft zu einer Herabwertung unserer Kultur führt. ... Die Explosion der Spitzengehälter rührt zu einem großen Teil von der wachsenden Bedeutung der „Alles-oder-nichts-Märkte“ her.2
Frank und Cook sprechen sich für die „Eindämmung des Wettrüstens“ (etwa durch eine Reform des Rechtssystems) und für progressive Verbrauchssteuern aus, um der Verschwendung durch einen übermäßigen Wettbewerb um hohe Preise in den Bereichen Unterhaltung, Sport und Wirtschaft Einhalt zu gebieten.
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Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Das Alles-oder-nichts-Spiel Gewinner
Zweitplatzierter
Tätigkeit in normaler Branche Tätigkeit in normaler Branche
A* $ 50 C
Tätigkeit in „Alles-odernichts„-Branche
$ 200
Tätigkeit in „Alles-oder-nichts“-Branche
$ 50 B†
NI = $ 100 $ 50
$ 300
NI = $ 350
$ 50 D‡
$ 300
NI = $ 250 $ 0
NI = $ 300
Anmerkung: Verdienst inUS-$ 1.000 * Langweilig † Effizient ‡ Überfüllt
Abbildung 11-8: Wenn zu viele Menschen konkurrieren, kann das Volkseinkommen sinken Im Alles-oder-nichts-Spiel, etwa im Profisport oder bei Gerichtsprozessen mit hohem Streitwert, erhält der Gewinner hohe Auszahlungen. Der Zweitplatzierte wird durch die Möglichkeit eines hohen Gewinns in den Alles-oder-nichts-Markt gelockt. Wie in dem Fall, dass zu viele Fischerboote ein und demselben Fischschwarm hinterher jagen, führt das Getümmel auf Alles-oder-nichts-Märkten dazu, dass die Teilnehmer dort nur niedrige Einkünfte erzielen. Die Gesamteinkünfte würden steigen, wenn der Zweitplatzierte in einer normalen Branche bliebe, in der nach absoluter Leistung bezahlt wird.
Spiele, Spiele, wohin das Auge reicht … Die Erkenntnisse der Spieltheorie finden wir heute überall, quer durch die Wirtschaftswissenschaften, die Sozialwissenschaften, das Geschäftsleben und den Alltag. So kann beispielsweise in der Volkswirtschaftslehre die Spieltheorie Handelskriege ebenso gut erklären wie Preiskriege (einige erläuternde Beispiele finden Sie in der Rubrik „Übungen“ am Ende dieses Kapitels). 2 Die Spieltheorie bietet auch Erklärungen dafür, warum der Wettbewerb aus dem Ausland zu einem schärferen Preiskampf führt. Was geschieht denn eigentlich, wenn japanische Unternehmen auf einen US-Markt drängen, auf dem eine stillschweigende Absprache der Unternehmen über die Preisstrategie zu hohen oligopolistischen Preisen geführt hat? Nun, die ausländischen Unternehmen können sich einfach weigern mitzuspielen. Sie haben diese Spielregeln nicht 2 Siehe Frank und Cook (Näheres im Abschnitt „Leseempfehlungen“), S. 6 und 19.
mitgestaltet, also können sie die Preise nach Belieben senken und einen größeren Marktanteil erlangen. Die gesamte Kollusion bricht zusammen. Ein entscheidendes Merkmal vieler Spiele ist der Versuch der Spieler, Glaubwürdigkeit aufzubauen. Glaubwürdig ist man, wenn die anderen von einem erwarten, dass man seine Versprechen hält und seine Drohungen wahr macht. Doch Glaubwürdigkeit lässt sich nicht mit einfachen Versprechungen gewinnen. Sie muss im Einklang mit den Spielanreizen stehen. Wie verschafft man sich Glaubwürdigkeit? Hier einige Beispiele: Die Zentralbanken erwerben sich ihren Ruf, hart gegen die Inflation vorzugehen, indem sie politisch unpopuläre Entscheidungen treffen. Noch stärker steigt die Glaubwürdigkeit, wenn die Regeln der Zentralbank in ein Gesetz oder in eine Verfassung gegossen werden. Unternehmen geben glaubwürdige Versprechen ab, indem sie Verträge schließen, die Strafen vorsehen, falls sie ihre Versprechen nicht einlösen sollten. Eine gefährlichere Strategie ist es, wenn eine Armee alle Brücken hinter sich in die Luft
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Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
sprengt. Die Tatsache, dass sie sich nicht mehr zurückziehen kann, verleiht der Drohung, bis zum Tod zu kämpfen, Glaubwürdigkeit. Diese Beispiele vermitteln uns einen kleinen Eindruck von der enormen Fülle der Anwendungsmöglichkeiten der Spieltheorie, die in den letzten 50 Jahren zutage getreten
Teil 2
sind. Die Spieltheorie hat sich für Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler als äußerst nützlich für die Analyse von Situationen erwiesen, in denen wenige gut informierter Mitspieler agieren, die sich wechselseitig auf Märkten, in der Politik oder in militärischer Strategie zu überlisten versuchen.
Zusammenfassung A. Die ökonomische Theorie des Risikos und der Unsicherheit 1.
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3.
4.
Das Wirtschaftsleben ist voller Unwägbarkeiten. Konsumenten sehen sich sowohl unsicheren Einkommens- und Beschäftigungsverhältnissen als auch der Gefahr katastrophaler Verluste gegenüber; Unternehmer müssen mit unsicheren Kosten und unsicheren Preis- und Produktionsentwicklungen leben, die zu Unsicherheit in Bezug auf ihre Erträge führen. Auf gut funktionierenden Märkten helfen die Mechanismen der Arbitrage, der Spekulation und des Versicherungswesens, unvermeidlichen Risiken zu begegnen. Spekulanten sind Menschen, die Waren kaufen und verkaufen, um durch die Ausnutzung der unterschiedlichen Preise auf verschiedenen Märkten Gewinne zu erzielen. Sie bewegen Güter räumlich von Niedrig- zu Hochpreismärkten sowie zeitlich von Perioden des Überschusses zu solchen des Mangels. Die gewinnorientierten Handlungen der Spekulanten und Arbitrageure schaffen über Raum und Zeit hinweg eine gewisse Gleichgewichtsstruktur der Preise. Diese Art des Marktgleichgewichtes ist durch einen Gewinn von null gekennzeichnet, weil die Grenzkosten dem Grenznutzen in den unterschiedlichen Regionen, Zeiten und unsicheren Umweltzuständen entsprechen. In dem Ausmaß, in dem Spekulanten Preis- und Konsumschwankungen ausgleichen, sind sie Bestandteil des Mechanismus der unsichtbaren Hand, der die sozial wünschenswerte Funktion einer Umverteilung von Gütern, weg von Zeiten des Überflusses (Niedrigpreisperioden) und hin zu Zeiten des Hungers (Hochpreisperioden), übernimmt. Spekulationsmärkte erlauben es dem Einzelnen, sich gegen unerwünschte Risiken abzusichern. Das ökonomische Prinzip der Risikoaversion, das sich aus dem sinkenden Grenznutzen ableiten lässt, impliziert, dass Individuen
5.
6.
keine riskanten Situationen mit einem Erwartungswert von null akzeptieren. Die Risikoaversion bewegt die Haushalte und Unternehmen zum Abschluss von Versicherungen, um verheerende Nutzeneinbußen durch Feuer, Tod oder andere Schadensfälle zu verringern. Versicherungen und Risikostreuungen stabilisieren die Konsummuster unter verschiedenen Umständen. Die Versicherungen übernehmen hohe individuelle Risiken und streuen diese so breit, dass sie für eine große Anzahl von Menschen akzeptabel werden. Versicherungen sind nützlich, weil sie in der Lage sind, das Konsumniveau über diverse unsichere natürliche Zustände hinweg auszugleichen, und so das erwartete Nutzenniveau erhöhen. Damit der Versicherungsmarkt optimal funktionieren kann, müssen ganz spezielle Bedingungen erfüllt sein: Es muss eine große Anzahl voneinander möglichst unabhängiger Risikoumstände vorliegen, wobei die Wahrscheinlichkeit eines unehrlichen oder fahrlässigen Verhaltens der Versicherten sowie auch die Gefahr des Ausscheidens der besseren Risiken möglichst gering sein müssen. Wenn es tatsächlich zu einem Marktversagen kommt, kann dies zu Preisverzerrungen oder zum Fehlen eines entsprechenden Marktes führen. Versagt der private Versicherungsmarkt, so sollte der Staat einspringen und beispielsweise eine Sozialversicherung anbieten. Heute treffen wir sogar in hoch entwickelten Marktwirtschaften mit starker Laissez-faire-Komponente staatliche Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit oder Gesundheitsrisiken im Alter an.
B. Spieltheorie 7.
Im Wirtschaftsleben treten immer wieder Situationen ein, in denen Unternehmen, Haushalte, Regierungen oder andere „Spieler“ strategisch interagieren. Die Spieltheorie analysiert die Art und Weise, in der zwei oder mehr
321
Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
Parteien, die in einem gemeinsamen Bereich, etwa auf dem Markt, agieren, ihre Handlungen und Strategien wählen, die dann Auswirkungen auf alle Beteiligten haben. 8. Zur Grundstruktur eines Spieles gehören die Spieler, denen verschiedene Vorgehensweisen und Strategien offen stehen, und die so genannten Auszahlungsfunktionen, also die erzielbaren Gewinne oder andere Belohnungen, die die Spieler beim jeweiligen Spielausgang erhalten. Das neue Schlüsselkonzept ist die Auszahlungsmatrix eines Spiels, die die Strategien und die Gewinne oder Vorteile für die einzelnen Spieler darstellt. 9. Die Spieler haben bei der Wahl ihrer Strategie sowohl die eigenen Ziele als auch jene des Gegners zu berücksichtigen und dürfen nicht vergessen, dass die Gegner genauso handeln werden. Sollten Sie an einem wirtschaftlichen oder anderen Spiel teilnehmen, gehen Sie immer davon aus, dass ihr Konkurrent alle seine Möglichkeiten ausschöpfen wird. Wählen Sie Ihre Strategie so, dass Sie damit ihren eigenen Vorteil maximieren. Bedenken Sie jedoch, dass Ihr Gegner natürlich ebenso alle Ihre möglichen Spielzüge analysieren wird. 10. Bisweilen gibt es eine dominante Strategie, die unabhängig von den Handlungen der Mitspielerdie bestmögliche Option ist. Häufiger jedoch
treffen wir das Nash-Gleichgewicht (nichtkooperatives Gleichgewicht) an, ein äußerst nützliches Gleichgewichtskonzept. Ein Nash-Gleichgewicht bezeichnet einen Gleichgewichtszustand, in dem kein Spieler bei gegebener Strategie der Mitspieler ein besseres Ergebnis erzielen kann. Manchmal gelingt es den Parteien auch, sich abzusprechen oder zu kooperieren, was zu einem kooperativen Gleichgewicht führt. 11. Ein Nash-Gleichgewicht führt in Adam Smiths Spiel der unsichtbaren Hand zu einem effizienten Ergebnis. Hier produzieren Unternehmen ohne Kollusion zu Preisen, die den Grenzkosten entsprechen, und das nichtkooperative Gleichgewicht ist effizient. In solchen Situationen führt die Kooperation zu einer ineffizienten Produktion. 12. Nichtkooperatives Verhalten kann allerdings auch zu sozial unerwünschten Ergebnissen führen, etwa wenn Konkurrenten die Umwelt verschmutzen oder einen gefährlichen Rüstungswettlauf beginnen. Spiele, bei denen es um alles oder nichts geht, wie Gerichtsverfahren oder sportliche Wettbewerbe, können dazu führen, dass die Zahl der Teilnehmer zu stark ansteigt, wodurch sich das Ungleichgewicht von Ruhm und Ergebnissen verstärkt.
Begriffe zur Wiederholung Risiko und Unsicherheit
Spieltheorie
Arbitrage, die zu einer regionalen Preisangleichung führt Ideales saisonbedingtes Preismuster Spekulation, Arbitrage, Hedging Risikoaversion und abnehmender Grenznutzen Konsumstabilität versus -instabilität Versicherung und Risikostreuung Marktversagen aufgrund unvollkommener Information Unehrliches oder fahrlässiges Verhalten (moral hazard), Ausscheiden der besseren Risiken (adverse Selection) Sozialversicherung
Spieler, Strategen, Gewinne Auszahlungsmatrix Dominante Strategie und Gleichgewicht Nash- oder nichtkooperatives Gleichgewicht Kooperatives oder Kollusionsgleichgewicht Wichtige Spiele: Kollusion Gefangenendilemma Umweltverschmutzung Alles oder nichts Glaubwürdigkeit
322
Mikroökonomie: Angebot, Nachfrage und Produktmärkte
Teil 2
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Spieltheorie wurde 1944 von John von Neumann und Oscar Morgenstern entwickelt, und das Konzept wurde in Theory of Games and Economic Behavior (Princeton University Press, Princeton, N.J., 1980; deutsch: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, Physica, Heidelberg, 1984) veröffentlicht. Eine unterhaltsame Darstellung der Spieltheorie von zwei führenden Mikroökonomen ist: Avinash K. Dixit und Barry J. Nalebuff, Thinking Strategically: The Competitive Edge in Business, Politics, and Everyday (Norton, New York, 1993; deutsch: Spieltheorie für Einsteiger. Strategisches Know-how für Gewinner, Schäffer-Poeschel, Stuttgart, 1994). Eine nicht fachbezogene Biographie von John Nash aus der Feder der Journalistin Silvia Nasar, A Beautiful Mind: A Biography of John Forbes Nash Jr. (Touchstone Books, 1999; deutsch: Genie und Wahnsinn. Das Leben des genialen Mathematikers John Nash, Piper, München, 2002), ist eine lebhafte Schilderung der Geschichte der Spieltheorie und der Persönlichkeit eines ihrer brillantesten Theoretiker. Eine Analyse des Glücksspiels findet sich bei William R. Eadington, „The Economics of Casino Gambling“, Journal of Economic Perspectives, Sommer 1999. Eine interessante Analyse von „Alles-oder-nichts“-Spielen bieten Robert H. Frank und Philip J. Cook, The Winner-Take-All Society (Free Press, New York, 1995).
Websites Spieltheoretiker haben verschiedene Websites eingerichtet. Besonders interessant sind diejenigen von David Levine, UCLA, unter levine.sscnet.ucla.edu zu erreichen, sowie von Al Roth, Harvard, www.economics.harvard.edu/~aroth/alroth.html.
Übungen 1.
2.
Nehmen wir an, eine Freundin bietet Ihnen an, eine Münze zu werfen. Sie verpflichten sich, Ihrer Freundin US-$ 100 zu zahlen, wenn die Münze auf Kopf fällt, während Ihre Freundin 100 US-$ an Sie zahlen muss, wenn sie auf Zahl fällt. Erklären Sie, warum der zu erwartende Geldwert US-$ 0 beträgt. Erklären Sie weiter, warum der zu erwartende Nutzwert negativ ist, wenn Sie risikoavers sind. Betrachten wir das oben dargestellte Beispiel einer „Notendurchschnittsversicherung“. Nehmen wir an, dass Studierende, die eine solche Versicherung abgeschlossen haben, für jeden Punkt, um den ihr Notendurchschnitt hinter dem Bestwert zurückbleibt, US-$ 5.000 erhalten (dieser Betrag könnte eine Schätzung der Auswirkungen von Noten auf das zukünftige Einkommen darstellen). Erklären Sie, warum eine Notendurchschnittsversicherung unehrliche oder fahrlässige Verhaltensweisen und eine negative Auslese nach sich ziehen würde. Warum würden unehrliche oder fahrlässige Verhaltensweisen die Versicherungsgesellschaften davon abhalten, Notendurchschnittsversicherungen zu verkaufen? Überrascht es
3.
4.
Sie, dass Sie keine Notendurchschnittsversicherung abschließen können? Nach den Terroristenangriffen vom 11. September 2001 weigerten sich die meisten Versicherungsgesellschaften, Policen gegen Terroranschläge zu verkaufen. Präsident Bush bemerkte hierzu: „Immobilientransaktionen im Wert von über US-$ 15 Milliarden fielen ins Wasser oder wurden auf die lange Bank geschoben, weil Eigentümer und Investoren die vorgeschriebene Versicherungsdeckung nicht beibringen konnten.“ In der Folge schritt die US-Bundesregierung ein und übernahm Forderungen in einer Höhe von bis zu US-$ 90 Milliarden. Erklären Sie anhand des Versicherungsprinzips, warum Versicherungsgesellschaften die Versicherung von Vermögen gegen terroristische Angriffe ablehnen könnten. Erklären Sie, ob das staatliche Programm Ihrer Meinung nach eine geeignete Form der Sozialversicherung darstellt oder nicht. Im frühen 19. Jahrhundert wurde nur ein kleiner Teil der landwirtschaftlichen Produktion über Märkte verkauft. Zudem waren damals die Transportkosten sehr hoch. Welche Varia-
323
Kapitel 11 Unsicherheit und Spieltheorie
5.
6.
7.
des Freihandels ohne Zölle und Einfuhrquoten oder eine protektionistische Politik mit hohen Zöllen für importierte Güter und Dienstleistungen wählen. Die Auszahlungen entsprechen den Realeinnahmen jedes Landes. a. Listen Sie die vier Ergebnisse auf und berechnen Sie das Volkseinkommen jeder Region und das Welteinkommen. b. Zeigen Sie, dass das nichtkooperative Verhalten der Länder (ohne Absprachen und nur an den nationalen Eigeninteressen orientiert) beim Nash-Gleichgewicht in Feld D zu einem Handelskrieg führt. Welche Auswirkungen hat der Handelskrieg auf das Welteinkommen? c. Wie wirkt sich ein Handelsabkommen, das alle Handelshemmnisse beseitigt und den Freihandel garantiert, auf die Einkommen aus? d. Gibt es einen Anreiz für die einzelnen Länder, das Handelsabkommen zu umgehen? Was geschieht, wenn eine solche Umgehung Vergeltungsmaßnahmen provoziert und zu hohen Zöllen führt?
tionshöhe der Preise zwischen den Regionen würden Sie im Vergleich zu heute erwarten? Nehmen Sie an, ein Unternehmen tätigt eine riskante Investition (z.B. US-$ 2 Milliarden für die Entwicklung eines Konkurrenzsystems für Windows). Können Sie erklären, warum die breit gefächerte Eigentumsstruktur eines solchen Unternehmens eine nahezu perfekte Risikostreuung der Softwareinvestition ermöglicht? In den späten achtziger Jahren fügten so genannte „Arbs“ (Arbitrageure), die durch die illegale Nutzung von Insiderinformationen reich wurden, dem Ruf von Spekulation und Arbitrage großen Schaden zu. Stellen Sie sich vor, Spekulation und Arbitrage würden verboten (wie es bis vor kurzem in Russland der Fall war). Erklären Sie, welcher wirtschaftliche Schaden aus einer solchen Maßnahme entstehen könnte. Betrachten Sie das Dilemma der Aufrechterhaltung des Freihandels anhand der Auszahlungsmatrix in Abbildung 11-9, die das Volkseinkommen (in Milliarden US-Dollar) für zwei Staaten als eine Funktion der Außenhandelspolitik angibt. Jedes Land kann entweder eine Politik
Freihandel oder Protektionismus USA Freihandel
Japan
A
†
†
Protektionismus*
$ 6.000 B
$ 6.100
Freihandel† $ 3.000 C
$ 1.900 $ 4.800 D*
$ 5.000
Protektionismus* $ 3.200
$ 2.000
* Nash-Gleichgewicht Kooperatives Gleichgewicht
†
Abbildung 11-9: Staaten gewinnen durch den Außenhandel und verlieren durch Handelskriege Japan und die USA können sich auf das kooperative Gleichgewicht in A einigen, wobei sie alle Zölle und Einfuhrquoten abbauen und die Vorteile des Freihandels genießen. Jedes der beiden Länder ist jedoch auch versucht zu „betrügen“, indem es Handelsrestriktionen auf Importe verhängt und dadurch die Einkommen im Inland erhöht sowie gleichzeitig das gesamte Welteinkommen mindert; dies entspricht einer Bewegung nach B oder C. Vergeltungsmaßnahmen würden zum schlechtesten aller möglichen Zustände, zu D, führen.
Teil 3
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
327
A. Einkommen und Vermögen
KAPITEL 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
Wie du weißt, Ernest, sind die Reichen ganz anders als wir. F. Scott Fitzgerald
Ja, ich weiß. Sie haben mehr Geld. Ernest Hemingway
In den vorhergehenden Kapiteln haben wir Produktion und Preise der von winzigen Bauernhöfen und riesigen Konzernen produzierten Güter und Dienstleistungen untersucht. Doch die meisten Produkte, die wir verwenden, schießen nicht einfach aus dem Boden, sondern sie werden von Arbeitern produziert, die mit Maschinen ausgerüstet sind, die ihrerseits in Fabriken stehen, die auf Grund und Boden errichtet wurden. Diese Inputs in den Produktionsprozessen erwirtschaften Faktoreinkommen – Löhne und Gehälter, Gewinne, Zinsen und Renten. Nun ist es an der Zeit, das Zustandekommen der Faktorpreise sowie die Kräfte zu erforschen, die die Verteilung des Einkommens in der Bevölkerung beeinflussen. Die Vereinigten Staaten sind, was Einkommen und Reichtum betrifft, ein Land der Extreme. Wenn Sie zu den 400 reichsten Amerikanern gehören, sind Sie wahrscheinlich ein 60-jähriger weißer Mann, der ein Studium an einer Spitzenuniversität absolviert hat und über ein Reinvermögen von ca. US-$ 3 Milliarden verfügt. Dieses winzige Segment der amerikanischen Bevölkerung besitzt ca. 5 Prozent des gesamten Vermögens des Landes. Früher erwirtschaftete man sein Vermögen in der verarbeitenden Industrie oder im Immobiliengeschäft, aber die Milliardäre der jüngeren Vergangenheit wurden größtenteils in der Informationswirtschaft mit Software und Kommunikationsprodukten reich. Der Weg der Superreichen an die Spitze ist ebenso das Produkt ihrer Herkunft wie ihrer Intelligenz, denn ihre Familie gab ihnen wahrscheinlich eine ordentliche Beteiligung am Familienunternehmen mit auf den Weg – doch gibt es heute mehr Selfmade-Männer und -Frauen als noch vor zehn Jahren.
328
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Am anderen Extrem finden wir die Vergessenen, die es nie auf die Titelblätter von Forbes oder Newsweek schaffen. Da ist beispielsweise die Geschichte von Robert Clark, obdachlos und arbeitslos. Als Dachdecker und Vietnamveteran hatte ihn die Suche nach Arbeit von Detroit nach Miami verschlagen. Die Nächte verbrachte er auf einem Stück Pappe, bedeckt mit einem gestohlenen Laken. Jeden Morgen kroch er wie die anderen Obdachlosen aus dem städtischen Kanalsystem, um sich mit Zeitarbeit wenigstens ein paar Dollar zu verdienen. Die Firmen, die diese Arbeiten vergaben, verlangten von ihren Kunden US-$ 8–10 die Stunde, zahlten ihren Leuten aber nur den Mindestlohn von US-$ 4,25, wovon sie ihnen aber den Großteil für Transport und Werkzeug wieder abnahmen. Robert Clarks Lohnzettel wies Einkünfte von US-$ 31,28 für 31 Stunden Arbeit aus. Wie sollen wir derartige Diskrepanzen hinsichtlich Einkommen und Vermögen verstehen? Warum bekommen manche US-$ 10 Millionen jährlich, während andere mit US-$ 1 pro Stunde nach Hause gehen? Warum sind Immobilien in Tokio oder Manhattan mehrere Tausend US-Dollar pro Quadratmeter wert, während man Grund und Boden in der Wüste schon für wenige US-Dollar pro Hektar bekommt? Und woher stammen eigentlich die Gewinne in Milliardenhöhe, die die großen Konzerne wie Microsoft oder General Electric erwirtschaften? Die Frage nach der Einkommensverteilung gehört zu den kontroversesten Themen der gesamten Volkswirtschaftslehre. Manchmal wird argumentiert, hohe Einkommen seien das durch nichts zu rechtfertigende Ergebnis des Erbes der Vergangenheit und glücklicher Zufälle, während Armut durch Diskriminierung und mangelnde Chancen entstehe. Andere vertreten jedoch die Meinung, jeder bekomme eben das, was er verdiene, und Eingriffe in die Verteilungsmechanismen des Marktes würden nur die Effizienz untergraben und letztlich allen schaden. Die staatlichen Programme der heutigen USA
Teil 3
spiegeln einen wackeligen Konsens darüber wider, dass die Einkommen in erster Linie von den Markteinkünften bestimmt werden sollten, die Regierung jedoch eine Art soziales „Sicherheitsnetz“ spannen sollte, um die bedürftigen Armen aufzufangen, die den Mindestlebensstandard aus eigener Kraft nicht erreichen.
Einkommen Um die wirtschaftliche Lage einer Person oder den Zustand eines Staates zu messen und zu beschreiben, benutzt man als Maßstab im Allgemeinen das Einkommen und das Vermögen. Mit Einkommen sind die Ströme von Einkommen, Zinsen, Dividenden und anderen Werten gemeint, die während eines bestimmten Zeitraums (normalerweise während eines Jahres) auflaufen. Die aggregierten Einkommen in einem Land werden als Volkseinkommen bezeichnet, das sich aus den in Tabelle 12-1 angegebenen Positionen zusammensetzt. Der größte Teil des Volkseinkommens entfällt auf Arbeit, entweder in Form von Löhnen und Gehältern oder in Form von Sozialleistungen. Der Rest entfällt auf die verschiedenen Arten von Besitzeinkommen: Mieten, Nettozinsen, Unternehmensgewinne und Unternehmerlohn (Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit). Diese letzte Kategorie beinhaltet im Wesentlichen die Gewinne der Eigentümer von Kleinbetrieben.1 Die Erträge aus einer Marktwirtschaft werden an die Eigentümer der Produktionsfaktoren dieser Wirtschaft in Form von Gehältern, Gewinnen, Mieten und Zinsen verteilt.
1 Ökonomen und Buchhalter messen das „Einkommen“ oft auf verschiedene Weise. Wir haben die buchhalterischen Messeinheiten für Einkommen und Reichtum bereits im 7. Kapitel untersucht.
329
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
Einkommensart
Betrag (Mrd. US-$)
Anteil am Volkseinkommen (%)
Beispiele
Erwerbseinkommen Löhne und Gehälter
5.003,7
59,9
Löhne der Arbeiter in der Automobilindustrie; Lehrergehälter
973,7
11,7
Arbeitgeberbeiträge zu den Pensionskassen
Einkünfte aus Beteiligungen
756,5
9,1
Friseureinkommen; Anteil des Rechtsanwalts am Nettoeinkommen der Partnerschaft
Mieteinkünfte
142,4
1,7
Wohnungsmiete nach Abzug von Kosten und Wertminderung
Unternehmensgewinne
787,4
9,4
Gewinn von Microsoft
Nettozinsen
684,2
8,2
Zinszahlungen auf Bankguthaben
8.347,9
100,0
Sozialleistungen und sonstige Arbeitseinkommen Besitzeinkommen
Gesamt
Tabelle 12-1: Die Aufteilung des Volkseinkommens in den USA, 2002 Zum Volkseinkommen zählen alle an Produktionsfaktoren bezahlten Einkommen. Fast zwei Drittel bestehen in Löhnen und anderen Arbeitsentgelten, während sich der Rest auf Mieten, Unternehmensgewinne und Einkünfte aus eigenen Unternehmen aufteilt. Quelle: U.S.-Handelsministerium, Bureau of Economic Analysis, www.bea.gov
Faktoreinkommen versus persönliche Einkommen Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Faktoreinkommen und persönlichen Einkommen zu verstehen. Tabelle 12-1 stellt die Verteilung der Faktoreinkommen – die Verteilung zwischen Arbeits- und Vermögenseinkommen – dar. Doch ein und dieselbe Person kann verschiedene Produktionsfaktoren besitzen. So bezieht jemand vielleicht ein Gehalt, Zinsen aus seinen Sparguthaben, Dividenden aus einem Aktienfonds und Miete aus einer Immobilieninvestition. Aus volkswirtschaftlicher Sicht setzt sich das Markteinkommen eines Menschen aus der Gesamtheit der Produktionsfaktoren zusammen, die dieser Mensch verkauft, multipliziert mit dem Gehalt oder dem Preis jedes Faktors.
Alles in allem entfallen etwa drei Viertel des Volkseinkommens auf Arbeit, während sich der Rest auf Rückflüsse aus Kapitalbesitz verteilt. Das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts war turbulent. Wie haben sich Ölpreisschocks, Computerrevolution, Globalisierung, Verkleinerung von Unternehmen und der langanhaltende wirtschaftliche Aufschwung auf den Anteil der Arbeit am gesamten Einkommenskuchen ausgewirkt? Betrachtet man Abbildung 12-1, so erkennt man, dass sich der Anteil am Volkseinkommen, der auf Arbeit entfällt, seit 1970 überraschenderweise kaum verändert hat. Das ist eines der bemerkenswertesten Aspekte der Einkommensverteilung in den Vereinigten Staaten.
Anteil der Arbeit am Volkseinkommen (Prozent)
330
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
80
76
72
68
64
60
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 12-1: Der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen Der Anteil der Arbeit hat sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1970 schrittweise erhöht. Seitdem ist er bei ca. 72 Prozent des Volkseinkommens bemerkenswert konstant geblieben. Das restliche Einkommen verteilt sich auf Renten, Zinsen, Unternehmensgewinne und Einkünfte aus eigenen Unternehmen. Der Anteil des Besitzeinkommens beträgt 100 abzüglich der Arbeitseinkommen. Quelle: US-Handelsministerium
Die Rolle des Staates Wie passt nun der Staat in dieses Bild? Die öffentliche Hand auf allen Ebenen bildet die bedeutendste Quelle für Einkommen, Renten und Zinserträge. Die Auswirkungen staatlicher Ausgaben sind in den Aufwendungen für Produktionsfaktoren in Tabelle 12-1 enthalten. Doch der Staat spielt bei den Einkommen auch eine ganz unmittelbare Rolle, die sich aus Tabelle 12-1 nicht herauslesen lässt. So schöpfen Bund, Länder und Gemeinden einen sehr beachtlichen Teil des Volkseinkommens in Form von Steuern und Abgaben ab. Im Jahr 2003 betrug der Anteil des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts, der von den Behörden über Steuern und Abgaben wieder abkassiert wurde, rund 30 Prozent, wobei hier vor allem Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Sozialversicherungsbeiträge zu nennen sind.
Teil 3
Doch was die Regierungen durch Steuern einnehmen, geben sie auch wieder aus. Regierungen aller Ebenen stellen Einkommen in Form von Transferzahlungen zur Verfügung, worunter staatliche Zahlungen an Einzelpersonen zu verstehen sind, die nicht als Gegenleistung für die Lieferung von Gütern oder Dienstleistungen erfolgen. Die größte Einzelposition unter den Transferzahlungen sind die Sozialversicherungsleistungen für ältere US-Bürger, aber es fallen auch Arbeitslosengelder, Subventionen für die Landwirtschaft und Leistungen im Rahmen von Wohlfahrtsprogrammen darunter. Während die US-Amerikaner im Jahre 1929 noch nahezu keinerlei Einkommen aus staatlichen Quellen bezogen, lag der Anteil der Transferzahlungen an den gesamten persönlichen Einkommen im Jahr 2003 bei bemerkenswerten 13 Prozent. Das persönliche Einkommen besteht aus dem Markteinkommen plus Transferzahlungen. Die meisten Markteinkommen stammen von Löhnen und Gehältern; eine kleine, wohlhabende Minderheit bezieht ihr Markteinkommen aus ihrem Besitz. Die wichtigste Komponente staatlicher Transferleistungen sind Sozialversicherungsprogramme für Senioren.
Vermögen Wir stellen fest, dass manche Menschen Teile ihres Einkommens aus Zinsen oder Dividenden auf ihre Anleihen- oder Aktienbestände beziehen. Das führt uns zum zweiten wichtigen volkswirtschaftlichen Begriff, dem Vermögen. Mit Vermögen bezeichnen wir den Nettogeldwert der Vermögenswerte, die jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Beachten Sie, dass das Vermögen eine Bestandsgröße ist (wie etwa der Inhalt eines Sees), während das Einkommen eine Flussgröße (wie das Fließen eines Stromes) darstellt. Das Vermögen eines Haushalts beinhaltet Sachpositionen (Häuser, Autos und andere dauerhafte Verbrauchsgüter sowie
331
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
Vermögenswerte der US-Haushalte als Prozentsatz des Gesamtvermögens, 1989–2001 Prozentsatz des Gesamtvermögens Art des Vermögens
1989
1992
1995
1998
2001
Bankeinlagen und Ähnliches
9,4
8,4
7,7
6,7
6,4
Anleihen
3,1
2,7
2,3
1,7
1,9
Aktien
6,2
7,6
10,4
14,3
14,2
Pensionskonten
6,6
8,1
10,3
11,2
11,9
Sonstige Finanzanlagen
5,3
4,8
6,0
6,8
7,5
Finanzanlagen:
Sachwerte und sonstiges Vermögen: Eigenheime
31,9
32,2
30,0
27,9
27,2
Sonstige Immobilien und Sachwerte
13,4
13,3
10,0
9,6
9,4
3,9
3,9
4,5
3,8
3,5
18,6
18,0
17,2
16,9
17,0
1,7
1,1
1,5
1,0
1,0
Fahrzeuge Unternehmensanteile Sonstiges
Familienreinvermögen (Tsd. US-$, Preise von 2001): Medianwert Durchschnittswert
64,6
61,3
66,4
78,0
86,1
255,4
230,5
244,8
307,4
395,5
Tabelle 12-2: Vermögenstrends amerikanischer Familien Haushalte besitzen Sachwerte (wie Häuser und Autos) sowie Finanzanlagen (wie Sparkonten und Aktien). Der Anteil des Finanzvermögen am Gesamtvermögen hat zugenommen, wobei der größte einzelne Vermögensposten der Amerikaner weiterhin die Eigenheime sind. Beachten Sie den starken Anstieg des Aktienanteils in den Portfolios. Beachten Sie auch, dass der Median der Vermögen viel geringer ist als das Durchschnittsvermögen, was die große Ungleichheit der Wohlstandsverteilung widerspiegelt. Quelle: Federal Reserve Board, Survey of Consumer Finances, einsehbar im Federal Reserve Bulletin oder unter www.federalreserve.gov/pubs/oss/oss2/2001/scf2001home.html
Grund und Boden) und Geldpositionen (wie Bargeld, Sparguthaben, Anleihen und Aktien). Alle diese Positionen gemeinsam werden als Vermögenswerte bezeichnet, während das, was anderen geschuldet wird, Verbindlichkeiten darstellt. Die Differenz zwischen Gesamtvermögenswerten und Gesamtverbindlichkeiten wird als Reinvermögen oder Eigenkapital bezeichnet.
Tabelle 12-2 stellt eine Aufgliederung der Vermögenswerte der US-Amerikaner in den Jahren 1989 – 2001 dar. Der wichtigste Vermögenswert der Mehrzahl aller amerikanischen Haushalte ist das Eigenheim: 68 Prozent aller Familien besitzen eigene Häuser; noch vor einer Generation waren es nur 55 Prozent. Die meisten Haushalte verfügen auch über ein bescheidenes Geldvermögen in Form von Sparguthaben, und etwa ein Fünf-
332
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
tel besitzt Unternehmensaktien. Allerdings befindet sich der Großteil des Geldvermögens in unserem Land in den Händen eines kleinen Teils der Gesamtbevölkerung. Rund ein Drittel aller Vermögen befindet sich im Besitz des reichsten 1 Prozent der amerikanischen Haushalte.
B. Grenzproduktivität und Faktorpreise Die Theorie der Einkommensverteilung (oder Verteilungstheorie) befasst sich mit der Frage, welche Faktoren die Einkommen in einer Marktwirtschaft bestimmen. Die Menschen sind oft erstaunt angesichts der enormen Einkommensunterschiede, die zwischen Familien herrschen. Liegt die Ursache in unterschiedlich ausgeprägten Talenten? In der Macht von Monopolen? In staatlichen Eingriffen? Warum besitzt Bill Gates ein Vermögen von US-$ 60 Milliarden, während die Hälfte der schwarzen Familien in den USA gar kein Vermögen besitzt oder sogar Schulden hat? Warum sind die Grundstückspreise in der Stadt umso viel höher als in der Wüste? Unsere erste Antwort auf diese Fragen lautet, dass die Verteilungstheorie ein Sonderfall der Preistheorie ist. Löhne und Gehälter sind der Preis der Arbeit; Pachtzahlungen sind der Preis für die Nutzung von Grundstücken; und so weiter. Dazu kommt, dass sich die Preisbildung bei den Produktionsfaktoren in erster Linie durch die Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage der verschiedenen Produktionsfaktoren vollzieht, genauso wie auch die Güterpreise hauptsächlich durch Angebot und Nachfrage nach Gütern bestimmt werden. Doch der Hinweis auf Angebot und Nachfrage ist nur der erste Schritt auf dem Weg zum Verständnis der Einkommensverteilung in einer Marktwirtschaft mit vollständigem Wettbewerb. Wir werden sehen, dass der
Teil 3
Schlüssel zu den Einkommen in den Grenzprodukten einzelner Produktionsfaktoren liegt. In diesem Abschnitt erkennen wir, dass die Gehälter vom Wert des Grenzprodukts der Arbeit oder von dem, was als Wertgrenzprodukt der Arbeit bekannt ist, bestimmt werden. Dasselbe gilt auch für andere Produktionsfaktoren. Wir diskutieren zuerst dieses neue Konzept und zeigen dann, wie es das Rätsel der Einkommensfestlegung löst.
Das Wesen der Faktornachfrage Die Nachfrage nach Produktionsfaktoren unterscheidet sich von jener nach Verbrauchsgütern in zweierlei Hinsicht: (1) Faktornachfragen sind abgeleitete Nachfragen, und (2) Faktornachfragen zeichnen sich durch Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit) aus.
Die Faktornachfrage ist eine abgeleitete Nachfrage Sehen wir uns die Nachfrage nach Bürofläche einer Firma an, die Computersoftware herstellt. Ein Softwareunternehmen mietet Büros für seine Programmierer, Kundenservicevertreter und andere Mitarbeiter. In ähnlicher Weise benötigen Pizzerias oder Banken Räumlichkeiten für ihre Aktivitäten. In jeder Region gibt es eine abwärts geneigte Nachfragekurve nach Bürofläche, die sich aus dem Zusammenspiel der von den Eigentümern verlangten Mieten und der von den Unternehmen nachgefragten Bürofläche ergibt – je niedriger der Preis, desto mehr Fläche wollen die Unternehmen anmieten. Doch es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Nachfrage der Konsumenten nach Verbrauchsgütern und der Nachfrage der Unternehmen nach Produktionsfaktoren. Konsumenten fragen Endprodukte wie Computerspiele oder Pizzas wegen der direkten Bedürfnisbefriedigung oder des direkten Nutzens nach, den der Konsum die-
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
ser Güter bietet. Im Gegensatz dazu bezahlt ein Unternehmen für Produktionsfaktoren wie Bürofläche jedoch nicht etwa deshalb, weil dadurch eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu erwarten wäre. Nein, es kauft Produktionsfaktoren wegen der Produktion und des Ertrags, die durch den Einsatz dieser Produktionsfaktoren ermöglicht werden. Bedürfnisbefriedigung spielt auch bei Produktionsfaktoren eine Rolle – allerdings auf einer anderen Ebene. Die Bedürfnisbefriedigung, die die Verbraucher durch ihre Computerspiele erreichen, bestimmt, wie viele derartige Spiele die Softwaregesellschaft verkaufen kann, wie viele Kundenbetreuer sie benötigt und wie viel Bürofläche sie mieten muss. Je erfolgreicher ihre Software, desto größer ihr Bedarf an Bürofläche. Eine genaue Analyse der Faktornachfrage muss daher berücksichtigen, dass letztendlich die Verbrauchernachfrage über die Unternehmensnachfrage nach Bürofläche entscheidet. Das gilt natürlich nicht nur für Bürofläche. Die Verbrauchernachfrage bestimmt die Nachfrage nach allen Produktionsfaktoren einschließlich landwirtschaftlich nutzbarer Böden, Erdöl und Pizzaöfen. Erkennen Sie, dass die Nachfrage nach Volkswirtschaftsprofessoren letzten Endes von der Nachfrage nach Wirtschaftskursen durch Studenten bestimmt wird? Die Faktornachfrage eines Unternehmens leitet sich indirekt aus der Verbrauchernachfrage nach den Endprodukten des Unternehmens ab. Ökonomen bezeichnen daher die Faktornachfrage als abgeleitete oder derivative Nachfrage. Damit soll ausgedrückt werden, dass ein Unternehmen einen Produktionsfaktor nachfragt, um später damit ein Gut zu produzieren, das die Verbraucher jetzt oder später nachfragen. Abbildung 12-2 zeigt, dass die Nachfrage nach einem bestimmten Produktionsfaktor, also etwa nach fruchtbarem Ackerland, von der Nachfragekurve der Verbraucher für – in diesem Fall – Mais abhängt. Ebenso leitet sich die Nachfrage nach Büro-
333
fläche von der Verbrauchernachfrage nach Software und allen anderen Produkten und Dienstleistungen ab, die Unternehmen, die Bürofläche mieten, anbieten.
Die Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit) von Faktornachfragen Produktion ist Teamsache. Eine Kettensäge allein ist nutzlos, wenn ein Baum gefällt werden soll. Ein Arbeiter ohne Werkzeug ist ebenso nutzlos. Aber Arbeiter und Säge zusammen können einen Baum problemlos zu Fall bringen. Mit anderen Worten, die Produktivität eines Faktors wie etwa der Arbeit hängt davon ab, welche anderen Faktoren uns in welcher Menge zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass es im Allgemeinen unmöglich ist zu bestimmen, welche Produktionsmenge durch einen einzelnen Produktionsfaktor geschaffen wurde. Zu fragen, welcher Faktor wichtiger ist, ist genau so, als würde man fragen, ob für die Zeugung eines Babys der Vater oder die Mutter wichtiger ist. Es ist die Interdependenz der Produktivität von Boden, Arbeit und Kapital, die die Einkommensverteilung so komplex macht. Nehmen wir an, wir müssten den gesamten Output eines Landes auf einmal verteilen. Hätte der Boden allein genommen diese Menge und die Arbeit jene Menge produziert, und wäre der Rest durch Maschinen produziert worden, gäbe es bei der Verteilung keine Probleme. Nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage müssten darüber hinaus jedem Faktor, wenn er selbstständig eine bestimmte Produktionsmenge erzielen könnte, die Früchte seiner eigenen Arbeit uneingeschränkt zugeschrieben werden. Aber lesen Sie doch den vorigen Absatz noch einmal und unterstreichen Sie Begriffe wie „allein“. Sie beschreiben eine Fantasiewelt voneinander unabhängiger Produktionsfaktoren, die nirgendwo anzutreffen ist. Wenn zur Herstellung eines Omeletts die Arbeit des Küchenchefs, Hühnereier, Kuh-
334
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
(a) Güternachfrage
Teil 3
(b) Abgeleitete Faktornachfrage
P
R D
Maispreis
Ackerboden-Pacht
D
D
D Q
0
A
0
Mais
Ackerboden-Pacht
Abbildung 12-2: Die Faktornachfrage leitet sich aus der Güternachfrage ab Die rostfarbene Kurve der abgeleiteten Ackerbodennachfrage ergibt sich aus der schwarzen Getreidenachfragekurve. Verschiebt man die schwarze Kurve nach außen, bewegt sich auch die rostfarbene Kurve nach außen. Wird die schwarze Güterkurve unelastischer, geschieht dasselbe mit der rostfarbenen Faktornachfragekurve.
milch und Erdgas benötigt werden, wie sollte man die Teigmasse so trennen, dass der Beitrag all dieser Produktionsfaktoren wieder einzeln zu erkennen ist? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir uns die Wechselwirkung zwischen den Grenzproduktivitäten und den Faktorangeboten ansehen, die gemeinsam Wettbewerbspreis und -menge bestimmen. Zusammenfassung der Produktionstheorie Bevor wir die Beziehung zwischen Faktorpreisen und Grenzprodukten erläutern, wollen wir jedoch zunächst die Produktionstheorie aus Kapitel 6 in groben Zügen wiederholen und zusammenfassen. Zu Beginn der Produktionstheorie steht der Begriff der Produktionsfunktion. Die Produktionsfunktion gibt die maximale Produktionsmenge an, die bei einem bestimmten Stand technologischen Know-hows mit jeder Kombination von Produktionsfaktoren erzeugt werden kann. Das Konzept der Produktionsfunk-
tion führt zu einer strengen Definition des Grenzproduktes. Erinnern Sie sich: Das Grenzprodukt eines Produktionsfaktors ist die zusätzliche Menge oder der zusätzliche Output, der durch eine zusätzlich eingesetzte Einheit dieses Produktionsfaktors erzeugt werden kann, wenn alle anderen Produktionsfaktoren konstant bleiben.2 Die ersten drei Spalten in Tabelle 12-3 erläutern, wie das Grenzprodukt berechnet wird. Zum Schluss unserer Zusammenfassung wollen wir noch einmal auf das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags (Ertragsgesetz) hinweisen. Spalte (3) in Tabelle 12-3 zeigt, dass auf jede zusätzliche Arbeitseinheit ein geringeres Grenzprodukt entfällt. „Abnehmendes Grenzprodukt“ ist nur ein anderer Ausdruck für abnehmenden Grenzertrag. Wir können in der Tabelle jederzeit Boden gegen Arbeit austauschen und die verfügbare Bodenmenge variieren, während Arbeit und die anderen Produktionsfaktoren konstant gehalten werden, und werden die Auswirkungen des Ertragsgesetzes beim Faktor Boden ebenso wie beim Faktor Arbeit beobachten.
335
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
(1) Arbeitseinheit
(2) Gesamtprodukt (in Scheffel)
0 1 2 3 4 5
Wertgrenzprodukt (3) (4) Grenzprodukt Güterpreis der Arbeit (US-$ pro Scheffel) (Scheffel pro Arbeitskraft)
(5) Wertgrenzprodukt der Arbeit (US-$ pro Arbeitskraft)
0 20.000
3
60.000
10.000
3
30.000
5.000
3
15.000
3.000
3
9.000
1.000
3
3.000
20.000 30.000 35.000 38.000 39.000
Tabelle 12-3: Berechnung des Wertgrenzprodukts für ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb Das Grenzprodukt der Arbeit wird in Spalte (3) ausgewiesen. Das Wertgrenzprodukt der Arbeit zeigt, wie viel an zusätzlichem Ertrag mit einer zusätzlichen Arbeitseinheit erzielt wird. Es entspricht dem Grenzprodukt in Spalte (3), multipliziert mit dem Wettbewerbsgüterpreis in Spalte (4).
Verteilungstheorie und Wertgrenzprodukt Hier soll als wesentlicher Punkt der Verteilungstheorie dargelegt werden, dass sich die Nachfrage nach den diversen Produktionsfaktoren von den Erträgen aus dem Grenzprodukt jedes einzelnen Produktionsfaktors ableitet.
Wertgrenzprodukt Nehmen wir nun die Produktionstheorie zu Hilfe, um ein wichtiges Konzept zu behandeln, nämlich das des Wertgrenzprodukts (MRP). Nehmen wir an, Sie wären Geschäftsführer einer riesigen Hemdenfabrik. Wir wissen, wie viele Hemden jeder zusätzliche Arbeiter produziert. Doch das Unternehmen will die in Geldeinheiten gemessenen Gewinne maximieren, weil es seine Gehälter ja auch in Geld und nicht in Hemden auszahlt. Sie brauchen daher ein Konzept, mit dem
Sie die zusätzlichen Geldeinheiten messen können, die jede zusätzliche Faktoreinheit produziert. Ökonomen bezeichnen mit dem Begriff „Wertgrenzprodukt“ den Geldwert der zusätzlichen Produktionsmenge, die durch eine zusätzliche Faktoreinheit erzeugt wird. Das Wertgrenzprodukt des Produktionsfaktors A ist der zusätzliche Erlös, der durch eine zusätzliche Faktoreinheit A erzielt wird. Fall des vollständigen Wettbewerbs. Es ist sehr einfach, das Wertgrenzprodukt zu berechnen, wenn die Produkt- oder Gütermärkte dem vollständigen Wettbewerb unterliegen. In diesem Fall kann jede Grenzprodukteinheit eines Arbeiters (MPL) zum Wettbewerbspreis des entsprechenden Gutes (P) verkauft werden. Da wir es ja mit einem vollständigen Wettbewerb zu tun haben, wird der Güterpreis außerdem nicht von der Produktionsmenge des Unternehmens beein-
336
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
flusst, und er entspricht daher dem Grenzerlös (MR). Wenn wir ein MPL von 10.000 Scheffel Weizen und einen Preis sowie einen Grenzerlös MR von US-$ 3 zugrunde legen, entspricht der Geldwert der vom letzten Arbeiter produzierten Produktionsmenge – das Wertgrenzprodukt der Arbeit (MRPL) – US$ 30.000 (nämlich 10.000 US-$ 3). Wir sehen dies in Spalte (5) unserer Tabelle 12-3. Unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs entspricht daher der Wert eines jeden Arbeiters für das Unternehmen dem Geldwert des Grenzproduktes seines letzten Arbeiters; der Wert jedes Hektars Boden ergibt sich aus dem Grenzprodukt des Bodens mal dem Preis des produzierten Wirtschaftsgutes; und dasselbe gilt für jeden einzelnen Produktionsfaktor. Tabelle 12-3 zeigt eine wichtige Verbindung zwischen der Produktionstheorie und der Theorie der Faktornachfrage; sie sollte daher sorgfältig studiert werden. In den ersten drei Spalten sind Inputs, Output und Grenzprodukt der Arbeit aufgelistet. Anhand des Grenzprodukts von Spalte (4) können wir das Wertgrenzprodukt der Arbeit (in Geldeinheiten pro Arbeiter) in Spalte (5) berechnen. Diese letzte Spalte ist für die Bestimmung der Nachfrage nach Arbeitskräften entscheidend, wie wir weiter hinten in diesem Kapitel sehen werden. Sobald wir das Lohnniveau kennen, können wir aus Spalte (5) die Nachfrage nach Arbeitskräften berechnen. Unvollständiger Wettbewerb. Wie aber sieht die Sache unter den Bedingungen unvollständigen Wettbewerbs mit einer abwärts gerichteten Nachfragekurve des einzelnen Unternehmens aus? Hier liegt der Grenzerlös für jede zusätzlich verkaufte Produktionseinheit unter dem Preis, weil das Unternehmen auch seinen Preis für die vorherigen Produktionseinheiten senken muss, um eine zusätzliche Produktionseinheit verkaufen zu können. Jede Einheit des Grenzproduktes hat daher für das Unternehmen einen Wert von MR < P. Um unser vorheriges Beispiel wieder aufzunehmen, legen wir MR mit US-$ 2 fest,
Teil 3
während der Preis US-$ 3 beträgt. Dann läge das MRP des zweiten Arbeiters in Tabelle 12-3 bei US-$ 20.000 (entsprechend dem MPL von 10.000 dem MR von US-$ 2), und nicht bei US-$ 30.000 wie unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs. Zusammenfassend: Das Wertgrenzprodukt stellt den zusätzlichen Erlös dar, den ein Unternehmen durch den Einsatz einer zusätzlichen Faktoreinheit erzielt, wenn die anderen Produktionsfaktoren unverändert belassen werden. Es wird definiert als das Grenzprodukt des jeweiligen Faktors multipliziert mit dem Grenzerlös, der durch den Verkauf einer zusätzlichen Produktionseinheit erzielt wird. Dies gilt ebenso für die Arbeit (L) wie für den Boden (A) und alle anderen Produktionsfaktoren: In Symbolen: Wertgrenzprodukt der Arbeit (MRPL) = MR MPL Wertgrenzprodukt des Bodens (MRPA) = MR MPA und so weiter. Unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs gilt, da P = MR: Wertgrenzprodukt (MRPi) = MR MPi für jeden Produktionsfaktor.
Die Nachfrage nach Produktionsfaktoren Nachdem wir die zugrunde liegenden Konzepte analysiert haben, wollen wir zeigen, wie Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung über die optimale Faktorkombination entscheiden, was uns ermöglichen wird, die Faktornachfrage abzuleiten.
337
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
Die Faktornachfrage gewinnmaximierender Unternehmen Was bestimmt die Nachfrage nach einem Produktionsfaktor? Wir können diese Frage beantworten, indem wir analysieren, wie ein gewinnorientiertes Unternehmen seine optimale Faktorkombination auswählt. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Bauer, der seinen Gewinn maximieren möchte. In Ihrer Gegend können Sie jede Menge Landarbeiter für US-$ 20.000 pro Arbeiter einstellen. Ihr Buchhalter überreicht Ihnen eine Aufstellung mit den Daten aus Tabelle 12-3. Wie gehen Sie nun vor? Sie können natürlich verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Wenn Sie einen Arbeiter einstellen, beträgt der zusätzliche Erlös (das MRP) US-$ 60.000, während die Grenzkosten des Arbeiters US-$ 20.000 betragen Ihr Zusatzgewinn ist daher US-$ 40.000. Ein zweiter Arbeiter bringt Ihnen ein MRP von US-$ 30.000, also einen zusätzlichen Gewinn von US-$ 10.000. Der dritte Arbeiter produziert einen zusätzlichen Output, der einen Gewinn von nur US-$ 15.000 abwirft, aber Kosten von US-$ 20.000 verursacht; daher ist die Einstellung des dritten Arbeiters nicht profitabel. Tabelle 12-3 zeigt, dass Sie Ihr Gewinnmaximum durch den Einsatz von zwei Arbeitskräften erzielen. Durch diese Überlegung können wir die Regel zur Auswahl der optimalen Faktorkombination folgendermaßen ableiten: Um Gewinne zu maximieren, müssen Unternehmen solange zusätzliche Produktionsfaktoren einsetzen, bis das Wertgrenzprodukt des jeweiligen Faktors den Grenzkosten oder dem Preis dieses Faktors entspricht. Auf vollkommenen Faktormärkten ist diese Regel sogar noch einfacher. Bedenken Sie, dass unter Wettbewerbsbedingungen das Wertgrenzprodukt dem Preis mal dem Grenzprodukt entspricht (MRP = P MP).
Die gewinnmaximierende Faktorkombination ist für ein Unternehmen bei vollkommenem Wettbewerb dann erreicht, wenn das Grenzprodukt, multipliziert mit dem Produktpreis, dem Faktorpreis entspricht: Grenzprodukt der Arbeit Produktpreis = Arbeitspreis = Lohn Grenzprodukt des Bodens Produktpreis = Bodenpreis = Pacht und so weiter. Wir können diese Regel anhand folgender Überlegung verstehen: Nehmen wir an, dass alle Input-Arten in kleine Mengeneinheiten zu je US-$ 1 unterteilt sind – Arbeitseinheiten zu US-$ 1, Bodeneinheiten zu US-$ 1 und so weiter. Um seinen Gewinn zu maximieren, wird das Unternehmen genau bis zu dem Punkt zusätzliche Faktoren kaufen, an dem jedes kleine Paket von US-$-1-Paket Outputs mit einem Wert von exakt US-$ 1 produziert. Anders ausgedrückt: Jedes US-$-1-Faktorpaket produziert MP Einheiten Mais, sodass MP P genau einen Wert von US-$ 1 erreicht. Das MRP der US-$-1-Einheiten beträgt dann bei maximalem Gewinn genau US-$ 1. Minimalkostenregel (Least-cost-Regel). Wir können unsere Bedingung noch einmal und allgemeiner so formulieren, dass sie sowohl bei vollständigem als auch bei unvollständigem Wettbewerb auf Produktmärkten gilt (allerdings nur, wenn die Faktormärkte Wettbewerbsmärkte sind). Durch eine Umgruppierung der weiter oben angeführten Grundbedingungen impliziert die Gewinnmaximierung Folgendes:
Grenzprodukt Grenzprodukt der Arbeit des Bodens = =… Arbeitspreis Bodenpreis 1 = Grenzerlös
338
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Nehmen wir einmal an, Sie hätten ein KabelTV-Monopol für Denver. Wenn Sie Ihre Gewinne maximieren wollen, werden Sie versuchen, die optimale Faktorzusammenstellung aus Arbeitern, Bodennutzungsrechten für Ihre Kabel, LKWs und Testausrüstung zusammenzustellen, um Ihre Kosten zu minimieren. Wenn die Leasingraten für LKWs monatlich US-$ 8.000 betragen, während die Löhne pro Arbeiter mit US-$ 800 zu Buche schlagen, lassen sich die Kosten minimieren, wenn die jeweiligen Grenzprodukte pro Geldeinheit Input gleich sind. Da LKWs hier zehnmal so viel wie Arbeit kosten, muss auch das MP der LKWs zehnmal so hoch sein wie das MP der Arbeit. Die Minimalkostenregel besagt: Die Kosten werden minimiert, wenn das Grenzprodukt pro Geldeinheit Input für alle Produktionsfaktoren gleich hoch ist. Diese Regel gilt für Unternehmen auf Produkt- oder Gütermärkten mit vollständigem Wettbewerb ebenso wie auf Produktmärkten mit unvollständigem Wettbewerb.
einen Arbeiter entscheiden würde, bei Lohnkosten von US-$ 30.000 für zwei usw. Die MRP-Funktion für jeden Produktionsfaktor ergibt die Nachfragefunktion des Unternehmens für diesen Faktor. Wir haben dieses Ergebnis in Abbildung 12-3 dazu benutzt, eine Arbeitsnachfragekurve für unsere Maisfarm zu zeichnen, wobei wir die in Tabelle 12-3 angegebenen Daten zugrunde gelegt haben. Außerdem haben wir durch die einzelnen Punkte eine geglättete Kurve gezogen, um zu zeigen, wie die Nachfragekurve aussähe, könnte man die Arbeit sozusagen „stufenlos“ kaufen. Von der Unternehmens- zur Marktnachfrage. Wenn wir die Nachfrage nach Arbeitskräften und anderen Faktoren ermitteln wollen, besteht der letzte Schritt in der Addition der Nachfragekurven verschiedener Unternehmen. Wie bei allen Nachfragekurven erhält man die Nachfragekurve des vollkommenen Marktes durch horizontale Addition
Wertgrenzprodukt und Faktornachfrage
d 60
Wertgrenzprodukt der Arbeit (in US-$ 1.000 pro Arbeitskraft)
Nachdem wir nun das MRP für die diversen Faktoren abgeleitet haben, können wir die Faktornachfrage verstehen. Wir haben soeben gesehen, dass ein auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes Unternehmen seine Faktormengen so wählt, dass der Preis jedes einzelnen Produktionsfaktors dem MRP dieses Faktors entspricht. Das bedeutet, dass wir von der MRP-Funktion eines Produktionsfaktors unmittelbar die Beziehung zwischen dem Faktorpreis und der nachgefragten Faktormenge ableiten können. Diese Beziehung bezeichnen wir als Nachfragekurve. Werfen Sie noch einen Blick auf Tabelle 12-3. Diese Tabelle zeigt uns in der letzten Spalte das MRP für Arbeit auf unserer Maisfarm. Aufgrund der Gewinnmaximierungsbedingung wissen wir, dass sich das Unternehmen bei Lohnkosten von US-$ 60.000 für
Teil 3
50
40
30
20
10
0
d 1 2 3 4 5 Arbeitseinsatz (Arbeitskräfte)
L
Abbildung 12-3: Die Faktornachfrage leitet sich aus den Wertgrenzprodukten ab Die Arbeitsnachfrage ergibt sich aus dem Wertgrenzprodukt der Arbeit. Der Abbildung wurden die in Tabelle 12-3 angegebenen Daten für ein Unternehmen im Wettbewerb zugrunde gelegt.
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
der Nachfragekurven aller Unternehmen. Wenn es 1.000 identische Unternehmen gäbe, wäre die Marktnachfrage nach Arbeit genau mit der in Abbildung 12-3 angegebenen identisch, außer dass jeder Eintrag auf der horizontalen Achse mit 1.000 multipliziert würde. Wir sehen daher, dass die Faktornachfrage unter Wettbewerbsbedingungen durch die aggregierte Nachfrage aller Unternehmen bei jedem Wertgrenzprodukt bestimmt wird. Substitutionsregel. Eine logische Folge aus der Least-Cost-Regel bildet die Substitutionsregel. Wenn der Preis eines Produktionsfaktors steigt, während die anderen Faktorpreise konstant bleiben, entsteht dem Unternehmen ein Vorteil, wenn es den teureren Faktor durch eine größere Menge der anderen Faktoren substituiert. Ein Anstieg der Lohnkosten PL führt zu einer Reduktion von MPL/PL. Die Unternehmen reagieren durch eine Zurücknahme der Arbeit und zunehmenden Einsatz von Boden, bis die Gleichheit der Grenzprodukte pro aufgewendetem Boden für die Produktionsfaktoren wieder hergestellt ist; was bedeutet, dass weniger Arbeit L und mehr Boden A eingesetzt wird. Eine alleinige Erhöhung des Preises für Boden, PA, führt entsprechend dieser Logik zu einer Substitution des teuren Bodens durch mehr Arbeitskraft. Wie bei der Minimalkostenregel gelten die Substitutionsregel und die daraus abgeleitete Nachfrage nach Produktionsfaktoren sowohl bei vollständigem wie auch bei unvollständigem Wettbewerb auf den Produkt- oder Gütermärkten.
Angebot an Produktionsfaktoren Eine vollständige Analyse der Bestimmungsgrößen von Faktorpreisen und Einkommen umfasst nicht nur die soeben beschriebene Faktornachfrage, sondern auch das Angebot an den diversen Produktionsfaktoren. Die allgemeinen Angebotsprinzipien unterscheiden sich von Faktor zu Faktor, und wir werden uns diesem Thema in den folgenden zwei
339
Kapiteln noch näher widmen. Hier nur einige einleitende Bemerkungen. In einer Marktwirtschaft befindet sich der Großteil der Produktionsfaktoren in Privatbesitz. Der Einzelne „besitzt“ seine Arbeitskraft in dem Sinn, dass er über ihren Einsatz verfügen kann. Das heute so wesentliche „Humankapital“ kann man nur mieten, nicht aber kaufen. Kapital und Boden befinden sich im Allgemeinen im Privatbesitz von Haushalten und Unternehmen. Entscheidungen über das Arbeitsangebot hängen von wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Faktoren ab. Die für das Arbeitsangebot entscheidenden Faktoren sind der Arbeitspreis (also das Lohnniveau) und demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Ausbildung und Familienstruktur. Die Menge an Boden und anderen natürlichen Ressourcen wird durch geologische Gegebenheiten bestimmt und lässt sich nicht wesentlich verändern, obwohl die Qualität des Bodens natürlich durch seine Bebauung, durch Siedlungsstrukturen und Bearbeitungsmöglichkeiten beeinflusst wird. Das Angebot an Kapital hängt von früheren Investitionen durch Unternehmen, Haushalte und Staaten ab. Kurzfristig ist der Kapitalbestand ebenso fix wie der Boden, aber langfristig reagiert das Angebot an Kapital auf wirtschaftliche Faktoren wie Risiken, Steuern und Rentabilität. Lässt sich irgendetwas über die Elastizität des Faktorangebotes aussagen? Tatsächlich kann die Angebotskurve einen positiven Anstieg aufweisen, sie kann vertikal verlaufen oder sogar eine negative Steigung haben. Bei den meisten Faktoren ist zu erwarten, dass das Angebot auf steigende Faktorpreise langfristig positiv reagiert. In diesem Fall wäre die Angebotskurve nach rechts oben gerichtet. Normalerweise ist weiterhin davon auszugehen, dass das gesamte Angebot an Grund und Boden vom Preis nicht beeinflusst wird; in diesem Fall ist das gesamte Bodenangebot demnach absolut unelastisch, was bedeutet, dass die Angebotskurve vertikal verläuft. In manchen Sonderfällen können die Eigentümer ihr Angebot an einem Faktor auch redu-
340
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
zieren, wenn die Einkünfte aus diesem Faktor steigen. Entsteht beispielsweise das Gefühl, man könne es sich leisten, bei steigenden Gehältern kürzer zu arbeiten, könnte die Angebotskurve für Arbeit bei hohen Lohnsätzen rückläufig werden, anstatt eine positive Steigung aufzuweisen. Die verschiedenen möglichen Elastizitäten für das Faktorangebot sind in der Angebotskurve SS in Abbildung 12-4 dargestellt.
Faktorpreisbildung durch Angebot und Nachfrage Eine umfassende Analyse der Einkommensverteilung muss das Angebot an und die Nachfrage nach Produktionsfaktoren in BePF
S
Faktorpreis
B
A
S
QF Faktormenge
Abbildung 12-4: Angebotskurve für Produktionsfaktoren Das Angebot an Produktionsfaktoren hängt von den besonderen Merkmalen dieser Produktionsfaktoren und von den Präferenzen ihrer Eigentümer ab. Im Allgemeinen reagiert das Angebot positiv auf den Preis, wie im Bereich unterhalb von A. Bei Produktionsfaktoren mit fixem Angebot wie Boden ist die Angebotskurve absolut unelastisch, wie von A nach B. In speziellen Fällen, in denen ein höherer Faktorpreis das Einkommen des Faktoreigentümers stark erhöht, beispielsweise im Fall von Arbeit oder Öl, kann die Angebotskurve rückwärts gekrümmt sein, wie im Bereich oberhalb von B.
Teil 3
ziehung setzen. Weiter oben in diesem Abschnitt haben wir Ihnen die Grundlagen der Nachfrageanalyse vorgestellt und noch eine kurze Analyse der Angebotsseite folgen lassen. Wir haben gezeigt, dass bei gegebenen Faktorpreisen Unternehmen, die nach Gewinnmaximierung streben, ihre Faktorkombinationen entsprechend den jeweiligen Wertgrenzprodukten wählen. Bei fallenden Preisen für Boden substituiert etwa jeder Bauer nach Möglichkeit andere Produktionsfaktoren wie Arbeit, Maschinen und Dünger durch Boden. Die Nachfragekurve aller Bauern nach Ackerland würde daher aussehen wie in Abbildung 12-2(b) gezeigt. Wie bestimmen wir nun die Marktnachfrage nach Produktionsfaktoren (gleichgültig, ob es sich um Ackerland, um ungelernte Arbeitskräfte oder um Computer handelt)? Nun, wir addieren die einzelnen nachgefragten Mengen aller Unternehmen. Somit addieren wir bei einem gegebenen Bodenpreis alle einzelnen Nachfragemengen nach Boden aller Unternehmen zu diesem Preis; und ebenso verfahren wir für jeden anderen Bodenpreis. Mit anderen Worten: Wir addieren alle Nachfragekurven der einzelnen Unternehmen horizontal, um die Marktnachfragekurve für Boden zu erhalten. Nach derselben Methode gehen wir bei allen Produktionsfaktoren vor und addieren alle abgeleiteten Nachfragemengen sämtlicher Branchen, um die Marktnachfrage nach jedem Produktionsfaktor zu ermitteln. Und in jedem Fall gründet die abgeleitete Nachfrage nach dem Produktionsfaktor auf dem Wertgrenzprodukt des betreffenden Faktors.2 Die DD-Kurve in Abbildung 12-5 stellt eine allgemeine Nachfragekurve für einen Produktionsfaktor dar. Wie finden wir das allgemeine Marktgleichgewicht? Der Gleichgewichtspreis eines Produktionsfaktors auf einem vollkommenen Markt stellt sich auf jenem Niveau ein, auf dem die angebotenen und die nachgefragten Mengen identisch sind. Das wird in Abbil2 Bitte beachten Sie, dass dieses Verfahren der horizontalen Addition der Nachfragekurven exakt dasselbe ist, das wir bereits zur Ermittlung der Marktnachfragekurven für Konsumenten in Kapitel 5 angewendet haben.
341
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
PF D
Faktorpreis
S
E
D S QF Faktormenge
Abbildung 12-5: Faktorangebot und abgeleitete Nachfrage wirken bei der Bildung der Faktorpreise und der Einkommensverteilung zusammen Die Faktorpreise und -mengen werden durch die Wechselwirkung zwischen Faktorangebot und -nachfrage gebildet.
dung 12-5 illustriert, wo sich die abgeleitete Nachfragekurve eines Produktionsfaktors mit dessen Angebotskurve in Punkt E schneidet. Nur bei diesem Preis befindet sich die Menge, die die Eigentümer des Produktionsfaktors anzubieten gewillt sind, im Gleichgewicht mit der Menge, die die Käufer kaufen wollen. Skalpell und Fritteuse Wenden wir doch die bisher erörterten Konzepte auf zwei Faktormärkte an, um zu sehen, warum die Einkommensdisparitäten eigentlich so groß sind. Abbildung 12-6 zeigt die Marktsituation für zwei Arten von Arbeit – diejenige von Chirurgen und jene von Arbeitern in Fast-Food-Restaurants. Das Angebot an Chirurgen ist infolge der hohen Zutrittshürden für diesen Beruf, wie Praxiszulassung sowie Länge und Kosten des Studiums und der Ausbildung, sehr begrenzt. Aus diesem Grund gibt es im gesamten Staatsgebiet der USA nur etwa 50.000 praktizierende Chirurgen. Die Nachfrage nach chirurgischen
Eingriffen steigt ebenso wie jene nach anderen Gesundheitsdienstleistungen rapide an. Die Folge davon ist, dass Chirurgen ein durchschnittliches Jahreseinkommen von US-$ 240.000 beziehen. Und die weiter steigende Nachfrage wird das Einkommen von Chirurgen auch in Zukunft drastisch in die Höhe treiben, während beim Output nur wenig Zuwachs zu erwarten ist. Am anderen Ende der Einkommensskala stehen beispielsweise die Niedriglohnjobs in Fast-Food-Ketten. Diese Jobs erfordern keine besondere Fähigkeit oder Ausbildung und stehen praktisch jedermann offen. Das Angebot ist hoch elastisch, und die Beschäftigung nahm im Zeitraum von 1991 bis 2001 um fast 2 Millionen Arbeiter zu. Die Löhne liegen hier knapp über dem Mindestlohn, was auf den problemlosen Marktzutritt zurückzuführen ist, und der durchschnittliche Vollzeitbeschäftigte in einem Fast-Food-Restaurant verdient US-$ 9.500 jährlich. Was aber sind die Gründe für diese enorme Einkommensdifferenz zwischen Chirurgen und Hamburgerverkäufern? Hauptsächlich wohl die Qualität der Arbeit, nicht die Anzahl der Arbeitsstunden.
Die Reichen und die anderen Würden Sie zu den reichsten Amerikanern zählen, so verfügten Sie vielleicht über ein Einkommen von US-$ 50 Millionen aus Zinsen, Dividenden und anderen Besitzeinkünften, während der durchschnittliche amerikanische Haushalt aus seinem Geldvermögen weniger als US-$ 1.000 an jährlichen Einkünften erwirtschaftet. Abbildung 12-7 erklärt diesen Unterschied. Die Rendite von Aktien oder Anleihen ist für die Reichsten kaum höher als für die Mittelklasse. Doch die Reichen haben eine viel größere Vermögensbasis, die Gewinne abwirft. Die schattierten Rechtecke in Abbildung 12-7 zeigen die Kapitaleinkommen der beiden Gruppen. Machen Sie sich unbedingt bewusst, dass es die Höhe des Vermögens und nicht so sehr die Höhe der Rendite ist, die das Rechteck der Reichsten so groß macht.
342
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Diese beiden Beispiele zeigen, wie Faktorpreise und individuelle Einkommen von den zugrunde liegenden Marktkräften bestimmt werden. Angebot und Nachfrage wirken dahingehend, dass hohe Faktorrenditen dort zu erwarten sind, wo Produktionsfaktoren entweder beschränkt angeboten oder stark nachgefragt werden, was sich im hohen Wertgrenzprodukt widerspiegelt. Wenn ein Faktor wie Chirurgen knapper wird – vielleicht weil die Ausbildungsanforderungen verschärft werden –, steigt der Preis dieses Faktors, und die Chirurgen können sich über höhere Ein-
Teil 3
künfte freuen. Wenn jedoch die Nachfrage auf einem Gebiet wie etwa der Psychiatrie zurückgeht – vielleicht weil die Versicherungsgesellschaften beschließen, ab sofort nur noch einen geringeren Kostenanteil zu übernehmen, oder weil ein vergleichbares Substitutionsangebot durch Sozialarbeiter und Psychologen Patienten von ihnen weglockt, oder einfach, weil die Patienten verstärkt zu Medikamenten greifen, anstatt zum Psychiater zu gehen –, sinken die Einkommen der Psychiater. Der Wettbewerb gibt und der Wettbewerb nimmt.
(a) Arbeitsmarkt für Chirurgen
(b) Arbeitsmarkt für Arbeiter in Fast-Food-Restaurants
S W DS S
W
ES DF
Stundeneinkünfte
Stundeneinkünfte
WS*
DS
EF
WF*
DF L
L LS*
Arbeitsangebot
SF
Arbeitsangebot
LF*
Abbildung 12-6: Die Arbeitsmärkte für Chirurgen und Arbeiter in Fast-Food-Restaurants In (a) sehen wir die Auswirkungen eines begrenzten Angebots an Chirurgen: geringe Zahl und hohe Einkünfte der Chirurgen. Welche Auswirkungen auf die Gesamteinkünfte von Chirurgen und den Preis einer Operation hätte wohl eine alternde Bevölkerung, die eine erhöhte Nachfrage nach Chirurgen bewirkt? In (b) ermöglichen der offene Marktzutritt und die geringen Ausbildungserfordernisse ein besonders elastisches Angebot von Fast-Food-Arbeitern. Die Löhne werden gedrückt, und der Beschäftigungsstand ist hoch. Welche Auswirkungen auf Löhne und Beschäftigungsstand würden sich bei vermehrtem Zustrom von Teenagern in diese Jobs ergeben?
343
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
(a) Forbes 400
(b) Mittelklasse SM
i*R
DR
Rendite
Rendite
SR
i*M DM
KR
0 Vermögen
K*R
KM
0 K*M
Vermögen
Abbildung 12-7: Unterschiede in den Vermögenseinkünften Diese Abbildung zeigt die Nachfrage- und Angebotsfunktion für das Vermögen der Superreichen und des Mittelstandes. Die horizontale Achse zeigt das Gesamtvermögen, während auf der vertikalen Achse die Vermögensrendite dargestellt ist. Der schattierte Bereich ist r W oder das gesamte Besitzeinkommen. Warum ist das schattierte Rechteck der Reichen um so viel größer als das der Mittelklasse? Der Grund liegt in erster Linie darin, dass das Vermögen der Reichen (KR) um ein Vielfaches größer ist als das der Mittelklasse.
Die Verteilung des Volkseinkommens Mit unserem neuen Verständnis der Grenzproduktivitätstheorie können wir uns nun erneut der Frage zuwenden, die wir zu Beginn dieses Kapitels gestellt haben. Wie sorgen die Märkte in einer Welt intensiven Wettbewerbs für die Aufteilung des Volkseinkommens auf die vielen Produktionsfaktoren? Eine vereinfachte Theorie der Faktoreinkommensverteilung wurde erstmals von dem bekannten Ökonomen John Bates Clark entwickelt, der um 1900 an der Columbia University lehrte. Sie lässt sich auf eine ganze Reihe von Wirtschaftsgütern und Produktionsfaktoren auf vollkommenen Märkten anwenden. Am besten ist sie jedoch zu verstehen, wenn wir uns eine vereinfachte Welt mit nur einem einzigen Produkt vorstellen, in der die Buchführung in Sachwerten erfolgt, das heißt anhand von Gütern. Bei diesen Gütern könnte es sich um Mais oder um
einen Korb verschiedener Güter und Dienstleistungen handeln. Wir nennen sie auf jeden Fall Q. Indem wir den Preis darüber hinaus mit 1 festsetzen, können wir die gesamte Darstellung in Sachwerten vornehmen, wobei der Produktionswert Q entspricht und die Löhne dem Sachlohn in Form von Gütern oder Q entsprechen. In dieser Situation zeigt uns eine Produktionsfunktion an, wie viel Q mit jeder Menge Arbeitsstunden L und wie viel mit jeder Flächenmenge homogenen Bodens A produziert wird. Da P = 1, gilt bei vollständigem Wettbewerb MRP = MP P = MP 1 = MP. Der Lohn ist daher MPL. Clark argumentiert folgendermaßen: Ein erster Arbeiter erwirtschaftet ein hohes Grenzprodukt, weil er eine sehr große Menge an Boden zu bearbeiten hat. Das Grenzprodukt von Arbeiter 2 ist bereits kleiner. Doch die beiden Arbeiter sind gleichwertig, sie müssen also denselben Lohn bekommen. Die Frage ist nur, welchen? Das MP von Arbeiter 1, das von Arbeiter 2 oder den Durchschnitt aus diesen beiden Werten?
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Unter den Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs ist die Antwort eindeutig: Der Grundeigentümer wird keinen Arbeiter einstellen, wenn der Marktlohn, den er ihm zahlen müsste, über dem Grenzprodukt dieses Arbeiters liegt. So sorgt der Wettbewerb dafür, dass alle Arbeiter einen Lohn erhalten, der dem Grenzprodukt des letzten Arbeiters entspricht. Doch nun entsteht ein Überschuss des Gesamtproduktionsergebnisses gegenüber den Löhnen, weil die früheren Arbeiter höhere MPs hatten als der letzte Arbeiter. Was geschieht mit den höheren MPs, die von allen früheren Arbeitern erarbeitet werden? Dieser Überschuss verbleibt dem Grundeigentümer als Residualeinkommen, das wir später als Rente bezeichnen werden. Warum, so könnten Sie fragen, verdienen die Grundeigentümer, die irgendwo auf ihren Yachten Tausende von Meilen entfernt sitzen können, überhaupt etwas mit ihrem Boden? Die Antwort lautet, dass jeder Grundeigentümer ein Marktteilnehmer auf dem Wettbewerbsmarkt für Grund und Boden ist und dass er seinen Boden zum besten Preis verpachtet. So wie die Arbeiter untereinander um Jobs konkurrieren, konkurrieren die Grundeigentümer untereinander um die Arbeiter. Wir sehen, dass es in Clarks Wettbewerbswelt keine Gewerkschaften gibt, die über die Höhe der Löhne wachen, keine Absprachen zwischen Grundeigentümern zur Ausbeutung der Arbeiter und sicherlich keine besondere Fairness der Löhne und der Renten – hier wird einfach das Prinzip von Angebot und Nachfrage wirksam. Wir haben somit die gesamten an alle Arbeiter ausbezahlten Löhne ermittelt. Abbildung 12-8 zeigt, dass die Grenzproduktkurve der Arbeit die Nachfragekurve aller Arbeitgeber, ausgedrückt in Reallöhnen, ergibt. Das Angebot an Arbeit (dargestellt als SS) wird von den Faktoren des Arbeitsangebots bestimmt. Der Gleichgewichtslohn stellt sich bei E ein. Die gesamten an die Arbeiter ausbezahlten Löhne ergeben sich durch W L (wenn z.B. W = 5 und L = 1.000.000, betragen die Gesamtlöhne = 5.000.000); dies
Teil 3
wird durch den dunklen Bereich des Rechtecks, 0SEN, dargestellt. Das Überraschende daran ist, dass wir auch das Renteneinkommen aus dem Grundbesitz ermitteln können. Das hellrostfarbene Rentendreieck NDE in Abbildung 12-8 misst das gesamte zusätzliche Produktionsergebnis, das zwar produziert, aber nicht in Form von Löhnen ausbezahlt wurde. Die Größe des Rentendreiecks bestimmt sich danach, wie sehr das MP der Arbeit abnimmt, wenn zusätzliche Arbeitsleistung eingesetzt wird – das heißt durch das Ausmaß der abnehmenden Grenzerträge. Bei einigen wenigen qualitativ hochwertigen Flächeneinheiten weisen zusätzliche Arbeitseinheiten drastisch abnehmende Grenzerträge auf, und der Anteil der Grundeigentümerrente ist hoch. Wenn dagegen eine große Fläche homogenen WaldboW S D Grenzprodukt der Arbeit Grenzprodukt, Lohn
344
Bodenrente
E
N D Löhne
S 0
L
Arbeitsmenge
Abbildung 12-8: Die Grenzproduktkurve bestimmt die Einkommensverteilung auf die Produktionsfaktoren Jeder vertikale Streifen stellt das Grenzprodukt der jeweiligen Arbeitseinheit dar. Die gesamte nationale Produktionsleistung 0DES wird ermittelt, indem alle vertikalen Streifen von MP bis zum Arbeitsgesamtangebot in S addiert werden. Die Produktionsverteilung leitet sich aus der Grenzproduktkurve ab. Die Gesamtlöhne bilden das untere Rechteck (entsprechend Lohn 0N mal Arbeitsmenge 0S). Das verbleibende Dreieck NDE entspricht der Bodenrente.
345
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
dens zur Verfügung steht, der erst gerodet werden muss, ist die Tendenz zur Abnahme der Grenzerträge gering, und das Rentendreieck für dieses noch ungerodete Land wird winzig klein sein. In Abbildung 12-8 haben wir die Lohnsumme etwa dreimal so hoch wie die Grundeigentümerrente eingezeichnet. Dieses 3:1-Verhältnis spiegelt die Tatsache wider, dass Arbeitseinkommen ca. drei Viertel des Volkseinkommens ausmachen.
Grenzproduktivitätstheorie bei einer Vielzahl von Produktionsfaktoren Die Grenzproduktivitätstheorie ist ein wichtiger Schritt zum Verständnis der Preisbildung bei den verschiedenen Produktionsfaktoren. Bitte beachten Sie außerdem, dass die Positionen Boden und Arbeit auch vertauscht werden können, sodass man zu einer umfassenden Verteilungstheorie gelangt. Um die Funktionen von Arbeit und Boden zu vertauschen, hält man die Arbeit konstant und fügt zusätzliche variable Einheiten an Boden zu einem fixen Arbeitseinsatz hinzu. Berechnen Sie die Grenzprodukte für jede zusätzliche Bodeneinheit. Zeichnen Sie nun eine Nachfragekurve, aus der ersichtlich wird, wie viele Flächeneinheiten Boden die Inhaber des Faktors Arbeit bei der jeweiligen Rentenhöhe nachfragen werden. Bestimmen Sie in der neuen Version der Abbildung 12-8, die Sie zeichnen, einen neuen Gleichgewichtspunkt E'. Ermitteln Sie das Rentenrechteck des Bodens, das durch Rente mal Bodenmenge bestimmt wird. Ermitteln Sie das Dreieck für die Residualeinkommen aus den Arbeitslöhnen. Und beachten Sie schließlich bitte auch die vollkommene Symmetrie der Faktoren. Dieses neue Diagramm zeigt uns, dass die Verteilungsanteile jedes einzelnen Produktionsfaktors von deren wechselseitig abhängigen Grenzprodukten bestimmt werden.
Doch damit nicht genug. Anstelle von Arbeit und Boden können wir auch annehmen, dass die einzigen beiden Faktoren Arbeit und einige flexible Kapitalgüter wären. Nehmen wir an, eine geglättete Produktionsfunktion setzt Q in eine Beziehung zu Arbeit und Kapital, die durch dieselben Grundeigenschaften bestimmt ist wie in Abbildung 12-8. In diesem Fall können Sie Abbildung 12-8 neu zeichnen, und Sie erhalten ein gleiches Bild für die Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital. Dieselbe Vorgangsweise können wir auch bei drei, vier und sogar jeder beliebigen Anzahl von Produktionsfaktoren anwenden. Auf vollkommenen Märkten wird die Inputnachfrage durch die Grenzprodukte der Produktionsfaktoren bestimmt. Im vereinfachten Fall, in dem die Faktoren in Form des einzigen Outputs bezahlt werden, erhalten wir folgende Gleichung: Lohn = Grenzprodukt der Arbeit Rente = Grenzprodukt des Bodens und so weiter für jeden Produktionsfaktor. Damit werden genau 100 Prozent des Produktionsergebnisses bzw. der produzierten Menge unter allen Produktionsfaktoren verteilt, nicht mehr und nicht weniger. Wir erkennen daher, dass die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Einkommensverteilung mit der Preisbildung jeder beliebigen Anzahl von Gütern, die mit jeder beliebigen Anzahl von Produktionsfaktoren erzeugt werden, unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen in Einklang steht. Diese so einfache, aber bedeutende Theorie zeigt uns, dass die Einkommensverteilung in einer vollkommenen Marktwirtschaft an die Produktivität gebunden ist. Da wir nun die allgemeinen Prinzipien verstehen, die der Preisbildung der Produktionsfaktoren und der Einkommensverteilung zugrunde liegen, können wir uns einer eingehenderen Diskussion der drei wichtigsten Faktormärkte Boden, Arbeit und Kapital zuwenden.
346
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Eine unsichtbare Hand für die Einkommen? Wir haben nun skizziert, wie eine vollkommene Wettbewerbswirtschaft das Sozialprodukt in einer vereinfachten Welt auf die verschiedenen Produktionsfaktoren aufteilt. Die Menschen fragen sich natürlich: Sind die Einkommen in einer Marktwirtschaft fair und gerecht? In gewissem Sinn ist das wie die Frage, ob die Tiere wohl ihren gerechten Anteil an dem im Dschungel verfügbaren Futter erhalten. Wie die Nahrungsmittel im Dschungel in Kämpfen verteilt werden, die keinen Bedacht auf richtig oder falsch nehmen, verteilt ein Wettbewerbsmarkt Löhne und Gewinne nach der Produktivität und nicht nach ethischen Gesichtspunkten. Waltet in dem Markt eine unsichtbare Hand, die dafür sorgt, dass die Verdientesten unter uns ihren gerechten Lohn erhalten? Oder dass jene, die endlose Überstunden und schlaflose Nächte oder ganze Wochenenden in mühselige oder gefährliche Tätigkeiten investieren, auf einen entsprechenden Lebensstandard zählen können? Oder dass jene, die ohne Ende in Entwicklungsländern schuften, mit einer entsprechenden Lebensqualität belohnt werden?
Teil 3
In der Realität bieten vollkommene Märkte keine Garantie dafür, dass Einkommen und Konsum den Bedürftigsten oder den Verdienstvollsten unter uns zufallen. Ein Laissez-faire-Wettbewerb kann zu großer Ungerechtigkeit führen, wie zum Beispiel zu mangelernährten Kindern, die als Erwachsene wiederum mangelernährte Kinder in die Welt setzen, und zu einer Verstetigung der Ungleichheit von Einkommen und Wohlstand auf Generationen hinaus. Es gibt kein volkswirtschaftliches Gesetz, dass dafür sorgt, dass die armen afrikanischen Länder mit den reichen Ländern Nordamerikas und Westeuropas gleichziehen. Die Reichen können noch gesünder und reicher werden, während die Armen noch stärker von Krankheit und Armut heimgesucht werden. In einer Marktwirtschaft spiegelt die Verteilung von Einkommen und Konsum nicht nur harte Arbeit, Einfallsreichtum und Klugheit wider, sondern auch Faktoren wie Rasse, Geschlecht, Standort, Gesundheit und Glück. Während der Markt Wunder wirken kann, indem er auf effiziente Weise eine wachsende Palette von Gütern und Dienstleistungen produziert, existiert keine unsichtbare Hand, die dafür sorgt, dass eine Laissez-faire-Wirtschaft Einkommen und Wohlstand gerecht verteilt.
Zusammenfassung A. Einkommen und Vermögen 1.
2.
Die Verteilungstheorie befasst sich mit der grundlegenden Frage, für wen die Wirtschaftsgüter erzeugt werden sollen. Bei der Untersuchung, wie sich die Preise der einzelnen Produktionsfaktoren – Boden, Arbeit und Kapital – auf dem Markt bilden, interessiert sich die Verteilungstheorie dafür, wie Faktorangebot und nachfrage miteinander verbunden sind und wie dadurch alle Arten von Löhnen, Renten, Zinssätzen und Gewinnen bestimmt werden. Der Begriff Einkommen bezeichnet die gesamten baren und unbaren Einkünfte einer Einzelperson oder eines Haushaltes während eines bestimmten Zeitraums (üblicherweise ein
3.
Jahr). Das Einkommen setzt sich aus Einkünften aus Arbeit, Besitz und staatlichen Transferzahlungen zusammen. Das Volkseinkommen besteht aus sämtlichen Einkünften aus Arbeit und Besitz, die durch die Wirtschaft in einem Jahr erwirtschaftet wurden. Der Staat schöpft einen gewissen Teil dieses Volkseinkommens in Form von Steuern ab und gibt diese Einnahmen teilweise in Form von Transferzahlungen an die Bürger zurück. Das persönliche Einkommen einer Einzelperson nach Steuern umfasst die Erträge aus allen Produktionsfaktoren – Arbeit und Besitz –, die dieser Person gehören, zuzüglich der vom Staat erhaltenen Transferzahlungen, abzüglich der geleisteten Steuern.
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
4.
Mit Vermögen bezeichnen wir den Nettogeldwert der Vermögenswerte, die jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Vermögen ist eine Bestandsgröße, während das Einkommen eine Flussgröße darstellt. Zum Vermögen eines Haushalts zählen Sachpositionen wie Häuser und Geldpositionen wie Anleihen. Alle diese Positionen gemeinsam werden als Vermögenswerte bezeichnet, während all das, was anderen geschuldet wird, Verbindlichkeiten darstellt. Die Differenz zwischen Gesamtvermögen und Gesamtverbindlichkeiten wird als Reinvermögen oder Eigenkapital bezeichnet.
B. Grenzproduktivität und Faktorpreise 5.
6.
7.
Um die Preise verschiedener Produktionsfaktoren verstehen zu können, müssen wir die Produktionstheorie und die daraus abgeleitete Faktornachfrage analysieren. Die Nachfrage nach Inputs ist eine derivative oder abgeleitete Nachfrage: Wir fragen Pizzaöfen nicht um ihrer selbst willen nach, sondern wegen der Pizzas, die damit für die Konsumenten produziert werden können. Die Faktornachfragekurven werden aus den Nachfragekurven für Endprodukte abgeleitet. Eine Aufwärtsverschiebung der Nachfragekurve nach dem Endprodukt verursacht eine entsprechende Aufwärtsverschiebung der abgeleiteten Faktornachfragekurve; eine geringere Elastizität in der Güternachfrage führt zu einer geringeren Elastizität der derivativen Faktornachfrage. Wir haben uns bereits in früheren Kapiteln mit den Konzepten der Produktionsfunktion und der Grenzprodukte auseinander gesetzt. Die Nachfrage nach einem Faktor wird von seinem Wertgrenzprodukt (MRP) abgeleitet, das als jener zusätzliche Erlös definiert wird, der durch den Einsatz einer zusätzlichen Faktoreinheit erzielt wird. Auf jedem Markt entspricht das MRP eines Faktors dem Grenzerlös, der durch den Verkauf einer zusätzlichen Produkteinheit, multipliziert mit dem Grenzprodukt eines Produktionsfaktors, erzielt wird (MRP = MR MP). Für Unternehmen im vollständigen Wettbewerb kann diese Formel auf MRP = P MP vereinfacht werden, da der Preis dem Grenzerlös entspricht. Ein Unternehmen erzielt Gewinnmaximierung (und Kostenminimierung), wenn es das MRP jedes Produktionsfaktors mit den Faktorgrenzkosten, also dem Faktorpreis, gleichsetzt. Das-
347
selbe lässt sich auch als Bedingung formulieren, wobei das MRP pro Geldeinheit Input für jeden Produktionsfaktor gleichgesetzt wird. Diese Bedingung muss im Gleichgewicht gelten, weil ein Arbeitgeber, der sich um Gewinnmaximierung bemüht, jeden Produktionsfaktor bis zu jenem Ausmaß einsetzt, bei dem das Grenzprodukt des Produktionsfaktors so viel an wertmäßigem Grenzerlös einbringt, wie der Faktor kostet. 8. Um die Marktnachfragekurve für einen Faktor zu ermitteln, addieren wir die Nachfragekurven aller Unternehmen horizontal. Diese bestimmt zusammen mit der speziellen Angebotskurve des einzelnen Faktors das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Zum Marktpreis des Produktionsfaktors sind nachgefragte und angebotene Mengen absolut gleich – nur im Gleichgewicht ist der Faktorpreis stabil und tendiert zu keinerlei Veränderungen. 9. Die Grenzproduktivitätstheorie der Einkommensverteilung analysiert die Art und Weise, wie das gesamte Volkseinkommen auf die verschiedenen Produktionsfaktoren verteilt wird. Der Wettbewerb unter den zahlreichen Grundbesitzern und Arbeitern führt zu einer Faktorpreisentwicklung in Richtung ihrer jeweiligen Grenzprodukte. Dieser Prozess bewirkt die Verteilung der gesamten 100 Prozent des Produktionsergebnisses. Jeder Produktionsfaktor, nicht nur die Arbeit, kann ein variabler Faktor sein. Da jede Faktoreinheit nur in Höhe des MPs der letzten eingesetzten Einheit bezahlt wird, kommt es zu einem Residualüberschuss an Output, der von den MPs früherer Inputs übrig bleibt. Dieser Restwert entspricht bei einer Preisbildung nach der Grenzproduktivität genau den Einkommen der anderen Produktionsfaktoren. Daher ergibt die Grenzproduktivitätstheorie der Einkommensverteilung, auch wenn es sich um ein vereinfachtes Modell handelt, ein logisch vollständiges Bild der Verteilung des Volkseinkommens unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs. 10. Auch wenn eine Wettbewerbswirtschaft die größtmögliche Menge Brot aus ihren Ressourcen quetschen kann, bleibt ein wesentlicher Vorbehalt gegen die Marktwirtschaft bestehen. Wir haben keine Veranlassung zu glauben, dass die Einkommen im Laissez-faire-Kapitalismus gerecht verteilt werden. Die Markteinkommen können akzeptable Differenzen oder enorme Ungerechtigkeiten in der Verteilung von Einkommen und Wohlstand produzieren, die auf Generationen hinaus anhalten können.
348
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
Begriffe zur Wiederholung Einkommensverteilung Einkommen (Fluss), Wohlstand (Bestand) Volkseinkommen Transferzahlungen Persönliches Einkommen Grenzprodukt, Wertgrenzprodukt, abgeleitete Nachfrage Wertgrenzprodukt des Produktionsfaktors i = MRPi = MR x MPi = P x MP bei Unternehmen im vollständigen Wettbewerb Verteilungstheorie MP-Rechteck, Dreieck der Residualrente Faktornachfrage im Wettbewerb: MPi x P = Faktorpreis, woraus sich die Minimalkostenregel ableitet: MPL MPA = = … PL PA =
1 Grenzerlös
Gerechtigkeit der Markteinkommen
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Bradley R. Schiller, The Economics of Poverty and Discrimination (Prentice-Hall, New York, 1998) bietet einen umfassenden Einblick in Einkommensverteilung und die Entstehung von Armut.
Websites Informationen über die Einkommensverteilung werden vom Census Bureau erhoben und unter www. census.gov/hhes/www/income.html veröffentlicht. Die umfassendsten bevölkerungsstatistischen Daten werden im Rahmen der alle zehn Jahre durchgeführten Volkszählung erhoben, deren Ergebnisse unter www.census.gov einsehbar sind. Wenn Sie sich für Daten zum Thema Einkommensdynamik interessieren, ist die Website über die Panel Study on Income Dynamics unter www.isr.umich.edu/src/psid zu empfehlen.
Übungen 1.
2.
Benennen Sie für jeden der folgenden Produktionsfaktoren das Endprodukt, aus dem sich seine abgeleitete Nachfrage ergibt: Ackerland, Benzin, Friseur, Produktionswerkzeuge für Basketbälle, Weinpresse, Volkswirtschaftslehrbuch. Tabelle 12-4 enthält die grundlegenden Zahlen für die Pizzaproduktion unter der Annahme, dass alle anderen Faktoren konstant bleiben. a. Füllen Sie die leeren Zeilen in den Spalten (3) und (5) aus. b. Erstellen Sie ein Diagramm wie das von Abbildung 12-3, aus dem das Wertgrenz-
3.
produkt von Pizzabäckern und die Arbeitsinputs hervorgehen. c. Wenn der Lohn der Pizzabäcker US-$ 30 pro Bäcker beträgt, wie viele Bäcker werden dann eingestellt? d. Nehmen Sie an, dass sich der Pizzapreis verdoppelt. Zeichnen Sie die neue MRP-Kurve. Schätzen Sie die Auswirkungen auf die Beschäftigung von Pizzabäckern unter der Annahme, dass alles andere gleich bleibt. Im vergangenen Jahrhundert ging die Zahl der Arbeitsstunden, auf die Lebenszeit umgerech-
Kapitel 12 Wie Märkte die Einkommen bestimmen
4.
5.
6.
net, um ca. 50 Prozent zurück, während die Realeinkommen um das Achtfache stiegen. Zeichnen Sie für die Jahre 1900 und 2000 Arbeitsangebots- und Nachfragediagramme, die diese Tendenz darstellen, wobei Sie unterstellen, dass die wichtigste Änderung in einer Steigerung der Grenzproduktivität der Arbeit bestand. Zeichnen Sie in Ihren Diagrammen die Zahl der Arbeitsstunden (auf die Lebenszeit gerechnet) auf der horizontalen und die Reallohnrate auf der vertikalen Achse ein. Welchen Schlüsselfaktor des Arbeitsangebots müssen Sie heranziehen, um diesen historischen Trend zu erklären? Warum ist jede der folgenden Aussagen falsch? Stellen Sie sie richtig. a. Das Wertgrenzprodukt wird als der von jedem Arbeitnehmer verdiente Gesamtertrag berechnet. b. Die Verteilungstheorie ist einfach. Sie stellen einfach fest, wie viel jeder Faktor produziert, und ordnen dem Faktor dann seinen Output-Anteil zu. c. Unter Wettbewerbsbedingungen bestimmt sich der Lohn der Arbeitskräfte anhand der von ihnen erzeugten Produktionsmenge abzüglich der Kosten für die Rohmaterialien. Abbildung 12-1 zeigt, dass sich der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen von 1948 bis 2003 nur wenig verändert hat, obwohl das BIP in diesem Zeitraum um 600 Prozent gestiegen ist. Zeichnen Sie zur Erklärung dieser beider Fakten Kurven wie jene von Abbildung 12-8 für die gesamte Volkswirtschaft. Arbeiterführer haben immer wieder verlangt: „Ohne Arbeit keine Produktion. Daher muss die gesamte Produktion den Arbeitern zugute kommen.“ Vertreter des Kapitals könnten einwenden: „Ohne Kapitalgüter brächte die vereinigte Arbeiterschaft überhaupt nichts zustande. Eigentlich gebührt dem Kapital die gesamte Produktion.“
7.
8.
9.
349 Analysieren Sie, was an den beiden Aussagen jeweils falsch ist. Weisen Sie nach, dass, wollten wir uns diesen Argumenten anschließen, 200 oder 300 Prozent der Produktion auf zwei oder drei Produktionsfaktoren entfallen müssten, obwohl es doch nur 100 Prozent zu verteilen gibt. Wie kann die Grenzproduktivitätstheorie von Clark diesen Streit schlichten? Zeichnen Sie die Angebots- und Nachfragekurven für den Ölmarkt. Nehmen wir nun an, ein neues Elektroauto würde die Nachfrage nach Rohöl verringern. Zeichnen Sie die neue Nachfragekurve und das neue Gleichgewicht ein. Beschreiben Sie das Ergebnis einer solchen Entwicklung anhand des Ölpreises, des Ölverbrauchs und des Gesamteinkommens der Ölproduzenten. Studieren Sie die Grenzproduktivitätstheorie der Einkommensverteilung, die in Abbildung 12-8 dargestellt ist. Steigt das Arbeitsangebot wegen einer starken Einwanderungsbewegung, wandert die Wirtschaft entlang der Arbeitsnachfragekurve nach unten. Sinken damit auch die Löhne? (Zeigen Sie, dass die Antwort ja lauten muss.) Steigen die Residualeinkommen aus Boden, Kapital und anderen Faktoren? (Zeigen Sie auch hier, dass die Antwort ja lauten muss.) Können Sie angeben, wie sich der absolute Gesamtwert des Arbeitsrechtecks sowie der Anteil der Arbeitseinkommen am Gesamteinkommen entwickeln? Setzen Sie in der Grenzproduktivitätstheorie in Abbildung 12-8 Boden anstelle von Arbeit als variablen Input ein. Zeichnen Sie die Abbildung neu und erklären Sie die Theorie mithilfe dieses neuen Diagramms. Was ist der Residualfaktor?
350
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
Wertgrenzprodukt (1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Arbeitseinheit
Gesamtprodukt (in Pizzas)
Grenzprodukt der Arbeit (Pizzas pro Arbeitskaft)
Güterpreis (US-$ pro Pizza)
Wertgrenzprodukt der Arbeit (US-$ pro Arbeitskraft)
0
0 —
5
—
—
5
—
—
5
—
—
5
—
—
5
—
—
5
—
1 2 3 4 5 6 Tabelle 12-4.
30 50 60 65 68 68
351
KAPITEL 13 Der Arbeitsmarkt
Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klasse. Oscar Wilde
Arbeit ist mehr als ein abstrakter Produktionsfaktor. Arbeit wird von Menschen verrichtet, und diese wünschen sich gute Jobs und hohe Löhne, damit sie die Dinge, die sie benötigen und haben möchten, auch kaufen können. Sie müssen essen, aber sie sind auch gefühlsbegabte Wesen, also machen sie sich Sorgen sowohl über das Angebot an Arbeitsplätzen als auch über deren Qualität. In diesem Kapitel wollen wir untersuchen, wie sich in einer Marktwirtschaft die Löhne bilden. Der erste Abschnitt beschäftigt sich daher mit dem Arbeitsangebot und der Bildung der Löhne unter Wettbewerbsbedingungen. Im Anschluss erörtern wir einige nicht durch den Wettbewerb bestimmte Elemente des Arbeitsmarktes, darunter das Thema Gewerkschaften und das heikle Problem der Arbeitsmarktdiskriminierung.
A. Die Grundlagen der Lohnbildung Allgemeines Lohnniveau In der Lohnanalyse tendieren Ökonomen dazu, den durchschnittlichen Reallohn heranzuziehen, der die Kaufkraft eines Stundenlohns oder den Lohn, dividiert durch die Lebenshaltungskosten, darstellt.1 So betrachtet sind US-amerikanische Arbeitnehmer heute deutlich besser dran als vor 100 Jahren. Abbildung 13-1 zeigt die Entwicklung des realen (inflationsbereinigten) Durchschnittsstundenlohns in US-Dollar sowie der durchschnittlichen Arbeitszeit. Die Arbeiternehmer aller Industriestaaten konnten drastische Zugewinne verzeichnen. Überall in Westeuropa, Japan und in den sich rasch industrialisierenden Ländern des Fernen Ostens lässt sich eine kontinuierliche, 1 In diesem Kapitel verwenden wir den Begriff „Löhne“ meist zusammenfassend für Löhne, Gehälter und sonstige Entlohnungsformen.
352
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
1000 900 800 700 600 500
Teil 3
Stundenlöhne (US-$, konstant)
400
Prozentsatz 1890
300 200
100 90 80 70 60 Durchschnittliche Arbeitszeit
1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 Jahr
Abbildung 13-1: Die Löhne sind bei sinkender Arbeitszeit gestiegen Angesichts der heute fortschrittlicheren Technologien und besserer Kapitalgüter genießen US-amerikanische Arbeitnehmer höhere Löhne, obwohl sie kürzer arbeiten. Die langsameren Produktivitätszuwächse der letzten beiden Jahrzehnte haben zu einer Eindämmung des Reallohnwachstums geführt.
langfristige Erhöhung der Kaufkraft der Arbeiternehmer feststellen, die sich heute mehr Nahrung, Kleidung und Wohnraum leisten, gesünder leben und sich über eine höhere Lebenserwartung freuen können als in der Vergangenheit. In Europa und den USA begann dieser Aufschwung Anfang des 19. Jahrhunderts mit den umfassenden technologischen und sozialen Veränderungen im Gefolge der Industriellen Revolution. Dagegen war die Reallohnentwicklung vor der Industrialisierung durch ein ständiges Auf und Ab ohne echte langfristige Zugewinne gekennzeichnet. Wir möchten hier keinesfalls behaupten, dass sich die Industrielle Revolution für die Arbeiter als reine Wohltat dargestellt hat, vor allem, wenn man die Laissez-faire-Periode im 19. Jahrhundert betrachtet. Nicht einmal die düsteren Romane von Charles Dickens
werden den entsetzlichen Bedingungen der Kinderarbeit, den Gefahren am Arbeitsplatz und den erbärmlichen sanitären Bedingungen gerecht, die in den Fabriken des 19. Jahrhunderts herrschten. Eine Arbeitswoche von 84 Stunden war die Regel, wobei Pausen nur für das Frühstück und gelegentlich für ein Mittagessen gewährt wurden. Ein großer Teil der benötigten Arbeit ließ sich schon aus Sechsjährigen herauspressen, und wenn eine Frau an einem Webstuhl zwei Finger verlor, blieben ihr immerhin noch acht. War es also ein Fehler, dass die Leute ihre landwirtschaftliche Tätigkeit aufgaben und in die Fabriken strömten? Wohl kaum. Historiker weisen darauf hin, dass sich der Lebensstandard selbst unter den schwierigen Bedingungen der beginnenden Industrialisierung gegenüber dem Agrarfeudalismus früherer Jahrhunderte deutlich verbesserte. Die In-
353
dustrielle Revolution war für die Arbeiterklasse ein Riesenschritt nach vorn, sicher kein Rückschritt. Das idyllische Bild des gesunden, fröhlichen Landlebens, bevölkert von kraftstrotzenden Freibauern und fröhlichem Gesinde, ist ein historischer Mythos, der praktisch für keine Region dieser Erde durch die statistischen Daten belegt wird.
Die Arbeitsnachfrage Unterschiede in der Grenzproduktivität Wir beginnen unsere Untersuchung des allgemeinen Lohnniveaus, indem wir die für die Arbeitsnachfrage bestimmenden Faktoren analysieren. Die Werkzeuge, die wir dazu benötigen, haben wir uns im letzten Kapitel erarbeitet, als wir feststellten, dass die Nachfrage nach einem Produktionsfaktor die Grenzproduktivität dieses Inputs widerspiegelt. Abbildung 13-2 illustriert die Grenzproduktivitätstheorie. Zu einer gegebenen Zeit und bei einem gegebenen Stand der Technologie besteht eine Beziehung zwischen der eingesetzten Arbeitsmenge und der Produktionsmenge. Aufgrund des Gesetzes der abnehmenden Grenzerträge wird durch jede zusätzlich eingesetzte Arbeitseinheit ein immer geringerer Anstieg der Produktionsmenge erzielt. In unserem Beispiel in Abbildung 13-2 liegt das unter Wettbewerbsbedingungen gebildete Lohnniveau bei einer Menge von 10 Arbeitseinheiten und US-$ 20 je Einheit. Doch wir sollten noch ein wenig tiefer in die Materie eindringen und uns fragen, was sich hinter dem Grenzprodukt verbirgt. So steigt erstens die Grenzproduktivität, wenn Arbeitnehmer über mehr oder bessere Kapitalgüter verfügen, mit denen sie arbeiten können. Man vergleiche dazu nur die Produktivität eines Deichgräbers, der einen Bulldozer verwendet, mit der Grableistung eines
Grenzprodukt, Reallohn (in US-$ pro Arbeitseinheit)
Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
D
20
D
L
0 10 Faktoreinsatz Arbeit
Abbildung 13-2: Die Arbeitsnachfrage spiegelt die Grenzproduktivität wider Die Arbeitsnachfrage wird von der Grenzproduktivität des Faktors Arbeit bei der Erbringung der nationalen Produktionsleistung bestimmt. Die hellgrauen, vertikal verlaufenden Streifen stellen die durch die erste, zweite, ... Arbeitseinheit erzielte zusätzliche Produktionsleistung dar. Das im Wettbewerb gebildete allgemeine Lohnniveau beträgt – entsprechend der Grenzproduktivität der zehnten Einheit – bei zehn Arbeitseinheiten US-$ 20 pro Einheit. Die Arbeitsnachfragekurve verschiebt sich im Zeitablauf mit zunehmender Kapitalakkumulation, technologischem Fortschritt und Verbesserungen der Arbeitsqualität nach rechts oben.
anderen, der mit dem Spaten ans Werk geht; der Vergleich zwischen der Kommunikationsleistung eines mittelalterlichen Herolds und der unserer heutigen E-Mail-Nachrichten bestätigt dieses Ergebnis. Und zweitens ist die Grenzproduktivität gut aus- und weitergebildeter Arbeitnehmer im Allgemeinen höher als jene von schlecht ausgebildetem „Humankapital“. Das erklärt auch, warum Löhne und Lebensstandard im 20. Jahrhundert so drastisch steigen konnten. Die Löhne sind in den USA und anderen Staaten mit gut entwickelter Wirtschaft heute deshalb so hoch, weil hier beträchtliche Kapitalbestände akkumuliert
354
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
wurden: Dichte Straßen-, Eisenbahn- und Telekommunikationsnetze, Produktionsanlagen, vielfältige maschinelle Ausstattung und entsprechende Ersatzteillager stehen den Arbeitnehmern zur Verfügung. Noch wichtiger sind die enormen technologischen Verbesserungen gegenüber früheren Zeiten. So haben Glühbirnen die Öllampe, Flugzeuge das Pferd, Kopiergeräte Tintenfass und Feder, haben Computer den Abakus und hat ECommerce traditionelle Handelsmethoden abgelöst. Überlegen Sie einmal, wie produktiv der durchschnittliche US-Amerikaner mit der Technologie des Jahres 1900 heute wäre. Die Qualität des Faktors Arbeit ist der zweite Faktor, der sich auf das allgemeine Lohnniveau auswirkt. Welchen Maßstab man auch immer heranzieht – Alphabetisierung, Schul- oder Berufsbildung –, die US-Arbeitskräfte des Jahres 2000 sind denen von 1900 haushoch überlegen. Jahrelange Schul- und Berufsausbildung ist erforderlich, um einen Ingenieur hervorzubringen, der imstande ist, komplizierte Präzisionswerkzeuge herzustellen. Ein volles Jahrzehnt ist nötig, bis ein Mensch in der Lage ist, erfolgreich eine Gehirnoperation durchzuführen. Der Anteil der erwachsenen US-Bürger, die eine CollegeAusbildung abgeschlossen haben, ist von 6 Prozent im Jahr 1950 auf 25 Prozent im Jahre 2002 gestiegen. Diese enorme Akkumulation von Humankapital bedeutet für die Arbeitsproduktivität einen großen Sprung nach vorn.
Internationaler Vergleich Anhand dieser Überlegungen lässt sich auch erklären, warum es weltweit derartige Unterschiede im Lohnniveau gibt. Betrachten wir Tabelle 13-1, in der für acht Staaten die Durchschnittslöhne samt Sozialleistungen in der industriellen Produktion ausgewiesen werden. Diese Löhne sind in den USA neunmal so hoch wie in Mexiko, in Japan 2,5-mal so hoch wie in Südkorea und in Deutschland 50-mal höher als in Sri Lanka.
Land
Teil 3
Löhne und Sozialleistungen in der verarbeitenden Industrie, 2001 (US-$ pro Stunde)
Deutschland
23,84
USA
20,32
Japan
19,59
Italien
13,76
Großbritannien
16,14
Südkorea
8,09
Mexiko
2,34
Sri Lanka
0,48
Tabelle 13-1: Das allgemeine Lohnniveau variiert von Land zu Land enorm Die westeuropäischen Länder, Japan und die Vereinigten Staaten sind Hochlohnländer, während der Stundenlohn in Sri Lanka nur einen winzigen Bruchteil des US-amerikanischen Niveaus erreicht. Das allgemeine Lohnniveau wird durch Angebot und Nachfrage gebildet, aber andere Faktoren wie Kapital, Ausbildungsstand, technologischer Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung wirken sich massiv auf die Angebots- und Nachfragekurve aus. Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics
Wie kommen derart gravierende Unterschiede zustande? Es sind nicht die Regierungen von Mexiko und Sri Lanka, die sich gegen Lohnerhöhungen sperren, obwohl die staatliche Politik schon einen gewissen Einfluss auf Mindestlöhne und andere Aspekte des Arbeitsmarktes hat. Nein, die Reallöhne variieren zwischen den verschiedenen Ländern vor allem deshalb, weil die Kräfte von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ihre Wirkung entfalten. Betrachten wir etwa Abbildung 13-3. Nehmen wir an, Abbildung 13-3(a) bezieht sich auf die Situation in den USA, während Abbildung 13-3(b) die mexikanische Situation widerspiegelt. In Abbildung 13-3(a) wird das US-Arbeitsangebot durch die Angebotskurve SUSSUS dargestellt, während die Arbeitsnachfrage durch DUSDUS wiedergegeben ist. Der Gleichgewichtslohn stellt sich auf einem Niveau von EUS ein. Läge der Lohn unter EUS, käme es zu einer Knappheit an Arbeitskräf-
355
Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
ten, und die Arbeitgeber würden durch Anhebung der Löhne auf EUS das Gleichgewicht wiederherstellen. Ähnliche Kräfte bestimmen auch EM, das mexikanische Lohnniveau. Wir erkennen, dass das mexikanische Lohnniveau vor allem deshalb unter jenem der USA liegt, weil die mexikanische Nachfragekurve nach Arbeit aufgrund der geringen Grenzproduktivität in Mexiko weitaus tiefer liegt. Der wichtigste dafür ausschlaggebende Faktor ist die Qualität der Arbeitskräfte. Das durchschnittliche Ausbildungsniveau in Mexiko liegt weit unter jenem der USA, und ein gar nicht so kleiner Prozentsatz der Bevölkerung kann nach wie vor nicht lesen und schreiben. Verglichen mit den USA verfügt ein Land wie Mexiko über sehr viel weniger Kapital, mit dem sich arbeiten lässt. Viele der Straßen Mexikos sind staubige Pisten, es gibt nur wenige Computer und Faxge-
räte, und ein Großteil der maschinellen Ausstattung ist alt und befindet sich in einem schlechten Zustand. Alle diese Faktoren senken die Grenzproduktivität der Arbeit und drücken auf die Löhne. Diese Analyse kann auch eine Erklärung dafür liefern, warum die Löhne in einzelnen Regionen Ostasiens wie Hongkong, Südkorea und Taiwan so rapide gestiegen sind. Diese Länder stecken einen erklecklichen Teil ihrer Produktionsleistung in die Ausbildung der Bevölkerung, sie investieren in neue Kapitalgüter und importieren die neuesten und produktivsten Technologien. So konnten sich die Reallöhne in den letzten 20 Jahren in diesen Regionen Asiens verdoppeln, während die Löhne in relativ isolierten Staaten, die wenig in Bildung, Gesundheit und Anlagekapital investieren, weitgehend stagnieren. (b) Mexiko
(a) USA WUS
DUS SUS
WM
Reallöhne (US-$ pro Stunde)
Reallöhne (US-$ pro Stunde)
EUS
DUS
SUS
SM DM
EM Arbeitsmenge
LUS
DM
SM Arbeitsmenge
LM
Abbildung 13-3: Die hohen US-Löhne beruhen auf einer günstigen Ressourcensituation, hohem Ausbildungsstand der Arbeitskräfte, professionellem Management, Kapitalausstattung und technologischem Fortschritt Angebot und Nachfrage führen in den USA zu einem höheren Wettbewerbslohn als in Mexiko. Die für die hohen US-Löhne ausschlaggebenden Faktoren sind die besser ausgebildeten und produktiveren Arbeitskräfte, der höhere Kapitaleinsatz je Arbeitskraft sowie die modernen Technologien.
356
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Das Arbeitsangebot
W
S
Bestimmende Faktoren für das Arbeitsangebot
C Lohnhöhe
Bisher haben wir uns auf die Nachfrageseite des Arbeitsmarktes konzentriert. Nun wenden wir uns der Angebotsseite zu. Das Arbeitsangebot entspricht der Arbeitszeit, die die Bevölkerung mit verschiedenen Erwerbstätigkeiten zubringen möchte. Die drei wesentlichen Einflussfaktoren auf das Arbeitsangebot sind Arbeitszeit, Erwerbsquote und Zuwanderung.
S L
0
Arbeitszeiten. Obwohl in manchen Bereichen eine flexible Arbeitszeit möglich ist, arbeiten die meisten US-Amerikaner ohne großen Flexibilitätsspielraum zwischen 35 und 40 Stunden wöchentlich. Trotzdem können die meisten sehr wohl auf die Zahl ihrer Lebensarbeitsstunden Einfluss nehmen. So senkt etwa die Entscheidung, eine Universität zu besuchen, frühzeitig in Pension zu gehen oder eine Teilzeitarbeit anzunehmen zumeist die Lebensarbeitszeit der Betroffenen. Andererseits kann der Entschluss, Überstunden zu machen oder noch einen zweiten Job anzunehmen, die in Stunden ausgedrückte Lebensarbeitszeit deutlich erhöhen. Nehmen wir nun an, die Löhne steigen. Führt diese Entwicklung zu einer Erhöhung oder zu einem Rückgang der Lebensarbeitszeit? Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir die Arbeitsangebotskurve in Abbildung 13-4. Beachten Sie bitte, wie sie zuerst nach rechts oben ansteigt. Dann, am kritischen Punkt C, vollzieht sie eine Wende und neigt sich rückwärts. Wie lässt sich erklären, dass höhere Löhne das Arbeitsangebot erst in die Höhe schrauben und dann wieder senken? Versetzen Sie sich in die Lage eines Arbeiters, dem gerade ein höherer Stundenlohn angeboten wurde und der selbst entscheiden kann, wie lange er arbeiten möchte. In dieser Situation fühlt er sich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite macht sich der Substitu-
Teil 3
Arbeitsmenge
Abbildung 13-4: Mit steigendem Lohn arbeiten manche Arbeitnehmer weniger Oberhalb des kritischen Punktes C verringern Lohnsteigerungen die angebotene Arbeitsmenge, weil der Einkommenseffekt gegenüber dem Substitutionseffekt überwiegt. Dies ist der Fall, da sich die Arbeitnehmer bei höheren Löhnen mehr Freizeit leisten können, obwohl jede zusätzliche Freizeitstunde immer mehr an Lohnverzicht kostet.
tionseffekt bemerkbar. (Die Wirkung des Substitutionseffekts haben wir bereits in Kapitel 5 erläutert: Die Konsumenten tendieren dazu, mehr von einem billigeren Ersatz- oder Substitutionsgut und weniger von einem anderen, verteuerten Gut zu kaufen.) Da nun jede Arbeitsstunde besser bezahlt wird, ist auch jede Stunde Freizeit teurer geworden. Es entsteht somit ein Anreiz, Freizeit durch zusätzliche Arbeit zu ersetzen. Dem Substitutionseffekt entgegen wirkt jedoch der Einkommenseffekt: Je höher der Stundenlohn, desto höher auch das Gesamteinkommen. Ein höheres Einkommen weckt den Wunsch, mehr Güter und Dienstleistungen zu kaufen, und löst ein Bedürfnis nach mehr Freizeit aus. Mit höheren Löhnen kann man länger Urlaub machen oder früher in Pension gehen, als das bei niedrigen Löhnen der Fall wäre. Doch welcher Effekt, der Substitutionsoder der Einkommenseffekt, behält schließ-
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
lich die Oberhand? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort – jeder Mensch entscheidet hier anders. In unserem Fall aus Abbildung 13-4 erhöht ein Lohnanstieg das Arbeitsangebot bis zum Punkt C. Der Substitutionseffekt ist daher stärker als der Einkommenseffekt. Ab Punkt C überwiegt aber offensichtlich der Einkommenseffekt, und das Arbeitsangebot nimmt mit weiterhin steigenden Löhnen wieder ab. Erwerbsquote. Zu den besonders dramatischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gehört die enorm gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen. Die Erwerbsquote der Frauen (also der Anteil der Frauen über 15 Jahren, die entweder arbeiten oder aktiv eine Arbeit suchen) ist von 34 im Jahre 1950 auf heute 60 Prozent angewachsen. Diese Entwicklung ist sicherlich teilweise auf die steigenden Reallöhne zurückzuführen, die eine Erwerbstätigkeit für Frauen attraktiver gemacht haben. Trotzdem lässt sich eine Veränderung dieser Größenordnung nicht allein durch volkswirtschaftliche Faktoren erklären. Um eine so tiefgreifende Verschiebung der Arbeitsmuster erklären zu können, muss man über die wirtschaftlichen Aspekte hinaus auch soziale Prozesse, die zu einer neuen Einstellung gegenüber der Rolle der Frauen als Mütter, Hausfrauen und Arbeitskräfte geführt haben, berücksichtigen. Zuwanderung. In den USA spielt die Immigration von Arbeitskräften seit jeher eine bedeutende Rolle. Während 1970 nur 5 Prozent der US-Bevölkerung im Ausland geboren waren, verdoppelte sich diese Zahl bis 2000 auf 10 Prozent. Der Einwandererzustrom wird durch ein kompliziertes Quotensystem geregelt, das gut ausgebildete Arbeitskräfte und ihre Familien, aber auch enge Verwandte amerikanischer Staatsbürger und Menschen mit einer permanenten Aufenthaltsgenehmigung bevorzugt. Zusätzlich gibt es spezielle Quoten für politische Flüchtlinge. In den letzten Jahren kamen die größten Gruppen legaler Ein-
wanderer aus Ländern wie Mexiko, China, der früheren Sowjetunion, Korea, den Philippinen, Vietnam und aus einigen der mittelamerikanischen und karibischen Länder. Der wichtigste Wandel der letzten Jahrzehnte hinsichtlich der Zuwanderung betrifft die Immigranten selbst. In den 1950er Jahren kamen die meisten neuen US-Bürger aus Deutschland und Kanada, die in den 1980er und 1990er Jahren von Mexiko und den Philippinen als wichtigste Herkunftsländer abgelöst wurden. Die zuletzt eingewanderten Gruppen sind daher schlechter ausgebildet als frühere Generationen. Aus der Perspektive des Arbeitsangebotes ist durch die jüngsten Immigrationswellen ein Überangebot ungeschulter gegenüber gut ausgebildeten Arbeitskräften in den USA entstanden. Studien zufolge hat diese angebotsseitige Veränderung zu einem Rückgang der Löhne schlecht ausgebildeter Arbeitskräfte gegenüber College-Absolventen geführt.
Empirische Feststellungen Aus der Theorie lässt sich nicht ableiten, ob das Arbeitsangebot einer bestimmten Gruppe auf Lohnänderungen positiv oder negativ reagieren wird. Bringt eine höhere Besteuerung der oberen Einkommensklassen, die sich als Senkung des Nettoeinkommens auswirkt, die Leute dazu, ein bisschen weniger zu arbeiten? Erhöht oder senkt die Subventionierung der Löhne ärmerer Bevölkerungsgruppen deren Angebot an Arbeitsstunden? Diesen wichtigen Fragen müssen sich Politiker und Gesetzgeber stellen, wenn sie sich Gedanken über Verteilungsgerechtigkeit und Effizienz machen. Allerdings ist es zu ihrer Beantwortung zumeist erforderlich, den genauen Verlauf, das heißt die Elastizität der Arbeitsangebotskurve zu kennen. Tabelle 13-2 fasst verschiedene Untersuchungen zu diesem Thema zusammen. Sie zeigt, dass die Kurve des Arbeitsangebotes männlicher Erwachsener ein wenig rückwärts geneigt ist, während die Reaktionen
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
Muster des Arbeitsangebotes Erwerbsquote der US-Bevölkerung (in %) Gruppe
1960
2002
Reaktionen des Arbeitsangebotes auf Reallohnerhöhungen
Männliche Erwachsene
86
77
Die meisten Studien ergeben eine rückwärts geneigte Angebotskurve. Der Einkommenseffekt überwiegt also gegenüber dem Substitutionseffekt. Die Angebotselastizität ist relativ gering, etwa in der Größenordnung von –0,1 bis –0,2; das bedeutet, dass ein Reallohnanstieg zu einem Rückgang des Arbeitsangebotes um 1–2 Prozent führt.
Weibliche Erwachsene
36
60
Die meisten Studien zeigen eine positive Reaktion des Arbeitsangebotes auf höhere Reallöhne.
Jugendliche
48
48
Hier schwankt die Reaktion sehr stark.
Gesamtbevölkerung ab 16 Jahren
59
67
Die Elastizität des gesamten Arbeitsangebotes liegt nahe null, wobei der Einkommenseffekt den Substitutionseffekt gerade ausgleicht. Die geschätzte Angebotselastizität des Arbeitsangebots, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, liegt zwischen 0 und 0,2.
Tabelle 13-2: Empirische Schätzungen zur Reaktion des Arbeitsangebotes auf die Reallöhne Ökonomen haben sich eingehend mit der Reaktion des Arbeitsangebotes auf die Reallöhne beschäftigt. Bei Männern erscheint die Angebotskurve deutlich rückwärts geneigt (d.h., die Elastizität ist negativ), während Teenager und erwachsene Frauen im Allgemeinen auf höhere Löhne positiv reagieren. Für die Gesamtwirtschaft verläuft die Arbeitsangebotskurve beinahe vollständig unelastisch oder vertikal. Datenquelle: US-Arbeitsministerium, Employment and Earnings, März 2003.
der anderen demografischen Gruppen eher einer konventionellen, aufwärts verlaufenden Angebotskurve entsprechen. Was die Gesamtbevölkerung betrifft, scheint das Arbeitsangebot nur sehr schwach auf Reallohnänderungen zu reagieren.
Lohnunterschiede So wichtig die Analyse des allgemeinen Lohnniveaus für den Vergleich verschiedener Länder und Perioden ist, interessieren wir uns doch auch für die vorhandenen Lohnunterschiede. In der Praxis differieren die Löhne enorm. Ein Durchschnittslohn lässt sich ebenso wenig ermitteln wie eine Durchschnittsperson. So kann ein Manager in der Autoindustrie US-$ 40 Millionen pro Jahr
verdienen, während zugleich ein Büroangestellter mit US-$ 15.000 und ein landwirtschaftlicher Arbeiter mit US-$ 12.000 nach Hause geht. Ein Arztgehalt macht bisweilen das 15- oder 20-fache eines Bademeisterlohns aus, obwohl doch beide Leben retten. In derselben Fabrik erhält ein Facharbeiter vielleicht US-$ 500 pro Woche, der Hilfsarbeiter oder Portier aber nur US-$ 200. Frauen erhalten einen Wochenlohn von US-$ 400, während ein gleich qualifizierter Mann in derselben Position US-$ 500 bekommt. Dazu kommen massive Lohnunterschiede zwischen den verschiedenen Branchen. Tabelle 13-3 zeigt die tendenziell niedrigeren Löhne in kleineren, gewerkschaftlich nicht organisierten Branchen wie Landwirtschaft, Einzelhandel oder privaten Haushalten, während größere Produktionsbetriebe das
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
Entlohnung nach Branchen Branche
Durchschnittslohn eines Vollzeitbeschäftigten, 2001* (in US-$/Jahr)
Alle
39.667
Landwirtschaft
24.657
Bergbau
60.871
Verarbeitende Industrie
45.580
Einzelhandel
23.009
Finanzen, Versicherungen und Immobilien
63.738
Börsenmakler an Aktien- und Rohstoffbörsen
161.879
Dienstleistungen
37.647
Private Haushalte
14.975
Öffentlicher Dienst
41.700
* Gesamtlohn je Vollzeitbeschäftigten-Äquivalent.
Tabelle 13-3: Die Einkommenshöhe ist branchenabhängig Die durchschnittlichen Jahreslöhne und Gehälter schwanken in den großen Wirtschaftssektoren zwischen maximal US-$ 60.871 im Bergbau und US-$ 24.657 im Niedriglohnbereich Landwirtschaft. In den kleineren Branchen sind enorme Unterschiede zwischen den Stundenlöhnen etwa von Wertpapieranalysten und Haushaltshilfen festzustellen. Quelle: U.S. Bureau of Economic Analysis, im Internet unter www.bea.gov; Tabelle 6.6C der vollständigen NIPA-Tabellen.
Doppelte bezahlen. Und auch innerhalb von Wirtschaftssektoren sind je nach Ausbildung der Arbeitskräfte und Marktbedingungen große Unterschiede zu beobachten – in einer Imbissbude verdient man deutlich weniger als in einer Arztpraxis, obwohl hier wie dort Dienstleistungen erbracht werden. Wie lassen sich diese großen Lohnunterschiede erklären? Betrachten wir zuerst einen vollkommenen Arbeitsmarkt mit einer großen Anzahl von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, von denen niemand die Macht hat, das
Lohnniveau spürbar zu beeinflussen2 Wenn auf einem vollkommenen Arbeitsmarkt alle Jobs und alle Mitspieler gleich sind, führt der Wettbewerb dazu, dass auch alle Stundenlöhne exakt gleich hoch sind. Kein Arbeitgeber würde einem Mitarbeiter mehr bezahlen als seinem gleichwertigen Kollegen oder einem anderen, der dieselben Fähigkeiten besitzt. Das bedeutet, dass wir zur Erklärung der enormen Lohndifferenzen quer durch die Wirtschaftszweige und von Person zu Person entweder auf Unterschiede zwischen den Jobs, auf Unterschiede zwischen den Arbeitnehmern oder auf Wettbewerbsmängel auf dem Arbeitsmarkt zu achten haben.
Unterschiede zwischen Jobs: Kompensatorische Lohnunterschiede Manche der enormen Lohnunterschiede, die wir im täglichen Leben beobachten, ergeben sich aus der unterschiedlich empfundenen Jobqualität. Jobs unterscheiden sich in ihrer Attraktivität, und so müssen die Löhne in manchen weniger attraktiven Bereichen eben angehoben werden, um Arbeitskräfte anzuziehen und zu halten. Unterschiede in der Entlohnung, die dazu dienen, die jeweilige Attraktivität oder nichtmonetäre Unterschiede zwischen verschiedenen Jobs auszugleichen, werden als kompensatorische Lohnunterschiede (oder kompensatorisches Lohndifferenzial) bezeichnet. Fensterwäscher müssen besser bezahlt werden als Portiere, weil das Klettern auf Wolkenkratzern ein Risiko in sich birgt. Häufig erhalten Arbeitnehmer für die Spätschicht von 16 Uhr bis 24 Uhr einen Aufschlag von 5 Prozent und für die Nachtschicht von 24 Uhr bis 8 Uhr sogar einen Aufschlag von 10 2 In der Realität weisen wenige Arbeitsmärkte vollständige Wettbewerbsbedingungen auf; einige (etwa der Markt für Hilfsarbeiter oder unausgebildete Bürokräfte) nähern sich dem Wettbewerbskonzept aber doch weitgehend an.
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Prozent. Für Überstunden über eine Arbeitszeit von 40 Stunden hinaus oder für Arbeit im Urlaub und am Wochenende wird zumeist das Eineinhalbfache oder Doppelte des Grundlohns bezahlt. Jobs, die harte körperliche Arbeit, Eintönigkeit, ein geringes gesellschaftliches Prestige, unregelmäßige Arbeitszeiten, saisonale Lücken oder Gesundheitsrisiken mit sich bringen, sind zumeist weniger attraktiv. Es sollte uns daher nicht verwunden, wenn ein Unternehmen einer Arbeitskraft jährlich US-$ 50.000 bis 80.000 bezahlen muss, um sie dazu zu bewegen, die gefährliche und einsame Arbeit auf den Ölplattformen im nördlichen Alaska auf sich zu nehmen. Dagegen sind die Löhne in Berufen, die als besonders angenehm oder seelisch befriedigend empfunden werden, wie etwa die Arbeit eines Parkwächters oder eines Badewärters, zumeist entsprechend bescheiden. Um zu testen, ob ein bestehender Lohnunterschied zwischen zwei Jobs einen kompensatorischen Lohnunterschied darstellt, fragen Sie
Teil 3
jemanden, der prinzipiell für beide Arbeiten geeignet wäre: „Würden Sie den besser bezahlten Job lieber als den schlechter bezahlten annehmen?“ Wenn dem oder der Betreffenden der besser bezahlte Job nicht sonderlich attraktiv erscheint, handelt es sich wahrscheinlich um einen kompensatorischen Lohnunterschied aufgrund nicht finanziell zu begründender Unterschiede zwischen den Jobs.
Unterschiede zwischen Menschen: Arbeitsqualität Wir haben bereits gesehen, dass manche Lohnunterschiede dazu dienen, die mangelnde Attraktivität bestimmter Arbeiten zu kompensieren. Doch sehen Sie sich einmal um: Müllmänner verdienen viel weniger als Rechtsanwälte; dabei hat die Juristerei doch sicherlich ein höheres Prestige, und auch die Arbeitsbedingungen erscheinen für den Anwalt angenehmer. Wir könnten unzählige
20 Durchchschnittlicher Stundenlohn von Männern, 1989 (in US-$)
College-Absolventen
College-Teilausbildung
15
High-School-Absolventen
High-School-Abbrecher 10
5
0
10
20 30 Berufserfahrung in Jahren
40
Abbildung 13-5: Einkommensvorsprung durch Ausbildung und Berufserfahrung Die Einkommensprofile männlicher Arbeitnehmer zeigen, dass deren Einkünfte sowohl mit besser Ausbildung als auch mit längerer Berufserfahrung steigen. Nach: Kevin M. Murphy und Finis Welch, „The Structure of Wages“, Quarterly Journal of Economics, Februar 1992
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
Lohnverhältnis Akademiker – High-School-Absolventen/-Abbrecher
3,0
Akademiker gegenüber High-School-Abbrecher
2,5
2,0
Akademiker gegenüber High-School-Absolventen 1,5
1,0
1979
1981
1983
1985
1987
1989 Jahr
1991
1993
1995
1997
1999
Abbildung 13-6: Die relativen Einkommensvorteile für College-Absolventen sind enorm In den letzten 20 Jahren haben sich die Einkommensprofile drastisch verändert. Mit steigenden Anforderungen weisen die Einkommen von College-Absolventen gegenüber jenen ihren Kollegen mit reiner High-School-Ausbildung, vor allem bei jugendlichen Arbeitnehmern, einen drastischen Vorsprung auf. Quelle: Economic Report of the President, 2000. Die Daten beziehen sich auf ganzjährig tätige männliche Vollzeitarbeitskräfte.
Beispiele dafür anführen, dass manche Jobs nicht nur besser bezahlt, sondern auch angenehmer sind als andere. Das bedeutet, dass wir zusätzlich zum kompensatorischen Lohndifferenzial noch weitere Faktoren heranziehen müssen, um die großen Lohnunterschiede zu verstehen. Ein Schlüssel zur Erklärung von Lohnunterschieden liegt in den enormen qualitativen Unterschieden zwischen den Arbeitskräften, die auf verschiedene angeborene geistige und körperliche Fähigkeiten, auf Erziehung, Schul- und Berufsausbildung sowie auf unterschiedliche Berufserfahrung zurückzuführen sind. Ein Biologe würde uns vielleicht alle unter die Spezies Homo sapiens einordnen, während ein Personalberater sicherlich darauf pochen würde, dass sich Menschen in ihrer Fähigkeit, zum Unternehmensergebnis beizutragen, enorm unterscheiden.
Zwar sind viele Unterschiede in der Arbeitsqualität nicht rein ökonomisch bedingt, aber die Entscheidung, Humankapital zu akkumulieren, lässt sich durchaus ökonomisch bewerten. Der Begriff „Humankapital“ bezieht sich auf den Bestand nützlicher und wertvoller Kenntnisse, die von Leuten während ihrer Schul- und Ausbildungszeit akkumuliert werden. Ärzte, Anwälte und Ingenieure investieren viele Jahre in ihre Ausbildung und berufliche Fortbildung. Sie wenden große Beträge für ihre Unterrichtsgebühren auf und nehmen einen Verdienstverzicht in Kauf, investieren US-$ 100.000–200.000 in ihre universitäre und nachuniversitäre Ausbildung und arbeiten häufig länger als acht Stunden täglich. Ein Teil der hohen Gehälter dieser ausgebildeten Fachkräfte ist als Rendite ihrer Humankapitalinvestition zu betrachten, eine Ausbildungsrendite, die hoch gebildeten Arbeitskräften eine Sonderstellung verschafft.
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Volkswirtschaftliche Studien über die Beziehung zwischen Einkommen und Ausbildung zeigen, dass Humankapital im Durchschnitt betrachtet eine gute Investitionsform darstellt. Abbildung 13-5 zeigt die Einkommensprofile verschiedener Gruppen als Funktion ihrer Ausbildung und Berufserfahrung. Gruppen mit besserer Ausbildung beginnen mit höheren Einkommen und dürfen auch rascher Einkommenssteigerungen erwarten als schlechter Ausgebildete. Abbildung 13-6 zeigt das Verhältnis zwischen den Stundenlöhnen von Akademikern und jenen von Abiturienten. In den 1980er Jahren stiegen mit dem „Preis für Fachkenntnisse“ die relativen Einkünfte der Akademiker stark an. Studien von Arbeitsökonomen haben gezeigt, dass Personen mit besserem Zahlenverständnis oder guten Computerkenntnissen auf dem heutigen Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsvorteil genießen. Lohnen sich Investitionen in „Humankapital“? Manche Studenten werden sich vielleicht wundern zu hören, dass jeder am College zugebrachte Tag eine Humankapitalinvestition darstellt. Ein Hochschulstudent in den Vereinigten Staaten bezahlt für seine Ausbildung vielleicht US-$ 10.000 an jährlichen Studiengebühren und US-$ 15.000 an Opportunitätskosten wegen des entgangenen Verdienstes. Das entspricht, über vier Jahre gerechnet, einer Investition von immerhin US-$ 120.000, vergleichbar einem Kauf von Anleihen oder der Spekulation mit Internet-Aktien. Zahlt sich das College aber auch aus? Die Praxis beweist es: Ja, eine universitäre Ausbildung macht sich bezahlt. Im Jahr 1999 betrug der Durchschnittsjahreslohn eines dreißigjährigen männlichen HighSchool-Absolventen bei Vollzeitbeschäftigung US-$ 35.000. Eine vergleichbare Person mit einem einfachen College-Abschluss brachte es auf US-$ 68.000. Dazu kommt, dass die Gehaltsvorteile durch eine universitäre Ausbildung in den letzten
Teil 3
20 Jahren noch drastisch zugenommen haben. Während im Jahr 1979 ein CollegeAbgänger 25 Prozent mehr als ein HighSchool-Absolvent mit vergleichbarer sozialer Herkunft verdiente, hat sich dieser Vorsprung zwei Jahrzehnte später auf 55 Prozent ausgeweitet (siehe Abbildung 13-6). Immer öfter verarbeiten die Unternehmen der modernen Dienstleistungsgesellschaft Informationen statt Rohstoffe. In der Informationsgesellschaft stellen die an der Universität oder im College erworbenen Fähigkeiten eine Vorbedingung für einen gut bezahlten Job dar. Jugendliche, die schon die High-School-Ausbildung abgebrochen haben, müssen mit gravierenden Nachteilen im Berufsleben rechnen. Selbst wenn man für seine Ausbildung ein Darlehen aufnehmen, jahrelang auf eine einträgliche Berufstätigkeit verzichten, weit weg von zu Hause leben und für Verpflegung und Bücher selbst aufkommen muss, kann das Lebenseinkommen in einem Beruf, den nur ein Akademiker ausüben kann, wahrscheinlich all diese Nachteile aufwiegen. Neuere Daten belegen, dass ein männlicher Akademiker von seinem 18. bis zu seinem 65. Geburtstag im Durchschnitt ein Gesamteinkommen von US-$ 2,5 Millionen (auf dem Preis- und Einkommensniveau von 2003) erzielt, während es ein High-School-Absolvent in derselben Zeit auf nur rund US-$ 1,3 Millionen bringt. High-School-Abbrecher liegen mit US-$ 0,8 Millionen noch einmal weit darunter. Häufig wird auch auf die Rolle des Glücks als bestimmender Faktor für wirtschaftliche Lebensumstände hingewiesen. Aber wie schon Louis Pasteur sagte, „winkt das Glück dem Tüchtigen“. In einer Welt des raschen technologischen Wandels bereitet die Ausbildung Menschen darauf vor, sich auf neue Situationen einstellen und sie als Chance zu nutzen.
363
Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
Unterschiede zwischen Menschen: Der Lohn für einzigartige Begabungen Einige wenige Glückliche unter uns verdanken ihr astronomisch hohes Gehalt ihrer Berühmtheit. Software-Guru Bill Gates, Investment-Experte Warren Buffett, BasketballStar Shaquille O’Neal und sogar Ökonomen, die große Unternehmen beraten, erhalten für ihre Dienste eine außerordentlich hohe Bezahlung. Diese Menschen verfügen über eine spezielle Begabung, die im heutigen Wirtschaftsleben offensichtlich geschätzt wird. Außerhalb ihres Fachgebietes würden sie wahrscheinlich nur einen winzigen Bruchteil ihres Einkommens erzielen. Außerdem wird ihr Arbeitsangebot auf eine Lohnerhöhung oder Lohnsenkung von 20 oder sogar 50 Prozent kaum spürbar reagieren. Ökonomen bezeichnen jenen Teil des Lohnes, der über die beste Alternativbeschäftigung hinaus bezahlt wird, als reine volkswirtschaftliche Rente; diese zusätzlichen Einkünfte bilden das logische Äquivalent zu den aus Grund und Boden erzielten Renten. Manche Ökonomen meinen, der technologische Fortschritt würde es heute in vielen Berufszweigen einigen wenigen Topleuten einfacher machen, einem größeren Teil des Marktes ihre Dienste anzubieten (denken Sie an unsere Erörterung der „Alles-odernichts“-Märkte in Kapitel 11), und sie könnten so auch ein größeres Stück vom Kuchen ergattern. Spitzen-Entertainer oder Sportler erreichen dank Fernsehen und elektronischer Aufzeichnung mit ihren Leistungen heute ein Publikum von Milliarden Menschen – das war vor einigen Jahren noch völlig unmöglich. Sollte der Trend anhalten und die Arbeitsrenten weiter steigen, könnte die Einkommensschere zwischen Siegern und Zweitplatzierten in den kommenden Jahren noch weiter aufgehen.
Segmentierte Märkte und nicht konkurrierende Gruppen Sogar in einem vollkommenen Wettbewerb, in dem sich die Menschen frei von einem Beruf zum nächsten bewegen könnten, käme es zu substanziellen Lohnunterschieden. Diese wären notwendig, um den unterschiedlichen Kosten der Schul- und Ausbildung oder der mehr oder minder großen Attraktivität bestimmter Tätigkeiten gerecht zu werden oder um einzigartige Talente angemessen zu entlohnen. Selbst nach Berücksichtigung all dieser Gründe für eine unterschiedliche Entlohnung bleibt jedoch eine große Lohndisparität bestehen. Der Hauptgrund für diesen Unterschied liegt in der Tatsache, dass die Arbeitsmärkte in untereinander nicht konkurrierende Gruppen zerfallen. Denkt man nur einen Augenblick nach, wird deutlich, dass Arbeit kein homogener Produktionsfaktor ist, sondern eigentlich aus vielen verschiedenen, wenn auch eng verwandten Produktionsfaktoren besteht. Ärzte und Mathematiker beispielsweise sind nicht konkurrierende Gruppen, weil es für Mitglieder jedes dieser Berufsstände schwierig und teuer wäre, in die andere Branche zu wechseln. Und ebenso wie es viele verschiedene Arten von Häusern mit unterschiedlichen Preisen gibt, bestehen auch zahlreiche verschiedene Berufe und Fähigkeiten nebeneinander, die nur in einem sehr allgemeinen Sinn miteinander konkurrieren. Wenn wir die Existenz der zahlreichen Teilmärkte des Arbeitsmarktes anerkennen, wird verständlich, warum es zwischen den verschiedenen Gruppen derart drastische Einkommensunterschiede geben kann. Warum gliedert sich der Arbeitsmarkt in so viele untereinander nicht konkurrierende Gruppen? Der Hauptgrund liegt darin, dass für Berufe, die eine spezielle Ausbildung erfordern, große zeitliche und finanzielle Investitionen nötig sind. Wenn die Jobs im Kohlebergbau aufgrund ökologischer Bedenken abnehmen, werden die Kumpels kaum
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
über Nacht umsatteln und Umweltökonomik unterrichten können. Sobald sich ein Mensch auf ein Gebiet spezialisiert, wird er Teil eines bestimmten Teilarbeitsmarktes. Er unterliegt damit der Angebots- und Nachfragefunktion für diesen Beruf und stellt fest, dass sein eigener Lohn mit der Situation in seinem Beruf und in seinem Wirtschaftszweig steigt oder fällt. Durch diese Segmentierung kann es zu großen Lohndiskrepanzen zwischen verschiedenen Berufen kommen. Die Berufswahl von Neuzuwanderern ist ein klassisches Beispiel für nicht konkurrierende Gruppen. Anstatt sich auf dem offenen Arbeitsmarkt zu bewerben, neigen Immigranten aus bestimmten Ländern zumeist dazu, jeweils in ganz bestimmte Berufe zu drängen. So befindet sich beispielsweise in vielen Städten wie Los Angeles und New York eine große Anzahl von Lebensmittelläden in der Hand von Koreanern. Schließlich können sich Koreaner jederzeit Rat und Hilfe bei Freunden und Verwandten holen, die ebenfalls Lebensmittelläden betreiben. Sobald die Einwanderer jedoch mehr Erfahrung und eine zusätzliche Ausbildung erwerben und sobald sie fließend Englisch sprechen, verbessern sich auch ihre Berufschancen, und sie gliedern sich in das allgemeine Arbeitsangebot ein.
Unsere Theorie von den nicht konkurrierenden Gruppen hilft uns aber auch, die auf dem Arbeitsmarkt herrschende Diskriminierung zu verstehen. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass ein Großteil der beruflichen Diskriminierung deshalb entsteht, weil aufgrund von Gewohnheiten, gesetzlichen Bestimmungen oder Vorurteilen Arbeitskräfte nach ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe oder nach ihrem ethnischen Hintergrund in untereinander nicht konkurrierende Gruppen zerfallen. Obwohl die Theorie der nicht konkurrierenden Gruppen einen wichtigen Aspekt der Arbeitsmärkte zu beleuchten vermag, müssen wir erkennen, dass langfristig Marktzutritt und Marktausscheiden diese Unterschiede wieder verringern werden. Es ist sicher richtig, dass Bergleute aus den Kupferminen kaum Computerprogrammierer werden, selbst wenn Computer und Glasfaserkabel Wählscheiben und Kupferdrähte verdrängen. Und aus diesem Grund entstehen ja auch die beobachteten Lohnunterschiede zwischen den beiden Berufsgruppen. Doch langfristig, wenn sich schließlich mehr junge Leute für die Informatik als für den Kupferabbau entscheiden, verwischen durch den Wettbewerb diese Unterschiede zwischen den nicht konkurrierenden Gruppen teilweise wieder.
Zusammenfassung: Lohnbildung im Wettbewerb Arbeitssituation
Teil 3
Lohnsituation
1. Alle Menschen sind gleich – alle Jobs sind gleich
Keine Lohnunterschiede
2. Alle Menschen sind gleich – die Jobs aber unterschiedlich attraktiv
Kompensatorisches Lohndifferenzial
3. Die Menschen sind verschieden, aber das Arbeitsangebot bleibt in jeder Sparte gleich (nicht konkurrierende Gruppen)
Die Lohnunterschiede spiegeln Angebot und Nachfrage segmentierter Märkte wider
4. Die Menschen sind verschieden, aber zwischen den Gruppen herrscht ein gewisses Maß an Mobilität (teilweise konkurrierende Gruppen)
Allgemeines Gleichgewichtsmuster der Lohnunterschiede, das durch Gesamtnachfrage und -angebot gebildet wird (beinhaltet die Punkte 1 bis 3 als Sonderfälle)
Tabelle 13-4: Die Lohnstruktur auf dem Markt zeigt unter Wettbewerbsbedingungen eine große Bandbreite
Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
Tabelle 13-4 fasst die unterschiedlichen Kräfte zusammen, die für die Bildung der Lohnniveaus unter Wettbewerbsbedingungen verantwortlich sind.
B. Arbeitsmarkt: Probleme und politische Maßnahmen Bisher haben wir uns mit dem Arbeitsmarkt unter Wettbewerbsbedingungen befasst. Tatsächlich aber verhindern Verzerrungen einen vollständigen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt. Eine der Quellen des unvollständigen Wettbewerbs sind die Gewerkschaften. Sie repräsentieren einen erheblichen, wenn auch schrumpfenden Anteil der Arbeitnehmer. Eine zweite wichtige Facette des Arbeitsmarktes ist die Diskriminierung – ebenfalls weniger bedeutend als in früheren Jahrzehnten, aber immer noch ein Problem, das es zu bedenken gilt. Ein dritter Faktor mit Einfluss auf die Arbeitsmärkte sind staatliche Eingriffe. Durch die Festsetzung eines Mindestlohns (den wir in Kapitel 4 erörtert haben), durch die Förderung oder Behinderung von Gewerkschaften oder durch das Verbot jeder Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt kann der Staat sehr wirkungsvoll Einfluss auf den Arbeitsmarkt nehmen.
Geschichte und Praxis der Gewerkschaften Sechzehn Millionen US-Amerikaner oder 13 Prozent der Erwerbsbevölkerung waren im Jahr 2002 gewerkschaftlich organisiert. Ohne Zweifel verfügen Gewerkschaften über Marktmacht, und bisweilen fungieren sie auch als monopolistische Anbieter von Arbeit. Die Gewerkschaften verhandeln die Tarifverträge, in denen zumeist geregelt wird,
365 wer bestimmte Arbeiten übernehmen darf, wie diese zu entlohnen sind und welche Regeln jeweils dafür gelten. Außerdem sprechen die Gewerkschaften in ihren Kollektivvertragsverhandlungen Themen an, die für alle Arbeitnehmer von Bedeutung sind, darunter beispielsweise Pensionsregelungen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Arbeitszeitregelungen. Gewerkschaften können zudem den Beschluss fassen, einen Streik auszurufen, also ihr Arbeitsangebot den Unternehmen vollständig zu entziehen, um ihren Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite Nachdruck zu verleihen. Eine gewisse Kenntnis der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften ist einfach unumgänglich, will man die Dynamik des US-amerikanischen Arbeitsmarktes verstehen. Wo liegt der Ursprung der amerikanischen Arbeiterbewegung? Im Jahre 1881 nahm die heutige Arbeitnehmerbewegung mit der Gründung der American Federation of Labor (AFL) erstmals Gestalt an. Beinahe ein halbes Jahrhundert lang, bis zu seinem Tod im Jahr 1924, beherrschte Samuel Gompers diese Organisation und verlieh der Bewegung ihre charakteristische Struktur. Gompers’ Strategie war einfach: Da er überzeugt war, dass keine dem Kapitalismus feindlich gesinnte Bewegung auf amerikanischem Boden Erfolg haben würde, bestand er auf dem so genannten Business- oder Bread and Butter-Unionism, einer rein ökonomisch orientierten Gewerkschaftsarbeit. Diese beschäftigte sich hauptsächlich damit, die wirtschaftliche Situation der US-Arbeitnehmer zu verbessern, indem sie um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, längeren Urlaub, bessere Arbeitsbedingungen und verbesserte Sozialleistungen kämpfte. Die amerikanischen Gewerkschaften taten damit genau das Gegenteil dessen, was die Arbeiterbewegungen in vielen europäischen Ländern anstrebten, die bisweilen die großen politischen Parteien beherrschten und einen erbitterten Klassenkampf führten, um die Regierungsform ihres Landes zu ändern oder dem Sozialismus zum Durchbruch zu verhelfen.
366
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Zu Beginn gliederte sich die Arbeiterbewegung in Fachgewerkschaften, denen die Arbeiter nach ihren speziellen Fertigkeiten, beispielsweise Tischlerei oder Maurerarbeit, zugehörten. Durch diese Strategie wurde die Organisation riesiger Wirtschaftszweige mit Massenproduktion in einer einzigen Gewerkschaft verhindert. In den dreißiger Jahren begannen kluge Gewerkschaftsvertreter dann die Zeichen der Zeit zu erkennen: Industriegewerkschaften (in denen ein ganzer Wirtschaftszweig, etwa Stahl oder Kohle, zusammengefasst ist) schienen das gewerkschaftliche Zukunftsbild zu prägen. Die Industriegewerkschaften erschienen erstmals im Jahr 1935 mit der Gründung des Congress of Industrial Organizations (CIO) auf der Bildfläche. Heute sind die einzelnen amerikanischen Gewerkschaften in der AFL-CIO, der größten nationalen Arbeitnehmerorganisation der Vereinigten Staaten, organisiert. Löhne und Sozialleistungen gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer werden in Tarifverträgen festgelegt. Dabei handelt es sich um das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zum Zweck der Vereinbarung beidseitig vorteilhafter Arbeitsbedingungen. Kernstück eines Kollektivvertrages ist das Tarifpaket. Es legt die Höhe des Basislohns für verschiedene Jobkategorien sowie Richtlinien für Urlaube und Arbeitspausen fest. Außerdem enthält der Vertrag Bestimmungen über Sozialleistungen wie Pensionspläne, Krankenversicherung und Ähnliches. Ein zweiter wichtiger und häufig auch umstrittener Teil des Kollektivvertrages betrifft die Regelung der Arbeitsbedingungen. Er bezieht sich auf Arbeitsanweisungen und die Zuteilung von Aufgabenbereichen, die Arbeitssicherheit und die zulässige Arbeitsbelastung. Vor allem in rückläufigen Branchen sind die Personalerfordernisse ein wesentliches Thema, weil die Arbeitsnachfrage zurückgeht. So kam es beispielsweise bei den Eisenbahnen zu jahrzehntelangen Streitigkeiten darüber, wie viele Eisenbahner auf einem Zug mitzufahren hätten.
Teil 3
Die Verhandlung der Kollektivverträge ist eine schwierige Aufgabe, bei der es um Geben und Nehmen geht. Es werden große Anstrengungen zur Vereinbarung der tariflichen Aspekte, das heißt zur Verteilung des Kuchens zwischen Löhnen und Gewinnen unternommen. Manchmal geraten die Verhandlungen im Streit um die Befugnisse des Managements ins Stocken, beispielsweise über die Frage, ob es zulässig ist, einen Arbeitnehmer zu versetzen oder die vereinbarten Arbeitsbedingungen zu verändern. Letztendlich haben aber sowohl die Vertreter der Arbeitnehmer als auch jene der Arbeitgeber ein starkes Interesse an zufriedenen und leistungsfähigen Mitarbeitern.
Staat und Tarifverträge Die Geschichte der Gewerkschaften ruft uns in Erinnerung, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Organisation einer Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Vor 200 Jahren, als es in Europa und Amerika erste Versuche einer Organisation der Arbeitnehmer gab, wurden Doktrinen des Common Law gegen eine „Konspiration zur Beschränkung des Handels“ im Kampf gegen die Gewerkschaft eingesetzt. Gewerkschaften und ihre Mitglieder wurden sogar noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von den Gerichten verfolgt, mit Geldstrafen belegt, inhaftiert und durch einstweilige Verfügungen behindert. Der Oberste Gerichtshof hob immer wieder Gesetze, die die Arbeitsbedingungen für Frauen und Kinder verbessern sollten, aber auch andere Gesetze zur Reform von Arbeitszeiten und Löhnen auf. Erst als das Pendel in Richtung einer breiten Akzeptanz und Unterstützung von Gewerkschaften und der von ihnen ausgehandelten Kollektivverträge ausschlug, kam es zur explosiven Verbreitung der Gewerkschaften. Ein wesentlicher Meilenstein war dabei der Clayton Act (1914), der als die „Magna Charta der Arbeitnehmer“ gefeiert wurde und die Gewerkschaften vor der Verfolgung nach den Antitrust-Bestimmungen
Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
bewahren sollte. Der Fair Standards Act (1938) brachte ein Verbot der Kinderarbeit, schrieb einen fünfzigprozentigen Lohnaufschlag für Arbeitszeiten über 40 Wochenstunden hinaus vor und legte einen bundesweiten Mindestlohn für die meisten Berufsgruppen mit Ausnahme der Landwirtschaft fest. Am interessantesten erscheint jedoch der Wagner Act oder National Labor Relations Act aus 1935, der unter anderem besagt: „Arbeitnehmer haben das Recht ... Arbeitnehmerorganisationen ... beizutreten, gemeinsam zu verhandeln ... und gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen.“ Im Zuge dieser arbeitnehmerfreundlichen Gesetzgebung bekamen die Gewerkschaften regen Zulauf, und ihre Mitgliederzahl stieg von unter 10 Prozent in den zwanziger Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf ein Viertel aller Arbeitnehmer an. Der Niedergang der amerikanischen Gewerkschaften setzte Anfang der 1970er Jahre ein. Im Wesentlichen hat die monopolistische Macht der Arbeitnehmervertretungen durch die Deregulierung zahlreicher Sektoren, aber auch durch den härteren internationalen Wettbewerb und die zunehmend gewerkschaftsfeindliche Haltung der Regierung Schaden genommen.
Wie Gewerkschaften Lohnerhöhungen durchsetzen Wie kann es den Gewerkschaften gelingen, Löhne und Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer zu verbessern? Eine Gewerkschaft erwirbt Marktmacht, indem ihr ein legales Monopol für die Bereitstellung von Arbeitsleistungen an ein bestimmtes Unternehmen oder eine bestimmte Branche eingeräumt wird. Mithilfe dieses Monopols zwingt sie die Unternehmen, Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen zu gewähren, die über jenen im vollständigen Wettbewerb liegen. Nehmen wir beispielsweise an, dass nicht gewerkschaftlich organisierte Gas-Wasser-Installateure in Alabama US-$ 20 pro Stunde verdienen, so könnte eine Gewerk-
367 schaft mit einem großen Bauunternehmen einen Stundenlohn von US-$ 30 für die Installateure dieser Firma aushandeln. Ein solcher Vertrag ist jedoch für die Gewerkschaft nur dann von Wert, wenn es ihr gelingt zu verhindern, dass das Unternehmen Zugriff auf ein alternatives Arbeitsangebot erhält. Daher stimmen in einem typischen Kollektivvertrag die Unternehmen zu, nur gewerkschaftlich organisierte Installateure einzustellen, keine Installationsarbeiten an Drittfirmen und keine Unteraufträge an gewerkschaftlich nicht organisierte Unternehmen zu vergeben. Mit jeder dieser Bestimmungen wird der Erosion des gewerkschaftlichen Monopols auf das Installateurangebot für das betreffende Unternehmen entgegengewirkt. In manchen Bereichen, etwa in der Stahl- und Automobilbranche, versuchen die Gewerkschaften sogar, den gesamten Wirtschaftszweig gewerkschaftlich zu binden, sodass die organisierten Arbeitnehmer in Unternehmen A nicht mit den nicht organisierten Arbeitnehmern des Unternehmens B in Wettbewerb treten müssen. All dies ist nötig, um die höheren, durch die Gewerkschaft verhandelten Löhne durchsetzen zu können. Abbildung 13-7 zeigt die Auswirkungen der hohen Kollektivvertragslöhne, wenn die Gewerkschaft die Unternehmen zwingt, Löhne in jener Standardhöhe auszuzahlen, die durch die horizontale Linie rr dargestellt ist. Das Gleichgewicht liegt in E', wo rr die Nachfragekurve der Arbeitgeber schneidet. Bitte beachten Sie, dass die Gewerkschaft das Arbeitsangebot nicht unmittelbar verringert, wenn sie die hohen Kollektivvertragslöhne festlegt. Wie reagiert der Markt, wenn die Löhne über dem Markträumungsniveau liegen? Angesichts hoher Kollektivvertragslöhne wird die Arbeitnehmerzahl durch die Nachfrage des Unternehmens nach Arbeit begrenzt. Die Zahl der arbeitsuchenden Personen ist um das Segment E'F höher als die Nachfrage. Diese überschüssigen Arbeitskräfte können nun arbeitslos bleiben und auf freie Stellen im gut bezahlten, gewerkschaftlich organisierten Sektor warten, oder sie
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Lohnniveau
W
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
nistische Gesetzgebung unterstützen, um ausländische Güter fernzuhalten, welche nicht von Mitgliedern amerikanischer Gewerkschaften hergestellt werden; warum Quasi-Gewerkschaften wie Ärztekammern darum kämpfen, die Zulassung anderer Gruppen zu den medizinischen Diensten zu verhindern; und warum die Gewerkschaften sich manchmal gegen eine Deregulierung verwenden, etwa in Branchen wie dem Transportgewerbe, im Kommunikationsbereich und bei den Fluglinien.
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Teil 3
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Theoretisch offener Ausgang von Kollektivvertragsverhandlungen D
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L Arbeitsmenge
Abbildung 13-7: Die Gewerkschaften handeln hohe Standardlöhne aus und verringern die Arbeitsnachfrage Die Anhebung der Standardlöhne auf rr erhöht die Löhne und verringert den Beschäftigungsstand auf dem gewerkschaftlich kontrollierten Arbeitsmarkt. Wegen des Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage können Arbeiter zwischen E' und F auf diesem Markt keine Beschäftigung finden. Wenn die Gewerkschaften die Reallöhne für die gesamte Wirtschaft zu sehr nach oben treiben, fragen die Unternehmen nur E' nach, während die Arbeitskräfte F anbieten. So stellt der schwarze Pfeil von E' nach F die Höhe der klassischen Arbeitslosigkeit dar. Diese Ursache der Arbeitslosigkeit ist vor allem dann bedeutsam, wenn ein Land sein Preisniveau oder den Wechselkurs seiner Währung nicht beeinflussen kann, und ist zu unterscheiden von einer Arbeitslosigkeit, die durch eine unzureichende Gesamtnachfrage bedingt ist.
lassen sich entmutigen und suchen nach Jobs in anderen Sektoren. Die Arbeiter zwischen E' und F werden ebenso von möglichen Jobs ferngehalten, als hätte die Gewerkschaft den Zugang direkt beschränkt. Die Notwendigkeit, jeden nicht gewerkschaftlich organisierten Wettbewerb zu verhindern, erklärt auch viele der politischen Ziele der nationalen Arbeiterbewegung. Sie erklärt, warum die Gewerkschaften die Einwanderung beschränken wollen, warum sie eine protektio-
Bei den meisten Kollektivvertragsverhandlungen drängen die Arbeitnehmer auf höhere Löhne, während die Arbeitgeber natürlich eine Senkung der Lohnkosten im Auge haben. Diese Situation ist unter dem Begriff bilaterales Monopol bekannt: Es gibt nur einen Käufer und einen Verkäufer. Das Ergebnis eines bilateralen Monopols lässt sich anhand der volkswirtschaftlichen Kostenund Nachfragekonzepte allein nicht prognostizieren; es hängt ebenso von psychologischen, politischen und zahlreichen anderen, nicht greifbaren Faktoren ab.3
Auswirkungen auf Löhne und Beschäftigung Verfechter der Gewerkschaften reklamieren es als ihren Erfolg, dass durch die gewerkschaftliche Tätigkeit Löhne und Sozialleistungen der Arbeitnehmer angehoben wurden. Kritiker wiederum behaupten, das Ergebnis der steigenden Löhne seien nur eine höhere Arbeitslosigkeit, Inflation sowie eine
3 Situationen wie Tarifverhandlungen sind Gegenstand der Spieltheorie, die in Kapitel 11 behandelt wird. Der theoretisch nicht vorhersehbare Ausgang von Kollektivverhandlungen ergibt sich aus folgender Erkenntnis der Spieltheorie: Ein nicht kooperatives Spiel zweier Personen muss nicht unbedingt auf eine bestimmte Weise ausgehen. Wie im Fall von Kriegen oder Streiks hängt das Ergebnis von vielen Faktoren wie Verhandlungsgeschick, Prestige, der Fähigkeit zu bluffen und sogar der vermuteten Stärke des Verhandlungspartners ab.
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
verzerrte Ressourcenallokation. Wie aber sehen die Fakten aus?
Konnten die Gewerkschaften das Lohnniveau heben? Beginnen wir mit einer Betrachtung der Auswirkungen gewerkschaftlicher Arbeit auf die Löhne. Bei Berücksichtigung aller in privaten Industriebetrieben tätigen Arbeitnehmer zeigt sich, dass der Lohn der gewerkschaftlich Organisierten unter ihnen im Jahr 1995 um 38 Prozent über jenem der anderen Beschäftigten lag. Diese schlichte Zahl berücksichtigt jedoch nicht die Tatsache, dass sich Ausbildungsstand, Schulbildung und auch Branchenzuordnung der gewerkschaftlich vertretenen Arbeitnehmer von jenen der anderen, nicht gewerkschaftlich organisierten unterscheiden. Infolge dieser Analyse kamen Ökonomen zu dem Schluss, dass organisierte Arbeitnehmer um durchschnittlich 10–15 Prozent mehr verdienen als ihre nicht organisierten Kollegen. Die Unterschiede bewegen sich in einem Rahmen von fast null bei Hotelangestellten und Friseuren bis hin zu 25–30 Prozent, die gewerkschaftlich organisierte Baufacharbeiter und Kumpel im Kohlebergbau mehr verdienen als ihre Kollegen. Die Analyseergebnisse lassen darauf schließen, dass Gewerkschaften in ihren Lohnverhandlungen dort am erfolgreichsten sind, wo sie (wie beispielsweise in der Autoindustrie) das Arbeitsangebot monopolisieren und den Zutritt zum Arbeitsmarkt effektiv kontrollieren können. Und es gibt einige Hinweise darauf, dass der Einfluss der Gewerkschaften seit einigen Jahren im Schwinden begriffen ist. Gesamtauswirkungen. Nun, da wir gesehen haben, dass die Gewerkschaften höhere Löhne für ihre Mitglieder herausholen, könnten wir fragen, ob es ihnen nicht auch gelingt, das Reallohnniveau der Gesamtwirtschaft anzuheben. Die Mehrzahl der Ökonomen ist heute der Ansicht, dass Gewerkschaften keine Umverteilung der Einkommen vom Kapital
zur Arbeit erreichen, sondern dass die eigentliche Umverteilung von den gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeitnehmern zu Gewerkschaftsmitgliedern hin erfolgt. Mit anderen Worten, wenn es den Gewerkschaften gelingt, die jeweiligen Löhne über das Wettbewerbsniveau zu heben, gehen diese Gewinne zu Lasten der Löhne nicht gewerkschaftlich organisierter Kollegen. Diese Annahme wird auch durch empirische Feststellungen untermauert, wonach sich jener Anteil am Volkseinkommen, der in die Arbeit fließt, während der letzten sechs Jahrzehnte nur geringfügig verändert hat. Berücksichtigt man die konjunkturzyklischen Einflüsse auf den Anteil der Arbeitseinkommen, lässt sich in den USA kein merklicher Einfluss der gewerkschaftlichen Tätigkeit auf die allgemeine Höhe der Reallöhne feststellen. Erfahrungen im gewerkschaftlich stark organisierten Europa legen den Schluss nahe, dass Gewerkschaften, so es ihnen gelingt, das allgemeine Lohnniveau anzuheben, manchmal eine inflationstreibende Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen, sodass auch hier kaum bleibende Auswirkungen auf die Reallöhne festzustellen sind.
Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation Wenn nun die Gewerkschaften das allgemeine Reallohnniveau nicht nachhaltig beeinflussen können, so schließen wir daraus, dass sie vor allem auf die relativen Löhne einwirken können. Dies bedeutet, dass die Löhne in gewerkschaftlich organisierten Branchen im Verhältnis zu jenen in nicht organisierten Bereichen ansteigen. Außerdem kommt es zu einer geringeren Beschäftigung in den organisierten und zu höheren Beschäftigungszahlen in den nicht organisierten Branchen. Wenn mächtige Gewerkschaften die Reallöhne auf ein künstlich höheres Niveau anheben, kommt es in der Folge zu einem Überangebot an Arbeitskräften, das als klassische Arbeitslosigkeit bezeichnet wird. Diese Situa-
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
tion ist in Abbildung 13-7 dargestellt. Nehmen wir an, die Gewerkschaften könnten die Löhne über das Markträumungsniveau E hinaus auf den höheren Reallohn rr steigern. Dann stellt, wenn Arbeitsangebot und -nachfrage im Allgemeinen unverändert bleiben, der Pfeil zwischen E' und F die Anzahl jener Arbeiter dar, die zu einem Lohn r arbeiten wollen, jedoch keine Arbeit finden. Als klassische Arbeitslosigkeit wird diese Situation deshalb bezeichnet, weil sie aus Löhnen resultiert, die über das Wettbewerbsniveau angehoben wurden. Ökonomen stellen im Allgemeinen die klassische Arbeitslosigkeit der konjunkturell bedingten Arbeitslosigkeit gegenüber, die als Keynesianische Arbeitslosigkeit bezeichnet wird und sich aus einer unzureichenden Gesamtnachfrage ergibt. Die Auswirkungen überhöhter Reallöhne konnten wir nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 beobachten. Die wirtschaftliche Zusammenführung der beiden deutschen Staaten fixierte die ostdeutschen Löhne auf einem Niveau, das gegenüber dem Grenzertragsprodukt der Arbeit in diesem Landesteil um mindestens 100 Prozent überhöht war. Das Ergebnis war eine hohe Arbeitslosigkeit im wiedervereinigten Deutschland. Unsere Analyse führt uns zu dem Schluss, dass ein Land, in dem überhöhte Reallöhne bezahlt werden, mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu rechnen hat. Diese Arbeitslosigkeit reagiert nicht auf die traditionellen makroökonomischen Maßnahmen, also auf eine Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Ausgaben, sondern erfordert konkrete Schritte zur Senkung der Reallöhne. Die schwindende Bedeutung der Gewerkschaften in den USA Einer der wichtigsten Trends auf den US-amerikanischen Arbeitsmärkten ist der zunehmende Machtverlust der Gewerkschaften seit dem Zweiten Weltkrieg. War im Jahr 1955 noch rund ein Viertel der
Teil 3
Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, ist dieser Anteil seit 1980 deutlich zurückgegangen. Der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitskräfte in der Produktion schrumpft seit zwei Jahrzehnten merklich. Nur im öffentlichen Sektor stellen die Gewerkschaften noch eine wichtige Kraft dar. Einer der Gründe für den Machtverlust der Gewerkschaften besteht in ihren immer geringeren Möglichkeiten zu streiken, wobei Streiks in Kollektivverhandlungen ja die wirksamste Drohung darstellen. In den 1970er Jahren setzten US-Gewerkschaften diese Waffe regelmäßig ein; damals fanden durchschnittlich knapp 300 Streiks pro Jahr statt. In letzter Zeit sind Streiks jedoch aus der Mode gekommen. Sie spielen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt praktisch keine Rolle mehr. Der Grund für diesen Rückgang liegt in der Wirkung von Streiks, die sich häufig gegen die Streikenden wendeten. Im Jahr 1981 wurden alle streikenden Fluglotsen von Präsident Reagan kurzerhand entlassen. Als 1987 die Profi-Footballspieler streikten, wurden sie von den Eigentümern der Vereine zurück aufs Spielfeld gezwungen, als diese die Spiele einfach von Ersatzleuten spielen ließen. Im Jahre 1992 mussten die Beschäftigten der Caterpillar Inc., eines Riesen der Baumaschinenbranche, ihren Streik nach sechs Monaten abbrechen, weil Caterpillar drohte, sie alle zu entlassen und durch andere Arbeitskräfte zu ersetzen. Die Unfähigkeit, die Unternehmen durch Streiks ernsthaft zu bedrohen, hat während der letzten beiden Jahrzehnte die Position der Gewerkschaften insgesamt sehr geschwächt. Sie fragen sich vielleicht, ob die schwindende Macht der Gewerkschaften auf die Löhne drückt. Ökonomen glauben im Allgemeinen, dass dadurch nur die relativen Löhne der Gewerkschaftsmitglieder, nicht aber die Löhne insgesamt sinken. Sehen Sie sich noch einmal Abbildung 12-1 an, die den Anteil der Arbeit am BIP zeigt. Können Sie eine Auswirkung der rückläufigen Macht der Gewerkschaften nach 1980 auf den Anteil der Arbeit erkennen? Die meisten Ökonomen würden einen solchen Einfluss bestreiten.
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
Diskriminierung Die Diskriminierung aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht ist ein weit verbreitetes Phänomen menschlicher Gesellschaften seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Da gab es den Extremzustand, dass vor dem amerikanischen Bürgerkrieg schwarze Sklaven als Besitz betrachtet wurden, praktisch keine Rechte hatten und häufig sehr schlecht behandelt wurden. Zu anderen Zeiten oder an anderen Orten, etwa in den USA zu Zeiten der Rassentrennung oder im Zuge der südafrikanischen Apartheid, die bis in die 1990er Jahre hinein andauerte, wurden Menschen schwarzer Hautfarbe im Wohnungswesen, im Konsum und in öffentlichen Transportmitteln von ihren weißen Mitbürgern abgesondert und unterlagen bezüglich rassenübergreifender Eheschließungen und vor allem attraktiver Arbeitsplätze strengen Beschränkungen. Bis in unsere Tage, in denen eine solche Diskriminierung gegen das Gesetz verstößt, führen subtile Formen informeller, vor dem Markt angesiedelter, strafrechtlicher und statistischer Diskriminierung immer noch zu Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen und vor allem zwischen verschiedenen Rassen und ethnischen Gruppen. Wer sich je – theoretisch oder praktisch – mit dem Thema Diskriminierung beschäftigt hat, weiß, das dieses Problem weit über den Markt hinausreicht. Unsere Erörterung in diesem Buch beschränkt sich jedoch auf die wirtschaftliche Diskriminierung, und hier konzentrieren wir uns vor allem auf den Arbeitsmarkt. Wir möchten wissen, warum noch Jahrzehnte nach dem gesetzlichen Verbot jeder Diskriminierung Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen. Wir müssen verstehen, woher die Lohnunterschiede zwischen weißen männlichen und allen anderen Teilnehmern des Arbeitsmarktes kommen. Warum erzielen afroamerikanische und hispanische US-Bürger immer noch messbar niedrigere Einkommen und verfügen über
einen geringeren Wohlstand als andere Gruppen? Warum werden Frauen von den besten Jobs in der Wirtschaft ausgeschlossen? Diese verstörenden Fragen bedürfen einer Antwort.
Volkswirtschaftliche Erklärungsmodelle der Diskriminierung Definition der Diskriminierung Wenn aufgrund irrelevanter persönlicher Merkmale wie Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Religion ökonomische Unterschiede auftreten, sprechen wir von Diskriminierung. Diskriminierung bedeutet im typischen Fall entweder (a) eine unterschiedliche Behandlung von Menschen aufgrund persönlicher Merkmale oder (b) Praktiken (beispielsweise Tests), die sich auf bestimmte Gruppen nachteilig auswirken. Als Ökonomen wie Gary Becker von der Universität Chicago begannen, sich mit dem Thema Diskriminierung auseinander zu setzen, stießen sie auf ein grundlegendes Dilemma: Wie kann es sein, dass zwei Gruppen von Arbeitnehmern mit derselben Produktivität nebeneinander bestehen, ohne dass gewinnorientierte Unternehmen selbstverständlich auf die kostengünstigeren Arbeiter zurückgreifen, umso ihre Gewinne zu steigern? Nehmen wir an, eine Gruppe von Unternehmen auf einem vollkommenen Markt würde zu dem Entschluss gelangen, blauäugigen Arbeitern mehr als ebenso tüchtigen braunäugigen zu bezahlen. Das gäbe einer anderen Gruppe von nicht diskriminierenden Unternehmen die Möglichkeit, auf den Markt zu drängen und Kosten und Preise der diskriminierenden Konkurrenzunternehmen zu unterbieten, indem vorwiegend braunäugige Arbeiter eingestellt werden. Auf diese Weise könnten die diskriminierenden Unternehmen vom Markt verdrängt werden. Selbst wenn einige Arbeitgeber ein Vorurteil gegenüber einer bestimmten Grup-
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
pe hegen, dürfte dies nicht ausreichen, um das Einkommen der so diskriminierten Gruppe zu senken. Beckers schließt daraus, dass somit noch andere Kräfte als die negative Einstellung der Arbeitgeber wirksam werden müssen, um Einkommensdisparitäten zwischen gleichwertigen Gruppen zu erzeugen.
Diskriminierung durch Ausschluss Die häufigste Form der Diskriminierung ist der Ausschluss bestimmter Gruppen vom Arbeits- oder Wohnungsangebot. Die Geschichte der Afroamerikaner zeigt, dass es soziale Prozesse waren, die auf ihre Löhne und ihren sozialen Status drückten und immer noch drücken. Nach der Abschaffung der Sklaverei fiel die schwarze Bevölkerung der Südstaaten aufgrund der Jim-Crow – Gesetzgebung in die Kaste der Tagelöhner. Auch wenn sie rein rechtlich frei waren und den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterlagen, wurden schwarze Arbeitnehmer viel schlechter entlohnt als weiße. Warum? Nun, sie waren nicht so gut ausgebildet und wurden von den Gewerkschaften, aber auch durch die lokalen
Vorschriften und Gebräuche von den besten Arbeitsstellen ferngehalten. Infolgedessen drängte man sie in niedrige, schlecht angesehene Jobs mit geringen Ausbildungsanforderungen ab, sodass es sich bei ihnen effektiv um eine nicht konkurrierende Gruppe handelte. Nur die Segmentierung des Arbeitsmarktes ermöglichte die Beibehaltung der Diskriminierung über Jahrzehnte hinweg. Das Konzept von Angebot und Nachfrage kann plastisch darstellen, wie dieser Ausschluss von bestimmten Tätigkeiten das Einkommen von Gruppen beschneidet, sobald sie Ziel von Diskriminierung werden. Im Fall einer Diskriminierung bleiben bestimmte Jobs der privilegierten Gruppe vorbehalten, wie in Abbildung 13-8(a) dargestellt. Auf diesem Arbeitsmarkt wird das Angebot an privilegierten Arbeitskräften durch SPSP, die Nachfrage nach diesen Arbeitskräften durch DPDP repräsentiert. Der Gleichgewichtslohn liegt auf dem hohen Niveau EP. Abbildung 13-8(b) zeigt hingegen, was mit den Arbeitnehmern der Minderheit geschieht, die aufgrund ihres Wohnortes in armen Vierteln mit schlechten Schulen, und
(a) Der Arbeitsmarkt der Privilegierten
(b) Der Arbeitsmarkt der Minderheiten Wm
Löhne für gute Jobs
SP DP EP DP Wm* SP 0
Löhne für minderwertige Jobs
WP
Wp*
Teil 3
Sm
Dm
Em
Sm
Dm
0 Menge hochqualifizierter Jobs
Menge minderwertiger Jobs
Abbildung 13-8: Diskriminierung durch Ausschluss senkt das Lohnniveau der ausgeschlossenen Minderheiten Diskriminierung äußert sich in der Praxis häufig durch den Ausschluss einzelner Gruppen aus privilegierten Jobs. Werden Minderheiten von guten Jobs auf Markt (a) ausgeschlossen, müssen sie schlechtere Jobs auf Markt (b) annehmen. Die privilegierte Gruppe genießt höhere Löhne in Ep, während Minderheiten sich mit den niedrigen Löhnen in Em auf Markt (b) zufrieden geben müssen.
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
weil sie sich keine Privatschulen leisten können, nicht die nötige Ausbildung für gut bezahlte Jobs bekommen. Bei schlechter Ausbildung erzielen sie als Hilfsarbeiter nur ein geringes Wertgrenzprodukt, weshalb ihre Löhne auf das Niedriglohn-Gleichgewicht von Em gedrückt werden. Beachten Sie bitte den Unterschied zwischen den beiden Märkten. Da Minderheiten von guten Jobs ausgeschlossen bleiben, bewirken die Marktkräfte, dass sie viel schlechter entlohnt werden als privilegierte Arbeitskräfte. Man hört bisweilen sogar das Argument, Minderheiten würden deshalb niedrigere Löhne „verdienen“, weil ihr Wertgrenzprodukt im Wettbewerb geringer ist. Dabei wird allerdings übersehen, wie das Lohngefälle zustande kommt: nämlich dadurch, dass bestimmte Gruppen von guten Jobs ausgeschlossen blieben, weil sie nicht die entsprechende Schul- und Ausbildung genießen konnten, und weil Gebräuche, gesetzliche Bestimmungen oder Kollusionen ihren Zugang zu diesen begehrten Arbeitsplätzen verhindert haben.
„Taste for discrimination“: Nicht der Gewinn, sondern der subjektive „Nutzen“ entscheidet Das obige Beispiel des Ausschlusses einer Gruppe konfrontiert uns mit der Frage, warum nicht einige gewinnorientierte Unternehmen Gesetze oder Gebräuche einfach ignorieren, um billigere Arbeitskräfte als die Konkurrenz zu bekommen. Der bereits zitierte Gary Becker sah als eine mögliche Antwort auf diese Frage die „Vorliebe“ von Unternehmen oder ihrer Kunden für diskriminierende Praktiken. Vielleicht widerstrebt es einigen Führungskräften ganz einfach, schwarze Arbeitskräfte einzustellen, vielleicht hegen Verkäufer Vorurteile und verkaufen nicht gern an hispanische Kunden. Es gibt jedoch auch Kritiker, die diesen Ansatz für tautologisch halten, weil er im Wesentlichen Folgendes aussagt: „Die Dinge sind
nun einmal so, weil die Leute wollen, dass sie so sind.“
Statistische Diskriminierung Eine der interessantesten Varianten der Diskriminierung ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen unvollständiger Information und unnatürlichen Anreizen. Wir sprechen von statistischer Diskriminierung, wenn Individuen aufgrund des verbreiteten Verhaltens von Mitgliedern ihrer Gruppe, nicht aber anhand ihrer persönlichen Merkmale und ihres Verhaltens beurteilt und behandelt werden. Diese Art der Diskriminierung tritt etwa auf, wenn ein Arbeitgeber seine Mitarbeiter anhand der Universität, von der sie kommen, beurteilt. Vielleicht hat er in der Vergangenheit beobachtet, dass Absolventen besserer Schulen im Durchschnitt produktiver sind. Dazu kommt, dass Abschlussnoten häufig nur schwer vergleichbar sind, weil die Notengebung stark differiert. So kann es geschehen, dass immer wieder Leute aufgrund ihrer Universität und nicht aufgrund ihrer Leistungen eingestellt werden. Bei genauerem Hinsehen müsste der Personalchef eigentlich erkennen, dass viele seiner hoch qualifizierten Arbeitskräfte aus ganz unbekannten Schulen kommen. Wir sehen hier eine häufige Form der statistischen Diskriminierung aufgrund der Durchschnittsqualität der Schulen. Statistische Diskriminierung führt zu Ineffizienzen, weil sie Stereotype verstärkt und die Anreize einzelner Mitglieder einer Gruppe verringert, sich weiterzubilden und Erfahrungen zu sammeln. Denken Sie an den Absolventen einer wenig bekannten Schule. Die betreffende Person weiß, dass sie hauptsächlich aufgrund des Rufs ihrer Schule beurteilt wird. Der Notendurchschnitt, der Schwierigkeitsgrad der besuchten Kurse, ihr tatsächliches Wissen und ihre praktische Erfahrung werden möglicherweise einfach ignoriert. Diese Person wird daher, wenn sie einer statistischen Diskriminierung ausge-
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
setzt ist, weniger motiviert sein, in ihre Ausund Weiterbildung zu investieren. Als besonders schädlich erweist sich statistische Diskriminierung übrigens im Zusammenhang mit Rasse, Geschlecht oder ethnischen Gruppen. Wenn Arbeitgeber alle schwarzen Jugendlichen als „unproduktiv“ ansehen, weil das eben ihrer Durchschnittserfahrung mit schwarzen Jugendlichen entspricht, wird der talentierte Einzelne nicht nur wie der Durchschnitt behandelt, sondern hat darüber hinaus wenig Anreiz, seine Fähigkeiten zu steigern. Statistische Diskriminierung begegnet uns in zahlreichen gesellschaftlichen Belangen. So mitteln Lebens- und Autoversicherungen im Allgemeinen das Risiko vorsichtiger und risikobereiter Leute. Damit verringern sie den Anreiz für die Versicherten, sich vorsichtig zu verhalten und senken sogar den Durchschnittsgrad an Vorsicht in der Bevölkerung. Frauen werden traditionell von Zahlenberufen wie technischen Jobs ausgeschlossen. Daher entscheiden sich Frauen im Allgemeinen eher für ein Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften und für die entsprechenden Berufe. Damit verstärken sie zusätzlich das Stereotyp, wonach Frauen ohnehin kein Interesse an Technik hätten. Statistische Diskriminierung reduziert Menschen nicht nur auf Stereotype aufgrund von Gruppenmerkmalen. Sie schadet auch der Motivation der Betroffenen, sich weiterzubilden, und verstärkt somit das ursprüngliche Stereotyp.
Wirtschaftliche Diskriminierung von Frauen Die größte Gruppe, die in der Wirtschaft unter Diskriminierung zu leiden hat, sind die Frauen. Vor einer Generation erzielten Frauen rund 70 Prozent des Lohns, den Männer erhielten. Dies war teils auf ihre mangelnde Ausbildung, aber auch auf fehlende praktische Erfahrung und andere Faktoren zurück-
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zuführen. Diese Kluft zwischen den Geschlechtern schließt sich heute deutlich. Der Großteil der verbleibenden Diskrepanz ist der „Familienmalus“ – der finanzielle Nachteil, den Frauen als Mütter zu tragen haben. Was steckt nun tatsächlich hinter den Einkommensunterschieden zwischen Männern und Frauen? Die Gründe sind komplex und auf soziale Gebräuche und Erwartungen ebenso wie auf statistische Diskriminierung und wirtschaftliche Faktoren, beispielsweise Schul- und Berufsausbildung sowie praktische Berufserfahrung, zurückzuführen. Im Allgemeinen erhalten Frauen gar nicht weniger Lohn für denselben Job. Das niedrigere Lohnniveau von Frauen kommt vielmehr daher, dass Frauen von bestimmten, gut bezahlten Jobs weitgehend ausgeschlossen bleiben, beispielsweise von den Berufen des Ingenieurs, des Baumeisters und des Bergbauexperten. Dazu kommt, dass Frauen ihre Berufskarriere häufig wegen der Kinder und des Haushalts unterbrechen und so die Disparität aufrechterhalten. Die wirtschaftliche Ungleichheit der Geschlechter wurde auch dadurch gestützt, dass bis vor kurzem nur wenige Frauen in den Vorständen großer Unternehmen saßen, sich als führende Gesellschafter großer Anwaltsbüros durchsetzten oder mit einer Professur an Spitzenuniversitäten betraut wurden.
Empirische Forschungsergebnisse Nach gründlicher theoretischer Analyse jener Mechanismen, die eine Diskriminierung zur Folge haben, wollen wir nun nach empirischen Belegen für das konstatierte Einkommensgefälle suchen. Frauen und Vertreter von Minderheiten verdienen durchschnittlich weniger als weiße Männer. So erzielten in Vollzeit beschäftigte Frauen in den USA im Jahr 1967 nur 60 Prozent der Einnahmen ihrer männlichen Kollegen. Dieser Wert stieg bis 1998 auf immerhin 73 Prozent. Arbeitsökonomen weisen darauf hin, dass Einkommensunterschiede nicht mit Diskrimi-
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
nierung gleichgesetzt werden dürfen. Häufig spiegeln sie auch eine unterschiedliche Ausbildung und Produktivität wider. Viele hispanische Arbeitskräfte erhalten traditionellerweise eine schlechtere Ausbildung als Weiße. Frauen haben üblicherweise längere Karriereausfälle als Männer. Da sowohl Ausbildung als auch ununterbrochene Berufstätigkeit einen Zusammenhang mit dem Einkommensniveau aufweisen, sollte uns ein gewisses Einkommensgefälle nicht überraschen. Doch inwieweit ist das Lohngefälle auf Diskriminierung und nicht auf Produktivitätsunterschiede zurückzuführen? Hier einige Erkenntnisse: • Die Diskriminierung von Frauen ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Abgesehen von kinderbedingten Nachteilen – die Müttern Einkommenseinbußen von 10 bis 15 Prozent bescheren – scheinen Frauen in den USA heute etwa gleich viel zu verdienen wie ähnlich qualifizierte Männer. • Die Kluft zwischen Afroamerikanern und Weißen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts enorm. Doch die Afroamerikaner konnten bis 1970 bedeutende Fortschritte erzielen. Daten aus den 1980er und 1990er Jahren zeigen, dass männliche Schwarze immer noch Einkommenseinbußen von 12–15 Prozent infolge der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt hinnehmen müssen. Weibliche Schwarze scheinen hingegen ähnlich hohe Einkommen wie weibliche Weiße zu beziehen. • Einer der sehr ermutigenden Trends besteht im Abbau der Beschäftigungsbarrieren für Frauen und Minderheiten in gut bezahlten Berufen. Im Zeitraum zwischen 1950 und 2000 stieg der Anteil der Frauen, die als Ärztinnen, Technikerinnen, Anwältinnen und Wirtschaftswissenschaftlerinnen arbeiteten, massiv an, bei den Anwältinnen etwa von 4 Prozent auf 29 Prozent. Ähnliche Trends lassen sich auch in anderen Bereichen feststellen, die traditionell
einem bestimmten Geschlecht oder einer Rasse vorbehalten waren.
Abbau der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt In den letzten 50 Jahren ergriffen die Vereinigten Staaten zahlreiche Maßnahmen, um den herrschenden diskriminierenden Praktiken ein Ende zu setzen. Die wichtigsten Schritte dazu waren bahnbrechende Gesetze wie der 1964 verabschiedete Civil Rights Act (mit dem die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt nach Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft verboten wurde) und der Equal Pay Act aus dem Jahre 1963 (der die Arbeitgeber dazu anhielt, Männer und Frauen für gleiche Arbeit gleich zu entlohnen). Diese Gesetze haben dazu beigetragen, die krassesten Diskriminierungspraktiken abzuschaffen; subtilere Barrieren bestehen aber nach wie vor. Um diesen zu begegnen, wurden durchgreifendere und auch umstrittenere politische Maßnahmen beschlossen, darunter die so genannte Affirmative Action. Damit wird der Arbeitgeber gesetzlich zum Nachweis gezwungen, dass er spezielle Maßnahmen trifft, um unterrepräsentierte Gruppen zu ermitteln und einzustellen. Studien bestätigen, dass sich dieser Ansatz auf die Beschäftigung und auf die Löhne von Frauen und Minderheiten positiv ausgewirkt hat. Die Affirmative Action wurde in den letzten Jahren jedoch auch häufig als „umgekehrte Diskriminierung“ kritisiert, und einige Bundesstaaten haben sie auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen außer Kraft gesetzt.
Ungleichmäßige Fortschritte Diskriminierung ist ein komplexer sozialer und ökonomischer Prozess. Sie wurde mithilfe von Gesetzen verstärkt und vollstreckt, die benachteiligten Gruppen einen gleichberechtigten Zugang zu Arbeitsplätzen, Wohnungen und Bildung verwehrten. Doch sogar
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
nach der Herstellung einer gesetzlichen Gleichstellung erhält die Trennung von Rassen und Geschlechtern die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit aufrecht. Die Fortschritte beim Abbau der Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen sind in den letzten 20 Jahren wieder ins Stocken geraten. Durch die Auflösung der traditionellen Kernfamilie, Kürzungen staatlicher Sozialprogramme, strenge Drogengesetze und die häufige Ver-
Teil 3
hängung von Gefängnisstrafen, diverse Rückschritte gegenüber früheren Antidiskriminierungsprogrammen und die sinkenden relativen Löhne von Hilfsarbeitern ist der Lebensstandard vieler Minderheitengruppen beeinträchtigt. Die Entwicklung verläuft ungleichmäßig, und nach wie vor verzeichnen wir bedeutende Unterschiede in der Einkommens-, Vermögens- und Berufssituation verschiedener Gruppen.
Zusammenfassung A. Die Grundlagen der Lohnbildung 1.
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3.
4.
Die Nachfrage nach Arbeit wird, wie bei jedem Produktionsfaktor, durch das Grenzprodukt der Arbeit bestimmt. Das allgemeine Lohnniveau eines Landes liegt daher im Allgemeinen höher, wenn seine Arbeitskräfte besser ausgebildet sind, wenn mehr und höherwertiges Kapital zur Verfügung steht und wenn moderne Produktionsmethoden zur Anwendung kommen. Das Arbeitsangebot in einem gegebenen Staat hängt von drei wesentlichen Faktoren ab: Bevölkerungszahl, durchschnittliche Arbeitszeit und Erwerbsquote. Für die USA stellt die Zuwanderung seit einigen Jahren eine wichtige Quelle neuer Arbeitskräfte dar, wobei der Anteil der ungelernten oder schlecht ausgebildeten Einwanderer zugenommen hat. Steigende Löhne haben zwei gegenläufige Auswirkungen auf das Arbeitsangebot. Der Substitutionseffekt drängt jeden Arbeitnehmer dazu, wegen der besseren Bezahlung seiner Arbeitszeit länger zu arbeiten. Der Einkommenseffekt hat die gegenteilige Wirkung, weil höhere Löhne auch bedeuten, dass sich der Arbeitnehmer nun mehr Freizeit und andere Annehmlichkeiten leisten kann. Ab einem kritischen Lohnniveau kann die Angebotskurve daher rückwärts geneigt sein. Das Arbeitsangebot hochbegabter, in einer bestimmten Beziehung einzigartiger Menschen ist weitgehend unelastisch: Hier bilden die Löhne eine reine volkswirtschaftliche Rente. Bei vollständigem Wettbewerbsgleichgewicht und unter der Annahme, dass alle Arbeitnehmer und alle Arbeiten exakt gleich gestaltet sind, dürfte es keine Lohnunterschiede geben. Das Gleichgewichtslohnniveau, das jeweils
durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird, wäre genau gleich. Doch sobald wir uns von unrealistischen Annahmen über die Gleichheit von Menschen und Jobs verabschieden, stellen wir ganz beachtliche Lohnunterschiede fest, und das auch auf einem vollkommenen Arbeitsmarkt. Das kompensatorische Lohndifferenzial zum Ausgleich nichtmonetärer qualitativer Unterschiede verschiedener Arbeitsplätze erklärt teilweise dieses Lohngefälle. Eine weitere wichtige Erklärung sind Unterschiede in der Qualität der Arbeit des Einzelnen. Außerdem besteht der Arbeitsmarkt aus unzähligen, untereinander nicht konkurrierenden oder nur teilweise konkurrierenden Gruppen.
B. Arbeitsmarkt: Probleme und politische Maßnahmen 5.
Gewerkschaften spielen in der US-Wirtschaft eine zwar wichtige, aber zunehmend geringere Rolle, sowohl hinsichtlich ihrer Mitgliederzahl als auch in Bezug auf ihren Einfluss. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter setzen sich zu Kollektivvertragsverhandlungen an einen Tisch. Die so ausgehandelten Verträge enthalten im Normalfall Tarifbestimmungen sowie eine Regelung der Sozialleistungen und der Arbeitsbedingungen. Gewerkschaften nehmen Einfluss auf die Löhne, indem sie kollektivvertragliche Standardlöhne vereinbaren. Um jedoch die Reallöhne über das durch den Markt vorgegebene Niveau anzuheben, müssen die Gewerkschaften im Allgemeinen verhindern, dass gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt drängen oder in einen Wettbewerb mit den Gewerkschaftsmitgliedern treten.
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
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7.
8.
Mit volkswirtschaftlichen Theorien lässt sich das Ergebnis von Kollektivvertragsverhandlungen nicht sicher vorhersagen. Ein so genanntes bilaterales Monopol, wie es Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite (vergleichbar der Situation im Kriegsfall oder bei Zweipersonenspielen) darstellen, weist keine theoretisch eindeutig vorhersagbare Lösung auf. Empirische Studien haben ergeben, dass Gewerkschaften die Löhne ihrer Mitglieder im Vergleich zu nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern tatsächlich anheben können. Dieser „Gewerkschaftsbonus“ ist im letzten Jahrzehnt durch den Wettbewerbsdruck von Seiten nicht gewerkschaftlich organisierter und ausländischer Arbeitskräfte aber wahrscheinlich geringer geworden. Zwar gelingt es den Gewerkschaften, die Löhne ihrer eigenen Mitglieder in die Höhe zu treiben, doch bisherigen Analysen zufolge können sie die Reallöhne insgesamt und somit auch den auf die Arbeit entfallenden Anteil am Volkseinkommen nicht erhöhen. Es darf angenommen werden, dass die gewerkschaftliche Tätigkeit die Arbeitslosigkeit unter den Gewerkschaftsmitgliedern erhöht, weil diese es vorziehen, auf einen neuen, gut bezahlten Arbeitsplatz zu warten, anstatt eine schlechter bezahlte Arbeit in einer anderen Branche anzunehmen. Und in Ländern mit unflexiblem Preisgefüge können überhöhte Reallöhne die so genannte klassische Arbeitslosigkeit auslösen. Aufgrund einer Laune der Geschichte genießt eine kleine Minderheit männlicher Weißer
weltweit den größten Wohlstand. Selbst mehr als ein Jahrhundert nach Abschaffung der Sklaverei konstatieren wir immer noch ungleiche Chancen und wirtschaftliche, rassische und geschlechtsspezifische Diskriminierung – Faktoren, die zu Einkommensverlusten der unterprivilegierten Gruppen führen. 9. Diskriminierung hat viele Ursachen. Ein wichtiger auslösender Mechanismus ist die Entstehung und Beibehaltung nicht konkurrierender Gruppen. Durch die Segmentierung des Arbeitsmarktes, auf dem leitende Positionen männlichen Weißen vorbehalten bleiben, während Frauen und Minderheiten auf niedere Dienste ohne Karriereaussichten zurückverwiesen werden, können Einkommensunterschiede in einer Wirtschaft jahrzehntelang bestehen bleiben. Zusätzlich kommt es zur statistischen Diskriminierung, wenn Individuen anhand des durchschnittlichen Verhaltens ihrer jeweiligen Gruppe beurteilt und behandelt werden. Diese subtile Form der Diskriminierung führt zur Stereotypisierung des Individuums, verringert seine Motivation, sich weiterzubilden und zu verbessern, und verstärkt so weiter das ursprüngliche Stereotyp. 10. Maßnahmen zur Verringerung der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt wurden in viele verschiedene Richtungen hin unternommen. Frühe Ansätze konzentrierten sich vor allem auf das Verbot von Verhaltensweisen, die eine Diskriminierung implizieren, während man es später mit positiven gesetzlichen Maßnahmen wie der „Affirmative Action“ versuchte.
Begriffe zur Wiederholung Lohnbildung bei vollständigem Wettbewerb
Themen des Arbeitsmarktes
Bestimmende Elemente der Arbeitsnachfrage: Arbeitsqualität Technologie Qualität der anderen Inputs Bestimmende Elemente des Arbeitsangebots: Arbeitszeit Teilnahme am Arbeitsmarkt Zuwanderung Substitutions- und Einkommenseffekt Kompensatorisches Lohndifferenzial Volkswirtschaftliche Rente als Lohnfaktor Segmentierte Märkte und nicht konkurrierende Gruppen
Kollektivvertragsverhandlungen Gewerkschaften als Monopole Gewerkschaften als Marktzutrittsbarriere Einfluss der Gewerkschaften auf die Reallöhne Klassische Arbeitslosigkeit Diskriminierung Einkommensunterschiede: Qualitätsunterschiede versus Diskriminierung Statistische Diskriminierung Maßnahmen gegen Diskriminierung
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
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Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine Erläuterung der Humankapitaltheorie finden Sie in Gary S. Becker, Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, 3. Aufl. (University of Chicago Press, 1993). Die Arbeitsökonomie ist Gegenstand intensiver Forschungstätigkeit. Viele ihrer wichtigsten Themen werden in modernen Studien wie jener von Ronald G. Ehrenberg und Robert S. Smith, Modern Labor Economics: Theory and Applications, 10. Aufl. (Norton, New York, 2002), behandelt. Einen hervorragenden Überblick über das Thema Diskriminierung aus volkswirtschaftlicher Sicht bietet das Symposium über Diskriminierung auf dem Produkt-, Darlehens- und Arbeitsmarkt in: Journal of Economic Perspectives, Frühling 1998. Deutschsprachige Literatur: Mark Fudalla, Tarifautonomie und die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes (Lang, Frankfurt a.M., 1997).
Websites Analysen der US-Arbeitsmarktdaten bietet das Bureau of Labor Statistics, das Sie unter www.bls.gov im Internet finden. Die Site enthält auch eine Online-Version des The Monthly Labor Review, eine ausgezeichnete Quelle für Studien über Löhne und Beschäftigung. Reallohntrends können unter „Earnings of College Graduates: Women Compared with Men”, Monthly Labor Review, März 1998, online auf www.bls.gov/opub/mlr/mlrhome.htm nachgelesen werden. Die Trends auf dem Arbeitsmarkt unter besonderer Berücksichtigung neuer Technologien und Diskriminierung sind in Economic Report of the President, 2000, Kap. 4, „Work and Learning in the 21st Century” hervorragend dargestellt, abrufbar unter w3.access.gpo.gov/eop/. Eine internationale Perspektive auf den Arbeitsmarkt bietet die Website der ILO: www.ilo.org.
Übungen 1.
2.
Was könnte man unternehmen, um die in Abbildung 13-8 dargestellte Segmentierung der Märkte zu unterbinden? Erklären Sie in Worten und anhand eines Angebots- und Nachfragediagramms die Auswirkungen folgender Situationen auf die Löhne und die Beschäftigungssituation am jeweiligen Arbeitsmarkt: a. Bei gewerkschaftlich organisierten Maurern: Die Maurergewerkschaft hat eine niedrigere Arbeitsvorgabe ausgehandelt; anstatt 60 Backsteine sind nur noch 50 Backsteine pro Stunde zu verarbeiten. b. Bei Piloten: Nach der Deregulierung der Luftfahrt konnten gewerkschaftlich nicht organisierte Fluglinien wie Continental ihren Marktanteil um 20 Prozent steigern. c. Bei Ärzten: In vielen Staaten überträgt man heute Krankenpflegern bestimmte Aufgaben, die bisher Ärzten vorbehalten waren.
d.
3.
4.
Bei Arbeitern der US-Automobilindustrie: Japan hat zugestimmt, seine Autoexporte in die USA zu drosseln. Erklären Sie, wie sich folgende Situationen auf die bestehenden Lohnunterschiede (Lohndifferenziale) auswirken könnten: a. Eine Verteuerung der College-Ausbildung. b. Freier Personenverkehr unter den Ländern Europas. c. Einführung einer kostenlosen öffentlichen Schulbildung in einem Land, in dem Schulen zuvor privat und teuer waren. d. Eine drastische Ausweitung des Publikums öffentlicher Sportveranstaltungen und Unterhaltungssendungen durch den technologischen Wandel. Es kommt zu Diskriminierungen, wenn benachteiligte Gruppen wie Frauen oder Afroamerikaner auf dem Weg einer Segmentierung des Arbeitsmarktes in Niedriglohnmärkte ab-
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Kapitel 13 Der Arbeitsmarkt
5.
gedrängt werden. Erklären Sie, wie jede der folgenden Gepflogenheiten, die in manchen Fällen noch bis vor kurzem anzutreffen waren, dazu beigetragen hat, die diskriminierende Arbeitsmarktsegmentierung aufrechtzuerhalten. a. An vielen Schulen war es Frauen verboten, Technik zu studieren. b. An zahlreichen Spitzen-Colleges waren Frauen nicht zugelassen. c. Farbige und Weiße wurden in unterschiedlichen Schulsystemen ausgebildet. d. Frauen, Afroamerikaner oder Katholiken hatten keinen Zutritt zu elitären Clubs. e. Arbeitgeber weigerten sich, Arbeitskräfte einzustellen, die die öffentlichen städtischen Schulen besucht hatten, weil die durchschnittliche Produktivität der Abgänger dieser Schulen niedrig war. In den letzten Jahren hat sich der Zuzug schlecht ausgebildeter ausländischer Arbeitskräfte mit geringem Einfluss auf das Arbeitsangebot an Fachkräften verstärkt. Eine Studie von George Borjas, Richard Freeman und Lawrence Katz gelangt zu dem Ergebnis, dass die Löhne von High-School-Abbrechern gegenüber den Löhnen von College-Absolventen in den 1980er Jahren infolge von Immigration und internationalem Handel um geschätzte 4 Prozent gesunken sind. a. Die Auswirkungen der Zuwanderung sind in Abbildung 12-6 des vorigen Kapitels erläutert. Zeichnen Sie die Diagramme neu, indem Sie Teil (a) als „Markt für ausgebildete Fachkräfte“ und Teil (b) als „Markt für schlecht ausgebildete Arbeitnehmer“ bezeichnen. Erhöhen Sie dann die Zuwanderung und damit das Angebot an schlecht ausgebildeten Arbeitskräften durch eine
6.
Verschiebung nach rechts unten, während Sie zugleich das Angebot an gut ausgebildeten Fachkräften gleich belassen. Wie würden sich die relativen Löhne der gut und der schlecht ausgebildeten Arbeitnehmer und wie das jeweilige Beschäftigungsniveau infolge der Immigration entwickeln? b. Analysieren Sie die Auswirkungen des internationalen Handels auf Löhne und Beschäftigung. Nehmen wir an, der Abbau der Handelsschranken hätte die Nachfrage nach ausgebildeten Arbeitskräften in (a) erhöht, zugleich aber die Nachfrage nach heimischen schlecht ausgebildeten Arbeitern in (b) gesenkt. Weisen Sie nach, dass sich durch diese Entwicklung die Schere zwischen gut und schlecht ausgebildeten Arbeitnehmern weiter öffnet. Man hört bisweilen die Befürchtung, hohe Steuersätze könnten das Arbeitsangebot verringern. Überlegen Sie sich die Auswirkungen höherer Steuern bei einer rückwärts geneigten Arbeitsangebotskurve wie folgt: Bezeichnen Sie den Lohn vor Steuern als W, den Lohn nach Steuern als Wp und den Steuersatz als t. Erklären Sie die Beziehung Wp = (1 – t)W. Erstellen Sie eine Tabelle, in der Sie die Löhne vor und nach Steuern angeben, wenn der Lohn vor Steuern US-$ 10 pro Stunde und der Steuersatz 0, 15, 25 bzw. 40 Prozent beträgt. Wenden Sie sich nun Abbildung 13-4 zu. Zeigen Sie für die Bereiche über und unter Punkt C die Auswirkungen eines geringeren Steuersatzes auf das Arbeitsangebot. Erklären Sie anhand Ihrer Tabelle die Beziehung zwischen Steuersatz und staatlichen Steuereinnahmen.
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KAPITEL 14 Boden und Kapital
Boden ist eine gute Investition. Der wird nicht mehr hergestellt. Will Rogers
Das Wirtschaftssystem der USA ist „kapitalistisch“. Wir meinen damit, dass sich Kapital und sonstige Vermögenswerte des Landes weitgehend in privater Hand befinden. Im Jahr 2003 betrug der Nettokapitalbestand im Land der unbegrenzten Möglichkeiten US-$ 100.000 pro Kopf, wovon 68 Prozent auf private Unternehmen, 14 Prozent auf Privatpersonen und 19 Prozent auf staatlichen Besitz entfielen. Darüber hinaus war eine weitgehende Konzentration des Volksvermögens bei den reichsten US-Bürgern festzustellen. Im Gegensatz dazu gehörte in sozialistischen Ländern wie der Sowjetunion vor 1991 der Löwenanteil an Boden und Kapital dem Staat, und es gab dort auch keine Superreichen wie J.P. Morgan oder Bill Gates. Im Kapitalismus entfällt der größte Brocken aller Ersparnisse auf Einzelpersonen und privat geführte Unternehmen, die auch den überwiegenden Teil des Vermögens besitzen und aus ihren Investitionen die größten Gewinne ziehen. Der Unterschied zwischen armen und reichen Ländern resultiert hauptsächlich aus der Fähigkeit letzterer, Ersparnisse anzuhäufen und diese in Kapitalanlagen mit hohen Renditen zu investieren. Doch das Vermögen eines Landes besteht, abgesehen von seinen Menschen, aus viel mehr als seinen Sachanlagen. Wir müssen hierzu auch den gesamten landwirtschaftlich genutzten Boden sowie Bodenschätze wie Erdöl und Mineralien, aber auch Umweltressourcen wie saubere Luft, Nationalparks oder Sandstrände zählen. In diesem Kapitel wollen wir die Funktionsweise der Faktormärkte für die – abgesehen von der menschlichen Arbeit – wichtigsten Produktionsfaktoren, nämlich Boden und Kapital, beleuchten. Wir beginnen mit einer Betrachtung des Marktes für Boden, der einen vollkommen unelastischen und seinerseits nicht „erzeugten“ Produktionsfaktor darstellt. Anschließend wollen wir uns der entscheidenden Frage zuwenden, wie Angebot und Nachfrage nach Kapital, das ja sowohl Output als auch Input ist, funktionieren. Wir vertiefen damit unser Verständnis
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
einiger wesentlicher Merkmale der kapitalistischen Marktwirtschaft. Im Anhang zu diesem Kapitel wollen wir das Verhalten aller Märkte, die so genannte allgemeine Gleichgewichtstheorie, unter die Lupe nehmen.
A. Boden und Bodenrente Rente als Ertrag eines vollkommen unelastischen (fixen) Produktionsfaktors
Als Rente (oder reine volkswirtschaftliche Rente) bezeichnet man Zahlungen, die für die Nutzung von Produktionsfaktoren mit vollkommen unelastischer (fixer) Angebotsmenge zu leisten sind. Marktgleichgewicht. Die Angebotskurve für Boden ist vollkommen unelastisch – verläuft also vertikal –, weil das Bodenangebot fix ist. In Abbildung 14-1 schneiden einander die Nachfrage- und die Angebotskurve im Gleichgewichtspunkt E. Die Bodenrente muss sich somit in Richtung dieses Faktorpreises bewegen. Warum? Ein Anstieg der Rente über den Gleichgewichtspreis hätte einen Rückgang der NachD
1 Manchmal kommen natürliche Ressourcen in Kombination mit Boden vor. Wir vertagen jedoch die volkswirtschaftliche Analyse der natürlichen Ressourcen auf Kapitel 18.
S
R
Bodenrente
Wenn Sie nicht vorhaben, Ihr Unternehmen von einem Ballon aus zu betreiben, ist Boden für Sie wie für jedes Unternehmen ein ganz wesentlicher Produktionsfaktor. Was Boden zu etwas so Besonderem macht, ist seine feststehende Menge und fehlende Preiselastizität.1 Der Preis für die Nutzung von Boden oder anderen fixen Faktoren wird als Rente (oder reine volkswirtschaftliche Rente) bezeichnet. Diese Rente berechnen wir in Geldeinheiten pro Zeiteinheit. So könnte die Bodenrente in der Wüste von Arizona etwa US-$ 1 pro Hektar und Jahr betragen, während man im Zentrum von New York oder Tokio mit US-$ 2 Millionen pro Hektar und Jahr zu rechnen hätte. Ökonomen verwenden den Begriff Rente übrigens nicht nur für Boden, sondern für jeden Produktionsfaktor mit fixer Angebotsmenge. Sollten Sie sich entschlossen haben, US-$ 1 Million hinzublättern, damit Jennifer Lopez bei Ihrer Geburtstagsparty auftritt, wäre diese Million die Rente für den Einsatz eines einzigartigen Faktors.2
Teil 3
E
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0
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Bodenangebot
Abbildung 14-1: Das fixe Bodenangebot arbeitet zu jedem beliebigen Faktorpreis Ein absolut unelastisches Angebot ist für den Fall der „Bodenrente“, manchmal auch als „reine volkswirtschaftliche Rente“ bezeichnet, charakteristisch. Wir verfolgen die SS-Kurve nach oben bis zur Faktornachfrage, um die Rente zu bestimmen. Abgesehen vom Boden lassen sich Renten-Überlegungen auch auf reichhaltige Öl- und Goldbestände, auf große Basketballspieler und alle anderen Produktionsfaktoren mit fixem Angebot anwenden. 2 Denken Sie stets daran: Der Begriff „Rente“ wird in der Volkswirtschaftslehre auf ganz spezielle und spezifische Weise verwendet und bezeichnet dabei Zahlungen für Produktionsfaktoren mit fixem Angebot. Im täglichen Gebrauch hat dieses Wort andere Bedeutungen, etwa die von Pensionszahlungen.
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Kapitel 14 Boden und Kapital
Aufgrund des unelastischen Bodenangebotes arbeitet Boden immer für den gerade erzielbaren Preis. Somit leitet sich der Wert des Bodens ausschließlich vom Wert des Produktes ab, nicht aber umgekehrt.
Grundsteuer Die Tatsache, dass das Bodenangebot vollkommen unelastisch oder fix ist, hat eine äußerst wichtige Konsequenz. Betrachten wir den Grundstücksmarkt in Abbildung 14-2 und nehmen wir an, der Staat würde eine 50-prozentige Steuer auf alle Bodenrenten erheben, wobei zu beachten ist, dass Gebäude oder Sanierungsmaßnahmen nicht besteuert werden, weil dadurch zweifellos die Bautätigkeit negativ beeinflusst würde. Besteuert wird so-
S
D
R Bodenrente (US-$ pro Jahr)
frage der Unternehmen nach Grund und Boden unter das bestehende Angebot zur Folge. Manche Immobilienbesitzer könnten daher ihr Land gar nicht verpachten. Sie müssten es billiger anbieten, also die Bodenrente senken. Im Umkehrschluss kann die Rente auch nicht lange unter dem Gleichgewichtspunkt verharren. Dann würden nämlich Unternehmen, deren Nachfrage noch nicht befriedigt ist, die Rente wieder auf Gleichgewichtsniveau anheben. Nur mit einem Wettbewerbspreis, bei dem die gesamte nachgefragte Bodenmenge genau dem fixen Bodenangebot entspricht, befindet sich der Markt im Gleichgewicht. Nehmen wir an, ein bestimmtes Grundstück wäre ausschließlich zum Maisanbau geeignet. Mit steigender Nachfrage nach Mais bewegt sich die Nachfragekurve nach Ackerland für Mais nach rechts oben, und die Rente steigt ebenfalls. Damit haben wir, was Grund und Boden betrifft, bereits eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Der Bodenpreis ist hoch, weil der Maispreis hoch ist. Wir haben es hier mit einem sehr anschaulichen Beispiel einer abgeleiteten Nachfrage zu tun: Die Nachfrage nach einem Produktionsfaktor leitet sich von der Nachfrage nach dem Gut ab, das mithilfe dieses Faktors produziert wird.
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Bodenangebot
Abbildung 14-2: Grundsteuern trägt wegen des fixen Angebots an Boden der Eigentümer, während der Staat die reine volkswirtschaftliche Rente abschöpfen kann Eine Besteuerung des fixen Bodenangebotes lässt die von den Nutzern bezahlten Bodenpreise unverändert bei E und verringert nur die von den Bodeneigentümern eingenommene Rente auf E'. Was sollten die Eigentümer auch anderes tun, als den geringeren Ertrag zu akzeptieren? Diese Überlegung bildet die Grundlage für Henry Georges Einsteuerbewegung, die bestrebt war, den höheren Bodenwert der Gesellschaft zugute kommen zu lassen, ohne die Ressourcenallokation zu verzerren.
mit nur das Einkommen oder die Rente aus dem fixen Angebot landwirtschaftlicher Nutzflächen und städtischer Baugrundstücke. Trotz Grundsteuer verändert sich die Bodennachfrage nicht. Bei einem Preis (inklusive Steuer) von US-$ 200 in Abbildung 14-2 wird weiterhin das gesamte fixe Angebot an Boden nachgefragt. Daher bleibt bei fixem Angebot die Bodenrente auf dem Markt (inklusive Steuern) unverändert, also im ursprünglichen Marktgleichgewicht in Punkt E. Wie aber entwickelt sich die von den Grundbesitzern eingenommene Bodenrente? Nachfrage und Angebot sind unverändert, weshalb die Steuer offenbar keine Auswirkungen auf den Marktpreis hat, sondern zur Gänze aus der Tasche des Grundstücksbesitzers bezahlt werden muss. Diese Situation ist in Abbildung 14-2 dargestellt. Bei den Summen, die der Bauer bezahlt
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
und der Grundbesitzer erhält, handelt es sich um zwei ganz unterschiedliche Beträge. Für den Grundbesitzer ist der Effekt einer 50prozentigen staatlichen Steuer derselbe, als hätte sich die Nettonachfrage von DD nach D'D' verringert. Die Gleichgewichtsrente für den Grundbesitzer beträgt nach Steuern nur noch E' oder die Hälfte von E. Bei vollständig unelastischem Angebot wird die gesamte Steuer auf den Faktoreigentümer überwälzt. Natürlich werden die Grundbesitzer sich wütend beschweren. Doch unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen haben sie keine Chance, denn das Gesamtangebot an Boden lässt sich nicht verändern, und der Boden muss für den jeweils erzielbaren Ertrag arbeiten. Ein halber Kuchen ist immer noch besser als gar keiner. Vielleicht fragen Sie sich nun, welche Auswirkungen eine solche Besteuerung des Bodens auf die volkswirtschaftliche Effizienz hätte. Das erstaunliche Ergebnis: Eine Besteuerung von Grund und Boden führt zu keinerlei Verzerrungen oder volkswirtschaftlichen Ineffizienzen, weil die Besteuerung einer reinen volkswirtschaftlichen Rente ohne Einfluss auf das wirtschaftliche Verhalten bleibt. Die Nachfrageseite ist bei unverändertem Preis nicht betroffen, und auch die Angebotsseite bleibt, wie sie ist, weil das Angebot an Boden fix ist und daher nicht verändert werden kann. Fazit: Die Wirtschaft funktioniert nach Einführung der Steuer genauso wie zuvor – ohne jede Verzerrung oder Ineffizienz aufgrund der Besteuerung von Grund und Boden. Die Besteuerung einer reinen volkswirtschaftlichen Rente führt zu keinen Verzerrungen oder Ineffizienzen. Die „Einsteuerbewegung“ des Henry George Die soeben entwickelte Theorie der reinen volkswirtschaftlichen Rente stand auch hinter der Einsteuer- oder Alleinsteuerbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Teil 3
Damals expandierte die amerikanische Bevölkerung durch den Zuzug aus allen Kontinenten sehr rasch. Bevölkerungswachstum und der Ausbau der Eisenbahnen bis in den amerikanischen Westen brachten einen Boom der Bodenrenten und sorgten für satte Gewinne derjenigen, die das Glück gehabt hatten oder klug genug waren, frühzeitig Grund und Boden zu erwerben. Warum also, so fragte sich mancher, sollte es diesen glücklichen Grundbesitzern gestattet sein, laufend ein „unverdientes Bodeneinkommen“ zu beziehen ? Henry George (1839–1897), von Beruf Journalist, der sich aber auch Gedanken über die Volkswirtschaft machte, verdichtete diese Idee zu einem Buch, das zum Bestseller wurde: Progress and Poverty (1879). In diesem Werk forderte er die Finanzierung des Staates hauptsächlich über Grundsteuern, wohingegen er alle anderen Steuern auf Kapital, Arbeit und Bodenaufwertung abschaffen wollte. George meinte, eine solche Steuer könnte zu einer gerechteren Einkommensverteilung führen, ohne die volkswirtschaftliche Produktivität zu beeinträchtigen. Doch während die US-Wirtschaft keine großen Anstalten machte, diesem Einsteuerideal nachzustreben, wurden doch viele der Ideen von Henry George von späteren Generationen politischer und wirtschaftlicher Reformer gern übernommen. In den 1920er Jahren erweiterte der britische Ökonom Frank Ramsey den Ansatz von George um eine Effizienzanalyse der unterschiedlichen Arten von Steuern. Dies führte zur Entwicklung der Effizienz- oder Ramsey-Steuertheorie. Ramseys Analyse zeigt, dass Steuern dann am wenigsten zu Verzerrungen führen, wenn sie in Bereichen erhoben werden, in denen Angebot oder Nachfrage weitgehend preisunelastisch sind. Die Überlegung hinter Ramseys Steuertheorie ist im Wesentlichen dieselbe, die in Abbildung 14-2 dargestellt ist. Ist das Angebot oder die Nachfrage eines Gutes weitgehend unelastisch, zeigt eine Besteuerung dieses Gutes kaum Auswirkungen auf Produktion und Konsum, und die Verzerrung hält sich in Grenzen.
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Kapitel 14 Boden und Kapital
B. Kapital und Zinsen Du willst deinen Kuchen essen und behalten? Kein Problem! Verleihe ihn als gut verzinstes Darlehen! Anonym
Die Grundbegriffe In der volkswirtschaftlichen Analyse werden Produktionsfaktoren zumeist in drei Kategorien unterteilt: Boden, Arbeit und Kapital. Die ersten zwei bezeichnen wir als primäre oder ursprüngliche Produktionsfaktoren, und ihr Angebot bildet sich abseits des Marktes. Als dritter im Bunde tritt ein produzierter oder abgeleiteter Faktor hinzu, nämlich das Kapital beziehungsweise die Kapitalgüter. Kapital, das sind jene dauerhaften, ihrerseits produzierten Güter, die als Inputs in der künftigen Produktion Verwendung finden. Manche Kapitalgüter haben eine Lebensdauer von wenigen Jahren, während andere auch ein Jahrhundert oder länger genutzt werden können. Das Hauptmerkmal von Kapitalgütern besteht darin, dass sie zugleich Input und Output darstellen. Kapitalgüter lassen sich in drei Hauptkategorien einteilen: Gebäude (wie Fabriken und Wohnhäuser), maschinelle Ausstattung (darunter sind dauerhafte Konsumgüter wie Autos und dauerhafte Produktionsgüter wie Maschinen und Computer zu verstehen) sowie Lagerbestände an Input- und Outputgütern (beispielsweise jene Autos, die ein Autohändler auf Lager hat).
Preis und Zins von Kapitalgütern Kapitalgüter werden auf Kapital- oder Investitionsgütermärkten gekauft und verkauft. Dell verkauft beispielsweise Computer an Unternehmen, die diese nutzen, um die Effizienz ihrer Lohnbuchhaltung zu steigern oder die Produktion effizienter zu gestalten.
Dabei können wir die Preise der Kapitalgüter beobachten. Kapitalgüter befinden sich zumeist im Eigentum des Unternehmens, das sie nutzt. Manche Kapitalgüter werden jedoch von ihren Eigentümern auch vermietet. Eine Zahlung für die zeitlich beschränkte Nutzung von Kapitalgütern wird als (Miet-)Zins bezeichnet. So könnte etwa eine Wohnung, die Frau Hausbesitzerin gehört, für die Dauer eines Jahres an einen Studenten vermietet werden, wobei die monatliche Zahlung von US-$ 600 den für die Wohnung zu entrichtenden Zins darstellt. Wir unterscheiden zwischen Rente für vollkommen unelastische oder fixe Produktionsfaktoren wie Boden und Zins für dauerhafte Produktionsfaktoren wie Kapital.3
Die Rendite von Kapitalgütern Eine der wichtigsten Aufgaben jeder Volkswirtschaft, jedes Unternehmens und jedes Haushalts besteht in der richtigen Verteilung oder Allokation des Kapitals auf die verschiedenen Investitionsmöglichkeiten. Sollte ein Land beispielsweise seine Investitionsressourcen lieber in die Schwerindustrie, etwa in Stahlwerke, oder doch eher in Informationstechnologien wie das Internet stecken? Wäre es für Intel ratsam, für US-$ 4 Milliarden eine Fabrik zu bauen, um darin die nächste Generation von Mikroprozessoren herzustellen? Sollte Farmer Jones in der Hoffnung, seine Buchhaltung damit verbessern zu können, ein für seine Zwecke maßgeschneidertes und teures Computerprogramm kaufen oder sich doch lieber mit der für rund US-$ 100 erhältlichen Standardanwendung begnügen? Bei all diesen Fragen geht es um kostspielige Investitionen – Geld, das heute ausgegeben wird, um künftige Erträge zu erzielen.
3 Denken Sie an die Warnung in Fußnote 2 oben, was die spezifische Bedeutung des Begriffs „Rente“ in der Volkswirtschaftslehre betrifft. Eine ganz ähnliche Warnung gilt auch für den Begriff „Zins“.
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Die Entscheidung über die bestmögliche Investition erfordert einen verlässlichen Maßstab für den zu erzielenden Ertrag oder Rückfluss. Ein solcher Maßstab ist die Kapitalrendite, die uns den jährlichen Nettoertrag jeder in Kapitalgüter investierten Geldeinheit angibt. Betrachten wir als Beispiel eine Leihwagenfirma. Die Ugly Duckling Rental Company kauft einen gebrauchten Ford für US-$ 10.000 und vermietet ihn für US-$ 2.500 pro Jahr. Unter Berücksichtigung aller Ausgaben (für Wartung, Versicherung, Abschreibung4 und so weiter) und unter Vernachlässigung möglicher Änderungen der Autopreise erwirtschaftet Ugly Duckling Nettomieteinnahmen von US-$ 1.200 jährlich. Wir können somit sagen, dass die Rendite auf den Ford 12 Prozent jährlich oder US-$ 1.200 von US-$ 10.000 beträgt. Beachten Sie bitte auch, dass die Rendite nichts weiter als eine Zahl je Zeiteinheit ist. Sie bezeichnet daher (Geldeinheiten pro Periode) / Geldeinheiten) und wird üblicherweise als Zinssatz, nämlich als jährlicher Prozentsatz, ausgewiesen. Möglicherweise stehen Sie vor der Entscheidung zwischen verschiedenen Geldanlagen: Mietautos, Ölquellen, Wohnraum, Bildung und so weiter. Ihr Finanzberater hat Ihnen mitgeteilt, dass Sie zu knapp bei Kasse sind, um alle diese Investitionen zu tätigen. Wie können Sie in dieser Situation eine sinnvolle Entscheidung treffen? Nun, es wäre bestimmt sinnvoll, die Kapitalrendite jeder einzelnen ins Auge gefassten Investition auszurechnen. Ermitteln Sie dazu die Kosten des jeweiligen Kapitalguts. Schätzen Sie dann die jährlichen Geldeinnahmen oder den Zins, den Ihnen diese Güter einbringen würden. Das Verhältnis zwischen jährlichem Zins und Kosten ergibt die Kapitalrendite. Sie sagt Ihnen, wie viel Geld Sie für jede investierte Geldeinheit zurückerhal-
4 Abschreibung ist ein Schätzwert des finanziellen Verlusts eines Kapitalgutes infolge Alterung oder Verschleiß in einer bestimmten Periode.
Teil 3
ten, und zwar gemessen als jährlicher Geldbetrag pro investiertem Geldbetrag. Die Kapitalrendite entspricht der jährlichen Nettorendite (Zins abzüglich Kosten) pro Geldeinheit der Kapitalinvestition. Es handelt sich hierbei um eine einfache Zahl – einen jährlichen Prozentsatz. Von Wein, Bäumen und Bohrern. Einige Beispiele zum Thema Kapitalrendite: • Ich kaufe Traubensaft für US-$ 10 und verkaufe ihn ein Jahr später als Wein für US-$ 11. Entstehen keine weiteren Kosten, beträgt die Kapitalrendite aus dieser Investition US-$ 1 / US-$ 10 oder 10 Prozent jährlich. • Ich pflanze eine Kiefer, und daraus entstehen mir Arbeitskosten von US-$ 100. Nach 25 Jahren kann ich das Holz des Baums für US-$ 430 verkaufen. Die Kapitalrendite dieses Projekts beträgt demnach 330 Prozent in 25 Jahren, was, wie uns der Taschenrechner zeigt, einer Rendite von 6 Prozent jährlich entspricht. Das heißt: US$ 100 (1,06)25 = 430. • Ich kaufe eine Ölbohrausrüstung für US-$ 20.000. Diese erbringt zehn Jahre lang einen Zins von jeweils US-$ 30.000, allerdings entstehen mir auch alljährlich Kosten von US-$ 26.000 für Treibstoff, Versicherung und Wartung. Mit der verbleibenden Nettorendite von US-$ 4.000 kann ich die Zinsen bedienen und das Kapital von US-$ 20.000 innerhalb von zehn Jahren zurückzahlen. Wie hoch ist die Kapitalrendite meiner Bohrausrüstung? Statistische Tabellen zeigen mir, dass die Rendite 15 Prozent jährlich beträgt.
Finanz- oder Sachanlagen? Bei Betrachtung der Bilanz eines Unternehmens oder eines Haushalts erkennen wir eine bunte Mischung aus Finanz- und Sachanlagen. Sachanlagen bestehen aus Boden und
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Kapitel 14 Boden und Kapital
Kapitalgütern wie Computern, Gebäuden und Autos, die zur Produktion weiterer Güter und Dienstleistungen benötigt werden. Wir müssen diese aber von den Finanzanlagen unterscheiden, die im Wesentlichen nichts weiter als ein paar Blätter Papier sind. Konkret stellen Finanzanlagen finanzielle Forderungen einer Partei an eine andere dar. Ein wichtiges Beispiel für eine Finanzanlage ist der Hypothekarkredit – die Forderung einer Bank gegenüber einem Hausbesitzer, der ihr monatlich Kapitalrückzahlungen und Zinszahlungen leisten muss. Mit diesen Zahlungen wird der Kredit beglichen, den der Eigentümer benötigte, um sein Haus zu kaufen. Wie im Fall des Hypothekarkredits steht hinter einer Finanzanlage häufig eine Sachanlage (oder dient zumindest zu deren Besicherung). In anderen Fällen – man denke an einen Studentenkredit – kann eine Finanzanlage aus einem Versprechen abgeleitet sein, in diesem Fall der Zusage, aus dem künftigen Einkommen Zahlungen zu leisten. Es versteht sich von selbst, dass Sachanlagen für eine Volkswirtschaft wichtig sind, erhöhen sie doch die Produktivität der anderen Faktoren. Doch welche Funktion haben Finanzanlagen? Nun, ihre Bedeutung ergibt sich aus dem Ungleichgewicht zwischen Sparern und Investoren. Studenten brauchen Geld, um sich ihr College leisten zu können, aber noch verdienen sie nicht genug, um die Rechnung selbst zu bezahlen. Ältere Menschen, die zugleich arbeiten und für ihre Pension sparen, verdienen bisweilen mehr, als sie ausgeben, und könnten beispielsweise ihre Ersparnisse diesen Studenten zur Verfügung stellen. Bei dieser Betrachtung stoßen wir auf ein weit verzweigtes Finanzsystem aus Banken, Investmentfonds, Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds – häufig kommen auch noch staatliche Darlehen und Garantien hinzu –, das die Gelder der Sparer hin zu den Investoren kanalisiert. Ohne dieses Finanzsystem könnten Unternehmen die enormen Investitionen für die Entwicklung neuer Produkte, könnten Haushalte das Geld zum Kauf eines Hauses oder könnten Stu-
denten ihr Studiengeld nicht aufbringen, sofern sie nicht selbst die benötigten hohen Beträge angespart haben. Die wichtigsten Elemente unseres Finanzsystems werden wir später, im makroökonomischen Teil dieses Buches, behandeln.
Finanzanlagen und Zinsen Wenn Menschen sparen, erwarten sie sich dafür natürlich etwas, einen Ertrag. Es ist dies der Zinssatz, der Finanzertrag aus ihren Geldern oder die jährliche Rendite auf die gegebenen Darlehen. Der Ertrag, den man durch die befristete Einlage von Geld auf ein Depot bei einer Geschäftsbank erzielt, ist ein gutes Beispiel für Zinsen. Nehmen wir einmal an, der Jahreszinssatz 2005 beträgt 5 Prozent. Wenn Sie am 1.1.2005 US-$ 1.000 einzahlen, erhalten Sie am 1.1.2006 US-$ 1.050 zurück. Normalerweise werden Zinsen (der Zinssatz) als X Prozent pro Jahr angegeben. Der sich daraus ergebende Betrag wäre zu bezahlen, bestünde das Darlehen genau für ein Jahr. Für eine kürzere oder längere Laufzeit muss er anteilig berechnet werden. Es gibt viele verschiedene Arten von Zinssätzen. Wir unterscheiden lang- und kurzfristige Zinssätze, je nach der Laufzeit eines Darlehens oder einer Anleihe; es gibt fest verzinste Darlehen ebenso wie Darlehen mit variablem Zinssatz; für besonders sichere Anleihen (etwa für US-Staatsschuldverschreibungen) gelten spezielle Zinssätze, für besonders riskante „Junk Bonds“ wiederum andere. Zusammenfassend: Haushalte und andere Sparer stellen Wirtschaftsteilnehmern, die in materielle oder immaterielle Anlagegüter investieren möchten, ihre finanziellen Ressourcen oder Geldmittel zur Verfügung. Der Zinssatz ist dabei jener Preis, den ein Darlehensnehmer seinem Darlehensgeber für die Nutzung seiner Gelder über einen bestimmten Zeitraum zu bezahlen hat; Zinssätze werden als ein bestimmter Prozentsatz pro Jahr angegeben.
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Real- oder Nominalzinssätze Die oben erwähnten Zinssätze werden in Geldeinheiten oder als Nominalwert, nicht aber in Form von Bäumen, Wein oder Autos angegeben. Zinssätze bezeichnen den jährlichen Ertrag einer Investition in Geldeinheiten pro investiertem Geldbetrag. Doch der Maßstab Geldeinheiten kann Verzerrungen unterliegen. Die Preise für Fisch, Bäume, Wein und andere Güter ändern sich von Jahr zu Jahr, wenn das allgemeine Preisniveau, bedingt durch die Inflation, steigt.5 Wir müssen daher auch einen Realwert der Kapitalrendite ermitteln, mit der wir jene Gütermenge messen können, die wir morgen für unseren heutigen Güterverzicht erhalten. Nehmen wir beispielsweise an, Sie hätten Anfang 1995 1.000 Rubel in eine russische Anleihe investiert. Da man Ihnen eine Verzinsung von 70 Prozent geboten hatte, freuten Sie sich wahrscheinlich über die üppige Rendite und sahen sich zum Jahresende bereits mit 1.700 Rubel in der Tasche. Als Sie jedoch später Ihr Geld wieder entnehmen wollten, um einige Verbrauchsgüter zu kaufen, mussten Sie feststellen, dass die Preise in Russland allein im Jahr 1995 um 65 Prozent gestiegen waren. Gemessen an der real erhältlichen Menge an Gütern konnten Sie also nur um 3 Prozent mehr einkaufen als zu Beginn des Jahres: (1.030 = 1,70/1,65). Mit anderen Worten: Hätten Sie zu Beginn des Jahres 1995 1.000 Warenkörbe verliehen, hätten Sie ein Jahr danach nur 1.030 Warenkörbe zurückerhalten. Bei hoher Inflation klafft ein deutlicher Unterschied zwischen Real- und Nominalverzinsung. Wir bezeichnen den realen Ertrag aus Geldmitteln als Realzins(satz), im Gegensatz zum Nominalzins(satz), der die Rendite in Geldeinheiten aus dem investierten Geldbetrag ausdrückt. Bei niedrigen Zins- und Inflationsraten liegt der Realzinssatz sehr nahe 5 Die Inflationsrate wird als Preisänderung von einer Periode zur nächsten definiert. Bei einem allgemeinen Preisniveau von 100 im Jahr 2000 und 103,5 im Jahr 2001 beträgt die Inflationsrate 3,5 Prozent jährlich.
Teil 3
am Nominalzinssatz abzüglich der Inflationsrate.6 Der Realzinssatz ist der Ertrag aus eingesetzten Geldmitteln, gemessen in Gütern und Dienstleistungen; wir berechnen den Realzinssatz im Allgemeinen als Nominalzinssatz abzüglich Inflationsrate. Tabelle 14-1 zeigt die Nominalverzinsung verschiedener Anlageinstrumente während der letzten 30 Jahre. (Die Realverzinsung können Sie anhand unserer Formel berechnen, indem Sie die durchschnittliche Inflation Anlageform
Steuerfreie Landes- und Kommunalanleihen Bundesanleihen: Kurzläufer Langläufer Unternehmensanleihen: Sicher (Aaa) Riskant (Baa) Verbraucherkredite: Hypothekarkredite Kreditkarten Neuwagenkredite
Nominalrendite 1976–2003 (jährlicher Prozentsatz) 7,3
6,5 8,3 9,2 10,3 9,9 16,2 11,2
Tabelle 14-1: Die Verzinsung ausgewählter Finanzinstrumente in den USA Die nominelle Verzinsung hängt von Risiko, Inflation und steuerlicher Behandlung ab. Die niedrigste Verzinsung erzielen steuerfreie und sichere Landesund Kommunalanleihen, gefolgt von steuerpflichtigen Bundesanleihen. Kreditkarten sind teure, aber problemlos erhältliche Kreditquellen. Anleihen von Ländern mit hohem staatlichem Ausfallrisiko und hoher Inflation können um ein Vielfaches höher verzinst sein. Quelle: Federal Reserve Board. 6 Mit anderen Worten: Entspricht π der Inflationsrate, i dem nominellen Zinssatz und r dem Realzinssatz, so berechnet sich die Realverzinsung wie folgt: 1 + r = (1 + i) / (1 + π). Wenn i und π gering sind, gilt hingegen: r = i – π.
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Kapitel 14 Boden und Kapital
von 4 Prozent jährlich in diesem Zeitraum berücksichtigen.)
Der Zeitwert von Kapitalgütern Kapitalgüter sind dauerhafte Vermögenswerte, die im Zeitablauf einen Zins- oder Ertragsstrom produzieren. Sollte Ihnen ein Wohnhaus gehören, so können Sie daraus während der gesamten Lebensdauer dieses Hauses Mieterträge erzielen, genauso wie der Besitzer eines Obstgartens alljährlich Früchte von seinen Bäumen ernten kann. Nehmen wir an, Sie haben es satt, Ihr Wohnhaus zu vermieten, und beschließen, es zu verkaufen. Um seinen fairen Preis festsetzen zu können, müssten Sie den Zeitwert des gesamten Stroms künftiger Erträge ermitteln. Der Wert dieses Ertragsstroms wird als Zeit- oder Gegenwartswert des Kapitalgutes bezeichnet. Der Zeitwert (auch Gegenwartswert genannt) ist der heutige Geldwert des gesamten im Zeitablauf zu erzielenden Ertragsstroms. Er wird ermittelt, indem man berechnet, wie viel Geld man heute zum gängigen Zinssatz investieren müsste, um den künftigen Ertragsstrom aus dem Kapitalgut zu erzielen. Beginnen wir mit einem ganz einfachen Beispiel. Nehmen wir an, irgendjemand möchte Ihnen eine Flasche Wein verkaufen, die noch genau ein Jahr lagern muss und für die Sie dann US-$ 11 erzielen können. Unter der Annahme, dass der gängige Zinssatz 10 Prozent jährlich beträgt, stellt sich nun die Frage, wie viel Sie heute für den Wein bezahlen sollten – wie hoch also sein Zeitwert ist. Die Antwort lautet: Bezahlen Sie genau US-$ 10, denn eine heutige Investition von US-$ 10 wird bei einem Marktzinssatz von 10 Prozent in einem Jahr einen Wert von US-$ 11 darstellen. Daher beträgt der Zeitwert des Weines, der in einem Jahr für US-$ 11 gehandelt werden wird, heute US-$ 10.
Der Zeitwert ewiger Renten Wir zeigen Ihnen hier die erste Methode zur Errechnung des Zeitwertes anhand des Falls einer ewigen Rente, die sich auf ein Kapitalgut wie Boden bezieht, das ewig bestehen bleibt und alljährlich, von jetzt an bis in alle Ewigkeit, US-$ N erbringt. Wir wollen den Zeitwert (V) ermitteln, wenn der Zinssatz i Prozent jährlich beträgt, wobei der Zeitwert der heute investierte Geldbetrag ist, der genau US-$ N pro Jahr ergeben würde. Die Formel hierfür lautet ganz einfach:
$N V = -----i wobei gilt: V = Zeitwert des Bodens (in US-$) $N = die ewige Rente (in US-$ pro Jahr) i = Zinssatz als Dezimalzahl (z.B. 0,05 oder 5/100 pro Jahr) Somit kann ein Vermögenswert, der eine ewige Rente erzielt, bei einem kontinuierlichen Zinssatz von 5 Prozent jährlich für genau das Zwanzigfache (= 1 ÷ 5/100) seines Jahresertrags verkauft werden. Wie hoch wäre in diesem Fall der Zeitwert einer ewigen Rente, die alljährlich US-$ 100 erbringt? Bei einem Zinssatz von 5 Prozent läge der Zeitwert bei US-$ 2.000 (= US-$ 100 ÷ 0,05). Die Formel für ewige Renten lässt sich auch zur Bewertung von Aktien heranziehen. Nehmen wir an, für eine Aktie der Spring Water Co. wird bis in alle Ewigkeit eine jährliche Dividende von US-$ 1 erwartet, und der Diskontsatz für Aktien liegt bei 5 Prozent jährlich. Der Aktienkurs sollte dann bei P = US-$ 1 / 0,05 = US-$ 20 je Aktie liegen. (Diese Zahlen werden inflationsbereinigt, wobei der Zähler den „realen Dividenden“ und der Nenner den „realen Zinssätzen“ oder dem „realen Diskontsatz“ entspricht.)
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Allgemeine Zeitwertformel Nachdem wir den einfachen Fall einer ewigen Rente bereits erörtert haben, wenden wir uns nun dem allgemeinen Fall des Zeitwertes eines Kapitalgutes zu, dessen Ertragsstrom im Laufe der Zeit variiert. Das Entscheidende im Zusammenhang mit dem Zeitwert ist die Erkenntnis, dass künftige Zahlungen weniger wertvoll sind als gegenwärtige und dass man sie daher diskontieren (abzinsen) muss. Der geringere Wert künftiger Zahlungen lässt sich mit entfernten Gegenständen vergleichen, die immer kleiner aussehen als Gegenstände in unmittelbarer Nähe. Der Zinssatz bewirkt eine ähnliche Schrumpfung durch die zeitliche Perspektive. Nehmen wir als fantastisches Beispiel an, irgendjemand würde vorschlagen, an Ihre Erben in 999 Jahren US-$ 100 Milliarden auszuzahlen.7 Wie viel müssten Sie dafür heute auf den Tisch legen? Gemäß der allgemeinen Zeitwertregel müssen Sie sich zur Ermittlung des heutigen Werts von US-$ P, die in t Jahren ab heute zahlbar sind, fragen, wie viel heute investiert werden muss, um nach t Jahren US-$ P zu erhalten. Nehmen wir an, der Zinssatz betrüge 6 Prozent jährlich. Legen wir diesen alljährlich auf den wachsenden Betrag an, so steigt ein Kapital von US-$ P in t Jahren auf US-$ P (1 + 0,06)t. Wir brauchen den Term nun nur noch umzudrehen, um den Zeitwert zu ermitteln: Der Zeitwert von in t Jahren ausbezahlten US-$ P beträgt nur US-$ P / (1 + 0,06)t. Mit dieser Formel können wir ermitteln, dass der Zeitwert von US-$ 100 Milliarden, die in 999 Jahren ausbezahlt werden sollen, US-$ 0,0000000000000052 beträgt. Zumeist beinhaltet der Ertragsstrom eines Kapitalgutes mehrere Teilbeträge. Bei Zeitwertberechnungen muss jede Geldeinheit gesondert betrachtet werden. Berechnen Sie den Zeitwert jedes Teils des zukünftigen Er7 Übung 9 am Ende dieses Kapitels befasst sich mit dem Zeitwert der Immobilie Manhattan zum Zeitpunkt des Kaufs durch die Holländer.
Teil 3
tragsstroms, wobei Sie die durch das Auszahlungsdatum erforderliche Diskontierung genau beachten. Dann addieren Sie einfach alle einzelnen Zeitwerte. Das Ergebnis ergibt den gesamten Zeitwert des Kapitalgutes. Die genaue Formel für den Zeitwert lautet:
N2 Nt N1 + … + -------------------+… V = ------------ + --------------------t 1 + i ( 1 + i )2 (1 + i ) In dieser Gleichung wird i, der Marktzinssatz für eine Periode, als konstant angenommen. Außerdem entspricht N1 den (positiven oder negativen) Nettoeinnahmen in Periode 1, N2 den Nettoeinnahmen in Periode 2, Nt den Nettoeinnahmen in Periode t und so weiter. Somit hat der Zahlungsstrom (N1, N2, …, Nt, …) den Zeitwert V, wie sich durch die Formel ergibt. Nehmen wir an, der Zinssatz beträgt 10 Prozent jährlich, und Sie sollen im nächsten Jahr US-$ 1.100 und in drei Jahren US-$ 2.662 erhalten. Der Zeitwert dieses Ertragsstroms sieht folgendermaßen aus: 1.100 2.662 V = ---------------------- + ---------------------- = 3.000 1 3 ( 1,10 ) ( 1,10 ) In Abbildung 14-3 sehen Sie die grafische Aufbereitung der Berechnung des Zeitwerts für eine Maschine, mit der sich über 20 Jahre ein kontinuierlicher Jahresnettomietzins von US-$ 100 erzielen lässt, wobei zum Schluss kein Schrottwert mehr verbleibt. Beachten Sie bitte, wie sehr die späteren Einnahmen aufgrund der zeitlichen Perspektive schrumpfen beziehungsweise diskontiert werden. Der gesamte nach der Diskontierung verbleibende Bereich (die rostfarben schattierte Fläche) stellt den gesamten Zeitwert der Maschine – den heutigen Wert aller zukünftigen Ertragsströme – dar.
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Jährliche Dollarmiete
Kapitel 14 Boden und Kapital
eine vierte Einkommenskategorie, die Gewinne. Was sind Gewinne und wie unterscheiden sie sich ganz allgemein von Zinsen und Kapitalrenditen?
100 80
Diskontierter Zins
60 40 Zeitwert 20 0
5
10 Jahre ab heute
15
20
Abbildung 14-3: Der Zeitwert von Kapitalgütern Der untere, rostfarbene Bereich zeigt den Zeitwert einer Maschine und ergibt eine Jahres-Nettomiete von US-$ 100 über 20 Jahre mit einem Zinssatz von 6 Prozent jährlich. Der obere, graue Bereich wurde diskontiert. Erklären Sie, warum eine Steigerung des Zinssatzes den grauen Bereich vergrößert und daher den Marktpreis des Kapitalgutes drückt.
Maßnahmen zur Maximierung des Zeitwertes Die Zeitwertformel zeigt uns, wie wir den Wert eines Kapitalgutes berechnen können, wenn wir die Einnahmen kennen. Beachten Sie jedoch bitte auch, dass die künftigen Einnahmen aus einem Kapitalgut im Normalfall von bestimmten Unternehmensentscheidungen abhängen: Soll ein LKW acht oder neun Jahre lang genutzt werden? Sollte man ihn einmal monatlich oder einmal jährlich warten lassen? Wäre es besser, ihn durch einen billigen, nicht sehr langlebigen LKW oder durch einen teureren, aber haltbareren zu ersetzen? Es gibt eine Regel, die uns zeigt, wie Investitionsentscheidungen richtig getroffen werden: Wir müssen jeden einzelnen Zeitwert berechnen, der sich aus jeder möglichen Entscheidung ergibt. Dann gilt es immer so vorzugehen, dass der Zeitwert maximiert wird. Mit dieser Methode erzielen wir höhere Erträge, die wir schließlich – ganz nach Belieben – wieder investieren können.
Gewinne Außer über Löhne, Zinsen und Renten unterhalten sich Ökonomen häufig auch über
Ausgewiesene Unternehmensgewinne Betriebswirte definieren Gewinne als die Differenz zwischen den gesamten Erlösen und den gesamten Aufwendungen eines Unternehmens. Bei der Berechnung dieses Gewinns beginnen wir mit den Gesamterlösen aus Lieferungen und Leistungen. Davon ziehen wir alle Aufwendungen (Löhne, Gehälter, Mieten, Material, Zinsen, Verbrauchssteuern und was sonst noch anfällt) ab. Der verbleibende Rest ist der Saldo oder Gewinn.8
Determinanten des Gewinns Was entscheidet über die Höhe der Unternehmensgewinne in einer Marktwirtschaft? Gewinne setzen sich tatsächlich aus verschiedenen Elementen zusammen, darunter implizite Kapitelrenditen der Eigentümer, Lohn für Risikobereitschaft und Innovationsgewinne. Gewinne als implizite Renditen. Für den Volkswirt sind Unternehmensgewinne ein Konglomerat unterschiedlicher Elemente. Dabei besteht ein Großteil der im Geschäftsbericht eines Unternehmens ausgewiesenen Gewinne aus nichts anderem als den Erträgen der Unternehmenseigentümer für ihr Kapital und ihre Arbeit, also für die von ihnen bereitgestellten Produktionsfaktoren. 8 Bei der Analyse von Gewinnen kommt es darauf an, zwischen betrieblichen Gewinnen und volkswirtschaftlichen Gewinnen zu unterscheiden. Betriebliche Gewinne (auch als Betriebseinkommen oder Betriebsertrag bezeichnet) sind der von den Buchhaltern gemessene Restwert und entsprechen den Erlösen abzüglich der Aufwendungen. Betriebliche Gewinne beinhalten eine implizite Rendite des im Besitz des jeweiligen Unternehmens befindlichen Kapitals. Der volkswirtschaftliche Gewinn entspricht den Erträgen nach Abzug aller Kosten – sowohl der monetären als auch der impliziten oder Opportunitätskosten. In großen Unternehmen entspräche der volkswirtschaftliche somit dem betrieblichen Gewinn abzüglich einer impliziten Kapitalrendite und abzüglich aller sonstigen Kosten (wie etwa der unbezahlten Zeit der Führungskräfte), die nicht vollständig zu Marktpreisen abgegolten werden.
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Einige Gewinne stellen beispielsweise den Ertrag für die persönliche Arbeit dar, die Unternehmensinhaber leisten – denken Sie etwa an einen Arzt oder Rechtsanwalt, der in einer kleinen Praxis oder Kanzlei tätig ist. Ein weiterer Teil ist der Mietzins für den im Eigenbesitz des Unternehmens befindlichen Boden. In großen Unternehmen entfällt der Großteil aller Gewinne auf Opportunitätskosten des investierten Kapitals. Diese Erträge werden kalkulatorische (Faktor-)Erträge (oder Kosten) genannt, eine Bezeichnung für die Opportunitätskosten von Produktionsfaktoren, die im Eigentum des Unternehmens selbst stehen. Das bedeutet, dass so manches, was vereinfachend als Gewinn bezeichnet wird, tatsächlich nichts anderes darstellt als Zinsen, Renten und Löhne unter anderem Namen. Als „kalkulatorische Zinsen“, „kalkulatorische Renten“ und „kalkulatorische Löhne“ bezeichnen Volkswirte jene Einkünfte, die ein Unternehmen aus seinen eigenen Produktionsfaktoren bezieht. Gewinne als Lohn für Risikobereitschaft. Unter dem Begriff Gewinn ist auch die Belohnung für den Risikograd von Investitionen subsumiert. Die meisten Unternehmen tragen ein Ausfallrisiko, das heißt, sie müssen befürchten, dass ein Darlehen oder eine Investition nicht bezahlt werden kann, etwa weil der Darlehensnehmer Konkurs anmeldet. Darüber hinaus gibt es zahlreiche versicherbare Risiken wie das Brand- oder Sturmschadenrisiko, die in Kapitel 11 genauer behandelt sind. Diesen kann man durch den Abschluss einer Versicherung begegnen. Ein drittes Risiko ist das nicht versicherbare oder systematische Risiko einer Investition. Ein Unternehmen reagiert möglicherweise sensibel auf Konjunkturschwankungen, was dazu führt, dass seine Einkünfte bei Aufoder Abwärtsbewegungen der aggregierten Produktionsmenge stark schwanken. Darüber hinaus gibt es eine vierte Risikokategorie, das staatliche Risiko, welches sich in der Gefahr äußert, dass ein Staat seinen Zah-
Teil 3
lungsverpflichtungen nicht nachkommt und (weil der Staat ein „Souverän“ ist und selbst die Gesetzgebung repräsentiert) innerhalb des bestehenden Rechtssystems kein wirksames Mittel dagegen zur Verfügung steht. Da Unternehmensgewinne Elemente dieser vier genannten Risikoarten enthalten, sind sie die am stärksten schwankende oder volatile Komponente des Volkseinkommens. Das Recht, Unternehmensgewinne – Aktien oder Eigenkapital der Unternehmen – zu beziehen, muss somit einen signifikanten Renditeaufschlag beinhalten, um für risikoscheue Investoren attraktiv zu sein. Diese zusätzliche Rendite von Wertpapieren über den Ertrag risikofreier Anlagen hinaus bezeichnen wir als Equity Premium (Eigenkapitalaufschlag). Empirische Studien haben gezeigt, dass der Equity Premium im 20. Jahrhundert durchschnittlich 6 Prozent betrug. Im Laufe der Spekulationsblase auf den Aktienmärkten Ende der 1990er Jahre sank er fast auf null. Daraus konnte man auf relativ niedrige künftige Aktienrenditen schließen. Die magere Performance von Aktieninvestitionen in den Jahren nach 2000 erinnert uns wieder einmal daran, dass Wertpapiere eine riskante Investition darstellen. Gewinne als Belohnung für Innovation und Unternehmergeist. Eine dritte Art von Gewinnen besteht in der Belohnung für Innovationen und Erfindungen. Eine wachsende Wirtschaft produziert laufend neue Produkte – von Telefonen im 19. Jahrhundert über Autos Anfang des 20. Jahrhunderts bis schließlich zu all den Produkten rund um Computer und IT-Dienstleistungen heute. Die neuen Produkte sind das Ergebnis von Forschung, Entwicklung und Marketing. Wir bezeichnen Personen, die ein neues Produkt oder Verfahren auf den Markt bringen, als Innovatoren oder Unternehmer. Was aber verstehen wir unter einem „Innovator“? Es ist dies ein Mensch, der über die Visionen, die Originalität und den Mut verfügt, neue Ideen in einem Unternehmen umzusetzen. Unsere Wirtschaft wurde von
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Kapitel 14 Boden und Kapital
den Entdeckungen großer Erfinder wie Alexander Graham Bell (Telefon), Jack Kilby (integrierter Schaltkreis) und Kary Mullis (Polymerase-Kettenreaktion) revolutioniert. Einige Erfinder häufen durch ihren Unternehmergeist große Reichtümer an. In einer Liste der reichsten Leute der Welt fanden sich zuletzt unter den Top vier allein drei Gründungsmitglieder von Microsoft. Jede erfolgreiche Innovation schafft ein zeitweiliges Monopol. Wir können Innovationsgewinne (die manchmal Schumpeter-Gewinne genannt werden) als eine zeitweilige zusätzliche Rendite für Innovatoren oder Unternehmer definieren. Während kurzer Zeit lassen sich Innovationsgewinne verdienen. Diese Gewinne sind aber nur vorübergehend möglich und gehen durch die Konkurrenz, die bald in Form von Rivalen und Nachahmern auftaucht, verloren. Doch immer dann, wenn eine Quelle für Innovationsgewinne versiegt, entspringt anderswo eine neue. Solange eine Wirtschaft neue Produkte und Verfahren hervorbringt, generiert sie Innovationsgewinne.
Wiederholung Wiederholen wir noch einmal die bisher eingeführten Begriffe, bevor wir sie praktisch anwenden wollen: • Ein moderner Industriestaat akkumuliert große Bestände an Kapital oder Kapitalgütern. Es sind dies all die Maschinen, Gebäude und Lagerbestände, die für die Produktivität der Wirtschaft so wichtig sind. • Die jährlichen Kapitalerträge in Geldeinheiten werden als Zins bezeichnet. Wenn wir die Nettoeinkünfte (Zins abzüglich Kosten) durch den Geldwert des Kapitalgutes, das uns diesen Zins erbringt, dividieren, erhalten wir die Kapitalrendite (gemessen als jährlicher Prozentsatz). • Kapital wird von Sparern finanziert, die Geldmittel verleihen und Finanzanlagen hal-
ten. Der Geldertrag dieser Finanzanlagen ist der Zinssatz, gemessen in Prozent pro Jahr. • Kapital- und Finanzanlagen erbringen im Zeitablauf einen Ertragsstrom. Aus diesem Ertragsstrom lässt sich ein Zeit- oder Gegenwartswert ableiten, der dem heutigen Wert eines künftigen Ertragsstroms entspricht. Wir fragen uns dazu, welche Summe heute investiert werden müsste, um bei gängigen Marktzinsen den erwarteten Ertragsstrom des Kapitalgutes hervorzubringen. • Gewinne stellen ein Residualeinkommen dar und entsprechen dem in Geldwerten ausgedrückten Ertrag abzüglich der Gesamtkosten. Gewinne enthalten Elemente impliziter oder kalkulatorischer Erträge (wie die Eigenkapitalrendite), eine Belohnung für Risikobereitschaft sowie Innovationsgewinne.
Die Kapital- und Zinstheorie Nachdem wir nun die wichtigsten Grundbegriffe der Kapitaltheorie besprochen haben, wollen wir uns einer Analyse der klassischen Kapitaltheorie zuwenden. Diesen Ansatz haben unabhängig voneinander der Österreicher E. v. Böhm-Bawerk, der Schwede Knut Wickseil und der Amerikaner Irving Fisher von der Yale University entwickelt.
Umwegrentabilität Bereits in Kapitel 2 haben wir darauf hingewiesen, dass eine Investition in Kapitalgüter zu einer indirekten Produktion oder einem Produktionsumweg führt. Anstatt Fische mit bloßen Händen zu fangen, erscheint es uns sinnvoller, Boote zu bauen, Netze zu knüpfen und diese anschließend zum Fang einer größeren Menge an Fischen zu verwenden, als dies mit bloßen Händen jemals möglich gewesen wäre. Anders ausgedrückt bedeutet die Investition in Kapitalgüter einen Verzicht auf sofor-
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
tigen Konsum, um dafür mehr zukünftigen Konsum zu ermöglichen. Wenn wir heute weniger konsumieren, setzen wir Arbeitskapazitäten zur Erzeugung von Netzen frei und können dadurch morgen viel mehr Fische fangen. Ganz allgemein formuliert ist Kapital deshalb produktiv, weil der Verzicht auf sofortigen Konsum uns mehr künftigen Konsum beschert. Um dieses Konzept besser verstehen zu können, stellen Sie sich bitte zwei absolut gleiche Inseln vor. Auf beiden steht dieselbe Menge an Arbeitskraft und natürlichen Ressourcen zur Verfügung. Insel A verwendet ihre primären Produktionsfaktoren direkt, um Konsumgüter wie Nahrung und Bekleidung herzustellen; hier werden keinerlei Kapitalgüter eingesetzt. Im Gegensatz dazu verzichtet die sparsame Insel B auf sofortigen Konsum und setzt ihre Ressourcen und Arbeitszeit dazu ein, um Kapitalgüter wie Pflüge, Schaufeln und Webstühle herzustellen. Durch diesen kurzfristigen Verzicht auf Konsum sorgt Insel B für einen großen Bestand an Kapitalgütern. Abbildung 14-4 zeigt uns, welchen Vorsprung B vor A erzielt. Messen Sie den Konsum pro Person, der bei Aufrechterhaltung des bestehenden Kapitalbestandes auf jeder Insel möglich ist. Da Insel B so sparsam ist und sich in der Produktion einer kapitalintensiven Umwegmethode bedient, kann sie in Zukunft mehr konsumieren als Insel A. Insel B erhält für ihren Verzicht auf 100 Einheiten gegenwärtigen Konsums in Zukunft mehr als nur 100 Konsumeinheiten. Durch Verzicht auf sofortigen Konsum und die Akkumulation von Kapitalgütern kann eine Gesellschaft ihren künftigen Konsum erhöhen.
Abnehmende Grenzerträge und Kapitalnachfrage Was geschieht eigentlich, wenn ein Land zunehmend auf sofortigen Konsum verzichtet
Teil 3
Periode des höheren Konsumniveaus Sparsame Insel B
Pro-Kopf-Konsum (konstante Preise)
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Faule Insel A
Investitionsperiode jetzt
künftig Zeit
Abbildung 14-4: Heutige Investitionen erhöhen das künftige Konsumniveau Zwei Inseln haben dieselbe Ausgangsposition in Bezug auf Arbeitsangebot und natürliche Ressourcen. Die ausgabefreudige Insel A investiert nichts und kann ihren Pro-Kopf-Konsum nur geringfügig steigern. Die sparsame Insel B hingegen investiert zu Beginn massiv, verzichtet damit auf sofortigen Konsum und kann anschließend die Früchte ihrer Sparsamkeit in Form eines sehr viel höheren künftigen Konsums genießen.
und stattdessen Kapital akkumuliert, wobei es zu einer immer stärkeren indirekten Produktion, einem zunehmenden Produktionsumweg kommt? Wir würden eigentlich erwarten, dass hier irgendwann das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge zur Wirkung kommt. Nehmen wir als Beispiel Computer. Die ersten dieser Geräte waren teuer und wurden intensiv genutzt. Vor 30 Jahren kämpften die Wissenschaftler buchstäblich um jede Stunde an einem der damaligen Großrechner, die im Übrigen kaum die Rechenleistung eines heutigen PC erreichten. Heute verfügen die in den USA eingesetzten Computer über die millionenfache Rechen- und Speicherkapazität. Das Grenzprodukt der Computerleistung – der Wert des letzten Rechenvorgangs oder der letzten gespeicherten Dateneinheit – ging jedoch, sobald Computerinputs im Verhältnis zu Arbeit, Boden und anderen Kapitalgütern immer mehr zunahmen, stark zurück. Allgemeiner ausgedrückt: Wenn Kapital akkumuliert wird, gehen die Grenzerträge zurück, und die Investitionsrendite sinkt.
Kapitel 14 Boden und Kapital
Überraschenderweise ist jedoch im Verlauf der letzten 200 Jahre die Kapitalrendite nicht wesentlich gesunken, obwohl die Kapitalbestände um ein Vielfaches zugenommen haben. Die Rendite ist nach wie vor hoch, weil Innovation und technologische Veränderungen gewinnträchtige neue Möglichkeiten ebenso rasch eröffnen, wie frühere Investitionen diese zunichte gemacht haben. Obwohl unsere Computer heute die tausendfache Kapazität ihrer 30 Jahre alten Vorgängermodelle erreichen, machen neue Anwendungen an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft, von der medizinischen Diagnostik bis zum E-Commerce, Computerinvestitionen weiterhin profitabel. Irving Fisher: Der Ökonom als Missionar Irving Fisher (1867–1947) war ein überaus facettenreiches Genie mit einer stark ausgeprägten missionarischen Komponente. Seine Pioniertätigkeit als Ökonom spannte sich von grundlegenden theoretischen Studien über Nutzen und Kapital und wichtigen, praxisbezogenen Untersuchungen des Konjunkturzyklus bis hin zur Erstellung von Preisindizes und einer Reform des Geldwesens. Zu seinen wichtigsten Beiträgen gehört die Entwicklung einer umfassenden Kapital- und Zinstheorie in seinen Werken The Nature of Capital and Income (1906) und The Theory of Interest (1907). Fisher beschrieb die Wechselwirkung zwischen dem Zinssatz und zahlreichen anderen Elementen der Wirtschaft. Die für die Bildung des Zinssatzes bestimmenden Faktoren, das konnte Fischer nachweisen, sind letztlich nur zwei Eckpfeiler: Ungeduld, die sich als „Diskontierung der Zeit“ äußert, und Investitionschancen, die sich im „Grenzertrag nach Abzug der Kosten“ widerspiegeln. Es war Fisher, der die grundlegende Beziehung zwischen Zinsen, Kapital und Wirtschaft entdeckte, wie sie in der folgenden Zusammenfassung aus The Theory of Interest beschrieben ist:
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In Wahrheit handelt es sich beim Zinssatz nicht um ein peripheres Phänomen, anzuwenden allein auf einige wenige geschäftliche Transaktionen, sondern dieses Konzept durchzieht das gesamte Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen. Der Zinssatz ist die Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Zukunft, auf der alle seine weit reichenden Entscheidungen beruhen. Er zeigt sich im Preis von Wertpapieren, Boden und Kapitalgütern im Allgemeinen, findet aber auch Eingang in Renten, Löhne und den Wert aller „Interaktionen“. Der Zinssatz hat tief greifende Auswirkungen auf die Verteilung des Wohlstands. Kurz gesagt, von seiner präzisen Anpassung hängen die fairen Bedingungen jedes Tauschgeschäfts und jeder Verteilung ab.
Fisher legte großen Wert darauf, Forschungsergebnisse auch empirisch anwenden zu können. Seine Philosophie tritt am deutlichsten in der Econometric Society zutage, an deren Gründung er beteiligt war und deren Satzung eine Wissenschaft proklamiert, die zum „Fortschritt der Wirtschaftstheorie in ihrer Beziehung zur Statistik und Mathematik [und] zur Zusammenführung des theoretisch-quantitativen und des empirisch-quantitativen Ansatzes“ beitragen sollte. Zusätzlich zur reinen ökonomischen Forschung war Fisher auch ein begeisterter Missionar. Er sprach sich für einen „compensated dollar“ als Ersatz für den Goldstandard aus. Nachdem er an Tuberkulose erkrankte, entwickelte er sich zum passionierten Kämpfer für die Hebung der Volksgesundheit und entwickelte 15 Regeln der persönlichen Hygiene. Er erwies sich als strikter Befürworter der Prohibition und verschiedener Schrullen wie etwa der Forderung, jeden Bissen vor dem Schlucken 100 Mal zu kauen. Es heißt, Dinner-Partys im Hause Fisher hätten in New Haven in Ermangelung von Alkohol und wegen des langwierigen Kauvorgangs nicht unbedingt zu den begehrtesten Einladungen gezählt. Seine berühmteste Prognose sprach Fisher im Jahr 1929 aus, als er meinte, der Aktienmarkt habe ein „dauerhaftes Wohl-
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
standsniveau“ erreicht. Zur Bekräftigung investierte er auch gleich sein eigenes Vermögen, mit dem Erfolg, dass sein beträchtlicher Wohlstand von der Weltwirtschaftskrise einfach hinweggespült wurde. Auch wenn Fishers Begabung für Investitionen danach stark in Zweifel gezogen wurde, die Bedeutung seines wirtschaftswissenschaftlichen Erbes steigt bis heute immer noch, und er wird weithin als größter amerikanischer Ökonom aller Zeiten betrachtet.
Zinsbildung und Kapitalrendite Die klassische Kapitaltheorie erleichtert uns das Verständnis der Bildung von Zinssätzen. Da sind einmal die Haushalte, die das Angebot an Geldmitteln für die Investitionen bereitstellen, indem sie auf sofortigen Konsum verzichten und im Laufe der Zeit Ersparnisse akkumulieren. Zugleich besteht eine Nachfrage der Unternehmen nach Kapitalgütern, die sie in Kombination mit Arbeit, Boden und anderen Inputs einsetzen. Und schließlich wird die Nachfrage der Unternehmen nach Kapital durch ihr Gewinnstreben bestimmt, das sie befriedigen können, indem sie Güter produzieren. Oder, wie Irving Fisher es vor rund hundert Jahren ausgedrückt hat: Kapitalmenge und Kapitalrendite werden durch die Wechselwirkung zwischen (1) der Ungeduld der Menschen, die lieber sofort konsumieren, als Kapitalgüter für den zukünftigen Konsum (vielleicht für die Pension oder für die sprichwörtlichen mageren Jahre) anzuhäufen, und (2) den Investitionsmöglichkeiten mit ihren mehr oder weniger hohen Renditen auf das akkumulierte Kapital bestimmt.
Um Zins und Kapitalrendite verstehen zu können, sollten Sie sich den virtuellen Fall einer geschlossenen Volkswirtschaft mit vollständigem Wettbewerb und ohne Inflationsrisiko vorstellen. Bei der Entscheidung, ob eine Investition vorgenommen werden soll oder nicht, muss ein Unternehmen, das seine
Teil 3
Gewinne maximieren möchte, seine Finanzierungskosten stets mit der Kapitalrendite vergleichen. Ist die Rendite der Investition höher als der Marktzinssatz für Darlehen, wird ein solches Unternehmen die beabsichtigte Investition tätigen. Ist hingegen der Darlehenszinssatz höher als die Investitionsrendite, verzichtet das Unternehmen wohlweislich auf die Investition. Und wohin führt uns dieser Prozess? Die Unternehmen werden schlussendlich all jene Investitionen tätigen, deren Rentabilität höher ist als der Marktzinssatz. Das Gleichgewicht ist an dem Punkt erreicht, an dem die Höhe der Investition, die Unternehmen bei einem gegebenen Zinssatz tätigen, der Ersparnis durch den Zinssatz entspricht. In einer Wettbewerbswirtschaft ohne Inflationsrisiko entspricht die Kapitalrendite dem Marktzinssatz. Der Marktzinssatz hat zwei Funktionen: Er verteilt das knappe Angebot an Kapitalgütern einer Gesellschaft auf jene Zwecke, die die höchste Rentabilität versprechen, und er bringt die Menschen dazu, auf sofortigen Konsum zu verzichten, um das bestehende Kapital zu vermehren.
Grafische Analyse der Kapitalrendite Wir können die klassische Kapitaltheorie bildlich darstellen, wenn wir uns eine vereinfachte, fiktive Situation vorstellen, in der alle physischen Kapitalgüter gleich sind. Zusätzlich nehmen wir an, dass sich die Wirtschaft in einem statischen Zustand ohne Bevölkerungswachstum und ohne technologischen Wandel befindet. In Abbildung 14-5 stellt DD die Kapitalnachfragekurve dar; sie zeigt die Beziehung zwischen der nachgefragten Kapitalmenge und der Höhe der Kapitalrendite. Erinnern Sie sich aus Kapitel 12 daran, dass die Nachfrage nach einem Faktor wie Kapital eine abgeleitete Nachfrage ist, die sich aus dem Kapitalgrenzprodukt ergibt, das der zusätz-
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Kapitel 14 Boden und Kapital
Kapitalrendite und Zinssatz (Prozent pro Jahr)
r, i D S 14 12 10
kurzfristiges Gleichgewicht E
8 6 4
D
2 0
S
K
Kapitalbestand
Abbildung 14-5: Kurzfristige Bildung von Zinssätzen und Kapitalrendite Kurzfristig hat die Wirtschaft einen bestimmten Kapitalbestand aus der Vergangenheit übernommen, was als die senkrechte SS-Kapitalangebotskurve dargestellt ist. Im Schnittpunkt zwischen der kurzfristigen Angebotskurve und der Kapitalnachfragekurve ergeben sich die kurzfristige Kapitalrendite und der kurzfristige Realzinssatz von 10 Prozent jährlich.
lichen Produktionsleistung durch Zugänge zum Kapitalbestand entspricht. Das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge (Ertragsgesetz) lässt sich anhand der Tatsache belegen, dass die Kapitalnachfragekurve in Abbildung 14-5 abwärts geneigt ist. Bei sehr knappem Kapital erzielen die rentabelsten Umwegprojekte eine sehr hohe Rendite. Wenn die Gesellschaft nach und nach alle rentablen Projekte durch Kapitalakkumulation durchführt, wobei Arbeit und Land insgesamt fix sind, setzen rückläufige Kapitalerträge ein. Die Gesellschaft muss dann in weniger rentable Projekte investieren, wobei sie sich entlang der Kapitalnachfragekurve abwärts bewegt. Kurzfristiges Gleichgewicht. Wir können nun erkennen, in welcher Beziehung Angebot und Nachfrage zueinander stehen. In Abbil-
dung 14-5 haben frühere Investitionen zu einem bestimmten Kapitalbestand geführt, der als die vertikale kurzfristige Angebotskurve SS dargestellt ist. Die Unternehmen fragen immer weniger Kapitalgüter nach, wie durch die abwärts gerichtete Nachfragekurve DD zum Ausdruck gebracht wird. Im Schnittpunkt zwischen Angebot und Nachfrage, im Gleichgewichtspunkt E, wird der Kapitalmarkt von den nachfragenden Unternehmen geräumt. In diesem kurzfristigen Gleichgewicht sind die Unternehmen bereit, einen Zinssatz von 10 Prozent pro Jahr zu bezahlen, um Darlehen für den Ankauf von Kapitalgütern aufzunehmen. Und in diesem Punkt geben sich auch die Darlehensgeber mit 10 Prozent Zinsen pro Jahr für ihr Kapitalangebot zufrieden. So entspricht in unserer vereinfachten, risikolosen Welt die Kapitalrendite genau dem Marktzinssatz. Jeder höhere Zinssatz würde zum Verzicht der Unternehmen auf Darlehen für ihre Investitionen führen; jeder niedrigere Zinssatz hätte zur Folge, dass die Unternehmen Kämpfe um das zu knappe Kapital ausfechten würden. Nur beim Gleichgewichtszinssatz von 10 Prozent sind Angebot und Nachfrage ausgeglichen. (Denken Sie daran, dass es sich in unserem Beispiel mangels Inflation um Realzinssätze handelt.) Doch das Gleichgewicht in E bleibt nur kurzfristig bestehen. Bei einem so hohen Zinssatz wollen die Menschen mehr Wohlstand akkumulieren, und das heißt, sie sparen. So nimmt der Kapitalbestand zu. Zugleich bewegen sich aufgrund des Ertragsgesetzes Rentabilität und Zinssatz nach unten. Bei zunehmendem Kapital – wenn andere Faktoren wie Arbeit, Boden und technologische Möglichkeiten unverändert bleiben – sinkt die Rendite auf die erhöhten Kapitalbestände auf ein immer niedrigeres Niveau ab. So ist zu erklären, dass in Punkt E eine Nettokapitalbildung stattfindet. Der Kapitalbestand steigt leicht an, weil es zu Nettoinvestitionen kommt. Im Laufe der Zeit bewegt sich die Gesellschaft langsam die DD-Kurve abwärts, wie in Abbildung 14-6 durch die
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
r, i D
Kapitalrendite und Realzinssatz (Prozentsatz pro Jahr)
S
S′ S″
S′′′
SL
12 10
E
8 6 S 4
E′ S′ S″
Langfristiges Gleichgewicht
S′′′ D
2
SL K
0 Kapitalbestand
Abbildung 14-6: Das langfristige Gleichgewicht von Kapitalangebot und Kapitalnachfrage Langfristig akkumuliert eine Gesellschaft Kapital, und ihre Angebotskurve verläuft nicht mehr senkrecht. Wie hier dargestellt, reagieren Kapitalangebot und Wohlstand auf die höheren Zinssätze. Im ursprünglichen Gleichgewicht E kommt es zu Nettoinvestitionen, sodass sich die Wirtschaft entlang ihrer Nachfragekurve DD nach unten bewegt, was durch die schwarzen Pfeile angezeigt ist. Das langfristige Gleichgewicht stellt sich in E' ein, wo die Nettoersparnis schwindet.
schwarzen Pfeile dargestellt. Sie erkennen hier auch eine Reihe sehr dünner kurzfristiger Kapitalangebotskurven – S, S', S'', S''', … Diese zeigen, wie das kurzfristige Kapitalangebot mit zunehmender Kapitalakkumulation steigt. Langfristiges Gleichgewicht. Wie verhalten sich Kapitalbestand und Kapitalrendite im langfristigen Gleichgewicht? In Abbildung 14-6 finden wir das langfristige Gleichgewicht in E'. Hier schneidet das langfristige Kapitalangebot (als SLSL eingezeichnet) die Kapitalnachfrage. Im langfristigen Gleichgewicht nimmt der Zinssatz jene Höhe an, bei der die von den Unternehmen gehaltenen erwünschten Kapitalbestände genau dem erwünschten Wohlstand der Menschen entsprechen. An diesem Punkt gibt es keine Nettoersparnis mehr, die Kapitalakkumulation beträgt null, und die Kapitalbestände wachsen nicht weiter an.
Das langfristige Kapitalgleichgewicht stellt sich bei jenem Zinssatz ein, bei dem die Sparguthaben, die die Haushalte anstreben, genau dem Darlehenskapital entsprechen, das die Unternehmen für ihre Produktion aufnehmen möchten.
Anwendungen der klassischen Kapitaltheorie Wir haben unseren Überblick über die Grundlagen der Zins- und Kapitaltheorie nun beendet. Diese klassische Theorie bedarf aber noch einiger Erweiterungen und Modifikationen, um wesentlichen Merkmalen der realen Wirtschaft gerecht zu werden.
Steuern und Inflation Investoren haben stets ein wachsames Auge auf Inflationsentwicklung und Steuerpolitik.
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Kapitel 14 Boden und Kapital
Sie erinnern sich bestimmt noch: Inflation führt dazu, dass man für einen bestimmten Geldbetrag letztlich weniger kaufen kann. Wir wollen daher den Realzinssatz oder die reale Investitionsrendite berechnen, um den Verzerrungseffekt durch den sich verändernden Geldmaßstab zu vermeiden. Ein zweiter wichtiger Parameter für Investoren sind Steuern. Ein Teil unseres Einkommens fällt an den Staat und wird von diesem für die Bezahlung öffentlicher Güter und anderer staatlicher Programme herangezogen. Investoren interessieren sich daher für die erzielbare Investitionsrendite unter Berücksichtigung der Steuern.
Technologische Anstöße Komplexer sind Probleme im Zusammenhang mit dem technologischen Wandel. Historische Studien zeigen, dass Erfindungen und Entdeckungen die Kapitalrendite steigern und so Einfluss auf den Gleichgewichtszinssatz nehmen. Und tatsächlich wirkten Erfindungen und der laufende technologische Fortschritt immer wieder der Tendenz zu sinkenden Zinssätzen durch abnehmende Grenzerträge entgegen. Einige Ökonomen (beispielsweise Joseph Schumpeter) haben den Investitionsprozess mit einer gezupften Geigensaite verglichen. In einer Welt unveränderter Technologien kommt die Saite nach und nach zur Ruhe, wenn die Kapitalakkumulation die Kapitalrendite senkt. Doch bevor sich die Wirtschaft in einen Ruhezustand begibt, führt irgendein Vorfall von außen oder eine neue Erfindung dazu, dass die Saite wieder gezupft wird und die Investitionskräfte wieder in Gang kommen.
Unsicherheit und Erwartungen Die letzte Einschränkung betrifft das Risiko und die Unsicherheit, die bei Investitionsentscheidungen eine Rolle spielen. Im realen Leben verfügt kein Mensch über eine fantas-
tische Kristallkugel, aus der sich die Zukunft ablesen lässt. Alle Investitionen, die ja auf Annahmen künftiger Erträge beruhen, müssen in jedem Fall Prognosen späterer Kosten und Kompensationen beinhalten. Wir haben in unserer obigen Erörterung jegliches Risiko außer Acht gelassen. Tatsächlich aber birgt praktisch jedes Darlehen oder jede Investition auch ein Risikoelement in sich. Maschinen versagen; eine Ölquelle kann versiegen; Ihr bevorzugter Internet-Provider geht vielleicht in Konkurs. Der Risikograd von Investitionen ist natürlich unterschiedlich, aber völlig gefahrlos sind sie nie. Investoren stehen riskanten Investitionen im Allgemeinen negativ gegenüber, sie sind risikoavers. Stattdessen bevorzugen sie Vermögenswerte, die ihnen garantiert 10 Prozent Rendite einbringen, während sie sich vor anderen hüten, bei denen mit sie gleicher Wahrscheinlichkeit einen Ertrag von 0 Prozent oder 20 Prozent zu erwarten haben. Investoren müssen somit eine zusätzliche Rendite oder Risikoprämie erhalten, die hoch genug sein muss, um sie zur Tätigung von Investitionen mit hohem systematischem oder nicht versicherbarem Risiko zu veranlassen.
Empirische Feststellungen Die Rendite von Arbeit und Kapital Ein letzter Vergleich in Abbildung 14-7 zeigt uns die Trends in den Arbeits- und Kapitalerträgen der USA während der letzten 40 Jahre. Die Reallöhne (es handelt sich um die in USDollar – (ausgewiesenen Löhne, bereinigt um Preisbewegungen der Konsumgüter) stiegen bis in die späten 1970er Jahre stetig an und stagnierten dann 20 Jahre lang mehr oder weniger. Die Kapitalerträge vor Steuern sanken von ihrem höchsten Wert Mitte der 1960er Jahre und lagen sich in den letzten 30 Jahren bei einem Durchschnitt von rund 8 Prozent pro Jahr. Beachten Sie bitte, dass die Kapitalerträge Ende der 1990er Jahre sogar sanken – obwohl
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
16
Löhne (pro Stunde, Preise von 2002) Rendite oder Stundenlohn
12
8
Kapitalrendite der Unternehmen (in Prozent/Jahr) 4
1960
1970
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 14-7: Trends bei Löhnen und Gewinnen in den USA Wie haben sich Arbeitslöhne und Kapitalrenditen in den letzten Jahren entwickelt? Die amerikanischen Reallöhne wiesen nach dem Zweiten Weltkrieg ein rapides Wachstum auf, stagnierten ab Mitte der 1970er Jahre und steigen seit Mitte der 1990er Jahre wieder an. Nach einem Höhepunkt Mitte der 1960er Jahre entwickelten sich die Gewinne amerikanischer Unternehmen vor Steuern deutlich rückläufig und bewegen sich nun seit 30 Jahren um etwa 8 Prozent jährlich. Quelle: US-Handelsministerium
Innovationen und Produktivitätswachstum boomten. Dieser jüngste Trend lässt den Schluss zu, dass die Unternehmer der New Economy in ihren Versuchen, die sozialen Gewinne aus ihrer Innovationstätigkeit zu internalisieren, weitgehend scheiterten.
Abschließende Gedanken zu Faktorpreisen, Effizienz und Verteilung Viele Ökonomen betonen, dass ein freier Markt für Kapital und Boden höhere Spar- und Investitionsraten nach sich zieht sowie ein starkes Wirtschafts- und gesundes Produktivitätswachstum fördert. Zugleich sind viele Menschen aber auch besorgt, derselbe freie Markt
könnte die Reichen reicher und die Armen ärmer machen. Wir möchten zu dieser Debatte drei abschließende Gedanken beisteuern: 1. Konkurrierende Faktormärkte fördern die Effizienz. Das Markteinkommen der Menschen wird von Renten, Zinsen und Löhnen bestimmt. Ob uns die Einkommensverteilung im Wettbewerb nun gefällt oder nicht, müssen wir doch anerkennen, dass die Preisgestaltung unter Konkurrenzbedingungen zur Lösung der Frage beiträgt, wie Güter effizient produziert werden können. Die richtige Höhe der Preise ist für eine effiziente Auswahl der Produktionsfaktoren entscheidend. Bedenken Sie etwa, wie ungleich Boden und Arbeit in verschiedenen Ländern ver-
Kapitel 14 Boden und Kapital
teilt sind. Vergleichen Sie die USA, wo es viel Boden und wenig Arbeit gibt, mit Hongkong, wo Boden kostbar, Arbeit aber im Überfluss vorhanden ist. Infolge des Gesetzes von Angebot und Nachfrage sind in den USA die Löhne im Vergleich zu den Mieten hoch, während für Hongkong das Gegenteil zutrifft. Da sich diese relative Knappheit jeweils in den Faktorpreisen niederschlägt, sorgen die Märkte dafür, dass effiziente Kombinationen von Boden und Arbeit eingesetzt werden. Amerikaner haben riesige Farmen und bedienen sich möglichst weniger Arbeitskräfte, während der Boden Hongkongs für Industrie und Wohnzwecke anstatt für die bodenintensive Landwirtschaft genutzt wird. 2. Kapitalmärkte sorgen für den nötigen Ausgleich zwischen Ersparnis und Investition. Wenn die Leute über Gewinne sprechen, denken sie meist an all die Beträge, die Unternehmen an ihre Manager und Aktionäre auszahlen. Dabei übersehen sie aber den wesentlichen Punkt in der Bedeutung des Kapitals für eine Marktwirtschaft. Die Akkumulation von Kapital und dessen Rendite werden von zwei fundamentalen Kräften beeinflusst. Einerseits resultiert die Kapitalnachfrage aus der Tatsache, dass indirekte oder Umweg-Produktionsprozesse produktiv wirken; durch den Verzicht auf sofortigen Konsum kann eine Gesellschaft ihren zukünftigen Konsum erhöhen. Andererseits müssen die Menschen auch gewillt sein, auf Konsum zu verzichten, um Finanzanlagen anzuhäufen und den Unternehmen Darlehen zur Verfügung zu stellen, die dann produktive Investitionen in Umweg-Produktionsprozesse ermöglichen. Diese beiden Kräfte – Technologie und Ungeduld – werden durch den Zinssatz in ein Gleichgewicht gebracht, das sicherstellt, dass die Kapitalakkumulation in der Gesellschaft genau in jener Höhe erfolgt, die dem Konsumverzicht der Haushalte durch Sparen entspricht.
401 3. Der Staat kann ohne Nachteile für die Effizienz gegen Ungleichheiten vorgehen. Abschließend sollten wir noch daran denken, dass Einkommen nicht in Stein gemeißelt sind. Die Faktorpreise unterliegen dem Einfluss staatlicher Politik, und Einkommen lassen sich durch Transferzahlungen umverteilen. Ist die Gesellschaft also mit den hohen Bodenrenten oder den exorbitant hohen Löhnen Einzelner nicht einverstanden, kann sie die bestehende Ungleichheit durch Steuern mildern, ohne größere Ineffizienzen zu bewirken. Gut konzipierte Steuern auf hohe Einkommen und ererbtes Vermögen, effiziente Lohnstützungsprogramme für schlecht bezahlte Arbeitskräfte und Transferprogramme für die wahrhaft Bedürftigen können die schlimmsten Ungerechtigkeiten einer Marktwirtschaft beseitigen und beeinträchtigen dennoch nicht die Funktion der Faktorpreise, die Märkte zu effizienten Allokationen zu veranlassen. Dank gut konzipierter Steuer- und Transferprogramme kann der Kuchen wachsender Produktivität eines Staates unter den Bürgern etwas gleichmäßiger aufgeteilt werden. Unser kurzer Überblick über die wirtschaftlichen Aspekte von Arbeit, Boden und Kapital schließt nun die mikroökonomische Analyse dieses Buches ab. Im Anhang zum vorliegenden Kapitel werden wir unser Verständnis noch ein wenig vertiefen, indem wir das Verhalten der Märkte insgesamt, auch als allgemeines Gleichgewicht bekannt, untersuchen und Überlegungen zur Effizienz der Märkte anstellen. Gut ausgestattet mit unseren neuen Werkzeugen aus den vorigen Kapiteln sind wir nun bereit für die abschließenden Erörterungen zum Thema Mikroökonomie in Teil 4; darin behandeln wir einige wichtige Anwendungsgebiete unseres neu gewonnenen Wissens, wie etwa die Struktur des internationalen Handels, die Rolle des Staates und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungleichheit und Umweltverschmutzung.
402
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
Zusammenfassung A. Boden und Bodenrente 1.
2.
Der Ertrag mengenmäßig vollkommen unelastischer (fixer) Produktionsfaktoren wie Boden wird als reine wirtschaftliche Rente oder kurz als Rente bezeichnet. Da die Angebotskurve für Boden senkrecht und absolut unelastisch ist, wird die Bodenrente vom Preis bestimmt, nicht der Preis von der Bodenrente. Ein Produktionsfaktor wie Boden, dessen Angebot unelastisch ist, arbeitet auch bei abnehmendem Faktorertrag genauso intensiv weiter wie bisher. Deshalb hat uns Henry George darauf hingewiesen, dass Renten eher den Charakter von Gewinnen als denjenigen einer notwendigen Entlohnung zur Vergütung des Faktoreinsatzes haben. Dieser Umstand bildete auch die Grundlage für seinen Vorschlag eines Einsteuersystems, mit dem er ausschließlich den als arbeitsloses Einkommen betrachteten Wertzuwachs des Bodens besteuern wollte: eine Steuer, die nicht auf die Konsumenten überwälzt würde oder die Produktion verzerren könnte. Die moderne Fiskaltheorie erweitert den Vorschlag, indem sie nachweist, dass sich Ineffizienzen auf ein Mindestmaß reduzieren lassen, wenn ausschließlich Güter, die in Bezug auf Angebot oder Nachfrage relativ unelastisch sind, besteuert werden.
5.
6.
N1 N2 Nt V = ------------ + ---------------------- + … + -------------------- + … 1+i 2 t (1 + i ) (1 + i ) 7.
B. Kapital und Zinsen 3.
4.
Ein dritter Produktionsfaktor ist das Kapital: Es handelt sich hierbei um selbst produzierte, dauerhafte Wirtschaftsgüter, die in der künftigen Produktion eingesetzt werden. Ganz allgemein ausgedrückt bedeuten Kapitalinvestitionen aufgeschobenen Konsum. Durch die Verschiebung des sofortigen Konsums auf später und die Anschaffung von Gebäuden oder Maschinen erhöht die Gesellschaft ihre künftigen Konsummöglichkeiten. Es ist unbestritten, dass sich Produktionsumwege bezahlt machen. Merken Sie sich bitte folgende Definitionen: Kapitalgüter: dauerhafte, ihrerseits produzierte Güter, die für die zukünftige Produktion eingesetzt werden. Rente: jährlicher Nettogeldertrag von Kapitalgütern. Kapitalrendite: jährlicher Nettoertrag von Kapital, dividiert durch seinen Geldwert (ausgedrückt als jährlicher Prozentsatz).
Zinssatz: Ertrag einer Anlage, ausgedrückt als Prozentsatz pro Jahr. Realzinssatz: inflationsbereinigter Ertrag einer Veranlagung, ebenfalls als Prozentsatz pro Jahr angegeben. Zeit- oder Gegenwartswert: heutiger Wert eines zukünftigen Ertragsstroms, den ein Vermögenswert auslöst. Gewinne: Residualeinkommen, das den Erträgen abzüglich den Aufwendungen entspricht. Vermögenswerte schaffen künftige Einkommensströme. Durch die Berechnung des Zeitwerts können wir aus einem künftigen Ertragsstrom den aktuellen Wert ableiten. Dazu berechnen wir die Geldmenge, die heute erforderlich ist, um diesen zukünftigen Ertragsstrom auszulösen, wenn die Investition zum Marktzinssatz erfolgt. Die genaue Zeitwertformel lautet: Jeder Dollar, der in t Jahren bezahlt werden muss, hat einen Zeitwert (V) von $1 / (1+i)t. Daher erhalten wir für jeden Nettoertragsstrom (N1, N2, … Nt, …), wenn Nt dem Dollarwert der Erträge in t Jahren entspricht:
8.
Zinsen sind ein Instrumentarium, das ökonomisch gesehen zwei Funktionen hat. Einerseits sind Zinsen ein Motivationsinstrument, weil sie einen Anreiz schaffen, damit Menschen sparen und Vermögen anhäufen. Als Rationierungsoder Zuteilungsinstrument ermöglichen Zinsen der Gesellschaft die Auswahl jener Investitionsprojekte, die die höchste Rentabilität versprechen. Wird jedoch zunehmend mehr Kapital akkumuliert und kommt das Ertragsgesetz zur Wirkung, werden Kapitalrendite und Zinssatz durch den Wettbewerb nach unten gedrückt. Sinkende Zinssätze sind ein Signal für die Gesellschaft, kapitalintensivere Projekte mit geringeren Renditen in Angriff zu nehmen. Sparen und Investieren bedeutet, auf zukünftigen Konsum zu setzen, anstatt sofort zu konsumieren. Diese Sparsamkeit steht in Beziehung zur Nettokapitalproduktivität, die Zinssätze, Kapitalrendite und Kapitalbestand bestimmt. Die zum Erwerb von Kapital erforderlichen Gelder oder Finanzmittel werden von den Haushalten zur Verfügung gestellt, wenn diese bereit sind, auf sofortigen Konsum zu verzich-
403
Kapitel 14 Boden und Kapital
ten, um dafür in Zukunft mehr zu konsumieren. Die Kapitalnachfrage kommt von Unternehmen, die in eine Vielzahl von Produktionsumwegprojekten investieren. Im langfristigen Gleichgewicht wird der Zinssatz so durch die Wechselwirkung zwischen der Nettokapitalproduktivität und der Bereitschaft der Haushalte bestimmt, auf einen sofortigen Konsum zu verzichten, um dafür später mehr konsumieren zu können. 9. Die folgenden Aussagen erweitern die klassische Kapitaltheorie: Technologischer Wandel bewirkt eine Veränderung der Kapitalproduktivität; unsere mangelnde Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, bewirkt, dass Kapitalrenditen mit massiven Unsicherheiten behaftet sind; Investoren sollten unbedingt auch die Auswirkungen von Steuern und Inflation berücksichtigen. 10. Gewinne lassen sich als Erträge abzüglich der Aufwendungen ermitteln. Die in den Ge-
schäftsberichten der Unternehmen ausgewiesenen Gewinne entsprechen im Wesentlichen den Unternehmenseinkünften. Volkswirtschaftlich betrachtet unterscheiden wir jedoch drei Kategorien von Gewinnen: (a) Zu nennen sind einmal implizite Renditen als eine wichtige Quelle von Gewinnen. Unternehmen besitzen im Allgemeinen viele ihrer Produktionsfaktoren selbst, wenn wir von der Arbeit absehen: Kapital, Rohstoffe und Patente. In diesen Fällen gehören auch die impliziten Renditen auf unbezahlte oder im Eigentum des Unternehmens befindliche Inputs zum Gewinn. (b) Eine weitere Quelle von Gewinnen sind die unversicherbaren Risiken, insbesondere jene im Zusammenhang mit dem Konjunkturzyklus oder staatlichen Risiken. (c) Und schließlich gibt es noch Innovationsgewinne, die ein Unternehmer mit der Einführung neuer Produkte oder Innovationen erzielt.
Begriffe zur Wiederholung Boden Rente Unelastisches Bodenangebot Besteuerung fixer Produktionsfaktoren Die „Einsteuerbewegung“ des Henry George
Kapital und Zinsen Kapital, Kapitalgüter Sachanlagen im Gegensatz zu Finanzanlagen Zins, Kapitalrendite, Zinssatz, Gewinne Investition als Konsumverzicht Realzinssätze versus Nominalzinssätze Zeitwert Die zwei für die Zinsbildung verantwortlichen Elemente: Umwegrentabilität und Ungeduld Gewinne Implizite Renditen Unversicherbare Risiken Innovation
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Grundlagen der Kapitaltheorie wurden von Irving Fisher in The Theory of Interest dargelegt (Macmillan, New York, 1930). David Ricardo entwickelte in Principles of Political Economy and Taxation (1819, verschiedene Herausgeber; deutsch: Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, Metropolis, Marburg, 2005) eine Theorie der volkswirtschaftlichen Rente. Die moderne Kapital- und Finanztheorie gehört zu den besonders beliebten ökonomischen Themen, die im makroökonomischen Teil diverser Einführungskurse oder in Speziallehrgängen häufig behandelt werden. Gute Bücher zu diesem Thema sind unter anderem Burton Malkiel, A Random Walk Down Wall Street (Norton, New York, 2000; deutsch: Börsenerfolg ist kein Zufall, Finanzbuch Verlag, München, 2000) sowie Lawrence S. Ritter, William L. Silber und Gregory F. Udell, Principles of Money, Banking, and Financial Markets, 10. Ausg. (Addison Wesley Longman, New York, 1999). Jeremy Siegel und Peter Bernstein bieten in Stocks for the Long Run (McGraw-Hill, New York, 2002; deutsch: Aktien für die Zukunft, Finanzbuch Verlag, München, 2005) zahlreiche interessante Tabellen und Diagramme. Ein neueres Buch zum Thema Finanzgeschichte und Finanztheorie ist Robert Shillers Irrational Exuberance (Princeton University Press, Princeton, N.J., 2000; deutsch: Irrationaler Überschwang, Campus, Frankfurt/ New York, 2000).
Websites Finanzmarktdaten aller Art gibt es im Internet in Hülle und Fülle. Vielleicht möchten Sie in finance.yahoo.com oder de.finance.yahoo.com einen Einstieg in die Aktien- und Anleihenmärkte wagen oder Informationen über einzelne Unternehmen abrufen. Aktuelle Finanzdaten finden Sie ebenso unter www.bloomberg.com. Auch die amerikanische Notenbank, die Federal Reserve, hat unter www.federalreserve.gov Informationen bezüglich der Finanzmärkte ins Netz gestellt. Über das Leben und die Patente großer Erfinder informiert Sie www.invent.org/index.asp.
Übungen 1.
Definieren Sie den Fall der „reinen volkswirtschaftlichen Rente“. a. Weisen Sie nach, dass eine Erhöhung des Angebots des Produktionsfaktors, der die Rente einbringt, dessen Ertrag verringert und die Preise von Gütern, für die eine große Menge des betreffenden Faktors benötigt wird, senkt. b. Erklären Sie folgende Aussage der Rententheorie: „Es trifft nicht zu, dass der Mais wegen des hohen Bodenpreises so teuer ist. Das Gegenteil entspricht eher der Wahrheit: Der Bodenpreis ist deshalb so hoch, weil der Mais so teuer ist.“ Illustrieren Sie diese Aussage anhand eines Diagramms. c. Überdenken Sie noch einmal das Zitat in b. Warum trifft es zwar für den gesamten Markt, nicht aber für den einzelnen Landwirt zu? Erklären Sie den Trugschluss der
2.
3.
4.
Verallgemeinerung, dem man hier leicht erliegen kann. Berechnen Sie den Zeitwert jedes der folgenden Einkommensströme, wobei It dem Einkommen in t Jahren und i dem konstanten Zinssatz in Prozent pro Jahr entspricht. Runden Sie auf zwei Dezimalstellen, sofern es sich um keine ganzen Zahlen handelt. a. I0 = 10, I2 = 110, I3 = 133, i = 10. b. I0 = 17, I1 = 21, I2 = 33,08, I3 = 23,15, i = 5. c. I0 = 0, I1 = 12, I2 = 12, I3 = 12, …; i = 5. Berechnen Sie die realen Zinssätze für jedes der Finanzinstrumente in Tabelle 14-1 bei einer Inflationsrate von 4 Prozent jährlich. Vergleichen Sie die folgenden vier Erträge aus dauerhaften Vermögenswerten: (a) Bodenrente, (b) Zins für ein Kapitalgut, (c) Rendite aus einem Kapitalgut und (d) Realzinssatz. Geben Sie jeweils ein Beispiel an.
Kapitel 14 Boden und Kapital
5.
6.
7.
8.
Erklären Sie anhand der Angebots- und Nachfrageanalyse des Zinses, wie sehr jeder der folgenden Umstände nach der klassischen Analyse die Zinssätze beeinflussen würde: a. Eine Innovation, die die Grenzproduktivität des Kapitals auf jedem Kapitalniveau erhöht. b. Ein Rückgang der erwünschten Vermögensakkumulation der Haushalte. c. Eine 50-prozentige Steuer auf Kapitalrenditen (kurz- und langfristig). Sehen Sie sich die Abbildungen 14-5 und 14-6 noch einmal an und überlegen Sie, wie sich die Wirtschaft vom kurzfristigen Gleichgewichtszinssatz von 10 Prozent jährlich zum langfristigen Gleichgewicht hin bewegt hat. Erklären Sie nun, was jeweils lang- und kurzfristig geschähe, würden Innovationen die Kapitalnachfragekurve nach oben verschieben. Was würde passieren, wenn wir ein sehr hohes staatliches Defizit hätten und daher einen Großteil des Kapitalangebotes aufwenden müssten, um diese staatlichen Schulden zu bezahlen? Erklären Sie die Regel zur Berechnung des diskontierten Zeitwerts einer ewigen Rente. Welchen Wert hätte eine ewige Rente von jährlich US-$ 100 bei einer Verzinsung von 5 Prozent? Welchen Wert hätte sie bei einem jährlichen Ertrag von US-$ 200? Bei US-$ N jährlich? Wie hoch wäre der Wert einer ewigen Rente von jährlich US-$ 100 bei einer Verzinsung von 10 Prozent oder 8 Prozent? Was bewirkt eine Verdoppelung des Zinssatzes für den kapitalisierten Wert einer ewigen Rente – beispielsweise einer Annuitätenanleihe? Merken Sie sich die algebraische Formel für eine progressive geometrische Reihe:
2 1 1 + K + K + … = -------------1–K
405 für jede Bruchzahl kleiner als K = 1. Wenn Sie K = 1 / (1 + i) setzen, können Sie damit die Zeitwertformel für einen permanenten Einkommensstrom, V = $N/i, überprüfen? Führen Sie zusätzlich einen anderen Beweis an, der nur auf dem praktischen Verstand beruht. Welchen Wert hätte ein Lotteriegewinn, der Ihnen und Ihren Erben auf ewig US-$ 5.000 pro Jahr verspricht, wenn wir einen jährlichen Zinssatz von 6 Prozent zugrunde legen? 9. Der Grundstückswert in Manhattan betrug im Jahre 2003 rund US-$ 80 Milliarden. Stellen Sie sich vor, wir schrieben das Jahr 1626, und Sie wären Wirtschaftsberater der Holländer, die gerade überlegten, ob sie Manhattan kaufen sollten oder nicht. Unterstellen Sie bei der Berechnung des Zeitwerts einen jährlichen Zinssatz von 4 Prozent. Würden Sie den Holländern zu einem Kaufpreis von US-$ 24 raten oder nicht? Inwieweit würde sich Ihre Antwort ändern, wenn der Zinssatz 6 Prozent betrüge? 8 Prozent? (Ein kleiner Hinweis: Berechnen Sie für jeden Zinssatz den Zeitwert des Jahres 1626 vom Bodenwert des Jahres 2003. Vergleichen Sie Ihr Ergebnis anschließend mit dem Kaufpreis des Jahres 1626.) 10. Eine Erhöhung der Zinssätze senkt im Allgemeinen die Vermögenspreise. Um das zu erkennen, berechnen Sie folgende Zeitwerte bei einem Zinssatz von 5 Prozent, 10 Prozent und 20 Prozent jährlich: a. Den Zeitwert einer ewigen Rente von US-$ 100 pro Jahr. b. Den Zeitwert eines Christbaums, den Sie in einem Jahr für US$ 50 verkaufen können. Erklären Sie, warum der Preis langlebiger Güter stärker auf Zinssatzschwankungen reagiert als der Preis kurzlebiger Güter.
ANHANG 14 Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz
Nach Abschluss unserer Analyse der Produkt- und Faktormärkte möchten wir natürlich auch noch wissen, wie die Gesamtheit der Märkte funktioniert. Schließlich verhält sich das Ganze häufig anders als die Summe seiner Teile. In der Wirtschaftswissenschaft sprechen wir vom „allgemeinen Marktgleichgewicht“. Die Analyse dieses allgemeinen Gleichgewichts ist eines der wichtigsten Themen der modernen Ökonomie, aber auch ein sehr technisches Gebiet. Wir haben die wesentlichen Merkmale der allgemeinen Gleichgewichtstheorie in diesem Anhang zusammengefasst.
Die Effizienz des vollständigen Wettbewerbs Vor zwei Jahrhunderten ließ Adam Smith mit der Aussage aufhorchen, jene Wirtschaftssubjekte, die in einer dem Wettbewerb unterworfenen Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse handelten, dienten infolge des Wirkens der so genannten „unsichtbaren Hand“ dem Gemeinwohl am effektivsten. Diese Theorie – dass nämlich das raue Klima des Wettbewerbs am Markt eine wirkungsvolle Kraft zur Hebung von Produktion und Lebensstandard darstellt – gehört zu den profundesten und überzeugendsten Thesen der Geistesgeschichte. Eine der großen Errungenschaften der modernen Volkswirtschaftslehre ist das Verständnis der genauen Bedeutung dieser The-
se von Adam Smith. Seit 200 Jahren verfeinern Ökonomen den Begriff „Gemeinwohl“, und heute kennen wir seine Logik wie auch seine Grenzen. Effizienz ist nach volkswirtschaftlicher Definition ein Zustand, in dem die größtmögliche Bedürfnisbefriedigung mit den in einer Gesellschaft vorhandenen Ressourcen erreicht wird. Genauer ausgedrückt: Allokationseffizienz (oft auch als „ParetoOptimum“9, „Pareto-Effizienz“ oder einfach nur als „Effizienz“ bezeichnet) ist dann gegeben, wenn keine Möglichkeit besteht, Produktion oder Konsum so zu gestalten, dass dadurch die Bedürfnisbefriedigung eines Menschen gehoben werden kann, ohne zugleich diejenige eines anderen Menschen zu beeinträchtigen. Als effizient kann eine Situation bezeichnet werden, in der es niemandem besser gehen könnte, ohne einen anderen schlechter stellen zu müssen. Wir wissen heute Folgendes: Unter bestimmten Bedingungen, und dazu gehört insbesondere der vollständige Wettbewerb, kommt es in einer Marktwirtschaft zur Allokations- oder Pareto-Effizienz. In einem solchen System ist die gesamte Wirtschaft effizient, und niemand kann in ihr besser gestellt werden, ohne dass zugleich ein anderer schlechter gestellt wird. 9 So benannt nach Vilfredo Pareto (1848–1923), dem italienischen Ökonomen, der das Konzept erstmals vorstellte.
Anhang 14 Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz
Dies ist eine wahrhaft erstaunliche Aussage über die Fähigkeit des Wettbewerbs, erstrebenswerte Ergebnisse hervorzubringen. Sie bedeutet, dass angesichts der vorgegebenen Ressourcen und Technologien in einer Gesellschaft nicht einmal der findigste Planer, ausgestattet mit Supercomputer oder einem genialen Reorganisationsplan, eine bessere Lösung finden könnte als jene, die durch den vollkommenen Markt herbeigeführt wird. Es ist unmöglich, durch Umorganisation eine für jedermann günstigere Situation zu erreichen. Und dieses Ergebnis trifft immer zu, gleichgültig ob es in der Wirtschaft einen, zwei oder zwei Millionen vollkommene Güter- und Faktormärkte gibt.
Allgemeines Gleichgewicht aller Märkte Nach dieser fundamentalen Aussage über vollkommene Wettbewerbsmärkte werden wir die Gründe für ein derart bemerkenswertes Ergebnis untersuchen. Wiederholen wir eingangs, was wir in den früheren Kapiteln über das Verhalten einzelner Märkte festgestellt haben: 1. Unter Wettbewerbsbedingungen bestimmen Angebot und Nachfrage auf den einzelnen Märkten Preise und Mengen. 2. Die Marktnachfragekurven leiten sich vom Grenznutzen der einzelnen Güter ab. 3. Die Grenzkosten der unterschiedlichen Wirtschaftsgüter bestimmen unter Wettbewerbsbedingungen die Angebotskurven. 4. Unternehmen berechnen die Grenzkosten der Produkte sowie die Wertgrenzprodukte der Produktionsfaktoren und wählen danach ihre Produktionsfaktoren und die zu erzeugenden Produkte im Sinne der Gewinnmaximierung aus. 5. Summiert man die Wertgrenzprodukte aller Unternehmen, erhält man die daraus abgeleitete Faktornachfrage. 6. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen den abgeleiteten Nachfragen nach Boden,
407
Arbeit oder Kapitalgütern und dem Marktangebot, die dazu führt, dass sich die Preise der Produktionsfaktoren in Form von Rente, Lohn und Zins bilden. 7. Faktorpreise und -mengen bestimmen die Einkommen, die nun den Kreislauf zu den Schritten 1 und 2 wieder schließen, indem sie ihrerseits die Nachfrage nach bestimmten Wirtschaftsgütern bestimmen. Alle diese Aussagen sind das Ergebnis der partiellen Gleichgewichtsanalyse, die sich mit dem Verhalten eines einzelnen Marktes, Haushaltes oder Unternehmens beschäftigt, während das Verhalten aller anderen Märkte und der restlichen Wirtschaft als gegeben angenommen wird. In diesem Anhang geht es uns hingegen um die allgemeine Gleichgewichtsanalyse, die untersucht, wie (und wie erfolgreich) alle Haushalte, Unternehmen und Märkte simultan interagieren, um die Fragen des Wie, Was und Für Wen zu lösen.
Interaktion aller Märkte nach der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts Es ist die Vernetzung des Wirtschaftslebens, die eine derart verflochtene und faszinierende Komplexität hervorbringt. Wie war es möglich, dass eine Revolution im Iran des Jahres 1979 die Erdölpreise überall auf der Welt in die Höhe trieb, somit die Nachfrage nach Autos dämpfte und schließlich Tausende von Arbeitnehmern in der Automobilbranche den Job kostete? Wie konnte der Ausfall russischer Junk-Bonds im Wert von einigen Milliarden US-Dollar 1997 den Weltmarkt in seinen Grundfesten erschüttern und zu massiven Korrekturen im Ausmaß mehrerer Billionen US-Dollar auf den Aktien- und Anleihenmärkten der USA und anderer Länder führen? Diese und zahllose andere wirtschaftliche Wirkmechanismen lassen sich durch die Wechselwirkung zwischen den oben angeführten sieben Schritten erklären.
408
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Teil 3
Gütermärkte A Konsumentennachfrage (Proportionalität des jeweiligen Grenznutzens)
Getreidepreis Gesundheitswesen Flugtickets
Angebot der Unternehmen (Grenzkosten entsprechen dem Preis)
H
B P
H
B
B
H
Q
G
$
Haushalte Relativer Nutzen verschiedener Güter
$
C
Unternehmen $
$
Produktionsfunktionen verbinden Produktionsfaktoren und Güter
Bodenrente Chirurgenstunden Flugzeugpreise
P
F Faktorangebot (Wahl zwischen Arbeit und Freizeit sowie zwischen sofortigem und zukünftigem Konsum, Landbesitz)
B H
H
D
B Q
Abgeleitete Nachfrage (Proportionalität der Wertgrenzprodukte)
E Faktormärkte
Abbildung 14A-1: Produktionsfaktoren, Produktion, Güter und Konsum bilden zusammen den Wirtschaftskreislauf Im allgemeinen Gleichgewicht einer Wirtschaft verbinden sich Angebot und Nachfrage einer enormen Zahl von Produktionsfaktoren und Gütern. Beachten Sie bitte, wie die um Gewinnmaximierung bemühten Unternehmen und die um Nutzenmaximierung bemühten Haushalte auf den Gütermärkten in A sowie auf den Faktormärkten in E zusammenwirken. Beachten Sie ebenfalls, dass der Geldfluss innerhalb des Kreislaufs entgegen dem Güter- und Faktorfluss verläuft.
Beachten Sie bitte, dass unsere Liste der sieben Schritte einen logischen Ablauf nachzeichnet. In den Kapiteln dieses Buches werden sie übrigens beinahe in derselben Reihenfolge behandelt. Doch wie verhält es sich im realen Leben: Was kommt zuerst? Ist auch hier eine ordentliche Abfolge festzustellen, sodass beispielsweise montags die Preisbildung auf einzelnen Märkten stattfindet, am Dienstag die Evaluierung der Verbraucherpräferenzen, am Mittwoch jene der Unternehmenskosten, während die Grenzprodukte am Donnerstag ermittelt werden? Selbstver-
ständlich nicht. Alle diese partiellen Gleichgewichtsprozesse laufen zur gleichen Zeit ab. Doch damit nicht genug. Die verschiedenen Aktivitäten finden nicht unabhängig voneinander statt, sozusagen jede einzelne in ihrer eigenen kleinen Welt, immer darauf bedacht, den anderen nicht in die Quere zu kommen. Nein, alle Prozesse im Zusammenhang mit Angebot und Nachfrage, Kosten und Präferenzen, mit Faktorproduktivität und -nachfrage sind nur verschiedene Aspekte eines großen, simultan stattfindenden und vernetzten Prozesses.
Anhang 14 Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz
Kreislauf. Die zahlreichen Input- und Outputmärkte müssen wir uns wie ein unsichtbares Netz in einem System wechselseitiger Abhängigkeiten vorstellen, das wir als allgemeines Gleichgewicht bezeichnen. Abbildung 14A-1 stellt die Grundstruktur eines allgemeinen Gleichgewichts dar. Die äußeren Kreise entsprechen Nachfrage und Angebot aller Güter und Produktionsfaktoren. Hier handelt es sich nicht um ein einzelnes Wirtschaftsgut oder einen einzelnen Produktionsfaktor, sondern um alle verschiedenen Produkte (Mais, Gesundheitswesen, Konzerte, Flugreisen und so weiter), die mithilfe einer riesigen Palette an Produktionsfaktoren hergestellt werden (Ackerboden, Chirurgen, Flugzeuge und so weiter). Jedes Wirtschaftsgut oder jeder Produktionsfaktor wird auf einem Markt getauscht, und das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage entscheidet über Preis und Menge dieses Gutes oder Faktors. Angebot und Nachfrage finden täglich millionenfach zusammen und zwar für alle Arten von Wirtschaftsgütern, von Aalen bis Zylinderköpfen. Beachten Sie bitte in Abbildung 14-A1, dass der obere Kreis Güterangebot und -nachfrage darstellt, während sich der untere Kreis auf Faktorangebot und -nachfrage bezieht. Achten Sie auch darauf, wie die Verbraucher Güter und Produktionsfaktoren nachfragen; Haushalte kaufen ihre Verbrauchsgüter mit dem Einkommen, das sie durch die von ihnen angebotenen Produktionsfaktoren verdienen. Ebenso kaufen Unternehmen Faktoren und bieten Produkte an, wobei sie Faktoreinkommen und Gewinne aus den Erlösen jener Güter bezahlen, die sie verkaufen. Wir erkennen also eine logische Struktur hinter den Millionen von Märkten, die Preise und Produktion bestimmen: (1) Die Haushalte, die bestrebt sind, ihre Zufriedenheit zu maximieren, liefern Produktionsfaktoren und kaufen Produkte, während (2) die Unternehmen, geleitet von Gewinnstreben, die den Haushalten abgekauften Produktionsfaktoren in Produk-
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te umwandeln, die ihrerseits wieder an die Haushalte verkauft werden. Die logische Kreislaufstruktur eines allgemeinen Gleichgewichtssystems ist damit geschlossen.
Merkmale eines allgemeinen Wettbewerbsgleichgewichts Dass die Durchführung einer allgemeinen Gleichgewichtsanalyse komplizierter ist als eine partielle Gleichgewichtsanalyse, die sich nur mit einem einzigen Markt beschäftigt, sollte uns nicht überraschen. Ein allgemeines Gleichgewichtssystem stellt eine Wirtschaft in ihrer Gesamtheit dar, nicht nur einen ihrer Teile. Es kann daher viele verschiedene Arten von Arbeit, Maschinen und Boden umfassen, die allesamt als Produktionsfaktoren zur Herstellung Dutzender verschiedener Arten von Computern, Hunderter verschiedener Autospezifikationen, Tausender verschiedener Kleidungsstücke und so weiter dienen. Es enthält Dienstleistungen wie Mobiltelefonnetze, College-Kurse und Ferien in Disneyland, aber auch Güter wie die Produkte der Schwerindustrie, Pizzas und Mobiltelefone. Woher aber wissen wir, dass eine vollkommene Marktwirtschaft effizient ist? Zur Beantwortung dieser Frage gehen wir wie folgt vor: Als Erstes beschreiben wir die unserem allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewicht zugrunde liegenden Annahmen. (2) Es folgt eine zusammenfassende Beschreibung der Merkmale eines allgemeinen Gleichgewichts. (3) Als Nächstes werden – zugegebenermaßen ein wenig technisch – die Merkmale dieses allgemeinen Gleichgewichtes in allen Einzelheiten skizziert. (4) Und schließlich weisen wir noch nach, warum ein allgemeines Gleichgewicht im vollständigen Wettbewerb effizient ist.
1. Merkmale eines allgemeinen Gleichgewichts Welche Annahmen treffen wir, wenn wir ein Wirtschaftssystem im Wettbewerb analysie-
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Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
ren? Wir unterstellen, dass alle Märkte im vollständigen Wettbewerb stehen, das heißt, dass sie der rücksichtslosen Konkurrenz zahlreicher Käufer und Verkäufer ausgesetzt sind. Jeder Preis, ob nun für einen Produktionsfaktor oder ein Produkt, ist elastisch genug, um jederzeit einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage herstellen zu können. Die Unternehmen maximieren ihre Gewinne, während die Konsumenten sich für den Warenkorb ihrer Präferenz entscheiden. Jedes Wirtschaftsgut wird unter Bedingungen konstanter oder abnehmender Skaleneffekte produziert. Weder Umweltverschmutzung noch Marktzutrittsbeschränkungen oder monopolistische Gewerkschaften stören diese Wettbewerbslandschaft. Konsumenten und Produzenten sind über Preise und wirtschaftliche Möglichkeiten wohl informiert. Diese Bedingungen stellen natürlich einen wenig realistischen Idealfall dar. Eine solche Wirtschaft, gäbe es sie, wäre aber tatsächlich so beschaffen, dass die unsichtbare Hand Adam Smiths ohne Behinderung durch Externalitäten oder unvollständigen Wettbewerb in ihr regieren könnte.
2. Die Hauptmerkmale eines allgemeinen Gleichgewichts Wir skizzieren nun kurz, in welcher Wechselwirkung die verschiedenen Segmente einer Wirtschaft miteinander stehen. Die wichtigsten Zutaten sind Konsumenten- und Produzentenverhalten sowie deren Interaktion zur Herstellung eines allgemeinen Gleichgewichts. Zunächst teilen die Konsumenten ihre Einkommen so auf verschiedene Güter auf, dass sie damit ihre Bedürfnisbefriedigung maximieren. Sie treffen ihre Güterauswahl auf eine Weise, dass der Grenznutzen pro Geldeinheit Ausgabe für die jeweils letzte Einheit eines jeden Gutes gleich hoch ist. Unter welchen Bedingungen können nun die Produzenten ihre Gewinne maximieren? Auf den Gütermärkten wird jedes Unternehmen seine Produktionsmenge so wählen, dass
Teil 3
Produktionsgrenzkosten und Produktpreis gleich hoch sind. Da das bei jedem Gut und jedem Unternehmen geschieht, folgt daraus, dass der Wettbewerbsmarktpreis für jedes Gut den Grenzkosten dieses Gutes für die Gesellschaft entspricht. Durch die Kombination dieser beiden Aussagen ergibt sich die Vorbedingung für ein allgemeines Wettbewerbsgleichgewicht. Für jeden Konsumenten gilt, dass der Konsumgrenznutzen aus jedem Gut den Grenzkosten jedes dieser Güter entspricht. Außerdem ist der Grenznutzen der letzten für jedes Gut ausgegebenen Geldeinheit für alle Güter gleich. Wir können dieses Ergebnis durch ein Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir an, wir hätten es mit zwei Einzelpersonen, Frau Smith und Herrn Ricardo, und mit zwei Arten von Gütern, Pizza und Bekleidung, zu tun. Im Sinne des Konsumentengleichgewichts kauft Frau Smith Pizza und Bekleidung, bis der Grenznutzen MU pro Geldeinheit jedes Gutes 1 (Smith)-Nutzen beträgt. Ebenso teilt Herr Ricardo sein Einkommen so auf, dass er 1 (Ricardo)-Nutzen pro Geldeinheit Ausgabe erzielt.10 Die Produzenten von Pizza und Bekleidung wählen ihre Produktionsmenge so, dass der Preis den Grenzkosten entspricht, was bedeutet, dass Pizza für eine Geldeinheit pro Produzenten Produktionsgrenzkosten in Höhe von ebenfalls 1 Geldeinheit verursacht; ebenso verhält es sich mit Bekleidung für eine Geldeinheit. Würde die Gesellschaft Pizza für eine weitere Geldeinheit produzieren, so würde dies die Gesellschaft genau den Gegenwert einer Geldeinheit eines Korbes knapper Ressourcen, bestehend aus Arbeit, Boden und Kapital, kosten. Durch die Verbindung dieser Bedingungen erkennen wir, dass jeder zusätzliche Kon10 Zur Vereinfachung der Analyse haben wir für den Nutzen einen speziellen „Geld-Freizeit-Maßstab“ eingeführt. Das bedeutet, wir passen unseren Nutzenmaßstab so an, dass der Grenznutzen einer zusätzlichen Stunde Freizeit stets konstant bleibt und einen Wert von US-$ 1 annimmt. Wir können damit alle Preise in diesen FreizeitGeldeinheiten darstellen, sodass ein „Nutzen“ eine Einheit des Nutzens nach diesem Geld-Freizeit-Maßstab darstellt.
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Anhang 14 Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz
sum in Höhe einer Geldeinheit Frau Smith oder Herrn Ricardo genau 1 zusätzlichen Nutzen an Befriedigung einbringt, unabhängig davon, ob es sich um Pizzas oder Bekleidung handelt. Und ebenso führt jede zusätzliche Ausgabeneinheit für die Gesellschaft zu Grenz- oder Zusatzkosten an Ressourcen in Höhe einer zusätzlichen Geldeinheit, und das unabhängig davon, ob diese zusätzliche Geldeinheit von Frau Smith oder Herrn Ricardo ausgegeben wird. Das allgemeine Gleichgewicht der Märkte bestimmt daher die Preise und Produktionsmengen so, dass der Grenznutzen jedes Gutes für die Konsumenten genau den Grenzkosten jedes Gutes für die Gesellschaft entspricht.
3. Die Analyse des allgemeinen Gleichgewichts im Detail Betrachten wir nun die Bedingungen eines allgemeinen Wettbewerbsgleichgewichts näher. Die erste, die sich auf die Konsumenten bezieht, entspricht dem oberen Kreisbogen in Abbildung 14A-1, während die zweite, die sich auf die Produktion bezieht, durch den unteren Kreisbogen dargestellt wird. a. Konsumentengleichgewicht. Unsere Analyse des Konsumentenverhaltens in Kapitel 5 hat ergeben, dass die Konsumenten bei der Wahl zwischen verschiedenen Gütern ihren Nutzen maximieren, wenn der Grenznutzen je ausgegebener Geldeinheit jeweils gleich ist. Diese Regel impliziert die folgende Bedingung: MU1 P1 ------------ = ------MU2 P2 In Worten: Das Verhältnis zwischen den jeweiligen Grenznutzen der beiden Güter oder die jeweilige zusätzliche Bedürfnisbefriedigung, die man aus den beiden Gütern ziehen kann, entspricht dem Verhältnis ihrer Preise. Diese Bedingung muss für jeden einzelnen Konsumenten gelten, der die beiden Güter kauft.
b. Produzentengleichgewicht. Das Verhalten der Unternehmen mit ihrem Streben nach Gewinnmaximierung führt zu einem analogen, wenn auch in gewisser Weise komplexeren Geflecht an Bedingungen, die in den Kapiteln 6 bis 8 behandelt wurden. Dort hatten wir festgestellt, dass Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen ihre Produktionsfaktoren (Input) und Produktionsmengen (Output) wie folgt wählen: i Die Outputbedingung der Produzenten besagt: Jede Produktionsmenge wird so gewählt, dass der Preis jedes Gutes den Grenzkosten dieses Gutes entspricht. Bei entsprechender Umformung der Gleichung ergibt sich:
MC 1 P1 ------------ = ------MC 2 P2 Diese Gleichung besagt, dass das Verhältnis der Grenzkosten zweier Endprodukte bei vollständigem Wettbewerb ihrem Preisverhältnis entspricht. Das Gleichgewicht gilt für alle Güter, die produziert werden, und für alle Unternehmen, die diese Güter produzieren. Wir können das Verhältnis der Grenzkosten als Steigung der Produktionsmöglichkeiten- oder Transformationskurve interpretieren, die das Verhältnis angibt, in dem die Gesellschaft ein Gut in ein anderes umwandeln kann. Wenn die Grenzkosten für eine Pizza US-$ 1 diejenigen für einen Haarschnitt US-$ 10 betragen, kann die Gesellschaft durch Verlagerung von Ressourcen von den Friseuren zu den Bauern einen Haarschnitt in 10 Einheiten Pizza umwandeln. Das wesentlicheMerkmal einer Wettbewerbswirtschaft besteht darin, dass die Wettbewerbspreise die volkswirtschaftlichen Kosten oder Knappheiten widerspiegeln. Wir haben gerade darauf hingewiesen, dass das Verhältnis der Grenzkosten zwischen zwei Gütern das Verhältnis wiedergibt, zu dem die Gesellschaft das eine Gut in das andere umwandeln kann. Da aber
412
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
das Grenzkostenverhältnis dem Preisverhältnis entspricht, folgt daraus, dass die relativen Preise jenes Verhältnis widerspiegeln, zu dem eine Gesellschaft ein Gut in ein anderes verwandeln kann. Es ist diese fundamentale Tatsache – dass Wettbewerbspreise ein verlässliches Signal für die relative Knappheit verschiedener Güter darstellen –, die uns zeigt, auf welche perfekte Weise Wettbewerbsmärkte zur Allokationsoder Pareto-Effizienz beitragen. ii Der Wettbewerb führt auch zu bestimmten Inputbedingungen für die Produzenten. Wir haben gesehen, dass die Unternehmen mit ihrem Bedürfnis nach Gewinnmaximierung die Menge jedes Inputfaktors so wählen, dass der Wert seines Grenzproduktes dessen Preis entspricht. Daher gilt: Grenzprodukt des Bodens bei Gut 1 Preis von Gut 1 = Bodenrente Grenzprodukt des Bodens bei Gut 2 Preis von Gut 2 = Bodenrente Grenzprodukt der Arbeit bei Gut 1 Preis von Gut 1 = Arbeitslohn
Teil 3
Darüber hinaus gilt diese Beziehung für alle Unternehmen, die Boden und Arbeit verwenden, um Gut 1 herzustellen. Sie gilt ebenfalls für alle Produktionsfaktoren (Kapital, Öl, Hilfsarbeiter und so weiter) und für alle erzeugten Güter. Die Inputbedingungen sind deshalb wichtig, weil sie implizieren, dass die Verhältnisse der Grenzprodukte der Produktionsfaktoren für alle Inputs und für alle Unternehmen bei jeder Verwendung gleich sind. Wenn im amerikanischen Südwesten Arbeit im Verhältnis zu Boden knapp ist, sind die Bodenrenten im Vergleich zu den Löhnen niedrig. Das niedrige Renten-Lohn-Verhältnis signalisiert den Landwirten, dass sie wenige Arbeitskräfte auf großen Farmen einsetzen sollten, und es bewirkt größere Häuser, breite Straßen und geringere Pendelzeiten der Arbeitnehmer. In Manhattan mit seinem viel höheren Verhältnis zwischen Bodenpreisen und Arbeitslöhnen finden wir dagegen mehr Hochhäuser und längere Arbeitswege, während Bauernhöfe nur in Tagträumen vom Landleben vorkommen. Zusammenfassend:
und so weiter. Aus diesen Beziehungen können wir mehrere wichtige Folgerungen ableiten. Erstens: Da jedes Unternehmen eines bestimmten Wirtschaftszweiges mit denselben Faktorund Güterpreisen konfrontiert ist, ist das Grenzprodukt des Produktionsfaktors A für jedes Unternehmen in diesem Wirtschaftszweig gleich. Durch Umformung der einzelnen Terme in der obigen Gleichung lässt sich ersehen, dass das Verhältnis der Grenzprodukte der Produktionsfaktoren dem Verhältnis ihrer Preise entspricht:
Bei einem allgemeinen Gleichgewicht unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs gilt unter der Annahme, dass die Konsumenten ihren Nutzen und die Unternehmen ihre Gewinne maximieren möchten:
Grenzertragsprodukt des Bodens bei Gut 1 Bodenpreis = Grenzertragsprodukt Arbeitspreis der Arbeit bei Gut 1
• Die relativen Grenzprodukte aller Produktionsfaktoren sind für alle Unternehmen und alle Güter gleich und entsprechen den relativen Preisen dieser Produktionsfaktoren.
• Die Verhältnisse zwischen den Grenznutzen verschiedener Güter für alle Konsumenten entsprechen den relativen Preisen dieser Güter. • Die Verhältnisse zwischen den Grenzkosten der von den Unternehmen erzeugten Güter entsprechen den relativen Preisen dieser Güter.
Anhang 14 Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz
4. Die Effizienz des vollständigen Wettbewerbs Da wir nun gesehen haben, wie die Ressourcenallokation in einer Wettbewerbswirtschaft erfolgt, können wir auch verstehen, warum eine solche Wettbewerbswirtschaft effizient ist. Ein im allgemeinen Gleichgewicht befindliches Marktsystem zeichnet sich dann durch seine Pareto- oder Allokationseffizienz aus, wenn vollständiger Wettbewerb und umfassende Information gegeben sind und keine externen Effekte zur Wirkung kommen. In einem solchen System entspricht der Preis jedes Gutes seinen Grenzkosten, und jeder Faktorpreis entspricht dem Wert seines Grenzproduktes. Wenn jeder Produzent seine Gewinne maximiert und jeder Konsument seinen Nutzen, ist die Wirtschaft als Ganzes effizient. Niemand kann besser gestellt werden, ohne jemanden anderen schlechter zu stellen. Doch welchen Grund gibt es für diese überraschende Übereinstimmung von Gemeinwohl und Privatinteressen? Wir können die dahinter stehende Logik anhand eines Beispiels gleich erkennen. Nehmen wir an, irgendein selbsternannter Wirtschaftsfachmann stünde auf und sagte: „Ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir unsere im vollkommenen Wettbewerb befindliche Marktwirtschaft so verändern können, dass es jedem von uns besser geht. Wir erzeugen zu wenige Pizzas. Geben wir einfach jedem mehr Pizzas und weniger Hemden, und jeder wird davon profitieren.“ Dieser vermeintliche Fachmann irrt sich. Nehmen wir an, der gegenwärtige Hemdenpreis beträgt US-$ 15, während der Pizzapreis bei US-$ 5 liegt. Auf der Konsumentenseite hat jeder Einzelne sein Budget so eingesetzt, dass der Grenznutzen der letzten Pizza genau ein Drittel des Grenznutzens des letzten Hemdes beträgt. Die Konsumenten wollen also sicherlich nicht noch mehr Pizzas und dafür weniger Hemden erhalten, es sei denn, sie könnten für jedes Hemd, auf das sie verzichten müssen, mehr als drei Pizzas bekommen.
413
Kann die Wirtschaft für jedes Hemd, auf das verzichtet wird, mehr als drei Pizzas herausholen? Nicht unter den Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs. Im vollständigen Wettbewerb ist das Verhältnis des Hemdenpreises zum Pizzapreis gleich dem Verhältnis der Grenzkosten der beiden Güter. Daher können die Produzenten, wenn ihr Preisverhältnis US-$ 15 / US-$ 5 = 3 beträgt, eben auch nur drei Pizzas für jedes nicht produzierte Hemd erzielen. Ist die Transformations- oder Produktionsmöglichkeitenkurve nach außen gekrümmt, erhalten die Produzenten tatsächlich sogar ein bisschen weniger als drei Pizzas für jedes nicht produzierte Hemd. Wir erkennen also, warum sich unser Fachmann irrt. Die Konsumenten wollen nur dann mehr Pizzas essen und weniger Hemden kaufen, wenn sie ihre Bedürfnisbefriedigung steigern können, was aber bedeutet, dass sie mehr als drei Pizzas für jedes Hemd, auf das sie verzichten, bekommen müssen. Das ist jedoch nicht möglich, weil gewinnmaximierende Produzenten durch den Verzicht auf die Produktion eines Hemdes nicht mehr als drei Pizzas erzeugen können. Und genau aus diesem Grund kann die von unserem „Fachmann“ vorgeschlagene Änderung die wirtschaftliche Bedürfnisbefriedigung aller eben nicht verbessern. Dieser Gedankengang gilt natürlich nicht nur für Pizzas und Hemden. Nach kurzem Nachdenken werden Sie erkennen, dass er für alle Verbrauchsgüter gilt. Wenn Sie sich noch ein wenig mehr Mühe geben, werden Sie sehen, dass er sogar für die Reorganisation des Faktoreinsatzes und der produzierten Outputs quer über alle Unternehmen gilt. Und man erkennt leicht, dass er sich auch auf den zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Handel anwenden lässt. Die wesentliche Feststellung lautet: Da die Preise für die Produzenten als Signale der wirtschaftlichen Knappheit und für die Konsumenten als Signale des sozialen Nutzens dienen, ermöglicht der Preismechanismus unter Bedingungen vollständigen Wettbewerbs die
Faktormärkte: Arbeit, Boden und Kapital
Produktion der bestmöglichen Kombination von Gütern und Dienstleistungen aus den vorhandenen Ressourcen und mit den gegebenen technologischen Mitteln einer Gesellschaft.
Grafischer Nachweis Die eben erörterten Punkte lassen sich mithilfe eines Instruments, das als Nutzenmöglichkeitenkurve (UPF) bezeichnet wird, nachweisen. Diese Kurve zeigt die Außengrenze des Nutzens oder der Bedürfnisbefriedigung, die eine Gesellschaft erreichen kann. Ein solches Konzept gleicht gedanklich demjenigen der Produktionsmöglichkeitenkurve. Der Hauptunterschied besteht darin, dass auf den beiden Achsen der UPF Nutzen oder Zufriedenheit dargestellt ist, wie aus Abbildung 14A-2 hervorgeht. Die UPF ist abwärts geneigt, woraus wir erkennen, dass mit steigender Zufriedenheit einer Person die Zufriedenheit der anderen Person nachlassen muss. Beachten Sie bitte, dass die UPF ein wenig gewellt ist. Dieser Verlauf zeigt uns, dass der Maßstab des individuellen Nutzens willkürlich gewählt ist. Die Unmöglichkeit, den individuellen Nutzen zu messen und zu vergleichen, ist jedoch für die Analyse der Effizienz vollständig unerheblich. Wichtig ist nur, dass das Ausmaß an Bedürfnisbefriedigung einer Person steigt, wenn der Nutzenindex ansteigt. Aufgrund dieses positiven Verhältnisses zwischen Nutzen und gewünschtem Konsumniveau ist garantiert, dass jeder Mensch sich auf seiner Nutzenachse möglichst weit nach außen bewegen möchte. Und jetzt kommt das Entscheidende: Eine Wirtschaft ist dann effizient, wenn sie sich auf ihrer Nutzenmöglichkeitenkurve befindet. Ein derartiges Pareto-Optimum sehen Sie in Abbildung 14A-2 in Punkt A. Und warum ist Punkt A pareto-optimal? Weil es keine verfügbare wirtschaftliche Alternative gibt, die irgendjemanden besser stellen würde, ohne einen anderen schlechter zu stellen. Natürlich können wir uns zu Punkt C bewegen. Eine solche Bewegung würde Frau Müller sicherlich freuen, denn so könnte sie ihren
Teil 3
UM Nutzen oder Bedürfnisbefriedigung von Müller
414
A
Nutzenmöglichkeitenkurve
B
C
US Nutzen oder Bedürfnisbefriedigung von Schmidt
Abbildung 14A-2: Allokationseffizienz befördert uns auf unsere Nutzenmöglichkeitenkurve Von volkswirtschaftlicher Effizienz sprechen wir, wenn niemand besser gestellt werden kann, ohne dass zugleich ein anderer schlechter gestellt wird. Daraus folgt, dass effiziente Ergebnisse auf der Nutzenmöglichkeitenkurve (UPF) liegen müssen. Die Entwicklung von Ergebnis A zu Ergebnis C verbessert den Nutzen oder das Wohl von Schmidt nur deshalb, weil Frau Müller schlechter gestellt wird; beides sind effiziente Allokationen. Punkt B befindet sich innerhalb der UPF und ist deshalb ineffizient, weil Müller, Schmidt oder beide ohne Nachteil für den jeweils anderen besser gestellt werden könnten.
Konsum und ihre Zufriedenheit erhöhen. Doch Frau Müllers Freud wäre Herrn Schmidts Leid. Wenn jeder mögliche Gewinn und Frau Müller auf Kosten von Herrn Schmidt geht, befindet sich die Wirtschaft auf ihrer UPF und funktioniert effizient. Eine Wirtschaft ist effizient, wenn sie sich auf ihrer Nutzenmöglichkeitenkurve befindet. Und damit ist unsere Analyse des Verhaltens einer Marktwirtschaft auch schon abgeschlossen. Die Effizienzeigenschaften der Märkte im Wettbewerb sind eines der zentralen Themen der Mikroökonomie, die jeder Wirtschaftswissenschaftler beherrschen sollte. Denken Sie aber auch daran, welche Mängel die Märkte aufweisen und welche Maßnahmen der Staat ergreifen kann, um gegen Marktversagen und Ungleichheit aufzutreten. Diese wichtigen Themen sind Gegenstand der folgenden Kapitel.
415
Anhang 14 Märkte und volkswirtschaftliche Effizienz
Zusammenfassung des Anhangs 1.
2.
Unter bestimmten Bedingungen, und dazu gehört insbesondere der vollständige Wettbewerb, kommt es in einer Marktwirtschaft zur Allokationseffizienz, auch als Pareto-Optimum oder Pareto-Effizienz bezeichnet. Allokationsoder Pareto-Effizienz bedeutet, dass niemand besser gestellt werden kann, ohne zugleich einen anderen schlechter zu stellen. Das allgemeine Gleichgewicht aller Märkte ist durch einen Kreislauf gekennzeichnet, in dem über die Preise ein Netz wechselseitiger Beziehungen besteht. Die Haushalte bieten dabei Produktionsfaktoren an und fragen die erzeugten Güter nach; die Unternehmen kaufen Produktionsfaktoren und wandeln sie in jene Endprodukte um, die die Haushalte nachfragen.
3.
Das wichtigste Ergebnis der allgemeinen Gleichgewichtsanalyse lautet: Da die Preise als Signale der wirtschaftlichen Knappheit für die Produzenten und als Signale des sozialen Nutzens für die Konsumenten dienen, ermöglicht der Preismechanismus unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs die maximale Produktionsmenge und die maximale Bedürfnisbefriedigung aus jenen Ressourcen und Technologien, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen. In einer solchen Situation befindet sich die Wirtschaft sowohl auf ihrer Produktionsmöglichkeiten- als auch auf ihrer Nutzenmöglichkeitenkurve.
Begriffe zur Wiederholung Parzielles und allgemeines Gleichgewicht Allokations- (oder Pareto-) Effizienz, Pareto-Optimum Nutzenmöglichkeitenkurve (UPF oder NMK) Bedingungen für ein effizientes allgemeines Gleichgewicht: MUs proportional zu den Ps MCs proportional zu den Ps Wertgrenzprodukte proportional zu Faktor-MCs
Übungen 1.
Erklären Sie detailliert die beiden Theoreme über die Wettbewerbswirtschaft. Wie verhalten Sie sich zu den folgenden Aussagen? a. „Der vollständige Wettbewerb sorgt für ideale Bedingungen zur Verteilung des Wohlstandes.“ (Francis Walker, 1892) b. „Die unsichtbare Hand, sollte es sie tatsächlich irgendwo geben, ist wahrscheinlich ein Taschendieb, der die Armen bestiehlt.“ (Edward Nell, 1982) c. Das Zitat über die unsichtbare Hand von Adam Smith (siehe Kapitel 2). d. „Pareto ... meinte, der Wettbewerb führe zu einer Situation, in der es unmöglich sei, die Bedürfnisbefriedigung eines Konsumenten im Rahmen der verfügbaren Ressourcen und des technologischen Knowhows zu erhöhen, ohne zugleich die Bedürfnisbefriedigung zumindest eines anderen Konsumenten zu beeinträchtigen“ (Tjalling Koopmans, 1957).
2.
Die Effizienzanalyse von Wirtschaftssystemen, die dem Wettbewerb unterworfen sind, beruht auf der Annahme, es gebe keinen technologischen Fortschritt. Erinnern Sie sich an die Hypothese Schumpeters aus Kapitel 10. Was bedeutet diese Aussage im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Effizienz des Wettbewerbsmechanismus? Für welche Art eines Marktversagens lassen sich Erfindungen als Beispiel heranziehen? Weisen Sie in einer Welt des raschen potenziellen technologischen Wandels mithilfe von Produktionsmöglichkeitenkurven nach, warum eine innovative Wirtschaft langfristig im unvollständigen Wettbewerb ein höheres Konsumniveau hervorbringt als eine effiziente, dabei jedoch technologisch stagnierende Wettbewerbswirtschaft.
Teil 4
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
419
A. Das Wesen des internationalen Handels
KAPITEL 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
AN DIE ABGEORDNETEN DER DEPUTIERTENKAMMER: Wir unterliegen der unerträglichen Konkurrenz eines ausländischen Rivalen, der – wie es aussieht – Licht unter Bedingungen produziert, die den unseren so überlegen sind, dass er unseren nationalen Markt damit zu einem unglaublich niedrigen Preis überschwemmt. Dieser Rivale ist kein Geringerer als die Sonne. Wir fordern Sie auf, ein Gesetz zu erlassen, das das Schließen aller Fenster, Luken und Ritzen vorschreibt, durch die das Sonnenlicht üblicherweise in die Häuser dringt, zum Nachteil der gewinnbringenden Erzeugnisse, die wir diesem Land geben können. Unterzeichnet: Die Kerzenmacher F. Bastiat
Im täglichen Leben ist uns die Bedeutung des internationalen Handels nicht immer bewusst. Die Vereinigten Staaten liefern enorme Mengen an Lebensmitteln, Flugzeugen, Computern und Maschinen in alle Welt; im Gegenzug erhält das Land riesige Mengen an Öl, Schuhen, Automobilen, Kaffee und anderen Gütern und Dienstleistungen. Während sich die US-Amerikaner viel auf ihren Ideenreichtum zugute halten, ist es ernüchternd, sich vor Augen zu führen, dass viele unserer Produkte – wie Schießpulver, klassische Musik, Uhren, Eisenbahnen, Penicillin und Radar – dem Erfindungsgeist längst vergessener Menschen an entlegenen Orten zu verdanken sind. Worin bestehen die wirtschaftlichen Kräfte, die den internationalen Handel antreiben? Um es einfach auszudrücken: Der Handel fördert die Spezialisierung, und die Spezialisierung steigert die Produktivität. Auf lange Sicht erhöhen ein verstärkter Handel und eine höhere Produktivität den Lebensstandard aller Nationen. Schritt für Schritt setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Öffnung der Wirtschaft für den weltweiten Handel der sicherste Weg zum Wohlstand ist. In diesem Kapitel erweitern wir unsere Analyse, indem wir die Prinzipien des internationalen Handels untersuchen, also das System, mit dessen Hilfe die Staaten Güter, Dienstleistungen und Kapital exportieren und importieren. Die Internationalisierung der Wirtschaft wirft heiß diskutierte Fragen auf: Warum profitieren die Vereinigten Staaten davon, dass sie fast ein Viertel ihrer Autos und die Hälfte ihres Erdöls importieren? Welche Auswirkungen hat der freie Handel? Wie sollten die Prinzipien, die den Handel regeln, auf geistige Eigentumsrechte wie Patente und Urheberrechte ausgeweitet werden? Aus wirtschaftlicher Sicht hängt viel
420
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
davon ab, kluge Antworten auf diese Fragen zu finden.
Internationaler Handel und Binnenhandel Auf niedrigster Ebene ist Handel gleich Handel, egal ob zwischen Bewohnern desselben Landes oder zwischen Bewohnern verschiedener Länder. Zwischen dem Binnen- und dem internationalen Handel gibt es jedoch drei wichtige Unterschiede, die wichtige praktische und wirtschaftliche Konsequenzen haben: 1. Erweiterte Handelsmöglichkeiten. Der wichtigste Vorteil des zwischenstaatlichen Handels besteht darin, dass er den Handelshorizont erweitert. Wären wir gezwungen, nur das zu konsumieren, was im Inland erzeugt wird, würde das sowohl eine materielle als auch eine spirituelle Verarmung der Welt bedeuten. Die Kanadier säßen vor leeren Weingläsern, die USAmerikaner sähen sich gezwungen, auf Bananen zu verzichten, und der Großteil der Welt müsste ohne Jazz und Hollywood-Filme auskommen. 2. Souveräne Staaten. Der Handel über Grenzen hinweg setzt voraus, dass Menschen und Unternehmen in verschiedenen Staaten angesiedelt sind. Jeder Staat ist ein souveränes Gebilde, das die Bewegung von Menschen, Gütern und Geld über seine Grenzen hinweg regelt. Im Binnenhandel hingegen haben wir es nur mit einer Währung zu tun, Handel und Geld fließen innerhalb der Grenzen frei, und die Menschen können sich ungehindert bewegen, um neue Chancen zu suchen. Im internationalen Handel werden manchmal politische Handelsbarrieren errichtet, wenn sich betroffene Gruppen gegen den Außenhandel wenden und Staaten Zölle oder Importbeschränkungen einführen. Auf diese
Teil 4
Praxis, Protektionismus genannt, gehen wir am Ende dieses Kapitels ein. 3. Wechselkurse. Die meisten Nationen haben eine eigene Währung. Ich möchte mein japanisches Auto in US-Dollar bezahlen, während Toyota in japanischen Yen bezahlt werden möchte. Die US-Dollar werden entsprechend dem Wechselkurs – dem jeweiligen Kurs der einzelnen Währungen (zum Beispiel der Preis des japanischen Yen, ausgedrückt in US-Dollar) gegen den Yen eingetauscht. Das internationale Finanzsystem muss für einen reibungslosen Fluss und ungestörte Tauschmöglichkeiten von US-Dollar, Yen und anderen Währungen sorgen. Gelingt ihm dies nicht, droht ein Zusammenbruch des Handels. Die finanziellen Aspekte des internationalen Handels werden in den Kapiteln über Makroökonomie analysiert.
Trends des Außenhandels Worin bestehen die wichtigsten Komponenten des internationalen Handels für die Vereinigten Staaten? Tabelle 15-1 zeigt die Zusammensetzung des US-Außenhandels im Jahr 2002. Der Großteil des Handels entfällt auf Güter, vor allem Produktionsgüter, wenn auch der Handel mit Dienstleistungen stark zugenommen hat. Die Daten zeigen, dass die Vereinigten Staaten, obwohl sie eine moderne Industrienation sind, überraschend große Mengen an Primärgütern (wie Lebensmittel) exportieren und große Mengen an komplexen, kapitalintensiven Produktionsgütern (wie Autos und Computerteile) importieren. Daneben findet ein intensiver wechselseitiger oder brancheninterner Handel statt. In bestimmten Branchen exportieren und importieren die Vereinigten Staaten gleichzeitig. Der Grund liegt darin, dass einzelne Länder aufgrund der hohen Produktdifferenzierung Nischen in verschiedenen Teilen eines Marktes besetzen.
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
US-Außenhandel, 2002 (Mrd. US-$) Exporte Importe Güter
693,3
1.163,6
49,5
49,7
Industrielle Versorgungsgüter
156,9
269,0
Kapitalgüter
290,6
283,8
Kfz
78,4
203,9
Konsumgüter
84,4
307,8
Sonstige Güter
33,5
49,3
Dienstleistungen
279,3
210,4
Reisen
73,1
60,1
Personentransport
18,0
22,4
Sonstige Transporte
28,3
38,8
Lizenzgebühren
38,7
16,4
108,1
54,6
Militär- und staatliche Aufträge
13,1
18,1
Güter und Dienstleistungen gesamt
972,6
1.373,9
Lebensmittel und Getränke
Sonstige private Dienstleistungen
Tabelle 15-1: Internationaler Handel mit Gütern und Dienstleistungen Die USA exportieren eine breite Palette an Gütern und Dienstleistungen, von Lebensmitteln bis hin zu geistigem Eigentum. Im Jahre 2002 übertrafen die US-Importe die Exporte um US-$ 401 Milliarden, was sich in höheren Kreditaufnahmen im Ausland niederschlug. Die USA exportieren große Mengen an Primärgütern, vor allem Nahrungsmittel und Kohle. Der Grund dafür liegt hauptsächlich in den reichen natürlichen Ressourcen des Landes. Gleichzeitig importieren die USA viele Produktionsgüter wie Autos und Kameras, da die Handelspartner in anderen Marktnischen spezialisiert sind und dort von Skaleneffekten profitieren. Quelle: US-Handelsministerium.
421
Die Quellen des internationalen Handels mit Gütern und Dienstleistungen Worin bestehen nun die wirtschaftlichen Faktoren, die die Muster des internationalen Handels bestimmen? Für die einzelnen Länder ist es aus verschiedenen Gründen vorteilhaft, sich am internationalen Handel zu beteiligen: unterschiedliche Produktionsbedingungen, Geschmacksunterschiede und sinkende Kosten durch die Nutzung von Skaleneffekten.
Unterschiedliche natürliche Ressourcen Handel findet statt, weil die Produktionsmöglichkeiten der einzelnen Länder verschieden sind. Diese Unterschiede sind zum Teil auf eine bessere oder schlechtere Ausstattung mit natürlichen Ressourcen zurückzuführen. Ein Land kann mit großen Erdölvorräten gesegnet sein, während ein anderes große Flächen an fruchtbarem Ackerland vorzuweisen hat. Gebirgige Länder können große Mengen Strom aus Wasserkraftwerken produzieren, die sie an ihre Nachbarn verkaufen können, während Länder mit natürlichen Häfen als Schifffahrtszentren prädestiniert sind.
Verschiedene Geschmäcker Ein zweiter Grund liegt in den Präferenzen der Menschen. Selbst wenn die Produktionsbedingungen in allen Regionen gleich wären, würden die Länder wahrscheinlich Handel treiben, wenn ihre Geschmäcker verschieden wären. Nehmen wir zum Beispiel an, dass Norwegen und Schweden etwa gleich viel Fisch wie Fleisch produzierten, dass die Schweden aber große Fleischliebhaber wären, während die Norweger Fisch bevorzugten. Bald käme ein für beide Seiten vorteilhafter Fleischexport
422
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
aus Norwegen und Fischexport aus Schweden in Gang. Von diesem Handel würden beide Länder profitieren; die Summe des menschlichen Glücks würde größer, wie in dem bekannten englischen Gedicht, in dem Jack Sprat das magere Fleisch isst, während seiner Frau im Fett schwelgen kann.
Kostenunterschiede Der vielleicht wichtigste Grund für die Entstehung des Handels sind die unterschiedlichen Produktionskosten der einzelnen Länder. Skaleneffekte haben zum Beispiel positive Auswirkungen auf die Produktionsprozesse; das heißt, die durchschnittlichen Produktionskosten sinken, wenn das Produktionsvolumen steigt. Wenn ein bestimmtes Land bei der Herstellung eines bestimmten Produkts also einen Vorsprung erringt, kann es große Mengen zu niedrigen Kosten produzieren. Skaleneffekte sichern ihm gegenüber anderen Ländern, für die es billiger ist, von führenden Produzenten zu kaufen, als das Produkt selbst herzustellen, einen erheblichen Kosten- und Technologievorsprung. Größe ist oft ein wichtiger Vorteil in Branchen mit hohen Forschungs- und Entwicklungskosten. Als führender Flugzeughersteller der Welt kann Boeing die enormen Konzeptions-, Entwicklungs- und Testkosten eines neuen Flugzeugs auf große Verkaufsvolumina verteilen. Das bedeutet, dass das Unternehmen Flugzeuge zu einem niedrigeren Preis als seine Konkurrenten verkaufen kann, die mit kleineren Volumina Vorlieb nehmen müssen. Der einzige echte Konkurrent von Boeing, Airbus, kam nur dank hoher Subventionen mehrerer europäischer Staaten, mit denen er seine Forschungs- und Entwicklungskosten abdecken konnte, auf die Beine. Das Beispiel der sinkenden Kosten hilft, das wichtige Phänomen des umfassenden brancheninternen Handels, das in Tabelle 15-1 dargestellt ist, zu erklären. Wie kommt es, dass die Vereinigten Staaten Computer und zugehörige Ausrüstung sowohl importieren als auch exportieren? Denken Sie an ein Unter-
Teil 4
nehmen wie Intel, das hochwertige Halbleiter herstellt. Intel betreibt Produktionseinrichtungen in den Vereinigten Staaten, in China, Malaysia und auf den Philippinen, und das Unternehmen lässt Produkte, die in einem Land hergestellt werden, oft in einem anderen Land prüfen und montieren. Ein weiteres Beispiel ist Dell Computers, der weltweit größte PC-Hersteller. Dell tut im Grunde nichts anderes, als von anderen Herstellern produzierte Teile zusammenzubauen. Das Unternehmen sucht sich die Komponenten in allen Teilen der Welt zusammen und orientiert sich dabei am Preis und an der Verlässlichkeit der Produzenten. Ähnliche Muster brancheninterner Spezialisierung sind bei Autos, Stahl, Textilien und vielen anderen Produktionsgütern zu beobachten.
B. Der komparative Vorteil von Staaten Das Prinzip des komparativen Vorteils Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass jedes Land jene Güter produzieren und exportieren sollte, für die es besondere Qualifikationen mitbringt. Doch dahinter steht ein grundlegenderes Prinzip, das für jeglichen Handel – innerhalb der Familie, innerhalb eines Landes und zwischen Ländern – gilt und das über den gesunden Menschenverstand hinausgeht. Dieses so genannte Prinzip des komparativen Vorteils besagt, dass ein Land selbst dann durch Handel profitieren kann, wenn es bei der Produktion aller Güter absolut effizienter (oder weniger effizient) als andere Länder ist. In der Tat bietet der Handel allen Ländern einen wechselseitigen Nutzen, wenn der komparative Vorteil genutzt wird.
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
423
Mehr als gesunder Menschenverstand
Die Analyse des komparativen Vorteils nach Ricardo
Stellen wir uns eine Welt vor, in der es nur zwei Güter gibt – Computer und Kleidung. Nehmen wir an, die USA erzielten in der Produktion von Computern und Kleidung eine höhere Produktionsleistung pro Kopf (oder pro Inputeinheit) als der Rest der Welt. Nehmen wir darüber hinaus an, die USA wären in der Produktion von Computern relativ effizienter als in der Kleidungsproduktion. Sie könnten bei Computern um 50 Prozent und bei Kleidung um 10 Prozent produktiver sein als andere Länder. In diesem Fall wären die USA gut beraten, das Produkt zu verkaufen, bei dessen Herstellung sie relativ effizienter sind (also Computer), und das Gut, bei dessen Herstellung sie relativ weniger effizient sind (Kleidung), nach Möglichkeit zu importieren. Oder nehmen wir ein armes Land wie Mali. Wie sollte das einkommensschwache Mali, wo Handwebstühle gang und gäbe sind und die Produktivität nur einen Bruchteil der Pro-Kopf-Produktivität in den industrialisierten Ländern ausmacht, hoffen können, seine Textilien zu exportieren? Überraschenderweise kann Mali entsprechend dem Prinzip des komparativen Vorteils trotzdem Außenhandel betreiben, indem es Güter exportiert, die es relativ effizienter herstellt (also beispielsweise Textilien), und andere Güter importiert, bei deren Herstellung es relativ weniger effizient ist (etwa bei Turbinen und Autos). Dem Prinzip des komparativen Wettbewerbs zufolge profitiert jedes Land, wenn es sich auf Produktion und Export jener Güter spezialisiert, die es zu relativ niedrigen Kosten herstellen kann. Im Gegensatz dazu profitiert ein Land, wenn es jene Güter importiert, deren Produktion für es relativ teuer ist.
Veranschaulichen wir nun die grundlegenden Prinzipien des internationalen Handels, indem wir auf die Situation Amerikas und Europas vor 100 Jahren zurückblicken. Wenn die Arbeit (oder allgemeiner: der Ressourceneinsatz) in Amerika absolut produktiver ist als in Europa, bedeuten dies, dass Amerika nichts importiert? Und wäre es wirtschaftlich sinnvoll für Europa, seine Märkte durch Zölle oder Einfuhrquoten zu „schützen“? Diese Fragen stellte sich im Jahre 1817 erstmals der englische Ökonom David Ricardo, der nachwies, dass die internationale Spezialisierung für die Staaten von Nutzen ist. Das Ergebnis seiner Forschungstätigkeit nannte Ricardo das Gesetz des komparativen Vorteils. Der Einfachheit halber betrachtete Ricardo nur zwei Regionen und zwei Güter, und er maß alle Produktionskosten in Arbeitsstunden. Wir werden hier seiner Vorgehensweise folgen und die Produktion von Nahrung und Bekleidung für Europa und Amerika analysieren.1 Tabelle 15-2 zeigt die illustrativen Daten. In Amerika nimmt die Produktion einer Einheit Nahrung eine Arbeitsstunde, die Produktion einer Einheit Bekleidung zwei Arbeitsstunden in Anspruch. In Europa liegt der Aufwand bei drei Arbeitsstunden für Nahrung und vier Arbeitsstunden für Bekleidung. Wir sehen, dass Amerika bei der Produktion beider Güter einen absoluten Vorteil für sich verbuchen kann, weil die absolute Produktionseffizienz in Amerika höher ist als in Europa. Trotzdem verfügt Amerika über einen komparativen Vorteil bei Nahrung, während Europas komparativer Vorteil in der Bekleidung liegt, weil Nahrung in Amerika relativ kostengünstig ist, während in Europa Bekleidung vergleichsweise weniger teuer ist.
Dieses einfache Prinzip bildet die unerschütterliche Grundlage des internationalen Handels.
1 Eine Analyse des komparativen Vorteils mit zahlreichen verschiedenen Ländern und Gütern werden wir später in diesem Kapitel vornehmen.
424
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Produktions-Arbeitseinsatz in Amerika und in Europa Erforderlicher Arbeitseinsatz (Arbeitsstunden) Produkt
Amerika
Europa
1 Nahrungsmitteleinheit
1
3
1 Bekleidungseinheit
2
4
Tabelle 15-2: Der komparative Vorteil hängt ausschließlich von den relativen Kosten ab Unserem hypothetischen Beispiel zufolge kann sowohl Nahrung als auch Bekleidung in Amerika zu niedrigeren Arbeitskosten hergestellt werden. Die Arbeitsproduktivität in Amerika liegt um das Zwei- bis Dreifache über derjenigen in Europa (bei Bekleidung um das Zweifache, bei Nahrung um das Dreifache).
Anhand diesen Fakten konnte Ricardo nachweisen, dass beide Regionen einen Vorteil daraus ziehen, wenn sie sich auf ihren jeweiligen komparativen Vorteil spezialisieren – das heißt, Amerika widmet sich der Produktion von Nahrungsmitteln, während sich Europa auf die Produktion von Bekleidung spezialisiert. In dieser Situation exportiert Amerika Nahrung, um Kleidung aus Europa zu bezahlen, während Europa Bekleidung exportiert, um aus Amerika kommende Nahrungsmittel zu bezahlen. Will man die Auswirkungen des Handels analysieren, muss man die Mengen an Nahrungsmitteln und Bekleidung messen, die in jeder Region produziert und konsumiert werden können, (1) wenn es keinen internationalen Handel gibt und (2) wenn es einen freien Handel gibt und sich jede Region auf das Gebiet ihres komparativen Vorteils spezialisiert. Vor Einführung des Außenhandels. Beginnen wir mit der Frage, was ohne jeglichen internationalen Handel geschieht, etwa weil Außenhandel verboten ist oder wegen eines prohibitiv hohen Zolls. Tabelle 15-2 stellt den Reallohn der amerikanischen Arbeitnehmer für eine Arbeitsstunde als 1 Einheit Nahrung oder
Teil 4
1/2 Einheit Bekleidung dar. Der europäische Arbeiter verdient nur 1/3 Einheit Nahrung oder 1/4 Einheit Kleidung pro Arbeitsstunde. Natürlich sind die Preise für Nahrung und Bekleidung in den beiden isolierten Regionen bei vollständigem Wettbewerb wegen der unterschiedlich hohen Produktionskosten verschieden hoch. In Amerika ist Bekleidung doppelt so teuer wie Nahrung, weil die Herstellung einer Einheit Bekleidung doppelt so viel Arbeit erfordert wie für die Herstellung einer Einheit Nahrung. In Europa beträgt der Preis für Bekleidung nur 4/3 des Nahrungsmittelpreises. Nach Einführung des Außenhandels. Nehmen wir nun an, dass alle Zölle abgeschafft werden und der freie Handel erlaubt ist. Der Einfachheit halber nehmen wir weiter an, dass keinerlei Transportkosten anfallen. Wie sieht der Güterfluss aus, wenn der Handel freigegeben wird? Kleidung ist in Amerika (mit einem Preisverhältnis von 2 verglichen mit 4/3) relativ teurer, während Lebensmittel in Europa (mit einem Preisverhältnis von 3/4 verglichen mit 1/2) relativ teurer sind. Angesichts der relativen Preise, und unter Vernachlässigung aller Transportkosten oder Zölle, wird schon bald Nahrung von Amerika nach Europa und Bekleidung von Europa nach Amerika verkauft werden. Wenn europäische Bekleidung auf den amerikanischen Markt drängt, stellen die amerikanischen Kleiderhersteller fest, dass ihre Preise fallen und ihre Gewinne schrumpfen, und sie beginnen, die Fabriken zu schließen. Im Gegensatz dazu müssen europäische Bauern feststellen, dass die Preise für Nahrung fallen, wenn amerikanische Produkte auf den europäischen Markt drängen; sie erleiden Verluste, manche müssen wohl auch aufgeben, und es werden Ressourcen aus der europäischen Landwirtschaft abgezogen. Nach all den Anpassungsprozessen des internationalen Handels müssen die Preise für Kleidung und Nahrungsmittel in Europa und Amerika ausgeglichen sein (wie das Wasser in zwei miteinander verbundenen Rohren
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
nach Entfernung einer Absperrung die gleiche Höhe erreichen muss). Ohne weiteres Wissen über die genaue Angebots- und Nachfrageentwicklung können wir das exakte Preisniveau nicht im Voraus bestimmen. Aber wir wissen doch, dass die relativen Nahrungs- und Bekleidungspreise irgendwo zwischen dem europäischen Preisverhältnis (Nahrung/Bekleidung 3/4) und jenem in Amerika (1/2) liegen müssen. Wir nehmen nun an, dass das endgültige Verhältnis bei 2/3 liegt, was bedeutet, dass zwei Einheiten Bekleidung gegen drei Einheiten Nahrung gehandelt werden können. Der Einfachheit halber messen wir die Preise in US-Dollar und nehmen an, dass der Freihandelspreis für Nahrung US-$ 2 pro Einheit beträgt, woraus abzuleiten ist, dass der Freihandelspreis für Bekleidung bei US-$ 3 pro Einheit liegt. Im freien Handel haben die Regionen ihre Produktionsaktivitäten verschoben. Amerika hat Ressourcen von der Kleidungsproduktion abgezogen und produziert Nahrungsmittel, während Europa seinen landwirtschaftlichen Sektor konsolidiert und seine Kleidungsproduktion erweitert. Im Freihandel verlagern die Länder ihre Produktion auf die Gebiete ihres jeweiligen komparativen Vorteils.
Der volkswirtschaftliche Gewinn durch den Außenhandel Welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen ergeben sich in unserem Beispiel nun durch die Öffnung der beiden Regionen für den internationalen Handel? Amerika als Ganzes profitiert von der Tatsache, dass importierte Bekleidung weniger als die im Inland produzierte Kleidung kostet. Ebenso profitiert Europa von der Spezialisierung auf Kleidung und von Lebensmitteln, die billiger sind als heimische Produkte. Die Vorteile des Außenhandels werden deutlich, wenn wir seine Auswirkungen auf die Reallöhne der Arbeitnehmer berechnen. Reallöhne werden anhand der Güter gemessen, die eine Arbeitskraft mit ihrem Stunden-
425
lohn kaufen kann. Aus Tabelle 15-2 ersehen wir, dass die Reallöhne in beiden Regionen nach Einführung des Außenhandels höher ausfallen als vor der Öffnung der Grenzen. Nehmen wir aus Gründen der Einfachheit an, dass jeder Arbeiter eine Einheit Bekleidung und eine Einheit Nahrung kauft. Vor der Aufnahme internationaler Handelsbeziehungen kostete dieser Warenkorb einem amerikanischen Arbeitnehmer drei Arbeitsstunden, einem europäischen Arbeitnehmer dagegen sieben. Nach Einführung des Außenhandels liegt, wie wir bereits gesehen haben, der Preis für Bekleidung bei US-$ 3 pro Einheit, während der Nahrungsmittelpreis US-$ 2 pro Einheit beträgt. Ein amerikanischer Arbeitnehmer muss immer noch eine Stunde arbeiten, um eine Einheit Nahrung zu kaufen, weil Nahrungsmittel im Inland produziert werden, aber bei einem Preisverhältnis von 2 : 3 braucht er nur noch l,5 Stunden aufzuwenden, um eine Einheit europäischer Bekleidung zu erstehen. Sein Warenkorb kostet daher nach Einführung des Außenhandels 2,5 Stunden Arbeitszeit, was eine Erhöhung seines Reallohnes um 20 Prozent bedeutet. Für europäische Arbeitnehmer kostet eine Bekleidungseinheit bei funktionierendem Außenhandel nach wie vor vier Stunden Arbeit. Um jedoch eine Nahrungsmitteleinheit zu erwerben, braucht der europäische Arbeiter nur noch 2/3 einer Bekleidungseinheit zu produzieren (wozu 2/3 4 Arbeitsstunden erforderlich sind) und kann dann diese 2/3Kleidungseinheit gegen eine Einheit amerikanischer Nahrung eintauschen. Die gesamte Arbeitszeit, die in Europa für den Erwerb des genannten Warenkorbs erforderlich ist, beträgt daher 4 + 2 2/3, was einer Reallohnsteigerung von etwa 5 Prozent gegenüber der reinen Binnenhandelssituation gleichkommt. Wenn sich Länder im freien Handel auf die Gebiete konzentrieren, in denen sie einen komparativen Vorteil besitzen, profitieren sie. Vergleicht man das mit einer Situation, in der es keinen Handel gibt, können die Ar-
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
beitnehmer jeder betroffenen Region eine größere Menge an Verbrauchsgütern für dieselbe Arbeitszeit erwerben, wenn sie sich auf die Gebiete ihres komparativen Vorteils konzentrieren und ihre eigene Produktion gegen Güter aus anderen Bereichen eintauschen, in denen sie einen relativen Nachteil zu verzeichnen haben.
300
Amerika ohne Außenhandel In Kapitel 1 haben wir uns mit der Produktionsmöglichkeiten- oder Transformationskurve zur Darstellung der verschiedenen Güterkombinationen beschäftigt, die sich mit den gegebenen Ressourcen und Technologien einer Gesellschaft produzieren lassen. Anhand der Produktionsdaten aus Tabelle 15-2 und unter der Annahme, dass sowohl Europa als auch Amerika über 600 Arbeitseinheiten verfügen, können wir problemlos die PMK jeder der beiden Regionen ableiten. Die zu Abbildung 15-1 gehörige Tabelle zeigt, wie viel Nahrung und Bekleidung Amerika mit seinen Produktionsfaktoren und amerikanischer Technologie herstellen kann. In Abbildung 15-1 sind die Produktionsmöglichkeiten grafisch dargestellt, die rostfarbene Linie DA zeigt die amerikanische PMK. Die PMK hat eine Steigung von –1/2, da dies die Bedingungen repräsentiert, unter denen Nahrung und Kleidung in der Produktion substituiert werden können. Auf Wettbewerbsmärkten ohne internationalen Handel beträgt das Preisverhältnis von Nahrung und Kleidung ebenso 1/2.
D C
150
Die grafische Analyse des komparativen Vorteils Wir können unsere Produktionsmöglichkeitenkurve (PMK) zu einer Vertiefung der Analyse des komparativen Vorteils verwenden. Dazu verwenden wir weiterhin unser numerisches Beispiel mit den Arbeitskosten, doch das Prinzip wäre auch in einer Welt des Wettbewerbs mit vielen verschiedenen Produktionsfaktoren gültig.
Teil 4
450 Bekleidung
426
B A
0
200
400 Nahrung
600
Die Produktionsmöglichkeitenkurve Amerikas (Konstantes Kostenverhältnis 1 : 2)
Möglichkeiten
Nahrung (Einheiten)
Bekleidung (Einheiten)
A B C D
600 400 200 0
0 100 200 300
Abbildung 15-1: Produktionsdaten Amerikas Die Fixkostenlinie DA stellt die Produktionsmöglichkeitenkurve Amerikas bei reinem Binnenhandel dar. Produktion und Konsum Amerikas werden sich ohne Außenhandel bei B einpendeln.
Bisher haben wir uns auf die Produktion konzentriert und dabei den Konsum außer Acht gelassen. Bitte beachten Sie, dass Amerika, wenn es vom internationalen Handel völlig abgeschnitten ist, nur das konsumieren kann, was es selbst herstellt. Nehmen wir an, dass Punkt B in Abbildung 15-1 für die Markteinkommen und -nachfrage Produktion und Konsum in einem Amerika ohne Außenhandel darstellt. Ohne Außenhandel erreicht Amerika eine Produktion und einen Konsum von 400 Einheiten Nahrung und 100 Einheiten Bekleidung. Genau dieselbe Überlegung können wir auch für Europa anstellen. Doch die europäische PMK sieht anders aus als die amerikanische, weil die europäische Effizienz in der Produktion von Nahrung und Bekleidung von der amerikanischen abweicht. Das europäische Preisverhältnis beträgt 3/4, was der relativen europäischen Produktivität bei Nahrung und Bekleidung entspricht.
427
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
Öffnung für den Außenhandel Nun lassen wir den Handel zwischen zwei Regionen zu. Nahrung kann zum selben Preisverhältnis gegen Kleidung getauscht werden. Wir nennen das Verhältnis von Export- zu Importpreisen die Terms of Trade. Um die Handelsmöglichkeiten darzustellen, kombinieren wir die beiden PMK in Abbildung 15-2. Die rostfarbene amerikanische Kurve zeigt die heimischen Produktionsmöglichkeiten, während die graue europäische PMK die Bedingungen darstellt, zu denen in Europa Nahrung und Bekleidung ausgetauscht werden können. Beachten Sie, dass die europäische PMK näher am Ursprung verläuft als die amerikanische, da die europäische Produktivität in beiden Branchen niedriger ist; Europa hat sowohl bei der Nahrungsals auch bei der Kleidungsproduktion einen absoluten Nachteil.
Dennoch braucht sich Europa durch seinen absoluten Nachteil nicht entmutigen zu lassen, denn es ist der relative Produktivitätsunterschied oder komparative Vorteil, der den Außenhandel so vorteilhaft macht. Die Handelsgewinne werden durch die äußeren Linien in Abbildung 15-2 dargestellt. Könnte Amerika zu den europäischen relativen Preisen Handel treiben, könnte es 600 Einheiten Nahrung produzieren und entlang der äußeren grauen Linie in Abbildung 15-2(a) nach links oben wandern, wo die graue Linie das Austauschverhältnis oder die Terms of Trade darstellt, die durch die europäische PMK geschaffen werden. Ebenso könnte sich Europa, wenn es zu amerikanischen Preisen handeln könnte, auf Bekleidung spezialisieren und sich entlang der rostfarbenen Linie in Abbildung 15-2(b) nach rechts unten bewegen, wo die rostfarbene Linie dem amerikanischen Preisverhältnis vor Öffnung für den Außenhandel entspricht. (b) Europa
450
450
300
300
150
Vor Einführung des Außenhandels
E
Preislinie nach Einführung des Außenhandels
Bekleidung
Bekleidung
(a) Amerika
Preislinie nach Einführung des Außenhandels
150
Vor Einführung des Außenhandels 0
200
400
600
Nahrung
0
100
E
200 Nahrung
300
Abbildung 15-2: Grafische Darstellung des komparativen Vorteils Mithilfe des Außenhandels können Europa und Amerika ihren verfügbaren Konsum steigern. Wird kein Außenhandel zugelassen, muss sich jede Region mit ihrer eigenen Produktion begnügen. Sie ist daher auf ihre eigene Produktionsmöglichkeitenkurve beschränkt, die für jede Region als die mit „Vor Einführung des Außenhandels“ bezeichnete Linie dargestellt ist. Die relative Preislinie für die Situation nach Öffnung der Grenzen und nach Ausgleich der relativen Güterpreise durch den Wettbewerb ist durch die Pfeile dargestellt. Können Sie erkennen, warum sich die Konsummöglichkeiten verbessern müssen, wenn jede Region mit den durch die Pfeile gekennzeichneten Preisen konfrontiert ist?
428
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Dies führt uns zu einem ebenso wichtigen wie überraschenden Schluss: Kleine Länder können vom internationalen Handel am stärksten profitieren. Sie haben den geringsten Einfluss auf die internationalen Preise und können daher zu internationalen Preisen handeln, die sich stark von den Inlandspreisen unterscheiden. Außerdem gewinnen Länder, die sich von anderen Ländern stark unterscheiden, am stärksten, während große Länder am wenigsten zu gewinnen haben. (Diese Punkte werden in Übung 3 am Ende dieses Kapitels zur Sprache gebracht.) Preisverhältnis im Gleichgewicht. Sobald sich der Handel öffnet, müssen einige Preise je nach allgemeinem Angebot und allgemeiner Nachfrage auf dem internationalen Markt bestehen. Ohne weitere Informationen können wir das genaue GleichgewichtsPreisverhältnis nicht feststellen, sondern nur die mögliche Preisspanne ermitteln. Die Preise müssen irgendwo zwischen den Preisen der beiden Handelsregionen liegen. Das heißt, wir wissen, dass der jeweilige Nahrungs- und Bekleidungspreis irgendwo zwischen 1/2 und 3/4 liegen muss. Das Preisverhältnis, das sich letztlich einstellt, hängt von der jeweiligen Nachfrage nach Nahrung und Bekleidung ab. Wird sehr viel Nahrung nachgefragt, liegt der Nahrungspreis relativ hoch. Wäre die Nahrungsnachfrage so hoch, dass Europa Nahrung produzieren würde, läge das Preisverhältnis in Höhe der relativen europäischen Preise, also bei 3/4. Wenn die Bekleidungsnachfrage andererseits so stark wäre, dass Amerika Kleidung und Nahrungsmittel produzierte, entsprächen die Terms of Trade dem amerikanischen Preisverhältnis von 1/2. Würden sich beide Regionen auf das Gebiet ihres jeweiligen komparativen Vorteils spezialisieren, wobei Europa nur Bekleidung und Amerika nur Nahrung herstellte, müsste das Preisverhältnis irgendwo zwischen 1/2 und 3/4 liegen. Das genaue Verhältnis hängt davon ab, wie stark die Nachfrage ist. Nehmen wir einmal an, dass so viel nachgefragt wird, dass das Preisverhältnis letztlich
Teil 4
2/3 beträgt, wobei drei Nahrungseinheiten für zwei Bekleidungseinheiten eingetauscht werden können. Bei diesem Preisverhältnis wird sich jede Region spezialisieren – Amerika auf Nahrung, Europa auf Bekleidung – und einen Teil der eigenen Produktion exportieren, um die eigenen Importe entsprechend dem Weltpreisverhältnis von 2/3 zu bezahlen. Abbildung 15-2 zeigt, wie sich der Handel gestaltet. Jede Region ist mit ihrer eigenen Konsummöglichkeitenkurve entsprechend ihren Produktions-, Handels- und Konsummöglichkeiten konfrontiert. Diese Konsummöglichkeitenkurve beginnt am optimalen Spezialisierungspunkt der Region und läuft beim Weltpreisverhältnis von 2/3 aus. Abbildung 15-2(a) zeigt die amerikanischen Konsummöglichkeiten als dünnen schwarzen Pfeil mit einer Steigung von –2/3, der vom vollkommenen Spezialisierungspunkt bei 600 Einheiten Nahrung und 0 Einheiten Bekleidung ausgeht. Ebenso sind die europäischen Konsummöglichkeiten nach Einführung des Außenhandels in Abbildung 15-2(b) durch den schwarzen Pfeil dargestellt, der von ihrem vollkommenen Spezialisierungspunkt ausgehend mit einer Steigung von –2/3 nach rechts unten verläuft. Das Endergebnis wird durch die jeweiligen Punkte E in Abbildung 15-2 dargestellt. Bei diesem Freihandelsgleichgewicht spezialisiert sich Europa auf die Herstellung von Bekleidung und Amerika auf die Produktion von Nahrung. Europa exportiert 133 1/3 Einheiten Bekleidung gegen 200 Einheiten amerikanischer Nahrung. Beide Regionen können mehr konsumieren, als sie allein produzieren könnten. Beide Regionen haben also vom internationalen Handel profitiert. Abbildung 15-3 illustriert die Handelsvorteile für Amerika. Die innere rostfarbene Linie stellt die PMK, die äußere schwarze Linie die Konsummöglichkeiten zum Weltpreisverhältnis von 2/3 dar. Die rostfarbenen Pfeile zeigen die exportierten und importierten Mengen. Amerika erreicht schließlich Punkt B'. Mithilfe des Außenhandels bewegt es sich entlang der schwarzen Linie D'A,
429
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
Bekleidung
300
D′ D
Preisverhältnis nach Berücksichtigung 2 des Freihandels ( 3 )
B′
150 Ursprüngliches Preisverhältnis ( 1 )
B
200
400 Nahrung
Importe (–) A 600
Abbildung 15-3: Amerika vor und nach Einführung des Außenhandels Der freie Handel erweitert die Konsummöglichkeiten Amerikas. Die rostfarbene Linie DA stellt die Produktionsmöglichkeitenkurve Amerikas dar; die graue Linie D'A bezeichnet die neue Konsummöglichkeitenkurve, wenn Amerika beim Preisverhältnis von 2/3 freien Handel betreibt und sich in der Folge vollkommen auf die Nahrungsmittelproduktion (in A) spezialisieren kann. Die rostfarbenen Pfeile von S nach B' und von A nach S zeigen das Exportvolumen (+) und das Importvolumen (–) Amerikas. Infolge des Freihandels gelangt Amerika zu Punkt B', wo mehr von beiden Gütern zur Verfügung stehen, als es produzieren könnte, würde es sich entlang der Linie DA bewegen.
gerade so, als hätte eine nützliche neue Erfindung die PMK nach außen verschoben. Die Erkenntnisse aus dieser Analyse sind in Abbildung 15-4 zusammengefasst. Diese Abbildung zeigt die Welt-Produktionsmöglichkeitenkurve. Die Welt-PMK stellt den maximalen Output dar, der sich aus den weltweiten Ressourcen erzielen lässt, wenn möglichst effizient produziert wird, also bei möglichst effizienter Arbeitsteilung und regionaler Spezialisierung. Sie ergibt sich aus den beiden regionalen PMK in Abbildung 15-2 durch Ermittlung der maximalen weltweiten Produktionsleistung, die aus den individuellen RegionalPMK abgeleitet werden kann. So lässt sich beispielsweise die maximale Nahrungsmenge, die (ohne Bekleidungsproduktion) erzeugt werden kann, aus Abbildung 15-2 mit 600 Einheiten in Amerika und 200 Einheiten
X
(Vor Einführung des Außenhandels) B
Exporte (+) S
2
0
Bekleidung
500
450
E (Nach Einführung des Außenhandels) Z
0
500 Nahrung
Abbildung 15-4: Der Freihandel ermöglicht es der gesamten Welt, ihre Produktionsmöglichkeitenkurve zu erreichen Wir zeigen Ihnen hier die Auswirkungen des Freihandels aus der Sicht der gesamten Welt. Vor Zulassung des internationalen Handels befindet sich jede Region auf ihrer eigenen PMK. Da das Gleichgewicht ohne Außenhandel ineffizient ist, befindet sich die Welt als Ganzes innerhalb ihrer PMK in Punkt B. Der Freihandel ermöglicht nun jeder Region die Spezialisierung auf jene Güter, bei denen sie einen komparativen Vorteil besitzt. Als Folge der effizienten Spezialisierung verschiebt die Welt ihre Effizienzgrenze nach außen zu Punkt E.
in Europa ermitteln, was ein Weltmaximum von 800 Einheiten ergibt. Dieser maximale Nahrungsmittel-Produktionspunkt (800 Einheiten Nahrung, 0 Einheiten Bekleidung) wird anschließend in die Welt-PMK in Abbildung 15-4 eingetragen. Zusätzlich können wir den maximalen Bekleidungs-Produktionspunkt (0 Einheiten Nahrung, 450 Einheiten Bekleidung) in die Welt-PMK eintragen, indem wir die beiden Regional-PMK ermitteln. Alle Punkte dazwischen können durch sorgfältige Berechnung der maximalen weltweiten Produktionsleistungen ermittelt werden, die sich bei effizienter Spezialisierung der beiden Regionen erzielen lassen. Vor der Öffnung der Regionen für den Außenhandel befindet sich die Welt auf Punkt B. Es handelt sich dabei um einen ineffizienten Punkt – innerhalb der weltweiten PMK –, weil die Regionen ein unterschiedliches Niveau relativer Effizienz bei den verschiedenen Gütern aufweisen. Nach Öffnung der Grenzen für den Handel bewegt sich die Welt zum
430
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Komparativer Vorteil Amerikas
Mikroprozessoren
Computer Flugzeuge
Autos
Wein Croissants
Teil 4
Komparativer Vorteil Europas
Abbildung 15-5: Bei einer Vielzahl von Gütern entsteht eine große Bandbreite komparativer Vorteile
Freihandelsgleichgewicht in Punkt E, wo sich die Länder auf den Gebieten ihres komparativen Vorteils spezialisieren. Der freie Handel auf Wettbewerbsmärkten ermöglicht es der Welt, sich an die Grenze ihrer Produktionsmöglichkeitenkurve zu bewegen.
Erweiterung des Grundkonzeptes auf viele Güter und Länder Die Welt des internationalen Handels besteht aus sehr viel mehr als zwei Regionen und zwei Gütern. Trotzdem bleiben die Prinzipien, die wir oben erläutert haben, im Wesentlichen auch in realistischen Szenarien unverändert.
Viele Güter Wenn zwei Regionen oder Länder bei konstanten Kosten viele Güter erzeugen, kann diese Produktion entsprechend dem jeweiligen komparativen Kostenvorteil aufgeteilt werden. Bei den Gütern könnte es sich um Mikroprozessoren, Computer, Flugzeuge, Autos, Wein und Croissants handeln, die alle in der Abfolge ihres komparativen Vorteils gemäß Abbildung 15-5 aufgereiht werden. Wie Sie aus der Abbildung erkennen, sind in Amerika von allen Gütern gemessen an den europäischen Kosten Mikroprozessoren am billigsten. Europa hat den größten komparativen Vorteil bei Croissants. Vor 20 Jahren dominierte Amerika den internationalen Markt für kommerzielle Flugzeuge. Inzwischen hat Europa jedoch einen erheblichen Marktanteil erobert, sodass sich Flugzeuge auf der Linie nach rechts bewegen.
Wir können fast sicher prognostizieren, dass die Öffnung gegenüber dem Außenhandel Amerika dazu veranlasst, Mikroprozessoren zu produzieren und zu exportieren, während sich Europa auf Produktion und Export von Croissants konzentriert. Wo aber liegt die Trennlinie? Zwischen Flugzeugen und Autos? Oder zwischen Wein und Croissants? Womöglich liegt die Trennlinie bei einem der genannten Güter, nicht zwischen ihnen – sodass vielleicht an beiden Orten Autos produziert werden. Es wird Sie nicht überraschen, dass die Antwort von Angebot und Nachfrage der einzelnen Güter abhängt. Wir können uns die einzelnen Güter als Perlen vorstellen, die entsprechend ihrem komparativen Vorteil auf einer Kette aufgefädelt sind; die Höhe von Angebot und Nachfrage bestimmt, wo die Trennlinie zwischen amerikanischer und europäischer Produktion verläuft. Eine erhöhte Nachfrage nach Mikroprozessoren und Computern muss die Preise beispielsweise eher in Richtung amerikanischer Güter verschieben. Diese Verschiebung könnte dazu führen, dass sich Amerika so sehr auf die Gebiete seines komparativen Vorteils spezialisiert, dass es nicht mehr profitabel wäre, auf Gebieten komparativen Nachteils, etwa bei Autos, die Produktion aufrecht zu erhalten.
Viele Länder Und was geschieht, wenn viele Länder im Spiel sind? Die Einführung vieler Länder muss unsere Analyse nicht unbedingt verändern. Für jedes Land lassen sich alle anderen Länder zu einer Gesamtgruppe „restliche Welt“ zusammenfassen. Handelsvorteile kennen keine nationalen Grenzen. Die bereits dargelegten Prinzipien gelten ebenso zwischen Gruppen von Ländern wie zwischen
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
verschiedenen Regionen desselben Landes. Wir können sie auf die Handelsbeziehungen zwischen den amerikanischen Nord- und Südstaaten genauso anwenden wie auf den Handel zwischen den USA und Kanada.
Dreieckshandel und multilaterale Handelsbeziehungen Kommen viele Länder ins Spiel, so wirkt sich die Aufnahme von Dreiecks- oder multilateralen Handelsbeziehungen im Allgemeinen vorteilhaft aus. Ein bilateraler Handel zwischen Ländern ist im Allgemeinen nicht ausgeglichen. Denken Sie an das einfache Beispiel einer Dreiecks-Handelsbeziehung in Abbildung 15-6, wobei die Pfeile die jeweilige Exportrichtung angeben. Amerika kauft elektronische Konsumartikel aus Japan, Japan kauft Öl und Rohstoffe aus Entwicklungsländern, und die Entwicklungsländer kaufen Computer aus Amerika. In der Realität sind die Handelsmuster sehr viel komplexer als in diesem Dreiecksbeispiel. Die Vorteile des multilateralen Handels wären sehr viel geringer, müsste jeweils ein bilaterales Gleichgewicht erzielt werden. Öl
r
te
pu
m
Co
USA
Japan
E Ko lekt ns ron um isc ar he tik el
Entwicklungsländer
Abbildung 15-6: Der Dreieckshandel kommt allen zugute In der Realität hat der internationale Handel – wie auch der Binnenhandel – viele Seiten.
431
Einschränkungen und Schlussfolgerungen Wir haben nun unsere Erörterung der sehr eleganten Theorie des komparativen Vorteils beendet. Die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen gelten für jede beliebige Anzahl von Ländern und Gütern. Zudem lässt sich die Theorie auch verallgemeinern und auf eine Vielzahl von Produktionsfaktoren, auf veränderte Faktorverhältnisse und sinkende Ertragszuwächse anwenden. Doch wir können zu keinem Schluss kommen, ohne uns zwei wichtige Einschränkungen dieser eleganten Theorie bewusst zu machen: 1. Klassische Annahmen. Aus theoretischer Sicht liegt der wesentliche Nachteil der Theorie des komparativen Vorteils in ihren klassischen Annahmen. Diese Theorie geht von einer reibungslos funktionierenden Wettbewerbswirtschaft aus. Der Handel könnte zu einer Verschärfung von Umweltproblemen führen, wenn lokale oder globale öffentliche Güter im Spiel sind (für eine genauere Diskussion siehe Kapitel 17). Außerdem könnten bei unflexiblen Preisen und Löhnen, als Folge von Konjunkturzyklen und bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Ineffizienzen entstehen. Bei einem makroökonomischen oder mikroökonomischen Marktversagen könnte der Handel ein Land hinter seine PMK zurückwerfen. Befindet sich die Wirtschaft in einer Phase der Depression oder funktioniert das Preissystem aus umweltbedingten oder anderen Gründen nicht, können wir nicht mit Sicherheit behaupten, dass das betroffene Land vom Außenhandel profitiert. Angesichts dieser Einschränkungen verwundert es kaum, dass die Theorie des komparativen Vorteils in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs kaum Anhänger findet. Während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre mit ihren enormen Arbeitslosenzahlen und der sinkenden re-
432
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
alen Produktionsleistung errichteten die Länder hohe Zollschranken, und das Außenhandelsvolumen ging drastisch zurück. In den wohlhabenden 90er Jahren des 20. Jahrhunderts war der freie Handel zunehmend den Angriffen von Umweltschützern ausgesetzt, die ihn verdächtigten, den Unternehmen einen Freibrief für die Verklappung von Schadstoffen in Meeren oder ihre Entsorgung in Ländern mit laxen Regelungen auszustellen. Gewerkschaften und Umweltschützer zählten zu den führenden Kritikern der letzten Versuche, einen freieren Handel zu fördern (siehe den Abschnitt „Freihandelsabkommen“ am Ende dieses Kapitels). 2. Einkommensverteilung. Ein zweiter Vorbehalt betrifft die Auswirkungen auf einzelne Menschen, Sektoren oder Produktionsfaktoren. Wir haben oben gezeigt, dass das Volkseinkommen eines Landes steigt, wenn es sich dem Außenhandel öffnet. Das Land kann mehr von allen Gütern und Dienstleistungen konsumieren, als dies möglich wäre, wenn seine Grenzen für den Handel geschlossen wären. Doch das bedeutet nicht, dass alle Menschen, Unternehmen, Sektoren oder Produktionsfaktoren vom Handel profitieren. Wenn der freie Handel das Angebot an Gütern, die von bestimmten Produktionsfaktoren oder in bestimmten Regionen hergestellt werden, durch Importe vergrößert, kann es sein, dass diese Faktoren oder Regionen niedrigere Einkommen erzielen, als dies unter den Handelsbeschränkungen der Fall war. Nehmen wir an, dass der freie Handel das Angebot an billigen Baumwollhemden in den Vereinigten Staaten vergrößert. Es wäre nicht erstaunlich, wenn infolgedessen Textilfirmen Verluste erlitten und in Konkurs gehen müssten. Aktuellen Studien zufolge mussten Hilfsarbeiter in Ländern mit hohen Einkommen in den letzten 30 Jahren Rückgänge ihres Reallohns hinnehmen. Grund waren die erhöhten Importe von
Teil 4
Gütern aus Niedriglohn-Entwicklungsländern. Die Lohnverluste traten ein, weil die Importgüter von Faktoren in Entwicklungsländern produziert werden, die nahe Substitute der Hilfsarbeiter der Länder mit hohen Einkommen sind. Die Theorie des komparativen Vorteils zeigt, dass andere Sektoren mehr gewinnen, als die beeinträchtigten Sektoren verlieren. Außerdem werden auf lange Sicht jene Menschen, die aus Niedriglohnsektoren verdrängt werden, in Jobs mit höheren Löhnen gedrängt. Doch jenen, die vom internationalen Handel vorübergehend beeinträchtigt werden, entsteht ernsthafter Schaden, und sie erheben folglich laut ihre Stimmen, um Schutzmechanismen und Handelsbarrieren einzufordern. Trotz der genannten Einschränkungen enthält die Theorie des komparativen Vorteils eine der grundlegendsten Wahrheiten der gesamten Volkswirtschaftslehre: Länder, die auf ihren komparativen Vorteil verzichten, zahlen dafür einen hohen Preis in Form eines zu niedrigen Lebensstandards und suboptimalen Wirtschaftswachstums.
C. Protektionismus Gehen Sie zum Anfang dieses Kapitels zurück und lesen Sie nochmals die „Petition der Kerzenmacher“ des französischen Ökonomen Frédéric Bastiat, der die Vorschläge zum Schutz inländischer Güter vor Importen auf satirische Weise darstellt. Heute betrachten die Menschen die ausländische Konkurrenz oft mit argwöhnischem Blick, und Kampagnen, in denen gefordert wird, amerikanische heimische Waren zu kaufen, klingen patriotisch. Und doch treten die Ökonomen seit den Zeiten von Adam Smith für etwas anderes ein. Sie sind verbreitet der Auffassung, dass der Freihandel eine wechselseitig vorteilhaf-
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
te Arbeitsteilung unter den Ländern fördert und ein freier und offener Handel es jedem Land gestattet, seine Produktions- und Konsummöglichkeiten zu erweitern, wodurch der weltweite Lebensstandard gehoben wird. Der Protektionismus verhindert, dass die Kräfte des komparativen Vorteils voll zum Tragen kommen. In diesem Kapitel werden die wirtschaftlichen Argumente für und gegen den Protektionismus aufgezeigt.
Angebots- und Nachfrageanalyse des Handels und der Zölle Freihandel versus Verzicht auf Außenhandel Die Theorie des komparativen Vorteils lässt sich mithilfe der Analyse von Angebot und Nachfrage nach Gütern im Außenhandel näher beleuchten. Betrachten wir nur den Bekleidungsmarkt in Amerika. Nehmen wir der Einfachheit halber an, Amerika wäre ein kleiner Teil des Gesamtmarktes und könnte daher den Weltmarktpreis für Bekleidung nicht beeinflussen. (Diese Annahme ermöglicht uns eine einfache Angebots- und Nachfrageanalyse; mit dem realistischeren Szenario, wonach ein Land sehr wohl Einfluss auf den Weltmarktpreis nehmen kann, wollen wir uns später in diesem Kapitel beschäftigen.) Abbildung 15-7 zeigt uns die Angebotsund Nachfragekurven für Bekleidung in Amerika. Die Nachfragekurve der amerikanischen Konsumenten ist die DD-Kurve, die heimische Angebotskurve der amerikanischen Unternehmen die SS-Kurve. Wir unterstellen, dass der Preis für Bekleidung auf dem Weltmarkt bestimmt wird und 4 US-$ pro Einheit beträgt. Obwohl internationale Handelstransaktionen natürlich in verschiedenen Währungen abgewickelt werden, können wir nun fürs Erste vereinfachen, indem wir die ausländische Angebotsfunktion in eine US-
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Dollar-Angebotskurve umwandeln, der wir die derzeitigen Wechselkurse zugrunde legen. Gleichgewicht ohne Außenhandel. Nehmen wir an, Transportkosten oder Zölle für Bekleidung wären prohibitiv hoch (beispielsweise US-$ 100 pro Einheit Bekleidung). Wo läge wohl das Gleichgewicht ohne Außenhandel? In diesem Fall befände sich der amerikanische Bekleidungsmarkt im Schnittpunkt zwischen heimischem Angebot und heimischer Nachfrage, dargestellt als Punkt N in Abbildung 15-7. An diesem Punkt, der voraussetzt, dass kein Außenhandel stattfindet, wären die Preise bei US-$ 8 pro Einheit relativ hoch, und die heimischen Produzenten könnten die gesamte Nachfrage abdecken. Freihandel. Nun tritt eine Öffnung des Bekleidungsmarktes ein. Ohne Transportkosten, Zölle und Importquoten muss der amerikanische Preis dem Weltmarktpreis entsprechen. Warum? Nun, läge der amerikanische über dem europäischen Preis, würden umsichtige Unternehmer dort einkaufen, wo Bekleidung billig ist (Europa) und verkaufen, wo sie höhere Preise erzielen können (Amerika); Europa würde also Kleidung nach Amerika exportieren. Sobald sich die Handelsströme vollständig an die jeweiligen Angebote und Nachfragen angepasst hätten, müsste der amerikanische Preis dem Weltmarktpreis entsprechen. (In einer Welt, in der jedoch sehr wohl Transport- und Zollkosten anfallen, würde der amerikanische Preis dem um diese Kosten bereinigten Weltmarktpreis entsprechen.) Abbildung 15-7 zeigt anhand unseres Bekleidungsbeispiels, wie Preise, Mengen und Handelsströme im Freihandel gebildet werden. Die horizontale Linie bei US-$ 4 stellt die Angebotskurve für Importe dar; sie ist deshalb waagrecht oder absolut preiselastisch, weil die amerikanische Nachfrage als zu gering angenommen wird, um den Weltmarktpreis zu beeinflussen. Sobald die Handelsschranken fallen, fließen Importe nach Amerika und senken den
434
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
S
D Bekleidungspreis in den USA (US-$ pro Einheit)
Teil 4
heimisches Angebot
N
8
heimische Produktion Importe 4
M
E
Weltangebot
F
heimische Nachfrage S D 0
100
200 300 400 Bekleidungsmenge in den USA (Einheiten)
Abbildung 15-7: Produktion, Importe und Konsum der USA in einer Freihandelssituation Oben sehen wir das Freihandelsgleichgewicht auf dem Bekleidungsmarkt. Die USA haben bei Bekleidung einen komparativen Nachteil. Aus diesem Grund läge das US-Gleichgewicht ohne Außenhandel bei N und einem Preis von US-$ 8, während der Weltmarktpreis nur US-$ 4 beträgt. Unter der Annahme, dass die US-Nachfrage keinen Einfluss auf den Weltmarktpreis von US-$ 4 pro Einheit hat, stellt sich das Freihandelsgleichgewicht ein, wenn die USA ME (100 Einheiten) produzieren und die Differenz zwischen Nachfrage und heimischem Angebot, die als EF (oder 200 Einheiten) dargestellt ist, importieren.
Bekleidungspreis auf den Weltmarktpreis von US-$ 4 pro Einheit. Auf diesem Niveau bieten heimische Produzenten die Menge ME oder 100 Einheiten an, während zu diesem Preis die Konsumenten 300 Einheiten kaufen wollen. Die Differenz, die durch die kräftige Linie EF dargestellt wird, entspricht der Menge der Importe. Wer hat entschieden, dass wir gerade diese Menge an Bekleidung importieren und dass die heimischen Produzenten nur 100 Einheiten anbieten sollten? Vielleicht eine europäische Wirtschaftsplanungsagentur? Ein Kartell der Textilunternehmen? Nein, die Handelsmenge wurde durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Darüber hinaus hat das Preisniveau im außenhandelsfreien Gleichgewicht die Richtung der Handelsströme bestimmt. Die amerikanischen Preise ohne Außenhandel waren höher als die europäischen, und deshalb kam es zu
einem Güterfluss nach Amerika. Prägen Sie sich diese Regel ein: Unter Bedingungen des Freihandels und auf Märkten allgemein fließen die Güter von Niedrigpreisregionen in Hochpreisregionen. Wenn sich Märkte für den freien Handel öffnen, fließt Bekleidung also vom europäischen Markt mit seinen niedrigeren Preisen hin zum US-Hochpreismarkt – so lange, bis sich die Preise angeglichen haben.
Handelsbarrieren Jahrhunderte lang haben Staaten Zölle und Importbeschränkungen dazu benutzt, ihre Einnahmen zu erhöhen und die Entwicklung einzelner Branchen zu beeinflussen. Schon seit dem 18. Jahrhundert, als das britische Parlament versuchte, Zölle auf Tee, Zucker und andere Güter, die für die amerikanischen Kolonien bestimmt waren, einzuführen, er-
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Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
weist sich die Zollpolitik als Nährboden für Revolutionen und politische Grabenkämpfe. Wir können uns mithilfe der Angebots- und Nachfrageanalyse ein besseres Verständnis der volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Zöllen und Importbeschränkungen aneignen. Halten wir zunächst fest, dass ein Zoll eine Steuer ist, die auf Importe erhoben wird. Importbeschränkungen, -quoten oder -kontingente bedeuten hingegen eine Mengenbeschränkung der Importe. Die USA verhängen Importbeschränkungen auf zahlreiche Produkte, darunter Erdnüsse, Textilien und Rindfleisch. Tabelle 15-3 zeigt die durchschnittlichen Zölle einiger bedeutender Länder im Jahr 2001. Bitte beachten Sie, dass die Zölle für verschiedene Güter in den meisten Ländern stark variieren. Man müsste eingehende Untersuchungen anstellen, um zu verstehen, warum keine Importzölle auf Pferde erhoben werden, während die Zölle auf Esel in den Vereinigten Staaten 6,8 Prozent beträgt. Andererseits bedarf es keiner langatmigen Analysen, um zu begreifen, warum es für Textilien und Stahl strenge Importbeschränkungen oder hohe Zölle gibt. Der Grund liegt darin, dass es sich um Industrien handelt, die im Kongress und im Weißen Haus über starke politische Lobbys verfügen. Prohibitivzölle. Am einfachsten lässt sich ein Prohibitivzoll analysieren – ein Zoll, der so hoch ist, dass er jegliche Importe im Keim erstickt. Sehen wir uns Abbildung 15-7 noch einmal an und überlegen wir uns, was geschähe, läge der Zoll für Bekleidung über US-$ 4 pro Einheit (also über der Differenz zwischen dem amerikanischen Preis ohne Außenhandel von US-$ 8 und dem Weltmarktpreis von US-$ 4). Dieser Zoll wäre prohibitiv hoch und würde jeglichen internationalen Bekleidungshandel verhindern. Jeder Importeur, der Bekleidung zum Weltmarktpreis von US-$ 4 kaufte, müsste für diese Bekleidung in Amerika zum Binnenhandelspreis US-$ 8 ausgeben. Doch dieser Preis würde die Kosten des Gutes zuzüglich des Zolls
Durchschnittliche Zolltarife, 2001 Land Hongkong Singapur USA Japan Australien Taiwan Deutschland Neuseeland Großbritannien Frankreich Thailand Philippinen Korea Indonesien Malaysia China Indien
Tarif (%) 0,0 1,0 2,0 2,2 3,0 3,1 3,5 3,5 3,5 3,5 3,7 8,3 8,6 8,9 9,5 17,0 27,2
Tabelle 15-3: Durchschnittliche Zolltarife verschiedener Länder, 2001 Die Zölle der einzelnen Länder variieren stark. Die USA und Regionen wie Singapur und Hongkong haben heute niedrige Zolltarife, auch wenn sie für Güter wie Textilien und Stahl Ausnahmen vorsehen. Länder wie Indien und China setzen weiterhin protektionistische Handelshemmnisse ein, obwohl die chinesischen Barrieren mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation voraussichtlich fallen werden. Quelle: Welthandelsorganisation und staatliche Organisationen.
nicht abdecken. Prohibitivzölle verhindern daher jeglichen Handel. Nicht prohibitive Zölle. Niedrigere Zölle (in unserem Fall unter US-$ 4 pro Einheit Bekleidung) könnten den Außenhandel zwar beeinträchtigen, jedoch nicht verhindern. Abbildung 15-8 zeigt das Gleichgewicht auf dem Bekleidungsmarkt bei einem Zoll von US-$ 2. Sehen wir auch in diesem Fall von Transportkosten ab, bedeutet ein Zoll von US-$ 2, dass
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
S
Bekleidungspreis (US-$ pro Einheit)
D heimische Nachfrage
heimisches Angebot N
8 heimische Produktion 6
Teil 4
H
G
J
heimische (US-)Importpreise
Importe Zoll
4
E
Weltangebot
F
S D 0
100
200
300
400
Bekleidung (Einheiten)
Abbildung 15-8: Auswirkungen eines Zolls Die Verhängung eines Zolls verringert die Importe und den Konsum, steigert die heimische Produktion und führt zu Preiserhöhungen. Ausgehend vom Freihandelsgleichgewicht in Abbildung 15-7 nehmen wir nun an, dass die USA einen Zoll von US-$ 2 auf Kleidungsimporte verhängen. Der Preis für europäische Kleidungsimporte steigt damit auf US-$ 6 (inklusive Zoll). Der Marktpreis klettert folglich von US-$ 4 auf US-$ 6, und die gesamte nachgefragte Menge geht zurück. Die Importe sinken von 200 auf 100 Einheiten, während die heimische Produktion von 100 auf 150 Einheiten ansteigt.
ausländische Bekleidung in Amerika für US-$ 6 pro Einheit verkauft wird (entsprechend dem Weltmarktpreis von US-$ 4 zuzüglich des Zolls von US-$ 2). Das Gleichgewichtsergebnis bei einem Zoll von US-$ 2 besteht darin, dass der heimische Konsum (oder die nachgefragte Menge) von 300 Einheiten im Freihandelsgleichgewicht auf 250 Einheiten nach Verhängung des Zolls gesenkt wird, während die heimische Produktionsmenge um 50 Einheiten steigt und die Importmenge um 100 Einheiten gesenkt wird. Dieses Beispiel fasst die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Zöllen zusammen: Ein Zoll erhöht den Preis, senkt die konsumierte und importierte Menge und steigert die heimische Produktion.
Importbeschränkungen. Importbeschränkungen haben denselben qualitativen Effekt wie Zölle. Ein prohibitiv niedriges Importkontingent (das alle Importe verhindert) erzielt dasselbe Ergebnis wie ein Prohibitivzoll. Preis und Menge in Abbildung 15-8 würden sich zurück zum Gleichgewichtspunkt ohne Außenhandel N bewegen. Eine großzügigere Kontingentierung könnte die Importe auf beispielsweise 100 Bekleidungseinheiten beschränken; dieses Kontingent entspräche somit der kräftigen Linie HJ in Abbildung 15-8. Ein Kontingent von 100 Einheiten hätte denselben Gleichgewichtspreis und dieselbe Gleichgewichtsmenge zur Folge wie ein Zoll von US-$ 2. Obwohl es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Zöllen und Importbeschränkungen gibt, lassen sich doch einige feine Verschiedenheiten konstatieren. Ein Zoll bringt dem Staat Einnahmen, was die Sen-
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
kung anderer Steuern ermöglicht und so einen Teil des Schadens an den Konsumenten im Importland ausgleicht. Ein Importkontingent verschiebt den Gewinn aus der Preisdifferenz andererseits in die Tasche jener Importeure oder Exporteure, die das Glück haben, eine der nur beschränkt verfügbaren Importgenehmigungen oder -lizenzen erhalten zu haben. Sie können es sich leisten, die Erlöse dazu zu verwenden, Behördenvertreter, denen die Vergabe von Importlizenzen obliegt, zu umhegen und zu umsorgen, ja vielleicht sogar zu bestechen. Wegen dieser genannten Unterschiede betrachten Ökonomen Zölle im Allgemeinen als das geringere Übel. Wenn ein Staat jedoch trotzdem entschlossen ist, Importbeschränkungen zu verhängen, sollte er die knappen Importlizenzen auf dem Weg einer Auktion vergeben. Nur eine Auktion kann sicherstellen, dass der Staat und nicht der Importeur den Ertrag aus den knappen Importlizenzen erzielt; außerdem gerät im Falle einer Versteigerung auch die Bürokratie nicht in Versuchung, Kontingente aufgrund von Erpressung, Freundschaft oder Nepotismus zu vergeben. Transportkosten. Was können wir über die Transportkosten aussagen? Die Kosten für den Transport sperriger und verderblicher Güter haben dieselbe Wirkung wie Zölle und verringern das Ausmaß einer vorteilhaften regionalen Spezialisierung. Fallen beispielsweise für den Export einer Einheit Bekleidung von Europa nach Amerika US-$ 2 an Transportkosten an, stellt sich das Angebotsund Nachfragegleichgewicht genauso dar wie in Abbildung 15-8, wo der amerikanische Preis um US-$ 2 über dem europäischen liegt. Trotzdem besteht ein Unterschied zwischen Protektionismus und Transportkosten: Transportkosten sind natürlich anfallende Kosten – zurückzuführen auf die Entfernung und Hindernisse wie Meere, Berge und Flüsse –, während restriktive Zölle in den Verantwortungsbereich der Staaten fallen. Ein Ökonom bezeichnete Zölle sogar einmal als „Bahnlinien mit negativem Vorzeichen“. Die Verhängung
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eines Zolls hat dieselbe volkswirtschaftliche Wirkung, als würde man Sand ins Getriebe jener Schiffe streuen, die Güter aus anderen Ländern in unsere Häfen transportieren.
Die volkswirtschaftlichen Kosten der Zölle Was geschieht, wenn Amerika einen Zoll auf Bekleidung verhängt, wie die US-$ 2 Zoll, die in Abbildung 15-8 dargestellt sind? Es sind drei Folgewirkungen festzustellen: (1) Die heimischen Produzenten, die mithilfe der Zölle unter einer Art Preisschirm agieren, können ihre Produktion ausweiten; (2) die Konsumenten sind mit höheren Preisen konfrontiert und senken daher ihren Konsum; und (3) der Staat kann sich über Zolleinnahmen freuen. Zölle führen zu volkswirtschaftlicher Ineffizienz. Wenn Zölle verhängt werden, übertrifft der volkswirtschaftliche Verlust für die Konsumenten die Einnahmen, die dem Staat erwachsen, zuzüglich der Zugewinne der Produzenten. Analyse im Diagramm. Abbildung 15-9 zeigt die volkswirtschaftlichen Kosten eines Zolls. Die Angebots- und Nachfragekurven gleichen jenen in Abbildung 15-8, wobei jedoch drei Bereiche besonders hervorgehoben sind: (1) Bereich B ist der Zollertrag, den der Staat kassiert. Er entspricht der Höhe des Zolls multipliziert mit den importierten Einheiten und beträgt insgesamt US-$ 200. (2) Die Einführung des Zolls erhöht den Preis auf den heimischen Märkten von US-$ 4 auf US-$ 6, und die Produzenten erhöhen ihre Produktionsmenge auf 150. Die Gesamtgewinne steigen daher um US-$ 250, dargestellt durch den Bereich LEHM; sie entsprechen US-$ 200 an alten Einheiten und zusätzlichen US-$ 50 für die neuen 50 Einheiten. (3) Beachten Sie schließlich, dass Zölle den Konsumenten hohe Kosten auferlegen. Der gesamte Verlust an Konsumentenrente wird durch den Bereich LMJF dargestellt; er entspricht US-$ 550.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
S
D heimische Nachfrage Bekleidungspreis (US-$ pro Einheit)
Teil 4
heimisches Angebot
8
6
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H
M
E
L
A
J B
C
Weltmarktpreis plus Zoll F Weltmarktpreis
S D 0
100
150
250 300 Bekleidungsmenge
Abbildung 15-9: Die volkswirtschaftlichen Kosten eines Zolls Die Verhängung eines Zolls erhöht die Einnahmen des Staates und führt zu Ineffizienzen. Wir erkennen die Auswirkungen des Zolls in Form von drei Effekten. Rechteck B entspricht den Zolleinnahmen des Staates. Dreieck A entspricht den Produktionskosten der Unternehmen, die unter dem Schutz des Zolls produzieren. Dreieck C ist der Nettoverlust an Konsumentenrente durch den ineffizient hohen Preis. Die Bereiche A und C entsprechen den durch den Zoll verursachten unvermeidlichen Ineffizienzen.
Die sozialen Auswirkungen sind daher insgesamt ein Gewinn für die Produzenten in Höhe von US-$ 250, ein Gewinn für den Staat in Höhe von US-$ 200 und ein Verlust für die Konsumenten in Höhe von US-$ 550. Die sozialen Nettokosten (wobei jeder US-Dollar gleich gewichtet wird) betragen in diesem Fall US-$ 100. Sie entsprechen in unserem Beispiel den Bereichen A und C. Die Interpretation dieser Bereiche ist wichtig: • Bereich A ist der Nettoverlust, der sich ergibt, weil die heimische Produktion kostenintensiver ist als die ausländische. Wenn der Inlandspreis steigt, werden die Unternehmen dazu veranlasst, die relativ teuren Inlandskapazitäten stärker zu nutzen. Sie produzieren so lange, bis die Grenzkosten US-$ 6 pro Einheit betragen (anstatt bis zu US-$ 4 pro Einheit im Freihandel). Die Unternehmen sperren in-
effizient gewordene alte Fabriken wieder auf oder schieben zusätzliche Schichten ein. Aus wirtschaftlicher Sicht haben diese Fabriken einen Wettbewerbsnachteil, weil die von ihnen produzierte neue Bekleidung im Ausland billiger hergestellt werden könnte. Die neuen Sozialkosten dieser ineffizienten Produktion entsprechen Bereich A und betragen US-$ 50. • Außerdem kommt es für das Land zu einem Nettoverlust in Höhe der Preissteigerung, dargestellt durch den Bereich C. Es handelt sich um jenen Verlust an Konsumentenrente, der durch Unternehmensgewinne oder Zolleinnahmen nicht kompensiert wird. Dieser Bereich repräsentiert die wirtschaftlichen Kosten, die entstehen, wenn die Konsumenten ihre Käufe von den Niedrigkostenimporten zu den mit hohen Kosten befrachteten In-
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
landsgütern verlagern. Dieser Bereich entspricht ebenfalls US-$ 50. Die gesamten Sozialkosten infolge der Verhängung des Zolls betragen daher US-$ 100, gleich wie man sie errechnet. Abbildung 15-9 zeigt ein Merkmal, das für das Verständnis der politischen und geschichtlichen Aspekte von Zöllen wichtig ist. Wenn ein Zoll auferlegt wird, beruht ein Teil der wirtschaftlichen Wirkung darauf, dass Zölle Einkommen von den Konsumenten zu den geschützten inländischen Produzenten und Arbeitskräften zurück verteilen. In dem in Abbildung 15-9 dargestellten Beispiel stellen die Bereiche A und C jeweils Effizienzverluste aus einer ineffizient hohen heimischen Produktion und einem ineffizient geringen Konsum dar. Unter den vereinfachenden oben dargestellten Annahmen addieren sich die Effizienzverluste zu US-$ 100. Der Umverteilungseffekt ist jedoch viel größer und entspricht US-$ 200 an Zolleinnahmen, die von den Konsumenten des Gutes einzogen werden, zuzüglich der höheren Gewinne von US$ 250. Die Konsumenten werden zwar über die höheren Produktionskosten unglücklich sein, die heimischen Produzenten und deren Angestellte profitieren jedoch. Es ist also verständlich, warum bei den Auseinandersetzungen um Importrestriktionen im Allgemeinen um die Umverteilung der Gewinne und Verluste und nicht um Fragen der volkswirtschaftlichen Effizienz gestritten wird. Die Verhängung eines Zolls führt zu dreierlei Folgewirkungen: Sie kurbelt die ineffiziente heimische Produktion an; sie erhöht die Preise und bringt dadurch die Konsumenten dazu, ihren Verbrauch des mit dem Zoll belegten Gutes unter das Effizienzniveau zu senken; und sie erhöht die Einnahmen des Staates. Nur die ersten beiden Folgen führen unweigerlich zu Effizienzverlusten für die Wirtschaft.
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Die Kosten des Schutzes der Textilproduktion Veranschaulichen wir diese Analyse, indem wir die Auswirkungen eines bestimmten Zolls – jenes auf Kleidung – analysieren. Heute gehören Zölle auf importierte Textilien und Bekleidung zu den höchsten in den USA verhängten Zöllen. Inwieweit sind Konsumenten und Produzenten davon betroffen? Zunächst heben die Zölle die Preise für Kleidungsstücke aus heimischer Produktion. Wegen der höheren Preise bleiben viele Fabriken, die anderenfalls wegen des sinkenden komparativen Vorteils bei Textilien Konkurs anmelden müssten, in Betrieb. Sie liegen nur knapp in der Gewinnzone, aber schaffen es doch, genügend Umsatz zu erzielen, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Die heimischen Arbeitsplätze wiegen schwerer als der Freihandel, obwohl die Textillöhne wegen des Drucks durch den ausländischen Wettbewerb zu den niedrigsten Industrielöhnen zählen. Aus wirtschaftlicher Sicht verschwendet das Land Ressourcen für Textilien. Diese Arbeiter, diese Materialien und dieses Kapital könnten in anderen Sektoren produktiver eingesetzt werden – vielleicht in der Produktion von Flugzeugen, bei der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder im Internethandel. Das Produktivkapital des Landes ist geringer, weil Produktionsfaktoren in einer Industrie belassen werden, in der das Land seinen komparativen Vorteil verloren hat. Natürlich bezahlen die Konsumenten für diesen Schutz der Textilindustrie mit höheren Preisen. Sie können mit ihrem Einkommen weniger Bedürfnisse befriedigen, als dies der Fall wäre, könnten sie Textilien aus Korea, Hongkong oder Indonesien zu Preisen ohne Aufschlag aufgrund hoher Zölle kaufen. Die Konsumenten werden so dazu veranlasst, weniger Bekleidung zu kaufen und ihr Geld in Nahrungsmittel, Transporte und Freizeitbeschäftigungen zu investieren, deren relative Preise durch den Zoll gesenkt werden.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Schließlich erhält der Staat die Erträge aus den Zöllen, die auf Textilien erhoben werden. Diese Einnahmen können dazu verwendet werden, öffentliche Güter zu erwerben oder andere Steuern zu senken, weshalb (anders als die geringere Konsumentenrente oder die Produktionsineffizienz) diese Wirkung keine wirkliche soziale Belastung darstellt.
Die volkswirtschaftlichen Aspekte des Protektionismus Nachdem wir die Auswirkungen der Zölle auf Preise und Mengen untersucht haben, wenden wir uns nun der Analyse der Argumente für und gegen den Protektionismus zu. Die Argumente für Zölle oder Importbeschränkungen und gegen den Wettbewerb durch Importe treten in vielerlei Formen auf. Hier die wichtigsten: (1) Nicht wirtschaftlich begründete Argumente, denen zufolge es wünschenswert sei, das wirtschaftliche Wohlergehen zugunsten anderer nationaler Ziele zu opfern; (2) Argumente, denen ein logisches Missverständnis des volkswirtschaftlichen Prinzips zugrunde liegt, und (3) Analysen, die sich auf die Kraft des Marktes oder auf makroökonomische Unvollkommenheiten stützen.
Nicht wirtschaftliche Ziele Sollten Sie jemals mit dem Auftrag, den Freihandel zu verteidigen, in eine Diskussionsrunde entsandt werden, können Sie vielleicht zu Beginn ihre Position stärken, indem Sie einräumen, dass das wirtschaftliche Wohlergehen keineswegs das einzige Ziel im Leben ist. Ein Land sollte seine Freiheit, seine Kultur und die Menschenrechte nicht für ein paar Dollar zusätzlichen Einkommens aufs Spiel setzen. Die amerikanische Halbleiterindustrie bietet hier ein anschauliches Beispiel. In den achtziger Jahren behauptete das Verteidigungsministerium, die US-Armee würde oh-
Teil 4
ne eigenständige Halbleiterindustrie allzu sehr von Japan und anderen ausländischen Chiperzeugern, also von Zulieferern für High-Tech-Waffen, abhängig werden. Das führte zu einem Abkommen über einen speziellen Schutz dieser Branche. Ökonomen bezweifelten den Wert dieses Versuches. Ihr Argument stellte das Ziel der nationalen Sicherheit nicht in Frage. Stattdessen konzentrierte es sich auf den effizienten Einsatz der Mittel zur Erreichung des gewünschten Ergebnisses. Die Skeptiker meinten, dass protektionistische Maßnahmen teurer seien als eine Politik der zielgerichteten Branchenförderung im Inland, etwa in Form eines Programms zum Ankauf einer Mindestzahl qualitativ hochwertiger Chips. Doch die nationale Sicherheit ist keineswegs das einzige nicht wirtschaftliche Ziel in der Außenhandelspolitik. Länder haben bisweilen das Bedürfnis, ihre speziellen Kulturtraditionen oder Umweltbedingungen zu bewahren und zu erhalten. Frankreich argumentierte vor kurzem, seine Bürger müssten vor „unzivilisierten“ amerikanischen Filmen geschützt werden. Tatsächlich befürchtet die französische Filmindustrie, unter der neuen Welle teurer, mit beeindruckenden Stunts gespickter Hollywood-Thriller begraben zu werden. Die Folge war, dass Frankreich die Zahl der US-Filme und Fernsehshows, die importiert werden dürfen, stark beschränkte. Ein anderes Beispiel liefert uns die Schweizer Regierung, die den Beschluss gefasst hat, die Durchfahrt ausländischer LKWs durch die Schweiz zu verbieten, um die Stille und reine Luft ihrer Berglandschaft zu bewahren.
Fragwürdige Gründe für die Einführung von Zöllen Merkantilismus. Abraham Lincoln wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „Ich weiß nicht viel über Zölle. Eines weiß ich aber: Wenn ich einen englischen Mantel kaufe, bekomme ich den Mantel und England das Geld. Kaufe ich einen amerikanischen Man-
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tel, bekomme ich den Mantel auch, aber Amerika bekommt das Geld.“ Diese Denkweise zeigt einen uralten Irrtum auf, der typisch für den so genannten Merkantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts war. Vertreter dieser Richtung betrachteten jene Länder als glücklich, die mehr Güter verkaufen konnten, als sie einkauften, weil eine solche „wünschenswerte“ Handelsbilanz bedeutete, dass Gold als Bezahlung des Exportüberschusses ins Land floss. Die merkantilistische Argumentation verwechselt Mittel und Zweck. Die Anhäufung von Gold oder sonstigen Zahlungsmitteln allein verbessert den Lebensstandard eines Landes nicht. Geld ist kein Selbstzweck, sondern soll verwendet werden, um von anderen Ländern Waren und Dienstleistungen kaufen zu können. Aus diesem Grund verwerfen heute die meisten Ökonomen den Gedanken, die Erhebung von Zöllen zur Erzielung eines Außenhandelsüberschusses könne dem wirtschaftlichen Wohlergehen eines Landes nützen. Zölle für spezielle Interessengruppen. Besonders starker politischer Druck zugunsten von Schutzzöllen wird von mächtigen Interessensgruppen ausgeübt. Unternehmen und Arbeiter wissen ganz genau, dass ein Zoll auf ihre speziellen Produkte ihnen hilft, auch wenn er anderen Kosten auferlegt. Adam Smith war dies nur allzu bewusst, als er schrieb: Handelsfreiheit zu erwarten ist ebenso absurd, als würde man Utopia erwarten. Dagegen stehen nicht nur die Vorurteile der Öffentlichkeit, sondern ein noch schwieriger zu überwindendes Hindernis, die Eigeninteressen zahlreicher Einzelpersonen, die sich der Handelsfreiheit entschlossen entgegenstellen.
Wenn der Freihandel aber für das gesamte Land so nützlich ist, warum können dann die Verfechter des Protektionismus in den Legislativen einen derart überproportionalen Einfluss ausüben? Nun, die wenigen, die Vorteile
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aus dem spezifischen Protektionismus ziehen, stecken viel Geld in Lobby-Arbeit und in die Überredung von Politikern. Die Konsumenten sind durch den Zoll auf ein bestimmtes Produkt ohnehin nur geringfügig betroffen; da die breit gestreuten Verluste gering bleiben, verspürt der Einzelne nur wenig Anreiz, mit viel Aufwand seine Meinung zu jedem einzelnen Zollfall kundzutun. Vor einem Jahrhundert bediente man sich noch des direkten Wegs der Bestechung, um sich die nötigen Stimmen zugunsten der Einführung von Schutzzöllen zu sichern. Heute bilden sich mächtige „politische Aktionskomitees“, so genannte PACs, die mit ihren Anwälten für die Einführung von Zöllen oder Einfuhrbeschränkungen bei Textilien, Schnittholz, Stahl, Zucker und anderen Gütern kämpfen. Würde die politische Entscheidungsfindung dem volkswirtschaftlichen Nutzen folgen, müsste jedes Land den Großteil seiner Zollbestimmungen außer Kraft setzen. Doch wirtschaftliche Interessen sind nicht immer proportional vertreten. Es ist bedeutend schwieriger, die Massen der Konsumenten und Produzenten zu organisieren, damit sie sich für die Vorteile des Freihandels stark machen, als einige wenige Unternehmen oder Gewerkschaften einen Kreuzzug gegen die „billigen chinesischen Arbeitskräfte“ oder die „unfaire japanische Exportpolitik“ führen zu lassen. In allen Ländern agieren die durch Importbarrieren geschützten Unternehmen und Arbeitnehmer mit ihren Eigeninteressen als unermüdliche Feinde des Freihandels. Einen bemerkenswerten Fall in diesem Zusammenhang stellt die amerikanische Einfuhrbeschränkung für Zucker dar, die nur einer kleinen Zahl von Produzenten nützt, während sie die amerikanischen Konsumenten mit mehr als US-$ 1 Milliarde jährlich teuer zu stehen kommt. Der durchschnittliche Konsument weiß wahrscheinlich gar nicht, dass die Kontingentierung der Zuckerimporte jeden US-Amerikaner 1,5 Cents täglich kostet, und deshalb besteht für die Kon-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
sumenten praktisch kein Anreiz, sich für den Freihandel stark zu machen. Wettbewerb durch billige ausländische Arbeitskräfte. Das häufigste Argument zugunsten protektionistischer Maßnahmen lautet, der Freihandel setze die amerikanischen Arbeitskräfte einem Wettbewerb durch billige ausländische Arbeitskräfte aus. Die einzige Möglichkeit, das hohe amerikanische Lohnniveau aufrechtzuerhalten, bestehe im Schutz der heimischen Arbeitskräfte, indem Güter, die in Niedriglohnländern erzeugt werden, nicht ins Land gelassen oder mit hohen Zöllen belegt werden. Eine Extremform dieser Ansicht ist die Befürchtung, dass die US- Löhne unter Freihandelsbedingungen auf das niedrigere ausländische Niveau absinken könnten. So malte Präsidentschaftskandidat Ross Perot während der Diskussion über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA den Teufel an die Wand, indem er argumentierte: Philosophisch betrachtet ist [NAFTA] ein wunderbarer Gedanke, praktisch jedoch wird sie unserem Land schaden. Wir hier in den Vereinigten Staaten werden nur ein sehr lautes, saugendes Geräusch hören, und das zu einer Zeit, in der wir selbst Jobs brauchen und sicherlich keine abzugeben haben. Der Stundenlohn in Mexiko wird auf US-$ 7,50 steigen, bei uns wird er auf US-$ 7,50 sinken.
Dieses Argument klingt zwar stichhaltig, aber es ist von Grund auf falsch, da es das Prinzip des komparativen Vorteils missachtet. Der Grund, warum US-Arbeitnehmer höhere Löhne erhalten, liegt darin, dass sie im Durchschnitt produktiver sind. Wenn unser Gleichgewichtslohn fünfmal höher ist als der in Mexiko, so deshalb, weil das Grenzprodukt der amerikanischen Arbeiter im Durchschnitt fünfmal so hoch ist wie das der mexikanischen Arbeiter. Die Handelsströme entwickeln sich gemäß dem komparativen Vorteil, nicht nach dem Lohnniveau oder einem absoluten Vorteil.
Teil 4
Nachdem wir belegen konnten, dass die Länder durch den Import von Waren, die von „billigen ausländischen Arbeitskräften“ hergestellt werden und bei denen das betreffende Land über einen komparativen Nachteil verfügt, profitieren, sollten wir nun erwähnen, welche Kosten diese Strategie für die betroffenen Arbeitskräfte und Unternehmen vorübergehend mit sich bringen kann. Wenn Produktionsstätten an einem bestimmten Ort unerwartet geschlossen werden, weil die Produktion nach Übersee verlagert wird, kann der lokale Arbeitsmarkt von Arbeitsuchenden überflutet werden. Ältere Arbeitskräfte mit veralteten Berufen werden nur schwerlich einen neuen attraktiven Job finden und müssen deshalb einen Rückgang ihres Realeinkommens hinnehmen. Die Probleme der freigesetzten Arbeitskräfte verstärken sich in Zeiten einer allgemeinen wirtschaftlichen Depression oder bei hoher Arbeitslosigkeit auf den lokalen Arbeitsmärkten noch zusätzlich. Langfristig erfolgt zwar eine Reallokation der Arbeitnehmer von rückläufigen hin zu boomenden Branchen, doch der Übergang kann für viele sehr kostspielig sein. Zusammenfassend: Das Argument der billigen ausländischen Arbeitskräfte ist nicht stichhaltig, weil es die Theorie des komparativen Vorteils missachtet. Ein Land profitiert durch den Außenhandel selbst dann, wenn seine Löhne weit über jenen seiner Handelspartner liegen. Hohe Löhne sind nämlich das Ergebnis hoher Effizienz, nicht protektionistischer Zölle. Die Einführung von Zöllen als Vergeltungsmaßnahme. Zwar würden viele der Aussage zustimmen, dass eine Welt des Freihandels die beste aller möglichen Welten wäre, aber sie würden zugleich anmerken, dass diese Welt sicherlich nicht die ist, in der wir leben. Ihre Argumentation würde etwa folgendermaßen klingen: „Solange andere Länder Importbeschränkungen verhängen oder unsere Produkte anderweitig diskriminieren, haben wir
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keine Wahl, als das Spiel der Selbstverteidigung mitzuspielen. Freihandel ist für uns nur solange akzeptabel, wie es ein fairer Handel ist. Aber die Spielregeln müssen natürlich für alle gelten.“ In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts begaben sich die USA an den Rand eines Handelskrieges mit Japan und China, indem sie mit hohen Zöllen drohten, sollten diese Länder bestimmte unerwünschte Handelspraktiken nicht einstellen. Die Befürworter dieses Ansatzes argumentieren, dass er die Mauer des Protektionismus in anderen Ländern niederreißen kann. Diese Argumentation wird im Economic Report of the President in einer Analyse des Protektionismus wie folgt beschrieben: Eingriffe in die internationalen Handelsbeziehungen ..., so teuer sie für die amerikanische Wirtschaft kurzfristig sein mögen, lassen sich jedoch rechtfertigen, wenn sie dem strategischen Zweck dienen, die Kosten einer interventionistischen Politik für andere Staaten zu erhöhen. So können sich überlegte, zielgerichtete Maßnahmen durchaus positiv auswirken ... wenn sie darauf zielen, andere Länder davon zu überzeugen, auf ihre Handelsverzerrungen zu verzichten.
Obwohl dieses Argument einen wahren Kern beinhaltet, kann es nur mit Einschränkungen unterstützt werden. Wie drohende Kriege ebenso oft zu bewaffneten Konflikten wie zu Abrüstungsbestrebungen führen, wirkt sich ein protektionistischer Bluff unter Umständen für den Bluffer ebenso schädlich aus wie für seinen Gegner. Historische Studien zeigen, dass die Verhängung von Zöllen als Vergeltungsmaßnahmen andere Staaten meist dazu veranlasst, ihre Zölle noch weiter zu erhöhen, und dass sie sich beim Feilschen um einen bilateralen Zollabbau eigentlich kaum je als gute Karte erweisen. Importbeschränkungen. In den USA wie in anderen Ländern versuchen Unternehmen und Arbeitskräfte, die sich durch den Wettbewerb von außen benachteiligt fühlen, Schutz in Form von Zöllen oder Einfuhrbe-
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schränkungen zu erwirken. Heute werden die entsprechenden Beschlüsse jedoch kaum noch direkt vom Kongress gefasst. Der Kongress hat erkannt, dass die Zollpolitik ein allzu heißes Eisen ist, und daher spezielle Behörden mit der Aufgabe betraut, etwaige Klagen und Anträge zu untersuchen und über sie zu entscheiden. Im Allgemeinen wird heute in den USA ein Ansuchen um Schutz vor Importen vom US-Handelsministerium und der US International Trade Commission geprüft. Folgende Abhilfemaßnahmen können beschlossen werden: • Die Schutzklausel war früher sehr populär. Sie ermöglicht eine vorübergehende Importbeschränkung (auf dem Wege mit anderen Ländern ausgehandelter Zölle, Kontingente oder Exportquoten), wenn eine Branche durch Importe „geschädigt“ wurde. Man konnte sich auf sie berufen, wenn Produktion, Beschäftigungsstand und Gewinne der heimischen Industrie bei steigenden Importen zurückgegangen waren. • Antidumpingzölle werden erhoben, wenn ein anderes Land zu Preisen in die USA verkauft, die unter den Durchschnittskosten liegen oder niedriger sind als die Preise auf dem heimischen Markt. Wird ein Dumpingfall aufgedeckt, kommt es zur Erhebung einer „Dumpinggebühr“ auf die importierten Waren. • Ausgleichszölle werden verhängt, wenn andere Länder ihre Exporte in die USA subventionieren. Dieser Schritt entwickelte sich zur populärsten Schutzmaßnahme gegen Importe und kam in Hunderten von Fällen zur Anwendung. Wie werden solche Maßnahmen gerechtfertigt? Schutz vor Importen klingt vernünftig, doch widerspricht er vollkommen der Theorie des komparativen Vorteils. Diese Theorie besagt, dass eine Branche, die nicht mit ausländischen Konkurrenten Schritt halten kann, durch Importe geschädigt werden muss. Vom Standpunkt des wirtschaftlichen
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Vorteils aus betrachtet werden die weniger produktiven Branchen vom Wettbewerb durch produktivere heimische Wirtschaftszweige verdrängt. Das mag wirklich hart und rücksichtslos klingen. Kein Wirtschaftszweig verschwindet freiwillig von der Bühne. Keine Region unterzieht sich freiwillig einem Wandel hin zu neuen Branchen. Häufig geht der Wechsel von alten zu neuen Berufen und Wirtschaftszweigen mit einer schmerzhaften Arbeitslosigkeit und anderen Problemen einher. Die geschwächte Branche oder Region bekommt das Gefühl, sie sei isoliert und müsse nun die gesamte Bürde des Fortschritts allein tragen.
Potenziell stichhaltige Argumente für protektionistische Maßnahmen Nun wollen wir zum Schluss noch drei Argumente zugunsten des Protektionismus beleuchten, die tatsächlich aus volkswirtschaftlicher Sicht stichhaltig sein könnten: • Zölle können die Terms of Trade zugunsten eines Landes einseitig verändern. • Vorübergehende Schutzzölle für eine „neue Branche“ mit Wachstumspotenzial können sich als langfristig effizient erweisen. • Ein Zoll kann unter bestimmten Bedingungen dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu verringern. Das Terms-of-Trade- oder Optimalzoll-Argument. Ein vernünftiges Argument für die Verhängung von Zöllen argumentiert mit der Verschiebung der Terms of Trade zugunsten eines Landes und zu Ungunsten anderer Länder. Der Begriff Terms of Trade bezieht sich auf das Verhältnis von Export- zu Importpreisen. Dahinter steht folgender Gedanke: Wenn ein großes Land Zölle auf seine Importe erhebt, senkt die verringerte Nachfrage nach dem Gut auf den Weltmärkten den Gleichgewichtspreis und damit die dem Land entstehenden Kosten vor Zoll. Eine solche
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Veränderung verbessert die Terms of Trade eines Landes und erhöht das reale Volkseinkommen. Eine Zollkombination, die die Realeinkommen maximiert, wird als Optimalzoll bezeichnet. Das Argument der Terms of Trade lässt sich 150 Jahre auf John Stuart Mill, einem Verfechter des Freihandels, zurückverfolgen. Es ist das einzige Argument zugunsten der Verhängung von Zöllen, das unter Bedingungen der Vollbeschäftigung und des vollständigen Wettbewerbs Gültigkeit hat. Nehmen wir an, dass die USA einen „optimalen“ Zoll auf importiertes Öl erheben. Dieser Zoll führt zu einer Erhöhung des Preises von inländischem Öl und senkt die weltweite Nachfrage nach Öl. Der Weltmarktpreis von Öl wird auf diese Weise gedrückt. Das bedeutet, dass ein Teil des Zolls tatsächlich auf den Ölproduzenten zurückfällt. (Wir können in diesem Zusammenhang auch erkennen, dass ein sehr kleines Land diese Möglichkeit nicht nutzen kann, weil es den Weltmarktpreis nicht beeinflussen kann.) Haben wir also nun doch theoretisch stichhaltige Argumente für die Verhängung von Zöllen gefunden? Die Antwort wäre ja, könnten wir einfach ignorieren, dass es sich dabei um eine „Beggar-Thy-Neighbor“-Politik handelt, die andere Länder benachteiligt und deren Reaktionen außer Acht lässt. Doch diese anderen Länder werden wahrscheinlich reagieren. Schließlich ist nicht einzusehen, warum die Europäische Union und Japan, sollten die USA einen Optimalzoll von 30 Prozent auf ihre Importe erheben, ihre Importe nicht ebenfalls mit einem 30prozentigen oder vielleicht sogar 40-prozentigen Zoll belegen sollten. Und letztlich könnte sich das allgemeine Zollniveau, wenn jedes Land seinen eigenen nationalistischen Optimalzoll berechnet und auch verhängt, in der Zollversion eines Rüstungswettlaufs hochschrauben. Im Endeffekt würde eine solche Situation zweifellos keine Verbesserung des weltweiten oder individuellen Wohlstandes bedeuten. Wenn alle Länder Optimalzölle verhän-
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gen, ist abzusehen, dass das wirtschaftliche Wohlergehen aller sinkt, wenn die Behinderungen des Freihandels Überhand nehmen. Von einer Abschaffung der Handelsbarrieren profitieren hingegen alle Länder. Erhebung von Zöllen auf Produkte junger Branchen. In seinem berühmten Report on Manufactures (1791) schlug Alexander Hamilton vor, man solle doch das Wachstum der Produktionsbranchen stimulieren, indem man junge Branchen vor ausländischem Wettbewerb schützt. Nach seiner Meinung, die übrigens auch von einigen Freihandelsbefürwortern unter den Ökonomen, etwa von John Stuart Mill und Alfred Marshall, vorsichtig unterstützt wurde, gibt es Produktionsbereiche, in denen ein Land nur dann einen komparativen Vorteil erringen kann, wenn der Start optimal gelingt. Solche jungen Branchen könnten der rauen Behandlung durch größere Rüpel auf dem globalen Markt nicht standhalten. Bei vorübergehender Hege und Pflege könnten sie jedoch erwachsen werden, eine Massenproduktion entwickeln, einen Pool ausgebildeter Arbeitskräfte aufbauen, neue, gut an die lokale Wirtschaft angepasste Produktentwicklungen hervorbringen und jene technologische Effizienz erreichen, die für viele reife Branchen typisch ist. Zwar würden protektionistische Maßnahmen die Verbraucherpreise in diesem Bereich zu Beginn erhöhen, aber die Branche könnte dadurch eine solche Effizienz erreichen, dass nach ihrer gelungenen Etablierung Kosten und Preise wieder sinken würden. Ein Zoll wäre demnach gerechtfertigt, wenn das Wohl der Verbraucher zu diesem späteren Zeitpunkt die höheren Preise während der Phase protektionistischer Maßnahmen überwiegt. Dieses Argument ist mit Vorsicht zu genießen. Historische Studien haben zwar tatsächlich einige echte Fälle geschützter junger Branchen zutage gefördert, die schließlich heranwuchsen und auf eigenen Füßen stehen konnten. Und Studien über erfolgreiche, erst jüngst industrialisierte Länder (wie Singapur
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und Taiwan) zeigen, dass diese Länder ihre Produktionsbranchen in den ersten Phasen der Industrialisierung tatsächlich schützten. Doch Subventionen sind eine effizientere und transparentere Methode zur Förderung junger Branchen. Tatsächlich kennt die Geschichte der Zölle noch viel mehr Fälle wie Stahl, Zucker und Textilien, in denen die ständig geschützten Branchenbabys auch nach vielen Jahren die Windeln noch nicht ablegen wollten. Der nutzlose Schutz der brasilianischen Computerindustrie Brasilien bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie Protektionismus scheitern kann. Im Jahr 1984 wurde in Brasilien ein Gesetz beschlossen, das ausländische Computer aus dem Land verbannte. Man wollte damit eine geschützte Umgebung schaffen, in der die brasilianische Computerindustrie, die noch in den Kinderschuhen steckte, gedeihen und sich entwickeln könnte. Dieses Gesetz wurde von einer speziellen „Computerpolizei“, die Büros und Klassenzimmer nach illegalen importierten Computern durchsuchte, rigoros überwacht. Die Folgen waren erschreckend. Technologisch gesehen hinkten die brasilianischen Computer um Jahre hinter dem sich rasch entwickelnden Weltmarkt hinterher, und die Konsumenten mussten für ein brasilianisches Gerät den zwei- oder dreifachen Weltmarktpreis bezahlen. Einer Schätzung zufolge kostete das Gesetz die brasilianischen Bürger jährlich US-$ 900 Millionen. Zugleich waren brasilianische Computer so teuer, dass sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren und es den brasilianischen Computerfirmen auch nicht möglich war, durch Verkauf in andere Länder Skalenerträge zu erzielen. Die hohen Computerpreise schadeten zusätzlich der Wettbewerbsfähigkeit der restlichen Wirtschaft. „Wir sind heute wegen dieses sinnlosen Nationalismus wirtschaftlich weit abgeschlagen“, konstatierte die brasilianische Wirtschaftsministerin Zelia Cardoso de Mello im Jahr 1990. „Das Computerproblem
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
hat verhindert, dass in der brasilianischen Industrie die nötigen Modernisierungen durchgeführt wurden.“ Eine Kombination aus Druck von Seiten der brasilianischen Konsumenten und Unternehmen und der Forderung der USA nach offenen Märkten zwang Brasilien, das Importverbot für ausländische Computer im Oktober 1992 aufzuheben. Innerhalb eines Jahres waren die Elektronikgeschäfte in São Paulo und Rio de Janeiro voll mit importierten Laptops, Laserdruckern und Handys, und die brasilianischen Unternehmen konnten sich endlich daran machen, die Computerrevolution für ihre Zwecke zu nutzen. Jedes Land und jede Generation muss die Lektionen des komparativen Vorteils von Grund auf neu lernen.
Zölle und Arbeitslosigkeit. Historisch gesehen war der Wunsch, in Zeiten einer Rezession oder wirtschaftlichen Stagnation die Beschäftigungssituation zu verbessern, immer ein starkes Motiv zugunsten protektionistischer Maßnahmen. Protektionismus schafft Arbeitsplätze, indem er die Preise für Importe erhöht und die Nachfrage hin zu heimischen Produkten umlenkt; Abbildung 15-8 zeigt diesen Effekt. Mit zunehmender Inlandsnachfrage stellen die Unternehmen mehr Arbeitskräfte ein, und die Arbeitslosigkeit geht zurück.2 Es handelt sich hierbei ebenfalls um eine „Beggar-Thy-Neighbor“-Politik, weil sie die heimische Nachfrage auf Kosten von Produktion und Beschäftigung in anderen Ländern steigert. Doch obwohl protektionistische Maßnahmen den Beschäftigungsstand heben können, stellen sie kein wirksames Programm für eine aktive und erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik, für mehr Effizienz und Preisstabilität dar. Die makroökonomische Analyse zeigt, dass es 2 Wer die Kapitel über Makroökonomie bereits durchgearbeitet hat, kann den Mechanismus, durch den Zölle die Beschäftigung kurzfristig erhöhen, schon verstehen. Protektionistische Maßnahmen erhöhen die Ausgaben für die heimische Produktion und damit die gesamte Nachfrage. Dieser Ausgabenschalter hat einen kurzfristigen Multiplikatoreffekt ähnlich dem von Investitionen oder staatlichen Ausgaben für Güter und Dienstleistungen.
Teil 4
bessere Methoden gibt, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, als die Errichtung von Importbarrieren. Durch den richtigen Einsatz von geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen kann ein Land seine Produktionsleistung steigern und die Arbeitslosigkeit senken. Außerdem erlaubt es die kluge Umsetzung wirtschaftspolitischer Strategien den Arbeitnehmern, aus Branchen, die ihren komparativen Vorteil verloren haben, in neue hochproduktive Jobs in Branchen mit einem komparativen Vorteil zu wechseln. Den Nachweis dafür liefern die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Von 1991 bis 1999 schufen die USA einen Nettozuwachs von 16 Millionen Arbeitsplätzen, während die offenen Märkte und niedrigen Zölle beibehalten wurden; das Handelsdefizit des Landes stieg in diesem Zeitraum stark an. Im Gegensatz dazu schufen die europäischen Länder praktisch keine neuen Jobs, während sie sich zu einer Position der Außenhandelsüberschüsse bewegten. Die Japaner verzeichneten währenddessen einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit bei einem wachsenden Außenhandelsüberschuss. Zölle und Importbeschränkungen sind eine ineffiziente Methode zur Schaffung von Arbeitsplätzen oder zur Verringerung der Arbeitslosigkeit. Effizienter lassen sich produktive Arbeitsplätze durch eine gezielte heimische Geld- und Fiskalpolitik schaffen.
Sonstige Handelsbarrieren Obwohl wir uns in diesem Kapitel hauptsächlich mit Zöllen befasst haben, gelten die meisten hier getätigten Aussagen ebenso für alle anderen Handelsbarrieren. Kontingentierungen haben weitgehend dieselben Auswirkungen wie Zölle, weil sie verhindern, dass der komparative Vorteil verschiedener Länder die Preise und Mengen auf dem Markt bestimmt. In den letzten Jahren kam es zur Aushandlung von Import- und Exportkontingenten zwischen verschiedenen Ländern. So zwangen beispielsweise die USA Japan, sich
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
selbst „freiwillig“ Exportkontingente bei Autos und in ähnlicher Weise bei Fernsehgeräten, Schuhen und Stahl aufzuerlegen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch die so genannten nichttarifären Handelshemmnisse oder NTBs (nontariff barriers). Diese bedeuten informelle Beschränkungen oder Regulierungen, die es für die Länder schwierig machen, ihre Güter auf ausländischen Märkten zu platzieren. So beklagten sich beispielsweise amerikanische Unternehmen, dass japanische Regulierungsmaßnahmen sie praktisch vom Handel in den Branchen Telekommunikation, Tabak und Bauindustrie ausschlössen. Welche Bedeutung haben eigentlich nichttarifäre Handelshemmnisse im Vergleich zu den Zöllen? Wirtschaftlichen Studien zufolge spielten nichttarifäre Handelshemmnisse in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgrund der Öl-Importkontingente tatsächlich eine wichtigere Rolle als Zölle. In den letzten Jahren haben sie den durch die Zollgesetze gebotenen Schutz effektiv verdoppelt. In einem gewissen Sinn dienen nichttarifäre Handelshemmnisse als Ersatz für konventionellere Zölle, da Letztere abgebaut wurden.
Multilaterale Handelsbeziehungen Können wir angesichts des Tauziehens zwischen den wirtschaftlichen Vorteilen des Freihandels und dem politischen Anspruch des Protektionismus heute vorhersagen, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird? Die Geschichte der US-Zölle, die Sie in Abbildung 15-10 verfolgen können, war voller Höhen und Tiefen. Während des Großteils ihrer Geschichte waren die USA ein Hochzollland. Der Höhepunkt des Protektionismus wurde mit dem berüchtigten SmootHawley-Zollgesetz von 1930 erreicht, gegen das sich praktisch jeder Ökonom in diesem Land aussprach, das jedoch trotzdem vom Kongress beschlossen wurde.
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Die Handelsbarrieren, die während der großen Weltwirtschaftskrise errichtet wurden, trugen in Wirklichkeit dazu bei, die Preise zu erhöhen und die volkswirtschaftlichen Probleme zusätzlich zu verschärfen. In den Handelskriegen der dreißiger Jahre versuchten die Länder, ihren Beschäftigungsstand und ihre Produktion durch die Errichtung von Handelsbarrieren auf Kosten ihrer Nachbarn anzuheben. Doch die Länder lernten ihre Lektion, als sie feststellen mussten, dass sie am Ende des Spiels um Zoll und Vergeltungszoll alle als Verlierer dastanden.
Freihandelsabkommen Nach dem Zweiten Weltkrieg rief die internationale Staatengemeinschaft eine Reihe von Institutionen zur Förderung des Friedens und wirtschaftlichen Wohlstandes durch eine kooperative Politik ins Leben. Multilaterale Verträge. Zu den erfolgreichsten multilateralen Verträgen auf diesem Gebiet gehört wohl das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), das Anfang 1995 zur Welthandelsorganisation (WTO) umgewandelt wurde. Die Satzung der WTO gibt das Ziel vor, den Lebensstandard durch „eine erhebliche Senkung der Zölle und anderer Handelsbarrieren sowie durch die Abschaffung einer diskriminierenden Behandlung im internationalen Handel“ zu heben. Im Jahre 2003 zählte die WTO 146 Mitgliedsländer, welche 90 Prozent des internationalen Handels abwickelten. Zu den Grundlagen der WTO gehören folgende Prinzipien: (1) Die Teilnehmerländer müssen daran arbeiten, die wechselseitigen Handelsbarrieren abzubauen; (2) alle zwischenstaatlichen Handelsbarrieren sollen auf diskriminierende Tendenzen verzichten (das heißt, alle Länder sollen den so genannten Meistbegünstigungsstatus genießen); (3) wenn ein Land seine Zölle über das vereinbarte Niveau anhebt, so hat es seine Handelspartner für den daraus entstehenden wirtschaftlichen Schaden zu entschädigen; und (4) Handels-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
„Tariff of abominations“ (1828) 60
Morrill und Kriegszölle (1861–64)
Auf Importe erhobene Zölle
50
40
Trade Agreements Act (1934)
30
20
10
Compromise Tariff (1833)
0 1820
1840
Dingley-Zollgesetz (1897)
1860
1880
1900
SmootHawley-Zollgesetz (1930) 1920
1940
Kennedy-Runde (1967) TokyoRunde (1979) UruguayRunde (1993)
1960
1980
2002
Jahr
Abbildung 15-10: Historisch betrachtet sind die USA ein Hochzollland In der Geschichte der USA waren die Zölle zumeist hoch, doch internationale Handelsabkommen seit den dreißiger Jahren haben mittlerweile zu einem weitgehenden Zollabbau geführt.
konflikte sind durch Konsultationen und schiedsrichterliche Entscheide zu lösen. Multilaterale Verhandlungen konnten die Handelsbarrieren in den 50 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgreich abbauen. Die jüngsten erfolgreichen Verhandlungen wurden in der Uruguay-Runde geführt, an der 123 Länder teilnahmen und die 1994 abgeschlossen wurde. Im Jahre 2001 wurde in der Hauptstadt Katars, Doha, eine neue Runde ins Leben gerufen. Diese Runde behandelt Fragen der Landwirtschaft, der geistigen Eigentumsrechte und des Umweltschutzes. Die neuen Verhandlungen sind sowohl bei Entwicklungsländern, die der Meinung sind, dass die reichen Länder ihre Landwirtschaft zu stark schützen, als auch bei Globalisierungsgegnern umstritten, die argumentieren, dass der zunehmende Handel der Umwelt schadet, während er den armen Ländern kaum hilft. Angesichts der zunehmen-
den Proteste in Seattle und Cancun erzielte die Doha-Runde keine Fortschritte. Regionale Ansätze. In den letzten Jahren ergriffen verschiedene Staaten eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung des Freihandels oder zur Erweiterung der regionalen Märkte. Darunter sind besonders folgende zu nennen: Die umstrittenste Initiative zum Abbau von Handelsbarrieren war jene zur Gründung des NAFTA, des nordamerikanischen Freihandelsabkommens, über das bewegte Debatten geführt wurden und das 1993 mit knapper Mehrzeit vom Kongress verabschiedet wurde. Mexiko ist der zweitgrößte Handelspartner der USA, und der überwiegende Teil des Handels zwischen den USA und Mexiko betrifft Produktionsgüter. NAFTA ermöglicht nicht nur den zollfreien Handel von Gütern über die Grenzen hinweg, sondern lockert auch Investitionshemmnisse für
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
die USA und Kanada in Mexiko. Die Verfechter dieses Abkommens argumentierten, er würde ein effizienteres Spezialisierungsmuster ermöglichen und es den US-Unternehmen erlauben, mit Unternehmen in den Nachbarländern effektiver zu konkurrieren, während die Gegner, insbesondere Arbeitnehmerverbände, ins Feld führten, dass NAFTA das von schlecht ausgebildeten Arbeitern erzeugte Warenangebot vergrößern und damit die Löhne der Arbeitnehmer in den betroffenen Branchen senken würde. Ökonomen warnen jedoch davor, dass regionale Handelsvereinbarungen wie NAFTA zu Ineffizienz führen können, wenn sie potenzielle Außenhandelspartner ausschließen. Sie verweisen auf die Stagnation der karibischen Länder, die von den Freihandelsbestimmungen des NAFTA ausgeschlossen waren, als warnendes Beispiel für die Gefahren, die ein regionaler Ansatz beinhaltet. Das weitreichendste Handelsübereinkommen ist die Entwicklung eines Binnenmarktes der wichtigen europäischen Länder. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die EU-Länder einen Binnenmarkt mit minimalen Hemmnissen für den internationalen Handel und die Bewegung von Produktionsfaktoren entwickelt. In einer ersten Phase fielen alle Binnenzölle und regulatorischen Barrieren für Handel, Arbeitskräfte und Kapitalflüsse. Der letzte Schritt, der in den Kapiteln über Makroökonomie analysiert wird, bestand in der Einführung einer gemeinsamen Währung, die von den meisten Mitgliedstaaten der EU übernommen wurde. Außerdem entschloss sich die EU im Zeitraum 2002–2003, zwölf neue Mitgliedstaaten in Ost- und Südeuropa aufzunehmen, darunter Polen, die Tschechische Republik und Slowenien. Die europäische Einigung ist eines der überzeugendsten Beispiele für die Kraft einer Idee – der Idee, dass ein freier, offener Handel die
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wirtschaftliche Effizienz und den technologischen Fortschritt fördert.
Abschließende Bewertung Nach dem Zweiten Weltkrieg glaubten Politiker überall auf der Welt, der Freihandel sei eine Voraussetzung für weltweiten Wohlstand. Diese Überzeugung führte zu mehreren erfolgreichen Abkommen zum Abbau von Zollschranken, wie Sie aus Abbildung 15-10 ersehen können. Die von Ökonomen und marktorientierten Politikern vertretene Philosophie des freien Handels wird von Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, Wechselkursschwankungen und in letzter Zeit auch von Anti-Globalisierungskräften immer wieder auf die Probe gestellt. Trotzdem schreiten die meisten Länder auf dem Weg zu mehr Offenheit und stärkerer Orientierung nach außen fort. Wirtschaftliche Studien zeigen im Allgemeinen, dass ein Land von niedrigeren Handelsbarrieren profitiert, wenn der Handel fließt und der Lebensstandard steigt. Doch das Bestreben zur Erhaltung offener Märkte wird durch die Veränderungen in der politischen und ökonomischen Umwelt immer wieder gefährdet. Eine der schwierigsten Herausforderungen für den freien Handel waren die Terroranschläge vom 11. September 2001. Sie erinnerten die Welt daran, dass die nationalen Grenzen nicht nur von schönen Dingen und guten Menschen überquert werden, und viele Ökonomen befürchteten, dass verstärkte Sicherheitsmaßnahmen die Grenzen blockieren und die Handelsströme eindämmen könnten. Betrachtet man die Erfahrungen der wenigen Jahre nach den Anschlägen des 11. September, erkennt man, dass der internationale Handel – mit Ausnahme des Tourismus – von den Anschlägen und den politischen Maßnahmen zur Verstärkung der Überwachung kaum beeinträchtigt wurde.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
Zusammenfassung A. Das Wesen des internationalen Handels 1.
2.
Spezialisierung, Arbeitsteilung und Handel erhöhen die Produktivität und die Konsummöglichkeiten. Außenhandel wirkt sich sowohl auf ein einzelnes Land als auch auf die Beziehungen zwischen den Ländern vorteilhaft aus. Es ist effizienter, am internationalen Handel teilzunehmen, als sich nur auf die Inlandsproduktion zu verlassen. Der internationale Handel unterscheidet sich vom Binnenhandel insofern, als er den Markt vergrößert, zwischen souveränen Staaten stattfindet und diese Länder normalerweise eine eigene Währung haben, die anhand von Wechselkursen umgetauscht werden muss. Der wichtigste Grund, warum Länder Außenhandel treiben, ist die Vielfalt. Dieses allgemeine Prinzip bedeutet im Einzelnen, dass der Außenhandel von (a) unterschiedlichen Produktionsbedingungen, (b) sinkenden Kosten (oder Skaleneffekten) und (c) unterschiedlichen Präferenzen angetrieben wird.
B. Der komparative Vorteil von Staaten 3.
4.
Wie wir gesehen haben, verdankt der internationale Handel seine Existenz verschiedenen Produktionsbedingungen oder unterschiedlichen Präferenzen. Die Grundlage des internationalen Handels ist Ricardos Prinzip des komparativen Vorteils. Laut diesem Prinzip profitiert jedes Land, wenn es sich auf Produktion und Export jener Güter spezialisiert, die es zu relativ niedrigen Kosten herstellen kann. Im Umkehrschluss profitiert ein Land auch, wenn es jene Güter importiert, deren Produktion relativ teuer ist. Dieses Prinzip gilt auch dann, wenn eine Region alle Güter mit absolut höherer oder niedrigerer Produktivität herstellt als eine andere. Solange es zwischen den Ländern Unterschiede in der relativen oder komparativen Effizienz gibt, muss jedes Land bei der Produktion einiger Güter einen komparativen Vorteil oder komparativen Nachteil aufweisen. Das Gesetz des komparativen Vorteils gibt nicht nur Aufschluss über das geografische Muster der Spezialisierung oder die Richtung der Handelsströme. Es zeigt auch, dass der Außenhandel und die aus ihm resultierende höhere Weltproduktion den Wohlstand eines
5.
Landes steigert und seine Reallöhne (oder allgemeiner das Volkseinkommen) erhöht. Importbeschränkungen und Zölle, die Arbeitnehmer oder einzelne Branchen „schützen“ sollen, verringern das Gesamteinkommen eines Landes und seine Konsummöglichkeiten. Die Prinzipien des komparativen Vorteils gelten selbst bei Einbeziehung einer Vielzahl von Gütern und Ländern. Die Güter lassen sich entlang eines Kontinuums komparativer Vorteile von relativ effizient bis relativ ineffizient anordnen. Im Fall vieler Länder können sich trilaterale oder multilaterale Handelsbeziehungen entwickeln, wobei die einzelnen Länder in ihrer Beziehung zu einem anderen Land bilaterale (oder beidseitige) Überschüsse oder Defizite aufweisen.
C. Protektionismus 6.
7.
8.
9.
Unbeschränkter Freihandel führt zu einer Angleichung der heimischen Preise handelbarer Güter an die Weltmarktpreise. Unter Freihandelsbedingungen fließen Güter von Niedrigpreis- zu Hochpreismärkten „stromaufwärts“. Die Verhängung eines Zolls erhöht die heimischen Preise für importierte Waren, was zu einem Konsumrückgang und einem Rückgang der Importe bei gleichzeitigem Anstieg der heimischen Produktion führt. Importbeschränkungen haben ganz ähnliche Auswirkungen und können zusätzlich zu einer Verringerung der Staatseinnahmen führen. Zölle bewirken eine volkswirtschaftliche Verschwendung. Die Wirtschaft leidet durch dem verringerten inländischen Konsum und die Verschwendung von Ressourcen für Güter, die keinen komparativen Vorteil bieten. Diese Verluste sind im Allgemeinen größer als die staatlichen Einnahmen durch den Zoll. Argumente zugunsten der Verhängung von Zöllen stellen zumeist auf konkrete Vorteile für spezielle Interessensgruppen ab und halten keiner volkswirtschaftlichen Analyse stand. Es folgen drei Argumente, die auch angesichts von Kritik bestehen können: (a) Die Terms of Trade oder ein Optimalzoll können die Realeinkommen eines großen Landes auf Kosten seiner Handelspartner prinzipiell anheben. (b) In einer Situation der Arbeitslosigkeit können Zölle eine Wirtschaft in Richtung eines höheren Beschäftigungsstandes bewegen; eine gezielte
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
Geld- oder Fiskalpolitik könnte dasselbe Beschäftigungsziel jedoch mit geringeren Effizienzverlusten erreichen als diese so genannte „Beggar-Thy-Neighbor“-Politik. (c) Bisweilen benötigen „junge Branchen“ vorübergehend Schutz, damit sie einen langfristigen komparativen Vorteil entwickeln können.
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10. Das Prinzip des komparativen Vorteils muss eingeschränkt werden, wenn Märkte aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Wechselkursstörungen nicht mehr funktionieren. Außerdem können einzelne Sektoren oder Faktoren durch den Außenhandel beeinträchtigt werden, wenn ihre Erträge durch Importe sinken.
Begriffe zur Wiederholung Die Prinzipien internationaler Handelsbeziehungen
Volkswirtschaftliche Aspekte des Protektionismus
Absoluter und komparativer Vorteil (oder Nachteil) Prinzip des komparativen Vorteils Wirtschaftliche Vorteile des Außenhandels Trilateraler und multilateraler Handel Welt- vs. nationale Produktionsmöglichkeitskurve Konsum- versus Produktionsmöglichkeiten durch Handel Terms of Trade
Preisgleichgewicht mit und ohne Außenhandel Zoll, Einfuhrbeschränkung, nichttarifäre Handelshemmnisse Auswirkungen von Zöllen auf Preise, Importe und heimische Produktion Merkantilistische Argumente, Argumente gegen billige ausländische Arbeitskräfte, Vergeltungsmaßnahmen Ausnahmen Optimalzoll, Arbeitslosigkeit und junge Branchen WTO und Außenhandelsgespräche
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Theorie des komparativen Vorteils wurde von David Ricardo in Principles of Political Economy and Taxation (1819, verschiedene Verlage; deutsch: Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, Metropolis, Marburg, 2005) beschrieben und diskutiert. Ricardos Theorie wurde auf verschiedenen Websites veröffentlicht, darunter www.econlib.org/library/ Ricardo/ricP.html. Eine klassische Wiedergabe der Diskussion über den Freihandel findet sich in Jagdish Bhagwati, Protectionism (MIT Press, Cambridge, Mass., 1990; deutsch: Protektionismus und Weltwirtschaft, Frankfurt/Main 1990). Einen interessanten Überblick über die Vor- und Nachteile der Globalisierung, der den Freihandel im Wesentlichen unterstützt, bieten Gary Burtless, Robert Z. Lawrence, Robert E. Litan und Robert J. Shapiro in Globaphobia: Confronting Fears about Trade (Brookings Institution Press, Washington, D.C., 1998). Ausgezeichnete Artikel zu Themen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen finden sich im Economist, auch auf der Website unter www.economist.com.
Websites Die Weltbank (www.worldbank.org) bietet auf ihrer Site Informationen über ihre Programme und Publikationen; dasselbe gilt für den Internationalen Währungsfonds oder IWF (www.imf.org). Die Website der Vereinten Nationen enthält Links zu den meisten internationalen Institutionen und ihren Datenbanken (www.unsystem.org). Eine weitere gute Informationsquelle über Länder mit hohem Einkommen bietet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unter www.oecd.org. Außenhandelsdaten der USA sind unter www.census.gov zu finden. Die statistischen Zentralämter vieler Länder sind eine reichhaltige Quelle von Informationen. Eine Sammlung staatlicher Agenturen findet sich unter www.census.gov/main/www/stat_int.html.
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Teil 4
Übungen 1.
2.
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Erklären Sie, ob die folgenden Aussagen richtig sind, und begründen Sie Ihre Antwort. Sollte eine Aussage falsch sein, stellen Sie sie bitte richtig. a. „Wir Mexikaner werden mit diesem Koloss im Norden nie gewinnträchtig konkurrieren können. Die Fabriken dort sind zu effizient, es gibt zu viele Computer und Maschinen, und die Ausbildung der Leute ist einfach zu gut. Wir brauchen Zölle, oder wir werden nichts mehr exportieren können.“ b. „Sollten amerikanische Arbeitnehmer dem Wettbewerb durch billige mexikanische Arbeitskräfte ungeschützt ausgesetzt werden, so ist mit einem drastischen Rückgang der Reallöhne in den USA zu rechnen.“ c. „Das Prinzip des komparativen Vorteils gilt ebenso für Haushalte, Städte und Staaten wie für Nationen und Kontinente.“ d. Zitat von Ross Perot auf Seite 442: „Philosophisch betrachtet ist [NAFTA] ein wunderbarer Gedanke ...“ Zeichnen Sie Abbildung 15-1 und die zugehörige Tabelle noch einmal für die Produktionsdaten Europas. Nehmen Sie dabei an, Europa verfüge über 600 Einheiten Arbeit, und die Arbeitsproduktivität entspräche jener in Tabelle 15-2. Was geschähe im Fall einer Änderung der Daten in Tabelle 15-2 von (1, 2; 3, 4) zu (1, 2; 2, 4)? Weisen Sie nach, dass dadurch jeder Außenhandel verhindert würde. Erklären Sie anhand dessen das Sprichwort „Vive la différence!“ („Es lebe der Unterschied!“). Warum fließen die größten Außenhandelsgewinne in kleine Länder, deren Binnenpreise sich ohne Außenhandel von den Weltmarktpreisen stark unterscheiden? Zusatzfrage zu Übung 3: Nehmen wir an, dass die Daten in Tabelle 15-2 von einem jüngst industrialisierten Land (newly industrialized country – NIC) und den USA stammen. Welche Handelsgewinne wären zwischen den beiden Ländern zu erwarten? Nehmen wir nun an, dass das NIC amerikanische Technologie übernimmt und über Produktionsmöglichkeiten verfügt, die jenen der amerikanischen Spalte in Tabelle 15-2 entsprechen. Welche Auswirkungen ergäben sich für den internationalen Handel? Was geschähe im Hinblick auf den Lebensstandard und die Reallöhne des NIC? Was
5.
6.
geschähe im Hinblick auf den amerikanischen Lebensstandard? Können wir daraus etwas bezüglich der Auswirkungen konvergierender Volkswirtschaften auf Handel und Wohlstand lernen? Ein US-Senator schrieb folgende Worte: „Der internationale Handel soll die Einkommen aller beteiligten Nationen anheben – das jedenfalls haben uns Adam Smith und David Ricardo gelehrt. Wenn nun unser wirtschaftlicher Niedergang durch das Wirtschaftswachstum unserer Konkurrenten verursacht wurde, haben uns offensichtlich diese Philosophen – und die gesamte Disziplin der Volkswirtschaft, die sie begründet haben – 200 Jahre lang zum Narren gehalten.“ Erklären Sie, warum der erste Satz richtig ist. Und erklären Sie auch, warum der zweite keine logische Schlussfolgerung aus dem ersten ist. Können Sie ein Beispiel dafür anführen, wie das Wirtschaftswachstum in Land J den Lebensstandard in Land A senken könnte? (Ein kleiner Hinweis: Die Antwort auf Frage 4 ist für die Aufdeckung des Fehlers im obigen Zitat sehr hilfreich.) Die modernen Protektionisten führen zum Schutz heimischer Industrien vor der ausländischen Konkurrenz folgende Argumente an: a. In gewissen Situationen kann ein Land seinen Lebensstandard durch protektionistische Maßnahmen anheben, sofern kein anderes Land mit Vergeltung reagiert. b. Die Löhne in Korea betragen nur ein Zehntel der US-amerikanischen Löhne. Wenn die USA die Importe koreanischer Hersteller nicht drosseln, müssen sie in Zukunft aufgrund der hereindrängenden Konkurrenz von ostasiatischen Niedriglohnarbeitern mit einem steigenden Außenhandelsdefizit rechnen. c. Es könnte für ein Land durchaus akzeptabel erscheinen, einen gewissen Rückgang seines Lebensstandards in Kauf zu nehmen, um einzelne Branchen, die es für die nationale Sicherheit als wesentlich betrachtet, beispielsweise Supercomputer oder Erdöl, vor ausländischem Wettbewerb zu schützen. d. Für diejenigen unter Ihnen, die in Makroökonomie bewandert sind: Falls unflexible Löhne und Preise oder ein ungünstiger Wechselkurs zu Rezession und hoher Arbeitslosigkeit führen, könnten Zölle die
Kapitel 15 Komparativer Vorteil und Protektionismus
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Produktion erhöhen und die Arbeitslosigkeit senken. Setzen Sie jede Aussage zu einem der traditionellen Argumente zur Verteidigung des Protektionismus in Beziehung. Geben Sie an, unter welchen Bedingungen sie gilt und ob Sie ihr zustimmen. Die USA verhängen Importbeschränkungen auf Produkte wie Stahl, Autos, Textilien und vieles mehr. Schätzungen von Ökonomen zufolge würde der Finanzminister allein durch die Versteigerung der Kontingentrechte jährlich US-$ 10 Milliarden verdienen. Analysieren Sie anhand von Abbildung 15-9 die wirtschaftlichen Aspekte von Einfuhrbeschränkungen wie folgt: Nehmen Sie an, dass der Staat eine Importquote von 100 Einheiten verhängt und die zugehörigen Kontingente auf der Grundlage der letztjährigen Importe unter den Lieferländern verteilt. Wo lägen demnach der Gleichgewichtspreis und die Gleichgewichtsmenge für Bekleidung? Wie hoch wären die Effizienzverluste aufgrund der Kontingentierungen? Wem käme das Ertragsdreieck B zugute? Welche Wirkung hätte eine Versteigerung der Importkontingente?
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KAPITEL 16 Steuern und Staatsausgaben
Der Geist eines Volkes, sein kulturelles Niveau, seine Sozialstruktur, die Leistungen, die seine Politik vollbringt, all das und noch viel mehr steht in seiner Steuergeschichte geschrieben. ... Wer diese Botschaft versteht, vernimmt das Donnergrollen der Weltgeschichte hier deutlicher als irgendwo sonst. Joseph Schumpeter
Wenn wir eine Marktwirtschaft betrachten, die alle Arten von Produkten von Äpfeln und Booten bis hin zu Röntgengeräten und Zithern anbietet, sind wir versucht zu glauben, dass Märkte nicht viel mehr bräuchten als gut ausgebildete Arbeitskräfte und viel Kapital. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass auf sich selbst gestellte Märkte nicht erfolgreich funktionieren. Eine erfolgreiche Marktwirtschaft benötigt zumindest eine Polizei, die für physische Sicherheit sorgt, ein unabhängiges Justizwesen zur Durchsetzung von Verträgen, Regulierungsmechanismen zur Verhinderung von Missbrauch durch Monopole und von tödlicher Umweltverschmutzung, Schulen zur Ausbildung der Jugend und ein öffentliches Gesundheitssystem, das übertragbare Krankheiten von den Bürgern fernhält. Wo genau die Grenze zwischen staatlichen und privaten Aktivitäten zu ziehen ist, ist eine schwierige und umstrittene Frage, und heute wird intensiv über die angemessene Rolle des Staates in Bildung, Gesundheitswesen und Einkommensunterstützung diskutiert. Wir als Ökonomen wollen über diese voreingenommenen Diskussionen hinausblicken und die Funktionen des Staates analysieren – den komparativen Vorteil des Staates im gemischten Wirtschaftssystem. Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit der Rolle des Staates in einem entwickelten Industrieland. Welche vernünftigen Ziele kann sich die Wirtschaftspolitik in einer Marktwirtschaft setzen, und welche Instrumentarien stehen ihr zur Verfügung, um sie zu verfolgen? Anschließend wollen wir in diesem Kapitel staatliche Ausgaben und Besteuerung unter die Lupe nehmen. In späteren Kapiteln werden wir die Werkzeuge betrachten, die der Regierung zur Ankurbelung des Wettbewerbs zur Verfügung stehen, außerdem Fragen des Umweltschutzes und der Bekämpfung der Armut. Diese Themen zählen zu den wichtigsten Anwendungsgebieten der Mikroökonomie. Hier setzen wir unsere ökonomischen Werkzeuge zur Analyse vieler der großen wirtschaftlichen Probleme ein, mit denen moderne Gesellschaften konfrontiert sind.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
A. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft Die Diskussionen über die Rolle des Staates werden mit kämpferischen Parolen wie „Keine neuen Steuern“ oder „Nulldefizit jetzt“ oft auf dem Niveau von Autoaufklebern geführt. Diese vereinfachenden Phrasen sind nicht geeignet, die staatliche Wirtschaftspolitik mit ihrem Facettenreichtum zu erfassen. Nehmen wir an, die Bevölkerung beschließt, mehr Ressourcen in die Verbesserung des staatlichen Gesundheitswesens zu investieren, die Luftstreitkräfte des Landes zu mobilisieren, um den ethnischen Säuberungen im Kosovo einen Riegel vorzuschieben, den Schutz unserer kostbaren Umwelt für künftige Generationen zur nationalen Priorität zu machen, zusätzliche Mittel in die Bildung der Jugend zu investieren oder in einer tiefen Rezession die Arbeitslosigkeit zu verringern. Eine Marktwirtschaft kann solche Probleme nicht automatisch lösen. Jedes dieser Ziele lässt sich erreichen, aber nur, wenn der Staat seine Steuer- und Ausgabenpolitik oder seine Regulierungsmaßnahmen entsprechend ändert. In der Steuerpolitik ist das Donnergrollen der Weltgeschichte deshalb so deutlich zu hören, weil Steuern und staatliche Ausgaben so überaus wirkungsvolle Instrumente zur Herbeiführung eines gesellschaftlichen Wandels sind.
Die Instrumente staatlicher Wirtschaftspolitik In einer modernen industriellen Wirtschaft bleibt kein Aspekt des wirtschaftlichen Lebens völlig unberührt von staatlichen Eingriffen. Dabei sind drei wesentliche Methoden oder Werkzeuge zu unterscheiden, die Staaten zur Verfügung stehen, wenn sie auf privatwirtschaftliche Aktivitäten Einfluss nehmen wollen. Diese sind:
Teil 4
1. Steuern auf Einkommen sowie auf Güter und Dienstleistungen. Diese Steuern verringern die Privateinkommen und dadurch auch die Privatausgaben (etwa für Autos oder Restaurantbesuche), erschließen dafür jedoch Ressourcen für öffentliche Ausgaben (für Raketen oder für Mittagessen an Schulen). Das Steuersystem eines Staates wird auch gegen bestimmte unerwünschte Aktivitäten (etwa das Zigarettenrauchen) eingesetzt, die stärker besteuert werden, während andere Bereiche (beispielsweise der Erwerb von Wohnungseigentum) öffentlich gefördert oder sogar subventioniert werden. 2. Öffentliche Ausgaben für bestimmte Güter und Dienstleistungen (wie Straßen, Bildung oder Polizei) und Transferzahlungen (wie Sozialversicherungsleistungen und Arbeitslosengeld), die einzelnen Staatsbürgern ein Einkommen verschaffen. 3. Regulierungs- oder staatliche Aufsichtsmaßnahmen, die die Staatsbürger dazu anhalten, bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten auszuüben oder zu unterlassen. Beispiele sind unter anderem Regeln, die festlegen, wie stark die Unternehmen die Umwelt verschmutzen dürfen, die Funkfrequenzen aufteilen oder Tests zur Feststellung der Sicherheit neuer Medikamente vorschreiben.
Trends im Umfang des öffentlichen Sektors Als Schumpeter vom Donnergrollen der Steuerpolitik schrieb, meinte er die heftigen Auseinandersetzungen um die staatlichen Budgets und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft. Seit mehr als einem Jahrhundert verzeichnen wir in allen industrialisierten Wirtschaftssystemen eine Steigerung der Volkseinkommen und der Produktionsleistung. Gleichzeitig wuchsen in den meisten Ländern die staatlichen Ausgaben sogar noch schneller als die Wirtschaft als Ganzes. Not-
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
zeiten – wirtschaftliche Depression, Krieg oder Sorgen mit sozialen Problemen wie Armut oder Umweltverschmutzung – bewirkten immer eine Zunahme staatlicher Aktivität. War die Krise schließlich überwunden, erreichte der Umfang staatlicher Regulierungen und Ausgaben nie mehr das alte, niedrigere Vorkrisenniveau. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg machten Bundes-, Landes- und Kommunalausgaben bzw. -steuern kaum mehr als ein Zehntel des gesamten Volkseinkommens der USA aus. Die Anstrengungen des Zweiten Weltkriegs zwangen die USA, die Staatsausgaben auf rund die Hälfte der bereits stark angewachsenen gesamten Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Im Jahre 2002 belief sich der Anteil der öffentlichen Ausgaben aller Verwaltungsebenen am Bruttoinlandsprodukt – die sogenannte Staatsquote – auf etwa 30 Prozent. Abbildung 16-1 zeigt die Steuer- und Ausgabentrends für die gesamte öffentliche Verwaltung in den USA. Die ansteigenden Kurven verdeutlichen, dass sich der Anteil der
Steuern und öffentlichen Ausgaben im Verlauf des letzten Jahrhunderts kontinuierlich erhöht hat. Die Erhöhung der staatlichen Ausgaben ging nicht ohne Widerstand vonstatten. Alle neuen Ausgaben und alle neuen Steuerprogramme lösten heftige Reaktionen aus. Als 1935 zum Beispiel die Sozialversicherung eingeführt wurde, wurde sie von ihren Gegnern als gefährlicher Vorbote des Sozialismus diffamiert. Doch mit der Zeit tritt ein politischer Gewöhnungseffekt ein. Das „sozialistische“ Sozialversicherungssystem wird heute von Politikern jeglicher Couleur als wesentlicher Bestandteil des „Sozialvertrags“ zwischen den Generationen verteidigt. Die radikale Doktrin einer Ära wird bald zum überall nachgebeteten Evangelium der nächsten. Abbildung 16-2 zeigt, wie die als prozentueller Anteil am Bruttoinlandsprodukt ausgedrückten staatlichen Ausgaben von Land zu Land variieren. Reiche Länder tendieren dazu, einen größeren Anteil ihres BIP zu besteuern und für staatlichen Ausgaben heran-
Staatsausgaben und Steuern in der USA, 1902–2002
Staatsausgaben und Steuern (in % des BIP)
45 40 Zweiter Weltkrieg 35
Staatsausgaben
30 Steuern
25 Erster Weltkrieg 20 15 10 5 0 1900
1910
1920
1930
1940
1950 Jahr
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Abbildung 16-1: Der staatliche Anteil an der US-Wirtschaft ist stark gestiegen Zu den öffentlichen Ausgaben zählen solche für Güter und Dienstleistungen sowie Transferprogramme auf gesamtstaatlicher, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene. Bitte beachten Sie, wie rasch die Ausgaben in Kriegszeiten jeweils angestiegen sind, ohne jedoch nach dem Krieg wieder auf ihr Vorkriegsniveau zurückzukehren. Die Differenz zwischen Ausgaben und Steuereinnahmen ist das staatliche Haushaltsdefizit oder der Haushaltsüberschuss. Quelle: US-Handelsministerium
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
zuziehen als arme Länder. Lässt sich ein allgemeines Muster unter den wohlhabenden Ländern erkennen? Leider gibt es kein Gesetz, mit dessen Hilfe sich eine Beziehung zwischen der Steuerbelastung und dem Wohlstand der Bürger in diesen Ländern herstellen ließe und das dabei der Verschiedenheit der jeweiligen steuerlichen Situation Rechnung trüge.1 So sind beispielsweise das Bildungs- und das Gesundheitswesen, zwei der wichtigsten Positionen unter den Staatsausgaben, in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich organisiert. Schweden Frankreich Italien Deutschlad Großbritanien Polen USA Japan Iran Südkorea Philippinen Sierra Leone Dominikanische Republik 0
10 20 30 40 50 Staatsausgaben, 1999 (in % des BIP)
60
Abbildung 16-2: In einkommensstarken Ländern sind die Staatsausgaben besonders hoch Arme Länder können nur geringfügige Steuereinnahmen verbuchen und ebenso nur einen kleinen Teil ihres Volkseinkommens ausgeben. Mit zunehmendem Wohlstand steigt die Nachfrage nach öffentlichen Gütern und einer umverteilend wirkenden Besteuerung, um einkommensschwache Familien zu unterstützen. Quelle: OECD 1 Die Abbildungen 16-1 und 16-2 zeigen die staatlichen Gesamtausgaben. Solche Ausgaben umfassen Käufe von Gütern und Dienstleistungen (wie Raketen und Bildung) sowie Transferzahlungen (wie Sozialversicherungszahlungen und Zinsen auf die Staatsschulden). Käufe von Gütern und Dienstleistungen werden als „erschöpfend“ bezeichnet, weil sie direkte Ansprüche an die Produktion eines Landes stellen; Transferzahlungen hingegen erhöhen das Einkommen der Menschen und ermöglichen es dem Einzelnen, Güter und Dienstleistungen zu kaufen, wobei sie aber die Menge der Güter und Dienstleistungen, die für den privaten Konsum und für Investitionszwecke zur Verfügung stehen, nicht unmittelbar verringern.
Teil 4
Die Zunahme staatlicher Eingriffe und Regulierungsmaßnahmen Neben der rapiden Zunahme von Staatsausgaben und Steueraufkommen war auch eine enorme Ausweitung der gesetzlichen Bestimmungen und staatlichen Regulierungsmaßnahmen für wirtschaftliche Aktivitäten zu verzeichnen. Die amerikanische Wirtschaft des 19. Jahrhunderts kam von allen modernen Gesellschaften dem Extrem der reinen Laissezfaire-Gesellschaft am nächsten, jenem System, von dem der britische Historiker Thomas Carlyle gesagt hat, es sei nichts weiter als eine Kombination aus „Anarchie und Polizei“. Diese politische Philosophie ließ den Menschen große persönliche Freiheit bei der Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Interessen und führte zu einem Jahrhundert rapiden materiellen Fortschritts. Doch Kritiker sahen in diesem Laissez-faire-Idyll gravierende Mängel. So berichten Historiker über periodisch auftretende Wirtschaftskrisen, extreme Armut und Ungleichheit, tief sitzende rassische Diskriminierung und die Vergiftung von Wasser, Boden und Luft durch rücksichtslose Umweltverschmutzung. Skandalblätter forderten Seite an Seite mit progressiven Kräften, dem Kapitalismus Zügel anzulegen, um diese ungezähmte Bestie vielleicht schließlich in eine humanere Richtung zu treiben. Mit Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wandten sich die Vereinigten Staaten nach und nach von der Vorstellung ab, dass „jene Regierung die beste ist, welche am wenigsten regiert“. Die Präsidenten Theodore Roosevelt, Woodrow Wilson, Franklin D. Roosevelt und Lyndon Johnson erweiterten – allerdings entgegen heftiger Widerstände – die staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben und führten neue Regulierungsmaßnahmen und Steuerinstrumente zur Bekämpfung der Missstände ihrer Zeit ein. Die verfassungsmäßigen Befugnisse des Staates wurden weiter interpretiert und dazu eingesetzt, um „das öffentliche Interesse zu
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
wahren“ und das Wirtschaftsleben einer „Kontrolle zu unterwerfen“. Im Jahre 1887 kam es zur Gründung der Interstate Commerce Commission (ICC), die den Eisenbahnverkehr über die bundesstaatlichen Grenzen hinweg regelte. Schon bald danach sorgten der Sherman Antitrust Act und andere Gesetze dafür, dass monopolistischen Zusammenschlüssen zur „Beschränkung des Handels“ der Kampf angesagt wurde. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche Branchen einer staatlichen Wirtschaftslenkung unterworfen, was bedeutete, dass der Staat Preise, Marktzutritts- und -austrittsbedingungen sowie Sicherheitsstandards festlegte. Seit damals gehören Fluglinien, LKW-Verkehr sowie Boots- und Schiffsverkehr, Strom-, Gas- und Telefongesellschaften, die Finanzmärkte sowie Erdöl und Erdgas mit zugehörigen Pipelines zu den regulierten Branchen. Neben der Regulierung von Preisen und allgemeinen Standards des Geschäftslebens versuchte der Staat auch, Gesundheit und Sicherheit der Bürger unter seine Ägide zu nehmen, indem er laufend strengere Vorschriften für den Sozialbereich erließ. Nachdem zu Beginn des Jahrhunderts mehrere Skandale ans Licht gekommen waren, wurden gesetzliche Bestimmungen über die Reinhaltung von Lebens- und Arzneimitteln erlassen. In den sechziger und siebziger Jahren verabschiedete der Kongress eine Reihe von Gesetzen über die Sicherheit im Bergbau und schließlich über die Arbeitsplatzsicherheit im Allgemeinen. Er sorgte für die Eindämmung von Luft- und Wasserverschmutzung, genehmigte Sicherheitsstandards für Autos und Verbrauchsgüter und regelte den Tagebau ebenso wie den Umgang mit Kernkraft und Sondermüll. In den letzten beiden Jahrzehnten ebbte die Flut der staatlichen Wirtschaftsbestimmungen jedoch langsam ab. Ökonomen argumentierten überzeugend, dass viele Wirtschaftsbestimmungen den Wettbewerb behinderten und die Preise hoch hielten, anstatt sie zu senken. Tatsächlich wurde die erste
bundesstaatliche Regulierungsbehörde, die Interstate Commerce Commission, kurz nach dem 100. Jahrestag ihrer Gründung abgeschafft. Im Sozialbereich betonten die Ökonomen, müsse man dafür sorgen, dass die Vorschriften mehr Nutzen stifteten als Kosten mit sich brächten. Dennoch ist heute die Rückkehr zu den alten Laissez-faire-Zeiten sehr unwahrscheinlich. Regierungsprogramme haben die ureigene Natur des Kapitalismus verändert. Privateigentum ist immer weniger privat. Das freie Unternehmertum verliert zunehmend seine Freiheit. Unumkehrbare Entwicklungen sind Teil der Geschichte.
Funktionen des Staates Wir können uns nun langsam ein Bild davon machen, wie der Staat die Wirtschaft lenkt und sich wie das Wechselspiel zwischen Staat und Wirtschaft vollzieht. Welche sinnvollen wirtschaftlichen Ziele können mit staatlichen Eingriffen in eine moderne Mischwirtschaft verfolgt werden? Untersuchen wir einmal die vier wichtigsten Funktionen staatlicher Aktivitäten: 1. Verbesserung der volkswirtschaftlichen Effizienz 2. Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichheit 3. Stabilisierung der Wirtschaft durch wirtschaftspolitische Maßnahmen 4. Formulierung und Umsetzung internationaler Wirtschaftspolitik
Verbesserung der wirtschaftlichen Effizienz Ein zentrales wirtschaftspolitisches Ziel des Staates besteht darin, auf eine sozial wünschenswerte Ressourcenallokation hinzuwirken. Dies ist die mikroökonomische Seite der staatlichen Politik; sie konzentriert sich auf
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
das Was und das Wie des Wirtschaftslebens. Mikroökonomische wirtschaftspolitische Maßnahmen nehmen in verschiedenen Ländern jeweils eine unterschiedliche Ausprägung an, je nach den historischen Gegebenheiten und den vorherrschenden politischen Philosophien. Manche Länder setzen auf einen Laissez-faire-Ansatz des „Hände weg“ und überlassen Entscheidungen überwiegend dem Markt. Andere Länder neigen zu drastischen staatlichen Regulierungsmaßnahmen oder sogar zum Betrieb staatlicher Unternehmen, deren Produktionsentscheidungen von staatlichen Planern getroffen werden. Die USA sind grundsätzlich eine Marktwirtschaft. Gleich um welche mikroökonomische Frage es auch immer geht, sind die meisten Leute jedenfalls der Ansicht, dass der Markt das anstehende wirtschaftliche Problem schon lösen wird. Doch bisweilen sprechen auch gute Gründe dafür, dem Staat in Allokationsentscheidungen Vorrang vor Angebot und Nachfrage auf dem Markt einzuräumen. Die Grenzen der unsichtbaren Hand. In früheren Kapiteln wurde dargelegt, wie die unsichtbare Hand des vollständigen Wettbewerbs zu einer effizienten Ressourcenallokation führt. Dennoch gilt dieses Ergebnis nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen. Alle Wirtschaftsgüter müssten demnach von Unternehmen unter vollständigen Wettbewerbsbedingungen vollkommen effizient erzeugt werden. Die Güter müssten sich wie eine aufgeschnittene Torte verhalten: Je mehr Stücke ich esse, umso weniger kannst du davon konsumieren. Es dürften auch keine Externalitäten wie etwa die Luftverschmutzung auftreten. Konsumenten und Unternehmen müssten uneingeschränkt über die Preise und Merkmale der von ihnen gekauften und verkauften Güter informiert sein. Träfen alle diese Idealbedingungen zu, könnte die unsichtbare Hand eine vollkommen effiziente Herstellung und Verteilung der Produktionsleistung eines Landes bewir-
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ken, und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zur Förderung der Effizienz wären tatsächlich verzichtbar. Doch selbst in dem genannten hypothetischen Fall und wenn es bei funktionierendem Preismechanismus eine Arbeitsteilung zwischen Menschen und Regionen gäbe, käme dem Staat eine bedeutende Rolle zu. Gerichte und Polizei wären weiterhin nötig, um über die Erfüllung von Verträgen zu wachen, Betrug und Gewalt zu vereiteln, Diebstähle und Aggressionen von außen zu verhindern und die gesetzlich gewährleisteten Eigentumsrechte zu schützen. Unvermeidliche Interdependenzen. Ein Laissez-faire-System mit minimaler Einmischung des Staates könnte sich durchaus bewähren, gäbe es irgendwo auf der Welt die oben beschriebenen hypothetischen Bedingungen. Tatsächlich aber tritt jede einzelne der genannten Idealbedingungen in allen menschlichen Gesellschaften nur teilweise auf. Der größte Teil der Produktion findet in Einheiten statt, die für einen wirklich perfekten Wettbewerb zu groß sind. Staatlich nicht regulierte Betriebe tendieren dazu, Luft, Wasser und Erdreich zu verschmutzen. Wenn ansteckende Krankheiten die Bevölkerung bedrohen, sind die privaten Märkte nur wenig motiviert, wirksame öffentliche Gesundheitsprogramme dagegen zu entwickeln. Konsumenten sind über die Merkmale der Güter, die sie kaufen, oft nur sehr mangelhaft informiert. Der Markt ist nicht ideal. Er kann versagen. Man könnte auch sagen, der Staat setzt seine Waffen häufig ein, um die folgenden Formen von gravierendem Marktversagen zu korrigieren: • Zusammenbruch des vollständigen Wettbewerbs. Zur Verhinderung eines Kollusionsmonopols oder -oligopols, bei dem Konkurrenz vermieden oder andere Unternehmen vom Markt verdrängt werden sollen, kann der Staat zu Antikartell- oder Regulierungsmaßnahmen greifen.
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
• Externalitäten und öffentliche Güter. Ein unregulierter Markt produziert möglicherweise zu viel Luftverschmutzung und investiert zu wenig in Volksgesundheit und Bildung. Der Staat kann seinen Einfluss nutzen, um schädliche Externalitäten zu kontrollieren, oder er kann Programme in den Bereichen Wissenschaft und öffentliche Gesundheit finanzieren. Der Staat könnte Steuern auf Aktivitäten erheben, die externe öffentliche Kosten verursachen (wie etwa das Rauchen), oder Aktivitäten unterstützen, die als sozial wertvoll gelten (etwa Bildung und pränatale Diagnose). • Unzureichende Information. Unregulierte Märkte bieten Konsumenten oft nur mangelhafte Informationen, die nicht ausreichen, um gut informiert Entscheidungen treffen zu können. In früheren Zeiten gingen Krämer mit Schlangenölarzneien hausieren, die ihre Käufer genauso leicht unter die Erde bringen wie heilen konnten. Das führte zum Erlass von Lebens- und Arzneimittelbestimmungen, die den Pharmaunternehmen vorschreiben, umfassende Daten über Sicherheit und Wirksamkeit neuer Arzneimittel bekannt zu geben, bevor sie zum Verkauf zugelassen werden. Der Staat verlangt von den Unternehmen auch, Informationen über die Energieeffizienz wichtiger Haushaltsgeräte wie Kühlschränke und Wasserkessel bereitzustellen. Außerdem kann der Staat seine auf der Höhe seiner Ausgaben beruhende Marktmacht einsetzen und selbst die benötigten Informationen einholen und weitergeben, wie er dies bei Straßenverkehrsunfall- und Sicherheitsdaten übrigens auch tut. Offensichtlich ist die Palette der staatlichen Aufgaben im Zusammenhang mit möglichen Allokationsproblemen groß.
Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichheit Auch wenn die unsichtbare Hand tatsächlich funktioniert und enorm effizient ist, kann sie durchaus eine sehr ungleichmäßige Einkommensverteilung bewirken. Unter Laissez-faire-Bedingungen wird der Reichtum oder die Armut der Menschen durch ihren Geburtsort, ihr ererbtes Vermögen, ihre Talente und ihren Fleiß, durch das Glück, das sie bei Ölbohrungen haben, oder durch ihr Geschlecht oder ihre Hautfarbe bestimmt. Manchen Leuten erscheint die Einkommensverteilung, die sich aus dem unregulierten Wettbewerb ergibt, ebenso willkürlich wie die von Darwin beschriebene Verteilung von Nahrung und Beute im Dschungel. In den ärmsten Gesellschaften gibt es sehr wenig überschüssiges Einkommen, das man den Bessergestellten wegnehmen und den weniger vom Glück Begünstigten zukommen lassen könnte. Aber je reicher eine Gesellschaft wird, desto mehr Ressourcen kann sie dazu verwenden, den Armen gewisse Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen; die so herbeigeführte Einkommensumverteilung ist die zweite wesentliche wirtschaftliche Funktion des Staates. Die Sozialstaaten Nordamerikas und Westeuropas geben heute einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen dafür aus, Mindeststandards im Gesundheitswesen, in der Ernährung und bei der Einkommenshöhe zu gewährleisten. Einkommensumverteilung erfolgt zumeist über eine gezielte Steuer- und Ausgabenpolitik, obwohl bisweilen auch die staatliche Regulierungsfunktion eine gewisse Rolle spielt. Die meisten wohlhabenden Staaten sorgen heute dafür, dass Kinder nicht aufgrund der wirtschaftlichen Situation ihrer Eltern hungern, dass Arme nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden, nur weil ihnen das Geld für die entsprechende medizinische Versorgung fehlt, und dass die Alten ihre letzten Jahre mit einem Mindesteinkommen ungestört verbringen können. In den USA kommt der Staat diesen Aufgaben in erster
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Linie durch Sozialleistungen wie Lebensmittelmarken, das Programm Medicaid und das Sozialversicherungssystem nach. Doch auch die Einstellung zur Umverteilung verändert sich. Angesichts steigender Steuerbelastungen und staatlicher Budgetdefizite sowie steigender Kosten von Transferleistungen sträuben sich die Steuerzahler zunehmend gegen Umverteilungsprogramme und progressive Besteuerung. Schweden, wo der Wohlfahrtsstaat immer noch hoch entwickelt ist und das seinen Bürgern 63 Prozent ihrer Einkommen in Form von Steuern abverlangt, kämpft heute um die Eindämmung der Ausgaben bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der wichtigsten Umverteilungsprogramme.
Wirtschaftspolitische Stabilisierungsmaßnahmen Der Kapitalismus der frühen Tage war überaus anfällig für finanzielle Panikattacken sowie Inflations- und Depressionsanfälle, und die traumatische Erinnerung an die Große Depression der dreißiger Jahre ist unter älteren Amerikanern nach wie vor lebendig. Heute ist der Staat dafür verantwortlich, dass sich eine wirtschaftliche Krisensituation mit derart weitreichenden negativen Folgen nicht wiederholt. Als Instrumente stehen ihm dazu eine entsprechende Geld- und Fiskalpolitik sowie eine strikte Regulierung des Finanzsystems zur Verfügung. Darüber hinaus bemüht sich der Staat, Höhen und Tiefen der Konjunkturzyklen auszugleichen, um das Auftreten von Massenarbeitslosigkeit im konjunkturellen Tief und von um sich greifender Inflation im konjunkturellen Hoch zu verhindern. In letzter Zeit versuchen die Staaten, wirtschaftspolitische Maßnahmen umzusetzen, die für ein langfristig anhaltendes Wirtschaftswachstum sorgen sollen. Mit diesen Themenstellungen beschäftigen sich die Kapitel über Makroökonomie sehr ausführlich.
Teil 4
Internationale Wirtschaftspolitik Wie wir im Überblick des letzten Kapitels über den internationalen Handel gesehen haben, beteiligen sich die USA in den letzten Jahren immer stärker an der globalen Wirtschaft. Der Staat ist inzwischen ein maßgeblicher Vertreter der nationalen Interessen auf der internationalen Bühne sowie bei der Aushandlung von Verträgen mit anderen Ländern über verschiedenste Fragestellungen. Dabei lassen sich die wirtschaftspolitischen Themen in vier Hauptgebiete einteilen: • Abbau von Handelsbeschränkungen. Ein wesentlicher Bereich der Wirtschaftspolitik beschäftigt sich mit der Harmonisierung von Gesetzen und mit dem Abbau von Handelsschranken, um eine vorteilhafte internationale Spezialisierung und Arbeitsteilung zu fördern. In den letzten Jahren haben die Länder eine Reihe von Handelsvereinbarungen zur Senkung von Zöllen und anderen Handelsschranken für landwirtschaftliche Produkte, Produktionsgüter und Dienstleistungen ausgehandelt. Derartige Abkommen rufen auch sehr viel Widerstand hervor. Sie schaden mitunter einzelnen Gruppen, wenn beispielsweise durch die Abschaffung von Zöllen auf Textilien der Beschäftigungsstand in der Textilbranche zurückgeht. Außerdem verlangen internationale Abkommen in manchen Bereichen die Aufgabe der nationalen Souveränität als Preis für die zu erwartenden steigenden Einkommen. Nehmen wir an, in einem Land gäbe es gesetzliche Bestimmungen zum Schutz geistiger Eigentumsrechte, also etwa von Patenten und Copyrights, während die Gesetze eines anderen Landes das freie Kopieren von Büchern, Videos oder Computersoftware zuließen. Wessen Gesetze sollen in einer solchen Situation gelten? • Durchführung von Hilfsprogrammen. Reiche Staaten verfügen über zahlreiche Pro-
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gramme zur Verbesserung der Situation der mittellosen Bevölkerung in den ärmeren Ländern. Dazu gehören direkte Hilfe vor Ort, Unterstützung bei Katastrophen sowie technische Hilfestellungen, aber auch Institutionen wie die Weltbank, damit arme Länder niedrig verzinste Kredite erhalten können, sowie günstige Bedingungen für Exporte in diese Länder. • Koordinierung makroökonomischer Maßnahmen. Die einzelnen Staaten haben erkannt, dass die Fiskal- und Geldpolitik anderer Staaten sich auf ihre heimische Inflation, Arbeitsmarktlage und Finanzsituation auswirkt. Das internationale Finanzsystem kann sich nicht selbst steuern; die Schaffung eines reibungslos funktionierenden Wechselkurssystems ist eine Voraussetzung für einen effizienten internationalen Handel. Als im Jahr 1997 die ostasiatische „Grippewelle“ ausbrach, drohten ihre Auswirkungen auf die Güterund Kapitalmärkte das Wirtschaftswachstum in Japan, Europa und den Vereinigten Staaten zu drosseln. Vor allem in wirtschaftlich stark integrierten Regionen wie Westeuropa bemühen sich die Staaten darum, ihre Fiskal-, Geld- und Wechselkurspolitik so zu koordinieren, dass Inflation oder Arbeitslosigkeit in einem Land nicht auf die gesamte Region überspringen. Bisweilen wird sogar versucht, eine einheitliche Währung zu schaffen. • Internationaler Umweltschutz. Die neueste Facette internationaler Wirtschaftspolitik ist die Kooperation von Staaten auf ökologischem Gebiet, wenn einzelne Länder Umweltprobleme verursachen oder wenn Staaten von den Umweltproblemen anderer betroffen sind. Bis vor kurzem arbeitete man vor allem bei der Verbesserung der Wasserqualität der Flüsse und beim Schutz der Fischgründe international zusammen. Angesichts der zunehmenden Besorgnis der Wissenschaft wegen des Ozonlochs, der Abholzung der Wälder, der Erderwärmung und des Artensterbens sucht die Staatenge-
meinschaft in letzter Zeit verstärkt nach Möglichkeiten, die von diesen Problemen betroffenen globalen Ressourcen zu schützen und zu bewahren. Selbstverständlich können internationale Umweltprobleme nur gemeinsam gelöst werden. Selbst eingefleischte Konservative würden der Aussage zustimmen, dass der Staat bei der Vertretung nationaler Interessen in der Anarchie der Nationen eine äußerst wichtige Rolle spielt.
Public-Choice-Theorie Bisher haben sich unsere Analysen weitgehend auf die normative Theorie des Staates konzentriert – auf die Politik, die Staaten umsetzen sollten, um das Wohlergehen ihrer Bevölkerungen zu erhöhen. Doch die Ökonomen hängen heute hinsichtlich des Marktes oder auch des Staates keinen Illusionen mehr an. Regierungen können durchaus auch schlechte Entscheidungen treffen oder gute Ideen schlecht umsetzen. Ebenso wie es ein Versagen des Marktes gibt – etwa aufgrund von Monopolen oder Umweltverschmutzung –, kann auch der Staat „versagen“, wenn staatliche Eingriffe zu Verschwendung oder zu einer unerwünschten Einkommensumverteilung führen. Mit diesen Themenbereichen beschäftigt sich die Public-Choice-Theorie (Theorie der öffentlichen Entscheidung), also jener Zweig der Volks- und Politikwissenschaft, der erforscht, wie die Entscheidungsstrukturen in Staaten beschaffen sind. Die Public-ChoiceTheorie untersucht, wie verschiedene Abstimmungsmechanismen funktionieren können, und weist nach, dass es keine idealen Mechanismen gibt, die die individuellen Präferenzen zu gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen summieren. Dieser Ansatz analysiert auch staatliches Versagen, das eintritt, wenn es mithilfe staatlicher Maßnahmen nicht gelingt, die wirtschaftliche Effizienz zu steigern, oder wenn der Staat eine ungerech-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
te Einkommensumverteilung zu verantworten hat. Die Public-Choice-Theorie zeigt die kurzen Amtszeiten gewählter Vertreter, das Fehlen starrer Budgetbeschränkungen und die Rolle des Geldes bei der Finanzierung von Wahlen als Quellen staatlichen Versagens auf. Eine sorgfältige Studie staatlichen Versagens ist entscheidend, will man die Beschränkungen verstehen, denen Staaten unterliegen, und sicherstellen, dass staatliche Programme nicht übermäßig stark in das Leben der Bürger eingreifen oder verschwenderisch mit Ressourcen umgehen. Politische Ökonomie Seit den Zeiten Adam Smiths beschäftigen sich Ökonomen hauptsächlich mit der Funktionsweise des Marktes. Ernsthafte Denker haben dabei jedoch auch die Rolle des Staates in der Gesellschaft nicht außer Acht gelassen. Joseph Schumpeter war der erste, der sich in seinem Buch Capitalism, Socialism, and Democracy (deutsch: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942) mit öffentlichen Entscheidungskriterien auseinander setzte, und die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Studie von Kenneth Arrow über soziale Entscheidungsprozesse brachte mathematische Ordnung in dieses Fach. Doch es war die bahnbrechende Studie von Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy (1957), die eine aussagekräftige neue Theorie entwickelte, wonach Politiker wirtschaftspolitische Maßnahmen einfach nur deshalb treffen, um wiedergewählt zu werden. Downs wies nach, dass politische Parteien dazu tendieren, sich in Richtung der Mitte des politischen Spektrums zu bewegen, und er proklamierte das „Abstimmungsparadoxon“, das besagt, es sei irrational, dass Menschen wählen, wenn man bedenkt, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein Einzelner das Ergebnis beeinflussen kann.
Teil 4
Weitere Studien von James Buchanan und Gordon Tullock in The Calculus of Consent (1959) verteidigten eine wechselseitige Kontrolle zur Verhinderung von Machtmissbrauch („checks and balances“) und sprachen sich für das Einstimmigkeitsprinzip bei politischen Entscheidungen aus – mit dem Argument, dass Einstimmigkeit für niemanden einen Zwang bedeute und daher auch keine Kosten verursache. Für dieses und für andere Werke erhielt Buchanan 1986 den Nobelpreis. Die PublicChoice-Theorie wurde von konservativen Politikern Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts sorgfältig studiert. Ihre Ideen fanden Eingang in Bereiche wie Landwirtschaftspolitik, diverse Regulierungsmaßnahmen und in die Gerichtsbarkeit, und sie bildeten die theoretische Grundlage eines Vorschlags für eine Änderung der US-Verfassung, in die das Erfordernis eines ausgeglichenen Budgets aufgenommen werden sollte.
B. Staatsausgaben Nirgends werden die Veränderungen in der Rolle des Staates deutlicher sichtbar als im Bereich der staatlichen Ausgaben. Werfen Sie einen erneuten Blick auf Abbildung 16-1. Sie zeigt den Anteil der Produktionsleistung der USA, der für staatliche Ausgaben aufgewendet wird, also für Dinge wie den Kauf von Gütern und Dienstleistungen, für die Gehälter der Beamten, für Sozialversicherungszahlungen und andere Transferleistungen und für Zinsen auf die Schulden des Staates. Sie erkennen also, dass die Staatsquote im Laufe des 20. Jahrhunderts meist gestiegen ist, wobei die Steigerungen zu Kriegszeiten besonders hoch waren. In den letzten Jahren hat sich diese Quote jedoch eingependelt.
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Fiskalföderalismus Obwohl wir bisher immer vom Staat gesprochen haben, als handle es sich hierbei um eine einzige Organisation, sind US-Amerikaner in Wirklichkeit mit drei verschiedenen Verwaltungsebenen konfrontiert: mit der Bundesverwaltung, der Verwaltung einzelner Bundesstaatenund der Kommunalverwaltung. Dies spiegelt eine Aufteilung der Steuerverantwortung auf die unterschiedlichen Ebenen der öffentlichen Verwaltung wider, ein System, das als Fiskalföderalismus bezeichnet wird. Zwar sind die Grenzen zwischen den Verwaltungsebenen nicht immer scharf zu ziehen, doch ist im Allgemeinen die Bundesverwaltung für jene Aktivitäten zuständig, die das gesamte Land betreffen, also beispielsweise für Verteidigung, Raumforschung und Außenpolitik. Die kommunale Verwaltung kümmert sich um die Schulbildung der Kinder, um die Straßenpolizei und die Müllabfuhr. Die einzelnen Bundesstaaten bauen die Autobahnen, betreiben die Universitäten und verwalten die Sozialprogramme. Die gesamten Staatsausgaben der USA und ihre Verteilung nach wichtigen Funktionen auf den verschiedenen Verwaltungsebenen sind
Tabelle 16-1 zu entnehmen. Die Dominanz der Bundesverwaltung ist ein relativ junges Phänomen. Vor Beginn des 20. Jahrhunderts war die Kommunalverwaltung die mit Abstand wichtigste Ebene. Der Staat selbst hatte nicht viel mehr zu tun, als das Militär zu finanzieren, die Zinsen für die Staatsschulden zu bezahlen und einige wenige öffentliche Aufträge zu finanzieren. Der Großteil seiner Steuereinnahmen kam damals aus der Alkohol- und Tabaksteuer und aus Importzöllen. Doch die Kombination zweier kostspieliger Weltkriege und eines Kalten Krieges sowie die Neueinführung von Transferzahlungen wie Sozialversicherung und Medicare-Programm führten zu einer enormen Steigerung der Ausgaben auf Bundesebene. Außerdem erwies sich die im Jahre 1913 eingeführte nationale Einkommensteuer als munter sprudelnde Einnahmequelle, an die die erhobenen Landes- und Kommunalsteuern bei weitem nicht mehr herankommen konnten. Um den haushaltspolitischen Föderalismus zu begründen, verweisen Ökonomen auf die Notwendigkeit, Ausgabenentscheidungen anhand der Spillover-Effekte staatlicher Programme den verschiedenen staatlichen Ebenen zuzuweisen. Im Allgemeinen enga-
Anteil an den staatlichen Gesamtausgaben, 2001 (Mrd. US-$)* Staatliche Funktion Nationale Verteidigung Einkommenssicherung und Arbeitslosigkeit Pensionen und Behindertenprogramme Gesundheit Gefängnisse Bildung Gesamt Gesamte laufende Ausgaben
Bundesebene 100 % 100 % 97 % 52 % 6% 5% 56 % 1.936,4
Staatliche Ebene 0% 0% 3% 44 % 63 % 18 % 20 % 585,1
Lokale Ebene 0% 0% 0% 4% 31 % 77 % 24 % 707,5
*Zahlen ohne Investitionsausgaben; sie bezeichnen die Ausgaben für die wichtigsten Funktionen, nicht ihre Finanzierung.
Tabelle 16-1: Laufende staatliche, bundesstaatliche und lokale Ausgaben in den USA nach wichtigen Funktionen, 2001 Am Anfang der Republik wurden die meisten Ausgaben auf Einzelstaat- und Kommunaler Ebene getätigt. Heutzutage erfolgen über die Hälfte der Ausgaben auf Bundesebene. Beachten Sie, wie unterschiedlich Zuständigkeiten aufgeteilt sind. Quelle: U.S. Bureau of Economic Analysis
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gieren sich die Kommunen für lokale öffentliche Güter, also für Aktivitäten, die hauptsächlich der ansässigen Bevölkerung zugute kommen. Da Bibliotheken von den Bürgern der Stadt benutzt werden und Straßenlaternen die Straßen der Städte erleuchten, werden Entscheidungen über diese Güter auch von der ansässigen Bevölkerung getroffen. Viele Bundesfunktionen betreffen nationale öffentliche Güter, die allen Bewohnern des Landes zugute kommen. So würde beispielsweise eine Impfung gegen AIDS den Einwohnern aller Bundesstaaten nützen, nicht nur jenen, die in der Nähe des Labors leben, in dem die Impfung entwickelt wurde. In ähnlicher Weise wurden die Ölvorräte des gesamten Landes geschützt, als die US-Armee am Persischen Golf in den Krieg zog. Und wie sieht es mit globalen öffentlichen Gütern wie dem Schutz der Ozonschicht oder der Verlangsamung der globalen Erwärmung aus? Hier handelt es sich um internationale öffentliche Güter, weil sie die Grenzen der einzelnen Länder überschreiten. Ein effizientes System des Fiskalföderalismus berücksichtigt, wie der Nutzen aus öffentlichen Programmen über politische Grenzen hinweg spürbar wird. Am effizientesten ist es, die Steuer- und Ausgabenentscheidungen so zu treffen, dass die Nutznießer der Programme die Steuern bezahlen und die Vor- und Nachteile der jeweiligen Maßnahme gegeneinander abwägen können.
Bundesausgaben Betrachten wir nun die verschiedenen Ebenen der Verwaltung in einem Staat. Die Bundesregierung der USA ist das größte Unternehmen der ganzen Welt. Sie kauft mehr Autos und Stahl ein, hat höhere Gehaltskosten und macht mehr Umsatz als jede andere Organisation auf der Welt. Die Zahlen, mit denen wir es bei den staatlichen Finanzen der USA zu tun haben, sind astronomisch hoch – Milliarden und Billionen Dollar. Das Bun-
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desbudget für 2005 wird etwa US-$ 2.400 Milliarden oder US-$ 2,4 Billionen betragen; diese enorme Zahl entspricht etwa US-$ 6.000 pro Kopf der Bevölkerung oder rund 20 Prozent der gesamten nationalen Produktionsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP). Bundesstaatliche Ausgaben, Haushaltsjahr 2005 Beschreibung
Gesamtaufwendungen oder -ausgaben
Ausgaben (Mrd. US-$)
In % der Gesamtausgaben
2.400
100,0
1. Sozialversicherung
515
21,5
2. Nationale Verteidigung
451
18,8
3. Einkommenssicherung
348
14,5
4. Medizinische Versorgung
294
12,3
5. Nettozinsen
178
7,4
6 Gesundheit
253
10,5
7. Bildung, Ausbildung, Beschäftigung und Sozialdienste
89
3,7
8. Transport
70
2,9
9. Sozial- und Dienstleistungen für Veteranen
57
2,4
10. Justiz
19
0,8
11. Natürliche Ressourcen und Umwelt
31
1,3
12. Landwirtschaft
43
1,8
13. Allgemeine Wissenschaft, Raumfahrt und Technologie
38
1,6
467
Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Bundesstaatliche Ausgaben, Haushaltsjahr 2005 Beschreibung
Ausgaben (Mrd. US-$)
In % der Gesamtausgaben
letzten Jahren auf das Konto der „Entitlement programs“, deren Anteil von 28 Prozent im Budget des Jahres 1960 bis auf 60 Prozent im Jahre 2005 gestiegen ist.
14. Internationale Angelegenheiten
38
1,6
Ausgaben der Bundesstaaten und der Kommunen
15. Allgemeine Regierungsaufgaben
17
0,7
Obwohl in erster Linie die Kämpfe um das Bundesbudget Schlagzeilen machen, sorgen die einzelnen Bundesstaaten und Gemeinden für viele der wichtigen Funktionen unserer Wirtschaft. Abbildung 16-3 zeigt, wofür die Bundesstaaten und Gemeinden ihre Gelder ausgeben. Die größte Position ist hier das Schulwesen, weil ein Großteil der Kinder in den USA in Schulen unterrichtet wird, die primär aus den lokalen Budgets finanziert werden. Strebt man an, eine gerechte Aufteilung der Ausbildungsressourcen, die jedem Kind zur Verfügung stehen, zu erreichen, so kann das öffentliche Schulwesen dazu beitragen, die ansonsten bestehende große Ungleichheit der wirtschaftlichen Chancen zu kompensieren.
Tabelle 16-2: Bei den bundesstaatlichen Ausgaben der Vereinigten Staaten dominieren Verteidigungsausgaben und Leistungen, auf die ein gesetzlicher Anspruch besteht (so genannte „Entitlement programs“) Rund ein Fünftel der bundesstaatlichen Ausgaben der USA entfällt auf Verteidigung und kriegsbedingte Pensionen. Mehr als die Hälfte der Ausgaben wird heute für schnell wachsende Transferleistungen aufgewendet – Einkommenssicherung, Renten und Gesundheitsfürsorge. Bitte beachten Sie die geringe Dotierung von Posten 15 – des traditionellen Regierungshaushalts. Quelle: Office of Management and Budget, Budget of the U.S. Government, Haushaltsjahr 2005.
Tabelle 16-2 führt die wichtigsten Kategorien der Bundesausgaben für das Steuerjahr 2005 auf. (Das amerikanische Steuerjahr 2005 beginnt mit dem 1.10.2004 und endet am 30.9.2005.) Die Positionen, die in den letzten beiden Jahrzehnten am raschesten angewachsen sind, sind die so genannten „Entitlement programs“, Sozialprogramme, die jedem, der bestimmte gesetzlich festgelegte Berechtigungskriterien erfüllt, einen Anspruch auf Sozialleistungen oder bestimmte Zahlungen zusichern. Zu den wichtigsten „Entitlements“ gehören die Sozialversicherung (Pensionen, Witwenpensionen und Behindertenversicherung), Gesundheitsprogramme (wie Medicare für die über 65-jährigen und Medicaid für mittellose Familien) und Programme zur Einkommenssicherung (darunter Zahlungen für Lebensmittel und Arbeitslosenversicherung). Im Grunde geht beinahe der gesamte Anstieg der Bundesausgaben in den
Einkommenssicherung Bildung Erholung und Kultur
Gesundheit Wohnungsbau- und Kommunaldienste Wirtschaftliche Angelegenheiten Öffentliche Ordnung und Sicherheit
Einzelstaaten Kommunen
Allgemeiner öffentlicher Dienst 0
100
200
300
400
500
Staatsausgaben (Mrd. US-$)
Abbildung 16-3: Verteilung der Ausgaben auf Einzelstaaten und Kommunen in den USA, 2001 Einzelstaatliche und lokale Programme sorgen für Bildung, die Finanzierung von Krankenhäusern und die Erhaltung der Straßen. Auf Bildung und Gesundheit entfällt ein wachsender Anteil der staatlichen und lokalen Ausgaben. Quelle: Bureau of Economic Analysis, Survey of Current Business, Juni 2003.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
In den letzten Jahren waren die am schnellsten wachsenden Ausgabenkategorien von Einzelstaaten und Gemeinden die Ausgaben für das Gesundheitswesen und für Gefängnisse. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Anzahl der Strafgefangenen in den staatlichen Verwahranstalten verdreifacht. Der Grund dafür ist, dass in den USA ein erbitterter Kampf gegen die Kriminalität geführt wird, bei dem gegen Drogenhändler teilweise höhere Freiheitsstrafen als zuvor verhängt werden. Zugleich waren die Verwaltungen der Bundesstaaten und Kommunen gezwungen, ihren Anteil an den steigenden Kosten des Gesundheitswesens zu übernehmen.
Kulturelle und technologische Auswirkungen Staatliche Programme haben subtile Auswirkungen auf das Land, die über die ausgegebenen Beträge hinausgehen. Die Bundesregierung hat die Landschaft durch die Errichtung des Interstate-Autobahnsystems verändert. Nachdem dieses riesige Netzwerk das Autofahren durch Senkung der Transportkosten viel billiger gemacht hatte, verdrängte es die Eisenbahn und sorgte dafür, dass Güter in den letzten Winkel des Landes gebracht werden konnten. Es beschleunigte auch die Ausbreitung der Städte und der Vorstadtkultur. Die Regierung sorgte dafür, dass sich die Vereinigten Staaten in vielen Bereichen von Wissenschaft und Technologie eine wichtige Rolle eroberten. Die staatliche Unterstützung verlieh der Elektronikindustrie wichtige Impulse. So wurde etwa die Entwicklung des Transistors durch die Bell Labs zum Teil vom amerikanischen Verteidigungsministerium finanziert, das größtes Interesse an einer Verbesserung von Radarsystemen und Kommunikationsanlagen hatte. Die heutigen Computer- und Flugzeugindustrien erlebten in ihren Frühzeiten durch die starke staatliche Unterstützung einen Aufschwung. Das Internet wurde vom Verteidigungsministerium entwickelt, um ein Netzwerk zu schaffen, das
Teil 4
auch im Fall eines Atomkriegs weiter funktionieren sollte. Der Staat nimmt durch die enorme Höhe seiner Ausgaben auch heute noch enormen Einfluss auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik. In den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden rund die Hälfte aller Forschungs- und Entwicklungsprojekte von der öffentlichen Hand unterstützt. In den letzten Jahren führte die Verdoppelung der Staatsausgaben für das Gesundheitswesen zu einem Boom in der Biotechnologie. Verfolgt man eine erfolgreiche Erfindung bis an ihren Ursprung zurück, stellt man oft fest, dass der Staat die Ausbildung des Erfinders förderte, die universitäre Grundlagenforschung in den Bereichen Biologie oder Physik vorantrieb und schließlich Prototypversionen kaufte. Wirtschaftliche Studien haben ergeben, dass diese Gelder gut angelegt sind, denn die Renditen von Bildung und Forschung schneiden im Vergleich zu jenen anderer Gebiete gut ab.
C. Volkswirtschaftliche Aspekte des Steuerwesens Steuern sind das, was wir für eine zivilisierte Gesellschaft zu bezahlen haben. Justice Oliver Wendell Holmes
Staaten müssen ihre Programme bezahlen: Die Mittel kommen hauptsächlich aus den Steuereinnahmen, und wenn zu wenig Geld da ist, muss es von der Öffentlichkeit geliehen werden. Doch in der Volkswirtschaftslehre ist es unsere Aufgabe, den Schleier der Geldströme zu lüften und dem tatsächlichen Ressourcenstrom nachzuspüren. Was der Staat unbeschadet der Steuereinnahmen tatsächlich benötigt, ist der knappe Boden, die Arbeit und das Kapital der Wirtschaft. Wenn die USA
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
auf dem Balkan Krieg führen, wird im Kongress über die Finanzierung diskutiert. Tatsächlich aber werden die Menschen aus ihren zivilen Berufen abgezogen, transportieren Flugzeuge Truppen anstelle von Touristen, und der Treibstoff wird für Flugzeuge und nicht für Autos verwendet. Wenn der Staat ein Darlehen für biotechnologische Forschungsarbeiten vergibt, bedeutet diese Entscheidung in Wahrheit, dass ein Stück Land, das zur Errichtung eines Bürogebäudes genutzt werden könnte, stattdessen für ein Labor verwendet wird. Mit seinen Steuergesetzen entscheidet der Staat letztlich darüber, wie die benötigten Ressourcen von den Haushalten und Unternehmen für öffentliche Zwecke abgezogen werden können. Die durch die Besteuerung aufgebrachten Gelder sind das Vehikel, mit dem reale Ressourcen von privaten zu öffentlichen Gütern verlagert werden.
Die Steuerprinzipien Äquivalenzprinzip und Leistungsfähigkeitsprinzip Wenn der Staat beschlossen hat, bestimmte Steuerbeträge zu erheben, steht ihm dazu eine verwirrende Vielfalt an Steuern zur Verfügung. Er kann Einkommen, Gewinne oder Umsätze besteuern. Er kann die Reichen oder die Armen, die Alten oder die Jungen besteuern. Gibt es überhaupt Richtlinien, die dabei helfen können, ein gerechtes und effizientes Steuersystem zu entwickeln? Ja, diese Richtlinien gibt es. Ökonomen und politische Philosophen haben zwei Grundprinzipien entwickelt, nach denen ein Steuersystem ausgerichtet sein sollte: • Das Äquivalenzprinzip (oder Nutzenprinzip), dem zufolge der Einzelne je nach der Höhe des Nutzens besteuert werden sollte, den er aus staatlichen Programmen zieht. Ebenso wie die privaten Geldausgaben
der Menschen in einem Verhältnis zu ihrem privaten Konsum stehen, sollten die Steuern, die ein Mensch bezahlt, in einem Verhältnis zu seiner Nutzung kollektiver Güter wie des öffentlichen Straßennetzes oder öffentlicher Parkanlagen stehen. • Das Leistungsfähigkeitsprinzip, wonach sich die Höhe der Besteuerung nach dem Einkommen oder dem Vermögen des Einzelnen richten sollte. Je größer das Vermögen oder das Einkommen, desto höher auch die Steuern. Steuersysteme, die nach dem Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet sind, wirken im Allgemeinen umverteilend, was bedeutet, dass damit Gelder von den höheren Einkommensschichten abgezogen werden, um damit die Einkommen und den Konsum der ärmeren Gesellschaftsgruppen anzuheben. Wurde beispielsweise die Errichtung einer neuen Brücke durch eine Mautgebühr für das Befahren der Brücke finanziert, so wurde hier nach dem Äquivalenzprinzip vorgegangen, weil man ja nur dann für die Brücke zu bezahlen braucht, wenn man sie auch benutzt. Wurde dieselbe Brücke jedoch aus der Einkommensteuer finanziert, haben wir es mit einem Beispiel für die Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips zu tun.
Horizontale und vertikale Steuergerechtigkeit Die meisten modernen Steuersysteme, gleich ob sie nach dem Äquivalenz- oder nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtet sind, versuchen unsere heutigen Ansichten über Gerechtigkeit und Angemessenheit zu berücksichtigen. Eines der zu beachtenden Grundprinzipien ist jenes der horizontalen Gerechtigkeit, das besagt, dass weitgehend gleichgestellte Bürger auch gleich besteuert werden sollten. Die Ansicht, dass Gleiches auch gleich behandelt werden sollte, ist in der politischen Philosophie des Westens tief verankert.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Wenn zwei Menschen mit Ausnahme der Augenfarbe gleich sind, so verlangen alle Prinzipien der Besteuerung, dass sie gleich hoch besteuert werden. Im Falle einer Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip besagt das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit, dass wir dann gleich viel an Steuern bezahlen sollten, wenn wir genau dieselben Dienste in Form von Autobahnen oder Parks in Anspruch nehmen. Folgt die Besteuerung dem Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit, so sollten Leute, die über gleich hohe Einkommen verfügen, auch Steuern in gleicher Höhe bezahlen. Ein nicht ganz so unumstrittenes Prinzip ist jenes der vertikalen Gerechtigkeit, das sich mit der Besteuerung von Menschen mit unterschiedlicher Einkommenshöhe beschäftigt. Abstrakte philosophische Prinzipien bieten hier bei der Lösung der Gerechtigkeitsfrage kaum eine Hilfestellung. Stellen Sie sich vor, A und B wären in jeder Hinsicht gleich, nur hätte B zehnmal soviel Besitz und Einkommen wie A. Bedeutet das, dass B dem Staat für seine Dienstleistungen, beispielsweise für die Arbeit der Polizei, den gleichen absoluten Steuerbetrag zu bezahlen hat wie A? Oder sollte B denselben Prozentsatz seines Einkommens als Steuerleistung abliefern müssen? Vielleicht wäre es ja nur recht und billig, dass B einen höheren Prozentsatz seines Einkommens in Form von Steuern an den Staat abliefert, weil die Polizei ja stärker damit beschäftigt ist, das Eigentum der Reichen zu schützen? Seien Sie gewarnt! Die Steuerstruktur eines Landes wird nicht von allgemeinen und abstrakten Prinzipien bestimmt. Als Ronald Reagan seine Kampagne für Steuersenkungen führte, tat er das, weil er meinte, hohe Steuern seien ungerecht gegenüber jenen, die hart gearbeitet und Ersparnisse für die Zukunft angelegt hätten. Doch zehn Jahre nach Reagan kam Clinton und sagte: „Unser Steuersystem ist heute gerecht, weil 80 Prozent der zusätzlichen Steuerbelastung von jenen getragen werden, die mehr als US-$ 200.000 pro Jahr verdienen.“ Gerechtigkeit ist nun einmal kein objektiver Maßstab.
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Das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit besagt, dass Gleiche gleich behandelt werden sollten. Der vertikalen Gerechtigkeit zufolge sollten Menschen mit ungleichen Lebensumständen nicht gleich, aber gerecht behandelt werden. Es gibt aber keine Übereinstimmung darüber, wie eine vertikale Gerechtigkeit in der Realität aussehen sollte.
Pragmatische Kompromisse im Steuersystem Wie haben die Gesellschaften diese heiklen philosophischen Fragen in der Praxis gelöst? Im Allgemeinen entscheiden sich Staaten für pragmatische Lösungen, die sich nur teilweise am Äquivalenz- oder am Leistungsfähigkeitsprinzip orientieren. Die politischen Vertreter wissen, dass Steuern im höchsten Maße unpopulär sind. Immerhin hat unter anderem auch der Slogan „Keine Besteuerung ohne Vertretung!“ die amerikanische Revolution ausgelöst. Die modernen Steuersysteme stellen einen komplizierten Kompromiss zwischen hehren Prinzipien und politischem Pragmatismus dar. Wie schrieb doch gleich der bauernschlaue französische Finanzminister Colbert schon vor 300 Jahren? „Steuern zu erheben ist wie das Rupfen einer Gans. Man möchte natürlich die größtmögliche Anzahl an Federn, aber bei minimalem Aufheben.“ Nun, welche Praktiken haben sich herausgebildet? Oft kommen öffentliche Dienstleistungen in erster Linie klar erkennbaren Gruppen zugute, und es besteht kein Grund, diese Gruppen aufgrund ihres Einkommens oder anderer Merkmale zu begünstigen oder zu benachteiligen. In solchen Fällen greifen moderne Staaten im Allgemeinen auf eine Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip durch gebührenartige Abgaben zurück. So werden Gemeindestraßen in den USA im Allgemeinen von den Bewohnern der betreffenden Gemeinde bezahlt. Für Wasser und Abfallbeseitigung, die wie private Güter behandelt werden, werden „Gebühren“ erhoben. Benzinsteuern können für die Errich-
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Progressive und regressive Besteuerung. Gebühren nach dem Äquivalenzprinzip gehen im Rahmen der staatlichen Gesamteinnahmen anteilsmäßig zurück. Ausgereifte politische Systeme stützen sich heute vermehrt auf progressive Einkommenssteuern. Bei einer progressiven Besteuerung bezahlt eine Familie mit einem Jahreseinkommen von US-$ 50.000 höhere Steuern als eine Familie mit einem Einkommen von US-$ 20.000. Einkommensstärkere Familien bezahlen nicht nur einen absolut höheren Betrag, sondern auch einen höheren Anteil ihres Einkommens an Steuern. Diese progressive Besteuerung steht im Gegensatz zur streng proportionalen Besteuerung, nach der alle Steuerzahler genau denselben Prozentsatz ihres Einkommens abzuliefern haben. Eine regressive Besteuerung verlangt von armen Familien einen höheren Einkommensprozentsatz als von den reichen. Ein Steuersystem wird als proportional, progressiv oder regressiv bezeichnet, je nachdem, ob von Steuerpflichtigen mit hohem Einkommen derselbe, ein höherer oder ein geringerer Einkommensprozentsatz erhoben wird als von Beziehern niedriger Einkommen.2 Die verschiedenen Arten der Besteuerung werden in Abbildung 16-4 dargestellt. Einige Beispiele: Eine abgestufte Einkommenssteuer, bei der jedes zusätzlich bezogene Einkommen mit einem immer höheren Steuersatz belegt wird, bezeichnet man als progressiv. Ökonomen haben zum Beispiel festgestellt, dass die Zigarettensteuer eine regressive Steuer ist. Der Grund liegt darin, dass die Zahl der gekauften Zigaretten weniger schnell ansteigt als das Einkommen. So haben Studien ergeben, dass die Einkommenselastizität des Zigarettenkonsums bei ca. 0,6 2 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe „progressiv“ und „regressiv“ rein wirtschaftswissenschaftliche Termini sind, die sich auf den Anteil der Steuerbelastung in Bezug auf unterschiedliche Einkommenshöhen beziehen.
T/Y Steueranteil am Einkommen (in %)
tung und Erhaltung von Straßen verwendet oder „zweckbestimmt“ werden.
Progressive Steuern
Proportionalsteuer
Regressive Steuer
Einkommen
Y
Abbildung 16-4: Progressive, proportionale und regressive Steuern Steuern sind progressiv, wenn die Steuerpflichtigen bei steigendem Einkommen einen immer größeren Teil ihrer Einkünfte abliefern müssen; sie sind proportional, wenn sie einen konstanten Teil des Einkommens ausmachen; und sie sind regressiv, wenn sie einkommensschwache Familien stärker belasten als Familien mit hohem Einkommen.
liegt. Das bedeutet, dass eine zehnprozentige Einkommenssteigerung zu Mehrausgaben für Zigaretten und damit zu zusätzlichen Zigarettensteuern von 6 Prozent führt. Demnach entrichten einkommensstarke Gruppen einen niedrigeren Prozentsatz an Zigarettensteuern als jene mit geringem Einkommen. Direkte und indirekte Steuern. Steuern werden in direkte und indirekte Steuern untergliedert. Indirekte Steuern sind jene, die auf Güter und Dienstleistungen erhoben werden und sich daher auf den Einzelnen nur „indirekt“ auswirken. Beispiele für indirekte Steuern sind Verbrauchs- und Umsatzsteuern, Zigaretten- und Benzinsteuern, Importzölle und Grundsteuern. Im Gegensatz dazu werden direkte Steuern direkt von Einzelpersonen oder Unternehmen erhoben. Beispiele für direkte Steuern sind die Einkommenssteuer, die Sozialversicherungsbeiträge oder andere auf den Arbeitslohn erhobene Steuern sowie die Erbschafts- und Schenkungsteuer. Direkte Steuern haben den Vorteil, sich leichter an persönliche Gegebenheiten anpassen zu lassen, etwa auf die Familiengröße, Ein-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
kommen, Alter und ganz allgemein auf die steuerliche Leistungsfähigkeit. Indirekte Steuern hingegen haben den Vorteil, kostengünstiger und problemloser in der Erhebung zu sein, weil sie auf der Ebene des Einzeloder Großhandels abgeschöpft werden.
Bundessteuern Versuchen wir doch einmal nachzuvollziehen, nach welchen Prinzipien das bundesweite Steuersystem organisiert ist. Tabelle 16-3 vermittelt einen Überblick über die wichtigsten Bundessteuern in den USA und gibt an, ob sie progressiv, proportional oder regressiv sind. Bundesstaatliche Steuereinnahmen (USA), Haushaltsjahr 2002 Einnahmen (in % der Gesamteinnahmen) Progressiv: Individuelle Einkommenssteuer 43,1 Grund- und Schenkungs3,6 steuern Körperschaftssteuer 8,1 Proportional: Sozialversicherungsbeiträge 37,9 Regressiv: Verbrauchsteuern 4,6 Sonstige Steuern und 2,7 Einnahmen Gesamt 100,0 % Tabelle 16-3: Einkommenssteuern und Sozialversicherungsbeiträge sind die wichtigsten Steuerquellen für die Bundesregierung der Vereinigten Staaten Progressive Steuern sind weiterhin die wichtigste Quelle bundesstaatlicher Einnahmen in den USA, aber die proportionalen Sozialversicherungsbeiträge schließen schnell auf. Die regressiven Konsumsteuern sind auf bundesstaatlicher Ebene stark zurückgegangen. Quelle: Office of Management and Budget, Budget of the U.S. Government, Haushaltsjahr 2005
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Die Einkommenssteuer Wir beginnen mit der individuellen Einkommenssteuer, dem komplexesten und umstrittensten Teil des Steuersystems. Die Einkommenssteuer ist eine direkte Steuer, und sie ist diejenige, in der das Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit am deutlichsten zur Anwendung kommt. Die Einkommenssteuer wurde zu einem späten Zeitpunkt in der Geschichte der USA eingeführt. Die Verfassung verbot alle direkten Steuern, die nicht nach einem Bevölkerungsschlüssel auf die Staaten aufgeteilt waren. Das änderte sich im Jahre 1913, als der 16. Zusatz zur Verfassung beschlossen wurde, der vorsah, dass der „Kongress das Recht erhält, Steuern auf Einkommen unabhängig von ihrer Quelle festzulegen und einzuziehen“. Wie funktioniert die bundesweite Einkommenssteuer? Das Prinzip ist einfach, die Form jedoch ziemlich kompliziert. Die Berechnung der Einkommenssteuer beginnt mit der Erfassung der Höhe des Einkommens; von diesem werden bestimmte Ausgaben, Abzugsposten und Steuerfreibeträge abgezogen und so das steuerpflichtige Einkommen ermittelt. Die Steuer selbst wird dann anhand dieses steuerpflichtigen Einkommens errechnet. Tabelle 16-4 zeigt eine Berechnung der Einkommenssteuern einer vierköpfigen Familie bei unterschiedlicher Einkommenshöhe. Spalte (1) zeigt verschiedene Höhen des berichtigten Bruttoeinkommens – das heißt Löhne, Zinsen, Dividenden und andere Einkommen, die dem betreffenden Haushalt zufließen. Unter der Annahme, dass unser Haushalt vier Personen umfasst und bestimmte Abzugsposten geltend machen kann, zeigt Spalte (2) die zu entrichtende Steuer. Bitte beachten Sie, dass die Steuer für Einkommensgruppen von US-$ 5.000, US-$ 10.000 und US-$ 20.000 wegen der Steuergutschrift für Arbeitseinkommen (earned-income tax credit) negativ ist; in dieser Einkommenskategorie transferiert der Staat Gelder an einkommensschwache Familien.
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
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Berichtigtes Bruttoeinkommen (vor Freibeträgen und Abzugsposten) (US-$)
Individuelle Einkommenssteuer
Durchschnittssteuersatz
Grenzsteuersatz (= Steuer auf zusätzliche Einnahmen)
Verfügbares Einkommen
(US-$)
(%)
(%)
(US-$)
(3) = [(2) : (1)] 100
(5) = (1) – (2)
5.000
– 2.010
– 40
– 40
7.010
10.000
– 4.010
– 40
– 40
14.010
20.000
– 2.878
– 14
21
22.878
50.000
3.184
6
15
45.646
100.000
12.097
12
27
85.700
200.000
34.909
17
30
122.700
500.000
123.006
25
39
189.100
1.000.000
278.084
28
39
699.663
10.000.000
3.057.284
31
39
6.741.543
Tabelle 16-4: Bundeseinkommensteuerlast einer vierköpfigen US-Familie, 2002 Die Tabelle stellt Einkommen, Steuern und Steuersätze einer repräsentativen vierköpfigen US-Familie im Jahr 2002 dar. Dank der Steuergutschrift für Arbeitseinkommen (earned-income tax credit) erhalten einkommensschwache Arbeitnehmer eine Steuervergütung – eine „negative Einkommensteuer“ – auf ihre Gehälter. Die Grenzsteuersätze sind anfangs negativ. Bei einem Einkommen von ca. US-$ 11.000 liegt der Grenzsteuersatz bei null, bei Spitzenverdienern erreicht er fast 40 Prozent. Da die Einkommensteuer progressiv ist, sind die durchschnittlichen oder effektiven Steuersätze immer niedriger als die Grenzsteuersätze. Quelle: Abgeleitet vom Computer-Steuerprogramm TurboTax. Die Tabelle unterstellt, dass die Abzüge das jeweils Höhere des Standardabzugs oder von 20 Prozent des Einkommens sind.
Spalte (3) zeigt den effektiven oder durchschnittlichen Steuersatz, der der gesamten Steuerlast dividiert durch das Gesamteinkommen entspricht. Aus dieser Berechnung können wir ersehen, wie progressiv die Einkommenssteuer tatsächlich ist. Eine Familie mit einem Einkommen von US-$ 50.000 jährlich hat eine relativ schwerere Steuerbürde zu tragen als eine Familie, die nur US-$ 20.000 jährlich verdient – Erstere bezahlt Steuern in Höhe von 9 Prozent ihres Einkommens, während für die zweite ein negativer Steuersatz von minus 2 Prozent gilt. Jemand, der jährlich US-$ 1 Million verdient, fällt in eine noch höhere Steuerkategorie. Spalte (4) führt einen neuen wichtigen Begriff ein. Der Grenzsteuersatz ist jene zu-
sätzliche Steuer, die pro Geldeinheit zusätzlichen Einkommens zu bezahlen ist. Wir sind dem Ausdruck „Grenz-“ bereits begegnet und wissen, dass er immer „zusätzlich“ bedeutet. Wenn Sie für US-$ 100 zusätzlichen Einkommens jeweils US-$ 30 an zusätzlichen Steuern bezahlen müssen, beträgt Ihr Grenzsteuersatz 30 Prozent. Nach den derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen in den USA beträgt der Grenzsteuersatz für mittellose Familien minus 40 Prozent und steigt für die niedrigste Steuerklasse mit positivem Steuersatz auf 15 Prozent. Der Grenzsteuersatz ist ein wichtiges Werkzeug der Steueranalyse, da Menschen und Unternehmen meist auf ihre Grenzsteuersätze und nicht auf ihre durchschnittlichen Steuersätze reagieren. Extrem
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
Abbildung 16-5 zeigt die Geschichte der höchsten Grenzsteuersätze in den USA. Der Begriff des Grenzsteuersatzes ist in der modernen Volkswirtschaftslehre überaus wichtig. Denken Sie an das „Marginalprinzip“: Die Menschen sollen nur auf die zusätzlichen Kosten oder den zusätzlichen Nutzen achten; sie sollten sich an die Devise „Was vorbei ist, ist vorbei“ halten. Nach diesem Prinzip sind die wichtigsten Auswirkungen einer Steuer auf die Anreize durch den Grenzsteuersatz bestimmt. Der Grenzsteuersatz wurde zum intellektuellen Brennpunkt der „angebotsorientierten Wirtschaftspolitik“. Spalte (5) zeigt die Höhe der verfügbaren Einkommen nach Steuern. Bitte beachten Sie, dass sich höhere Einkommen in jedem Fall lohnen: Selbst wenn ein Rockstar eine weitere Million US-Dollar verdient, verbleiben ihm immer noch US-$ 610.000 an verfügbarem Einkommen [= US-$ 1.000.000 – (39% US-$ 1.000.000)].
hohe Grenzsteuersätze dämpfen überdies die Anreize und damit oft die Motivation. Der Grenzsteuersatz ist ein zentrales Konzept der Steueranalyse. Er bezieht sich auf die pro zusätzlicher Einkommenseinheit zusätzlich bezahlte Steuer und ist besonders wichtig, um die Anreizwirkung der Besteuerung zu verstehen. Bei Einkommen über US-$ 250.000 beträgt der Grenzsteuersatz für die Bundeseinkommensteuer ca. 39 Prozent. Wenn Sie in New York City leben, müssen Sie zusätzlich 8 Prozent für den Bundesstaat und die Stadt und 2,9 Prozent an Sozialversicherungsbeiträgen bezahlen, was einem Gesamtgrenzsteuersatz von beinahe 50 Prozent auf Arbeitseinkommen entspricht. Dieser Satz mag Ihnen hoch erscheinen, er liegt jedoch weit unter jenem von 94 Prozent während des Zweiten Weltkrieges.
Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik
90
60 50 40 30 20 10 0 1900
1920
1940
Steueraufschlag aufgrund des Vietnamkriegs
Zweiter Weltkrieg
70
Steuersenkungen der Kennedy-Regierung
80
Erster Weltkrieg
Höchster Grenzsteuersatz (in %)
100
1960
1980
2000
Jahr
Abbildung 16-5: Die Geschichte des höchsten Grenzsteuersatzes der USA Der Grenzsteuersatz ist jene zusätzliche Steuer, die pro Einheit an zusätzlichem Einkommen zu entrichten ist. Der Grenzsteuersatz auf individuelle Einkommen erreichte im Zweiten Weltkrieg den Spitzenwert von 94 Prozent. In der Zeit der Reagan-Administration ging er auf 28 Prozent zurück, in den Clinton-Jahren wurde er auf 39 Prozent erhöht und mit dem Wirtschaftspaket der Bush-Administration wieder auf 35 Prozent gedrückt. Quelle: US-Finanzministerium
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Radikale Steuerreform: Die Einheitssteuer Die individuelle Einkommenssteuer ist ein kraftvoller Motor zur Erhöhung der Staatseinnahmen. In dem Jahrhundert seit ihrer Einführung ist sie jedoch ungeheuer komplex geworden. Außerdem ist sie voller Schlupflöcher oder „Steuerbegünstigungen“, die bestimmte Einkommensformen oder Ausgaben und sogar einzelne Gruppen von Steuerzahlern bevorzugen. So können Ausgaben für Hypotheken und medizinische Betreuung vom Einkommen abgesetzt werden, womit diese im Endeffekt subventioniert werden. Viele Ökonomen fordern seit langem ein gradlinigeres Steuersystem – eines, das die Steuerbemessungsgrundlage verbreitert und die Einnahmen erhöht, indem es unnötige Steuererleichterungen abschafft und so Spielraum für eine Absenkung der Grenzsteuersätze schafft. Einer der radikalsten und innovativsten Vorschläge für eine grundlegende Steuerreform ist die so genannte Einheitssteuer (flat tax), eine Steuer, die im Detail von den beiden Stanford-Professoren Robert Hall und Alvin Rabushka3 entwickelt wurde. Ihr Vorschlag sieht die folgenden wesentlichen Merkmale vor (ein Beispiel ist in Übung 9 am Ende dieses Kapitels zu finden): • Besteuert wird nicht das Einkommen, sondern der Konsum. Wie wir weiter hinten in diesem Kapitel sehen werden, verstärkt die Besteuerung des Konsums den Anreiz zu sparen, sodass die sinkende nationale Sparrate dadurch möglicherweise erhöht werden kann. • Die Einheitssteuer fasst die Körperschaftssteuer mit der individuellen Einkommenssteuer zusammen. Dadurch entfällt eine der stärksten Verzerrungen im Steuerrecht der USA. • Sie eliminiert praktisch alle Schlupflöcher und Steuerbegünstigungen. Subventionen für medizinische Betreuung, Eigenheime und Spenden für wohltätige Zwecke entfallen. • Pro Familie wird ein Abzug von ca. US-$ 20.000 gewährt.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Einheitssteuer wären weitreichend. Die meisten Steuerberater würden arbeitslos. Stark besteuerte Einheiten wie Unternehmen würden sich über eine Senkung ihrer Steuerbelastung freuen und einen erheblichen Kapitalzuwachs verzeichnen. Der Steuersatz für Spitzenverdiener würde halbiert. Gleichzeitig würde die Zahl der Eigenheimbesitzer sinken, die medizinischen Ausgaben würden schrumpfen, und Spenden für wohltätige Zwecke würden stark zurückgehen. Hall und Rabushka schätzen, dass ihr Plan den Pro-Kopf-Output innerhalb eines Jahrzehnts um fast US-$ 3.000 erhöhen würde. Kritiker des Plans weisen darauf hin, dass er zu einer wesentlichen Umverteilung des Einkommens hin zu Spitzenverdienern führen würde – und zwar auf Kosten der Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Die Verlierer würden sich fragen, womit die Reichen, die bereits in den achtziger und neunziger Jahren eine massive Erhöhung ihres Wohlstands verzeichnen konnten, diesen erneuten unverhofften Segen verdient hätten. Wir sehen hier ein weiteres Beispiel der Abwägung zwischen Gerechtigkeit und Effizienz, die den meisten kontroversen wirtschaftspolitischen Diskussionen gemein ist.
Sozialversicherungsbeiträge Heute gilt der 1935 verabschiedete Social Security Act für praktisch alle Wirtschaftszweige der USA. Die Arbeitnehmer erhalten somit Rentenzahlungen, deren Höhe von den Einkünften und Sozialversicherungsabgaben während ihrer aktiven Zeit abhängen. Die US-Sozialversicherung finanziert aber auch ein Unterstützungsprogramm für arbeitsunfähige Arbeitnehmer sowie die Krankenversicherung der ärmeren und älteren Bevölkerungsschichten. 3 Damit alle diese Sozialleistungen bezahlt werden können, müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Sozialversicherungsbeiträge leis3 The Flat Tax, 2. Aufl. (Hoover Institute Press, Palo Alto, Calif., 1995).
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ten. Im Jahre 2003 lagen diese Beiträge bis zu einer jährlichen Einkommensgrenze von US$ 57.600 bei insgesamt 15,3 Prozent des gesamten Arbeitseinkommens, während Einkommensklassen über US-$ 87.600 noch um 2,9 Prozent mehr zu entrichten hatten. Diese Beitragsbelastung ist zu gleichen Teilen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt. Tabelle 16-3 zeigt die Sozialversicherungsbeiträge als Proportionalsteuer, weil sie einen fixen Prozentsatz der Arbeitseinkommen abschöpfen. Sie haben allerdings auch regressive Merkmale, weil Einkommen aus Vermögen ausgenommen bleiben und weil sie bei niedrigen Einkommen relativ höher ausfallen als bei höheren Einkommen. Die Sozialversicherungsbeiträge sind unter allen Bundeseinnahmen am raschesten gestiegen, nämlich von null Prozent der staatlichen Einnahmen im Jahre 1929 auf 18 Prozent im Jahre 1960 und schließlich auf 38 Prozent im Jahr 2003.
Körperschaftssteuern Der Staat erhebt verschiedenste andere Steuern, von denen einige in Tabelle 16-3 beschrieben sind. Die Körperschaftssteuer wird auf die Gewinne von Unternehmen erhoben; der Körperschaftssteuersatz betrug 2003 35 Prozent vom Unternehmensgewinn. Viele Ökonomen kritisieren die Körperschaftssteuer vehement. Sie sprechen sich gegen diese Steuer aus, indem sie argumentieren, dass Unternehmen nur juristische Fiktion seien und als solche nicht besteuert werden sollten. Indem zuerst die Unternehmensgewinne und dann auch noch die von den Unternehmen an Einzelpersonen ausbezahlten Dividenden besteuert würden, ergebe sich eine Doppelbesteuerung der Unternehmen. Dieses Argument wurde von der George W. Bush Regierung unterstützt, die im Jahre 2003 vorschlug, die Steuer auf Dividenden auf individueller Ebene abzuschaffen. Der Kongress setzte einen Teil dieser Forderung um, indem er die Höchststeuer auf Dividenden auf 15 Prozent senkte (vergli-
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chen mit maximal 35 Prozent auf normale Einkommen im Jahre 2003).
Verbrauchssteuern Während sich die USA stark auf die Einkommenssteuer stützen, haben die Verbrauchssteuern ihren Ursprung in einem völlig anderen Ansatz: Sie besteuern anstelle des Einkommens den Kauf von Gütern und Dienstleistungen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Menschen für das bestraft werden sollten, was sie verbrauchen, und nicht für das, was sie produzieren. Die Umsatzsteuer ist das bekannteste Beispiel einer Verbrauchssteuer. In den USA wird zwar keine Bundesumsatzsteuer erhoben, es gibt aber verschiedene Bundesverbrauchssteuern auf bestimmte Güter wie Zigaretten, Alkohol und Benzin. Umsatz- und Verbrauchssteuern wirken im Allgemeinen regressiv, weil sie armen Familien einen größeren Teil ihres Einkommens entziehen als Familien mit hohem Einkommen. Viele argumentieren, dass die USA verstärkt auf Umsatz- oder Verbrauchssteuern setzen sollten. Eine Steuer, die außerhalb der Vereinigten Staaten häufig eingesetzt wird, ist die Mehrwertsteuer. Sie ist eine Art Umsatzsteuer, die jedoch in jedem Produktionsstadium anfällt. Wenn also auf Brot Mehrwertsteuer erhoben würde, würde sie vom Bauern für die Weizenproduktion, von der Mühle für die Mehlproduktion, vom Bäcker für die Teigproduktion und vom Händler für den Verkauf erhoben. Die Befürworter von Verbrauchssteuern argumentieren, dass das Land derzeit weniger spart und investiert, als dies für die Bedürfnisse der Zukunft notwendig wäre. Sie meinen, dass die nationale Sparrate steigen würde, wenn Einkommenssteuern durch Verbrauchssteuern ersetzt würden. Kritiker von Verbrauchssteuern stört an diesem Vorschlag, dass eine solche Änderung wegen der regressiveren Wirkung der Verbrauchssteuern alles andere als wünschenswert wäre. Die bereits besprochene Einheitssteuer entspricht letztlich einem stark vereinfachten
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System einer persönlichen Verbrauchssteuer. Bei diesem Ansatz würden alle Grenzsteuersätze einheitlich niedrig (mit rund 20 Prozent) festgelegt werden. Die meisten Abzugsposten und steuerbefreiten Sozialleistungen wie zum Beispiel die Krankenversicherung und Zinsen auf Hypotheken würden gestrichen (siehe Übung 9).
Einzelstaat- und Kommunalsteuern Im amerikanischen föderalistischen Steuersystem stützen sich die Verwaltungen der Bundesstaaten und die Kommunen auf ein völlig anderes Steuersystem als der Bund. Abbildung 16-6 zeigt die wichtigsten Einnahmequellen der Bundesstaaten und Kommunen.
Vermögenssteuer Vermögenssteuer wird vor allem auf Immobilien – Grund und Boden – sowie auf Gebäude erhoben. Jede Kommune setzt einen jährlichen Steuersatz fest, der auf einem Schätzwert von Transfers von anderen Regierungsebenen Umsatz- und andere indirekte Steuern Individuelle Einkommenssteuer Vermögenssteuer Einzelstaaten Kommunen
Körperschaftssteuer Sozialversicherungssteuer 0
100 200 300 400 500 600 700 Staatliche Einnahmen (Mrd. US-$)
Abbildung 16-6: Einzelstaaten und Kommunen stützen sich auf Transfers und indirekte Steuern Kommunen stützen sich stark auf Grundsteuern, da Häuser und Grundstücke nicht so einfach in die nächste Stadt flüchten können, um der Besteuerung zu entgehen. Die Einzelstaaten erzielen die höchsten Einnahmen aus Umsatz- und Einkommenssteuern. Quelle: Bureau of Economic Analysis, Survey of Current Business, Juni 2003.
Grund und Boden und Bauten beruht. In vielen Kommunen liegt dieser geschätzte Wert weit unter dem tatsächlichen Marktwert. Aus der Vermögenssteuer werden etwa 30 Prozent der gesamten bundesstaatlichen und Kommunaleinnahmen bestritten. Abbildung 16-6 zeigt, dass die Kommunen die Hauptbegünstigten der Vermögenssteuer sind. Da etwa ein Viertel der Vermögenswerte in Grund und Boden bestehen, weist die Vermögenssteuer Elemente einer Kapitalsteuer und Elemente einer Grundsteuer nach der Theorie von Henry George auf. Ökonomen meinen, dass die Grundstückskomponente der Vermögenssteuer wenig verzerrend wirkt, während die Kapitalkomponente die Investitionen von den großen Städten, in denen die Steuersätze hoch sind, in die Vorstädte treibt, wo die Steuern niedriger sind. Unabhängig von den Ansichten der Ökonomen entwickelte sich eine heftige Kontroverse um die Vermögenssteuer, als in den siebziger Jahren ein Bauboom ausbrach und die Schätzwerte von Immobilien, und in der Folge auch die zugehörigen Steuern, förmlich explodierten. Überall im Land kam es zu Protesten der Steuerzahler. Die Wähler von Massachusetts setzten die so genannte „Proposition 21/2“ durch, durch die die Steuer auf 2,5 Prozent des Marktwertes begrenzt wurde. Heute gibt es beinahe in der Hälfte aller amerikanischen Bundesstaaten Höchstgrenzen für Vermögens- und andere Steuern. Dadurch wird verhindert, dass die bundesstaatlichen und Kommunalsteuern weiterhin so rasch ansteigen, wie das in den siebziger Jahren der Fall war. In Rezessionszeiten führen diese Steuerobergrenzen in Städten und Bundesstaaten der USA manchmal zu ernsten Finanzkrisen; der Verwaltung geht das Steuergeld aus, und diverse Dienstleistungen müssen eingestellt werden.
Sonstige Steuern Viele andere einzelstaatliche Steuern sind eng mit den entsprechenden Bundessteuern verwandt. Die amerikanischen Bundesstaa-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
ten beziehen den Großteil ihrer Einnahmen aus den allgemeinen Umsatzsteuern auf Güter und Dienstleistungen. Auf jeden Einkauf oder jedes Essen im Restaurant wird eine anteilige Steuer aufgeschlagen (in manchen Bundesstaaten sind Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter von der Umsatzsteuer ausgenommen). Die Staaten besteuern die Nettoeinkommen von Unternehmen. Fünfundvierzig amerikanische Bundesstaaten ahmen einfach den Bund nach, wenn auch in bescheidenerem Rahmen, und besteuern den Einzelnen nach der Höhe seines Einkommens. Doch es gibt auch noch andere Steuereinnahmen. Viele Bundesstaaten erheben eine „Autobahn-Benutzungssteuer“ auf Benzin. Eine wachsende Einnahmequelle sind Lotterien und das legale Glücksspiel. Hier profitieren die Staaten, indem sie den Menschen Anreize bieten, sich selbst ärmer zu machen.
Steuern und Effizienz Steuern wirken sich sowohl auf die wirtschaftliche Effizienz als auch auf die Einkommensverteilung aus. In den letzten Jahren, als Ökonomen wie Politiker darüber nachzudenken begannen, inwieweit wirtschaftliche Anreize das Verhalten von Einzelpersonen und Unternehmen beeinflussen, beschäftigte sich die Steuerpolitik vorrangig mit den Auswirkungen auf die Effizienz. In der Steuerpolitik geht es in erster Linie darum, wie die Steuerzahler auf die verschiedenen Höhen des Grenzsteuersatzes reagieren. Eine wichtige politische Bewegung war der Aufstieg der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Diese makroökonomische Politik, eingeführt vom republikanischen Präsidenten Ronald Reagan, setzte anstelle von Eingriffen in den Konjunkturzyklus auf ein langfristiges Wirtschaftswachstum; sie beinhaltete eine Budgetpolitik, die vor allem den Verteidigungsetat aufstockte, zivile Programme beschnitt und sich kaum um Budgetdefizi-
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te kümmerte; und sie zeichnete sich durch ein Programm zur Rücknahme staatlicher Regulierungsmaßnahmen, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und Umwelt aus; ihre Hauptsäulen waren eine Senkung der Steuersätze und der Steuerbelastungen. Die wichtigsten Meilensteine dieser Periode waren die Steuerreformen der Jahre 1981 und 1986, die die Grenzsteuersätze dramatisch senkten, die Steuerbemessungsgrundlage verbreiterten und das gesamte System der Einkommenssteuer von Grund auf neu regelten. Die Steuerprogramme dieser Zeit führten auch zu einem erheblichen Anstieg des Budgetdefizits und zu Staatsschulden, die im Vergleich zur nationalen Produktionsleistung stark anstiegen. Welchen Einfluss haben hohe Steuersätze auf das wirtschaftliche Verhalten? Im Bereich des Arbeitsangebots sind die Auswirkungen gemischt. Schon in Kapitel 13 haben wir gesehen, dass der Einfluss der Steuersätze auf die tatsächliche Arbeitszeit unklar bleibt, weil Einkommens- und Substitutionseffekt diametral entgegengesetzt wirken. Infolge progressiver Steuern entscheiden sich einzelne Steuerzahler für mehr Freizeit anstatt für mehr Arbeit. Andere arbeiten in dieser Situation vielleicht umso härter, um ihre erste Million zu verdienen. Viele gut bezahlte Ärzte, Künstler, Stars und Geschäftsleute, die Freude an ihrer Arbeit haben, aber auch an dem Gefühl der Macht oder des Erfolgs, das sie mit sich bringt, arbeiten für US-$ 800.000 nach Steuern genauso hart wie für US-$ 1.000.000 nach Steuern. Dazu kommt, dass eine hohe Besteuerung von Alles-oder-nichts-Aktivitäten dazu beitragen kann, dass sich das Angebot an viel versprechenden Talenten in diesen überlaufenen Bereichen verringert. Abbildung 16-7 zeigt, welche Auswirkungen eine Anhebung der Besteuerung der Arbeit auf das Arbeitsangebot hat. Bitte beachten Sie das Paradoxon, dass die Arbeitsbereitschaft nach einer Steuersenkung sogar abnehmen kann, wenn die Arbeitsangebotskurve rückwärts gekrümmt ist.
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Wb
der Steuern über Sektoren hinweg wie in der Existenz hoher Steuern.4
Sa Sb
Bruttolohn (pro Stunde)
B
Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit
B DB
N N
DN
Arbeitsstunden
L
Abbildung 16-7: Die Reaktion der Arbeit auf die Besteuerung hängt von der Form der Angebotskurve ab Angebot und Nachfrage stellen das Arbeitsangebot im Verhältnis zum erzielbaren Bruttolohn dar. Die Angebotskurve der Arbeit vor der Besteuerung (Sb) verschiebt sich nach Einführung einer 25%igen Steuer auf die Arbeitseinkünfte vertikal nach oben zum Angebot nach Besteuerung (Sa). Wenn die Arbeitsnachfrage das Angebot im normalen Bereich unten schneidet, ist ein Rückgang des Arbeitsangebots von N zu N' zu erwarten. Wenn sich die Arbeitsangebotskurve wie im oberen Teil des Diagramms rückwärts krümmt, steigt das Arbeitsangebot mit der Steuererhöhung tatsächlich von B auf B'.
Wenn es um Sparen und Investitionen geht, haben Steuern natürlich starke Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Aktivitäten. Sind die Steuern in einem bestimmten Bereich hoch, fließen die Ressourcen mit einiger Wahrscheinlichkeit in weniger stark besteuerte Bereiche. Da Unternehmenskapital zum Beispiel doppelt besteuert wird, fließen die Ersparnisse der Bürger aus dem Unternehmenssektor in wenig besteuerte Sektoren wie Öl und Gas oder in Ferienwohnungen, die durch steuerbefreite Darlehen finanziert werden. Werden Risikoinvestitionen stark besteuert, ziehen die Investoren wahrscheinlich sicherere Anlageformen vor. Die Ineffizienz hat ihre Ursache ebenso in der Divergenz
Ökonomen beschäftigen sich seit langem mit den Auswirkungen, die Steuern auf die volkswirtschaftliche Effizienz haben. In Kapitel 14 haben wir gesehen, dass Henry George der Meinung war, eine Grundsteuer würde sich nur geringfügig auf die Effizienz auswirken, weil das Angebot an Grund und Boden vollkommen unelastisch sei. Die moderne Theorie einer effizienten Besteuerung folgt der Ramseyschen Besteuerungsregel, die besagt, dass der Staat die höchsten Steuern auf jene Produktionsfaktoren und Produkte erheben sollte, die in Bezug auf Angebot oder Nachfrage besonders preisunelastisch sind.5 Hinter Ramseys Überlegungen steht der Gedanke, dass die Besteuerung eines Gutes, das im Hinblick auf Angebot (oder Nachfrage) sehr preisunelastisch ist, nur geringfügige Auswirkungen auf dessen Konsum und Produktion hat. Unter gewissen Umständen können bei Anwendung der Ramseyschen Besteuerungsgrundsätze die Staatseinnahmen mit einem minimalen Verlust an volkswirtschaftlicher Effizienz erhöht werden. Doch Wirtschaft und Politik orientieren sich nicht allein an Effizienzgesichtspunkten. Vielleicht ist eine drastische Besteuerung von Bodenrenten oder Nahrungsmitteln effizient, aber manch einer würde sie wohl auch als ungerecht empfinden. Als die britische Regierung im Jahr 1990 vorschlug, eine Kopfsteuer einzuführen, wurden die Bürger unsanft an dieses Dilemma erinnert. Eine Kopfsteuer ist eine Pauschalsteuer, das heißt eine fixe Steuer pro Person. Der Vorteil einer solchen Steuer liegt darin, dass sie wie die 4 Ein interessantes Beispiel für die Interaktion zwischen Effizienz und Steuern ist die Laffer-Kurve, die in Übung 8 am Ende dieses Kapitels diskutiert wird. 5 Erinnern Sie sich an die Diskussion der Einsteuerbewegung von Henry George aus Kapitel 14 und die Erweiterung auf eine effiziente oder Ramsey-Steuer.
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Grundsteuer keine Ineffizienzen mit sich bringen würde. Schließlich würden die Menschen nicht gleich nach Russland auswandern oder Harakiri begehen, nur um die Steuer zu umgehen, sodass kaum volkswirtschaftliche Verzerrungen zu befürchten wären. Doch leider unterschätzte die britische Regierung das Ausmaß, in dem diese Steuer von der Bevölkerung als ungerecht empfunden wurde, bei weitem. Die Kopfsteuer ist eine äußerst regressive Steuer, weil sie niedrigen Einkommensschichten einen sehr viel höheren Prozentsatz ihres Einkommens abverlangt als Gruppen mit hohem Einkommen. Die Kritik an der Kopfsteuer trug wesentlich dazu bei, die Regierung Thatcher nach elf Jahren zu Fall zu bringen. Der Fall zeigt deutlich die Problematik, die sich bei der Entscheidung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit der Besteuerung und anderer wirtschaftspolitischer Entscheidungen ergibt.
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schließen, der globalen Erwärmung durch eine Steuer auf fossile Brennstoffe einen Riegel vorzuschieben, also durch eine Steuer auf Schwefeldioxidemissionen aus Kraftwerken und anderen Quellen. Aus der herkömmlichen volkswirtschaftlichen Argumentation wissen wir, dass die Steuer die Unternehmen zu einer Senkung ihres Kohlendioxidausstoßes bewegt und dadurch die Umweltqualität verbessert. Außerdem erbringt eine solche Ökosteuer natürlich auch Einnahmen, die der Staat entweder dazu nutzen kann, um seine üblichen Aktivitäten zu finanzieren, oder um die Steuern auf wünschenswerte Tätigkeiten wie Arbeit und Sparen zu senken. Ökosteuern sind daher doppelt effektiv: Der Staat kommt zu Einnahmen, und der Umwelt wird geholfen, weil die Steuer zu einer Verringerung schädlicher Externalitäten beiträgt.
Besteuerung von Unerwünschtem anstelle von Erwünschtem: Ökosteuern
Das knifflige Problem der Steuerinzidenz
Während sich Ökonomen nur selten für Kopfsteuern aussprechen, favorisieren sie einen Ansatz, bei dem das Steuersystem eher Negatives als Positives besteuert. Die Hauptquelle der Ineffizienz ist die derzeit übliche Besteuerung von „Erwünschtem“ – also von erstrebenswerten wirtschaftlichen Verhaltensweisen und Aktivitäten wie Arbeit, Kapitalinvestitionen, Sparen oder Risikobereitschaft –, wodurch dieses „Erwünschte“ nicht gerade attraktiver wird. Ein alternativer Ansatz könnte daher darin bestehen, „Unerwünschtes“ zu besteuern. Diese Form der Besteuerung gibt es auch heute schon: Seit langem werden Alkohol, Zigaretten und andere die Gesundheit schädigende Substanzen besteuert. Ein neuer Ansatz in der Steuerpolitik ist die Besteuerung von Umweltverschmutzung und anderen unerwünschten Externalitäten. Diese Steuern werden als Ökosteuern bezeichnet, weil sie der Umwelt ebenso zugute kommen sollen, wie sie zur Beschaffung von Einnahmen für den Staat dienen. Nehmen wir an, unser Land würde sich dazu ent-
Wer bezahlt eigentlich letztendlich all diese Steuern, die die Staaten erheben? Es wäre nämlich völlig falsch anzunehmen, dass immer jene Einzelpersonen oder Unternehmen, die die Steuern an den Fiskus abführen, diese auch selbst tragen. Nur weil die Ölgesellschaft die Benzinsteuer an den Finanzminister abführt, sollte man nicht den Schluss ziehen, dass sie diese Steuer aus ihren Gewinnen bestreitet. Unternehmen können Steuern in vielen Fällen auf ihre Kunden „abwälzen“, indem sie den Preis ihrer Güter um die Höhe der Steuer anheben. In anderen Fällen können sie die Steuer auf die Lieferanten (die Eigentümer der Produktionsfaktoren wie Arbeit, Boden und anderer Produktionsgüter) „rückwälzen“ und ihnen niedrigere Löhne, Pachten und geringere Faktorpreise bezahlen, als es ohne Steuer der Fall gewesen wäre. Die Frage der Steuerverschiebung betrifft die Steuerinzidenz. Dieser Begriff beschreibt, von wem die Steuerlast letzten En-
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
des getragen wird und welche Gesamtauswirkungen sie auf Preise, Mengen und die Zusammensetzung von Produktion und Verbrauch hat. Im Zusammenhang mit der Steuerinzidenz stellen sich folgende Fragen: Was geschieht, wenn der Kongress die Benzinsteuer anhebt? Wird die Steuererhöhung auf die Konsumenten überwälzt? Oder kommt es durch die Steuer zu einer Senkung des Rohölpreises, was bedeuten würde, dass die Ölproduzenten die Suppe auslöffeln müssen? Oder liegt die Inzidenz irgendwo in der Mitte? Gibt es Auswirkungen auf die Kohlepreise? Und bringt die Steuer womöglich die Ölproduktion zum Erliegen, sodass die Inzidenzeffekte über das hinausgehen, was sich anhand von Geld oder Löhnen messen lässt, vielleicht sogar über die Belastungen, die den verschiedenen Betroffenen zugerechnet werden können? Die Mikroökonomie liefert einige wichtige Werkzeuge zur Analyse der Steuerinzidenz. In einem der früheren Kapitel haben wir die Inzidenz einer Benzinsteuer erörtert. In diesen einfachen Fällen, in denen es nur um Angebot und Nachfrage eines einzigen Wirtschaftsgutes geht, ist eine direkte Inzidenzanalyse möglich. In anderen Fällen lassen sich die Auswirkungen quer durch die gesamte Wirtschaft verfolgen, was eine Analyse extrem schwierig macht und bisweilen sogar einen allgemeinen Gleichgewichtsansatz erfordert. Vielleicht interessiert uns auch die Fiskalinzidenz des gesamten staatlichen Steuerund Transferleistungssystems. Die Fiskalinzidenz untersucht die Auswirkungen von Steuern und staatlichen Ausgabenprogrammen auf die Einkommen der Bevölkerung. Sie fragt ganz allgemein nach der progressiven oder regressiven Wirkung staatlicher Programme. Die Schätzung der Fiskalinzidenz erfolgt durch Zuordnung aller Steuern und Transferzahlungen zu verschiedenen Gruppen. Eine solche Studie erzielt nur Annäherungswerte, weil niemand mit Sicherheit sagen kann, inwieweit die Körperschafts- oder
die Vermögenssteuer tatsächlich überwälzt werden. So sieht das Konzept für das Experiment aus, das wir durchführen wollen: • Messung der Einkommen ohne Steuern und Transferleistungen • Messung der Einkommen unter Berücksichtigung der Steuern und Transferleistungen • Und schließlich Messung der Inzidenz als Differenz zwischen diesen beiden Situationen Natürlich sind Ökonomen keine Zauberer, die solche kontrollierten Experimente durchführen können, aber sie nehmen ihre Messungen sehr sorgfältig vor. Außerdem verfügen sie über ein respektables Urteilsvermögen, um die Auswirkungen von Steuern und Ausgaben zu bewerten.
Die Inzidenz staatlicher Steuern und Transferleistungen Abbildung 16-8 zeigt die Ergebnisse einer neueren Studie über die Inzidenz aller amerikanischen Steuern und Transferzahlungen. In dieser Abbildung werden Transferzahlungen als negative Steuern behandelt und im negativen Bereich eingetragen. Interessant erscheint an diesem Ansatz, dass hier eine Untersuchung von Lebenseinkommen und Lebensverdienststeuern vorgenommen wird und dass man sich nicht auf ein einziges Jahr beschränkt hat. Es werden also auch bedeutende Veränderungen berücksichtigt, die sich im Laufe eines Lebens ereignen. (Menschen treten in den Arbeitsmarkt ein und verlassen ihn wieder, sie zahlen Sozialversicherungsabgaben, wenn sie jung sind, und erhalten Steuern in Form von Rententransferleistungen, wenn sie alt sind.) Die Studie berücksichtigt auch die enorme Komplexität des amerikanischen Steuersystems, über die Sie sich ja bereits ein Bild machen konnten.
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Nettosteuersatz (in %)
15 10 5 0 –5 –10 –15
50 100 150 200 250 0 Auf Jahresbasis umgerechnetes Lebenseinkommen (in Tsd. US-$)
Abbildung 16-8: Wer bezahlt die Steuern und wer profitiert von Transferzahlungen? Wie beeinflusst der moderne Wohlfahrtsstaat die Einkommen seiner Bürger über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg? Fullerton und Rogers schätzten die Auswirkungen aller staatlichen, bundesstaatlichen und lokalen Steuern sowie aller Geldtransfers des Jahres 1984 auf das Lebenseinkommen der Haushalte. Das Steuer- und Transfersystem ist in fast allen Einkommenskategorien progressiv. Bitte beachten Sie, dass das System tatsächlich Einkommen zu der schwächsten Gruppe verschiebt, während für die einkommensstärkste Gruppe ein Nettosteuersatz von 15 Prozent gilt. Quelle: Don Fullerton und Diane Lim Rogers, Who Bears the Lifetime Tax Burden? The Big Tradeoff (Brookings Institution, Washington, D.C., 1993), S. 123. Die Daten wurden auf das Niveau des Jahres 2003 angepasst, und die Lebenseinkommen wurden anhand eines realen Zinssatzes von 5 Prozent auf Jahresbasis umgerechnet.
Die Ergebnisse zeigen, dass das amerikanische Steuersystem schwach progressiv wirkt, wobei die Gruppe mit den niedrigsten Einkommen Nettotransferzahlungen erhält, während die Spitzenverdiener die höchste durchschnittliche Steuerbelastung haben. Bei näherer Betrachtung der Struktur des amerikanischen Steuer- und Transfersystems zeigt sich, dass seine progressive Wirkung, vor allem im unteren Bereich, in erster Linie auf die Transferzahlungen, nicht aber auf die Steuern zurückzuführen ist. Ein ähnliches Muster der Fiskalinzidenz stellen wir heute auch in anderen Ländern fest. Studien der Steuersysteme von Ländern mit hohem Einkommen haben ergeben, dass
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das Steuersystem fast keine Auswirkungen auf die Einkommensverteilung hat. Dieses überraschende Ergebnis beruht darauf, dass die Auswirkungen einer progressiven Einkommensbesteuerung normalerweise durch regressive Steuern, insbesondere Sozialversicherungsbeiträge und Umsatz- oder Mehrwertsteuern, ausgeglichen werden. Die wichtigsten progressiven Elemente öffentlicher Maßnahmen (das heißt die wichtigsten Elemente, die Einkommen auf Haushalte mit niedrigen Einkommen umverteilen) sind Programme zur Einkommensunterstützung wie Barzuwendungen, Lebensmittelmarken, staatliche Pensionen und subventionierte Gesundheitsdienste.
Ein Wort zum Abschluss Unsere einleitende Erörterung der Rolle des Staates in der Wirtschaft hält uns auf ernüchternde Weise die große Verantwortung, aber auch die Mängel kollektiven Handelns vor Augen. Einerseits muss der Staat seine Grenzen verteidigen, seine Wirtschaft stabilisieren, für die Volksgesundheit Sorge tragen und der Umweltverschmutzung Einhalt gebieten. Andererseits spiegelt die Politik in erster Linie oft den Versuch wieder, Einkommen von den Konsumenten zu politisch einflussreichen Interessengruppen umzuverteilen. Sollten wir also auf die sichtbare Hand des Staates verzichten und uns stattdessen lieber auf die unsichtbare Hand der Märkte verlassen? Die Volkswirtschaftslehre kann solche tiefgreifenden politischen Fragen nicht beantworten; sie kann nur die Stärken und Schwächen kollektiver und über den Markt getroffener Entscheidungen untersuchen und auf Mechanismen hinweisen (wie Ökosteuern oder Subventionen von Forschung und Entwicklung), mit deren Hilfe eine „gezügelte“ unsichtbare Hand effizienter wirksam werden kann als die extremen Modelle eines reinen Laissez-faire-Systems oder hemmungsloser bürokratischer Regulierung.
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Zusammenfassung A. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft
C. Volkswirtschaftliche Aspekte des Steuerwesens
1.
6.
2.
3.
Die wirtschaftliche Rolle des Staates hat im vergangenen Jahrhundert stark an Bedeutung gewonnen. Der Staat nimmt Einfluss auf private wirtschaftliche Aktivitäten und kontrolliert diese mithilfe von Steuern, Staatsausgaben und direkter Regulierung. Ein moderner Wohlfahrtsstaat erfüllt vier wirtschaftliche Funktionen: (a) Er korrigiert Marktversagen; (b) er ist für die Umverteilung von Einkommen und Ressourcen verantwortlich; (c) er betreibt eine makroökonomische Stabilisierungspolitik, um die Konjunkturzyklen auszugleichen und das langfristige Wirtschaftswachstum zu sichern; und (d) er steuert die internationale Wirtschaftspolitik. Die Theorie der öffentlichen Entscheidung beschäftigt sich mit dem Verhalten von Staaten. Wie die unsichtbare Hand können auch Regierungen versagen, wenn staatliche Interventionen zu Verschwendung führen oder Einkommen auf unerwünschte Weise umverteilen.
7.
8.
B. Staatsausgaben 4.
5.
Das öffentliche Finanzwesen der USA ist durch einen so genannten Fiskalföderalismus gekennzeichnet. Die Bundesregierung konzentriert ihre Ausgaben dabei auf Bereiche von nationalem Interesse – auf bundesweit wichtige Güter wie Verteidigung und die Erforschung des Weltraums. Die Bundesstaaten und Kommunen engagieren sich hauptsächlich im Bereich der lokalen öffentlichen Güter, deren positive Auswirkungen weitgehend innerhalb der jeweiligen Staaten- oder Gemeindegrenzen erkennbar werden. Staatliche Ausgaben und Steuern machen heute etwa ein Drittel des gesamten Sozialprodukts aus. Davon werden rund 60 Prozent auf Bundesebene ausgegeben, der Rest teilt sich auf Bundesstaaten und Kommunen auf. Nur ein Bruchteil der staatlichen Ausgaben wird heute für die traditionellen staatlichen Funktionen wie Polizei und Gerichte aufgewendet.
9.
Zwei grundlegende Steuertheorien sind das „Äquivalenz- oder Nutzenprinzip“ und das „Leistungsfähigkeitsprinzip“. Eine Steuer kann progressiv, proportional oder regressiv sein, je nachdem, ob sie von reichen Haushalten einen höheren, gleich hohen oder geringeren Teil des Einkommens abzieht als von armen Haushalten. Direkte und progressive Einkommenssteuern stehen indirekten und regressiven Umsatzund Verbrauchssteuern gegenüber. Mehr als die Hälfte der Bundeseinnahmen der Vereinigten Staaten stammen aus Einkommenund Körperschaftssteuern. Der Rest stammt aus Sozialversicherungsbeiträgen oder Steuern auf Verbrauchsgüter. Die Kommunen beziehen einen Großteil ihrer Einnahmen aus Vermögenssteuern, während Umsatzsteuern vor allem den Bundesstaaten zugute kommen. Die Einkommenssteuer des Einzelnen wird aus allen Einkünften unabhängig von der Quelle abzüglich bestimmter Steuerfreibeträge und Abzugsposten errechnet. Der Grenzsteuersatz, der den Prozentsatz an Steuern für jede Geldeinheit zusätzlichen Einkommens bezeichnet, ist von wesentlicher Bedeutung für die Auswirkung von Steuern auf die wirtschaftlichen Anreize zu arbeiten und zu sparen. Die Grenzsteuersätze wurden in den achtziger Jahren in den USA stark gesenkt, jedoch von der Clinton-Regierung wieder erhöht und vom Steuerpaket Präsident Bushs im Jahre 2003 erneut gesenkt. Die am raschesten steigenden Bundessteuern sind die Sozialversicherungsbeiträge auf Lohnzahlungen, die zur Finanzierung des Sozialversicherungssystems herangezogen werden. Hierbei handelt es sich um eine „zweckgebundene“ Steuer, deren Erträge in die Bereitstellung staatlicher Renten sowie von Zuschüssen an Kranke und Behinderte fließen. Da am Ende des Zahlungsflusses erkennbar Sozialleistungen stehen, weisen die Sozialversicherungsbeiträge Elemente einer dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Steuer auf.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
10. Ökonomen verweisen auf die Ramseysche Besteuerungsregel, die betont, dass die Effizienz steigt, wenn relativ preisunelastische Aktivitäten stärker besteuert werden. Einen neuen Ansatz bieten die so genannten Ökosteuern, die externe Umweltfaktoren mit einer Steuer belegen und so schädliche Aktivitäten drosseln, während sie zugleich die staatlichen Einnahmen erhöhen, die andernfalls über Güter oder Produktionsleistungen erhoben werden müssten. Doch bei allen Steuern fallen Gerechtigkeit und politische Akzeptanz stark ins Gewicht.
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11. Die Inzidenz einer Steuer bezieht sich darauf, wer letztlich die Steuerlast zu tragen hat und welche Gesamtauswirkungen sich auf Preise und andere volkswirtschaftliche Größen ergeben. Jene, die eine Steuer zu entrichten haben, können die steuerliche Belastung häufig auf die Konsumenten überwälzen oder auf die Produktionsfaktoren rückwälzen. Das gegenwärtige amerikanische Steuer- und Transfersystem hat eine leicht progressive Wirkung.
Begriffe zur Wiederholung Funktionen des Staates
Staatsausgaben und Fiskalinzidenz
Drei Instrumente zur Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat: Steuern Ausgaben Regulierung Marktversagen versus Versagen des Staates Theorie der öffentlichen Entscheidung Vier Funktionen des Staates: Effizienz Verteilung Stabilisierung Internationale Vertretung
Fiskalföderalismus und lokale versus nationale öffentliche Güter Volkswirtschaftliche Auswirkungen von Staatsausgaben Äquivalenzprinzip und Leistungsfähigkeitsprinzip Horizontale und vertikale Steuergerechtigkeit Direkte und indirekte Steuern Progressive, proportionale und regressive Steuern Steuer- und Transferinzidenz und Überwälzung von Steuern Ramsey- und Ökosteuern
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Ein hervorragender Überblick über Steuerfragen findet sich im Symposium zur Steuerreform im Journal of Economic Perspectives, Sommer 1987. Aktuelle politische Fragen werden jährlich von Wissenschaftlern der Brookings Institution in Setting National Priorities (Brookings Institution, Washington, D.C., verschiedene Jahrgänge), behandelt.
Deutschsprachige Literatur Andel, Norbert: Finanzwissenschaft. Mohr Siebeck, 1998 (4. Aufl.). Brümmerhoff, Dieter: Finanzwissenschaft. Oldenbourg, 2001 (8. Aufl.). Homburg, Stefan: Allgemeine Steuerlehre. Vahlen, 2005 (4. überarb. Aufl.).
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Kapitel 16 Steuern und Staatsausgaben
Websites Regierungs-Websites veröffentlichen Daten zu öffentlichen Haushalten und Steuertrends. Allgemeine Trends für die US-Wirtschaft werden zum Beispiel vom Bureau of Economic Analysis auf www.bea.gov präsentiert. Haushaltsdaten für die Bundesebene der USA sind vom Office of Management and Budget unter www.whitehouse.gov/OMB erhältlich. Die US-Steuerbehörde (Internal Revenue Service – IRS) bietet unter www.irs.gov und www.irs.gov/ taxstats/index.html eine lebhaft gestaltete Website mit einer Vielzahl von Steuerstatistiken an. Zwei Organisationen, die sich mit Steuerfragen beschäftigen und gute Websites unterhalten, sind die National Tax Association unter www.ntanet.org und die Brookings Institution unter www.brookings.org. Strategiepapiere eines britischen Forschungsinstituts, das sich schwerpunktmäßig mit Sozialversicherung und Steuerfragen befasst, finden sich unter www.ifs.org.uk.
Übungen 1.
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Erinnern Sie sich an die Aussage von Justice Oliver Wendell Holmes: „Steuern sind das, was wir für eine zivilisierte Gesellschaft zu bezahlen haben.” Interpretieren Sie diese Aussage, und berücksichtigen Sie dabei, dass es in der Volkswirtschaftslehre unsere Aufgabe ist, den Schleier der Geldströme zu lüften und dem tatsächlichen Ressourcenstrom nachzuspüren. Überlegen Sie in der Gruppe, wer von Ihnen sich eher für ein Laissez-faire-System oder für staatliche Eingriffe ausspricht, und diskutieren Sie, ob es staatliche Kontrollen von Prostitution, Drogenhandel, Herztransplantationen, Angriffswaffen und Alkohol geben sollte. Diskutieren Sie die jeweiligen Vorteile hoher Steuern und des Verbots solcher Güter. (Denken Sie dabei an die Diskussion eines Drogenverbots in Kapitel 5.) Kritiker des amerikanischen Steuersystems argumentieren, es schwäche die wirtschaftlichen Anreize für Arbeit, Sparverhalten und Innovation und hemme daher das langfristige Wirtschaftswachstum. Können Sie erkennen, warum „Ökosteuern“ sowohl die volkswirtschaftliche Effizienz als auch das Wirtschaftswachstum steigern könnten? Denken Sie beispielsweise an eine Besteuerung von Schwefel- oder Kohlendioxidemissionen oder an die Erhebung von Steuern auf Öltanker, aus denen Rohöl ausfließt. Erstellen Sie eine Liste von Steuern, die Ihrer Meinung nach effizienzsteigernd wirken würden, und vergleichen Sie deren Auswirkungen mit den Folgen einer Besteuerung von Arbeitsoder Kapitaleinkommen. Steuerexperten sprechen häufig von „Pauschalsteuern“, die von Einzelpersonen ohne Rücksicht auf deren wirtschaftliche Aktivitäten erhoben werden. Pauschalsteuern sind effizi-
5.
6.
ent, weil sie alle Inputs und Outputs mit einem Grenzsteuersatz von null belegen. Nehmen Sie an, die Regierung eines Landes würde jedem Menschen eine Pauschalsteuer von US-$ 200 auferlegen. Zeigen Sie die Auswirkungen dieser Maßnahme auf Angebot und Nachfrage nach Arbeit in einer Grafik. Entspricht das Wertgrenzprodukt der Arbeit immer noch dem Gleichgewichtslohn? Betrachten wir die lebenslange Steuerbelastung, so ist das dynamische Gegenstück zu einer Pauschalsteuer eine „Lebensverdienststeuer“, mit der Einzelpersonen auf der Grundlage ihrer potenziellen Arbeitseinkommen besteuert würden. Fullerton und Rogers (siehe Legende zu Abbildung 16-8) behaupten, dass eine vollkommen effiziente, proportional wirkende Lebensverdienststeuer das Durchschnittslebenseinkommen der Steuerzahler um 1,3 Prozent erhöhen würde. Wie denken Sie darüber? Beschreiben Sie, welche Schwierigkeiten sich infolge der Einführung einer Lebensverdienststeuer ergeben würden. Erstellen Sie eine Liste der verschiedenen Bundessteuern in der Reihenfolge ihrer progressiven Wirkung. Sollte der Staat anstelle der Einkommensteuern vermehrt Verbrauchs- oder Umsatzsteuern erheben? Welche Auswirkungen hätte das auf die allgemeine progressive Wirkung des Steuersystems? Manche öffentlichen Güter sind lokal und kommen den Bewohnern kleiner, abgegrenzter Gebiete zugute; andere sind national und erhöhen die Wohlfahrt eines ganzen Landes. Wiederum andere sind global und haben Auswirkungen auf alle Staaten. Ein privates Gut ist ein Gut, dessen externe Effekte vernachlässigbar gering sind. Geben Sie einige Beispiele für rein
7.
8.
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
private Güter und für lokale, nationale und globale öffentliche Güter oder für Externalitäten an. Geben Sie für jede Externalität die Verwaltungsebene an, die am effizientesten tätig werden könnte, und machen Sie einen oder zwei geeignete Vorschläge für staatliche Maßnahmen, mit denen sich unerwünschte Externalitäten internalisieren lassen. Nachstehend einige Fragen über die Inzidenz, die sich mithilfe von Angebot und Nachfrage beantworten lassen. Erklären Sie Ihre Antworten anhand von Grafiken. a. Mit dem Budgetgesetz von 1993 hob der Kongress die Bundesbenzinsteuer der Vereinigten Staaten um 4,3 Cent pro Gallone an. Welche Auswirkungen hat diese Maßnahme unter der Annahme, dass der Großhandelspreis für Benzin auf dem Weltmarkt gebildet wird, auf Produzenten und Verbraucher? b. Sozialversicherungsbeiträge werden im Allgemeinen von den Arbeitseinkommen abgezogen. Wie ist ihre Inzidenz, wenn das Arbeitsangebot vollkommen unelastisch ist? Wenn sich die Arbeitsangebotskurve rückwärts krümmt? c. Welche Inzidenz hat eine Körperschaftssteuer in einer kleinen offenen Volkswirtschaft, wenn die Unternehmen eine Investitionsrentabilität nach Steuern erzielen müssen, die vom Weltkapitalmarkt bestimmt wird? Eine interessante Frage wirft die Laffer-Kurve auf, die nach dem kalifornischen Ökonomen und einstigen Senatskandidaten Arthur Laffer benannt ist. In Abbildung 16-9 zeigt die LafferKurve, wie bei einer Erhöhung der Steuersätze die Steuereinnahmen zunächst steigen, in Punkt L ihren Höhepunkt erreichen und dann bei einem Steuersatz von 100 Prozent auf null zurückgehen, da hier Aktivitäten völlig entmutigt werden. Die genaue Form der Laffer-Kurve für verschiedene Steuern ist höchst umstritten. Ein häufiger Fehler in der Diskussion von Steuern ist der Post-hoc-Irrtum (siehe Kapitel 1). Verfechter niedrigerer Steuern berufen sich in ihrer Argumentation oft auf die Laffer-Kurve. Sie verweisen auf die Steuersenkungen der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und behaupten, die Wirtschaft befände sich rechts neben dem Gipfel des Mount Laffer, sagen wir bei B. Damit sagen sie Folgendes: „Nach den Steuersenkungen der Kennedyund Johnson-Administrationen im Jahr 1964 stiegen die Staatseinnahmen von US-$ 110 Milliarden im Jahr 1963 auf US-$ 133 Milliar-
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Teil 4
den im Jahre 1966. Steuersenkungen bewirken also höhere Staatseinnahmen.“ Erklären Sie, warum damit nicht bewiesen ist, dass sich die Wirtschaft tatsächlich rechts neben Punkt L befand. Erklären Sie weiter, warum dies ein Beispiel für einen Post-hoc-Irrtum ist. Stellen Sie die Analyse richtig. Bei der Einheitssteuer werden alle persönlichen und Unternehmenseinkommen nur einmal besteuert, und zwar mit einem fixen Steuersatz. Tabelle 16-5 zeigt, wie eine solche Einheitssteuer funktionieren könnte. Vergleichen Sie die Durchschnitts- und Grenzsteuersätze der Einheitssteuer mit dem in Tabelle 16-4 im Text dargestellten Steuertarif. Führen Sie die Vor- und Nachteile beider Systeme auf. Welches ist progressiver? R
L
Steuereinnahmen
486
A B
0
25
50
75
100
Steuersatz (in %)
Abbildung 16-9: Die Laffer-Kurve
(1)
(2)
(3)
(4)
Berichtigtes Bruttoeinkommen
Abzugsposten und Freibeträge
Steuerpflichtiges Einkommen
Individuelle Einkommenssteuer
(US-$)
(US-$)
(US-$)
(US-$)
5.000
20.000
0
0
10.000
20.000
0
0
20.000
20.000
0
0
50.000
20.000
30.000
6.000
100.000
20.000
80.000
16.000
1.000.000
20.000
980.000
196.000
Tabelle 16-5.
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KAPITEL 17 Wie werden Märkte effizienter?
Märkte sind das ideale Spielfeld für wirtschaftliche Transaktionen, doch ganz ohne Aufsicht Erwachsener geht es nicht. David Wessel
Bevor sie sich mit dem Thema Wirtschaft näher auseinandersetzen, glauben viele Leute, der Staat habe die Funktion eines Wachhundes, der die Konsumenten vor monopolistischem Missbrauch und Preismanipulation schützen müsse. Sobald wir jedoch die Theorie von der unsichtbaren Hand kennen, zögern wir vielleicht doch einzugreifen, weil uns die Ökonomik lehrt, dass Wettbewerbsmärkte Produktion und Preise ganz von selbst effizient gestalten. Marktwirtschaftlich organisierte Staaten stützen sich in ihrem Versuch, den privaten Sektor zu einem möglichst effizienten Verhalten zu bewegen, überwiegend auf die Kräfte der Konkurrenz und des Wettbewerbs – man könnte auch sagen, auf das Zuckerbrot der Gewinne und die Peitsche des Konkurses. Doch die Kräfte des Wettbewerbs greifen bei fehlender Konkurrenz oder schwachen Wettbewerbern nicht wie gewünscht. Ist die Marktmacht zu groß, kann der Staat daher bewusst Maßnahmen zur Förderung des Wettbewerbs ergreifen. Auch andere Formen von Marktversagen erfordern staatliche Interventionen. Bisweilen fehlt es den Marktteilnehmern an ausreichenden Informationen, um die Qualität eines Produkts einschätzen zu können. Deshalb fordert der Staat etwa von den Pharmaunternehmen, dass sie die Sicherheit und Wirksamkeit ihrer Medikamente nachweisen. Die öffentliche Hand reguliert Wirtschaftszweige wie das Bankenwesen oder das Kabelfernsehen, sie versucht die Konsumenten vor unlauterer Werbung und finanziellem Betrug zu schützen und engagiert sich sogar in der Raumordnung, um die wirtschaftlich vernünftigste Nutzung des vorhandenen Bodens zu gewährleisten. Wie aber kann der Staat effiziente Märkte bestmöglich fördern? Wie lässt sich Marktversagen optimal kontrollieren, ohne die massiven Effizienzgewinne des ungebremsten Marktwettbewerbs und der Konkurrenz zu untergraben? Bisweilen liegt die Regulierung eines bestimmten, eingegrenzten Bereichs ganz im öffentlichen Interesse. In anderen Fällen kann staatliche Regulierung
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aber weitaus mehr Probleme schaffen, als sie zu lösen imstande ist. In diesen Fällen empfiehlt es sich für den Staat, den betroffenen Sektor zu deregulieren. Wir befassen uns in diesem Kapitel mit der Wirtschaftspolitik und konzentrieren uns dabei insbesondere auf Regulierung und kartellrechtliche Erwägungen.
A. Staatliche Regulierungsmaßnahmen in Theorie und Praxis Die Regulierung der amerikanischen Wirtschaft durch den Staat lässt sich über ein Jahrhundert zurückverfolgen, und zwar bis hin zur Gründung der Interstate Commerce Commission (ICC) im Jahre 1887. Die ICC wurde gegründet, um einerseits Preiskriege zu verhindern und die Versorgung kleiner Gemeinden mit öffentlichen Dienstleistungen zu gewährleisten und um andererseits eine Monopolkontrolle zu garantieren. Etwas später, im Jahr 1913, wurde die staatliche Einflussnahme auch auf die Banken, 1920 auf die Elektrizitätsgesellschaften und auf den Kommunikationsbereich, die Wertpapiermärkte, den Arbeitsmarkt sowie LKW-Transporte und in den dreißiger Jahren auch auf die Luftfahrt ausgedehnt. Erst in den letzten Jahren hat, wie wir noch sehen werden, die US-Regierung ihren Kurs geändert und bemüht sich heute um die Deregulierung zahlreicher Wirtschaftszweige. In ihrem Versuch, wirtschaftliche Aktivitäten zu kontrollieren, können sich Staaten entweder ökonomischer Anreize oder staatlicher Verordnungen bedienen. Historisch gesehen erscheint staatliche Regulierung hauptsächlich durch den direkten Ansatz geprägt. Das heißt, die Staaten verließen sich vorrangig auf den Erlass von Vorschriften und die Kontrolle ihrer Einhaltung. Nach dieser
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Methode weist der Staat auf dem Verordnungsweg seine Bürger an, bestimmte Aktivitäten vorzunehmen oder zu unterlassen. So könnte ein Staat etwa verlangen, dass sich Unternehmen ausschließlich in Gewerbegebieten niederlassen oder keinerlei Chemikalien in Flüsse einleiten. Der Staat gebietet heute über zahlreiche unterschiedliche Bereiche, nicht nur über Umweltverschmutzung und Flächenwidmung, sondern auch über Lohn- und Arbeitszeitstandards und zahlreiche branchenspezifische Vorschriften wie Anweisungen für den Einsatz von Pestiziden oder die Herstellung neuer Medikamente. In letzter Zeit bemühten sich Ökonomen, Regierungen zur Erprobung einer völlig neuen Form der Regulierung zu überreden: den Marktanreizen. Das beste Beispiel dafür liefert das Luftreinhaltegesetz aus dem Jahr 1990, das im nächsten Kapitel besprochen werden soll. Dieses Gesetz sieht die Bildung von Märkten zum An- und Verkauf so genannter „handelbarer Emissionszertifikate“ vor, die im Wesentlichen eine Lizenz zur Luftverschmutzung darstellen. Eine solche Nutzung der Marktkräfte eröffnet viel effizientere Möglichkeiten zur Erreichung staatlicher Ziele als einfache Verordnungs- und Kontrollmethoden. Regulierung bedeutet staatliche Verordnungen oder Gesetze, die zur Kontrolle der Preis-, Verkaufs- oder Produktionsentscheidungen von Unternehmen erlassen werden.
Zwei Arten der Regulierung Man unterscheidet üblicherweise zwischen zwei Formen der Regulierung: Die wirtschaftliche Regulierung bezieht sich auf die Kontrolle von Preisen, Marktzutritts- und -austrittsbedingungen sowie auf Produktstandards in bestimmten Branchen. Am wichtigsten ist dieser Ansatz in Branchen mit einem natürlichen Monopol. (Erinnern Sie sich: Ein natürliches Monopol ist ein Markt, auf dem ein effizienter Branchenoutput nur
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
von einem einzigen Unternehmen zu gewährleisten ist.) Häufige Beispiele einer wirtschaftlichen Regulierung betreffen etwa die öffentlichen Versorgungsunternehmen (Telefon, Strom, Erdgas, Wasser) oder einige andere Wirtschaftszweige (Transport, Radio und Fernsehen). Der Finanzsektor ist seit den 1930er Jahren einer strengen Regulierung unterworfen, wobei genau festgelegt wird, was Banken, Broker und Versicherungsgesellschaften tun dürfen und was nicht. Daneben ist aber auch noch eine neuere Regulierungsform zu nennen, die soziale Regulierung, die eingesetzt wird, um unsere Umwelt oder die Gesundheit und Sicherheit von Arbeitnehmern und Konsumenten zu schützen. Soziale Regulierungsmaßnahmen zielen darauf ab, eine breite Palette von Nebenwirkungen oder Externalitäten zu korrigieren, die mit wirtschaftlichen Aktivitäten einhergehen. Programme zur Reinhaltung von Luft und Wasser oder zur Gewährleistung der Sicherheit von Kernkraftwerken, Medikamenten oder Autos gehören zu den bekanntesten Beispielen sozialer Regulierung. Aufgrund ihrer großen Bedeutung werden wir die ökologische Regulierung im nächsten Kapitel ausführlich gesondert behandeln.
Wie lässt sich eine Regulierung der Wirtschaft begründen? Staatliche Regulierungsmaßnahmen federn die ungebremste Marktmacht von Unternehmen ab. Doch welche legitimen Gründe können es sein, die eine Regierung dazu bewegen, sich über die Entscheidungen des freien Marktes hinwegzusetzen? Nun, für eine Regulierung durch den Staat lassen sich drei gewichtige Gründe im Sinne des öffentlichen Interesses anführen. Der erste bezieht sich auf die Regulierung des Verhaltens von Unternehmen mit dem Ziel, einem Missbrauch der Marktmacht durch Monopole oder Oligopole entgegenzuwirken. Der zweite Grund
liegt in der Beseitigung von Informationsmängeln wie etwa unzureichendem Wissen der Konsumenten über die Merkmale wichtiger Produkte wie Medikamenten oder elektrischen Geräten. Und der dritte Grund, der staatliche Eingriffe rechtfertigt, liegt in der Korrektur externer Effekte wie der Umweltverschmutzung – sie ist Gegenstand der sozialen Regulierung, die wir im nächsten Kapitel behandeln werden.
Einschränkung der Marktmacht Traditionell werden staatliche Regulierungsmaßnahmen normativ gesehen: Regulierungsmaßnahmen sollen dazu dienen, schwerwiegende Formen des Marktversagens zu korrigieren. Oder konkreter, der Staat sollte jene Wirtschaftszweige regulieren, in denen zu wenige Unternehmen tätig sind, um eine gesunde Konkurrenz zu gewährleisten. Wirtschaftszweige bedürfen speziell im Fall eines natürlichen Monopols der staatlichen Regulierung. Als anschauliches Beispiel für ein natürliches Monopol kann uns die lokale Wasserversorgung dienen. Die Kosten für die Sammlung des Wassers, den Aufbau eines Leitungsnetzes und schließlich die Versorgung aller Haushalte mit Trinkwasser sind so hoch, dass sie mehr als einen lokalen Wasserversorger nicht tragen würden, und somit stellt die lokale Wasserversorgung ein natürliches Monopol dar. Bisweilen übernimmt sogar der Staat selbst die Wasserversorgung seiner Bürger, während in den meisten Fällen diese Aufgabe einem staatlich regulierten privaten Wasserwerk zufällt. Eine andere Art eines natürlichen Monopols ergibt sich in Wirtschaftszweigen mit Verbundvorteilen, die entstehen, wenn eine ganze Reihe verschiedener Produkte effizienter von einem als von mehreren, organisatorisch getrennten Unternehmen produziert werden kann. Computersoftware ist etwa ein allseits bekanntes Beispiel für beträchtliche Verbundvorteile. Viele Computerprogramme werden im Zuge ihrer Entwicklung mit zusätzlichen Funktionen ausgestattet. Kauft
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
sich ein Bürger ein Programm zur Erstellung seiner Einkommensteuererklärung, findet er auf der CD-ROM meist noch mehrere andere Module, beispielsweise Links zu diversen Websites, staatliche Dokumente und ein Handbuch, das genau erklärt, wie man eine Steuererklärung erstellt. Der Verbundvorteil besteht darin, dass die verschiedenen Module billiger produziert, kombiniert und zusammen anstatt einzeln verwendet werden können. Eine letzte Komponente eines natürlichen Monopols, die wir insbesondere in Branchen, die auf Netzen aufbauen, finden, ergibt sich aus der Notwendigkeit der Standardisierung und Koordinierung innerhalb eines Systems, das andernfalls nicht effizient betrieben werden könnte. Eisenbahnen benötigen genormte Spurweiten, das Stromnetz erfordert einen Ladungsausgleich, und die Kommunikationsbranche ist auf Standardcodes angewiesen, ohne die ihre Teilnehmer nicht miteinander „sprechen“ könnten. Wir wissen bereits aus unserer Kostenanalyse in den früheren Kapiteln dieses Buches, dass sich bei jeder Produktionshöhe erziehlbare Skalenerträge mit einem vollständigen Wettbewerb schlecht vertragen; in diesen Fällen kommt es häufig zu Monopolen oder Oligopolen. Hier wollen wir allerdings auf einen noch extremeren Fall hinaus: Treten Skalenerträge oder Verbundvorteile auf, die so stark sind, dass nur ein einziges Unternehmen überleben kann, sprechen wir von einem natürlichen Monopol. Warum sollten Staaten natürliche Monopole regulieren? Sie tun das, weil ein natürlicher Monopolist, der sich über einen großen Kostenvorteil gegenüber seinen potenziellen Konkurrenten und über eine preisunelastische Nachfrage freuen darf, seine Preise überhöht ansetzen, enorme Monopolgewinne erzielen und große volkswirtschaftliche Ineffizienzen bewirken kann. Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts etwa profitierten Kabelfernsehgesellschaften ungeniert von ihren lokalen Monopolen, indem sie eine Vielzahl von Fernsehkanälen
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mit qualitativ hochwertigem Programmangebot zu deutlich überhöhten Preisen offerierten. Das bewog den amerikanischen Kongress und zahlreiche amerikanische Bundesstaaten, die von den Kabelfernsehgesellschaften berechneten Preise staatlich zu regulieren. Studien zeigen jedoch, dass diese Preiskontrolle wenig bewirkte und in einigen Sparten die Preise sogar in die Höhe trieb. Daher vollzog der Kongress mit dem Communications Act von 1996 eine Wende und hob die Preis- und Marktzutrittskontrolle auf, weil er zu der Ansicht gelangt war, ein verstärkter Wettbewerb könne sich für die Konsumenten positiver auswirken als verordnete Preise. Früher rechtfertigte man staatliche Regulierungsmaßnahmen mit durchaus fragwürdigen Begründungen, etwa dass man sie benötige, um einen allzu mörderischen Wettbewerb zu verhindern. Mit diesem Argument wurde unter anderem die permanente Kontrolle der Eisenbahnen, des LKW-Verkehrs, der Flug- und Buslinien sowie die Regulierung der landwirtschaftlichen Produktion gerechtfertigt. Volkswirte können dieser Argumentationsweise heute nur noch wenig abgewinnen. Schließlich ist der Wettbewerb mit seiner höheren Effizienz und den niedrigen Preisen genau das, was ein effizientes Marktsystem ausmacht.
Behebung von Informationsversagen Ein weiterer Grund für staatliche Regulierungsmaßnahmen besteht in der unzureichenden Information der Konsumenten über die verfügbaren Produkte. Medikamententests erfordern nun einmal ein ziemlich kostspieliges und wissenschaftlich aufwendiges Verfahren. Der Staat reguliert daher den Medikamentenhandel, indem er nur jene Wirkstoffe zum Verkauf zulässt, die sich als „unbedenklich und wirksam“ erwiesen haben. Er verbietet aber auch inhaltlich falsche und irreführende Werbung. In beiden Fällen
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
bemüht sich die öffentliche Hand, das aufgetretene Marktversagen auszugleichen und Informationen auf effiziente Weise zur Verfügung zu stellen. Besonders wichtig erscheinen Informationen auf den Finanzmärkten. Ein Käufer von Aktien oder Anleihen privater Unternehmen legt sein Vermögen in die Hände von Leuten, über die er praktisch gar nichts weiß. Daher empfiehlt es sich, vor einem Aktienkauf – ob von IBM oder der XYZ.com – die Abschlüsse des jeweiligen Unternehmens zu studieren, um zu erfahren, wie hoch Umsatz, Gewinn und Dividenden zuletzt waren. Aber weiß der potenzielle Käufer deshalb auch schon, wie das Objekt seiner Begierde seine Gewinne misst? Wie kann er darauf vertrauen, dass sein Kaufobjekt ehrlich und ohne Tricks bilanziert? An dieser Stelle greift der Staat in die Finanzmärkte ein. Die staatliche Aufsicht über die Finanzdienstleister hat zumeist den Zweck, Qualität und Quantität der Informationen zu verbessern und so die Effizienz der Märkte zu heben. Auch wenn ein Unternehmen an die Börse geht oder Anleihen begibt, muss es eine umfassende Dokumentation seiner aktuellen finanziellen Situation und möglicher zukünftiger Finanzentwicklungen vorlegen. Die Bücher müssen das Testat eines unabhängigen Wirtschaftsprüfers aufweisen. Durchgesetzt werden die staatlichen Vorschriften bisweilen auch von Privaten: So müssen etwa die an der NYSE, der Börse von New York, notierten Unternehmen Kriterien erfüllen, die sogar noch strenger sind als die staatlichen Vorgaben. Gelegentlich, und zwar vor allem in Zeiten spekulativer Blasen, überspannen oder brechen einzelne Unternehmen die geltenden Vorschriften. Das geschah etwa Ende der neunziger Jahre und noch einmal knapp nach der Jahrtausendwende im großen Maßstab, insbesondere in den Kommunikationsbranche bei den Unternehmen der New Economy. Als die illegalen Praktiken bekannt wurden, verabschiedete der Kongress im Jahre
2002 ein neues Gesetz. Demnach ist es nun gesetzlich verboten, Wirtschaftsprüfern falsche Informationen vorzulegen; außerdem wurde ein unabhängiges Kontrollgremium über die Wirtschaftsprüferkanzleien eingerichtet, und die US-Wertpapieraufsichtsbehörde SEC wurde mit zusätzlichen Aufsichtsbefugnissen ausgestattet. Man hört bisweilen die Ansicht, ein solches Gesetz müsse den ehrlichen Unternehmen doch eigentlich sehr gelegen kommen: Strenge Berichtsstandards und Offenlegungspflichten nützen den Finanzmärkten, weil sie das Informationsungleichgewicht zwischen Käufern und Verkäufern verringern, Vertrauen stärken und zu Finanzanlagen anregen.
Wie mit externen Effekten umgehen? Auch beim Auftreten externer Effekte können staatliche Regulierungsmaßnahmen gerechtfertigt sein. Das klassische Beispiel einer Regulierung dieses Typs, die wir im nächsten Kapitel behandeln wollen, sind Maßnahmen zum Schutz der Umwelt. Doch es gibt auch noch weitere interessante Fälle. Zu nennen wären etwa raumplanerische Aktivitäten und Flächennutzungspläne, die den Einsatz von Grund und Boden durch die Eigentümer regeln. Zumeist sagt ein Flächennutzungsplan aus, ob ein Grundstück für den Bau von Wohnhäusern, Geschäften oder Industrieanlagen ausgewiesen ist und wie groß das darauf zu errichtende Gebäude maximal sein darf. Lässt sich die Widmung von Grundstücken durch den Staat volkswirtschaftlich rechtfertigen? Nun, würde man beispielsweise die Errichtung einer Mülldeponie in einem Wohngebiet gestatten, käme es zu Externalitäten, die für jedermann in der Umgebung unangenehme Folgen hätten. Ebenso könnte ein fünfzigstöckiges Bürogebäude in einer Zone mit zweistöckigen Häusern das lokale Verkehrssystem und andere Infrastruktureinrichtungen überfordern.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Flächennutzung können enorm sein. Die Möglichkeit, auf einem Grundstück ein fünfzigstöckiges Bürogebäude anstatt eines zweistöckigen Wohnhauses zu errichten, verändert den Wert des Bodens ganz beträchtlich. Daher ist der Flächennutzungsplan die wahrscheinlich wichtigste Form der Regulierung auf der Verwaltungsebene der Kommunen.
Interessengruppen und Regulierung Bisher haben wir uns mit der normativen Rechtfertigung staatlicher Regulierungsmaßnahmen beschäftigt. Wir sollten jedoch auch bedenken, dass die Regulierung ihrerseits Gewinne schafft und somit Interessengruppen produziert, die ein reges Interesse an den Ergebnissen staatlicher Eingriffe haben. Manchmal kommt es aufgrund der Wechselwirkung zwischen Regulierung und Politik zu unerwünschten Resultaten in Form einer Beschränkung des Zutritts zum regulierten Sektor, sodass Preise und Gewinne der etablierten Unternehmen steigen.1 Ein regulierter Sektor kann daher Lobby-Arbeit für die Beibehaltung der Regulierung betreiben, um sich lästige Mitbewerber vom Hals zu halten und weiterhin überhöhte Gewinne zu erzielen. Ökonomen, die den wettbewerbsfeindlichen Aspekt von Regulierungen betonen, argumentieren wie folgt: „Sie behaupten, staatliche Regulierung sei im Interesse der Konsumenten und Arbeitnehmer. Glauben Sie das bloß nicht! Staatliche Eingriffe sollen nur das Einkommen der Produzenten heben, indem der Marktzutritt erschwert und so ein Wettbewerb im regulierten Bereich verhindert wird. Wenn Verbraucher 1 Die grundlegende Arbeit zu diesem Thema hat George Stigler von der University of Chicago verfasst, der dafür und für seine sonstigen Beiträge mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Die Chicago School hat mit ihrer These, wonach staatliche Eingriffe in die Wirtschaft häufig mehr schaden als nützen, die öffentliche Diskussion stark beeinflusst.
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und Arbeitnehmer überhaupt einen Nutzen aus der Regulierung ziehen, so ergibt sich dieser rein zufällig.“
Die historische Betrachtung staatlicher Regulierungstätigkeit zeigt uns, dass in dieser Ansicht offenbar mehr als nur ein Körnchen Wahrheit steckt. So haben zahlreiche ökonomische Studien zum Thema den Nachweis erbracht, dass es gerade die staatlichen Eingriffe sind, die in vielen Fällen die Preise künstlich hochhalten. Jahrelang mussten Transportunternehmen und Fluglinien erst eine Genehmigung einholen, wenn sie ihre Preise senken oder neue Märkte erschließen wollten. Andere Arten der Regulierung bewirken außerdem eine Beschränkung des Wettbewerbs. So machen die strengen Auflagen vor der Einführung neuer Medikamente die Verfahren bis zur Marktzulassung langwierig und sehr kostspielig, ein Umstand, der zahlreiche kleinere Unternehmen vom Markt fernhält, weil sie sich jahrelange Tests, wie sie für ein neues Medikament nun einmal erforderlich sind, nicht leisten können. Ein Beispiel dafür, dass Regulierungsmaßnahmen dem betreffenden Wirtschaftszweig auf Kosten der Steuerzahler zugute kommen können, führte uns vor einiger Zeit der Sparkassen- und Kreditvergabesektor vor Augen. Das staatliche System der Einlagenversicherung war in den USA in den dreißiger Jahren eingeführt worden, um das Vertrauen in die Banken wieder herzustellen und Panik unter den Bankkunden zu vermeiden. Zu Beginn der achtziger Jahre zeigte sich jedoch, dass dieses Programm nicht ausreichend durchdacht war. Es bot eine staatliche Garantie auf Bankeinlagen, ohne sicherzustellen, dass die Banken mit den Einlagen auch vorsichtig und vernünftig umgingen. Nach der Deregulierung des Sektors wurden die Banken weniger streng geprüft. Viele Banken zahlten hohe Zinsen, mit denen sie Einlagekunden anlockten, um dann das Geld für riskante Darlehen und Investitionen zu verwenden und wohl auch, um die hohen Gehälter ihrer leitenden Mitarbeiter und Funktionäre zu bezahlen.
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
Regulierung öffentlicher Versorgungsunternehmen mit natürlichem Monopol Ein traditionelles Argument für staatliche Regulierungsmaßnahmen ist das Bemühen, die monopolistische Preisgestaltung natürlicher Monopolisten zu unterbinden. Doch betrachten wir einmal im Detail, wie die Aufsichtsbehörden überhöhte Preise von Monopolisten kontrollieren. Sie erinnern sich sicher, dass ein natürliches Monopol ein Wirtschaftszweig ist, in dem am effizientesten durch ein einziges Unternehmen produziert werden kann. Abbildung 17-1 zeigt, wie die Durchschnittskosten AC, die Grenzkosten MC und die Nachfragekurve der Branche in einem natürlichen Monopol beschaffen sein könnten. Beachten Sie bitte, dass die Branchennachfragekurve (DD) die MC-Kurve des Unternehmens im Bereich sinkender Durchschnittskosten AC schneidet. Würden zwei ähnliche Unternehmen den Branchenoutput produzieren, lägen die Durchschnittskosten für die beiden Unternehmen weit über jenen des einen Unternehmens.
AC, MC Durchschnittskosten, Grenzkosten
Als unter den Banken eine wahre Pleitenserie ausbrach, musste der Staat einspringen. Die Verluste beliefen sich auf Hunderte Milliarden US-Dollar. Wegen der intensiven Lobby-Arbeit und großzügiger Wahlspenden verzögerten sich vernünftige staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der schädlichen Vorgehensweise um viele Jahre, bis der Kongress im Jahre 1989 endlich beschloss, den verschwenderischen Praktiken Einhalt zu gebieten. Doch wer waren die Nutznießer der ungeeigneten und korrupten Regulierung des Bankensektors? In erster Linie die Banker, die Banken und die Aktionäre der Banken. Die Verlierer? Sie haben es erraten, das waren die Steuerzahler.
D
300
200 AC 100 MC D Q
1
–2 Q*
Q* Menge
Abbildung 17-1: Die Kostenkurven eines natürlichen Monopolisten Die AC-Kurve eines natürlichen Monopolisten fällt selbst dort noch, wo sie die DD-Kurve der Branche schneidet. Eine effiziente Produktion erfordert daher eine Konzentration und muss von einem einzigen Unternehmen erbracht werden. (Schätzen Sie aus dem Diagramm, um wie viel teurer es wäre, müsste Q* von zwei Unternehmen jeweils zur Hälfte produziert werden!)
Nehmen wir an, der Gesetzgeber beschlösse die Regulierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe eines bestimmten Sektors. Wie würde er dabei wohl vorgehen? Er würde zunächst eine Kommission einsetzen, die Preise, Dienstleistungen sowie Marktzutritt und -austritt zu beobachten hätte. Die wichtigste Entscheidung wäre jedoch die Regelung der Preisgestaltung für das Monopolunternehmen. Üblicherweise wird im Zuge staatlicher Regulierung den Unternehmen ein Durchschnittspreis vorgeschrieben. So müsste ein Stromversorgungsunternehmen seine gesamten Kosten (fixe wie variable) errechnen und sie auf alle verkauften Produkte umlegen (beispielsweise Strom und Dampf). Den Kunden würden dementsprechend die auf die jeweils beanspruchte Dienstleistung umgelegten Durchschnittskosten berechnet.
494
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
P
Preis
PM
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D
M (Monopolpreis)
R (regulierter Preis) PR
AC
I (Idealpreis) PI
MC
MR D
QR
QM
QI
Q
Menge
Abbildung 17-2: Ideale und tatsächliche Preisregulierung bei Monopolisten Das gewinnmaximale Gleichgewicht für den unregulierten Monopolisten liegt in M, direkt über dem Schnittpunkt von MR und den langfristigen Grenzkosten MC, wobei der Preis über den Grenzkosten MC liegt. Behörden mit Aufsichtsfunktion über die Versorgungseinrichtungen fordern zumeist, die Preise in Höhe der Durchschnittskosten in R anzusetzen, wo die Nachfragekurve die langfristige Durchschnittskostenkurve schneidet. Damit werden übertriebene Gewinne vermieden, und der Preis nähert sich den Grenzkosten an. Im Idealfall sollte der Preis bis auf I gedrückt werden, wo gilt: Preis = MC, sodass soziale Grenzkosten und Grenznutzen ausgewogen sind. In Punkt I träte durch den Umstand, dass der Preis genau den Grenzkosten entspricht , kein Effizienzverlust ein.
Abbildung 17-2 zeigt die Regulierung öffentlicher Versorgungseinrichtungen. Punkt M (mit einer Produktionsleistung QM verbunden) ist der unregulierte, gewinnmaximierende Output des Monopolisten, den wir bereits in Kapitel 9 behandelt haben. Hier treffen wir auf hohe Preise, geringe Mengen und ansehnliche Gewinne (dargestellt durch den schattierten Bereich in Abbildung 17-2). Bei einer herkömmlichen Regulierung darf der Monopolist jenen Preis verlangen, der gerade ausreicht, um seine Durchschnittskosten zu decken. In diesem Fall wird das Unternehmen seinen Preis dort ansetzen, wo sich die Nachfragekurve DD mit der Durchschnittskosten- oder AC-Kurve schneidet. Das Gleichgewicht stellt sich somit in Punkt R ein, die Produktionsmenge beträgt QR. Doch was taugt diese Lösung? Volkswirtschaftlich gesprochen darf sie immerhin als
Verbesserung gegenüber dem unregulierten Monopol gelten. Erstens ist nicht nachzuvollziehen, warum die Inhaber des Monopols mehr Rechte haben sollten als die Konsumenten. Es liegt daher auch kein Grund vor, ihnen das Herauspressen von Monopolgewinnen aus den Konsumenten zu gestatten. Zweitens haben die regulierenden Behörden, indem sie den Monopolisten zwingen, seinen Preis von PM auf PR zu senken, die Diskrepanz zwischen Preis und Grenzkosten verringert. Diese Änderung erhöht die volkswirtschaftliche Effizienz, weil die höhere Produktionsmenge den Konsumenten mehr an Grenznutzen einbringt, als sie für die Gesellschaft an Grenzkosten verursacht. Erst wenn der Preis in allen Bereichen den Grenzkosten entspricht, setzt eine Gesellschaft ihre Ressourcen so effizient wie möglich ein.
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
Ideale Preisregulierung. Wenn P = MC die Idealformel schlechthin ist, stellt sich die Frage, warum die Aufsichtsbehörden den Monopolisten nicht einfach zwingen, seinen Preis so weit zu senken, bis er den Grenzkosten am Schnittpunkt von DD und MC entspricht (in I). Tatsächlich ist die Gleichung P = MC oder die Preisbildung in Höhe der Grenzkosten das Idealziel im Sinne volkswirtschaftlicher Effizienz. Doch in der Praxis ist die Sache nicht so einfach: Setzt ein Unternehmen mit sinkenden Durchschnittskosten seine Preise auf Höhe der Grenzkosten fest, so entsteht ihm dadurch ein chronischer Verlust. Der Grund liegt darin, dass bei sinkenden Durchschnittskosten AC gilt: MC < AC, sodass die Gleichsetzung P = MC impliziert, dass der Preis unter die Durchschnittskosten fällt (P < AC). Liegt der Preis (oder liegen die durchschnittlichen Erträge) unter den Durchschnittskosten, verliert das Unternehmen Geld. Um diese Aussage auch grafisch nachvollziehen zu können, prüfen Sie bitte die ideale Regulierungslösung im Punkt I der Abbildung 17-2. Hier entspricht der Preis den Grenzkosten, aber die MC liegen unter den Durchschnittskosten. Wenn die Durchschnittskosten über dem Preis liegen, verliert das Unternehmen Geld. Da Unternehmen bei ständigen Verlusten nicht lange weiter bestehen können und Staaten Monopolisten nur ungern subventionieren, lässt sich die Ideallösung schwerlich erreichen. Ein alternativer Ansatz wäre eine Preisbildung anhand zusammengesetzter Preise oder Gebühren. Das Unternehmen berechnet dabei eine fixe Gebühr (beispielsweise einige US-Dollar pro Monat), um seine Betriebskosten abdecken zu können, und zusätzlich einen Aufschlag für die variablen Kosten (etwa pro telefonierter Einheit, pro Kilowattstunde Strom oder dergleichen), um seine Grenzkosten decken zu können. Mit diesem Ansatz käme man den idealen Grenzkostenpreisen noch näher als mit der traditionellen
Preisgestaltung anhand der Durchschnittskosten. Volkswirtschaftliche Innovationen: Regulierung auf Leistungsbasis Wie wir bereits gesehen haben, werden die Preise im Rahmen einer traditionellen Renditeregulierung ermittelt, indem man zu den Produktionskosten des betreffenden Unternehmens eine Kapitalrendite in festgelegter Höhe addiert. Dieser Ansatz bietet nur geringe Sparanreize und führt tendenziell zu kapitalintensiven Produktionstechniken. Die Anreize erweisen sich sogar als kontraproduktiv, denn wenn der Preis den Durchschnittskosten entspricht, können die Unternehmen ihre Gewinne durch höhere Kosten sogar steigern. Wie ein Wirtschaftswissenschaftler bemerkte, ist dies der einzige Markt, auf dem Sie profitieren können, wenn Sie Ihr Büro mit einem teuren Perserteppich schmücken! Ein radikal neuer Ansatz zur Anreizverbesserung ist die leistungsbasierte Regulierung. Mit dieser Methode werden Unternehmen anhand ihrer Leistung und nicht nach den Produktionsinputs behandelt, wozu im Normalfall Preisobergrenzen zur Anwendung kommen. Eine Regel besagt, dass sich regulierte Preise mithilfe der Formel „Inflation minus X“verändern sollten. Bei diesem Ansatz wird der vom regulierten Unternehmen maximal berechnete jährliche Preisaufschlag einem Betrag entsprechen, der sich aus der Inflationsrate („Inflation“) abzüglich einer jährlichen Effizienzsteigerungsnorm („X“) ergibt. Die Attraktivität dieses Ansatzes liegt in der Nachahmung eines Wettbewerbsmarktes. Die Unternehmen werden Preisnehmer, und jede Kostensenkung verbessert unmittelbar das Betriebsergebnis. Die negativen Anreize durch die konventionelle Regulierung werden hiermit vermieden. Eine gut konzipierte Preiskontrolle ermutigt die Versorgungsunternehmen, ihre Kosten zu senken, ermöglicht das Entstehen eines Wettbewerbs und verringert unökonomische Quersubventionierungen.
496
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
Die Kosten der Regulierung
Diese neuartige Technik wurde in den letzten zehn Jahren bereits in mehreren Wirtschaftssektoren der USA und anderer Länder erprobt. Zwar bieten Preisobergrenzen überlegene Effizienzanreize, aber auch sie haben ihre Mängel. Der größte Nachteil dieses Ansatzes besteht in der Unsicherheit über die angemessene Höhe von X. X sollte den Zielwert der Kostensenkung im Verhältnis zur Wirtschaft als Ganzes darstellen. Wird X über zu lange Zeit falsch festgesetzt, geht das Unternehmen in Konkurs oder nimmt große Monopol-Mitnahmegewinne ein. Daher überprüfen alle staatlichen Behörden, die Preisobergrenzen vorschreiben, den X-Faktor in regelmäßigen Abständen.
Volkswirte beschäftigen sich mit den Auswirkungen staatlicher Regulierung. Sie wollen Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen. Die Ergebnisse der neuesten einschlägigen Studie sind in Tabelle 17-1 nachzulesen. Staatliche Regulierung bringt sowohl Effizienzgewinne als auch Effizienzverluste mit sich (beispielsweise durch einen exzessiven und daher ineffizienten Umweltschutz), und sie bewirkt eine Einkommensumverteilung (wenn etwa aufgrund hoher Frachtpreise Einkommen von den Konsumenten zu den Transportunternehmen hin umgeschichtet wird). Die meisten Studien gelangen zu dem
Die Auswirkungen von Regulierungsmaßnahmen, USA, 1988* Effizienzgewinne oder -verluste Vorteile (Mrd. US-$)
Kosten (Mrd. US-$)
Nettovorteile (Mrd. US-$)
Einkommensumverteilung (Mrd. US-$)
Volkswirtschaftliche Regulierung Telekommunikation
0,0
14,1
–14,1
42,3
Landwirtschaft
0,0
6,7
–6,7
18,4
Fluglinien
0,0
3,8
–3,8
7,7
Eisenbahn
0,0
2,3
–2,3
6,8
Milch
0,0
0,7
–0,7
2,2
Erdgas
0,0
0,3
–0,3
5,0
Kredite
0,0
0,3
–0,3
0,8
Schiffe
0,0
0,3
–0,3
0,8
Davis-Bacon Act
0,0
0,2
–0,2
0,5
Ozean
0,0
0,1
–0,1
0,2
Postgebühren
0,0
k. A.
0,0
8,0
58,4
66,5
–8,1
k. A.
Kernkraft
kA
6,5
kA
k. A.
Sicherheit am Arbeitsplatz
0,0
8,8
–8,8
k. A.
Soziale Regulierung Umwelt
497
Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
Die Auswirkungen von Regulierungsmaßnahmen, USA, 1988* Effizienzgewinne oder -verluste Vorteile (Mrd. US-$)
Kosten (Mrd. US-$)
Nettovorteile (Mrd. US-$)
Einkommensumverteilung (Mrd. US-$)
Sicherheit auf Autobahnen
35,6
7,7
27,9
k. A.
Pharmazeutika
k. A.
2,3
k. A.
k. A.
Chancengleichheit
k. A.
0,9
k. A.
k. A.
Verbrauchsgüter
k. A.
0,03
k. A.
k. A.
0,0
17,3
–17,3
98,1
Soziale Regulierung
Sonstige Außenhandel
Gesamt, alle Regulierungsmaßnahmen und Branchen** Mrd. US-$ Als Prozentsatz des BIP
94,0
139,0
–35,0
191,0
2,1
3,2
–0,8
4,4
* Alle Schätzwerte in US-Dollar, Stand 1988; kA = liegt nicht vor. ** Bitte beachten Sie, dass beim Fehlen von Angaben (kA) der betreffende Wert gleich null gesetzt wurde. Damit werden die Vorteile wahrscheinlich ein wenig zu gering angesetzt, und auch die umverteilende Wirkung dürfte leicht unterbewertet sein. Tabelle 17-1: Auswirkungen der Regulierung auf die Effizienz und umverteilende Wirkung Studien über die Auswirkungen einer volkswirtschaftlichen und sozialen Regulierung belegen, dass wirtschaftlich motivierte Eingriffe nur geringfügige Vorteile aufweisen, weil sie zu beträchtlichen Effizienzverlusten führen und stark umverteilend wirken. Soziale Regulierungsmaßnahmen haben jedoch nachweislich Vorteile, allerdings sind diese extrem schwierig zu messen. Quelle: Robert W. Hahn und John A. Hird, „The Costs and Benefits of Regulation: Review and Synthesis,“ Yale Journal on Regulation, Bd. 8, 1991, S. 233–287. Bei einer gewissen Bandbreite der Schätzungen wurde jeweils der Mittelwert gewählt.
Schluss, dass sich eine ökonomische Regulierung hauptsächlich in Effizienzverlusten und einer massiven Einkommensumverteilung äußert. Die Erfolgsbilanz der sozialen Regulierung ist dagegen gemischt. In einigen Fällen ergeben sich signifikante Vorteile, während andere kostenintensiv, aber nicht besonders nützlich sind. Die Kosten der sozialen wie auch der ökonomischen Regulierung (einschließlich internationaler Handelsbeschränkungen) werden (zum Stand von 1988)
auf rund 3,2 Prozent des NIP der Vereinigten Staaten geschätzt. Zwar gibt es keine mit Tabelle 17-1 vergleichbaren Studien aus letzter Zeit, doch dürfte die Gesamtbelastung der Regulierung heute wahrscheinlich geringer sein. Schließlich wurden in den letzten zehn Jahren Handelsbarrieren abgebaut sowie die Deregulierung der Industrie vorangetrieben, und es gab auch weniger große soziale Regulierungsmaßnahmen.
Erste Deregulierungsmaßnahmen in der zivilen Luftfahrt Seit 1975 ging die US-Regierung dazu über, viele Sektoren ganz oder teilweise wieder zu deregulieren, darunter Benzin, Fluglinien, Transportunternehmen, Eisenbahnen, Börsenhandel, Telefon-Ferngespräche, das Bankwesen, das Kommunikationswesen, den Finanzsektor und die Erdgasförderung. Alle diese Wirtschaftszweige zeichnen sich durch wettbewerbsfördernde Strukturmerkmale aus, weil ihre Märkte gemessen an der effizienten Größe der einzelnen Unternehmen sehr groß sind. Anhand der zivilen Luftfahrt lässt sich das Dilemma der Deregulierung sehr deutlich zeigen. Seit seiner Gründung in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah das Civil Aeronautics Board (CAB) seine Aufgabe in einer Verhinderung jedes Wettbewerbs. In den Jahren 1938–1978 wurde es keiner einzigen neuen großen Fluglinie gestattet, auf
Vollständiger Wettbewerb
Autobahnen*
Teil 4
Lokale Wasserversorgung*
Mikroprozessoren Flugzeugproduktion
Automobilproduktion
Während der letzten beiden Jahrzehnte hörte man von vielen Ökonomen immer wieder das Argument, die staatliche Regulierung führe eher zur Bildung von Monopolen, als dass sie diese verhindern könne. Diese Vorstellung gründet teilweise auf der weiter oben erwähnten Einflussnahme diverser Interessengruppen auf die staatliche Regulierung. Außerdem haben Beobachter festgestellt, dass sich der Bereich wirtschaftlicher Regulierung mittlerweile weit über die natürlichen Monopole hinaus erstreckt. Mitte der siebziger Jahre griffen staatliche Aufsichtsbehörden nach Eisenbahnen und Transportunternehmen, nach Fluglinien und Bussen, nach Radio und Fernsehen, Erdöl und Erdgas, nach Pekannüssen, Milch und praktisch allen Finanzmärkten. Einige dieser mittlerweile regulierten Wirtschaftszweige entsprachen eher dem vollständigen Wettbewerb als dem natürlichen Monopol, wie Abbildung 17-3 zeigt.
Bankenwesen*
Die Abkehr von wirtschaftlichen Regulierungsmaßnahmen
Textilien Transportwesen (LKW)* Stahl Fluglinien*
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Landwirtschaft* Erdölbohrungen u. Bergbau
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Natürliches Monopol
Abbildung 17-3: Ausmaß des natürlichen Monopols in verschiedenen Branchen In dieser Grafik sind mehrere regulierte und nicht regulierte Sektoren nach dem Ausmaß des in ihnen herrschenden natürlichen Monopols oder vollständigen Wettbewerbs aufgelistet. In Branchen mit vollständigem Wettbewerb ist die kleinste noch effiziente Unternehmensgröße gemessen am Gesamtmarkt winzig, während ein natürliches Monopol dadurch gekennzeichnet ist, dass die durchschnittlichen Produktionskosten selbst auf dem Niveau der gesamten Branchenproduktion noch stark fallend sind. Landwirtschaft und Bergbau weisen einen deutlichen inhärenten Wettbewerb auf, während Autobahnen und lokale Versorgungsbetriebe einem natürlichen Monopol sehr nahe kommen. Der Stern (*) kennzeichnet Branchen, die in der Vergangenheit stark reguliert waren.
dem Binnenmarkt der Vereinigten Staaten mitzumischen. Wurde eine innovative, kostengünstige und einfache Ticketpreisgestaltung vorgeschlagen, wischte das CAB den Vorschlag einfach vom Tisch. Das CAB war (wie eigentlich vorauszusehen, wenn man die Einstellung von Interessengruppen zur Regulierung kennt) darum bemüht, die Flugpreise möglichst hoch zu halten, und eine Preissenkung lag ganz sicher nicht in seinem Interesse. Im Jahre 1977 ernannte Präsident Carter Alfred Kahn zum CAB-Vorsitzenden. Der anerkannte Ökonom und Regulierungskritiker stellte sich der schwierigen Aufgabe, durch größere Marktzutritts- und Preisflexibilität mehr Wettbewerb zuzulassen. Kurz nach seinem Amtsantritt beschloss der Kongress ein Gesetz, das auf allen Inlandsrouten freien Marktzutritt und -austritt ermöglichte. Die Fluglinien durften nun selbst über ihre Preisgestaltung entscheiden.
Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
Sehr häufig waren nun ängstliche Stimmen zu hören, denen zufolge es ohne staatliche Regulierungsmaßnahmen zu massiven Entlassungswellen und zu Versorgungsengpässen kommen werde. Doch nach über 20 Jahren Deregulierungserfahrung wissen wir, dass in der US-Zivilluftfahrt heute rund 65 Prozent mehr Mitarbeiter beschäftigt und etwa 70 Prozent mehr Inlands-Passagiermeilen zu verzeichnen sind. Studien haben ergeben, dass (inflationsbereinigt) die durchschnittlichen Ticketpreise in den Jahren nach der Deregulierung deutlich gesunken sind, dass sich die Auslastung der Flugzeuge verbessert hat und dass mittlerweile die Fluglinien in ihren Preisstrategien außerordentlich innovativ sind. Der Wettbewerb wurde schließlich so intensiv, dass die zivile Luftfahrt in den letzten zehn Jahren keine hohen Gewinne mehr erzielte, und Airline-Pleiten sind heute längst keine Seltenheit mehr. Nach und nach ersetzen nun neue Fluglinien wie Southwest Airlines die bankrotten alten Gesellschaften. Was sich mit Sicherheit als Fazit feststellen lässt, ist die Tatsache, dass die zivile Luftfahrt seit Einführung der Deregulierung in vielerlei Hinsicht effizienter geworden ist. Der Deregulierungserfolg bei den Airlines hat Ökonomen und Nichtökonomen überall auf der Welt ermutigt, selbst in Sektoren, deren Unternehmen das Potenzial zu einer signifikanten Marktmacht aufweisen, auf den unregulierten Markt zu vertrauen. Wirtschaftspolitik in der Praxis: Die Deregulierung der Stromversorgung Eines jener Gebiete, in denen wir in den letzten zehn Jahren eine besonders starke Deregulierung beobachten, ist die Stromversorgung. Der Sektor zerfällt in vier Produktionsstufen – Stromerzeugung, Stromübertragung, physische Verteilung an lokale Stromversorger und Verkauf an Privatkunden. Bis vor kurzem wurde die gesamte Stromversorgung als natürliches Monopol betrachtet und unterlag daher einer massiven staatlichen Regulierung. In vielen Ländern befinden sich die wichtigsten Ver-
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sorgungsunternehmen als kontrolliertes Monopol im Besitz der öffentlichen Hand, während andere Länder auf eine Gebührenregulierung durch Festlegung der Rendite setzen, um die Preise und Märkte der Stromversorgung im Griff zu behalten. Bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde Strom in den USA überwiegend von regulierten, vertikal integrierten Monopolen produziert, die große Gebiete elektrisch versorgten. In den letzten 20 Jahren entwickelte sich ein neuer Ansatz, der die bisherigen Ansichten zur optimalen Stromversorgung über den Haufen warf. Diese neue Theorie besagte, dass die Stromerzeugung selbst zwar technisch kompliziert, die optimale Größe einer Anlage jedoch so gering sei, dass problemlos Wettbewerbsmärkte zwischen alternativen Stromerzeugern entstehen könnten. Der Vertrieb über lokale Stromversorger ist ein typisches natürliches Monopol (wie die Wasserversorgung oder lokale Telefongesellschaften), das behördlicher Aufsicht bedarf, etwa durch eine Kontrolle der Servicegebühren. Überaus kompliziert ist hingegen die Übertragung von Strom über Fernstrecken. Man darf sie sich nicht wie eine Straße vorstellen, auf der Elektronen von Punkt A zu Punkt B befördert werden.Vielmehr geht es hier um eng verbundene Leitungsnetze, die einer zentralen Verwaltung bedürfen und erheblichen Skaleneffekten unterliegen. Die USA haben einen vorsichtigen Schritt zurück getan und die vertikal integrierten Monopolisten, von denen die Stromindustrie dominiert wurde, zerschlagen und dereguliert. Zum einen erschien die Deregulierung nach den erfolgreichen Versuchen in der zivilen Luftfahrt als sehr attraktiv. Zum anderen glaubte man aufgrund der erfolgreichen Zerschlagung des Telekommunikationsmonopols von Bell und der Anwendung der Bell-Doktrin (die wir beide weiter hinten in diesem Kapitel erörtern werden), dass die Deregulierung der Stromindustrie signifikante wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen würde.
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Das Reformpaket, das schließlich zur Deregulierung der amerikanischen Elektrizitätswirtschaft geschnürt wurde, enthielt folgende Elemente: • Privatisierung staatlicher Betriebe, wo die öffentliche Hand als Stromerzeuger aufgetreten war. Für das Management sollte dies „einschneidende Budgeteinschränkungen“ und starke Anreize zur Kostensenkung mit sich bringen, während man zugleich der Neigung des Staates entgegenwirken wollte, den politisch sensiblen Stromverbrauch zu subventionieren. • Deregulierung der Stromerzeugung durch freien Marktzugang und Abbau von Preiskontrollen. Damit wollte man Anbieter mit kostenintensiver Produktion verdrängen und die Einführung neuer Technologien fördern. Die Freigabe der Preise führte zur Entstehung von „Spotmärkten“ für Strom, auf denen die Preise mit Angebot und Nachfrage stark schwanken und mit deren Hilfe gravierende Engpässe überwunden werden können, die manchmal in extremen Situationen oder bei Hitzewellen auftreten.2 • Gründung einer unabhängigen Agentur für den Stromtransport über Hochspannungsleitungen, die von einer halbstaatlichen Organisation reguliert oder betrieben wird. Dies ist der schwierigste Teil des Pakets, weil diese Übertragungsagentur mehrere Aufgaben zu erfüllen hat: Sie muss den Marktzutritt für neue Stromerzeuger und das Stromangebot erleichtern, das Netz betreiben und adäquate Erlöse zum Aufbau neuer Kapazitäten gewährleisten. Dieses Deregulierungspaket war bereits in mehreren Ländern erprobt worden, darunter in Großbritannien, Schweden und Chile, und in den USA folgten mehrere Bundesstaaten ihrem Beispiel. In einigen Fällen funktionierte die Deregulierung problemlos und brachte den Konsumenten beträchtliche Vorteile in Form niedrigerer Strompreise ein.
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Doch in jenen anderen Fällen, in denen die Umsetzung gröbere Mängel aufwies – etwa in Kalifornien –, erwies sich die Stromderegulierung bisweilen als echtes Fiasko. Eines der Probleme in Kalifornien bestand darin, dass der Staat die Preise zwar im lokalen Vertrieb kontrollierte, die Großhandelspreise hingegen nicht. Eine weitere Schwierigkeit ergab sich mit der Konzeption der Auktion, die es Unternehmen wie Enron ermöglichte, Käufe und Verkäufe zu manipulieren und die Preise in die Höhe zu treiben. Als die Großhandelspreise in Kalifornien immer weiter anstiegen, ging das größte Versorgungsunternehmen des Bundesstaates in Konkurs; der Staat übernahm dessen Programm und kaufte große Mengen Strom zu enorm hohen Preisen ein, während gleichzeitig das Auktionssystem aufgegeben wurde. Die von der öffentlichen Hand bezahlten überhöhten Preise führten zu einer ernsthaften Haushaltskrise. Diese Episode verpasste allen Deregulierungsbestrebungen einen erheblichen Dämpfer und löste eine Flut von Untersuchungen und Klagen aus, um Licht in den Schlamassel zu bringen. Schlagzeilen machte die Stromderegulierung 2003, als es im Nordosten der USA zu weit verbreiteten Stromausfällen kam. Hier war das Problem auf die schlechte Koordinierung des Stromnetzes im neuen deregulierten Umfeld zurückzuführen. Stromübertragungsnetze funktionieren nach Art einer „Technologie des schwächsten Gliedes“, wobei irgendein unbedeutender Teil des Systems das ganze Netz zusammenbrechen lassen kann. Eine Technologie des schwächsten Gliedes in Netzen bedarf mehr als alles andere der „Aufsicht Erwachsener“, in diesem Fall der Aufsicht durch den Stromregulator.
Deregulierung: Die Unvollendete 2 Die Deregulierungsbewegung der letzten drei Jahrzehnte zeitigte Erfolge und Misserfolge. Aus Erfahrung wissen wir, wie schwierig es sein kann, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft so zu gestalten, dass die Markt-
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kräfte dennoch für die nötigen Anreize sorgen, während zugleich sichergestellt ist, dass Monopolmacht und Informationsdefizite auf ein Minimum beschränkt bleiben. Einige Ökonomen sind der Ansicht, die USA hätten sich von einem intelligenten Abbau staatlicher Kontrollen in den siebziger Jahren hin zu einer bedenkenlosen Deregulierung querbeet in den neunziger Jahren bewegt. Sie verweisen auf eine ganze Reihe von Marktversagen, die sich Ende der neunziger Jahre und kurz nach der Jahrtausendwende zeigten und die den Bedarf an einer stärkeren Aufsicht des Staates belegen: • Der Staat hatte nach und nach zahlreiche Aspekte der Stromproduktion dereguliert. Der große Blackout, der Stromausfall des Jahres 2003, führte den Amerikanern jedoch die Notwendigkeit einer klügeren staatlichen Regulierung der Übertragungsstandards vor Augen, sollte die Stromversorgung verlässlicher werden. (Siehe dazu die Erörterung der Stromderegulierung weiter oben.) • Die Bilanzskandale rund um Enron, WorldCom und zahlreiche andere Unternehmen verwiesen auf die Notwendigkeit strengerer Bilanzierungsgrundsätze und verlässlicher Haftungs- und Vollmachtsysteme für die Vorstände und Aufsichtsräte der Unternehmen. Der Kongress erließ 2002 ein Gesetz zur Erweiterung der Verfügungsgewalt der US-Wertpapieraufsichtsbehörde SEC. • Als der Kongress 1997 die Finanzmärkte deregulierte, eröffnete er damit den Ban2 Wie funktioniert ein solcher Spotmarkt? Im typischen Fall gibt jeder Stromerzeuger seine Mengenangebote und Lieferpreise für jede halbe Stunde des folgenden Tages bekannt. Die Agentur für die Stromübertragung reiht diese Angebote dann anhand der Kosten und erstellt durch Verbindung mit den vorliegenden Nachfrageschätzungen einen Plan für den kostengünstigsten Betrieb am kommenden Tag. Der Plan sieht auch eine Reihe von Spot- (oder kurzfristigen) Preisen vor. Die Spotpreise haben sich als überaus variabel erwiesen, ganz typisch für eine Branche, in der die Grenzkosten je nach Auslastung oder Nachfrage so stark schwanken. Sie können die täglichen Veränderungen der Spotmarktpreise leicht im Wall Street Journal verfolgen. Spotmärkte bestehen für zahlreiche Waren.
501 ken ein neues Geschäftsfeld in den Bereichen Investment Banking und Aktienhandel. Viele Wirtschaftswissenschaftler sind der Ansicht, dies habe Anreize für die Research-Analysten unter den Wertpapierbrokern geschaffen, mit viel Eifer die Aktien von Unternehmen, deren Anleihen der Private-Banking-Bereich der Bank verkaufte oder an die die Bank ausstehende, aber notleidende Kredite vergeben hatte, zu bewerben. John McMillan von der Universität Stanford beschreibt die Rolle der staatlichen Regulierung anhand einer interessanten Analogie. Im Sport gehe es um Wettbewerbe, in denen einzelne Sportler oder ganze Teams bemüht seien, ihre Gegner an Kraft und Intelligenz zu übertreffen. Die Teilnehmer müssten sich jedoch an ein detailliertes Gefüge von Regeln und Vorschriften halten. Zusätzlich habe auch noch der Schiedsrichter ein wachsames Auge auf die Spieler, um seinerseits dafür zu sorgen, dass die Regeln eingehalten würden, und um Regelverstöße entsprechend zu ahnden. Ohne sorgfältig ausgearbeitete Regeln würde ein sportlicher Wettbewerb zum chaotischen und blutigen Kampf ausarten. Ebenso benötigten wir in einer modernen Volkswirtschaft ein staatliches Regelwerk und ein starkes Rechtssystem zu dessen Durchsetzung, damit der gesunde Wettbewerb nicht zur Bildung von Monopolen, zu Umweltverschmutzung, Betrug, Irreführung und zur Verletzung von Rechten führe oder in sonstige Nachteile für Arbeitnehmer und Konsumenten ausarte. Diese Analogie aus dem Sport erinnert uns daran, dass der Staat auch heute noch eine wichtige Funktion in der Überwachung der Wirtschaft und in der Festlegung der darin geltenden Regeln hat.
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B. Antitrustpolitik Wenden wir nun einer der ältesten und wichtigsten Formen staatlicher Kontrolle über die Wirtschaft, dem Kartellrecht oder konkret der US-Antitrustpolitik, zu. Dieser Zweig der mikroökonomischen Politik dient der Förderung eines lebhaften Wettbewerbs und der Verhinderung von monopolistischem Missbrauch.
Der unvollständige Wettbewerb im Überblick In den Kapiteln 9 und 10 haben wir uns damit befasst, wie Akteure im unvollständigen Wettbewerb ihre Preise und Produktionsmengen festsetzen. Wiederholen wir kurz noch einmal die wichtigsten volkswirtschaftlichen Theorien hinter der staatlichen Monopolbekämpfung: • Unternehmen im unvollständigen Wettbewerb sind deshalb ineffizient, weil sie ihre Preise über Grenzkostenniveau ansetzen. Die Konsumenten eines monopolistischen oder oligopolistischen Wirtschaftszweigs können weniger Güter als bei effizientem Güterangebot konsumieren. • In zahlreichen Branchen werden enorme Skalenerträge wirksam. Es wäre schlicht unrealistisch, würde man versuchen, die Produktionsleistung dieser Branchen mit Unternehmen erzeugen zu wollen, die unter Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs arbeiten, weil dann ja ineffizient kleine Unternehmen die Produktion übernehmen müssten. In einigen wenigen Fällen lässt sich die Technik in einem Wirtschaftszweig effizient sogar nur von einem einzigen Unternehmen nutzen. Wir sprechen in diesem Fall von einem „natürlichen Monopol“.
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• Langfristig ist wirtschaftlicher Fortschritt beinahe immer auf einen technologischen Wandel zurückzuführen. Nach der Schumpeterschen Hypothese sind große Unternehmen mit starker Marktmacht für einen Großteil der Erfindungen und des technologischen Wandels verantwortlich. Staatliche Politik sollte daher besonders behutsam vorgehen, um die Innovationsanreize nicht zu gefährden. • Die Hauptformen eines Marktmissbrauchs – ein zu hoher Preis oder eine schlechte Produktqualität – treten auf, wenn ein Wirtschaftszweig effektiv monopolisiert ist. Eine verlässliche Faustregel besagt, dass sich ein Wirtschaftszweig monopolistisch verhält, wenn ein einziges Unternehmen oder eine durch Kollusion verbundene Gruppe mehrerer Unternehmen mehr als drei Viertel der Produktionsmenge einer Branche erzeugt. • Es liegt nun am Staat, eine Monopolisierung nach Möglichkeit zu verhindern, unvermeidliche Monopole aber zu regulieren. Staatliche Antikartellpolitik stellt den Versuch dar, die Monopolisierung oder ein unerwünschtes, wettbewerbshemmendes Verhalten zu verhindern; staatliche Regulierungsmaßnahmen werden getroffen, um die Ausübung der Monopolmacht in natürlichen Monopolen zu kontrollieren. Mit der Rücknahme der volkswirtschaftlichen Regulierung als wichtigem Werkzeug zur Verhinderung von monopolistischem Missbrauch konzentriert sich staatliche Wirtschaftspolitik heute zunehmend auf die Förderung des Wettbewerbs und den Einsatz kartellrechtlicher Maßnahmen als wichtigste Methoden zur Förderung der Markteffizienz. In diesem Abschnitt befassen wir uns mit der US-amerikanischen Antitrustpolitik, die auf zwei verschiedene Arten gegen Wettbewerbsbehinderungen vorgeht. Erstens unterbindet sie bestimmte Arten des Unternehmensverhaltens wie Preisabsprachen, die die Wettbewerbskräfte hemmen sollen. Zwei-
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tens schränkt sie bestimmte Marktstrukturen wie Monopole ein, von denen man annimmt, dass sie aller Voraussicht nach den Handel beschränken und ihre wirtschaftliche Macht auch anderweitig missbrauchen werden. Der Rahmen für die amerikanische Antitrustpolitik wurde durch einige wichtige Gesetze und eine mittlerweile hundertjährige Geschichte entsprechender Gerichtsentscheide geschaffen. In den letzten Jahren hat sich die Antitrustpolitik unter dem Druck der Ökonomen weg von der „Big-is-Bad“-Philosophie und hin zu einem volkswirtschaftlichen Antitrustansatz entwickelt. Der volkswirtschaftliche Ansatz betont die immanente Rivalität zwischen Oligopolisten und folgert daraus, dass wirksame Anreize für große Unternehmen, ihre Preise zu senken und die Produktqualität zu heben, nur in einer deregulierten Welt entstehen können, in der die Marktzutrittsbarrieren niedrig und die Märkte für den in- und ausländischen Wettbewerb offen sind. Nach dieser Auffassung sollten die eigentlichen kartellrechtlichen Maßnahmen nur gravierenden Fällen eines Missbrauchs von Marktmacht vorbehalten bleiben.
Das gesetzliche Rahmenwerk Das heutige amerikanische Kartellrecht erscheint uns wie ein undurchdringlicher Dschungel, der sich aus einer Handvoll Samen entwickelt hat. Die gesetzlichen Bestimmungen, auf denen das Antitrustrecht fußt, sind so knapp und einfach gehalten, dass sie sich in Tabelle 17-2 darstellen lassen. Es ist wirklich erstaunlich, welche Fülle an komplexen rechtlichen Sachverhalten sich aus einigen wenigen kurzen Texten entwickeln konnte.
von denen die US-Wirtschaft in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts geprägt war, als wirkungslos.3 Es war das öffentliche Klima, das im Jahr 1890 zur Verabschiedung des Sherman Act, des Eckpfeilers des amerikanischen Kartellrechts, führte. Paragraf 1 des Sherman Act verbietet alle Verträge, Fusionen und Machenschaften „zur Einschränkung des Handels“. Paragraf 2 verbietet die „Monopolbildung“ und Absprachen mit diesem Ziel. Weder das Gesetz selbst noch die zugehörigen Durchführungsbestimmungen enthalten eine klare Definition des Begriffs Monopol oder der verbotenen Handlungen. Die Bedeutung dieses Gesetzes bildete sich erst im späteren Fallrecht anhand gerichtlicher Entscheidungen heraus.
Der Clayton Act (1914) Der Clayton Act sollte die Bestimmungen des Sherman Act klären und ihm zur Durchsetzung verhelfen. Er verbot so genannte Knebelungsverträge (die einen Kunden dazu zwingen, mit Produkt A auch Produkt B zu kaufen) und Preisdiskriminierung sowie Exklusivtransaktionen als gesetzwidrig. Auch Funktionshäufungen (wenn dieselben Personen in den Vorständen oder Aufsichtsräten mehr als eines Unternehmens desselben Sektors saßen) und Fusionen durch den Aufkauf von Aktien eines Mitbewerbers wurden darin verboten. Diese Verbote galten allerdings nur, wenn sich die jeweiligen Praktiken per se schädlich auf den Wettbewerb auswirkten. Der Clayton Act sah bereits Prävention und Strafandrohung vor. Erwähnenswert ist auch, dass der Clayton Act den Gewerkschaften ausdrücklich kartellrechtliche Immunität gewährte.
Der Sherman Act (1890) Monopole waren nach dem Common Law, das auf Gepflogenheiten und früheren Gerichtsentscheiden beruht, lange Zeit hindurch verboten. Trotzdem erwies sich das Gesetz gegen Fusionen, Kartelle und Trusts,
3 Ein Trust ist eine Gruppe von Firmen, zumeist desselben Sektors, die durch einen Vertrag so verbunden sind, dass sie Produktion, Preise oder sonstige Branchenbedingungen kontrollieren können. Um ein wenig Zeitgefühl zu entwickeln, können Sie sich den Abschnitt „Monopolisten der amerikanischen Gründerzeit“ in Kapitel 9 durchlesen.
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Die amerikanischen Antitrust-Gesetze Sherman Antitrust Act (1890, samt Novellen) § 1. Jeder Vertrag, jede Verbindung in Form eines Trusts oder auf andere Weise oder konspirative Absprachen zur Einschränkung des Handels zwischen mehreren Bundesstaaten oder mit dem Ausland werden als gesetzwidrig erklärt. § 2. Jede Person, die bestimmte Bereiche des Handels zwischen den einzelnen Bundesstaaten oder mit anderen Staaten monopolisiert, zu monopolisieren versucht oder sich zu diesem Zweck mit einer oder mehreren anderen Personen zusammenschließt oder verabredet, macht sich einer Straftat schuldig. ... Clayton Antitrust Act (1914, samt Novellen) § 2. Es ist gesetzwidrig ... bei der Preisgestaltung zwischen verschiedenen Käufern von Waren derselben Art und Qualität zu unterscheiden ... wenn sich die Diskriminierung so auswirkt, dass dadurch der Wettbewerb erheblich beeinträchtigt oder in einer Geschäftssparte ein Monopol errichtet wird ... Wobei keine der gegenständlichen Ausführungen Preisunterschiede, die nur den jeweiligen Kostenunterschieden entsprechen, unter Strafe stellt. ... § 3. Dass es niemandem gestattet ist ... etwas zu vermieten, zu verkaufen oder vertraglich zu vereinbaren ... unter der Bedingung, mit der Absprache oder Übereinkunft, dass der Mieter oder Käufer die Waren eines Konkurrenten nicht ... nutzen oder mit ihnen handeln darf, wenn die Auswirkungen einer solchen Vereinbarung den Wettbewerb beträchtlich hemmen oder geeignet sind, in einem Wirtschaftszweig ein Monopol zu errichten. § 7. Kein [Unternehmen] ... darf ... ganz oder teilweise ... ein anderes [Unternehmen] kaufen ... wenn ... die Auswirkungen eines solchen Kaufs den Wettbewerb erheblich hemmen oder geeignet sind, ein Monopol zu errichten. Federal Trade Commission Act (1914, samt Novellen) § 5. Unfaire Wettbewerbsmethoden ... und unfaire oder betrügerische Akte oder Praktiken ... werden als ungesetzlich erklärt. Tabelle 17-2: Das Kartellrecht der USA gründet auf einigen wenigen Gesetzestexten Der Sherman, Clayton und der Federal Trade Commission Act bilden die Grundsteine des amerikanischen Antitrust-Rechts. Aus der Interpretation dieser Gesetze entwickelten sich die modernen Kartelltheorien.
Die Federal Trade Commission Die Federal Trade Commission (FTC,) wurde im Jahre 1914 gegründet, um „unfaire Wettbewerbsmethoden“ zu verhindern und vor wettbewerbsfeindlichen Fusionen zu warnen. Im Jahr 1938 wurde die FTC zusätzlich mit der Aufgabe betraut, gegen irreführende und betrügerische Werbung aufzutreten. Die FTC darf Untersuchungen durchführen, Anhörungen abhalten und Unterlassungsanordnungen erteilen.
Grundlagen des Kartellrechtes: Verhalten und Struktur von Unternehmen So klar und eindeutig die wichtigsten kartellrechtlichen Bestimmungen sind, so schwer kann dennoch in der Praxis die Entscheidung fallen, wie auf konkrete Situationen einer bestimmten Marktstruktur oder eines bestimmten Verhaltens von Unternehmen reagiert werden soll. Die faktische Rechtslage hat sich im Kartellrecht der USA durch die Wechsel-
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wirkung zwischen volkswirtschaftlicher Theorie und Rechtsprechung entwickelt.
Gesetzwidriges Verhalten Einige der ersten Antitrustentscheidungen betrafen so genanntes gesetzwidriges Verhalten. Die Gerichte befanden, dass bestimmte Arten der Kollusion per se gesetzwidrig sind. Wer so handelt, kann sich nicht auf hehre Ziele (wie die Produktqualität) oder mildernde Umstände (wie niedrige Gewinne) berufen. Zu den per se gesetzwidrigen Absprachen zwischen konkurrierenden Unternehmen gehören Preisabsprachen, Mengenbeschränkungen oder Marktaufteilung. Sie wirken sich in Form steigender Preise und sinkender Produktionsleistung aus. Nicht einmal die hartnäckigsten Kritiker eines kartellrechtlichen Eingreifens des Staates können Preisabsprachen etwas abgewinnen. Eingeschränkt werden auch folgende Verhaltensweisen von Unternehmen: • Die Festsetzung von Kampfpreisen, von denen wir sprechen, wenn ein Unternehmen seine Produkte unter den Gestehungskosten (zumeist interpretiert als Grenzkosten oder variable Durchschnittskosten) verkauft. Das Argument gegen dieses so genannte Preisdumping lautet, dass ein großes Unternehmen auf seine finanziellen Ressourcen zurückgreifen, die Preise senken und kleinere Rivalen aus dem Geschäft drängen kann, um anschließend die Preise wieder kräftig anzuheben. In den letzten Jahren wurden einige der größten Supermarktketten von ihren kleineren Mitbewerbern des Preisdumpings bezichtigt. • Die Bildung von Junktims zwischen Geschäften durch Knebelungsverträge oder Arrangements, denen zufolge ein Unternehmen Produkt A nur dann verkauft, wenn der Käufer zugleich auch Produkt B erwirbt. • Preisdiskriminierung, wobei ein Unternehmen dasselbe Produkt verschiedenen Kunden zu unterschiedlichen Preisen ver-
505 kauft, ohne in seiner Begründung die Kosten oder den Wettbewerb geltend machen zu können. (Erinnern Sie sich bitte an unsere Erörterung der Preisdiskriminierung in Kapitel 10.) Bitte beachten Sie auch, dass sich alle drei Praktiken unserer kurzen Liste auf das Verhalten eines Unternehmens beziehen. Die Handlungsweise selbst ist gesetzwidrig, nicht die Struktur der Branche, innerhalb der sie stattfindet. Das berühmt-berüchtigtste Beispiel dafür ist wahrscheinlich die große Verschwörung der Anbieter elektrischer Ausrüstung. Im Jahre 1961 wurde die Elektroanlagenindustrie der Preisabsprachen im Rahmen einer Kollusion für schuldig befunden. Leitende Angestellte der Branchenführer – wie GE und Westinghouse – hoben in verschwörerischer Weise die Preise an und verwischten alle diesbezüglichen Spuren, indem sie einander in Jagdhütten trafen, Codenamen benutzten und Anrufe von öffentlichen Telefonzellen aus tätigten. Zwar wusste das Top-Management der betroffenen Unternehmen ganz offensichtlich nicht, was die jeweils zweite Ebene tat, aber diese zweite Ebene stand unter einem massiven Druck, die Umsätze anzukurbeln. Die Unternehmen willigten ein, ihren Kunden hohe Beträge an Schadensersatz für überhöhte Rechnungen zu bezahlen, und einige der Führungskräfte wanderten wegen kartellrechtlicher Verstöße hinter Gitter. Preisabsprachen aus der jüngsten Zeit. Ein interessanter akademischer Fall einer Preisabsprache wurde nach Untersuchungen des US-Justizministeriums bekannt, das sich für die Festsetzung der Studiengebühren an amerikanischen Colleges und Universitäten interessierte. Die Regierung unterstellte, dass eine kleine Gruppe dieser Bildungseinrichtungen in konspirativer Weise den Wettbewerb um die Stipendienvergabe an begabte Bewerber untergraben hatte, indem sie ihre Stipendien ausschließlich aufgrund sozialer Umstände und durch den Vergleich mit
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künftigen Beihilfen für die auf normalem Weg aufgenommenen Studenten festsetzte. Eine der beschuldigten Parteien, das berühmte MIT (Massachusetts Institute of Technology), ging gerichtlich gegen die Regierung vor und argumentierte, gemeinnützige Organisationen müssten sich eben nach anderen Standards richten als gewinnorientierte Unternehmen. Das MIT gewann das Berufungsverfahren, doch der Fall warf einige neue Fragen über die Art und Weise auf, wie sich kartellrechtliche Bestimmungen auf Bildungseinrichtungen und andere gemeinnützige Institutionen anwenden lassen. Neue Werkzeuge für die Antitrustpolitik Die meisten Ökonomen würden heute zustimmen, dass staatliche Kartellpolitik niedrige Preise und eine hohe Produktqualität fördern sollte. Über Monopole hört man selten freundliche Worte. Doch echte Monopole sind auch extrem selten, und die Politiker müssen das Verhalten einer großen Bandbreite an verschiedenen oligopolistischen Marktstrukturen analysieren. In der Vergangenheit konzentrierten sich die Streiter gegen monopolistische Strukturen, die so genannten Trustbuster, primär auf die Marktanteile eines Unternehmens sowie auf ganz bestimmte Formen wettbewerbsfeindlichen Verhaltens. Heute, da uns genauere Daten und stärkere Computer zur Verfügung stehen, können sich die Ökonomen, wenn sie die Ratsamkeit einer Fusion erwägen, der eigentlichen Entwicklung der Preise zuwenden. Ein Beispiel aus letzter Zeit zeigt uns, welche Werkzeuge der Ökonomie heute zur Verfügung stehen, um kartellrechtliche Entscheidungen richtig zu treffen. Im Jahre 1997 ging es um die angestrebte Fusion zweier Handelsketten für Bürobedarf, Staples und Office Depot. Da die Branche eine sehr niedrige Konzentration aufwies, hätte es aufgrund der traditionellen Richtlinien grünes Licht für den Zusammenschluss geben müssen.
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Doch die Ökonomen der Regierung analysierten die tatsächlichen Kassenpreise und Mengendaten für jeden Artikel der beiden Ketten, und verglichen diese für die einzelnen Standorte. Dank der eingesetzten Werkzeuge der Sektororganisation und der Ökonometrie trat bald ein interessantes Muster zutage: Die Preise von Staples waren in Städten, in denen Office Depot ebenfalls einen Laden betrieb, deutlich niedriger als an Standorten, an denen nur Staples vertreten war. Dies zeigte deutlich, dass die Fusion Staples ermöglichen würde, die Preise anzuheben. Die Fusion wurde daher verboten. Einige Ökonomen glauben zu erkennen, dass Daten über das tatsächliche Verhalten die bisherigen Marktanteilsdaten in der Analyse des Unternehmensverhaltens verdrängen. Angesichts der Mängel dieser Marktanteilsdaten in der Vorhersage des wirtschaftlichen Verhaltens und des Abschneidens von Unternehmen werden aber viele diesen Wandel begrüßen.
Branchenstrukturen: Ist „Big“ wirklich „Bad“? Spektakulärer als alle Maßnahmen gegen das Verhalten einzelner Unternehmen sind Antitrustfälle, die sich auf die Struktur ganzer Wirtschaftszweige beziehen. Dazu gehören Versuche, große Unternehmen zu zerschlagen, ebenso wie Antifusionsverfahren gegen den angestrebten Zusammenschluss großer Unternehmen. Die erste Welle kartellrechtlicher Maßnahmen auf der Grundlage des Sherman Act zielte auf die Zerschlagung bestehender Monopole ab. So ordnete der Oberste Gerichtshof der USA im Jahre 1911 an, die American Tobacco Company und die Standard Oil in mehrere kleine Einzelunternehmen zu teilen. Im Zuge dieses Verfahrens erließ der Oberste Gerichtshof die so genannte „Rule of Reason“. Demnach sind nur unangemessene Handelsbeschränkungen (Fusionen, Absprachen und dergleichen) nach dem Sherman Act gesetzwidrig und strafbar.
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Die Rule of Reason machte die kartellrechtlichen Bemühungen gegen monopolistische Fusionen fast völlig zunichte, wie sich anhand des Falls der U.S. Steel (1920) nachweisen lässt. J.P. Morgan hatte den Giganten durch eine Kette von Fusionen aufgebaut, und am Höhepunkt seiner Macht kontrollierte der Konzern ganze 60 Prozent des Marktes. Der Oberste Gerichtshof vertrat jedoch die Ansicht, Größe oder Monopol allein könnten keinen strafrechtlichen Tatbestand darstellen. Damals wie heute konzentrierten sich die Gerichte stärker auf das wettbewerbsfeindliche Verhalten als auf die monopolistische Struktur.
Strukturelle Kartellprobleme der letzten Jahre Die bedeutendsten Antitrust-Fälle der letzten Jahre betrafen drei Großkonzerne in zwei der wichtigsten Wirtschaftssektoren, nämlich Telekommunikation und Computer. Bei näherer Betrachtung können wir daraus die Grundzüge der modernen Konzepte einer Antikartellpolitik ableiten. Der Fall AT&T und die Bell-Doktrin. Bis in die frühen achtziger Jahre war AT&T ein vertikal und horizontal integrierter Monopolist des Telekommunikationsmarktes. Das Unternehmen wickelte über 95 Prozent der Ferngespräche ab, betrieb 85 Prozent aller lokalen Telefonleitungen und verkaufte den Großteil des gesamten Telefonzubehörs in den USA. Der Firmenkomplex im Eigentum der AT&T – man sprach häufig vom BellSystem – umfasste die Bell Telephone Labs, die Western Electric Company sowie 23 BellBetriebsgesellschaften. 1974 erhob das Justizministerium Klage gegen AT&T, ein Vorgehen, das weitreichende Folgen haben sollte. Beanstandet wurde, dass AT&T (1) den regulierten Ferngesprächsmarkt auf wettbewerbsfeindliche Weise monopolisiert habe, etwa indem MCI und andere von der Anbindung an die lokalen Märkte abgehalten wurden, und (2) dass
507 durch die Weigerung, Ausrüstung von firmenexternen Anbietern zu kaufen, ein Telekommunikationsmonopol aufgebaut worden sei. Der Klage lag die so genannte „Bell-Doktrin“ von William Baxter, einem Rechtsgelehrten und ehemaligen Leiter der Antitrust Division der USA, zugrunde. Danach verfügen regulierte Monopolisten über den Anreiz und die Möglichkeit, verwandte Märkte (wie diejenigen, auf denen sie kaufen oder verkaufen) zu monopolisieren, und die wirksamste Lösung besteht in der Verhängung einer „Quarantäne“ über das monopolistische Segment, indem Eigentum und Kontrolle desselben vom Eigentum und der Kontrolle potenziell konkurrierender Segmente der Branche getrennt werden. Kurz gesagt, reguliertes Monopole und Wettbewerb sollten nicht vermengt werden. Die wirtschaftliche Theorie hinter der Bell-Doktrin besagt, dass ein Monopolist, insbesondere ein regulierter Monopolist, seine Gewinne durch horizontale oder vertikale Integration steigern kann. So lassen sich etwa höhere Gewinne durch die Benachteiligung möglicher Konkurrenten in einem verwandten Wirtschaftszweig oder durch Berechnung überhöhter Preise für die eigenen nicht regulierten Produkte (wie Telefonzubehör) an die regulierte Einheit erzielen, wobei diese überhöhten Preise anschließend mittels Kostenaufschlagsformel (für Telefoniedienste) auf die Kunden überwälzt werden. Dieses Verhalten tritt mit größter Wahrscheinlichkeit in Fällen auf, in denen der Regulator über Kosten und Verhalten des Unternehmens nur unzureichend informiert ist. Angesichts der Aussicht, das AntitrustVerfahren zu verlieren, stimmte AT&T einem so genannten „Consent Decree“ zu, das fast vollständig der Bell-Doktrin folgte. Die lokalen Bell-Betriebsgesellschaften wurden aus AT&T ausgegliedert (rechtlich getrennt) und zu sieben großen regionalen TelefonHoldinggesellschaften umgruppiert. AT&T behielt das Ferngesprächsgeschäft und die Bell Labs (die F&E-Organisation) sowie
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Western Electric (den Telefonzubehörhersteller). Alles in allem schrumpfte der BellVerbund sowohl nach Größe als auch nach Umsatz um 80 Prozent. Die regulierten Monopolisten durften sich nicht mehr auf verwandten Wettbewerbsmärkten betätigen. Die Zerschlagung des Bell-Systems löste eine atemberaubende Revolution in der Telekommunikationsbranche aus. Die Szenerie verändert sich grundlegend, seit Mobiltelefonsysteme das natürliche Monopol der Festnetztelefonie des großen Alexander Graham Bell unterminieren. Telefongesellschaften schließen sich zusammen, um nun auch Fernsehdienste anzubieten. Glasfaserkabel dienen als Daten-Superhighways und können enorme Datenmengen quer durch das Land und über den Globus befördern. Das Internet verbindet Menschen und Orte auf eine Weise, die noch vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Wenn sich eine Lehre aus der Zerschlagung des Bell-Systems ziehen lässt, dann diese: Für einen raschen technologischen Wandel werden keine Monopole benötigt. Der Fall IBM. Mehrere spektakuläre Kartellverfahren der letzten Jahre betrafen Computergesellschaften. Der erste dieser Fälle war ein Versuch der US-Regierung, IBM in mehrere Teile zu zerschlagen. Die 1969 eingebrachte Klage lautete, IBM habe „digitale Computer für allgemeine Zwecke zu monopolisieren versucht ... und tatsächlich monopolisiert.“ Die US-Regierung befand, IBM verfüge mit 76 Prozent des Marktes im Jahr 1967 über einen dominierenden Marktanteil. Beanstandet wurde auch, dass IBM viele Vorrichtungen und Geräte dazu verwendet habe, die Konkurrenz zu behindern. Unter den inkriminierten wettbewerbsfeindlichen Praktiken wurden Preisjunktims, zu niedrige Preise, die den Marktzutritt neuer Unternehmen behinderten, und die Einführung neuer Produkte genannt, die zumindest tendenziell die Attraktivität der Produkte anderer Gesellschaften untergruben. IBM kämpfte verbissen und mit großem Einsatz gegen die Anschuldigungen der USRegierung. Der Haupteinwand von IBM lau-
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tete, die Regierung wolle erfolgreiche Betriebsführung, nicht wettbewerbsfeindliches Verhalten bestrafen. Das grundlegende Dilemma in all diesen Fällen war bereits im Alcoa-Fall deutlich zutage getreten: „Gewinnt ein zur Konkurrenz gezwungenes Unternehmen, darf ihm das nicht zum Vorwurf gemacht werden.“ IBM behauptete, die USRegierung wolle das Unternehmen dafür bestrafen, dass es das enorme Potenzial der Computer-Revolution vorhergesehen habe und nun den Sektor eben aufgrund seiner „überlegenen Fähigkeiten, Umsicht und Bemühungen“ dominiere. Der Fall zog sich endlos dahin, bis der Leiter der Kartellbehörde der Reagan-Administration, William Baxter, 1982 beschloss, den Fall als „jeder Grundlage entbehrend“ zu den Akten zu legen. Die Argumentation der Regierung lautete, die Computerindustrie sei anders als die Telekommunikationsbranche nicht reguliert und somit den Markt- und Wettbewerbskräften bedingungslos ausgesetzt. Baxter meinte, dieser Wirtschaftszweig sei ohnehin heiß umstritten, und staatliche Versuche, den Computermarkt umzustrukturieren, müssten der volkswirtschaftlichen Effizienz eher abträglich als zuträglich sein. Kartellrecht in der New Economy: Der Fall Microsoft Der jüngste große kartellrechtliche Fall bezog sich auf den Software-Riesen Microsoft. 1998 erhoben die US-Regierung sowie 19 Bundesstaaten eine umfassende Klage gegen Microsoft, wobei sie erklärten, das Unternehmen habe seine marktdominierende Position bei Betriebssystemen gesetzwidrig erreicht und eingesetzt, um sich weitere Märkte zu erschließen, etwa jenen für Internet-Browser. Die US-Regierung warf Microsoft vor, sich „einer ganzen Reihe gesetzwidriger Handlungen schuldig gemacht zu haben, deren Zweck und Wirkung in der Vereitelung jeder künftigen Bedrohung seines mächtigen und gut verankerten Monopols im Bereich der Betriebssysteme bestand.“
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In der Klageschrift konnte man lesen, dass Microsoft eine ganze Reihe wettbewerbsfeindlicher Praktiken an den Tag gelegt habe, etwa die Verdrängung der Konkurrenz und eine unfaire Preisgestaltung, illegale Knebel- und Exklusivverträge, die den Sherman Act verletzten. Auch wenn ein mit fairen Mitteln erreichtes Monopol legal ist, verstoßen alle Maßnahmen zur Verhinderung des Wettbewerbs gegen das Gesetz. Die brutale Vorgehensweise, die Microsoft in den so genannten „Browser Wars“ gegen Netscape an den Tag gelegt hatte, wurde in der Klage besonders tadelnd erwähnt. Eine wettbewerbsfeindliche Praxis stellte laut Angaben der Regierung etwa die kostenlose Abgabe des MicrosoftBrowsers Internet Explorer und dessen Verbindung mit dem Betriebssystem Windows 98 dar. Diese Handlungsweise erfüllt den Tatbestand der verdrängenden Preisgestaltung, die es Microsoft ermöglichte, seine Marktmacht bei Betriebssystemen zu nutzen, um Netscape auszubremsen. Microsoft verwendete häufig eine bildreiche Sprache, um das eigene Verhalten zu beschreiben, etwa als Vice President Paul Maritz die firmeneigene Strategie Netscape gegenüber so erläuterte: „Wir werden ihnen die Luftzufuhr abschneiden. Wir werden alles, was sie verkaufen, kostenlos unter die Leute bringen.“ Microsoft bediente sich in seiner Verteidigungsschrift der Argumentation des „guten Monopols“ und führte aus, der hauseigene Internet Explorer sei bei den Konsumenten „aus dem einfachen Grund“ so beliebt, „weil er eine überlegene Technologie darstellt und in praktisch allen unabhängigen Tests gegenüber dem Navigator von Netscape besser abschneidet.“ Die Regierung vertrat überdies die Auffassung, Microsoft würde das bestehende Monopol gezielt einsetzen, indem es Unternehmen zum Abschluss von Exklusiv-Vertriebsverträgen zwinge, denen zufolge sie Microsoft-Software und -Produkte auf Kosten der Konkurrenz abzusetzen hätten. So erklärte beispielsweise ein leitender Mitarbeiter von IBM in seiner Zeugenaussage
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das IBM-Betriebssystem OS/2 könne mit Windows deshalb nicht konkurrieren, weil Microsoft unabhängige Softwarefirmen durch restriktive Lizenzverträge anderweitig gebunden habe. Somit würden die Softwareentwickler davon abgehalten, Programme für die OS/2-Plattform zu schreiben, worunter die Marktgängigkeit und Beliebtheit von OS/2 litten, während zugleich die dominierende Stellung von Microsoft gefestigt würde. Microsoft soll überdies Computerhersteller gezwungen haben, den Internet Explorer von Microsoft und nicht den Netscape Navigator zu installieren, indem das Unternehmen ihnen drohte, die Windows-Lizenzen zu widerrufen, sollten sie der Aufforderung nicht nachkommen. Microsoft verteidigte sich mit dem Hinweis, derartige Lizenzierungen und Kooperationsverträge seien in der Softwareindustrie gang und gäbe. (All dies bezieht sich auf die Netzwerkmerkmale von Betriebssystemen.) In seinen „Findings of Fact“, seiner Tatsachenfeststellung, erklärte Richter Jackson, Microsoft sei ein Monopol, das seit 1990 über 90 Prozent der Marktanteile für PC-Betriebssysteme kontrolliere; es habe seine Marktmacht missbraucht und den „Konsumenten durch Wettbewerbsverzerrungen Schaden zugefügt“. Seine Erklärung geriet zu einem vernichtenden Urteil: „Drei wichtige Fakten weisen darauf hin, dass Microsoft eine Monopolstellung innehat. Erstens ist der Marktanteil von Microsoft für Intel-kompatible PC-Betriebssysteme extrem groß und stabil. Zweitens wird der dominierende Marktanteil von Microsoft durch eine hohe Marktzutrittsbarriere geschützt. Und drittens – überwiegend als Folge dieser Zutrittsbarriere – haben die Microsoft-Kunden keine wirtschaftliche Alternative zu Windows.“ ... Besonders schädlich ist die Botschaft, die die Vorgehensweise von Microsoft jedem anderen Unternehmen vermitteln muss, dass das Potenzial zur Innovation der Computerindustrie hätte. Durch sein Verhalten gegenüber Netscape, IBM, Compaq, Intel und zeigt Microsoft, dass es seine überragende Marktmacht und enormen Gewinne dazu benutzen wird, um jedem Unternehmen zu schaden,
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
das hartnäckig auf Initiativen besteht, die den Wettbewerb gegen eines der Hauptprodukte von Microsoft intensivieren könnten. Die früheren Erfolge von Microsoft, als es darum ging, solchen Unternehmen zu schaden und Innovationen zu behindern, halten Investoren davon ab, ihr Geld in Technologien und Unternehmen zu investieren, die eine potenzielle Bedrohung für Microsoft darstellen könnten. Letztlich führt dies dazu, dass einige Innovationen, die den Konsumenten wirklich nützen würden, allein deshalb nie auf den Markt kommen, weil sie den firmeninternen Interessen von Microsoft widersprechen.
Bei der Feststellung, ob Konsumenten durch den Monopolstatus von Microsoft geschädigt wurden, zitierte der Richter eine Microsoft-Studie, wonach Microsoft für die Upgrade-Version von Windows 98 eigentlich US-$ 49 statt US-$ 89 hätte verlangen müssen, aber US-$ 89 berechnete, weil dies der „ertragsmaximierende“ Preis war (siehe Übung 10 am Ende dieses Kapitels). In seinen „Findings of Law“, der rechtlichen Würdigung, stellte Richter Jackson fest, Microsoft habe sich einer Verletzung der Paragrafen 1 und 2 des Sherman Act schuldig gemacht. Er erklärte, „Microsoft habe seine Monopolmacht mit wettbewerbsfeindlichen Methoden verteidigt [,] den Web-Browser-Markt zu monopolisieren versucht ... und den ... Sherman Act durch gesetzwidrige Einbindung seines Web-Browsers in sein Betriebssystem verletzt.“ In der letzten Phase des Falls, der so genannten „Remedy-Phase“, ging es um Maßnahmen zur Beendigung der gesetzwidrigen monopolistischen Praktiken. Das Justizministerium schlug den radikalen Schritt vor, Microsoft entlang seiner Funktionslinien zu zerschlagen. Diese „Ausgliederung“ hätte eine Teilung von Microsoft in zwei getrennte, unabhängige Unternehmen nach sich gezogen. Eines der Unternehmen („WinCo“) sollte das Betriebssystem Windows und andere Betriebssysteme entwickeln und anbieten, während das andere („AppCo“) sich um die Anwendungen und zugehörige Geschäftszweige kümmern würde.
Teil 4
Im Jahr 2000 akzeptierte Richter Jackson die Empfehlungen des Justizministeriums uneingeschränkt. Doch danach nahm der Fall eine bizarre Wendung, weil sich herausstellte, dass Richter Jackson noch während seiner Verhandlung des Falls freundschaftliche Privatgespräche mit Journalisten geführt hatte. Er wurde für dieses unethische Verhalten disziplinär belangt und von dem Fall abgezogen. Kurz danach beschloss die neue Bush-Administration, von einer Teilung von Microsoft Abstand zu nehmen und stattdessen auf eine Änderung des „Verhaltens“ zu setzen. Die damit einhergehenden Maßnahmen sollten den Freiraum von Microsoft einschränken und den Wettbewerb schützen – es ging um Schritte wie das Verbot von Knebelverträgen und diskriminierender Preisgestaltung sowie um die Gewährleistung der Kompatibilität von Windows mit firmenfremder Software. Nach umfangreichen Anhörungen wurde der Fall im November 2002 beigelegt. Microsoft ist nach wie vor intakt, muss sich aber fünf Jahre lang unter dem wachsamen Auge des Gerichts bewähren.
Fusionen: Rechtsgrundlage und Praxis Unternehmen können Marktmacht unter anderem durch Wachstum gewinnen (indem sie ihre Einkünfte in das Unternehmen zurückfließen lassen und damit neue Produktionsanlagen errichten). Es gibt aber auch eine viel einfachere Methode, Marktanteile zu erwerben oder einfach zu wachsen, nämlich die Fusion mit einem anderen Unternehmen. Besonders die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeichneten sich durch einen enormen Fusionsboom aus. Horizontale Fusionen, bei denen sich Unternehmen desselben Wirtschaftszweiges verbinden, sind nach dem Clayton Act verboten, wenn die Fusion den Wettbewerb im betreffenden Sektor merklich hemmt. Rechtspraxis und staatliche Fusionsrichtlinien bewirkten eine Klärung der etwas vage gefassten Geset-
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
zestexte. Zur Bewertung angestrebter Fusionen verwendet der US-Staat den so genannten Herfindahl-Hirschman Index (HHI).4 Danach lassen sich die Wirtschaftssektoren in drei Gruppen unterteilen: nicht konzentriert (HHI unter 1000), geringfügig konzentriert (HHI 1000–1800) und hoch konzentriert (HHI über 1800). Fusionen der beiden letzten Gruppen werden sogar dann angefochten, wenn die involvierten Unternehmen nur geringe Marktanteile halten. Vertikale Fusionen sind Zusammenschlüsse zweier Unternehmen, in denen verschiedene Stufen desselben Produktionsprozesses stattfinden. In den letzten Jahren griffen amerikanische Gerichte häufig hart gegen vertikale Fusionen durch. Ihre Sorge galt dabei den potenziellen Wettbewerbsbeschränkungen durch Exklusivverträge, wenn sich zwei unabhängige Unternehmen auf diese Weise zusammentaten. Weniger Gewicht schienen die Gerichte auf die potenziellen Effizienzgewinne aus einer gemeinsamen Vorgehensweise der aus einer vertikalen Fusion hervorgegangenen Unternehmen zu legen. Eine dritte Art der Unternehmenszusammenführung, die als konglomerater Zusammenschluss bezeichnet wird, bezieht sich auf bis dahin unverbundene Unternehmen. Im Zuge eines konglomeraten Zusammenschlusses kann etwa eine Stahl- oder Chemiegesellschaft eine Ölgesellschaft aufkaufen. Kritiker dieser Art von Fusion erheben zweierlei Einwände. Zunächst erscheint ihnen die absolute Größe der so entstehenden Unternehmensgiganten furchterregend. Die größten 200 Unternehmungen kontrollieren über US-$ 2,5 Billionen an Vermögenswerten. Riesenkonzerne verfügen somit über eine enorme wirtschaftliche und politische Macht. Viele Beobachter machen sich jedoch bereits mehr Sorgen über die Art und Weise, wie große Unternehmen sich den einen oder anderen Gefallen im politischen Prozess erkaufen 4 Der HHI entspricht der Summe der Quadrate des prozentualen Marktanteils der in der Branche tätigen Unternehmen. Eine Erörterung des HHI finden Sie in Kapitel 10.
können, als darüber, wie sie ihre Marktmacht missbrauchen. Der zweite Punkt, den die Gegner konglomerater Zusammenschlüsse vorbringen, ist der, dass viele dieser Konglomerate keinem wirtschaftlichen Zweck dienen. Sie sind, so wird argumentiert, nur eine Art Vorstandspoker zur Unterhaltung der Manager, die die Überwachung ihrer öden Stahl- oder Chemiegeschäfte längst satt haben. Und dieser Kritikpunkt enthält doch tatsächlich ein Körnchen Wahrheit: Was hat die zivile Luftfahrt mit dem Geschäft des Fleischverpackens gemeinsam? Was verbindet Schreibmaschinen mit der Antibabypille? Oder Computerverleih mit einer Busgesellschaft? Dennoch gibt es auch Verfechter konglomerater Zusammenschlüsse. Manche Ökonomen sind der Ansicht, diese Fusionen führten häufig gutes modernes Management in veraltete Unternehmen ein, und Übernahmen und Konkurse seien einfach die gängige Methode, mit der eine Volkswirtschaft im Kampf ums wirtschaftliche Überleben tote Teile abstößt. Allerdings herrscht wenig Einigkeit über die Verdienste oder Untaten konglomerater Zusammenschlüsse, weshalb sie toleriert werden, solange sie die Konzentration in bestimmten Sektoren nicht über Gebühr erhöhen.
Kartellrecht und Effizienz Die wirtschaftliche, aber auch die juristische Sichtweise von Regulierung und Kartellrecht hat sich in den letzten 30 Jahren deutlich geändert. Während der konservativen achtziger Jahre rückten die US-Antitrustgesetze von ihrer Mission ab, „den großen Kapitalakkumulationen ein Ende zu setzen, weil ihnen der Einzelne machtlos gegenübersteht“ (Zitat aus dem Alcoa-Urteil von 1945). Zunehmend sollten behördliche Aufsicht und Kartellbestimmungen die ökonomische Effizienz heben. Doch wodurch wurde diese veränderte Einstellung gegenüber dem Kartellrecht aus-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
gelöst? Zunächst konstatierten die Ökonomen eine bisweilen überragende Performance hoch konzentrierter Wirtschaftszweige. Denken Sie beispielsweise an Unternehmen wie Intel, Microsoft und Boeing: Sie verfügen über erhebliche Marktanteile, haben sich jedoch auch als besonders innovativ und kommerziell erfolgreich erwiesen. Obwohl die volkswirtschaftliche Theorie besagt, dass Monopole die Preise künstlich hochhalten, lässt die empirische Erfahrung aus der Geschichte doch eher den Schluss zu, hoch konzentrierte Wirtschaftszweige würden im Vergleich zu sehr viel weniger konzentrierten Branchen oft eine stark rückläufige Preisentwicklung aufweisen. Zugleich zeigten auch Bereiche mit so geringer Konzentration wie die Landwirtschaft hervorragende Resultate. Es ließ sich einfach kein allgemeingültiges Gesetz finden, das einen Zusammenhang zwischen Struktur und Leistung formuliert hätte. Wie können wir dieses Paradoxon erklären? Manche Ökonomen berufen sich auf die Schumpetersche Hypothese. Unternehmen in konzentrierten Wirtschaftszweigen erzielen Monopolgewinne, so viel ist sicher. Die Marktgröße bedeutet aber auch, dass Industriegiganten einen wesentlichen Teil ihrer Erträge aus Forschung und Entwicklung (F&E) internalisieren können, und das erklärt den hohen Anteil an F&E sowie den rapiden technologischen Wandel in konzentrierten Wirtschaftszweigen. Wenn der technologische Wandel, wie Schumpeter behauptete, in großen Unternehmen entsteht, so wäre es doch töricht, diese Riesengänse zu schlachten, solange sie goldene Eier legen. Ein zweiter Vorstoß der neuen Antitrustpolitik ergab sich aus einer veränderten Sichtweise des Wettbewerbs. Aufgrund experimenteller Nachweise und Beobachtung meinen heute auch viele Ökonomen, selbst auf oligopolistischen Märkten komme es zu einer intensiven Konkurrenz, solange Kollusionen streng verboten seien. Und tatsächlich, glaubt man den Worten von Richard Posner, einem früheren Rechtsgelehrten und
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derzeitigen Bundesrichter, stellt sich die Situation wie folgt dar: Die einzigen wirklich einseitigen Maßnahmen, mit denen Unternehmen Monopolmacht erlangen oder erhalten können, sind doch Praktiken wie Betrug am Patentamt oder Sprengung der Produktionsanlagen eines Mitbewerbers! Betrug und Gewalt werden im Allgemeinen nach geltendem Recht aber ohnehin streng bestraft.5
Dieser Ansicht zufolge bestünde die einzig vertretbare kartellrechtliche Maßnahme darin, die bestehenden gesetzlichen Regelungen durch ein einfaches Verbot aller expliziten oder stillschweigenden Absprachen, die den Wettbewerb in unvertretbarer Weise beschränken, zu ersetzen. Drittens schwang das Pendel mit zunehmender Betonung der Marktkräfte und der vom Markt ausgehenden Anreize gegen die frühere, strenge Auslegung kartellrechtlicher Bestimmungen aus. Diese Position vertraten unter anderem Anhänger der Chicago School, die meinten, ein Großteil der bestehenden Monopolmacht leite sich ohnehin nur aus staatlicher Einflussnahme ab. Nach dieser Ansicht haben wir die Hauptpfründe des Monopols in staatlich geschützten Bereichen zu suchen. Als wichtige Beispiele werden volkswirtschaftliche Regulierungen und Gesetze (siehe Tabelle 17-1) auf diversen Gebieten angeführt: im Außenhandel, bei der Ausnahme der Gewerkschaften aus den Antitrustgesetzen, beim Monopolschutz durch Patente und bei der Einführung von Berufsbeschränkungen und Restriktionen im Gesundheitswesen. Die Verfechter einer Laissez-faire-Politik argumentieren, die Zurücknahme staatlicher Regulierung müsse den Wettbewerb fördern. Ein abschließender Grund für die zuletzt gedämpften Antitrust-Bemühungen liegt im immer härteren importierten Wettbewerb. Wenn heute mehr und mehr ausländische 5 Siehe Posner im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
Unternehmen in der amerikanischen Wirtschaft Fuß fassen, so entspinnt sich eine heftige Konkurrenz um Marktanteile, und häufig werden dabei etablierte Verkaufsmuster und Preisgestaltungspraktiken über den Haufen geworfen. Als der Umsatz japanischer Autos in den USA massiv zunahm, war es mit der gemütlichen, friedlichen Koexis-
tenz der drei großen amerikanischen Autohersteller plötzlich vorbei. Viele Ökonomen sind der Ansicht, die Bedrohung, die vom ausländischen Wettbewerb ausgehe, sei ein sehr viel wirksameres Werkzeug zur Durchsetzung von Marktdisziplin, als es Antitrustgesetze jemals sein könnten.
Zusammenfassung A. Staatliche Regulierung von Unternehmen: Theorie und Praxis 1.
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Die staatliche Regulierung der Wirtschaft erfolgt über Vorschriften, die der Staat erlässt, um die Unternehmen zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen. Die wirtschaftliche Regulierung umfasst die Kontrolle von Preisen, Produktion, Marktzutritts- und -austrittsbedingungen sowie die Produktstandards in einzelnen Wirtschaftszweigen. Soziale Regulierung bezieht sich hingegen auf Regeln zur Kompensierung von Informationsversagen und Externalitäten, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und Umwelt. Die normative Sichtweise staatlicher Interventionen besagt, dass Regulierungsmaßnahmen immer dann angezeigt sind, wenn es zu beträchtlichem Marktversagen kommt. Dazu gehören exzessive Marktmacht in einem Wirtschaftszweig, unzureichende Informationen für Konsumenten und Arbeitnehmer sowie Externalitäten wie etwa die Umweltverschmutzung. Ökonomen haben eine positivistische Regulierungstheorie entwickelt, wonach der Staat häufig zugunsten der regulierten Unternehmen eingreift und durch Ausschluss potenzieller Konkurrenten in Wirklichkeit deren Interessen dient. Einen Extremfall volkswirtschaftlicher Regulierung stellen die natürlichen Monopole dar. Natürliche Monopole treten auf, wenn die Durchschnittskosten unabhängig von der Produktionsmenge sinken, sodass eine effiziente Organisation des Wirtschaftszweiges nur möglich ist, wenn ein einziges Unternehmen die gesamte Produktion übernimmt. Heute trifft dies jedoch nur auf wenige Wirtschaftszweige zu, darunter beispielsweise auf lokale Versorgungsunternehmen wie Wasser- und Elektrizitätswerke.
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Unter den Bedingungen eines natürlichen Monopols reguliert der Staat Preise und Dienstleistungen privater Unternehmen. Traditionell wird durch die staatliche Regulierung von Monopolen der Preis in Höhe der durchschnittlichen Produktionskosten festgesetzt. Eine ideale Regulierung würde erfordern, dass der Preis in Höhe der Grenzkosten festgesetzt wird, doch dieser Ansatz erscheint in der Praxis nicht tauglich, weil danach der Staat das Monopol subventionieren müsste. Ein neuer Ansatz ist die leistungsbasierte Regulierung, etwa in Form von Preisobergrenzen, die regulierten Unternehmen ausgezeichnete Anreize zur Senkung ihrer Kosten und zur Verbesserung der Produktivität bietet. Angesichts der Stärke der Wettbewerbskräfte, insbesondere im Zuge der Globalisierung, kommt eine volkswirtschaftliche Regulierung heute nur noch für wenige Wirtschaftszweige in Betracht. Die Deregulierungsbewegung der 1970er Jahre hat das Ausmaß der wirtschaftlichen Regulierung drastisch zurückgeschraubt und in Branchen wie der zivilen Luftfahrt positive Wirkungen gezeitigt.
B. Antitrustpolitik 6.
Die so genannte Antikartell- oder Antitrustpolitik, die wettbewerbswidriges Verhalten verbietet und die Bildung monopolistischer Strukturen verhindert, ist die vorrangige Methode staatlicher Politik, wenn es darum geht, den Missbrauch von Marktmacht durch große Unternehmen zu verhindern. In den USA entwickelte sich das Kartellrecht aus Gesetzen wie dem Sherman Act (1890) und dem Clayton Act (1914). Hauptzweck des Kartellrechts ist es, (a) wettbewerbswidrige Aktivitäten zu verbieten (darunter Preisabsprachen oder Gebietsaufteilungen, Preisdiskriminierung und Kopplungsvereinbarungen) und (b) monopolistische Un-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
ternehmensstrukturen aufzubrechen. Nach der heutigen Rechtstheorie handelt es sich dabei um Strukturen, die über eine exzessive Marktmacht (einen großen Marktanteil) verfügen und überdies ein wettbewerbswidriges Verhalten an den Tag legen. Das Kartellrecht regelt aber nicht nur das Verhalten bestehender Unternehmen, sondern verhindert auch Fusionen, die zu einer Hemmung des Wettbewerbs führen würden. Heute geben vor allem horizontale Fusionen (zwischen Unternehmen derselben Branche) Anlass zur Sorge, während vertikale Fusionen und konglomerate Zusammenschlüsse eher toleriert werden.
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Teil 4
Die amerikanische Antitrustpolitik wurde durch die volkswirtschaftlichen Theorien der letzten 20 Jahre entscheidend geprägt. So konzentrierte sich die Antitrustpolitik der 1980er Jahre beinahe ausschließlich auf die Steigerung der Effizienz und wandte sich von der populistischen Position des Kampfes gegen das Big Business ab. Dazu kommt, dass in der heutigen Situation mit dem intensiven Wettbewerb durch ausländische Produzenten und deregulierten Konkurrenten nach Meinung vieler eine sinnvolle Antitrustpolitik primär auf die Verhinderung von Kollusionen wie etwa Preisabsprachen abzielen sollte.
Begriffe zur Wiederholung Regulierung Zwei Arten staatlicher Regulierung: wirtschaftliche und soziale Regulierung Alte (auf Vorschriften und Kontrolle beruhende) und neue (mit wirtschaftlichen Anreizen arbeitende) Regulierung Natürliches Monopol Gründe für eine staatliche Regulierung: Marktmacht Externalitäten Informationsmängel
Antitrustpolitik der USA Gesetzliche Grundlage: Sherman Act, Clayton Act und FTC Uneingeschränkte Verbote im Gegensatz zur so genannten „Rule of Reason“ Fusionen: vertikal horizontal konglomerat Effizienzorientierte Antitrustpolitik
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Kapitel 17 Wie werden Märkte effizienter?
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften nahmen unter dem Einfluss großer Wissenschaftler wie Richard Posner, heute Richter am US-Bundesberufungsgericht, einen bedeutenden Aufschwung. Sein Buch, Antitrust Law: An Economic Perspective (University of Chicago Press, 1976), ist ein Klassiker. Deutschsprachige Literatur: Günter Knieps, Wettbewerbsökonomie: Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik (Springer, Berlin Heidelberg, 2001).
Websites Eine ausgezeichnete Website mit vielen Links zum Thema Kartellrecht finden Sie unter www.law.cornell.edu/wex/index.php/Antitrust. Die Homepage der Antitrust Division des US-Justizministeriums ist unter www.usdoj.gov/atr/overview.html abrufbar und enthält ausgezeichnetes Material zu kartellrechtlichen Fragen. Auf dem Laufenden bleiben Sie auch mit den Artikeln der Zeitschrift The Economist unter www.economist.com. Das AEI-Brookings Joint Center on Regulatory Studies betreibt innovative wissenschaftliche Studien zum Thema Regulierung und publiziert diese unter www.aei.brookings.org. Auf dieser Seite bieten Ihnen Kenneth J. Arrow u.a. mit Benefit-Cost Analysis in Environmental, Health, and Safety Regulation (1996) einen Überblick über die wichtigsten Themen der Kosten-Nutzen-Analyse sowie ein Memorandum an die Adresse des Obersten Gerichtshofs, die im Jahr 2000 von 40 Ökonomen zugunsten eines vermehrten Einsatzes der Kosten-Nutzen-Analyse zur Bewertung von Regulierungsmaßnahmen im Umweltschutz abgegeben wurde.
Übungen 1.
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Welche wichtigen Instrumentarien stehen dem Staat zur Einschränkung der Monopolmacht zur Verfügung? Beschreiben Sie Stärken und Schwächen der verschiedenen Alternativen. Sehen Sie sich die drei Preisbeispiele in Abbildung 17-2 an. Welche Schwierigkeiten werden sich Ihrer Meinung nach bei der Implementierung des idealen regulierten Preises ergeben? (Ein kleiner Hinweis: Woher bezieht das Land seine Einnahmen? Lassen sich die Grenzkosten problemlos messen?) Ebenso können Sie sich Gründe überlegen, warum viele Ökonomen lieber auf jegliche Regulierung verzichten möchten. (Hinweis: Was geschieht, wenn PM nicht weit über PR liegt? Was, wenn Ihnen die Theorie, wonach staatliche Regulierungsmaßnahmen vorrangig einzelnen Interessengruppen dienen, Sorge bereitet?) Erklären Sie, warum regulierende Maßnahmen wie Preisobergrenzen oder Preisfestsetzungen mithilfe der Formel „Inflation-minus-X“ bessere Anreize darstellen als die übliche Preisregulierung über die Kosten. Erklären Sie, warum
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sich Monopolgewinne damit besser vermeiden lassen. „Microsoft, der weltweit größte Softwarehersteller, ist nicht schlecht, nur weil das Unternehmen so groß ist.“ Überlegen Sie sich diese Aussage insbesondere im Hinblick auf die Handhabung von Antitrustgesetzen gegenüber großen Konzernen. Untersuchen Sie die Kostenkurven und die Nachfragekurve in Abbildung 17-1. Zeichnen Sie den Monopolpreis und die Monopolmenge in diese Kurven ein. Vergleichen Sie diese mit dem ideal regulierten Preis und der ideal regulierten Menge. Beschreiben Sie den Unterschied. Zwei wichtige Ansätze zum Thema Kartellrecht sind die „Unternehmensstruktur“ und das „Unternehmensverhalten“. Der erste Ansatz konzentriert sich ausschließlich auf die Struktur in einem Wirtschaftszweig (wie die Unternehmenskonzentration), der andere nur auf das Verhalten der Unternehmen (z.B. Preisabsprachen). a. Welche Stellung beziehen die amerikanischen Antitrustgesetze zu diesen beiden
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Ansätzen? Wie sieht es mit staatlichen Fusionsvorschriften aus? b. Welche Vor- und Nachteile hat jeder dieser Ansätze? Erstellen Sie eine Liste jener Wirtschaftszweige, von denen Sie meinen, man könnte sie zurecht als „natürliche Monopole“ bezeichnen. Überlegen Sie sich anschließend verschiedene Strategien, mit denen die Ausübung von Monopolmacht zu verhindern wäre. Wie würden Sie sich jeder einzelnen Branche auf Ihrer Liste gegenüber verhalten? Weisen Sie nach, dass ein auf Gewinnmaximierung ausgerichteter, nicht regulierter Monopolist niemals im preisunelastischen Bereich seiner Nachfragekurve operieren wird. Zeigen Sie, wie staatliche Regulierung den Monopolisten dazu zwingen kann, auch den unelastischen Bereich seiner Nachfragekurve zu bedienen. Welche Auswirkungen hat eine Anhebung des regulierten Preises eines Monopolisten auf dessen Umsatz und Gewinn, wenn er (a) im elastischen Bereich der Nachfragekurve, (b) im unelastischen Bereich der Nachfragekurve und (c) in jenem Bereich seiner Nachfragekurve tätig wird, in dem die Elastizität 1 beträgt? Wiederholen Sie noch einmal die Fusionsrichtlinien in diesem Kapitel, die HHI-Definition in Kapitel 10 sowie die Tabelle und Erörterung in Übung 2 des genannten Kapitels 10. In welche Kategorie fällt die Luftfahrtindustrie? Können nach einer Entscheidung der Regierung, CodeSharing-Verträge mit Fusionen gleichzusetzen, diese Verträge die Fusionsvorschriften überhaupt noch erfüllen? In seiner Tatsachenfeststellung erklärte Richter Jackson: „Es zeugt von Monopolmacht, dass man bei Microsoft offenbar glaubte, den Preis für das Upgrade-Produkt auf Windows 98 (das Betriebssystem, das Microsoft an die User von Windows 95 verkauft hat) nach freiem Ermessen festsetzen zu können. Eine im November 1997 erstellte Microsoft-Studie ergibt, dass das Unternehmen US-$ 49 für ein Upgrade auf Windows 98 hätte verlangen können. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ein Preis von US-$ 49 nicht gewinnträchtig gewesen wäre, doch die Studie errechnet US-$ 89 als den zur Gewinnmaximierung erforderlichen Preis. Microsoft hat sich daher für den höheren Preis entschieden.“ Erklären Sie, warum diese Fakten einen Hinweis darauf bieten könnten, dass Microsoft kein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb ist. Welche zusätzlichen Informa-
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tionen würde man benötigen, um nachzuweisen, dass Microsoft ein Monopol ist?
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KAPITEL 18 Umweltschutz
Wachstum um des Wachstums willen – das ist das Motto von Krebszellen. Edward Abbey
Saubere Luft, reines Wasser, unverdorbenes Land – wer wollte bestreiten, dass dies wünschenswerte Güter sind? Doch wie viel ist es uns wert, sie zu bekommen oder zu erhalten? Und auf welche Bedrohungen muss sich die Menschheit einstellen, wenn sie die Grenzen der Natur nicht respektiert? Am einen Ende des Meinungsspektrums steht die ökologische Philosophie mit ihrer Betonung der Grenzen und Gefahren des Wachstums. Glaubt man ihr, so stören oder zerstören die Aktivitäten des Menschen das empfindliche Gleichgewicht der natürlichen Ökosysteme. Die Sorglosigkeit des Menschen führt zu unbeabsichtigten Folgewirkungen, und wir müssen auf der Hut sein, die Dämme nicht brechen zu lassen, damit wir nicht von der reißenden Flut ökologischer Probleme überrollt werden. Diese ökologisch ausgerichtete Sichtweise offenbart sich deutlich in der Warnung, die der bekannte Biologe E.O. Wilson von der Universität Harvard ausspricht: Die Ökologiebewegung ... sieht den Menschen als eine Spezies, die sehr stark von ihrer natürlichen Umwelt abhängt ... Viele der lebensnotwendigen Ressourcen der Erde sind beinahe erschöpft, die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre verschlechtert sich zusehends, und die Übervölkerung unseres Planeten hat ein gefährliches Ausmaß erreicht. Unsere natürlichen Ökosysteme, die Quelle einer gesunden Umwelt, werden unwiederbringlich ausgebeutet ... Ich bin radikal genug, um die immer häufiger gestellte Frage ernst zu nehmen: Neigt die Menschheit zum kollektiven Selbstmord?1
Die Anhänger dieses düsteren Szenarios argumentieren, der Mensch müsse ein „nachhaltiges“ Wirtschaftswachstum anstreben und lernen, mit den Beschränkungen seiner knappen Ressourcen zu leben, um furchtbare und irreparable Konsequenzen zu vermeiden. 1 Zum Artikel von Wilson siehe den Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Am anderen Ende des Spektrums finden wir die Vertreter der so genannten „Füllhorntheorie“, die glauben, weder die natürlichen Ressourcen noch die technologischen Möglichkeiten seien auch nur im geringsten erschöpft. Ihrer optimistischen Weltsicht zufolge dürfen wir ein grenzenloses Wachstum und einen steigenden Lebensstandard erwarten, während der menschliche Erfindergeist mögliche Umweltprobleme mit Leichtigkeit bewältigen wird. Geht uns das Öl aus – kein Problem, wir haben doch noch immer genug Kohle! Sollte sie wider Erwarten nicht ausreichen, werden die steigenden Energiepreise eben zu Innovationen in der Sonnen- oder Kernenergie führen. Diese fortschrittsgläubigen Optimisten sehen unser aller Rettung in Technologie, Wirtschaftswachstum und Marktkräften, deren negative Aspekte sie hartnäckig übersehen. Die etablierten Ökonomen liegen im Allgemeinen mit ihren Ansichten zwischen den beiden Extremen der Ökologen einerseits und der bedingungslos Fortschrittsgläubigen andererseits. Sie haben erkannt, dass der Mensch seit Jahrhunderten auf seine natürliche Umwelt zugreift. Historisch gesehen waren die dramatischsten Eingriffe des Menschen sein Sesshaftwerden, die Rodung von Wäldern zu landwirtschaftlichen Zwecken und der Beginn von Ackerbau und Viehzucht. Doch diese angesprochenen Veränderungen verblassen angesichts der heutigen massiven Eingriffe wie der Biotechnologie, der Abholzung riesiger Urwälder, des Abbaus von Bodenschätzen und der Ausbeutung der Pflanzenressourcen unseres Planeten. Wir werden uns in diesem Kapitel damit beschäftigen, wie die Werkzeuge der Volkswirtschaftslehre uns helfen können, ökologische Probleme zu verstehen und eine Politik zu konzipieren, die unsere Welt zu einem wohnlicheren Planeten macht.
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A. Bevölkerungswachstum und begrenzte Ressourcen Malthus und die „düstere Wissenschaft“ Die Angst vor einem alles verschlingenden, explodierenden Bevölkerungswachstum liegt vielen Sorgen und Befürchtungen im Zusammenhang mit unserer Umwelt zugrunde, wie das Zitat Wilsons zu Beginn des Kapitels zeigt. Lassen Sie einmal folgenden Leitartikel des weltweit führenden Wissenschaftsmagazins auf sich wirken: In erster Linie kommt es wohl darauf an, den Hauptschuldigen in Gestalt der Überbevölkerung dingfest zu machen. In den guten alten Zeiten ... litt man in Wahrheit unter Nahrungsmittelknappheit, Hunger, Pferdekot und Ungeziefer, das sich überall breit machte, unter Öfen, in denen schwefelhaltige Braunkohle verbrannt wurde und die fetten Ruß ausspieen, und unter Wasser, das durch diverse Mikroorganismen kontaminiert war. Es gab damals allerdings so wenige Menschen und so viel Land, dass diese Mängel von der Natur ohne schwerwiegende Folgen einfach kompensiert wurden. Damit dürfen wir heute allerdings nicht mehr rechnen.2
Die eine Hälfte dieser Aussage, die das Bevölkerungswachstum zum Thema hat, wollen wir im Folgenden untersuchen. Die andere Hälfte bezieht sich auf die Ursachen der Umweltverschmutzung und anderer ökologischer Probleme, ein Thema, das wir in Abschnitt C behandeln werden. Die volkswirtschaftliche Analyse des Bevölkerungswachstums geht auf Reverend T.R. Malthus zurück. Er entwickelte seine 2 Science, 10.9.1993, S. 1371.
Kapitel 18 Umweltschutz
Ansichten in Streitgesprächen, die er beim Frühstück mit seinem fortschrittsgläubigen Vater führte, der meinte, die menschliche Rasse verbessere sich laufend selbst. Der Sohn regte sich in diesen Diskussionen schließlich so sehr auf, dass er 1798 An Essay on the Principle of Population schrieb. Das Werk wurde sofort zum Bestseller und beeinflusst seither das Denken der Menschen zu den Themen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum überall auf der Welt. Malthus begann mit einer Beobachtung Benjamin Franklins, wonach sich in jenen amerikanischen Kolonien, in denen es genügend Ressourcen gab, die Bevölkerung etwa alle 25 Jahre verdoppelte. Daraus abgeleitet postulierte er eine allgemeine Tendenz des Bevölkerungswachstums, das – sofern es nicht durch ein beschränktes Nahrungsmittelangebot gedrosselt werde – exponentiell oder anhand einer geometrischen Reihe zunehme. Irgendwann müsse die Bevölkerung, die sich mit jeder neuen Generation verdopple – 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024, ... – eine solche Zahl erreicht haben, dass es, so sehr man sie auch zusammenpferche, auf der ganzen Welt nicht mehr genügend Platz für sie gebe. Volkswirtschaft in der Praxis: Zinseszins und exponentielles Wachstum Exponentielles Wachstum und Zinseszins sind wichtige Werkzeuge der Volkswirtschaftslehre. Von exponentiellem (oder geometrischem) Wachstum sprechen wir, wenn eine Variable von Periode zu Periode in konstanten Schritten zunimmt. Wächst daher eine Bevölkerung von 200 Personen mit einer jährlichen Rate von 3 Prozent, so ergeben sich folgende Bevölkerungsstände: 200 im Jahre 0, 200 1,03 im 1. Jahr, 200 1,03 1,03 im 2. Jahr, 200 (1,03)3 im 3. Jahr, … , 200 (1,03)10 im 10. Jahr und so weiter. Wird irgendwo laufend Geld investiert, so erwirtschaftet dieses Geld einen Zinseszins, also Zinsen auch auf die bereits aufgelaufenen Zinsen der Vergangenheit. Geld,
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für das man Zinseszinsen erhält, steig exponentiell in seinem Wert. Es ist beispielsweise interessant zu berechnen, wie viel die US-$ 24, die die Indianer für die Insel Manhattan bekamen, heute wert wären, hätte man sie mit Zins und Zinseszins angelegt. Nehmen wir an, dieses Geld wäre in eine Stiftung eingeflossen, die seit dem Jahre 1624 einen jährlichen Ertrag von 6 Prozent erwirtschaftet hätte. Dann wären aus den US-$ 24 bis zum Jahr 1995 US-$ 59 Milliarden geworden. Eine im Zusammenhang mit dem Zinseszins nützliche Regel ist die so genannte „70er-Regel“, die besagt, dass sich eine Größe, die alljährlich um g Prozent zunimmt, in (70/g) Jahren verdoppelt. Eine Bevölkerung mit einem Wachstum von 2 Prozent jährlich verdoppelt sich demnach in 35 Jahren, während Gelder, die mit einer Verzinsung von 7 Prozent jährlich angelegt werden, sich schon alle 10 Jahre verdoppeln. Malthus, der sich mit seinen Aussagen auf Zinseszinsberechnungen stützte, hatte jedoch noch einen weiteren Trumpf im Ärmel. Nun beschwor er nämlich das Gespenst der abnehmenden Grenzerträge. Er argumentierte, dass Grund und Boden eine fixe Größe seien, während immer mehr Arbeit zur Verfügung stehe, um diesen Boden zu bearbeiten. Nahrungsmittel könnten daher nur ein arithmetisches, aber kein geometrisches Wachstum aufweisen. (Vergleichen Sie die Reihen 1, 2, 3, 4, ... und 1, 2, 4, 8, …) Malthus schloss düster: Während sich die Bevölkerung verdoppelt und wieder verdoppelt, scheint es, als würde sich die Größe des Globus immer wieder halbieren – bis er schließlich soweit geschrumpft ist, dass das Nahrungsangebot unter das zum Überleben notwendige Maß fällt.
Wendet man das Gesetz der abnehmenden Ertragszuwächse auf das fixe Angebot an Grund und Boden an, so wird die Nahrungsproduktion nicht mit dem geometrischen Wachstum der Bevölkerung Schritt halten können.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Allerdings behauptete Malthus gar nicht, dass es zu einem exponentiellen Bevölkerungswachstum kommen müsse. Er sah nur die allgemeine Tendenz dazu, sofern dem Wachstum keine Grenzen gesetzt würden. Malthus beschrieb auch, welche Einflüsse das Bevölkerungswachstum immer und überall drosseln. In den späteren, allerdings kaum gelesenen Auflagen seines Werks betonte er die „positiven“ Mechanismen, die die Lebenserwartung verringerten: Pest, Hunger und Krieg. Später äußerte er die Hoffnung, das Bevölkerungswachstum könne auch durch „moralische Beschränkung“, also durch Abstinenz und Eheschließung erst in höherem Alter, gedrosselt werden. Diese wichtige Anwendung des Gesetzes der abnehmenden Grenzerträge zeigt, welche enormen Auswirkungen eine ganz einfache Theorie haben kann. Malthus’ Ideen verbreiteten sich rasch. Man benutzte sein Buch zur Rechtfertigung einer Überarbeitung der englischen Armengesetze. Unter dem Einfluss der Schriften Malthus’ argumentierte man, Armut müsse so unangenehm wie möglich gestaltet werden. Seine Meinungen dienten auch zur Rechtfertigung des Arguments, eine Regierung könne das Wohl der Armen nicht fördern, weil höhere Einkommen ohnehin nur dazu führten, dass sich Arbeiternehmer immer weiter fortpflanzten, bis ihnen schließlich wiederum nur das Existenzminimum bleibe. Selbst heute erscheint uns der Geist Malthus’ noch in einer apokalyptischen Ökonomie, wie sie etwa in der berühmten Studie Die Grenzen des Wachstums und im 1992 erschienenen Folgeband Die neuen Grenzen des Wachstums zum Ausdruck kommt. Die Prognosen dieses modernen Malthusianismus klingen sogar noch düsterer als jene des Gründervaters: Sollten die gegenwärtigen Trends des Bevölkerungswachstums, der um sich greifenden Industrialisierung, Verschmutzung unserer Umwelt und zunehmender Nahrungsmittelknappheit sowie die Ressourcenplünderung
Teil 4
unverändert anhalten, werden wir die Grenzen des Wachstums auf diesem Planeten schon in den nächsten hundert Jahren erreicht haben. In der Folge wird es aller Voraussicht nach zu einem plötzlichen und unkontrollierbaren Rückgang sowohl der Bevölkerungszahl als auch der Industrieproduktion kommen.3
Widerlegte malthusianische Prophezeiungen. Trotz der sorgfältigen statistischen Untersuchungen, die Malthus angestellt hatte, meinen heutige Demografen, er habe seinen Theorien ungebührlich vereinfachte Prämissen zugrunde gelegt. In seiner Erörterung der abnehmenden Grenzerträge berücksichtigte Malthus in keiner Weise das technologische Wunder der Industriellen Revolution. Er sah auch nicht voraus, dass die Familien von heute mit den Möglichkeiten der Geburtenkontrolle und neuen Technologien die Geburtenrate selbst steuern können. Und tatsächlich entwickelte sich das Bevölkerungswachstum in den meisten westlichen Staaten nach 1870 rückläufig, gerade als Lebensstandard und Reallöhne am stärksten stiegen. Im Jahrhundert nach Malthus verschob der technologische Fortschritt die Produktionsmöglichkeitenkurve der Länder Europas und Nordamerikas nach außen. Tatsächlich vollzog sich der Wandel so rasch, dass die erzielten Produktionszuwächse das Bevölkerungswachstum bei weitem übertrafen und zu einem rapiden Anstieg der Reallöhne führten. Trotz all ihrer Fehler bleiben die Aussagen Malthus’ aber in ihrem Kern von Bedeutung, um die Bevölkerungsentwicklung in armen Ländern zu verstehen, in denen nach wie vor ein Wettlauf zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsproduktion stattfindet.
3 Siehe dazu Die Grenzen des Wachstums, S. 23, im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
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Reicher ist gesünder Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich das beständige Bevölkerungswachstum abträglich auf Bäume, Wölfe und Unkraut auswirkt, weil sie alle vom Menschen verdrängt werden und Städten sowie anderen menschlichen Lebensformen weichen müssen. Doch treffen die Befürchtungen moderner Malthusianer, dass Wirtschaftswachstum und Industrialisierung der direkte Weg in den ökologischen Ruin sind, ebenso zu? Die historische Entwicklung lässt eine derart simple Schlussfolgerung nicht zu. Denken wir etwa an die Verschmutzungstrends, die quer durch die verschiedenen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung eine inverse Uförmige Kurve beschreiben (siehe Abbildung 18-1). Der ansteigende Teil der Kurve ist durch die Urbanisierung bedingt, begleitet vom Wachstum stark verschmutzender Industrien, die häufig in den ersten Entwicklungsphasen die Landwirtschaft ersetzen. Wird dort, wo früher ein kleiner Bauernhof stand, ein Stahlwerk errichtet, ist fast unausweichlich mit einer Verschlechterung der Luftqualität zu rechnen, vor allem in armen Ländern, die sich einen gezielten Umweltschutz kaum leisten können. Mit steigenden Einkommen investieren Länder jedoch meist mehr in ökologische Maßnahmen, und ihre Wirtschaftsstruktur entwickelt sich in Richtung einer Ausdehnung des Dienstleistungssektors zulasten der Industrie, sodass die Umwelt weniger stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Dies erklärt die inverse U-Form der Verschmutzungskurve in Abbildung 18-1. Die längerfristigen Trends in der Umweltverschmutzung der Vereinigten Staaten bestätigen diese Theorie. Abbildung 18-2 zeigt das Ausmaß der Verschmutzung je Produktionseinheit anhand von fünf wichtigen Umweltgiften im Verlauf des letzten Jahrhunderts. Bei allen fünf Substanzen ist im 20. Jahrhundert ein drastischer Rückgang zu verzeichnen.
Verschmutzung pro Kopf oder je Produktionseinheit
Kapitel 18 Umweltschutz
B
C A
Pro-Kopf-Einkommen
Abbildung 18-1: Umweltverschmutzung und Wirtschaftswachstum Steigt die Umweltverschmutzung mit zunehmendem Wirtschaftswachstum? Empirische Studien belegen, dass die Kurve der Umweltverschmutzung mit steigenden Einkommen eine umgekehrte U-Form beschreibt. Beim niedrigen Einkommensniveau A verursacht eine primitive Landwirtschaft nur geringe ökologische Schäden. Mit dem Einsetzen wirtschaftlicher Entwicklung führt das Wachstum der Schwerindustrie ohne Umweltschutzmaßnahmen zu einer höheren Pro-Kopf-Verschmutzung in B. Und schließlich in entwickelten Staaten sinkt dank verschiedener ökologischer Maßnahmen und mit dem Bedeutungsverlust der Industrie gegenüber der Dienstleistungswirtschaft die Verschmutzung in C wieder.
Welches Verhältnis besteht zwischen Wirtschaftsentwicklung und Gesundheit? Hier führen uns Studien klar vor Augen, dass die Beziehung zwischen Gesundheit, Pro-KopfEinkommen und Bildung der Bevölkerung positiv ist, wobei in den ärmsten Ländern die massivsten Umweltschäden, etwa in Form unzureichender sanitärer Verhältnisse und fehlenden Trinkwassers, zu konstatieren sind. Einer der gründlichsten Erforscher der Korrelationen zwischen Bevölkerungswachstum, wirtschaftlicher Entwicklung und Umweltverschmutzung ist Wilfred Beckerman von der Universität Oxford, der seine Studienergebnisse folgendermaßen zusammenfasst:
522
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
Verschmutzung je Produktionseinheit 500 Flüchtige organische Verbindungen
Schwefel
Verschmutzung/BIP (1970 100)
Blei 400
Kohlendioxid 400
Feinstaub
300
200
100
0 1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 18-2: Umweltverschmutzungstrends in den USA, 1900–2000 Die Verschmutzung je Produktionseinheit war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am höchsten und entwickelt sich seither stark rückläufig. Die US-Wirtschaft befindet sich derzeit im abwärts geneigten Bereich zwischen B und C in Abbildung 18-1. Quelle: Environmental Protection Agency, Energie- und Handelsministerium. Die Verschmutzungsmenge wird für jede Emissionsquelle durch das reale BIP dividiert.
Die drängendsten ökologischen Probleme für jene 75 Prozent der Weltbevölkerung, die in Entwicklungsländern leben, bestehen im mangelndem Zugang zu sicheren Trinkwasservorräten oder angemessenen sanitären Einrichtungen sowie in der Verelendung der Städte. Außerdem gibt es klare Hinweise darauf, dass für die meisten Länder ... letztlich der beste – und wahrscheinlich der einzige – Weg zur Erlangung einer erträglichen Umwelt darin besteht, reich zu werden.4
4 Siehe zu Beckermans Artikel den Hinweis im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
B. Ökonomie der natürlichen Ressourcen Ressourcenkategorien Welche wichtigen natürlichen Ressourcen gibt es? Da sind einmal Grund und Boden, Wasser und Luft. Grund und Boden liefern uns Nahrung und Wein von fruchtbaren Äckern und Weinbergen, aber auch Erdöl und viele Mineralien aus dem Erdinneren. Unser Wasser beschert uns Nahrung in Form von Fischen, aber auch Erholung und ein bemerkenswert effizientes Transportmedium. Die kostbare Erdatmosphäre sorgt für Luft, die wir atmen können, für schöne Sonnenun-
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Kapitel 18 Umweltschutz
tergänge und für den Raum, in dem unsere Flugzeuge fliegen. Natürliche Ressourcen und Umwelt sind – wie Arbeit und Kapital – in einem bestimmten Sinn nichts weiter als Produktionsfaktoren. Sie dienen uns Menschen, weil wir aus ihnen Produkte oder Bedürfnisbefriedigung beziehen können.
Internalisierbare und nicht internalisierbare Ressourcen In ihrer Analyse der natürlichen Ressourcen treffen Ökonomen zwei grundsätzliche Unterscheidungen. Am wichtigsten ist ihnen dabei festzustellen, ob Ressourcen internalisierbar oder nicht internalisierbar sind. Sie erinnern sich bestimmt noch: Ein Wirtschaftsgut wird als internalisierbar bezeichnet, wenn Unternehmen oder Konsumenten seinen gesamten volkswirtschaftlichen Wert nutzen können. Zu den internalisierbaren natürlichen Ressourcen gehören Boden (dessen Fruchtbarkeit der Bauer nutzen kann, der den auf diesem Boden angebauten Weizen oder Wein verkauft), Bodenschätze wie Erdöl oder Erdgas (hier kann der Eigentümer den Wert der Lagerstätten auf Märkten verkaufen) und Vegetation wie Bäume (der Eigentümer kann das entsprechende Grundstück oder die Bäume an den Meistbietenden verkaufen). Auf einem funktionierenden vollkommenen Markt ist zu erwarten, dass internalisierbare natürliche Ressourcen eine effiziente Preisbildung und Allokation ermöglichen. Eine zweite Kategorie, die nicht internalisierbaren Ressourcen, können zweifellos ökonomische Probleme verursachen. Es handelt sich hierbei um Ressourcen, deren Kosten und Nutzen nicht dem Eigentümer erwachsen. Mit anderen Worten, nicht internalisierbare Ressourcen beinhalten externe Effekte. (Denken Sie daran: Externalitäten oder externe Effekte bedeuten, dass ein Produktionsvorgang oder ein Konsum zu Kosten oder Nutzen für andere als die beteiligten Parteien führt.) Beispiele für nicht internalisierbare Ressourcen findet man überall auf unserem
Planeten. Nehmen wir als Beispiel Fisch. Ein Thunfischschwarm liefert nicht nur ein köstliches Abendessen, sondern ist auch nötig, um künftige Thunfischgenerationen hervorzubringen. Doch das Brutpotenzial der Thunfische wird von keinem Markt erfasst oder internalisiert. Niemand kauft oder verkauft das Fortpflanzungsverhalten eines Thunfischs. Wenn daher ein Fischer einen Thunfisch aus dem Wasser zieht, bezahlt er der Gesellschaft für die Vernichtung zukünftigen Fortpflanzungspotenzials keinen Cent. Aus diesem Grund werden die Fischgründe, sofern die Staatengemeinschaft nicht regulierend eingreift, auch laufend überfischt. Dies führt zu einem der wichtigsten Ergebnisse der gesamten Ressourcen- und Umweltökonomie: Wenn Märkte nicht alle Kosten und den gesamten Nutzen ihres Einsatzes an natürlichen Ressourcen selbst tragen oder genießen können, wenn also erhebliche Externalitäten auftreten, senden die Märkte die falschen Signale aus, und es kommt zu Preisverzerrungen. Im Allgemeinen produzieren die Märkte zu viel von jenen Gütern, die negative externe Effekte aufweisen, während es von Gütern mit positiven externen Effekten immer zu wenig gibt.
Erneuerbare und nicht erneuerbare Ressourcen Welche Techniken im Ressourcenmanagement zur Anwendung gelangen, hängt davon ab, ob es sich um erneuerbare oder nicht erneuerbare Ressourcen handelt. Eine nicht erneuerbare Ressource ist im Wesentlichen durch ein fixes Angebot gekennzeichnet und regeneriert sich in volkswirtschaftlich relevanten Mengen nicht rasch genug. Wichtige Beispiele für diese Ressourcenart sind fossile Brennstoffe, die vor Millionen von Jahren entstanden und für die Menschheit als fixe Größe betrachtet werden können, aber auch andere Bodenschätze wie Kupfer, Silber, Gold, Stein und Sand.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Eine zweite Kategorie sind die erneuerbaren Ressourcen, die regelmäßig wieder hergestellt werden und bei richtigem Umgang unbegrenzt nützliche Dienste leisten können. Sonnenenergie, landwirtschaftliche Nutzflächen, Flusswasser, Wälder und Fischgründe gehören zu den wichtigsten Kategorien erneuerbarer Ressourcen. Die Grundsätze, nach denen diese beiden Ressourcenarten effizient bewirtschaftet werden können, stellen uns vor ganz verschiedenartige Herausforderungen, wie wir später noch sehen werden. Die effiziente Nutzung einer nicht erneuerbaren Ressource verlangt die Verteilung einer beschränkten Menge derselben innerhalb einer bestimmten Zeit: Sollen wir unser kostengünstiges Erdgas schon in dieser Generation verbrauchen oder es besser für die Zukunft aufbewahren? Dagegen gehört zur klugen Nutzung erneuerbarer Ressourcen die Vergewisserung, dass der Nutzenfluss auf effiziente Weise aufrechterhalten wird, etwa durch bestmögliche Bewirtschaftung eines Waldes, durch den Schutz der Laichgründe der Fische oder durch die Einschränkung toxischer Immissionen in Flüsse und Seen. Tabelle 18-1 zeigt uns die grundlegende Unterteilung der Ressourcen in erneuerbar und nicht erneuerbar und führt jeweils einige wichtige Beispiele an.
Die Allokation internalisierbarer natürlicher Ressourcen Wir beginnen unsere kurze Übersicht mit den internalisierbaren Ressourcen – jenen, die sich in privatem Eigentum oder in privater Nutzung befinden und deren Hauptkosten und -nutzen in Produktion und Konsum auf dem Markt erfasst werden. Welche Branchen sind im Zusammenhang mit natürlichen Ressourcen vor allem zu nennen? Tabelle 18-2 zeigt uns die Wertschöpfung in jedem der wichtigsten Industriezweige, wie er im Volkseinkommen
Erneuerbar
Teil 4
Nicht erneuerbar
Internalisierbar
Holz, landwirtschaftlich nutzbarer Boden, Solarenergie
Erdöl, Erdgas, Kupfer
Nicht internalisierbar
Fischgründe, Luftqualität, Gebirgsaussicht
Klima, radioaktiver Abfall
Tabelle 18-1: Klassifikation von Ressourcen Ressourcen werden je nach dem Auftreten erheblicher Externalitäten durch ihre Produktion oder ihren Konsum als internalisierbar oder nicht internalisierbar bezeichnet. Darüber hinaus stellt sich bei nicht erneuerbaren Ressourcen wie Erdöl oder Erdgas die Frage, wie die begrenzten Ressourcen über Raum und Zeit eingeteilt werden sollten. Bei erneuerbaren Ressourcen wie Holz oder Fischbeständen ist vorrangig zu entscheiden, wie wir möglichst umsichtig damit umgehen, sodass der Wert der Ressource insgesamt maximiert wird.
und in den Produktionskonten der Vereinigten Staaten gemessen wird. Die Gesamtheit aller auf dem Markt anzutreffenden Ressourcen-Sektoren zeichneten 2001 für 2,6 Prozent der Gesamtproduktion verantwortlich. Zwei Wirtschaftszweige, nämlich Landwirtschaft sowie die Erdöl- und Erdgasindustrie, machten allein zwei Drittel der Wirtschaftsleistung aller auf dem Markt befindlichen natürlichen Ressourcen aus. Obwohl der Anteil der Ressourcen am Gesamteinkommen gering ist, wäre es doch sehr unklug, in überheblicher Weise anzunehmen, dass natürliche Ressourcen für das Wirtschaftswachstum praktisch keine Rolle spielen. Wer weiß, vielleicht neigen sich eines Tages einige unserer wichtigsten Rohstoffe wie Erdöl dem Ende zu, und wir müssen alle unsere Anstrengungen darauf verwenden, möglichst schnell einen Ersatz zu finden? Nichts würde eine moderne Industriegesellschaft schneller in Chaos und Armut stürzen
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Kapitel 18 Umweltschutz
Sektor
Wertschöpfung 2001* (Mrd. US-$)
Branchen mit erneuerbarem Ressourceneinsatz
1,1
Landwirtschaft
80,6
Forstwirtschaft und Fischerei
17,2
Gewinnung erneuerbarer Energie
10,4
Branchen mit nicht erneuerbarem Ressourceneinsatz Erdöl und Erdgas Kohle
Prozentualer Anteil am BIP 2001
1,5
110,3 10,5
Sonstige Mineralien (ohne Treibstoffe): Geologisch selten**
8,8
Geologisch sehr häufig***
2,9
Stein, Lehm, Sand usw.
16,8
* Gesamtumsatz abzüglich Materialeinkauf; beinhaltet Gewinne, Löhne, Zinsen, Rente, Abschreibung und Steuern. ** Beinhaltet 17 Mineralien wie Kupfer, Gold, Silber und Vanadium. *** Beinhaltet Mineralien wie Eisen und Aluminium. Tabelle 18-2: Der Beitrag der verschiedenen Ressourcen zur Produktion, 2001 Viele wichtige Güter und Dienstleistungen beruhen auf erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen. Schätzungen der gesamten Produktionsmenge oder des Gesamtumsatzes berücksichtigen nicht nur den Beitrag der natürlichen Ressource, sondern auch die Kapital- und Arbeitserträge. Quelle: „Benchmark Input-Output for 1997“, abrufbar unter www.bea.gov, sowie Robert Gordon u.a., Toward a New Iron Age? (Yale University Press, New Haven, 1989.
als der unwiederbringliche Verbrauch aller Treibstoffe, die wir so dringend für unsere Computer, Autos, Krankenhäuser und Elektromotoren benötigen. Das ist deshalb so besorgniserregend, weil 90 Prozent des amerikanischen Energieverbrauchs heute aus endlichen, nicht erneuerbaren Ressourcen wie Erdöl, Erdgas und Kohle stammen. Sollten wir nicht vielleicht Vorkehrungen treffen, um die Nutzung dieser außerordentlich kostbaren Kapitalbestände unserer Gesellschaft zu drosseln, damit sie auch unseren Enkelkindern noch zur Verfügung stehen? Ökonomen geben auf diese Frage zwei Antworten. Erstens weisen sie darauf hin, dass fossile Brennstoffe wie Erdöl und Erdgas zwar nur beschränkt vorhanden, aber nicht „essentiell“ sind. Eine essentielle Ressource, beispielsweise Sauerstoff, kann durch
nichts ersetzt werden. Doch für alle Energieressourcen gibt es einen möglichen Ersatz. Wir können in den meisten Fällen Kohle anstelle von Erdöl oder Erdgas einsetzen. Wir können Kohle verflüssigen oder vergasen, sollte irgendwo ein flüssiger oder gasförmiger Brennstoff unbedingt benötigt werden. Geht uns irgendwann die Kohle aus, können wir ersatzweise immer noch die teurere Sonnenenergie, die Kernspaltung und vielleicht eines Tages auch die Kernfusion verwenden. Die drei zuletzt genannten Energiequellen sind im Überfluss vorhanden, denn wenn uns eines Tages auch die Sonnenenergie ausgeht, ist die Erde ohnehin längst unbewohnbar geworden. Der zweite volkswirtschaftliche Ansatz bezieht sich auf die relative Produktivität verschiedener Ressourcen. Ökologen argumen-
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
tieren immer wieder, dass Energie und andere natürliche Ressourcen wie unberührte Natur oder Urwälder ganz besondere Formen von Kapital sind, die unbedingt bewahrt werden müssen, um ein „nachhaltiges“ Wirtschaftswachstum zu gewährleisten. Dieser Ansicht können sich Ökonomen nicht anschließen, denn sie betrachten die natürlichen Ressourcen einfach nur als eine weitere Kapitalform, die die Gesellschaft ebenso wie schnelle Computer, Humankapital in Form gut ausgebildeter Arbeitskräfte oder technologisches Know-how in ihren Wissenschaftlern und Technikern besitzt. Dagegen sind sich Ökonomen und Ökologen einig, wenn es darum geht, dass unsere Generation zukünftigen Generationen einen angemessenen Kapitalstock hinterlassen sollte. Nur betonen die Ökonomen, dass die Zusammensetzung dieses Kapitalbestandes von der jeweiligen zukünftigen Produktivität der einzelnen Kapitalgüter abhängen sollte. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass künftige Generationen von größeren Beständen natürlichen Kapitals wie Erdöl, Erdgas und Kohle mehr profitieren würden als von produziertem Kapital in Form von mehr Wissenschaftlern oder besseren Labors und Bibliotheken, die durch Daten-Superhighways untereinander verbunden sind. Die Substituierbarkeit natürlichen Kapitals und anderer Arten von Kapital wird durch die Produktions-Indifferenzkurve oder „Isoquante“ in Abbildung 18-3 dargestellt. Wir zeigen darin die jeweiligen Mengen der beiden Arten von Kapital, die erforderlich wären, um in Zukunft ein bestimmtes Produktionsniveau (Q*) zu erreichen, wenn die anderen Produktionsfaktoren konstant bleiben. Dieser Output lässt sich bei Punkt C mit einer konservativen Strategie erreichen, die eine Reduzierung des heutigen Energieverbrauchs vorsieht, sodass ein großer Teil des Erdöls und Erdgases, aber relativ wenig Humankapital zukünftigen Generationen hinterlassen wird. Oder er ließe sich mit einer Niedrigenergiepreis- und Ausbildungsstrategie in Punkt B erreichen. Jede dieser beiden Strategien ist möglich, und wün-
Teil 4
schenswerter wäre daher wohl jene, die heute und in Zukunft ein höheres Maß an Konsum ermöglicht. Bitte beachten Sie auch, dass die Isoquante in Punkt A auf die Y-Achse auftrifft, was anzeigt, dass wir ein zukünftiges Produktionsniveau von Q* ohne Erdöl und Erdgas erreichen können. Wie ist das möglich? Mit dem durch Punkt A dargestellten größeren wissenschaftlichen und technologischen Know-how kann die Gesellschaft Ersatztechnologien entwickeln, wie beispielsweise eine saubere Kohletechnologie oder Solarenergie, um die erschöpften Erdöl- und Erdgasvorkommen zu ersetzen. Dass die Kurve an die Künftiger Bestand an Humankapital (KH)
526
A
B
Zur Erzeugung des zukünftigen Outputs erforderliche Produktionsfaktoren Q*
C
Künftige Bestände an Öl und Gas (KN)
Abbildung 18-3: Natürliches Kapital und produziertes Kapital sind Produktionssubstitute Produktion kann entweder mit natürlichem Kapital (KN) oder mit Humankapital (KH) erfolgen. Die Kurve zeigt die Faktorkombinationen, die in Zukunft eine bestimmte Produktionsmenge (Q*) erzeugen werden. Ökologen drängen auf die Bewahrung des natürlichen Kapitals, um die Bestände für die Zukunft weitgehend zu erhalten, wie etwa in C. Ökonomen betonen hingegen die Notwendigkeit, darauf zu achten, dass knappes Kapital in jene Sektoren fließt, in denen es den höchsten Ertrag erbringt. Steht genügend natürliches Kapital zur Verfügung, wäre es effizienter, sich durch den Verbrauch der Bestände an natürlichem Kapital heute zu Punkt B zu bewegen, während man sich zugleich um Aufstockung des Humankapitals und technologischen Fortschritt durch Forschung und Entwicklung bemüht.
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Kapitel 18 Umweltschutz
Achse anstößt, zeigt an, dass Öl und Gas langfristig keine essentiellen Ressourcen sind.
Preistrends bei Ressourcen Im Jahre 1973 explodierte nach einem Krieg und einem Ölembargo im Mittleren Osten der Rohölpreis, und auch die Preise für andere Ressourcen schossen in die Höhe. Damals befürchteten viele, die Welt könnte sich in einem Stadium kurz vor Erschöpfung ihrer wichtigsten nicht erneuerbaren Ressourcen befinden. Sogar Experten der Ölindustrie prognostizierten – zum damaligen Dollarkurs – Ölpreise von US-$ 100–200 je Barrel bis zum Jahr 2000. Dreißig Jahre später lag der Ölpreis weit unter diesen Prognosen. Inflationsbereinigt kostete das Barrel kaum mehr als vor den
Ölkrisen der siebziger Jahre. Und erstaunlicherweise gilt dasselbe eigentlich für praktisch alle natürlichen Ressourcen: Langfristig kommt es eher zu Preisrückgängen als zu Preissteigerungen. Abbildung 18-4 zeigt die Preistrends einer ganzen Reihe von Ressourcen im Vergleich zum Preis des Faktors Arbeit in den letzten 50 Jahren. Sie alle wurden gegenüber der Arbeit weniger knapp, obwohl natürlich kurzfristige Krisen wie jene der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts den Trend vorübergehend umkehrten. Betrachtet man die Sache von einem anderen Gesichtspunkt, müsste man, sollten die Ressourcenpessimisten Recht behalten, eigentlich erwarten, dass ein immer höherer Anteil des Sozialprodukts in den Ressourcensektor fließt. Tatsächlich ist der Anteil der Res-
Rohstoffknappheit 200
Rohstoffpreis/Arbeitskosten (Basis 1948 = 100)
160 120 100 80
40
Holz Oil
Kohle Landwirtschaft
20
1950
1955
1960
1965
1970
1975 1980 Jahr
1985
1990
1995
2000
Abbildung 18-4: Die Preise der meisten Ressourcen sind im Vergleich zu den Erwerbslöhnen gesunken Der Einsatz der meisten Rohstoffe ist durch die gestiegene Produktivität und neue Entdeckungen heute von geringerer Bedeutung, sodass ihr Marktpreis im Verhältnis zu den Arbeitskosten oder Löhnen gesunken ist. Dies wird anhand von vier wichtigen Rohstoffen illustriert. Zwar kehrte sich der langfristige Rückgang in den 1970er Jahren während einer vorübergehenden Ressourcenknappheit um, doch seit 25 Jahren setzt sich der Trend wieder fort. Quelle: Bureau of Labor Statistics und Energieministerium.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
16 14 Alle marktgängigen Rohstoffe (Gesamtwert)
BIP-Anteil (in%)
12 10 8 6
Sonstige Rohstoffsektoren*
4 2
1945
Landwirtschaft
1955
1965
1975 Jahr
1985
1995
2005
* Zu den sonstigen Rohstoffsektoren gehören Forstwirtschaft, Fischerei, Bergbau, Stromwirtschaft Erdgaswirtschaft und Trinkwasserversorgung
Abbildung 18-5: Der Anteil der internalisierbaren natürlichen Ressourcen an der Wirtschaftsleistung ist rückläufig Während der letzten 50 Jahre ist der Anteil der auf natürlichen Rohstoffen fußenden Aktivitäten dramatisch zurückgegangen. Dieser Abwärtstrend ist primär auf die geringere Bedeutung der Landwirtschaft zurückzuführen, während die anderen auf dem Markt gehandelten natürlichen Ressourcen ihren Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung halten konnten. Quelle: Die Daten zeigen die Anteile der Brutto-Industrieproduktion am gesamten BIP; Angaben laut US-Handelsministerium.
sourcenwirtschaft an der Gesamtwirtschaft zurückgegangen. Abbildung 18-5 zeigt den Prozentsatz von Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Bergbau und Ressourcen-Versorgungsunternehmen am gesamten Sozialprodukt der USA. Der Anteil dieser Wirtschaftszweige belief sich gegen Ende der vierziger Jahre noch auf etwa 13 Prozent, ging jedoch bis 2001 auf nur noch 5 Prozent des gesamten Wirtschaftsvolumens zurück. Der Großteil dieses Rückgangs entfiel auf die Landwirtschaft, und die Gründe dafür haben wir bereits in Kapitel 4 beschrieben. Die Auswirkungen der Ölkrise der siebziger Jahre zeigen sich im unregelmäßigen Verlauf der Kurve in Abbildung 18-5 mit den Aufwärtsbewegungen der Öl- und Gaspreise und ihres Anteils am BIP, doch die Abbildung stellt auch den erneut einsetzenden Abwärtstrend zu Beginn der 1980er Jahre dar.
Was aber steht hinter diesen Entwicklungstrends bei Preisen und BIP-Anteil? Wir können hier eindeutig Parallelen zur Diskussion um den Malthusianismus feststellen. Tatsächlich hat der preisdämpfende Einfluss des technologischen Wandels und der neuen Entdeckungen den Preissteigerungseffekt durch den Abbau der Ressourcen wettgemacht. So werden heute beispielsweise Telefondrähte aus Kupfer durch Glasfaserkabel ersetzt, für die viel billigere und reichlich vorhandene Rohmaterialien verwendet werden. Und diesen Effekt stellen wir auf den meisten Rohstoffsektoren fest.
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Kapitel 18 Umweltschutz
Die Rohstoffwette Im Jahr 1980 forderte Julian Simon, Ökonom und führender Verfechter der Füllhorntheorie, die Ökopessimisten heraus. Er bot ihnen an, selbst irgendeinen beliebigen natürlichen Rohstoff auszuwählen; er, Simon, der fest daran glaubte, die Technik sei jederzeit in der Lage, einen Ersatz für ausgebeutete Rohstoffe zu finden, sei dann bereit zu wetten, dass sein Preis sinken und nicht steigen werde. Diese Herausforderung nahm Paul Ehrlich, ein anerkannter Biologe und Ökologe, an. Ehrlich war erstmals im Jahre 1968 als Autor von The Population Bomb (deutsch: Die Bevölkerungsbombe) zu Berühmtheit gelangt, ein Werk, in dem er für die nächste Zukunft weltweit große Hungerkatastrophen prognostizierte. In einem späteren Buch sah er eine Rohstoffknappheit bis zum Jahr 1985 voraus. Kein Wunder, dass Ehrlich das Angebot Simons einfach unwiderstehlich fand. Er wettete US-$ 1.000, dass die Preise für fünf Metalle – Chrom, Kupfer, Nickel, Zinn und Tungsten – bis 1990 inflationsbereinigt steigen würden. Simon gewann seine Wette spielend. Inflationsbereinigt waren die Preise aller fünf Metalle im Verlauf des Jahrzehnts deutlich gefallen (in Abbildung 18-4 ersehen Sie den allgemeinen Trend). Ehrlich hatte nicht nur den langfristigen relativen Trend der Ressourcenpreise falsch eingeschätzt, nein, er hatte auch noch das Pech, ausgerechnet ein Jahrzehnt zu erwischen, in dem der Konjunkturzyklus die langfristigen Kräfte zusätzlich verstärkte.
C. Umweltökonomik Im Präsidentschaftswahlkampf 1992 sprach Vizepräsidentschaftskandidat Al Gore von der Notwendigkeit, die möglicherweise katastrophalen Folgen zu erkennen, die ein ungezügeltes Wirtschaftswachstum haben könnte, und er wies auf Probleme wie das
Ozonloch über der Antarktis und den Treibhauseffekt hin. Präsident George Bush Sr. machte sich über Gore lustig: „Wissen Sie, warum ich ihn ‚Ozonman‘ nenne? Dieser Kerl ist ein Ökoextremist, mit ihm würden wir bald bis zum Hals in Eulen, aber ohne Arbeit für das Land dastehen.“ Diese Kontroverse auf oberster Ebene der politischen Entscheidungsträger spiegelt nur die tiefe Spaltung zwischen zwei Bevölkerungsgruppen wider: jenen, die ausschließlich Probleme und Schäden sehen, die entstehen, wenn die Staaten ihre drängenden ökologischen Probleme einfach ignorieren, und den anderen, die meinen, Umweltprobleme müssten ohne Schwierigkeiten mit der modernen Technologie in den Griff zu bekommen sein. In diesem Abschnitt wollen wir die ökologischen Externalitäten untersuchen und beschreiben, warum sie zu volkswirtschaftlicher Ineffizienz führen, sowie Möglichkeiten zur Abhilfe erörtern.
Externalitäten Wir haben den Begriff Externalitäten oder externe Effekte bereits als eine Aktivität definiert, deren Kosten andere zu tragen haben oder deren Nutzen anderen zugute kommt, ohne dass dies beabsichtigt wäre, oder als eine Aktivität, deren Auswirkungen sich in den Preisen und Markttransaktionen nicht vollständig wiederfinden. Externalitäten kennen wir in vielerlei Gestalt. Manche sind positiv (positive externe Effekte), andere hingegen negativ (negative externe Effekte). Wenn ich ein Fass voll mit Säure in einen Fluss kippe, tötet die Säure dort Fische und Pflanzen. Da ich für diesen Schaden niemandem etwas bezahle, tritt ein negativer externer Effekt auf. Sollte ich hingegen eine bessere Methode entdecken, um Verunreinigungen durch Öl zu beseitigen, werden viele Leute einen Nutzen aus meiner Entdeckung ziehen, ohne je etwas an mich bezahlen zu müssen. Das wäre verständlicherweise ein positiver externer Effekt.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Manche Externalitäten haben weit reichende Auswirkungen, während andere nur geringe Spillover-Komponenten aufweisen. Wenn ein Überträger der Beulenpest im Mittelalter eine Stadt betrat, konnte es geschehen, dass die gesamte Stadtbevölkerung von dieser Seuche ausgerottet wurde. Kommt es Ihnen jedoch an einem windigen Tag in den Sinn, in einem großen Fußballstadion an einer Knoblauchzehe herumzukauen, so ist der externe Effekt eigentlich kaum feststellbar.
Öffentliche und private Güter Das Extrembeispiel einer Externalität ist ein öffentliches Gut, das ebenso leicht der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden kann wie einem Einzelnen. Das öffentliche Gut schlechthin ist die nationale Verteidigung. Nichts ist wichtiger für eine Gesellschaft als ihre Sicherheit. Doch die nationale Sicherheit als Wirtschaftsgut unterscheidet sich völlig von einem privaten Gut wie Brot. Zehn Brotlaibe lassen sich in vielerlei Weise zwischen Einzelpersonen aufteilen, und was ich einmal gegessen habe, kann nach mir kein anderer essen. Die nationale Verteidigung eines Staates, sofern es eine gibt, betrifft hingegen jeden Staatsbürger in gleicher Weise. Es ist völlig gleichgültig, ob Sie Militarist oder Pazifist sind, alt oder jung, gebildet oder ungebildet – Sie erhalten dasselbe Ausmaß an nationaler Sicherheit von der Armee wie jeder andere Bewohner Ihres Landes auch. Beachten Sie daher den starken Gegensatz: Die Entscheidung, eine bestimmte Menge eines öffentlichen Gutes anzubieten, beispielsweise an nationaler Verteidigung, bewirkt, dass es eine Reihe von U-Booten, Raketen und Panzern gibt, die jeden von uns beschützen. Dagegen ist die Entscheidung, ein privates Gut wie Brot zu konsumieren, ein völlig individueller Akt. Sie können vier Scheiben essen oder zwei, oder auch den ganzen Laib: Sie allein treffen die Entscheidung, und sie verpflichten damit niemand anderen, eine bestimmte Menge Brot zu essen.
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Das Beispiel der nationalen Verteidigung ist ein drastischer und extremer Fall eines öffentlichen Gutes. Aber auch wenn Sie an die Pockenimpfung denken oder an ein Konzert im Park, einen Damm gegen Überschwemmungen und viele andere öffentliche Projekte, werden Sie im Allgemeinen Elemente eines öffentlichen Gutes feststellen. Zusammenfassend: Öffentliche Güter sind jene, deren Nutzen unteilbar der gesamten Gemeinschaft zugute kommt, ob die Einzelperson das öffentliche Gut kaufen möchte oder nicht. Private Güter sind hingegen jene Güter, die geteilt und getrennt verschiedenen Einzelpersonen angeboten werden können, ohne dass ein externer Nutzen oder externe Kosten für Dritte entstehen. Die effiziente Bereitstellung öffentlicher Güter erfordert häufig aktives staatliches Handeln, während private Güter von den Märkten durchaus effizient angeboten werden können. Globale öffentliche Güter Das wahrscheinlich schwierigste aller Marktversagen bezieht sich auf die globalen öffentlichen Güter. Es handelt sich hierbei um Externalitäten, deren Auswirkungen unteilbar den gesamten Planeten betreffen. Wichtige Beispiele betreffen etwa Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung (wie später in diesem Kapitel erörtert), Aktionen gegen die Vergrößerung des Ozonlochs oder die Entdeckung neuer Produkte (beispielsweise eines Malaria-Impfstoffs). Globale öffentliche Güter stellen deshalb spezielle Probleme dar, weil es keinen wirksamen Markt oder keine politischen Mechanismen gibt, um eine effiziente Allokation vornehmen zu können. Hier versagen die Märkte ständig, weil der Einzelne nicht genügend Anreize hat, um sie zu erzeugen, während die Nationalstaaten nicht den gesamten Nutzen ihrer Investitionen in globale öffentliche Güter für sich beanspruchen können.
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Warum aber unterscheiden sich eigentlich globale öffentliche von anderen Gütern? Würde ein schrecklicher Wirbelsturm einen Großteil der gesamten amerikanischen Maisernte vernichten, könnte das Preissystem Landwirte und Konsumenten wieder in ein Gleichgewicht von Bedarf und Verfügbarkeit bringen. Muss das amerikanische Straßensystem modernisiert werden, sorgen die Wähler mit ihrer Wahlentscheidung dafür, dass die Regierung ein effizientes Transportsystem zur Verfügung stellt. Doch wenn es Probleme mit globalen öffentlichen Gütern gibt – man denke nur an den Treibhauseffekt oder an Resistenzen gegen Antibiotika –, verfügen weder die Marktteilnehmer noch die nationalen Regierungen über angemessene Anreize, um ein effizientes Ergebnis zu erzielen. Die Grenzkosten der Investitionen für einen Einzelnen oder einen Staat sind viel geringer als der globale Grenznutzen, und unzureichende Investitionen sind die logische Folge dieses Umstands.
Marktineffizienzen durch Externalitäten Abraham Lincoln hat einmal gesagt, zu regieren bedeute „für die Leute das Nötige zu tun, das sie durch ihre individuelle Bemühung gar nicht oder nicht ebenso gut selbst tun können“. Dieser Satz lässt sich hervorragend auf den staatlichen Umweltschutz beziehen, denn hier bewirkt der Marktmechanismus keine adäquate Kontrolle über die Umweltverschmutzer. Unternehmen schränken ihre Emissionen schädlicher Chemikalien nicht freiwillig ein; sie verzichten auch nicht darauf, toxische Abfälle auf billige Hausmülldeponien zu werfen. Und daher ist staatlicher Umweltschutz als nützliche und notwendige Funktion des Staates weitgehend anerkannt.
Analyse der Ineffizienz Warum führen negative Externalitäten wie die Umweltverschmutzung zu volkswirtschaftlichen Ineffizienzen? Betrachten wir den hypothetischen Fall eines Kohlekraftwerkes. Die Dirty Light & Power bewirkt negative Externalitäten, weil sie Tonnen schädlicher Schwefeldioxidabgase in die Luft bläst. Ein Teil des Schwefels schädigt zwar die eigenen Anlagen, die deshalb häufiger einen neuen Anstrich benötigen, und die Emissionen schlagen sich auch in höheren Krankenständen im Unternehmen selbst nieder. Dennoch: Der Großteil des Schadens wird „extern“, also außerhalb des Unternehmens wirksam, weil sich die toxischen Stoffe überall in der Umgebung absetzen, die Vegetation und umliegende Gebäude schädigen und zu diversen Atemwegserkrankungen, ja sogar zum vorzeitigen Tod der Anwohner führen. Als gewinnmaximierendes Unternehmen muss die Dirty Light & Power entscheiden, wie viel Verschmutzung durch Abgase sie produzieren sollte. Verzichtet man gänzlich auf Umweltschutzmaßnahmen, leiden Arbeiter und Werksanlagen. Eine wirklich penible Reinhaltung der Umwelt würde hingegen extrem hohe Kosten in Form von schwefelarmen Brennstoffen, Filtern, Recyclingsystemen, Reinigungsvorrichtungen und so weiter verursachen. Die vollständige Rauchgasreinigung schließlich wäre so teuer, dass die Dirty Light & Power keinerlei Chance hätte, auf dem Markt zu bestehen. Aus diesem Grund beschließt die Unternehmensleitung, Schadstoffe nur soweit herauszufiltern, als der Nutzen durch jede zusätzliche vermiedene Verschmutzungseinheit oder durch jede Rauchgasreinigungseinheit (privater Grenznutzen) den Grenzkosten für die Rauchgasreinigung (Vermeidungsgrenzkosten) entspricht. Die Finanzchefs des Unternehmens schätzen den privaten Grenznutzen auf US-$ 10 pro Tonne Schwefeldioxid. Die Unternehmenstechniker erklären der Firmenleitung, dass für die Ausfilterung von 50 der 400 normalerweise emittierten Tonnen
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Schwefeldioxid Grenzkosten in Höhe von US$ 10 pro Tonne anfallen würden. Das Unternehmen hat also sein privates Vermeidungsoptimum in Höhe von 50 Tonnen SO2 gefunden, bei dem der private Grenznutzen für das Unternehmen genau den privaten Grenzkosten für die Filteranlage entspricht. Mit anderen Worten, wenn die Dirty Light & Power Elektrizität nach der Kostenoptimierungsregel erzeugt, indem sie nur ihre eigenen Kosten gegen den eigenen Nutzen abwägt, wird sie ab sofort 350 Tonnen Schwefeldioxid emittieren und 50 Tonnen herausfiltern. Tritt jedoch plötzlich ein Team von Umwelt- und Wirtschaftswissenschaftlern auf den Plan, das die allgemeinen Emissionsauswirkungen auf die Gesellschaft und nicht nur die Schäden für die Dirty Light & Power selbst zu untersuchen hat, werden die Prüfer feststellen, dass der soziale Grenznutzen von Filtermaßnahmen – einschließlich der verbesserten Gesundheitssituation der Bevölkerung und des Immobilienwertes in der unmittelbaren Umgebung – zehnmal so hoch ist wie der private Grenznutzen. Die Kostenauswirkungen durch jede zusätzliche Tonne Schwefeldioxid betragen für die Dirty Light & Power US-$ 10, während für die restliche Gesellschaft zusätzliche negative Auswirkungen in Höhe von US-$ 90 an externalisierten Kosten pro Tonne Schwefeldioxid entstehen. Warum berücksichtigt die Dirty Light & Power diese US-$ 90 an zusätzlichem sozialem Nutzen nicht in ihrer Berechnung? Nun, diese US-$ 90 werden ignoriert, weil der Nutzen außerhalb des Unternehmens zur Wirkung kommt und für die Unternehmensgewinne ohne Folgen bleibt. Wir erkennen nun, wie Umweltverschmutzung und andere Externalitäten zu volkswirtschaftlich ineffizienten Ergebnissen führen: In einer ungeschützten Umwelt wählen die Unternehmen das Verschmutzungsniveau so hoch, wie es für sie selbst am gewinnträchtigsten ist, indem sie nämlich den privaten Grenznutzen durch Verschmutzungsvermeidung mit den Grenzkosten für die Vermeidung gleichsetzen. Bei signifikanten ökologischen Spillover-Effekten führt das private
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Gleichgewicht zu einer ineffizient starken Verschmutzung und unzureichenden Umweltschutzmaßnahmen. Das sozial effiziente Maß an Umweltverschmutzung. Wenn private Entscheidungen über Umweltschutzmaßnahmen offensichtlich ineffizient sind, kann es eine bessere Lösung geben? Sollte jegliche Verschmutzung einfach verboten werden? Sollten wir verlangen, dass die geschädigten Parteien mit den Umweltverschmutzern über Entschädigungen verhandeln oder ihnen erlauben, die Umweltverschmutzer zu verklagen? Oder gibt es eine technische Lösung des Problems? Ökonomen versuchen im Allgemeinen, das sozial effiziente Ausmaß an Umweltverschmutzung zu ermitteln, indem sie die sozialen Kosten und den sozialen Nutzen gegeneinander abwägen. Effizienz erfordert demnach, dass der soziale Grenznutzen durch die Reinhaltemaßnahmen den sozialen Grenzkosten der Reinhaltemaßnahmen entspricht. Dieser Zustand tritt ein, wenn der Grenznutzen von Reinhaltemaßnahmen für die Volksgesundheit und das Volksvermögen auf die Einheit genauso hoch ist wie die Grenzkosten dieser Reinhaltemaßnahmen. Wie lässt sich das effiziente Ausmaß an Umweltverschmutzung denn eigentlich ermitteln? Ökonomen empfehlen einen Ansatz, der unter der Bezeichnung Kosten-Nutzen-Analyse bekannt ist. Dabei wird das Effizienzniveau vermittelt, indem die Grenzkosten einer Maßnahme gegen den Grenznutzen dieser Maßnahme abgewogen werden. Im Falle unserer Dirty Light & Power könnten wir etwa annehmen, dass ein externes Expertengutachten die Kosten von Umweltschutzmaßnahmen und die Kosten der Umweltschäden ermittelt. Diese Gutachter stellen fest, dass die sozialen Grenzkosten und der soziale Grenznutzen einander entsprechen, wenn nicht 50, sondern 250 Tonnen Schwefeldioxid aus der Abluft des Kraftwerks herausgefiltert werden. Beim effizienten Verschmutzungsniveau, so stellen sie fest, liegen die Grenzkosten für Luftreinhaltemaßnahmen bei US-$ 40 pro Tonne, und der
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soziale Grenznutzen durch die letzte herausgefilterte SO2-Einheit beträgt ebenfalls US-$ 40 pro Tonne. Warum ist es für das Unternehmen effizient, nur noch 150 Tonnen anstatt 400 Tonnen Schadstoffe zu emittieren? Nun, bei dieser SO2-Emissionsrate wird der gesamtwirtschaftliche Nettoproduktionswert maximiert. Bei Emissionen der Dirty Light & Power von mehr als 150 Tonnen SO2 würde der zusätzliche Schaden für die Umwelt die Kosteneinsparungen durch billigere Filtermaßnahmen übersteigen. Im Falle einer Senkung der SO2Emission unter 150 Tonnen wären die Grenzkosten für die Filtermaßnahmen jedoch höher als der Grenznutzen durch die reinere Luft. So wie auf vielen anderen Gebieten finden wir auch hier das effizienteste Ergebnis durch die Gleichsetzung von Grenzkosten und Grenznutzen einer Aktivität. Die Kosten-Nutzen-Analyse zeigt, warum die extreme Ökoposition der „Risikovermeidung“ oder „Nullemission“ im Allgemeinen zu Verschwendung führt. Eine Reduzierung der Emissionen auf null bringt zumeist horrende Kosten mit sich, während der Grenznutzen aus der Beseitigung selbst des letzten Gramms eines toxischen Stoffes womöglich eher gering ist. In manchen Fällen müsste die Produktion völlig eingestellt werden, wenn jegliche Emission verboten ist, und eine NoRisk-Philosophie hätte zur Folge, dass die gesamte Stahlindustrie dichtmachen oder der gesamte Fahrzeugverkehr verboten werden müsste. Im Allgemeinen verlangt volkswirtschaftliche Effizienz nach einem Kompromiss, mit dem der Zusatzwert der Produktion eines Wirtschaftszweiges gegen den Zusatzschaden durch dessen Verschmutzung der Umwelt abgewogen wird. Eine unregulierte Marktwirtschaft führt zu einem Ausmaß an Umweltverschmutzung (oder anderen Externalitäten), bei dem der private Grenznutzen der Reinhaltemaßnahmen den privaten Grenzkosten dieser Maßnahmen entspricht. Effizienz erfordert jedoch eine Gleichsetzung des sozialen Grenznutzens
533 mit den sozialen Grenzkosten der Reinhaltemaßnahmen. In einer unregulierten Wirtschaft wird zu wenig für die Umwelt getan, und ökologische Probleme nehmen überhand.
Bewertung von Umweltschäden Eines der größten Probleme in der Entscheidung für eine effiziente Umweltpolitik hängt mit der Notwendigkeit zusammen, den Nutzen des Umweltschutzes und anderer politischer Maßnahmen zu schätzen. Wie bereits beschrieben, erfordert ein effizientes Umweltmanagement eine Ausgewogenheit von Auswirkungen und Kosten jeder zusätzlichen Verschmutzung. Wenn beispielsweise die Emissionsgebühren gleich hoch sein sollen wie der Grenzschaden, müssen wir den Schaden durch die Verschmutzung berechnen. In Fällen, in denen die Verschmutzung nur marktgängige Güter und Dienstleistungen betrifft, kann die Messung vergleichsweise direkt erfolgen. Wenn durch die Erderwärmung die Erträge im Weizenanbau zurückgehen, können wir den Schäden durch den Klimawandel anhand des Nettowerts des Weizens messen. Ebenso können wir, wenn eine neue Straße den Abriss eines Wohnhauses erforderlich macht, den Marktwert für eine gleichwertige Behausung ermitteln. Leider sind viele Arten von Umweltschäden, insbesondere in marktfernen Bereichen, sehr viel schwerer zu bewerten. So riefen beispielsweise Umweltschützer vor kurzem zum Stopp der Rodungsarbeiten in großen Teilen des Nordwestens der USA auf, um den Lebensraum der gefleckten Waldeule zu schützen. Das würde Tausende von Holzfällern ihren Job kosten und die Holzpreise in die Höhe treiben. Wie nun sollten wir den Nutzen durch das Weiterbestehen der gefleckten Waldeule berechnen? Oder, um ein anderes Beispiel anzuführen, denken wir an die Exxon Valdez, deren Öl sich über den Prince-William-Sund in Alaska ergoss und damit Strände verseuchte und Wildtiere tötete. Welchen Wert messen wir dem Leben eines Seeotters bei?
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Grenzkosten, Grenznutzen durch ökologische Maßnahmen
Ökonomen haben mehrere Ansätze für Schätzungen externer Effekte wie jene auf das Leben von Eulen und Ottern entwickelt, die sich nicht direkt in den Marktpreisen niederschlagen. Die verlässlichsten Techniken untersuchen die Auswirkungen von Umweltschäden auf verschiedene Aktivitäten und messen diesen Aktivitäten anschließend einen vom Markt abgeleiteten Wert bei. Bei der Bewertung der Folgen von Schwefeldioxidemissionen schätzen Umweltökonomen beispielsweise zunächst die Auswirkungen der höheren Emissionen auf die Gesundheit und setzen danach mithilfe gezielter Umfragetechniken für diese Gesundheitsbeeinträchtigungen einen Geldwert an, der sich durch das tatsächliche Verhalten der Menschen ergibt. Besonders schwierige Fälle treten in Situationen auf, die Ökosysteme und das Überleben verschiedener Spezies betreffen. Wie viel sollte die Gesellschaft bezahlen, um dafür zu sorgen, dass die gefleckte Waldeule überlebt? 120
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Die meisten Leute werden in ihrem ganzen Leben kein einziges Exemplar dieser Vogelart sehen, so wie sie auch nie einen Schreikranich beobachten oder den Prince-William-Sund besuchen werden. Trotzdem können diese natürlichen Ressourcen für sie einen Wert haben. Manche Umweltökonomen verwenden eine Technik, die als kontingenter Bewertungsansatz (contingent valuation oder CV) bezeichnet wird. Dabei werden Menschen darüber befragt, wie viel sie in einer hypothetischen Situation zu zahlen bereit wären, um bestimmte Naturschätze unbeschädigt zu bewahren. Mit dieser Technik erhält man zwar Antworten, doch diese haben sich nie als besonders verlässlich erwiesen. Kaum jemand würde bezweifeln, dass eine gesunde und saubere Umwelt einen hohen Wert darstellt, doch die verlässliche Bewertung der Umwelt, insbesondere ihrer marktfernen Komponenten, entpuppt sich als schwieriges Unterfangen. MC
MSB (sozialer Grenznutzen) S
100
MC (Grenzkosten der ökologischen Maßnahmen)
80
Z 60
E 40
MPB (privater Grenznutzen)
20
I B 0
300
200 100 Ökologische Maßnahmen (Beseitigung von Umweltschäden)
400
Abbildung 18-6: Ineffizienz durch Externalitäten Wenn der soziale Grenznutzen (MSB) vom privaten Grenznutzen (MPB) abweicht, schaffen die Märkte ein unreguliertes Gleichgewicht in I, bei dem zu wenig vorbeugende oder korrigierende Umweltschutzmaßnahmen getroffen werden. Effiziente ökologische Maßnahmen stellen sich in E ein, wo gilt: MSB = MC.
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Grafische Analyse der Umweltverschmutzung Wir können das bisher Gesagte mithilfe von Abbildung 18-6 verdeutlichen. Die nach oben strebende Markt-MC-Kurve stellt die Grenzkosten für Reinhaltemaßnahmen zugunsten der Umwelt dar. Bei den abwärts geneigten Kurven handelt es sich um die Grenznutzen aus den Reinhaltemaßnahmen, wobei die obere durchgängige MSB-Linie den sozialen Grenznutzen, der durch die geringere Verschmutzung entsteht, und die untere MPBLinie den privaten Grenznutzen für den Verursacher darstellt. Vorsicht bei der grafischen Darstellung von Umweltverschmutzung! In der Analyse von Umweltproblemen hat es sich bewährt, Umweltschutzmaßnahmen als ein „Gut“ zu betrachten. In Diagrammen messen wir daher Grenzkosten und Grenznutzen auf der Y-Achse, während Umweltschutzmaßnahmen auf der X-Achse dargestellt werden. Der Trick besteht darin, Umweltschutzmaßnahmen immer als ein Gut zu behandeln, was bedeutet, dass Sie auf der X-Achse einen positiven Wert annehmen. Sie können natürlich stattdessen Umweltschäden vom rechts außen liegenden Punkt 400 ausgehend als negativen Wert einzeichnen. Das bedeutet, dass der völlige Verzicht auf Umweltschutzmaßnahmen eine Verschmutzung von 400 zur Folge hat, während Maßnahmen, die zu einer Vermeidung der gesamten 400 Tonnen SO2 führen, einem Verschmutzungsgrad von null entsprechen.
Die Marktlösung ohne staatliche Eingriffe bedeutet ein Ergebnis in Punkt I, bei dem private Grenzkosten und Grenznutzen einander entsprechen. In diesem Punkt werden nur 50 Tonnen SO2 ausgefiltert, und die privaten Grenzkosten betragen ebenso wie der private Grenznutzen US-$ 10 pro Tonne. Doch die unregulierte Marktlösung erweist
535 sich als ineffizient. Wir können das mithilfe eines Experimentes nachweisen, indem wir annehmen, es würden weitere 10 Tonnen SO2 ausgefiltert, in unserer Grafik als der schmale Balken rechts von Punkt I zu sehen. Der Grenznutzen für diese zusätzliche Filterleistung ergibt sich durch den Gesamtbereich des Ausschnittes unter der MSB-Kurve, während die Grenzkosten durch den Bereich unter der MC-Kurve dargestellt werden. Der Nettonutzen entspricht infolgedessen dem zwischen den beiden Kurven liegenden Bereich des schmalen schattierten Balkens. Das effiziente Verschmutzungsausmaß liegt in Punkt E, wo der soziale Grenznutzen den Grenzkosten für die Reinhaltemaßnahmen entspricht. In diesem Punkt liegen MSB und MC gleich hoch, nämlich bei US-$ 40 pro Tonne. Da MSB und MC einander entsprechen, lässt sich mit einem Experiment, für das wir laufend mehr SO2 ausfiltern, feststellen, dass sich die Kurven nicht voneinander entfernen, dass also durch zusätzliche Reinhaltemaßnahmen kein zusätzlicher Nettonutzen zu erwarten ist. Wir können den Nettonutzen durch die effiziente Lösung im Vergleich zur Marktlösung auch messen, indem wir all die kleinen Ausschnitte des jeweiligen Nettonutzens zwischen dem schattierten Bereich und Punkt E berücksichtigen. Anhand dieser Berechnung spiegelt der Bereich ISE die Gewinne durch eine effiziente Beseitigung der verschmutzenden Faktoren wider. Als letztes Experiment wollen wir die Auswirkungen der Forderung, auch den letzten Rest einer Umweltverschmutzung zu beseitigen, durchdenken. Dieser Ansatz wird als Zero-risk-Ansatz bezeichnet, und er würde in unserem Beispiel bedeuten, dass 400 Tonnen SO2 ausgefiltert werden müssen. Hier liegt der soziale Grenznutzen bei null, während die Grenzkosten den Punkt Z erreichen, was einen enormen Kostenüberhang bedeutet. Indem wir alle kleinen Bereiche rechts des Effizienzpunktes addieren, können wir erkennen, dass die Nettokosten eines Zerorisk-Ansatzes durch den Bereich EZB dargestellt werden. Dieses Beispiel zeigt uns, wa-
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rum Ökonomen einer Verringerung der Umweltverschmutzung auf null skeptisch gegenüberstehen – sie würden die Wirtschaft voraussichtlich in den Bankrott treiben.
Strategien zur Korrektur von Externalitäten Welche Waffen stehen eigentlich einem Staat zur Verfügung, der gegen Ineffizienzen vorgehen will, wie sie von Externalitäten verursacht werden? Am bekanntesten sind staatliche Umweltschutzprogramme, die sich entweder einer direkten Kontrolle oder finanzieller Anreize bedienen, um externe Effekte zu korrigieren. Subtilere Lösungen greifen auf ein komplexes Eigentumsrecht zurück, das dem privaten Sektor die Möglichkeiten an die Hand gibt, effiziente Lösungen zu verhandeln. In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit derartigen Ansätzen.
Staatliche Programme Direkte Eingriffe. Beinahe immer, wenn es um Umweltverschmutzung oder um Externalitäten im Bereich Gesundheit und Sicherheit geht, greift der Staat auf direkte Regulierungsmaßnahmen zurück, die in diesem Zusammenhang häufig als soziale Regulierung bezeichnet werden (siehe Kapitel 17). Als Beispiel sei hier der Clean Air Act, das USLuftreinhaltegesetz aus dem Jahr 1970, genannt, das die zulässigen Emissionsgrenzwerte von drei der größten Umweltverpester um 90 Prozent senkte. Im Jahr 1977 trat ein staatlicher Erlass in Kraft, der öffentliche Versorgungsbetriebe anwies, ihre Schwefelemissionen in neuen Anlagen um 90 Prozent zu reduzieren. Und mit einer Reihe von Gesetzen wurden in den letzten Jahrzehnten die Unternehmen dazu angehalten, ihre für die Ozonschicht schädlichen Chemikalien durch andere Stoffe zu ersetzen. All das gelang mithilfe staatlicher Regulierung.
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Wie kann der Staat für die Umsetzung seiner Umweltgesetze sorgen? Bleiben wir doch bei unserem Beispiel der Dirty Light & Power. Das Umweltministerium könnte unser Unternehmen auffordern, seine SO2Emissionen von 400 Tonnen auf 150 Tonnen zu reduzieren. Im Falle einer Regulierung auf dem Verordnungsweg würde die regulierende Behörde das Unternehmen einfach anweisen, der Verordnung gemäß zu handeln, und sie würde genau vorschreiben, welche Filtertechnik zu verwenden und wo sie einzusetzen ist. Es gäbe nur wenig Spielraum für neue Lösungsansätze oder für Abstimmungsmaßnahmen innerhalb des Unternehmens oder zwischen mehreren Unternehmen. Wenn die Standards richtig gesetzt werden – und auf dieses „Wenn“ kommt es an –, könnte das Ergebnis eine Annäherung an das effiziente Verschmutzungsausmaß bedeuten, das wir weiter oben in diesem Abschnitt definiert haben. Es ist zwar möglich, dass die regulierende Behörde ihre Umweltschutzverordnungen im Sinne der volkswirtschaftlichen Effizienz erlässt, in der Praxis ist damit jedoch kaum zu rechnen. Tatsächlich leiden nämlich zahlreiche staatliche Umweltschutzmaßnahmen unter diversen Mängeln: Umweltschutzstandards werden häufig ohne den Vergleich zwischen Grenzkosten und Grenznutzen willkürlich festgelegt. Ohne einen derartigen Vergleich ist es jedoch nicht möglich, das effiziente Ausmaß von Umweltschutzmaßnahmen zu ermitteln. Die gesetzlichen Bestimmungen verbieten in einigen regulierten Bereichen sogar ausdrücklich einen KostenNutzen-Vergleich als Methode zur Festlegung des Standards. Überdies sind staatlich vorgeschriebene Umweltstandards in jedem Fall ein sehr grobes und undifferenziertes Regulierungsinstrument. Effizienter staatlicher Umweltschutz erfordert die Gleichsetzung der Verschmutzungsgrenzkosten für alle Verschmutzungsquellen. Regulierungsmaßnahmen auf dem Verordnungsweg ermöglichen im Allgemeinen keine Differenzierung nach Unternehmen,
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Regionen oder Wirtschaftszweigen. So betreffen Regulierungsmaßnahmen zumeist große ebenso wie kleine Unternehmen, urbane wie ländliche Gebiete oder Unternehmen mit hohem genauso wie solche mit geringem Verschmutzungsgrad in gleicher Weise. Obwohl Unternehmen A eine Emissionsreduktion schon mit einem Bruchteil der Kosten bewerkstelligen könnte, die dafür in Unternehmen B anfallen, müssen beide Unternehmen denselben Standard einhalten. Es gibt keinerlei wirtschaftlichen Anreiz für Unternehmen A, seine Emissionswerte unter den geforderten Grenzwert zu senken, obwohl es volkswirtschaftlich richtig wäre, entsprechende Anreize zu bieten. Zahlreiche Studien belegen, dass die mangelnde Differenzierung des Systems der Grenzwerte und der staatlich festgesetzten Umweltstandards ein Land sehr viel teurer zu stehen kommt, als ein effizientes Umweltmanagement jemals an Kosten verursachen würde. Marktlösung: Emissionsgebühren. Um manche der Mängel einer direkten staatlichen Kontrolle zu umgehen, wird von zahlreichen Ökonomen immer wieder vorgeschlagen, doch eine Strategie zu wählen, die eher auf wirtschaftliche Anreize als auf staatliche Verordnungen baut. Einer dieser Ansätze sieht die Erhebung von Emissionsgebühren vor, die bedeuten würden, dass die Unternehmen eine Steuer für die von ihnen verursachte Verschmutzung zu entrichten haben, die ebenso hoch sein müsste wie der durch den externen Effekt verursachte Schaden. Würde daher die Dirty Light & Power für die betroffene Öffentlichkeit externe Grenzkosten von US-$ 35 pro Tonne verursachen, müssten für die von ihr verursachten Emissionen US-$ 35 pro Tonne erhoben werden. Mit dieser Maßnahme würden die Externalitäten internalisiert, indem das Unternehmen selbst die sozialen Kosten seiner Aktivitäten zu tragen hätte. Bei Kalkulation ihrer privaten Kosten würde die Dirty Light & Power feststellen, dass jede zusätzliche Tonne SO2 interne Kosten von US-$ 5 verursacht, zuzüglich der Emissionsgebühr von US-$ 35, was insgesamt
537 zu Grenzkosten von US-$ 40 pro Tonne Emission führt. Setzen wir nun den neuen Grenznutzen (privater Nutzen plus Verschmutzungsgebühr) mit den Grenzkosten des Umweltschutzes gleich, müsste das Unternehmen seine Emissionen auf ein effizientes Niveau verringern. Wenn Emissionsgebühren richtig berechnet würden – und auch hier liegt die Betonung wieder auf dem Wörtchen „wenn“ –, würden gewinnorientierte Unternehmen wie von einer unsichtbaren Hand dazu angeleitet, jenen Effizienzzustand anzustreben, bei dem soziale Grenzkosten und sozialer Grenznutzen der Emission gleich hoch sind. Die alternativen Ansätze sind grafisch in Abbildung 18-7 dargestellt, die mit Ausnahme eines Details Abbildung 18-6 gleicht: Hier wird angenommen, dass der private Nutzen durch Umweltschutzmaßnahmen vernachlässigbar gering ist. Durch direkte staatliche Kontrolle hält der Staat das Unternehmen an, 250 Tonnen seiner Emissionen auszufiltern (oder maximal 150 Tonnen zu emittieren). Damit läge der staatlich festgelegte Standard bei der breiten, vertikal verlaufenden Linie. Sofern dieser Standard in der richtigen Höhe festgelegt ist, wählt das Unternehmen nun das sozial effiziente Ausmaß an Umweltschutzmaßnahmen. Bei effizienter Regulierung müsste das Unternehmen daher Punkt E wählen, wobei MSC MC entspräche. Und wie würde sich das Ergebnis nach der Einführung von Emissionsgebühren darstellen? Nehmen wir an, der Staat erhebt eine Steuer von US-$ 40 pro Tonne. Das bedeutet de facto, dass der private Grenznutzen von Umweltschutzmaßnahmen von US-$ 5 auf US-$ 40 pro Tonne steigt. Angesichts eines derartigen Anreizes würde sich das Unternehmen ebenfalls für den effizienten Punkt E in Abbildung 18-7 entscheiden. Marktlösung: Handelbare Emissionszertifikate. Ein neuer Ansatz, der keine staatliche Steuergesetzgebung erfordert, wäre der Einsatz handelbarer Emissionszertifikate. Anstatt dem Unternehmen die Zahlung einer Steuer
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Grenzkosten, Grenznutzen durch ökologische Maßnahmen
120 100
MSB
Staatlich festgelegte Umweltstandards
80 (Emissionsgebühr plus privater Kosten)
60 40
E
MC
20 0
100 200 300 Ökologische Maßnahmen (Beseitigung von Umweltschäden)
400
Abbildung 18-7: Umweltstandards und Emissionsgebühren Wenn der Staat einen Emissionsgrenzwert von 150 Tonnen festsetzt oder die Beseitigung von 250 Tonnen vorschreibt, führt dies zu einem ökologisch effizienten Umweltzustand in E. Dasselbe Ergebnis erreicht man auch mit Emissionsgebühren von US-$ 35 je Tonne: Bei einer Gebühr von US-$ 35 pro Tonne plus US-$ 5 je Tonne an privatem Grenzschaden entspricht der Betrag den Grenzkosten und führt zu den effizienten Umweltschutzmaßnahmen in Punkt E.
von US-$ pro Tonne Emission aufzuerlegen und es dann dem Unternehmen zu überlassen, das Ausmaß seiner Verschmutzung festzulegen, entscheidet der Staat über die zulässige Verschmutzung und stellt die entsprechende Anzahl an Emissionszertifikaten aus. Der Preis für diese Zertifikate, der der Verschmutzungsgebühr entspricht, wird dann durch Angebot und Nachfrage auf dem Zertifikatmarkt gebildet. Unter der Annahme, dass die Unternehmen ihre Produktions- und Umweltschutzkosten kennen, sorgen die Zertifikate für dasselbe Ergebnis wie die Emissionsgebühren. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht darin, dass der Staat Emissionszertifikate häufig an Unternehmen ausgibt, um deren politische Unterstützung zu erreichen. Das bedeutet, dass für die Industrie Zertifikate gewinnträchtig sind, während bei den Emissionsgebühren die Regierung die Gewinne einfährt.
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Volkswirtschaftliche Innovationen: Der Handel mit Emissionszertifikaten Die meisten ökologischen Regulierungswerkzeuge bedienen sich eines Verordnungs- und Kontrollansatzes, um die Emissionen aus den einzelnen Quellen wie Kraftwerken oder Autos einzuschränken. Dieser Ansatz kann die Gesamtemissionen nicht beschränken. Vor allem aber garantiert er geradezu, dass das Gesamtprogramm extrem ineffizient ausfällt, weil es die Bedingung, dass alle Emissionsquellen dieselben Grenzkosten tragen müssen, nicht erfüllt. 1990 wurde in den USA ein radikal neuer Ansatz im staatlichen Programm zur Senkung des Schwefeldioxidausstoßes, übrigens eines der besonders schädlichen Umweltgifte, eingeführt. Gemäß einer Novelle des Clean Air Act aus dem Jahr 1990 vergibt der Staat alljährlich eine bestimmte Anzahl von Genehmigungen zum SO2-Ausstoß für das gesamte Land. Die Emissionen sollten gegenüber dem Stand von 1990 bis zum Jahr 2000 um 50 Prozent gesenkt werden. Der innovative Aspekt des Plans besteht in der uneingeschränkten Handelbarkeit dieser Emissionszertifikate. Die Stromversorgungsbetriebe erhalten Verschmutzungszertifikate und dürfen diese untereinander genauso kaufen und verkaufen, als handle es sich hierbei um Schweinebäuche oder Weizen. Unternehmen, die ihre Schwefelemissionen reduzieren können, tun dies auf die billigste Art und Weise und verkaufen ihre Zertifikate an andere Unternehmen, die diese für neue Anlagen benötigen oder die sich selbst gegen die Senkung ihrer Emissionen und für den Kauf von Zertifikaten entscheiden, weil sie keine teuren Filter einbauen oder Werke schließen wollen. Umweltökonomen sind der Ansicht, dass diese verbesserten Anreize eine viel kostengünstigere Erreichung der gesteckten Ziele ermöglichen als die traditionelle Methode mit Vorschriften und Kontrollen. Studien des Ökonomen Tom Tietenberg vom Colby College in Maine haben ergeben, dass die traditionellen Ansätze zwei-
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bis zehnmal mehr kosten als andere, kostenbewusste Methoden wie der Emissionshandel. Dieser Markt hat übrigens ein sehr überraschendes Verhalten an den Tag gelegt. Ursprünglich nahm die Regierung an, die Emissionszertifikate würden in den ersten Jahren für etwa US-$ 300 je Tonne Schwefeldioxid gehandelt werden. In der Praxis ist der Marktpreis jedoch in den ersten Jahren auf unter US-$ 100 je Tonne gesunken. Ein Grund für diesen Erfolg waren die starken Innovationsanreize, die das Programm schuf, und die Unternehmen stellten fest, dass schwefelarme Kohle viel einfacher und billiger einzusetzen war, als sie zuvor gedacht hatten. Dieses bedeutende Experiment unterstützt auf eindrucksvolle Weise jene Ökonomen, die sich für marktorientierte Ansätze der Umweltpolitik aussprechen.
Privatwirtschaftliche Ansätze Es wird allgemein angenommen, dass irgendeine Form staatlicher Eingriffe nötig ist, um das Marktversagen im Zusammenhang mit Umweltverschmutzung und anderen Externalitäten zu überwinden. In einigen Fällen kann jedoch ein starkes Eigentums- und Haftungsrecht den staatlichen Eingriff oder die Regulierung über Steuern ersetzen. Eine Lösung unter Betonung des privaten Sektors setzt auf die zivilrechtliche Haftung anstelle einer direkten staatlichen Regulierung. Mit dieser Methode macht das Rechtssystem den Verursacher von Externalitäten für alle Schäden haftbar, die anderen Personen daraus entstehen. Durch Einführung eines geeigneten Haftungssystems werden die Externalitäten letztlich wieder internalisiert. In einigen Bereichen ist diese Lehrmeinung bereits fest etabliert. So kann man in den meisten US-Bundesstaaten, wird man im Straßenverkehr von einem anderen Autofahrer verletzt, auf Schadensersatz klagen. Wer durch ein defektes Produkt Verletzungen oder Krankheiten erleidet, kann das Unternehmen auf Produkthaftung verklagen.
539 Während Haftungsregeln im Wesentlichen eine attraktive Methode der Internalisierung marktferner Produktionskosten sind, kommen sie in der Praxis nur sehr eingeschränkt zur Anwendung. Meistens bedingen sie hohe Streitkosten, die zu den ursprünglichen Externalitäten noch hinzukommen. Außerdem können viele Schäden nicht eingeklagt werden, weil die Eigentumsrechte keine geeignete Grundlage dafür abgeben (etwa jene im Zusammenhang mit sauberer Luft) oder weil zu viele Unternehmen gemeinsam den beklagten externen Effekt verursachen (etwa im Fall von Chemikalien, die in einen Fluss eingeleitet werden). Ein zweiter privatwirtschaftlicher Ansatz geht von starken Eigentumsrechten und Verhandlungen zwischen den Parteien aus. Er wurde von Ronald Coase von der Universität Chicago entwickelt, der nachweisen konnte, dass freiwillige Verhandlungen unter allen Betroffenen bisweilen zu einem effizienten Ergebnis führen. Nehmen wir an, ich wäre ein Landwirt und würde Düngemittel einsetzen, die flussabwärts gelangen und viele Fische in Ihren Teichen töten. Nehmen wir weiter an, Sie könnten mich nicht für die Tötung Ihrer Fische belangen. Wenn Ihr Fischgeschäft einigermaßen rentabel ist, könnten Sie versuchen, mich zu einer Einschränkung meines Düngerverbrauchs zu bringen, obwohl Sie gegen mich nicht klagen können. Mit anderen Worten, wenn sich aus der Neuausrichtung unserer gemeinsamen Aktivitäten ein Nettogewinn erzielen lässt, haben wir einen starken Anreiz, uns zusammenzutun und uns über das effiziente Niveau der Düngerimmissionen in den Fluss zu einigen. Dieser Anreiz würde übrigens ohne jedes staatliche Ökologieprogramm oder Haftungsrecht wirken. Wenn die Eigentumsrechte wohl definiert und die Transaktionskosten niedrig sind, kann insbesondere im Fall einer Involvierung weniger Parteien ein starkes Haftungsrecht oder der Verhandlungstisch bisweilen eine effiziente Lösung des Externalitätenproblems hervorbringen.
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Klimawandel: Aufhalten oder nicht aufhalten? Kein anderes ökologisches Thema beunruhigt die Wissenschaftler mehr als die Bedrohung durch die Erderwärmung infolge des Treibhauseffekts. Klimatologen und andere Wissenschaftler warnen immer wieder, die Akkumulation von Gasen wie Kohlendioxid (CO2), das durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe in großen Mengen frei wird, werde im nächsten Jahrhundert wahrscheinlich zu einer Erwärmung unseres Planeten und zu anderen signifikanten Klimaveränderungen führen. Auf der Grundlage von Klimamodellen haben die Wissenschaftler errechnet, dass sich die Erde im kommenden Jahrhundert bei anhaltendem Trend um 2,8 bis 6,0 ˚C erwärmen könnte. Damit entstünde ein Klima, das während des gesamten bisherigen Zeitraums menschlicher Zivilisation noch nie aufgetreten ist. Der Treibhauseffekt ist die große alte Dame unter den Problemen mit öffentlichen Gütern: Maßnahmen, die wir heute treffen, beeinflussen die Lebensbedingungen aller Menschen in allen Ländern, und das über Jahrhunderte! Die Kosten für eine Reduktion der CO2-Emissionen entstehen hingegen kurzfristig, wenn die Länder ihre Nutzung fossiler Brennstoffe durch Energieeinsparungen, alternative Energiequellen (Sonnenenergie oder vielleicht auch Kernkraft), durch das Anpflanzen von Bäumen und andere Maßnahmen einschränken. Der Nutzen von Emissionsreduktionen ist aber erst in vielen Jahren zu erwarten, wenn die geringeren Emissionen zukünftige klimainduzierte Schäden verringern – was eine geringere Störung der Landwirtschaft, der Meeresküsten und Ökosysteme bedeuten würde. Die Ökonomen haben nun damit begonnen, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des sich abzeichnenden Klimawandels zu studieren, um zu verstehen, wie die Staatengemeinschaft hier gegensteuern könnte und welche vernünftigen Strategien sich entwi-
Teil 4
ckeln ließen. Wirtschaftliche Studien besagen, dass die Marktwirtschaften in den entwickelten Ländern wie den Vereinigten Staaten in den kommenden Jahrzehnten vom Klimawandel weitgehend unberührt bleiben werden. Die schwerwiegendsten Auswirkungen werden wohl die Landwirtschaft und vom Menschen unkontrollierte Ökosysteme wie Wälder, Fischgründe und Korallenriffe zu tragen haben. Viele Wissenschaftler sind über den möglicherweise abrupten Klimawandel besorgt, könnte er doch in wenigen Jahren die klimatischen Muster dramatisch verschieben. Diese Szenarien sind nun tatsächlich furchterregend, doch über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens können wir derzeit nichts Verlässliches aussagen. Eine effiziente Strategie zur Eindämmung des Klimawandels erfordert die Abwägung der Grenzkosten einer CO2-Reduktion gegen den dadurch entstehenden Grenznutzen. Abbildung 18-8 zeigt die Grenzkosten der Reduktion schematisch als MC und den sozialen Grenznutzen als MSB. Die Y-Achse misst Kosten und Nutzen in US-Dollar, während auf der X-Achse die Emissionsreduktion in Prozent der Kohlendioxidreduktion abgetragen ist. Punkt E im Diagramm stellt den Effizienzpunkt dar, an dem die Grenzkosten der Reduktion dem Grenznutzen durch die Verzögerung des Klimawandels entsprechen. Dies ist jener Punkt, bei dem es zu einer Maximierung des Gegenwartswerts des zukünftigen menschlichen Konsums kommt. Im Gegensatz dazu weist die reine Marktlösung Emissionsreduktionen von null auf, wobei MSB weit über den MC von null liegt, während eine extreme ökologische Lösung, die versucht, jegliche Störung des natürlichen Ökosystems zu vermeiden, an den rechten Rand des Diagramms gerät, wo MC MSB weit überschreitet. Wie lässt sich Punkt E, das Effizienzniveau einer CO2-Reduktion, erreichen? Da CO2Emissionen durch die Verbrennung von kohlehaltigen Brennstoffen entstehen, wurde unter anderem eine Steuer auf den Kohlenstoffgehalt von Brennstoffen gefordert. Brenn-
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Kapitel 18 Umweltschutz
Grenzkosten, Grenznutzen, CO2-Steuer
MC
T✽
E
r✽
MSB
Emissionsverminderung (r )
Abbildung 18-8: CO2-Steuern können den schädlichen Klimawandel verzögern Die effiziente Verzögerung des Klimawandels erfordert eine Verhängung von Kohlendioxidsteuern in T* oder die Drosselung der Emissionen auf r*, um für die nötige Ausgewogenheit zwischen den Grenzkosten einer Emissionssenkung und dem Grenznutzen aus den verringerten, durch den Treibhauseffekt bedingten Schäden zu sorgen.
stoffe, die einen höheren CO-Anteil haben – beispielsweise Kohle selbst –, sollten stärker besteuert werden als Brennstoffe mit geringem Kohlenstoffgehalt wie Benzin. Ökonomen haben Modelle zur Schätzung einer effizienten Kohlendioxidbesteuerung entwickelt, die die Kosten höherer Steuern mit dem Nutzen durch geringere Schäden aus der Erderwärmung abgleichen. Diese Modelle können als Richtschnur für die Politik und ihre Maßnahmen im Kampf gegen den Treibhauseffekt dienen. Globale öffentliche Güter und das Kyoto-Protokoll Wir haben schon weiter oben in diesem Kapitel das Problem der globalen öffentlichen Güter angesprochen. Die Staaten nähern sich diesem Thema auf dem Weg über internationale Verträge und Abkommen. Diese sollen sie von einem ineffizienten, unkooperativen Ergebnis zu einer effizienten und kooperativen Lösung des Verschmutzungsspiels führen. Doch es
erweist sich häufig als schwierig, effiziente Vereinbarungen zu erreichen. Die Maßnahmen zur Verlangsamung des Treibhauseffekts können hier als anschauliches Beispiel dienen. Obwohl Wissenschaftler längst Alarm geschlagen haben, weil sich seit über 30 Jahren ein Klimawandel abzeichnet, kamen keine bedeutenden internationalen Abkommen zu dessen Verhinderung zustande, bis im Jahre 1992 das Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen (FCCC) abgeschlossen wurde. Das FCCC enthielt Bestimmungen, wonach sich die reichen Länder unverbindlich einigten, ihre Emission von Treibhausgasen wie CO2 einzuschränken. Nachdem sich freiwillige Maßnahmen als unwirksam erwiesen hatten, handelten die Staaten im Jahre 1997 das KyotoProtokoll über den Klimawandel aus. Darin verständigten sich die reichen Industriestaaten mit den ehemals kommunistischen Ländern auf verbindliche Zusagen, bis 2010 ihre Gesamtemission an Treibhausgasen um 5 Prozent (gegenüber 1990) zu senken. Jedem Staat wurde ein bestimmtes Ziel zugewiesen. Auf der Grundlage ökonomischer Theorien und der Erfahrung mit dem amerikanischen SchwefeldioxidEmissionshandelsprogramm (wie oben erörtert), beinhaltet das Kyoto-Protokoll auch eine Bestimmung über den Emissionshandel zwischen den Staaten. Wirtschaftswissenschaftler haben mittlerweile detaillierte Analysen des KyotoProtokolls vorgenommen. Zu ihren wichtigsten Schlussfolgerungen gehört zum einen, dass eine Reduzierung der Treibhausgase voraussichtlich ein teures Unterfangen wird. Nach volkswirtschaftlichen Modellen würden sich der Zeitwert der globalen Schadstoffreduktionskosten bei Umsetzung eines erweiterten Kyoto-Protokolls zu Preisen des Jahres 2000 auf rund US-$ 1 Billion belaufen. Zum anderen bemängelten die Ökonomen, dass die Einschränkung des Kyoto-Protokolls auf die reichen und ehemals sozialistischen Länder dessen Wirtschaftlichkeit deutlich verschlechtere. Durch den Ausschluss energieintensiver Schwellenländer wie China erhöhten sich die Kosten zur Einhaltung
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der globalen Emissionsziele gegenüber einem wirtschaftlichen und global gültigen Abkommen um einen Faktor zwischen zwei und vier. Viele Studien schlossen, die Vereinigten Staaten müssten die wirtschaftliche Hauptlast einer Umsetzung des Kyoto-Protokolls tragen. Wegen ihres starken Wirtschaftswachstums und der sinkenden Energiepreise stieg der Kohlendioxidausstoß in den USA viel rascher als in den anderen Kyoto-Staaten. Teils wegen der hohen Kosten und teils wegen der in den USA vorherrschenden Abneigung gegen internationale Verträge zog sich die BushAdministration im Jahr 2001 aus dem Kyoto-Protokoll zurück. Die anderen teilnehmenden Staaten setzen das Abkommen aber vereinbarungsgemäß um. Die künftige Rolle der USA in der Politik gegen die drohende Erderwärmung wird somit auch in den kommenden Jahren ein überaus strittiges Thema bleiben.
Streiten und verschmutzen oder nachdenken und rechnen? Wir haben dieses Kapitel mit düsteren Fragestellungen über die Zukunft der Menschheit begonnen. Nun, nachdem wir das Feld mehr oder weniger abgesteckt haben – welche Schlussfolgerung drängt sich uns auf? Je nach persönlicher Veranlagung kann man in der gegenwärtigen Situation sowohl optimistisch als auch pessimistisch sein, was die Fähigkeit der Menschheit, die Bedrohungen unserer natürlichen Umwelt zu erkennen und entsprechend zu reagieren, betrifft. Es stimmt
Teil 4
schon: Wir bewegen uns in Richtung unbekannter Gewässer, wenn wir viele Ressourcen einfach ausplündern, andere irreversibel verändern und mit unserem Universum spielen, ohne uns die Auswirkungen unseres Handelns bewusst zu machen. Die Menschheit erscheint heute ebenso kampflustig wie zu Beginn ihrer geschriebenen Geschichte, und sie hat Waffen entwickelt, die sich in Kriegen als erschreckend effektiv erweisen. Ebenso haben sich aber unsere Möglichkeiten der Beobachtung und Analyse entscheidend verbessert. Unsere Fähigkeit, Beobachtungen, Messungen, Analysen und Berechnungen zu kombinieren, steigt noch rascher als unsere Neigung, Schadstoffe zu emittieren, Bäume umzusägen und immer mehr Menschen zu produzieren. Was aber wird in diesem Wettlauf zwischen unserer Neigung zu Uneinigkeit, Streit und zur Verschmutzung unserer natürlichen Umwelt sowie unserer Fähigkeit, nachzudenken und vernünftige Berechnungen anzustellen, den Sieg davontragen? Gibt es genügend Ressourcen, um den Armen den Konsumstandard der heutigen industrialisierten Welt zu ermöglichen, oder werden die heute Reichen die Leiter hinter sich einfach hochziehen und alle anderen draußen vor der Tür lassen? Es gibt keine endgültige Antwort auf diese weit reichenden Fragen, aber viele Ökonomen vertreten die Ansicht, dass der Homo sapiens, sollte er weise mit den ihm zur Verfügung stehenden natürlichen Ressourcen umgehen, nicht nur überleben, sondern noch lange Zeit hindurch erfolgreich auf dieser Welt agieren wird.
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Kapitel 18 Umweltschutz
Zusammenfassung A. Bevölkerungswachstum und beschränkte Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen 1.
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3.
Die von Malthus entwickelte Bevölkerungstheorie beruht auf dem Gesetz der abnehmenden Grenzerträge. Malthus glaubte, die Bevölkerung werde, sofern niemand ihr Grenzen setzen könne, exponentiell wachsen, was eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl etwa einmal pro Generation bedeute. Doch dem Einzelnen in dieser stetig wachsenden Menschenmasse stünden immer weniger Boden und weniger natürliche Ressourcen zur Verfügung. Aufgrund des erwähnten Ertragsgesetzes könnten die Einkommen bestenfalls ein arithmetisches Wachstum erreichen; die Produktionsleistung pro Person würde damit so weit zurückgehen, dass Stabilität erst auf einem sehr niedrigen Niveau, knapp über dem Hungertod, erreicht werde. Im Verlauf der letzten anderthalb Jahrhunderte wurden Malthus und seine Anhänger in mehreren Punkten widerlegt. Zu den wichtigsten Kritikpunkten zählt der Hinweis, Malthus habe die Möglichkeit eines technologischen Fortschritts außer Acht gelassen und ebenso die Bedeutung der Geburtenkontrolle als wirksame Maßnahme zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums verkannt. Studien über die Beziehung zwischen Umweltverschmutzung, Bevölkerungsdichte und Einkommen haben ergeben, dass die Nachfrage nach guter Umweltqualität mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen rapide zunimmt, sodass sich nach der überwiegenden Zahl der Indikatoren die Umweltqualität mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen eher verbessert als verschlechtert.
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C. Umweltökonomie 7.
8.
B. Ökonomie der natürlichen Ressourcen 4.
Natürliche Ressourcen gelten als nicht erneuerbar, wenn ihr Angebot im Wesentlichen fix ist und sich nicht rasch regenerieren kann. Erneuerbare Ressourcen sind hingegen jene, deren Angebot sich regelmäßig wieder „auffüllen“ lässt und die, wenn man richtig mit ihnen umgeht, unbegrenzt nützliche Dienste leisten können.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen internalisierbaren und nicht internalisierbaren Ressourcen. Natürliche Ressourcen sind dann internalisierbar, wenn Unternehmen oder Konsumenten den vollen Nutzen ihrer Dienste in Anspruch nehmen können; als Beispiele sind etwa Weinberge oder Ölfelder zu nennen. Dagegen sind natürliche Ressourcen dann nicht internalisierbar, wenn ihre Kosten oder ihr Nutzen nicht auf den Eigentümer durchschlagen. Mit anderen Worten, sie bewirken in diesem Fall Externalitäten. Beispiele sind hier Luftqualität und Klima, die Externalitäten aufweisen und durch menschliche Aktivitäten, wie das Verbrennen fossiler Brennstoffe, beeinflusst werden. Wichtige Beispiele für internalisierbare, nicht erneuerbare, natürliche Ressourcen sind fossile Brennstoffe wie Erdöl, Erdgas und Kohle. Ökonomen argumentieren, dass natürliche Ressourcen wegen der effizienten Preisgestaltungs- und Allokationsmöglichkeiten auf privaten Märkten nicht anders behandelt werden sollten als alle anderen Kapitalgüter auch.
9.
Ein ganz wesentliches und in seiner Bedeutung zunehmendes Marktversagen betrifft die Externalitäten. Diese treten auf, wenn die Kosten (oder der Nutzen) einer Aktivität zu SpilloverEffekten auf andere Menschen führt, ohne dass diese Menschen für die ihnen erwachsenden Kosten entschädigt werden oder für den gewonnenen Nutzen bezahlen müssen. Das anschaulichste Beispiel für Externalitäten bieten öffentliche Güter wie die Landesverteidigung, deren Konsum sich auf alle Mitglieder einer Gruppe gleichermaßen verteilt und von deren Konsum niemand sich ausschließen kann. Weniger offensichtliche Beispiele sind das öffentliche Gesundheitswesen, Erfindungen, öffentlich zugängliche Parkanlagen und Dämme, die auch Eigenschaften öffentlicher Güter aufweisen. Diese stehen den privaten Gütern, beispielsweise Brot, gegenüber, die sich teilen lassen und Einzelpersonen zugute kommen können. Umweltprobleme entstehen durch Externalitäten aus Produktion oder Konsum. In einer unregulierten Marktwirtschaft entsteht ein Übermaß an Umweltverschmutzung, dem ein zu geringes Maß an Umweltschutzmaßnah-
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men gegenübersteht. Nicht regulierte Unternehmen treffen Umweltschutzentscheidungen (und Entscheidungen über andere öffentliche Güter), indem sie ihren privaten Grenznutzen mit ihren privaten Grenzkosten gleichsetzen. Die Effizienz würde es jedoch erfordern, dass der soziale Grenznutzen den sozialen Grenzkosten für Umweltschutzmaßnahmen entspricht. 10. Es gibt zahlreiche Maßnahmen, mit denen Staaten die Ineffizienzen aus Externalitäten internalisieren oder korrigieren können. Als Alternativen bieten sich etwa dezentrale Lösungen (wie Ausgleichsverhandlungen oder gut entwickelte Haftungsgesetze) oder staatlich auferlegte Maßnahmen (etwa die Festlegung von Grenzwerten
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oder Emissionssteuern) an. Nach allen Erfahrungen ist keiner dieser Ansätze in jeder Situation ideal, aber viele Ökonomen sind der Ansicht, der intensivere Einsatz marktähnlicher Systeme könnte die Effizienz von Regulierungssystemen verbessern. 11. Globale öffentliche Güter, wie eine Verzögerung des bevorstehenden Klimawandels, verursachen die kniffligsten Probleme, die häufig weder von den Märkten noch von den Staaten selbst gelöst werden können. Daher müssen die Staaten neue Werkzeuge finden, um internationale Abkommen zu treffen, wenn globale Umwelttrends unseren Lebensstandard oder unsere Ökosysteme bedrohen.
Begriffe zur Wiederholung Bevölkerungswachstum und natürliche Ressourcen Malthusianische Bevölkerungstheorie Erneuerbare und nicht erneuerbare Ressourcen Internalisierbare und nicht internalisierbare Ressourcen
Umweltökonomie Externalitäten und öffentliche Güter Private und öffentliche Güter Ineffizienz von Externalitäten Interne und externe Kosten, soziale und private Kosten Abhilfe bei Externalitäten: Umweltstandards Steuern Haftung Verhandlungen und das Coase-Theorem Handel mit Emissionszertifikaten Globale öffentliche Güter
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Kapitel 18 Umweltschutz
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Umweltökonomik ist eine sehr dynamisch wachsende Wissenschaft. Vielleicht möchten Sie dazu ein Lehrbuch für Fortgeschrittene, Thomas H. Tietenberg, Environmental Economics and Policy, 3. Aufl. (Addison-Wesley, 2000), studieren. Ein hervorragendes Lesebuch zum Thema ist Robert Stavins (Hrsg.), Economics of the Environment: Selected Readings (Norton, New York, 2000). Zu den einflussreichsten Werken aller Zeiten gehört T. R. Malthus, Essay on Population (1798; deutsch: Das Bevölkerungsgesetz, DTV, München, 1982). Sie finden es als Online-Version unter www.ac.wwu.edu/ ~stephan/malthus/malthus.0.html. Die viel gelesenen Werke der Neo-Malthusianer Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows und Jørgen Randers heißen The Limits to Growth (Potomac, Washington, D.C., 1972; deutsch: Die Grenzen des Wachstums, DVA, München, 1972) und Beyond the Limits (Chelsea Green, Post Mills, Vt., 1992; deutsch: Die neuen Grenzen des Wachstums, DVA, München, 1994). Das Wilson-Zitat stammt aus Edward O. Wilson, „Is Humanity Suicidal?“, New York Times Magazine, 30.5.1993, S. 27. Zur optimistischen Sichtweise siehe Wilfred Beckerman, „Economic Growth and the Environment“, World Development, Bd. 20, Nr. 4, 1992, S. 482. Deutschsprachige Literatur: Fraunhofer-Institut und DIW, „Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen von Emissionsminderungsstrategien“, in: Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ (Hrsg.), Energie. Studienprogramm, Band 3, Teilband II (Economica, Bonn, 1995); Werner Hediger, Opportunitätskosten der Umweltverschmutzung. Eine dynamisch ökologisch-ökonomische Analyse (Rüegger, Zürich, 1991).
Websites Eine der besten Seiten über Ressourcen und Umwelt wird von der gemeinnützigen Organisation „Resources for the Future“ unter www.rff.org/ betrieben. Sie finden darin eine große Bandbreite von Themen. Bevölkerungsdaten stellen die Vereinten Nationen zur Verfügung: www.un.org/popin/. Energiedaten sind auf der sehr umfassenden Website der Energy Information Administration unter www.eia.doe.gov abrufbar. Weitere Informationen über Umweltpolitik erhalten Sie auf der Website der amerikanischen Umweltschutzagentur EPA: www.epa.gov. Auf der Homepage des UNO-Umweltschutzprogramms unter www.unep.org wird internationale Umweltpolitik behandelt. Das Kyoto-Protokoll und andere Programme gegen den Klimawandel sind unter www.ipcc.ch und www.unfccc.de zu finden.
Übungen 1.
2.
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Worin besteht der Unterschied zwischen erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen? Führen Sie jeweils ein Beispiel an. Was versteht man unter einer nicht internalisierbaren natürlichen Ressource? Nennen Sie ein Beispiel und erklären Sie, warum die Marktallokation dieser Ressource ineffizient ist. Welche Methode würden Sie vorziehen, um ein besseres Marktergebnis zu erzielen? Eine geometrische Reihe ist eine Folge von Termen (g1, g2, … gt, gt + 1, …), bei der jeder Term dasselbe Vielfache des vorherigen Wer-
tes darstellt: g2 / g1 = g3 / g2 = … = gt + 1 / gt, = . Wenn gilt: = 1 + i > 1, nehmen die Terme exponentiell zu wie der Zinseszins, wenn i dem Zinssatz entspricht. Eine arithmetische Reihe ist eine Termenfolge (a1, a2, a3, … at, at + 1, ...), bei der die Differenz zwischen jedem Term und dem vorherigen konstant ist: a2 – a1 = a3 – a2 = … = at + 1 – at = … = . Führen Sie jeweils mehrere Beispiele an. Beweisen Sie, dass eine geometrische Reihe, bei der gilt: > 1, irgendwann jede arithmetische Reihe überholen muss. Stellen Sie eine Verbindung zwischen
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4.
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6.
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dieser Erkenntnis und der malthusianischen Bevölkerungstheorie her. Erinnern Sie sich an die Aussage Malthus’, wonach das ungehinderte Bevölkerungswachstum einer geometrischen Reihe entsprechen muss, während das Nahrungsangebot – das durch das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags eingeschränkt ist – nur im Ausmaß der arithmetischen Reihe zunehmen kann. Verwenden Sie ein numerisches Beispiel, um nachzuweisen, warum die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf sinken muss, wenn die Bevölkerung ungehindert wächst, während aufgrund der abnehmenden Grenzerträge bei der Nahrungsmittelproduktion nur ein im Vergleich zur Zunahme des Arbeitsangebotes geringeres Wachstum möglich ist. „Lokale öffentliche Güter“ sind Güter, die im Wesentlichen den Bewohnern einer Stadt oder eines Bundeslandes zugute kommen – etwa Strände oder Schulen, die nur von Einheimischen besucht werden. Gibt es einen Grund anzunehmen, dass Städte ein Wettbewerbsverhalten an den Tag legen könnten, um ihren Bewohnern die richtige Menge lokaler öffentlicher Güter anzubieten? Falls ja, lässt sich daraus eine volkswirtschaftliche Theorie des „Fiskalföderalismus“ ableiten, wonach lokale öffentliche Güter auch lokal angeboten werden sollten? Entscheiden Sie für jede der folgenden Externalitäten, ob sie ein so ernsthaftes Problem darstellt, dass kollektive Maßnahmen gerechtfertigt wären. Sollte Ihre Antwort ja lauten, welche der vier in diesem Kapitel erörterten Maßnahmen würden Sie als effizienteste Vorgehensweise betrachten? a. Stahlwerke, die Schwefeldioxid in die Luft Ihrer Stadt ausstoßen b. Raucher in Restaurants c. Rauchende Studenten in Einzelzimmern d. Autofahren in alkoholisiertem Zustand, das 25.000 Todesfälle pro Jahr in den USA verursacht e. Autofahren alkoholisierter Lenker unter 21 Jahren Führen Sie gemeinsam mit ihren Studienkollegen eine CV, eine kontingente Bewertung durch, indem Sie Folgendem jeweils einen Geldwert beimessen: Reinhaltung des PrinceWilliam-Sund; Verhinderung der Ausrottung der gefleckten Waldeule über weitere 10.000 Jahre; Gewährleistung des Weiterbestehens von mindestens 1 Million gefleckter Waldeulen für weitere 10.000 Jahre; jährliche Verringerung der Wahrscheinlichkeit, im Zuge eines Autounfalls zu sterben, von 1 zu 1000 auf 1 zu
8.
9.
Teil 4
2000. Wie verlässlich ist Ihrer Ansicht nach diese Technik, um Informationen über die Vorlieben der Menschen zu sammeln? Don Fullerton und Robert Stavins argumentieren, folgende Aussagen stellten Gerüchte über die Sichtweise der Umwelt durch Ökonomen dar (siehe Kapitel 1 in Stavins Buch, das in den Leseempfehlungen angeführt ist). Erklären Sie, warum jede dieser Aussagen nur ein Gerücht sein kann und wie der richtige Ansatz lauten müsste: a. Ökonomen glauben, der Markt könne alle Umweltprobleme lösen. b. Ökonomen empfehlen für alle Umweltprobleme ausschließlich eine Marktlösung. c. Ökonomen verwenden stets Marktpreise zur Evaluierung von Umweltproblemen. d. Ökonomen befassen sich nur mit der Effizienz, nie mit der Einkommensverteilung. Problemstellung für Fortgeschrittene: Globale öffentliche Güter stellen einen Spezialfall dar, weil kein Land allein den Nutzen aus seinen Umweltschutzbemühungen ziehen kann. Zeichnen Sie zur Bestätigung Abbildung 18-8 noch einmal, und benennen Sie sie diesmal „Emissionsreduktion für die USA“. Bezeichnen Sie die Kurven jeweils mit „USA“, um anzuzeigen, dass es sich ausschließlich um die Kosten und den Nutzen für die USA handelt. Zeichnen Sie als Nächstes eine neue MSB-Kurve, die überall dreimal so hoch ist wie die MSBUSKurve, um zu zeigen, dass der Nutzen für die Welt dreimal so hoch ist wie jener für die USA. Betrachten Sie das „nationalistische“ Gleichgewicht in E, bei dem die Vereinigten Staaten ihren eigenen Nutzen maximieren. Erkennen Sie, warum dies aus Sicht der gesamten Welt ineffizient ist? (Hinweis: Die Überlegung ist vollkommen analog zu Abbildung 18-6.) Überlegen Sie sich die Frage aus Sicht der Spieltheorie. Das Nash-Gleichgewicht träte ein, würde sich jedes Land für das nationalistische Gleichgewicht entscheiden, das Sie gerade analysiert haben. Beschreiben Sie, warum es genau analog zum ineffizienten Nash-Gleichgewicht im Umweltverschmutzungsspiel in Kapitel 11 ist – nur handelt es sich bei den Spielern hier um Staaten und nicht um Unternehmen. Überlegen Sie sich nun das kooperative Spiel, bei dem die Staaten zusammenwirken, um gemeinsam das effiziente Gleichgewicht feststellen zu können. Beschreiben Sie das effiziente Gleichgewicht in Form globaler MC- und MSB-Kurven. Erkennen Sie, warum das effiziente Gleichgewicht in allen Ländern eine einheitliche CO2-Steuer erfordern würde?
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KAPITEL 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
[Der Konflikt] zwischen Gerechtigkeit und Effizienz [ist] unser größter sozioökonomischer Zwiespalt, der uns in der Sozialpolitik in Dutzenden Facetten heimsucht. Wir können einfach nicht beides zugleich haben: Markteffizienz und Verteilungsgerechtigkeit. Arthur Okun (1975)
Vor rund 100 Jahren begannen viele westliche Regierungen, auf dem Markt zu intervenieren und als Bollwerk gegen den Druck der sozialistischen Bewegung ein soziales Sicherheitsnetz einzuführen. Dieses neue Gesellschaftskonzept nannte man „Wohlfahrtsstaat“. Dieses System entwickelte sich Schritt für Schritt in Richtung eines marktwirtschaftlichen Mischsystems, wie wir es heute in den Demokratien Europas und Nordamerikas vorfinden. In diesen Ländern bestimmt der Markt Produktion und Preise der meisten Güter und Dienstleistungen, während die öffentliche Hand die Wirtschaft steuert und dafür sorgt, dass die Armen, Arbeitslosen und Alten von einem sozialen Sicherheitsnetz aufgefangen werden. Einer der umstrittensten Aspekte staatlicher Politik ist das Verhalten gegenüber den Armen. Sollte jeder Familie ein gewisses Mindesteinkommen garantiert werden? Oder genügt eine Mindestversorgung mit Lebensmitteln, Unterkünften und Gesundheitsleistungen? Sollte die Besteuerung progressiv sein, sodass Einkommen von den Reichen zu den Armen umverteilt wird? Oder sollte das Steueraufkommen in erster Linie zur Förderung von wirtschaftlichem Wachstum und Effizienz verwendet werden? Überraschenderweise lässt die Brisanz dieser Fragen nicht nach, je reicher eine Gesellschaft wird. Vielleicht meinen Sie, dass ein Land, dessen Wohlstand ansteigt, stets einen größeren Teil seines Einkommens in Programme für die Bedürftigen im In- und Ausland investiert. Doch dem ist nicht immer so. Wenn die Steuerlast in den letzten 50 Jahren besonders drückend wurde, gab es in den Vereinigten Staaten oft Steuerrevolten, die Steuersenkungen nach sich zogen. Den Menschen wird auch zunehmend bewusst, dass Bemühungen um den Ausgleich von Einkommenshöhen zu einer Beeinträchtigung von Anreizen und Effizienz führen können. Heute stellt sich die Frage: Wie viel von unserem wirtschaftlichen Kuchen müssen wir opfern, um ihn gerechter aufteilen zu können? Wie müssen wir Programme zur Ein-
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
kommensunterstützung umgestalten, um Bedürftigkeit und Ungleichheit zu verringern, ohne das Land gleich in den Bankrott zu führen? Der Zweck dieses Kapitels besteht darin, die Einkommensverteilung und die Dilemmata der auf die Beseitigung von Ungleichheit gerichteten Politik unter die Lupe zu nehmen. Diese Themen zählen zu den umstrittensten wirtschaftlichen Fragen unserer Zeit. Hier helfen kühle wirtschaftliche Analysen der Einkommenstrends und der Stärken und Schwächen verschiedener Programme, um sowohl ein Gefühl der Gerechtigkeit als auch ein fortgesetztes rasches Wachstum der Mischwirtschaft zu fördern.
A. Die Ursachen von Ungleichheit Um Ungleichheiten in der Verfügung über volkswirtschaftliche Ressourcen messen zu können, müssen wir sowohl die bestehenden Einkommens- als auch die Vermögensunterschiede betrachten. Sie erinnern sich bestimmt: Unter persönlichem Einkommen verstehen wir die Gesamteinnahmen oder Geldbeträge, die eine Person oder ein Haushalt in einer bestimmten Periode (normalerweise in einem Jahr) einnimmt. Die wichtigsten Bestandteile des persönlichen Einkommens sind Einkommen aus Erwerbsarbeit, Einkommen aus Vermögen (Mieten, Zinsen und Dividenden) sowie staatliche Transferzahlungen. Das verfügbare persönliche Einkommen setzt sich aus dem persönlichen Einkommen abzüglich aller abzuführenden Steuern zusammen. Das Vermögen oder „Reinvermögen“ besteht aus dem gesamten Geldvermögen oder den gesamten finanziellen und materiellen Vermögenswerten abzüglich der Schulden gegenüber Banken und anderen Gläubigern. Sie können Ihr Gedächtnis, was die wichtigsten Einkommens- und Vermögensquellen betrifft, ein wenig auffrischen, in-
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dem Sie noch einmal die Tabellen 12-1 und 12-2 (vgl. Seite 329 und Seite 331) durcharbeiten.
Die Verteilung von Einkommen und Vermögen Statistiken zufolge betrug das Medianeinkommen amerikanischer Familien im Jahre 2001 US-$ 42.228. Das bedeutet, dass die Hälfte aller Familien ein niedrigeres und die Hälfte ein höheres Einkommen erzielte. Diese Zahl bezieht sich auf die Einkommensverteilung, die uns über die Streuung der Haushaltseinkommen informiert. Durchdenken Sie zum besseren Verständnis der Einkommensverteilung einmal folgendes Experiment: Nehmen wir an, ein Mitglied jedes Haushalts würde das jeweilige Haushaltsjahreseinkommen auf eine Karteikarte schreiben. Alle so erhaltenen Karten könnten wir anschließend nach Einkommensklassen sortieren. Manche der Karten wären in die Rubrik der untersten 20 Prozent mit einem Einkommen von weniger als US-$ 17.970 einzureihen. Manche könnten wir der nächsten Kategorie zuordnen. Und nur einige wenige wären den 5 Prozent der Spitzenverdiener unter den Haushalten mit Einkommen von US-$ 150.500 und darüber zuzuordnen. Die tatsächliche Einkommensverteilung amerikanischer Haushalte im Jahre 2001 ist Tabelle 19-1 zu entnehmen. Spalte (1) zeigt die willkürliche Einteilung der Einkommen in fünf Klassen oder Quintile sowie die 5 Prozent der Spitzenverdiener. Spalte (2) weist die Bandbreite der Haushaltseinkommen in jeder Einkommensklasse aus. Spalte (3) zeigt den Prozentsatz der Haushalte in jeder Einkommensklasse, und Spalte (4) enthält den Prozentsatz des gesamten Volkseinkommens, den die Haushalte einer Einkommensklasse vereinnahmen. Tabelle 19-1 ermöglicht es uns, die breite Streuung der Einkommen in der amerikanischen Wirtschaft auf einen Blick zu erfassen. Das ärmste Fünftel der amerikanischen Haushalte verfügt über ein Einkommen von weni-
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Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
(1)
(2)
(3)
(4)
Einkommensklasse der Haushalte
Einkommenshöhe (US-$)
Prozentsatz der betroffenen Haushalte
Unterstes Fünftel Zweites Fünftel Drittes Fünftel Viertes Fünftel Oberstes Fünftel
0 – 17.970 17.971 – 33.314 33.315 – 53.000 53.001 – 83.500 > 83.500
20 20 20 20 20
Prozentsatz des Gesamteinkommens, der auf die jeweilige Klasse entfällt 3,5 8,7 14,6 23,0 50,1
Oberste 5 Prozent
>150.500
5
22,4
Tabelle 19-1: Die Verteilung der Geldeinkommen unter den amerikanischen Haushalten, 2001 Wie sah die Verteilung der Gesamteinkommen unter den Haushalten im Jahre 2001 aus? Wir teilen dazu die Haushalte in Fünftel (so genannte Quintile) ein: ein Fünftel mit dem niedrigsten, ein zweites mit dem zweitniedrigsten Einkommen und so weiter. Quelle: U.S. Bureau of the Census, Money Income of Households, Families, and Persons in the United States: 2001, Current Population Report, Series P-60, no. 218, September 2002, abrufbar im Internet unter www.census.gov/hhes/www/
ger als US-$ 17.970, während sich das reichste Fünftel über Einkommen von mehr als US-$ 83.500 freuen kann. Etwa 5 Prozent der Haushalte verfügen über ein Einkommen von über US-$ 150.500. Manche Glücklichen verdienen sicherlich noch wesentlich mehr, aber je weiter man in der Einkommenspyramide nach oben gelangt, desto einsamer wird es dort auch. Würden wir aus Bauklötzen eine Einkommenspyramide errichten, bei der jede Schicht für US-$ 500 Einkommen stünde, so läge zwar die Spitze dieser Pyramide weit über dem Gipfel des Mount Everest, doch der überwiegende Teil der Menschen befände sich höchstens ein oder zwei Meter über dem Boden.
Wie lässt sich die Ungleichheit zwischen den Einkommensklassen messen? Wie können wir das Ausmaß der Einkommensungleichheit messen? Wären die Einkommen absolut gleich verteilt, dürfte es natürlich keinerlei Unterschiede zwischen den ärmsten 20 Prozent und den reichsten 20 Prozent der Bevölkerung geben: Jedes Quin-
til erhielte exakt 20 Prozent des Einkommens des Landes. Das wäre absolute Gleichheit. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Das unterste Fünftel – also 20 Prozent aller Haushalte – muss sich mit nicht einmal 4 Prozent des Gesamteinkommens zufrieden geben. Die Situation für die 5 Prozent der bestverdienenden Haushalte ist genau umgekehrt – sie können 22 Prozent des Einkommens für sich verbuchen. Das Ausmaß der Ungleichheit lässt sich anhand eines Diagramms zeigen, das als Lorenzkurve bekannt ist und zur Analyse von Einkommens- und Vermögensungleichheit gern verwendet wird. Abbildung 19-1 ist eine Lorenzkurve, die das Maß an Ungleichheit darstellt, das in den Spalten von Tabelle 19-2 aufgeführt ist; sie stellt also die Muster von (1) absoluter Gleichheit, (2) absoluter Ungleichheit und (3) aktueller Ungleichheit in den USA im Jahre 2001 gegenüber. Absolute Gleichheit wird von der Zahlenkolonne in Spalte (4) von Tabelle 19-2 dargestellt. Überträgt man diese Zahlen ins Diagramm, wird aus ihnen die diagonale, gestrichelte rostfarbene Linie der Lorenzkurve in Abbildung 19-1.
550
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
die durchgehende rostfarbene Kurve in der Mitte. Der schattierte Bereich zeigt die Abweichung von der absoluten Gleichheit und gibt daher ein Maß für die Einkommensungleichheit an.
100
Prozent der Einkommen
80
60
40
Kurve absoluter Gleichheit
Abweichung von der absoluten Gleichheit
0
Der Gini-Koeffizient Tatsächliche US-Einkommensverteilung, 2001 Kurve absoluter Ungleichheit
20
20
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40 60 80 Prozent der Bevölkerung
100
Abbildung 19-1: Die Lorenzkurve zeigt die Einkommensstreuung Durch Übertragung der Daten aus Spalte (6) von Tabelle 19-2 erkennen wir, dass die durchgängige rostfarbene Kurve, die die tatsächliche Einkommensverteilung darstellt, zwischen den beiden Extremen der absoluten Gleichheit und der absoluten Ungleichheit liegt. Der schattierte Bereich dieser Lorenzkurve (als Prozentsatz des dreieckigen Bereichs) misst die relative Einkommensstreuung. (Wie hätte die Kurve damals in den Goldenen Zwanzigern ausgesehen, als die Ungleichheit größer war? Wie in einem egalitären Utopia, wo jedermann gleich viel erbt und gleiche Chancen hat?)
Das andere Extrem wäre der hypothetische Fall absoluter Ungleichheit, demzufolge ein Mensch das gesamte Einkommen erhielte. Der Fall der absoluten Ungleichheit ist Spalte (5) von Tabelle 19-2 zu entnehmen und wird durch die unterste Kurve im Lorenzdiagramm dargestellt – die gestrichelte, rechtwinkelig verlaufende, schwarze Linie. Die tatsächliche Einkommensverteilung, also beispielsweise jene des Jahres 2001, liegt immer irgendwo zwischen den Extremen der absoluten Gleichheit und der absoluten Ungleichheit. Die rostfarbene Spalte (6) in Tabelle 19-2 stellt jene Daten dar, die aus den ersten beiden Spalten in der Form aufbereitet wurden, dass sie sich als Lorenzkurve darstellen lassen. Diese der Realität entsprechende Lorenzkurve erscheint in Abbildung 19-1 als
Ökonomen müssen oft quantitative Maße der Ungleichheit berechnen. Ein nützliches Maß hierfür ist der Gini-Koeffizient. Er wird gemessen, indem der schattierte Bereich der Lorenz-Kurve von Abbildung 19-1 berechnet und mit 2 multipliziert wird. Der Gini-Koeffizient beträgt unter den Bedingungen vollständiger Ungleichheit 1 und unter den Bedingungen vollständiger Gleichheit 0. Um das zu verstehen, erinnern Sie sich, dass die Lorenzkurve einer Gesellschaft mit gleichen Einkommen entlang der 45˚-Linie verliefe, sodass der Bereich null wäre. Wenn die Lorenzkurve im Gegensatz dazu entlang der Achsen verläuft, ist der Bereich 0,5; bei Multiplikation mit 2 ergibt dies einen Gini-Koeffizienten von 1. Mithilfe des Gini-Koeffizienten berechnete das Census Bureau, dass sich die Ungleichheit von 1967 bis 1980 nur wenig veränderte (der Gini-Koeffizient stieg von 0,399 auf 0,403), von 1980 bis 2001 jedoch konstant anstieg (von 0,403 auf 0,466).
Die Verteilung der Vermögen Eine wesentliche Quelle der Einkommensungleichheit ist die ungleiche Verteilung der Vermögen, also des Nettoeigentums an finanziellen Ansprüchen und finanziellen Vermögenswerten. Die wirklich – ob durch Erbschaften, eigene Geschicklichkeit oder Glück – enorm Vermögenden erzielen Einkommen, die weit über jenen des durchschnittlichen Haushalts liegen. Dagegen haben Menschen ohne Vermögen von Anfang an einen Startnachteil. In einer Marktwirtschaft sind die Vermögen sehr viel ungleicher verteilt als die Einkommen, wie Abbildung 19-2(b) zeigt. In den Vereinigten Staaten besaßen die reichsten 10
551
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
(1)
(2)
Einkommensklasse der Haushalte
Unterstes Fünftel Zweites Fünftel Drittes Fünftel Viertes Fünftel Oberstes Fünftel
(3)
(4)
Prozentsatz Prozentsatz der von den der Haushalte Haushalten in dieser dieser Klasse Klasse und bezogenen darunter Einkommen 3,5 0 8,7 20 14,6 40 23,0 80 50,1 100
(5)
(6)
Einkommensprozentsatz, der von dieser und darunter liegenden Klassen bezogen wurde Absolute Gleichheit
Absolute Ungleichheit
0 20 40 80 100
0 0 0 0 100
Tatsächliche Verteilung
3,5 12,2 26,8 49,8 100,0
Tabelle 19-2: Tatsächliche und Extremfälle von Ungleichheit Durch Kumulierung der Einkommensanteile jedes Quintils in Spalte (2) können wir in Spalte (6) die tatsächliche Einkommensverteilung mit den Extremfällen der vollständigen Ungleichheit und der vollständigen Gleichheit vergleichen. Quelle: Tabelle 19-1 (a) Einkommensungleichheit
(b) Vermögensungleichheit
100
100 Schweden 80 Prozent der Vermögen
Prozent der Einkommen
80 Großbritannien 60
USA
40 Brasilien 20
60
40
20
USA Großbritannien
0
20 40 60 80 Prozent der Bevölkerung
100
0
20 40 60 80 Prozent der Bevölkerung
100
Abbildung 19-2: Das Ausmaß der Ungleichheit variiert in den verschiedenen Gesellschaften und ist bei den Vermögen größer als bei den Einkommen (a) Reife Volkswirtschaften weisen eine geringere Ungleichheit der Einkommensverteilung auf als Volkswirtschaften mit mittleren Einkommen. (b) Die Vermögen sind offensichtlich stärker konzentriert als die Jahreseinkommen. Die USA und Großbritannien weisen eine ähnliche Einkommensverteilung auf, aber in Großbritannien sind die Vermögen stärker konzentriert als in den USA. In sozialistischen Ländern wie in China ist die Konzentration der privaten Vermögen sehr viel geringer. Quelle: Ana M. Aizcorbe, Arthur B. Kennickell und Kevin B. Moore, „Recent Changes in U.S. Family Finances: Evidence from the 1998 and 2001 Survey of Consumer Finances“, Federal Reserve Bulletin, vol. 89 (Januar 2003), S. 1–32 (online verfügbar); und World Bank, World Development Report, verschiedene Ausgaben.
552
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Prozent der Haushalte im Jahre 2001 70 Prozent der Vermögenswerte, und das reichste 1 Prozent besaß rund 40 Prozent des Gesamtvermögens. Studien von Edward Wolff von der New York University zeigen, dass die Ungleichheit der Vermögensverteilung im Laufe der Zeit stark zugenommen hat. Die Gesellschaften sind ambivalent, wenn es um große Vermögen geht. Vor hundert Jahren kritisierte Präsident T. Roosevelt „schwerreiche Übeltäter“ und schlug für Einkommens- und Erbschaftssteuern eine hohe Progression vor. Hundert Jahre später wurde in den USA jedoch ein Gesetz verabschiedet, das alle Erbschafts- und Schenkungssteuern ab 2010 abschafft und sie als „Todessteuern“ bezeichnet. Falls dieses Gesetz tatsächlich in Kraft treten sollte, könnte die Ungleichheit der Vermögensverteilung in den nächsten Jahren weiter stark zunehmen.
Teil 4
größte Ungleichheit – extremer Luxus und Reichtum neben Elend und Armut – ist in Ländern der mittleren Einkommensstufe, vor allem in lateinamerikanischen Ländern wie Peru, Brasilien und Venezuela, festzustellen.
Ungleichheit der Erwerbseinkommen Was sind die Quellen der Ungleichheit? Als Erstes denken wir hier an die Erwerbseinkommen, die rund 75 Prozent der Faktoreinkommen ausmachen. Selbst wenn die Vermögenseinkommen gleichmäßig verteilt wären, bliebe also ein Großteil der Ungleichheit bestehen. Die Kräfte, die zu ungleichen Einkommen führen, sind unterschiedliche Fähigkeiten und Kenntnisse, unterschiedliche Arbeitsintensität, unterschiedliche Berufe und andere Faktoren.
Ungleichheit zwischen den Ländern
Fähigkeiten und Kenntnisse
Die Einkommensverteilung variiert je nach Wirtschafts- und Sozialstruktur zwischen den einzelnen Ländern beträchtlich. Abbildung 19-3 zeigt die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Ländern bei Messung durch den Gini-Koeffizienten. (Der Gini-Koeffizient ist im Kasten weiter oben beschrieben.) In marktwirtschaftlich orientierten Ländern wie in den USA divergiert die Einkommensverteilung unter allen einkommensstarken Ländern am stärksten. In den Wohlfahrtsstaaten Nordeuropas ist die Ungleichheit hingegen am schwächsten ausgeprägt. Die Ursachen für diese starke Ungleichheit in den Vereinigten Staaten werden weiter hinten in diesem Kapitel zur Sprache gebracht. Die Erfahrungen der Entwicklungsländer zeigen eine interessante Entwicklung. Die Ungleichheit beginnt mit zunehmender Industrialisierung der Länder zu steigen. Wenn diese Industrialisierung ihren Höhepunkt überschritten hat, wird sie rückläufig. Die
Menschen unterscheiden sich in körperlicher und geistiger Hinsicht und auch nach ihrem Temperament ganz enorm in ihren Fähigkeiten. Doch diese individuellen Besonderheiten helfen uns im Grunde kaum, das Rätsel der Einkommensverteilung zu lüften. Physische Eigenschaften (wie Körperkraft, Größe oder Gewicht) und messbare geistige Eigenschaften (etwa der Intelligenzquotient oder die Aufnahmefähigkeit) erklären die Unterschiede zwischen den Einkommen der Menschen nur sehr begrenzt. Damit soll nicht behauptet werden, dass individuelle Fähigkeiten keine Bedeutung hätten. Die Fähigkeit, ein Tor zu schießen oder ein Publikum in Entzücken zu versetzen, erhöhen das Einkommenspotenzial eines Menschen beträchtlich. Aber die auf dem Markt geschätzten Fähigkeiten sind sehr unterschiedlich und oft sehr schwer zu messen. So honorieren die Märkte beispielsweise Risikobereitschaft, Ehrgeiz, Glück, geniale
553
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
50
45
Gini-Koeffizient der Ungleichheit
40
35
30
25
20
15
10 5
5) (1
99 (1 us
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7)
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2)
4)
0
Abbildung 19-3: Ungleichheit in verschiedenen Ländern Die Streuung der Einkommen ist je nach Land sehr unterschiedlich ausgeprägt. Russland und die heutigen USA weisen die größte Ungleichheit der Einkommen auf, während sich die skandinavischen Länder im Allgemeinen durch die geringste Ungleichheit auszeichnen. Diese Grafik stellt den Gini-Koeffizienten dar, wie er im Text definiert wird. Quelle: Koen Vleminckx, Luxembourg Income Study, August 1998, online verfügbar.
technische Einfälle, gutes Urteilsvermögen und harte Arbeit – und nichts von all dem lässt sich mit standardisierten Tests problemlos messen. Mark Twain hätte es vielleicht folgendermaßen ausgedrückt: „Du musst nicht klug sein, um Geld zu verdienen. Aber Du musst wissen, wie man Geld verdient.“
derlich, um sich das Lebensnotwendige leisten zu können. Einkommensunterschiede können schon deshalb groß sein, weil nicht alle Menschen gleich hart arbeiten, und man kann kaum behaupten, dass in keinem dieser Fälle die wirtschaftliche Chancengleichheit gegeben wäre.
Arbeitsintensität
Berufe
Die Arbeitsintensität variiert von Mensch zu Mensch beträchtlich. Ein Workaholic verbringt 70 Stunden wöchentlich an seinem Arbeitsplatz, verzichtet auf Urlaube und schiebt vielleicht sogar seine Pension immer weiter hinaus. Ein Asket hingegen arbeitet möglicherweise nur so viel wie gerade erfor-
Eine wichtige Quelle von Einkommensunterschieden sind natürlich die unterschiedlichen Berufe der Menschen. Am unteren Ende der Skala finden wir Hausangestellte, Personal von Fast-Food-Restaurants und Hilfsarbeiter. Ein ganzjährig vollbeschäftigter Mitarbeiter bei McDonald’s oder ein Autowäscher
554
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
verdient heute durchschnittlich nur US-$ 10.000 jährlich. Am oberen Ende finden wir die ausgezeichnet verdienenden Fachkräfte. In welchem Beruf verdient man am besten? Für die letzten Jahre kann diese Frage ganz eindeutig beantwortet werden: als Arzt. Ärzte erzielten im Jahr 1998 ein zu versteuerndes Durchschnittseinkommen von US-$ 160.000, was einen beinahe 70-prozentigen Anstieg seit 1986 bedeutet. Wie kann es zu derart großen Einkommensunterschieden zwischen den verschiedenen Berufsgruppen kommen? Teilweise erklärt sich die Disparität durch Investitionen in Humankapital, wie in die Ausbildungszeit, die beispielsweise bei Ärzten sehr lang ist. Doch auch spezielle Fähigkeiten spielen eine Rolle, beispielsweise mathematisches und technisches Verständnis, das eine Voraussetzung für den Beruf des Technikers darstellt. In einigen Berufen verdient man mehr, weil sie gefährlich oder unangenehm sind (denken Sie nur an die Diskussion der kompensatorischen Lohnunterschiede in Kapitel 13). Und wenn es in einem Beruf zu einer Angebotsknappheit kommt, beispielsweise wegen einer restriktiven Gewerkschaftspolitik oder durch die Gewerbeordnung, treibt der Nachfrageüberhang die Löhne und Gehälter in diesem Beruf in die Höhe.
Sonstige Faktoren Zusätzlich zu individuellen Fähigkeiten, Arbeitsintensität und Beruf wirken sich auch noch andere Faktoren auf die Ungleichheit der Arbeitseinkommen aus. Wie bereits in Kapitel 13 besprochen, spielen Diskriminierung und die Ausschließung von bestimmten Berufen eine gewichtige Rolle im Zusammenhang mit den konstant niedrigen Löhnen von Frauen und vielen Minderheitengruppen. Darüber hinaus hat das Familien- und Sozialleben von Kindern einen großen Einfluss auf ihre späteren Einkünfte. Kinder aus reichen Familien profitieren in jedem Alter
Teil 4
von ihrer Umwelt. Ein Kind, das in Armut aufwächst, lebt häufig in beengten Verhältnissen, ist unzureichend ernährt, besucht schlecht geführte Schulen und wird von überlasteten Lehrern unterrichtet. Das Schicksal von Kindern aus den armen Innenstädten ist zumeist schon entschieden, bevor diese zehn Jahre alt sind. Manche Ökonomen meinen, dass der technologische Wandel, Einwanderungsbewegungen, der internationale Handel und die zunehmende Verbreitung von Alles-odernichts-Märkten zu größerer Ungleichheit führen. Nehmen wir die Technologie: Erinnern Sie sich an die Diskussion von Kapitel 11, in der es darum ging, dass die Technologie die Leistung des Einzelnen so multipliziert, dass sie viel mehr Menschen erreicht. Die Folge ist: Während talentierte Sportler vor 30 Jahren kaum mehr verdienten als der durchschnittliche Fabrikarbeiter, erhalten Spitzenspieler im Basketball heute Willkommensprämien von an die 100 Millionen US-$. Ähnliche Trends sind in anderen Sportarten, in der Unterhaltungsindustrie und im Topmanagement zu beobachten.
Ungleichheit der Einkommen aus Vermögen Die größten Ungleichheiten im Einkommen ergeben sich aus Unterschieden des Einkommens aus Vermögen, das unter anderem die Einkommen aus Aktien, Anleihen und Immobilien umfasst. Mit wenigen Ausnahmen beziehen die Personen, die auf der Einkommenspyramide ganz oben stehen, den Großteil ihres Einkommens aus ihrem Vermögen. Die Armen hingegen besitzen nur wenig Finanzvermögen und können deshalb aus ihrem nicht existenten Vermögen auch kein Einkommen beziehen. Werfen wir einen Blick auf die Ursachen der Vermögensunterschiede – Sparverhalten, Unternehmertum und Erbschaften –, die zu den konstatierten Vermögensungleichheiten führen.
555
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
Lebenszyklisches Sparen als Vermögensquelle
Unternehmertum Verglichen mit emsigem Sparen spielt das Unternehmertum auf dem Weg zum Reichtum eine weitaus bedeutendere Rolle. Tabelle 19-3 zeigt die diesbezüglichen Erfahrungen der 100 reichsten Bürger der Vereinigten Staaten im Jahre 2003. Ihre Daten lassen den Schluss zu, dass die meisten wirklich vermögenden US-Bürger durch Risikobereitschaft und den Aufbau gewinnträchtiger Unternehmen, etwa von Computersoftwarefirmen, Fernsehnetzen und Einzelhandelsketten, zu ihrem Reichtum gelangt sind. Wer neue Produkte oder Dienstleistungen erfand oder die Unternehmen lenkte, die diese Produkte oder Dienstleistungen auf den Markt brachten, wurde durch die Schumpeter-Gewinne aus diesen Innovationen reich. Zu dieser wohlhabenden Gruppe zählen Volkshelden wie Bill Gates (Chef des Software-Riesen Microsoft), die Waltons (Gründer von Wal-Mart) und Warren Buffett (Investment-Guru).
Obwohl der Großteil der Menschen sich abplagt, um ein paar Dollar für die Pension anzusparen, ist dieses knauserige Verhalten wahrscheinlich nicht die wichtigste Quelle der US-Vermögen. Wie schwierig es ist, durch Sparen des normalen Arbeitseinkommens ein großes Vermögen anzuhäufen, lässt sich anhand eines realistischen Beispiels zeigen. Nehmen wir an, die durchschnittliche Mittelklassefamilie spart 20 Jahre lang jährlich rund US-$ 2.000 (5 Prozent ihres Einkommens). Nehmen wir weiter an, dass es ihr durch umsichtiges Anlegen ihres Geldes gelingt, jährlich einen Gewinn nach Steuern von 5 Prozent zu erzielen. Nach 20 Jahren würde diese Familie über ein erspartes Vermögen von US-$ 73.200 verfügen – einen Betrag, der nur einem Sechstel des Reinvermögens der Durchschnittsfamilie entspricht.
Die 100 reichsten US-Amerikaner Höhe des Reinvermögens Quelle des Reichtums
Anzahl der Personen
Mrd. US-$
Prozent
8
18,8
3
Finanzgeschäfte
16
99,4
16
Unternehmertum
76
506,7
81
12
70,4
11
3
9,5
2
Industrie
13
72,7
12
New Economy
12
152,7
24
Öl
6
19,8
3
Immobilien
9
28,4
5
21
153,2
25
100
624,9
100
Erbschaft
Kommunikation Unterhaltung
Einzelhandel Gesamt
Tabelle 19-3: Wie haben die reichsten Amerikaner ihr Glück gemacht? Im Jahr 2003 verfügten 100 Amerikaner laut Forbes Magazin über ein Reinvermögen von mindestens US-$ 2 Milliarden. Die meisten von ihnen hatten ihre Vermögen als Unternehmer erworben (wie Bill Gates oder die Waltons), während ein kleiner Prozentsatz sein Vermögen einer Erbschaft oder Finanzgeschäften verdankte. Quelle: Forbes, Oktober 2003.
556
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Erbschaft Wie viel tragen Erbschaften zu den US-Vermögen bei? Etwa ein Viertel der 100 reichsten Personen des Jahres 1999 gelangten eher durch Erbschaft als durch den Aufbau von Vermögen zu ihrem Reichtum. Doch stellt dies wahrscheinlich eine Unterbewertung der Bedeutung von Erbschaften für die Einkommensverteilung dar. Studien belegen, dass zwei Drittel des reichsten Prozent der US-Amerikaner einen beträchtlichen Vermögensanteil ererbt haben. Diese Konzentration ererbten Vermögens in wenigen Händen ist es, die den heftigen Widerwillen vieler Menschen auf sich zieht, die sich mit der ungleichen Vermögensverteilung im Land nicht abfinden können.
Armut in den Vereinigten Staaten Gesellschaften neigen dazu, bestimmte Gruppen oder Probleme herauszugreifen und sich auf sie zu konzentrieren. In den sechziger Jahren erklärten die Vereinigten Staaten der Armut „den Krieg“ und führten ehrgeizige Gesundheits- und Ernährungsprogramme ein, um das wirtschaftliche Elend ein für allemal auszurotten. Bevor wir uns jedoch der Analyse konkreter Maßnahmen gegen die Armut zuwenden, müssen wir erst den Begriff Armut definieren, und wir werden feststellen, dass es sich hierbei um einen erstaunlich schwer fassbaren Terminus handelt. Der schwer fassbare Begriff der „Armut“ Das Wort „Armut“ bedeutet nicht für jedermann dasselbe. Armut ist zweifellos ein Zustand, in dem Menschen unzureichende Einkommen beziehen, aber eine genaue Trennlinie zwischen Armen und nicht Armen zu ziehen, erweist sich als ziemlich schwierig. Ökonomen haben daher bestimmte Instrumentarien entwickelt, mit denen sie sich an eine offizielle Definition des Begriffes Armut heranwagen können.
Teil 4
Armut wurde in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA als Einkommenshöhe definiert, die nicht zur Beschaffung von Grundnahrungsmitteln, Kleidung, Unterkunft und anderen Lebensnotwendigkeiten ausreicht. Dieses Einkommen wurde anhand von Familienbudgets berechnet und überprüft, indem man feststellte, welcher Einkommensanteil für Lebensmittel ausgegeben wurde. Seit damals wird das Armutsbudget anhand des von der Regierung herausgegebenen Konsumentenpreisindex angepasst und spiegelt Änderungen in den Lebenshaltungskosten wider. Laut Standarddefinition beliefen sich die Mindestlebenshaltungskosten einer vierköpfigen US-Familie im Jahre 2004 auf US-$ 18.850. Diese Zahl bezeichnet die „Armutsgrenze“ oder sozusagen die Demarkationslinie zwischen den vom Staat als arm und den als nicht arm angesehenen Familien. Die Armutsgrenze hängt auch von der Familiengröße ab. Während eine genaue Zahl zur Messung der Armut nützlich ist, räumen Wissenschaftler ein, dass „Armut“ ein relativer Begriff ist. Der Begriff des Existenzminimums beinhaltet viele subjektive Wertungen und soziale Konventionen. Wohnungen, die heute als kaum zumutbar gelten, sind technisch häufig ausgestattet, wie es sich in früheren Zeiten selbst Millionäre und Räuberbarone nicht hätten leisten können. Aufgrund der Mängel der aktuellen Definition empfahl ein Expertengremium der National Academy of Sciences im Jahre 1995, die Definition von „Armut“ so zu ändern, dass sie den relativen Einkommensstatus widerspiegelt. Das Gremium empfahl, eine Familie als arm zu betrachten, wenn ihr Konsum um 50 Prozent unter dem Lebensmittel-, Kleidungs- und Wohnungskonsum der mittleren Familie liegt. Die Armut, gemessen am relativen Einkommen würde zurückgehen, wenn die Ungleichheit abnimmt; sie bliebe unverändert, wenn die Wirtschaft blüht, ohne dass sich die Verteilung von Einkommen und Konsum ändert. In dieser neuen Welt würde eine Flut alle Boote heben, doch den Anteil der als arm zu betrachtenden
557
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
Bevölkerung nicht verändern. Dieser radikale neue Ansatz wird von der Regierung sorgfältig abgewogen.
Armut in den wichtigsten Bevölkerungsgruppen, 2001 Bevölkerungsgruppe
Wer sind die Armen?
Gesamtbevölkerung
Armut betrifft bestimmte Bevölkerungsgruppen deutlich stärker als andere. Tabelle 19-4 zeigt die Inzidenz der Armut in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen für das Jahr 2001. Danach waren insgesamt 11,7 Prozent der Bevölkerung als arm einzustufen, weil ihr Einkommen unter der Armutsgrenze des Jahres 2001 lag, wobei die Armutsrate bei schwarzen und lateinamerikanischen Familien fast dreimal so hoch war wie bei nicht lateinamerikanischen weißen Familien. Am bedrohlichsten schien der Trend bei den allein erziehenden Müttern mit Kindern zu sein, die einen stetig wachsenden Anteil an der armen Bevölkerung stellen. 1959 waren die Haushaltsvorstände von rund 18 Prozent der armen Familien allein erziehende Mütter. Im Jahre 2001 lag die Armutsrate dieser Gruppe bei 26 Prozent. Sozialwissenschaftler zeigen sich besorgt, dass die Kinder aus diesen Familien nur unzureichend ernährt und ausgebildet werden, sodass es ihnen aller Voraussicht nach schwer fallen wird, als Erwachsene selbst der Armut zu entkommen. Doch natürlich wäre eine Erörterung des Problems der Armut unvollständig, würde man nicht auch die Lage der Minderheiten berücksichtigen. Das Einkommen von fast einem Drittel aller Afroamerikaner, Lateinamerikaner und Indianerfamilien der USA liegt unter der Armutsgrenze. Warum fallen gerade so viele Mutter-KindHaushalte und Familien, die Minderheiten angehören, unter die Armutsgrenze? Welche Rolle spielt dabei die Diskriminierung?1 Erfahrene Beobachter betonen heute, dass eine offene Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder des Geschlechts immer seltener festzustellen ist. Und dennoch nimmt die relative Armut von
Nach rassischer und ethnischer Zugehörigkeit:
1 Die volkswirtschaftlichen Aspekte der Diskriminierung am Arbeitsplatz werden in Kapitel 13 erläutert.
Weiße (ohne Lateinamerikaner)
Prozentsatz unter der Armutsgrenze 11,7
7,8
Schwarze
22,7
Lateinamerikaner
21,8
Nach Alter: Unter 18 Jahren
16,3
18 bis –64 Jahre
10,1
65 Jahre und darüber
10,1
Nach Haushaltstyp: Verheiratete Paare
4,9
Weiblicher Haushaltsvorstand, kein Ehemann anwesend
26,4
Männlicher Haushaltsvorstand, keine Ehefrau anwesend
13,1
Tabelle 19-4: Armut in verschiedenen Bevölkerungsgruppen, 2001 Bei Weißen und verheirateten Paaren liegen die Armutsraten unter dem Durchschnitt. Schwarze, Lateinamerikaner und Familien mit weiblichen Haushaltsvorständen hingegen sind von Armut überdurchschnittlich stark betroffen. Quelle: U.S. Bureau of the Census, Poverty in the United States: 2001, Current Population Report, Series P-60, Nr. 219, September 2002, abrufbar im Internet unter www.census.gov
Frauen und Schwarzen zu. Wie aber lassen sich diese beiden scheinbar gegenläufigen Trends vereinbaren? Der wichtigste Faktor ist die zunehmende Kluft zwischen den Einkommen von Menschen mit hoher Bildung und Facharbeitern und jenen von Hilfsarbeitern und schlechter gebildeten Arbeitnehmern. Im Laufe der
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
letzten 25 Jahre ist das Lohngefälle zwischen diesen beiden Gruppen stark gestiegen, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden. Das zunehmende Lohngefälle hat Minderheitengruppen besonders stark getroffen.
Die Trends der Ungleichheit Die Geschichte der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten ist in Abbildung 19-4 dargestellt. Sie zeigt das Verhältnis der Einkommen des bestverdienenden Fünftels der Familien und jener des untersten Fünftels. Wir erkennen drei abgegrenzte Zeiträume: abnehmende Ungleichheit bis zum Zweiten Weltkrieg, stabile Verhältnisse bis 1980 und danach in den beiden letzten Jahrzehnten steigende Ungleichheit. Seit 1980 ist das Gefälle zwischen den Einkommen der gut und der schlecht verdienenden Gruppen um nahezu 50 Prozent gestiegen. Rückläufige Ungleichheit: 1929–1975. Unabhängig davon, welche Messmethode wir anwenden, lässt sich für den Zeitraum 1930 bis 1975 mit Sicherheit aussagen, dass Ungleichheit abgebaut wurde und dass die Armen ebenso wie die Wohlhabenden die Früchte des Wirtschaftswachstums genießen konnten. Wirtschaftsgeschichtlichen Studien zufolge war von den zwanziger Jahren bis zur Mitte der siebziger Jahre ein stetiger Anstieg des Realeinkommens des ärmsten Fünftels der Bevölkerung zu verzeichnen, der über dem allgemeinen Wirtschaftswachstum lag. So stieg auch der Anteil des Gesamteinkommens, das dem ärmsten Bevölkerungsfünftel (oder Quintil) zugute kam, zwischen 1929 und 1975 von 3,8 Prozent auf rund 5 Prozent. Im selben Zeitraum sank die Armutsrate so stark, dass manche schon hofften, das Phänomen Armut könnte in den USA bald der Vergangenheit angehören. Warum konnte die wirtschaftliche Ungleichheit in diesem Zeitraum so erfolgreich zurückgedrängt werden? Die Ungleichheit ging teilweise aufgrund des Abbaus der Einkommensungleichheit zurück. Mit zunehmen-
Verhältnis des Einkommens des obersten Fünftels zum Einkommen des untersten Fünftels der Haushalte
558
Teil 4
15 14 13 12 11 10 9 1920
1940
1960
1980
2000
Jahr
Abbildung 19-4: Die Entwicklung der Ungleichheit in den USA, 1929–2001 Ein nützliches Maß der Ungleichheit ist das Verhältnis der Einkommen des obersten und des untersten Fünftels der Bevölkerung. Der Anteil der Spitzeneinkommen ging nach 1929 mit dem Börsen-Crash der dreißiger Jahre, der niedrigen Arbeitslosenrate und dem Abbau der Barrieren für Frauen und Minderheiten während des Zweiten Weltkriegs sowie der Abwanderung vom Land in die Städte zurück. Seit 1980 ist die Einkommensungleichheit durch die höhere Einwanderung und den Rückgang der Löhne von Hilfsarbeitern stark angestiegen. Quelle: U.S. Bureau of the Census, Zeitreihen von den Autoren zusammengestellt.
der Bildung der ärmeren Gruppen und verstärkter gewerkschaftlicher Organisation der Arbeitnehmer begann sich die Lücke zu schließen. Staatliche Maßnahmen wie die Einführung der Sozialversicherung brachten der älteren Bevölkerung viel, während Finanzhilfeprogramme und Lebensmittelmarken für Mittellose und Arbeitslosenversicherung die Einkommen der anderen Gruppen aufbesserten. Zusätzlich reduzierte ein progressiv wirkendes Einkommensteuersystem, das hohe Einkommen stärker als niedrige Einkommen besteuerte, das Ausmaß der Ungleichheit. Die Kluft wird wieder breiter: 1975–2001. In den letzten 25 Jahren kam es jedoch zu einer Trendumkehr (in mehrerlei Hinsicht). Der auf das ärmste Bevölkerungsfünftel entfal-
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
lende Anteil der Gesamteinkommen ging in den achtziger Jahren stark zurück; noch 1975 entfielen auf dieses Quintil 5,4 Prozent, 2001 waren es nur noch 3,5 Prozent. Die durchschnittlichen Realeinkommen von Familien des ärmsten Quintils lagen damit weit unter den einstigen Spitzenwerten. Die Armutsrate begann jedoch während der langen wirtschaftlichen Expansionsphase der neunziger Jahre zu sinken und erreichte 2000 mit 11,3 Prozent einen Tiefpunkt. Während die Einkommen der Armen in den letzten 25 Jahren stagnierten, stiegen die Einkommen der reichsten Amerikaner sprunghaft an. Von 1975 bis 2001 stieg jener Anteil am Gesamteinkommen, der den reichsten 5 Prozent der Haushalte zugute kam, von 16 Prozent auf 22,4 Prozent. Eine neuere Studie über einkommensstarke Haushalte belegt sogar, dass der Großteil der Zugewinne im obersten Segment tatsächlich den besonders Vermögenden zugute kam, nämlich nur den reichsten 0,1 Prozent aller US-Steuerzahler. Warum nahm die Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten zu? Nach einer mehrjährigen und intensiven Erforschung dieser Frage nennen die Ökonomen heute mehrere Gründe für die neuerdings wieder zunehmende Ungleichheit: Einerseits kam es zu Beginn der achtziger Jahre zu Änderungen der staatlichen Politik: Transferzahlungen für arme Familien wurden gekürzt, während man gleichzeitig die reichsten Gruppen durch eine angebotsorientierte Steuersenkung in den achtziger Jahren aktiv unterstützte. Staatliche Maßnahmen können jedoch den neuen Trend nur teilweise erklären. In den letzten beiden Jahrzehnten durften sich leitende Angestellte und Manager über geradezu exorbitante Gehaltserhöhungen freuen, während die steigende Geburtenrate bei unverheirateten Müttern zu einer Zunahme jener MutterKind-Familien führte, die viel eher unter die Armutsgrenze fallen. Der wahrscheinlich wichtigste Grund für die steigende Ungleichheit ist die Tatsache, dass in den achtziger Jahren gut ausgebildete Arbeitskräfte viel besser bezahlt wurden als
559
ungelernte Hilfsarbeiter. Ökonomen haben sich eingehend mit der Frage des so genannten College-Bonus beschäftigt, also mit den Lohnunterschieden zwischen Akademikern und High-School-Absolventen bei vergleichbaren Jobs. Gerade im letzten Jahrzehnt ist der College-Bonus stark angestiegen. Nach dem Economic Report of the President, dem Wirtschaftsbericht des Präsidenten, verdienten Akademiker im Jahre 1981 etwa 45 Prozent mehr als High-School-Absolventen. Doch 1997 verdienten vollzeitbeschäftigte College-Absolventen um 103 Prozent mehr als Arbeitnehmer, die nur einen HighSchool-Abschluss in der Tasche hatten. Diese zunehmende Lohnschere vertiefte die Kluft zwischen den Spitzenverdienern und den weniger gut Verdienenden.2 Warum machte sich gerade in den achtziger Jahren Bildung zunehmend bezahlt? Ein Grund lag darin, dass viele Einwanderer in die Vereinigten Staaten kamen und dass die Konkurrenz durch ausländische Importe stark war. Am stärksten waren weniger gut gebildete Arbeitnehmer betroffen, die in früheren Jahren beispielsweise in der Automobil- und Stahlindustrie gut verdient hatten. In den achtziger Jahren verschwanden diese gut bezahlten Industriejobs für Arbeitskräfte ohne Hochschulabschluss nach und nach. Die zunehmende Deregulierung und der Wettbewerb aus dem Ausland schwächten die Marktmacht der Gewerkschaften und führten zu einer Senkung der relativ hohen Löhne gewerkschaftlich organisierter Arbeitskräfte. Zugleich aber verlangten viele der neuen Jobs, die natürlich auch geschaffen wurden, ein vergleichsweise hohes Schul- und Berufsausbildungsniveau. Die zunehmende Verbreitung von Computern am Arbeitsplatz stellte hohe Anforderungen an die Leseund Schreibfertigkeiten und an die analytischen Fähigkeiten. Insgesamt haben diese Trends zu einem Anstieg der Einkommens2 Erinnern Sie sich an die Diskussion der zunehmenden Lohngefälle in Kapitel 13.
560
Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
ungleichheit in den Vereinigten Staaten und in den meisten einkommensstarken Ländern geführt. Wir können auf mindestens einen Faktor verweisen, der nicht zu größerer Ungleichheit führte: Der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen ging nicht zurück. Der Teil des Gesamteinkommens, der 1999 von Löhnen, Gehältern und Zusatzleistungen bestritten wurde, lag praktisch gleich hoch wie 25 Jahre davor. In dieser Frage ist wenigstens Entwarnung angezeigt. Hiermit beschließen wir unsere Beschreibung der Quellen der Ungleichheit und ihrer Messung. Im nächsten Abschnitt wenden wir uns einer Analyse staatlicher Programme zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit zu. Wohlhabende Demokratien in allen Teilen der Welt überdenken heute diese Programme im Zuge einer Neudefinition der Rolle des Staates.
B. Wirtschaftspolitische Maßnahmen gegen die Armut Alle Gesellschaften ergreifen Maßnahmen zur Versorgung ihrer Armen. Doch was man den Armen gibt, muss man anderen Gruppen nehmen, und das ist zweifellos der Punkt, der den heftigsten Widerstand gegen Umverteilungsprogramme auslöst. Ökonomen zeigen sich überdies wegen der Wirkung der Umverteilung auf Effizienz und Moral besorgt. Die Bedeutung dieser Themen hat durch den steigenden Widerstand gegen Steuererhöhungen noch zugenommen. In diesem Abschnitt wollen wir uns mit dem Aufstieg des Wohlfahrtsstaates befassen und ergründen, welche Kosten im Zusammenhang mit der Einkommensumverteilung entstehen und wie das gegenwärtige System der Einkommenssicherung in den USA beschaffen ist.
Teil 4
Der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates Die frühen Klassiker unter den Ökonomen vertraten die Ansicht, die bestehende Einkommensverteilung sei einfach unabänderlich. Sie argumentierten, dass Versuche des Staates, die Armut mithilfe von Eingriffen in die Wirtschaft zu lindern, nur untaugliche Bemühungen darstellten, als deren einzige Auswirkung ein Rückgang des Volkseinkommens zu erwarten sei. Dieser Ansicht widersprach der englische Ökonom und Philosoph John Stuart Mill. Während er vor Eingriffen in die Marktmechanismen warnte, argumentierte er eloquent, dass die Ungleichheit durch staatliche Maßnahmen abgebaut werden könne. Ein halbes Jahrhundert später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, unternahmen jedoch führende Politiker Westeuropas Schritte, die einen historischen Wendepunkt in der wirtschaftlichen Rolle des Staates darstellen sollten. Bismarck in Deutschland, Gladstone und Disraeli in Großbritannien, gefolgt von Franklin Roosevelt in den USA, führten ein neues politisches Prinzip ein: die Verantwortung des Staates für das Wohlergehen des Volkes. Damit begann der Aufstieg des Wohlfahrtsstaates, der die Marktkräfte so kontrolliert, dass der Einzelne gegen konkrete Unwägbarkeiten geschützt ist und ein Mindestlebensstandard für alle gesichert wird. Zu den bedeutendsten Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates gehören staatliche Pensionen, Unfall- und Krankenversicherungen, Arbeitslosenversicherung, Familienbeihilfen und Einkommenszuschüsse für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Solche Maßnahmen wurden ab 1880 schrittweise eingeführt; auch heute kommt es bisweilen noch zur Neueinführung entsprechender Programme. Der Wohlfahrtsstaat erreichte die USA spät. Er wurde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem New Deal eingeführt, der Arbeitslosen- und Sozialversicherung brachte. Medizinische Betreuung für die Alten und die Armen kam in
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
den sechziger Jahren hinzu. Die meisten einkommensstarken Länder bieten ihren Bürgern einen allgemeinen Gesundheitsschutz, doch der amerikanische Kongress beschloss 1994 nach einer hitzigen Debatte, keine allgemeinen Gesundheitsleistungen einzuführen. 1996 drehte die Bundesregierung die Uhr zurück, indem sie die garantierte Höhe der Mindesteinkommen aufhob. Die Diskussion über die Umverteilung endet nie.
Die Kosten der Umverteilung Eines der Ziele einer modernen Mischwirtschaft besteht darin, ein Sicherheitsnetz für jene bereitzustellen, die vorübergehend oder auf Dauer nicht in der Lage sind, sich selbst adäquate Einkommen zu verschaffen. Die Politik versucht damit unter anderem, mehr Gleichheit herzustellen. Wie sind die verschiedenen Gleichheitskonzepte beschaffen? Zunächst betonen die demokratischen Gesellschaften das Prinzip der Gleichheit der politischen Rechte; hierzu gehören üblicherweise das Stimmrecht, das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren und das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. In den sechziger Jahren vertraten liberale Philosophen die Ansicht, die Menschen hätten auch ein Recht auf wirtschaftliche Chancengleichheit. Mit anderen Worten, alle Menschen sollten unter gleichen Voraussetzungen und nach denselben Regeln spielen. Alle sollten denselben Zugang zu den besten Schulen, zur besten Ausbildung und zu den besten Jobs erhalten. Die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Religion würde dann schon von allein verschwinden. Es wurden auch tatsächlich zahlreiche Maßnahmen getroffen, um die Chancengleichheit zu fördern, aber die Ungleichheit der Chancen erwies sich als ziemlich hartnäckig. Auch in den Vereinigten Staaten an der Schwelle zum neuen Jahrtausend ist das Ziel gleicher wirtschaftlicher
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Möglichkeiten noch bei weitem nicht erreicht. Eine dritte und besonders weit reichende Idealvorstellung bezieht sich auf das Ergebnis der Wirtschaftstätigkeit (wirtschaftliche Gleichstellung). Dieser Utopie zufolge sollten alle Menschen, Kluge und Dumme, Fleißige und Faule, vom Glück Begünstigte und Unglücksraben, dasselbe Konsumniveau erreichen. Die Löhne müssten dazu für alle, für Ärzte und Schwestern, Anwälte und Sekretärinnen, gleich sein. Ein Leitspruch der Philosophie von Karl Marx lautete: „Jeder gebe nach seinen Möglichkeiten und erhalte nach seinen Bedürfnissen.“ Heute gestehen sogar die radikalsten Sozialisten zu, dass gewisse Unterschiede in den wirtschaftlichen Ergebnissen erforderlich sind, wenn eine Wirtschaft effizient funktionieren soll. Wie ließe sich auch ohne Unterschiede in der Entlohnung für verschiedene Arbeiten sicherstellen, dass unangenehme ebenso wie angenehme Arbeiten verrichtet werden, dass sich für gefährliche Arbeiten auf Bohrinseln ebenso jemand findet wie für die friedliche, angenehme Tätigkeit des Parkwächters? Würden wir auf gleicher Entlohnung bestehen, käme es zweifellos zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Wirtschaft. Der löchrige Eimer Mit seinen Versuchen, eine Einkommensumverteilung von den Reichen hin zu den Armen vorzunehmen, kann der Staat unter Umständen der volkswirtschaftlichen Effizienz Schaden zufügen und das gesamte zur Verteilung verfügbare Volkseinkommen schmälern. Andererseits ist es die Gleichheit, wenn sie ein soziales Gut darstellt, sicher wert, dass wir für sie einen Preis bezahlen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet daher, wie viel wir in Form geringerer Effizienz für ein Mehr an Gleichheit zu bezahlen bereit sind. Arthur Okun hat sich mit dieser Frage in seinem Experiment des „löchrigen Eimers“ beschäftigt: Er stellt fest, dass wir, wenn wir auf Gleichheit
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Wert legen, damit einverstanden sein werden, dass ein Dollar aus dem Eimer der Reichsten genommen und den Ärmsten gegeben wird. Doch, so fährt er fort, nehmen wir einmal an, der Umverteilungseimer hätte ein Loch. Nehmen wir an, dass nur ein Teil – vielleicht die Hälfte – jedes von den Reichen bezahlten Dollars an Steuern die Armen auch tatsächlich erreicht. Dann erfolgt die Umverteilung im Namen der Gleichheit auf Kosten der volkswirtschaftlichen Effizienz.3 Okun zeigte mit seinem Experiment ein ganz fundamentales Dilemma der Wirtschaftspolitik auf. Umverteilungsmaßnahmen wie etwa eine progressive Einkommensbesteuerung, die wir in Kapitel 16 behandelt haben, verringern die reale Wirtschaftsleistung, weil sie die Spar- und Arbeitsanreize verringern. Bei der Wahl seiner Maßnahmen zur Einkommensumverteilung muss der Staat vernünftigerweise bestrebt sein, die Vorteile durch mehr Gleichheit gegen die Auswirkungen dieser Politik auf das gesamte Volkseinkommen abzuwägen.
Umverteilungskosten in Diagrammen Wir können Okuns Aussage anhand der Einkommens-Transformationskurve in Abbildung 19-5 darstellen. Dieses Diagramm zeigt uns die verfügbaren Einkommen der unterschiedlichen Gruppen, wenn der Staat Programme zur Einkommensumverteilung durchführt. 3 Wir unterteilen zunächst die Bevölkerung in zwei Hälften; das Realeinkommen der einkommensschwachen Gruppen wird anhand der senkrechten Achse von Abbildung 19-5 gemessen, während das Einkommen der oberen Hälfte auf der waagrechten Achse gemessen wird. In Punkt A, dem Punkt vor der Umverteilung, werden keine Steuern erhoben und keine Transferzahlungen geleistet, was bedeutet, dass die Menschen einfach von 3 Arthur M. Okun, Equality and Efficiency: The Big Tradeoff (Brookings Institution, Washington, D.C., 1975).
Teil 4
E Realeinkommen der ärmeren Hälfte
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Z
C 45°
B
A
45°
0 Realeinkommen der reicheren Hälfte
Abbildung 19-5: Die Einkommensverteilung kann zu lasten der wirtschaftlichen Effizienz gehen Punkt A markiert das effizienteste Ergebnis bei maximaler nationaler Produktionsleistung. Wäre die Umverteilung in einer Gesellschaft ohne Effizienzverluste möglich, so würde sich diese Gesellschaft hin zu Punkt E bewegen. Da Umverteilungsprogramme jedoch im Allgemeinen zu Verzerrungen und Effizienzverlusten führen, dürfte die Entwicklung der Umverteilung entlang der rostfarbenen Kurve ABZ verlaufen. Die Gesellschaft muss darüber entscheiden, wie viel Effizienz sie zugunsten einer größeren Gleichheit opfern möchte. Warum würde jedermann ineffiziente Umverteilungsprogramme ablehnen, die die Gesellschaft von Punkt B zu Punkt C bringen?
ihren Markteinkommen leben. In einer Wettbewerbswirtschaft bedeutet Punkt A Effizienz, und das Volkseinkommen wird insgesamt durch die Unterlassung von Umverteilungsmaßnahmen maximiert. Leider erhält die obere Einkommensgruppe im Laissez-faire-Punkt A wesentlich mehr Einkommen als die niedrigen Einkommensgruppen. In dieser Situation könnten die Gesellschaft mithilfe von Steuer- und Transferprogrammen eine größere Gleichheit anstreben und darauf hoffen, dass sie den Punkt der Einkommensgleichheit E erreicht. Wäre es möglich, diese Maßnahmen ohne Verringerung des Volkseinkommens zu treffen, könnte sich die Wirtschaft entlang der schwarzen Linie von A nach E bewegen. Der Anstieg der Linie AE beträgt –45˚, was auf die Effizienz bezogen bedeutet, dass der Umverteilungseimer keine Löcher hat – mit anderen Worten, dass jeder US-Dollar, der von der oberen Einkommensgruppe genommen
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
wird, dem Einkommen der unteren Gruppe mit genau US-$ 1 zugute kommt. Entlang der –45˚-Linie bleibt das Volkseinkommen konstant, was anzeigt, dass die Umverteilungsprogramme keine Auswirkungen auf das gesamte Volkseinkommen haben. Die meisten Umverteilungsprogramme beeinflussen die Effizienz. Wenn ein Land durch eine hohe Besteuerung seiner reichsten Bürger Einkommen umverteilt, kann dies deren Spar- und Arbeitsanstrengungen dämpfen oder in eine falsche Richtung lenken, was zu einer Verringerung des Volkseinkommens führt. Die Reichen geben vielleicht mehr Geld für den Steuerberater aus, sparen weniger für ihre Pension an oder investieren weniger Geld in ertragreiche, aber riskante Innovationen. Garantiert eine Gesellschaft eine Einkommensuntergrenze für ihre Armen, wird dadurch das Problem der Armut ein wenig gemildert, und die Armen wollen vielleicht nicht mehr so viel arbeiten. Alle diese Reaktionen auf Umverteilungsprogramme wirken sich auf die Gesamthöhe des realen Volkseinkommens negativ aus. In Okuns Experiment würden wir beispielsweise feststellen, dass sich durch jeweils US-$ 100, die die Reichen an Steuerleistung zu erbringen haben, das Einkommen der Armen nur um bescheidene US-$ 50 erhöht, während der Rest in sinkender Arbeitsmoral oder hohen Verwaltungskosten versickert. Der Umverteilungseimer hat ein großes Leck bekommen. Die Kosten der Umverteilung werden durch die ABZ-Kurve in Abbildung 19-5 dargestellt. Hier weicht die hypothetische Transformationskurve der Realeinkommen von der –45˚-Linie ab, weil Steuern und Transferzahlungen zu Ineffizienzen führen. Die Erfahrung der ehemals kommunistischen Länder zeigt, wie Versuche, die Einkommen durch Enteignung der Reichen gleichzuschalten, schließlich allen Schaden zufügen können. Indem sie Privateigentum an Produktionsmitteln untersagten, konnten die kommunistischen Regierungen zwar die durch große Vermögenseinkommen verursachten Ungleichheiten abschaffen. Doch die
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geringeren Anreize zur Arbeitsaufnahme, zur Kapitalakkumulation und zur Durchsetzung von Innovationen vereitelten dieses radikale Experiment unter der Devise „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ und ließen ganze Länder verarmt zurück. Um 1990 hatte der Vergleich von östlichem und westlichem Lebensstandard schließlich auch viele sozialistische Länder davon überzeugt, dass Privateigentum an Produktionsmitteln den Lebensstandard der Arbeiter ebenso wie jenen der Kapitalisten heben könnte.
Wie groß sind die Löcher im Eimer? Okun stellte unser Umverteilungssystem mit seinen Steuern und Transferleistungen als löchrigen Eimer dar. Doch wie groß sind denn die Löcher in der amerikanischen Wirtschaft? Befindet sich das Land näher an Punkt A, wo die Löcher vernachlässigbar klein sind? Oder näher an B, wo es schon gehörig tropft? Oder befindet es sich gar in der Nähe von Z, jenem Punkt, an dem der Umverteilungseimer vielmehr als Sieb bezeichnet werden müsste? Um die Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir die wesentlichen Ineffizienzen untersuchen, die durch hohe Steuersätze und großzügige Programme zur Einkommensstützung hervorgerufen werden: Verwaltungskosten, verringerte Anreize zu arbeiten und zu sparen sowie sozioökonomische Kosten. Der Staat muss Finanzbeamte zur Erhebung der Steuern einstellen, und er muss auch das Personal zur Verwaltung der Sozialausgaben einstellen. Dies führt ganz offensichtlich zu Ineffizienzen, die aber relativ geringfügig sind: So gibt die US-amerikanische Steuerbehörde nur einen halben Cent an Verwaltungskosten für jeden eingenommenen US-Dollar an Steuern aus. • Besteht nicht die Gefahr, dass die Steuerzahler mit jeder Drehung an der Steuerschraube weiter entmutigt werden und beschließen, doch nicht mehr ganz so hart zu arbeiten? Die Steuersätze könnten schließ-
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lich so hoch sein, dass der Gesamterlös niedriger ausfällt als bei moderateren Steuersätzen. Empirische Untersuchungen lassen diesbezüglich allerdings den Schluss zu, dass die Arbeitsmoral der Bürger durch die Steuerlast eher geringfügig beeinträchtigt wird. In einigen wenigen Gruppen kann die Arbeitsangebotskurve sogar rückläufig sein, was darauf hindeutet, dass eine Lohnsteuer die Arbeitsleistung hier eher anspornt als verringert. Den meisten Studien zufolge ist der Effekt der Steuern auf die Arbeitswilligkeit in den mittleren und höheren Einkommensgruppen gering. Das Steuer- und Transfersystem kann das Verhalten der Menschen jedoch erheblich beeinflussen. • Das womöglich potenziell größte Loch im Umverteilungseimer ist die Sparkomponente. Bisweilen hört man die Auffassung, die aktuellen staatlichen Maßnahmen würden sich negativ auf das Spar- und Investitionsverhalten auswirken. Einigen wirtschaftlichen Studien zufolge wird die allgemeine Sparquote durch die Besteuerung der Einkommen anstelle des Konsums eher gedämpft. Außerdem weisen Ökonomen darauf hin, dass die Sparquote in den Vereinigten Staaten aufgrund der großzügigen Sozialprogramme – vor allem aufgrund von Medicare und Sozialversicherung – stark gesunken ist. Solche Programme entlasten den Einzelnen nämlich von dem Druck, fürs Alter und für den Krankheitsfall selbst vorzusorgen. • Bisweilen wird behauptet, die Löcher im Eimer ließen sich nicht anhand der ökonomischen Kostenstatistik feststellen. Die wahren Kosten, die das Gleichheitsstreben verursachten, seien eher an Einstellungen als an Geldwerten abzulesen. Wird hier vielleicht die wirtschaftliche Ethik untergraben? Werden die Leute von der Aussicht auf hohe Steuern so sehr abgeschreckt, dass sie sich Drogen und Müßiggang zuwenden? Bringt das Wohlfahrtssystem eine bleibende Unterschicht her-
Teil 4
vor, eine Gesellschaft, die sich aus ihrer Kultur der Abhängigkeit nie wieder wird befreien können? • Bisweilen wird das gesamte Konzept der teuren Umverteilung mit folgenden Argumenten kritisiert: Armut wurzele in Unterernährung während der Kindheit, in zerrütteten Familien, Analphabetentum zuhause, schlechter Schul- und mangelnder Berufsausbildung; Armut bringe wieder Armut hervor; der Teufelskreis aus Mangelernährung, unzureichender Ausbildung, Drogenabhängigkeit, geringer Produktivität und niedrigen Einkommen führe zur Bildung immer neuen Generationen armer Familien. Die betreffenden Ökonomen behaupten, dass verbesserte Programme zur Bereitstellung medizinischer Versorgung und angemessener Ernährung für arme Familien die Produktivität und Effizienz erhöhten und keineswegs die Produktionsleistung beeinträchtigten. Indem wir heute den Teufelskreis der Armut durchbrächen, so heißt es, förderten wir das Humankapital und die Produktivität der Kinder der Armen für morgen. Staatliche Maßnahmen zur Durchbrechung des Teufelskreises der Armut seien Investitionen, die zwar heute Ressourcen verschlängen, aber die künftige Produktivität heben könnten.
Und alle Löcher zusammengenommen ...? Betrachtet man alle genannten Löcher in unserem Umverteilungseimer zusammengenommen – wie durchlässig ist der Eimer? Nach Okuns Ansicht sind die Löcher klein, und zwar vor allem dann, wenn die Gelder für die Umverteilungsprogramme aus der ohnehin breit angelegten Einkommensteuer stammen. Gegen diese Meinung erhebt sich mancherorts allerdings starker Widerstand, wobei auf die hohen Grenzsteuersätze und auf die allzu großzügigen Transferprogramme hingewiesen wird, die angeblich die
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
volkswirtschaftliche Effizienz unterlaufen und zerstören. Und wie sieht die Realität aus? Zwar wurden die Kosten der Umverteilung ausgiebig erforscht, doch die Wahrheit in dieser Angelegenheit scheint schwer greifbar zu sein. Eine vorsichtige Aussage könnte lauten, dass es durch Umverteilungsprogramme, wie es sie heute in den USA gibt, nur zu geringfügigen Verlusten an volkswirtschaftlicher Effizienz kommt. Für viele Menschen sind die Effizienzkosten der Umverteilung ein angemessener Preis für die Senkung der wirtschaftlichen und menschlichen Kosten der Armut gemessen an Mangelernährung, Gesundheitsmängeln, verlorenen beruflichen Fähigkeiten und menschlichem Elend. Doch Länder, deren Wohlfahrtsprogramme weit über diejenigen der USA hinausgehen, erleiden erhebliche Ineffizienzen. Egalitär ausgerichtete Länder wie Schweden und die Niederlande, die ihre Bürger von der Wiege bis zur Bahre umhegen, mussten feststellen, dass die Teilnahme am Arbeitsmarkt zurückging, die Arbeitslosigkeit zunahm und die Budgetdefizite anstiegen. Diese Länder haben Schritte ergriffen, um die Last des Wohlfahrtsstaats abzubauen. Staaten müssen ihre Politik sorgfältig konzipieren, um die Extreme inakzeptabler Ungleichheit auf der einen und großer Ineffizienz auf der anderen Seite zu vermeiden.
Wirtschaftspolitische Maßnahmen gegen die Armut: Programme und Kritikpunkte Alle Gesellschaften sorgen für ihre Alten, Jungen und Kranken. Manchmal kommt die Unterstützung von Familien oder religiösen Organisationen. Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben die Staaten die Quelle der Einkommensunterstützung für die Bedürftigen zunehmend in Richtung der Zentralregierungen verschoben. Doch wenn der Staat
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mehr Verantwortung für immer mehr Menschen übernehmen muss, steigt die Steuerlast immer stärker an. Heute müssen die meisten reichen Staaten immer wieder die Steuern erhöhen, um öffentliche Gesundheits- und Rentenprogramme sowie Einkommensunterstützungsprogramme für arme Familien zu finanzieren. Diese zunehmende Steuerlast hat vor allem in den Vereinigten Staaten zu einer starken Gegenreaktion geführt, die sich gegen „Wohlfahrtsprogramme“ richtet. Sehen wir uns die wichtigsten Programme zur Armutsbekämpfung und die aktuellen Reformen doch einmal genauer an.
Programme zur Einkommenssicherung Wie sind die wesentlichen Programme zur Einkommenssicherung heute beschaffen? Betrachten wir kurz einige der derzeit wichtigsten US-Sozialprogramme. Die meisten dieser Programme zielen auf die Alten, nicht auf die sozial Schwachen, wie aus Tabelle 19-5 ersichtlich ist. Die wichtigsten Programme sind die Sozialversicherung, ein beitragsfinanziertes staatliches Pensionsprogramm, und Medicare, ein subventioniertes Krankenversicherungsprogramm für die über 65-jährigen. Diese beiden Programme sind die größten Transferprogramme der Vereinigten Staaten und werden den Prognosen zufolge auch den kommenden Jahrzehnten für hohe Ausgaben sorgen. Programme, die speziell auf arme Haushalte zielen, sind ein Flickenteppich aus bundesstaatlichen, staatlichen und kommunalen Programmen. Einige davon bestehen in Barzahlungen, andere subventionieren bestimmte Ausgaben (wie die Lebensmittelmarkenprogramme, bei denen arme Familien Kupons erhalten, mit denen sie Lebensmittel zu einem Bruchteil ihrer Marktkosten kaufen können), und wieder andere sind „Sachtransferleistungen“ wie Medicaid, ein Programm, das armen Familien medizinische Betreuung bietet. Die meisten der Programme für arme
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Teil 4
Bundessozialprogramme, 2003 Programm
Betrag (Mrd. US-$)
Prozentsatz der gesamten Bundesausgaben
Allgemeine Programme
779
36,4
Sozialversicherung
478
22,4
Medicare
245
11,4
56
2,6
456
21,3
Medicaid
196
9,2
Sonstige einkommenssichernde Programme
147
6,9
Essen und Ernährung
43
2,0
Wohnbeihilfen
34
1,6
Steuergutschriften auf Einkommen
36
1,7
Alle einkommenssichernden Programme
1.235*
57,7
Arbeitslosenversicherung Programme für einkommensschwache Haushalte
* Beinhaltet sowohl Ausgaben als auch niedrige Steuererträge
Tabelle 19-5: Der Großteil der Geldbeträge für einkommenssichernde staatliche Maßnahmen fließt in allgemeine Programme wie Sozialversicherung Staatliche einkommenssichernde Maßnahmen kommen zum Großteil der Gesamtbevölkerung zugute, nicht nur den Armen. Beachten Sie bitte auch die hohen Kosten der Gesundheitsprogramme sowohl für Arme als auch für nicht Arme. Quelle: Budget of the United States Government, 2004
Familien wurden in den letzten beiden Jahrzehnten stark gekürzt. Das umstrittenste Programm sah die finanzielle Unterstützung armer Eltern mit Kleinkindern vor. Dieses Programm wurde 1996 drastisch zusammengestrichen. Wir werden uns diese Reform weiter unten näher ansehen. Wie viel machen eigentlich all die vom Bund finanzierten Sozialprogramme im amerikanischen Bundesbudget aus? Tabelle 19-5 zeigt die Höhe der Bundesausgaben für einkommenssichernde Programme sowohl für die Gesamtbevölkerung als auch für mittellose Haushalte. Die Gesamtausgaben für alle auf die Armutsbekämpfung gerichteten USProgramme belaufen sich heute auf insgesamt 21 Prozent des Bundesbudgets.
Das Problem der wirtschaftlichen Anreize für die Armen Eines der Hauptprobleme für mittellose Familien besteht darin, dass die meisten Wohlfahrtsprogramme die Anreize zur Arbeitsaufnahme für Erwachsene mit niedrigem Einkommen stark verringern. Wenn ein Erwachsener, der von der Fürsorge lebt, plötzlich einen Arbeitsplatz findet, kürzt ihm der Staat umgehend seine Lebensmittelmarken, die Sozialhilfe und die Mietzuschüsse. Möglicherweise verliert er sogar seine Krankenversicherung. Mit anderen Worten, mittellose Bürger müssen mit hohen „Grenzsteuersätzen“ (oder richtiger: „Sozialkürzungssätzen“) rechnen, weil alle Sozialleistungen schon bei geringem Erwerbseinkommen drastisch eingeschränkt werden.
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
Der Kampf um die Reform des Wohlfahrtssystems Das traditionelle Wohlfahrtssystem hat in den USA nur wenige Befürworter. Einige wollen es abbauen, andere stärken. Einige wollen die Verantwortung für Einkommensbeihilfen an die Einzelstaaten, Kommunen oder Familien delegieren, wieder andere wollen die Rolle des Staates stärken. Diese unterschiedlichen Ansätze spiegeln divergierende Ansichten über Armut wider und führen zu völlig unterschiedlichen politischen Vorschlägen.
Zwei gegensätzliche Ansichten über die Armut Sozialwissenschaftler haben in der Vergangenheit zahlreiche Vorschläge unterbreitet, wie Armut zu bekämpfen oder wenigstens zu lindern sei. In ihren Ansätzen spiegeln sich häufig unterschiedliche Meinungen darüber wider, wie Armut entsteht. Verfechter einer umfassenden staatlichen Unterstützung betrachten Armut als das Ergebnis sozialer und wirtschaftlicher Bedingungen, auf die der Einzelne nur wenig Einfluss hat. Sie nennen Mangelernährung, schlechte Schulen, zerrüttete Familien, Diskriminierung, Arbeitsplatzmangel und negative Umwelteinflüsse als die bestimmenden Faktoren für das Schicksal der Armen. Sollten Sie dieser Meinung zuneigen, so vertreten Sie wahrscheinlich auch die Ansicht, dass der Staat für die Linderung der Not verantwortlich ist – entweder indem er den Armen ein Einkommen verschafft oder indem er die Bedingungen beseitigt, die zur Armut führen. Nach einer anderen Meinung hingegen entsteht Armut aus schlecht angepasstem individuellem Verhalten – einem Verhalten, das im Verantwortungsbereich des Einzelnen liegt und nur von den Armen selbst behoben werden kann. In früheren Jahrhunderten vertraten Apologeten einer Laissez-faire-Politik die Ansicht, Arme seien energielose, faule
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Menschen oder Alkoholiker; so schrieb etwa ein Sozialarbeiter vor beinahe einem Jahrhundert: „Arbeitslosigkeit ... wird in der Hälfte der Fälle durch Alkoholismus [hervorgerufen].“ Bisweilen wird der Staat selbst beschuldigt, er mache die Leute von einer Fülle staatlicher Programme abhängig, die die Initiative des Einzelnen im Keim erstickten. Kritiker des Systems, die diese Meinung vertreten, sprechen sich für eine Kürzung der staatlichen Sozialprogramme aus, damit die Bürger vermehrt auf ihre eigenen Möglichkeiten zurückgreifen. Diese Armutsdebatte hat der bekannte Sozialwissenschaftler William Wilson kurz und bündig so zusammengefasst: Die Liberalen [in den USA] weisen traditionell darauf hin, dass die Bürden benachteiligter Gruppen auf gesamtgesellschaftliche Probleme zurückgeführt werden können, zum Beispiel auf die Probleme der Diskriminierung und der Rangordnung der sozialen Klassen. … Die Konservativen betonen im Gegenzug stets die Bedeutung der Werte der verschiedenen Gruppen und der Wettbewerbsressourcen für die Erklärung von Benachteiligung.4
Ein Großteil der heutigen Armutsdebatte wird verständlicher, wenn wir diese gegensätzlichen Ansichten und ihre Implikationen in die politische Gleichung einsetzen.
Einkommensergänzungsprogramme in den USA heute Die meisten Länder mit hohem Einkommen gewähren armen Familien mit Kindern Einkommensunterstützung. Dieses Modell galt bis 1996 auch in den USA. Damals setzte sich im Land jedoch ein vollkommen anderer Ansatz zur Erhöhung der Einkommen der Armen durch. Zum einen wurde ein Programm ausgebaut, das die Gehälter arbeitender Familien durch Lohnzuschüsse erhöhte. Zum anderen wurden grundlegende Ände4 William Julius Wilson, „Cycles of Deprivation and the Underclass Debate“, Social Service Review, Dezember 1985, S. 541–559.
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rungen finanzieller Transferleistungen beschlossen, die dem Rechtsanspruch armer Familien gegen den Staat einen Riegel vorschoben.
Steuergutschriften auf Erwerbseinkommen (Earned-Income Tax Credit) Das Lohnzuschussprogramm trägt den Namen Earned-income tax credit oder EITC. Diese Gutschrift gilt für Erwerbseinkommen und stellt letztlich einen Lohnzuschuss dar. Im Jahre 2002 konnte eine Familie ihr Erwerbseinkommen im Rahmen dieses Programms um bis zu 40 Prozent steigern (jedoch maximal um US-$ 4.140); arbeitende Familien erhielten Steuergutschriften für Einkommen bis zu einer Höhe von rund US$ 34.000. Dieser Zuschuss wird als „rückzahlbare“ Gutschrift bezeichnet, weil er tatsächlich an einen Steuerzahler ausbezahlt wird, der keine Steuer schuldet (man bezeichnet dies auch als Negativsteuer). Tabelle 19-6 zeigt die Auswirkungen der Steuergutschrift auf die Erwerbseinkommen
Teil 4
von Familien mit unterschiedlicher Einkommenshöhe. Worin besteht der Unterschied zwischen einem traditionellen finanziellen Unterstützungsprogramm und der Steuergutschrift auf Erwerbseinkommen? Finanzielle Unterstützungsleistungen bieten armen Familien ein Mindesteinkommen. Je höher das Markteinkommen, desto geringer die Leistungen. Die Steuergutschrift auf Erwerbseinkommen bietet nicht arbeitenden Personen hingegen nichts, erhöht jedoch die Einkommen jener, die einer Arbeit nachgehen. Die Philosophie des EITC lautet im Wesentlichen: „Wer nicht arbeitet, bekommt auch kein Geld vom Staat.“
Die Wohlfahrtsreform 1996 in den USA Ab den dreißiger Jahren kamen arme Familien auch in den Genuss eines staatlichen finanziellen Unterstützungsprogramms namens „Aid to Families with Dependent Children“. Dabei handelte es sich um ein gesamtstaatliches Programm, dessen Leis-
Derzeitige Struktur der Steuergutschrift auf Erwerbseinkommen, 2002 Markteinkünfte (US-$)
Positive bzw. negative Steuer (+ bei Steuer; – bei Leistungsbezug) (US-$)
Einkommen nach Steuern und Gutschrift (US-$)
0
0
0
4.000
–1.610
5.610
8.000
–3.210
11.210
12.000
–4.140
16.140
24.000
–2.138
26.138
28.000
–1.296
29.296
32.000
–453
32.453
Tabelle 19-6: Steuergutschriften auf Erwerbseinkommen bewirken reale Lohnsteigerungen, kommen jedoch nicht den Ärmsten zugute Nach der derzeitigen Regelung des Earned-Income Tax Credit werden die Arbeitseinkommen durch eine Steuergutschrift um bis zu 40 Prozent, aber maximal um US-$ 4.140 erhöht, danach sinkt die Steuergutschrift stufenweise. Das entspricht einer „Negativsteuer“ für sehr niedrige Erwerbseinkommen. Quelle: US-Finanzministerium. Dieses Beispiel bezieht sich auf eine Familie mit zwei Elternteilen und zwei Kindern.
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tungen allen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllten, gesetzlich zustanden. Präsident Clinton hatte in seinem Wahlkampf versprochen, „das Wohlfahrtssystem, wie wir es kennen, zu reformieren.“ 1996 tat er sich mit dem republikanischen Kongress zusammen und veränderte die Spielregeln für finanzielle Unterstützung von Grund auf. Das alte Programm wurde durch ein Programm namens „Temporary Assistance for Needy Families“ (TANF) ersetzt, das den Rechtsanspruch auf staatliche Finanzunterstützung abschaffte und die Leistungen in die Hände der 50 Einzelstaaten legte. Das neue Programm hatte folgende Eckpfeiler: • Die Staaten erhielten zur Finanzierung des gesamtstaatlichen Teils der Finanzleistungen einen so genannten „Block Grant“, einen Fixbetrag aus Bundesmitteln. Dieser Block Grant trat an die Stelle des früheren Systems, bei dem die Bundesregierung 50 Prozent der einzelstaatlichen Ausgaben oder mehr übernahm. • Der Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Bund entfiel. • Jede Familie erhält insgesamt höchstens fünf Jahre lang Leistungen aus dem von der Bundesregierung unterstützten Programm. Nach fünf Jahren darf die Familie nicht mehr aus TANF-Mitteln unterstützt werden, auch dann nicht, wenn sie in einen anderen Staat zieht oder zwischenzeitlich einige Jahre nicht von der Wohlfahrt lebte. • Erwachsene Programmteilnehmer müssen nach zweijährigem Leistungsbezug eine Arbeit aufnehmen. • Legale Einwanderer können von TANFLeistungen ausgeschlossen werden. • Andere wichtige Programme zur Unterstützung niedriger Einkommen blieben weitgehend unverändert.
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Bewertung. Die Wohlfahrtsreform des Jahres 1996 war ein radikales Experiment der Sozialpolitik. Einer ihrer Aspekte sind die Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte. In dem Maß, in dem der Leistungsverlust die Menschen dazu zwingt, Arbeit zu suchen, erhöht sich durch das Programm das Angebot an relativ schlecht gebildeten und ausgebildeten Arbeitskräften und Hilfsarbeitern. Dieses erhöhte Angebot übt Druck auf die Gehälter der am schlechtesten bezahlten Arbeitskräfte aus und verstärkt die Ungleichheit der Einkommen. (Dieser Effekt ist etwa dem Effekt der starken Zunahme der Einwanderung vergleichbar, durch die die Löhne der Hilfsarbeiter in den letzten beiden Jahrzehnten sanken.) Falls die Gleichgewichtslöhne einiger Arbeiter unter den Mindestlohn gedrückt werden, kann dies auch zu einer Erhöhung der Arbeitslosenquote in diesen Gruppen führen. Ein wichtiges Merkmal des neuen Gesetzes ist die Rückübertragung der Verantwortung für finanzielle Hilfe an die Einzelstaaten. Diese Bestimmung steht in scharfem Kontrast zu der Philosophie, die hinter zentralen Programmen zur Einkommensunterstützung steht. Manche Ökonomen meinen, dass die Einzelstaaten einen starken Anreiz haben, die von der einkommensschwachen Bevölkerung verursachten Kosten und Steuerlasten zu senken, wenn sie Fixbeträge aus Bundesmitteln erhalten und ihnen die Verantwortung für die Entscheidungsfindung übertragen wird. Hier sprechen einige von einem „ruinösen Wettbewerb“, bei dem die Staaten danach streben, die Kosten ihrer Leistungen möglichst niedrig zu halten und einkommensschwache Haushalte in andere Staaten zu treiben. Betrachtet man die Entwicklung bis zum Jahr 2000, so stellt man fest, dass die Staaten die Leistungen für nicht arbeitende arme Familien tatsächlich gekürzt haben. Die Auswirkungen des erweiterten EITC und der Wohlfahrtsreform des Jahres 1996 haben die meisten Analysten überrascht. Hier die wichtigsten Folgen:
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• Der Rückgang der Zahl der Sozialhilfeanwärter war noch nie so stark, so umfassend und so dauerhaft (siehe Abbildung 19-6). Von 1995 bis 2001 ging die Zahl der Haushalte, die von der Sozialhilfe lebten, um mehr als 60 Prozent zurück. Auch wenn ein Rückgang erwartet worden war, waren sein Umfang und seine Beständigkeit doch überraschend. Selbst als die Beschäftigung nach dem Jahr 2000 zurückging, sank die Zahl der Sozialhilfeanwärter weiter. • Allein stehende Frauen mit kleinen Kindern strömten verstärkt auf den Arbeitsmarkt. Die Kombination wirtschaftlicher Anreize und eines starken Arbeitsmarktes erwies sich als erfolgreich in dem Bestreben, die Frauen von den Sozialhilfetöpfen wegzudrängen und ins Erwerbsleben einzugliedern. • Die prognostizierte Wirkung auf die wirtschaftliche Situation von Haushalten mit niedrigen Einkommen birgt einen Zwiespalt, da die höheren Erwerbseinkünfte
Teil 4
auch bei steigenden Beschäftigungszahlen durch die niedrigeren staatlichen Leistungen mehr als wettgemacht werden könnten. Im Jahr 2000 lösten die starke Wirtschaft und die Wohlfahrtsreform einen allgemeinen Rückgang der Armutsraten und einen Anstieg der Durchschnittseinkommen ehemaliger Sozialhilfeempfänger aus. Nur das unterste Quintil der Haushalte mit weiblichen Vorständen und insbesondere Neueinwanderern musste in den späten neunziger Jahren einen Einkommensrückgang hinnehmen. Die Erfolge der Kombination von EITC und der Wohlfahrtsreform in den späten neunziger Jahren sind im Kontext einer Wirtschaft mit sehr niedrigen Arbeitslosenraten und einer starken staatlichen Unterstützung von Beschäftigungsprogrammen zu sehen. Die nächste große Prüfung des Systems wird in der Analyse der Frage bestehen, ob sich dieser Erfolg auch im Zeitraum 2001–2004, der durch rückläufige Beschäftigungszahlen
Zahl der Haushalte mit AFDC/TANF-Unterstützung (in Mio.)
6
Haushalte mit Sozialhilfe
5
4
3
Wohlfahrtsreform 1996
2
1
0 1970
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 19-6: Sozialhilfefälle, 1970–2000 Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe folgt tendenziell dem Konjunkturzyklus. Seit der Ausweitung des EITC und der Wohlfahrtsreform des Jahres 1996 ist die Zahl der Sozialhilfeanwärter jedoch stark rückläufig. Quelle: Rebecca Blank, auf der Grundlage von Daten des U.S. Department of Health and Human Services.
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
und eine staatliche Budgetkrise gekennzeichnet war, fortgesetzt hat.
Wirtschaftspolitik an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Wie sollte die Rolle des Staates in der Wirtschaft heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, definiert werden? Hier drei abschließende Überlegungen: 1. Wir haben uns mit den wichtigsten wirtschaftlichen Funktionen des Staates bereits auseinander gesetzt. Der Staat kämpft gegen Marktversagen, sorgt für eine Umverteilung der Einkommen, stabilisiert die Wirtschaft und fördert das langfristige Wirtschaftswachstum. Jede dieser Aufgaben ist wichtig. Niemand würde heute ernsthaft vorschlagen, die Regierung abzuschaffen. Niemand würde vorschlagen, die unkontrollierte Lagerung von Atommüll zuzulassen, arme Waisen hungrig durch die Straßen irren zu lassen, die Zentralbank zu privatisieren oder die Grenzen für Menschen, Güter und Drogen aller Art weit zu öffnen. Die Frage ist nicht, ob der Staat die Wirtschaft regulieren sollte, sondern wie und wo er intervenieren sollte. 2. Während der Staat in einer zivilisierten Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, müssen wir die Aufgaben und Instrumente staatlicher Politik ständig neu bewerten. Regierungen haben ein Monopol an politischer Macht, was ihnen eine besondere Verantwortung auferlegt, effizient zu arbeiten. Jeder Dollar, der in nutzlose Programme gesteckt wird, könnte zur Förderung der Forschung oder zur Linderung
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des Hungers verwendet werden. Jede ineffiziente Steuer verringert die Konsummöglichkeiten der Menschen, gleich ob es um Essen, Bildung oder Wohnen geht. Die zentrale Prämisse der Wirtschaft lautet, dass Ressourcen knapp sind – das gilt für den Staat ebenso wie für den Privatsektor. 3. Während die Volkswirtschaftslehre die wichtigen strittigen Fragen der Politik analysieren kann, kann sie nicht das letzte Wort haben. Immerhin liegen all diesen politischen Diskussionen normative Annahmen und Bewertungen darüber zugrunde, was gut und gerecht ist. Der Volkswirt kann daher nichts weiter tun, als sich intensiv zu bemühen, die positive Wissenschaft fein säuberlich von normativen Urteilen zu unterscheiden, um nach Möglichkeit eine Trennlinie zwischen den ökonomischen Berechnungen des Kopfes und den menschlichen Gefühlen des Herzens zu ziehen. Die Trennung von beschreibender und vorschreibender Vorgehensweise bedeutet jedoch nicht, dass professionelle Ökonomen privat blutleere Roboter sind. Ökonomen hängen ebenso wie der Rest der Bevölkerung verschiedenen politischen Richtungen an. Konservativ-liberale Ökonomen treten vehement dafür ein, den Einfluss des Staates zu verringern und Programme zur Einkommensumverteilung einzustellen. Ökonomen, die staatliche Interventionen befürworten, setzen sich ebenso leidenschaftlich dafür ein, die Armut zu lindern oder die Arbeitslosigkeit mithilfe von makroökonomischen Maßnahmen zu bekämpfen. Die wissenschaftlich betriebene Volkswirtschaftslehre kann keine Aussage darüber treffen, welche Ansicht richtig und welche falsch ist. Sie kann uns nur mit den passenden Argumenten für den großen politischen Disput versorgen.
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
Teil 4
Zusammenfassung A. Die Ursachen der Ungleichheit 1.
2.
3.
4.
5.
Im vergangenen Jahrhundert glaubten die klassischen Ökonomen, die wirtschaftliche Ungleichheit sei eine allgemein gültige Konstante, die sich durch staatliche Politik in keiner Weise beeinflussen lasse. Diese Ansicht hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Die Armut konnte seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark zurückgedrängt werden, und die absoluten Einkommen derer, die auf der untersten Stufe der Einkommensskala stehen, sind stark angestiegen. Allerdings vollzieht sich seit etwa 1980 eine Trendumkehr, und die Ungleichheit ist wieder im Steigen begriffen. Die Lorenzkurve ist eine praktische Methode, um die Streuung oder Ungleichheit in der Einkommensverteilung zu messen. Sie zeigt, welcher Prozentsatz des Gesamteinkommens jeweils auf das ärmste Prozent, die ärmsten 10 Prozent, die ärmsten 95 Prozent und so weiter entfällt. Der Gini-Koeffizient ist ein quantitativer Maßstab der Ungleichheit. Armut ist im Wesentlichen ein relativer Begriff. In den USA wurde Armut zu Beginn der sechziger Jahre über die Angemessenheit der Einkommen definiert. Nach diesem Beurteilungsstandard war im letzten Jahrzehnt kaum ein Erfolg bei der Verringerung der Armut zu verzeichnen. Die Verteilung der amerikanischen Einkommen erscheint heute weniger ungleich als zu Beginn des Jahrhunderts oder als in weniger entwickelten Staaten der heutigen Zeit. Doch sie zeigt immer noch eine beträchtliche Ungleichheit, die in den letzten 25 Jahren sogar gestiegen ist. Vermögen sind noch sehr viel ungleichmäßiger verteilt als Erwerbseinkommen, wobei sich die USA in dieser Hinsicht nicht von anderen kapitalistischen Wirtschaftssystemen unterscheiden. Um die Ungleichheiten in der Einkommensverteilung zu erklären, empfiehlt es sich, Erwerbsund Vermögenseinkommen getrennt zu betrachten. Unterschiede in den Erwerbseinkommen ergeben sich aus unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen, unterschiedlicher Arbeitsintensität (Arbeitszeit und Anstrengung) sowie aus der Tatsache, dass unterschiedliche Berufe verschieden gut bezahlt werden, was wiederum unter anderem auf Unterschiede im Humankapital zurückzuführen ist.
6.
Die Verteilung der Besitzeinkommen weist noch krassere Ungleichheiten auf als jene der Erwerbseinkommen, vor allem wegen der großen Unterschiede im Vermögensbesitz. Ein ererbtes Vermögen verhilft den Kindern der Reichen von Anfang an zu einem Startvorteil; und nur ein kleiner Teil des Vermögens der Amerikaner ist auf Ersparnisse aus Erwerbseinkommen zurückzuführen.
B. Wirtschaftspolitische Maßnahmen gegen die Armut 7.
8.
9.
Politische Philosophen kennen drei Arten von Gleichheit: (a) Gleichheit der politischen Rechte wie zum Beispiel des Stimmrechts; (b) Chancengleichheit, die für gleichen Zugang zu Arbeitsplätzen, Bildung und anderen sozialen Systemen sorgt und (c) Einkommensgleichheit, die den Menschen gleiche Einkommen oder Konsummöglichkeiten garantiert. Während die beiden ersten Arten von Gleichheit in den meisten fortgeschrittenen Demokratien wie den Vereinigten Staaten zunehmend akzeptiert werden, wird die Ergebnisgleichheit allgemein als wirklichkeitsfremd und zu schädlich für die wirtschaftliche Effizienz zurückgewiesen. Gleichheit bringt Kosten und Nutzen mit sich. Die Kosten sind bildlich als das darzustellen, was aus Okuns „löchrigem Eimer“ herausrinnt. Das bedeutet, dass sich Versuche, Einkommensdisparitäten mithilfe einer progressiven Besteuerung oder durch Transferzahlungen auszugleichen, auf die wirtschaftlichen Arbeits- und Sparanreize schädlich auswirken und das BIP verringern können. Als mögliche Löcher wären hier etwa Verwaltungskosten und geringere Arbeitszeit oder eine niedrigere Sparquote zu nennen. Zu den wichtigsten staatlichen Programmen gegen die Armut gehören in den USA direkte Transferzahlungen, Lebensmittelgutscheine, Medicaid und eine Reihe kleinerer und weniger zielgerichteter Programme. Diese Programme werden insgesamt kritisiert, weil sie Familien mit niedrigen Einkommen hohe Sozialkürzungssätze (oder einen hohe „Grenzsteuersatz“) auferlegen, sobald diese Familien ein Arbeitseinkommen oder andere Einkommen erzielen.
Kapitel 19 Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt
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Begriffe zur Wiederholung Trends in der Einkommensverteilung Die Lorenzkurve von Einkommen und Vermögen Gini-Koeffizient Erwerbs- und Vermögenseinkommen Die relative Rolle von Glück, Ersparnis, Risikobereitschaft, Erbschaft Lohnvorteile von Akademikern gegenüber Nichtakademikern Armut Wohlfahrtsstaat Okuns „löchriger Eimer“ Gleichheit: Politische Gleichheit, Chancengleichheit, Ergebnisgleichheit Gleichheit im Gegensatz zu Effizienz Programme zur Einkommensunterstützung Einkommens-Transformationskurve: Ideal und Wirklichkeit
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Ein wichtiges Buch über den Konflikt zwischen Gleichheit und Effizienz ist Arthur Okun, Equality and Efficiency: The Big Tradeoff (Brookings Institution, Washington, D.C., 1975). Einen allgemein verständlichen Überblick über Fragen der Gesundheitsreform bietet das Symposium im Journal of Economic Perspectives, Sommer 1994. Deutschsprachige Literatur: Erika Claupein, Vermögen und Vermögensbildungsprozesse der privaten Haushalte (Duncker & Humblot, Berlin, 1990).
Websites Das Census Department veröffentlicht Daten über die Armut in den Vereinigten Staaten unter www.census.gov/hhes/www/poverty.html. Informationen über Wohlfahrt und Armut in den USA sind unter www.financeproject.org/irc/win.asp erhältlich. Auf der Site www.doleta.gov werden die Ergebnisse der Wohlfahrtsreform aus der Sicht einzelner Personen beschrieben. Informationen zur Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland bietet die Studie Lebenslagen in Deutschland – Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Das Urban Institute (www.urban.org) und das Joint Center for Poverty Research (www.jcpr.org) sind Organisationen, die Trends in den Bereichen Armut und Einkommensverteilung analysieren.
Übungen 1.
Bitten Sie alle Kursteilnehmer, auf einer Karte anonym das geschätzte Jahreseinkommen ihrer Familie anzugeben. Erstellen Sie anhand dieser Angaben eine Häufigkeitstabelle, aus der die Einkommensverteilung ersichtlich ist. Wie hoch ist das mittlere Einkommen? Das Durchschnittseinkommen?
2.
Welche Auswirkungen hätten folgende Maßnahmen auf die Lorenzkurve der Einkommen nach Steuern? (Nehmen wir an, dass die Steuereinnahmen des Staates in einen repräsentativen Anteil des BIP fließen.)
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Angewandte Mikroökonomie: Internationaler Handel, Staat und Umwelt
a.
3.
4.
5.
Eine proportionale Einkommenssteuer (d.h. eine Steuer, die alle Einkommen mit demselben Steuersatz belegt). b. Eine progressive Einkommenssteuer (d.h. eine Steuer, die hohe Einkommen stärker besteuert als niedrige). c. Eine starke Anhebung der Steuern auf Zigaretten und Lebensmittel. Zeichnen Sie vier Lorenzkurven, aus denen die ursprüngliche Einkommensverteilung und die Einkommensverteilung nach jeder der Maßnahmen a bis c ersichtlich ist. Sehen Sie sich Okuns Experiment des „löchrigen Eimers“ nochmals an. Stellen Sie eine Gruppe zusammen und lassen Sie jedes Gruppenmitglied auf einem Stück Papier angeben, bis zu welcher Größe ein Leck toleriert werden sollte, wenn der Staat US-$ 100 vom obersten Einkommensquintil zum untersten transferiert. 99 Prozent? Oder 50 Prozent? Oder null? Jeder Teilnehmer sollte die von ihm angegebene Höchstzahl kurz begründen. Stellen Sie die Ergebnisse in einer Tabelle dar und besprechen Sie dann die Unterschiede. Betrachten Sie zwei verschiedene Wege zur Hebung des Einkommens der Armen: (a) finanzielle Unterstützungen (z.B. US-$ 500 monatlich) und (b) Sachleistungen wie Lebensmittelsubventionen oder medizinische Dienstleistungen. Erläutern Sie das Für und Wider jeder dieser Strategien. Können Sie erklären, warum sich die USA hauptsächlich auf Strategie (b) stützen? Können Sie dem zustimmen? In einem Land, nennen wir es Ökonoland, leben zehn Menschen. Ihre Einkommen (in Tausend) betragen US-$ 3, US-$ 6, US-$ 2, US$ 8, US-$ 4, US-$ 9, US-$ 1, US-$ 5, US-$ 7 und
6.
Teil 4
US-$ 5. Erstellen Sie eine Einkommenstabelle und nehmen Sie eine Einteilung in Einkommensfünftel oder Quintile vor wie in Tabelle 192. Zeichnen Sie die zugehörige Lorenzkurve. Berechnen Sie den Gini-Koeffizienten, wie er in Abschnitt A definiert ist. In der Öffentlichkeit wird laufend darüber gestritten, in welcher Form die armen Gruppen der Gesellschaft unterstützt werden sollten. Eine Schule sagt: „Gebt den Leuten Geld und lasst sie medizinische Leistungen und Nahrungsmittel nach ihrem Bedarf einkaufen.“ Die andere Schule sagt: „Wenn man den Armen Geld gibt, geben sie es vielleicht für Bier und Drogen aus. Unterernährung und Krankheiten bekämpft man wirkungsvoller, wenn man Sachleistungen anbietet. Geld, das man selbst verdient, kann man auch nach eigenem Ermessen ausgeben, aber Geld, das die Gesellschaft zuschießt, sollte zweckgebunden sein.“ Das Argument der ersten Schule könnte von der Nachfragetheorie beeinflusst sein: Soll doch jeder Haushalt selbst bestimmen, wie er seinen Nutzen mit einem begrenzten Budget maximiert. Kapitel 5 zeigt, warum dieses Argument durchaus stichhaltig sein könnte. Doch was soll man machen, wenn der Nutzen der Eltern vor allem darin besteht, sich viel Bier und Lottoscheine zu kaufen, während ihnen Milch und Kleidung für ihre Kinder wenig Nutzen zu bringen scheinen? Würden Sie der zweiten Meinung zustimmen? Überlegen Sie, welche dieser beiden Ansichten Sie auf der Grundlage Ihrer persönlichen Erfahrung und Ihres Wissens eher vertreten würden. Begründen Sie Ihre Argumentation.
Teil 5
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
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KAPITEL 20 Makroökonomie im Überblick
Die Wirtschaft dient nur dem einzigen Zweck, Güter oder Dienstleistungen für den sofortigen oder den zukünftigen Konsum zu erzeugen. Ich glaube, dass die Beweislast immer diejenigen treffen sollte, die weniger anstatt mehr produzieren; jene, die Menschen, Maschinen oder Grund und Boden ungenutzt lassen, obwohl man sie einsetzen könnte. Es verblüfft mich immer wieder, wie viele Gründe sich finden lassen, um eine derartige Verschwendung zu rechtfertigen: Angst vor Inflation, Zahlungsbilanzdefizite, unausgeglichene Budgets, eine zu hohe Staatsverschuldung, Vertrauensverlust in den Dollar. James Tobin, Nationale Wirtschaftspolitik
Ist es leicht oder schwer, eine neue Stelle zu finden? Steigen die Reallöhne und der Lebensstandard rasch an, oder herrscht wirtschaftlicher Stillstand? Erhöht die Zentralbank die Zinsen, um die Inflation einzudämmen, oder macht sie Geld leicht verfügbar, um der Wirtschaft aus einer Rezession zu helfen? Welche Auswirkungen haben Globalisierung und Außenhandel auf Beschäftigung und Produktion im Inland? Solche Fragen stehen im Zentrum der Makroökonomie, mit der wir uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen werden. Makroökonomik ist die Lehre vom Verhalten der Wirtschaft als Ganzes. Sie untersucht die Kräfte, die auf viele Unternehmen, Konsumenten und Arbeitnehmer gleichzeitig einwirken. Im Gegensatz dazu steht die Mikroökonomik, die einzelne Preise, Mengen und Märkte betrachtet. Zwei zentrale Themen werden uns in den Kapiteln über Makroökonomik beschäftigen: (1) kurzfristige Schwankungen von Produktion, Beschäftigung und Preisen, ein Phänomen, das wir als Konjunkturzyklus bezeichnen, und (2) jene längerfristigen Trends in Produktion und Lebensstandard, die als Wirtschaftswachstum bekannt sind. Mit der Entwicklung der makroökonomischen Theorie gelang der Wirtschaftstheorie im 20. Jahrhundert ein wesentlicher Durchbruch, der zu einem besseren Verständnis dafür führte, wie man periodisch auftretende Wirtschaftskrisen bekämpfen und das langfristige Wirtschaftswachstum ankurbeln kann. Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre entwickelte John Maynard Keynes seine revolutionäre Theorie, mit der er jene Kräfte zu erklären half, die zu konjunkturellen Schwankungen führen. Er war es auch, der schließlich einen Ansatz fand, um die schlimmsten Auswüchse des Konjunkturzyklus unter Kontrolle zu bringen. Dank Keynes und seinen modernen Nachfolgern wissen wir heute, dass ein Staat mit der Wahl seiner Wirtschaftspolitik, also jener Maßnahmen, mit denen er auf die Geldmenge, die Steuern und die Staatsausga-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
ben einwirkt, das Wirtschaftswachstum ankurbeln oder drosseln, einer galoppierenden Inflation oder konjunkturbedingten Arbeitslosigkeit entgegenwirken oder auch Ungleichgewichten begegnen kann, die durch den Außenhandel oder internationale Finanztransaktion entstehen. Makroökonomische Themen bestimmten während eines Großteils des letzten Jahrhunderts Politik und Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Während der dreißiger Jahre, als dort wie fast überall in der entwickelten Welt Produktion, Beschäftigung und die Preise zusammenbrachen, rangen sowohl Ökonomen als auch politische Führer mit den Problemen der Großen Depression. Während des Vietnamkrieges in den sechziger und der verschiedenen Energiekrisen der siebziger Jahre war „Stagflation“, eine Kombination von langsamem Wirtschaftswachstum und steigenden Preisen, das beherrschende Thema, das alle Amerikaner bedrückte. Während der neunziger Jahre wuchs die Wirtschaft rasch, die Arbeitslosigkeit ging zurück und die Preise blieben stabil – in dieser Zeit schien alles zu funktionieren, weshalb sie mitunter auch als „großartiges Jahrzehnt“ bezeichnet wird. Anfang des 21. Jahrhunderts nahm die Herrlichkeit jedoch ein Ende, als die Wirtschaft vom rapiden Sinken der Börsenkurse, Terroranschlägen und dem Irakkrieg schwer getroffen wurde. Mitunter kann ein makroökonomisches Versagen einzelne Länder oder sogar Ideologien in schwere Krisen stürzen. Die kommunistischen Führer der ehemaligen Sowjetunion erklärten, sie würden den Westen wirtschaftlich überrunden. Die Geschichte hat inzwischen gezeigt, dass es sich dabei um leere Versprechungen handelte, denn Russland, eine Militärmacht mit enormen natürlichen Ressourcen, konnte zwar ausreichend Kanonen für sein Heer, aber nicht genug Butter für seine Bürger produzieren. Die vielen makroökonomischen Fehler führten schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion und des ganzen Ostblocks, was die Menschen überzeugte,
Teil 5
dass private Märkte der beste Weg sind, um ein rasches Wirtschaftswachstum zu fördern. Dieses Kapitel dient als Einführung in die Makroökonomie. Hier werden die wichtigsten Konzepte dargelegt und gezeigt, wie man sie zur Lösung wesentlicher politischer und wirtschaftlicher Fragen der letzten Jahre einsetzen kann. Diese Einleitung soll aber nicht mehr als einen Appetithappen darstellen. Erst wenn Sie sich durch alle Kapitel in den Teilen 5 und 6 dieses Buches durchgearbeitet haben, können Sie das reichhaltige makroökonomische Bankett genießen, das der Wirtschaftspolitik als Quelle der Inspiration dient und unter Makroökonomen nach wie vor kontrovers diskutiert wird.
A. Wesentliche Konzepte der Makroökonomie Die Entstehung der Makroökonomie Die Geburtsstunde der Makroökonomik liegt in den 1930er Jahren, als John Maynard Keynes versuchte, die volkswirtschaftlichen Mechanismen zu verstehen, die zur Großen Depression beziehungsweise zur Weltwirtschaftskrise geführt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärte der amerikanische Kongress in Reaktion sowohl auf den zunehmenden Einfluss der keynesianischen Ideen als auch aus Angst vor einer weiteren Depression förmlich, dass der Staat sehr wohl für die makroökonomische Wirtschaftsleistung verantwortlich sei. Er verabschiedete den bahnbrechenden Employment Act (Beschäftigungsgesetz) von 1946, in dem es heißt: „Der Kongress erklärt hiermit, dass es die fortwährende Politik und Verpflichtung der Bundesregierung ist, alle durchführbaren Maßnahmen entsprechend ihren jeweiligen
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Erfordernissen und Verpflichtungen zu ergreifen ... um eine maximale Beschäftigungsrate, Produktion und Kaufkraft zu fördern.“
Erstmals bekannte sich der Kongress damit zur Rolle des Staates als Förderer des Produktionswachstums und der Vollbeschäftigung sowie der Preisstabilität. Seit Verabschiedung des Employment Act im Jahre 1946 haben sich zwar die Prioritäten des Landes hinsichtlich der drei genannten Ziele verschoben, aber in den USA wie in allen anderen Marktwirtschaften bilden diese Ziele nach wie vor den Rahmen für die zentralen makroökonomischen Fragen: 1. Warum gehen bisweilen Produktion und Beschäftigung zurück, und wie kann man die Arbeitslosigkeit eindämmen? Alle Marktwirtschaften weisen Expansionsund Schrumpfungsmuster auf, die als Konjunkturzyklen bezeichnet werden. Den letzten größeren Konjunkturabschwung verzeichneten die Vereinigten Staaten im Jahr 2001, als die Warenproduktion und das Dienstleistungsangebot zurückgingen und Millionen Menschen ihre Stelle verloren. Während eines Großteils der Nachkriegszeit bestand ein wesentliches Ziel makroökonomischer Politik darin, die Geld- und Fiskalpolitik zu nutzen, um Konjunkturabschwünge und den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu dämpfen. Mitunter leiden Länder unter hoher und beständiger Arbeitslosigkeit, die bisweilen sogar zehn Jahre lang anhält. In den Vereinigten Staaten geschah dies während der Großen Depression, die 1929 begann. Während der folgenden Jahre stieg die Arbeitslosigkeit dermaßen an, dass schließlich fast ein Viertel der Arbeitskräfte keine Beschäftigung hatte; gleichzeitig sank die industrielle Produktion um die Hälfte. Während der neunziger Jahre erlebten verschiedene europäische Länder eine milde Form der Depression, die in manchen Ländern zu einer anhaltenden Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent führte.
579 Die Makroökonomik beschäftigt sich mit den Ursachen einer solchen hartnäckigen Arbeitslosigkeit. Ist die Diagnose einmal gestellt, kann die Makroökonomik auch mögliche Therapien vorschlagen, beispielsweise eine Erhöhung der Gesamtnachfrage oder eine Reform arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Das Wohl und Wehe von Millionen von Menschen hängt davon ab, ob die Makroökonomen die richtige Antwort auf derartige Fragen finden. 2. Worauf ist Inflation zurückzuführen, und wie lässt sie sich eindämmen? In einer Marktwirtschaft dienen die Preise als Maßstab zur Messung wirtschaftlicher Werte und sind für das Geschäftsleben unverzichtbar. In Zeiten rasch steigender Preise, eines Phänomens, das man als Inflation bezeichnet, verliert der Maßstab seine Bedeutung. Unter den Bedingungen hoher Inflation verlieren die Menschen das Gefühl für relative Preise und machen bei ihren Ausgaben- und Investitionsentscheidungen Fehler. Die Steuerbelastung kann steigen. Die Menschen verbringen viel Zeit damit, sich zu sorgen, die Inflation könnte ihr Einkommen mindern. Die Wirtschaftspolitik forciert seit langem und in zunehmendem Maße die Preisstabilität als wesentliches Ziel. In den Vereinigten Staaten sank die Inflationsrate von über zehn Prozent Ende der siebziger Jahre auf etwa drei Prozent während der neunziger Jahre und Anfang des 21. Jahrhunderts. Manchen Ländern ist es bis heute nicht gelungen, die Inflation einzudämmen. Ehemals sozialistische Länder wie Russland oder viele lateinamerikanische und Entwicklungsländer mussten während der letzten zwei Jahrzehnte mit Inflationsraten von 50, 100 oder gar 1.000 Prozent leben. Warum gelang es den Vereinigten Staaten, das Raubtier der Inflation zu bändigen, während dies Russland nicht gelungen ist? Die Makroökonomik kann sinnvolle Empfehlungen geben, wie Geld- und Fiskalpolitik, Wechselkurssysteme und ei-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
ne unabhängige Zentralbank zur Eindämmung der Inflation eingesetzt werden können. 3. Wie kann ein Land sein Wirtschaftswachstum ankurbeln? Die Makroökonomik beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Wirtschaftswachstum, worunter man das Wachstum des Produktionspotenzials einer Wirtschaft versteht. Das Produktionspotenzial einer Wirtschaft hat einen wesentlichen Einfluss auf den Anstieg der Reallöhne und des Lebensstandards. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte das schnelle Wirtschaftswachstum in asiatischen Ländern wie Japan, Südkorea und Taiwan zu einer dramatischen Verbesserung des Lebensstandards der Menschen in diesen Gebieten. Andere Länder dagegen, vor allem solche in Afrika südlich der Sahara, hatten während der letzten zwei Jahrzehnte eine pro Kopf der Bevölkerung sinkende Produktionsleistung und damit einen Rückgang des Lebensstandards zu verzeichnen. Staaten möchten natürlich unbedingt das Rezept für erfolgreiches Wachstum erfahren. Zu den wesentlichen Faktoren für schnelles Wirtschaftswachstum zählen die Vorherrschaft freier Märkte, eine hohe Spar- und Investitionsquote, niedrige Handelsschranken sowie eine ehrliche Regierung, die Eigentumsrechte respektiert. Jede Wirtschaft muss notwendigerweise zwischen diesen Zielen wählen. Eine langfristige Erhöhung des Produktionswachstums erfordert möglicherweise höhere Investitionen in Ausbildung und Kapital, aber eine Zunahme der Investitionen bedeutet gleichzeitig eine Reduzierung des Konsums von Lebensmitteln, Bekleidung und Freizeitvergnügen. Außerdem sind Politiker mitunter gezwungen, zur Erhaltung der Preisstabilität in die Wirtschaft einzugreifen, wenn diese insgesamt oder die Beschäftigung zu rasch wächst. Es gibt keine einfachen Formeln zur Lösung dieser Probleme, und die Makroökonomen vertreten häufig unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der angemessenen Maßnah-
Teil 5
men zur Bekämpfung einer hohen Inflation, zunehmender Arbeitslosigkeit oder niedrigen Wirtschaftswachstums. Doch vernünftige makroökonomische Maßnahmen können zur bestmöglichen Erreichung der wirtschaftlichen Ziele eines Landes beitragen. Der Schutzpatron der Makroökonomie Jede Diskussion über Makroökonomie muss mit John Maynard Keynes beginnen. Keynes (1883–1946) war ein vielseitiges Genie und leistete Hervorragendes in den Bereichen Mathematik, Philosophie und Literatur. Daneben fand er die Zeit, ein großes Versicherungsunternehmen zu führen, das britische Finanzministerium zu beraten, die Bank of England mit zu leiten, eine weltberühmte Wirtschaftszeitschrift herauszugeben, moderne Kunst und seltene Bücher zu sammeln, ein Theater zu gründen und eine berühmte russische Tänzerin zu heiraten. Als Anleger verstand er es, geschickt zu spekulieren, sowohl für seine eigene Kasse als auch für die des King’s College in Cambridge, wo er lehrte. Seine größte Leistung war jedoch die Erfindung einer neuen Methode, die Gesamtwirtschaft und gesamtwirtschaftliche Politik zu betrachten. Vor Keynes akzeptierten die meisten Ökonomen und Politiker das Auf und Ab von Konjunkturzyklen als ebenso naturgegeben wie Ebbe und Flut. Aufgrund dieser traditionellen Auffassung standen sie der Weltwirtschaftkrise in den dreißiger Jahren hilflos gegenüber. Mit seinem 1936 veröffentlichten Buch The General Theory of Employment, Interest, and Money (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) gelang Keynes eine enorme geistige Leistung. Kernpunkt sind zwei Thesen: Erstens erklärte Keynes, es sei durchaus möglich, dass in einer Marktwirtschaft hohe Arbeitslosigkeit und ungenutzte Kapazitäten auf Dauer nebeneinander bestünden. Zweitens behauptete er, Fiskal- und Geldpolitik könnten die Produktionsleistung beeinflussen, wodurch es möglich werde, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und den Wirtschaftsabschwung zu bremsen.
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Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Als Keynes seine Behauptungen erstmals aufstellte, hatten sie eine enorme Wirkung und führten zu lebhaften Diskussionen und Streitgesprächen. In der Nachkriegszeit dominierten die Keynesianer die Makroökonomie und Regierungspolitik. Während der sechziger Jahre gründete fast jede Untersuchung der Wirtschaftspolitik auf einer Keynesianischen Sicht der Welt. Seither haben neue Entwicklungen, die auch die Angebotsseite sowie Erwartungen berücksichtigen, und alternative Meinungen zur Lohn- und Preisdynamik die frühere Einigkeit über den Ansatz von Keynes untergraben. Nur wenige Ökonomen glauben heute noch, eine Regierung könne durch ihr Handeln Konjunkturzyklen verhindern, was die Wirtschaftstheorie von Keynes einst zu versprechen schien, aber sowohl die Wirtschaftswissenschaften als auch die Wirtschaftspolitik sind durch die Entdeckungen von Keynes grundlegend verändert worden.
Ziele und Instrumente der Makroökonomie Nachdem wir die wesentlichen Themen der Makroökonomik erwähnt haben, beschäftigen wir uns nun mit ihren wichtigsten Zielen und Instrumenten. Wie bewerten Ökonomen eigentlich die Gesamtleistung einer Volkswirtschaft? Welche Instrumente können Regierungen zur Erreichung ihrer Wirtschaftsziele einsetzen? Tabelle 20-1 enthält die wichtigsten Ziele und Instrumente makroökonomischer Politik.
Die Wirtschaftsleistung messen Die wichtigsten makroökonomischen Ziele sind eine rasche und beträchtliche Steigerung der Produktion, niedrige Arbeitslosigkeit und ein stabiles Preisniveau. In diesem Abschnitt werden wir grundlegende makroökonomische Begriffe definieren und ihre Bedeutung erörtern. Eine umfassende Betrachtung makroökonomischer Daten folgt erst im
Ziele Produktionsleistung: Hohes Niveau und schnelles Wachstum der Produktionsleistung Beschäftigung: Hohes Beschäftigungsniveau mit niedriger unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Stabilität des Preisniveaus Instrumente Geldpolitik: Kontrolle der verfügbaren Geldmenge, um die Zinssätze zu beeinflussen Fiskalpolitik: Staatsausgaben Steuern Tabelle 20-1: Ziele und Instrumente der Wirtschaftspolitik Im oberen Teil der Tabelle finden sich die wesentlichen Ziele makroökonomischer Politik. Die untere Hälfte führt die Instrumente oder politischen Maßnahmen auf, die in einer modernen Volkswirtschaft zur Verfügung stehen. Die Politik passt das Instrumentarium gelegentlich an, um Ausrichtung und Geschwindigkeit wirtschaftlicher Aktivitäten zu steuern.
nächsten Kapitel. Einige wesentliche Daten sind jedoch schon im Anhang zu diesem Kapitel zusammengestellt. Die Produktionsleistung. Ziel jeder wirtschaftlichen Tätigkeit ist letztlich die Bereitstellung jener Güter und Dienstleistungen, die die Bevölkerung verlangt. Was könnte für die Wirtschaft wichtiger sein, als die Bevölkerung mit genügend Wohnungen, Nahrungsmitteln, Ausbildungs- und Freizeitmöglichkeiten zu versorgen? Das umfassendste Maß für die Gesamtleistung einer Volkswirtschaft ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das BIP ist das Maß für den Marktwert aller Endprodukte und Dienstleistungen – Bier, Autos, Rockkonzerte, Eselsritte und so weiter –, die ein Land innerhalb eines Jahres produziert oder bereitstellt. Man kann das BIP auf zweierlei
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Weise messen. Das nominale BIP wird anhand der tatsächlichen Marktpreise gemessen. Das reale BIP lässt sich anhand konstanter oder nicht variabler Preise errechnen (dabei multiplizieren wir beispielsweise die Anzahl der produzierten Autos mit den Autopreisen des Jahres 2000). Kein anderes Maß für die Gesamtleistung wird so genau beobachtet wie das reale BIP; an diesem ständig beobachteten Pulsschlag wird die Gesundheit der Wirtschaft gemessen. Abbildung 20-1 zeigt die Entwicklung des realen BIP in den Vereinigten Staaten seit 1929. Beachten Sie den wirtschaftlichen Abschwung während der Großen Depression in den dreißiger Jahren, den enormen Aufschwung während des Zweiten Weltkriegs, die ausgeprägte Rezession der Jahre 1975 und 1982 sowie die Periode schnellen Wachstums
Teil 5
von 1982 – 2001, gefolgt von einer Phase langsamerer Zunahmen von 2001 – 2004. Trotz der kurzfristigen Schwankungen in den Konjunkturzyklen zeigen reife Wirtschaften im Allgemeinen ein beständiges langfristiges Wachstum des realen BIP und eine Verbesserung des Lebensstandards; dieser Prozess wird als Wirtschaftswachstum bezeichnet. Die amerikanische Wirtschaft hat sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert als kraftvoller Motor des wirtschaftlichen Fortschritts erwiesen, wie das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung zeigt. Das potenzielle BIP stellt das höchste nachhaltige Produktionsniveau dar, das eine Volkswirtschaft erreichen kann. Schöpft eine Wirtschaft ihr Produktionspotenzial aus, werden die Arbeitskräfte und der Kapitalstock weitestgehend genutzt. Wenn die tatsächliche
12.000 10.000
1.000
1930
1940
1950
1960
1970
Wohlstand durch „New Economy“
Inflationsbekämpfung
II. Weltkrieg
2.000
Ölpreisschocks
4.000
Vietnamkrieg
Nachkriegserholung
6.000
Weltwirtschaftskrise
Reales BIP (Mrd. US-$, Preise von 2000)
8.000
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 20-1: Reales Bruttoinlandsprodukt (USA), 1929–2003 Das reale Bruttoinlandsprodukt ist das umfassendste Maß für die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung. Beachten Sie, wie drastisch die Produktionsleistung während der Großen Depression in den dreißiger Jahren zurückging. Abgesehen von den Turbulenzen, die steigende Ölpreise während der Ölkrise in den siebziger Jahren auslösten, und der antiinflationären Politik der frühen achtziger Jahre ist die Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg stetiger gewachsen als zuvor. Quelle: U.S. Department of Commerce. Grau unterlegte Bereiche zeigen einen Wirtschaftsabschwung.
583
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Produktionsleistung über das Produktionspotenzial steigt, nimmt in der Regel die Inflation zu, während eine Produktionsleistung unterhalb des Produktionspotenzials zu Arbeitslosigkeit führt. Das Produktionspotenzial wird von der Produktionskapazität einer Volkswirtschaft bestimmt, die von den verfügbaren Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit, Land usw.) sowie der technischen Effizienz abhängt. Das potenzielle BIP wächst in der Regel stetig, denn die Faktoren Arbeit und Kapitel sowie das Ausmaß an Technologisierung ändern sich im Zeitablauf nur langsam. Im Gegensatz dazu hängt das tatsächliche BIP von den langfristigen Konjunkturzyklen ab, wenn sich das Ausgabenverhalten stark verändert. Während eines Wirtschaftsabschwungs sinkt das tatsächliche BIP unter sein Potenzi-
al, und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Im Jahre 1982 lag beispielsweise die Produktion der amerikanischen Wirtschaft um US-$ 400 Milliarden unter ihrem Potenzial. Pro Familie bedeutete das einen Verlust von US-$ 6.000 in einem einzigen Jahr. Eine Rezession ist eine Zeit, in der die gesamte Produktionsleistung sowie Einkommen und Beschäftigung deutlich zurückgehen; sie dauert in der Regel zwischen sechs Monaten und einem Jahr und ist durch ein deutliches Schrumpfen zahlreicher Wirtschaftsbereiche gekennzeichnet. Einen lang anhaltenden und stark ausgeprägten Abschwung bezeichnet man als Depression. In Zeiten starken Aufschwungs oder während eines Krieges kann die Produktionsleistung zeitweilig über ihrem Potenzial liegen, wenn die Wirtschaft am Rande ihrer Kapazität produziert, aber der hohe Auslastungs-
12.000
Reales BIP (Mrd. US-$, Preise von 2000)
10.000 8.000
5.000 4.000 3.000 Tatsächliches BIP 2.000
Potenzielles BIP 1.000 800 1930
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1960
1970 Jahr
1980
1990
2000
Abbildung 20-2: Tatsächliches und potenzielles BIP Konjunkturzyklen treten auf, wenn die tatsächliche Produktionsleistung von ihrem Potenzial abweicht. Die durchgezogene rostfarbene Linie zeigt die potenzielle Produktionsleistung von 1929–2003. Die potenzielle Produktionsleistung ist jährlich um etwa 3,4 Prozent gewachsen. Beachten Sie die große Lücke zwischen der tatsächlichen und der potenziellen Produktionsleistung, die sich während der Großen Depression in den dreißiger Jahren auftat. Quelle: U.S. Department of Commerce und Schätzungen des Autors. Beachten Sie, dass das tatsächliche BIP auf der Basis vorhandener Wirtschaftsdaten geschätzt wird, während die potenzielle Produktionsleistung ein analytisches Konzept ist; die Zahlen für die potenzielle Produktionsleistung sind vom tatsächlichen BIP und den Arbeitslosenzahlen abgeleitet.
584
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
grad führt zu einer zunehmenden Inflation, und beides wird meistens durch eine restriktive Geld- oder Fiskalpolitik eingedämmt. Abbildung 20-2 zeigt das geschätzte Potenzial und die tatsächliche Produktionsleistung für den Zeitraum von 1930 – 2003. Beachten Sie die enorme Lücke zwischen der tatsächlichen und der potenziellen Produktionsleistung während der Großen Depression in den dreißiger Jahren. Hoher Beschäftigungsstand, geringe Arbeitslosigkeit. Der gesamtwirtschaftliche Indikator, den die meisten Menschen direkt zu spüren bekommen, ist die Beschäftigung beziehungsweise Arbeitslosigkeit. Die Menschen wollen ohne lange Wartezeiten oder große Suche gut bezahlte Arbeitsplätze finden, sie wollen sichere Arbeitsplätze und gute Sozialleistungen. Makroökonomisch
Teil 5
ausgedrückt handelt es sich hierbei um das Ziel hoher Beschäftigungsstand, was man auch als geringe Arbeitslosigkeit bezeichnen kann. Abbildung 20-3 zeigt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den USA während der letzten sechs Jahrzehnte. Die Arbeitslosenquote auf der Y-Achse stellt den Prozentsatz der Arbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung dar. Zur Erwerbsbevölkerung gehören alle Personen, die eine Beschäftigung haben, sowie die Arbeitslosen, die eine Beschäftigung suchen. Nicht inbegriffen sind Arbeitslose, die keinen Arbeitplatz suchen. Die Arbeitslosenquote zeigt üblicherweise an, wo wir uns innerhalb eines Konjunkturzyklus befinden: Bei schwacher Wirtschaftsleistung sinkt die Nachfrage nach Arbeit, und die Arbeitslosenquote steigt. Während der Großen Depression der dreißiger Jahre wurde die Arbeitslosigkeit fast zur Epidemie, da fast ein
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Arbeitslosenquote (% der Erwerbstätigen)
25
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1990
2000
Jahr
Abbildung 20-3: Die Arbeitslosigkeit nimmt während einer Rezession zu und während eines Aufschwungs ab Die Arbeitslosenquote misst den Prozentsatz der Arbeitskräfte, die Arbeit suchen, aber keine finden. Während der dreißiger Jahre erreichte die Arbeitslosenquote erschreckende Werte von bis zu 25 Prozent im Jahre 1933. Die Arbeitslosigkeit steigt während eines Wirtschaftsabschwungs und sinkt während eines Aufschwungs. Bei den grau unterlegten Bereichen handelt es sich um Rezessionen. Quelle: U.S. Department of Labor.
585
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Viertel der Arbeitskräfte nicht beschäftigt wurde. Seit dem Zweiten Weltkrieg schwankt die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten, aber sie hat niemals wieder ein Niveau erreicht, das man mit einer Depression in Verbindung bringt, oder ist so tief gesunken, dass eine hohe Inflation zu befürchten war. Preisstabilität. Das dritte wirtschaftspolitische Ziel ist die Erhaltung der Preisstabilität. Dieser Ausdruck bedeutet, dass das Gesamtpreisniveau entweder stabil ist oder nur langsam steigt. Um die Preisentwicklung zu verfolgen, arbeiten Statistiker mit Preisindizes, Instrumenten zur Messung des Gesamtpreisniveaus. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist der Verbraucherpreisindex (VPI), der den Durchschnittspreis von Waren und Dienstleistungen misst,
die Konsumenten kaufen. Das gesamtwirtschaftliche Preisniveau wird häufig durch den Buchstaben P abgekürzt. Wirtschaftswissenschaftler messen die Preisstabilität anhand der Inflationsrate. Die Inflationsrate ist die prozentuale Änderung des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus von einem Jahr zum nächsten. Beispielsweise lag der Verbraucherpreisindex 2001 bei 177,1 und bei 179,9 im Jahre 2002 (wobei das Jahr 1983 = 100 gesetzt wurde). Wir berechnen daher die Inflationsrate für 2002 als Inflation 2002 = [P(2002) – P(2001)]/P(2001)] 100 % = [(179,9 – 177,1)] /177,1] 100 % = 1,6 %
25
15
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Große Depression
⫺10
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Neue Wirtschaft und erfolgreiche Geldpolitik
⫺5
⫺15 1930
Ölkrise
0 Aufhebung der Preiskontrollen nach dem 2. Weltkrieg
Inflationsrate (Verbraucherpreisindex, jährlicher Prozentsatz)
20
1990
2000
Jahr
Abbildung 20-4: Inflation der Verbraucherpreise, 1929–2003 Die Inflationsrate misst das Ausmaß von Preisveränderungen im Vergleich zum Vorjahr; hier ist die Inflationsrate des Verbraucherpreisindex (VPI) dargestellt. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Preise fast ständig gestiegen, insbesondere nach den Ölkrisen von 1973 und 1979. Seit 1984 ist die Inflationsrate in den Vereinigten Staaten niedrig. Quelle: U.S. Department of Labor. Die Zahlen zeigen die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahresmonat.
586
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Abbildung 20-4 zeigt die Inflationsrate des VPI für die Jahre 1930 bis 2003. Während dieses ganzen Zeitraums lag die durchschnittliche Inflation bei 3,3 Prozent jährlich. Beachten Sie, dass die Preisänderungen im Lauf der Jahre stark schwanken, zwischen minus 10 Prozent im Jahre 1932 und 14 Prozent im Jahr 1947. Von einer Deflation spricht man bei sinkenden Preisen (also bei negativer Inflationsrate). Das andere Extrem ist die Hyperinflation, ein Preisanstieg um 1.000 oder 1 Million Prozent jährlich. In solchen Situationen, wie etwa zu Zeiten der Weimarer Republik in Deutschland während der zwanziger Jahre, in Brasilien während der achtziger oder in Russland während der neunziger Jahre, haben die Preise praktisch keine Bedeutung mehr, und das gesamte Preissystem bricht zusammen. Die Preisstabilität ist deswegen so wichtig, weil ein gut funktionierendes marktwirtschaftliches System sich darauf verlassen können muss, dass die Preise genaue und deutliche Informationen über die relative Knappheit liefern. Die Geschichte hat gezeigt, dass eine hohe Inflation einer Wirtschaft viele Kosten – manche sichtbar, manche verborgen – aufbürdet. Ist die Inflation hoch, ändern sich die Steuern häufig, verlieren die Renten an Wert und gehen die Menschen ans Eingemachte, um nicht auf beständig an Wert verlierende Rubel oder Pesos angewiesen zu sein. Aber sinkende Preise oder eine Deflation kommen ein Land teuer zu stehen. Daher suchen die Länder die goldene Mitte mit stabilen oder nur langsam steigenden Preisen als bestes Mittel, um ein gut funktionierendes Preissystem zu erhalten. Zusammenfassend kann man sagen: Die Ziele der Wirtschaftspolitik sind: 1. Eine hohe und steigende volkswirtschaftliche Produktionsleistung 2. Hoher Beschäftigungsgrad mit geringer Arbeitslosigkeit 3. Ein stabiles oder leicht steigendes Preisniveau
Teil 5
Wirtschaftspolitische Instrumente Versetzen Sie sich einmal in die Lage des Chefvolkswirts, der eine Regierung berät. Die Arbeitslosigkeit steigt, das BIP sinkt. Vielleicht wächst auch die Produktivität nicht mehr so stark, und Sie möchten das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung erhöhen. Ihr Land leidet möglicherweise an einer Zahlungsbilanzkrise, das Handelsbilanzdefizit ist hoch, und ihre Währung steht unter Druck. Auf welche Instrumente kann man zurückgreifen, um die Inflation oder die Arbeitslosigkeit einzudämmen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln oder ein Handelsbilanzdefizit auszugleichen? Den Regierungen steht ein bestimmtes Instrumentarium zur Verfügung, mit dem sie auf die makroökonomischen Aktivitäten einwirken können. Ein wirtschaftspolitisches Instrument ist eine volkswirtschaftliche Variable, auf die der Staat Einfluss nehmen kann und die Auswirkungen auf eines oder mehrere der makroökonomische Ziele hat. Indem Regierungen ihre Geld-, Fiskal- oder sonstige Wirtschaftspolitik ändern, können sie die schlimmsten Schwankungen eines Konjunkturzyklus verhindern oder das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung erhöhen. Die wichtigsten Instrumente makroökonomischer Politik sind im unteren Teil von Tabelle 20-1 aufgeführt. Fiskalpolitik. Als Fiskalpolitik bezeichnet man den gezielten Einsatz von Steuern und Staatsausgaben. Staatsausgaben können zwei verschiedene Formen annehmen. Einerseits tätigt der Staat Einkäufe. Dazu gehören die Ausgaben für Güter und Dienstleistungen – der Einkauf von Panzern, der Straßenbau, die Gehälter der Richter und so weiter. Daneben leistet der Staat Transferzahlungen, die das Einkommen bestimmter Zielgruppen erhöhen, beispielsweise älterer Menschen oder Arbeitsloser. Die staatliche Ausgabenpolitik bestimmt die relative Größe des öffentlichen und des privaten Sektors; sie entscheidet also darüber, wie viel von unserem
587
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
BIP kollektiv und wie viel privat konsumiert wird. Aus makroökonomischer Sicht wirken sich die Staatsausgaben auch auf das allgemeine Ausgabenniveau der Wirtschaft aus und beeinflussen so die Höhe des BIP. Das zweite Instrument der Fiskalpolitik, die Besteuerung, wirkt sich in zweierlei Weise auf die Gesamtwirtschaft aus. Erstens schmälern Steuern das Einkommen der Menschen. Je nach Besteuerung ist das verfügbare Einkommen der Haushalte höher oder niedriger, daher beeinflussen Steuern die Ausgaben der Menschen für Waren und Dienstleistungen sowie die privaten Ersparnisse. Privater Konsum und private Ersparnisse haben kurz- und langfristig bedeutende Auswirkungen auf Investitionen und Produktion. Außerdem wirken sich die Steuern auf die Preise von Waren und Produktionsfaktoren aus, womit sie auch einen Einfluss auf wirtschaftliche Anreize und ökonomisches Verhalten ausüben. Beispielsweise gab es zwischen 1962 und 1986 in den Vereinigten Staaten einen Investitionssteuernachlass, sozusagen einen Rabatt für Unternehmen, die bereit waren, Kapitalgüter zu kaufen, um Investitionen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Zahlreiche Bestimmungen der Steuergesetze beeinflussen die Anreize zu arbeiten oder Geld zu sparen, also die Erwerbs- und Sparneigung, und wirken sich dadurch erheblich auf den Grad an wirtschaftlicher Aktivität aus. Geldpolitik. Das zweite bedeutende Instrument makroökonomischer Politik ist die Geldpolitik, die der Staat durch sein Management des Geldes, der Kreditvergabe und des Bankensystems betreibt. Sie wissen vielleicht bereits, dass die amerikanische Zentralbank, das Federal Reserve System, Einfluss auf die Geldmenge nimmt. Aber was genau versteht man unter der Geldmenge? Geld ist ein Sammelbegriff für Tausch- oder Zahlungsmittel. Heutzutage verwenden die Menschen Bargeld und Bankkonten, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Die Zentralbank reguliert die für die Wirtschaft verfügbare Geldmenge.
Wie kann etwas scheinbar so Unbedeutendes wie die Geldversorgung derart dramatische Auswirkungen auf makroökonomische Aktivitäten haben? Durch eine Änderung der verfügbaren Geldmenge wirkt die Zentralbank auf zahlreiche finanztechnische und volkswirtschaftliche Variablen ein, beispielsweise auf Zinssätze, Aktienkurse, Wohnungskosten und Wechselkurse. Eine restriktive Geldpolitik führt zu höheren Zinssätzen und zu geringerer Investitionstätigkeit, was wiederum einen Rückgang des BIP und der Inflationsrate auslöst. Angesichts eines wirtschaftlichen Abschwungs kann die Zentralbank die Geldmenge erhöhen und die Zinssätze senken, umso die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln. Die Frage nach der genauen Bedeutung der Geldpolitik gehört zu den wichtigsten Themen der Makroökonomie. Die restriktive Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank in der Zeit von 1979 – 1982 führte zu steigenden Zinsen, einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und steigenden Arbeitslosenzahlen. In der darauf folgenden Periode von 1982 – 2000 unterstützte die Zentralbank mit einer vorsichtigen Geldmengensteuerung den längsten Wirtschaftsaufschwung in der amerikanischen Geschichte. Während des letzten Jahrzehnts ist die Geldpolitik zur wichtigsten Waffe geworden, die die Regierung zur Steuerung von Konjunkturzyklen einsetzt. Wie eine Zentralbank Einfluss auf die Wirtschaftsaktivitäten eines Landes nehmen kann, werden wird ausführlich in den Kapiteln über Geldpolitik erörtert. Zusammenfassung: Einem Staat stehen zur Erreichung makroökonomischer Ziele zwei wesentliche Instrumente zur Verfügung – die Fiskal- und die Geldpolitik. 1. Zur Fiskalpolitik gehören Staatsausgaben und Steuern. Staatsausgaben beeinflussen das relative Ausmaß kollektiver Ausgaben im Vergleich zum privaten Konsum. Durch
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
die Erhebung von Steuern verringern sich die Einkommen, die privaten Ausgaben sinken und die privaten Ersparnisse werden berührt. Außerdem ergeben sich Auswirkungen auf Investitionen und die potenzielle Produktionsleistung. Die Fiskalpolitik wird heute hauptsächlich eingesetzt, um durch die Beeinflussung der Ersparnisbildung sowie der Anreize zu arbeiten und zu sparen das langfristige Wirtschaftswachstum zu steuern. 2. Durch die Geldpolitik der Zentralbank werden die Geldmenge und die Finanzkonditionen bestimmt. Veränderungen der verfügbaren Geldmenge führen zu einer Erhöhung oder Senkung der Zinssätze und haben Auswirkungen auf die Ausgaben in verschiedenen Bereichen, beispielsweise für Investitionen, für Wohnungen und für den Außenhandel. Die Geldpolitik hat einen bedeutenden Einfluss sowohl auf das tatsächliche als auch auf das potenzielle BIP. Andere Zeiten, andere politische Maßnahmen Oft suchen Länder nach neuen Wegen, um ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Der Wunsch, die Inflation in den Griff zu bekommen, hat zu vielen innovativen Ideen geführt. Wie wir noch sehen werden, besteht der herkömmliche Ansatz zur Eindämmung der Inflation darin, dass Regierungen geld- und fiskalpolitische Maßnahmen ergreifen, um die Produktionsleistung zu drosseln und die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Da dies eine besonders bittere Pille ist, haben Regierungen immer wieder nach anderen Mitteln gesucht, um die Inflation unter Kontrolle zu halten. Einer dieser Ansätze wird als Einkommenspolitik bezeichnet; er beinhaltet die direkte Kontrolle von Preisen und Löhnen. Diese Methode wird in Kriegszeiten häufig genutzt, mitunter auch im Zuge von ernsten Krisen in Friedenszeiten. In Kriegszeiten werden Preise und Löhne häufig vom Staat festgesetzt; eine weniger dramati-
Teil 5
sche Maßnahme ist in Friedenszeiten der Erlass von Richtlinien für die Preis- und Lohngestaltung. Noch vor einer Generation glaubten viele Ökonomen, die Einkommenspolitik könne eine billige Methode darstellen, um die Inflationsrate niedrig zu halten. Beispielsweise führte die Regierung Nixon 1971 drakonische und obligatorische Lohn- und Preiskontrollen ein, in der Hoffnung, damit die Inflation zu verlangsamen, ohne eine Rezession hervorzurufen. Eine Analyse der Einkommenspolitik der Regierung Nixon oder vergleichbaren Bedingungen führt meist zu dem Ergebnis, dass eine solche Politik die Inflation kaum nachhaltig beeinflusst hat. Diese Erfahrung, zusammen mit einer heute allgemein eher zurückhaltenden Einstellung gegenüber Regierungsinterventionen haben zu einer verbreiteten Skepsis hinsichtlich direkter Einkommenspolitik geführt. Viele Ökonomen halten sie schlicht und ergreifend für wirkungslos. Andere bezeichnen sie als schädlich – sie stelle einen Eingriff in freie Märkte sowie eine Behinderung von natürlichen Preisschwankungen dar und sei nicht in der Lage, die Inflation tatsächlich zu senken. Die meisten Länder mit hohem Einkommensniveau verzichten inzwischen auf eine Einkommenspolitik; sie wird aber noch häufig von Entwicklungsländern und Ländern an der Schwelle zur Marktwirtschaft genutzt.
Internationale Verbindungen Kein Staat führt heute ein isoliertes Inseldasein, denn alle Länder nehmen an der Weltwirtschaft teil und sind über Handel und Finanztransaktionen miteinander verbunden. Handelsverbindungen durch den Import und Export von Waren und Dienstleistungen entstehen beispielsweise, wenn die Vereinigten Staaten Autos aus Japan importieren oder Computer nach Mexiko exportieren. Finanzielle Kontakte liegen vor, wenn die Vereinigten Staaten Mexiko Geld leihen, um den mexikanischen Peso zu stützen, oder wenn eine britische Pensionskasse ihre Portfolios
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
durch Geldanlagen am florierenden amerikanischen Aktienmarkt streut. Staaten behalten ihre Außenhandelsströme immer genau im Auge. Einen besonders wichtigen Index stellen dabei die Nettoexporte dar, das heißt die numerische Differenz zwischen dem Wert der Exporte und dem der Importe. Wenn mehr exportiert als importiert wird, kommt es zu einem Außenhandelsüberschuss, während eine negative Nettoexportbilanz ein Außenhandelsdefizit darstellt. Als im Jahr 2003 die US-Exporte insgesamt US-$ 1.062 Milliarden betrugen, während die Importe einen Wert von US-$ 1.555 Milliarden erreichten, verzeichneten die Vereinigten Staaten ein Außenhandelsdefizit von US-$ 494 Milliarden, das entsprach 4,4 Prozent des BIP. Aufgrund der gesunkenen Transport- und Kommunikationskosten sind heute die internationalen Verbindungen viel enger, als sie es noch vor einer Generation waren. Der internationale Handel hat die Schaffung politischer Imperien und militärische Eroberungen als sicherstem Weg zu nationalem Wohlstand und Einfluss abgelöst. Manche Volkswirtschaften vertreiben heute mehr als die Hälfte ihrer Produktion im Ausland. Beinahe das gesamte 20. Jahrhundert hindurch erzielten die Vereinigten Staaten einen Außenhandelsüberschuss, das heißt, sie exportierten mehr, als sie importierten. Doch im letzten Viertel des Jahrhunderts änderten sich die Handelsströme dramatisch. Aufgrund des Rückgangs der nationalen Sparquote und enormer Investitionen wurde die Nettoexportbilanz deutlich negativ, wobei das Defizit Anfang des 21. Jahrhunderts vier Prozent des BIP übertraf. Aufgrund der wachsenden Defizite schuldeten die Vereinigten Staaten 2003 Ausländern bereits US$ 3 Billionen. Manche Ökonomen befürchten, dass die hohen Auslandsschulden ein großes Risiko für die Vereinigten Staaten darstellen – solche Risiken werden wir in späteren Kapiteln behandeln. Mit der zunehmend engeren Vernetzung der Volkswirtschaften wenden auch Politiker ihre Aufmerksamkeit immer mehr der inter-
589 nationalen Wirtschaftspolitik zu. Internationaler Handel ist keineswegs Selbstzweck, sondern die Staaten bemühen sich deswegen so darum, weil der Handel letztendlich dem Ziel dient, den Lebensstandard vieler zu heben. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Handelspolitik und das internationale Finanzmanagement gelegt. Instrumente der Handelspolitik sind Zölle, Quoten und andere staatliche Regulierungsmaßnahmen zur Einschränkung oder Förderung von Importen und Exporten. Die meisten handelspolitischen Maßnahmen haben nur geringe Auswirkungen auf die makroökonomische Leistung, aber hin und wieder sind die Beschränkungen des internationalen Handels so restriktiv, dass sie zu enormen volkswirtschaftlichen Verzerrungen, zu Inflation oder zu Rezessionen führen, wie es beispielsweise in den dreißiger Jahren der Fall war. Ein weiterer Fächer wirtschaftspolitischer Maßnahmen stellt das internationale Finanzmanagement dar. Der Außenhandel eines Landes wird stark von Wechselkursen beeinflusst, das heißt den Preisen der eigenen Währung ausgedrückt in den jeweils anderen Währungen. Im Rahmen ihrer Geldpolitik ergreifen Staaten unterschiedliche Maßnahmen, um ihre Wechselkurse zu regulieren. Vor allem in kleinen, offenen Volkswirtschaften ist die Steuerung des Wechselkurses das wichtigste wirtschaftspolitische Instrument. Die Weltwirtschaft stellt ein dichtes Netz aus Handels- und Finanzbeziehungen zwischen den Ländern dar. Funktioniert das internationale Wirtschaftssystem gut, trägt es zu raschem Wirtschaftswachstum bei; wenn Handelssysteme dagegen zusammenbrechen, leiden weltweit Produktion und Einkommen darunter. Daher denken die Staaten sorgfältig über die Auswirkungen ihrer Handelspolitik und ihres internationalen Finanzmanagements auf ihre innenpolitischen Ziele Produktionsleistung, Beschäftigung und Preisstabilität nach.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
B. Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Die Wirtschaftsgeschichte eines Landes spiegelt sich in dessen gesamtwirtschaftlicher Leistung wider. Die Wirtschaftswissenschaft hat die Analyse von gesamtwirtschaftlichem Angebot und gesamtwirtschaftlicher Nachfrage entwickelt, um die wichtigsten Entwicklungen der Produktionsleistung und der Preise zu erklären. Zunächst wollen wir dieses bedeutende makroökonomische Instrument erläutern und es dann verwenden, um einige entscheidende historische Ereignisse besser deuten zu können.
Im Zentrum der Makroökonomie: Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Definitionen von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Wie greifen die verschiedenen Kräfte ineinander, um die gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten zu bestimmen? Abbildung 20-5 zeigt die Beziehungen zwischen den verschiedenen makroökonomischen Variablen, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: diejenigen, die sich auf das Gesamtangebot, und jene, die sich auf die Gesamtnachfrage auswirken. Diese Einteilung der Variablen in die zwei genannten Kategorien ist wesentlich für unser Verständnis dessen, was Produktionsniveau, Preise und Arbeitslosigkeit bestimmt. Der untere Teil von Abbildung 20-5 zeigt die Kräfte, die sich auf das Gesamtangebot auswirken. Als Gesamtangebot bezeichnet man die Gesamtmenge aller Waren und Dienstleistungen, die die Unternehmen eines Landes in einem bestimmten Zeitraum zu
Teil 5
produzieren und zu verkaufen gewillt sind. Das Gesamtangebot (auch als AS bezeichnet) hängt vom Preisniveau, der Produktionskapazität der Wirtschaft und dem Kostenniveau ab. Im Allgemeinen möchten die Unternehmen alles, was sie herstellen können, zu hohen Preisen verkaufen. Unter bestimmten Umständen kann das Preis- und Ausgabenniveau jedoch niedrig sein, sodass die Unternehmen Überkapazitäten haben. Unter anderen Bedingungen, beispielsweise während eines kriegsbedingten Wirtschaftsaufschwungs, erreichen die Fabriken ihre Kapazitätsgrenzen, weil sich die Unternehmen bemühen, genug zu produzieren, um alle Aufträge erfüllen zu können. Wir sehen also, dass das Gesamtangebot vom Preisniveau abhängt, zu dem die Unternehmen verkaufen können, aber auch von den Kapazitäten der Wirtschaft oder der potenziellen Produktionsleistung. Die potenzielle Produktionsleistung wird wiederum von der Verfügbarkeit der Produktionsfaktoren (die wichtigsten sind Arbeit und Kapital) sowie der unternehmerischen und technischen Effizienz beeinflusst, mit der diese Faktoren eingesetzt werden. Gesamtangebot und Gesamtnachfrage sind die Blätter der Schere, die die nationale Produktionsleistung und das allgemeine Preisniveau bestimmen. Das zweite Scherenblatt ist die Gesamtnachfrage, also die Gesamtsumme der von den verschiedenen Wirtschaftssektoren während eines bestimmten Zeitraums freiwillig getätigten Ausgaben. Die Gesamtnachfrage (auch als AD bezeichnet) ist die Summe der Ausgaben der Konsumenten, Unternehmen und Regierungsorgane und hängt vom Preisniveau, der Geldpolitik, der Fiskalpolitik und weiteren Faktoren ab. Zur Gesamtnachfrage gehören Autos, Lebensmittel und sonstige Konsumgüter, die von den Konsumenten gekauft werden, auch die Fabriken und Anlagen, die Unternehmen erwerben, die Raketen und Computer, welche die Regierung kauft, sowie die Nettoexporte. Alle Käufe werden von den Preisen beeinflusst, zu denen die jeweiligen Waren
591
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Geldpolitik
Produktionsleistung (reales BIP)
Fiskalpolitik Gesamtnachfrage Sonstige Kräfte Zusammenwirken von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage
Preisniveau und Kosten
Gesamtangebot
Beschäftigung und Arbeitslosigkeit
Preise und Inflation
Produktionskapazität
Kapital, Arbeit, Technologie
Außenhandel, …
Abbildung 20-5: Gesamtangebot und Gesamtnachfrage sind Determinanten der wichtigsten makroökonomischen Variablen Dieses Schlüsseldiagramm zeigt die wesentlichen Faktoren, die gesamtwirtschaftliche Aktivitäten beeinflussen. Auf der linken Seite stehen die Hauptvariablen, die das Gesamtangebot und die Gesamtnachfrage bestimmen; dazu gehören unter anderem die Geld- und Fiskalpolitik, aber auch der vorhandene Bestand an Kapital und Arbeit. Im Zentrum findet die Interaktion von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage statt; die Nachfrage greift auf die vorhandenen Ressourcen zu. Die wesentlichen Ergebnisse sind auf der rechten Seite in Sechsecken dargestellt: Produktionsleistung, Beschäftigung, Preisniveau und internationaler Handel.
angeboten werden, außerdem von exogenen Kräften wie Kriegen oder dem Wetter sowie der staatlichen Politik. Mit Hilfe beider Scherenblätter, also des Gesamtangebots und der Gesamtnachfrage, erzielen wir als Ergebnis das Gleichgewicht, das in dem Kreis rechts in Abbildung 20-5 dargestellt ist. Die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung und das Preisniveau pendeln sich auf jener Höhe ein, auf der die Nachfrager bereitwillig kaufen, was die Unternehmen
zu verkaufen gewillt sind. Die daraus resultierende Produktionsleistung und das sich ergebende Preisniveau bestimmen das Beschäftigungsniveau, die Arbeitslosigkeit und den Außenhandel.
Gesamtangebots- und Gesamtnachfragekurven Gesamtangebots- und Gesamtnachfragekurven werden häufig zur Analyse makroökono-
592
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
mischer Bedingungen herangezogen. Erinnern Sie sich, dass wir in Kapitel 3 die MarktAngebots- und Nachfragekurven dazu verwendet haben, um die Preise und Mengen einzelner Produkte zu untersuchen. Das entsprechende grafische Instrumentarium hilft uns zu verstehen, wie die Geldpolitik oder technische Veränderungen über das Gesamtangebot und die Gesamtnachfrage die nationale Produktionsleistung und das Preisniveau bestimmen. Abbildung 20-6 zeigt das Gesamtangebot und die Gesamtnachfrage für die Produktionsleistung einer ganzen Volkswirtschaft. Entlang der X-Achse oder Mengenachse P
AS
Güterpreisindex
250 B
200
C E
150 100 AD
50 0 0
1.000
2.000 3.000 4.000 Reales BIP (Milliarden)
5.000
Q
Abbildung 20-6: Das Gesamtpreisniveau und die Produktionsleistung werden durch die Interaktion von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage bestimmt Die AD-Kurve zeigt die Höhe der Gesamtausgaben bei unterschiedlichen Preisniveaus, wenn alle anderen Faktoren konstant bleiben. Die AS-Kurve zeigt, was Unternehmen bei gegebenen Preisniveaus produzieren und verkaufen, vorausgesetzt, alle anderen Faktoren bleiben konstant. Der Schnittpunkt der Gesamtangebots- mit der Gesamtnachfragekurve, E, bestimmt die Höhe des Gesamtpreisniveaus und die nationale Produktionsleistung. Dieses Gleichgewicht stellt sich bei einem Preisniveau ein, bei dem die Unternehmen bereit sind, genau so viel zu produzieren und zu verkaufen, wie die Konsumenten und andere Nachfrager zu kaufen gewillt sind.
Teil 5
wird die gesamte Produktionsleistung (das reale BIP) einer Volkswirtschaft dargestellt. Anhand der Y-Achse wird das allgemeine Preisniveau (beispielsweise in Form des Verbraucherpreisindex) gemessen. Wir verwenden das Symbol Q für die tatsächliche Produktionsleistung und P für das Preisniveau. Die abwärts gerichtete Kurve ist die Gesamtnachfragefunktion oder AD-Kurve. Sie stellt dar, was alle Wirtschaftssubjekte – Konsumenten, Unternehmen, Ausländer und Regierungen – bei jedem gesamtwirtschaftlichen Preisniveau zu kaufen gewillt sind (wobei die anderen Faktoren, die sich auf die Gesamtnachfrage auswirken könnten, konstant bleiben). Aus dieser Kurve ersehen wir, dass sich bei einem Gesamtpreisniveau von 150 die Gesamtausgaben auf US-$ 3.000 Milliarden (jährlich) belaufen. Wenn das Preisniveau auf 200 steigt, fallen die Gesamtausgaben auf US-$ 2.300 Milliarden. Die ansteigende Kurve ist die Gesamtangebotsfunktion oder AS-Kurve. Diese Kurve stellt die Waren- und Dienstleistungsmengen dar, welche die Unternehmen beim jeweiligen Preisniveau zu produzieren und zu verkaufen gewillt sind (wobei die anderen Faktoren, die sich auf das Gesamtangebot auswirkten könnten, konstant bleiben). Dieser Kurve zufolge wollen die Unternehmen bei einem Preisniveau von 150 für US-$ 3.000 Milliarden verkaufen; wenn das Preisniveau auf 200 ansteigt, wollen sie mehr verkaufen, für insgesamt US-$ 3.300 Milliarden. Mit steigender Nachfrage möchten die Unternehmen mehr Güter und Dienstleistungen zu einem höheren Preis verkaufen. (Wir haben die AS-Kurve als ansteigende und die AD-Kurve als abwärts gerichtete Kurve gezeichnet, aber keine Begründung für diese Entscheidung gegeben. Eine ausführliche Diskussion der Kurven und ihrer Steigungen wird in späteren Kapiteln erfolgen.)
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Warnung bezüglich der AS- und AD-Kurven Ehe wir fortfahren, noch ein wichtiger Hinweis: Verwechseln Sie nicht die makroökonomischen AD- und AS-Kurven mit den mikroökonomischen DD- und SS-Kurven. Die mikroökonomischen Angebots- und Nachfragekurven zeigen die Mengen und Preise für individuelle Güter, wobei das Volkseinkommen und die Preise aller anderen Güter als gegeben angenommen werden. Im Gegensatz dazu dienen die Gesamtangebots- und Gesamtnachfragekurven der Bestimmung der gesamten Produktionsleistung und des Gesamtpreisniveaus, wobei die Geldmenge, die Fiskalpolitik und die Kapitalausstattung als konstant angenommen werden. Gesamtangebot und Gesamtnachfrage helfen bei der Erklärung, wie Steuern die Gesamtproduktionsleistung und die Veränderung aller Preise beeinflussen; in der mikroökonomischen Angebots- und Nachfragetheorie betrachtet man dagegen, wie eine Erhöhung der Benzinsteuer sich auf die Käufe von PKWs auswirkt. Die beiden Kurvenpaare sehen sich ähnlich, sie erklären aber grundsätzlich verschiedene Phänomene.
Makroökonomisches Gleichgewicht. Wir werden nun sehen, wie sich die Gesamtproduktion und das Preisniveau anpassen, damit ein Gleichgewicht zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage entsteht. Dazu verwenden wir die AS- und AD-Kurven, anhand derer sich zeigen lässt, wie die Gleichgewichtswerte für die gesamtwirtschaftlichen Preise und Mengen bestimmt werden oder wie man die richtigen Pund Q-Werte findet, bei denen die Bedürfnisse von Käufern und Verkäufern gleichermaßen befriedigt werden. Für die in Abbildung 20-6 gezeigten Kurven AS und AD befindet sich die Gesamtwirtschaft in Punkt E im Gleichgewicht. Nur in diesem Punkt, in dem die Produktionsmenge Q = 3.000 beträgt und der Preis bei P = 150 liegt, sind Käufer und Verkäufer zufrieden. Nur in Punkt E liegt die Nachfrage genau bei jener Menge, die die Unternehmen produzieren und verkaufen wollen.
593 Wie erreicht die Wirtschaft dieses Gleichgewicht? Was verstehen wir überhaupt unter Gleichgewicht? Ein makroökonomisches Gleichgewicht ist eine Kombination aus Gesamtpreis und -menge, bei der alle Käufer und Verkäufer mit ihren Käufen, Verkäufen und den Preisen zufrieden sind. Abbildung 20-6 verdeutlicht dieses Konzept. Läge das Preisniveau über dem Gleichgewicht, sagen wir bei P = 200, würden die Unternehmen mehr verkaufen wollen, als die Käufer zu kaufen gewillt sind. Die Unternehmer möchten hier Menge C verkaufen, während die Käufer nur Menge B kaufen wollen. Waren würden sich in den Regalen türmen, weil die Unternehmen mehr produzieren, als die Konsumenten kaufen. Schließlich würden die Firmen ihre Produktion drosseln und ihre Preise etwas zurücknehmen. Sobald der Preis vom ursprünglich zu hohen Niveau von 200 heruntergekommen ist, schließt sich allmählich die Lücke zwischen den vorgesehenen Käufen und Verkäufen, bis bei P = 150 und Q = 3.000 das Gleichgewicht erreicht wird. Wenn das Gleichgewicht einmal erreicht ist, möchten weder Käufer noch Verkäufer die nachgefragten beziehungsweise angebotenen Mengen ändern, und es entsteht kein Druck auf das Preisniveau.
Geschichte der Makroökonomie: 1900–2005 Wir können das Instrumentarium von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage dazu benutzen, um einige der wichtigsten makroökonomischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Amerika zu analysieren. Unsere Themen sind die wirtschaftliche Expansion zu Zeiten des Vietnamkrieges, die tiefe Rezession, die in den frühen achtziger Jahren durch eine restriktive Geldpolitik verursacht wurde, sowie das phänomenale Wachstums in diesem Jahrhundert insgesamt. Makroökonomische Daten zu den letzten Jahren finden Sie im Anhang zu diesem Kapitel.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Aufschwung durch Krieg. Zu Beginn der sechziger Jahre hatte die amerikanische Wirtschaft bereits zahlreiche Rezessionen durchlebt. Als John F. Kennedy Präsident wurde, hoffte er, die Wirtschaft neu beleben zu können. Es war die Zeit, als „New Economics“, wie der keynesianische Ansatz bezeichnet wurde, in Washington Einzug hielt. Die Wirtschaftsberater der Präsidenten Kennedy und Johnson empfahlen eine Expansionspolitik, und der Kongress verabschiedete Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft, darunter drastische Kürzungen der Einkommensund Körperschaftssteuersätze in den Jahren 1963 und 1964. Das BIP stieg zu Beginn der sechziger Jahre um vier Prozent jährlich, die Arbeitslosigkeit ging zurück, und die Preise blieben stabil. Schon im Jahre 1965 schöpfte die Wirtschaft ihr Produktionspotenzial wieder voll aus. Leider unterschätzte die Regierung das Ausmaß der Rüstungsvorbereitungen für den Vietnamkrieg. Die Verteidigungsausgaben stiegen von 1965–1969 um 55 Prozent. Selbst als sich schon deutlich abzeichnete, dass dem Land eine größere Inflation drohte, verschob Präsident Johnson schmerzhafte Maßnahmen zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Erst 1968 wurden Steuererhöhungen beschlossen und die Zivilausgaben gekürzt, zu spät, um den Inflationsdruck aufgrund der Überhitzung der Wirtschaft aufhalten zu können. Die Zentralbank unterstützte die rasche Wirtschaftsexpansion durch eine großzügige Geldmengenpolitik und niedrige Zinssätze. Infolgedessen wuchs die Wirtschaft in der Zeit von 1966–1970 rasch an. Aufgrund der geringen Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig hohem Auslastungsgrad der Fabriken begann die Inflation zu steigen, was zum „Zeitalter der Inflation führte“, das von 1966–1981 dauerte. Abbildung 20-7 zeigt, was in dieser Zeit geschah. Die Steuersenkungen und Verteidigungsausgaben führten zu einer erhöhten Gesamtnachfrage, wodurch die Gesamtnachfragekurve nach rechts von AD zu AD' verschoben wurde, wodurch sich das Gleichge-
Teil 5
P AS
Produktionskapazität
Preisniveau
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E′
P′ E P
AD′ AD
Q Q′ Preisniveau
Q
Abbildung 20-7: Eine wachsende Gesamtnachfrage führt zu einem Wirtschaftsaufschwung in Kriegszeiten Während eines Krieges erhöhen steigende Verteidigungsausgaben die Gesamtnachfrage von AD auf AD', wodurch sich das Gleichgewicht mit entsprechender Produktionsleistung von E nach E' verschiebt. Wenn die Produktion deutlich über die potenzielle Produktionsleistung steigt, dann geht auch das Preisniveau deutlich in die Höhe, von P auf P', wodurch eine in Kriegszeiten typische Inflation entsteht.
wicht von E nach E' verlagerte. Produktionsleistung und Beschäftigung stiegen drastisch an, und die Preisentwicklung beschleunigte sich, weil die Produktion die Kapazitätsgrenzen sprengte. Die Ökonomen erkannten damals, dass es leichter ist, die Wirtschaft zu stimulieren, als die Politiker davon zu überzeugen, dass sie angesichts der drohenden Inflation das Wachstum drosseln sollten. Diese Erfahrung löste bei vielen ein Nachdenken darüber aus, ob es tatsächlich ratsam ist, die Fiskalpolitik zur Stabilisierung der Wirtschaft zu nutzen. Knappes Geld, 1979–1982. Die siebziger Jahre waren eine stürmische Zeit, in der der Ölpreis sich verzehnfachte, die Löhne rasch anstiegen und die Inflation die Vereinigten Staaten und viele andere Volkswirtschaften in ihrem Würgegriff hielt. Wie Abbildung 20-4 auf Seite 585 zeigt, erreichte die Inflationsrate
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
von 1978–1980 zweistellige Werte, und die Zinssätze lagen bei fast 20 Prozent. Eine zweistellige Inflationsrate war inakzeptabel. Die Zentralbank unter der Leitung des Ökonomen Paul Volcker reagierte darauf, indem sie die bittere Medizin einer Geldmengenverknappung zur Eindämmung der Inflation verschrieb. Die Zinssätze stiegen 1979 und 1980 drastisch an, die Börsenkurse purzelten, und Kredite waren schwer zu bekommen. Die restriktive Geldpolitik der Zentralbank drosselte die Ausgaben der Konsumenten und Unternehmen. Besonders hart waren die zinssensiblen Komponenten der Gesamtnachfrage betroffen. Nach 1979 kam es zu einem beträchtlichen Rückgang im Wohnungsbau, bei Autokäufen, Investitionen und Nettoexporten. Wir können darstellen, wie die knappe Geldmenge die Zinssätze in die Höhe trieb und die Gesamtnachfrage drosselte, indem wir in Abbildung 20-7 den Pfeil einfach umdrehen. Das heißt, die restriktive Geldpolitik führte zu einem Rückgang der Ausgaben und erzeugte eine Verschiebung der Gesamtnachfragekurve nach links unten – genau das Gegenteil der Auswirkungen der Aufrüstung während der sechziger Jahre. Der Rückgang der Gesamtnachfrage führte bis Ende 1982 zu einer Senkung der Wirtschaftsleistung auf einen Wert, der fast zehn Prozent unter dem Potenzial lag, und die Arbeitslosenquote kletterte von unter sechs Prozent 1979 auf über zehn Prozent Ende 1982. Der Lohn dieser strengen Maßnahmen war ein deutlicher Rückgang der Inflation von durchschnittlich zwölf Prozent in den Jahren 1979 und 1980 auf vier Prozent in der Zeit von 1983–1988. Der restriktiven Geldpolitik gelang es, das Zeitalter der Inflation zu beenden, aber für diese Leistung bezahlte das Land mit höherer Arbeitslosigkeit und einer geringeren Produktionsleistung, solange die restriktive Geldpolitik anhielt. Die strikte Geldpolitik der achtziger Jahre bereitete die lange wirtschaftliche Expansion von 1982–2000 vor. Diese Periode, die nur 1990–1991 von einer milden Rezession unter-
595 brochen wurde, ist bisher der Zeitraum mit der höchsten makroökonomischen Stabilität in der amerikanischen Geschichte. Das reale BIP wuchs jährlich im Durchschnitt um drei Prozent, wobei die Inflationsrate durchschnittlich knapp über 3,5 Prozent lag. Ende der neunziger Jahre hatte ein Großteil der Beschäftigten noch nie einen ernst zu nehmenden Konjunkturabschwung oder eine Inflationsphase erlebt, und ein paar naive Zeitgenossen behaupteten sogar, in dieser „Newera“-Wirtschaft seien Konjunkturzyklen abgeschafft. Das Jahrhundert des Wachstums. Der letzte Akt unseres makroökonomischen Dramas beschäftigt sich mit dem Wachstum der Produktionsleistung und der Preise während des gesamten Zeitraums seit 1900. Die Produktionsleistung der US-Wirtschaft ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts um fast das Zwanzigfache gestiegen. Wie können wir diesen phänomenalen Anstieg erklären? Ein aufmerksamer Blick auf das amerikanische Wirtschaftswachstum zeigt, dass die Wachstumsrate im 20. Jahrhundert im Durchschnitt bei 3,5 Prozent lag. Ein Teil dieses Wachstums war auf die enorme Ausweitung der Produktion zurückzuführen, die durch die beträchtliche Zunahme der Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit und sogar Land ermöglicht wurde. Ebenso wichtig waren Effizienzverbesserungen durch neue Produkte (beispielsweise Autos) und neue Verfahren (wie die elektronische Datenverarbeitung). Weitere, weniger offensichtliche Faktoren haben ebenfalls zum Wirtschaftswachstum beigetragen, so etwa verbesserte Managementtechniken und verbesserte Dienstleistungen (hier sind Innovationen wie das Fließband und Lieferungen über Nacht zu nennen). Viele Ökonomen sind der Ansicht, das gemessene Wachstum läge weit unter dem tatsächlichen Wachstum, weil die offiziellen Statistiken die Auswirkungen neuer Produkte und Verbesserungen der Produktqualität auf den Lebensstandard nicht genügend berücksichtigten. Beispielsweise mussten nach
596
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
der Einführung von Toiletten im Hausinnern Millionen von Menschen im Winter nicht mehr durch den Schnee stapfen, um sich auf dem Abort zu erleichtern, und doch tauchte dieser Komfort niemals im gemessenen Bruttoinlandsprodukt auf. Wie lässt sich der enorme Anstieg der Produktionsleistung mit unserem AS-ADInstrumentarium darstellen? Abbildung 20-8 zeigt es. Die Zunahme der Produktionsfaktoren und Effizienzverbesserungen haben zu einer massiven Rechtsverschiebung der ASKurve von AS1900 auf AS2000 geführt. Darüber hinaus kam es zu einem rapiden Anstieg der Produktionskosten, weil der durchschnittliche Stundenlohn von US-$ 0,10 auf US-$ 13,20 anstieg, wodurch sich die ASKurve auch nach oben verschob. Insgesamt kam es daher zu einer Erhöhung der Produktionsleistung und der Preise, was in Abbildung 20-8 dargestellt ist. P
AS2000
P2000
Preisniveau
AD2000
AS1900 P1900 AD1900 Q1900 Q2000 reale Produktionsleistung
Q
Abbildung 20-8: Das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung bestimmt die langfristige Wirtschaftsleistung Während des 20. Jahrhunderts führten eine wachsende Beschäftigtenzahl, mehr Kapital und höhere Effizienz zu einem deutlichen Anstieg des Produktionspotenzials der Wirtschaft, wodurch sich die Gesamtangebotskurve weit nach rechts verschob. Langfristig betrachtet ist das Gesamtangebot der wesentliche Bestimmungsfaktor für das Wachstum der Produktionsleistung.
Teil 5
Die Rolle der Wirtschaftspolitik Welche Rolle spielte die Wirtschaftspolitik während des Jahrhunderts des Wachstums? Die bedeutendste Veränderung in der Volkswirtschaftslehre im 20. Jahrhundert war die Entdeckung und anschließende Anwendung der Makroökonomie zusammen mit dem Verständnis dafür, welche Rolle die Geldund Fiskalpolitik spielen können und welche Grenzen ihnen gesetzt sind. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ließen sich im Vergleich zur ersten ein schnelles Wirtschaftswachstum und deutlich abgeschwächte Konjunkturzyklen beobachten. Der Einsatz der Fiskal-, aber insbesondere der Geldpolitik half die Arbeitslosigkeit zu senken und bescherte uns während der letzten beiden Jahrzehnte weitgehend stabile Preise. Allerdings sollte man nicht von einem Wundermittel sprechen. Es kommt immer noch zu Rezessionen, und es wird durchaus nicht auf der ganzen Welt eine vernünftige Wirtschaftpolitik betrieben. Aber wir haben das grundlegende Wissen, um das Risiko einer galoppierenden Inflation und tiefer Depressionen zu mindern.
597
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Zusammenfassung A. Die wichtigsten Konzepte der Makroökonomie 5. 1.
2.
3.
4.
Die Makroökonomik ist die Lehre vom Verhalten der Gesamtwirtschaft. Sie analysiert das langfristige Wirtschaftswachstum ebenso wie konjunkturbedingte Schwankungen der Produktion, des Arbeitsmarktes und der Inflation, außerdem die Geldmenge, das Budgetdefizit sowie Außenhandel und internationales Finanzwesen. Die Makroökonomik ist das Gegenstück zur Mikroökonomik, die das Verhalten einzelner Märkte, Preise und Produktionsmengen untersucht. Die Vereinigten Staaten legten ihre makroökonomischen Ziele im Employment Act von 1946 nieder, der postuliert, die Bundespolitik habe „maximale Beschäftigung, Produktion und Kaufkraft zu fördern.” Seit damals hat das Land hinsichtlich der Erreichung einzelner dieser drei Ziele unterschiedliche Prioritäten gesetzt. Alle Marktwirtschaften müssen sich jedoch drei zentralen makroökonomischen Fragen stellen: (a) Warum gehen Produktion und Beschäftigung manchmal zurück, und wie kann man die Arbeitslosigkeit senken? (b) Welche Gründe gibt es für eine Inflation, und wie kann man sie im Zaum halten? (c) Wie kann ein Land sein Wirtschaftswachstum ankurbeln? Abgesehen von diesen komplexen Fragen muss man hinnehmen, dass es zu unvermeidbaren Konflikten zwischen diesen Zielen kommt, das heißt, dass man sie nicht alle gleichzeitig und gleichermaßen erreichen kann: Ein rasches Wachstum des zukünftigen Lebensstandards kann bedeuten, dass wir unseren heutigen Konsum einschränken müssen, und die Eindämmung der Inflation kann kurzfristig zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Ökonomen bewerten die Gesamtleistung einer Wirtschaft danach, ob sie folgende Ziele erreicht: (a) ein hohes Niveau und schnelles Wachstum der Produktion und des Konsums [die Produktionsleistung wird üblicherweise mit Hilfe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen, das den Gesamtwert aller Endprodukte und Dienstleistungen darstellt, die in einem gegebenen Jahr produziert werden; das BIP sollte nahe beim potenziellen BIP liegen, der höchsten nachhaltigen oder Vollbeschäftigungsproduktionsleistung]; (b) eine niedrige Arbeitslosenquote und hohe Beschäftigungszahlen verbunden mit einem umfassenden An-
6.
gebot an attraktiven Arbeitsplätzen; (c) Preisstabilität (oder niedrige Inflation). Vor der Entwicklung der Makroökonomik als Wissenschaft trieben die Länder praktisch steuerlos in den wechselnden makroökonomischen Strömungen. Heutzutage stehen den Regierungen zahlreiche Instrumente zur Verfügung, mit denen sie die Wirtschaft steuern können: (a) Die Fiskalpolitik (Staatsausgaben und Steuern) beeinflusst die Verteilung von Ressourcen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor, wirkt sich auf die Einkommen und den Konsum der Menschen aus und liefert Anreize für Investitionen und andere wirtschaftliche Entscheidungen. (b) Die Geldpolitik (vor allem die Regulierung der Geldmenge durch die Zentralbank, um die Zinssätze und Kreditkonditionen zu beeinflussen) wirkt sich auf zinssensible Wirtschaftsbereiche aus. Die am stärksten betroffenen Sektoren sind der Wohnungsbau, die Unternehmensinvestitionen und die Nettoexporte. Ein einzelnes Land ist nur ein kleiner Teil einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft, in der die Länder durch den Handel mit Waren und Dienstleistungen und durch Finanzströme miteinander verbunden sind. Ein gut funktionierendes internationales Wirtschaftssystem trägt zu einem raschen Wirtschaftswachstum bei, doch der Außenhandel kann auch Sand in das Getriebe des Wachstums streuen, wenn die Handelsflüsse unterbrochen werden oder die internationalen Finanzmechanismen zusammenbrechen. Der Außenhandel steht heute auf der Tagesordnung aller Länder ganz oben.
B. Gesamtangebot und Gesamtnachfrage 7.
Die zentralen Konzepte, die uns verstehen helfen, wie Produktionsleistung und Preisniveau in einem Land bestimmt werden, sind das Gesamtangebot (AS) und die Gesamtnachfrage (AD). Die Gesamtnachfrage ergibt sich aus den Gesamtausgaben der Haushalte, Unternehmen, des Staates und der Ausländer in einer Volkswirtschaft. Sie stellt die gesamtwirtschaftliche Produktion dar, die bei einer gegebenen Geld- und Fiskalpolitik und angesichts der anderen nachfragewirksamen Faktoren beim jeweils herrschenden Preisniveau bereitwillig gekauft wird. Das Gesamtangebot zeigt an, welche Produktionsmenge die Unterneh-
598
8.
9.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
men bei gegebenen Preisen, Kosten und Marktbedingungen bereit sind zu produzieren und zu verkaufen. Die AS- und AD-Kurven haben dieselbe Form wie die bereits bekannten Angebots- und Nachfragekurven, die in der Mikroökonomie untersucht werden. Die abwärts geneigte ADKurve gibt die Menge an, die Konsumenten, Unternehmen und andere beim jeweiligen Preisniveau kaufen möchten, wenn alle übrigen Faktoren konstant bleiben. Die AS-Kurve stellt jene Menge dar, die die Unternehmen beim gegebenen Preisniveau produzieren und verkaufen wollen, wenn alle anderen Faktoren konstant bleiben. (Hüten Sie sich vor einer möglichen Verwechslung des mikroökonomischen und makroökonomischen Konzepts von Angebot und Nachfrage.) Das gesamtwirtschaftliche makroökonomische Gleichgewicht, das den Gesamtpreis und die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung bestimmt, stellt sich dort ein, wo die AS- und ADKurven einander schneiden. Zum Gleichgewichtspreis kaufen die Konsumenten freiwillig die von den Unternehmen freiwillig verkauften Mengen. Die Gleichgewichtsmenge kann von der Vollbeschäftigungs- oder potenziellen Produktionsleistung abweichen.
10. In der jüngeren amerikanischen Geschichte kann man einen unregelmäßigen Zyklus von Nachfrage- und Angebotsschocks sowie politischen Reaktionen darauf beobachten. Mitte der sechziger Jahre führten die durch den Vietnamkrieg aufgeblähten Defizite in Kombination mit einer laxen Geldpolitik zu einem rapiden Anstieg der Gesamtnachfrage. Das Ergebnis waren ein rascher Preisanstieg und Inflation. Gegen Ende der siebziger Jahre reagierten die wirtschaftpolitischen Entscheidungsträger auf die steigende Inflation, indem sie eine restriktive Geldpolitik betrieben und die Zinssätze anhoben. Das Ergebnis waren sinkende Ausgaben in zinssensiblen Bereichen, beispielsweise dem Wohnungsbau, Investitionen und Nettoexporten. Die Sparmaßnahmen in den frühen achtziger Jahren legten den Grundstein für eine lange Periode makroökonomischer Stabilität. 11. Insgesamt betrachtet erhöhte im 20. Jahrhundert der Anstieg der potenziellen Produktionsleistung die Gesamtnachfrage enorm und führte zu einem stetigen Wachstum der Produktionsleistung und einer kontinuierlichen Verbesserung der Lebensstandards. .
Begriffe zur Wiederholung Wichtige makroökonomische Konzepte Makroökonomie im Vergleich zur Mikroökonomie Bruttoinlandsprodukt (BIP), tatsächliches und potenzielles Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenquote Inflation, Deflation Verbraucherpreisindex (VPI) Nettoexporte Fiskalpolitik (Staatsausgaben, Steuern) Geld, Geldpolitik
Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Gesamtangebot, Gesamtnachfrage AS-Kurve, AD-Kurve Gleichgewicht von AS und AD Ursachen langfristigen Wirtschaftswachstums
Teil 5
599
Kapitel 20 Makroökonomie im Überblick
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Der Klassiker unter den Makroökonomiebüchern ist John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest, and Money (Harcourt, New York, Erstauflage 1935; deutsch: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes). Keynes war einer der besten Stilisten unter den Wirtschaftswissenschaftlern. Für Fortgeschrittene gibt es viele gute Bücher zur Makroökonomie. Diese Bücher können für Sie hilfreich sein, wenn Sie mehr zu einem bestimmten Thema wissen wollen. Deutschsprachige Literatur: Olivier Blanchard und Gerhard Illing, Makroökonomie, 3. Aufl. (Pearson, München, 2004); Dieter Cassel, Herbert Müller und Jörg Thieme (Hrsg.), Stabilisierungsprobleme in der Marktwirtschaft. Prozesse und Strukturen (Vahlen, München, 2004). Im Zentrum des zuletzt genannten Sammelbandes stehen Aspekte der monetären Makroökonomik und der nationalen und internationalen Stabilität sowie der damit verbundenen Politikoptionen. Reiner Clement, Wiltrud Terlau und Manfred Kiy, Grundlagen der Angewandten Makroökonomie. Eine Verbindung von Makroökonomie und Wirtschaftspolitik in Fallbeispielen, 3. Aufl. (Vahlen, München, 2004).
Websites Makroökonomische Fragen sind ein wesentliches Thema der Analysen im Economic Report of the President. Diese Berichte sind für einige Jahre im Internet verfügbar unter www.gpoaccess.gov/eop/. Eine weitere gute Quelle zum Thema Makroökonomie ist das Congressional Budget Office, das periodisch Berichte zur Wirtschaft und zur Budgetlage unter www.cbo.gov veröffentlicht. Auf der Website von Forschungsinstituten findet man häufig hervorragende Diskussionen aktueller makroökonomischer Themen. Erwähnenswert ist vor allem die Website der Brookings Institution, www.brookings.org, und des American Enterprise Institute, www.aei.org/. Der deutsche Sachverständigenrat stellt seine Gutachten online zur Verfügung und ermöglicht eine Suche nach Themenfeldern aus den jeweils neueren Gutachten unter www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/ gutacht/gutachten.php Das Kieler Institut für Weltwirtschaft veröffentlicht zu aktuellen Themen Diskussionspapiere im Internet: www.uni-kiel.de/ifw/pub/kd/diskus.htm Statistiken zur wirtschaftlichen Entwicklung und Konjuktur in Deutschland findet man beim Statistischen Bundesamt: www.destatis.de sowie bei der Bundesbank, www.bundesbank.de. Entsprechende Daten für Österreich findet man unter www.statistik.at und für die Schweiz unter www.statistik.admin.ch. Eine weitere nützliche Informationsquelle ist das Statistische Amt der Europäischen Union unter http://eurostat.ec.europa.eu.
Übungen 1.
2.
Welche wesentlichen Ziele verfolgt die Makroökonomik? Definieren Sie diese Ziele kurz. Erläutern Sie sorgfältig, warum jedes dieser Ziele wichtig ist. Berechnen Sie anhand der Zahlen aus dem Anhang zu diesem Kapitel: a. die Inflationsrate in den Jahren 1981 und 1999 b. die Wachstumsrate des realen BIP in den Jahren 1982 und 1984
c.
3.
die durchschnittliche Inflationsrate von 1970 – 1980 und von 1990 – 1999 d. die durchschnittliche Wachstumsrate des realen BIP von 1970 – 1999 Welche Auswirkungen hätte jedes der folgenden Ereignisse auf die Gesamtnachfrage oder das Gesamtangebot (alle anderen Faktoren bleiben konstant)? a. eine deutliche Senkung von Einkommensund Gewerbesteuer (auf AD)
600
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
b.
4.
5.
6.
ein Abrüstungsvertrag, der zur Reduzierung der Verteidigungsausgaben führt (auf AD) c. eine Erhöhung der potenziellen Produktionsleistung (auf AS) d. eine Lockerung der Geldpolitik, die zu einer Zinssenkung führt (auf AD) Verwenden Sie das AS-AD-Instrumentarium für alle Punkte von Frage 3., um die Auswirkungen auf die Produktionsleistung und das Gesamtpreisniveau zu zeigen. Versetzen Sie sich in die Lage eines wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgers. Die Wirtschaft befindet sich im Gleichgewicht bei P = 100 und Q = 3.000 = potenzielles BIP. Sie weigern sich, eine Inflation zu „tolerieren”; das heißt, Sie wollen die Preise absolut stabil auf dem Niveau P = 100 halten, gleichgültig wie sich die Produktionsleistung entwickelt. Sie können geld- und fiskalpolitische Maßnahmen zur Beeinflussung der Gesamtnachfrage ergreifen, aber Sie haben keine Möglichkeit, kurzfristig das Gesamtangebot zu verändern. Wie würden Sie auf folgende Situationen reagieren: a. Ein überraschender Anstieg der Investitionsausgaben. b. Ein drastischer Anstieg der Lebensmittelpreise nach verheerenden Überschwemmungen am Mississippi. c. Ein Produktivitätsrückgang, der die potenzielle Produktionsleistung mindert. d. Ein drastischer Rückgang der Nettoexporte im Gefolge einer tiefen Depression in Ostasien. In den Jahren 1981–1983 betrieb die Regierung Reagan eine Fiskalpolitik, die Steuersenkungen und steigende Staatsausgaben mit sich brachte. a. Erklären Sie, warum ein solche Politik im Allgemeinen die Gesamtnachfrage erhöht. Zeigen Sie die Auswirkungen auf die Produktionsmenge und die Preise, wenn sich ausschließlich die AD-Kurve verschiebt. b. Die angebotsseitig orientierten Ökonomen behaupten, Steuersenkungen würden das Gesamtangebot hauptsächlich dadurch beeinflussen, dass sie die potenzielle Produktionsleistung erhöhen. Nehmen Sie an, dass die Fiskalpolitik der Regierung Reagan sowohl AS als auch AD beeinflusste, und zeigen Sie die Folgen dieser Fiskalpolitik für die Produktionsleistung und das Preisniveau. Erklären Sie, warum die Auswirkungen der Fiskalpolitik Reagans auf
7.
8.
Teil 5
die Produktion eindeutig, auf die Preise jedoch uneindeutig sind. Die Wirtschaftsgesetzgebung der Regierung Clinton, die vom Kongress 1993 beschlossen wurde, führte zu einer restriktiven Fiskalpolitik, das heißt zu Steuererhöhungen und zu einer Senkung der Staatsausgaben. Zeigen Sie die Folgen dieser Politik (a) unter der Annahme, dass es keine entgegengerichtete Geldpolitik gab, und (b) unter der Annahme, dass die Geldpolitik die Auswirkungen auf das BIP völlig neutralisierte und dass das geringere Defizit zu höheren Investitionen und höheren Zuwächsen der potenziellen Produktionsleistung führte. Den letzten größeren Wirtschaftsabschwung erlebten die Vereinigten Staaten in den frühen achtziger Jahren. Betrachten Sie die Zahlen zum realen BIP und dem Preisniveau in Tabelle 20-2. a. Berechnen Sie für den Zeitraum 1981–1985 die Wachstumsrate des realen BIP und die Inflationsrate. Können Sie feststellen, in welchem Jahr ein starker Wirtschaftsabschwung oder eine Rezession festzustellen war? b. Zeichnen Sie in ein AS-AD-Diagramm wie Abbildung 20-6 jeweils eine Gesamtangebots- und Gesamtnachfragekurve ein, mit denen Sie das in der Tabelle angegebene Preis- und Mengengleichgewicht darstellen. Wie erklären Sie sich die so erscheinende Rezession?
Jahr
Reales BIP (Mrd. US-$ Preise von 2000)
Preisniveau* (2000 = 100)
1980
5.161,7
54,1
1981
5.291,7
59,1
1982
5.189,3
62,7
1983
5.423,8
65,2
1984
5.813,6
67,7
1985
6.053,7
69,7
* Beachten Sie, dass hier der Preisindex für das BIP verwendet wurde, der die Preisentwicklung für alle Komponenten des BIP misst.
ANHANG 20 Gesamtwirtschaftliche Daten für die USA
Jahr Nomina- Reales BIP ArbeitsVPI les BIP (Mrd. US-$, losenquote 1982 bis (Mrd. Preise von 1984 US-$) 2000) (%) = 100
Jährliche Inflationsrate (CPI) (%)
Haushaltsüberschuss (+) oder -defizit (–) (Mrd. US-$)
Nettoexporte (Mrd. US-$)
1929
103,6
865,2
3,2
17,1
0,0
1,1
0,4
1933
56,4
635,5
24,9
13,0
–5,1
–1,3
0,1
1939
92,2
950,7
17,2
13,9
–1,4
–2,6
0,8
1945
223,1
1.786,3
1,9
18,0
2,3
–43,0
–0,8
1948
269,2
1.643,2
3,8
24,1
8,1
8,8
5,5
1950
293,8
1.777,3
5,2
24,1
1,3
7,6
0,7
1960
526,4
2.501,8
5,5
29,6
1,7
2,1
4,2
1970
1.038,5
3.771,9
5,0
38,8
5,7
–15,2
4,0
1971
1.127,1
3.898,6
6,0
40,5
4,4
–24,5
0,6
1972
1.238,3
4.105,0
5,6
41,8
3,2
–19,7
–3,4
1973
1.382,7
4.341,5
4,9
44,4
6,2
–5,5
4,1
1974
1.500,0
4.319,6
5,6
49,3
11,0
–9,6
–0,8
1975
1.638,3
4.311,2
8,5
53,8
9,1
–73,1
16,0
1976
1.825,3
4.540,9
7,7
56,9
5,8
–55,5
–1,6
1977
2.030,9
4.750,5
7,1
60,6
6,5
–48,3
–23,1
1978
2.294,7
5.015,0
6,1
65,2
7,6
–35,1
–25,4
1979
2.563,3
5.173,4
5,9
72,6
11,3
–22,0
–22,5
1980
2.789,5
5.161,7
7,2
82,4
13,5
–65,9
–13,1
1981
3.128,4
5.291,7
7,6
90,9
10,3
–64,6
–12,5
1982
3.255,0
5.189,3
9,7
96,5
6,2
–145,1
–20,0
1983
3.536,7
5.423,8
9,6
99,6
3,2
–193,5
–51,7
1984
3.933,2
5.813,6
7,5
103,9
4,3
–195,6
–102,7
602
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Jahr Nomina- Reales BIP ArbeitsVPI les BIP (Mrd. US-$, losenquote 1982 bis (Mrd. Preise von 1984 US-$) 2000) (%) = 100
Teil 5
Jährliche Inflationsrate (CPI) (%)
Haushaltsüberschuss (+) oder -defizit (–) (Mrd. US-$)
Nettoexporte (Mrd. US-$)
1985
4.220,3
6.053,7
7,2
107,6
3,6
–213,2
–115,2
1986
4.462,8
6.263,6
7,0
109,6
1,9
–229,6
–132,7
1987
4.739,5
6.475,1
6,2
113,6
3,6
–186,9
–145,2
1988
5.103,8
6.742,7
5,5
118,3
4,1
–166,9
–110,4
1989
5.484,4
6.981,4
5,3
124,0
4,8
–160,1
–88,2
1990
5.803,1
7.112,5
5,6
130,7
5,4
–208,3
–78,0
1991
5.995,9
7.100,5
6,9
136,2
4,2
–245,3
–27,5
1992
6.337,7
7.336,6
7,5
140,3
3,0
–322,9
–33,2
1993
6.657,4
7.532,7
6,9
144,5
3,0
–290,7
–65,0
1994
7.072,2
7.835,5
6,1
148,2
2,6
–221,4
–93,6
1995
7.397,7
8.031,7
5,6
152,4
2,8
–199,2
–91,4
1996
7.816,9
8.328,9
5,4
156,9
3,0
–147,8
–96,2
1997
8.304,3
8.703,5
4,9
160,5
2,3
–47,4
–101,6
1998
8.747,0
9.066,9
4,5
163,0
1,6
47,8
–159,9
1999
9.268,4
9.470,3
4,2
166,6
2,2
101,3
–260,5
2000
9.817,0
9.817,0
4,0
172,2
3,4
189,4
–379,5
2001 10.100,8
9.866,6
4,8
177,1
2,8
45,4
–366,5
2002 10.480,8
10.083,0
5,8
179,9
1,6
–258,6
–426,3
2003 10.990,8
10.397,0
6,0
184,0
2,3
–467,7
–498,5
Tabelle 20A-1: Tabelle 20A-1 führt einige der wichtigsten makroökonomischen Daten auf, die in diesem Kapitel behandelt wurden. Weitere Daten finden Sie auf den Websites der amerikanischen Regierung unter www.fedstats.gov, www.bea.gov oder www.bls.gov.
603
KAPITEL 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Wenn wir messen und in Zahlen ausdrücken können, worüber wir sprechen, dann wissen wir auch etwas darüber. Wenn wir es nicht messen und somit nicht in Zahlen ausdrücken können, dann ist unser Wissen darüber ungenügend; wir stehen vielleicht schon an der Schwelle zu höherem Wissen, aber die Stufe der Wissenschaft haben wir noch nicht erreicht. Lord Kelvin
Von allen Größen der Makroökonomie ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) die wichtigste; es misst den Gesamtwert an Waren und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft produziert werden. Das BIP ist Teil der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, das heißt einer Statistik, anhand derer Entscheidungsträger feststellen können, ob eine Wirtschaft wächst oder schrumpft und ob eine ernstzunehmende Rezession oder Inflation droht. Wenn Wirtschaftswissenschaftler den Grad der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes bestimmen wollen, dann betrachten sie das BIP pro Kopf der Bevölkerung. Obwohl das BIP, wie auch der Rest der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, von vielen als ein geheimnisvolles Konzept angesehen werden mag, stellt es in Wirklichkeit eine der größten Erfindungen des 20. Jahrhunderts dar. Ganz wie ein Satellit im Weltraum das Wetter eines gesamten Kontinents überwachen kann, so vermittelt das BIP einen Überblick über den Zustand der Volkswirtschaft. In diesem Kapitel erläutern wir, wie Ökonomen das BIP und andere bedeutende makroökonomische Größen messen.
Das Bruttoinlandsprodukt: Der Maßtab wirtschaftlicher Leistung Was versteht man unter Bruttoinlandsprodukt? Das BIP stellt den nominellen Wert aller im Inland erzeugten Endprodukte und Dienstleistungen während eines Jahres dar. Man erhält diese Zahl, indem man die unterschiedlichen Güter und Dienstleistungen – von Äpfeln bis Zithern – die in einem Land mit Hilfe seines Bodens, seiner Arbeitskräfte und Kapitalressourcen hergestellt werden, mit Geld bewertet. Das BIP entspricht der Gesamtproduktion aller Konsum- und Investitionsgüter, zuzüglich der Staatsausgaben und der Nettoexporte in andere Länder.
604
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stellt das umfassendste Maß für die Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft an Waren und Dienstleistungen dar. Es ist die Summe der Geldwerte des Konsums (C), der Bruttoinvestitionen (I), der Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (G) und der Nettoexporte (X), die in einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres hergestellt werden. Als Gleichung ausgedrückt: BIP = C + I + G + X Das BIP wird für viele Zwecke verwendet, am wichtigsten ist jedoch sein Einsatz als Messlatte für die Gesamtleistung einer Volkswirtschaft. Wenn Sie einen Wirtschaftshistoriker fragen würden, was während der Großen Depression geschah, dann könnte seine beste kurze Antwort lauten: Zwischen 1929 und 1933 sank das BIP von US-$ 104 Milliarden auf US-$ 56 Milliarden. Dieser beträchtliche Rückgang des Geldwertes von Waren und Dienstleistungen, welche die amerikanische Wirtschaft bereitstellte, führte zu hoher Arbeitslosigkeit, Elend, einem Fall der Börsenkurse ins Bodenlose, Konkursen, Bankenzusammenbrüchen, Aufständen und politischen Unruhen.
Würden Sie fragen, was an den neunziger Jahren ungewöhnlich war, so könnte ein Makroökonom auf ähnliche Weise antworten: Die neunziger Jahre waren die längste Phase wirtschaftlichen Aufschwungs in der Geschichte der USA. Von 1992 – 2000 wuchs das reale BIP stetig und um insgesamt 34 Prozent an, die Arbeitslosigkeit ging zurück, die Preise blieben stabil und die Börsenkurse stiegen.
In diesem Kapitel werden wir die einzelnen Elemente der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung diskutieren. Dabei beginnen wir mit der Darstellung der verschiedenen Berechnungsmöglichkeiten sowie der Unterscheidung zwischen realem und nominalem BIP.
Teil 5
Danach betrachten wir die Hauptbestandteile des BIP. Wir beschließen das Kapitel mit einer Debatte über die Messung des allgemeinen Preisniveaus und der Inflationsrate.
Zwei Berechnungsmethoden des Bruttoinlandsprodukts: Güterstrom und Einkommensstrom Wie messen Ökonomen das Bruttoinlandsprodukt? Eine der größten Überraschungen besteht darin, dass wir das BIP auf zwei völlig unterschiedliche Arten messen können. Wie Abbildung 21-1 zeigt, kann es entweder als Güterstrom (Verwendungsseite) oder als Einkommensstrom (Entstehungsseite) ermittelt werden. Wir setzen uns im Folgenden mit diesen beiden Möglichkeiten der BIP-Berechnung auseinander, indem wir uns eine sehr vereinfachte Welt ohne Staat, Außenhandel und Investitionen vorstellen. Unsere einfache Volkswirtschaft produziert ausschließlich Konsumgüter, die Haushalte zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse kaufen. (Unser erstes Beispiel ist absichtlich grob vereinfacht, um die zugrunde liegende Idee zu verdeutlichen. In den anschließenden realitätsnäheren Beispielen werden wir Investitionen, Staatsausgaben und die Außenwirtschaft berücksichtigen.) Der Güterstromansatz. Jahr für Jahr konsumieren die Haushalte Güter wie zum Beispiel Äpfel, Computersoftware und Blue Jeans und nehmen Dienstleistungen wie Gesundheitsfürsorge und Haarschneiden in Anspruch. Wir beziehen nur Endprodukte ein, das heißt unmittelbar von Konsumenten gekaufte und verbrauchte Produkte. Haushalte geben ihr Einkommen für diese Konsumgüter aus, wie in der oberen Schleife in Abbildung 21-1 zu sehen ist. Wenn man die Geldwerte aller Endprodukte addiert, errechnet man das BIP unserer vereinfachten Volkswirtschaft. Wie Sie sehen, kann man in unserem einfachen Modell einer Volkswirtschaft ohne Schwierigkeiten das Volkseinkommen oder das Bruttoinlandsprodukt als Summe der jährlichen End-
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Kreislauf der makroökonomischen Aktivitäten Konsumausgaben (in US-$)
(a) Endprodukte und Dienstleistungen (Brot, Computer, Haarschnitte etc.)
Käufer (Haushalte, öffentliche Hand etc.)
Produzenten (Unternehmen)
(b) Produktive Dienste (Arbeit, Boden etc.)
Löhne, Zinsen, Gewinne etc. (in US-$)
Abbildung 21-1: Das Bruttoinlandsprodukt kann entweder als Güterstrom (a) oder als Kostenstrom (b) gemessen werden Im oberen Teil des Diagramms erwerben Käufer Waren und Dienstleistungen. Dieser jährliche Ausgabenfluss ist ein Maßstab für das Bruttoinlandsprodukt. Im unteren Teil des Kreislaufs werden die für die Produktionsleistung jährlich aufgewendeten Kosten dargestellt: Das sind die Einkommen, die Unternehmen in Form von Löhnen und Gehältern, Mieten, Zinsen, Dividenden und Gewinnen an die Haushalte zahlen. Die beiden Berechnungsmöglichkeiten des BIP müssen immer zum selben Ergebnis führen. Beachten Sie, dass diese Abbildung das makroökonomische Gegenstück zu Abb. 2-1 ist, die das mikroökonomische Kreislaufdiagramm von Angebot und Nachfrage darstellt.
produkt- und Dienstleistungsströme berechnen: (Preis von Blue Jeans Menge von Blue Jeans) + (Apfelpreis Apfelmenge) und so weiter für alle Endprodukte. Das Bruttoinlandsprodukt ist definiert als der gesamte Geldwert aller Endprodukte, die in einem Land produziert werden. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung verwendet Marktpreise zur Bewertung unterschiedlicher Wirtschaftsgüter, weil die Marktpreise den relativen Wert der verschiedenen Waren und Dienstleistungen widerspiegeln. Das bedeutet, dass die relativen Preise unterschiedlicher Waren anzeigen, wie hoch Konsumenten die jeweils letzte (oder Grenz-) Einheit dieser konsumierten Güter bewerten.
Der Einkommens- oder Kostenstromansatz. Die zweite gleichwertige Berechnungsmethode des Bruttoinlandsprodukts setzt am Einkommens- oder Kostenstrom (an der Entstehungsseite) an. Betrachten Sie die untere Schleife in Abbildung 21-1: Hier sind alle Kosten der wirtschaftlichen Tätigkeit dargestellt. Diese Kosten beinhalten Löhne und Gehälter, Grundrenten, Kapitalgewinne und so weiter. Aber diese Kosten für die Wirtschaft stellen ebenso die Einkünfte der Haushalte dar, die sie von Unternehmen erhalten. Statistiker können das BIP ebenso durch die Messung dieser jährlichen Einkommensströme bzw. Gewinne berechnen.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Damit umfasst diese zweite Art der BIPBerechnung die Summe aller Faktoreinkommen (Löhne und Gehälter, Zins- und Mieterträge sowie Gewinne), die wiederum nur die Produktionskosten für die Endprodukte einer Volkswirtschaft darstellen. Die Entsprechung der zwei Methoden. Wir haben nun das BIP anhand des Güterstroms im oberen Teil des Diagramms und anhand des Einkommensstroms im unteren Teil des Diagramms ermittelt. Welche Methode ist die bessere? Die überraschende Antwort lautet, dass beide vollkommen gleichwertig sind. Wir können die Identität der zwei Methoden verständlich machen, indem wir uns eine einfache Volkswirtschaft mit Friseuren vorstellen. Nehmen wir an, dass der Einsatz des Faktors Arbeit die einzige Kostenart der Friseure darstellt. Wenn sie zehn Haarschnitte zu je US-$ 8 verkaufen, beläuft sich das BIP auf US-$ 80. Aber auch der Erlös der Friseure (Löhne und Gewinne) macht US-$ 80 aus. Deshalb ist das errechnete BIP identisch, gleich ob es anhand des Dienstleistungsstroms (US-$ 80 an Frisuren) oder anhand des Einkommensstroms (US-$ 80 an Löhnen und Gewinn) ermittelt wird. Die beiden Methoden stimmen im Ergebnis deshalb überein, weil wir im unteren Teil des Diagramms den „Gewinn“ inklusive Löhne und Miete mit eingeschlossen haben. Was genau ist unter Gewinn zu verstehen? Der Gewinn stellt eine Restgröße dar, die nach dem Verkauf eines Produkts übrig bleibt, nachdem alle anderen Faktorkosten (wie Löhne, Zinsen und Mieten) bezahlt sind. Demnach ist Gewinn der Restbetrag, der immer den unteren Teils des Kreislaufs (Kosten bzw. Einkünfte) an den oberen Teil des Kreislaufs (den Wert der Güter) anpasst. Zusammenfassend können wir feststellen: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) lässt sich auf zwei unterschiedliche Arten berechnen: (1) als Strom von Endprodukten oder (2) als Strom der Gesamtkosten bzw. -einkünfte. Da der Gewinn eine Restgröße darstellt, bringt
Teil 5
er die Ergebnisse der beiden Berechnungsarten immer in Übereinstimmung, und es resultiert daraus das exakt gleich hohe BIP.
Unternehmensbilanzen und BIP Sie werden sich vielleicht fragen, woher Ökonomen all die für die Berechnung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung notwendigen Daten nehmen. Diese werden aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen ermittelt, beispielsweise aus Umfragen, Einkommenssteuererklärungen oder statistischen Daten über die Umsätze des Einzelhandels und die Beschäftigungslage. Die wichtigste Datenquelle stellen die Unternehmensbilanzen dar. Eine Bilanz einer Firma oder eines Landes besteht aus der Addition aller Ströme (Produktion, Kosten usw.) während einer bestimmten Periode. Wir können den Zusammenhang zwischen Unternehmensbilanzen und Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung demonstrieren, indem wir die Gesamtrechnung für eine Wirtschaft zusammenstellen, die nur aus Bauernhöfen besteht. Der obere Teil von Tabelle 21-1 zeigt das während eines Jahres erwirtschaftete Betriebsergebnis eines typischen Bauernhofs. Die linke Seite des Kontos führt den Umsatz an Endprodukten auf, die rechte Seite zeigt die verschiedenen Produktionskosten. Der untere Teil von Tabelle 21-1 veranschaulicht den Kontenrahmen des BIP für eine einfache agrarische Volkswirtschaft, in der alle Endprodukte von 10 Millionen identischen Bauernhöfen produziert werden. Im BIP werden die Endprodukte sowie die Kosten der 10 Millionen Bauern jeweils aufsummiert oder aggregiert, und man erhält so zwei unterschiedliche Messmethoden für das BIP.
Das Problem der „Doppelzählungen“ Wir definierten das BIP als die gesamte Produktion an Endprodukten und Dienstleistungen. Ein Endprodukt wird für Konsum- oder Investitionszwecke hergestellt und verkauft. Im BIP werden also keine Halbfabrikate be-
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
(a) Gewinn- und Verlustrechnung eines typischen Bauernhofs Landwirtschaftliche Produktion Einnahmen Verkauf von Waren (Getreide, Äpfel etc.) $ 1.000 Produktionskosten: Löhne Mieten Zinsen Gewinn (Restgröße) Insgesamt $ 1.000 Insgesamt
$ 800 100 25 75 $ 1.000
(b) Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (in Mio. US-$) Oberer Kreislauf: Güterstrom Unterer Kreislauf: Einkommensstrom Gesamtproduktion (10 1.000) $ 10.000 Kosten/Erträge: Löhne (10 x 800) $ 8.000 Mieten (10 x 100) 1,000 Zinsen (10 x 25) 250 Gewinne (10 x 75) 750 BIP gesamt $ 10.000 BIP gesamt $ 10.000 Tabelle 21-1: Von der Betriebsbuchhaltung zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Teil (a) zeigt die Gewinn- und Verlustrechnung eines typischen Bauernhofs. Auf der linken Seite finden sich Angaben zur Produktion, auf der rechten Daten zu den entstandenen Kosten. In Teil (b) werden die Ergebnisse von zehn Millionen identischen landwirtschaftlichen Betrieben zum BIP aufsummiert. Beachten Sie, dass das BIP auf der Entstehungsseite genau dem BIP auf der Verwendungsseite entspricht.
rücksichtigt, d.h. Güter, die für die Produktion von anderen Gütern aufgebraucht werden. Damit ist im BIP Brot enthalten, aber kein Weizen; Heimcomputer werden berücksichtigt, aber keine Mikroprozessoren. Für die BIP-Kalkulation nach dem Güterstromverfahren stellt die Nichtberücksichtigung von Halbfabrikaten kein großes Problem dar. Wir berücksichtigen einfach Brot und Computer im BIP, schließen den Weizen und den Teig zur Brotherstellung aber ebenso aus wie die Mikroprozessoren und den Kunststoff, die man für Computer benötigt. Dies können wir auch der oberen Schleife des Kreislaufs in Abbildung 21-1 entnehmen. Sie sehen, dass Brot und Computer im Güterstrom der Verwendungsrechnung enthalten sind, aber kein Mehl und keine Mikroprozessoren. Was ist also mit Produkten wie Mehl oder Mikroprozessoren geschehen? Sie stellen Halbfabrikate dar und zirkulieren einfach innerhalb des als „Unternehmen“ betitelten
Quaders. Solange sie nicht von Konsumenten gekauft werden, erscheinen sie nie als Endprodukte im BIP. Die „Wertschöpfung“ in der unteren Kreislaufschleife. Ein junger Statistiker, der gerade lernt, wie man das BIP berechnet, könnte seine Verwirrung mit folgenden Worten zum Ausdruck bringen: Ich begreife, dass man bei sorgfältiger Messung in der oberen Güterkreislaufschleife die Berücksichtigung von Halbfabrikaten ausschließen kann. Ich frage mich aber, ob nicht Schwierigkeiten bei der BIP-Berechnung aus der unteren Kosten- oder Einkommenskreislaufschleife entstehen können. Werden wir nicht, wenn wir die gesammelten Unternehmensbilanzen auswerten, auch erfassen, was die Getreidehändler den Bauern bezahlen, was die Bäcker den Getreidehändlern zahlen und was die Lebensmittelhändler den Bäckern geben? Liefe das nicht auf Doppel- oder sogar
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Dreifachzählungen von Posten hinaus, die mehrere Produktionsstufen durchlaufen?
Das sind berechtigte Fragen. Zur Lösung dieses Problems gibt es jedoch eine zufrieden stellende Antwort. Bei der Berechnung der Einkommenskreislaufschleife achten Statistiker besonders darauf, nur die Wertschöpfung der jeweiligen Produktionsstufe zu berücksichtigen und nicht den Gesamtwert des Produkts. Diese Wertschöpfung entspricht dem Unterschied zwischen den Verkaufs- und Einkaufspreisen der zur Produktion verwendeten Materialien und Dienstleistungen. Anders ausgedrückt, berücksichtigt der Statistiker bei der BIP-Berechnung bzw. der Berechnung der Wertschöpfung eines Unternehmens alle Kosten, abgesehen von Zahlungen an andere Unternehmen. Damit werden Produktionskosten in Form von Löhnen und Gehältern, Zinszahlungen und Dividenden mit eingerechnet, Einkäufe von Weizen, Stahl oder Elektrizität jedoch von der Wertschöpfung ausgeschlossen. Weshalb aber werden alle bei anderen Unternehmen getätigten Einkäufe nicht einbezogen? Die Antwort lautet, dass diese Produkte bereits bei den Lieferanten und Vorlieferanten ordnungsgemäß als deren Wertschöpfung in das BIP eingehen.
Produktionsstufe
Weizen Mehl Teig Endprodukt: Brot Gesamt
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Tabelle 21-2 veranschaulicht anhand der verschiedenen Produktionsstufen der Brotherstellung, wie ein sorgfältiges Festhalten am Wertschöpfungsverfahren es uns ermöglicht, die Aufwendungen für den Kauf von Halbfabrikaten abzuziehen, die in den Bilanzen der Bauern, Müller, Bäcker und Lebensmittelhändler stehen. Dadurch kommt es am Ende zu der gewünschten Gleichheit zwischen (1) dem Verkaufswert des Endproduktes Brot und (2) dem daraus erzielten Gesamteinkommen, das sich als Summe der Wertschöpfung aller Stufen der Brotproduktion ergibt. Wertschöpfungsansatz: Um Doppelzählungen zu vermeiden, achten wir darauf, dass bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts nur Endprodukte und keine Halbfertigprodukte, die man zur Herstellung der Endprodukte verwendet, berücksichtigt werden. Auf jeder Produktionsstufe wird die Wertschöpfung ermittelt, indem die Ausgaben für von anderen Unternehmen gekaufte Halbfertigprodukte abgezogen werden. Dadurch wird in der unteren Einkommenskreislaufschleife jegliche Doppelzählung vermieden und Löhne, Zinsen, Mieten und Gewinne nur einmal einbezogen.
Brotumsatz, Kosten und Wertschöpfung (Cents pro Laib) (1) (2) (3) Verkaufserlös Minus: Wertschöpfung Kosten für (Löhne, Gewinne etc.) Vorleistungen (3) = (1) – (2) 23 0 = 23 53 23 = 30 110 53 = 57 190 110 = 80 376 186 190 (Summe der Wertschöpfung)
Tabelle 21-2: Das BIP ist die Summe der Wertschöpfungen aller einzelnen Produktionsstufen Um Doppelzählungen zu vermeiden, ermitteln wir auf jeder Produktionsstufe die Wertschöpfung, indem wir alle Kosten für Material und Halbfertigfabrikate, die von anderen Unternehmen gekauft wurden, vom Gesamtverkaufserlös abziehen. Beachten Sie, dass alle Halbfertigprodukte in Spalte (1) erscheinen, auf der nächsten Produktionsstufe in Spalte (2) aber wieder abgezogen werden. (Um wie viel würde das BIP zu hoch geschätzt, wenn wir alle Verkaufserlöse hineinrechneten, nicht nur die Wertschöpfung? Pro Laib Brot würden wir den Wert um 186 Cents zu hoch schätzen.)
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Details der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Da wir nun einen Überblick über die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gewonnen haben, werden wir uns im restlichen Kapitel etwas eingehender mit den verschiedenen Sektoren beschäftigen. Schauen Sie sich zur Einstimmung Tabelle 21-3 an, damit Sie wissen, worum es geht. Hier sehen wir eine Zusammenfassung der Konten sowohl der Produktions- als auch der Einkommensseite. Wenn Sie mit der Tabellenstruktur und den verwendeten Begriffen etwas anzufangen wissen, dann haben Sie bereits einen großen Schritt hin zum Verständnis des Bruttoinlandsprodukts und dessen Bestandteilen gemacht. Verwendungsrechnung
Verteilungsrechnung
Komponenten des Erlöse und Kosten Bruttoinlandsprodukts: als Basis des BIP: Konsum (C)
Löhne, Gehälter, Lohnnebenkosten
+ Private Bruttoinlandsinvestitionen (I)
+ Unternehmensgewinne
+ Staatsverbrauch (G)
+ Zinsen, Mieten, Besitzeinkommen
+ Nettoexporte (X)
+ Abschreibungen + indirekte Steuern
entspricht dem Bruttoinlandsprodukt
entspricht dem Bruttoinlandsprodukt
Tabelle 21-3: Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung: eine Übersicht Diese Tabelle zeigt die Hauptkomponenten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die linke Seite stellt die Komponenten der Verwendungsrechnung (oberer Kreislauf) dar: die Symbole C, I, G, und X werden häufig zur Bezeichnung der vier Komponenten des BIP verwendet. Auf der rechten Seite sind die Elemente der Verteilungsrechnung (unterer Kreislauf) angegeben. Die BIP-Berechnung führt nach beiden Methoden zum gleichen Ergebnis.
Reales und nominales BIP: „Bereinigung“ des BIP durch einen Preisindex Wir definieren das Bruttoinlandsprodukt als den Geldwert von Endprodukten und Dienstleistungen. Für die Messung des Geldwertes verwenden wir die Marktpreise der verschiedenen Waren und Dienstleistungen. Preise ändern sich jedoch im Lauf der Zeit, da die Inflation das allgemeine Preisniveau in der Regel jährlich ansteigen lässt. Das bedeutet aber, dass man anstatt mit einem immer gleich langen „Zollstock“ mit einem gummiartigen Maßstab misst, der sich in der Hand von Tag zu Tag weiter ausdehnt. Wenn Wirtschaftswissenschaftler Geld als Maßstab verwenden wollen, müssen sie das Problem der Preisveränderungen in den Griff bekommen. Natürlich wünschen wir uns eine stabile Messlatte für die Feststellung der gesamtwirtschaftlichen Produktion bzw. des Einkommens. Die Ökonomen können die allzu flexible Messlatte durch eine zuverlässigere ersetzen, indem sie den Preisanstieg herausrechnen und so einen realen oder Mengenindex für die volkswirtschaftliche Leistung schaffen. Folgende Idee liegt diesem Konzept zugrunde: Wir können das BIP eines bestimmten Jahres durch die Verwendung der aktuellen Marktpreise berechnen; damit erhalten wir das nominale BIP, das auch als BIP zu Marktpreisen bezeichnet wird. Meistens sind wir jedoch mehr daran interessiert festzustellen, was mit dem realen BIP geschehen ist, das einen Index des Volumens oder der Menge der hergestellten Waren und bereitgestellten Dienstleistungen darstellt. Das reale BIP berechnet man, indem man das Produktionsvolumen betrachtet, nachdem man den Einfluss von Preisveränderungen (Inflation) eliminiert hat. Das heißt, dass man zur Berechnung des nominalen BIP sich ändernde Preise verwendet, während das reale BIP die Mengenänderungen der gesamten Produk-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
tionsleistung darstellt, nachdem man die Preisveränderungen herausgerechnet hat. Der Unterschied zwischen dem Wachstum des nominalen und des realen BIP ist der Preisanstieg des BIP, den man gelegentlich auch als BIP-Deflator bezeichnet. Ein einfaches Beispiel soll zur Veranschaulichung dieses Verfahrens dienen. Nehmen wir an, ein Land produziert 1.000 Scheffel Getreide im Jahr 1 und 1.010 Scheffel im Jahr 2. Der Preis eines Scheffels beträgt US$ 1 im Jahr 1 und US-$ 2 im Jahr 2. Damit beträgt das nominale Bruttoinlandsprodukt (PQ) US-$ 1.000 im Jahr 1 und US-$ 2.020 im Jahr 2. Vom einen Jahr zum nächsten wuchs das nominale BIP um 102 Prozent. Das wirkliche Produktionsniveau erhöhte sich jedoch keineswegs in diesem Ausmaß. Zur Bestimmung der realen Produktionsleistung müssen wir berücksichtigen, was mit den Preisen geschah. Wir verwenden das Jahr 1 als das Basisjahr, das heißt das Jahr, in dem wir die Preise messen. Der Preisindex (BIPDeflator) wird im Basisjahr auf eins gesetzt (P1 = 1). Aus den Daten im vorigen Absatz errechnet sich ein BIP-Deflator von P2 = $ 2/ $ 1 = 2 im Jahr 2. Das reale BIP (Q) entspricht dem nominalen BIP (PQ) dividiert durch den BIP-Deflator (P). Deshalb gilt für unsere Rechnung, dass sich das reale BIP im Jahr 1 auf $ 1.000/1 = $ 1.000 und im Jahr 2 auf $ 2.020/2 = $ 1.010 beläuft. Daraus ergibt sich eine Wachstumsrate des realen BIP (korrigiert um die Preisänderungen) von 1%. Dies entspricht genau der Produktionserhöhung des Getreides von Jahr 1 auf Jahr 2. Ein historischer Vergleich der Jahre 1929 bis 1933 soll das Verfahren der Preisbereinigung des BIP anhand eines konkreten Beispiels veranschaulichen. Tabelle 21-4 weist ein nominales BIP von US-$ 104 Milliarden für 1929 und US-$ 56 Milliarden für 1933 aus. Während dieser Jahre kam es also zu einem Rückgang des nominalen BIP um 46 Prozent. Die Regierung der Vereinigten Staaten schätzt jedoch, dass die Preise während der Depression um etwa 25 Prozent fielen. Wenn wir 1929 als unser Basisjahr mit einem BIP-
Teil 5
Deflator von 1 definieren, so ergibt sich für das Jahr 1933 ein Preisindex von ungefähr 0,75. Folglich war das BIP des Jahres 1933 mit US-$ 56 Milliarden tatsächlich viel mehr wert als nur die Hälfte des BIP von 1929. Tabelle 21-4 zeigt, dass in Preisen von 1929, oder zu der Kaufkraft von 1929, das reale BIP auf US-$ 76 Milliarden fiel. Die Halbierung des nominalen BIP wurde also zum Teil durch das rasch sinkende Preisniveau, die so genannte Deflation während der Großen Depression, verursacht. In Abbildung 21-2 stellt die schwarze Linie das Wachstum des nominalen BIP seit dem Jahr 2000 dar, und zwar zu den in dem jeweiligen Jahr tatsächlich vorherrschenden Preisen. Zum Vergleich ist die Entwicklung des realen BIP in Preisen von 2000 in rostfarben dargestellt. Offensichtlich ist ein großer Teil des Anstiegs des nominalen BIP der letzten 50 Jahre auf die Inflation zurückzuführen. Tabelle 21-4 zeigt die einfachste Methode zur Berechnung des realen BIP und des BIPDeflators. Mitunter resultieren diese Berechnungen in irreführenden Ergebnissen, besonders wenn Importmengen und -preise sich (1)
(2)
(3)
Jahr
Nominales BIP (in Mrd. $ zu laufenden Preisen)
Preisindex (BIPDeflator, 1929 =1))
reales BIP (in Mrd. $ zu Preisen von 1929) (1) (3) = -------(2)
1929
104
1,00
1933
56
0,77
104 ---------- = 104 1,00 56 ---------- = 76 0,76
Tabelle 21-4: Das reale BIP ergibt sich aus der Division des nominalen BIP durch den BIP-Deflator Mithilfe des Preisindex in Spalte (2) bereinigen wir das nominale BIP der Spalte (1), um zum realen BIP in Spalte (3) zu gelangen. (Quizfrage: Können Sie nachweisen, dass das reale BIP des Jahres 1929, bewertet zu den Preisen des Jahres 1933, US-$ 77 Mrd. betrug? Hinweis: Wenn Sie 1933 als Basisjahr für den Preisindex wählen, dann lag der Preisindex 1929 bei 1,34.)
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
12.000 10.000 8.000 Reales BIP (Preise von 2000) 6.000 4.000
Bruttoinlandsprodukt (in Mrd. US-$/Jahr)
2.000
1.000
400
Nominales BIP
100
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Jahr
Abbildung 21-2: Inflationsbedingt wächst das nominale BIP schneller als das reale BIP Der Anstieg des nominalen BIP ist höher als das Produktionswachstum, weil im nominalen BIP sowohl die Preis- als auch die Produktionszuwächse eingerechnet sind. Um ein genaues Maß der realen Produktionsleistung zu erhalten, müssen wir das nominale BIP um die Preisveränderungen bereinigen. Quelle: US-Handelsministerium
rasch ändern. Während der beiden letzten Jahrzehnte sind beispielsweise die Preise für Computer drastisch gesunken, die Produktionsmengen dagegen rapide gestiegen (bei unserer Diskussion der Preisindizes weiter unten kommen wir auf dieses Thema zurück). Wenn sich die relativen Preise verschiedener Waren schnell ändern, dann führt die Verwendung von konstanten Preisen eines bestimmten Jahres zu irreführenden Schätzungen hinsichtlich des Wachstums des realen BIP. Um diese Verzerrung zu korrigieren, verwenden Statistiker ein Verfahren, das als Kettengewichtung bezeichnet wird. Dabei lässt man die relativen Gewichte für die einzelnen Jahre nicht konstant (beispielsweise indem man die Gewichte für ein bestimmtes Jahr wie 1990 verwendet), sondern die Gewichte für die einzelnen Waren und
Dienstleistungen ändern sich von Jahr zu Jahr, um die sich ändernden Ausgabenmuster einer Volkswirtschaft widerzuspiegeln. Heutzutage werden für die Berechnungen des BIP und des BIP-Preisindex durch die US-Regierung Kettengewichtungen verwendet. Die genauen Bezeichnungen für die so berechneten Größen sind „reales BIP in kettengewichteten US-Dollar“ und „kettengewichteter Preisindex für das BIP“. Um uns kurz zu fassen, verwenden wir generell die Ausdrücke reales BIP und BIP-Preisindex.1 Weitere Hinweise zur Kettengewichtung. Genaue Angaben zur Kettengewichtung sind 1 Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden arbeitet mit einem Qualitätsbereinigungsverfahren, es verwendet keine Kettengewichtung. A.d.Ü.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
etwas komplizierter, aber anhand eines einfachen Beispiels können wir uns die Grundidee erschließen. Zur Berechnung der Kettengewichte muss man die Produktions- und Preisdatenreihen verbinden, indem man die Wachstumsraten von einer Periode zur nächsten multipliziert. Am Beispiel einer aus Friseuren bestehenden Volkswirtschaft lässt sich dies darstellen. Nehmen wir an, der Wert aller Haarschnitte im Jahre 1998 war US$ 300. Weiterhin nehmen wir an, dass die Menge aller Haarschnitte von 1998 auf 1999 um ein Prozent stieg und von 1999 auf 2000 um zwei Prozent. Dann beträgt der Wert des realen BIP (in kettengewichteten Dollar von 1998) US-$ 300 für 1998, US-$ 300 1,01 = US-$ 303 für 1999 und US-$ 303 1,02 = US$ 309,06 für 2000. Wenn wir viele verschiedene Waren und Dienstleistungen betrachten, dann addieren wir die Wachstumsraten der unterschiedlichen Elemente, also Äpfel, Bananen, Katamarane usw. und gewichten die Wachstumsraten mit den Ausgaben für die verschiedenen Waren. Zusammenfassend können wir feststellen: Das nominale BIP (PQ) stellt den gesamten Geldwert aller Endprodukte und Dienstleistungen dar, die in einem bestimmten Jahr produziert wurden, wobei deren Bewertung zu Marktpreisen des jeweiligen Jahres erfolgt. Das reale BIP (Q) rechnet die Preisveränderungen aus dem nominalen BIP heraus und berechnet das BIP auf der Basis der Mengen von Waren und Dienstleistungen. Der BIP-Preisindex (P) ist der „Preis des BIP“ und lässt sich annähernd folgendermaßen berechnen:
P BIP Q = reales BIP = nominales -------------------------------------------- = ---R BIP-Deflator Um den sich schnell ändernden relativen Preisen Rechnung zu tragen, verwendet man für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Vereinigten Staaten Kettengewichte, um das reale BIP und Preisindizes zu berechnen.
Teil 5
Konsum Der erste wichtige Bestandteil des BIP ist der Konsum, präziser ausgedrückt die „privaten Konsumausgaben“. Der Konsum ist die mit Abstand größte Komponente des BIP und machte während der letzten Jahre etwa zwei Drittel des Gesamtvolumens aus. Abbildung 21-3 zeigt den Teil des BIP, der während der letzten sechs Jahrzehnte in den USA für Konsum ausgegeben wurde. Die Konsumausgaben lassen sich in drei Gruppen unterteilen: langlebige Güter wie beispielsweise Autos, Verbrauchsgüter wie Lebensmittel sowie Dienstleistungen, zum Beispiel die Gesundheitsfürsorge. Der Dienstleistungssektor wächst am schnellsten.
Investitionen und Kapitalbildung Bislang haben wir in unserer Analyse kein Kapital berücksichtigt. In Wirklichkeit verwenden Volkswirtschaften jedoch einen Teil ihres gesamten Outputs zur Produktion von Kapital – langlebigen Wirtschaftsgütern, welche zur Erhöhung der zukünftigen Produktion beitragen. Damit Kapital gebildet werden kann, muss man zur Erhöhung des zukünftigen Konsums auf gegenwärtigen Konsum verzichten. Anstatt jetzt mehr Pizzas zu essen, bauen die Menschen mit dem gesparten Geld neue Pizzaöfen, um für den zukünftigen Konsum mehr Pizzas backen zu können. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zählt man zu den Investitionen alle Zugänge zum Kapitalstock eines Landes, also zu Gebäuden, Anlagen und Maschinen, Software und Lagerbeständen, während eines Jahres. In die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gehen viele materielle Kapitalgüter ein (beispielsweise Gebäude und Computer), aber kaum immaterielle Kapitalgüter (also Ausgaben für Forschung und Entwicklung oder Ausbildung). Wie werden Investitionen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung berücksichtigt? Wenn Menschen einen Teil der gesamten Pro-
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Anteil des Konsums am BIP (in Prozent)
85 80 75 70 65 60 55 50 45 1930
1940
1950
1960
1970 Jahr
1980
1990
2000
2010
Abbildung 21-3: In letzter Zeit ist der Anteil des Konsums am BIP gestiegen Der Anteil des Konsums am gesamten BIP stieg während der Großen Depression, als wenig Investitionsanreize bestanden; er sank während des Zweiten Weltkriegs, als Kriegsausgaben private Bedürfnisse in den Hintergrund drängten. Während der letzten beiden Jahrzehnte ist der Konsum schneller gestiegen als die gesamte Produktionsleistung; Sparquote und Staatsausgaben sind hingegen gesunken. Quelle: US-Handelsministerium
duktionsmöglichkeiten statt für unmittelbaren Konsum für die Kapitalbildung verwenden, erkennen die Statistiker, dass dieser Output in die obere Schleife des BIP-Kreislaufs einbezogen werden muss. Investitionen erhöhen den langfristigen Bestand an Kapitalgütern, wodurch die zukünftigen Produktionsmöglichkeiten steigen. Folglich müssen wir unsere ursprüngliche Definition modifizieren: Das BIP ist die Summe aller Endprodukte. Neben Konsumgütern und Dienstleistungen müssen wir auch die Bruttoinvestitionen einbeziehen. Realinvestitionen verglichen mit Finanzinvestitionen Wirtschaftswissenschaftler definieren „Investitionen“ (mitunter auch als Realinvestitionen bezeichnet) als Produktion von langlebigen Kapitalgütern. Im täglichen Umgang spricht man auch von „Investitionen“, wenn man sein Geld verwendet, um Aktien von General Motors zu kaufen
oder auf einem Sparkonto anzulegen. Der Eindeutigkeit wegen bezeichnen Ökonomen dies als Finanzinvestitionen. Bitte verwechseln Sie diese beiden unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „Investitionen“ nicht. Wenn ich US-$ 1.000 aus dem Safe nehme und ein paar Aktien kaufe, dann handelt es sich dabei nicht um eine Investition im makroökonomischen Sinne. Ich habe einfach nur eine Art der Geldanlage durch eine andere ersetzt. Eine Investition liegt dann vor, wenn ein physisches Kapitalgut hergestellt wird.
Netto- oder Bruttoinvestitionen. Unsere korrigierte Definition des BIP umfasst nun neben dem Konsum auch die „Bruttoinvestitionen“. Was bedeutet nun „brutto“ in diesem Zusammenhang? Es zeigt an, dass alle produzierten Investitionsgüter gemeint sind. Diese Bruttoinvestitionen sind noch nicht um die Abschreibungen berichtigt, welche den jährlichen Kapitalverbrauch messen. Die Bruttoinvestitionen umfassen alle innerhalb eines
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Jahres produzierten Maschinen, Fabriken und Häuser – auch wenn manche von ihnen nur produziert wurden, um alte Kapitalgüter zu ersetzen, die vielleicht niedergebrannt oder auf der Müllkippe gelandet sind. Als Maß für den Zuwachs des Kapitalstocks einer Volkswirtschaft taugen die Bruttoinvestitionen kaum. Da sie noch nicht um die Abschreibungen bereinigt sind, ist ihre Summe zu groß. Ein Vergleich mit der Bevölkerungsentwicklung wird den Zweck der Abschreibungen verdeutlichen: Wenn Sie das Bevölkerungswachstum ermitteln wollen, ist es nicht sinnvoll, nur die Geburten zu zählen, denn damit würde der Nettozuwachs der Bevölkerung eindeutig übertrieben. Zur Berechnung des Bevölkerungswachstums muss man die Todesfälle abziehen. Das gleiche gilt auch für das Kapital. Der Nettoanstieg des Kapitals wird berechnet, indem von den Bruttoinvestitionen die Kapitalverminderung in Form von Abschreibungen (bzw. der Betrag des aufgebrauchten Kapitals) abgezogen wird. Um die Kapitalbildung zu schätzen, messen wir immer die Nettoinvestitionen. Die Nettoinvestitionen ergeben sich aus der Summe der Kapitalzunahme (Bruttoinvestitionen) abzüglich der Summe der Kapitalvernichtung (Abschreibungen). Wir definieren die Nettoinvestitionen als Bruttoinvestitionen minus Abschreibungen.
Der Staat In unserer Analyse haben wir uns bislang zwar mit dem Konsum beschäftigt, aber dabei den größten aller Konsumenten, den Bund und die Landesregierungen, ausgeschlossen. Irgendwie müssen im BIP auch die Milliardenbeträge berücksichtigt werden, die ein Staat kollektiv konsumiert oder investiert. Aber wie geschieht das? Es ist kompliziert, den Beitrag des Staates zum Inlandsprodukt zu ermitteln, weil die meisten Dienste des Staates nicht am Markt verkauft werden. Der Staat kauft sowohl
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Konsumgüter (beispielsweise Lebensmittel für die Soldaten) als auch Investitionsgüter (Computer oder Straßen). Um den Beitrag des Staates zum BIP zu erfassen, addieren wir einfach alle Käufe des Staates zum Konsum, den Investitionen und, wie wir später noch sehen werden, den Nettoexporten. Die dritte große Kategorie des Güterstroms umfasst alle Lohn- und Gehaltszahlungen des Staates an die von ihm Beschäftigten, außerdem die Kosten für Waren, die der Staat von der Privatwirtschaft kauft (Lasergeräte, Straßen, Flugzeuge), und wird als „Staatsverbrauch an Gütern und Dienstleistungen“ bezeichnet. Sie entspricht dem Beitrag des Bundes, der Länder und der Gemeinden zum BIP. Nichtberücksichtigung von Transferzahlungen. Bedeutet dies nun, dass jeder Dollar an Staatsausgaben im BIP enthalten ist? Sicherlich nicht, da im BIP nur öffentliche Ausgaben für Güter und Dienstleistungen berücksichtigt und Transferzahlungen ausgeschlossen werden. Staatliche Transferzahlungen stellen Leistungen des Staates an Individuen dar, die nicht im Austausch für Güter und Dienstleistungen erfolgen. Beispiele für staatliche Transfers sind Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung, Renten für Kriegsveteranen, Pensionen und Behindertenrenten. Diese Zahlungen erfüllen einen sozialen Zweck; da sie aber nicht als Gegenleistung für Güter oder Dienstleistungen getätigt werden, werden sie im BIP nicht berücksichtigt. Wenn Sie als Lehrer vom Staat ein Gehalt beziehen, wird dies als Faktoreinkommen betrachtet und in das BIP einbezogen. Falls Sie Sozialbeihilfe erhalten, weil Sie arm sind, werden diese Zahlungen aufgrund der fehlenden Gegenleistung als Transferleistungen angesehen und nicht ins BIP eingerechnet. Einen besonderen Transferposten stellen die Zinszahlungen für Staatsschulden dar. Die Zinsen werden als Zahlungen für Schulden betrachtet, die gemacht wurden, um in der Vergangenheit Kriege oder Regierungsprogramme
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
zu finanzieren. Diese Zahlungen dienen in der Gegenwart nicht dem Kauf von Waren oder Dienstleistungen. Die Zinszahlungen des Staates werden als Transferzahlungen betrachtet und daher nicht im BIP berücksichtigt. Beachten Sie, dass die Berücksichtigung des staatlichen Verbrauchs an Gütern und Dienstleistungen (G) in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht mit dem allgemeinen öffentlichen Budget zu verwechseln ist. Wenn das Finanzministerium seine Ausgaben berechnet, dann werden neben den Ausgaben für Güter und Dienstleistungen (G) auch die Transferleistungen hinzugerechnet. Steuern. Wenn wir zur Kalkulation des Bruttoinlandsprodukts den Güterstrom heranziehen, brauchen wir uns nicht darum zu kümmern, wie der Staat seine Ausgaben finanziert. Es ist gleichgültig, ob der Staat zur Finanzierung seines Konsums Steuern erhebt, Geld druckt oder dieses borgt. Was auch immer als Geldquelle dient, der Statistiker wird den Staatsanteil am BIP als „Staatsverbrauch für Güter und Dienstleistungen“ veranschlagen. Solange man sich am Güterstrom orientiert, kann man die Steuern unberücksichtigt lassen, aber bei Heranziehung des Einkommens- oder Kostenstroms zur Berechnung des BIP müssen wir die Steuern berücksichtigen. Veranschaulichen wir das anhand der Löhne und Gehälter. Einen Teil des vom Arbeitgeber bezahlten Gehaltes muss jeder Arbeitnehmer über die Einkommenssteuer an den Staat abführen. Solche direkten Steuern sind auf jeden Fall als Bestandteil der Unternehmensausgaben für Löhne zu betrachten, und das Gleiche gilt für direkte Steuern (von Einzelpersonen oder Körperschaften) auf Zinsen, Mieten und Gewinne. Sehen wir uns nun die Umsatzsteuer oder andere indirekte Steuern näher an, die Hersteller und Einzelhändler beispielsweise für einen Laib Brot zu bezahlen haben (oder für Weizen, Mehl und Teig). Nehmen wir an, die Summe dieser indirekten Steuern beträgt 10 Cents für einen Laib Brot. Die Kosten für
Löhne, Gewinne und weitere Posten der Wertschöpfung belaufen sich auf 90 Cents. Welcher Preis wird für das Brot gemäß der Entstehungsrechnung bezahlt werden? 90 Cents? Natürlich nicht. Der Preis wird einen Dollar betragen, was den 90 Cents an Faktorkosten plus den 10 Cents an indirekten Steuern entspricht. Die Heranziehung des Kostenstroms zur Berechnung des BIP berücksichtigt also sowohl indirekte als auch direkte Steuern als Kostenbestandteile der gesamtwirtschaftlichen Endproduktion.
Nettoexporte Die Vereinigten Staaten sind ein offener Wirtschaftsraum, aus dem und in den Waren und Dienstleistungen exportiert und importiert werden. Diese letzte Komponente des BIP – eine, die während der letzten Jahre immer wichtiger geworden ist – sind die Nettoexporte, also die Differenz zwischen den Exporten und den Importen von Waren und Dienstleistungen. Wie zieht man die Trennlinie zwischen dem eigenen BIP und dem anderer Länder? Das BIP der Vereinigten Staaten umfasst alle Produkte und Dienstleistungen, die innerhalb der Landesgrenzen hergestellt wurden. In den Vereinigten Staaten unterscheidet sich die Produktion von den Verkäufen in zweifacher Hinsicht: Erstens wird ein Teil der Produktion (z.B. Weizen aus Iowa und Flugzeuge der Boeing-Flugzeugwerke) von Ausländern gekauft und ins Ausland gebracht, das sind die Exporte. Zweitens wird ein Teil des Konsums (z.B. mexikanisches Öl und japanische Autos) im Ausland produziert und in die Vereinigten Staaten gebracht, das sind die US-amerikanischen Importe. Ein Zahlenbeispiel. Wir können die Funktionsweise der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beschreiben, indem wir uns eine einfache, nur auf landwirtschaftlicher Tätigkeit basierende Volkswirtschaft vorstellen. Nehmen wir an, dass in Agrovia 100 Scheffel Getreide produziert und 7 Scheffel importiert
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werden. Davon werden 87 Scheffel von Privaten konsumiert (C), zehn werden vom Staat (für die Verpflegung des Militärs) gekauft (G), und sechs dienen als inländische Investition zur Erhöhung der Vorratshaltung (I). Zusätzlich werden vier Scheffel exportiert, womit sich die Nettoexporte (X) als 4 – 7 = –3 errechnen lassen. Das BIP von Agrovia setzt sich nun folgendermaßen zusammen: BIP = 87 C + 10 G + 6 I –3 X = 100 Scheffel
Bruttoinlandsprodukt, Nettoinlandsprodukt und Bruttosozialprodukt Obwohl das BIP die am meisten verwendete Maßzahl für die gesamtwirtschaftliche Produktion der Vereinigten Staaten darstellt, gibt es noch zwei weitere gebräuchliche Konzepte: das Nettoinlandsprodukt und das Bruttosozialprodukt. Erinnern wir uns daran, dass im BIP die Bruttoinvestitionen enthalten sind, die Summe aus Nettoinvestitionen und Abschreibungen. Die Berücksichtigung der Abschreibungen schafft aber das gleiche Problem wie die Einbeziehung von Weizen und Brot. Ein besserer Maßstab würde nur die Nettoinvestitionen in die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung einbeziehen. Indem wir die Abschreibungen vom BIP abziehen, erhalten wir das Nettoinlandsprodukt (NIP). Wenn aber das NIP einen besseren Maßstab für die gesamtwirtschaftliche Produktion darstellt, wieso verwenden dann Ökonomen wie auch Journalisten das BIP? Die Antwort lautet, dass die Abschreibungen für die ganze Volkswirtschaft schwer zu schätzen sind, wohingegen die Bruttoinvestitionen recht genau ermittelt werden können. Einen weiteren Maßstab für die gesamtwirtschaftliche Produktion stellt das bis vor kurzem häufig verwendete Bruttosozialprodukt (BSP) dar. Welcher Unterschied besteht zwischen dem Bruttosozialprodukt und dem Bruttoinlandsprodukt? Das BSP ist die Sum-
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me aller Endprodukte, welche mit Hilfe von Produktionsmitteln (Arbeit und Kapital) erwirtschaftet werden, die Eigentum von Inländern sind, während sich das BIP aus Endprodukten errechnet, die mit den innerhalb der Grenzen eines Staates befindlichen Produktionsmitteln erzeugt werden. Zum Beispiel wird ein Teil des BIP der Vereinigten Staaten in Honda-Fabriken produziert, die Eigentum japanischer Unternehmen sind. Die Gewinne aus diesen Betriebsanlagen werden in das BIP, aber nicht in das BSP der Vereinigten Staaten eingerechnet, da Honda ein japanischer Konzern ist. Wenn ein US-Ökonom nach Japan fliegt, um dort einen bezahlten Vortrag über die wirtschaftlichen Aspekte des Baseballspiels zu halten, dann wird dieses Honorar in das japanische BIP, aber auch in das BSP der Vereinigten Staaten eingerechnet. Im Fall der Vereinigten Staaten liegen die Werte für BIP und BSP eng beieinander, aber in sehr offenen Volkswirtschaften können zwischen ihnen erhebliche Unterschiede bestehen. Zusammenfassend kann man sagen: Das Nettoinlandsprodukt (NIP) entspricht den gesamten während eines Jahres im Inland hergestellten Endprodukten und Dienstleistungen, wobei dieses Produktionsmaß die Nettoinvestitionen, also die Bruttoinvestitionen abzüglich der Abschreibungen, beinhaltet: NIP = BIP – Abschreibungen Das Bruttosozialprodukt (BSP) entspricht dem Wert aller innerhalb eines Jahres hergestellten Endprodukte und Dienstleistungen, deren Produktionsfaktoren Eigentum von Inländern sind. In Tabelle 21-5 finden Sie Definitionen wichtiger Komponenten des BIP.
BIP und NIP: einige Zahlenbeispiele Da wir inzwischen die unterschiedlichen Begriffe geklärt haben, können wir uns nun den Daten in Tabelle 21-6 zuwenden.
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
1. Das BIP nach der Verwendungsrechnung entspricht der Summe seiner vier Hauptkomponenten: • Konsumausgaben der Haushalte für Waren und Dienstleistungen (C) • Private Bruttoinlandsinvestitionen (I) • Staatliche Konsumausgaben und Investitionen (G) • Nettoexporte von Waren und Dienstleistungen (X) bzw. Exporte abzüglich Importe 2. Das BIP nach der Entstehungsrechnung entspricht der Summe der folgenden Hauptkomponenten: • Arbeitsentgelte (Löhne, Gehälter, Lohnnebenkosten) • Unternehmensgewinne, Unternehmereinkommen, Zinsen, Mieten • Indirekte Steuern und Abschreibungen (Vergessen Sie nicht, den Wertschöpfungsansatz zu verwenden, um Doppelzählungen von Halbfertigprodukten, die von anderen Unternehmen gekauft werden, zu vermeiden.) 3. Verwendungs- und Verteilungsrechnung führen zum gleichen Ergebnis (aufgrund der auf der Wertschöpfung fußenden Buchhaltung und der Betrachtung des Gewinns als Restgröße). 4. Das Nettoinlandsprodukt (NIP) entspricht dem BIP abzüglich Abschreibungen. Tabelle 21-5: Schlüsselbegriffe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
Bruttoinlandsprodukt der USA 2003 (Mrd. US-$) Verwendungsrechnungen 1. Persönliche Konsumausgaben
7.752
Gebrauchsgüter
942
Verbrauchsgüter
2.208
Dienstleistungen
4.602
2. Private Bruttoinlandsinvestitionen Gewerbliche Bauten Wohnungsbau Lagerbestandsveränderungen
1.668 1.108 563 –3
3. Nettoexporte von Waren und Dienstleistungen
–492
Exporte
1.048
Importe
1.540
4. Staatsausgaben für Konsum und Bruttoinvestitionen Bundesebene Einzelstaaten und Kommunen Bruttoinlandsprodukt
2.056 757 1.299 10.984
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
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Entstehungsrechnung 1. Arbeitsentgelte
6.186
2. Einkommen von Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit
846
3. Mieten und Pachten
164
4. Nettozinsen
582
5. Unternehmensgewinne (nach Korrekturen)
1.059
6. Abschreibungen
1.308
7. Indirekte Unternehmenssteuern
739
8. Statistische Abweichungen und Sonstiges
100
Bruttoinlandsprodukt
10.984
Tabelle 21-6: Die zwei Berechnungsmethoden des BIP anhand aktueller Zahlen Die vorige Seite zeigt die Verwendungsrechnung (Güterströme zu Marktpreisen). Diese Seite veranschaulicht die Entstehungsseite (Faktoreinkommen und Abschreibungen plus indirekte Steuern). Quelle: US-Handelsministerium
Der Güterstromansatz. Konzentrieren wir uns zunächst auf die rechte Seite von Tabelle 21-6. Hier wird das BIP gemäß der oberen Schleife des Kreislaufs, dem Güterstrom, dargestellt. Alle vier Komponenten sind dargestellt, zusammen mit dem entsprechenden Produktionsniveau für 2003. Die Konsumausgaben (C) sowie die Staatsausgaben (G) und deren Untergruppen bedürfen wohl keiner näheren Erläuterung. Auf die privaten Bruttoinlandsinvestitionen soll jedoch kurz eingegangen werden. Deren Summe von US-$ 1.668 Milliarden beinhaltet die gesamte Realkapitalbildung privater Unternehmen und Haushalte: Fabriken, Anlagen, Maschinen, Wohngebäude sowie Lagerbestandszuwächse. Dieser Bruttobetrag ist die Summe vor Abzug von Abschreibungen auf die Kapitalanlagen. Die Abschreibungen der Bruttoinvestitionen belaufen sich auf US-$ 1.308 Milliarden; nach deren Abzug erhalten wir Nettoinvestitionen von US-$ 360 Milliarden. Beachtenswert ist der relativ hohe Negativbetrag von US-$ 492 Milliarden bei den
Nettoexporten. Dies bedeutet, dass die Vereinigten Staaten 2003 um US-$ 492 Milliarden mehr Güter und Dienstleistungen importierten als exportierten. Addieren wir die vier Posten von der vorigenSeite, so erhalten wir ein BIP von US-$ 10.984 Milliarden. Dies stellt also das Ergebnis unserer Anstrengungen dar: den Geldwert aller Leistungen der US-Wirtschaft im Jahre 2003. Der Ansatz über den Kostenstrom. Wir wenden uns nun dem Teil der Tabelle auf der vorigen Seite zu, die den Kostenstrom, die untere Schleife des Kreislaufs, zeigt. Hier sind alle Produktionskosten plus Steuern und Abschreibungen angeführt. Die Position „Löhne und Gehälter“ umfasst Nettolöhne und Lohnnebenkosten. Für den Posten „Zinsen“ gilt Ähnliches. Beachten Sie jedoch, dass Zinsen für Staatsschulden nicht in G oder im BIP enthalten sind, sondern als Einkommenstransfers betrachtet werden. Die Position „Mieten und Pachten“ bezieht sich auf die von Hausbesitzern erhaltenen
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Mieterträge. Es kommt aber noch hinzu, dass auch Eigenheimbesitzer statistisch so behandelt werden, als zahlten sie an sich selbst Miete. Das ist ein Beispiel der vielen „unterstellten Transaktionen“ (Zurechnungen) in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Der Sinn einer solchen Maßnahme liegt bei unserem Beispiel darin, dass die gesamten Dienstleistungen auf dem Wohnungssektor erfasst werden und darüber hinaus auch deren Berechnung vereinfacht wird. Die ermittelten Zahlen müssen nicht jedes Mal geändert werden, wenn jemand eine Wohnung kauft, die er zuvor gemietet hatte. Die „indirekten Steuern“ sind inklusive einiger kleinerer Anpassungen, insbesondere der unvermeidlichen „statistischen Differenz“, als eigenständiger Punkt angeführt. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass Statistikern niemals alle nötigen Daten lückenlos zur Verfügung stehen.2 Die „Abschreibungen“ vom Anlagevermögen müssen, wie auch alle anderen Kostenbestandteile, im BIP angeführt werden. Der Gewinn ist eine Restgröße – das, was übrig bleibt, wenn alle Kosten von den Umsatzerlösen abgezogen wurden. Wir unterscheiden zwei Arten von Gewinnen: den Gewinn von Kapitalgesellschaften und den Nettoertrag der Unternehmen ohne Rechtspersönlichkeit. Der Posten „Einkommen von Unternehmen ohne eigene Rechtsperson“ umfasst Gewinne von Einzelunternehmen und Personengesellschaften, worin insbesondere die Einkommen von Bauern und freiberuflich Tätigen enthalten sind. Die in Tabelle 21-6 ausgewiesenen „Unternehmensgewinne vor Steuerabzug“ betragen US-$ 1.059 Milliarden; enthalten sind darin die Körperschaftssteuer, Dividenden und un2 Statistiker arbeiten mit unvollständigen Unterlagen und füllen Lücken durch Schätzungen. Genauso wie die Messwerte in einem Chemielaboratorium vom Ideal abweichen, schleichen sich Fehler in die Entstehungs- und Verwendungsrechnung ein. Der Ausgleich wird durch den Posten „Statistische Abweichungen“ erzielt. Zusätzlich zu den Beamten, welche die Abteilungen „Löhne und Gehälter“ oder „Zinsen“ leiten, gab es auch einen „Leiter der Abteilung Statistische Abweichungen“. Bei perfekter Datenlage wäre diese Person arbeitslos.
ausgeschüttete Gewinne. Diese einbehaltenen Gewinne bezeichnet man als Nettoersparnis der Unternehmen; sie werden entweder einfach im Unternehmen (z.B. als Rücklagen) belassen oder reinvestiert. Wir erhalten auf der rechten Seite nach dem Kostenstromansatz das gleich hohe BIP von US-$ 10.984 Milliarden wie nach dem Güterstromansatz. Der erste und der zweite Teil der Tabelle stimmen überein.
Vom Bruttoinlandsprodukt zum verfügbaren Einkommen Die Konten des BIP sind nicht nur für sich gesehen von Interesse, sondern auch deshalb, weil sie uns helfen, das Verhalten von Konsumenten und Unternehmen zu verstehen. Einige weitere Details verdeutlichen die Funktionsweise der nationalen Buchführung. Das Volkseinkommen (VI). Diese Größe hilft uns, die Aufteilung des Gesamteinkommens auf die verschiedenen Produktionsfaktoren besser zu verstehen. Das Volkseinkommen entspricht dem Gesamteinkommen der Faktoren Arbeit, Kapital und Land. Man errechnet es, indem man vom BIP die Abschreibungen subtrahiert. Das Volkseinkommen entspricht der Summe aus Löhnen und Gehältern, Miet- und Zinserträgen sowie Unternehmensgewinnen. Der Zusammenhang zwischen BIP und Volkseinkommen ist anhand der ersten beiden Balken in Abbildung 21-4 dargestellt. Der linke Balken zeigt die Zusammensetzung des BIP, während der zweite Balken die nötigen Abzüge zur Berechnung des Volkseinkommens veranschaulicht. Das verfügbare Einkommen. Ein zweites wichtiges Konzept beantwortet die Frage, wie viel Geld die Haushalte jährlich für den privaten Konsum tatsächlich zur Verfügung haben. Man erhält das verfügbare persönliche Einkommen (gewöhnlich als verfügbares Einkommen bzw. DI bezeichnet), indem man
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
vom Gesamteinkommen der Haushalte die Einkommenssteuer und Ergänzungsabgaben abzieht. Abbildung 21-4 zeigt die Berechnung des verfügbaren Einkommens. Wir beginnen mit dem Volkseinkommen, das als zweiter Balken abgebildet ist. Davon ziehen wir alle Steuern sowie die Nettoersparnisse (Gewinne minus Abschreibung minus Dividenden) der Unternehmen ab. Dazu addieren wir die Transferzahlungen vom Staat an die Haushalte. So erhalten wir das verfügbare Einkommen, das im vierten Balken der Abbildung 21-4 dargestellt ist. Das verfügbare Einkommen entspricht also dem Geld, das die Konsumenten in die Hand bekommen und das sie nach eigenem Gutdünken ausgeben
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können. (In unserer Diskussion bleiben einige kleinere Posten unberücksichtigt, beispielsweise statistische Abweichungen und das Nettofaktoreneinkommen von Ausländern, die üblicherweise gegen Null gehen.) Wie wir in den nächsten Kapiteln noch näher erläutern werden, kann das verfügbare Einkommen entweder für Konsumzwecke oder privates Sparen verwendet werden.
Ersparnisse und Investitionen Wie wir gesehen haben, kann die Produktion entweder konsumiert oder investiert werden. Investitionen sind eine wichtige Wirtschaftsaktivität, denn sie erhöhen den Kapitalstock, der für die zukünftige Produktion zur Verfü-
Vom BIP über das Volkseinkommen zum verfügbaren Einkommen
Außenbeitrag
Abschreibungen
Staatsausgaben Steuern
Transferzahlungen
Investitionen Einbehaltene Gewinne BIP Volkseinkommen
DI
Konsum
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Volkseinkommen (NI)
verfügbares Einkommen (DI)
Abbildung 21-4: Ausgehend vom BIP lassen sich Volkseinkommen (NI) und verfügbares Einkommen (DI) berechnen Wichtige Maßzahlen des gesamtwirtschaftlichen Einkommens sind: (1) das BIP, die Summe der Bruttoeinkommen aller Faktoren; (2) das Volkseinkommen, die Summe aller Faktoreinkommen, berechnet durch Abzug der Abschreibungen vom BIP; und (3) das persönlich verfügbare Einkommen, d.h. die gesamten Einkommen der Haushalte einschließlich der Transferzahlungen, aber abzüglich aller Steuern.
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
gung steht. Einer der wichtigsten Aspekte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist die Gleichheit von Ersparnissen und Investitionen. Wir werden zeigen, dass gemäß den oben beschriebenen buchhalterischen Regeln die von den Statistikern gemessenen Ersparnisse exakt den gemessenen Investitionen entsprechen. Die Übereinstimmung von Ersparnissen und Investitionen ergibt sich definitionsgemäß aus deren Identität in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und ist immer gültig. Nehmen wir im einfachsten Fall einmal an, dass es keinen Staat und keine Außenwirtschaft gibt. Investitionen sind der Teil der nationalen Produktionsleistung, der nicht konsumiert wird. Ersparnisse sind der Teil des Volkseinkommens, der nicht konsumiert wird. Da Volkseinkommen und Produktionsleistung gleich sind, bedeutet dies, dass Ersparnisse und Investitionen identisch sind. Als Gleichung lässt sich dies folgendermaßen ausdrücken: I = BIP minus C (Güterstromansatz) S = BIP minus C (Einkommensstromansatz) Da unabhängig vom Berechnungsansatz das BIP identisch ist, gilt daher: I = S: die gemessenen Investitionen und gemessenen Ersparnisse sind identisch. Dies ist der einfachste Fall. Wir müssen aber auch eine gesamte Volkswirtschaft betrachten, wozu Unternehmen, der Staat und die Nettoexporte gehören. Die gesamten Ersparnisse einer Volkswirtschaft (ST) setzen sich aus den privaten Ersparnissen der privaten Haushalte und Unternehmen (SP) sowie den Ersparnissen des Staates (SG) zusammen. Die Ersparnisse des Staates entsprechen dem Budgetüberschuss oder der Differenz aus Steuereinnahmen und Staatsausgaben. Die Gesamtinvestitionen eines Landes (IT) setzen sich zusammen aus den privaten inländischen Bruttoinvestitionen (I) und den
Nettoauslandsinvestitionen, die ungefähr den Nettoexporten (X) entsprechen. So lässt sich die gesamte Ersparnisse-Investitionen-Gleichung ausdrücken als3 Gesamtinveprivate Nettostitionen = Investiti- + exporte eines Landes onen Gesamterprivate Ersparnisse sparnisse = Erspar- + = des Staates eines nisse Landes
oder IT = I + X = S P + S G = S T Definitionsgemäß sind die Ersparnisse eines Landes und seine Investitionen gleich. Die Investitionen setzen sich aus den privaten einheimischen Investitionen und den ausländischen Investitionen (Nettoexporten) zusammen. Die Ersparnisse setzen sich aus den privaten Ersparnissen (der Haushalte und Unternehmen) und den Ersparnissen des Staates (Budgetüberschuss) zusammen. Die privaten Investitionen entsprechen zusammen mit den Nettoexporten den privaten Ersparnissen zuzüglich des Budgetüberschusses. Diese grundlegenden Gleichungen gelten immer, unabhängig vom Konjunkturzyklus.
Über die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hinaus Verfechter des vorherrschenden wirtschaftlichen und sozialen Systems argumentieren oft, dass uns das frei agierende Unternehmertum ein historisch beispiellos hohes Realwachstum beschert hat. „Schauen Sie nur, wie dank der freien Marktwirtschaft das BIP gewachsen ist“, sagen die Anhänger des Kapitalismus. 3 Im Rahmen unserer Diskussion betrachten wir nur die privaten Investitionen und behandeln alle Käufe des Staates als Konsum. Die meisten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen unterscheiden heutzutage zwischen Staatsausgaben für Konsum und solchen für Investitionen. Wenn wir die staatlichen Investitionen berücksichtigen, erhöhen sich damit die Gesamtinvestitionen und der Budgetüberschuss.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Kritiker weisen jedoch auf die Schwächen des BIP hin. In das BIP fließen viele fragwürdige Größen ein, während wertvolle wirtschaftliche Aktivitäten nicht berücksichtigt werden. Ein Skeptiker drückte es einmal so aus: „Erzählt mir nichts über eure Produktion, eure Dollars oder euer BIP. Für mich steht BIP für Bruttoinlandsverpestung!“ Woran soll man sich nun halten? Ist es nicht wahr, dass im BIP Staatsausgaben für Bomben und Raketen und ebenso Gehälter von Gefängniswärtern enthalten sind? Erhöht nicht ein Ansteigen der Kriminalitätsrate den Absatz von Alarmanlagen, wodurch das BIP wächst? Wird nicht auch das Abholzen von aussterbenden Baumarten als eine Erhöhung der Produktion in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verbucht? Versäumt es das BIP nicht, Umweltschäden wie sauren Regen und die weltweite Klimaerwärmung zu berücksichtigen? In den letzten Jahren haben Ökonomen begonnen, neue Maßstäbe zu entwickeln, welche die Mängel der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beheben und die Produktionsleistung unserer Wirtschaft, die uns wirklich befriedigt, besser abbilden sollen. Die neuen Ansätze versuchen, über die Grenzen der traditionellen Konten hinauszugehen und wichtige Aktivitäten zu berücksichtigen, die nicht am Markt angeboten werden, sowie schädliches Tun, das derzeit nicht in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einfließt. Im Folgenden werden wir einige dieser positiven und negativen Aspekte betrachten, welche die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ignoriert. Unberücksichtigte Aktivitäten, die nicht am Markt angeboten werden. Die herkömmliche Gesamtrechnung berücksichtigt hauptsächlich Verkäufe am Markt. Doch viele nützliche wirtschaftliche Aktivitäten laufen am Markt vorbei. Beispielsweise investieren Studenten an Universitäten in menschliches Kapital. In die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung geht zwar die Lehrtätigkeit ein, aber die Opportunitätskosten der entgangenen Einkommen werden nicht berücksichtigt. Unter-
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suchungen zeigen, dass eine Berücksichtigung von Investitionen außerhalb des Marktes in Ausbildung und andere Bereiche die nationale Sparquote mehr als verdoppeln würde. Auch viele häusliche Aktivitäten stellen wertvolle Waren und Dienstleistungen bereit, die am Markt verkauft werden könnten, beispielsweise Mahlzeiten, Wäschewaschen und Kinderbetreuung. Jüngste Schätzungen des Wertes unbezahlter Arbeit im Haushalt scheinen darauf hinzudeuten, dass er fast 50 Prozent des gesamten errechneten Konsums entsprechen könnte. Vielleicht ist Freizeit der größte Posten, dessen Wert in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht auftaucht. Im Durchschnitt haben die Amerikaner genauso viel Zeit für nützliche Freizeitaktivitäten wie für die Arbeit, mit der sie Geld verdienen. Doch der Wert der Freizeit fließt nicht in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein. Vielleicht fragen Sie sich auch, wie es mit der Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit aussieht, worunter man eine ganze Reihe von Aktivitäten zusammenfassen kann, von denen der Staat nichts erfährt. Dazu gehören beispielsweise Glücksspiel, Prostitution, Drogenhandel, die Arbeit illegaler Immigranten, Tauschgeschäfte und Schmuggel. Ein großer Teil der Schattenwirtschaft wird ganz bewusst nicht berücksichtigt, weil die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung illegale Handlungen ausschließt – es herrscht ein allgemeiner Konsens, dass sie „schlecht“ und nicht „gut“ sind. Ein blühender Kokainhandel wird nicht ins BIP einfließen. Der Wert anderer legaler, aber nicht aufgezeichneter Handlungen, wie das Geben von Trinkgeldern, wird vom Handelsministerium aufgrund von Umfragen und Unterlagen der Finanzämter geschätzt. Unberücksichtigte Umweltschäden. Das BIP übersieht nicht nur manche Aktivitäten, es lässt auch manche schädlichen Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns unberücksichtigt. Ein wichtiges Beispiel ist das Ignorieren von Umweltschäden. Nehmen wir zum Beispiel an, dass die Bewohner einer Vorstadtgegend 10 Millionen Kilowattstunden an Strom zur
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Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Kühlung ihrer Häuser von der ansässigen Elektrizitätsgesellschaft zum Preis von 10 Cents pro Kilowattstunde einkaufen. Diese US-$ 1 Million decken die Kosten für die Arbeit, den Betrieb der Anlage und den Brennstoff. Wir können aber außerdem davon ausgehen, dass das Elektrizitätsunternehmen durch die Herstellung von Strom die Nachbarschaft verschmutzt. Es trägt aber nicht die Kosten für diese externen Effekte. In unseren Maßstab für die Produktionsleistung sollte nicht nur der Wert des Stromes einberechnet werden (wie im BIP), sondern auch der entsprechende Wert der Umweltschäden abgezogen werden (was das BIP nicht tut). Entwickeln wir unser Beispiel noch weiter, indem wir annehmen, dass für die Nachbarschaft zu den direkten Kosten von 10 Cents noch 1 Cent pro Kilowattstunde an Umweltschäden hinzukommt. Dazu zählen die Kosten der Verschmutzung (von Bäumen, Forellen, Flüssen und Menschen), die nicht vom Elektrizitätsunternehmen getragen werden. Damit ergeben sich „externe“ Kosten von US-$ 100.000. Um diesen Kosten in einem erweiterten Kontenrahmen Rechnung zu tragen, müssen wir US-$ 100.000 für Umweltschäden vom ursprünglichen Wert der Elektrizität von US-$ 1 Million abziehen. Erweiterte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Während der vergangenen Jahre wurden bei der Entwicklung einer erweiterten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beträchtliche Fortschritte gemacht, wobei es sich um eine Buchhaltung handelt, die auch die Aktivitäten erfasst, die nicht am Markt verkauft werden. Die erweiterte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hat das Ziel, so viele wirtschaftliche Tätigkeiten wie möglich zu erfassen, unabhängig davon, ob diese am Markt angeboten werden oder nicht. Beispiele für Posten, die berücksichtigt werden, sind Investitionen in menschliches Kapital, der Wert unbezahlter Hausarbeit, der Wert von Wäldern und von Freizeit.
1994 stellte das Handelsministerium der Vereinigten Staaten seine erweiterte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung mit der Einführung von Umweltkonten vor (die mitunter auch als „grüne Konten“ bezeichnet werden). Diese waren entwickelt worden, um den Beitrag von natürlichen Ressourcen und Umweltgütern zum Einkommen eines Landes zu schätzen. Der erste Schritt bestand in der Entwicklung von Konten zur Messung des Beitrags von unterirdischen Beständen wie Öl, Gas und Kohle. Die Ökologen unter den Kritikern argumentieren, dass die verschwenderische Lebensweise der Vereinigten Staaten die kostbaren natürlichen Ressourcen des Landes vergeudet. Viele waren vom Ergebnis der ersten Untersuchung zur ökologischen Gesamtrechnung überrascht. Die Schätzungen berücksichtigen, dass Neuendeckungen die bereits bekannten Reserven vergrößern, während jede Art von Abbau sie vermindert oder erschöpft. Tatsache ist, dass sich die beiden Aktivitäten praktisch gegenseitig aufheben: Der Nettoeffekt von Entdeckungen und Abbau lag zwischen 1958 und 1991 – abhängig von der Berechnungsmethode – zwischen minus US-$ 2 Milliarden und plus US-$ 1 Milliarde, im Vergleich zu einem durchschnittlichen BIP von US-$ 4.200 Milliarden während dieses Zeitraums (jeweils in Preisen von 1992). Auf diesem Gebiet muss weiter gearbeitet werden, ehe wir ein vollständiges Bild der nicht am Markt angebotenen Wirtschaftstätigkeiten erhalten. Ökonomen und Ökologen beobachten diese aufregende neue Entwicklung sehr sorgfältig.
Preisindizes und Inflation Wir haben uns in diesem Kapitel auf die Messung der Produktionsleistung konzentriert. Doch die Menschen machen sich auch um die Preisentwicklung Gedanken, die Veränderung des allgemeinen Preisniveaus, die Inflation. Was bedeuten diese Ausdrücke?
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Fangen wir mit einer sorgfältigen Definition an: Ein Preisindex ist ein Maßstab für das durchschnittliche Preisniveau. Als Inflation bezeichnet man einen Anstieg des allgemeinen Preisniveaus. Die Inflationsrate ist die prozentuale Veränderung des allgemeinen Preisniveaus und wird folgendermaßen berechnet: Inflationsrate (im Jahr t):
=
Preisniveau Preisniveau – (Jahr t) (Jahr t – 1) Preisniveau (Jahr t – 1)
100
Aber wie messen wir das „Preisniveau“, das wir zur Bestimmung der Inflation benötigen? Das Preisniveau ist der gewichtete Durchschnitt der Preise für die verschiedenen Waren und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft. Die Regierung berechnet das Preisniveau, indem sie Preisindizes bildet, die Preisdurchschnitte für Waren und Dienstleistungen darstellen. Das Gegenteil einer Inflation ist eine Deflation, von der man spricht, wenn das Gesamtpreisniveau sinkt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts traten Deflationen selten auf. In den Vereinigten Staaten war 1955 das letzte Jahr, in dem die Endverbraucherpreise von einem Jahr zum anderen zurückgingen. Lang anhaltende Deflationen, in deren Verlauf die Preise mehrere Jahre lang stetig zurückgehen, sind ein typisches Erscheinungsbild wirtschaftlicher Depressionen, wie sie in den Vereinigten Staaten während der dreißiger Jahre und während der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts auftraten. Japan erlebte Ende der neunziger Jahre eine Deflation, als die Wirtschaft unter einer langen Rezession litt.
Preisindizes Wenn die Zeitungen von einer „steigenden Inflation“ berichten, dann meinen sie die Veränderung eines Preisindex. Ein Preisindex ist
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der gewichtete Durchschnitt der Preise einer Reihe von Waren und Dienstleistungen. Um einen Preisindex zu bilden, gewichten die Ökonomen einzelne Preise nach der wirtschaftlichen Bedeutung der dazugehörigen Ware. Die wichtigsten Preisindizes sind der Verbraucherpreisindex, der Preisindex des BIP und der Erzeugerpreisindex. Der Verbraucherpreisindex (VPI). Der am häufigsten verwendete Maßstab für die Inflation ist der Verbraucherpreisindex oder VPI, den das U.S. Bureau of Labor Statistics (BLS) berechnet. Der Verbraucherpreisindex ist ein Maß für die im Zeitverlauf durchschnittliche Veränderung der Preise, die Konsumenten für einen Warenkorb von Gütern und Dienstleistungen zahlen. Berücksichtigt werden dabei die Preise für Lebensmittel, Bekleidung, Wohnungen, Heizkosten, Transport, medizinische Versorgung, Ausbildungskosten und sonstige Waren und Dienstleistungen, die man für den Alltagsgebrauch kauft. Für 364 verschiedene Waren- und Dienstleistungsklassen werden von 23.000 Haushalten in 87 Regionen im ganzen Land die Preise ermittelt. Wie gewichtet man die verschiedenen Preise, um einen Preisindex zu bilden? Offensichtlich ist es nicht sinnvoll, die einzelnen Preise einfach zu addieren oder sie mit der dazu gehörigen Masse oder dem Volumen zu gewichten. Man bildet einen Preisindex, indem man jeden Preis je nach der wirtschaftlichen Bedeutung der betreffenden Ware gewichtet. Im Fall des herkömmlichen VPI wird jedem Artikel ein fixes Gewicht zugeordnet, proportional zur relativen Bedeutung dieses Artikels für die Konsumausgaben; die Gewichte für jeden dieser Artikel sind proportional zu den Gesamtausgaben der Konsumenten für diesen Artikel, wie sie in der Untersuchung der Konsumausgaben für die Jahre 1993–1995 festgestellt wurden. Seit Dezember 1999 sind die Wohnausgaben der größte Einzelposten im VPI, denn sie beanspruchen 41 Prozent der Konsumentenbud-
Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
gets. Im Vergleich dazu bringen es die Kosten für neue Autos oder andere Fahrzeuge nur auf fünf Prozent der für den VPI berücksichtigen Konsumentenausgaben. Die Berechnung des Verbraucherpreisindex Folgende Formel wird zur Berechnung des Verbraucherpreisindex verwendet: VPI zum Zeitpunkt t + VPI zum Zeitpunkt (t – 1) gewichtete Preisveränderung zum Zeitpunkt t wobei die gewichtete Preisveränderung zum Zeitpunkt t = [relative Bedeutung von Gut i zum Zeitpunkt (t – 1)] x [prozentuale Bedeutungszunahme von Gut i von (t – 1) auf t] Um die Vorgehensweise anhand eines konkreten Beispiels zu demonstrieren, zeigt die folgende Tabelle für mehrere Produkte die relative Bedeutung im Februar 2003 und die Veränderung im Vergleich zum Vorjahr:
Kategorie
Relative Jährliche Bedeutung Veränderung von Februar 2002 bis Februar 2003 (%) (%)
Lebensmittel und Getränke
15,6
1,4
Wohnungen
40,9
2,6
Ärzliche Versorgung
6,0
4,5
Sonstiges
37,5
3,9
Insgesamt
100,0
3,0
Man kann die jährliche Inflationsrate von Februar 2002 bis Februar 2003 als 3,014 Prozent berechnen. (Übung 9 am Ende dieses Kapitels bietet ein weiteres Rechenbeispiel.)
625
Dieses Beispiel zeigt, wie der herkömmliche VPI die Inflation misst. Der einzige Unterschied zwischen dieser vereinfachten Berechnung und der tatsächlichen besteht darin, dass der VPI in der Realität viel mehr Positionen erfasst und in einer Reihe von Regionen erhoben wird. Die Vorgehensweise bleibt aber gleich.
Der Preisindex des BIP. Ein weiterer häufig verwendeter Preisindex ist der Preisindex des BIP (den man gelegentlich auch als BIPDeflator bezeichnet), der uns schon weiter oben in diesem Kapitel begegnet ist. Der Preisindex des BIP ist der Preis aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Land produziert und bereitgestellt werden (Konsum, Investitionen, Staatsausgaben und Nettoexporte), und nicht nur derjenige einer einzelnen Komponente (Konsum). Dieser Index unterscheidet sich auch insofern vom herkömmlichen Verbraucherpreisindex, als bei ihm eine Kettengewichtung vorgenommen wird, die den veränderlichen Anteil der verschiedenen Waren am BIP berücksichtigt (siehe dazu weiter oben die Diskussion zur Kettengewichtung). Daneben gibt es Preisindizes für einzelne Komponenten des BIP, beispielsweise für Investitionsgüter, Computer, persönlichen Konsum und so weiter, die man gelegentlich zur Ergänzung des VPI heranzieht. Der Erzeugerpreisindex (EPI). Dieser noch aus dem Jahre 1890 stammende Index ist derjenige, der am längsten in den statistischen Reihen des Bureau of Labor Statistics veröffentlicht wird. Er misst das Preisniveau auf der Großhandels- oder Produktionsebene. Der EPI fußt auf den Preisen von etwa 3.400 Waren, darunter Lebensmittel, Fabrikwaren und Bergwerkserzeugnisse. Die festgesetzten Gewichte, die zur Berechnung des EPI herangezogen werden, sind die Nettoverkäufe der entsprechenden Waren. Dieser Index wird in der Unternehmenswelt viel verwendet.
626
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Die richtige Preisberechnung Die genaue Ermittlung von Preisen ist eines der zentralen Themen der empirischen Wirtschaftsforschung. Preisindizes beeinflussen nicht nur etwas so Offensichtliches wie die Inflationsrate; sie gehen auch in die Messung der realen Produktionsleistung und Produktivität ein. Über die Regierungspolitik beeinflussen sie auch die Geldpolitik, Steuern und Transferleistungen des Staates, beispielsweise Sozialhilfe, sowie zahllose private Verträge. Der Verbraucherpreisindex hat die Aufgabe, die Lebenshaltungskosten zu messen. Es mag Sie überraschen zu lesen, dass dies gar nicht so einfach ist. Manche Probleme sind durch das Wesen von Preisindizes bedingt, beispielsweise das Indexzahlproblem, das mit der Gewichtung und Durchschnittsbildung der Preise zusammenhängt. Erinnern Sie sich, dass der herkömmliche VPI für jeden Artikel ein festes Gewicht benutzt. Infolgedessen werden die Lebenshaltungskosten immer dann zu hoch eingeschätzt, wenn Konsumenten einen vergleichsweise teuren Artikel durch ein preisgünstigeres Substitut ersetzen. Am Beispiel der Energiekosten können wir das Problem verdeutlichen. Als während der siebziger Jahre die Benzinpreise drastisch stiegen, reduzierten die Konsumenten ihre Käufe, schafften sich kleinere Autos an oder benutzten sie seltener. Der VPI unterstellte jedoch, dass sie nach wie vor die gleiche Menge Benzin nachfragten, obgleich sich der Benzinpreis verdreifacht hatte. Dadurch wurde der Anstieg der Lebenshaltungskosten übertrieben dargestellt. Die Statistiker haben Methoden entwickelt, um solche Indexzahlprobleme zu minimieren, indem sie unterschiedliche Gewichtungen verwenden, beispielsweise die weiter oben erläuterte Kettengewichtung, aber die staatlichen Statistiker stehen erst am Anfang ihrer Experimente mit neuen Berechnungsmethoden des VPI. Ein bedeutenderes Problem entsteht aufgrund der Schwierigkeiten bei der Anpassung von Preisindizes, um den Beitrag von neuen und verbesserten Waren
Teil 5
und Dienstleistungen zu erfassen. Ein Beispiel wird dieses Problem verständlich machen: Seit einigen Jahren profitieren Konsumenten von Energiesparlampen, die nur etwa ein Viertel so viel Strom verbrauchen wie herkömmliche Glühbirnen. Diese Qualitätsverbesserung wird jedoch in keinem Preisindex berücksichtigt. Das gleiche Problem trat auf, als CDs die Langspielplatten zu ersetzen begannen, als unser alter Fernsehempfang durch das Kabelfernsehen mit zahllosen Kanälen ersetzt wurde, als die Menschen immer häufiger den Flieger statt Autos und der Bahn benutzten, sowie im Fall von Tausenden anderer verbesserter Waren oder Dienstleistungen: Die Preisindizes spiegelten die verbesserte Qualität nicht wider. Neuere Studien weisen darauf hin, dass bei einer adäquaten Berücksichtigung von Qualitätsverbesserungen in den Preisindizes der VPI während der letzten Jahre nicht so stark angestiegen wäre. Dieses Problem ist vor allem für die Gesundheitsversorgung von Bedeutung. Auf diesem Gebiet sind die erfassten Preise während der letzten zwei Jahrzehnte stark gestiegen. Wir können die Qualität der medizinischen Versorgung jedoch nicht ausreichend messen, und der VPI berücksichtigt die Einführung von neuen Medikamenten, beispielsweise solchen, die teure Operationen überflüssig machen, überhaupt nicht. Eine Gruppe angesehener Wirtschaftswissenschaftler unter Leitung von Michael Boskin von der Stanford University hat das Problem untersucht und schätzt, dass die Verzerrung des VPI nach oben pro Jahr etwas mehr als ein Prozent beträgt. Diese Zahl mag klein sein, aber sie hat große Auswirkungen. Es steht zu befürchten, dass unsere wahre Produktionsleistung um den gleichen Prozentsatz zu niedrig ausgewiesen wurde. Wenn die Verzerrung im VPI sich auch auf den BIP-Deflator auswirkt, dann stieg die Produktion pro Beschäftigtenstunde in den Vereinigten Staaten während der letzten zwei Jahrzehnte um zwei Prozent und nicht um ein Prozent, wie die offizielle Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung behauptet.
627
Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Diese Entdeckung signalisiert auch, dass die Anpassungen an die veränderten Lebenshaltungskosten (die für die Sozialhilfe und für einige Tarifverträge bedeutend sind) dazu geführt haben, dass bestimmte Menschen für die Veränderung der Lebenshaltungskosten überkompensiert wurden. Würde die Regierung ihre Transferzahlungen anhand eines um die Verzerrung bereinigten Index berechnen, anstatt hierzu den VPI heranzuziehen, so könnte das Budgetdefizit nach Schätzungen der Boskin-Gruppe bis zum Jahr 2008 um US-$ 180 Milliarden reduziert und die Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten im Lauf eines Jahrzehnts um mehr als US-$ 1 Billion gesenkt werden. Diese Ergebnisse zeigen, dass es sich bei der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und bei Indexzahlen nicht um abstrakte Konzepte handelt, die nur eine Handvoll Spezialisten interessieren. Die richtige Bildung von Preis- und Produktionsindizes hat Auswirkungen auf das Budget, die Altersvorsorge und sogar darauf, wie wir die Leistung unserer Volkswirtschaft beurteilen. In Reaktion auf seine eigenen Untersuchungen und diejenigen seiner Kritiker hat das Bureau of Labor Statistics den VPI gründlich überarbeitet. Die bedeutendste Innovation ist der seit 2002 veröffentlichte „kettengewichtete Verbraucherpreisindex“, der den Preisindex mit fixer Gewichtung um eine Kettengewichtung ergänzt (vergleichbar derjenigen, die zur Berechnung des BIP herangezogen und weiter oben diskutiert werden), die Substitutionsprozessen Rechnung trägt. Seit seiner Erstveröffentlichung vor drei Jahren wundern sich die Leute, dass der kettengewichtete VPI viel langsamer steigt als der herkömmliche VPI – die Differenz beträgt rund ein Prozent pro Jahr. Offenbar war die Kritik, wonach der traditionelle VPI die Inflation übertreibe, berechtigt.4
Beurteilung der Berechnungsmethode In diesem Kapitel haben wir dargelegt, wie die Wirtschaftwissenschaftler die gesamtwirtschaftliche Leistung und das gesamtwirtschaftliche Preisniveau bestimmen. Zu welchem Schluss sollten wir hinsichtlich der Angemessenheit der Maßstäbe kommen, nachdem wir die Berechnungsmethoden betrachtet und die Mängel des BIP untersucht haben? Erfassen unsere Maßstäbe die wesentlichen Entwicklungen? Kann man mit ihrer Hilfe das Wohlbefinden einer Gesellschaft zutreffend beurteilen? Arthur Okun hat in einer Besprechung die passende Antwort gegeben: 4 Es sollte niemanden überraschen, dass der nationale Wohlstand keine Garantie für eine glückliche Gesellschaft ist, genauso wenig wie der persönliche Wohlstand eine glückliche Familie garantiert. Kein noch so hohes Wachstum des BIP kann die Spannungen beseitigen, die durch einen unbeliebten und erfolglosen Krieg entstehen, eine überfällige Auseinandersetzung mit unserem Gewissen über Rassendiskriminierung, eine dramatische Veränderung der Sexualmoral und ein beispielloses Unabhängigkeitsstreben der Jugend. Aber Wohlstand ... ist eine Voraussetzung für das Erreichen unserer Ziele.5
4 Informationen über ein Symposium zur Bestimmung des VPI finden Sie im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel. 5 The Political Economy of Prosperity (Norton, New York, 1970), S. 124.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Zusammenfassung 1.
Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung liefert uns die wichtigsten Maßstäbe für das Einkommen und die Produktion eines Landes. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stellt die umfassendste Maßzahl für die gesamtwirtschaftliche Produktion von Waren und Dienstleistungen eines Landes dar. Es entspricht dem nominellen Wert der Summe aus Konsum (C), privaten Bruttoinlandsinvestitionen (I), Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (G) und Nettoexporten (X), die im Inland während eines Jahres produziert beziehungsweise konsumiert werden. Erinnern Sie sich an die Gleichung:
5.
6.
BIP = C + I + G + X Sie wird manchmal vereinfacht, indem Inlandsinvestitionen (I) und Nettoexporte (X) zu den gesamtwirtschaftlichen Bruttoinvestitionen (IT) zusammengefasst werden: BIP = C + IT + G 2.
3.
4.
Wie in Abbildung 21-1 dargestellt, stimmt das Ergebnis der Berechnung des BIP aus dem Güterstrom der Verwendungsrechnung (obere Schleife des Wirtschaftskreislaufs) mit dem aus dem Einkommens- oder Kostenstrom der Entstehungsseite (untere Schleife des Wirtschaftskreislaufs) überein. Dem am Kostenstrom orientierten Ansatz liegen die Faktoreinkommen zugrunde, wobei die Wertschöpfung sorgfältig ermittelt wird, um Doppelzählungen von Halbfabrikaten zu vermeiden. Nachdem alle Löhne und Gehälter (vor Steuerabzug), Zinsen, Mieten und Pachten, Abschreibungen und Gewinne addiert sind, werden zu dieser Summe noch alle indirekten Unternehmenssteuern hinzugezählt. Im BIP sind keine Transferzahlungen, wie zum Beispiel Zinsen auf Staatsschulden oder Sozialleistungen, enthalten. Mithilfe eines Preisindex („BIP-Deflator“) können wir das nominale BIP (entspricht dem BIP zu derzeitigen Preisen) preislich bereinigen, um so zum genaueren Maß des realen BIP (Geldwert des BIP entsprechend der Kaufkraft eines bestimmten Basisjahres) zu gelangen. Durch diesen Preisindex korrigieren wir den „dehnbaren“ Maßstab, den das nominale BIP darstellt, das von Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus beeinflusst wird. Die Nettoinvestitionen sind positiv, wenn die Volkswirtschaft innerhalb eines bestimmten Zeitraums mehr Kapitalgüter produziert, als sie durch Abschreibungen (laufende Abnutzung)
7.
8.
aufbraucht. Da die Abschreibungen nur schwer genau geschätzt werden können, ziehen die Statistiker die Verwendung der Bruttoinvestitionen den Nettoinvestitionen vor. Das Volkseinkommen und das verfügbare Einkommen stellen zwei weitere offizielle Maßstäbe dar. Das verfügbare Einkommen ist der gesamte Geldbetrag, der uns nach Abzug aller Steuern und einbehaltenen Unternehmensgewinne sowie der Addition von Transferleistungen tatsächlich verbleibt und den wir für Konsumzwecke ausgeben oder sparen können. Wenn wir die Regeln der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung anwenden, muss die ermittelte Ersparnis genau den Investitionen entsprechen. Dies kann leicht anhand einer fiktiven Volkswirtschaft nachvollzogen werden, die nur aus Haushalten besteht. Für eine gesamte Volkswirtschaft gilt, dass die Ersparnis der Haushalte zuzüglich der staatlichen Ersparnis gleich den Inlandsinvestitionen zuzüglich der Nettoauslandsinvestitionen ist. Die Identität von Ersparnissen und Investitionen gilt immer, gleich ob die Volkswirtschaft sich im Aufschwung oder in einer Rezession, im Krieg oder im Frieden befindet. Sie ergibt sich aus den Definitionen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Das Bruttoinlandsprodukt und sogar das Nettoinlandsprodukt sind unvollständige Maßstäbe zur Erfassung des tatsächlichen wirtschaftlichen Wohlergehens. Während der letzten Jahre haben die Statistiker begonnen, bei den Messzahlen Aktivitäten außerhalb des Marktgeschehens zu berücksichtigen, beispielsweise unbezahlte Hausarbeit und Einflüsse auf die Umwelt. Von Inflation spricht man, wenn das allgemeine Preisniveau ansteigt (wenn es sinkt, liegt eine Deflation vor). Wir messen das Gesamtpreisniveau und die Inflationsrate mithilfe von Preisindizes – der gewichteten Durchschnitte der Preise von Tausenden von Artikeln. Der wichtigste Preisindex ist der Verbraucherpreisindex (VPI), der herkömmlicherweise die Kosten eines bestimmten Korbes aus Konsumgütern und Dienstleistungen im Vergleich zu den Kosten desselben Korbes in einem bestimmten Basisjahr misst. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass der VPI nach oben verzerrt ist, weil es zu Problemen mit Indexzahlen kommt und neue, verbesserte Waren nicht berücksichtigt werden. Die US-Regierung hat Maßnahmen ergriffen, um die Verzerrung wenigstens teilweise zu korrigieren.
Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
629
Begriffe zur Wiederholung Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Reales und nominales BIP BIP-Deflator BIP = C + I + G + X Nettoinvestitionen = Bruttoinvestitionen – Abschreibungen Berechnung des BIP nach zwei gleichwertigen Methoden: Entstehungsseite (obere Kreislaufschleife) Verwendungsseite (untere Kreislaufschleife) Halbfabrikate, Wertschöpfung Nettoinlandsprodukt = BIP – Abschreibungen Transferzahlungen des Staates Verfügbares Einkommen Gleichheit von Ersparnissen und Investitionen I=S
IT = I + X = SP + SG = ST
Inflation, Deflation Preisindizes: VPI Preisindex des BIP Erzeugerpreisindex
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine hervorragende Zusammenstellung historischer Daten für die Vereinigten Staaten enthalten die Historical Statistics of the United States, 2 Bände (Government Printing Office, Washington, D.C., 1975). Eine Übersicht über die Probleme, die bei der Berechnung des Verbraucherpreisindex auftreten, findet sich im „Symposium on the CPI“, Journal of Economic Perspectives, Winter 1998. Deutschsprachige Literatur: Michael Frenkel und Klaus Dieter John, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, 5. Aufl. (Vahlen, München, 2003); Hans-Peter Nissen, Das europäische System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, 4. Aufl. (Physica-Verlag, Heidelberg, 2002).
Websites Die beste Website für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Vereinigten Staaten wird vom Bureau of Economic Analysis (BEA) unter www.bea.gov bereitgestellt. Hier findet man auch die jüngsten Ausgaben von The Survey of Current Business, wo die neuesten wirtschaftlichen Entwicklungen diskutiert werden. Ein hervorragender Ausgangspunkt zur Suche nach statistischen Daten zu vielen Sektoren ist www.lib.umich.edu/govdocs/. Die beste Quelle für statistische Daten zu den Vereinigten Staaten ist The Statistical Abstract of the United States, das jährlich erscheint. Die Zusammenfassung steht online unter www.census.gov/statab/www/ zur Verfügung. Eine große Anzahl wichtiger Wirtschaftsdaten findet man unter www.economagic.com/. Eine kürzlich erstellte Übersicht über alternative Ansätze zur Berücksichtigung von Umweltfaktoren ist in dem Bericht der National Academy of Sciences enthalten, der in William Nordhaus und Edward Kokkelenberg (Hrsg.), Nature's Numbers: Expanding the National Accounts to Include the Environment, veröffentlicht wurde (National Academy Press, Washington D.C., 1999). Man findet den Bericht unter www.nap.edu. Für Informationen zu Preisen konsultieren Sie bitte die Websites-Empfehlungen zu Kapitel 32.
630
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Übungen 1.
2.
3.
4.
5.
Definieren Sie folgende Begriffe und geben Sie zu jedem ein Beispiel an: a. Konsum b. Private Bruttoinlandsinvestitionen c. Staatsausgaben für Konsum und Investitionen (Komponente des BIP) d. Staatliche Transferzahlungen (nicht im BIP enthalten) e. Exporte Mitunter wird behauptet: „Äpfel und Birnen kann man nicht addieren.“ Zeigen Sie, dass dies in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung doch möglich ist. Erklären Sie, warum dies möglich ist. Schauen Sie sich die Daten im Anhang zu Kapitel 20 an und suchen Sie die Zahlen für das nominale und reale BIP für 1999 und 1998. Berechnen Sie den BIP-Deflator. Um wie viel ist das nominale und das reale BIP von 1998 auf 1999 jeweils gewachsen? Welche Inflationsrate herrschte 1999 (berechnet mit dem BIP-Deflator)? Robinson Crusoe stellt ein Produkt im Wert von US-$ 1.000 her. Er zahlt US-$ 750 an Löhnen, US-$ 125 an Zinsen und US-$ 75 an Miete. Wie hoch muss sein Gewinn sein? Unterstellen Sie, dass 75 Prozent von Crusoes Produktion konsumiert und der Rest investiert wird, und berechnen Sie das BIP für die Crusoe-Insel von der Entstehungsseite und der Verwendungsseite her. Zeigen Sie, dass die beiden Ergebnisse übereinstimmen müssen. Noch ein paar Denksportaufgaben. Verstehen Sie, warum die folgenden Punkte nicht im BIP der Vereinigten Staaten berücksichtigt sind? a. Ein Drei-Sterne-Koch bereitet zu Hause ein Festmenü vor. b. Der Kauf eines Grundstücks. c. Der Kauf eines Originalgemäldes von Rembrandt. d. Der Nutzen, den ich im Jahre 2000 davon habe, dass ich eine CD aus dem Jahr 1997 abspiele. e. Schäden an Häusern und Getreide aufgrund der von einem Elektrizitätswerk verursachten Umweltverschmutzung. f. Gewinne von IBM aufgrund der Produktion in einem britischen Werk.
6.
7.
8.
9.
Wenden wir uns dem Staat Agrovia zu, dessen BIP bereits unter „Ein Zahlenbeispiel“ auf Seite 616 diskutiert wurde. Erstellen Sie die Konten für das Bruttoinlandsprodukt anhand des Beispiels von Tabelle 21-6, wobei Sie annehmen, dass ein Scheffel Weizen US-$ 5 kostet, es keine Abschreibungen gibt, Löhne und Gehälter drei Viertel des Gesamteinkommens ausmachen, indirekte Unternehmenssteuern zur vollständigen Finanzierung der Staatsausgaben genutzt werden und der Einkommensüberschuss als Miet- und Pachteinkommen an die Bauern gezahlt wird. Kehren Sie noch einmal zu der Diskussion über die Verzerrung des VPI zurück. Erläutern Sie, warum die Nichtberücksichtigung von Qualitätsverbesserungen neuer Waren den VPI im Laufe der Zeit nach oben verzerrt. Wählen Sie ein Produkt, das Sie gut kennen. Erklären Sie, wie sich dessen Qualität verändert hat und warum es schwierig sein könnte, derartige Qualitätsveränderungen mithilfe eines Preisindex zu erfassen. Seit einigen Jahrzehnten gehen mehr und mehr Frauen einer bezahlten Arbeit nach und verbringen weniger Zeit mit unbezahlter Hausarbeit. a. Welchen Einfluss haben die zusätzlich geleisteten Arbeitsstunden auf das BIP? b. Erläutern Sie, warum dieser Anstieg des gemessenen BIP die tatsächliche Erhöhung der Produktionsleistung übertreibt. Erklären Sie, wie eine Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die auch die Leistungen im Haushalt berücksichtigt, diese Verschiebung von nicht am Markt angebotener Arbeit zu bezahlter Arbeit darstellen würde. c. Erläutern Sie das Paradox: „Wenn jemand seinen Gärtner/seine Gärtnerin heiratet, sinkt das BIP.“ Schauen Sie sich die Preise in Tabelle 21-7 an. Sie führt die tatsächlichen Daten für den Verbraucherpreisindex im Dezember 2000 auf. a. Wenden Sie die in dem Kasten „Die Berechnung des Verbraucherpreisindex“ vorgestellte Technik an und berechnen Sie den prozentualen Anstieg des VPI von Dezember 1999 bis Dezember 2000. b. Im Dezember 1999 lag der VPI bei 168,3 (auf der Basis 1983 = 100). Wie hoch war der entsprechende VPI im Dezember 2000?
Kapitel 21 Das Messen wirtschaftlicher Aktivität
Ausgabengruppe
Relative Bedeutung, Dezember 1999 (%)
Prozentuale Veränderung, Dezember 1999 vgl. mit Dezember 2000
Alle Gruppen (1967 = 100)
100,00
?
Lebensmittel und Getränke
16,30
2,80
Wohnungen
39,64
4,30
Bekleidung
4,68
–1,80
17,45
4,10
Medizinische Versorgung
5,77
4,20
Freizeit
6,01
1,70
Bildung und Kommunikation
5,42
1,30
Sonstige Waren und Dienstleistungen
4,73
4,20
Transport
Tabelle 21-7: Angaben zum Verbraucherpreisindex, Dezember 2000 Quelle: Bureau of Labor Statistics, ftp://ftp.bls.gov/pub/news.release/History/cpi.01142000.news
631
633
KAPITEL 22 Konsum und Investitionen
Micawbers Gleichung: Einkommen 20 Pfund; Ausgaben 19 Pfund, 19 Shilling und Sixpence = Glück. Einkommen 20 Pfund; jährliche Ausgaben 20 Pfund und Sixpence = Kummer. Charles Dickens, „David Copperfield“
Konsum, Ersparnisse und Investitionen spielen eine wesentliche Rolle für die wirtschaftliche Leistung einer Nation. Länder, die einen Großteil ihres Einkommens sparen und investieren, erzielen üblicherweise rasche Steigerungen ihrer Produktionsleistung, ihres Einkommens sowie ihrer Löhne und Gehälter. Während des 19. Jahrhunderts folgte die Entwicklung der Vereinigten Staaten diesem Muster; während des 20. Jahrhunderts galt dasselbe für Japan und während der letzten 30 Jahre für die „Wunder“-Wirtschaften Ostasiens. Im Gegensatz dazu investieren Nationen, die den größten Teil ihres Einkommens konsumieren, wie viele arme Länder Afrikas oder Lateinamerikas, wenig in neue Fabriken und Anlagen und erzielen daher nur ein geringes Wachstum von Produktivität, Löhnen und Gehältern. Ein im Vergleich zum Einkommen hoher Konsum bedeutet geringe Investitionen und niedriges Wachstum; ein hohes Maß an Ersparnissen führt zu hohen Investitionsausgaben und einem schnellen Wachstum Das Zusammenspiel zwischen Ausgaben und Einkommen spielt während eines Wirtschaftsaufschwungs eine andere Rolle als während eines Wirtschaftsabschwungs. Wenn die wirtschaftlichen Bedingungen das schnelle Wachstum von Konsum und Investitionen fördern, erhöhen sich die Gesamtausgaben oder die Gesamtnachfrage, was kurzfristig zum Anstieg von Produktion und Beschäftigung führt. Der Wirtschaftsaufschwung in den Vereinigten Staaten gegen Ende der neunziger Jahre wurde hauptsächlich durch die schnell wachsenden Konsumausgaben angetrieben. Wenn dagegen der Konsum aufgrund von Steuererhöhungen oder eines Vertrauensverlusts der Konsumenten sinkt, wie es Ende der neunziger Jahre in Japan der Fall war, führt das üblicherweise zu sinkenden Ausgaben und kann eine Rezession verursachen. Da Konsum und Investitionen ein so wesentlicher Teil der Makroökonomie sind, widmen wir ihnen dieses Kapitel. Abbildung 22-1 verdeutlicht, wie sich die in diesem Kapitel
634
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Gesamtnachfrage (AD) Konsum und Investitionen Zusammenspiel von AS und AD
Gesamtangebot (AS)
Investitionen und Kapital
Abbildung 22-1: Welche Hauptfaktoren beeinflussen Konsum und Investitionen? In diesem Kapitel werden zwei Hauptkomponenten des BIP analysiert: Konsum und Investitionen. In späteren Kapiteln werden wir sehen, dass diese sowohl das gesamtwirtschaftliche Angebot als auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflussen.
behandelten Themen in das Gesamtbild einer Volkswirtschaft einfügen.
A. Konsum und Sparverhalten In diesem Abschnitt betrachten wir den Konsum und das Sparverhalten, wobei wir mit einer Analyse individueller Ausgabenmuster beginnen und dann das Gesamtkonsumverhalten betrachten. In Kapitel 21 wurde dargelegt, dass Konsum (oder, genauer gesagt,
die persönlichen Konsumausgaben) die Ausgaben der Haushalte für Endprodukte und Dienstleistungen bezeichnet. Die Ersparnisse sind der Teil des verfügbaren Einkommens, der nicht konsumiert wird. Der Konsum stellt die größte Einzelposition des BIP dar. Im letzten Jahrzehnt entfielen in den Vereinigten Staaten 66 Prozent aller Ausgaben auf den Konsum. Aus welchen Hauptelementen setzt er sich zusammen? Zu den wichtigsten Komponenten zählen der Wohnungsbau, Kraftfahrzeuge, Nahrungsmittel und die medizinische Versorgung. Tabelle 22-1 listet die Hauptbestandteile des Konsums auf, unterteilt in die drei Kategori-
635
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
Konsumkomponenten
Wert für 2002 (Mrd. US-$)
Gebrauchsgüter Kraftfahrzeuge und -teile
376,1
Möbel und Haushaltsgeräte
318,7
Sonstige
177,1
Verbrauchsgüter Lebensmittel
324,3
Energieversorgung
173,5
Sonstige
587,8
Dienstleistungen
11,9
2.115
29,0
4.317
59,1
7.304
100,0
1.071,5
Arbeiten im Haushalt
405,2
Transport
275,8
Ärztliche Versorgung
1.148,5
Freizeit und Erholung
285,1
Sonstige
872
1.029,4
Bekleidung und Schuhe
Wohnungen
Anteil am Gesamtkonsum (in %)
1.130,7
Gesamte Konsumausgaben Tabelle 22-1: Die Hauptkomponenten des Konsums
Der Konsum wird in drei Kategorien unterteilt: (langlebige) Gebrauchsgüter, Verbrauchsgüter und Dienstleistungen. Der Dienstleistungssektor nimmt an Bedeutung zu, da die Grundbedürfnisse nach Nahrung befriedigt sind und die Gesundheitsvorsorge, Freizeitaktivitäten und Bildung einen größeren Anteil am Haushaltsbudget beanspruchen. Quelle: US-Handelsministerium, verfügbar unter www.bea.gov.
en langlebige Konsumgüter (Gebrauchsgüter), Verbrauchsgüter und Dienstleistungen. Diese Positionen sind Ihnen sicherlich geläufig, aber ihre relative Bedeutung, insbesondere die steigende Bedeutung der Dienstleistungen, rechtfertigt eine genauere Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Ausgabenmuster der privaten Haushalte Wie unterscheidet sich die Ausgabenstruktur der verschiedenen privaten Haushalte in den Vereinigten Staaten? Keine zwei Familien geben ihr verfügbares Einkommen auf genau gleiche Art und Weise aus. Trotzdem zeigen
Statistiken, dass eine voraussagbare Gleichmäßigkeit darin besteht, wie Menschen ihre Ausgaben auf Nahrungsmittel, Kleidung und andere wichtige Positionen verteilen. Tausende von Untersuchungen über das Ausgabenverhalten zeigen eine erstaunliche Übereinstimmung der allgemeinen qualitativen Verhaltensmuster.1 Abbildung 22-2 verdeutlicht 1 Das in Abbildung 22-2 gezeigte Ausgabenmuster wird nach dem preußischen Statistiker Ernst Engel (19. Jahrhundert) als „Engelsches Gesetz“ bezeichnet. Im Durchschnitt stehen die Konsumausgaben in einer recht regelmäßigen Beziehung zum Einkommen. Doch Durchschnitte haben nur eine begrenzte Aussagekraft. Tatsächlich ist innerhalb jeder Einkommensklasse eine beträchtliche Streuung der Konsumausgaben um den Durchschnitt festzustellen.
636
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
100.000
Private Konsumausgaben (in US-$)
80.000
Ersparnis 60.000
Medizinische Versorgung und Sonstiges 40.000 Transport
20.000 Wohnungskosten
Nahrungsmittel
0 0
20.000
60.000 40.000 Verfügbares Einkommen (in US-$)
80.000
100.000
Abbildung 22-2: Die Haushaltsausgaben weisen regelmäßige Muster auf Untersuchungen bestätigen die Bedeutung des verfügbaren Einkommens als Bestimmungsgröße der Konsumausgaben. Beachten Sie die prozentuale Abnahme der Nahrungsmittelausgaben bei steigendem Einkommen. Beachten Sie auch, dass die Ersparnisse bei niedrigem Einkommen negativ sind, aber mit wachsendem Einkommen deutlich ansteigen. Quelle: US Arbeitsministerium, Consumer Expenditure Survey, 1998.
diesen Tatbestand. Arme Familien sind gezwungen, ihr Einkommen hauptsächlich für lebensnotwendige Güter zu verwenden, also Nahrungsmittel und Wohnraum. Mit steigendem Einkommen erhöhen sich auch die Nahrungsmittelausgaben: Die Menschen essen mehr und besser. Allerdings geben sie bei steigendem Einkommen nicht alles zusätzliche Geld für Lebensmittel aus. Folglich sinkt mit steigendem Einkommen der prozentuelle Anteil, der für Nahrungsmittel ausgegeben wird.
Bis zum Erreichen eines hohen Einkommensniveaus steigen im Verhältnis zum verfügbaren Einkommen die Ausgaben für Kleidung, Erholung und Kraftfahrzeuge überproportional an. Die Ausgaben für Luxusgüter nehmen stärker zu als das Einkommen. Schließlich ist bei zunehmendem Nettoeinkommen auch ein starker Anstieg der Ersparnisse festzustellen. Sparen ist der größte Luxus überhaupt.
637
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
Die Entwicklung des Konsums im 20. Jahrhundert Stetige Veränderungen der Technik, der Einkommen und der sozialen Kräfte haben im Lauf der Zeit zu dramatischen Veränderungen der Konsummuster in den Vereinigten Staaten geführt. 1918 gaben amerikanische Haushalte im Durchschnitt 41 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Heutzutage beträgt dieser Anteil nur noch 19 Prozent. Wie kam es zu diesem bemerkenswerten Rückgang? Der Hauptgrund besteht darin, dass die Ausgaben für Lebensmittel üblicherweise langsamer steigen als die Einkommen. Ebenso sind auch die Ausgaben für Bekleidung von 18 Prozent des Haushaltseinkommens am Anfang des 20. Jahrhunderts auf nur noch sechs Prozent gesunken. Für welche „Luxusgüter“ geben die Amerikaner heutzutage mehr aus? Ein wichtiger Posten ist der Transport. Im Jahre 1918 gaben die Amerikaner nur ein Prozent ihres Einkommens für Fahrzeuge aus – Henry Ford hat sein erstes Model T ja auch erst 1908 verkauft. Inzwischen verfügt jeder Haushalt über 1,3 Autos, daher überrascht es nicht, dass 23 Prozent der Ausgaben auf den Transport mit Kraftfahrzeugen entfallen. Wie sieht es mit Freizeit und Unterhaltung aus? Heutzutage geben Haushalte beträchtliche Summen fürs Fernsehen, für Videorekorder und Mobiltelefone aus, alles Produkte, die es vor 75 Jahren noch gar nicht gab. Diese neuen Erfindungen haben die Ausgaben für Unterhaltung von drei Prozent auf sechs Prozent der Haushaltsbudgets steigen lassen. Auch die Ausgaben für Wohnraum und damit verbundene Dienstleistungen beanspruchen nun einen größeren Teil des Einkommens – 20 Prozent statt 14 Prozent gegen Anfang des Jahrhunderts. Das zeigt in gewisser Weise, wie erfolgreich der amerikanische Traum verwirklicht wird: Es kostet mehr, ein großes Haus in einem Vorort zu besitzen, als eine kleine Wohnung in der Innenstadt zu mieten. Während des letzten Jahrzehnts sind die Gesundheitsausgaben besonders stark gestiegen, wobei sowohl die Konsumenten
selbst mehr für die Gesundheitsvorsorge ausgeben als auch Unternehmen und die Regierung höhere Beiträge zum Gesundheitswesen leisten. Erstaunlicherweise ist der Prozentsatz am Haushaltseinkommen, den die Konsumenten direkt für ihre Gesundheit ausgeben, seit Anfang des 20. Jahrhunderts fast unverändert geblieben. Den größten Zuwachs verzeichnen auf diesem Gebiet die Regierungsausgaben, da die Regierung der Vereinigten Staaten wie auch diejenigen anderer Länder mit hohem Durchschnittseinkommen zunehmend mehr für Gesundheitsvorsorge ausgeben.
Konsum, Einkommen und Ersparnisse Einkommen, Konsum und Ersparnisse sind eng miteinander verflochten. Genauer gesagt sind die persönlichen Ersparnisse der Teil des verfügbaren Einkommens, der nicht konsumiert wird. Mit anderen Worten: Zieht man vom Einkommen den Konsum ab, erhält man die Ersparnisse. Die Beziehung zwischen Einkommen, Konsum und Ersparnissen in den Vereinigten Staaten im Jahre 2002 ist in Tabelle 22-2 dargestellt. Beginnen wir mit dem persönlichen Einkommen (das sich, wie in Kapitel 21 gezeigt, aus Löhnen, Gehältern, Zins-, Miet- und Dividendenerträgen, Transferzahlungen und so weiter zusammensetzt). Im Jahre 2002 wurden etwa US-$ 1.114 Milliarden oder 12,5 Prozent an Einkommensteuern vom persönlichen Einkommen abgezogen. Damit verblieben den Haushalten $ 7.816 Milliarden an verfügbarem Einkommen. Die Haushaltsausgaben für Konsum (einschließlich Zinsen) betrugen 96,3 Prozent des verfügbaren Einkommens oder US-$ 7.525 Milliarden, womit US-$ 291 Milliarden für persönliche Ersparnisse übrig blieben. Die letzte Position der Tabelle zeigt die wichtige Sparquote der privaten Haushalte. Diese gibt die persönlichen Ersparnisse als Prozentsatz des verfügbaren Einkommens an (3,7 Prozent für 2002).
638
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Posten
Betrag für 2002 (Mrd. US-$)
(1)
(2)
(3)
Verfügbares Einkommen
Konsum
(US-$)
Nettoersparnis (+) oder negative Ersparnis (–) (US-$)
A
24.000
–200
24.200
B
25.000
0
25.000
291
C
26.000
200
25.800
3,7
D
27.000
400
26.600
E
28.000
600
27.400
F
29.000
800
28.200
G
30.000
1.000
29.000
Persönliches Einkommen
8.929
minus Einkommensteuer
1.114
= Persönliches verfügbares Einkommen
7.816
minus persönliche Ausgaben (Konsum und Zinsen) = Persönliche Ersparnisse Persönliche Ersparnisse in % des persönlichen verfügbaren Einkommens
Teil 5
7.525
Tabelle 22-2: Die Ersparnis entspricht dem verfügbaren Einkommen abzüglich der Konsumausgaben Quelle: US Handelsministerium, verfügbar unter: www.bea.gov.
Volkswirtschaftliche Studien haben gezeigt, dass die Aufteilung zwischen Konsum und Sparen primär vom Einkommen abhängt. Reiche Menschen sparen mehr als arme, sowohl absolut als auch als Prozentsatz ihres Einkommens. Angehörige der untersten Einkommensschichten können gar nicht sparen. Solange sie Geld leihen oder von ihrem Vermögen leben können, betreiben sie so genanntes „negatives Sparen“. Das bedeutet, dass diese ärmeren Bevölkerungsgruppen dazu tendieren, mehr auszugeben, als sie einnehmen, und damit bisherige Ersparnisse aufzuzehren oder sich noch tiefer zu verschulden. Tabelle 22-3 zeigt beispielhaft Daten aus Budgetstudien über verfügbare Einkommen, Ersparnis und Konsum von Haushalten der Vereinigten Staaten. Die erste Spalte führt sieben unterschiedlich hohen Einkommensniveaus auf. Spalte (2) zeigt die zu jedem verfügbaren Einkommen gehörende Nettoersparnis, und aus der dritten Spalte lassen sich die entsprechenden Konsumausgaben ersehen. Der Gleichgewichtspunkt beziehungsweise die „Sparschwelle“, an der ein Haushalt weder positiv noch negativ spart, sondern sein gesamtes Einkommen konsumiert, liegt
(US-$)
Tabelle 22-3: Konsum und Ersparnisse werden hauptsächlich vom Einkommen bestimmt Konsum und Ersparnisse steigen mit dem verfügbaren Einkommen. Die Sparschwelle, an der die Menschen gar nichts sparen, liegt hier bei US-$ 25.000. Wie viel von jedem zusätzlichen Dollar an Einkommen wird in dieser Einkommensklasse für zusätzlichen Konsum und wie viel für zusätzliche Ersparnisse verwendet? (Antwort: 80 Cents und 20 Cents, wie aus den Zeilen B und C ersichtlich.)
bei einem jährlichen Einkommen von etwa US-$ 25.000. Unterhalb dieses Punktes, zum Beispiel bei US-$ 24.000, übersteigen die Konsumausgaben das Einkommen des Haushaltes: Es kommt zum negativen Sparen (im Beispiel US-$ –200). Bei allen Einkommen über US-$ 25.000 verzeichnen wir positive Ersparnisse (in unserem Beispiel US-$ 200 und die übrigen positiven Zahlenangaben der zweiten Spalte). Die dritte Spalte zeigt die Konsumausgaben für jede Einkommenshöhe. Da jeder Dollar Einkommen zwischen Konsum und Sparen aufgeteilt wird, sind Spalten (2) und (3) nicht unabhängig voneinander. In der Summe müssen sie immer den Betrag der ersten Spalte ergeben. Um zu verstehen, wie der Konsum die gesamtwirtschaftliche Produktion beeinflusst, müssen wir einige neue Instrumente in die Diskussion einführen. Wir müssen verste-
639
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
hen lernen, wie viel zusätzlichen Konsum und wie viel zusätzliches Sparen jede zusätzliche Geldeinheit an Einkommen auslöst. Diese Beziehung wird mit Hilfe folgender Instrumente beschrieben: • der Konsumfunktion, die das Verhältnis zwischen Konsum und Einkommen darstellt; • und ihres Zwillings, der Sparfunktion, die das Verhältnis zwischen Ersparnis und Einkommen ausdrückt.
Die Konsumfunktion Einen der wichtigsten Zusammenhänge der Volkswirtschaftslehre stellt die Konsumfunktion dar. Sie zeigt die Beziehung zwischen der
Höhe der Konsumausgaben und der Höhe des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte. Dieser von Keynes eingeführte Begriff basiert auf der Hypothese, dass es eine stabile empirische Beziehung zwischen Konsum und Einkommen gibt. Die Konsumfunktion lässt sich am anschaulichsten in Form einer Grafik darstellen. In Abbildung 22-3 sind die sieben Einkommenshöhen aus Tabelle 22-3 aufgezeichnet. Das verfügbare Einkommen (erste Spalte aus Tabelle 23-3) wird auf der waagrechten und der Konsum (dritte Spalte) auf der senkrechten Achse aufgetragen. Jeder der einzelnen Punkte in der Grafik repräsentiert eine bestimmte Einkommens-KonsumKombination; diese werden nun zu einer Kurve verbunden.
C
Er
E′′ 28.000 Konsumausgaben (in US-$)
E C
26.000 Gleichgewichtspunkt (Sparschwelle) A
r pa
nis
se
s G
F Konsumfunktion
D
B
24.000 Konsum
22.000
20.000
45˚ 0
E′
20.000 22.000 24.000 26.000 28.000 Verfügbares Einkommen (in US-$)
30.000
DI
Abbildung 22-3: Grafische Darstellung der Konsumfunktion Die Kurve durch die Punkte A, B, C bis G stellt die Konsumfunktion dar. Auf der waagrechten Achse sind die verfügbaren Einkommen (DI) verzeichnet. Für jedes Niveau von DI zeigt die Konsumfunktion die zugehörige Konsumhöhe (in US-Dollar) der Haushalte. Beachten Sie, dass der Konsum mit dem verfügbaren Einkommen steigt. Die 45˚-Linie hilft, die Sparschwelle zu identifizieren und die Nettoersparnisse anhand der Grafik zu erkennen. Quelle: Tabelle 22-3.
640
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Der in Abbildung 23-3 gezeigte Zusammenhang zwischen Konsum und Einkommen wird Konsumfunktion genannt. Die „Sparschwelle“ (Gleichgewichtspunkt). Beachten Sie die 45˚-Linie, die durch den Ursprung des Diagramms nach oben rechts verläuft. Da auf der vertikalen sowie auf der horizontalen Achse die gleichen Skalen verwendet werden, weist die 45˚-Linie eine ganz spezielle Eigenschaft auf: Auf jedem Punkt der Linie entspricht der Abstand von der senkrechten Achse (Konsum) exakt dem Abstand von der waagrechten Achse (verfügbares Einkommen). Sie können diese Tatsache leicht selbst nachprüfen. Die 45˚-Linie ermöglicht es uns daher, schnell herauszufinden, ob die Konsumausgaben gleich dem verfügbaren Einkommen oder aber größer oder kleiner als dieses sind. Der Schnittpunkt der 45˚-Linie mit der Konsumfunktion markiert jenes verfügbare Einkommen, das gerade zur Deckung der Konsumausgaben ausreicht (Gleichgewichtspunkt). In Abbildung 22-3 ist dieser Punkt mit B bezeichnet. Die Konsumausgaben und das verfügbare Einkommen sind gleich hoch: Der Haushalt nimmt keine Kredite auf und spart nicht. Rechts von B liegt die Konsumfunktion unterhalb der 45˚-Linie. Die dünne schwarze Linie von E' nach E in Abbildung 22-3 zeigt hier die Beziehung zwischen Einkommen und Konsum. Bei einem Einkommen von US-$ 28.000 beträgt das Konsumniveau US-$ 27.400 (wie wir aus Tabelle 22-3 wissen). Den Umstand, dass der Konsum geringer als das Einkommen ist, können wir daraus ersehen, dass die Konsumfunktion in Punkt E unterhalb der 45˚-Linie liegt. Gibt ein Haushalt nicht sein gesamtes Einkommen aus, so spart er den Rest. Die 45˚-Linie ermöglicht es uns festzustellen, wie viel gespart wird. Wir messen die Höhe der Nettoersparnis als vertikalen Abstand zwischen der Konsumfunktion und der 45˚-Linie, wie mit Hilfe des rostfarbenen Pfeils von E nach E“ veranschaulicht wird.
Teil 5
Die 45˚-Linie verdeutlicht auch, dass der Haushalt links von Punkt B mehr ausgibt, als er einnimmt. Der Überhang an Konsumausgaben gegenüber dem Einkommen bedeutet ein „negatives Sparen“ und wird ebenso anhand des Vertikalabstandes zwischen Konsumfunktion und 45˚-Linie gemessen. Wir können also festhalten: Auf jedem Punkt der 45˚-Linie entsprechen die Konsumausgaben genau dem verfügbaren Einkommen; es wird nichts gespart. Liegt die Konsumfunktion oberhalb der 45˚-Linie, dann betreibt der Haushalt „negatives Sparen“. Liegt die Kurve unterhalb der 45˚-Linie, bildet der Haushalt positive Nettoersparnisse. Die Höhe des „negativen“ oder des positiven Sparens wird immer durch den vertikalen Abstand der Konsumfunktion von der 45˚Linie gemessen.
Die Sparfunktion Die Sparfunktion zeigt den Zusammenhang zwischen der Höhe der Ersparnis und dem Einkommen. Dies wird grafisch durch Abbildung 22-4 verdeutlicht. Wieder ist das verfügbare Einkommen entlang der waagrechten Achse dargestellt; die senkrechte Achse repräsentiert dieses Mal jedoch die positiven oder negativen Nettoersparnisse der einzelnen Haushalte. Die Sparfunktion lässt sich unmittelbar aus Abbildung 22-3 ableiten. Sie ist nichts anderes als der Abstand zwischen der 45˚-Linie und der Konsumfunktion. Zum Beispiel zeigt Punkt A in Abbildung 22-3 die negative Ersparnis des Haushalts dadurch an, dass die Konsumfunktion oberhalb der 45˚-Linie liegt. In Abbildung 22-4 kann das „negative Sparen“ unmittelbar abgelesen werden, da Punkt A im negativen Bereich liegt. Dementsprechend werden rechts von Punkt B positive Ersparnisse gebildet, da die Sparfunktion im Plusbereich liegt.
641
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
Nettoersparnis (inUS-$)
S
G
1.000
F
800
E
600
D
400
Ersparnis
C
200
B
0
A
–200 20.000
22.000
24.000
26.000
28.000
30.000
DI
Verfügbares Einkommen (in US-$)
Abbildung 22-4: Die Sparfunktion ist das Spiegelbild der Konsumfunktion Man berechnet die Sparfunktion, indem man vom Einkommen den Konsum abzieht. In der Grafik erhält man die Sparfunktion, indem man vertikal die Konsumfunktion von der 45˚-Linie in Abbildung 22-3 abzieht. Beachten Sie, dass die Sparschwelle B bei demselben Einkommensniveau von US-$ 25.000 liegt wie in Abbildung 22-3.
Die Grenzneigung zum Konsum Heutzutage misst die Makroökonomie der Reaktion des Konsums auf Einkommensveränderungen große Bedeutung bei. Man bezeichnet dieses Konzept als Grenzneigung zum Konsum (MPC – Marginal Propensity to Consume). Die Grenzneigung zum Konsum stellt jenen zusätzlichen Konsum dar, der pro zusätzlicher Geldeinheit an verfügbarem Einkommen getätigt wird. Der Begriff „Grenz-“ wird bekanntlich in der Volkswirtschaft im Sinne von „zusätzlich“ gebraucht. So werden zum Beispiel die „Grenzkosten“ als die anfallenden Kosten pro zusätzlich produzierter Einheit definiert. Die „Neigung zum Konsum“ bezeichnet das gewünschte Konsumniveau. MPC ist dann der zusätzliche Konsum, der aus jeder zusätzlichen Geldeinheit an verfügbarem Einkommen resultiert. In Tabelle 22-4 werden die Daten aus Tabelle 22-3 noch einmal in übersichtlicher Form dargestellt. Vergewissern Sie sich zunächst der Deckungsgleichheit der Daten. Schauen Sie sich dann die beiden Spalten an, die zeigen, wie die Konsumausgaben mit höherem Einkommen steigen. In der dritten Spalte wird die Berechnung der Grenzneigung zum Konsum dargestellt. Zwischen den Punkten B und C steigt das
Einkommen um US-$ 1.000, nämlich von US-$ 25.000 auf US-$ 26.000. Um wie viel steigt dann der Konsum? Die Antwort lautet: um US-$ 800, von US-$ 25.000 auf US$ 25.800. Das Verhältnis von zusätzlichem Konsum zu zusätzlichem Einkommen beträgt also 0,80. Von jedem zusätzlichen Dollar Einkommen werden 80 Cent für den Konsum aufgewandt, und 20 Cent werden gespart. Im hier gezeigten Beispiel wird eine lineare Konsumfunktion verwendet – eine, bei der die marginale Konsum- und Sparneigung konstant sind. Sie können leicht feststellen, dass MPC überall 0,80 beträgt und MPS 0,20. In der Realität sind vollkommen lineare Konsumfunktionen unwahrscheinlich, aber für unsere Zwecke genügt diese Annäherung an die Wirklichkeit. Geometrische Darstellung der Grenzneigung zum Konsum. Wir wissen nun, wie man die Grenzneigung zum Konsum (MPC) aus den Daten für Einkommen und Konsum berechnet. In Abbildung 22-5 beantworten wir die Frage, wie MPC grafisch ermittelt werden kann. Beachten Sie das eingezeichnete Dreieck unterhalb der Punkte B und C. Wenn das Einkommen von Punkt B nach C um US-$ 1.000 steigt, nimmt der Konsum entsprechend um US-$ 800 zu. Die MPC entspricht hier also $ 800 / $ 1.000 = 0,80. Wie aber im Anhang zum ersten Kapitel beschrieben wurde, ist der numerische Ausdruck für die Steigung einer Geraden der Y-
642
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
(1) Verfügbares Einkommen nach Steuern (US-$) A
24.000
(2) Konsumausgaben
(3) Grenzneigung zum Konsum
(US-$)
(MPC)
24.200
(4) Netto Ersparnisse (in US-$) (4) = (1) – (2)
25.000
25.000
200/1.000 = 0,20 0
800/1.000 = 0,80 C
26.000
25.800
200/1.000 = 0,20 200
800/1.000 = 0,80 D
27.000
26.600
200/1.000 = 0,20 400
800/1.000 = 0,80 E
28.000
27.400
200/1.000 = 0,20 600
800/1.000 = 0,80 F
29.000
28.200
200/1.000 = 0,20 800
800/1.000 = 0,80 G
30.000
(5) Grenzneigung zum Sparen (MPS)
–200 800/1.000 = 0,80
B
Teil 5
29.000
200/1.000 = 0,20 1.000
800/1.000 = 0,80
200/1.000 = 0,20
Tabelle 22-4: Die Grenzneigung zum Konsum und zum Sparen Jeder Dollar des verfügbaren Einkommens, der nicht in den Konsum fließt, wird gespart. Jeder zusätzliche Dollar an verfügbarem Einkommen wird entweder für zusätzlichen Konsum oder zusätzliche Ersparnisse ausgegeben. Die Kombination dieser beiden Tatsachen erlaubt es uns, die marginale Konsumneigung (MPC) und die marginale Sparneigung (MPS) zu berechnen.
Wert dividiert durch den X-Wert.2 Dementsprechend können wir feststellen, dass die Steigung der Konsumfunktion der Grenzneigung zum Konsum entspricht. Die Steigung der Konsumfunktion entspricht der Grenzneigung zum Konsum; beide stellen die Konsumveränderung pro zusätzlicher Geldeinheit an verfügbarem Einkommen dar.
Die Grenzneigung zum Sparen Das Spiegelbild der Grenzneigung zum Konsum ist die Grenzneigung zum Sparen (MPS – Marginal Propensity to Save). Sie wird de2 Für gekrümmte Linien berechnen wir die Steigung als die Steigung der Tangente in diesem Punkt.
finiert als jener Teil jeder zusätzlichen Geldeinheit des verfügbaren Einkommens, der nicht konsumiert, sondern gespart wird. Weshalb stellen sich MPC und MPS wie Spiegelbilder dar? Erinnern wir uns daran, dass das verfügbare Einkommen dem Konsum zuzüglich der Ersparnis entspricht. Dies bedeutet, dass jeder zusätzliche Dollar an verfügbarem Einkommen zwischen zusätzlichem Konsum und zusätzlicher Ersparnis aufgeteilt werden muss. Wenn MPC = 0,80, muss MPS = 0,20 sein. (Wie hoch wäre MPS, wenn MPC = 0,6 oder 0,99 wäre?) Ein Vergleich der Spalten (3) und (5) in Tabelle 22-4 bestätigt uns, dass bei jedem Einkommensniveau MPC plus MPS immer exakt 1 ergibt. Es gilt also immer und überall: MPS = 1 – MPC.
643
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
30.000
C
G Konsumausgaben (in US-$)
28.000
F E C
26.000
D
B A
$ 800 $ 1.000
24.000
22.000
20.000
45˚ 0
20.000 22.000 24.000 26.000 28.000 Verfügbares Einkommen (in US-$)
30.000
DI
Abbildung 22-5: Die Steigung der Konsumfunktion entspricht der Grenzneigung zum Konsum Zur Berechnung der Grenzneigung zum Konsum (MPC) messen wir die Steigung der Konsumfunktion, indem wir in einem rechtwinkligen Dreieck die Höhe zur Basis in Relation setzen. Von Punkt B nach Punkt C wächst das verfügbare Einkommen um US-$ 1.000, und der Konsum steigt um US-$ 800. Die Steigung entspricht der Veränderung von C dividiert durch die Veränderung des DI und ist mit MPC identisch. Wenn die Konsumfunktion in jedem Punkt der Grafik steigt, was bedeutet dies für MPC? Wenn die Linie eine Gerade mit konstanter Steigung ist, was sagt uns das über MPC?
Kurze Zusammenfassung der bisher verwendeten Definitionen Lassen Sie uns die wichtigsten bisherigen Definitionen wiederholen: 1. Die Konsumfunktion setzt die Höhe der Konsumausgaben zu der Höhe des verfügbaren Einkommens in Beziehung. 2. Die Sparfunktion setzt die Ersparnis zu dem verfügbaren Einkommen in Beziehung. Da Sparen gleichzeitig Nicht-Konsum bedeutet, verhalten sich Spar- und Konsumfunktion spiegelbildlich zueinander. 3. Die Grenzneigung zum Konsum (MPC) stellt jenen zusätzlichen Konsum dar, der pro zusätzlicher Geldeinheit an verfügba-
rem Einkommen getätigt wird. Grafisch lässt sie sich als Steigung der Konsumfunktion darstellen. 4. Die Grenzneigung zum Sparen (MPS) bezeichnet die zusätzlichen Ersparnisse, die aus einer zusätzlichen Geldeinheit an verfügbarem Einkommen stammen. Grafisch entspricht sie der Steigung der Sparfunktion. 5. Da der nicht konsumierte Teil jeder Geldeinheit des verfügbaren Einkommens notwendigerweise gespart wird, gilt stets: MPS 1 – MPC.
Das gesamtwirtschaftliche Konsumverhalten Bisher haben wir die Strukturen der Haushaltsbudgets und das Konsumverhalten typi-
644
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
scher Familien bei unterschiedlicher Einkommenshöhe untersucht. Im Folgenden wenden wir uns der Frage nach dem Konsumverhalten einer gesamten Volkswirtschaft zu. Der Übergang von der Betrachtung des Verhaltens einzelner Haushalte zu gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen zeigt exemplarisch die Methodik der Makroökonomik auf: Wir beginnen mit der Untersuchung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einzelwirtschaftlicher Ebene und addieren anschließend die individuellen Ergebnisse, um zu sehen, wie die gesamte Volkswirtschaft funktioniert. Wieso sind wir an gesamtwirtschaftlichen Konsumtrends interessiert? Das Konsumverhalten ist für das Verständnis kurzfristiger Konjunkturzyklen und des langfristigen Wirtschaftswachstums wichtig. Kurzfristig betrachtet sind die Konsumausgaben der
Teil 5
Hauptbestandteil der volkswirtschaftlichen Gesamtausgaben. Wenn sich der Konsum drastisch verändert, dann hat diese Veränderung durch ihren Einfluss auf die Gesamtnachfrage aller Wahrscheinlichkeit nach Auswirkungen auf die Produktion und die Beschäftigung. Diesen Mechanismus werden wir in dem Kapitel über die Makroökonomie von Keynes genauer untersuchen. Außerdem ist das Konsumverhalten wichtig, weil alles, was nicht konsumiert – also gespart – wird, der Volkswirtschaft für Investitionen in neue Kapitalgüter zur Verfügung steht; Kapital ist eine der treibenden Kräfte des langfristigen Wirtschaftswachstums. Konsum- und Sparverhalten sind Schlüsselfaktoren für das Verständnis des Wirtschaftswachstums und der Konjunkturzyklen.
8.000 7.000 6.000
Milliarden US-$ (Preise von 2000)
5.000
verfügbares Einkommen
4.000 3.000
2.000
Konsum
1.000
1930
1940
1950
1960
1970 Jahr
1980
1990
2000
2010
Abbildung 22-6: Konsum und verfügbares Einkommen, 1929–2003 Während der letzten sieben Jahrzehnte sind die Konsumausgaben in den Vereinigten Staaten der Höhe des persönlichen verfügbaren Einkommens dicht gefolgt. Die Makroökonomen können auf der Basis der historischen Konsumfunktion den zukünftigen Konsum gut vorhersagen. Quelle: US-Handelsministerium. Um das reale verfügbare Einkommen zu erhalten, verwendet man den Preisindex für persönliche Konsumausgaben als Deflator.
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
Bestimmungsfaktoren des Konsums Beginnen wir mit der Analyse der wichtigsten Faktoren, die das Konsumverhalten bestimmen. Welche Faktoren im Leben einer Volkswirtschaft und eines Einzelnen bestimmen die Konsumausgaben? Das laufende verfügbare Einkommen. Abbildung 22-6 zeigt, wie eng im Zeitraum 1929–1999 in den Vereinigten Staaten der private Konsum der Entwicklung des jeweils verfügbaren Einkommens folgte. Nur während des Zweiten Weltkriegs entwickelten sich Einkommen und Konsum nicht parallel. Damals waren die Güter knapp und wurden deshalb rationiert, und die Menschen wurden zum Sparen gedrängt, um die Finanzierung des Krieges sicherzustellen. Empirische Beobachtungen und die Auswertung statistischer Daten zeigen, dass die jeweilige Höhe des verfügbaren Einkommens den zentralen Bestimmungsfaktor für das Niveau des gesamtwirtschaftlichen Konsums darstellt. Permanentes Einkommen und Lebenszyklusmodell des Konsums. Die einfachste Theorie zur Ermittlung der Konsumfunktion zieht nur das Einkommen des laufenden Jahres heran, um die Konsumausgaben vorherzusagen. Aber betrachten Sie die folgenden Beispiele, die auf andere Zusammenhänge hindeuten: Wenn schlechtes Wetter die Ernte vernichtet, werden die Bauern auf ihre Ersparnisse zurückgreifen. Genauso leihen sich angehende Juristen während ihres Studiums Geld für ihren Konsum, weil sie glauben, dass ihre Einkommen nach Studienabschluss deutlich höher sein werden als der Nebenverdienst während des Studiums. In beiden Situationen stellen sich die Menschen letztendlich die Frage: „Wenn ich mein derzeitiges und mein zukünftiges Einkommen berücksichtige, wie viel kann ich dann heute konsumieren, ohne mich übermäßig zu verschulden?“ Sorgfältige Untersuchungen zeigen, dass Konsumenten die Höhe ihrer Ausgaben so-
645 wohl aufgrund der kurzfristigen als auch der langfristigen Einkommensaussichten wählen. Um zu verstehen, inwieweit der Konsum von der langfristigen Einkommensentwicklung abhängt, haben Ökonomen die Theorie des permanenten Einkommens sowie die Lebenszyklushypothese entwickelt.3 Das permanente Einkommen ist jenes Einkommensniveau, das die Haushalte verdienen, wenn man vorübergehende Einflüsse (zum Beispiel wetterbedingt, oder Zufallsgewinne bzw. -verluste) ausklammert. Das Konsumverhalten hängt nach dieser Theorie primär vom permanenten Einkommen ab. Diese Theorie besagt auch, dass Konsumenten nicht auf jede Einkommensschwankung gleich reagieren. Wird eine Änderung des Einkommens als dauerhaft eingeschätzt (wie zum Beispiel im Falle einer Beförderung auf einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz), wird der Betroffene einen großen Teil des Einkommenszugewinns für den Konsum verwenden. Andererseits wird bei einer offensichtlich vorübergehenden Einkommensschwankung (wie etwa bei Auszahlung einer einmaligen Prämie oder einer besonders guten Ernte) ein Gutteil des zusätzlichen Einkommens wahrscheinlich gespart werden. Die Lebenszyklushypothese geht davon aus, dass Personen sparen, um ihr Konsumniveau während ihrer Lebenszeit möglichst ausgeglichen halten zu können. Ein wichtiges Ziel ist dabei die angemessene Höhe des Pensionseinkommens. Aus diesem Grund neigen Menschen dazu, während ihrer Erwerbseinkommensphase Geld zu sparen und Rücklagen für den Ruhestand zu bilden, um dann die Ersparnisse gegen Ende des Lebens für den Konsum verwenden zu können. Eine Folgerung aus der Lebenszyklushypothese ist, dass Leistungen wie diejenigen aus der Pensionsversicherung (die ja einen weit reichenden Einkommensersatz für den Ruhe3 Die bahnbrechenden Studien zu den langfristigen Auswirkungen stammen von Milton Friedman (der die Hypothese des permanenten Einkommens entwickelte) und Franco Modigliani (der über das Lebenszyklusmodell schrieb). Beide erhielten für ihre Leistungen auf diesem und auf anderen Gebieten den Nobelpreis für Wirtschaft.
646
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
stand darstellen) das Sparbedürfnis von Personen im mittleren Alter reduzieren, da sie nun selbst nicht so hohe Beträge für den Ruhestand ansparen müssen. Wohlstand und andere Einflussgrößen. Ein weiterer für die Konsumhöhe entscheidender Faktor ist das individuelle Vermögen. Stellen Sie sich zwei Konsumenten vor, die beide jährlich US-$ 50.000 verdienen. Einer hat US-$ 200.000 auf seinem Sparkonto, während der andere über keinerlei Ersparnisse verfügt. Somit kann die erste Person einen Teil ihres Vermögens konsumieren, während die zweite Person auf keine Habe zurückgreifen kann. Die Tatsache, dass ein höheres Vermögen zu einem höheren Konsumniveau führt, wird Vermögenseffekt genannt. Normalerweise ändert sich der Wohlstand von Jahr zu Jahr nur langsam. Wenn Vermögen jedoch plötzlich steigt oder sinkt, kann dies zu drastischen Konsumveränderungen führen. Ein bedeutendes Beispiel war der Zusammenbruch des Börsenmarktes 1929, als Vermögen vernichtet und auf dem Papier wohlhabende Kapitalisten über Nacht zu Bettlern wurden. Wirtschaftshistoriker glauben, dass der dramatische Wohlstandsverlust nach dem Börsenzusammenbruch von 1929 die Konsumausgaben reduzierte und somit die Große Depression noch verschlimmerte. Das Gegenteil passierte während des Börsenbooms der neunziger Jahre. Aufgrund der kräftig steigenden Börsenkurse vermehrte sich der Nettowohlstand der Haushalte von US$ 28 Billionen im Jahre 1995 auf US-$ 42 Billionen im Jahre 2000. Dies führte zu einer Steigerung des Konsums und einer Verringerung der gemessenen Ersparnisse. Als die Börsenkurse nach 2000 dann einbrachen, schnürten die Konsumenten den Gürtel wieder enger.
Die gesamtwirtschaftliche Konsumfunktion Nachdem wir die Bestimmungsfaktoren des Konsums untersucht haben, können wir sagen,
Teil 5
dass vor allem die Höhe des verfügbaren Einkommens das gesamtwirtschaftliche Konsumniveau beeinflusst. Dank dieser Erkenntnis ist es uns nun möglich, die jährlichen Daten für den gesamtwirtschaftlichen Konsum und die verfügbaren Einkommen in Abbildung 22-7 darzustellen. Das Streudiagramm zeigt Daten für die Zeitspanne 1970 – 1999, wobei jeder Punkt Konsumniveau und verfügbares Einkommen für das betreffende Jahr darstellt. Außerdem kann man in Abbildung 22-7 durch die verstreuten Punkte eine Linie ziehen, die als geglättete Konsumfunktion bezeichnet wird. Die geglättete Konsumfunktion zeigt, wie eng Konsum und verfügbares Einkommen während der letzten 25 Jahre zusammenhingen. Tatsächlich haben Wirtschaftshistoriker herausgefunden, dass die enge Beziehung zwischen dem verfügbaren Einkommen und dem Konsum bis in das neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Die abnehmende Sparquote Obwohl das Konsumverhalten im Zeitverlauf weitgehend stabil blieb, sank die Sparquote der privaten Haushalte während der letzten zwei Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten deutlich. Nach Maßgabe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung lag die Sparquote der privaten Haushalte während fast des gesamten 20. Jahrhunderts bei etwa acht Prozent des persönlichen verfügbaren Einkommens. Ab etwa 1980 begann sie jedoch zu sinken und war während der letzten paar Jahre nur schwach positiv (siehe Abbildung 22-8). Dieser Rückgang beunruhigt viele Wirtschaftswissenschaftler, denn langfristig gesehen wird der Kapitalbestand eines Landes zum großen Teil von der Sparquote in diesem Land bestimmt. Die nationalen Ersparnisse setzen sich aus den privaten und den staatlichen Ersparnissen zusammen. In einem Land, in dem viel gespart wird, wächst der Kapitalbestand rasch an, was mit einem schnellen Anstieg des Produktionspotenzials einhergeht. Ist die Sparquote in einem Land niedrig, veralten
647
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
Konsumausgaben der Haushalte (Mrd. US-$, Preise von 2000)
9.000
8.000 2003
7.000 2000 6.000 1995
5.000 1990 4.000 1980
3.000 1970
2.000 1960 1.000 45 0
0
2.000 4.000 6.000 8.000 Verfügbares Einkommen (Mrd. US-$, Stand 2000)
Abbildung 22-7. Die Konsumfunktion der USA von 1970 – 1999 Ziehen Sie eine gerade Linie durch das Streudiagramm. Können Sie nachweisen, dass die Steigung der Grenzneigung zum Konsum, die von dieser Linie dargestellt wird, 0,95 beträgt? Woran erkennen Sie, dass die durchschnittliche Sparquote während der letzen zwei Jahrzehnte zurückgegangen ist? Quelle: US-Handelsministerium.
seine Fabriken und Industrieanlagen, und die Infrastruktur beginnt zu zerfallen. Welches sind die Gründe für den starken Rückgang der Sparquote der privaten Haushalte? Diese Frage wird heutzutage äußerst kontrovers diskutiert, aber die Wirtschaftswissenschaftler verweisen auf die folgenden möglichen Gründe: • Das Sozialversicherungssystem. Manche Ökonomen argumentieren, dass die Sozialversicherung uns eines Teils der Notwendigkeit enthebt, selbst zu sparen. Wie das Lebenszyklusmodell des Konsums andeutet, sparte in früheren Zeiten ein Haushalt während der Jahre der Beschäftigung, um für die Jahre nach der Pensionierung ein Vermögen zu bilden. Wenn eine Regierung Sozialabgaben einnimmt und Sozialleistungen
auszahlt, müssen die Menschen selbst weniger für ihr Rentenalter sparen. Andere Systeme, die für Zusätze zum Einkommen sorgen, haben einen ähnlichen Effekt, sie senken die Notwendigkeit, für schwierige Zeiten zu sparen: Ernteversicherungen für Landwirte, Arbeitslosenversicherung für Beschäftigte und eine Krankenversicherung für die Armen und Alten vermindern die Notwendigkeit, dass Menschen vorbeugend sparen. • Die Kapitalmärkte. Bis vor kurzem waren die Kapitalmärkte alles andere als perfekt. Die Menschen hatten Schwierigkeiten, für lohnende Projekte Geld zu borgen, sei es zum Kauf eines Hauses, zur Finanzierung einer Ausbildung oder zum Aufbau eines eigenen Unternehmens. Dank der Entwicklung der Kapitalmärkte, die häufig durch die Regierung
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
unterstützt wurde, machen neue Kreditinstrumente es den Menschen nun leichter, Geld auszuleihen. Ein Beispiel ist die zunehmende Verbreitung von Kreditkarten, welche die Leute zum Borgen direkt ermuntern (obgleich die Zinssätze recht hoch sind). Noch vor einer Generation hätte eine Privatperson nur mit Mühe mehr als US-$ 1.000 borgen können, wenn sie nicht schon über beträchtliche Vermögenswerte verfügte. Heute kommen fast täglich Kreditkartenangebote mit der Post. Es ist durchaus üblich, innerhalb einer Woche mehrere Werbesendungen zu erhalten, die einem eine Kreditlinie von US-$ 10.000 oder mehr anbieten! Manche glauben, dass die leichte Verfügbarkeit von Krediten die Sparquote derjenigen senkt, die über geringe flüssige Mittel verfügen. • Das schnelle Wohlstandswachstum. Teilweise lässt sich der Rückgang der Ersparnisse der privaten Haushalte während der neunziger Jahre sicherlich auf den schnellen Anstieg persönlichen Wohlstands erklären, der hauptsächlich auf den Boom am Aktienmarkt zurückzuführen ist. Von 1995–1999 stieg der Wert von Aktien beispielsweise um etwa US$ 5 Billionen. Wenn die Haushalte jedes Jahr drei Prozent dieses Zugewinns ausgeben (ein Prozentsatz, der auf Erfahrungswerten basiert), dann würde der Wohlstandseffekt die Sparquote um etwa drei Prozentpunkte reduzieren.
Alternative Messmethoden der Ersparnisse Sie können nun die berechtigte Frage stellen: „Wenn so wenig gespart wird, wieso gibt es dann so viele reiche Leute?“ Diese Frage führt uns zu einem wichtigen Aspekt der Messung persönlicher Ersparnisse. Aus Sicht eines Haushalts sind Ersparnisse etwas anderes als vom Standpunkt einer ganzen Volkswirtschaft. Das liegt daran, dass die Ersparnisse in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung anders gemessen werden als von
Teil 5
12 Nettoersparnis der Haushalte (in % des verfügbaren Einkommens)
648
10 8 6 Sparquote der Haushalte 4 2 0 1950
1960
1970
1980 Jahr
1990
2000
Abbildung 22-8: Die Sparquote der privaten Haushalte ist zurückgegangen Nachdem sie in der Nachkriegszeit einen langsamen Anstieg vollzog, sank die Sparquote der privaten Haushalte nach 1980 drastisch. Quelle: US-Handelsministerium
Buchhaltern in ihren Bilanzen. Für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung sind Ersparnisse die Differenz aus verfügbarem Einkommen (ausschließlich Kapitalerträge) und Konsum. In den Bilanzen werden Ersparnisse als Veränderung des Nettowertes (das heißt, Aktiva minus Passiva, bereinigt um die Inflation) von einem Jahr auf das nächste ausgewiesen; die Kapitalgewinne fließen hier mit ein. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Bilanzbuchhalter sind in Abbildung 22-9 dargestellt. Wird die deutliche Wertsteigerung von Vermögenswerten (vor allem Aktien) mit berücksichtigt, lag die Sparquote während der neunziger Jahre bei satten 33 Prozent verglichen mit den sechs Prozent, die in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesen wurden. Viele Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass die beobachtete Zunahme des Wohlstands zu einem Großteil für den Rückgang der Sparquote laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung verantwortlich ist. Bedeutet die alternative Sicht auf die Lage, dass wir uns nun erleichtert zurücklehnen können? Wahrscheinlich nicht. Die hohen Ersparnisse während der neunziger Jahre be-
649
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
standen zum großen Teil nur auf dem Papier. Eine Höherbewertung bereits bestehender Vermögenswerte durch den Markt spiegelt nicht unbedingt die Produktivität oder den „wahren Wohlstand“ einer Volkswirtschaft wider. Obwohl sich die Menschen reicher fühlen, wenn ihre Aktiva in einer Spekulationsblase höher bewertet werden, kann die Wirtschaft deshalb noch lange nicht mehr Autos, Computer, Lebensmittel oder Wohnungen produzieren. Wenn sich die Aktionäre überdies entscheiden, ihre Aktien zu ver-
silbern, werden die Kurse sehr schnell fallen, und sie können ihren papierenen Wohlstand nicht in Konsum umsetzen. Daher machen sich die Ökonomen berechtigte Sorgen um den Rückgang der Sparquote in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die Konsumenten mögen sich aufgrund der ständig zunehmenden Börsenkurse reicher fühlen, eine Volkswirtschaft wird aber nur dann tatsächlich reicher, wenn ihre produktiven materiellen und immateriellen Vermögenswerte steigen.
40 Sparquote in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Sparquote (in % des verfügbaren Einkommens)
Sparquote in der Finanzbuchhaltung
30
20
10
0
1980–1984
1985–1989
1990–1994
1995–2000
Jahre
Abbildung 22-9: Zwei Methoden zur Messung der Sparquote der privaten Haushalte Laut der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist die Sparquote während der letzten zwei Jahrzehnte deutlich zurückgegangen. Diese Messmethode unterscheidet sich deutlich von derjenigen, welche die Bilanzen der Haushalte heranzieht, also die Veränderung des realen Nettowertes (einschließlich Kapitalgewinne) dividiert durch das reale verfügbare Einkommen. Aufgrund des deutlichen Anstiegs der Börsenkurse während der neunziger Jahre war die Sparquote der privaten Haushalte nach der Bilanzrechnung auch dann noch hoch, als sie nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung schon deutlich zurückging. Quelle: Maria G. Perozek und Marshall B. Reinsdorf, „Alternative Measures of Personal Savings“, Survey of Current Business, April 2002, S. 13–24, verfügbar unter www.bea.gov.
650
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
B. Investitionen Die zweite wesentliche Komponente der privaten Ausgaben sind die Investitionen. In der Makroökonomie haben die Investitionen zweierlei Auswirkungen: Da Investitionen einerseits einen großen und veränderlichen Bestandteil der Ausgaben darstellen, führen sie häufig zu Veränderungen der Gesamtnachfrage und beeinflussen damit den Konjunkturzyklus. Andererseits führen Investitionen zur Ansammlung von Kapital. Die Erhöhung des Bestands an Gebäuden und Maschinen steigert die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten und fördert langfristig gesehen das Wirtschaftswachstum. Deshalb spielen die Investitionen in zweifacher Hinsicht eine wesentliche Rolle: Durch ihren Einfluss auf die Gesamtnachfrage wirken sie kurzfristig auf die Produktionsleistung, und sie beeinflussen langfristig das Produktionswachstum, da die Kapitalbildung Auswirkungen auf die Produktionsmöglichkeiten und das Gesamtangebot hat. Die Bedeutung des Wortes „Investition“ in der Wirtschaft Vergessen Sie nicht, dass die Makroökonomen den Ausdruck „Investition“ oder „Realinvestition“ verwenden, wenn sie einen Zugang zum Bestand an produktiven Aktiva oder an Kapitalgütern wie Computern oder Lastwagen meinen. Wenn Amazon.com ein neues Lager errichtet oder wenn die Schmidts sich ein neues Haus bauen, dann handelt es sich um Investitionen. Viele Menschen sprechen von Investitionen, wenn sie sich ein Grundstück kaufen oder ein Wertpapier oder irgendein Besitzrecht erwerben. Für die Wirtschaftswissenschaften sind diese Käufe Finanztransaktionen oder „Finanzinvestitionen“, denn was eine Person kauft, wird von einer anderen verkauft. Als Investition zählt nur die Schaffung von realem Kapital.
Teil 5
Bestimmungsfaktoren der Investitionen Bei dieser Diskussion konzentrieren wir uns auf die privaten Bruttoinlandsinvestitionen (I) oder, anders ausgedrückt, die inländische Komponente der Investitionen in einem Land. Erinnern Sie sich aber bitte daran, dass I nur einen Teil der Investitionen in einer Gesellschaft darstellt, zu denen auch ausländische und Regierungsinvestitionen zählen, ebenso immaterielle Investitionen in menschliches Kapital und verbessertes Wissen. Die wichtigsten Arten der privaten Bruttoinlandsinvestitionen stellen solche in Wohngebäude dar, in Betriebsgebäude und Maschinen, Software und Organisationsstrukturen sowie in die Ausweitung von Lagerbeständen. Etwa ein Viertel der Investitionen entfällt auf den Wohnungsbau, etwa ein Zwanzigstel wird für die Aufstockung der Lagerbestände verwendet, und der Rest – während der letzten Jahre etwa 70 Prozent des gesamten Investitionsvolumens – wird für Betriebsgebäude, Anlagen, Maschinen und Software ausgegeben. Warum investieren Unternehmen? Letztendlich erwerben sie nur dann Kapitalgüter, wenn sie erwarten, dass sie damit Gewinne erwirtschaften – das heißt, wenn die damit erzielbaren Erträge höher sind als die Investitionskosten. Diese simple Feststellung beinhaltet bereits jene drei Begriffe, die für das bessere Verständnis von Investitionen nötig sind: Erträge, Kosten und Erwartungen.
Erträge Eine Investition wird einem Unternehmen zusätzliche Erträge bringen, wenn sie ihm hilft, mehr Produkte zu verkaufen. Das deutet darauf hin, dass die Höhe des gesamtwirtschaftlichen Produktionsniveaus (BIP) einen entscheidenden Einfluss auf die Investitionen hat. Wenn bestehende Fabriken nicht ausgelastet sind, haben Unternehmen einen relativ geringen Bedarf an neuen Betriebsstätten; daher wird das Investitionsniveau gering
651
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
sein. Allgemeiner ausgedrückt hängen Investitionen von den Erträgen ab, die durch die gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten entstehen. Die meisten Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Investitionen sehr empfindlich auf Konjunkturzyklen reagieren. Ein Beispiel jüngeren Datums für den großen Einfluss der Gesamtproduktion war die Rezession der Jahre 1979–1982 in den Vereinigten Staaten, als die Produktion stark sank und die Investitionen um 15 Prozent zurückgingen.
Kosten Einen zweiten wichtigen Faktor für die Bestimmung des Investitionsniveaus stellen die Investitionskosten dar. Da Investitionsgüter langlebiger Natur sind, ist die Berechnung der Investitionskosten etwas komplizierter als die anderer Waren, wie zum Beispiel Kohle oder Weizen. Die Kosten langlebiger Gebrauchsgüter beinhalten nicht nur den Preis des Gutes, sondern auch den Zinssatz, den Kreditnehmer zu Finanzierung des Kapitalgutes zahlen müssen, sowie die Steuern, die Unternehmen auf ihre Einkommen entrichten. Um dies besser zu verstehen, beachten Sie, dass Investoren oft die für Investitionen nötigen Geldmittel ausleihen (zum Beispiel in Form eines Hypothekendarlehens oder durch die Ausgabe von Schuldverschreibungen oder festverzinslichen Wertpapieren). Die Kosten solcher Kredite sind der Zinssatz, der für den aufgenommenen Kredit bezahlt werden muss. Erinnern Sie sich: Der Zinssatz ist der Preis für geborgtes Geld während eines bestimmten Zeitraums; so könnten zum Beispiel acht Prozent Zinsen für einen über ein Jahr laufenden Kredit von US-$ 1.000 anfallen. Wenn eine Familie ein Haus kauft, dann ist der Zinssatz derjenige der Hypothek. Auch Steuern können bedeutende Auswirkungen auf Investitionen haben. Eine wichtige Steuer ist die Körperschaftssteuer, die in den Vereinigten Staaten auf Bundesebene erhoben wird. Diese Steuer beträgt 34
Cents des letzten Dollars an Unternehmensgewinnen, wodurch die Neigung zu Investitionen im Unternehmensbereich gedämpft wird. Mitunter gewährt die Regierung Steuererleichterungen für bestimmte Aktivitäten oder Sektoren. Beispielsweise fördert die Regierung den Besitz von privatem Wohneigentum, indem sie Hausbesitzern erlaubt, Grundsteuern und Hypothekenzinsen von ihrem steuerbaren Einkommen abzuziehen.
Erwartungen Der dritte für das Investitionsniveau bestimmende Faktor sind Gewinnerwartungen und das Vertrauen der Unternehmen. Investitionen zu tätigen bedeutet vor allem ein Spiel mit der Zukunft – eine Wette, dass der Ertrag aus einer Investition deren Kosten übersteigen wird. Wenn Unternehmen die politische Situation in Russland für instabil halten, werden sie dort nur zögernd investieren. Hingegen investieren Unternehmen stark in den Internethandel, weil sie (berechtigter- oder unberechtigterweise) glauben, dieser Handel entwickle sich zu einem wichtigen Vertriebskanal. Investitionsentscheidungen hängen daher von Erwartungen und Prognosen zukünftiger Ereignisse ab. Aber wie es ein geistreicher Mensch einmal formulierte: Voraussagen sind immer gefährlich, insbesondere jene, die sich auf die Zukunft beziehen. Unternehmen verwenden viel Energie auf die Analyse von Investitionen und versuchen, die damit verbundenen Unsicherheiten auf ein Minimum zu reduzieren. Damit können wir unsere Diskussion über die Einflussfaktoren auf Investitionsentscheidungen wie folgt zusammenfassen: Unternehmen investieren, um Gewinne zu erzielen. Da Kapitalgüter mehrere Jahre hindurch genutzt werden können, hängen Investitionsentscheidungen (1) von der Nachfrage nach den mit Hilfe der Neuinvestition produzierten Gütern, (2) von den Zinssätzen und Steuern, die sich auf die Investitionskosten
652
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
auswirken, und (3) von den Erwartungen der Unternehmen über den Zustand der Volkswirtschaft ab.
Die Investitionsfunktion Bei der Untersuchung der Bestimmungsfaktoren von Investitionen konzentrieren wir uns hauptsächlich auf die Beziehung zwischen Zinssätzen und Investitionen. Dieser Zusammenhang ist deshalb besonders wichtig, weil die (von der Zentralbank beeinflussten) Zinssätze das Hauptinstrument sind, durch das der Staat Investitionen zu steuern versucht. Um die Beziehung zwischen Zinssätzen und Investitionen aufzuzeigen, verwenden Ökonomen die so genannte Investitionsfunktion oder Investitionsnachfragefunktion. Stellen Sie sich eine einfache Volkswirtschaft vor, in der Unternehmen in unterschiedliche Projekte investieren können: A, B, C bis H. Diese Investitionen sind so langlebig (wie zum Beispiel Kraftwerke oder Gebäude), dass wir annehmen, sie niemals ersetzen zu müssen. Außerdem unterstellen wir ein konstantes jährliches Nettoeinkommen und eine Inflationsrate von null. Tabelle 22-5 zeigt die Finanzdaten jedes Investitionsprojektes. Konzentrieren wir uns zunächst auf Projekt A. Es kostet US-$ 1 Million und weist sehr hohe Erlöse von jährlich US-$ 1.500 pro US-$ 1.000 Investition auf (das entspricht einer jährlichen Ertragsquote von 150 Prozent). Den Spalten (4) und (5) können wir die Kosten der Investition entnehmen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass die Investitionen nur mit Fremdkapital zu einem Marktzinssatz von jährlich zehn Prozent (Spalte 4) beziehungsweise alternativ von fünf Prozent (Spalte 5) finanziert werden. Zum Zinssatz von zehn Prozent ergeben sich jährliche Kreditkosten von US-$ 100 pro ausgeliehenen US-$ 1.000, wie wir aus Spalte (4) ersehen; ein Zinssatz von fünf Prozent führt zu jährlichen Kreditkosten von US-$ 50 pro investierten US-$ 1.000 (Spalte 5). Die
Teil 5
letzten beiden Spalten zeigen den jährlichen Nettogewinn jeder Investition. Für das lukrative Projekt A errechnet sich bei einem Zinssatz von zehn Prozent ein jährlicher Nettogewinn von US-$ 1.400 pro US-$ 1.000 Investition, das Projekt H weist einen Verlust aus. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Unternehmen bei ihrer Entscheidung zwischen unterschiedlichen Projekten die jährlich erzielbaren Erträge einer Investition mit den jährlichen Kapitalkosten, die von der Höhe des Zinssatzes abhängen, vergleichen. Die Differenz aus jährlichen Erträgen und Kosten ergibt den jährlichen Nettogewinn. Ist der jährliche Nettogewinn positiv, verdient man an der Investition; ein negativer Nettogewinn bedeutet einen Verlust durch die Investition.4 Wenden wir uns wieder Tabelle 22-5 zu. Die letzte Spalte enthält den jährlichen Nettogewinn bei einem Zinssatz von fünf Prozent. Bei diesem Zinssatz weisen die Investitionsprojekte A bis G einen Gewinn aus. Wir würden deshalb auch erwarten, dass gewinnmaximierende Unternehmen in alle sieben Projekte investierten, woraus sich Investitionen von insgesamt US-$ 55 Millionen (aus Spalte 2) errechnen. Bei einem Zinssatz von fünf Prozent läge die Investitionsnachfrage also bei US-$ 55 Millionen. Nehmen wir nun an, dass der Zinssatz auf zehn Prozent steigt. Damit verdoppeln sich die Finanzierungskosten der zuvor betrachteten Investitionen. Aus Spalte (6) ersehen wir, dass die Investitionsprojekte F bis G bei diesem Zinssatz unrentabel werden. Die Investitionsnachfrage würde deshalb auf US$ 30 Millionen absinken. Das Ergebnis dieser Analyse ist in Abbildung 22-10 dargestellt, aus der Sie die Investitionsfunktion ersehen können, in unserem 4 Dieses Beispiel vereinfacht stark die Berechnungen, die Unternehmen für ihre Investitionsentscheidungen anstellen müssen. Üblicherweise sind Investitionen an unregelmäßige Erträgnisrückflüsse sowie an Kapitalabschreibungen, Inflationsraten, Steuern und unterschiedliche Zinssätze für das geborgte Kapital gekoppelt. Eine Diskussion über Abzinsung und Gegenwarts- sowie Kapitalwert finden Sie in Büchern über Geld und Finanzen. Sehen Sie dazu den Abschnitt über weiterführende Literatur zu diesem Kapitel.
653
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
(1) Projekt
(2)
(3)
Gesamtinvestitionen in das Projekt
Jährliche Einnahmen pro US-$ 1.000 Investition
Kosten pro US-$ 1.000 des Projekts bei einem Jahreszinssatz von:
Jährlicher Nettogewinn pro US-$ 1.000 Investition bei einem Jahreszinssatz von:
10 %
5%
(US-$)
(US-$)
(US-$)
10 % 5% (US-$) (US-$) (6) = (3) – (4) (7) = (3) – (5)
(Mio. US-$) A B C D E F G H
1 4 10 10 5 15 10 20
1.500 220 160 130 110 90 60 40
(4)
(5)
100 100 100 100 100 100 100 100
50 50 50 50 50 50 50 50
(6)
1.400 120 60 30 10 –10 –40 –60
(7)
1.450 170 110 80 60 40 10 –10
Tabelle 22-5: Der Zinssatz bestimmt die Rentabilität von Investitionen In unserer Volkswirtschaft stehen acht Investitionsprojekte zur Realisierung an, die nach ihrer Rendite sortiert sind. Spalte (2) zeigt das Investitionsvolumen, das in jedes Projekt einfließt. In Spalte (3) ist die jährliche Rendite pro US-$ 1.000 Investition aufgezeichnet. Die Spalten (4) und (5) zeigen die Kosten des Projekts pro US-$ 1.000, unter der Annahme, dass alles Geld zu Zinssätzen von zehn und fünf Prozent geliehen wurde. Die letzten beiden Spalten zeigen die jeweiligen jährlichen Nettoerträge pro investierte US-$ 1.000. Ist der Nettoertrag positiv, werden gewinnmaximierende Unternehmen die Investition tätigen; ist er negativ, werden sie das Projekt ablehnen. Beachten Sie, wie sich die Grenze zwischen rentablen und unrentablen Investitionen mit der Veränderung des Zinssatzes verschiebt. (Wo würde diese Grenze liegen, wenn der Zinssatz auf 15 Prozent stiege?)
Beispiel eine fallende treppenförmige Funktion des Zinssatzes (negative Steigung). Diese Funktion zeigt die Höhe der Investitionen, die beim jeweiligen Zinssatz getätigt würden; errechnet wird sie, indem alle Investitionen addiert werden, die bei einer bestimmten Zinshöhe profitabel wären. Daraus ergibt sich, dass bei einem Marktzinssatz von fünf Prozent die gewünschte Investitionshöhe bei Punkt M, das heißt bei US-$ 55 Millionen, liegt. Zu diesem Zinssatz werden die Projekte A bis G umgesetzt. Steigt der Zinssatz auf zehn Prozent, werden die Projekte F bis G unrentabel und kommen deshalb auch nicht zustande. Die Investitionsnachfrage läge in diesem Fall in Punkt M' in Abbildung 22-10, was Gesamtinvestitionen in Höhe von US-$ 30 Millionen entspricht.5
Verschiebungen der Investitionsfunktion Wir haben gesehen, wie das Investitionsvolumen von den Zinssätzen abhängt. Aber Investitionen werden auch von anderen Faktoren bestimmt. So verschiebt zum Beispiel eine Erhöhung des BIP die Investitionsnachfragekurve nach außen, wie in Abbildung 22-11(a) dargestellt. Eine Erhöhung der Körperschaftssteuer wirkt sich negativ auf die Investitionen aus. Nehmen wir an, die Regierung vereinnahmte die Hälfte des Nettoertrags in Spalte (3) von 5 Wir werden später feststellen, dass es bei Preisveränderungen angebracht ist, den realen Zinssatz zu verwenden, der den nominalen Zinssatz um die Inflation bereinigt.
654
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
r,i DI Ertragsquote, Zinssatz (% pro Jahr)
B 20 Investitionsfunktion
10
5
M′
M
DI 0
10 20 30 40 50 60 70 Investitionsausgaben (Mio. US-$)
I
Abbildung 22-10: Die Investitionen hängen vom Zinssatz ab Die stufenförmig abwärts geneigte Investitionsnachfragekurve zeigt, wie viel die Unternehmen bei jedem Zinssatz investieren würden (berechnet aus den Daten in Tabelle 22-5). Jede Stufe stellt eine Investitionssumme dar: Projekt A weist eine derart hohe Ertragsquote auf, dass sie hier nicht abgebildet werden kann; Projekt B stellt die höchste sichtbare Stufe am linken oberen Rand dar. Zu jedem Zinssatz werden diejenigen Projekte umgesetzt, die zu positiven Nettoerträgen führen.
Tabelle 22-5 über Steuern für sich, wobei die Zinskosten in den Spalten (4) und (5) nicht abzugsfähig wären. Die in den Spalten (6) und (7) ausgewiesenen Nettogewinne würden dann sinken. [Überzeugen Sie sich, dass bei einem Zinssatz von zehn Prozent eine 50prozentige Steuer auf die Werte in Spalte (3) die Grenze zwischen Rentabilität und Unrentabilität in den Bereich zwischen Projekte B und C verschöbe und damit die Investitionsnachfrage auf $ 5 Millionen sänke.] Die Auswirkungen einer Steuererhöhung auf das Investitionseinkommen sind in Abbildung 22-11(b) dargestellt. Letztendlich ist auch die Bedeutung von Erwartungen nicht zu unterschätzen. Ende der neunziger Jahre waren viele Investoren von der „New Economy“ regelrecht besessen. Sie sagten unrealistisch hohe Wachstumsraten für Unternehmen wie AOL-Time Warner, Yahoo! und NetZero voraus, wobei sie alle herkömmlichen betriebwirtschaftlichen Regeln
Teil 5
über Investitionen außer Acht ließen. Infolgedessen stiegen die Investitionen in Software für Internetfirmen beträchtlich an, bis der Markt im Jahre 2000 einen scharfen Einbruch erlebte. Abbildung 22-11(c) zeigt, wie ein Anfall von wirtschaftlichem Optimismus die Investitionsnachfragekurve verschiebt. Ein entgegengesetztes Beispiel, pessimistische Erwartungen hinsichtlich der Gewinnsituation im korrupten Russland, kann erklären, warum westliche Unternehmen nur sehr zögernd in diese Volkswirtschaft investieren. Dies sind nur zwei Beispiele für die beträchtliche Wirkung, die Erwartungen auf Investitionen haben können. Nachdem Sie nun alle Einflussfaktoren auf Investitionen kennen gelernt haben, wird Sie die Feststellung kaum überraschen, dass Investitionen die Ausgabenkomponente sind, die den größten Schwankungen unterliegt. Investitionen sind deshalb so schwer vorherzusagen, weil sie von so unsicheren Faktoren wie Erfolg oder Misserfolg eines neuen Produktes, Veränderungen der Steuer- und Zinssätze, politischen Einstellungen und Ansätzen zur Stabilisierung der Volkswirtschaft sowie ähnlich veränderlichen Ereignissen des wirtschaftlichen Lebens abhängen. In fast jedem Konjunkturzyklus entschieden Investitionsschwankungen darüber, ob es auf- oder abwärts ging.
Zur Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Wir haben nun unsere Einführung in die grundlegenden Konzepte der Makroökonomie abgeschlossen. Aus der Analyse der entscheidenden Einflussfaktoren auf Konsum und Investition haben wir erkannt, weshalb diese jährlichen – manchmal sogar sehr heftigen – Schwankungen unterworfen sind. An diesem Punkt spaltet sich nun die Makroökonomie in zwei bedeutende Themenbereiche – Konjunkturzyklen und Wirtschaftswachstum. In den folgenden Kapiteln beginnen wir mit der Untersuchung von Kon-
Anhang 1
655
Diagramme richtig lesen
(a) höhere Produktionsleistung
(b) höhere Steuern
Rendite, Zinssatz
r,i
Rendite, Zinssatz
r,i
Rendite, Zinssatz
r,i
(c) Internet Euphorie
DI
DI 0
D′I
Investitionausgaben
DI
D′I I
0
I Investitionausgaben
D′I 0
I
Investitionausgaben
Abbildung 22-11: Verschiebung der Investitionsfunktion Bei der Investitionsfunktion (DI) zeigen die Pfeile den Einfluss von (a) einem höheren BIP, (b) höheren Ertragssteuern und (c) plötzlicher Unternehmenseuphorie, die durch die Begeisterung über die Zukunftsaussichten des Internets hervorgerufen wird.
junkturzyklen, dem kurzfristigen Verhalten einer Volkswirtschaft. Dieser Ansatz, der auch als keynesianisch bezeichnet wird, zeigt, wie Veränderungen der Investitionen, der Staatsausgaben, der Steuern, des Außenhandels und der verfügbaren Geldmenge sich auf die restliche Volkswirtschaft auswirken. Wir werden sehen, dass das tatsächliche BIP von seinem Vollbeschäftigungspotenzial abwei-
chen kann. Darüber hinaus werden wir erkennen, wie die staatliche Fiskal- und Geldpolitik Wirtschaftsaufschwüngen und -abschwüngen entgegenwirken kann. Im Zentrum der Analyse stehen wiederum die Veränderungen von Konsum und Investitionen, mit denen wir uns bereits in diesem Kapitel auseinandergesetzt haben.
Zusammenfassung A. Konsum- und Sparverhalten 1.
2.
Das verfügbare Einkommen stellt einen zentralen Bestimmungsfaktor von Konsum und Ersparnissen dar. Die Konsumfunktion gibt die Beziehung des gesamtwirtschaftlichen Konsums zum gesamten verfügbaren Einkommen wieder. Da jede Geldeinheit des verfügbaren Einkommens entweder gespart oder konsumiert wird, stellt die Sparfunktion das Spiegelbild der Konsumfunktion dar. Erinnern Sie sich an die Haupteigenschaften der Konsum- und Sparfunktion: a. Die Konsum- (oder Spar-)funktion setzt die Höhe des Konsums (der Ersparnisse) zu der Höhe des verfügbaren Einkommens in Beziehung.
b.
3.
Die Grenzneigung zum Konsum (MPC) ist die Menge an zusätzlichem Konsum, die mit einer zusätzlichen Geldeinheit an verfügbarem Einkommen getätigt wird. c. Als Grenzneigung zum Sparen (MPS) bezeichnet man die zusätzlichen Ersparnisse, die aus einer zusätzlichen Geldeinheit an verfügbarem Einkommen getätigt werden. d. In der grafischen Darstellung sind MPC und MPS die jeweilige Steigung der Konsum- und Sparfunktion. e. MPS 1 – MPC. Durch Addition der individuellen Konsumfunktionen erhalten wir die gesamtwirtschaftliche Konsumfunktion. Diese stellt in einfachster Form die Gesamtkonsumausgaben als eine Funktion des gesamten verfügbaren Einkom-
656
4.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
mens dar. Andere Variablen, wie zum Beispiel das permanente Einkommen oder der Lebenszykluseffekt, Vermögen und Alter, haben ebenso einen beträchtlichen Einfluss auf das Konsumverhalten. In den Vereinigten Staaten ist die Sparquote während der letzten zwei Jahrzehnte stark gesunken. Zur Erklärung dieses Rückgangs verweisen Wirtschaftswissenschaftler auf die Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorgeprogramme der Regierung, Veränderungen am Kapitalmarkt sowie auf den schnellen Anstieg des persönlichen Wohlstands aufgrund steigender Börsenkurse während der neunziger Jahre. Ein Rückgang der Sparquote schadet der Wirtschaft, weil die persönlichen Ersparnisse eine wesentliche Komponente der gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse und Investitionen sind. Obgleich sich die Menschen aufgrund des Börsenbooms reicher fühlen, steigt der wahre Wohlstand einer Nation nur, wenn sein produktives materielles und immaterielles Vermögen wächst.
B. Investitionen 5.
6.
Teil 5
häuser, Fabriken, Software, Anlagen und Maschinen. Unternehmen investieren, um einen Gewinn zu erwirtschaften. Deshalb sind die wichtigsten, das Investitionsniveau bestimmenden wirtschaftlichen Triebkräfte die durch die Investitionen erwirtschafteten Erträge (primär durch den Konjunkturzyklus beeinflusst), die Investitionskosten (bestimmt durch Zinssätze und Steuerpolitik) und die Erwartungshaltung hinsichtlich der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung. Da die Bestimmungsfaktoren für Investitionen von sehr unsicheren zukünftigen Gegebenheiten abhängen, stellen sie den am stärksten Schwankungen unterworfenen Teil der Gesamtausgaben dar. Ein elementarer Zusammenhang wird durch die Investitionsfunktion dargestellt, die das Niveau der Investitionsausgaben mit dem Zinssatz verbindet. Da die Rentabilität einer Investition in umgekehrtem Verhältnis zum Zinssatz (der die Kapitalkosten beeinflusst) steht, ergibt sich eine abwärts geneigte Investitionsnachfragekurve. Wenn der Zinssatz sinkt, rentieren sich mehr Investitionsprojekte, was verdeutlicht, warum die Investitionsnachfragekurve abwärts geneigt sein muss.
Die zweite wichtige Ausgabenkomponente sind die privaten Bruttoinvestitionen in Wohn-
Begriffe zur Wiederholung Konsum und Ersparnis
Investitionen
Verfügbares Einkommen, Konsum, Ersparnis Konsum- und Sparfunktion Sparquote der privaten Haushalte Grenzneigung zum Konsum (MPC) Grenzneigung zum Sparen (MPS) MPC + MPS 1 Gleichgewichtspunkt = Sparschwelle 45˚-Linie Bestimmungsfaktoren des Konsums: Gegenwärtig verfügbares Einkommen Permanentes Einkommen Vermögen Lebenszykluseffekt
Bestimmungsfaktoren des Investitionsverhaltens: Erträge Kosten Erwartungen Einfluss der Zinssätze auf die Investitionen Investitionsfunktion
657
Kapitel 22 Konsum und Investitionen
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die Wirtschaftswissenschaft hat das Ausgabeverhalten von Konsumenten untersucht, um ihre Voraussagen zu verbessern und bei der Optimierung der Wirtschaftspolitik zu helfen. Eine der bedeutendsten Studien stammt von Milton Friedman: The Theory of the Consumption Function (University of Chicago Press, 1957). Einen historischen Überblick bietet der Wirtschaftshistoriker Stanley Lebergott in Pursuing Happiness: American Consumers in the Twentieth Century (Princeton University Press, Princeton, N.J., 1993). In Unternehmen verbringen Manager viel Zeit damit, ihre Investitionsstrategien festzulegen. Einen guten Überblick über dieses Thema bieten Richard A. Brealey und Stewart C. Meyers in Principles of Corporate Finance, 6. Auflage (McGraw-Hill, New York, 2000).
Websites Daten zu den gesamten persönlichen Konsumausgaben in den Vereinigten Staaten finden sich auf der Website des Bureau of Economic Analysis, www.bea.gov. Daten über die Budgets der privaten Haushalte liefert das Bureau of Labor Statistics unter der Überschrift „Consumer Expenditures“ auf der Website www.bls.gov. Daten und Untersuchungen der Investitionen in den Vereinigten Staaten liefert das Bureau of Economic Analysis auf der Website www.bea.gov.
Übungen 1.
2.
Beschreiben Sie kurz die Ausgabenmuster für Lebensmittel und Bekleidung sowie die Muster der Ersparnisbildung. Wenn wir mit der Konsum- und der Investitionsfunktion arbeiten, müssen wir zwischen Verschiebungen der Kurven und Bewegungen entlang der Kurven unterscheiden. a. Definieren Sie für beide Funktionen sorgfältig die Veränderungen, die zu einer Verschiebung der Kurve führen, und jene, die in einer Bewegung entlang der Kurve resultieren. b. Erklären Sie und zeigen Sie anhand eines Diagramms, ob die folgenden Aktivitäten Verschiebungen oder Bewegungen entlang der Konsumfunktion darstellen: ein Anstieg des verfügbaren Einkommens, eine Vermögensverminderung, ein Sinken der Aktienkurse. c. Erklären Sie und zeigen Sie anhand eines Diagramms, ob die folgenden Aktivitäten Verschiebungen der oder Bewegungen entlang der Investitionsfunktion darstellen: die Erwartung einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsverringerung im nächsten Jahr, eine Zinssatzsteigerung, eine Senkung der Ertragssteuer.
3.
4.
5.
6.
7.
Rekonstruieren Sie, wie in Tabelle 22-4 die Grenzneigung zum Konsum (MPC) und die Grenzneigung zum Sparen (MPS) berechnet wurden. Verdeutlichen Sie dies am Beispiel, indem Sie MPC und MPS zwischen den Punkten A und B ermitteln. Erklären Sie, wieso die Gleichung MPC + MPS 1 immer gelten muss. Nehmen wir an, ich konsumiere mein ganzes Einkommen, egal wie hoch es sein mag. Zeichnen Sie meine Konsum- und Sparfunktion. Berechnen Sie meine MPC und MPS. Schätzen Sie Ihr Einkommen, Ihren Konsum und Ihre Ersparnisse während des letzten Jahres. Falls Ihre Ersparnisse negativ waren (falls Sie mehr als Ihr Einkommen konsumierten), wie konnten Sie das finanzieren? Schätzen Sie die Zusammensetzung Ihres Konsums gemäß den in Tabelle 22-1 angeführten Hauptkategorien. „Entlang der Konsumfunktion verändert sich das Einkommen stärker als der Konsum.“ Was bedeutet das für MPC und MPS? „Veränderungen des verfügbaren Einkommens führen zu Bewegungen entlang der Konsumfunktion; Veränderungen des Vermögens oder anderer Faktoren resultieren in einer Verschiebung der Konsumfunktion.“ Erläutern Sie
658
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
diese Aussage jeweils anhand eines Fallbeispiels. 8. Welche Auswirkungen hätten die folgenden Veränderungen auf die in Tabelle 22-5 und Abbildung 22-10 dargestellte Investitionsfunktion? a. Eine Verdoppelung der jährlichen Erträge pro US-$ 1.000 Investition in Spalte 3; b. ein Anstieg des Zinssatzes auf jährlich 15 Prozent; c. die Hinzufügung eines neunten Projekts mit folgenden Daten in den ersten drei Spalten: J, 10, 70; d. eine Steuer von 50 Prozent auf die in den Spalten 6 und 7 ausgewiesenen Nettogewinne. 9. Wir bleiben bei der Investitionsfunktion der Frage 8c und nehmen an, dass der Zinssatz zehn Prozent beträgt. Wie hoch sind die Investitionen für die Fälle a bis d in Frage 8? 10. Für Fortgeschrittene: Nach dem Lebenszyklusmodell gibt der Einzelne jährlich einen Betrag für den Konsum aus, der eher vom Lebenseinkommen abhängt als vom gegenwärtigen Einkommen. Nehmen wir an, Sie würden ein zukünftiges, inflationsbereinigtes Einkommen gemäß den Angaben in Tabelle 22-6 erwarten. a. Nehmen Sie zusätzlich an, dass für Ersparnisse keine Zinsen bezahlt werden und dass Sie noch über keine Nettoersparnisse verfügen. Nehmen Sie außerdem an, dass
b.
Teil 5
Sie Ihren Konsum „ausgleichen“ wollen (das heißt, das Konsumniveau über die Jahre gleichhalten möchten), da Ihnen zusätzlicher Konsum eine zunehmend geringere Zusatzbefriedigung verschafft. Leiten Sie den für die angegebene Situation günstigsten Kurvenverlauf für die fünf Jahre ab und tragen Sie die Zahlen in Spalte (3) ein. Berechnen Sie dann Ihre jährlichen Ersparnisse, die Sie in Spalte (4) eintragen. Spalte (5) enthält Ihr Vermögen oder die addierten Ersparnisse jeweils zum Jahresende. Wie hoch ist Ihre durchschnittliche Sparquote während der ersten vier Jahre? Nehmen Sie nun an, dass Ihnen für die staatliche Pensionsversicherung in jedem Beschäftigungsjahr US-$ 2.000 vom Einkommen abgezogen werden, dass Ihnen dafür im Jahr fünf jedoch eine Pension von US-$ 8.000 zusteht. Berechnen Sie Ihren neuen Sparplan unter der Bedingung, dass Sie immer noch Ihren Konsum über die Jahre gleich hoch halten wollen. Wie hat die Pensionsversicherung Ihren Konsum und Ihre durchschnittliche Sparquote während der ersten vier Jahre beeinflusst? Können Sie nun verstehen, warum einige Ökonomen behaupten, die staatliche Pensionsversicherung verringere die private Sparquote?
(1)
(2) Einkommen
(3) Konsum
(4) Ersparnisse
Jahr
(US-$)
(US-$)
(US-$)
(5) Kumulative Ersparnisse (Jahresende) (US-$)
1
30.000
––––––––
––––––––
––––––––
2
30.000
––––––––
––––––––
––––––––
3
25.000
––––––––
––––––––
––––––––
4
15.000
––––––––
––––––––
––––––––
0
––––––––
––––––––
0
5* * in Rente
Tabelle 22-6.
659
KAPITEL 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, durch eigene Schuld nur sind wir Schwächlinge. William Shakespeare, Julius Cäsar
In der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus gab und gibt es immer wieder Phasen des Auf- und Abschwungs, von Expansionen und Rezessionen. Mitunter findet man nur schwer eine Arbeitsstelle, Fabriken stehen still und die Gewinne sind niedrig. Üblicherweise fällt der Wirtschaftsabschwung kurz und moderat aus, wie im Fall der Rezession, die im März 2001 begann und im November des gleichen Jahres endete. Nur selten hält der wirtschaftliche Rückgang ein ganzes Jahrzehnt an und führt zu umfangreichen wirtschaftlichen Verwerfungen, wie während der Großen Depression. Zu anderen Zeiten sind die Geschäftsbedingungen gut; die Beschäftigung steigt rasch an, in den Fabriken werden Überstunden geleistet und gute Gewinne erzielt. Die „großartigen neunziger Jahre“ waren für die amerikanischen Konsumenten eine solche Zeit des Wohlstands. Die Wirtschaft wuchs rasch; auf den Arbeits- und Gütermärkten herrschte Knappheit; die Arbeitslosigkeit war niedrig und die Kapazitätsauslastung hoch. Aber anders als in früheren Phasen des lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs blieb die Inflationsrate während der neunziger Jahre niedrig. Die Börse setzte zu einem bislang nie erlebten Höhenflug an. Handelte es sich um eine „neue Ära“ des amerikanischen Kapitalismus, die von der Globalisierung und der Informationstechnik vorangetrieben wurde? Oder war dies noch immer der herkömmliche Kapitalismus, der aber von „besonderen Umständen“ begleitet wurde, die zu hohem Wachstum und niedriger Inflation führten? Die kurzfristigen Veränderungen der wirtschaftlichen Aktivitäten bezeichnet man als Konjunkturzyklen oder Konjunkturschwankungen; sie werden im ersten Teil dieses Kapitels behandelt. Das Verständnis der Konjunkturzyklen hat sich als eines der hartnäckigsten Probleme der Makroökonomie erwiesen. Was verursacht Konjunkturschwankungen? Durch welche staatlichen Maßnahmen können sie wenigstens abgemildert werden? Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Investition
Teil 5
Produktion (reales BIP)
Fiskalpolitik Gesamtnachfrage (AD) Außenhandel
Zusammenwirken von AS und AD
Gesamtangebot (AS)
Abbildung 23-1: Konjunkturzyklen sind ein traditionelles Merkmal des Kapitalismus Das Kapitel beginnt mit einer Untersuchung von Konjunkturzyklen. Im Anschluss daran entwickelt es die Theorie der Gesamtnachfrage, um zu erklären, wie Verlagerungen der Nachfragekurve zu Konjunkturzyklen führen.
war die Wirtschaftswissenschaft kaum in der Lage, diese Fragen zu beantworten. Dann veröffentliche John Maynard Keynes seine revolutionären makroökonomischen Theorien, die auf die Kräfte der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage als Bestimmungsfaktor der Konjunkturzyklen hindeuteten. Die wichtigste Lektion von Keynes lautet, dass Veränderungen der Gesamtnachfrage kurzfristig bedeutende Auswirkungen auf die Höhe der Produktion, der Beschäftigung und der Preise haben können. Von Anfang an wurde das Keynesianische Rahmenwerk in Frage gestellt, modifiziert und weiter ausgearbeitet. Aber nach wie vor
ist die Theorie der Gesamtnachfrage das beste Instrument zum Verständnis von Konjunkturzyklen. Daher werden wir im zweiten Teil dieses Kapitels die Grundsätze der Analyse der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beschreiben und den grundlegenden Keynesianischen Ansatz zur Erklärung von Konjunkturschwankungen vorstellen. Diese Diskussion bereitet den Weg für die Untersuchung des Keynesianischen Multiplikatormodells im nächsten Kapitel, das die einfachste Theorie der Einkommensbestimmung erläutert. Abbildung 23-1 unterstützt uns bei der Analyse.
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
A. Konjukturschwankungen Wie die Wirtschaftsgeschichte zeigt, wächst eine Wirtschaft niemals gleichmäßig. Es kann in einem Land einige Jahre lang zu einer berauschenden Wirtschaftsexpansion kommen, wie in den Vereinigten Staaten während der neunziger Jahre. Darauf kann aber durchaus eine Rezession folgen, eine Finanzkrise oder – seltener – eine lang anhaltende Depression. Dann sinkt die Produktionsleistung des Landes, die Gewinne und das Realeinkommen gehen zurück, und die Arbeitslosenquote schnellt beunruhigend in die Höhe, da ganze Heerscharen von Beschäftigten ihre Arbeitsplätze verlieren. Irgendwann ist aber die Talsohle erreicht und die Erholung beginnt. Sie kann kurz oder lang sein, unvollständig ausfallen oder aber stark genug sein, um zu einem neuen Aufschwung zu führen. Eine Hochkonjunktur kann eine lange, nachhaltige Periode lebhafter
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Nachfrage, ein gutes Arbeitsplatzangebot und einen generell steigenden Lebensstandard mit sich bringen. Sie kann aber auch durch einen raschen, inflationären Preisanstieg und einen Spekulationsboom gekennzeichnet sein, worauf dann der nächste Abschwung folgt. Dieses Auf und Ab der Produktion, der Inflation, der Zinssätze und der Beschäftigungslage ergeben den Konjunkturzyklus, der für alle Marktwirtschaften charakteristisch ist.
Merkmale des Konjukturzyklus Was genau verstehen wir unter „Konjunkturzyklus“? Konjunkturzyklen sind gesamtwirtschaftliche Schwankungen von Produktion, Einkommen und Beschäftigung. Ihre Länge beträgt in der Regel zwischen zwei und zehn Jahren, und sie sind durch eine weitgehende Expansion oder Kontraktion der meisten Wirtschaftssektoren gekennzeichnet.
Recession Rezession
Hoch
Hoch
AEu xfsp cahn wsiu onn g
Tief Ab sc hw un g
Zustand der Wirtschaft
Hoch
Rezession Tief
Abbildung 23-2: Genau wie ein Kalenderjahr hat auch ein Konjunkturzyklus seine Jahreszeiten Der Konjunkturzyklus beschreibt die unregelmäßigen Auf- und Abschwungsphasen einer Volkswirtschaft. (Hier werden die tatsächlichen Monatsdaten der Industrieproduktion während eines kürzlichen Konjunkturzyklus dargestellt.)
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Üblicherweise unterscheiden Ökonomen zwei Hauptphasen im Verlauf eines Konjunkturzyklus, nämlich Rezessions- und Expansionsphase. Gipfel und Tiefpunkt des Zyklus stellen jeweils die Wendepunkte dar. Abbildung 23-2 zeigt die aufeinander folgenden Phasen des Konjunkturzyklus. Ein Wirtschaftsabschwung wird als Rezession bezeichnet. Unter Rezession verstehen wir eine immer wieder auftretende Periode des Rückgangs der Produktionsleistung, des Einkommens und der Beschäftigung, die üblicherweise zwischen sechs Monaten und einem Jahr dauert und durch einen deutlichen Abschwung in vielen Wirtschaftsektoren gekennzeichnet ist. Eine lang anhaltende, gravierende Rezession bezeichnet man als Depression. Laut Angaben des National Bureau of Economic Research, der Organisation, die Beginn und Ende eines Konjunkturzyklus datiert, begann die letzte Rezession in den Vereinigten Staaten im März 2001. Der Abschwung beendete die längste jemals registrierte Expansion, die insgesamt 120 Monate lang anhielt. (Für weitere Informationen siehe den Abschnitt „Websites“ am Ende dieses Kapitels.) Obgleich wir kurzfristige Schwankungen als „Zyklen“ bezeichnen, ist ihr Muster doch unregelmäßig. Keine zwei Konjunkturzyklen sind identisch. Es gibt keine exakte Formel, wie wir sie beispielsweise für die Umlaufbahnen der Planeten oder Pendelbewegungen kennen, die wir verwenden könnten, um Dauer oder Ablauf eines Konjunkturzyklus vorherzusagen. In ihrer Unregelmäßigkeit gleichen die Konjunkturzyklen eher den Veränderungen des Wetters. Abbildung 23-3 zeigt die Konjunkturzyklen der amerikanischen Wirtschaft während der letzten Jahre. Beachten Sie die Form der Zyklen, die Gebirgsketten gleichen, in denen die Hügel und Täler auf unterschiedlichen Höhen liegen. Manche Täler sind sehr tief und breit, wie während der Großen Depression; andere sind eng und eher flach, wie die Rezession von 1991.
Teil 5
Obwohl Konjunkturzyklen niemals genau gleich verlaufen, haben sie doch gewisse Ähnlichkeiten. Frage: Wenn ein seriöser Wirtschaftsforscher die nächste Rezession ankündigt, gibt es dann irgendwelche typischen Phänomene, die man als Begleiterscheinung der Rezession erwarten sollte? Im Folgenden sind einige der üblichen Merkmale einer Rezession aufgeführt: • Häufig gehen die Konsumausgaben stark zurück, während die Lagerbestände der Unternehmen an Autos und sonstigen dauerhaften Gebrauchsgütern unerwartet ansteigen. Wenn die Unternehmen mit einer Drosselung ihrer Produktion reagieren, sinkt das reale BIP. Kurz danach gehen auch die Unternehmensinvestitionen in Fabriken, Anlagen und Maschinen drastisch zurück. • Die Arbeitsnachfrage sinkt – was sich zuerst in einer kürzeren durchschnittlichen Arbeitszeit, später aber auch in Entlassungen und höherer Arbeitslosigkeit äußert. • Mit sinkender Produktionsleistung verlangsamt sich auch die Inflation. Lässt die Nachfrage nach Rohstoffen nach, kommen deren Preise ins Trudeln. Löhne und Preise für Dienstleistungen werden wahrscheinlich nicht sinken, aber sie steigen in Abschwungphasen normalerweise weniger rasch. • Die Unternehmensgewinne schrumpfen in Rezessionsperioden beträchtlich. In Vorwegnahme dieser Entwicklung sinken zumeist die Aktienkurse, wenn die Investoren die Rezession zu riechen beginnen. Da jedoch die Kreditnachfrage zurückgeht, fallen im Verlauf einer Rezession zumeist auch die Kreditzinsen. Expansionen sind das Gegenstück zu Rezessionen, wobei jeder der oben erwähnten Faktoren sich umgekehrt wie in einer Rezession verhält.
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Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
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Abweichung der Produktionsleistung vom langjährigen Trend (in %)
Aktienhausse II. Weltkrieg 40
Nachkriegserholung
20
Vietnamkrieg
Koreakrieg
Geldpolitik Golfkrieg
0
Erster Ölschock
Nachkriegserholung
–20
„New Economy“ der 1990er Jahre
Nachkriegsdepression
Angebotsseitige Politik
–40 Aufrüstung –60 Weltwirtschaftskrise
–80 1920
1930
1940
1950
1960 Jahr
1970
1980
1990
2000
Abbildung 23-3: Die wirtschaftliche Entwicklung in den USA seit 1919 Die Industrieproduktion schwankt unregelmäßig um ihre langfristige Trendlinie. Beachten Sie, wie der lang anhaltende Aufschwung und die Revolution in der Informationstechnologie während der neunziger Jahre den Konjunkturzyklus deutlich nach oben verschoben haben. Können Sie während der letzten Jahre eine gleichmäßigere Wirtschaftsentwicklung feststellen? Quelle: Federal Reserve Board, von den Autoren trendbereinigt.
Konjunkturtheorien Exogene und endogene Zyklen. Seit langen Jahren herrscht in der Makroökonomie eine rege Debatte über die Entstehung der Konjunkturzyklen. Warum ändert sich die Entwicklung von Beschäftigung und Produktionsleistung ganz plötzlich? Warum geht es Marktwirtschaften mal gut, mal schlecht? Es gibt unzählige Erklärungen, aber es ist hilfreich, die verschiedenen Ursachen in zwei Kategorien einzuteilen: exogen und endogen. Die auf exogenen Ursachen gründenden Theorien erklären Konjunkturzyklen aus den Änderungen von Faktoren, die mit dem Wirt-
schaftsgeschehen nicht unmittelbar zu tun haben – Kriege, Revolutionen und Wahlen; Ölpreise; die Entdeckung von Gold; Wanderungsbewegungen; die Erschließung von neuem Land und neuen Ressourcen; wissenschaftliche Durchbrüche und technische Innovationen; sogar Sonnenflecke, Klimaveränderungen oder das Wetter. Ein Beispiel für einen exogenen Bestimmungsfaktor ist die Entdeckung der Neuen Welt. Als die Entdecker mit ihren Schätzen nach Europa zurückkehrten, führte dies zu einer Zunahme der Gold- und Silberbestände, was wiederum zu Preiserhöhungen und Wirtschaftswachstum beitrug. Dieses exoge-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
ne Ereignis – die Entdeckung Amerikas – führte zu einem Wirtschaftsaufschwung. Die auf endogenen Ursachen fußenden Theorien besagen, dass Konjunkturzyklen von Mechanismen innerhalb des Wirtschaftssystems selbst hervorgerufen werden. Diesem Ansatz zufolge trägt jede Expansion schon den Keim der nachfolgenden Abschwächung und Rezession in sich, während jede Abschwächung ihrerseits wieder in einer Konjunkturbelebung und einem Aufschwung mündet – eine fast regelmäßige, sich ständig wiederholende Kettenreaktion. Ein in diesem Zusammenhang bedeutendes Konzept ist die Multiplikator-Akzelerator-Theorie. Demnach stimuliert ein schnelles Anwachsen der Produktion die Investitionen. Höhere Investitionen führen ihrerseits zu einer Steigerung der Produktion, und dieser Prozess setzt sich fort, bis die Wirtschaft ihre Kapazitätsgrenze erreicht hat, ab der sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt. Das geringere Wirtschaftswachstum wiederum führt zu einer Minderung der Investitionsausgaben und geringerem Ausbau von Lagerbeständen, was in einer Wirtschaft üblicherweise einen Abschwung verursacht. Sodann verläuft der Prozess in umgekehrter Richtung, bis die Talsohle erreicht ist, auf der sich die Wirtschaft stabilisiert, um dann wieder zu wachsen. Diese Theorie der internen Ursachen von Konjunkturzyklen unterstellt einen Mechanismus ähnlich der Bewegung eines Pendels, der bewirkt, dass ein exogener Schock sich auf zyklische Weise durch die ganze Wirtschaft fortpflanzt. Spekulative Hochkonjunktur und Wirtschaftsflauten Eine andere Ausprägung endogen begründeter Konjunkturzyklen waren die spekulationsbedingten Hochkonjunkturen und Wirtschaftsflauten im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und während der Großen Depression, ein Phänomen, das in den Vereinigten Staaten gegen Ende der neunziger Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts
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erneut auftrat. Das bemerkenswerte Wachstum und die Innovationskraft in den Sektoren der „New Economy“– zu der die Bereiche Computer, Software und Internet zählen – führte zwischen 1995 und 2000 bei den New-Economy-Aktien zur Ausbildung einer Spekulationsblase. Die betreffenden Unternehmen boten Partnervermittlung per Internet oder verkauften Lebensmittel, vermittelten freien Internetzugang oder boten die Versendung elektronischer Geburtstagsgrüße an; manche stellten auch winzige, aber angeblich wesentliche elektronische Komponenten her. Studenten verließen die Universität und wurden praktisch über Nacht zu Millionären. Auf dem Höhepunkt des Spekulationswahns standen die Leute Schlange, um Aktien von Unternehmen zu kaufen, die enorme Verluste erwirtschafteten und teilweise so gut wie nichts verkauften. Der Wert der NewEconomy-Unternehmen stieg Anfang 2000, kurz bevor die Spekulationsblase platzte, auf US-$ 3 Billionen. All dies förderte Investitionen in Computer, Software und Telekommunikation. Die Investitionen in IT-Anlagen und -Maschinen stiegen von 1995–2000 um 70 Prozent und zeichneten so für ein Fünftel des Gesamtzuwachses des realen BIP während dieses Zeitraums verantwortlich. Schließlich regte sich in der Investorengemeinde große Skepsis hinsichtlich des wahren Wertes vieler dieser Unternehmen. Die Verluste nahmen kein Ende. Der unwiderstehliche Drang, Aktien zu kaufen, ehe deren Kurse noch höher stiegen, wurde durch den panischen Wunsch ersetzt, sie zu verkaufen, ehe die Preise noch weiter verfielen. Der Aktienkurs eines typischen NewEconomy-Unternehmens fiel von US-$ 50 oder gar US-$ 100 pro Aktie bis 2003 auf Pennybeträge. Viele Firmen gingen Bankrott. Die Studienabbrecher kehrten an die Universitäten zurück – klüger, aber nur selten reicher geworden. Der Rückgang des Aktienmarktes von 2000 bis 2003 trug zu der Rezession und dem langsamen Wachstum in diesem Zeitraum bei. Die Investitionen in informationsverarbeitende Anlagen und Maschinen
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
Nachfragebedingte Zyklen. Ein wichtiger Auslöser für Konjunkturschwankungen sind schockartige Einflüsse auf die Gesamtnachfrage. Ein typisches Beispiel ist in Abbildung 23-4 dargestellt, die zeigt, wie ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu einer Produktionsminderung führt. Beginnen wir unsere Betrachtung bei Punkt B, an dem sich die Wirtschaft in einem kurzfristigen Gleichgewicht befindet. Die Gesamtnachfragekurve verschiebt sich nun nach links zu AD', vielleicht aufgrund eines Rückgangs der Verteidigungsausgaben oder einer Geldverknappung. Wenn sich das Gesamtangebot nicht ändert, erreicht die Wirtschaft ein neues Gleichgewicht in Punkt C. Beachten Sie, dass sich die Produktionsleistung von Q auf Q' verringert. Außerdem liegen die Preise nun niedriger als beim ersten Gleichgewichtspunkt, und die Inflationsrate sinkt. Ein Wirtschaftsaufschwung stellt sich natürlich genau umgekehrt zur eben geschilderten Entwicklung dar. Die AD-Kurve verschiebt sich nun nach rechts, die Produktionsleistung erreicht das potenzielle BIP oder geht vielleicht noch darüber hinaus, Preise und Inflation steigen. Konjunkturzyklische Veränderungen von Produktion, Beschäftigung und Preisen sind häufig durch Verlagerungen der Gesamtnachfragekurve bedingt. Derartige Verlagerungen ergeben sich, wenn die Konsumenten, Unternehmen oder der Staat ihre Gesamtausgaben relativ zur produktiven Kapazität der Wirtschaft ändern. Wenn eine solche Änderung der Gesamtnachfrage zu einem deutlichen Wirtschaftsabschwung führt, gleitet
P
Q
p
AS
AD Preisniveau
sanken um zehn Prozent, die Investitionen in Computer gingen gar um das Doppelte dieses Wertes zurück. Die beeindruckenden Innovationen der New-Economy-Unternehmen hatten Auswirkungen auf das ganze Wirtschaftsleben, aber die Investoren haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Ausgleich für ihre Mühen nur geringen oder gar keinen Gewinn erzielt.
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AD′ B
P P′ C
AD AD′
Q′
Potenzielle Produktionsleistung
Q
Q
Reale Produktionsleistung
Abbildung 23-4. Ein Rückgang der Gesamtnachfrage führt zu einem Wirtschaftsabschwung Eine Abwärtsverschiebung der AD-Kurve entlang einer flachen und unveränderten AS-Kurve führt zu einem Rückgang des Produktionsniveaus. Beachten Sie, dass infolge der Abwärtsverschiebung der AD-Kurve in einer Rezession die tatsächliche Produktion relativ zur potenziellen Produktionsleistung zurückgeht.
die Wirtschaft in eine Rezession oder gar Depression ab. Ein rasches Ansteigen der wirtschaftlicher Aktivität kann zu Inflation führen. Konjunkturtheorien Die Wirtschaftswissenschaft analysiert Konjunkturzyklen nun schon seit fast zwei Jahrhunderten. Im Folgenden beschreiben wir einige der verschiedenen Ansätze und benennen ihre Vertreter: 1. Monetaristische Theorien führen Konjunkturzyklen auf die Ausweitung und Verringerung von Geldmenge und Krediten zurück (M. Friedman). Dieser Theorie zufolge sind monetäre Faktoren die Hauptursache für Schwankungen in der Gesamtnachfrage. Beispielsweise wurde die Rezession von 1981–1982 angeblich dadurch ausgelöst, dass die Zentralbank zur Bekämpfung der Inflation die Nominalzinssätze auf 18 Prozent anhob. 2. Das oben beschriebene MultiplikatorAkzelerator-Modell erklärt, dass plötzliche externe Einflüsse durch den Multiplikatormechanismus, den wir im nächs-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
ten Kapitel untersuchen werden, und ein Element aus der Investitionstheorie, das unter der Bezeichnung Akzelerator bekannt ist, auf die Wirtschaft einwirken (P. Samuelson). Diese Theorie zeigt, wie das Zusammenspiel von Multiplikator und Akzelerator zur Ausbildung regelmäßiger Zyklen in der Gesamtnachfrage führen kann; es ist eines der wenigen Modelle, das endogene Zyklen erklärt. 3. Politische Konjunkturtheorien führen wirtschaftliche Schwankungen auf das Agieren von Politikern zurück, die zur Förderung ihrer Wiederwahl fiskal- und geldpolitische Maßnahmen ergreifen (W. Nordhaus, E. Tufte). Historisch betrachtet kann man sagen, dass die Ergebnisse von US-Präsidentschaftswahlen sensibel auf die Wirtschaftslage im Jahr vor der Wahl reagieren. Deshalb würden auch die meisten Präsidenten, hätten sie die Wahl, am liebsten dem Beispiel Ronald Reagans folgen. Zu Beginn seiner ersten Amtsperiode durchliefen die USA zwar eine tiefe Rezession, doch zum Zeitpunkt seines zweiten Wahlkampfes 1984 wuchs die Wirtschaft kräftig, was sehr zu seiner Wiederwahl beitrug, die er mit beträchtlicher Mehrheit errang. 4. Gleichgewichts-Konjunkturtheorien behaupten, dass falsche Vorstellungen von Preis- und Lohnentwicklungen die Menschen dazu brächten, zu viel oder zu wenig Arbeit anzubieten. Dies löse immer wieder Produktions- und Beschäftigungsschwankungen aus (R. Lucas, R. Barro, T. Sargent). Einer Version dieser Theorien zufolge steigt die Arbeitslosigkeit in Rezessionszeiten, weil die Arbeitnehmer überhöhte, nicht marktgerechte Löhne anstreben. 5. Verfechter der Real-Business-Cycle-Theorie betonen, dass Innovationen oder plötzliche Einwirkungen auf die Produktivität in einem Sektor auf den Rest der Wirtschaft übergreifen und dort zu Auf- oder Abschwüngen führen können (J. Schumpeter am Anfang des 20. Jahrhunderts und E. Prescott, P. Long, C. Plosser in jüngerer Zeit). Laut diesem
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klassischen Ansatz werden Konjunkturzyklen hauptsächlich durch plötzliche Einwirkungen auf das Gesamtangebot hervorgerufen, nicht durch Veränderungen der Gesamtnachfrage. Ein derartiger Ansatz kann scheinbar besonders gut Situationen wie in Russland erklären, das sich während der neunziger Jahre von einer zentralen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft wandelte. Aufgrund der allgemeinen Verwirrung und wirtschaftlicher Störungen ging die Produktion in diesem Land schnell und drastisch zurück. 6. Von Angebotsschocks spricht man, wenn Konjunkturzyklen durch Veränderungen des Gesamtangebots ausgelöst werden (R.J. Gordon). Klassische Beispiele lassen sich während der Ölkrise in den siebziger Jahren finden, als der dramatische Anstieg der Ölpreise zu einem Rückgang des Gesamtangebots führte, die Inflation anheizte und zu einer Senkung von Produktion und Beschäftigung beitrug. Viele Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass die niedrige Inflationsrate und das schnelle Wachstum der amerikanischen Wirtschaft von 1994 bis 2000 durch positive Angebotsschocks erklärt werden kann. Während dieses Zeitraums stiegen die Kosten nur langsam an, weil Öl- und andere Rohstoffpreise sanken, die Importpreise zurückgingen, die Produktivität rasch zunahm und die Kosten für die Gesundheitsvorsorge unterdurchschnittlich zulegten. Natürlich stellt sich nun die Frage, welche dieser Theorien Konjunkturzyklen am besten erklärt. Jeder der verschiedenen Ansätze enthält ein Körnchen Wahrheit, aber keiner kann Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen. Ein kluger Wirtschaftswissenschaftler kennt nicht nur die verschiedenen Theorien, sondern weiß auch, wann und wo er welche anwenden muss.
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
Die Prognose von Konjukturzyklen Die Wirtschaftswissenschaft hat Prognosewerkzeuge entwickelt, mit denen sie Veränderungen im Wirtschaftsgefüge vorhersagen kann. Wie die hellen Scheinwerfer eines Autos erleuchtet eine gute Prognose das vor uns liegende wirtschaftliche Terrain und hilft den Entscheidungsträgern, ihre Handlungen der jeweiligen wirtschaftlichen Situation anzupassen.
Ökonometrische Modelle und Prognosen In früheren Zeiten versuchten die Ökonomen durch das Studium und die Projektion vorhandener Daten über den Geldumlauf, LKW-Ladungen und die Stahlproduktion einen Blick auf die Zukunft zu erhaschen. So deutete beispielsweise ein Rückgang in der Stahlproduktion darauf hin, dass die Unternehmen ihre Ausgaben verringerten und das Wirtschaftswachstum bald abflauen würde. Schließlich wurde dieser Vorgang durch die Kombination verschiedener statistischer Daten formalisiert und als „Index of Leading Indicators“ (Index der Konjunktur-Vorlaufindikatoren) bezeichnet. Obwohl dieser Index keineswegs unfehlbar ist, ermöglicht er doch eine frühzeitige und automatische Warnung hinsichtlich der künftigen Richtung der Wirtschaftsentwicklung. Um jedoch noch etwas genauer in die Zukunft sehen zu können, greifen die Ökonomen heute zu computergestützten ökonometrischen Prognosemodellen. Ein ökonometrisches Modell besteht aus einer Reihe von Gleichungen, die das Verhalten der Wirtschaft widerspiegeln, das aufgrund von historischen Daten eingeschätzt wird. Frühe Pioniere auf diesem Gebiet waren Jan Tinbergen aus den Niederlanden und Lawrence Klein von der University of Pennsylvania – beide gewannen den Nobelpreis für ihre Entwicklung empirischer makroökonomischer Mo-
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delle. Heutzutage bilden die Ökonometriker eine eigene Branche, entwickeln makroökonomische Modelle und sagen die Zukunft der Wirtschaft voraus. Wie entstehen Computermodelle der Wirtschaft? Im Allgemeinen beginnen die Entwickler dieser Programme mit einem analytischen Rahmenwerk, das Gleichungen für Gesamtnachfrage und Gesamtangebot enthält. Mithilfe der Techniken der modernen Ökonometrie wird jede Gleichung an die historischen Daten „angepasst“, sodass Parameterschätzungen vorgenommen werden können (etwa zur marginalen Konsumneigung MPC oder zur Steigung der Investitionsnachfragekurve). Außerdem bringen die Entwickler in jeder Phase ihre eigene Erfahrung und ihr eigenes Urteil ein, um die Plausibilität der Ergebnisse zu beurteilen. Schließlich wird das gesamte Modell zusammengestellt und als ein System von Gleichungen auf dem Computer zum Laufen gebracht. Kleine Modelle bestehen nur aus ein oder zwei Dutzend Gleichungen. Große Prognosemodelle umfassen heute jedoch mehr als einige Hundert bis zu 10.000 Variablen. Wenn die exogenen und maßnahmenbezogenen Variablen einmal spezifiziert sind (Bevölkerungszahl, Staatsausgaben und Steuersätze, Geldpolitik und so weiter), lassen sich mit Hilfe dieses Gleichungssystems Projektionen wichtiger volkswirtschaftlicher Variablen in die Zukunft vornehmen. Unter normalen Umständen schneiden diese Prognosen bei der Beleuchtung des vor uns liegenden Weges recht gut ab. In anderen Situationen, vor allem wenn es zu drastischen Änderungen staatlicher Politik kommt, sind Wirtschaftsprognosen ein unsicheres Geschäft. Abbildung 23-5 zeigt die Ergebnisse einer Zusammenstellung der BIP- (früher BNP-) Prognosen aller wichtigen Wirtschaftsforschungsinstitutionen der USA. Aus Vergleichsgründen legte diese Studie als Benchmark eine „naive Prognose“ zugrunde, in der das prognostizierte Wachstum der Produktionsleistung des kommenden Jahres einfach der Wachstumsrate des laufenden Jahres entsprach.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
sich eines unsystematischen oder unwissenschaftlichen Ansatzes bedienen, genauere Ergebnisse liefern.
4
Prognosefehler (in % Jahr)
Teil 5
3
2
1
0
1950er Jahre
1960er Jahre
1970er Jahre
1980er Jahre
Fehleinschätzung des BIP-Wachstums durch professionelle Wirtschaftsforscher
B. Grundlagen der gesamtwirtschaftlichen Nachfragen
Naive Fehleinschätzung des BIP-Wachstums
Abbildung 23-5: Inwieweit haben sich professionelle Wirtschaftsprognosen bewahrheitet? Hier werden die Ergebnisse der professionellen Wirtschaftsforscher mit jenen einer „naiven“ Wirtschaftsprognose verglichen. Seit systematische Wirtschaftsprognosen erstellt werden, haben sich die makroökonomischen Voraussagen im Vergleich zur reinen Raterei in jedem Jahrzehnt verbessert, und die zusätzlich erzielte Verbesserung fällt immer höher aus. Quelle: Stephen McNees, New England Economic Review, Juli 1992. Für jedes Jahr der Dekade wurden Durchschnitte gebildet.
Wie die Abbildung zeigt, konnten die professionellen Zukunftsforscher die naive Prognose regelmäßig schlagen. In den ersten beiden Jahrzehnten lag die durchschnittliche Prognoseabweichung der Experten von der Realität bei mehr als der Hälfte der Abweichung des naiven Modells, während das Ausmaß des Fehlers während der siebziger und achtziger Jahre auf weniger als die Hälfte der Abweichung des naiven Modells sank. Interessant an Abbildung 23-5 ist außerdem, dass die Instabilität von Periode zu Periode schwankt, wobei die fünfziger und siebziger Jahre relativ große Fluktuationen aufwiesen, während die sechziger und achtziger Jahre einen ruhigeren Verlauf zeigen. Offenbar sind Wirtschaftsprognosen in unserer unsicheren Welt ebenso sehr eine Kunst wie eine Wissenschaft. Die Stärke professioneller Wirtschaftsprognosen liegt jedenfalls darin, dass sie jahrein, jahraus im Vergleich zu jenen, die
Im ersten Teil dieses Kapitels wurden die kurzfristigen Veränderungen von Produktion, Beschäftigung und Preisen beschrieben, die in Marktwirtschaften ein Merkmal von Konjunkturzyklen sind. Wir zeigten, wie Veränderungen der Gesamtnachfrage zu zyklischen Bewegungen führen können. Nun ist es Zeit, im Detail die Grundlagen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu erforschen. Welche Hauptkomponenten bestimmen die Gesamtnachfrage? Welche Wechselwirkungen zwischen ihnen und der Gesamtnachfrage bestimmen Produktion und Preise? Was besagt die Theorie von Keynes über die Bestimmung der Produktion, und wie erklärt sie kurzfristige Schwankungen des BIP? In der Einleitung zur Makroökonomie in Kapitel 20 haben wir diese Fragen kurz untersucht. Wir betrachten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nun gründlicher, um die Kräfte besser zu verstehen, die die Wirtschaft vorantreiben. Im nächsten Kapitel untersuchen wir das einfachste Modell der Gesamtnachfrage – das Multiplikatormodell. Als gesamtwirtschaftliche Nachfrage (AD – Aggregate Demand) bezeichnet man die gesamte Menge an Waren und Dienstleistungen, die zu einem gegebenen Preisniveau nachgefragt wird, wobei alle übrigen Faktoren konstant gehalten werden. Die Gesamtnachfrage entspricht also den gewünschten Ausgaben aller Sektoren: Konsum, private Inlandsinvestitionen, Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen sowie Nettoexpor-
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
te. Sie setzt sich aus vier Komponenten zusammen: 1. Konsum. Wie wir aus dem letzten Kapitel wissen, wird der Konsum (C) primär durch das verfügbare Einkommen (persönliches Einkommen abzüglich Steuern) bestimmt. Weitere Einflussfaktoren sind die langfristige Einkommensentwicklung, die Vermögen der Haushalte und das gesamtwirtschaftliche Preisniveau. Die Analyse der Gesamtnachfrage konzentriert sich auf die bestimmenden Faktoren des realen Konsums (das heißt auf den nominalen Konsum dividiert durch den Verbraucherpreisindex). 2. Investitionen. Die Investitionen (I) umfassen den Erwerb von Gebäuden, Software, Anlagen und Maschinen sowie Lagerbestandszuwächse des privaten Sektors. Gemäß unserer Analyse in Kapitel 22 sind die bestimmenden Faktoren für Investitionen das Produktionsniveau, die Kapitalkosten (beeinflusst durch Steuerpolitik, Zinssätze und andere finanzielle Rahmenbedingungen) sowie die Zukunftserwartungen. Das wichtigste Instrument, mit dem die Wirtschaftspolitik Einfluss auf die Investitionstätigkeit nehmen kann, ist die Geldpolitik. 3. Staatsausgaben. Der dritte Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sind die Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (G): Darunter versteht man den Erwerb von Gütern wie zum Beispiel Panzer oder Maschinen für den Straßenbau oder die Dienstleistungen der Richter und Lehrer an öffentlichen Schulen. Im Unterschied zum privaten Konsum und privaten Investitionen wird diese Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage direkt durch die staatlichen Ausgabenentscheidungen bestimmt. Wenn das Verteidigungsministerium neue Flugzeuge kauft, wird der Kaufpreis dem BIP hinzugerechnet.
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4. Nettoexporte. Den letzten Bestandteil der Gesamtnachfrage stellen die Nettoexporte (X) dar, die sich aus dem Wert der Exporte minus dem Wert der Importe errechnen. Die Importe werden durch Einkommen und die Produktionsleistung im Inland bestimmt, durch das Verhältnis von inländischen zu ausländischen Preisen sowie durch den Wechselkurs. Die Exporte (das heißt Importe anderer Staaten) sind das Spiegelbild der Importe. Sie werden durch das Einkommen und die Produktion im Ausland, die relativen Preise und die Wechselkurse bestimmt. Folglich resultieren die Nettoexporte aus den inländischen und ausländischen Einkommen und Produktionsniveaus, den relativen Preisen und den Wechselkursen. Abbildung 23-6 zeigt die Gesamtnachfragekurve (AD) und ihre vier wichtigsten Komponenten. Zu einem gegebenen Preisniveau P können wir die Höhe des Konsums, der Investitionen, der Staatsausgaben und der Nettoexporte bestimmen und erhalten durch deren Addition das mit Q bezeichnete BIP. Die Summe der vier Ausgabenströme entspricht den gesamtwirtschaftlichen Ausgaben oder der Gesamtnachfrage zu diesem Preisniveau.
Die abwärts geneigte Gesamtnachfragekurve Ein wichtiger Punkt, der Ihnen nicht entgehen sollte, ist die Tatsache, dass die Gesamtnachfragekurve in Abbildung 23-6 nach unten geneigt ist. Unter der Annahme, dass alle anderen Faktoren konstant bleiben, heißt dies, dass bei steigendem Preisniveau in der Wirtschaft die realen Konsumausgaben sinken. Welche Gründe gibt es für die Neigung nach unten? Der Hauptgrund besteht darin, dass einige Einkommens- oder Vermögenskomponenten nicht steigen, wenn das Preisniveau in die Höhe geht. Beispielsweise kön-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Preisniveau
P
P
C
I
G
X
AD Q Q reales BIP
Abbildung 23-6: Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Die Gesamtnachfrage (AD) setzt sich aus vier Komponenten zusammen: Konsum (C), private Inlandsinvestitionen (I), Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (G) und Nettoexporte (X). Die Gesamtnachfragekurve verlagert sich bei unterschiedlichem Einsatz makroökonomischer Instrumente (beispielsweise Änderungen der Geldpolitik, der Staatsausgaben oder der Steuersätze) oder wenn exogene Ereignisse die Ausgaben verändern (eventuell bedingt durch Produktionsänderungen im Ausland, die sich auf die Nettoexporte auswirken, oder eine Änderung des Vertrauens der Unternehmen, die die Investitionen beeinflusst).
nen einige Elemente des persönlichen Einkommens in nominalen Geldeinheiten festgelegt sein – Transferleistungen der Regierung, Mindestlöhne und Betriebsrenten, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wenn das Preisniveau steigt, fällt daher das reale verfügbare Einkommen, was zu einem Rückgang der realen Konsumausgaben führt. Außerdem können manche Vermögenswerte in nominalen Geldeinheiten bestimmt sein. Beispiele hierfür sind gehortetes Bargeld, festverzinsliche Wertpapiere und Schuldverschreibungen, an die meistens das Versprechen geknüpft ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Geldbetrag zu zahlen. Steigt das Preisniveau, sinkt daher
Teil 5
der Realwert dieses Vermögens, was wiederum den realen Konsum senkt. Preise beeinflussen die Ausgaben noch auf einem anderen Weg, nämlich über die Geldversorgung. Mitunter hält die Zentralbank die Geldmenge bei einer bestimmten Dollarmenge konstant (oder lässt sie, nominal gesehen, in bestimmtem Umfang wachsen). Wenn dann die Preise steigen, sinkt die reale Geldmenge (die nominale, um Preisveränderungen bereinigte Geldmenge). Nehmen wir beispielsweise an, die Geldmenge eines Landes sei bei US-$ 600 Milliarden konstant. Wenn nun der Verbraucherpreisindex auf das Doppelte steigt, sinkt die reale Geldmenge von US-$ 600 Milliarden auf US-$ 300 Milliarden. Bei schrumpfendem realem Geldangebot wird Geld relativ knapp. Die Zinssätze und Rückzahlungen auf Hypothekendarlehen steigen, und Kredite sind schwieriger zu erhalten. Eine knappe Geldmenge verursacht einen Rückgang an Investitionen und Konsum. Kurzum, wenn alle anderen Faktoren konstant sind, führt ein Preisanstieg verbunden mit einer konstanten Geldmenge zu Geldverknappung und verursacht eine Verringerung der gesamten Realausgaben. (In den folgenden Kapiteln werden wir uns ausführlicher mit den Geldmechanismen beschäftigen.) Infolge aller dieser Auswirkungen eines höheren Preisniveaus bewegt sich die Wirtschaft entlang der abwärts gerichteten ADKurve nach oben und nach links. Die Auswirkungen eines verringerten Geldangebots sind in Abbildung 23-7(a) dargestellt. Nehmen wir an, die Volkswirtschaft befände sich in Punkt B bei einem Preisniveau von 100, einem realen BIP von US-$ 3.000 Milliarden und einem Geldangebot von US-$ 600 Milliarden im Gleichgewicht. Weiterhin nehmen wir an, dass die Preise um 50 Prozent steigen und der Preisindex P damit von 100 auf 150 klettert. Bei einem fixen nominalen Geldangebot sinkt das reale Geldangebot von US-$ 600 Milliarden auf US-$ 400 Milliarden. Aufgrund des nun geringeren realen Geldangebots steigen
(a) Bewegung entlang der Gesamtnachfragekurve
(b) Verschiebung der Gesamtnachfragekurve
P
P
250
250
200
200
Preisniveau
Preisniveau
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
C 150 B 100 50
0
AD
1.000 2.000 3.000 4.000 reales BIP (in Mrd. US-$)
5.000
671
150 100
AD′
50
AD
Q 0
Q 1.000 2.000 3.000 4.000 reales BIP (in Mrd. US-$)
5.000
Abbildung 23-7: Bewegung entlang oder Verschiebung der Gesamtnachfragekurve In Abbildung (a) führt ein höheres Preisniveau bei einer starren nominalen Geldmenge zu Geldverknappung, höheren Zinssätzen und geringeren Ausgaben für zinssensible Investitionen und Konsum. Dies wird durch eine Bewegung entlang der AD-Kurve von B nach C verdeutlicht, unter der Annahme, dass alle übrigen Faktoren konstant bleiben. In Abbildung (b) sind die übrigen Variablen nicht länger konstant. Veränderungen von Faktoren, die die Gesamtnachfrage bestimmen – beispielsweise die Geldmenge, die Steuerpolitik oder Verteidigungsausgaben – führen zu Änderungen der Gesamtausgaben bei einem bestimmten Preisniveau. Dies bewirkt eine Verlagerung der AD-Kurve.
die Zinsen, was die Ausgaben in zinsempfindlichen Wirtschaftsbereichen, beispielsweise am Wohnungsmarkt, dem Bau von Fabriken und Anlagen sowie auf dem Automobilsektor sinken lässt. Der Nettoeffekt besteht in der Verminderung der gesamten realen Ausgaben auf US-$ 2.000 Milliarden, in obiger Abbildung als Punkt C bezeichnet. Zusammenfassend kann man sagen: Die AD-Kurve ist abwärts geneigt. Das bedeutet, dass die Realausgaben bei steigendem Preisniveau sinken, vorausgesetzt, alle anderen Faktoren sind konstant. Die Realausgaben gehen bei steigenden Preisen wegen der Auswirkung dieser Preise auf das Realeinkommen, das Realvermögen und das reale Geldangebot zurück.
Die Nachfrage in der Mikround Makroökonomie An dieser Stelle wollen wir noch einmal auf den Unterschied zwischen mikro- und makroökonomischen Nachfragekurven hinweisen. Erinnern Sie sich an unsere Untersuchung von Angebot und Nachfrage: Dort haben wir gesehen, dass bei der mikroökonomischen Nachfragekurve der Preis eines einzelnen Produkts auf der senkrechten und die produzierte Menge dieses Produktes auf der waagrechten Achse dargestellt werden, wobei alle anderen Preise und das Konsumenteneinkommen als konstant angenommen werden. Im Fall der Gesamtnachfragekurve verändert sich das allgemeine Preisniveau entlang der vertikalen Achse, während die Gesamtproduktion und das Gesamteinkommen anhand der horizontalen Achse dargestellt werden. Im Gegensatz dazu werden für die mikroökonomische Nach-
672
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
fragekurve Einkommen und Produktion als konstant angenommen. Die negative Neigung der mikroökonomischen Nachfragekurve entsteht, weil die Konsumenten das betrachtete Produkt durch andere substituieren. Wenn der Fleischpreis steigt, sinkt die Nachfrage nach Fleisch, weil die Konsumenten stattdessen mehr Brot und Kartoffeln essen, also eine größere Menge von relativ billigen Waren, aber weniger von der teuren Ware konsumieren. Die Gesamtnachfragekurve ist aus ganz anderem Grund nach unten geneigt: Wenn das Gesamtpreisniveau steigt, sinken die Gesamtausgaben hauptsächlich deswegen, weil ein fixes Geldangebot unter denen, die Geld brauchen, rationiert werden muss, wozu die Zinssätze erhöht, die Kredite verknappt und die Gesamtausgaben verringert werden. Die makroökonomischen AD-Kurven unterscheiden sich von ihren mikroökonomischen Verwandten, weil die Gesamtnachfrage einen Zusammenhang zwischen den Preisen und der Produktion der gesamten Volkswirtschaft herstellt, während die mikroökonomische Kurve nur Preis und Menge eines Einzelprodukts betrachtet. Die AD-Kurve ist hauptsächlich wegen des Geldmengeneffekts nach unten geneigt, während die mikroökonomische AD-Kurve abwärts zeigt, weil die Konsumenten einen Artikel, dessen Preis gestiegen ist, durch an-dere Produkte substituieren.
Verschiebungen der Gesamtnachfragekurve Wir wissen inzwischen, dass bei steigendem Preisniveau die Gesamtausgaben in einer Volkswirtschaft zurückgehen, wenn alle anderen Einflussfaktoren konstant bleiben. Aber auch diese anderen Faktoren können sich verändern und beeinflussen dann wiederum die Gesamtnachfrage. Welche Schlüsselvariablen führen zu einer Verschiebung der Gesamtnachfragefunktion? Grundsätzlich können wir die bestimmenden Faktoren der Gesamtnachfrage (AD) in
Teil 5
zwei Kategorien einteilen, wie in Tabelle 23-1 ersichtlich. Die erste Gruppe umfasst die wichtigsten makroökonomischen Instrumente, die dem Staat zur Verfügung stehen: Es sind dies die Geldpolitik (die Zentralbank beeinflusst die Geldmenge und andere Finanzierungsbedingungen) und die Fiskalpolitik (Steuern und Staatsausgaben). Tabelle 23-1 stellt dar, wie die staatlichen Instrumente die unterschiedlichen Komponenten der Gesamtnachfrage beeinflussen können. Die zweite Gruppe sind die exogenen Variablen bzw. jene Variablen, die außerhalb des Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Modells (AS-AD) liegen. Wie Tabelle 23-1 zeigt, sind einige dieser veränderlichen Größen (etwa Kriege oder Revolutionen) einer makroökonomischen Analyse nicht zugänglich, einige (etwa wirtschaftliche Aktivitäten im Ausland) können durch die inländische Politik nicht beeinflusst werden, und wieder andere (wie die Börse) haben ein bedeutendes Eigenleben. Welche Auswirkungen haben Veränderungen der Variablen, die der AD-Funktion zugrunde liegen? Betrachten wir die Situation, als die Vereinigten Staaten 2003 den Krieg gegen den Irak begannen. Zu den zusätzlichen Kosten für den Krieg zählen Löhne und Gehälter der Truppen, der Kauf von Munition und Ausrüstungsgegenständen sowie die Transportkosten. Diese Käufe bewirkten einen Anstieg der Staatsausgaben G. Wenn der Anstieg von G nicht durch eine andere Ausgabenkomponente ausgeglichen wird, verschiebt sich die Gesamtnachfragefunktion entsprechend der Erhöhung von G nach rechts außen. Ganz ähnlich würde eine Erhöhung der Geldmenge, eine bahnbrechende Innovation, die zur Erhöhung der Rentabilität einer neuen Investition führt, oder eine Wertsteigerung des Vermögens der Konsumenten aufgrund des Anstiegs der Börsenkurse zu einer Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und damit zu einer Verschiebung der Gesamtnachfragekurve (AD) nach außen führen. Abbildung 23-3(b) zeigt grafisch, wie die in Tabelle 23-1 aufgeführten Veränderungen die
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
Variable
673
Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage Variablen staatlicher Politik
Geldpolitik
Eine Ausweitung der Geldmenge führt zu niedrigeren Zinssätzen und günstigeren Kreditkonditionen, was höhere Investitionen und Ausgaben für dauerhafte Gebrauchsgüter begünstigt. In einer offenen Volkswirtschaft wirkt sich die Geldpolitik auf den Wechselkurs und die Nettoexporte aus.
Fiskalpolitik
Eine Erhöhung der Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen bedeutet eine direkte Ausgabenerhöhung: Steuersenkungen oder höhere Transferzahlungen lassen das verfügbare Einkommen ansteigen und vermehren den Konsum. Steuervergünstigungen für Investitionen können zu höheren Ausgaben in bestimmten Wirtschaftssektoren führen. Exogene Variablen
Produktion im Ausland
Ein Anwachsen der Produktion im Ausland führt zu einem Ansteigen der Nettoexporte.
Vermögenswerte
Ein Anstieg der Börsenkurse erhöht das Vermögen der Haushalte und damit auch den Konsum; außerdem führt dies zu niedrigeren Kapitalkosten und steigenden Investitionen.
Technische Fortschritte
Durch technische Fortschritte können sich neue Investitionschancen eröffnen. Wichtige Beispiele hierfür sind die Eisenbahn, Autos und Computer.
Sonstige
Politische Ereignisse, Freihandelsabkommen und das Ende des Kalten Krieges haben positive Auswirkungen auf die Wirtschaft sowie das Vertrauen der Konsumenten und führen zu steigenden Investitionen und Ausgaben für dauerhafte Gebrauchsgüter.
Tabelle 23-1. Viele Faktoren können zu einer Erhöhung der Gesamtnachfrage und zu einer Verschiebung der AD-Kurve nach außen führen Die Gesamtnachfragekurve setzt die Gesamtausgaben zum Preisniveau in Beziehung. Doch es gibt noch zahlreiche andere Faktoren, die sich auf die Gesamtnachfrage auswirken – manche wirtschaftspolitischen Instrumente, aber auch exogene Faktoren. Die Tabelle listet Veränderungen auf, die üblicherweise zu einem Anstieg der Gesamtnachfrage und einer Verschiebung der AD-Kurve führen.
gesamtwirtschaftliche Nachfragekurve (AD) beeinflussen würden. Um Ihr Verständnis zu überprüfen, stellen Sie eine ähnliche Tabelle mit Einflussfaktoren zusammen, die zu einer Abnahme der Gesamtnachfrage führen würden (siehe dazu auch Übung 4 am Ende dieses Kapitels).
Die relative Bedeutung der Bestimmungsfaktoren der Nachfrage Während Ökonomen generell darin übereinstimmen, welche Faktoren die Nachfrage be-
stimmen, so beurteilen sie deren Gewichtung doch recht unterschiedlich. Manche konzentrieren sich primär auf monetäre Einflüsse, wenn sie Veränderungen der Gesamtnachfrage untersuchen, wobei insbesondere die Rolle der Geldmenge betont wird. Nach Meinung dieser Ökonomen, die oft auch Monetaristen genannt werden, ist die Geldmenge der entscheidende Faktor für die Höhe der Gesamtausgaben. Andere Ökonomen konzentrieren sich indessen auf exogene Faktoren. Einige haben beispielsweise argumentiert, dass der technische Fortschritt Konjunkturzyklen entscheidend beeinflusst. So wurden etwa nach 1850
674
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
in den USA erstmals Eisenbahnen kommerziell genutzt. Diese Innovation läutete auf der ganzen Welt zwei Jahrzehnte massiver Investitionen in den Eisenbahnbau ein, die der industrialisierten Welt zu einer anhaltenden Hochkonjunktur verhalfen. Bei der Betrachtung der neunziger Jahre kamen Wirtschaftswissenschaftler zu dem Schluss, dass die durchgreifenden technischen Neuerungen bei der Computerhardware, der Software und im Kommunikationsbereich zu einer raschen Preissenkung in diesem Bereich und anschließend in der gesamten Volkswirtschaft führten; damit lösten sie einen deutlichen Anstieg des potenziellen Wachstums der Gesamtwirtschaft und eine bemerkenswerte Zunahme der Investitionen aus. Die herrschende Meinung in der Makroökonomie stellt heutzutage eine Synthese aus verschiedenen Ansätzen dar. Um Konjunkturzyklen zu verstehen, stützt sich die Ökonomie auf die Erkenntnisse von Keynes, der die Auswirkungen von Anstößen auf die Gesamtnachfrage als wichtigste Ursache zyklischer Schwankungen betonte. Diese Anstöße können von der Geld- oder Fiskalpolitik ausgehen oder durch Veränderungen im Privatsektor entstehen. Während des Zweiten Weltkriegs, als die Militärausgaben fast die Hälfte des BIP ausmachten und die Geldpolitik sich passiv verhielt, bestimmte die Fiskalpolitik maßgeblich die Veränderungen der Gesamtnachfrage. Während der siebziger und achtziger Jahre waren die Ölpreisschocks und die nachfolgende Reaktion der Geldpolitik die wichtigsten Bestimmungsfaktoren zyklischer Schwankungen. In den neunziger Jahren sowie von 2001–2003 verschreckten Kriege und Terrorismus die Konsumenten, sodass die Konsumausgaben und mit ihnen die Gesamtnachfrage sanken. Jede Periode hat ihre eigenen technischen, politischen oder militärischen Entwicklungen, die sich jeweils auf unterschiedliche Weise auf den Konjunkturzyklus auswirken. Wir haben nun die Hauptelemente der Theorie der Gesamtnachfrage betrachtet. Im nächsten Kapitel untersuchen wir diese The-
Teil 5
orie noch genauer, indem wir uns mit ihrem einfachsten Ansatz befassen, dem Multiplikatormodell.
Lassen sich Konjunkturzyklen vermeiden? Eine Betrachtung der Konjunkturzyklen in den Vereinigten Staaten im Zeitverlauf zeigt einen bemerkenswerten Trend zu höherer Stabilität während der letzten 150 Jahre (siehe Abbildung 23-3). Bis 1940 gab es zahlreiche Krisen und Depressionen – lang anhaltende Konjunkturrückgänge wie diejenigen in den siebziger und neunziger Jahren des 19. sowie in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Seit 1945 gibt es weniger und weniger deutlich ausgeprägte Konjunkturschwankungen, und viele Amerikaner begingen die Jahrtausendwende, ohne jemals einen stärkeren Wirtschaftsabschwung erlebt zu haben. Was ist geschehen? Manche glauben, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem heutzutage einfach stabiler ist als in der Vergangenheit. Teilweise lässt sich die Beständigkeit auf einen größeren und berechenbareren Staatssektor zurückführen. Unserer Ansicht nach ist jedoch wesentlich bedeutender, dass ein besseres Verständnis der Makroökonomie es den Regierungen heute erlaubt, ihre Geldund Fiskalpolitik einzusetzen, um nach einem Schock ein Abgleiten der Wirtschaft in eine Rezession zu verhindern oder zumindest dafür zu sorgen, dass Rezessionen sich nicht zu Depressionen auswachsen. Während der neunziger Jahre erlebten die USA die stabilste Zeit ihrer Wirtschaftsgeschichte. Manche fragten sich bereits, ob die Zeit der Konjunkturzyklen endgültig vorbei sei. Sie schrieben, dass wir dank freier Märkte und weiser Führung gravierende Rezessionen und die Inflation aus diesem Land verbannt hätten. Lässt sich eine derartige Prognose rechtfertigen? Wir glauben, dass es für solche Aussagen noch zu früh ist. Es mag in Nordamerika keine Konjunkturzyklen gegeben haben, aber in anderen Wirtschaftsräumen traten sie während der neunziger Jahre
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
deutlich häufiger als in früheren Jahrzehnten auf. Nehmen wir uns die folgenden prophetischen Worte von Arthur Okun, einem der führenden Analysten von Konjunkturzyklen, zu Herzen, die er gegen Ende des zweitlängsten Wirtschaftsaufschwungs in der amerikanischen Geschichte schrieb: Rezessionen werden heute im Grunde als vermeidbar qualifiziert, vergleichbar etwa einem Flugzeugabsturz, aber anders als Wirbelstürme. Es kommt jedoch nach wie vor zu Flugzeugabstürzen, und wir können auch nicht darauf bauen, dass wir über die nötige Weisheit
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oder die Fähigkeiten verfügen, um Rezessionen zu verhindern. Die Gefahr ihres Auftretens besteht nach wie vor. Die Kräfte, die zu wiederkehrenden Rezessionen führen, lauern auch heute noch im Hintergrund und warten nur auf ihren Einsatz.1
Kurz nachdem Okun diese Worte schrieb, begann für die Vereinigten Staaten eine der turbulentesten Phasen der Nachkriegsgeschichte. 1 Arthur M. Okun, The Political Economy of Prosperity (Norton, New York, 1970), S. 33ff.
Zusammenfassung A. Konjunkturzyklen 1.
2.
3.
Unter dem Begriff Konjunkturzyklus oder -schwankung verstehen wir Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Produktionsleistung, des Einkommens und der Beschäftigungslage, die durch eine umfassende Expansion oder Kontraktion vieler wirtschaftlicher Sektoren gekennzeichnet ist. Alle reifen Marktwirtschaften erleben Konjunkturzyklen. Wir unterscheiden die Phasen Aufschwung, Hochkonjunktur, Abschwung und Rezession. Viele Konjunkturzyklen entstehen, wenn eine Veränderung der Gesamtnachfrage zu drastischen Änderungen in der Produktionsleistung, der Beschäftigung oder bei den Preisen führt. Die Gesamtnachfragekurve verlagert sich, wenn Veränderungen der Konsumenten-, Unternehmens- oder Staatsausgaben zu einer Änderung der Gesamtausgaben in Relation zur Produktionskapazität einer Volkswirtschaft führen. Ein Rückgang der Gesamtnachfrage führt zu einer Rezession oder einer Depression. Ein Wirtschaftsaufschwung kann zu Inflation führen. Die Konjunkturzyklustheorien unterscheiden sich je nach ihrer Betonung exogener oder endogener Faktoren. Häufig wird exogenen Einflüssen, also etwa dem technischen Fortschritt, Wahlen, Kriegen, Änderungen der Wechselkurse oder Ölpreisschocks, große Bedeutung beigemessen. Den meisten Theorien zufolge werden die konjunkturellen Schwankungen von der Wechselwirkung zwischen exogenen Schocks und internen Mechanismen, beispielsweise dem Multiplikator und Verschiebungen der Investiti-
onsnachfrage, ausgelöst. Genauso wie Menschen an ganz unterschiedlichen Krankheiten leiden können, sind auch die konjunkturzyklischen Krankheitsbilder je nach Zeit und Ort ganz verschieden.
B. Analytische Grundlagen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage 4.
5.
Frühere Gesellschaften litten Hungersnöte aufgrund schlechter Ernten. In modernen Marktwirtschaften kann Armut inmitten des Überflusses auftreten, wenn eine unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und zu steigender Arbeitslosigkeit beiträgt. Ein anderes Mal verursacht ein übermäßiger Einsatz der Notenpresse eine galoppierende Inflation. Wenn sie die Faktoren verstehen, die die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflussen, einschließlich der staatlichen Fiskal- und Geldpolitik, können Wirtschaftwissenschaftler und Entscheidungsträger erfolgreiche Konzepte zur Abschwächung der Konjunkturzyklen entwikkeln. Die Gesamtnachfrage entspricht der Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft, die – bei konstanten sonstigen Einflussfaktoren – freiwillig bei einem gegebenen Preisniveau gekauft wird. Ausgabenbestandteile sind (a) der Konsum, der primär vom verfügbaren Einkommen abhängt, (b) die Investitionen, die durch das gegenwärtige und das erwartete Produktionsniveau sowie durch Zinssätze und Steuern bestimmt werden,
676
6.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
(c) die Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen sowie (d) die Nettoexporte, die durch die Produktions- und Preisniveaus im Ausland und im Inland sowie durch die Wechselkurse beeinflusst werden. Die gesamtwirtschaftlichen Nachfragekurven unterscheiden sich von den Nachfragekurven der mikroökonomischen Analyse. AD-Kurven setzen die Gesamtausgaben für sämtliche Produktionskomponenten zum Gesamtpreisniveau in Beziehung, wobei politische Instrumentarien und exogene Einflussfaktoren als konstant angenommen werden. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragekurve neigt sich primär wegen des Geldmengeneffektes nach unten. Dieser besagt, dass bei konstant gehal-
7.
Teil 5
tener nominaler Geldmenge die reale Geldmenge sinkt, wenn das Preisniveau steigt. Eine niedrigere reale Geldmenge bewirkt steigende Zinsen, erschwert die Kreditaufnahme und reduziert die realen Gesamtausgaben. Dies führt zu einer Bewegung entlang der unveränderten Gesamtnachfragekurve AD. Zu den Faktoren, die die Gesamtnachfrage verändern, gehören (a) makroökonomische Instrumente wie die staatliche Geld- und Fiskalpolitik und (b) exogene Variablen wie zum Beispiel der Außenhandel, technischer Fortschritt oder Kapitalverlagerungen auf den Wertpapiermärkten. Bei Änderungen dieser Variablen verschiebt sich die Gesamtnachfragekurve.
Begriffe zur Wiederholung Konjunkturzyklen oder -schwankungen
Gesamtwirtschaftliche Nachfrage
Konjunkturzyklen oder Konjunkturschwankungen Phasen der Konjunkturzyklen: Hochkonjunktur Depression Aufschwung Abschwung Rezession Verlagerung der Gesamtnachfragekurve und Konjunkturzyklen Theorie der exogenen und endogenen Einflüsse auf Konjunkturzyklen Makroökonomische Modelle
Reale Variable = nominale Variable ÷ Preisniveau Gesamtnachfrage, AD-Kurve Hauptkomponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage: C, I, G, X Abwärts geneigte AD-Kurve aufgrund des Geldmengeneffekts Faktoren, die zur Verschiebung der Gesamtnachfragekurve führen
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die klassische Untersuchung über Konjunkturzyklen, an der sich führende Wissenschaftler des National Bureau of Economic Research (NBER) beteiligten, stammt von Arthur F. Burns und Wesley Clair Mitchell: Measuring Business Cycles (Columbia University, Press, New York, 1946). Eine Diskussion des NBERAnsatzes findet sich in Geoffrey H. Moore, Business Cycles, Inflation and Forecasting, 2. Aufl. (Ballinger, Cambridge, Mass., 1983). Einer der Hauptkritiker der Keynesianischen Konjunkturzyklustheorie ist Robert E. Lucas. Siehe dazu seine Studies in Business-Cycle Theory (MIT Press, Cambridge, Mass., 1981). Deutschsprachige Literatur: Alfred Maußner, Konjunkturtheorie (Springer, Heidelberg New York, 1994).
Kapitel 23 Konjunkturzyklen und die Theorie der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage
677
Websites Eine Arbeitsgemeinschaft von Makroökonomen betreibt das NBER-Programm zu Wirtschaftsschwankungen und -wachstum. Eine Auswahl ihrer Schriften und Daten finden Sie unter www.nber.org/ programs/efg/efg.html. Das NBER datiert auch die Konjunkturzyklen für die Vereinigten Staaten, deren Verläufe Sie unter www.nber.org/cycles.html einsehen können. Daten und Analysen zu Konjunkturzyklen finden Sie auch auf der Website des Bureau of Economic Analysis unter www.bea.gov. Auf den ersten Seiten des Survey of Current Business, der unter www.bea.gov/scb/ index.htm bereitsteht, werden die jüngsten Entwicklungen des Konjunkturzyklus diskutiert.
Übungen 1.
2.
3.
Definieren Sie den Unterschied zwischen Bewegungen entlang der AD-Kurve und Verlagerungen der AD-Kurve. Erläutern Sie, warum eine Steigerung der potenziellen Produktion die AS-Kurve verschiebt und zu einer Bewegung entlang der AD-Kurve führt. Erklären Sie, warum eine Steuersenkung die AD-Kurve nach außen verschiebt (Zunahme der Gesamtnachfrage). Welche Wirkung hätte eine Verringerung der Geldmenge (eine Geldverknappung) auf die Gesamtnachfrage? Beschreiben Sie die verschiedenen Phasen eines Konjunkturzyklus. In welcher Phase befindet sich die US-amerikanische Wirtschaft zurzeit? Manche Veränderungen der Gesamtproduktion werden durch die Nachfrage verursacht, andere resultieren aus schockartigen Einflüssen auf das Angebot. a. Nennen Sie Beispiele für beide Fälle. Erklären Sie mit Hilfe des AS-AD-Instrumentariums, wie man zwischen einem Wirtschaftsabschwung, der von der Angebotsseite her resultiert, und einem, der von der Nachfrageseite her verursacht wurde, unterscheidet. (Hinweis: Was geschieht in den unterschiedlichen Situationen mit P?) b. Geben Sie an, welches der folgenden Ereignisse zu einem von der Angebots- beziehungsweise Nachfrageseite her bestimmten Konjunkturzyklus führen wird, und erläutern Sie die Auswirkungen mit Hilfe eines AS-AD-Diagramms wie in Abbildung 23-4: Erhöhung der Verteidigungsausgaben in Kriegszeiten; Zerstörung von Fabriken und Elektrizitätswerken durch eine Bombardierung im Krieg; ein Rückgang der Nettoexporte aufgrund einer schweren Rezession in Europa; ein deutlicher Innovationsschub und Anstieg der Produktivität durch zunehmende Nutzung von Computern.
4.
5.
6.
Stellen Sie in Analogie zu Tabelle 23-1 eine weitere Tabelle auf, in der Sie Ereignisse aufzählen, die zu einem Rückgang der Gesamtnachfrage führen. (Dabei sollten Sie nicht einfach die Richtung der in Tabelle 23-1 genannten Faktoren ändern, sondern sich neue eigene Beispiele überlegen.) In jüngster Zeit ist eine neue Theorie der realen Konjunkturzyklen (real business cycles = RBC) entwickelt worden (dieser Ansatz wird in Kapitel 33 genauer untersucht). Die RBC-Theorie behauptet, dass Konjunkturzyklen durch plötzliche Einwirkungen auf die Produktivität verursacht werden, die sich dann innerhalb der Gesamtwirtschaft auswirken. a. Demonstrieren Sie die RBC-Theorie im ASAD-Diagramm. b. Untersuchen Sie, ob die RBC-Theorie die üblichen Eigenschaften von Konjunkturzyklen erklären kann, wie sie oben im Abschnitt „Merkmale des Konjunkturzyklus“ beschrieben sind. Für Fortgeschrittene: Nehmen Sie zwei Würfel und tun Sie Folgendes, um zu probieren, ob Sie etwas Ähnliches wie einen Konjunkturzyklus produzieren können: Werfen Sie die Würfel 20 Mal oder öfter und schreiben Sie die erhaltenen Zahlen auf. Bilden Sie fünfmal den gleitenden Durchschnitt aus fünf aufeinander folgenden Zahlen. Tragen Sie die Ergebnisse in eine Grafik ein. Sie werden eine hohe Ähnlichkeit zu Veränderungen des BIP, der Arbeitslosigkeit oder der Inflation aufweisen. Eine Zahlenfolge, die wir mit unseren Würfen erzielten, war 7, 4, 10, 3, 7, 11, 7, 2, 9, 10 und so weiter. Daraus bildeten wir die Durchschnitte (7 + 4 + 10 + 3 + 7) ÷ 5 = 6,2; (4 + 10 + 3 + 7 + 11) ÷ 5 = 7, und so fort. Warum ähnelt diese Zahlenfolge einem Konjunkturzyklus? [Hinweis: Die vom Würfel erzeugten Zufallszahlen entsprechen externen
678
7.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
plötzlichen Einwirkungen auf Investitionen oder Kriegen. Der gleitende Durchschnitt funktioniert ähnlich wie der interne Multiplikator oder Ausgleichsmechanismus des Wirtschaftssystems (wie bei einem Schaukelstuhl). Zusammen genommen erzeugen diese Mechanismen etwas, das einem Konjunkturzyklus gleicht.] Für Fortgeschrittene: Ein bedeutender Makroökonom, George Perry von der Brookings Institution, schrieb nach dem Golfkrieg von 1990 bis 1991 Folgendes: Kriege sind zumeist gut für die US-amerikanische Wirtschaft gewesen. Üblicherweise führen sie zu steigender Produktion, niedriger Arbeitslosigkeit und einer vollen Ausnutzung der Industriekapazität, da die Nachfrage durch das Militär zu der normalen Wirtschaftstätigkeit hinzukommt. Dieses Mal haben wir erstmalig einen Krieg und eine Rezession gleichzeitig beobachtet. Was verrät uns diese Anomalie über die Rezession? (Brookings Review, Frühjahr 1991). Nutzen Sie das Internet oder gehen Sie in eine Bibliothek und finden Sie Daten über die wesentlichen Bestimmungsfaktoren der Gesamtnachfrage während des Golfkriegs von 1990 bis 1991 und früherer Kriege (Zweiter Weltkrieg, Koreakrieg, Vietnamkrieg). Untersuchen Sie insbesondere die Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (vor allem die Verteidigungsausgaben), Steuern, Investitionen und die Zinssätze. Können Sie die von Perry beschriebene Anomalie erklären? (Hinweise dazu, wo Sie makroökonomische Daten im Internet finden, werden in der Einleitung sowie im Abschnitt „Websites“ zu Kapitel 21 gegeben.)
8.
Teil 5
Statistische Übung: Finden Sie Jahreszahlen für das BIP der Vereinigten Staaten für den Zeitraum von 1948–2003 (nutzen Sie dazu die Website des Bureau of Economic Analysis, www.bea.gov.). a. Wenn wir die Jahre als „Rezession“ definieren, in denen das reale BIP sank, in welchen Jahren herrschte dann Rezession? (Beachten Sie, dass dies nicht die herkömmliche Definition einer Rezession ist.) b. Berechnen Sie die durchschnittliche Wachstumsrate des realen BIP für die Zeiträume von 1948–1973, 1973–1988 und 1988 bis 2003. Wie hat sich die durchschnittliche Wachstumsrate während dieser Zeiträume verändert? [Hinweis: Die durchschnittliche Wachstumsrate ergibt sich aus der Gleichung: (1 + g) = (BIP1973/BIP1948)1/(1973–1948), wobei g die durchschnittliche Wachstumsrate pro Jahr angibt.] c. Manche Makroökonomen identifizieren so genannte „Wachstumsrezessionen“, worunter Perioden verstanden werden, in denen das BIP deutlich langsamer wächst als im allgemeinen Trend. Lassen Sie uns beispielsweise eine „Wachstumsrezession“ als eine Periode definieren, in der das reale BIP-Wachstum mindestens zwei Prozent unter dem langjährigen Durchschnitt lag. In welchen Jahren herrschte während des betrachteten Zeitraums eine Wachstumsrezession?
679
KAPITEL 24 Das Multiplikatormodell
Der bemerkenswerteste Fehler der Wirtschaftsgesellschaft, in der wir leben, ist ihr Unvermögen, für Vollbeschäftigung zu sorgen, und ihre willkürliche und ungerechte Verteilung von Wohlstand und Einkommen. John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1935)
Die Vereinigten Staaten und andere Marktwirtschaften leiden häufig an unvorhersehbaren Schwankungen der Produktion, der Preise und der Beschäftigung. In der Vergangenheit traten diese Schwankungen, die als Konjunkturzyklen bezeichnet werden, üblicherweise auf, weil sich die Ausgaben für Investitionen, dauerhafte Gebrauchsgüter oder die Verteidigung änderten. Als Wirtschaftswissenschaftler wollen wir den Mechanismus verstehen, durch den Ausgabenänderungen auch zu Veränderungen von Produktion und Beschäftigung führen. Dieses Kapitel entwickelt den einfachsten Ansatz zum Verständnis von Konjunkturzyklen, das keynesianische Multiplikatormodell. Im ersten Teil dieses Kapitels werden wir sehen, wie ein Anstieg der Investitionen die Einkommen der Verbraucher erhöht und dadurch zu einer Kettenreaktion von Ausgabenerhöhungen führt, die sich im Zeitverlauf stetig abschwächt. Eine Zunahme der Investitionen wird daher zu einem höheren Produktionswachstum multipliziert. Der Multiplikatormechanismus gilt nicht nur für Investitionen, sondern auf breiter Basis, wie wir im zweiten Teil dieses Kapitels erfahren werden. Auch Veränderungen der Staatsausgaben, der Exporte oder sonstiger exogener Ausgabenströme werden zu höheren Produktionsveränderungen verstärkt. Weiter unten werden wir zeigen, wie Käufe des Staates auf ganz ähnliche Weise wie Investitionen eine weit größere Veränderung der Produktion bewirken; diese Tatsache hat viele Makroökonomen dazu bewegt, den Einsatz der Fiskalpolitik zur Stabilisierung der Wirtschaft zu empfehlen. Das Multiplikatormodell ist das erste vollständige Modell zur Bestimmung kurzfristiger Produktionsveränderungen, das wir entwickeln werden. Es ist jedoch eine stark vereinfachte Beschreibung der Wirtschaft, denn es lässt wesentliche Elemente unberücksichtigt, beispielsweise die Finanzmärkte und die Geldpolitik, Interaktionen mit dem Rest der Welt sowie Preis- und Lohnentwicklungen. Diese zusätzlichen Aspekte werden zu gegebener Zeit erörtert werden. Im Au-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
genblick konzentrieren wir uns hauptsächlich auf die bedeutenden Auswirkungen, die Veränderungen von Investitionen und Staatsausgaben für die Höhe der Produktion eines Landes haben.
A. Das einfache Multiplikatormodell Wenn Ökonomen eine einfache Antwort auf die Frage suchen, warum eine drastische Erhöhung von Militärausgaben in Kriegszeiten zu einem raschen Anstieg des BIP führt, warum die Steuersenkungen in den sechziger oder achtziger Jahren den Vereinigten Staaten lange Phasen des Aufschwungs bescherten oder auch, warum der Investitionsboom in den späten neunziger Jahren zur längsten Phase wirtschaftlicher Expansion führte, die die USA je erlebt haben, dann greifen sie häufig auf das Multiplikatormodell zurück. Was genau ist das Multiplikatormodell? Es handelt sich dabei um eine makroökonomische Theorie, die zu erklären versucht, wodurch die Produktionsleistung kurzfristig bestimmt wird. Der Begriff „Multiplikator“ wurde deshalb gewählt, weil man erkannte, dass jede Veränderung der Ausgaben um eine Geldeinheit (etwa durch eine Investition) zu einer Änderung des BIP um mehr als eine Geldeinheit (das heißt um ein Vielfaches) führt. Das Multiplikatormodell erklärt, wie plötzliche Einwirkungen auf die Investitionen, den Außenhandel sowie Steuern und Staatsausgaben das Produktionsniveau und die Beschäftigungslage in einer Volkswirtschaft beeinflussen können. Dem Multiplikatormodell liegt die Annahme zugrunde, dass Löhne und Preise konstant sind und es unbeschäftigte Ressourcen gibt. Darüber hinaus ignoriert es die Rolle der Geldpolitik und unterstellt, dass die Finanzmärkte nicht auf Veränderungen in der Wirtschaft reagieren.
Teil 5
Die Bestimmung von Produktion und Einkommen durch die Sparund Investitionsfunktion Zunächst zeigen wir, wie Investitionen und Ersparnisse im Multiplikatormodell gleichgesetzt werden, um eine grob vereinfachte Volkswirtschaft zu konstruieren. Erinnern Sie sich an die Grafik der gesamtwirtschaftlichen Konsum- und Sparfunktionen in Kapitel 22; sie werden in Abbildung 24-1 noch einmal dargestellt.1 Jeder Punkt auf der Konsumfunktion zeigt für jede gegebene Höhe des verfügbaren Einkommens den gewünschten oder geplanten Konsum. Entsprechend verdeutlicht jeder Punkt auf der Sparfunktion die gewünschten oder geplanten Ersparnisse für jede Höhe des verfügbaren Einkommens. Die beiden Funktionen sind eng miteinander verbunden: Da C + S immer dem verfügbaren Einkommen entspricht, stellen die Konsum- und die Sparkurve Spiegelbilder dar, die in der Summe immer die 45˚-Linie ergeben. Wir übernehmen die Sparfunktion (SS) zudem in Abbildung 24-2. Wir wissen inzwischen, dass Ersparnisse und Investitionen von völlig unterschiedlichen Faktoren bestimmt werden: Ersparnisse sind primär vom verfügbaren Einkommen abhängig, während Investitionen durch die Produktionsleistung, Zinssätze, die Steuerpolitik und das Vertrauen der Unternehmen bestimmt werden. Zur Vereinfachung behandeln wir hier Investitionen als exogene Variable, deren Höhe von Faktoren außerhalb unseres Modells bestimmt wird. Nehmen wir an, dass sich die Investitionen, unabhängig von der Höhe des BIP, jährlich auf exakt US-$ 200 Milliarden belaufen. Dann müssen wir in einem Diagramm, in dem Investitionen und BIP zueinander in 1 Hier vereinfachen wir zunächst, indem wir Steuern, nicht ausgeschüttete Unternehmensgewinne, Außenhandel, Abschreibungen und die Fiskalpolitik unberücksichtigt lassen. Im Moment nehmen wir an, das verfügbare Einkommen sei mit dem BIP identisch.
681
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
(a) Konsumfunktion Q
P
Konsum
C
A Gleichgewichtspunkt E
500 45° 500 Bruttoinlandsprodukt
QP
BIP
(b) Sparfunktion
+
I
I 0
BIP
B M S
Bruttoinlandsprodukt
QP
Abbildung 24-2: Das Gleichgewichtsniveau der gesamtwirtschaftlichen Produktion wird durch die Schnittstelle der Spar- und Investitionsfunktionen bestimmt
C
0
QP S
– B
Ersparnis
Ersparnis und Investition
C
+
QP
S
S B
0
BIP S QP
– Bruttoinlandsprodukt
Abbildung 24-1: Die gesamtwirtschaftliche Produktion bestimmt die Höhe von Konsum und Ersparnissen Erinnern Sie sich an die Konsum- und Sparfunktionen CC und SS aus Kapitel 22. Diese beiden Kurven verlaufen spiegelbildlich, daher entspricht der Gleichgewichtspunkt B im oberen Diagramm der Sparschwelle im unteren Diagramm, wo SS die Abszisse schneidet. Die beiden mit „500“ bezeichneten Punkte in (a) betonen die bedeutende Eigenschaft der 45˚-Linie: Jeder Punkt auf ihr ist von der waagrechten Achse genauso weit entfernt wie von der senkrechten Achse. Das graue, durch QPQP gekennzeichnete Band zeigt die Höhe des potenziellen BIP.
Beziehung gesetzt werden, die Investitionsfunktion als horizontale Gerade einzeichnen. Der Fall exogener Investitionen wird in Abbildung 24-2 dargestellt, wobei die Investitionsfunktion mit II und die Sparfunktion mit SS bezeichnet wird. (Beachten Sie, dass II nicht der römischen Ziffer „2“ entspricht.)
Die waagrechte Linie II zeigt ein konstantes Investitionsniveau an. E kennzeichnet den Punkt, an dem sich die Investitions- und Sparkurve schneiden. Das BIP erreicht sein Gleichgewicht im Schnittpunkt der SS- und II-Kurven, da dies das einzige BIP-Niveau ist, bei dem die geplanten Ersparnisse der Haushalte genau den geplanten Investitionen der Unternehmen entsprechen.
Die Spar- und die Investitionsfunktion schneiden sich in Punkt E in Abbildung 24-2. Dieser Punkt entspricht der Höhe des BIP in Punkt M und stellt das Gleichgewichtsniveau der Produktion im Multiplikatormodell dar. Der Schnittpunkt von Spar- und Investitionsfunktion ist also das Gleichgewichtsniveau des BIP, auf das sich die gesamtwirtschaftliche Produktion hinbewegt. Die Bedeutung des Gleichgewichts: eine Erinnerung Wenn wir Konjunkturzyklen oder das Wirtschaftswachstum untersuchen, dann halten wir oft Ausschau nach dem makroökonomischen „Gleichgewicht“. Was bedeutet dieser Ausdruck genau? Ein Gleichgewicht ist eine Situation, in der die verschiedenen betrachteten Kräfte einander ausgleichen. Wenn Sie einen Ball einen Hügel hinabrollen sehen, dann befindet sich dieser Ball nicht im Gleichgewicht, denn es sind Kräfte am Werk, die ihn nach unten treiben (hier handelt es sich um ein Ungleichgewicht).
682
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Wenn der Ball in einem Loch am Fuß des Hügels zur Ruhe kommt, dann halten sich die auf ihn einwirkenden Kräfte die Waage, und der Ball ist im Gleichgewicht. In der Markoökonomie sprechen wir dort von einem Gleichgewichtsniveau der Produktion, wo Ausgaben und Ersparnisse sich die Waage halten; die Produktion bleibt im Gleichgewichtszustand, bis die Volkswirtschaft von den auf sie einwirkenden Kräften verändert wird.
Bei Betrachtung von Abbildung 24-2 erkennen wir E als Gleichgewichtspunkt. Der Grund liegt darin, dass bei dieser Produktionshöhe die geplanten Ersparnisse der Haushalte den geplanten Investitionen der Unternehmen entsprechen. Falls Ersparnisse und Investitionen nicht gleich sind, wird sich das Produktionsniveau entweder nach unten oder nach oben anpassen. Die in Abbildung 24-2 gezeigten Spar- und Investitionsfunktionen beschreiben gewünschte (oder geplante) Niveaus. Folglich planen Unternehmen, beim Produktionsniveau M Investitionsausgaben im Ausmaß des vertikalen Abstandes ME zu tätigen. Ebenso wünschen Haushalte, bei diesem Einkommensniveau Ersparnisse in Höhe von ME zu bilden. Daraus folgt aber nicht logisch zwingend, dass die tatsächlichen und die geplanten Ersparnisse (oder Investitionen) übereinstimmen müssen. Menschen können Fehler machen oder zukünftige Ereignisse falsch voraussagen. Und wenn solche Fehler passieren, können Ersparnisse und Investitionen von den geplanten Niveaus abweichen. Um zu erkennen, wie sich die Produktion anpasst, bis das geplante Spar- und Investitionsniveau übereinstimmen, werden wir nachfolgend drei Fälle betrachten. Im ersten Fall befindet sich die Volkswirtschaft im Punkt E, wo sich die Kurve der von den Unternehmen geplanten Investitionen mit der Kurve der von den Haushalten gewünschten Ersparnisse schneidet. Wenn die Pläne und Wünsche aller Beteiligten erfüllt werden, sind alle zufrieden und werden sich in Zukunft genauso verhalten wie bisher.
Teil 5
An diesem Gleichgewichtspunkt werden sich bei den Unternehmen weder Lagerbestände anhäufen, noch werden sie steigende Umsätze dazu verleiten, die Produktion auszuweiten. Produktion, Beschäftigung, Einkommen und Ausgaben werden sich auf ihrer bisherigen Höhe halten. Das BIP verharrt in E, und wir können mit Recht von einem Gleichgewicht sprechen. Im zweiten Fall – dem eines Ungleichgewichts – befindet sich das BIP oberhalb von E. Betrachten wir Punkt A, an dem das BIP rechts von M ein Einkommensniveau hat, bei dem die Sparfunktion über der Investitionsfunktion liegt. Hier handelt es sich nicht um ein Gleichgewicht, weil bei diesem Einkommensniveau die Haushalte mehr sparen, als die Unternehmen gewillt sind zu investieren. Infolgedessen werden die Unternehmen weniger Kunden und höhere Bestände an unverkaufter Ware haben, als sie möchten. Was können die Unternehmen tun, um die Lage zu ändern? Sie können ihre Produktion drosseln und Arbeitskräfte entlassen. Dadurch wird das BIP sinken, was in Abbildung 24-2 zu einer Bewegung der Produktion nach links führt. Die Volkswirtschaft kommt erst wieder ins Gleichgewicht, wenn sie E erreicht, wo kein Hang zu Veränderungen mehr gegeben ist. Den dritten Fall sollten Sie inzwischen selbst analysieren können. Zeigen Sie, dass bei einem BIP, das unterhalb des Gleichgewichtsniveaus E liegt, starke Kräfte wirksam werden, die es wieder auf E erhöhen. Alle drei Fälle führen zum selben Ergebnis: Das Gleichgewichtsniveau des BIP liegt in Punkt E, wo die geplanten Ersparnisse den geplanten Investitionen entsprechen. Bei jedem anderen Produktionsniveau unterscheidet sich die geplante Ersparnisbildung der Haushalte von den gewünschten Investitionen der Unternehmen. Diese Diskrepanz wird die Unternehmen veranlassen, ihre Produktions- und Beschäftigungsniveaus so lan-
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Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
QP
Gesamtausgaben (TE)
C + I = TE E
C
I
C+I
I
C
45° 0
D
QP
B
BIP
M Bruttoinlandsprodukt
Abbildung 24-3: Im Einnahmen-Ausgaben-Modell findet man das Gleichgewichts-BIP an der Schnittstelle der Funktion C + I = TE mit der 45˚-Linie Addiert man II zu CC, erhält man die (C + I)-Kurve der geplanten Gesamtausgaben. In E, wo diese Kurve die 45˚-Linie schneidet, erhalten wir dasselbe Gleichgewicht wie im Diagramm der Ersparnis- und Investitionsfunktionen. (Beachten Sie die Ähnlichkeit zwischen dieser und Abbildung 24-2: Die zu CC addierten Investitionen sind mit II aus Abbildung 24-2 identisch, was auch für den Schnittpunkt E gelten muss.)
ge zu variieren, bis die Volkswirtschaft ihr Gleichgewichtsniveau gefunden hat.
Die Bestimmung der Produktion durch die Gesamtausgaben Ein zweiter Ansatz, den Studenten häufig intuitiv leichter verständlich finden, besteht darin, die gesamtwirtschaftliche Produktion über die Gesamtausgaben zu bestimmen. Dieser Ansatz wird in Abbildung 24-3 dargestellt, wo die Kurve der Gesamtausgaben derjenigen der Gesamtproduktion oder des Gesamteinkommen gegenüber gestellt wird. Die schwarze Kurve (CC) stellt die Konsumfunktion dar, die das zu jeder gegebenen Einkommenshöhe gewünschte Konsumniveau zeigt. Wenn wir nun die geplanten Investitionen
(mit konstanter Höhe I) zur Konsumfunktion addieren, erhalten wir die geplanten Gesamtausgaben TE (total expenditure), die in Abbildung 24-3 durch die rostfarbene Kurve (C + I) dargestellt werden. Wir zeichnen nun noch die 45˚-Linie ein, um den Gleichgewichtspunkt ermitteln zu können. In jedem Punkt auf der 45˚-Linie entsprechen die gewünschten Gesamtausgaben (vertikal gemessen) exakt dem gesamten Produktionsniveau (horizontal gemessen). Nun können wir das Gleichgewichtsniveau der Produktion in Abbildung 24-3 bestimmen. Dort, wo die geplanten Gesamtausgaben, dargestellt durch die TE-Kurve, der Gesamtproduktion entsprechen, befindet sich die Volkswirtschaft im Gleichgewicht. Die Gesamtausgabenfunktion (TE) zeigt das gewünschte Ausgabenniveau der Haushalte und der Unternehmen bei jeder gegebenen gesamtwirtschaftlichen Produktionshöhe. Die Volkswirtschaft ist in dem Punkt im Gleichgewicht, wo die Kurve C + I = TE die 45˚-Linie schneidet – in Punkt E in Abbildung 24-3. In diesem Punkt E ist die Volkswirtschaft deshalb im Gleichgewicht, weil die geplanten Konsum- und Investitionsausgaben exakt der Produktionshöhe entsprechen.
Der Anpassungsmechanismus Es ist wichtig zu verstehen, weshalb in Punkt E Gleichgewicht herrscht. Eine Volkswirtschaft ist im Gleichgewicht, wenn die geplanten Gesamtausgaben (für C und I) der geplanten Produktion entsprechen. Was geschieht, wenn es zu einer Abweichung vom Gleichgewichtspunkt kommt, wie zum Beispiel beim Produktionsniveau D in Abbildung 24-3? Bei einer Produktion in dieser Höhe liegt die Kurve der Gesamtausgaben (C + I) oberhalb der 45˚-Linie; die geplanten Gesamtausgaben sind somit höher als die geplante Produktion. Damit kaufen die Konsumenten mehr Waren, als die Unternehmen produzieren. Die Lager der Autohändler leeren sich, und die
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Computerproduktion kann kaum noch Schritt halten. In dieser Ungleichgewichtssituation werden Autohändler und Computerhersteller ihr Angebot erhöhen. Die Autoproduzenten werden entlassene Arbeiter wieder einstellen und ihre Produktion beschleunigen, Computerhersteller zusätzliche Schichten einführen. Das heißt, eine Diskrepanz zwischen den geplanten Gesamtausgaben und der Gesamtproduktion führt zu einer Anpassung der Produktion. Wir erkennen dank dieser Argumentationskette, dass die Volkswirtschaft nur im Punkt E im Gleichgewicht ist, wenn Unternehmen wertmäßig so viel produzieren, wie Haushalte für Konsum und andere Unternehmen für Investitionen auszugeben planen. (Sie sollten diesen Gedankengang auch für den Fall durchspielen, dass das Produktionsniveau höher als im Gleichgewichtspunkt E liegt.) Geplante und tatsächliche Beträge In diesem Abschnitt sprechen wir wiederholt über „geplante“ oder „gewünschte“ Ausgaben und Produktionsmengen. Diese Wörter lenken die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen (1) der Höhe von geplantem oder gewünschtem Konsum beziehungsweise Investitionen, die durch Konsum- und Investitionsfunktion dargestellt werden, und (2) der tatsächlichen oder realisierten Höhe des Konsums beziehungsweise der Investitionen, die nachträglich festgestellt werden. Der folgende Dialog mag Ihnen helfen, sich diesen Unterschied vor Augen zu führen: Confusio: Ich dachte, du hättest gesagt, dass die Ersparnisse immer mit den Investitionen übereinstimmen. Clario: Das stimmt. So wie sie in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gemessen werden, sind Ersparnisse und Investitionen immer genau gleich, im Aufschwung wie im Abschwung.
Teil 5
Confusio: Aber warum muss ich mir dann um Pläne und Wünsche Gedanken machen, wenn S und I immer identisch sind? Clario: Der Grund liegt darin, dass eine Wirtschaft nur dann im Gleichgewicht ist, wenn Unternehmen und Konsumenten die von ihnen gewünschten Mengen produzieren und verbrauchen. Confusio: Was passiert, wenn die geplanten Mengen von den tatsächlichen abweichen? Clario: Die wirklichen Investitionen unterscheiden sich häufig von den geplanten Investitionen. Beispielsweise könnte General Motors weniger Autos verkaufen als ursprünglich geplant. Wenn das passiert, wachsen die Lagerbestände von GM. Diese ungeplante Zunahme der Investitionen in Lagerbestände stellt kein Gleichgewicht dar, daher wird GM seine Produktion drosseln. Confusio: Aha! Jetzt verstehe ich: Nur wenn das Produktionsniveau so hoch ist, dass die geplanten Ausgaben für C + I der geplanten Produktion entsprechen, werden Produktion, Einkommen oder Ausgaben nicht zu Änderungen neigen. Clario: Genau.
Ein Rechenbeispiel Ein Rechenbeispiel kann vielleicht verdeutlichen, warum sich das Gleichgewichtsniveau der Produktion genau dort befindet, wo die geplanten Gesamtausgaben und die geplante Produktion übereinstimmen. Tabelle 24-1 zeigt ein einfaches Beispiel für die Konsum- und Sparfunktion. Die Einkommenshöhe, bei der die Volkswirtschaft noch zu arm ist, um Nettoersparnisse zu bilden, wird auf US-$ 3.000 Milliarden (US-$ 3 Billionen) geschätzt. Jede Einkommensänderung im Umfang von US-$ 300 Milliarden wird annahmegemäß eine Ersparnisänderung von US-$ 100 Milliarden und eine Konsumänderung von US-$ 200 Milliarden nach sich ziehen. Anders ausgedrückt: Der Vereinfachung halber nehmen wir die Grenzneigung zum
685
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
Das Gleichgewichts-BIP ist dort zu finden, wo die Produktion den geplanten Ausgaben entspricht (in Mrd. US- $) (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) BIP und Geplanter Geplante Geplante BIP Geplante Auswirkunverfügbares Konsum Ersparnisse InvesAusgaben gen auf die Einkommen titionen (Konsum Produktion und Investitionen) (3) = (1) – (2) 4.200 3.900 3.600 3.300 3.000 2.700
3.800 3.600 3.400 3.200 3.000 2.800
400 300 200 100 0 –100
(5) = (1) 200 200 200 200 200 200
4.200 3.900 3.600 3.300 3.000 2.700
> > = < < <
(6) = (2) + (4) 4.000 3.800 3.600 3.400 3.200 3.000
Kontraktion Kontraktion Gleichgewicht Expansion Expansion Expansion
Tabelle 24-1: Ein Zahlenbeispiel verdeutlicht, dass sich die Produktion im Gleichgewicht befindet, wo die geplanten Ausgaben dem BIP entsprechen Die dunklere rostfarbene Zeile zeigt das Gleichgewichtsniveau des BIP, zu dem die US-$ 3.600 an Produktion genau den US-$ 3.600 entsprechen, welche die Haushalte ausgeben und die Unternehmen investieren wollen. In den darüber liegenden Zeilen sind die Unternehmen gezwungen, unfreiwillig in Lagerbestände zu investieren. Darauf werden sie mit Produktionssenkungen reagieren, bis das Gleichgewichtsniveau des BIP erreicht ist. Interpretieren Sie die unteren Zeilen, in denen eine Tendenz zur Expansion des BIP hin zum Gleichgewicht zu erkennen ist.
Konsum (MPC) als konstant und gleich 2/3 an. Damit beträgt MPS 1/3. Wir nehmen weiter an, dass die Investitionen exogen gegeben sind. Das einzige Investitionsniveau, das auf unbegrenzte Zeit bestehen kann, liegt bei US-$ 200 Milliarden, wie in Spalte (4) von Tabelle 24-1 dargestellt. Das heißt, dass bei jeder Höhe des BIP die Unternehmen den Kauf von Investitionsgütern im Ausmaß von genau US-$ 200 Milliarden planen, nicht mehr und nicht weniger. Die entscheidenden Spalten sind (5) und (6). Spalte (5) enthält das BIP und stellt nichts anderes als eine Kopie von Spalte (1) dar. Die Zahlen der Spalte (6) zeigen, was die Unternehmen tatsächlich jahraus und jahrein verkaufen; dieser Wert entspricht der Summe der geplanten Konsum- und Investitionsausgaben. Diese Daten entsprechen der Kurve der Gesamtausgaben (C + I) in Abbildung 24-3. Wenn die Unternehmen in ihrer Gesamtheit mehr produzieren, als die Verbraucher
ihnen abkaufen und sie selber investieren wollen, dann werden sie unfreiwillig ihre Lager mit unverkäuflichen Waren füllen. Aus der ersten Zeile von Tabelle 24-1 ersehen wir, dass im Fall, dass die Unternehmen zeitweise Produkte im Wert von US$ 4.200 Milliarden herstellen, die geplanten Gesamtausgaben (Spalte 6) sich nur auf US$ 4.000 Milliarden belaufen. In dieser Situation entstehen überschüssige Lagerbestände. Die Unternehmen werden daraufhin ihre Produktion einschränken, und das BIP wird fallen. Im gegenteiligen Fall, der in der letzten Reihe von Tabelle 24-1 dargestellt ist, belaufen sich die Gesamtausgaben auf US$ 3.000 Milliarden und die Gesamtproduktion auf US-$ 2.700 Milliarden. In diesem Fall werden die Unternehmen aufgrund der schwindenden Lagerbestände ihr Produktionsniveau erhöhen, was zu einem Wachstum des BIP führt.
686
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Wenn also die Unternehmer insgesamt vorübergehend mehr produzieren, als sie gewinnbringend verkaufen können, dann schränken sie ihre Aktivitäten ein, und das BIP fällt. Verkaufen die Unternehmen in der Summe mehr, als sie gerade produzieren, weiten sie ihre Produktion aus, und das BIP steigt. Nur wenn die Höhe der Gesamtproduktion in Spalte (5) genau den geplanten Gesamtausgaben (TE) in Spalte (6) entspricht, herrscht ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Nur im Gleichgewicht reichen die Verkäufe der Unternehmen genau aus, um den derzeitigen Umfang der Gesamtproduktion zu rechtfertigen. Das BIP wird weder steigen noch fallen.
Der Multiplikator Wo finden wir den Multiplikator in den oben beschriebenen Beziehungen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zuerst vergegenwärtigen, wie Veränderungen der exogenen Investitionsausgaben das BIP beeinflussen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine Erhöhung der Investitionsausgaben die Produktion und die Beschäftigung ansteigen lässt. Aber um wie viel? Das Multiplikatormodell zeigt, dass eine Zunahme der Investitionsausgaben zu einer Steigerung des BIP führt, die ein Mehrfaches der ursprünglichen Ausgaben ausmacht. Als Multiplikator bezeichnet man die Auswirkung, die eine Veränderung exogener Ausgaben um eine Geldeinheit auf die Gesamtproduktion hat. Im einfachen (C + I)Modell ist der Multiplikator das Verhältnis der Veränderung der Gesamtproduktion zur Investitionsänderung. Beachten Sie, dass die Definition des Multiplikators sich auf die Veränderung der Produktion pro Einheit Veränderung der exogenen Ausgaben bezieht. Das bedeutet, dass wir
Teil 5
gewisse Ausgabenkomponenten als vorgegeben und außerhalb unseres Modells betrachten. Im betrachteten Fall sind die Investitionen die exogene Variable. Später werden wir zeigen, dass der gleiche Ansatz verwendet werden kann, um die Auswirkungen von Veränderungen der Staatsausgaben, der Exporte und anderer Faktoren zu bestimmen. Nehmen Sie zum Beispiel an, dass die Investitionen um US-$ 100 Milliarden ansteigen. Wenn daraus eine Produktionserhöhung von US-$ 300 Milliarden resultiert, ergibt sich ein Multiplikator von 3. Würde sich statt dessen eine Produktionsausweitung in Höhe von US-$ 400 Milliarden ergeben, dann wäre der Multiplikator 4. Holzschuppen und Zimmerleute. Wieso ist der Multiplikator größer als 1? Nehmen wir an, dass bislang unbeschäftigte Produktionsfaktoren dazu eingesetzt werden, einen Holzschuppen im Wert von US-$ 1.000 zu errichten. Das bedeutet zunächst, dass Zimmerleute und Bauholzproduzenten dadurch ein zusätzliches Einkommen von US-$ 1.000 erwirtschaften. Das ist jedoch noch nicht alles. Angenommen, ihre Grenzneigung zum Konsum (MPC) beträgt 2/3, so werden sie von diesem Einkommen US-$ 666,67 für neue Konsumgüter ausgeben. Damit fließen den Konsumgüterproduzenten US-$ 666,67 als zusätzliches Einkommen zu. Beträgt deren Grenzneigung zum Konsum ebenfalls 2/3, so werden sie ihrerseits US-$ 444,44 bzw. 2/3 von US-$ 666,67 (oder 2/3 von 2/3 von US$ 1.000) ausgeben. Der Prozess setzt sich fort, wobei jede Ausgabenrunde jeweils zwei Drittel der vorherigen Runde beträgt. Die primäre Investition in Höhe von US$ 1.000 löst somit eine endlose Kette sekundärer Konsumausgaben aus, deren Beträge sich jedoch immer weiter verringern. Zählt man alles zusammen, erhält man einen endlichen Betrag. Die Gesamterhöhung der Ausgaben lässt sich folgendermaßen berechnen:
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Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
$ 1.000,00 + $ 666,67 + $ 444,44 + $ 296,30 + $ 197,53 + .. . $ 3.000,00
=
1 $ 1.000 + 2/ $ 1.000 3 + (2/3)2 $ 1.000 + (2/3)3 $ 1.000 + (2/3)4 $ 1.000 + .. .
1 1 – 2/3 $ 1.000 = 3 $ 1.000
Dies zeigt, dass bei einer Grenzneigung zum Konsum (MPC) von 2/3 der Multiplikator 3 beträgt. Er setzt sich aus den primären Investitionen in Höhe von l plus den sekundären Konsumausgaben in Höhe von 2 zusammen. Dieselbe Rechnung würde bei einer Grenzneigung zum Konsum von 3/4 einen Multiplikator von 4 ergeben, da 1 + 3/4 + (3/4)2 + (3/4)3 + ... schlussendlich 4 ergibt. Bei einer Grenzneigung zum Konsum von 1/2 beträgt der Multiplikator 2.2 Die Höhe des Multiplikators wird also von der Höhe der Grenzneigung zum Konsum bestimmt. Man kann dies auch mit Hilfe des Zwillingskonzepts, der Grenzneigung zum Sparen (MPS), ausdrücken: Wenn die Grenzneigung zum Sparen bei 1/4 liegt, dann beträgt die Grenzneigung zum Konsum 3/4 und der Multiplikator 4. Bei einer Grenzneigung zum Sparen von 1/3 beträgt der Multiplikator 3; bei einer MPS von 1/x ergibt sich ein Multiplikator von x. Damit sollte ersichtlich sein, dass der einfache Multiplikator immer dem Kehrwert oder reziproken Wert der Grenzneigung zum Sparen entspricht, also 1 / (1 – MPC). Unsere Formel für den einfachen Multiplikator lautet also:
2 Die Formel für eine unendliche geometrische Progression lautet 2 3 n 1 1 + r + r + r + … + r + … = ------------1–r sofern MPC (r) einen absoluten Wert kleiner als 1 annimmt.
1 Produktions- = Veränderung der Investition veränderungen MPS 1 = Veränderung der Investition 1 - MPC
Grafische Darstellung des Multiplikators Unsere Diskussion über den Multiplikator beruhte bisher auf dem gesunden Menschenverstand und etwas Rechnerei. Erhalten wir dieselben Ergebnisse auch mithilfe einer grafischen Analyse des Spar- und Investitionsverhaltens? Die Antwort lautet ja. Gehen wir, wie in Tabelle 24-1, von einer Grenzneigung zum Sparen (MPS) von 1/3 und von neuen Erfindungen aus, die zusätzliche kontinuierliche Investitionen von US$ 100 Milliarden nach sich ziehen. Wo wird sich nun das neue Gleichgewicht des BIP einpendeln? Wenn der Multiplikator tatsächlich 3 beträgt, muss die Antwort lauten: bei US-$ 3.900 Milliarden. Ein Blick auf Abbildung 24-4 bestätigt dieses Ergebnis. Unsere alte Investitionsfunktion II verschiebt sich um US-$ 100 Milliarden nach oben auf das neue Niveau I'I'. Der neue Schnittpunkt ist E'. Die daraus resultierende Einkommenserhöhung entspricht genau dem Dreifachen der Investitionszunahme. Wie die rostfarbenen Pfeile anzeigen, ist der horizontale Abstand zwischen alter und neuer Gleichgewichtsproduktion dreimal so groß wie das Ausmaß, in dem sich die Investitionsfunktion nach oben verschoben hat. Wir wissen, dass die geplanten Ersparnisse ansteigen müssen, um sich dem neuen, höheren Investitionsniveau anzugleichen. Die Ersparnisse können nur steigen, wenn das gesamtwirtschaftliche Einkommen steigt. Bei einer Grenzneigung zum Sparen von 1/3 und einer Investitionserhöhung um US-$ 100 muss das Einkommen um US-$ 300 steigen, damit zusätzliche Ersparnisse von US-$ 100 getätigt werden, die den zusätzlichen Investitionen entsprechen. Deshalb induzieren im Gleichgewicht US-$ 100 an zusätzlichen In-
688
Ersparnis und Investitionen (Mrd. US-$)
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
+
Q
400 300
I′
200
I
p
E′
S I′
E
100
Teil 5
I
100 BIP
0 –100
S
3.000
3.500
100 200
–
4.000 Qp
Bruttoinlandsprodukt (in Mrd. $)
Abbildung 24-4: Jeder investierte Dollar führt dank des Multiplikators zu 3 Dollar Produktion Zusätzliche Investitionen verlagern II nach I'I'. E' zeigt das neue Gleichgewicht der Produktion an, nachdem sich diese um drei Geldeinheiten für jede zusätzlich investierte Geldeinheit erhöht hat. (Anmerkung: Der durchbrochene waagrechte rostfarbene Pfeil ist dreimal so lang wie der rostfarbene senkrechte, der die Investitionsverlagerung markiert. Er ist durchbrochen, um zu verdeutlichen, dass eine Einheit primärer Investition zu zwei Einheiten sekundärer Konsumausgaben führt.)
vestitionen US-$ 300 an Einkommenssteigerung, womit unsere Berechnung des Multiplikators verifiziert wäre.3
Das Multiplikatormodell in der Gesamtsicht Das einfachste Multiplikatormodell war während der letzten 50 Jahre für die Konjunkturzyklustheorie von enormer Bedeutung, doch es zeichnet ein stark vereinfachtes Bild der Wirtschaft. Insbesondere lässt es die Auswirkungen der Finanzmärkte und der Geldpolitik unberücksichtigt. Produktionsveränderungen wirken sich üblicherweise auf die Zinssätze aus, die ihrerseits wiederum die Wirtschaft beeinflussen. Außerdem ignoriert das einfachste Multiplikatormodell das Zusammenspiel der heimischen Wirtschaft mit dem Rest der Welt. Letztendlich übersieht das Modell auch die Angebotsseite der Wirtschaft, welche die Interaktion von Ausgaben 3 Um dies zu überprüfen, können wir die Werte in Tabelle 24-1 ändern. In Spalte (4) tragen wir nun US-$ 300 Milliarden statt US-$ 200 Milliarden an Investitionen ein. Zeigen Sie, dass sich nun das neue Gleichgewicht der Produktion um eine Zeile nach oben verschiebt. Können Sie darlegen, dass der Multiplikator auch in die umgekehrte Richtung wirkt?
mit dem Gesamtangebot und den Preisen zeigt. Alle diese Mängel werden wir in späteren Kapiteln beheben und halten uns erst einmal daran, dass unser Modell sozusagen nur ein Meilenstein auf unserem Weg zum Verständnis der Wirtschaft in ihrer faszinierenden Komplexität ist. Man sollte das Multiplikatormodell als Teil einer umfassenden Betrachtung der Makroökonomie sehen. Wir versuchen zu verstehen, was das Niveau der Gesamtproduktion eines Landes bestimmt. Langfristig gesehen werden Produktion und Lebensstandard eines Landes hauptsächlich von seiner potenziellen Produktionsleistung bestimmt. Kurzfristig betrachtet können jedoch die Geschäftsbedingungen die Wirtschaftsentwicklung über oder unter ihren langfristigen Trend drücken. Das einfachste Multiplikatormodell und seine komplexeren und umfassenderen Verwandten versuchen, diese Abweichung von Produktion und Beschäftigung vom langfristigen Trend zu erklären. Obwohl wir die Beziehungen hier vereinfacht haben, bleiben die grundsätzlichen Erkenntnisse gültig, auch wenn wir unser Modell um Fiskal- und Geldpolitik sowie den Außenhandel erweitern. Wir sollten uns je-
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
doch immer daran erinnern, dass die Multiplikatoranalyse angewendet werden kann, solange es ungenutzte Ressourcen gibt. Wenn Überkapazitäten vorhanden sind, kann ein Anstieg der Gesamtnachfrage zu einer Erhöhung der Produktion führen. Wenn eine Wirtschaft dagegen bereits an ihrer Kapazitätsgrenze produziert, hat sie keinen Spielraum mehr für die Ausweitung der Produktion im Fall einer Nachfragesteigerung. In Situationen der Vollbeschäftigung führen Gesamtnachfragesteigerungen infolgedessen zu steigenden Preisen und nicht zu einer Produktionssteigerung. Steigen die Investitions- oder sonstigen Ausgaben in einer Wirtschaft mit Überkapazitäten und Arbeitslosigkeit, dann wird ein Großteil der zusätzlichen Ausgaben für eine Erhöhung der realen Produktion genutzt, und die Preise werden nur wenig steigen. Wenn die Wirtschaft aber an ihre Kapazitätsgrenze stößt, kann man zum vorherrschenden Preisniveau keine höhere Produktion mehr aus ihr herausquetschen. Daher führen bei Vollbeschäftigung höhere Ausgaben zu einem höheren Preisniveau und nicht zu einem Produktionswachstum oder mehr Beschäftigung.
Das Multiplikatormodell im Vergleich zum AS-AD-Modell Bei der Beschäftigung mit dem Multiplikatormodell fragen Sie sich vielleicht, wie dieses zu unserem AS-AD-Ansatz aus Kapitel 20 passt. Es handelt sich dabei durchaus nicht um zwei verschiedene Konzepte; vielmehr ist das Multiplikatormodell ein Spezialfall des Gesamtnachfrage-Gesamtangebot-Modells. Es erläutert, wie bei gewissen Annahmen AD durch Konsum und Investitionen beeinflusst wird. Eine der Hauptannahmen des Multiplikatormodells besagt, dass Preise und Löhne kurzfristig unveränderlich sind. Dies ist eine allzu grobe Vereinfachung, denn in der Realität reagieren viele Preise sehr schnell. Aber
689 unsere Annahme unterstreicht die Tatsache, dass immer dann, wenn wenigstens einige Löhne und Preise inflexibel reagieren – was tatsächlich der Fall ist –, zumindest ein Teil der Anpassung an die AD-Verlagerung durch Produktionsveränderungen erreicht wird. Wir werden diesen wichtigen Punkt in späteren Kapiteln wieder aufgreifen. Der Zusammenhang zwischen der Multiplikatoranalyse und dem GesamtangebotsGesamtnachfrage-Modell (AS-AD) kann anhand der Abbildung 24-5 gezeigt werden. Segment (b) zeigt eine gesamtwirtschaftliche Angebotskurve (AS), die völlig senkrecht wird, sobald die Produktion dem potenziellen Produktionsniveau entspricht. Wenn jedoch noch ungenützte Ressourcen vorhanden sind – in der Grafik auf der linken Seite des potenziellen Produktionsniveaus –, wird die Produktion primär durch die Gesamtnachfrage bestimmt. Wenn die Investitionen steigen, erhöht dies AD, und die Gleichgewichtsproduktion steigt. Dieselbe Volkswirtschaft kann mithilfe des Multiplikatormodells im oberen Teil von Abbildung 24-5 beschrieben werden. Das Gleichgewichtsniveau des Multiplikatormodells entspricht demjenigen des Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Modells (AS-AD) – mit beiden erhält man ein reales BIP von Q. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sie unterschiedliche Aspekte bei der Bestimmung des Produktionsniveaus betonen. Diese Diskussion macht auf einen entscheidenden Aspekt des Multiplikatormodells aufmerksam. Während es eine höchst brauchbare Methode darstellen mag, um Depressionen oder sogar Rezessionen zu beschreiben, kann man es auf Perioden der Vollbeschäftigung nicht anwenden. Wenn alle Fabriken voll ausgelastet und alle Arbeiter beschäftigt sind, kann die Volkswirtschaft einfach nicht mehr produzieren. Die Vorstellung des einfachen Multiplikatormodells ist damit abgeschlossen. Wir weiten unsere Untersuchung der Gesamtnachfrage nun aus, indem wir uns den Einflüssen der Fiskalpolitik zuwenden.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
(a) Multiplikatormodell
B. Die Fiskalpolitik im Multiplikatormodell
potenzielles BIP
Gesamtausgaben (TE)
Teil 5
C + I = TE E
C
C+I
C
45° 0
Q reales BIP
Q
BIP
p
(b) Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Modell P potenzielles BIP
Preisniveau
AD
AS
P
AS
E
AD
0
BIP Q reales BIP
Abbildung 24-5: Der Multiplikator passt zum Gesamtangebots-Gesamtnachfrage-Modell Das Multiplikatormodell ist eine Möglichkeit, die Bestimmung des Gleichgewichts mit Hilfe von ASAD zu verstehen. (a) Der obere Teil des Diagramms zeigt das Gleichgewicht von Produktion und Ausgaben im Multiplikatormodell. In Punkt E schneidet die Gesamtausgabenfunktion die 45˚-Linie, was zu einer Gleichgewichtsproduktion von Q führt. (b) Das Gleichgewicht kann ebenso dem unteren Teil entnommen werden, wo die AD-Kurve die ASKurve in Punkt E schneidet. Beim einfachsten Multiplikatormodell werden Löhne und Preise als konstant angenommen, sodass die AS-Kurve waagrecht verläuft, bis die Vollbeschäftigung erreicht ist. Beide Ansätze führen zu der genau gleichen Gleichgewichtsproduktion Q.
Jahrhundertelang hat die Wirtschaftswissenschaft nur den Allokationsaspekt der Fiskalpolitik (Steuern und Staatsausgaben) beachtet. Seit langem weiß man, dass Fiskalprogramme einen wesentlichen Einfluss darauf haben, wie die Produktion eines Landes auf kollektiven und privaten Konsum aufgeteilt wird und wie sich die Ausgabenlast für kollektive Güter auf die Bevölkerung verteilt. Erst die Entwicklung der modernen makroökonomischen Theorie hat eine weitere überraschende Tatsache ans Licht gebracht: Die Fiskalpolitik des Staates hat auch wichtige makroökonomische Auswirkungen auf kurzfristige Veränderungen von Produktion, Beschäftigung und Preisen. Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung des keynesianischen Ansatzes in der Wirtschaftspolitik, der den aktiven Einsatz staatlicher Politik zur Dämpfung von Konjunkturzyklen befürwortet. Dieser Ansatz wurde von dem Wirtschaftsnobelpreisträger James Tobin folgendermaßen beschrieben: Die keynesianische Politik besteht erstens darin, makroökonomische Instrumente explizit zum Erreichen makroökonomischer Ziele einzusetzen. Zu diesen Zielen gehören insbesondere die Vollbeschäftigung und ein reales Wachstum des Gesamteinkommens. Zweitens handelt es sich bei dem keynesianischen Ansatz um aktives Nachfragemanagement. Drittens streben die Anhänger von Keynes danach, Fiskal- und Geldpolitik auf widerspruchsfreie und koordinierte Weise einzusetzen, um bestimmte makroökonomische Ziele zu erreichen.
In diesem Abschnitt verwenden wir das Multiplikatormodell, um die Auswirkungen von Staatsausgaben auf die Produktion zu zeigen.
691
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
Auswirkungen staatlicher Fiskalpolitik auf die Produktion Um die Rolle des Staates im Wirtschaftsgefüge zu verstehen, müssen wir uns mit der staatlichen Ausgaben- und Steuerpolitik ebenso wie mit den Auswirkungen dieser Aktivitäten auf die Ausgaben des privaten Sektors befassen. Wir modifizieren nun unsere bisherige Analyse, indem wir G zu C + I addieren und so eine völlig neue Ausgabenfunktion TE = C + I + G erhalten. Diese neue Formel beschreibt ein makroökonomisches Gleichgewicht, in das der Staat mit seinen Ausgaben und Steuern einbezogen wird. Wir erleichtern uns unsere Aufgabe anfänglich, indem wir die Auswirkungen der Staatsausgaben analysieren, während wir die gesamten Steuereinnahmen konstant lassen (Steuern, die nicht von der Einkommenshöhe oder sonstigen wirtschaftlichen Variablen abhängig sind, werden als Pauschalsteuern bezeichnet). Aber sogar bei einem fixen Steuerbetrag können wir die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen und Bruttoinlandsprodukt nicht länger ignorieren. Unter vereinfachten Bedingungen (wenn wir den Außenhandel, Transferzahlungen oder Abschreibungen außen vor lassen) entspricht das BIP, wie wir aus Kapitel 21 wissen, dem verfügbaren Einkommen plus Steuern. Doch bei konstant gehaltenen Steuereinnahmen bleibt die Differenz zwischen BIP und DI immer gleich groß; daher können wir, nach Berücksichtigung der Steuern, die CC-Konsumfunktion am BIP anstatt an DI messen. Abbildung 24-6 zeigt, wie sich die Konsumfunktion ändert, wenn wir Steuern in das Modell einbeziehen. In der Abbildung haben wir unsere ursprüngliche Konsumfunktion bei einer Steuerhöhe von null als schwarze CC-Linie eingezeichnet. In diesem Fall gilt BIP = DI. Wir verwenden die gleiche Konsumfunktion wie in Tabelle 24-1. Daher liegt der Konsum bei 3.000, wenn das BIP (und DI) 3.000 betragen, und so weiter.
Nun kommen Steuern in Höhe von 300 ins Spiel. Wenn DI = 3.000, muss das BIP 3.300 = 300 + 3.000 betragen. Bei einem BIP von 3.300 bleibt der Konsum unverändert bei 3.000, weil DI 3.000 beträgt. Wir können daher den Konsum als eine Funktion des BIP darstellen, indem wir die Konsumfunktion nach rechts zur rostfarbenen C'C'-Kurve verschieben. Das Ausmaß der Rechtsverschiebung beträgt UV und entspricht genau der Höhe der Steuern, also 300. Alternativ lässt sich die neue Konsumfunktion auch als eine Parallelverschiebung um 200 nach unten darstellen. Wie Abbildung 24-6 zeigt, ist 200 das Ergebnis der Multiplikation eines Einnahmenrückgangs um 300 mit der Grenzneigung zum Konsum (MPC) von 2/3. Wenn wir uns nun den verschiedenen Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zuwenden, sollten wir uns aus Kapitel 21 daran erinnern, dass das BIP aus vier Elementen besteht: BIP = Konsumausgaben + private Bruttoinlandsinvestitionen + Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen + Nettoexporte =C+I+G+X
Zunächst betrachten wir eine geschlossene Wirtschaft ohne Außenhandel, sodass unser BIP nur aus den ersten drei Komponenten, C + I + G, besteht. (Wir fügen später die Nettoexporte als letzte Komponente hinzu, wenn wir eine offene Wirtschaft betrachten.) Abbildung 24-7 zeigt die Auswirkungen einer Berücksichtigung der Staatsausgaben. Dieses Diagramm ähnelt stark der weiter oben in diesem Kapitel verwendeten Darstellung (Abbildung 24-3). Hier haben wir jedoch einen neuen Ausgabenstrom G zu den Konsum- und Investitionsausgaben addiert. Im Diagramm zeichnen wir die neue Variable G (Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen) über die Konsumfunktion und den Festbetrag an Investitionen. Der senkrechte
692
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
C
4.000
C
Konsum (Mrd. US-$)
C′
3.500
W 200 U 300
V
C
3.000
C′ 45°
BIP 3.000 3.500 Bruttoinlandsprodukt (Mrd. US-$)
4.000
Abbildung 24-6: Steuern senken das verfügbare Einkommen und verschieben die CC-Funktion nach rechts unten Jede Geldeinheit an Steuern verschiebt die CC-Funktion im Ausmaß der Steuern nach rechts. Eine Rechtsverschiebung der CC-Funktion bedeutet gleichzeitig auch deren Abwärtsverschiebung, aber diese fällt geringer aus als die Verlagerung nach rechts, weil die Bewegung nach unten der Rechtsverschiebung multipliziert mit MPC entspricht. Wenn MPC also 2/3 beträgt, dann ergibt sich eine Verlagerung nach unten um 2/3 mal US-$ 300 Milliarden = US-$ 200 Milliarden. Überprüfen Sie, ob WV = 2/3 UV.
Abstand zwischen der (C + I)-Linie und der neuen (TE = C + I + G)-Linie entspricht daher der Höhe von G. Warum addieren wir G einfach dazu? Nun, die Ausgaben für staatliche Einrichtungen (G) haben dieselbe makroökonomische Wirkung wie Ausgaben für private Einrichtungen (I); staatliche Ausgaben zum Kauf eines Regierungsfahrzeugs (G) wirken sich auf die Beschäftigungslage nicht anders aus als private Konsumausgaben für Kraftfahrzeuge (C). Und so gelangen wir zu unserem Dreischichtkuchen TE = C + I + G, indem wir die Höhe der Gesamtausgaben auf jedem BIPNiveau ermitteln. Gehen wir nun zum Schnittpunkt der Funktion mit der 45˚-Linie, so finden wir das Gleichgewichtsniveau des BIP. An diesem BIP-Gleichgewicht, in Abbildung 24-7 durch Punkt E gekennzeichnet,
entsprechen die gesamten geplanten Ausgaben genau der gesamten geplanten Produktionsleistung. Punkt E stellt somit, wenn wir die Staatsausgaben zu unserem Multiplikatormodell hinzufügen, das GleichgewichtsProduktionsniveau dar.
Auswirkungen der Steuern auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage Inwieweit verringert die Besteuerung üblicherweise die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das BIP? Höhere Steuern lassen unsere verfügbaren Einkommen schrumpfen, und niedrigere verfügbare Einkommen senken normalerweise unsere Konsumausgaben. Wenn Investitionen und Staatsausgaben gleich bleiben, dann führt ein Rückgang der Konsumausgaben zu einer Verminderung des
693
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
Q
p
C + I + G = TE Gesamtausgaben (Mrd. US-$)
4.000 C+I C
E
Staatsausgaben
3.500
G
I Investitionen
C+I+G 3.000 C+I C
Konsum
C 45° 3.000
3.500
4.000
Qp
BIP
Bruttoinlandsprodukt (Mrd. US-$)
Abbildung 24-7: Staatsausgaben werden genau wie Investitionen dazu addiert, um das BIP-Gleichgewicht zu bestimmen Wir addieren nun die Staatsausgaben zu den Konsum- und Investitionsausgaben. Damit erhalten wir die Funktion der neuen geplanten Gesamtausgaben, TE = C + I + G. Im Punkt E, wo die TE-Funktion die 45˚-Linie schneidet, finden wir das neue Gleichgewichtsniveau des BIP.
BIP und rückläufiger Beschäftigung. Nach dem Multiplikatormodell verringern daher höhere Steuern ohne begleitende Erhöhung der Staatsausgaben das reale BIP.4 Ein Blick auf Abbildung 24-6 bestätigt unsere Behauptung. In dieser Abbildung stellt die obere CC-Kurve das Niveau der Konsumfunktion ohne Steuern dar. Doch diese Kurve kann nicht die Konsumfunktion sein, weil die Konsumenten auf ihre Einkommen selbstverständlich Steuern entrichten. Wir nehmen einfach an, dass die Konsumenten, unabhängig vom Einkommensniveau, US-$ 300 Milliarden an Steuern bezahlen. DI entspricht daher bei jedem Produktionsniveau genau dem BIP abzüglich US-$ 300
4 Genau genommen meinen wir in diesem Kapitel mit dem Ausdruck „Steuern“ die Nettosteuern, d.h. die Steuern abzüglich Transferzahlungen.
Milliarden. Wie in Abbildung 24-6 gezeigt wird, lässt sich dieses Steuerniveau durch eine Rechtsverschiebung der Konsumfunktion um US-$ 300 Milliarden darstellen. Zugleich wird diese Rechtsverschiebung als Abwärtsverschiebung erscheinen; ist MPC gleich 2/3, wird die Rechtsverschiebung um US-$ 300 Milliarden als Abwärtsverschiebung um US-$ 200 Milliarden erscheinen. Zweifellos verringern die Steuern in unserem Multiplikatormodell das Produktionsvolumen, und Abbildung 24-7 zeigt auch, warum dies der Fall ist. Bei Steuererhöhungen verändern sich G + I nicht, doch die Steuererhöhung verringert das verfügbare Einkommen und verschiebt daher die CC-Konsumfunktion nach unten. Damit verschiebt sich auch die Funktion C + I + G nach unten. Sie können nun eine neue, tiefer gelegene Funktion C' + I + G in Abbildung 24-7 einzeichnen. Beachten
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Sie, dass Ihr neuer Schnittpunkt mit der 45˚Linie nun bei einem niedrigeren BIP-Gleichgewichtsniveau liegen muss. Denken Sie daran, dass G die Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen sind. Nicht enthalten sind Ausgaben für Transferzahlungen, wie Arbeitslosengeld oder Sozialversicherungsleistungen. Diese Transferzahlungen werden als negative Steuern behandelt, sodass die Steuern (T) in unserem Fall am besten als Steuern abzüglich Transferzahlungen betrachtet werden. Wenn sich direkte und indirekte Steuern insgesamt auf US-$ 400 Milliarden belaufen, wobei die gesamten Transferleistungen US-$ 100 Milliarden ausmachen, so ergibt sich als Wert für die Nettosteuern T US-$ 400 – US-$ 100 = US-$ 300 Milliarden. (Ist Ihnen klar, warum eine Zunahme der Sozialversicherungsleistungen T verringert, DI erhöht, die Kurve C + I + G
Teil 5
nach oben verschiebt und das Gleichgewichts-BIP erhöht?)
Ein numerisches Beispiel Die bisherigen Ausführungen sind in Tabelle 24-2 dargestellt. Diese Tabelle gleicht weitgehend Tabelle 24-1, die die Entstehung der Gesamtproduktion nach dem einfachen Multiplikatormodell darstellt. Die erste Spalte zeigt ein BIP-Referenzniveau, die zweite ein konstantes Steuerniveau bei US-$ 300 Milliarden. Das verfügbare Einkommen in Spalte (3) entspricht dem BIP abzüglich Steuern. Der geplante Konsum als Funktion von DI ist in Spalte (4) ausgewiesen. Spalte (5) zeigt das konstante geplante Investitionsniveau, während Spalte (6) die Höhe der Staatsausgaben wiedergibt. Um nun die gesamten geplanten Ausgaben TE für Spalte (7) zu ermitteln, ad-
Produktionsbestimmung unter Einbeziehung der Staatsausgaben (Mrd. US-$) (1) Ursprüngliches BIP-Niveau
(2) Steuern
(3) Verfügbares Einkommen
(4) Geplanter Konsum
(5) Geplante Investition
(6) Staatsausgaben
(7) Geplante Gesamtausgaben TE
(8) Tendenz der Wirtschaft
T
DI
C
I
G
(C + I + G)
4.200
300
3.900
3.600
200
200
4.000
Abschwung
3.900
300
3.600
3.400
200
200
3.800
Abschwung
3.600
300
3.300
3.200
200
200
3.600
Gleichgewicht
3.300
300
3.000
3.000
200
200
3.400
Aufschwung
3.000
300
2.700
2.800
200
200
3.200
Aufschwung
Tabelle 24-2: Staatsausgaben, Steuern und Investitionen bestimmen den Gleichgewichtspunkt des BIP Diese Tabelle zeigt, wie die Produktionsleistung bestimmt wird, wenn die Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen in das Multiplikatormodell aufgenommen werden. In diesem Beispiel gehen wir von „Pauschalsteuern“ aus, die einkommensunabhängig sind. Das verfügbare Einkommen entspricht daher dem BIP abzüglich US-$ 300 Milliarden. Die Gesamtausgaben setzen sich aus I + G + dem Konsum zusammen, den die Konsumfunktion bestimmt. Bei einem Produktionsniveau unter US-$ 3.600 Milliarden übersteigen die geplanten Ausgaben die Produktion, daher wird die Produktion ausgeweitet. Jedes Produktionsniveau über US-$ 3.600 kann auf Dauer nicht erhalten werden, sondern führt zu einer Kontraktion. Nur bei einem Niveau von US-$ 3.600 Milliarden befindet sich die Produktion im Gleichgewicht – das heißt, die geplanten Ausgaben entsprechen der Produktion.
695
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
dieren wir C, I und G in den Spalten (4) bis (6). Schließlich vergleichen wir die geplanten Gesamtausgaben TE in Spalte (7) mit dem ursprünglichen BIP-Niveau in Spalte (1). Liegen die geplanten Ausgaben über dem BIP-Niveau, erhöhen die Unternehmen die Produktion bis zu diesem Ausgabenniveau, das heißt, die Produktionsleistung steigt; liegen sie darunter, sinkt die Produktionsleistung. Diese in der letzten Spalte gezeigte Tendenz ermöglicht uns den Schluss, dass die Produktionsleistung auf ein Gleichgewicht bei US-$ 3.600 Milliarden zustreben wird.
Multiplikatoren der Fiskalpolitik Die Multiplikatoranalyse zeigt, dass die Fiskalpolitik der Regierung eine äußerst effektive Ausgabenform darstellt, ähnlich den Investitionen. Die Parallele deutet darauf hin, dass die Fiskalpolitik auch einen Multiplikatoreffekt auf die Produktion haben dürfte. Genau das trifft zu. Der staatliche Ausgabenmultiplikator ist jene Erhöhung des BIP, die aus einer Erhöhung der Staatsausgaben um eine Geldeinheit folgt. Staatsausgaben für eine Ware oder eine Dienstleistung lösen eine ganze Kettenreaktion von Ausgaben aus: Baut der Staat beispielsweise eine Straße, geben die Straßenarbeiter einen Teil ihrer Einkommen für Konsumgüter aus, die ihrerseits zusätzliches Einkommen generieren, das teilweise wieder ausgegeben wird. In unserem hier verwendeten einfachen Modell entspricht die letztendliche Wirkung einer zusätzlichen Geldeinheit an G auf das BIP genau einer zusätzlichen Geldeinheit von I: Die Multiplikatoren entsprechen 1 / (1 – MPC). Abbildung 24-8 zeigt, wie eine Änderung von G zu einem erhöhten BIP-Niveau führt, wobei die Erhöhung ein Vielfaches der Erhöhung der Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen beträgt. Um die Auswirkungen von zusätzlichen US-$ 100 Milliarden an G darzustellen, wurde die Kurve C + I + G in Abbildung 24-8 um
US-$ 100 Milliarden nach oben verschoben. Die Gesamterhöhung des BIP entspricht den primären Ausgaben in Höhe von US-$ 100 Milliarden multipliziert mit dem Ausgabenmultiplikator. In diesem Fall liegt der Multiplikator bei 3, da MPC = 2/3, und folglich steigt das Gleichgewichtsniveau des BIP um US-$ 300 Milliarden. Dieses Beispiel, aber auch der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass der staatliche Ausgabenmultiplikator genau dieselbe Höhe haben muss wie der Investitionsmultiplikator. Sie werden beide als Ausgabenmultiplikatoren bezeichnet. Bitte beachten Sie auch, dass dieses Multiplikatorpferd in zwei Richtungen galoppieren kann. Sinken die Staatsausgaben, während Steuern und sonstige Einflussfaktoren konstant gehalten werden, sinkt das BIP im Ausmaß der Veränderung von G multipliziert mit dem Multiplikator. Die Auswirkungen von G auf die Produktion lassen sich ebenso anhand des Zahlenbeispiels in Tabelle 24-2 erkennen. Sie können ein anderes Niveau von G – beispielsweise bei US-$ 300 Milliarden – einzeichnen und das Gleichgewichtsniveau des BIP ermitteln. Dies sollte zur gleichen Lösung wie in Abbildung 24-8 führen. Fassen wir zusammen: Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (G) sind ein für die Produktionsleistung und den Beschäftigungsgrad wesentlicher Einflussfaktor. Nach dem Multiplikatormodell steigt bei einer Erhöhung von G das Produktionsvolumen um den Wert der Erhöhung von G multipliziert mit dem Ausgabenmultiplikator. Die Staatsausgaben sind daher in der Lage, das Produktionsvolumen im Verlauf von Konjunkturzyklen zu stabilisieren oder zu destabilisieren.
Die Wirkung von Steuern Auch Steuern haben einen Einfluss auf das BIP-Gleichgewicht, obwohl der Steuermultiplikator geringer ist als der Ausgabenmulti-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
C + I + G′ = TE′ C + I + G = TE Gesamtausgaben (Mrd. US-$)
E′
100
E
45°
BIP 3.600 3.900 Bruttoinlandsprodukt (Mrd. US-$)
Abbildung 24-8: Die Auswirkungen höherer Staatsausgaben auf die Produktion Nehmen Sie an, der Staat erhöhte seine Verteidigungsausgaben in Reaktion auf eine Bedrohung der Ölfelder im Nahen Osten um US-$ 100 Milliarden. Das verschiebt die (C + I + G)-Kurve um US-$ 100 Milliarden nach oben zu C + I + G'. Das neue Gleichgewichtsniveau des BIP lässt sich daher an der 45˚-Linie nicht mehr im Punkt E, sondern im Punkt E' ablesen. Da MPC = 2/3, liegt das neue Produktionsniveau um US-$ 300 höher. Das heißt, der Staatsausgabenmultiplikator beträgt 1 3 = -------------2 1 – --3 (Wie hoch wäre der Staatsausgabenmultiplikator bei MPC = 3/4? Wie hoch bei MPC = 9/10?)
Sind Kriege notwendig, um Vollbeschäftigung zu erzielen? Historisch betrachtet wurden Kriege immer von Wirtschaftsaufschwüngen begleitet. Wie Tabelle 24-3 zeigt, verursachten bedeutende Kriege in der Vergangenheit häufig höhere Verteidigungsausgaben. Im Zweiten Weltkrieg stiegen diese Ausgaben beispielsweise um fast zehn Prozent des BIP, ehe Pearl Harbor im Dezember 1941 bombardiert wurde. Viele Wissenschaftler glauben sogar, dass die Vereinigten Staaten sich hauptsächlich wegen der Vorbereitungen auf den Zweiten Weltkrieg von der Großen Depression erholten. Ein ähnlicher, aber etwas niedrigerer Anstieg der Aus-
gaben für militärische Zwecke war während des Korea- und des Vietnamkriegs zu beobachten. Im Gegensatz dazu löste der Golfkrieg Anfang der neunziger Jahre eine Rezession aus. Als der Irak im August 1990 in Kuwait einmarschierte, erschraken Konsumenten und Investoren und reduzierten ihre Ausgaben. Außerdem stiegen die Ölpreise und trugen zur Senkung der Realeinkommen bei. Nach dem schnellen Sieg der Vereinigten Staaten im Februar 1991 kehrten sich diese Faktoren ins Gegenteil um. Welche Auswirkungen hatte der Krieg im Irak Anfang 2003? Er glich eher dem Golfkrieg als anderen bedeutenden Kriegen. Die Verteidigungsausgaben stiegen nur mäßig,
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
während vorsichtige Konsumenten und Investoren in Kombination mit den hohen Ölpreisen der Wirtschaft einen Dämpfer verpassten. Die Auswirkungen von Kriegsausgaben auf die Wirtschaftsexpansion ist eines der unmittelbarsten und überzeugendsten Beispiele für die Wirkung des Multiplikators. Führen Sie sich den grundlegenden Mechanismus vor Augen und überlegen Sie, warum die in Tabelle 24-3 dargestellte Wirtschaftsexpansion in den einzelnen Fällen so unterschiedlich ausfiel.
plikator. Nehmen wir folgendes Beispiel: Angenommen, die Wirtschaft hat ihr potenziell mögliches BIP erreicht, und der Staat erhöht die Verteidigungsausgaben um US-$ 200 Milliarden. Derart drastische und plötzliche Erhöhungen hat es in der US-Wirtschaftsgeschichte immer wieder gegeben – zu Beginn der vierziger Jahre für den Zweiten Weltkrieg, 1951 für den Koreakrieg und Mitte der sechziger Jahre für den Vietnamkrieg, aber auch in den frühen achtziger Jahren, als die
697 Regierung Reagan militärisch aufrüstete. Nehmen wir außerdem an, die Wirtschaftsplaner wollten die Steuern gerade um so viel anheben, dass die Auswirkungen der Erhöhung von G um US-$ 200 Milliarden auf das BIP kompensiert werden. Um wie viel müssten die Steuern erhöht werden? Hier erwartet uns eine Überraschung. Um die Ausgabenerhöhung um US-$ 200 Milliarden zu kompensieren, müssen wir die Steuern um mehr als US-$ 200 Milliarden erhöhen. In unserem Rechenbeispiel können wir das genaue Ausmaß der Steuererhöhung aus Abbildung 24-6 entnehmen. Diese Abbildung zeigt, dass eine Erhöhung von T um US-$ 300 Milliarden gerade ausreicht, um das verfügbare Einkommen so weit zu verringern, dass sich der Konsum um US-$ 200 Milliarden reduziert, wenn MPC = 2/3. Anders ausgedrückt: Eine Steuererhöhung um US-$ 300 Milliarden verschiebt die CC-Kurve um US-$ 200 Milliarden nach unten. Während daher eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben um US-$ 1 Milliarde die (C + I + G)-Linie um US-$ 1
Verteidigungsausgaben als Stimulus der Wirtschaft Krieg Krieg oder Mehrausgaben Reales Kriegsvorbereitung für Verteidigung BIP-Wachstum in Prozent in der des BIP Vorbereitungszeit (%) 1. Weltkrieg 1916–1918 10,2 13,0 2. Weltkrieg: Vor Pearl Harbor 1939–1941 9,7 26,7 2. Weltkrieg: Alle Jahre 1939–1944 41,4 69,1 Koreakrieg 3/1950–3/1951 8,0 10,5 Vietnamkrieg 3/1965–1/1967 1,9 9,7 Golfkrieg 3/1990–1/1991 0,3 –1,3 Irakkrieg 1/2003–2/2003 0,1 0,5 Tabelle 24-3: Wirtschaftsaufschwünge stehen in Zusammenhang mit einem deutlichen Anstieg der Verteidigungsausgaben Diese Tabelle zeigt die Kriegszeiten oder Vorbereitungsphasen, den Umfang der zusätzlichen Ausgaben für Verteidigung und den daraus resultierenden Anstieg des realen BIP. Große Kriege haben zu nachhaltigen Aufschwungphasen geführt, aber die kleineren der letzen zwei Jahrzehnte haben das Wirtschaftswachstum verlangsamt, weil andere Sektoren negativ auf die Entwicklung reagierten. Quelle: Handelsministerium, National Income and Product Accounts, verfügbar unter www.bea.gov, sowie Schätzungen der Autoren.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Milliarde nach oben verschiebt, verlagert eine Steuererhöhung um US-$ 1 Milliarde die (C + I + G)-Linie nur um US-$ 2/3 Milliarden nach unten (wenn MPC = 2/3). Daher ist, um eine Erhöhung der Staatsausgaben zu kompensieren, eine stärkere Erhöhung von T als von G erforderlich. Steueränderungen sind wirksame Waffen zur Beeinflussung der Gesamtproduktion. Doch der Steuermultiplikator ist um den Faktor MPC geringer als der Ausgabenmultiplikator: Steuermultiplikator = MPC Ausgabenmultiplikator Der Grund dafür, dass der Steuermultiplikator geringer ist als der Ausgabenmultiplikator, liegt klar auf der Hand. Wenn der Staat US-$ 1 für G ausgibt, schlägt sich dieser US$ 1 direkt im BIP nieder. Wenn andererseits der Staat die Steuern um einen Dollar kürzt, wird nur ein Teil dieses Dollars für den Konsum C ausgegeben, während ein Bruchteil dieser Steuerkürzung um US-$ 1 gespart wird. Die unterschiedlichen Auswirkungen von einem Dollar G und einem Dollar T bedeuten, dass der Steuermultiplikator unter dem Wert des Ausgabenmultiplikators liegt.5
5 Der Einfachheit halber nehmen wir den absoluten Wert des Steuermultiplikators (da der Multiplikator in Wirklichkeit negativ ist). Man erkennt die verschiedenen Multiplikatoren, wenn man sich des Instruments der „Ausgabenrunden“ bedient, das weiter oben im Abschnitt „Der Multiplikator“ vorgestellt wird. Wir nehmen an, dass MPC = r ist. Wenn G nun um eine Geldeinheit steigt, dann ergibt sich die gesamte Ausgabenerhöhung als die Summe der sekundären Ausgabenrunden: 2 3 1 1 + r + r + r + … = ------------1–r Wenn man nun die Steuern um eine Geldeinheit reduziert, sparen die Konsumenten (1 – r) des erhöhten verfügbaren Einkommens und geben r Geldeinheiten in der ersten Runde aus. Werden die weiteren Ausgabenrunden berücksichtigt, ergeben sich die Gesamtausgaben als 2 3 r r + r + r + … = -----------1–r Das heißt, der Steuermultiplikator beträgt r multipliziert mit dem Ausgabenmultiplikator, wobei r = MPC.
Teil 5
Fiskalpolitik in der Praxis Im Jahre 1961 übernahm Präsident John F. Kennedy die Prinzipien der keynesianischen Wirtschaftslehre, und die Fiskalpolitik wurde zu einer der wichtigsten Waffen gegen Rezession oder Inflation. Kennedy schlug beträchtliche Steuerkürzungen vor, um die Wirtschaft aus der Talsohle zu führen; nachdem die Steuern gesenkt worden waren, wuchs die Wirtschaft rasch. Als jedoch, bedingt durch den Vietnamkrieg, die expansive Fiskalpolitik der Jahre 1965–1966 zu den Steuerkürzungen hinzutrat, stieg die Produktionsleistung über das potenzielle BIP, und die Inflationsspirale begann sich zu drehen. Um die steigende Inflation zu bekämpfen und die gestiegenen Ausgaben für den Vietnamkrieg zu kompensieren, verabschiedete der Kongress 1968 einen vorübergehenden Einkommensteueraufschlag. Auch die achtziger Jahre brachten eine dramatische Demonstration der Schlagkraft von Fiskalpolitik. Im Jahre 1981 verabschiedete der Kongress das Fiskalpaket der Regierung Reagan (Steuersenkungen, deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben). Diese Maßnahmen halfen den USA aus der tiefen Rezession der Jahre 1981–1982. Mitte der achtziger Jahre wurde in den Vereinigten Staaten eine neue fiskalpolitische Ära eingeläutet. Die Fiskalpolitik Reagans führte zu einem enormen Anstieg des staatlichen Budgetdefizits (der Differenz zwischen Ausgaben und Einnahmen). Das Defizit und die Staatsverschuldung stiegen während der achtziger Jahre deutlich an. Da sich der Kongress bemühte, das Defizit zu reduzieren, blieb nur wenig Spielraum für die Einführung von neuen Regierungsprogrammen. Nach seinem Amtsantritt 1993 stand Präsident William Clinton vor einer Reihe schmerzhafter fiskalpolitischer Dilemmas. Das Defizit hielt sich hartnäckig, aber die Wirtschaft stagnierte, und die Arbeitslosenzahlen waren unannehmbar hoch. Sollte der Präsident versuchen, das Defizit in den Griff zu bekommen
699
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
und durch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen die öffentlichen Ersparnisse zu steigern, in der Hoffnung, dass diese Sparmaßnahmen die Gesamtersparnis und damit auch die Investitionen anheben würden? Oder sollte er sich von der Befürchtung leiten lassen, dass höhere Steuern und niedrigere Staatsausgaben die Produktion senken könnten, da fiskalische Einschränkungen zu einer Reduktion von C + I + G führen und damit die Investitionen abwürgen können? Nach intensiver Beschäftigung mit dem Problem entschied Präsident Clinton, dass der Abbau des Budgetdefizits Vorrang haben müsse. Der Budget Act von 1993 setzte fiskalpolitische Maßnahmen in Kraft, die binnen der nächsten fünf Jahre das Defizit des Bundes um etwa US-$ 150 Milliarden (oder zwei Prozent des BIP) reduzierten. Es überraschte alle Experten, als die Kombination aus Ausgabenkürzungen, steigenden Steuereinnahmen, einer Wirtschaft im Höhenflug und steigenden Börsenkursen ab 1998 zu einem Budgetüberschuss führte. Die Zeit der Überschüsse hielt jedoch nicht lange an. Eine Reihe von ungünstigen plötzlichen Einflüssen – ein Rückgang der Aktienkurse, Rezession, Kriege und Terrorismus – führten zu einer raschen Verschlechterung der staatlichen Finanzlage. In diesem Umfeld überredete Präsident George W. Bush 2001 den Kongress, Steuersenkungen auf breiter Front zu genehmigen und die Erbschaftssteuer abzuschaffen (diese Senkungen waren allerdings zeitlich begrenzt). Weitere Steuersenkungen im Jahr 2003 sollten durch eine Reduzierung der Steuern auf Dividenden die Kapitalbesteuerung insgesamt senken. Mit den Steuerminderungen der Bush-Regierung kehrt das Land wieder zum Anfang zurück. Die Fiskalpolitik wird nicht mehr als die Hauptwaffe im Kampf gegen Konjunkturschwankungen gesehen. Die Wirtschaftswissenschaftler argumentieren nun, dass Steueränderungen hauptsächlich mit Blick auf die Gesamtersparnis, Investitionen und Innovationen vorgenommen werden sollten.
Der zweite Partner in der Stabilitätspolitik Unsere Multiplikatoranalyse hat sich hauptsächlich auf die Fiskalpolitik als Mittel zur Stabilisierung der Wirtschaft konzentriert. Doch die Anhänger der Lehre von Keynes betonen, dass die Fiskalpolitik nur eines der Instrumente zur Steuerung von Konjunkturzyklen ist. Die Geldpolitik stellt ein weiteres, ähnlich wirkungsvolles Werkzeug der Regierung dar. Obgleich die Geldpolitik auf andere Art wirkt, wie wir in den nächsten zwei Kapiteln sehen werden, hat sie als Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Inflation viele Vorteile. Wie zwei Lokomotiven an den beiden Enden eines Zuges, die mal in die gleiche und mal in verschiedene Richtungen ziehen, sind die Geld- und die Fiskalpolitik kräftige Motoren, die Produktion, Beschäftigung und Preise kurzfristig antreiben können.
Multiplikatoren in der Praxis Eine realistische Vorstellung von der Höhe des Multiplikators gehört ganz wesentlich zu Diagnose und Therapiewahl in der Wirtschaftspolitik. Genau wie ein Arzt, der ein schmerzstillendes Mittel verschreibt, dessen Wirkung er in den verschiedenen Dosierungen kennen muss, so muss auch ein Volkswirt die Höhe des Ausgaben- und des Steuermultiplikators kennen. Wächst die Wirtschaft zu schnell und besteht die Therapie in fiskalpolitischen Restriktionen, muss der Wirtschaftsarzt die tatsächliche Multiplikatorhöhe kennen, ehe er entscheidet, wie hoch die Steuererhöhung oder Ausgabenkürzung ausfallen soll. Lehrbuchmodelle zeigen ein stark vereinfachtes Bild makroökonomischer Strukturen. Um ein realistischeres Bild von der Reaktion der Produktion auf Veränderungen der Staatsausgaben zu erhalten, arbeiten Ökonomen mit umfassenden ökonometrischen Mo-
700
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
dellen (siehe die Diskussion in Kapitel 23) und führen damit numerische Experimente durch, indem sie die Auswirkung eines geänderten Ausgabenverhaltens des Staates auf die Wirtschaft berechnen. Solche Modelle können als Grundlage für Empfehlungen an die Wirtschaftspolitik dienen. In diese großen Modelle fließen nicht nur die simplen Faktoren ein, die wir bisher vorgestellt haben, sondern auch solche, die wir erst später betrachten werden, beispielsweise eine realistische Behandlung der Steuern, der vollständige Geldsektor und das Verhalten von Löhnen und Preisen. Eine Berücksichtigung dieser zusätzlichen Aspekte führt üblicherweise zu einer geringeren Größe der Multiplikatoren. Eine kürzlich erschienene umfassende Übersicht über die neueren ökonometrischen Modelle der USA liefert einen repräsentativen Querschnitt der angestellten Multiplikatorschätzungen. Diese Modelle enthalten Gleichungen zur Prognose des Verhaltens aller wichtigen Wirtschaftssektoren (darunter sowohl der Geld- als auch der Finanzsektor sowie Investitionsnachfrage- und Konsumfunktionen), und sie berücksichtigen die ganzen Verbindungen zum Rest der Welt. In diesen Schätzungen wird der reale Wert der Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen permanent um US-$ 1 Milliarde erhöht. Danach berechnen die Modelle die Auswirkungen auf das reale BIP. Die Änderung des realen BIP infolge einer Erhöhung der Staatsausgaben liefert einen Schätzwert für die Höhe des Staatsausgaben-Multiplikators. Abbildung 24-9 stellt die Ergebnisse dieser Studie dar. Die breite rostfarbene Linie entspricht dem durchschnittlichen Staatsausgaben-Multiplikator nach Schätzungen aus acht Modellen, während die dünnen grauen Linien die Bandbreite der Schätzungen der einzelnen Modelle zeigen. Der durchschnittliche Multiplikator für das erste und zweite Jahr liegt bei etwa 1,4, doch nach dem zwei-
Teil 5
ten Jahr nimmt der Multiplikator unter Einbeziehung monetärer Kräfte und internationaler Entwicklungen leicht ab. (Die monetären Kräfte stellen die Auswirkungen eines höheren BIP auf die Zinssätze dar, wodurch es zu einer Verdrängung von Investitionen kommt, wie wir in späteren Kapiteln noch erörtern werden.) Ein interessantes Merkmal der erwähnten Schätzungen sind die doch beträchtlichen Abweichungen der einzelnen Modelle voneinander (entsprechend den dünnen grauen Linien in Abbildung 24-9), was die Höhe des Multiplikators betrifft. Warum fallen die Schätzungen so unterschiedlich aus? Zunächst besteht eine grundsätzliche Unsicherheit hinsichtlich der Art der wirtschaftlichen Verflechtungen. Unsicherheit bezüglich natürlicher oder gesellschaftlicher Faktoren macht eine Wissenschaft erst so richtig spannend; würde man bereits alles verstehen, hätten die Wissenschaftler längst nichts mehr zu tun. Das Verständnis volkswirtschaftlicher Systeme stellt uns vor noch größere Schwierigkeiten als jene, denen sich der Naturwissenschaftler gegenübersieht, weil Ökonomen keine kontrollierten Experimente im Labor durchführen können. Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, dass sich die Volkswirtschaft im Laufe der Zeit auch entwickelt, weshalb das „richtige“ Modell für 1965 anders aussieht als das „richtige“ Modell für 2005. Darüber hinaus herrschen grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ökonomen über das Wesen der Makroökonomie. Manche meinen, ein keynesianischer Ansatz könne makroökonomische Entwicklungen am besten erklären, während andere überzeugt sind, dass ein klassischer oder auf reale Konjunkturzyklen bezogener Ansatz die besseren Einsichten vermittelt. Angesichts all der bestehenden Unsicherheiten und unterschiedlichen Ansichten darf es uns nicht wundern, dass Ökonomen Multiplikatoren auch verschieden einschätzen.
Anhang 1
701
Diagramme richtig lesen
Auswirkung einer Erhöhung der Staatsausgaben um US-$ 1 Mrd. auf das BIP (Mrd. US-$)
2,0
1,5 Durchschnittswert aus allen Modellen
1,0
0,5
0
1 2 3 4 Jahre, die seit der Ausgabenerhöhung verstrichen sind
5
Abbildung 24-9: Ausgabenmultiplikatoren in makroökonomischen Modellen Diese Übersicht zeigt die geschätzten Staatsausgabenmultiplikatoren aus verschiedenen makroökonomischen Modellen. Diese Experimente liefern uns die geschätzte Auswirkung einer permanenten Erhöhung des Realwerts der Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen um US-$ 1 Milliarde auf das reale BIP in verschiedenen Intervallen nach der Ausgabenerhöhung. Sie zeigen also die Auswirkung einer Änderung von G um US-$ 1 Milliarde auf Q. Die breite rostfarbene Linie zeigt den aus den verschiedenen Modellen errechneten durchschnittlichen Multiplikator; die grauen Linien stehen für die unterschiedlichen Multiplikatoren aus jedem einzelnen Modell. Quelle: Ralph C. Bryant, Gerald Hotham und Peter Hooper, „Consensus and Diversity in Model Simulations“, Empirical Macroeconomics for Interdependent Economies (Brookings Institution, Washington, D.C., 1988).
Jenseits des Multiplikatormodells Wir haben unseren Überblick über die wichtigsten Anwendungen des keynesianischen Multiplikatormodells nun abgeschlossen. Dieses Modell stellt ein unverzichtbares Hilfsmittel zum Verständnis der Konjunkturzyklen sowie der Verbindung zwischen der Fiskalpolitik der Regierung und der nationalen Produktionsleistung dar. Trotzdem wäre es falsch zu glauben, dass man aus einem Papagei einen Makroökonomen machen kann, wenn man ihm das Sprüchlein „C + I + G“ beibringt. Um die Makroökonomie zu beherrschen, muss man nicht nur ihre Modelle verstehen, sondern auch deren Stärken und Schwächen. Das einfachste Multiplikatorenmodell nimmt unter anderem die folgenden Vereinfachungen vor:
• Es ignoriert die Auswirkungen von Geld und Krediten auf Konsum und Investitionen. • Es kümmert sich nicht darum, wie der Außenhandel die Produktion im In- und Ausland beeinflusst. • Es ignoriert das Gesamtangebot, sodass wir nicht untersuchen können, in welchem Verhältnis sich ein Anstieg der Ausgaben auf die Produktion und die Preise auswirkt. Dies sind keine Kleinigkeiten – es sind Aspekte, die zum Verständnis der modernen Makroökonomie notwendig sind. In den nächsten paar Kapiteln werden wir diese weiteren realistischen Elemente in die Theorie einführen. Sobald wir den Einfluss von Geld und Zinssätzen, das Verhalten von Löhnen und Preisen sowie die Auswirkungen des Außenhandels mit berücksichtigen, werden wir entdecken, dass die Fiskalpolitik ganz
702
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
andere wirtschaftliche Folgen zeitigen kann, als uns das einfachste Multiplikatormodell vermuten lässt. Als Nächstes haben wir uns das Studium eines der faszinierendsten Bereiche der gesamten Wirtschaft vorgenommen, jenem des
Teil 5
Geldes. Wenn wir verstehen, wie die Zentralbank die Geldmenge beeinflusst, erhalten wir einen besseren Einblick in die Möglichkeiten des Staates, die Konjunkturzyklen, die in der gesamten Geschichte des Kapitalismus immer wieder Amok gelaufen sind, zu zähmen.
Zusammenfassung A. Das einfache Multiplikatormodell 1.
2.
3.
4.
Mithilfe des Multiplikatormodells kann man auf einfache Art den Einfluss der Gesamtnachfrage auf das Produktionsniveau darstellen. Beim einfachsten Multiplikatoransatz stellt der Konsum der Haushalte eine Funktion des verfügbaren Einkommens dar, wobei die Investitionen als konstant angenommen werden. Der geplante Konsum der Haushalte und die beabsichtigten Investitionen der Unternehmen werden über Anpassungen des Produktionsniveaus ins Gleichgewicht gebracht. Das Gleichgewichtsniveau der gesamtwirtschaftlichen Produktion ergibt sich im Schnittpunkt der Sparfunktion SS und der Investitionsfunktion II. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt das Einnahmen-Ausgaben-Modell, bei dem sich die Produktion in dem Punkt im Gleichgewicht befindet, wo die Gesamtausgabenkurve TE, die Konsum- plus Investitionsausgaben entspricht (TE = C + I), die 45˚-Linie schneidet. Falls die Produktion vorübergehend über dem Gleichgewichtsniveau liegt, werden die Verkäufe hinter dieser zurückbleiben, woraufhin die Lagerbestände steigen und die Gewinne sinken. Die Unternehmen werden deshalb Produktion und Beschäftigung zurückschrauben, bis das Gleichgewichtsniveau wieder erreicht ist. Das einzige Produktionsniveau, das sich auf Dauer aufrechterhalten lässt, ist dann gegeben, wenn die Haushalte freiwillig genauso viel kaufen, wie die Unternehmen produzieren wollen. Im vereinfachten keynesianischen Multiplikatormodell tanzt der Konsum nach der Pfeife der Investitionen. Die Investitionen bestimmen die Produktion, während die Ersparnis passiv auf Einkommensänderungen reagiert. Das Produktionsniveau variiert solange, bis die geplante Ersparnis mit den geplanten Investitionen übereinstimmt. Die Investitionen haben einen Multiplikatoreffekt auf die Produktion. Wenn das Investitionsniveau steigt, wird sich vorerst auch die Pro-
duktion um den entsprechenden Betrag erhöhen. Dadurch verdienen die Einkommensbezieher in der Investitionsgüterindustrie mehr und setzen so eine ganze Kette von sekundären Konsumausgaben und Beschäftigungseffekten in Bewegung. Wenn die Haushalte jedes Mal r von jeder zusätzlichen Geldeinheit an Einkommen für den Konsum verwenden, dann ergibt sich insgesamt ein Multiplikatoreffekt von: 2 1 1 1 1 + r + r + … = ------------- = ------------------------ = -------------1 – r 1 – MPC MPS Der einfachste Multiplikator entspricht numerisch dem Kehrwert der Grenzneigung zum Sparen (MPS), oder anders ausgedrückt: 1/(1 – MPC). Der Multiplikator wirkt in beide Richtungen; er verstärkt sowohl Investitionserhöhungen als auch Investitionssenkungen. Das liegt daran, dass das Einkommen sich jeweils um mehr als eine Geldeinheit erhöhen muss, damit die Ersparnisse um eine Geldeinheit wachsen. 5. Die folgenden wichtigen Punkte sollte man sich merken: (a) Das einfache Multiplikatormodell betont die Bedeutung, die Veränderungen der Gesamtnachfrage auf Produktion und Einkommen haben; (b) das Modell ist hauptsächlich in Situationen aussagefähig, in denen Ressourcen nicht genutzt werden oder unbeschäftigt sind.
B. Die Fiskalpolitik im Rahmen des Multiplikatormodells 6.
Im Rahmen der Analyse der Fiskalpolitik wird das keynesianische Multiplikatormodell weiter ausgearbeitet. Es zeigt, dass eine isolierte Zunahme der Staatsausgaben – wenn also Steuern und Investitionen unverändert bleiben – einen stimulierenden Effekt auf die Produktionsleistung eines Landes hat, ähnlich wie ein Anstieg der Investitionen. Die Gesamtausgabenfunktion TE = C + I + G verschiebt sich nach
703
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
7.
oben zu einem höher gelegenen Gleichgewichtsschnittpunkt mit der 45˚-Linie. Eine Steuersenkung – ebenfalls isoliert betrachtet, ohne Einbeziehung von Änderungen bei Investitionen und Staatsausgaben – erhöht das Gleichgewichtsniveau der nationalen Produktionsleistung. Die Konsumfunktion CC, die in ihrem Verhältnis zum BIP betrachtet wird, verschiebt sich durch Steuerkürzungen nach links oben. Da die zusätzlichen Geldeinheiten an verfügbarem Einkommen teilweise gespart werden, fällt der in Geld bewertete Konsum-
8.
anstieg nicht ganz so hoch aus wie die Steigerung des verfügbaren Einkommens. Der Steuermultiplikator ist daher kleiner als der Staatsausgaben-Multiplikator. Mithilfe von statistischen Methoden und der makroökonomischen Theorie haben Ökonomen realistische Modelle zur Schätzung der Ausgabenmultiplikatoren entwickelt. Nach den gängigen Ansätzen liegen die Multiplikatoren für Perioden bis zu vier Jahren irgendwo zwischen 1 und 1,5.
Begriffe zur Wiederholung Das einfache Multiplikatormodell (TE = C + I)-Funktion (TE = C + I + G)-Funktion Zwei Betrachtungsweisen zur Bestimmung des BIP: geplante Ersparnis = geplante Investitionen geplanter Konsum + geplante Investitionen = geplantes BIP Die Investitionen entsprechen den Ersparnissen: Geplante und tatsächliche Niveaus Multiplikatoreffekt der Investitionen
Multiplikator 2
= 1 + M P C + (M P C ) + … 1 1 = ------------------------ = -------------1 – MPC MPS Staatsausgaben und Steuern Fiskalpolitik: Die Wirkung von G auf das Gleichgewichts-BIP Die Wirkung von T auf CC und das BIP Multiplikatoreffekte von Staatsausgaben (G) und Steuern (T) (C + I + G)-Kurve Geschätzte Multiplikatoren in der Realität
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Das Multiplikatormodell wurde von John Maynard Keynes in seinem Buch The General Theory of Employment, Interest, and Money (Harcourt, New York, Erstauflage 1935; deutsch: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) entwickelt. Eine ausführlichere Behandlung des Themas findet sich in den Büchern für Fortgeschrittene, die im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu Kapitel 20 aufgeführt sind. Deutschsprachige Literatur: Helmut Hesse, Horst Keppler und Andreas Schuseil, Theoretische Grundlagen der Fiscal Policy, 2. Aufl. (Vahlen, München, 1998).
Websites Brad DeLong von der University of California in Berkeley unterhält eine Internetseite mit vielen Hinweisen zu Keynes unter www.j-bradford-delong.net/index.html. Eines der einflussreichsten Bücher von Keynes, The Economic Consequences of the Peace (1919; deutsch: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages) sagte mit geradezu unheimlicher Genauigkeit voraus, dass der Vertrag von Versailles verheerende Folgen für Europa haben würde – man findet es unter http://socserv2.socsci.mcmaster.ca/econ/ugcm/3113/keynes/vebrev
704
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Übungen 1.
2.
3.
4.
5.
Nehmen Sie in einem einfachen Multiplikatormodell an, dass die Investitionen immer gleich null sind. Zeigen Sie, dass das Gleichgewichtseinkommen in diesem speziellen Fall im Gleichgewichtspunkt (das heißt bei der Sparschwelle) der Konsumfunktion liegt. Wieso wird das Gleichgewichtseinkommen über diese Sparschwelle steigen, sobald die Investitionen positiv sind? Definieren Sie sorgfältig, was man in dem Multiplikatormodell unter Gleichgewicht versteht. Geben Sie für jede der folgenden Situationen an, warum kein Gleichgewicht vorliegt. Erläutern Sie auch, wie die Wirtschaft in jeder dieser Situationen reagieren wird, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen. a. In Tabelle 24-1 liegt das BIP bei US-$ 3.300 Milliarden. b. In Abbildung 24-2 sind die tatsächlichen Investitionen gleich null. c. Autohändler stellen fest, dass ihre Halden von Neuwagen unerwartet steigen. d. Im einfachsten Multiplikatormodell aus Abschnitt A planen die Konsumenten, US$ 600 zu sparen, während die Unternehmen US-$ 700 investieren möchten. Legen Sie Tabelle 24-1 neu an unter der Annahme, dass die Nettoinvestitionen (a) US-$ 300 Milliarden beziehungsweise (b) US-$ 400 Milliarden betragen. Wie verändert sich dadurch das BIP? Ist diese Veränderung größer oder kleiner als die Investitionsänderung? Warum? Um wie viel wird das BIP fallen, wenn die Investitionen von US-$ 200 Milliarden auf US$ 100 Milliarden zurückgehen? Beschreiben Sie den Multiplikator (a) nach dem gesunden Menschenverstand, (b) arithmetisch und (c) geometrisch. Berechnen Sie die Multiplikatoren für MPC = 0,9 beziehungsweise 0,8 und 0,5 sowie für MPS = 0,1 und 0,8. Wie bereits in Kapitel 23 beschrieben, wird die Investitionsquote aufgrund des Akzeleratorprinzips hauptsächlich durch eine Veränderung des Produktionsniveaus bestimmt. Wir könnten daher die „Grenzneigung zur Investition“ (MPI) als die Änderung der Investitionen pro Einheit Produktionsänderung definieren. Nehmen Sie an, dass die Investitionen I = I + 1,2 Q betragen (MPI = 1,2), wobei MPC = 0,8. Wie hoch ist die Grenzneigung der Ausgaben (MPC + MPI)? Berechnen Sie die explosiv (!) anwachsende Ausgabenkette, wenn die Grenzneigung der Ausgaben 2 beträgt. Versuchen Sie die
divergierenden, unendlichen geometrischen Reihen zu erklären. 6. Erklären Sie in Worten und mit Hilfe der Ausgabenrunden, warum der Steuermultiplikator kleiner ist als der Ausgabenmultiplikator. 7. Erklären Sie, warum sich Staaten zur Stabilisierung der Wirtschaft für fiskalpolitische Maßnahmen entscheiden. Warum könnte die Fiskalpolitik in einer keynesianischen Wirtschaft, nicht jedoch in einer Wirtschaft, in der die Gesamtangebotskurve senkrecht verläuft, wirksam zur Hebung der Produktionsleistung beitragen? 8. „Auch wenn der Staat Milliarden verschwenderisch für Aufrüstungszwecke ausgibt, kann er damit in einer Rezession Arbeitsplätze schaffen.“ Erörtern Sie diese Aussage. 9. Bei dem Diagramm, das Ersparnisse und Investitionen zeigt, sowie jenem, in dem C + I und die 45˚-Linie eingetragen sind, handelt es sich darum zwei unterschiedliche Methoden nachzuweisen, wie die Gesamtproduktion eines Landes in dem Multiplikatormodell bestimmt wird. Beschreiben Sie beide Ansätze und zeigen Sie, warum sie zum gleichen Ergebnis führen. 10. Für Fortgeschrittene: Das Wirtschaftswachstum eines Landes hängt entscheidend von Ersparnissen und Investitionen ab. Von Kind an wird uns beigebracht, Sparsamkeit sei wichtig, denn „wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“. Werden höhere Ersparnisse aber notwendigerweise immer der Wirtschaft nutzen? In einer eindrucksvollen Argumentation, die man als Sparparadox bezeichnet, wies Keynes darauf hin, dass der Versuch der Menschen, mehr zu sparen, nicht notwendigerweise zu höheren Gesamtersparnissen eines Landes führen muss. Zum besseren Verständnis des Paradoxons nehmen Sie einfach an, dass die Menschen sich entschließen, mehr zu sparen. Zeigen Sie, wie dadurch im Multiplikatormodell in Abbildung 24-4 die SS-Kurve nach oben verschoben wird. Erläutern Sie, warum dies die Produktion verringert, ohne zu einer Zunahme der Gesamtersparnis zu führen! Wenn die Leute versuchen, bei einem gegebenen Investitionsniveau ihre Ersparnisse zu erhöhen und ihren Konsum einzuschränken, werden die Verkäufe zurückgehen, und die Unternehmen werden ihre Produktion drosseln. Erklären Sie, wie weit die Produktion abnehmen wird. Hier haben wir
Kapitel 24 Das Multiplikatormodell
also das Paradox des Sparens: Wenn eine Gemeinschaft beschließt, mehr zu sparen, können dadurch tatsächlich Einkommen und Produktion fallen, ohne dass es zu einer Erhöhung der Gesamtersparnis kommt. Erläutern Sie, warum dies ein gutes Beispiel für einen Denkfehler ist. Erklären Sie auch, warum das Paradox in einer Wirtschaft zutreffen kann, in der Unterbeschäftigung herrscht, während in einer „klassischen“ Volkswirtschaft mit Vollbeschäftigung höhere Ersparnisse tatsächlich die Investitionen erhöhen würden, ohne dass die Produktion abnimmt.
705
707
KAPITEL 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Von Anbeginn an hat Geld die Menschen auf die eine oder andere Weise bedrückt: Entweder es war reichlich vorhanden, aber wertunbeständig, oder es war wertbeständig, aber knapp. John Kenneth Galbraith, Die Tyrannei der Umstände
Das Finanzsystem ist einer der wichtigsten und dynamischsten Bereiche der modernen Wirtschaft. Die Gesamtheit seiner Institutionen und Instrumente bildet das lebenswichtige Kreislaufsystem, das die Ersparnisse einer Gruppe von Individuen oder Ländern zu anderen Unternehmen oder Ländern schleust, die einen Investitionsbedarf haben. Seiner Bedeutung wegen beginnen wir dieses Kapitel mit einer Übersicht über die Funktionsweise des modernen Finanzsystems. Eine ganz einzigartige Finanzanlage, die wir Geld nennen, spielt eine spezielle Rolle in der Wirtschaft. Es ist das Schmiermittel, das die Transaktionen zwischen den verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern erleichtert. Im zweiten Teil des Kapitels werden die Natur des Geldes und die Gründe dafür untersucht, warum es den Menschen als Wertanlage dient. Anschließend betrachten wir die spezielle Rolle der Banken, die aus ihren Reserven heraus Geld schöpfen. Der letzte Teil dieses Kapitels befasst sich mit den faszinierenden Schwankungen der Börsenkurse. Alle diese Untersuchungen stellen eine notwendige Vorarbeit für die im nächsten Kapitel vorgestellte Analyse dar, welche die wesentliche Rolle der Geldpolitik bei der Steuerung von Konjunkturzyklen untersucht.
A. Das moderne Finanzsystem Die Rolle des Finanzsystems Finanzen und das Finanzsystem bilden einen Bereich der modernen Wirtschaft, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Unter Finanzwesen verstehen wir den Prozess, durch den Wirtschaftsteilnehmer zu Konsum- oder Investitionszwecken von anderen Geld leihen oder an sie Kredite vergeben. Mitunter leihen Menschen sich Geld, weil ihr als Bargeld
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
verfügbares Einkommen nicht ihren gewünschten Ausgaben entspricht. Studenten haben beispielsweise für ihre Ausbildung und ihren Lebensunterhalt Beträge zu zahlen, die in der Regel ihre gegenwärtigen Einkommen übersteigen. Häufig nutzen sie Studentendarlehen zur Finanzierung der Differenz zwischen Einkommen und Ausgaben. Ähnlich spart die arbeitende Bevölkerung in der Regel einen Teil ihres jeweiligen Verdienstes für ihr Rentenalter, indem sie es beispielsweise in Aktien oder festverzinslichen Wertpapieren anlegt. Dies ist ihre Art der Altersfinanzierung. Die mit dem Finanzwesen verbundenen Aktivitäten finden innerhalb des Finanzsystems statt. Dazu gehören Märkte, Unternehmen und sonstige Institutionen, die im Inoder Ausland Finanzentscheidungen von Haushalten, Firmen oder Regierungen umsetzen. Wichtige Bestandteile des Finanzsystems sind der Geldmarkt (der weiter unten in diesem Kapitel behandelt wird), die Märkte für festverzinsliche Wertpapiere, wie beispielsweise Pfandbriefe oder Hypotheken, die Aktienmärkte, an denen man Firmenanteile erwerben kann, sowie die Devisenmärkte, an denen ausländische Währungen gehandelt werden. Den größten Teil des Finanzsystems der Vereinigten Staaten machen gewinnorientierte Unternehmen aus, aber Regierungsbehörden, wie beispielsweise das Federal Reserve System (die Zentralbank) und sonstige Aufsichtsorgane sind besonders wichtig, um ein gut funktionierendes und stabiles Finanzsystem zu garantieren. Die Aufnahme und Vergabe von Finanzmitteln findet an den Finanzmärkten und durch Finanzmittler statt. Die Finanzmärkte unterscheiden sich nur insofern von anderen Märkten, als ihre Produkte und Dienstleistungen aus Finanzinstrumenten bestehen, beispielsweise Aktien und festverzinslichen Wertpapieren. Bedeutende Finanzmärkte sind der Aktienmarkt, der Markt für festverzinsliche Wertpapiere sowie Devisenmärkte. Die Einrichtungen, die Finanzdienstleistungen anbieten, bezeichnet man als Finanz-
Teil 5
mittler. Finanzinstitute unterscheiden sich von anderen Unternehmen dadurch, dass ihre Anlagen überwiegend finanzieller Art sind und kein unbewegliches Vermögen, wie beispielsweise Fabriken oder Anlagen, darstellen. Das Einzelkundengeschäft (wie Bankdienstleistungen oder der Kauf von Versicherungspolicen) wird größtenteils über Finanzmittler abgewickelt und vollzieht sich nicht direkt an den Finanzmärkten. Die wichtigsten Finanzmittler sind die Geschäftsbanken, die Finanzeinlagen von Haushalten und anderen Gruppen annehmen und diese Mittel an Unternehmen oder andere Gruppen oder Personen, die gerade Finanzmittel benötigen, verleihen; die Banken „schöpfen” auch das ganz spezielle Produkt, das als Geld bezeichnet wird. Andere wichtige Finanzmittler sind Versicherungen und Pensionskassen, die spezielle Produkte anbieten, nämlich Versicherungspolicen und Investitionen für das Rentenalter. Eine dritte Gruppe dieser Finanzmittler „sammelt“ Wertpapiere und „teilt“ sie dann wieder auf; dazu zählen Investmentfonds (die im Auftrag und im Namen von Kleinanlegern Aktien und festverzinsliche Wertpapiere halten) sowie Hypothekenwiederverkäufer (die von Banken Hypotheken erwerben und sie dann für andere Investoren neu strukturieren). Insgesamt betrachtet haben die Finanzmittler Verbindlichkeiten in Höhe von rund US-$ 40 Billionen; dies entspricht etwa US$ 400.000 pro amerikanischem Haushalt. Angesichts der Investitionen, die in diesem Sektor stecken, ist dessen gründliche Analyse wichtig, nicht nur um eine gute Politik betreiben zu können, sondern auch für kluge Finanzentscheidungen der Haushalte.
Die Aufgaben des Finanzsystems Da das Finanzsystem ein so wesentlicher Teil der modernen Wirtschaft ist, wollen wir seine wichtigsten Funktionen betrachten: • Das Finanzsystem transferiert Ressourcen im Zeitverlauf sowie zwischen Sektoren
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
und Regionen. Diese Funktion ermöglicht es, Investitionen so produktiv wie möglich zu tätigen, statt die Finanzmittel irgendwo zu binden, wo sie am wenigsten gebraucht werden. Oben haben wir das Beispiel der Studentendarlehen und der Ersparnisse für das Rentenalter angeführt. Das internationale Finanzwesen liefert uns ein weiteres Beispiel. Japan, wo die Sparquote hoch ist, transferiert Ressourcen nach China, wo sich günstige Investitionsmöglichkeiten bieten; diese Übertragung erfolgt mittels Darlehen und ausländischen Direktinvestitionen in China. • Das Finanzsystem sichert Risiken für die Wirtschaft ab. In gewisser Weise gleicht das Absichern von Risiken dem Transfer von Ressourcen: Das Risiko wird jenen Menschen oder Sektoren abgenommen, die es am dringendsten senken müssen, und auf andere verlagert oder verteilt, die es besser tragen können. Beispielsweise akzeptiert die Feuerversicherung für Ihr Haus das Risiko, dass Ihnen US-$ 200.000 an Investitionen verloren gehen können, und verteilt es auf Hunderte oder Tausende von Aktionären der Versicherungsgesellschaft. • Das Finanzsystem sammelt Finanzmittel und verteilt sie wieder, je nach dem Bedarf des individuellen Sparers oder Investors. Möglicherweise wollen Sie US-$ 10.000 in ein Aktienportfolio investieren. Die Anlage eines effektiven Portfolios von 100 Unternehmen kann Mittel in Höhe von US-$ 10 Millionen erfordern. Hier tritt nun ein Investmentfonds auf den Plan: Wenn er 1.000 Investoren hat, kann er das Portfolio erwerben, es aufteilen und für die Investoren verwalten. Als Entgelt kann ein gut geführter Investmentfond von Ihnen pro Jahr eine Verwaltungsgebühr von US-$ 30 auf ihr Portfolio im Umfang von US-$ 10.000 verlangen. Außerdem braucht eine moderne Wirtschaft Großunternehmen, die Milliarden von Dollar in Fabriken und Anlagen investiert haben. Es ist unwahrscheinlich, dass sich irgendein Mensch dies alleine
leisten kann – und selbst wenn es möglich wäre, möchte diese Person vermutlich nicht ihr ganzes Vermögen derart bündeln. Die Lösung des Problems stellt die moderne Aktiengesellschaft mit ihrer Fähigkeit dar, Unternehmensanteile an viele Menschen zu verkaufen und die so erworbenen Mittel für große und riskante Investitionen zu nutzen. • Das Finanzsystem funktioniert auch als wichtige Abrechnungsstelle, die alle Transaktionen zwischen Zahlungsleistendem (Käufer) und Zahlungsempfänger (Verkäufer) erleichtert. Wenn Sie beispielsweise Ihr Girokonto mit einem Scheck belasten, um einen neuen Computer zu kaufen, dann belastet eine Abrechnungsorganisation Ihre Bank und schreibt der Bank des Unternehmens, das den Computer verkauft, Geld gut. Diese Tätigkeit ermöglicht die schnelle Übertragung von finanziellen Mitteln auf der ganzen Welt.
Finanzströme Wir können ein vereinfachtes Finanzmarktkonto durch das in Abbildung 25-1 gezeigte Diagramm der Finanzströme verdeutlichen. Es zeigt zwei unterschiedliche Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern – Sparer und Investoren – sowie repräsentative Beispiele für Ersparnisse und Investitionen an den Finanzmärkten und mit Hilfe der Finanzmittler. Die Darstellung ist stark vereinfacht, denn es gibt natürlich ganz verschiedene Arten von Finanzanlagen und -instrumenten, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden.
Eine Auswahl an Finanzanlagen Finanzanlagen sind Geldforderungen einer Partei einer anderen gegenüber. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Anlagen in Dollar oder einer anderen Geldeinheit (deren Auszahlung in der betreffenden Geldeinheit
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Unternehmen begeben Anleihen oder Aktien
Haushalte kaufen staatliche Anleihen oder Aktien Finanzmärkte
Investmentfonds kaufen diversifizierte Aktienportfolios
Sparer
Investoren
Finanzmittler Haushalte legen ihre Löhne auf Bankkonten an
Kleinunternehmen nehmen Bankkredite – z. B. für Pizzaofen – auf
Abbildung 25-1: Der Fluss von Finanzmitteln spiegelt Finanzströme in der Wirtschaft wider Sparer und Investoren transferieren mit Hilfe von Finanzmittlern und auf den Finanzmärkten Mittel über Zeiträume, Entfernungen und Sektoren hinweg. Einige dieser Finanzströme (beispielsweise der Kauf von 100 XYZ-Aktien) vollziehen sich direkt über die Finanzmärkte, während andere (wie die Beteiligung an Investmentfonds oder das Deponieren von Geld auf dem Girokonto) über Finanzmittler abgewickelt werden.
festgelegt ist) und Wertpapiere (deren Wert demjenigen der Ansprüche an reale Vermögenswerte entspricht). Hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Finanzinstrumente und -anlagen: • Geld ist eine ganz besondere Anlage, die wir weiter unten in diesem Kapitel genau definieren werden. • Sparguthaben sind Bankeinlagen, die normalerweise von der Regierung garantiert sind und deren Wert sich aus einem festen Geldwert zuzüglich der anfallenden Zinsen zusammensetzt, die durch den kurzfristigen am Markt herrschenden Zinssatz bestimmt werden. • Staatsanleihen sind Wechsel und Schuldverschreibungen der Bundes-, Landesoder Kommunalregierungen. Diese garantieren die Rückzahlung der Kapitaleinlage
bei Fälligkeit und zahlen außerdem noch laufende Zinsen. Bundesschuldverschreibungen werden als sicherste aller Anlagen betrachtet. • Wertpapiere verleihen ein Besitzrecht an Unternehmen. Sie bringen Dividenden ein, das heißt Zahlungen aus den Nettogewinnen des Unternehmens. Öffentlich gehandelte Wertpapiere, deren Preis an den Börsen bestimmt wird, behandeln wir weiter unten in diesem Kapitel. Wertpapiere gibt es nicht nur als Anteile an Großunternehmen, sondern auch als Beteiligungen an landwirtschaftlichen und Kleinbetrieben. • Finanzderivate sind eine neue Art von Finanzinstrumenten, deren Wert auf dem anderer Anlagen gründet oder sich aus ihnen ableitet. Ein bedeutendes Beispiel hierfür sind Aktienoptionen, eine Finanz-
711
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Finanzanlagen der Haushalte Anteil an den Gesamtanlagen (in %) 1992
1995
1998
2001
Giro- und Sparkonten
17,5
13,9
11,4
11,5
Festverzinsliche Wertpapiere
17,5
13,2
9,3
8,4
Wertpapiere (Aktien und Investmentfonds)
24,1
28,3
35,1
33,8
Pensionskonten und Lebensversicherungen
31,6
35,3
34,0
33,7
9,2
9,2
10,3
12,5
100,0
100,0
100,0
100,0
Nennbetrag in Dollar:
Sonstige Insgesamt
Tabelle 25-1: Finanzanlagen der US-amerikanischen Haushalte, 1992–2001 Haushalte verfügen über eine ganze Bandbreite an Finanzanlagen, von Bargeld bis zu Anteilen an Pensionsfonds. Quelle: Federal Reserve Board, verfügbar unter www.federalreserve.gov/pubs/oss/oss2/2001/scf2001home.html
anlage, deren Wert vom Wert der Aktie abhängt, an die sie gekoppelt ist. • Pensionsfonds stehen für das Eigentum an Vermögen, das von Unternehmen oder Pensionskassen verwaltet wird. Beschäftigte und Unternehmen zahlen während der Arbeitsjahre Beiträge an diese Fonds, aus deren Vermögen dann nach Beendigung des Arbeitslebens Renten ausbezahlt werden. Beachten Sie, dass zu diesen Finanzanlagen die wichtigsten Anlage der meisten Menschen nicht gehört – ihr Haus, das nämlich Sachvermögen und kein Finanzvermögen darstellt. Außerdem haben die Menschen einen kalkulatorischen Anteil an ihren zukünftigen staatlichen Rentenzahlungen sowie der staatlichen Gesundheitsfürsorge, aber diese haben keinen eigentlichen Marktwert. Tabelle 25-1 zeigt die wichtigsten Finanzanlagen der Haushalte.
Zinssätze und Verzinsung der Finanzanlagen Wenn Sie sich Geld leihen oder in Finanzanlagen investieren, dann werden Sie verständlicherweise wissen wollen, was Sie für die Kreditaufnahme bezahlen müssen beziehungsweise für Ihre Investition bekommen. Verdienste aus Investitionen nennt man Rendite oder Ertrag des investierten Kapitals; in dem Sonderfall, dass es sich um den Ertrag von festverzinslichen Wertpapieren handelt, spricht man von Zinssatz. Rein wirtschaftlich betrachtet sind Zinssätze oder sonstige Erträge der Preis für die Aufnahme oder Vergabe von Finanzmitteln. Konzentrieren wir uns auf den Zinssatz als wichtige Größe. Der Zinssatz ist der Preis, der für geborgtes Geld gezahlt wird. Üblicherweise wird der Zins als Prozentsatz der geborgten Mittel pro Jahr berechnet. Es gibt unzählige verschiedene Zinssätze, die von der Fälligkeit, dem Risiko, der steuerlichen Situation und sonstigen Faktoren, die mit dem Schuldner zusammenhängen, bestimmt werden.
712
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Ein paar Beispiele können verdeutlichen, wie Zinsen funktionieren: • Wenn Sie Ihren Universitätsabschluss machen, besitzen Sie nur US-$ 500. Sie beschließen, das Geld bar aufzuheben. Wenn Sie nichts davon ausgeben, haben Sie am Ende des Jahres immer noch US-$ 500, denn auf Bargeld gibt es keine Zinsen. • Etwas später zahlen Sie US-$ 2.000 auf ein Sparbuch bei Ihrer Bank ein, die einen jährlichen Zinssatz von vier Prozent auf Sparguthaben bietet. Am Ende des ersten Jahres schreibt die Bank Ihrem Konto US$ 80 an Zinsen gut, sodass Ihr Guthaben nun US-$ 2.080 beträgt. • Sie treten Ihre erste Arbeitsstelle an und beschließen, für US-$ 100.000 ein kleines Haus zu kaufen. Sie gehen zu Ihrer Bank und erfahren, dass für eine Hypothek mit dreißigjähriger Laufzeit eine Festverzinsung von fünf Prozent pro Jahr anfällt. Jeden Monat zahlen Sie von Ihrer Hypothek US-$ 790,79 ab. Beachten Sie, dass diese Zahlung etwas höher ist als die anteilige Monatsrate von 5/12 Prozent Zinsen. Warum? Weil diese Summe nicht nur die Zinsen, sondern auch die Amortisation beinhaltet. Das ist die Rückzahlung der Kapitaleinlage, also des ausgeliehenen Betrags. Wenn Sie Ihre 360 monatlichen Raten geleistet haben, dann haben Sie das Darlehen vollständig zurückgezahlt. Diese Beispiele machen deutlich, dass Zinssätze als Prozentsätze pro Jahr angegeben werden. Zins ist der Preis, der für geborgtes Geld gezahlt wird, das dem Schuldner die Möglichkeit gibt, während der Laufzeit des Darlehens reale Werte zu erwerben.
Teil 5
Üblicherweise vermindern höhere Zinssätze den Preis für Anlagen Eine wichtige Tatsache, die sich an den Finanzmärkten beobachten lässt, ist das umgekehrte Verhältnis zwischen Zinssätzen und den Preisen von Anlagen. Mit Hilfe des Konzepts des Gegenwartswertes können wir dies verstehen. Nehmen wir an, Ihnen gehört eine Mineralwasserquelle, die Sie verkaufen wollen. Der Marktpreis hängt sowohl von dem zukünftigen Einkommensfluss als auch von dem Zinssatz ab. Durch Berücksichtigung beider erhalten wir den Gegenwartswert der Anlage. Der Gegenwartswert einer Anlage ist der heutige Geldwert des von dieser Anlage im Zeitverlauf generierten Einkommens. Man erhält diesen Wert, indem man berechnet, wie viel Geld heute zum gängigen Zinssatz investiert werden müsste, um den zukünftigen Einkommensstrom der Investition zu schaffen. Hier ein paar Beispiele: • Beginnen wir mit einem festverzinslichen Wertpapier und einem Jahr Laufzeit. In genau einem Jahr bekommt man für dieses Wertpapier US-$ 50 an Zinsen zusätzlich zur ursprünglichen Kapitaleinlage von US-$ 1.050. Außerdem nehmen wir an, der Zinssatz betrage 10 Prozent pro Jahr. Wie viel sollte man dann heute für dieses Wertpapier bezahlen? Die Antwort lautet: Genau US-$ 1.000, denn wenn man heute US-$ 1.000 zu einem Zinssatz von 10 Prozent investiert, dann wird diese Anlage in einem Jahr US-$ 1.100 wert sein. Der Gegenwartswert des festverzinslichen Wertpapiers ist also US-$ 1.000. • Eine ewige Anlage hat zu allen Zeiten einen konstanten Ertrag. Nehmen wir an, Ihre Mineralwasserquelle bringt für alle Zeiten jedes Jahr Wasser im Wert von US-$ N ein. Wie hoch ist der Gegenwartswert (V) wenn der Zinssatz i Prozent pro Jahr beträgt? Der Gegenwartswert ist einfach V = $N/i.
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
• Nehmen wir an, der zukünftige Einkommensstrom sei variabel. Die allgemeine Formel zur Berechnung des Gegenwartswerts einer Anlage betrachtet den Gegenwartswert jedes Teils des zukünftigen Einnahmenstroms und summiert dann die einzelnen Gegenwartswerte. Die folgende Gleichung liefert als Ergebnis den Gegenwartswert einer Anlage: N1 N2 Nt V = --------- + -----------------2- + … + -----------------t- + … I + i (I + i ) (I + i )
In dieser Gleichung ist i der Marktzins einer Periode, der als konstant angenommen wird. N1 bezeichnet das Nettoeinkommen (positiv oder negativ) in Periode 1, N2 das Nettoeinkommen in Periode 2, Nt das Nettoeinkommen in Periode t, und so weiter. Nun wird deutlich, dass sich die Preise für Anlagen umgekehrt zum Zinssatz verhalten, denn mit steigenden Zinssätzen sinkt der Gegenwartswert. Im Fall der ewigen Anlage führt beispielsweise eine Verdopplung von i im Nenner zu einer Halbierung des Wertes von V. Sie können selbst mit einem Taschenrechner die Auswirkung eines höheren Zinssatzes im Beispiel des einjährigen festverzinslichen Wertpapiers herausfinden. Es handelt sich hier um eine allgemeine Eigenschaft von Finanzanlagen – der Wert von Aktien, festverzinslichen Wertpapieren, Immobilien und vielen anderen langfristigen Anlagen sinkt mit steigenden Zinssätzen.
Unterschiedliche Zinssätze Lehrbücher erwähnen häufig „den Zinssatz“, aber in Wirklichkeit haben die heutigen komplexen Finanzsysteme eine große Bandbreite von unterschiedlichen Zinssätzen. Diese Zinssätze hängen überwiegend von den Eigenschaften des Darlehens oder Merkmalen des Darlehensnehmers ab. Betrachten wir die Hauptunterschiede. Darlehen unterscheiden sich nach ihrer Laufzeit oder Fälligkeit – der Zeitspanne bis zur vollständigen Rückzahlung. Die kürzeste Darlehenslaufzeit beträgt einen Tag. Kurzfristige Wertpapiere haben eine Laufzeit von
713
einem Jahr. Unternehmen geben oft Industrieschuldverschreibungen mit einer Laufzeit von 10 bis 30 Jahren aus, und Hypotheken haben eine typische Laufzeit über 30 Jahre. Darlehen mit langer Laufzeit sind im Allgemeinen höher verzinst als solche mit kurzer Laufzeit, weil die Darlehensgeber nur bereit sind, auf einen raschen Zugriff auf ihre Gelder zu verzichten, wenn sie im Gegenzug einen höheren Ertrag erzielen können. Darlehen unterscheiden sich auch nach dem damit verbundenen Risiko. Manche Darlehen sind praktisch risikofrei, während andere einen höchst spekulativen Charakter haben. Investoren verlangen eine Risikoprämie, wenn sie in riskante Unternehmungen investieren. Die sicherste Anlage der Welt ist diejenige in US-Staatspapiere. Diese Wechsel und festverzinslichen Anleihen sind durch das Vertrauen in die Regierung, deren Kreditwürdigkeit und ihre Möglichkeit, Steuern zu erheben, gesichert. Mit einem mittleren Risiko verbunden sind Darlehen kreditwürdiger Unternehmen, Staaten oder Kommunen. Riskante Investitionen, bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie uneinbringlich sein werden, sind beispielsweise jene in Unternehmen nahe am Konkurs, in Städte mit rückläufiger Besteuerungsgrundlage oder in Länder wie Argentinien mit hoher Auslandsverschuldung und instabilen politischen Systemen. Die Regierung der Vereinigten Staaten zahlt den so genannten „risikofreien“ Zinssatz; dieser bewegte sich während der letzten 20 Jahre zwischen 3 Prozent und 15 Prozent pro Jahr für kurzfristige Anlagen. Mit höherem Risiko behaftete Darlehen haben einen um ein, zwei oder fünf Prozent höheren Zinssatz; diese Risikoprämie spiegelt den Betrag wider, der nötig ist, um dem Kreditgeber im Falle der Uneinbringlichkeit die Verluste abzugelten. Die Liquidität einzelner Anlagen ist verschieden. Man nennt eine Finanzanlage liquide, wenn sie rasch und mit geringem Wertverlust zu Geld gemacht werden kann. Der Großteil der börsengängigen Wertpapiere, darunter Stammaktien, Industrieschuldver-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Wenn man diese drei Faktoren (zusammen mit anderen Überlegungen, wie beispielsweise dem Steuersatz und Verwaltungskosten) in Betracht zieht, überrascht es nicht, dass es so viele verschiedene Finanzierungsinstrumente und so viele unterschiedliche Zinssätze gibt. Abbildung 25-2 und Tabelle 25-2 zeigen die Entwicklung einiger wichtiger Zinssätze während der letzten 30 Jahre. In der folgenden Erörterung bezeichnet der Begriff „Zinssatz“ generell denjenigen für kurzfristige Staatsanleihen, etwa für den Schatzwechsel mit 90-tägiger Laufzeit. Wie aus Abbildung 25-2 hervorgeht, steigen und fallen die meisten anderen Zinssätze im Gleichschritt mit der kurzfristigen Verzinsung.
schreibungen und Staatsanleihen, lassen sich beinahe zum aktuellen Wert rasch zu Geld machen. Zu den weniger liquiden Finanzanlagen gehören jene, für die kein etablierter Markt besteht. Wenn Ihnen die einzige viktorianische Villa in einer Kleinstadt gehört, könnte es schwierig werden, diesen Vermögenswert schnell oder annähernd zu seinem realistischen Marktwert zu verkaufen – ihr Haus ist eine illiquide Anlage. Wegen des höheren Risikos und der Probleme, die Investition wieder zu Geld zu machen, sind für illiquide Finanzanlagen oder Darlehen höhere Zinssätze als für liquide, risikolose Darlehen erforderlich.
20
Federal Funds Rate (Leitzinssatz) Mittlere Unternehmensanleihe T-Bonds mit 10-jähriger Laufzeit
Jährlicher Zinssatz (%)
16
12
8
4
0 1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Jahr
Abbildung 25-2: Die meisten Zinssätze bewegen sich parallel zueinander Diese Darstellung zeigt die wichtigsten Zinssätze der US-amerikanischen Wirtschaft. Der niedrigste Zinssatz ist üblicherweise derjenige für Bundesanlagen, der von der Federal Reserve in ihrer Geldpolitik festgelegt wird. Die Sätze für langfristigere und riskantere Anlagen liegen üblicherweise über denen für kurzfristige und sicherere Investitionen. Quelle: Federal Reserve System, verfügbar unter www.federalreserve.gov/releases/.
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Nominale Rendite
Reale Rendite
Zeitraum
(% pro Jahr)
(% pro Jahr)
3 Monate
1947–2003
4,8
1,3
10 Jahre
1947–2003
6,6
3,0
Sicher (Aaa)
1947–2003
6,9
3,2
Riskant (Baa)
1947–2003
7,8
4,1
1947–2003
10,1
6,4
Hypotheken (festverzinslich)
1972–2003
9,6
5,0
Kreditkarten
1994–2003
15,2
13,1
Kredite für Neuwagen
1972–2003
10,9
6,3
Art der Anlage Staatsanleihen:
Unternehmensobligationen:
Unternehmensaktien Konsumentenkredite:
Tabelle 25-2: Zinssätze für wichtige Finanzanlagen Für sichere Staatsanleihen ist die Rendite am niedrigsten. Beachten Sie, dass Kreditkartenschulden mit einer beträchtlichen Strafe geahndet werden (Studenten, passt auf!). Die Realzinssätze sind um die Inflationsrate für Konsumausgaben der Haushalte bereinigt. Quelle: Federal Reserve Board, verfügbar unter www.federalreserve.gov/releases/, und Handelsministerium.
Real- und Nominalzinssatz Der Zinssatz wird in Geldeinheiten, nicht in Form von Häusern, Autos oder Waren im Allgemeinen berechnet. Der Nominalzinssatz misst den jährlichen Geldertrag für jede investierte Geldeinheit. Aber Geld kann ein ungenauer Maßstab sein. Die Preise für Häuser, Autos und Waren ändern sich üblicherweise von Jahr zu Jahr – heutzutage ist normalerweise die Inflation daran schuld. Mit anderen Worten, der Zinssatz für Geld misst nicht, was ein Darlehensgeber tatsächlich in Form von Waren und Dienstleistungen verdient. Nehmen wir an, Sie würden heute US$ 100 zu einem Zinssatz von fünf Prozent jährlich verleihen. Nach einem Jahr erhielten Sie dafür US-$ 105. Weil sich während des Jahres das Preisniveau jedoch geändert hat, könnten Sie damit nicht die gleiche Menge an Waren kaufen, die Sie zu Beginn des Jahres für US-$ 105 hätten kaufen können.
Wir brauchen daher einen anderen Maßstab für den Zinssatz, der die Kapitalrendite in Form realer Waren und Dienstleistungen misst, nicht nur als Geldertrag. Dieses alternative Konzept ist der Realzinssatz, der die Menge an Waren misst, die wir morgen für die Güter bekommen werden, auf die wir heute verzichten. Der Realzinssatz wird durch Inflationsbereinigung des Nominal- oder Geldzinssatzes errechnet. Der Nominalzinssatz (mitunter auch als Geldzinssatz bezeichnet) ist der in Geldeinheiten angegebene Zinssatz für Geld. Wenn Sie in der Zeitung über Zinssätze lesen oder wenn Sie die Zinssätze in Abbildung 25-2 betrachten, haben Sie es mit Nominalzinssätzen zu tun; diese drücken den Geldertrag pro investierter Geldeinheit aus. Im Gegensatz dazu wird der Realzinssatz inflationsbereinigt berechnet – als Nominalzinssatz abzüglich der Inflationsrate. Nehmen wir zum Beispiel an, der Nominalzinssatz betrage acht Prozent jährlich und die Infla-
716
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
tionsrate drei Prozent; wir können dann den Realzinssatz als 8 – 3 = 5 Prozent pro Jahr errechnen. Um die Situation an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen, nehmen wir an, dass wir in einer Volkswirtschaft leben, in der nur Brot produziert wird. Außerdem nehmen wir an, dass der Brotpreis in der ersten Periode US-$ 1 pro Laib beträgt und dass die Inflation auf dem Brotmarkt jährlich drei Prozent ausmacht. Wenn wir US-$ 100 zu einem Jahreszinssatz von 8 Prozent verleihen, dann besitzen wir Ende des Jahres US-$ 108. Aufgrund der Inflation erhalten wir dafür im nächsten Jahr aber nur 105 (und nicht 108) Brotlaibe. Der Real- oder Brotzinssatz beträgt 8 – 3 = 5 Prozent.1 In Zeiten der Inflation müssen wir den Realund nicht den Nominalzinssatz verwenden, um den Ertrag von Investitionen in real verdienten Waren pro Jahr pro jeweils eingesetzter Einheit Waren zu berechnen. Der Realzinssatz entspricht ungefähr dem Nominalzinssatz abzüglich der Inflationsrate. Die sicherste Investition der Welt Die Schatzanweisungen der US-Regierung werden allgemein als risikolose Investition betrachtet. Sie haben nur den einen Nachteil, dass für sie ein Festbetrag an Zinsen gezahlt wird. Wenn die Inflationsrate also hoch ist, wie beispielsweise in den späten siebziger Jahren, dann kann der wahre Zinssatz tatsächlich negativ sein. Im Jahre 1997 behob die US-Regierung dieses Problem, indem sie inflationsgeschützte Schatzanweisungen (TIPS) einführte. Der Zins der TIPS sowie die Kapitaleinlage sind praktisch an die Inflation gebunden, das heißt, während ihrer 1 Die Realzinssätze werden folgendermaßen berechnet: π ist die Inflationsrate, i der Nominalzinssatz und r der Realzinssatz. Wenn man heute US-$ 1 investiert, bekomme man in einem Jahr $ (1 + i) zurück. Da die Preise jedoch gestiegen sind, braucht man in einem Jahr $ (1 + π), um die gleiche Menge an Waren zu kaufen, die man heute für US-$ 1 bekäme. Statt heute eine Wareneinheit zu kaufen, kann man daher morgen (1 + r) Einheiten erwerben, wobei (1 + r) = (1 + i) / (1 + π). Generell gilt für niedrige Werte von i und π: r = i – π.
Teil 5
Laufzeit wird ein konstanter realer Zinssatz gezahlt. Das funktioniert folgendermaßen: Jedes Jahr wird der Wert der Kapitalanlage um den Anstieg des Verbraucherpreisindex (VPI) bereinigt. Betrachten wir ein konkretes Beispiel. Im Januar 2000 gab das Finanzministerium ein Wertpapier mit 4 1/4 Prozent Verzinsung und zehnjähriger, inflationsgeschützter Laufzeit heraus. Zwischen Januar 2000 und Juni 2003 stieg der Verbraucherpreisindex um 12 Prozent. Daher wäre ein Wertpapier mit einem Nominalwert von US$ 1.000 im Juni 2003 mit US-$ 1.120 bewertet worden. Wenn im Juni eine Zinszahlung fällig war, dann betrug sie 4 1/4 Prozent von US-$ 1.120, statt 4 1/4 Prozent von US$ 1.000 wie für eine herkömmliche Schatzanweisung. Nehmen wir weiter an, die Inflationsrate betrage durchschnittlich drei Prozent pro Jahr von 2000 bis 2010. Dann wäre die ursprüngliche Kapitaleinlage bei Rückzahlung US-$ 1.343,92 = US-$ 1.000 (1,03)10 wert, statt der US-$ 1.000 im Falle einer herkömmlichen Schatzanweisung. Solange die Menschen für die nächsten Jahre mit Inflation rechnen, wird der Zinssatz für TIPS niedriger sein als für herkömmliche Schatzanweisungen. Beispielsweise erbrachten Schatzanweisungen mit einer zehnjährigen Laufzeit im Mai 2003 einen Ertrag von 3,57 Prozent, während TIPS mit zehnjähriger Laufzeit nur 1,90 Prozent einbrachten. Das heißt, dass der Durchschnittsanleger für die nächsten zehn Jahre mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von 3,57 –1,90 = 1,67 Prozent pro Jahr rechnete. Der Unterschied zwischen nominalen und realen Zinssätzen für festverzinsliche Wertpapiere mit mehrjähriger Laufzeit ist in Abbildung 25-3 dargestellt. Die obere Linie zeigt den nominalen Zinssatz, die untere einen errechneten realen Zinssatz. Außerdem bildet die kurze rostfarbene Linie den Realzinssatz für TIPS ab. Diese Darstellung zeigt, dass der Anstieg der nominalen Zinssätze zwischen 1960 und 1980 eine reine Illusion schuf, denn der Nominalzins hielt nur mit der Inflationsrate während dieser Zeit Schritt. Nach 1980 stieg
717
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
der Realzinssatz jedoch deutlich an und blieb ein ganzes Jahrzehnt lang auf hohem Niveau. Die Daten für TIPS zeigen, dass der Realzinssatz zwischen 1997 und 2003 deutlich fiel. Wirtschaftswissenschaftler begeistern sich seit vielen Jahren für indexgebundene festverzinsliche Wertpapiere. Rentner können solche Anlagen kaufen, wenn sie sicherstellen wollen, das ihr Notgroschen nicht von der Inflation aufgefressen wird. Auch Eltern, die für die Ausbildung ihrer Kinder sparen wollen, können so einige ihrer Ersparnisse in dem Bewusstsein anlegen, dass sie mit dem allgemeinen Preisniveau Schritt halten werden. Auch die Entscheidungsträger in der Geldpolitik haben etwas für indexgebundene Wertpapiere übrig, denn der Unterschied zwischen herkömmlichen festverzinslichen Papieren und TIPS ist ein Anzeichen dafür, was mit der erwarteten Inflationsrate geschieht. Viele Ökonomen rätseln aber noch immer, warum es so lange gedauert hat, bis diese bedeutende Neuerung eingeführt wurde.
B. Der Sonderfall Geld Wir wenden uns nun dem speziellen Fall des Geldes zu. Wenn Sie einen Moment lang darüber nachdenken, wird Ihnen bewusst werden, dass Geld etwas Merkwürdiges ist. Wir studieren jahrelang, damit wir dann ein gutes Einkommen verdienen, aber jeder Geldschein ist nur ein Stück Papier ohne immanenten Eigenwert. Solange wir es nicht ausgeben, ist Geld nutzlos. Doch aus makroökonomischer Sicht ist Geld alles andere als nutzlos. Die Geldpolitik ist heutzutage das wichtigste Instrument einer Regierung zur Stabilisierung von Konjunkturzyklen. Die Zentralbank setzt ihre Aufsicht über die Geldmenge ein, um die Wirtschaft bei steigender Arbeitslosigkeit zu stimulieren oder sie zu bremsen, wenn die Preise in die Höhe schießen.
Wird das Geld gut verwaltet, wie in den Vereinigten Staaten während der neunziger Jahre, dann wächst die Produktion stetig bei konstanten Preisen. Aber ein unzuverlässiges Währungssystem, beispielsweise wie jenes in Russland während des letzten Jahrzehnts, kann zu Inflation oder Depression führen. Während des 20. Jahrhunderts ließen sich viele der verheerendsten makroökonomischen Probleme weltweit auf das Nichtfunktionieren des Geldsystems zurückführen. Wir wollen uns nun mit der Definition des Geldes beschäftigen und die Nachfrage nach ihm genau untersuchen.
Die Entwicklung des Geldes Die Geschichte des Geldes Was ist Geld? Geld ist alles, was als allgemein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel dient. Da Geld auf eine lange und faszinierende Geschichte zurückblicken kann, beginnen wir mit einer Beschreibung der Entwicklung des Geldes. Tauschhandel. In einem früheren Lehrbuch zum Thema Geld versuchte Stanley Jevons, das Wesen des Tauschhandels an folgendem Beispiel zu verdeutlichen: Vor einigen Jahren gab Mademoiselle Zélie, eine Sängerin des Théâtre Lyrique in Paris, (...) ein Konzert auf den Gesellschaftsinseln. Für eine Arie aus Norma und einige andere Lieder sollte sie ein Drittel der Einnahmen erhalten. Bei der Abrechnung wurde ihr Anteil als 3 Schweine, 23 Truthähne, 44 Hühner, 5.000 Kokosnüsse und beträchtliche Mengen von Bananen, Zitronen und Orangen ermittelt. (...) [I]n Paris (...) hätten ihr Tiere und Obst vielleicht 4.000 Francs eingebracht, eine gute Bezahlung für fünf Lieder. Auf den Gesellschaftsinseln war Geld jedoch knapp; da die Sängerin nur wenig von ihren Einnahmen selbst konsumieren konnte, musste sie die Schweine und das Geflügel mit dem Obst füttern.
718
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
16 Langfristiger Normalzinssatz 12
IJährlicher Zinssatz (%)
8
4 Langfristiger Realzinssatz (T-Bonds) 0
4
8 1960
Langfristiger Realzinssatz (berechnet)
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Jahr
Abbildung 25-3: Realzinssätze und Nominalzinssätze im Vergleich Die rostfarbene Linie zeigt die nominalen Zinssätze für langfristige Schatzanweisungen. Die schwarze Kurve stellt den „errechneten” Realzinssatz dar, der dem nominalen oder Geldzinssatz abzüglich der im vorangegangenen Jahr aufgetretenen Inflation entspricht. Beachten Sie, dass sich die Realzinssätze bis 1980 tendenziell nach unten bewegten. Nach 1980 kam es jedoch zu einem drastischen Anstieg der Realzinssätze. Die kurze rostfarbene Linie seit 1997 zeigt den Realzinssatz für langfristige Wertpapiere, die an einen Inflationsindex gekoppelt sind. Quelle: Federal Reserve Bank of St. Louis, Federal Reserve Board, US-Arbeitsministerium.
Dieses Beispiel veranschaulicht den Tauschhandel, also den Austausch von Waren gegen andere Waren. Der Tauschhandel unterscheidet sich vom Geldhandel, denn Schweine, Truthähne und Zitronen sind keine allgemein akzeptierten Zahlungsmittel, die Mademoiselle Zélie zum Kauf von anderen Dingen verwenden kann. Zwar ist der Tauschhandel besser als gar kein Handel, aber er weist doch gravierende Nachteile auf, weil eine ausgefeilte Arbeitsteilung ohne die Einführung dieser großartigen gesellschaftlichen Erfindung, die wir Geld nennen, undenkbar ist.
Mit zunehmender Entwicklung der Volkswirtschaften tauschen die Menschen nicht mehr eine Ware gegen eine andere. Sie verkaufen stattdessen Waren gegen Geld und verwenden anschließend dieses Geld, um andere Güter, die sie gern hätten, zu kaufen. Auf den ersten Blick scheint diese Vorgehensweise die Dinge eher zu verkomplizieren, weil man anstatt einer nun zwei Transaktionen benötigt. Wäre es nicht einfacher für jemanden, der Äpfel hat, aber Nüsse haben möchte, den Tausch direkt durchzuführen, als erst die Äpfel gegen Geld zu verkaufen, mit
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
dem er anschließend die Nüsse erwerben kann? Nun, das Gegenteil trifft zu: Zwei Geldtransaktionen sind einfacher als ein Tauschhandel. So wollen vielleicht einige Leute Äpfel kaufen, während andere Nüsse verkaufen wollen. Es müsste aber schon ein besonderer Zufall sein, fände man eine Person, deren Wünsche genau komplementär wären – die also Nüsse verkaufen und Äpfel kaufen möchte. Um eine klassische Formulierung der Wirtschaftstheorie zu verwenden, fehlt hier die Bedürfniskoinzidenz. Wenn daher ein hungriger Schneider nicht zufällig einen unbekleideten Bauern findet, der sowohl Nahrungsmittel als auch den Wunsch nach einer neuen Hose hat, wird es wohl zu keinem Tauschhandel kommen. Gesellschaften, in denen ein reger Handel stattfand, konnten auf Dauer mit den enormen Nachteilen des Tauschhandels nicht zurechtkommen. Die Verwendung eines allgemein anerkannten Tauschmittels, wie es Geld darstellt, ermöglicht dem Bauern den Kauf einer neuen Hose vom Schneider, der seinerseits Schuhe vom Schuster kauft, welcher mit dem verdienten Geld wiederum Leder vom Bauern kauft. Warengeld. In der Geschichte der Menschheit finden wir das Tauschmittel Geld erstmals in der Form von Waren. Dabei dienten zu verschiedenen Zeiten völlig unterschiedliche Waren als Geld: Rinder, Olivenöl, Bier oder Wein, Kupfer, Eisen, Gold, Silber, Ringe, Diamanten und Zigaretten. Jedes der genannten Zahlungsmittel hat seine Vor- und Nachteile. Rinder lassen sich schwerlich in kleine Einheiten, sozusagen in Wechselgeld, teilen. Bier wird mit langer Lagerung nicht besser, was bei Wein durchaus der Fall sein kann. Olivenöl ist zwar eine angenehm „flüssige“ Währung und lässt sich auch in kleinstes Wechselgeld teilen, nur kann die Handhabung ziemlich schmierig werden. Und so weiter. Schon im 18. Jahrhundert kannte man beinahe nur noch Metalle als Warengeld, beispielsweise Silber und Gold. Diese For-
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men des Geldes hatten einen „wahren Eigenwert“, das heißt, sie waren an sich wertvoll. Wegen dieses dem Geld inhärenten Wertes musste der Staat dessen Wert nicht garantieren, und die Geldmenge wurde über den Markt durch Angebot und Nachfrage nach Gold und Silber reguliert. Der Nachteil des Metallgeldes besteht in seinen knappen Vorkommen und in der Notwendigkeit, es auszugraben. Außerdem kann es knapp werden oder plötzlich im Überfluss vorhanden sein, einfach weil durch Zufall große Erzvorkommen entdeckt werden. Der Beginn der Geldmengensteuerung durch die Zentralbanken hat zu einem sehr viel stabileren Währungssystem geführt. Der wahre Eigenwert des Geldes ist dabei heutzutage der am wenigsten wichtige Aspekt. Modernes Geld. Das Zeitalter des Warengeldes wurde durch das des Papiergeldes verdrängt. Mit diesem liegt das Wesen des Geldes klar auf der Hand: Man will Geld nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der Dinge, die man damit kaufen kann. Wir wollen Geld nicht direkt konsumieren, vielmehr wollen wir es ausgeben. Selbst wenn wir beschließen, Geld zu behalten, ist es nur deshalb wertvoll, weil wir es später ausgeben können. Der Gebrauch von Papiergeld ist heute weit verbreitet, weil es ein sehr praktisches Tauschmittel darstellt. Dieses Geld lässt sich problemlos transportieren und lagern. Mit ausgeklügelten Drucktechniken kann man Papiergeld auch vor Fälschung schützen. Die Tatsache, dass es Privatpersonen verboten ist, Geld herzustellen, hält das Geld knapp. Geld bezieht seinen Wert aus dem begrenzten Angebot. Man kann damit etwas kaufen. Solange Menschen ihre Rechnungen mit Geld bezahlen können, solange man es als Zahlungsmittel akzeptiert, wird es seiner Funktion als Geld gerecht. Heutzutage ist das meiste Geld Buchgeld – Einlagen auf Girokonten bei Banken oder sonstigen Finanzinstituten. Schecks werden für zahlreiche Güter und Dienstleistungen anstelle einer Barzahlung akzeptiert.
720
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
In den letzten Jahren kam es zu zahlreichen Innovationen im Geldverkehr. So werden in vielen Finanzinstituten heute Girokonten mit einem Sparkonto oder sogar mit einem Aktienportfolio verbunden, was den Kunden die Ausstellung von Schecks auf ihre Aktienvermögen gestattet. Dank der zunehmenden Nutzung des Internets können die Leute heute ihre Rechnungen elektronisch bezahlen und Käufe über das Internet abrechnen. Der nächste Schritt wird elektronisches Geld sein, auch als e-Geld bezeichnet, mit dem die Kaufkraft auf eine Karte mit integriertem Computerchip übertragen wird.
Die Geldmenge und ihre Komponenten Betrachten wir nun die einzelnen Arten des Geldes ein wenig genauer, wobei wir uns auf die Vereinigten Staaten konzentrieren. Die wichtigsten Geldmengenaggregate sind das quantitative Maß für die Geldmenge. Sie werden heute als M1 und M2 bezeichnet, und man kann ihre wöchentliche Entwicklung in der Zeitung verfolgen. Hier wollen wir die exakte Definition verwenden, die aus dem Jahr 2003 stammt. Transaktionsgeld (enge Geldmengendefinition). Ein wichtiges und stets genau beobachtetes Maß für die Geldmenge ist das Transaktionsgeld oder die Geldmenge M1, deren Elemente tatsächlich für Transaktionen verwendet werden. M1 umfasst folgende Komponenten: • Münzen. Zu M1 gehören alle Münzen ohne die Kassenbestände der Banken. • Papiergeld. Eine wichtigere Komponente ist Papiergeld. Viele von uns wissen von einem Geldschein nur, dass ein berühmter Mensch darauf abgebildet ist, dass einige offizielle Unterschriften darauf stehen und dass eine Zahl aufgedruckt ist, die den Wert des Geldscheins angibt. Wenn Sie nun einen Zehndollarschein ansehen, so steht darauf unter anderem „Federal Re-
Teil 5
serve Note“. Doch wodurch ist unser Papiergeld eigentlich „gedeckt“? Vor vielen Jahren war Papiergeld durch Gold oder Silberreserven gedeckt. Dergleichen ist heute nicht mehr nötig. Heute sind alle US-Münzen und Dollarscheine Geld ohne Edelmetalldeckung. Das bedeutet, dass etwas von der Regierung zu Geld erklärt wird, obwohl es keinen eigenen Wert hat. Genauer gesagt verfügt der Staat, dass Münzen und Papiergeld gesetzliche Zahlungsmittel sind, die zur Begleichung aller öffentlichen und privaten Schulden akzeptiert werden müssen. Münzen und Papiergeld (zusammen die umlaufende Bargeldmenge) machen fast die Hälfte der Geldmenge M1 aus. • Sichteinlagen. Es gibt noch eine dritte Komponente des Transaktionsgeldes M1 – die Sichteinlagen oder das Buchgeld. Es handelt sich hierbei um finanzielle Mittel, die bei Banken oder anderen Finanzinstituten angelegt wurden und auf die man Schecks ausstellen kann. Technisch werden sie als „Sichteinlagen und sonstige Kontokorrenteinlagen“ [inländischer Nichtbanken bei den Kreditinstituten] bezeichnet. Wenn ich auf meinem Bankkonto bei der Albuquerque National Bank US-$ 1.000 hinterlegt habe, kann ich mein Bankguthaben als Geld betrachten. Warum? Nun, aus dem einfachen Grund, weil ich für Einkäufe mit Schecks bezahlen kann, die auf dieses Bankguthaben ausgestellt werden. Die Bankeinlage funktioniert wie jedes andere Tauschmittel.2 Da sie die wesentlichen Eigenschaften des Geldes besitzen, gelten Sichteinlagen als Transaktionsgeld, also als Teil von M1. Tabelle 25-3 zeigt die Höhe der verschiedenen M1-Komponenten. 2 Studenten sind oft überrascht, wenn sie erfahren, dass Kreditkarten kein Geld sind. Der Grund besteht darin, dass eine Kreditkarte eine leichte (aber keinesfalls billige!) Methode darstellt, Geld auszuleihen. Wenn Sie mit einer Kreditkarte zahlen, dann versprechen Sie, die Kreditkartenorganisation zu einem späteren Zeitpunkt – mit Geld – zu bezahlen.
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Mrd. US-Dollar Arten von Geld
1959
1973
2003
Umlaufende Bargeldmenge (außer Finanzinstitute)
28,8
61,7
640,0
110,8
209,3
305,7
0,0
0,4
289,0
140,0
271,4
1.234,7
158,8
300,2
3.448,3
298,8
571,6
4.683,0
Sichteinlagen (ohne staatliche Einlagen und bestimmte Auslandseinlagen) Andere Scheckkonten Transaktionsgeld (M1) insgesamt Sparbücher, kleinere Termineinlagen und sonstige Erweiterte Geldmenge (M2) insgesamt
Tabelle 25-3: Zusammensetzung der Geldmenge der Vereinigten Staaten Zwei weit verbreitete Definitionen der Geldmenge sind die Geldmenge im engeren Sinne (Transaktionsgeld) (M1) und die erweiterte Geldmenge (M2). M1 besteht aus der umlaufenden Bargeldmenge und den Sichteinlagen. M2 umfasst außerdem noch bestimmte „Quasigelder”, wie Sparguthaben und Termineinlagen. Quelle: Federal Reserve Board, verfügbar unter www.federalreserve.gov/releases/
Erweiterte Geldmenge M2. Obwohl M1 genau genommen das passendste Maß für Geld als Zahlungsmittel darstellt, haben wir mit der so genannten erweiterten Geldmenge M2 ein zweites, genau zu beobachtendes Geldmengenaggregat. Diese bisweilen auch als „Quasigeld“ oder „Geldsurrogat“ bezeichnete Geldmenge M2 beinhaltet M1 sowie Substitute für Transaktionsgeld. Genau gesagt besteht M2 aus den folgenden Komponenten: • M1 • Sparkonten und kurzfristige Geldeinlagen auf Anlagekonten • Geldanlagen in Investmentfonds Dabei handelt es sich um Quasigeld, denn die Anlagen sind sicher (manche sind sogar von der Regierung garantiert), und sie können schnell in M1 umgewandelt werden. Warum handelt es sich in diesen Fällen nicht um Transaktionsgelder? Weil sie nicht in jedem Fall als Zahlungsmittel bei Einkäufen fungieren können. Man kann nicht in ein Geschäft gehen und mit Geld auf dem Sparkonto bezahlen. Es gibt noch eine Reihe weiterer technischer Definitionen von Geld, die Spezialisten der Geldwirtschaft verwenden. Aber für un-
sere Zwecke genügen die beiden Hauptbegriffe für Geld. Geld ist alles, was als allgemein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel dient. Das wichtigste Geldmengenkonzept ist das Transaktionsgeld (engere Geldmenge) M1, also die Gesamtheit aller umlaufenden Münzen- und Papiergeldbestände mit Ausnahme der Kassenbestände der Banken sowie alle Sichteinlagen. Ein weiteres wichtiges Geldmengenaggregat ist das so genannte Quasigeld oder M2, das sich aus M1 und Geldsurrogaten zusammensetzt, also beispielsweise Sparguthaben, kurzfristige Geldanlagen und Anlagen in Investmentfonds.
Die Geldnachfrage Die Geldnachfrage unterscheidet sich von der Nachfrage nach Eiscreme oder Kinofilmen. Geld will man nicht um seiner selbst willen haben: Man kann Münzen nicht essen, und wir hängen uns nur selten Geldscheine ihrer künstlerischen Gestaltung wegen an die Wand. Wir fragen Geld nur deshalb nach, weil es uns indirekt dient: als Schmiermittel für Handel und Tauschgeschäfte.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Die Funktionen des Geldes Bevor wir die Geldnachfrage näher erörtern, wiederholen wir noch einmal die Funktionen des Geldes: • Die zentrale Funktion des Geldes, die wir hier betonen, ist die des Tauschmittels. Ohne Geld wären wir ständig auf der Suche nach Tauschpartnern unterwegs. Die Bedeutung des Geldes wird oft erst dann deutlich, wenn das Geldsystem zusammenbricht. Nachdem beispielsweise Russland in den frühen neunziger Jahren die Planwirtschaft aufgab, stellten sich die Menschen stundenlang um Waren an und versuchten, Dollars oder andere Fremdwährungen zu ergattern, weil der Rubel kein annehmbares Tauschmittel mehr darstellte. • Geld wird auch als Recheneinheit verwendet, nämlich als jene Einheit, mit der der Wert von Dingen angegeben wird. So wie wir Gewicht in Kilogramm messen, messen wir den Wert in Geld. Die Verwendung einer einheitlichen Recheneinheit vereinfacht das Wirtschaftsleben ganz enorm. • Geld wird bisweilen als Wertaufbewahrungsmittel verwendet. Im Vergleich zu riskanten Anlageformen wie Aktien, Immobilien oder Gold ist Geld weitgehend risikofrei. In früheren Zeiten bewahrten die Menschen Geld als sichere Vermögensform auf. Heute deponieren Menschen, die ihr Vermögen sichern wollen, den größten Teil ihres Geldes auf Sparkonten oder geben es für Aktien, festverzinsliche Wertepapiere sowie Immobilien und Grundbesitz aus.
Die Kosten der Geldhaltung Die drei genannten Funktionen des Geldes sind für uns Menschen äußerst wichtig, und zwar so sehr, dass wir bereit sind, für den Besitz von Geld oder niedrig verzinsten Girokonten zu bezahlen. Worin bestehen die Opportunitätskosten der Geldhaltung? Sie
Teil 5
sind das Opfer an Zinsen, das für die Wahl von Geld anstelle anderer Anlageformen oder Investitionen zu erbringen ist. Nehmen wir an, wir hätten zu Beginn des Jahres 2000 US-$ 1.000 auf ein Sparkonto einbezahlt. Dafür hätten wir fünf Prozent Zinsen erhalten, was uns am Jahresende ein Sparguthaben von US-$ 1.050 beschert hätte. Der Geld- oder Nominalzinssatz betrug also fünf Prozent jährlich. Nehmen wir alternativ an, wir hätten unsere US-$ 1.000 lieber als Bargeld behalten, als sie auf ein Sparkonto einzubezahlen. Dann hätten wir zum Jahresende nach wie vor nur US-$ 1.000, weil Bargeld nicht verzinst wird. Die Opportunitätskosten der Bargeldhaltung lägen in diesem Fall bei US-$ 50. Die Kosten der Geldhaltung sind die Zinsen, die man für eine andere Anlageform bekommen würde.
Zwei Quellen der Geldnachfrage Transaktionsnachfrage. Die Menschen brauchen hauptsächlich deshalb Geld, weil ihre Einnahmen und Ausgaben nicht gleichzeitig erfolgen. Beispielsweise wird mein Gehalt erst am Monatsletzten gezahlt, ich kaufe aber Lebensmittel, Tageszeitungen, Benzin und Bekleidung während des ganzen Monats. Die Notwendigkeit, Geld für Käufe oder Transaktionen von Waren, Dienstleistungen oder sonstigem zur Verfügung zu haben, stellt die Transaktionsnachfrage nach Geld dar. Nehmen wir beispielsweise einmal an, dass eine Familie, die US-$ 3.000 im Monat verdient, diesen Betrag in Geld hält und gleichmäßig über den Monat verteilt ausgibt. Berechnungen zeigen, dass sich der durchschnittliche Geldbestand dieses Haushaltes auf US-$ 1.500 beläuft. Anhand dieses Beispiels können wir sehen, wie die Geldnachfrage auf verschiedene wirtschaftliche Einflussfaktoren reagiert. Verdoppeln sich alle Preise und Einkommen, dann verdoppelt sich auch die nominale Geldnachfrage M. So verdoppelt sich also die
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Transaktionsnachfrage nach Geld, wenn sich das nominale BIP ohne Veränderung des realen BIP oder sonstiger realer Variablen verdoppelt. Wie verändert sich die Geldnachfrage mit den Zinssätzen? Mit steigendem Zinssatz könnte sich unsere Familie sagen: „Belassen wir nur die Hälfte unseres Geldes zu Beginn des Monats auf dem Girokonto und legen wir die andere Hälfte auf ein Sparkonto mit einer jährlichen Verzinsung von acht Prozent. Am 15. des Monats heben wir dann die US$ 1.500 vom Sparkonto ab und legen sie aufs Girokonto, um alle Ausgaben während der nächsten zwei Wochen zu bestreiten.“ Das heißt, mit steigenden Zinssätzen beschloss die Familie, die Hälfte ihres Einkommens auf ein Sparkonto zu legen, und die durchschnittliche Geldhaltung der Familie sank von US-$ 1.500 auf US-$ 750. Das zeigt, dass Geld (oder die Geldnachfrage) zinssensibel reagiert: Wenn alles andere gleich bleibt, sinkt die Geldnachfrage mit steigenden Zinssätzen. Nachfrage nach Anlageformen. Geld lässt sich nicht nur für den Transaktionsbedarf, sondern auch als Wertaufbewahrungsmittel verwenden. Mit der Rolle des Geldes als Investition beschäftigt sich die Finanztheorie, die untersucht, wie Investoren ihre Mittel anlegen sollten, um ihre Ziele bestmöglich zu erreichen. Im Allgemeinen enthält ein gut sortiertes Portfolio (oder eine Kombination von Anlagen) sowohl risikoarme als auch risikoreiche Anlagen. Generell ist es jedoch nicht empfehlenswert, M1 (Bargeld und Sichteinlagen) als Anlageform zu wählen. Der Grund besteht darin, dass andere Anlagemöglichkeiten (beispielsweise Pfandbriefe der Regierung) genauso sicher wie M1 sind, aber eine höhere Verzinsung bringen. In der Sprache der Finanzleute ist Transaktionsgeld eine „untergeordnete“ Anlageform, weil andere Anlagen genauso sicher sind, aber höhere Erträge bringen. Wir fassen unsere Erkenntnisse übe die Geldnachfrage folgendermaßen zusammen:
723
Der Hauptgrund, warum wir Bargeld und Sichteinlagen haben (M1), besteht in der Transaktionsnachfrage – das heißt, weil wir ein allgemein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel brauchen, um Waren zu kaufen und unsere Rechnungen zu bezahlen. Mit unserem Einkommen steigt auch der Geldwert der Waren, die wir kaufen; daher brauchen wir mehr Transaktionsgeld, was bedeutet, dass unsere Geldnachfrage steigt. Die Transaktionsnachfrage nach M reagiert empfindlich auf die Kosten der Geldhaltung. Wenn die Zinsen für alternative Anlagen verglichen mit dem Geldzinssatz steigen, reduzieren Privatleute und Unternehmen in der Regel ihren Geldbestand. Mitunter ist die Geldhaltung auch als Anlage oder als Wertaufbewahrung gedacht. Doch die moderne Finanztheorie weist nach, dass Transaktionsgeld (M1) im Allgemeinen nicht Teil eines gut strukturierten Portfolios sein sollte.
C. Das Bankwesen und die Geldversorgung Oben haben wir die Aufgaben der Finanzmittler beschrieben. Die wichtigsten dieser Unternehmen sind die Geschäftsbanken, bei denen ein breites Publikum Girokonten unterhält. Grundsätzlich handelt es sich bei Banken um Unternehmen, die ihren Besitzern Gewinn bringen sollen. Eine Geschäftsbank ist eine relativ simple Organisation. Sie bietet ihren Kunden gewisse Dienstleistungen und wird dafür von ihnen bezahlt. Tabelle 25-4 zeigt die konsolidierte Bilanz aller US-amerikanischen Geschäftsbanken. Eine Bilanz ist eine Aussage über die finanzielle Lage des Unternehmens zu einem bestimmten Zeitpunkt. In ihr sind Aktiva (das Vermögen des Unternehmens) und Passiva (die Schulden des Unternehmens) aufgezeichnet. Den Unterschied zwischen Vermö-
724
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Bilanz aller Geschäftsbanken, 2003 (Mrd. US-Dollar) Aktiva
Passiva
Reserven Darlehen
41 4.206
Investitionen und Wertpapiere Sonstige Anlagen
1.742
Gesamt
7.071
1.082
Giroeinlagen Sparkonten und Festgeld
614 3.964
Sonstige Verbindlichkeiten und Nettowert Gesamt
2.493 7.071
Tabelle 25-4: Zentralbankreserven und Sichteinlagen sind die wichtigsten Bilanzposten der Geschäftsbanken Zentralbankreserven und Sichteinlagen sind der Schlüssel zur Giralgeldschöpfung durch die Banken. Sichteinlagen müssen auf Aufforderung jederzeit ausbezahlt werden können; auf sie ist durch Ausstellen eines Schecks ein rascher Zugriff möglich. Quelle: Federal Reserve Board, verfügbar unter www.federalreserve.gov/releases.
gen und Verbindlichkeiten bezeichnet man als Reinvermögen. Jeder Bilanzposten wird zum Zeitwert oder zum Anschaffungswert angegeben.3 Von wenigen kleinen Änderungen abgesehen sieht die Bilanz einer Bank ähnlich aus wie diejenigen anderer Unternehmen. Nur in der Bankbilanz findet sich jedoch der Posten Reserven. Dabei handelt es sich um verfügbares Bargeld oder Finanzmittel, die die Bank bei der Zentralbank deponiert hat. Einige Reserven werden zur Erfüllung des Tagesgeschäfts gehalten, aber die meisten dienen der Erfüllung der gesetzlichen Mindestreserveanforderung.
Die Entwicklung der Banken aus Goldschmiedewerkstätten Das Geschäftsbankenwesen nahm in England seinen Ausgang von den Goldschmiedewerkstätten, die es sich zur Gewohnheit machten, Gold und Wertgegenstände ihrer Kunden aufzubewahren. Zu Beginn waren diese Betriebe einfach nur eine Art Gepäckaufgabe oder Lager. Die Einleger ließen ihr 3 Bilanzen, Aktiva und Passiva werden ausführlich in Kapitel 7 diskutiert.
Gold zur sicheren Aufbewahrung gegen Quittung beim Goldschmied. Später erhielten sie gegen Vorlage der Quittung und eine kleine Aufbewahrungsgebühr ihr Gold zurück. Wie sähe wohl die Bilanz eines typischen Goldschmiedebetriebs aus? Vielleicht wie Tabelle 25-5. Wir nehmen einfach an, dass die First Goldsmith Bank keine Goldbarren mehr produziert, sondern sich ausschließlich mit der sicheren Aufbewahrung des Geldes ihrer Kunden befasst. In den Gewölben der Bank lagert US-$ 1 Million Bargeld (das ist der Posten „Reserven“ in der Bilanz). Als Gegengewicht zu diesem Aktivposten finden wir eine Einlagennachfrage in gleicher Höhe. Die Liquiditätsreserve entspricht daher genau 100 Prozent der Einlagen. Gäbe es die Goldsmith Bank heute, wären die Sichteinlagen Teil der Geldmenge, und zwar „Buchgeld“. Dieses Buchgeld entspricht genau der Menge herkömmlichen Geldes (Gold oder Münzen), das im Safe der Bank liegt und aus dem aktiven Umlauf gezogen wurde. Hier findet keine Geldschöpfung statt. Der Vorgang ist genauso unbedeutend wie ein plötzlicher Entschluss der Konsumenten, alle Euros in ihrem Besitz in Cents zu wechseln. Eine hundertprozentige Min-
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Bilanz eines Goldschmieds Aktiva
Passiva
Reserven
+$ 1.000.000
Einlagen
+$ 1.000.000
Gesamt
+$ 1.000.000
Gesamt
+$ 1.000.000
Tabelle 25-5. Die First Goldsmith Bank hielt 100 Prozent ihrer Einlagen als Reserven In einem primitiven Bankensystem mit hundertprozentiger Reservehaltung ist keine Geldschöpfung möglich.
Aktiva
Passiva
Reserven
+$ 1.000
Einlagen
+$ 1.000
Gesamt
+$ 1.000
Gesamt
+$ 1.000
Tabelle 25-6(a): Bank 1 in ihrer Ausgangsposition Die multiple Giralgeldschöpfung vollzieht sich in einer Vielzahl von Etappen. Zu Beginn werden US-$ 1.000 der neu geschaffenen Reserven in der ursprünglichen Bank der ersten Generation angelegt.
Aktiva Reserven
+$ 100
Passiva Einlagen
+$ 1.000
Gesamt
+$ 1.000
Darlehen und Investition +$ 900 Gesamt
+$ 1.000
Tabelle 25-6(b): Bank 1 in ihrer Endposition Eine auf Gewinnmaximierung bedachte Bank wird alle überschüssigen Reserven als Kredit vergeben oder investieren. Daher hält Bank 1 nur US-$ 100 der ursprünglichen Bareinlage (als gesetzlich geforderte Mindestreserve) und hat die übrigen US-$ 900 verliehen oder investiert.
Aktiva
Passiva
Reserven
+$ 900
Einlagen
+$ 900
Gesamt
+$ 900
Gesamt
+$ 900
Tabelle 25-6(c): Banken der zweiten Generation in ihrer Ausgangsposition
Aktiva Reserven
+ $ 90
Darlehen und Investitionen
+$ 810
Gesamt
+$ 900
Passiva Einlagen
+$ 900
Gesamt
+$ 900
Tabelle 25-6(d): Banken der zweiten Generation in ihrer Endposition Das von Bank 1 verliehene Geld wandert schnell zu Banken der zweiten Generation, die ihrerseits neun Zehntel davon als Kredit vergeben.
726
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
destreserveanforderung hat eine neutrale Wirkung auf Geld und die Makroökonomie, da sie keinerlei Auswirkungen auf die Geldmenge hat.
Eingeschränkte Reservehaltung moderner Banken Die heutigen Banken halten keinesfalls 100 Prozent ihrer Einlagen als Reserven. In den Vereinigten Staaten verlangen heutzutage das Gesetz und die Verordnungen der Zentralbank von den Geschäftsbanken, einen festen Prozentsatz (momentan zehn Prozent) ihres Buchgeldes als Reserven vorzuhalten. Diese Anforderungen werden wir genauer im nächsten Kapitel behandeln. Im Moment genügt es uns zu verstehen, wie die Banken dank der eingeschränkten Reservehaltung Geld schöpfen können.
Giralgeldschöpfung In unserer vereinfachten Darstellung der Goldschmiedebanken haben wir bereits erwähnt, dass Banken Reserven in Geld umwandeln. Dieser Prozess läuft in zwei Schritten ab: • Die Zentralbank legt die Mindestreserveanforderungen für das Bankensystem fest. Wie das genau vor sich geht, wird im nächsten Kapitel erörtert. • Indem das Bankensystem diese Mindestreserven als Input behandelt, kann es sie in eine viel größere Menge an Buchgeld umwandeln. Die Barbestände und das so geschaffene Buchgeld bilden dann die Geldmenge M1. Diesen Prozess bezeichnet man als multiple Giralgeldschöpfung.
Teil 5
Wie es zur Giralgeldschöpfung kommt: Banken der ersten Generation Betrachten wir einmal, was geschieht, wenn dem Bankensystem neue Reserven zugeführt werden. Nehmen wir an, die Zentralbank kauft für einen Betrag von US-$ 1.000 Staatsanleihen von Frau Anleihenbesitzerin, die daraufhin die fälligen US-$ 1.000 auf ihr Girokonto bei Bank 1 einzahlt. Die Änderung in der Bilanz von Bank 1 durch die neue Sichteinlage ist Tabelle 256(a) zu entnehmen.4 Als Frau Anleihenbesitzerin ihre US-$ 1.000 auf ihr Girokonto einzahlte, wurden damit US-$ 1.000 an Buchgeld oder Sichteinlagen geschaffen. Müsste die Bank 100 Prozent der Einlagen als Reserve halten wie seinerzeit die alten Goldschmiede, so führte die neue Einlage von US-$ 1.000 zu keiner Giralgeldschöpfung. Der Kundeneinlage von US-$ 1.000 müssten genau eine Reserve von US-$ 1.000 entsprechen. Doch unsere heutigen Banken halten auf ihre Einlagen keine hundertprozentige Reserve. Da von Banken erwartet wird, dass sie eine Mindestreserve von 10 Prozent halten, muss Bank 1 daher von den US-$ 1.000, die als Einlage geleistet wurden, US-$ 100 als Reserve beiseite legen. Bank 1 verbleiben nach der Mindestrücklage von US-$ 100 noch US-$ 900. Da die Mindestreserven unverzinst sind, wird unsere gewinnorientierte Bank die verbleibenden US-$ 900 möglichst als Darlehen vergeben oder investieren. Das Darlehen könnte für ein Auto verwendet werden, als Investition käme beispielsweise der Kauf von Schatzobligationen in Frage. Nehmen wir an, die Bank vergibt ein Darlehen. Die Person, die das Darlehen aufnimmt, bekommt die US-$ 900 4 Der Einfachheit halber werden in der Tabelle nur Änderungen der Bilanzpositionen aufgezeigt, und wir legen eine gesetzliche Mindestreserveanforderung von 10 Prozent zugrunde. Beachten Sie, dass Bankleute, wenn sie von Darlehen und Investitionen sprechen, mit dem Begriff „Investitionen“ die von ihnen gehaltenen Anleihen und sonstigen Finanzanlagen meinen. Sie verstehen darunter also etwas ganz anderes als Volkswirte, die mit dem Begriff „Investition“ die Kapitalbildung bezeichnen.
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
(bar oder als Scheck) und deponiert sie auf ihr Konto bei einer anderen Bank. Nun werden die US-$ 900 von Bank 1 umgehend ausbezahlt. Nachdem Bank 1 US-$ 900 ausgeliehen oder angelegt hat, sind ihre Reserven gerade hoch genug, um den Mindestanforderungen zu genügen. Die Bilanz von Bank 1 nach allen möglichen Kreditvergaben oder Investitionen (unter Einhaltung der Mindestreserveerfordernis) ist in Tabelle 25-6(b) dargestellt. Wenn wir nun die Geldmenge überprüfen, erleben wir eine Überraschung. Zusätzlich zu den ursprünglichen Einlagen in Höhe von US-$ 1.000, die rechts in Tabelle 25-6(b) aufgeführt sind, finden wir US-$ 900 an Sichteinlagen auf einem anderen Konto (dem Girokonto der Person, die die US-$ 900 erhalten hat). Daher hat M nun die neue Höhe von US-$ 1.900. Die Aktivitäten von Bank 1 haben US-$ 900 an zusätzlichem Geld geschaffen.
Die Auswirkungen auf andere Banken Nachdem die durch Bank 1 geschöpfte zusätzliche Geldmenge von US-$ 900 die Bank verlassen hat, wird sie schon bald zur Einlage bei einer anderen Bank, und hier beginnt eine Kettenreaktion der Geldvermehrung, in deren Verlauf es zu einer weiteren Giralgeldschöpfung kommt. Um zu sehen, was mit den US-$ 900 geschieht, bezeichnen wir die Banken, die dieses Geld erhalten, als „Banken der zweiten Generation“ (oder Bank 2). Ihre kombinierten Bilanzen entsprechen nun der in Tabelle 25-6(c) gezeigten. In diesen Banken durchlaufen die eingelegten Gelder denselben Weg wie unsere ursprüngliche Einlage von US$ 1.000. Diese Banken kümmert es nicht, dass sie in der Einlagenkette die Nummer 2 sind. Ihre einzige Sorge gilt der Vermeidung unverzinst brachliegender Gelder oder zu hoher Reserven. Ein Zehntel von US-$ 900, also US-$ 90, genügt als gesetzliche Mindestreserve auf die deponierten US-$ 900. Die
727
verbleibenden neun Zehntel wird die Bank daher dazu verwenden, für US-$ 810 Darlehen zu vergeben oder Investitionen zu tätigen. Ihre Bilanz erreicht dann bald das in Tabelle 25-6(d) dargestellte Gleichgewicht. Zu diesem Zeitpunkt haben die ursprünglichen US-$ 1.000, die aus dem Barumlauf genommen wurden, bereits US-$ 2.710 (= US-$ 1.900 + US-$ 810) erbracht. Die gesamte Geldmenge M ist also gestiegen, aber der Prozess setzt sich weiter fort. Die von den Banken der zweiten Generation als Darlehen vergebenen oder investierten US-$ 810 gehen wiederum zu anderen Banken, die wir als „Banken der dritten Generation“ bezeichnen. Sie können selbst die Bilanzen (Anfangs- und Endbilanz) für diese Banken der dritten Generation erstellen. Natürlich werden auch sie alle ihre über die Mindestreserve hinausgehenden Einlagen arbeiten lassen und damit eine Giralgeldschöpfung von US-$ 729 erzielen. Eine Bank der vierten Generation erhält noch neun Zehntel von US-$ 810, also US-$ 729, und so weiter.
Das endgültige Systemgleichgewicht Lassen Sie uns die Geldschöpfung aufaddieren: US-$ 1.000 + US-$ 900 + US-$ 810 + US-$ 729 + ··· ? Tabelle 25-7 zeigt, dass sich als Gesamteffekt der Kettenreaktion eine Giralgeldschöpfung von US-$ 10.000 ergibt. Wir können dieses Ergebnis geometrisch, mit gesundem Menschenverstand oder durch einfache Berechnung ermitteln. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass der Giralgeldschöpfungsprozess dann zu Ende sein muss, wenn jede Bank im System auf alle ihre Einlagen genau 10 Prozent Reserven hält. In allen unseren Beispielen ist niemals Geld aus dem Bankensystem hinausgesickert, sondern das Geld ist nur von einer Bank zur nächsten gewandert. Das Bankensystem wird unter dieser Annahme sein Gleichgewicht erreichen, wenn die US-$ 1.000 an neuen Reser-
728
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Position der Bank
Teil 5
Neue Einlagen (US-$)
Neue Kredite und Investitionen (US-$)
Neue Reserven (US-$)
1.000,00
900,00
100,00
Banken der 2. Generation
900,00
810,00
90,00
Banken der 3. Generation
810,00
729,00
81,00
Banken der 4. Generation
729,00
656,10
72,90
Banken der 5. Generation
656,10
590,49
65,61
Banken der 6. Generation
590,49
531,44
59,05
Banken der 7. Generation
531,44
478,30
53,14
Banken der 8. Generation
478,30
430,47
47,83
Banken der 9. Generation
430,47
387,42
43,05
Banken der 10. Generation
387,42
348,68
38,74
Summe nach den ersten 10 Bankengenerationen
6.513,22
5.861,90
651,32
Summe der verbleibenden Bankengenerationen
3.486,78 .. .
3.138,10 .. .
348,68 .. .
Bankensystem insgesamt
10.000,00
9.000,00
1.000,00
Ursprüngliche Banken
Tabelle 25-7: Am Ende der langen Kette haben die Banken das Zehnfache ihrer Reserven als Giralgeld geschöpft Alle Banken zusammen bewirken die multiple Ausweitung der Reserven zu M. Das endgültige Gleichgewicht ist erreicht, wenn jeder Dollar der ursprünglichen neuen Reserven als Reserve für US-$ 10 an Sichteinlagen dient. Beachten Sie, dass jede Bankengeneration folgendermaßen neues Geld „schöpft”: Sie verfügt schließlich über Einlagen, die dem Zehnfachen der gehaltenen Reserven entsprechen. (Überlegen Sie sich, warum es genau das Zehnfache sein muss.)
vemitteln vollständig als Mindestreserven gehalten werden. Mit anderen Worten, das endgültige Gleichgewicht des Bankensystems stellt sich in jenem Punkt ein, bei dem zehn Prozent der neuen Einlagen (D) den neuen Reserven von US-$ 1.000 entsprechen. Auf welcher Höhe erfüllt D diese Bedingung? Die Antwort lautet: D = US-$ 10.000. Wir können die Antwort auch intuitiv verstehen, wenn wir uns eine konsolidierte Bilanz aller Banken ansehen, wie sie Tabelle 25-8 darstellt. Betrügen die gesamten neuen Einlagen noch nicht US-$ 10.000, wären die zehn Prozent Mindestreserven noch nicht erzielt und das volle Gleichgewicht noch nicht erreicht.5 Abbildung 25-4 vermittelt uns einen schematischen Überblick über den gesamten Vor-
Aktiva Passiva Reserven + US-$ 1.000 Einlagen + US-$ 10.000 Dahrlehen + 9.000 und Investitionen Gesamt + US-$ 10.000 Gesamt + US-$ 10.000 Tabelle 25-8: Konsolidierte Bankenbilanz, aus der die Endposition aller Banken hervorgeht Alle Banken gemeinsam erhöhen letztlich ihre Einlagen und M um ein Vielfaches der ursprünglichen neuen Reserven.
5 Algebraisch lässt sich die Lösung folgendermaßen darstellen: US-$ 1.000 + US-$ 900 + US-$ 810 + … = US-$ 1.000 [1 + 9/10 + (9/10)2 + (9/10)3 + …] = US-$ 1.000 (1 –1 / 9
10
) = US-$ 1.000
1 0,1
= US-$ 10.000
729
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
$ 1 Reserven Bank 1
Bank 2
$ 10 Buchgeld
Bank 3
etc.
Abbildung 25-4: Multiple Giralgeldschöpfung durch die Banken Aus jedem Dollar an neuen Reserven, die in einer Bank angelegt werden, schöpft das System als Ganzes etwa US-$ 10 an Buchgeld. Die rostfarbenen Pfeile im Kasten zeigen, dass Bank 1 allein dies nicht zuwege brächte. Die Geldmenge steigt mit der Verbreitung der Reserven im gesamten Bankensystem.
gang. Hier sehen wir, wie US-$ 1 an neuen Einlagen oder Reserven (links oben) sich in US-$ 10 an Gesamteinlagen oder Buchgeld (rechts) verwandelt. Innerhalb des Rechtecks, das das gesamte Bankensystem darstellt, erhält Bank 1 die ursprüngliche Neueinlage. Die rostfarbene umlaufenden Pfeile zeigen, wie die Reserven weiterverteilt werden, während die schwarzen Linien neue Einlagen darstellen. Die Kette besteht aus vielen, zunehmend kleiner werdenden Gliedern, wobei sich der Gesamteffekt zum Zehnfachen des Ursprungsbetrags summiert. Der Geldschöpfungsmultiplikator. Wir sehen, dass offensichtlich eine Art Multiplikator auf die Bankreserven wirkt. Aus jeder zusätzlichen Geldeinheit an Reserven, die in das Bankensystem einfließt, schöpfen die Banken letztendlich zehn Geldeinheiten an zusätzlichen Einlagen oder Buchgeld. Wir beschrieben den Ausgabenmultiplikator als das Verhältnis der Veränderung in der Produktion zu neuen Investitionen oder Ausgaben. Der Geldschöpfungsmultiplikator ist
das Verhältnis von neu geschöpftem Geld zu der Veränderung der Reserven. Beachten Sie, dass die Arithmetik der Giralgeldschöpfung ähnlich jener des Ausgabenmultiplikators ist, aber verwechseln Sie die beiden keinesfalls, denn hier wird ganz Verschiedenes multipliziert. Die Verstärkungswirkung betrifft hier das Verhältnis vom Bestand an Reserven zum gesamten Geldmengenbestand M; sie bezieht sich nicht auf die zusätzliche durch Investitionen oder Geld bewirkte Produktionsleistung. Das Verhältnis der neuen Sichteinlagen zu der Zunahme der Reserven wird als Geldschöpfungsmultiplikator bezeichnet. In dem einfachen hier untersuchten Beispiel ist der Geldschöpfungsmultiplikator folgendermaßen definiert: Veränderung der Geldmenge Veränderungen der Reserven 1 1 = = 10 = Mindestreservesatz 0,1 =
Der Geldschöpfungsmultiplikator fasst den Mechanismus der Giralgeldschöpfung durch die Banken zusammen. Das gesamte Bankensystem kann eine ursprüngliche Reservenaufstockung in ein Vielfaches an neuen Einlagen oder Buchgeld umwandeln. Der Prozess der Giralgeldschöpfung funktioniert auch umgekehrt, wenn ein Reservenabfluss das Buchgeld reduziert. Vertiefen Sie Ihr Verständnis der Giralgeldschöpfung, indem Sie detailliert nachvollziehen, was geschieht, wenn die Zentralbank dauerhaft US-$ 2.000 an Reserven vernichtet, indem sie eine staatliche Anleihe an jemanden verkauft, der zur Bezahlung dieser Anleihe Bargeld von seinem Girokonto abhebt. Letztlich vernichtet eine Löschung von US-$ 2.000 an Reserven im gesamten System Einlagen im Wert von US-$ 20.000.
730
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Eine Bankpanik ist ansteckend Der Umstand, dass in den Banken heute nur ein kleiner Teil der Kundeneinlagen als Zentralbankgeld gehalten wird, ist ebenso vorteilhaft wie riskant. Da die Banken nur einen Bruchteil ihrer Einlagen decken, kann es zu Panik unter den Bankkunden oder zu einem Sturm auf die Banken kommen. Erinnern Sie sich, dass in unserem Bankensystem eine Bank nur einen kleinen Teil der Gelder, die sie ihren Einlegern schuldet, tatsächlich als Mindestreserve vorhalten muss. Im Normalfall ist das kein Problem, weil jeweils ohnehin nur eine geringe Anzahl der Kunden zur gleichen Zeit etwas abheben möchte. Doch was passiert, wenn zu viele Kunden ihr Geld auf einmal zurückfordern? In diesem Fall ist mit einem Sturm auf die Banken zu rechnen. Erhält auch nur ein Bankkunde sein Geld nicht sofort, bekommen es die anderen Einleger mit der Angst zu tun, dass auch ihr Geld verloren sein könnte. Von dieser Angst getrieben, suchen die Anleger wie ein Rudel hungriger Raubtiere die Bank auf und fordern ihr gesamtes Geld auf einmal zurück. Einem solchen Massenansturm auf ihre Gelder könnten nicht einmal finanziell gesunde Banken standhalten. In den USA kam es in den Jahren 1893, 1895 und 1907 zu schweren Bankkrisen. Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre stürzte mehr als 9.000 Banken in den Konkurs. In unserem modernen Finanzsystem ist ein Sturm auf die Banken selten und auch weniger gefährlich, und das aus zwei Gründen: Erstens garantiert die US-Bundeseinlagenversicherung, dass mit Ausnahme der allergrößten Kunden alle Einleger ihr Geld zurückerhalten, gleichgültig, was mit der Bank passiert. Das bedeutet, dass es die meisten Einleger gar nicht nötig haben, die Bank bei ersten Krisenanzeichen gleich zu stürmen. Zusätzlich übt die Federal Reserve eine aktive Rolle als „Refinanzierungsinstitut letzter Instanz“ (engl. lender of last resort) aus, indem sie gesunden Banken mit vorübergehenden Liquiditätsproblemen Gelder zur Verfügung stellt und darauf achtet, dass angeschlagene Banken ordnungsgemäß liquidiert werden.
Teil 5
Zwei Einschränkungen bei der Giralgeldschöpfung Das gegenwärtige Finanzsystem ist natürlich komplizierter als unser vereinfachtes Beispiel. In diesem Beispiel konnten wir zeigen, dass US-$ 1.000 an neuen Bank- oder Mindestreserven, die einer Bank zufließen, schließlich zu neuen Bankeinlagen in Höhe von US-$ 10.000 führen. Das Beispiel unterstellte, dass all das neue Geld auf Girokonten innerhalb des Bankensystems verbleibt und dass keine Bank Überschussreserven bildet. Überlegen wir nun, welche Entwicklung zu erwarten wäre, wenn ein gewisser Teil des Geldes in Umlauf käme oder einige Banken Überschussreserven bildeten. Abfluss des Geldes in den Barumlauf. Es kann vorkommen, dass irgendwo entlang der Giralgeldschöpfungskette ein Leck auftritt – in Form irgendeiner Person, die einen Scheck erhält und den Betrag nicht einem Girokonto gutschreiben lässt. Diese Person könnte beispielsweise das Geld in den Sparstrumpf stecken. Ebenso könnte ein Teil der US-$ 1.000 an einen Vetter nach Mexiko geschickt und dort statt in den Vereinigten Staaten ausgegeben werden. Die Auswirkungen eines solchen Geldabflusses sind leicht nachzuvollziehen. Wären die gesamten US-$ 1.000 im Bankensystem geblieben, hätte man damit US-$ 10.000 an Giralgeldschöpfung erzielen können. Geraten US-$ 100 davon irgendwo außerhalb des Bankensystems in Umlauf und verbleiben nur US-$ 900 an neuen Reserven im Bankensystem, so ergibt sich daraus eine neue Sichteinlagenhöhe von US-$ 9.000 ($ 900 10). Deshalb ist die zehnfache Geldschöpfung an die Voraussetzung gebunden, dass kein Geld das Bankensystem verlässt. Mögliche Bildung von Überschussreserven. In unserer Analyse sind wir von der Annahme ausgegangen, dass die Geschäftsbanken die gesetzlichen Auflagen buchstabengetreu einhalten. Was würde geschehen, wenn eine Bank die neuen Reserven behielte, statt sie
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
zu verleihen? Dann käme der gesamte Prozess der Giralgeldschöpfung zum Stillstand, und es gäbe keine Vermehrung der Einlagen. Normalerweise wäre ein solches Verhalten einer Bank nicht sinnvoll. Da die Bank für ihre Reserven keine Zinsen erhält, würde sie mögliche Zinseinnahmen auf den Betrag von US-$ 900 verlieren. Solange der Zinssatz für Investitionen über demjenigen für Reserven (bei null festgesetzt) liegt, besteht für die Banken ein starker Anreiz, keine überschüssige Reserven zu halten. In manchen Situationen kann es vernünftig sein, Überschussreserven zu halten. Während der Weltwirtschaftskrise fielen die Zinssätze in den USA auf 0,1 Prozent pro Jahr, weshalb die Banken während dieser Zeit häufig hohe Überschussreserven bildeten. Im Jahre 1999 lagen die Zinssätze für kurzfristige Anlagen in Japan praktisch bei null, und die Banken hielten beträchtliche Summen an Überschussreserven. Als Ende 2003 die Zinssätze für kurzfristige Anlagen in den Vereinigten Staaten auf ihr niedrigstes Niveau seit der Großen Depression sanken, stiegen auch die Überschussreserven. In derartigen Ausnahmesituationen wird es für die Zentralbank sehr schwer, die Geldmenge zu kontrollieren.
D. Der Aktienmarkt Wir beschließen dieses Kapitel mit einem Rundgang durch einen der faszinierendsten Bereiche der kapitalistischen Marktwirtschaft – den Aktienmarkt. Ein Aktienmarkt ist jener Ort, an dem die Anteile an Publikumsgesellschaften, die Rechtstitel an Unternehmen, gekauft und verkauft werden. Im Jahre 2003 belief sich der Wert dieser Titel in den USA schätzungsweise auf US-$ 12 Billionen, den Jahresumsatz darf man wohl bei über US-$ 10 Billionen ansetzen. Der Aktienmarkt ist das Zentrum unseres von den Unternehmen geprägten Wirtschaftslebens.
731
Die New York Stock Exchange, NYSE, ist die bedeutendste Börse Amerikas, hier sind mehr als tausend Wertpapiere notiert. Ein anderer wichtiger Markt ist die NASDAQ, deren Bedeutung kometenhaft anstieg, bis es nach dem Jahr 2000 zum dramatischen Fall der Börsenkurse kam. Jedes große Finanzzentrum hat eine eigene Börse. Zu den großen Börsenplätzen der Welt zählen Tokio, London, Frankfurt, Hongkong, Toronto, Zürich und natürlich New York.
Risiken und Renditen verschiedener Anlagen Ehe wir uns mit einigen Hauptaspekten der Aktienmarktanalyse beschäftigen, müssen wir ein paar grundlegende Konzepte der Finanzwissenschaften einführen. Weiter oben in diesem Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass sich Anlagen unterschiedlich charakterisieren lassen. Zwei wichtige Unterscheidungskriterien sind die Rendite und das Risiko. Als Rendite bezeichnet man den Gesamtertrag in Geldeinheiten, den ein Wertpapier einbringt (gemessen als Prozentsatz des Preises am Anfang des Betrachtungszeitraums). Im Fall von Sparkonten und kurzfristigen, festverzinslichen Wertpapieren entspricht die Rendite dem Zinssatz. Für die meisten anderen Anlagen errechnet sich die Gesamtrendite aus dem Einkommen (beispielsweise Dividende) plus dem Kapitalgewinn oder -verlust, der den Wertanstieg oder -verlust der Anlage darstellt. Wir können die Aktienrendite anhand von Daten des Börsengeschehens verdeutlichen. (Im Fall dieses Beispiels bleiben Steuern und Maklerprovisionen unberücksichtigt). Nehmen wir an, Sie haben im Dezember 1997 ein repräsentatives Portfolio aus Aktien US-amerikanischer Firmen im Wert von US-$ 10.000 erworben. Im Laufe des Jahres 1998 wurden Ihnen dafür Dividenden in Höhe von US-$ 256 ausgezahlt. Da 1998 ein besonders gutes Aktienjahr war, ist der Wert Ihres Portfolios bis Jahresende auf US-$ 13.500 gestiegen, was ei-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
nem Kapitalgewinn von 35 Prozent entspricht. Ihre Gesamtrendite für 1998 beträgt daher (256 + 3.500) / 10.000 = 37,6 Prozent. Aber ehe diese fantastischen Gewinne Sie in übergroße Euphorie versetzen, sei die Warnung erlaubt, dass nach 2000 alle Aktienbesitzer massive Verluste hinnehmen mussten. Hätten Sie sich beispielsweise im Oktober 2001 entschieden, in eine breite Palette von Aktien zu investieren, hätten Sie binnen des nächsten Jahres Verluste von 27 Prozent hinnehmen müssen. Die Tatsache, dass bei manchen Anlagen die Rendite vorhersagbar ist, während andere durchaus riskant sind, führt uns zum zweiten wichtigen Faktor, den wir bei Investitionen berücksichtigen müssen. Das Risiko hängt mit der Veränderlichkeit von Renditen zusammen. Wenn ich eine Schatzanweisung mit einjähriger Laufzeit und sechs Prozent Rendite kaufe, handelt es sich um eine risikofreie Investition, weil ich sicher sein kann, dass ich mein Geld mit Rendite zurückbekommen werde. Wenn ich dagegen für US$ 10.000 Aktien kaufe, weiß ich nicht, wie viel sie am Jahresende noch wert sein werden. Wirtschaftswissenschaftler messen das Risiko häufig als Standardabweichung der Renditen; dies ist ein Maß für die Streuung, das etwa zwei Drittel aller Abweichungen erfasst.6 Beispielsweise hatten Stammaktien zwischen 1926 und 2003 eine jährliche Durchschnittsrendite von 11 Prozent, wobei die jährliche Standardabweichung 22 Prozent betrug. Das heißt grob gesagt, dass während zwei Drittel dieser Zeitspanne die Rendite zwischen –11 Prozent und +33 Prozent lag. Die höchste Rendite lag bei 54 Prozent im Jahre 1933, den größten Verlust gab es 1931 mit minus 43 Prozent.
6 Die Standardabweichung ist ein Maß für Schwankungen um einen Mittelwert und wird in jedem Lehrbuch statistischer Grundlagen erklärt. Sie entspricht grob gesagt der durchschnittlichen Abweichung einer Zahlenreihe von ihrem Mittelwert. Genauer ausgedrückt ist die Standardabweichung die Quadratwurzel aus der Quadratabweichung einer Variablen von ihrem Mittelwert. Wenn beispielsweise eine Variable die Werte 1, 3, 1, 3, annimmt, dann liegt der Mittelwert bei 2 und die Standardabweichung ist 1.
Teil 5
Üblicherweise wünschen sich die Menschen hohe Renditen, aber sie bevorzugen auch ein geringes Risiko, denn sie sind risikoscheu. Das bedeutet, dass man sie mit einer höheren Rendite belohnen muss, wenn man sie zu riskanten Investitionen bewegen möchte. Daher überrascht es nicht zu erfahren, dass langfristig gesehen sichere Investitionen, beispielsweise in festverzinsliche Wertpapiere, eine geringere Rendite abwerfen als riskantere, zum Beispiel in Aktien. Tabelle 25-2 zeigte die historischen Renditen und Zinssätze für eine Reihe bedeutender Investitionen. Die wichtigsten Anlagen sind in der Abbildung 25-5 auf der nächsten Seite im Risiko-Rendite-Diagramm dargestellt. Hier ist die durchschnittliche reale (oder inflationsbereinigte) Rendite auf der senkrechten Achse und das historische Risiko (gemessen als Standardabweichung) auf der waagrechten Achse aufgetragen. Beachten Sie den positiven Zusammenhang zwischen Risiko und Rendite.
Spekulationsblasen und Börsenzusammenbrüche Die Finanzgeschichte ist eine der aufregendsten Sparten der Wirtschaftsgeschichte. Mitunter werden vernünftige Überlegungen einfach beiseite geschoben, wenn Märkte dem Spekulationswahn verfallen, auf den dann häufig schwärzester Pessimismus und fallende Kurse folgen. Investoren lassen sich einteilen in die Gruppe derjenigen, die aufgrund solider Tatsachen investieren, sowie in diejenigen, die versuchen, der Marktpsychologie ein Schnippchen zu schlagen. Die Anhänger solider Fakten behaupten, Anlagen sollten aufgrund ihres wahren Wertes eingestuft werden. Im Fall von Stammaktien ist der wahre Wert der erwartete Gegenwartswert der Dividenden. Wenn für eine Aktie eine konstante jährliche Dividende von US-$ 2 ausgeschüttet wird und der Zinssatz, mit dem man Dividenden diskontieren sollte, bei fünf Prozent pro Jahr liegt, dann
733
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
10 Reale jährliche Durchschnittsrendite (%)
Aktien kleiner Unternehmen 8 Aktien von Großunternehmen 6
4 Unternehmensanleihen mit langer Laufzeit 2
Staatsanleihen mit langer Laufzeit Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit
0 0
5
10
15
20
Risiko (Standardabweichung der Rendite)
Abbildung 25-5: Risken und Erträge verschiedener Anlagen, 1926–1998 Alle Anlagen unterscheiden sich nach Ertrag und Risiko. Festverzinsliche Wertpapiere sind in der Regel sicher, während Aktien deutlich höhere Erträge bringen können, aber auch riskanter sind. Diese Darstellung zeigt die Risiken und Erträge verschiedener Finanzanlage im historischen Vergleich. Je nach Stimmung am Markt können sich die Erwartungen an Risiken und Erträge deutlich von den Erfahrungen aus der Vergangenheit unterscheiden. Quelle: Ibbotson Associates, Stocks, Bonds, Bills, and Inflation: 1999 Yearbook (Ibbotson Associates, Chicago, 1999).
ergibt sich der wahre Wert als US-$ 2/0,05 = US-$ 40 pro Aktie. Anlagen auf der Basis solider Tatsachen sind ein langsamer, aber sicherer Weg, zu Reichtum zu gelangen. Ungeduldige Menschen teilen vermutlich eher die Meinung von Keynes, der erklärte, Investoren machten sich vermutlich mehr Sorgen um die Psychologie des Marktes und würden mit dem Zukunftswert von Anlagen spekulieren, statt geduldig darauf zu warten, dass Aktien endlich ihren wahren Wert bewiesen. Er argumentierte: „Es ist nicht vernünftig, für eine Investition, die 30 Geldeinheiten wert ist, 25 Geldeinheiten auszugeben, wenn Sie glauben, dass der Markt diese Investition in drei Monaten nur noch mit 20 Geldeinheiten bewerten wird.“ Ein Börsenpsychologe versucht zu erraten, was ein Durchschnittsanleger denkt, wobei man natürlich in Betracht ziehen muss, was so ein Durchschnittsanleger von Seinesgleichen denkt und was die wiederum ... und so weiter, ad infinitum.
Wenn der psychologische Wahn die Börse packt, kann es zu Spekulationsblasen und Zusammenbrüchen kommen. Eine Spekulationsblase liegt vor, wenn die Preise steigen, weil die Leute glauben, dass sie auch in Zukunft weitersteigen werden – es handelt sich hier um die Umkehr der eben nach Keynes zitierten Situation. Ein Grundstück mag nur US-$ 1.000 wert sein, aber wenn Sie generell die Grundstückspreise um 50 Prozent pro Jahr steigen sehen, dann kaufen Sie es vielleicht für US-$ 2.000 in der Hoffnung, dass Sie es im nächsten Jahr für US-$ 3.000 weiterverkaufen können. Eine Weile erfüllt eine Spekulationsblase die von ihr selbst gemachten Versprechen. Wenn die Menschen kaufen, weil sie glauben, dass der Aktienkurs steigen wird, dann wird ihre Kaufhandlung die Kurse auch in die Höhe treiben. Das veranlasst andere Leute, noch mehr zu kaufen, womit sich die Spirale noch höher schraubt. Aber anders als beim Karten- oder Würfelspiel scheint niemand
734
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
das zu verlieren, was die Gewinner einsacken. Natürlich stehen die Gewinne alle nur auf dem Papier und würden sich schnell verflüchtigen, sobald jeder versuchte, sie in Bargeld zu verwandeln. Aber warum sollte irgend jemand solch gewinnträchtige Wertpapiere verkaufen? Die Kurse steigen aufgrund von Hoffnungen und Träumen, nicht weil die Firmengewinne und Dividenden in den Himmel wachsen. Die Geschichte kennt viele Spekulationsblasen, in denen die Preise weit über den wahren Wert der Anlage hinaus getrieben wurden. Im 17. Jahrhundert hielt eine Tulpenmanie Holland fest im Griff, und für ausgewählte Zwiebeln wurde mehr bezahlt als für ein Einfamilienhaus. Im 18. Jahrhundert stiegen die Aktienkurse der South Sea Company ins Astronomische, nur aufgrund von ebenso kühnen wie falschen Versprechungen, das Unternehmen werde seine Aktionäre reich machen. In jüngster Zeit hat es ebenfalls Spekulationsblasen gegeben, rund um die Biotechnologie, japanischen Grundbesitz, „neue Märkte“ und eine Staubsaugerfirma namens ZZZZ Best, deren Aufgabe darin bestand, für die Mafia Geld zu waschen. Die berühmteste aller Spekulationsblasen bildete sich am US-amerikanischen Aktienmarkt in den zwanziger Jahren. Die „Goldenen Zwanziger“ erlebten einen großartigen Aktienboom, in dessen Verlauf alle Aktien kauften und verkauften. Die meisten Käufe auf diesem durch rasch steigende Kurse gekennzeichneten Markt erfolgten auf Pump. Das bedeutet, dass ein Käufer von Aktien im Wert von US-$ 10.000 nur einen Teil dieses Preises in Form von Bargeld aufbot und den Rest als Darlehen aufnahm, wobei er die neu erworbenen Aktien zur Besicherung des Kaufes belehnte. Was machte es schon, wenn man dem Makler 6, 10 oder auch 15 Prozent jährlich für den Kredit zu bezahlen hatte, wenn doch Aktien von Auburn Motors oder Bethlehem Steel über Nacht 10 Prozent im Wert steigen konnten? Spekulationsblasen führen immer zu Kurszusammenbrüchen und mitunter zu einer re-
Teil 5
gelrechten Panik in der Wirtschaft. Auf die Spekulationen während der zwanziger Jahre folgten eine Panik und der Börsenkrach von 1929. Dieses Ereignis führte zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Auf dem Tiefpunkt der Depression im Jahre 1933 war der Markt insgesamt um 85 Prozent zurückgegangen. Die Trends auf dem Aktienmarkt lassen sich mit Hilfe von Aktienmarktindizes verfolgen, die einen gewichteten Durchschnittswert der Kurse eines bestimmten Aktienbündels angeben. Zu den meistgenannten Aktienmarktindizes gehören der Dow-Jones Industrial Average (DJIA) oder einfach DowJones-Index, der auf den Kursen von 30 großen Unternehmen basiert, sowie der Standard and Poor’s Index von 500 Unternehmen (der „S&P 500“), der einen gewichteten Durchschnittswert der Aktienkurse der 500 größten US-Unternehmen darstellt. Abbildung 25-6 zeigt die Entwicklung des Standard and Poor’s 500 während des letzten Jahrhunderts. Die untere Kurve zeigt den nominalem Aktienkurs, also den tatsächlichen Durchschnitt während eines bestimmten Monats. Die obere Kurve stellt den realen Aktienkurs dar; er entspricht dem nominalen Preis dividiert durch den Verbraucherpreisindex, bei dem das Jahr 2003 gleich 100 gesetzt ist. Die gerade Linie (als Logarithmus ausgedrückt) zeigt die durchschnittliche Wachstumsrate von 1900–2003. Der durchschnittliche Kursanstieg betrug in Dollar 5 Prozent pro Jahr, inflationsbereinigt jedoch nur noch 1,8 Prozent. Die neunziger Jahre waren eine weitere Periode hohen Wirtschaftswachstums und steigender Aktienkurse. In dieser Zeit stiegen die wichtigsten Aktienindizes um 350 Prozent. Internetaktien wurden zum Liebling der Investoren und verkauften sich zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 20 oder 30. Der frühere Vorsitzende der Federal Reserve, Alan Greenspan, warnte vor „irrationalem Überschwang“; Erfahrene wiesen auf die Parallelen zwischen der Besessenheit der Anleger von Internetaktien und anderen katastro-
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
200 160 120
Real- und Nominalkurse (Kurse von 2003)
80 1,8 % jährlich (real) 40
20 10
5 % jährlich (nominal)
1
1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Jahr
Abbildung 25-6: Sicher ist nur die Fluktuation der Aktienkurse Der Standard and Poor’s Index (S&P 500), der hier dargestellt ist, zeichnet die gewichteten Durchschnittswerte der Aktienkurse der 500 größten amerikanischen Unternehmen auf. Die untere Linie zeigt die nominalen Aktienkurse, die zwischen 1900 und 2003 um fünf Prozent jährlich stiegen. Die obere Linie zeigt den „realen”, den um die Schwankungen des Verbraucherpreisindex bereinigten S&P 500. Hier lässt sich im Durchschnitt ein Anstieg von nur 1,8 Prozent pro Jahr beobachten. Quelle: Standard and Poor, Statistiken des Arbeitsministeriums.
phalen Investitionen in Tulpen oder in Grundbesitz in Florida (Anfang des 20. Jahrhundert) hin; Robert Shiller, Wirtschaftwissenschaftler an der Yale Universität, veröffentlichte einen Bestseller, in dem er vor überbewerteten Aktien warnte, deren Kurse von unrealistischen Anlegern, die wie eine Herde Schafe einem Leithammel folgten, noch höher getrieben würden. Doch die Anleger ignorierten alle Unkenrufe und rannten in ihr Verderben. Jährliche Wachstumsraten von 20 Prozent konnten nicht ewig anhalten. Anfang 2000 platzte die Internetblase. Der NASDAQ-Index, in dem die meisten der spekulativen Firmen der New Economy gelistet sind, verlor in weniger als zwei Jahren 75 Prozent an
Wert. Die Lieblinge von 1999 waren zwei Jahre später nur noch Mauerblümchen. In kurzer Zeit fiel der Wert aller Aktien um US$ 7 Billionen. Diejenige, die auf dem Papier ein Vermögen verloren, konnte es auch nicht trösten, dass sie am Anfang der Spekulationsphase ohne ein Vermögen begonnen hatten. Wo wird dies alles enden? Kann man die Entwicklung der Aktienkurse aus dem Kaffeesatz lesen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die moderne Finanztheorie.
Die Theorie der Kapitalmarkteffizienz und der Weg des Zufalls Wirtschafts- und Finanztheoretiker beschäftigen sich seit langem mit der Preisentwick-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
lung auf spekulativen Märkten wie dem Aktien- und Devisenmarkt. Eine wichtige Hypothese besagt, dass spekulative Märkte tendenziell „effizient“ sind. Diese Behauptung hat zu großen Kontroversen unter Wirtschaftswissenschaftlern und Finanzanalysten geführt. Was besagt die Theorie der Kapitalmarkteffizienz? Kurz zusammengefasst behauptet sie Folgendes: Wertpapiermärkte sind äußerst effizient bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen über den Aktienmarkt im Allgemeinen und einzelne Aktien im Besonderen. Sobald es neue Informationen gibt, werden sie schnell mit eingepreist. Systeme, die versuchen, die Kurse aufgrund der vergangenen Entwicklung oder irgendwelcher Basisdaten vorherzusagen, erzielen keine höheren Renditen als ein ganz normales Portfolio, das nach dem Zufallsprinzip aus Aktien mit vergleichbarem Risiko zusammengestellt wurde.7
Eine kleine Geschichte mag die Grundaussage verdeutlichen. Ein Professor der Finanztheorie und ein Student gehen über den Campus, als sie etwas auf dem Boden liegen sehen, das einem 100-Dollar-Schein gleicht. Der Professor sagt zu dem Studenten: „Bücken Sie sich nicht danach. Wenn es wirklich ein 100-Dollar-Schein wäre, läge er nicht da.“ Anders ausgedrückt: Man wird nicht reich davon, wenn man sich gelegentlich auf den Bürgersteig bückt! Diese paradox erscheinende Auffassung ist während der letzten 50 Jahre in Hunderten von Untersuchungen bestätigt worden. Die Lektion lautet nun nicht, dass man niemals reich werden kann, wenn man einer Regel oder Formel folgt, sondern dass ein derartiges Verhalten im Durchschnitt zu keinem
7 Diese Definition wurde dem Artikel von Malkiel von 2003 entnommen, der in dem Abschnitt „Weiterführende Literatur“ verzeichnet ist. Beachten Sie, dass der Ausdruck „Effizienz“ in der Finanztheorie anders verwendet wird als in anderen Bereichen der Wirtschaftswissenschaften. Hier bedeutet „Effizienz“, dass Informationen schnell absorbiert werden, nicht dass mit vorhandenen Ressourcen die höchstmögliche Produktion erzielt wird.
Teil 5
besseren Ergebnis führt als ein normales, gut sortiertes Aktienportfolio. Das Grundprinzip der Kapitalmarkteffizienz. Die Finanztheorie hat sich jahrelang mit der Analyse der Wertpapiermärkte befasst, um zu verstehen, warum es auf gut funktionierenden Finanzmärkten unmöglich ist, ständig hohe Gewinne zu erzielen. Die Theorie der Kapitalmarkteffizienz bietet eine Erklärung. Ein effizienter Finanzmarkt zeichnet sich dadurch aus, dass alle Informationen von den Marktteilnehmern rasch verstanden und eingepreist werden. Nehmen wir beispielsweise an, die Ölgesellschaft Lazy-T sei gerade vor der Küste Alaskas auf Öl gestoßen. Dieses Ereignis wird am Dienstag um 11.30 Uhr verkündet. Wann wird der Kurs der Lazy-TAktie steigen? Nach der Theorie effizienter Kapitalmärkte werden die Marktteilnehmer sofort reagieren und den Preis der Lazy-TAktie genau im richtigen Ausmaß in die Höhe treiben. Kurz gesagt, zu jedem Zeitpunkt haben die Märkte bereits die neuesten Informationen verdaut und in die Aktienoder Getreide- oder irgendwelche andere spekulative Kurse eingepreist. Die Theorie der Kapitalmarkteffizienz behauptet, dass die Kurse bereits alle zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbaren Informationen berücksichtigen. Es ist daher nicht möglich, durch Reaktionen auf alte Informationen oder irgendwelche Muster vergangener Kursentwicklungen reich zu werden. Die Aktienrenditen werden hauptsächlich durch das Risiko der betreffenden Aktien im Vergleich zum Gesamtmarkt bestimmt. Die zufällige Streuung (Random walk). Die Theorie der Kapitalmarkteffizienz ist eine wichtige Methode zur Analyse von Preisentwicklungen auf organisierten Märkten. Laut diesem Ansatz verläuft die Aktienkursentwicklung, wenn man sie über einen längeren Zeitraum verfolgt, sehr unregelmäßig und gleicht einem Zickzackkurs.
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
Kursentwicklungen streuen zufällig, wenn sie im Zeitablauf völlig unvorhersehbar sind. Werfen Sie beispielsweise eine Münze. Bezeichnen Sie Kopf als „plus 1“ und Zahl als „minus 1“. Zeichnen Sie nun die Ergebnisse auf, wenn Sie die Münze hundertmal werfen. Tragen Sie das Ergebnis auf Millimeterpapier auf. Die eingetragene Kurve folgt einer zufälligen Streuung (Random walk). Zeichnen Sie nun im Vergleich dazu die Kursentwicklung von Microsoft-Aktien oder des Standard and Poor’s 500 Index ein. Beachten Sie, wie sich die Kurven ähneln. Warum gleichen die Preise auf spekulativen Märkten einem Random walk? Nach einigem Nachdenken sind Ökonomen auf folgende Erklärung gekommen: Auf einem effizienten Markt sind alle vorhersagbaren Komponenten im Preis bereits berücksichtigt. Ausschließlich neue Informationen wirken sich auf Aktienkurse und Warenpreise aus. Darüber hinaus müssen diese Informationen zufällig und unvorhersehbar sein (andernfalls wären sie nämlich vorhersagbar und daher keine wirklich neuen Informationen). Fassen wir zusammen: Die Theorie der Kapitalmarkteffizienz erklärt, warum Aktienkurse so unregelmäßig schwanken. Die Kurse reagieren auf neue Informationen, auf Überraschungen. Dabei handelt es sich jedoch um unvorhersehbare Ereignisse – wie das Werfen einer Münze oder ein Regenguss im nächsten Monat –, bei denen jedes Ergebnis möglich scheint. Da Aktienkurse auf zufällige Ereignisse reagieren, folgen auch sie einem Zufallsmuster. Einschränkungen der Theorie der Kapitalmarkteffizienz. Obwohl diese Theorie in den Wirtschaftswissenschaften und im Geschäftsleben inzwischen zum Allgemeingut gehört, glauben doch viele, sie vereinfache zu stark und führe in die Irre. Die folgenden Bedenken werden gegen sie erhoben: 1. Die Forschung hat viele „Anomalien“ in der Bewegung von Aktienkursen aufge-
737 deckt, die für eine gewisse Vorhersagbarkeit sorgen. Beispielsweise scheinen Aktien, auf die hohe Dividenden oder Erträge im Verhältnis zum Kurs ausgeschüttet werden, sich in den folgenden Perioden besser zu entwickeln. Auf plötzliche Aufwärts- oder Abwärtsbewegungen der Kurse scheint eine „Umkehrbewegung“ zu folgen. Manchen erscheinen diese Anomalien als überzeugende Anzeichen für eine Ineffizienz des Marktes; nach Auffassung anderer spiegeln sie nur die Neigung der Analysten wider, aus Daten Muster herauslesen zu wollen, die in Wirklichkeit nur Scheinkorrelationen sind.
2. Ökonomen, die historische Daten unter die Lupe nehmen, stellen die Frage, ob es überhaupt plausibel ist, dass starke Aktienkursschwankungen das Auftauchen neuer Informationen widerspiegeln. Betrachten wir etwa den Rückgang der Aktienkurse um 30 Prozent zwischen dem 15. und 19. Oktober 1987. Nach der Theorie der Kapitalmarkteffizienz müsste dieser Kursverfall durch wirtschaftliche Ereignisse ausgelöst worden sein, die den zu erwartenden Gegenwartswert zukünftiger Unternehmenserträge nach unten drückten. Kritiker der Theorie der Kapitalmarkteffizienz argumentieren, dass es während dieser vier Tage keine Nachrichten gab, die zu einem dreißigprozentigen Rückgang der Aktienkurse hätten führen können. Vor derartiger Kritik verstummen die Theoretiker der Kapitalmarkteffizienz. 3. Schließlich gilt die Auffassung, es herrsche Kapitalmarkteffizienz nur für einzelne Aktien, aber nicht notwendigerweise für den ganzen Markt. Es gibt überzeugende Hinweise auf lange, selbstumkehrende Schwankungen der Aktienkurse. Vielleicht stellen diese Schwankungen Änderungen in der allgemeinen Stimmungslage auf den Finanzmärkten dar. Es gab Perioden der Begeisterung während der zwanziger und neunziger Jahre, wohingegen in den dreißiger und siebziger Jahren sowie
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
zu Beginn des neuen Jahrtausends eine eher depressive Stimmung herrschte. Nehmen wir einmal an, wir seien davon überzeugt, der ganze Aktienmarkt zeige einen „irrationalen Überschwang“, und die Kurse seien zu hoch. Was könnten wir tun? Kurzfristige Verkäufe sind teuer und für die am stärksten überbewerteten Aktien kaum durchführbar. Als Einzelpersonen könnten wir nicht genug Aktien kaufen oder verkaufen, um eine generelle Stimmungsänderung zu bewirken. Aus makroökonomischer Sicht kann es an spekulativen Märkten zu pessimistischen oder optimistischen Phasen kommen, ohne dass starke volkswirtschaftliche Kräfte die Stimmungslage zu korrigieren versuchten.
Persönliche Finanzstrategien Das Studium der Wirtschaftswissenschaften garantiert keinen großen Reichtum, aber die Prinzipien der modernen Finanztheorie können sicherlich helfen, die Spargroschen weise zu investieren und die gröbsten Fehler zu vermeiden. Welche Lehren hinsichtlich persönlicher Investitionsentscheidungen halten die Wirtschaftswissenschaften bereit? Die folgenden fünf Regeln haben wir aus den Einsichten der besten Fachleute kondensiert: Regel 1: Sie müssen wissen, worin Sie investieren. Die solide Basis jeder vernünftigen Investitionsstrategie besteht aus Vorsicht und Realismus in Bezug auf Ihre Investitionsentscheidungen. Wenn es sich um wirklich bedeutende Investitionen handelt, studieren Sie das vorhandene Material und fragen Sie Experten um Rat. Seien Sie skeptisch allen Ansätzen gegenüber, die behaupten, sie hätten den schnellen Weg zum Reichtum gefunden. Im Allgemeinen macht Sie ein Gespräch mit ihrem Friseur oder ein Blick in die Sterne nicht reich (obwohl, man glaubt es kaum, manche Finanzberater ihren Kunden die Astrologie ans Herz legen). Langfristig gesehen macht man mit Ahnungen keine Gewinne.
Teil 5
Übrigens schlagen die besten Köpfe an der Wall Street im Durchschnitt nicht die verschiedenen Aktienindizes (Dow-Jones, Standard and Poor’s etc.). Regel 2: Diversifizieren Sie, diversifizieren Sie – so lautet das Gesetz der Finanzgurus. Eine der wichtigsten Regeln des Finanzwesens besagt, dass eine breite Streuung von Anlagen von Vorteil ist. „Setzen Sie nicht alles auf das gleiche Pferd“ könnte die Regel auch lauten. Wenn Sie Ihre Mittel in unterschiedliche Anlagen stecken, können Sie im Durchschnitt hohe Erträge erzielen, während Sie das Risiko reduzieren. Berechnungen zeigen, dass man durch Streuung seines Vermögens über eine breite Palette von Anlagen – verschiedene Stammaktien, herkömmliche und inflationsindizierte festverzinsliche Wertpapiere, Immobilien, einheimische und ausländische Wertpapiere – eine gute Rendite erzielen kann, während man das Risiko von Verlusten minimiert. Regel 3: Ziehen Sie indexgebundene Aktienfonds in Betracht. Wer in Aktien investieren will, kann gute Erträge erzielen und gleichzeitig sein Risiko minimieren, wenn er in seinem Portfolio eine breite Palette von Stammaktien hält. Eine gute Möglichkeit zur Diversifizierung stellt ein indexgebundener Fonds dar. Dabei handelt es sich um ein Portfolio von Aktien vieler unterschiedlicher Unternehmen, das die Anteile der Unternehmen nach ihrem Marktwert gewichtet und häufig einen bedeutenden Aktienindex abbildet, beispielsweise den S&P 500. Ein bedeutender Vorteil von indexgebundenen Fonds besteht darin, dass für sie nur geringe Gebühren und umsatzbedingte Steuern anfallen. Regel 4: Minimieren Sie unnötige Gebühren und Steuern. Anleger müssen häufig feststellen, dass ein beträchtlicher Teil ihrer Investitionserträge durch Steuern und Gebühren aufgefressen wird. Manche Investmentfonds verlangen beispielsweise eine hohe Einstiegsgebühr (den so genannten Ausgabeauf-
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
schlag), wenn man sich in den Fonds einkauft. Andere verlangen jährliche Verwaltungsgebühren in Höhe von einem oder sogar zwei Prozent der Einlagen. Fonds, die zu stark „verwaltet“ werden, weisen außerdem hohe Umsätze auf, was zu hohen Steuern auf Kapitalgewinne führen kann. Day-Trader, die ihre neu erworbenen Anlagen nicht länger als bis zum Abend desselben Tages halten, mögen Gefallen daran finden, blitzschnell zu kaufen und zu verkaufen, und vielleicht werden sie sogar reich dabei, aber sie müssen ganz sicher hohe Makler- und sonstige Gebühren entrichten. Wenn Sie Ihre Investitionen sorgfältig auswählen, dann können Sie solche unnötigen Ausgaben vermeiden. Regel 5: Wählen Sie Ihre Anlagen entsprechend Ihrer Risikoneigung. Zwar können Sie höhere Erträge erzielen, wenn Sie riskantere Investitionen wählen (siehe Abbildung 25-6), doch überlegen Sie sich immer, wie viel Risiko Sie sich leisten können – finanziell und psychologisch gesehen. Ein weiser Mann sagte einmal, bei Investitionen müsse man sich immer entscheiden, ob man gut essen oder gut schlafen will. Wenn Ihnen das Auf und Ab der Märkte schlaflose Nächte beschert, können Sie Ihren Schlaf verbessern, indem Sie in Schatzanweisungen der US-Regierung investieren. Aber langfristig gesehen kann das
heißen, dass Sie zwar gut, aber auf einer einfachen Pritsche schlafen! Wenn Sie gut leben wollen und Enttäuschungen ertragen können, dann könnten Sie an Aktieninvestitionen denken, einschließlich solcher im Ausland und in neuen Märkten; außerdem könnten Sie riskantere kleine Unternehmen in Ihrem Portfolio berücksichtigen – statt sich auf festverzinsliche Wertpapiere und Sparbücher zu stürzen. So lauten die Erkenntnisse der Geschichte und der Wirtschaftswissenschaften. Wenn Sie sich, nachdem Sie dies alles gelesen haben, immer noch am Aktienmarkt versuchen wollen, lassen Sie sich nicht abschrecken. Aber beachten Sie den warnenden Hinweis von Bernard Baruch, einem der großen Finanzmänner Amerikas: Wenn Sie bereit sind, alles andere aufzugeben – und die ganze Geschichte und den Hintergrund des Marktes sowie aller wichtigen Unternehmen, deren Aktien am Markt gehandelt werden, so gründlich zu studieren wie ein Medizinstudent die menschliche Anatomie – wenn Sie dazu in der Lage sind – und außerdem die stählernen Nerven eines Spielers, den sechsten Sinn eines Hellsehers und den Mut eines Löwen besitzen, dann haben Sie vielleicht eine winzige Chance.
Zusammenfassung A. Das moderne Finanzsystem 1.
In einer modernen Wirtschaft transferieren Finanzsysteme Ressourcen über Entfernungen, Zeiträume und Sektoren hinweg. Innerhalb der Finanzsysteme werden die Ressourcen von Finanzmittlern und über Finanzmärkte bewegt. Zweck eines effizienten Finanzsystems ist es sicherzustellen, dass Ersparnisse möglichst effizient investiert werden. Hauptaufgaben eines Finanzsystems sind der Transfer von Ressourcen, die Absicherung von Risiken, die Zusammenfassung und Aufteilung von Mitteln und die Abwicklung von Transaktionen.
2.
3.
Zinssätze sind der Preis, den man für das Ausleihen von Finanzmitteln zahlen muss; gemessen werden sie in Geldeinheiten pro Jahr, die für eine ausgeliehene Geldeinheit zu zahlen sind, oder in Prozent pro Jahr. Die Menschen sind zu Zinszahlungen bereit, denn das geborgte Geld ermöglicht es ihnen, Waren und Dienstleistungen zu kaufen, um ihre Konsumbedürfnisse zu befriedigen oder rentable Investitionen zu tätigen. Es lassen sich eine Reihe von unterschiedlichen Zinssätzen beobachten. Für die Unterschiede gibt es viele Gründe, beispielsweise die Fälligkeit eines Darlehens, Risiko und Liqui-
740
4.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
dität einer Investition sowie die steuerliche Behandlung der Zinsen. Nominal- oder Geldzinssätze steigen üblicherweise während einer Inflationsphase, was die Tatsache widerspiegelt, dass die Kaufkraft des Geldes sinkt, wenn die Preise steigen. Will man den Zinsertrag in tatsächlichen Waren oder Dienstleistungen messen, dann verwendet man den Realzinssatz, der dem Nominal- oder Geldzinssatz abzüglich der Inflationsrate entspricht.
B. Der Sonderfall Geld 5.
6.
7.
8.
Geld ist alles, was als allgemein anerkanntes Tausch- oder Zahlungsmittel dienen kann. Geld dient darüber hinaus auch als Werteinheit und hat wertbewahrende Funktion. Im Unterschied zu anderen Wirtschaftsgütern schätzen wir Geld aufgrund einer gesellschaftlichen Übereinkunft. Wir schätzen es indirekt dafür, was man damit kaufen kann, nicht wegen seiner direkten Nützlichkeit. Heute sind zwei Gelddefinitionen gebräuchlich. Die erste ist jene des Geldes als Transaktionsgeld (M1), das aus Bargeld und Sichteinlagen besteht. Der zweiten Definition zufolge besteht Geld aus der erweiterten Geldmenge (M2), worin sowohl M1 als auch das Quasigeld mit hoher Liquidität, beispielsweise Sparguthaben, enthalten sind. Die Geldnachfrage unterscheidet sich von der Nachfrage nach anderen Gütern. Geld wird wegen seines indirekten, nicht wegen seines direkten Wertes geschätzt. Trotzdem wird Geld nur begrenzt gehalten, denn für das Halten von Bargeld statt irgendwelcher Anlagen entstehen Opportunitätskosten: Wir opfern Zinseinkünfte, wenn wir Bargeld halten. Die Menschen halten Bargeld hauptsächlich deshalb, weil sie Rechnungen bezahlen und Waren kaufen müssen. Solche Transaktionen werden mittels M1 getätigt und hängen hauptsächlich mit dem Wert der Transaktionen oder dem nominalen BIP zusammen. Die Wirtschaftstheorie behauptet – und empirische Studien untermauern dies –, dass die Nachfrage nach Geld empfindlich auf die Zinssätze reagiert: Höhere Zinssätze führen zu einer niedrigeren Geldnachfrage.
C. Das Bankwesen und die Geldversorgung 9.
Banken sind kommerzielle Unternehmen, die für ihre Besitzer Gewinne erwirtschaften sol-
Teil 5
len. Eine Hauptfunktion der Banken besteht in der Bereitstellung von Girokonten für ihre Kunden. Banken sind gesetzlich verpflichtet, Mindestreserven auf ihre Sichteinlagen zu halten. Sie können dies in Form von Kassenbeständen oder unverzinsten Einlagen bei der Zentralbank tun. Zur Illustration haben wir eine Mindestreserve von 10 Prozent angenommen. In diesem Fall schöpft das gesamte Bankwesen – zusammen mit den öffentlichen oder privaten Darlehnsnehmern und den Einlegern – Buchgeld im Verhältnis 10 : 1 für jede zusätzliche Geldeinheit an von der Zentralbank geschaffenen Reserven, die irgendwo im Bankensystem als Einlage getätigt wurden. 10. Die Möglichkeiten aller kleinen Banken, Darlehen zu vergeben und Investitionen zu tätigen, sind beschränkt. Diese Banken können nicht mehr verleihen oder investieren, als sie von ihren Einlegern erhalten haben; tatsächlich stehen dafür nur etwa neun Zehntel der Einlagen zur Verfügung. Keine Bank kann für sich alleine ihre Reserven auf das Zehnfache steigern, aber das Bankensystem als Ganzes kann dies. Jede Bank, die US-$ 1.000 an neuen Einlagen erhält, vergibt neun Zehntel dieser Gelder in Form von Darlehen und Investitionen. Verfolgen wir den Weg der immer kleiner werdenden unendlichen Kette durch die nachfolgenden Banken, entdecken wir für das System als Ganzes neue Einlagen von US-$ 1.000 + US-$ 900 + US-$ 810 + US-$ 729 + … = US-$ 1.000 [1 + 9/10 + (9/10)2 + (9/10)3 + …]
( ) = US-$ 1.000 ( )
= US-$ 1.000
1 1 – 9/10
1 0,1
= US-$ 10.000 Allgemeiner ausgedrückt: GeldschöpfungsVeränderung der Geldmenge = multiplikator Veränderungen der Reserven 1 = Mindestreservesatz
11. Die neu in das Bankensystem geflossenen Gelder können jedoch auch an irgendeiner Stelle abfließen und anderen Investitionen außerhalb der Banken zugeführt oder als Überschussreserven von den Banken selbst gehalten werden. Ein derartiger Abfluss verringert die 10-zu-1-Formel, die wir für den Geldschöpfungsmultiplikator angegeben haben.
Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
D. Der Aktienmarkt 12. Anlagen unterscheiden sich in vielen Punkten; die wichtigsten sind die Rendite und das Risiko. Als Rendite bezeichnet man den gesamten Gewinn in Geldeinheiten, den man mit einem Wertpapier erzielt. Das Risiko bezieht sich auf die durchaus schwankenden Einnahmen oder Verluste, die man mit einer Investition realisieren kann. Da die Menschen grundsätzlich risikoscheu sind, verlangen sie höhere Renditen, um sie zur Übernahme eines größeren Risikos zu bewegen. 13. Aktienmärkte sind Märkte, auf denen Eigentumstitel an Großunternehmen gekauft und verkauft werden; der wichtigste dieser Märkte ist die New York Stock Exchange. Die Geschichte der Aktienkurse ist durch massive Schwankungen gekennzeichnet, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit dem großen Börsenkrach im Jahre 1929 auftraten. Die Trends lassen sich aus den Börsenmarktindizes wie dem Standard and Poor’s 500 und dem bekannten Dow-Jones Industrial Index ablesen.
741
14. Moderne Aktienkurstheorien konzentrieren sich im Allgemeinen auf die Markteffizienz. Als effizient bezeichnet man einen Markt, auf dem alle Informationen von Spekulanten rasch absorbiert und unverzüglich eingepreist werden. Auf effizienten Märkten lassen sich keine leichten Gewinne erzielen; ein Blick auf die Nachrichten von gestern, frühere Kursentwicklungen, Wahlergebnisse oder Konjunkturzyklen erlaubt nicht, die zukünftige Kursentwicklung vorherzusagen. In effizienten Märkten reagieren die Preise auf Überraschungen. Da Überraschungen dem Zufallsprinzip unterliegen, sind die Bewegungen von Aktienkursen und anderen Spekulationspreisen unberechenbar; sie folgen einem zufälligen Muster. 15. Vergessen Sie nie die Regeln für persönliche Finanzstrategien: (a) Sie müssen wissen, worin Sie investieren. (b) Diversifizieren Sie, diversifizieren Sie – dies ist das Gesetz der Finanzgurus. (c) Ziehen Sie indexgebundene Aktienfonds in Betracht. (d) Minimieren Sie unnötige Gebühren und Steuern. (e) Passen Sie Ihre Investitionen Ihrer Risikoneigung an.
Begriffe zur Wiederholung Das moderne Finanzsystem
Das Bankwesen und die Geldversorgung
Finanzsystem, Finanzmärkte, Finanzmittler Aufgaben des Finanzsystems Wichtige Anlagen und Finanzinstrumente Realer und nominaler Zinssatz Höhe der Zinssätze in Abhängigkeit von: Fälligkeit Risiko Illiquidität Zinsen als Opportunitätskosten der Geldhaltung Indexgebundene festverzinsliche Wertpapiere
Mindestreserven der Banken (Transaktionsgeld und Anlagen bei der Zentralbank) Eingeschränkte Reservehaltung Geldschöpfungsmultiplikator
Der Sonderfall Geld Geld, Geldmenge im engeren Sinn (M1) und im weiteren Sinn (M2) Warengeld, Papiergeld, Buchgeld Gründe für die Nachfrage nach Geld: Transaktionsnachfrage Nachfrage nach Anlagen
Der Aktienmarkt Stammaktien (Wertpapiere von Unternehmen) Markteffizienz, Entwicklung der Aktienkurse nach dem Zufallsprinzip Indexgebundene Fonds Fünf Regeln für persönliche Investitionen
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
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Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Es gibt viele gut lesbare Bücher über die Geschichte des Geldes. Empfehlenswert ist John Kenneth Galbraith, Money, Whence It Came, Where It Went (Houghton, Boston, 1975; deutsch: Geld. Woher es kommt, wohin es geht, Droemer Knaur 1982). Detailliertere Untersuchungen zur Geldtheorie finden sich in Büchern für Fortgeschrittene, beispielsweise in Lawrence S. Ritter, William L. Silber und Gregory F. Udell, Principles of Money, Banking, and Financial Markets, 10. Aufl. (Addison Wesley Longman, New York, 1999). Das Standardnachschlagewerk für die Geschichte des Geldes in den Vereinigten Staaten ist Milton Friedman und Anna Jacobson Schwartz, Monetary History of the United States 1867–1960 (Princeton University Press, Princeton, N.J., 1963). Die moderne Kapital- und Finanztheorie ist ein beliebtes Thema, das häufig im makroökonomischen Teil eines Einführungskurses oder auch in eigenen Sonderkursen behandelt wird. Ein gutes Buch zum Thema ist Burton Malkiel, A Random Walk down Wall Street (Norton, New York, 2000; deutsch: Börsenerfolg ist kein Zufall, Finanzbuch Verlag 2000). Ein vergleichsweise neues Buch über die Finanzgeschichte und -theorie, das auch die Behauptung enthält, die Aktienkurse seien während des Börsenaufschwungs 1981–2000 völlig überhöht gewesen, ist Robert Shillers Irrational Exuberance (Princeton University Press, Princeton, N.J., 2000; deutsch: Irrationaler Überschwang, Campus 2000). Eine jüngere Übersicht über Belege für die Theorie der Kapitalmarkteffizienz von Burton Malkiel und Robert Shiller findet sich im Journal of Economic Perspectives, Winter 2003. Deutschsprachige Literatur: Klaus Abel, Globalisierung der internationalen Finanzmärkte unter besonderer Berücksichtigung des Börsenwesens (terrimago, Göttingen, 1998); Otmar Issing, Einführung in die Geldtheorie, 13. Aufl. (Vahlen, München, 2003), ein gut zu lesendes Lehrbuch des früheren Würzburger Ordinarius, Mitglied des Sachverständigenrates, Chefvolkswirts der Bundesbank und heutiges Direktoriumsmitglieds der Europäischen Zentralbank; Karl-Heinz Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik (Vahlen, München, 2001).
Websites Grundlegende Daten zu Geld, Zinssätzen und der Geldpolitik finden sich auf der Website der USamerikanischen Zentralbank (Federal Reserve) unter www.federalreserve.gov. Interessante Artikel zur Geldpolitik finden sich im Federal Reserve Bulletin unter www.federalreserve.gov/publications.htm. Die Federal Reserve sammelt auch Daten über Vermögen und Wohlstand; eine Übersicht findet sich in der Ausgabe vom Januar 2000 des Federal Reserve Bulletin auf der gleichen Website. Eine gute Quelle für Daten über Finanzmärkte ist finance.yahoo.com. Wenn Sie an den letzten Neuigkeiten über Internetaktien und heiße Technologiewerte interessiert sind, besuchen Sie www.techstocks.com oder Motley Fool unter www.fool.com.
Übungen 1.
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Definieren Sie M1 und M2. Was wird jeweils einbezogen? Was fließt in M2, aber nicht in M1 ein? Setzen Sie jede Komponente von M2 zu den Faktoren in Beziehung, die hinter der Geldnachfrage stehen. Nehmen wir an, alle Banken müssten Rücklagen in Höhe von 100 Prozent ihrer Einlagen halten. Erstellen Sie neue Versionen der Tabellen 25-6(a) und 25-7, die zeigen, was mit den Neuanlagen von US-$ 1.000 geschieht, die in ein Bankensystem einfließen, das 100 Prozent Reserven halten muss. Wie wirkt sich in einem
3.
4.
solchen Fall die zusätzliche Reserve auf die Geldmenge aus? Findet eine Geldschöpfung statt? Nehmen wir an, die Banken hielten 20 Prozent ihrer Einlagen als Reserven, und dem Bankensystem würden US-$ 200 an Reserven entzogen. Erstellen Sie Tabellen 25-6(a) bis 25-8 neu. Wie hoch ist in diesem Fall der Geldschöpfungsmultiplikator? Welche Auswirkungen auf die Geldnachfrage (M1) hätte jede der folgenden Situationen (un-
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Kapitel 25 Finanzmärkte und der Sonderfall Geld
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ter der Annahme, dass alle anderen Faktoren konstant bleiben)? a. Eine Zunahme des realen BIP b. Ein Anstieg des Preisniveaus c. Eine Erhöhung der Zinssätze für Sparguthaben und Staatsanleihen d. Eine Verdoppelung aller Preise, Löhne und Einkommen (Können Sie die Auswirkungen auf die Geldnachfrage genau berechnen?). Die Opportunitätskosten für das Halten von Geld entsprechen dem Ertrag von risikolosen, kurzfristigen Anlagen (wie Schatzwechsel) abzüglich des Geldzinssatzes. Welche Auswirkungen haben folgende Situationen auf die Opportunitätskosten für Sichteinlagen? a. Eine Erhöhung der Marktzinssätze von acht auf neun Prozent vor 1980 (als es auf Girokonten keine Zinsen gab). b. Eine Anhebung der Zinssätze (1) von drei auf vier und (2) von acht auf neun Prozent im Jahre 1984 (als Einlagen auf Girokonten mit maximal fünf Prozent verzinst wurden). c. Eine Erhöhung der Marktzinssätze (1) von drei auf vier und (2) von acht auf neun Prozent im Jahre 1991 (als eine Deregulierung der Zinssätze für bestimmte Girokonten erfolgte). d. Wie wird Ihrer Meinung nach die Geldnachfrage auf Änderungen der Marktzinssätze in jedem der obigen Fälle reagieren, wenn die Nachfrageelastizität des Geldes hinsichtlich der Opportunitätskosten des Geldes 0,2 beträgt? Zinsberechnungsaufgaben (für die Sie vielleicht einen Taschenrechner benötigen): a. Sie investieren US-$ 2.000 zu einem Zinssatz von 13,5 Prozent pro Jahr. Wie viel besitzen Sie nach sechs Monaten? b. Man spricht von Zinseszins, wenn für bereits angerechnete Zinsen selbst wieder Zinsen gezahlt werden. Heutzutage ist fast jede Verzinsung als Zinseszins zu verstehen. Wenn Sie US-$ 10.000 drei Jahre lang zu einem jährlichen Satz von zehn Prozent bei Berechnung auf Zinseszinsbasis anlegen, wie viel ist dann Ihre jeweilige Gesamtinvestition am Ende jeden Jahres wert? c. Betrachten Sie die folgenden Daten: Der Verbraucherpreisindex lag bei 60,6 im Jahre 1977 und bei 90,9 im Jahr 1981. Die Verzinsung von Staatsanleihen betrug in den Jahren 1978–1981 (in Prozent pro Jahr) 7,2, 10,0, 11,5, und 14,0 Prozent. Berechnen Sie den durchschnittlichen Nominal- und
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10.
Realzinssatz für den Vierjahreszeitraum 1978 bis 1981. d. Schatzwechsel, so genannte Treasury Bills oder T-Bills, werden im Allgemeinen diskontiert verkauft; das heißt, ein 90-TageSchatzwechsel über US-$ 10.000 wird heute zu einem Preis verkauft, der gewährleistet, dass ein Auszahlungsbetrag von US$ 10.000 bei Fälligkeit einer Verzinsung zum Marktzinssatz entspricht. Wie hoch ist demnach der Kaufpreis für einen 90-Tage Schatzwechsel über US-$ 10.000 bei einem Marktzinssatz von 6,6 Prozent pro Jahr? Fragen zum Gegenwartswert: a. Betrachten Sie ein festverzinsliches Wertpapier mit einer Laufzeit von einem Jahr. Berechnen Sie den Gegenwartswert bei einem Zinssatz von 1, 5 und 20 Prozent. b. Welchen Wert hat ein zeitlich unbegrenzter Ertrag von US-$ 16 pro Jahr bei einem Zinssatz von 1, 5, 10 und 20 Prozent pro Jahr? c. Vergleichen Sie Ihre Antworten zu a und b. Welche der Anlagen reagiert empfindlicher auf Änderungen des Zinssatzes? Quantifizieren Sie den Unterschied. Erklären Sie, ob Ihrer Meinung nach jede der folgenden Positionen in den USA unter die engere Geldmengendefinition (M1) fällt: Sparkonten, U-Bahn-Fahrkarten, Briefmarken, Kreditkarten, Zwanzigdollarscheine, die von Russen in Moskau verwendet werden. Welche Auswirkungen hätten, gemäß der Theorie der Markteffizienz, die folgenden Ereignisse auf den Kurs von General Motors Aktien? a. Die überraschende Ankündigung, dass die Regierung am 1. Juli die Gewerbesteuer senken wird b. Eine Senkung der Gewerbesteuer am 1. Juli, sechs Monate nachdem der Kongress ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat c. Eine für Experten unerwartete Ankündigung, dass die Vereinigten Staaten im kommenden Jahr Einfuhrquoten für japanische Autos einführen werden d. Die Umsetzung der in c vorgenommenen Ankündigung durch die entsprechende Gesetzgebung am 31. Dezember. Nehmen wir an, die Banken müssten keine gesetzlichen Mindestreserven mehr halten. Wodurch würde der Umfang der im Bankensystem gehaltenen Reserven bestimmt? Was würde in einem solchen Fall mit dem Geldschöpfungsmultiplikator geschehen?
744
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
11. Nehmen wir an, alle Girokonten der USA würden bei einer riesigen Bank, der Humongous Bank of America, gehalten, die zehn Prozent Mindestreserven halten müsste. Könnte diese Bank, wenn neue Reserven in die Wirtschaft hinein gepumpt würden, mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Einlagen als Darlehen vergeben, in dem Bewusstsein, dass die neuen Einlagen ihr wieder zufließen werden? Hätte das Auswirkungen auf den Geldschöpfungsmultiplikator? 12. Frage für Fortgeschrittene: Eine Option ist das Recht, Aktien oder sonstige Wertpapiere zu einem bestimmten Preis an oder vor einem bestimmten Termin zu kaufen oder zu verkaufen. Es gibt Kaufoptionen („call option”) und Verkaufsoptionen („put option”). Nehmen wir an, Sie haben die Option, 100 Aktien von Fantasia.com, die starken Kursschwankungen ausgesetzt sind, irgendwann während der nächsten drei Monate für US-$ 10 pro Aktie zu kaufen. Momentan werden Fantasia-Aktien für US-$ 9 pro Aktie gehandelt. a. Erklären Sie, warum der Wert der Option mehr als US-$ 1 pro Aktie beträgt. b. Nehmen wir an, die Option ende morgen, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie bis dahin um US-$ 5 steigt oder fällt, sei gleich hoch. Wie hoch wäre dann der Wert der Option? 13. Werfen Sie eine Münze hundertmal. Schreiben Sie mit und vermerken Sie Kopf als „plus 1” und Zahl als „minus 1”. Tragen Sie das Ergebnis anschließend auf Millimeterpapier auf. Sie erhalten einen Random walk (ein Zufallsergebnis). Wer Zugriff auf einen Computer hat, kann diese Übung mit einem Zufallsgenerator und einem Plotter durchführen). Beobachten Sie einige Wochen lang die Schlussnotierung der Aktien Ihres Lieblingsunternehmens (oder schlagen Sie alte Notierungen in den Zeitungen nach). Tragen Sie auch diese Daten auf Millimeterpapier auf. Erkennen Sie einen Unterschied zu dem bei der ersten Übung entstandenen Muster? Sehen beide Grafiken wie zufällige Streuungen aus?
Teil 5
745
KAPITEL 26 Zentralbank und Geldpolitik
Drei große Erfindungen hat der Mensch seit Anbeginn der Zeiten gemacht: das Feuer, das Rad und die Zentralbank. Will Rogers
Wo würden Sie heutzutage die wichtigsten makroökonomischen Entscheidungsträger suchen? Im Weißen Haus? Im Kongress? Vielleicht bei den Vereinten Nationen oder der Weltbank? Erstaunlicherweise lautet die Antwort, dass man nach ihnen in einem eher unauffälligen Marmorbau in Washington Ausschau halten muss – einem Gebäude, in dem das Federal Reserve System, die amerikanische Zentralbank, untergebracht ist. Hier bestimmt die Federal Reserve (oder „Fed“) die Höhe der Zinssätze für kurzfristige Anlagen, wodurch sie die Finanzmärkte entscheidend beeinflusst, außerdem Wohlstand, Produktion, Beschäftigung und Preise. Die Aktionen der Zentralbank wirken sich nicht nur auf die 50 Einzelstaaten der USA aus, sondern durch Handels- und Finanzverbindungen praktisch auf die ganze Welt. Eine niedrige und stabile Inflationsrate ist das Hauptziel der Federal Reserve. Darüber hinaus versucht sie, ein stetiges Produktionswachstum, niedrige Arbeitslosigkeit und geordnete Finanzmärkte zu fördern und zu unterstützen. Wenn die Produktion rasch zunimmt und die Inflation ansteigt, erhöht der Vorstand der Federal Reserve häufig die Zinssätze, weil dadurch die Wirtschaft gebremst wird und der Druck auf die Preise nachlässt. Wenn die Wirtschaft dagegen vor sich hin dümpelt und den Unternehmen der richtige Schwung fehlt, kann die Fed die Zinssätze senken, woraufhin die Gesamtnachfrage zunimmt, was wiederum zu einem Anstieg der Produktion und sinkender Arbeitslosigkeit führt. Jedes bedeutende Land hat eine Zentralbank, die für die Finanzangelegenheiten des Landes verantwortlich ist. Dieses Kapitel soll die zentrale Rolle der Federal Reserve für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten verdeutlichen. Abbildung 26-1 zeigt die Bedeutung der Zentralbankaktivitäten für die Wirtschaft und illustriert ihre Verbindung zu Banken, Finanzmärkten und Zinssätzen. Im ersten Teil des Kapitels wird dargelegt, wie die Fed ihre Instrumente einsetzt – die Reservehaltung der Banken, den Diskontsatz und ande-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
1 Zentralbank
Teil 5
2 Geldmärkte
Banken Reserven
Geldangebot M 3
Reale Produktionsleistung
Zinssätze und Kreditangebot
5 Gesamtnachfrage AD 4 Wechselwirkung zwischen AS und AD
5
Arbeitsplätze
Gesamtangebot AS 5
Inflation
Abbildung 26-1: Die Auswirkungen der Geldpolitik auf Produktion und Inflation aus der Vogelperspektive Dieses Diagramm zeigt in einzelnen Schritten, wie die Fed die Wirtschaft beeinflusst. (1) Änderungen der Reservehaltung, die zu einer Veränderung von M in (2) führen, woraus sich (3) Veränderungen der Zinssätze und Kreditkonditionen ergeben. In (4) verschiebt sich die Gesamtnachfragekurve AD aufgrund der Reaktion der Investitionen und anderer zinsempfindlicher Ausgaben. In (5) folgen die Änderungen der Produktion, Beschäftigung und Inflationsrate. Denken Sie daran, dass auch die Fiskalpolitik einen Einfluss auf die Gesamtnachfrage und diesen Kreislauf hat.
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
re –, um die Geldmenge zu bestimmen und dadurch die Zinssätze zu beeinflussen. In Teil B werden die Auswirkungen der Geldpolitik auf die Gesamtwirtschaft untersucht.
A. Die Rolle der Zentralbank und das Federal Reserve System in den USA Das Federal Reserve System Die Struktur der amerikanischen Zentralbank Geschichte und Zielsetzung. Im 19. Jahrhundert litten die Vereinigten Staaten mehrmals unter panikartigen Anstürmen auf die Banken. Diese traten immer dann auf, wenn viele Einleger plötzlich versuchten, Geld von ihren Bankkonten abzuheben (siehe das Beispiel zu Bankpaniken im letzten Kapitel). Wenn sie in ihre Banken kamen, stellten sie dort fest, dass die Banken nicht genug Bargeld vorhielten, weil der Umfang der Kassenbestände festgelegt war und nicht der gesamten Höhe der Bankeinlagen entsprach. Bankenzusammenbrüche und ein wirtschaftlicher Abschwung waren die Folge. Nach der schweren Bankenkrise im Jahre 1907 führten Aufruhr und politische Forderungen zur Einführung des Federal Reserve Act von 1913, der die „Errichtung von Federal Reserve Banks [und] die Sicherstellung einer elastischen Währung“ vorsah. In seiner derzeitigen Organisationsform besteht das Federal Reserve System aus zwölf regionalen Federal Reserve Banks in New York, Chicago, Richmond, Dallas, San Francisco und anderen bedeutenden Städten. Diese Regionalstruktur war ursprünglich gewählt worden, um in einer Ära des Föderalismus
747 sicherzustellen, dass die verschiedenen Regionen eine Stimme in Bankangelegenheiten bekamen, und um eine zu starke Konzentration der Zentralbankmacht in Washington oder in den Händen der Banker des Ostküsten-Establishments zu vermeiden. Heute verteilt jede dieser Niederlassungen Münzen und Banknoten, überwacht und kontrolliert die Banken in ihrem Verwaltungsbereich und ist Teil eines landesweiten Zahlungssystems. Die Hauptzielsetzungen der Federal Reserve sind die folgenden: Heutzutage lassen sich die Aufgaben der Federal Reserve in vier große Bereiche einteilen: (1) Ausführung der Geldpolitik des Landes; (2) Überwachung und Regulierung des Bankwesens; (3) Aufrechterhaltung der Stabilität des Finanzsystems; und (4) Bereitstellung bestimmter Finanzdienstleistungen für die Regierung und die Öffentlichkeit.
Wer trägt die Verantwortung? Kern der Federal Reserve ist der Board of Governors oder der Vorstand, der aus sieben vom Präsidenten nominierten Mitgliedern besteht, die vom Senat bestätigt werden müssen und auf 14 Jahre bestellt sind, wobei sich die Amtszeiten der einzelnen Mitglieder überschneiden. Die Vorstandsmitglieder sind im allgemeinen Banker oder Ökonomen, die hauptamtlich ihrer Funktion im Fed-Vorstand nachgehen. Wichtigster Entscheidungsträger innerhalb des Federal Reserve System ist das Federal Open Market Committee (FOMC), der Offenmarktausschuss. Zu den zwölf stimmberechtigten FOMC-Mitgliedern gehören die sieben Gouverneure (Vorstände) und fünf der Präsidenten der regionalen Federal Reserve Banks. Diese zentrale Gruppe kontrolliert das wichtigste und am häufigsten benutzte Werkzeug der modernen Geldpolitik – die erforderliche Reservehaltung der Banken. An der Spitze des gesamten Systems steht der Chairman of the Board of Governors, der Vorsitzende des Board of Governors und des FOMC, der auch als Sprecher der Fed fungiert und eine beträchtliche Macht über die Geldpo-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
litik ausübt. Am 1. Februar 2006 löste der ehemalige Wirtschaftsprofessor und Gouverneuer das Federal Reserve Board, Ben Bernanke, den langjährigen Vorsitzenden Alan Greenspan ab, einen Wirtschaftswissenschaftler, der mitunter als „zweitmächtigster Mann der USA“ bezeichnet wurde. Aufgrund seiner langen Dienstzeit (er wurde 1987 zum Vorsitzenden der Fed ernannt) und seiner erfolgreichen Lenkung der Wirtschaft übte Greenspan durch seine Steuerung der Geldpolitik einen großen Einfluss aus, und man suchte auch in anderen Wirtschaftsfragen seinen Rat. Trotz der weit verzweigten Organisationsstruktur der Fed glauben Beobachter doch eine erhebliche Machtkonzentration feststellen zu können. Der Federal Reserve Board, an dessen Sitzungen die Präsidenten der zwölf regionalen Federal Reserve Banken teilnehmen, formuliert unter Leitung des Vorstandsvorsitzenden die Geldpolitik und trifft die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Durchführung. Die Organisationsstruktur des Federal Reserve System ist in Abbildung 26-2 dargestellt. Präsidenten der einzelnen Zentralbanken New York
Board of Governors (Vorstand): Genehmigt Diskontsätze, legt Mindestreservenerfordernisse fest, steuert Regulierungsmaßnahmen
Vorsitzender des Board of Governors (Vorstandsvorsitzender)
Federal Open Market Committee (FOMC): Steuert die Offenmarktoperationen; beratende Funktion in Fragen der Diskontsätze und Mindestreserven
6 Gouverneure (Vorstände)
Abbildung 26-2: Wer bestimmt die Geldpolitik? Zwei wichtige Gremien bestimmen die Geldpolitik der Vereinigten Staaten entscheidend. Der siebenköpfige Vorstand (Board of Governors) genehmigt Änderungen der Diskontsätze und legt die Mindestreserveanforderungen fest. Das FOMC steuert die Bankreserven. Der Vorstandsvorsitzende steht an der Spitze beider Gremien. Die Größe jedes Kästchens verdeutlicht die relative Machtfülle der betreffenden Person oder Gruppe; beachten Sie die Größe des Kästchens für den Vorsitzenden.
Teil 5
Ist die Fed zu unabhängig? Untersucht man die Struktur der Fed, könnte man sich fragen: „Welcher der drei staatlichen Gewalten muss man sie zurechnen?” Die Antwort lautet: „Keiner. Rechtlich gesehen sind die zwölf Regionalbanken privatwirtschaftliche Institute. In der Realität verhält sich die Fed als Ganzes wie eine unabhängige Regierungsbehörde.” Obwohl sie als Gesellschaft formal betrachtet den Geschäftsbanken gehört, die Mitglieder des Federal Reserve System sind, ist die Federal Reserve in Wirklichkeit eine öffentliche Behörde. Sie untersteht direkt dem Kongress und achtet sorgfältig auf die Ratschläge des Präsidenten. Wann immer ein Konflikt zwischen ihrer Gewinnorientierung und der Förderung öffentlicher Interessen entsteht, agiert sie unbeirrbar im öffentlichen Interesse. Die Fed ist vor allem eine unabhängige Behörde. Sie hört zwar dem Kongress sowie dem Präsidenten genau zu und beachtet Wahlergebnisse, aber letztendlich bestimmt die Fed die Geldpolitik gemäß ihrer eigenen Ansichten über die wirtschaftlichen Interessen des Landes. Infolgedessen gerät die Fed hin und wieder in Konflikt mit der Exekutive. Praktisch jeder Präsident möchte der Fed in ihre Politik hineinreden. Wenn die Maßnahmen der Zentralbank mit den Zielsetzungen der Regierung kollidieren, dann finden Präsidenten gelegentlich harte Worte dafür. Die Fed hört sich diese höflich an, wählt aber üblicherweise den Weg, den sie für den richtigen hält, denn ihre Entscheidungen müssen von niemandem genehmigt werden. Hin und wieder behaupten Kritiker, die Fed sei zu unabhängig – es sei undemokratisch, dass eine kleine Gruppe nicht gewählter Personen die Finanzmärkte der Nation regiere. Das ist ein ernüchternder Gedanke, denn wer nicht gewählt wird, verliert mitunter den Bezug zu der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit. Die Verteidiger der Unabhängigkeit antworten, eine unabhängige Zentralbank sei der Währungshüter eines Landes und der beste Schutz gegen eine galoppierende Inflation. Außerdem stelle
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Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
die Unabhängigkeit sicher, dass die Geldpolitik nicht für parteipolitische Zwecke missbraucht werde, was mitunter in Ländern geschieht, wo die Exekutive die Zentralbank kontrolliert. Historische Untersuchungen zeigen, dass Länder mit unabhängigen Zentralbanken im Allgemeinen erfolgreicher die Inflation bekämpften als jene, in denen die Zentralbank unter der Fuchtel gewählter Regierungsvertreter stand.
Zielsetzungen. Welche Ziele verfolgt die amerikanische Zentralbank? Die Fed selbst sieht ihre Rolle folgendermaßen: Zu ihren [Federal Reserves] Zielen gehören das Wirtschaftswachstum in Harmonie mit dem wirtschaftlichen Wachstumspotenzial; Vollbeschäftigung; stabile Preise (das heißt, eine stabile Kaufkraft des US-Dollars) und moderate langfristige Zinssätze.1
Es ist nicht immer ganz einfach, die Gründe für eine bestimmte geldpolitische Entscheidung zu verstehen, aber Historiker, die sich gründlich mit derartigen Entscheidungen beschäftigen, stellen meistens fest, dass es der Fed letztendlich auf die Erhaltung der Integrität der US-Finanzinstitutionen, den Kampf gegen die Inflation, die Verteidigung des Wechselkurses des US-Dollars und die Verhinderung einer hohen Arbeitslosigkeit ankommt. Zusammenfassend kann man sagen: Das Federal Reserve Board in Washington bildet zusammen mit den zwölf regionalen Federal Reserve Banks die amerikanische Zentralbank. Jedes fortschrittliche Land hat eine Zentralbank. Deren Hauptaufgabe besteht darin, die Geldmenge des Landes und die Kreditbedingungen zu überwachen und zu steuern.
1 Siehe The Federal Reserve System: Purposes and Functions, S. 2 in den Empfehlungen zu „weiterführender Literatur und Websites“ zu diesem Kapitel.
Übersicht über die Tätigkeiten der Fed Abbildung 26-3 zeigt die verschiedenen Aktivitätsstufen der amerikanischen Zentralbank, so wie die Fed sie sieht. Der Federal Reserve steht eine ganze Reihe geldpolitischer Instrumente zur Verfügung. Diese haben Auswirkungen auf bestimmte Zwischenziele (beispielsweise die Reserven, die Geldmenge und die Zinssätze). Diese Instrumente sollen dazu beitragen, die Hauptziele zu erreichen, die eine gesunde Wirtschaft charakterisieren – eine niedrige Inflationsrate, ein rasches Produktionswachstum und geringe Arbeitslosigkeit. Es ist wichtig, diese verschiedenen Punkte (Instrumente, Zwischenziele und endgültige Ziele) in der Analyse klar voneinander zu trennen. Die drei wichtigsten Instrumente der Geldpolitik sind: • Offenmarktoperationen – Kauf oder Verkauf von amerikanischen Staatsanleihen am offenen Markt, um die Reservehaltung zu beeinflussen. • Diskontpolitik – Festlegung des als Diskontsatz bezeichneten Zinssatzes, zu dem Geschäftsbanken und andere Finanzinstitute Darlehen bei einer der regionalen Niederlassungen der Zentralbank aufnehmen können. • Mindestreservepolitik – Festlegung und Änderung des gesetzlichen Mindestreservesatzes für Geschäftsbanken und andere Finanzinstitute. Beim Geldmanagement hat die Zentralbank auf eine Reihe von Variablen zu achten, die unter der Bezeichnung Zwischenziele zusammengefasst werden. Es handelt sich hierbei um volkswirtschaftliche Variablen, die weder unter die politischen Instrumente noch unter die politischen Hauptziele einzuordnen sind, sondern dazwischen, im Übertragungsmechanismus zwischen den Fed-Instrumentarien und -Zielen angesiedelt sind. Wenn die Fed
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Die Welt aus der Sicht der Fed
Offenmarktoperationen Diskontsatz Mindestreserven
Bankreserven Geldangebot Zinssätze
stabile Preise geringe Arbeitslosigkeit kräftiges Wachstum des realen BIP
Instrumente
Zwischenziele
Langfristige Ziele
Abbildung 26-3: Langfristig verfolgt die Fed übergeordnete Ziele wie die Preisstabilität, kurzfristig konzentriert sie sich jedoch auf Zwischenziele Durch ihre Festlegung der Geldpolitik wirkt die Fed direkt auf jene wirtschaftspolitischen Instrumente oder Variablen ein, die sie kontrolliert – Operationen am offenen Markt, Diskontsatz und Mindestreserveanforderungen. Diese helfen ihr, die Bankreserven, das Geldangebot und die Zinssätze – die Zwischenziele der Geldpolitik – festzulegen. Letztendlich sind Geld- und Fiskalpolitik Partner bei der Verfolgung der Hauptziele eines raschen Wirtschaftswachstums, einer niedrigen Arbeitslosenquote und stabiler Preise.
auf ihre Hauptziele einwirken möchte, ändert sie zunächst eines ihrer Instrumente, beispielsweise den Diskontsatz. Damit beeinflusst sie eine Zwischenvariable wie die Zinssätze, die Kreditvergabebedingungen oder das Geldangebot. Wie ein Arzt, der sich für die Gesundheit seines Patienten interessiert, dessen Puls und Blutdruck misst, überwacht die Federal Reserve ihre Zwischenziele immer mit größter Aufmerksamkeit.
Die Bilanz der Federal Reserve Banks Bevor wir analysieren, wie die Zentralbank die Geldmenge steuert, müssen wir die konsolidierte Bilanz des gesamten Federal-Reserve-Systems beschreiben, die Sie Tabelle 26-1 entnehmen können. Schuldverschreibungen des US-amerikanischen Staates (zum Beispiel Schatzwechsel) machen den Großteil der Aktiva der Fed aus. Die kleinen Positionen, Kredite und Handelswechsel, setzen sich in erster Linie aus Krediten oder Vorschüssen an die Geschäftsbanken zusammen. Der Zinssatz, den die Fed für diese
Darlehen oder „Diskontkredite“ berechnet, wird als Diskontsatz bezeichnet und stellt ein weiteres wichtiges Werkzeug der Fed dar. Verbindlichkeiten und Eigenkapital beinhalten zunächst die üblichen Positionen (die hier nicht ausgewiesen werden). Zwei spezielle und einzigartige Positionen sind der Notenumlauf und die Reserven. Der Notenumlauf der Federal Reserve stellt deren Hauptverbindlichkeit dar. Es handelt sich dabei einfach um das Münz- und Papiergeld, das wir täglich verwenden. Von größter Bedeutung sind die Reserveguthaben der Geschäftsbanken, die diese in den Federal Reserve Banks als Einlagen halten. Zusammen mit den Bargeldbeständen der Banken stellen sie die Reserven dar, von denen wir bereits gesprochen haben. Sie bilden die Grundlage für die Giralgeldschöpfung durch das Bankensystem des Landes. Durch Veränderung ihrer Bestände an Staatsanleihen kann die Fed Einfluss auf die Reserven der Geschäftsbanken nehmen und so die Abfolge der Ereignisse auslösen, die letztlich die gesamte Geldmenge bestimmt.
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Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
Konsolidierte Bilanz der 12 Federal Reserve Banken, Februar 2003 (Mrd. US-Dollar) Aktiva Passiva US-Staatsanleihen 674,00 Notenumlauf der Fed Kredite und Handelswechsel 0,05 Sichteinlagen: Diverse andere Aktiva 112,55 Bankreserven US Treasury Diverse Verbindlichkeiten Gesamt 786,60 Gesamt
714,00 14,70 5,20 52,70 786,60
Tabelle 26-1: Notenumlauf und Reserven der Zentralbank sind die Grundlage des Geldangebots Durch die Kontrolle ihrer ertragbringenden Aktiva (Regierungsanleihen und Darlehen) übt die Fed auch die Kontrolle über ihre Verbindlichkeiten (Bankeinlagen und Zentralbanknotenumlauf) aus. Die Einlagen der Banken bei der Fed bilden zusammen mit dem Geld in den Banktresoren die Gesamtreserven, die zur Erfüllung der Mindestreserveanforderungen genutzt werden können. Durch Veränderung der Reserven bestimmt die Fed die für die Wirtschaft verfügbare Geldmenge (Bargeld und Sichteinlagen) und nimmt so Einfluss auf das BIP, die Beschäftigung und die Inflation. Quelle: Federal Reserve Board, www.federalreserve.gov/releases/h41
Die konkreten Mechanismen der Geldpolitik Offenmarktpolitik Das nützlichste Instrument der Fed sind die „Operationen am offenen Markt“. Durch Käufe oder Verkäufe von Staatsanleihen kann die Zentralbank die Höhe der Geschäftsbankenreserven nach oben oder unten korrigieren. Diese so genannten Offenmarktoperationen sind das wichtigste geldpolitische Instrument der Zentralbank. Durch seine Festlegung der Zentralbankpolitik entscheidet das FOMC, ob durch den Ankauf von Regierungsanleihen mehr Reserven in das Bankensystem gepumpt werden sollen oder ob durch den Verkauf von Staatspapieren eine restriktive Geldpolitik betrieben wird. Um zu sehen, wie sich eine Offenmarktoperation auf die Reserven auswirkt, nehmen wir an, die Fed sei der Meinung, die wirtschaftliche Entwicklung deute auf eine steigende Inflationsrate hin. Das FOMC trifft
sich in Washington und hört sich die Präsentationen und Vorhersagen seiner qualifizierten Ökonomen an. Dann beschließt die Runde, Geld und Kredite zu verknappen. Das Gremium erteilt nun der Federal Reserve Bank of New York, dem ausführenden Organ der Zentralbank, die Anweisung, für US-$ 1 Milliarde Wertpapiere zu verkaufen. An wen werden die Anleihen verkauft? An den offenen Markt. Dazu zählen Händler von Staatsanleihen, welche diese an Geschäftsbanken, Großunternehmen, andere Finanzinstitute und Privatpersonen weiterverkaufen. Die Käufer erwerben die Anleihen zumeist, indem sie der Fed einen Scheck ausstellen, der auf ein Konto bei einer Geschäftsbank bezogen ist. Nehmen wir an, die Fed verkauft der XYZ-Investments Staatsanleihen und erhält dafür einen Scheck, der auf die Coyote Bank of Las Vegas bezogen ist. Die Fed legt nun der Coyote Bank den Scheck vor. Wenn die Coyote Bank diesen Scheck bezahlt, verringert sich ihr Reserveguthaben bei der Zentralbank um US-$ 10.000. Wenn alle Käufe getätigt worden sind, wird das gesamte Bankensystem Reserven in Höhe von US-$ 1 Milliarde an die Zentralbank verloren haben.
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
Tabelle 26-2(a) zeigt, wie sich eine Offenmarktoperation in Höhe von US-$ 1 Milliarde auf die Bilanz der Fed auswirkt. Die schwarz eingetragenen Daten geben die Bilanz der Zentralbank vor den Verkäufen am offenen Markt wieder. Die rostfarbenen Einträge zeigen die Auswirkungen der Offenmarkttransaktionen auf die Bilanz. Der Nettoeffekt ist ein Rückgang von Aktiva und Passiva um US-$ 1 Milliarde: Die Fed hat für US-$ 1 Milliarde Staatsanleihen verkauft, und ihre Verbindlichkeiten sind um genau den gleichen Betrag zurückgegangen, nämlich um US-$ 1 Milliarde an Bankreserven. Konzentrieren wir uns nun auf die Auswirkungen auf die Geschäftsbanken, deren konsolidierte Bilanz in Tabelle 26-2(b) dargestellt ist. Wir unterstellen, dass die Banken zehn Prozent ihrer Einlagen als Reserven bei der Zentralbank halten. Nach der Offenmarktoperation bemerken die Banken, dass
ihre Reserven zu knapp geworden sind, denn in der ersten Runde haben sie US-$ 1 Milliarde an Reserven und US-$ 1 Milliarde an Einlagen eingebüßt. Nun verkaufen die Banken einige ihrer Beteiligungen und fordern ein paar kurzfristige Darlehen zurück. Dadurch schrumpfen die Einlagen um ein Vielfaches. Wenn die ganze Kette der Auswirkungen zu einem Ende kommt, werden die Einlagen um US-$ 10 Milliarden zurückgegangen sein, was zu den entsprechenden Änderungen auf der Aktivseite der Bankenbilanz führt (betrachten Sie die rostbraunen Eintragungen in Tabelle 26-2(b) genau). Am Ende haben die Verkäufe der Fed am offenen Markt zu einem Rückgang der Geldmenge um US-$ 10 Milliarden geführt. Weiter unten in diesem Kapitel werden wir den vollständigen Geldtransfermechanismus untersuchen – die Frage also, wie die Geldpolitik sich auf Zinssätze, die Gesamtnachfrage
Bilanz der Federal Reserve (Mrd. US-Dollar)
Bilanz der Geschäftsbanken (Mrd. US-Dollar)
Aktiva
Passiva
Aktiva
Passiva
Wertpapiere
500 –1
Bargeld in den Händen der Konsumenten
410
Reserven
100 –1
Darlehen
10
Bankreserven
100 –1
Darlehen und Investitionen
900 –9
Aktiva gesamt
510 –1
Passiva gesamt
510 –1
Gesamt
Tabelle 26-2(a): Verkäufe der Fed am offenen Markt reduzieren die Reserven der Banken
1.000 –10
Sichteinlagen
Gesamt
100 –10
1.000 –10
Tabelle 26-2(b): Wegen des Rückgangs der Reserven reduzieren die Banken ihre Darlehen und Investitionen, bis die Geldmenge im Verhältnis 10 : 1 vermindert wurde
Die Zentralbank beschließt, das Geld zu verknappen, indem sie Reserven aus dem Bankensystem abzieht. In (a) verkauft die Fed Wertpapiere für US-$ 1 Milliarde. Wenn die Banken auf ihre Konten bei der Fed Schecks ausstellen, um diese Wertpapiere zu bezahlen, dann reduziert dies die Bankreserven um US-$ 1 Milliarde. Die Bankreserven gehen also infolge der Offenmarktoperation um US-$ 1 Milliarde zurück. Die rostfarbene Zahlen zeigen die Auswirkung der Offenmarkttransaktionen der Fed auf deren Bilanz. In (b) sind die Auswirkungen der Offenmarktoperationen auf die Bilanzen der Banken dargestellt. Bei einem Mindestreservesatz von 10 Prozent für Sichteinlagen reduzieren die Banken ihre Darlehen und Investitionen. Der Rückgang der Reserven zieht sich durch das gesamte Bankenwesen. Die Sichteinlagen müssen daher um US-$ 10 Milliarden zurückgehen, damit das Bankensystem wieder ein Gleichgewicht erreicht. Die rostfarbene Zahlen zeigen die Auswirkung der Offenmarktoperationen auf das Bankensystem und die Geldmenge.
753
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
und die Produktion auswirkt. An dieser Stelle könnte es nützlich sein, schon einmal Abbildung 26-6(a) zu betrachten. Dieses Schaubild zeigt die Auswirkungen einer Operation am offenen Markt auf den Geldmarkt insgesamt. Die gerade beschriebene Verknappung der Geldmenge verschiebt die Geldangebotskurve nach links, was zu einem Anstieg der Zinssätze und einem Rückgang der Geldnachfrage führt. Es ist genau diese Zinserhöhung, die den Rückgang an Einlagen bewirkt, den wir in Tabelle 26-2(b) sehen. Der Rückgang der Darlehensvergabe und Investitionen der Banken führt dazu, dass die Zinssätze so lange steigen, bis die Anleger unverzinste Einlagen im Umfang von US-$ 10 Milliarden von ihren Girokonten in andere, zinsträchtiger Anlagen umschichten.
Vorgehensweise Das FOMC trifft sich achtmal jährlich, um die Geldpolitik zu beschließen und seinem Exekutivorgan, der Federal Reserve Bank of New York, die die täglichen Transaktionen am offenen Markt vornimmt, Anweisungen zu erteilen. Im Laufe der Zeit hat sich die Vorgehensweise geändert. In der Vergangenheit lauteten allgemeine Anweisungen bisweilen: „Lockert die Kreditvergabe ein wenig.“ Während der 1970er Jahre modifizierte die Fed dann ihre Arbeitsweise, um besser auf Veränderungen der Geldmenge reagieren zu können. Der dramatischste Einschnitt erfolgte 1979, als die Fed ihr „monetaristisches Experiment“ durchführte, um die rasch steigende Inflationsrate in den Griff zu bekommen. Dabei wurden Reserven und Geldangebot auf eine Weise gesteuert, die den Empfehlungen der Monetaristen entsprach. (Wir werden später in diesem Kapitel auf das monetaristische Experiment eingehen, aber auch in Kapitel 33, das sich mit dem Monetarismus befasst.) Heute setzt die Fed üblicherweise kurzfristige Ziele für den Zinssatz für Zentralbankgeld, also den Zinssatz, den Banken einander für die kurzfristige Verwendung von Bankreserven
berechnen. Abbildung 26-4 zeigt die Entwicklung dieses Zinssatzes, den die Fed ebenso kontrolliert wie einen Zinssatz für kurzfristige und einen weiteren für besonders wichtige langfristige Anlagen, nämlich den Zinssatz für Schatzanweisungen mit zehnjähriger Laufzeit. Die Fed bestimmt das allgemeine Niveau und den Trend der Zinssätze, aber es gibt natürlich noch andere Faktoren, die sich auf Zinsen und Finanzbedingungen auswirken. Welche Ziele verfolgt die Fed heute mit ihren Maßnahmen? Wie viele andere Zentralbanken auf der ganzen Welt möchte die Fed vor allem für eine niedrige und stabile Inflationsrate sorgen und andererseits Schwankungen von Produktion und Arbeitslosigkeit abmildern. Es gibt keine einzige bestimmte Variable, mit deren Hilfe sich die Geldmenge verknappen oder ausdehnen lässt. Die Fed beachtet vielmehr eine ganze Reihe von Indikatoren und Wirtschaftsprognosen. Sie verfolgt die Bewegung von Löhnen und Gehältern ebenso wie das Auf und Ab der Konsumenten- und Großhandelspreise, Veränderungen der Fiskalpolitik, der Wechselkurse und einer Vielzahl von Wirtschaftsindikatoren.
Der Einsatz des Diskontsatzes: Ein zweites Instrument Wenn die Reserven der Geschäftsbanken knapp werden, können sie Kredite bei den Federal Reserve Banks aufnehmen. Ihre Kredite fließen in die Position „Kredite und Handelswechsel“ der Fed-Bilanz in Tabelle 26-1 ein. Diese Kredite werden als geliehene Bankreserven oder Diskontkredite bezeichnet. Wenn es zu einem Zuwachs der Diskontkredite kommt, erhöhen die Banken durch ihre Darlehensaufnahme bei der Fed die gesamten Bankreserven (geliehene zuzüglich nicht geliehener Reserven). Umgekehrt führt ein Rückgang der Diskontkredite zu einer Verminderung der gesamten Bankreserven. In ihren Anfangsjahren kontrollierte die Fed die Geldmenge hauptsächlich durch
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
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Teil 5
Federal funds rate (US-Leitzins) T-Bond mit 10-jähriger Laufzeit US-Schatzwechsel mit 3-monatiger Laufzeit
Zinssätze (Prozent/Jahr)
16
12
8
4
0 1960
1965
1970
1975
1980
1985 Jahr
1990
1995
2000
2005
Abbildung 26-4: Die Federal Reserve bestimmt den Zinssatz für Bundesanleihen Die Fed legt den Zinssatz für Bundesanleihen fest, der auch der Zinssatz ist, den Banken für 24-stündige Darlehen verlangen. Dieser Zinssatz hat Auswirkungen auf alle anderen Zinssätze; allerdings ist die Verbindung variabel und wird sowohl von den erwarteten zukünftigen Zinssätzen als auch von den Finanzbedingungen insgesamt bestimmt. Beachten sie, dass in der Zeit von 1979 bis 1982, als die Fed mit der Zielgröße für die Geldmenge experimentierte, die Zinssätze stark schwankten. Quelle: Federal Reserve Board.
Käufe (oder „Diskontierung“) von Schuldscheinen oder Handelswechseln, die ihr von Banken oder Unternehmen angeboten wurden. Dies erwies sich als unzureichendes Instrument, da es die Fed in eine passive Position drängte – sie musste darauf warten, bis sich jemand an sie wandte. Als man die Bedeutung der Geldpolitik besser verstehen lernte, wählte die Fed Transaktionen am offenen Markt als ihr wichtigstes Mittel, um die Höhe der Reserven zu bestimmen. Heutzutage werden Diskontierungen hauptsächlich verwendet, um die täglichen Schwankungen in den Reserven der Mitgliedsbanken aufzufangen, und die dabei bewegten Mengen sind normalerweise außerordentlich gering (wie Tabelle 26-1 zeigt). Mitunter hebt oder senkt die Fed den Diskontsatz, also den Zinssatz, den die zwölf regionalen Federal Reserve Banks für geliehenes Geld berechnen. Jahrelang war der Dis-
kontsatz der Leithammel der Geldpolitik. Als beispielsweise die Fed 1965 den Märkten signalisieren wollte, dass der durch den Vietnamkrieg bedingte Boom die Inflation anzuheizen drohte, erhöhte sie den Diskontsatz. Dieses Signal war derart deutlich, dass der damalige Vorsitzende der Fed, William McChesney Martin, zur LBJ-Ranch zitiert und von Präsident Johnson zusammengestaucht wurde, da dieser fürchtete, ein höherer Diskontsatz würde das Wirtschaftswachstum bremsen. Heutzutage ist der Diskontsatz ein eher untergeordnetes Instrument der Geldpolitik. Mitunter wird der Diskontsatz verändert, um die Märkte auf einen bedeutenden Politikwechsel vorzubereiten. Aber meistens folgt der Diskontsatz ganz einfach den herrschenden Zinssätzen, um Banken daran zu hindern, schnell Geld zu verdienen, indem sie sich zu einem niedrigen Diskontsatz Geld leihen, das sie dann zu einem höheren Zinssatz weiterreichen.
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
Die Bedeutung der Reserveanforderung Die Art der Reserven. Im letzten Kapitel haben wir gezeigt, wie die Banken Geld schöpfen, wenn die Reserven bei konstanten Mindestreserveanforderungen steigen. Denken wir einen Augenblick lang darüber nach, warum Banken Reserven halten. Im Bankensystem einer freien Marktwirtschaft werden vorsichtige Banker immer eine gewisse Reserve vorhalten wollen. Sie benötigen einen kleinen Teil ihrer Einlagen als Bargeld oder Ähnliches, um Anleger ausbezahlen zu können, die das Geld auf ihrem Konto in klingende Münze umwandeln möchten oder Schecks auf ihre Konten ausstellen. Bereits vor vielen Jahren erkannten die Banken, dass sie zwar auf Anforderung Einlagen zurückzahlen müssen, jedoch selten alle Einlagen auf einmal eingefordert werden. Reserven in Höhe der Gesamteinlagen wären nur dann notwendig, wenn alle Anleger plötzlich und gleichzeitig voll ausbezahlt werden müssten, aber das geschah nie. An jedem beliebigen Tag hoben Anleger Geld von ihren Konten ab, während andere welches einbezahlten. Insgesamt hielten sich diese beiden Transaktionsformen die Waage. Also bestand kein Grund, 100 Prozent der Einlagen als fruchtlose Reserven zu halten; solange sie im Tresor liegen, bringen Reserven keine Zinsen. Daher entschlossen sich die Banken schon früh in ihrer Geschichte, die Einlagen für Investitionen zu nutzen. Banken maximieren ihre Gewinne, indem sie den größten Teil ihrer Einlagen selbst gewinnbringend anlegen und nur einen Bruchteil der Einlagen als Reserve halten. Der Übergang zur Mindestreservehaltung – nicht mehr 100 Prozent der Einlagen, sondern nur noch ein Bruchteil davon werden als Reserve gehalten – war in der Tat revolutionär. Dadurch konnten Banken Geld schöpfen. Das heißt, Banken konnten einen USDollar Reserve in mehrere US-Dollar Einlagen verwandeln.
755 Gesetzliche Mindestreserven. Im 19. Jahrhundert hatten die Banken mitunter nicht genügend Reserven, um den Anforderungen ihrer Einleger gerecht werden zu können, was sich gelegentlich zu wahren Bankkrisen auswuchs. Seit dieser Zeit sind die Banken daher gehalten, einen gewissen Bruchteil ihrer Sichteinlagen als Reserven zu halten; diese Verpflichtung ist inzwischen auch in den Regeln der Federal Reserve festgeschrieben. Die Mindestreserveanforderungen gelten für alle Arten von Girokonten, unabhängig vom tatsächlichen Bargeldbedarf. Die Reserven werden entweder als Bargeld („Tresorgeld“) oder als Einlagen bei der Zentralbank gehalten. Sie erbringen keine Erträge, denn Bargeld wird genauso wenig verzinst wie das bei der Fed deponierte Geld. Gemäß den Regeln der Federal Reserve müssen Banken einen festen Prozentsatz ihrer Sichteinlagen als Reserven halten. Diesen Bruchteil bezeichnet man als gesetzliche Mindestreserverate. Die Reserven der Banken werden entweder als Bargeld gehalten oder bei der Zentralbank deponiert. Tabelle 26-3 zeigt die gegenwärtigen Mindestreserveanforderungen und den Spielraum der Fed, diese Mindestreservesätze nach ihrem Ermessen zu ändern. Wesentlich ist dabei die Höhe der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreservesätze: Sie liegt bei 10 Prozent für Sichteinlagen und bei 0 Prozent für private Sparkonten. Der Bequemlichkeit wegen gehen wir in unseren Zahlenbeispielen von einer zehnprozentigen Mindestreserve aus, wobei uns allerdings bewusst sein muss, dass der tatsächliche Satz hin und wieder von diesem Niveau abweichen kann. Die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreserven sind in der Regel höher als die Summen, die die Banken freiwillig als Reserve halten würden. Heutzutage würde ein vorsichtiger Banker, der lediglich seinen Kunden glaubhaft machen möchte, dass die Bank genügend Geld für die täglichen Transaktionen vorrätig hält, vielleicht nur 5 Prozent der Sichteinlagen als Reserve halten.
756
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Einlagenkategorie
Teil 5
Mindestreservesatz (%)
Ermessensspielraum der Fed (%)
Erste US-$ 41 Mio.
3
Keine Änderung erlaubt
Über US-$ 41 Mio.
10
8–14
Sichteinlagen (Transaktionsgeld):
Spar- und Termineinlagen: Privatpersonen
0
Nicht privat: Fälligkeit bis max. 11/2 Jahre
0
0–9
Fälligkeit später als 11/2 Jahre
0
0–9
Tabelle 26-3: Mindestreserveanforderungen für die Finanzinstitute Die Mindestreserveanforderungen werden in Gesetzen und Bestimmungen festgelegt. Die Tabelle zeigt für jede Einlagenkategorie den Prozentsatz der Einlagen, der als unverzinste Zentralbankeinlage bei der Fed oder als Kassenbestand zu halten ist. Für Sichteinlagen bei großen Banken sind 10 Prozent Reserven zu halten, während für andere bedeutende Einlagen gar keine Reserven gefordert werden. Die Fed ist befugt, den Reservesatz innerhalb einer gegebenen Bandbreite zu ändern. Sie tut dies allerdings nur in seltenen Fällen, wenn die wirtschaftliche Situation eine deutliche Änderung der Geldpolitik rechtfertigt. Quelle: Federal Reserve Bulletin, Februar 2003.
Warum verlangt die Fed dann eine höhere Reservehaltung? Die Reserven der Banken werden aus einem wichtigen Grund über einem kaufmännisch sinnvollen Niveau gehalten: Dank der hohen Reserven hat die Zentralbank die Möglichkeit, die Höhe der Sichteinlagen, die Banken schaffen können, besser zu kontrollieren. Die gesetzlichen Mindestreserveanforderungen sind hoch, um der Zentralbank die Steuerung der Geldmenge zu ermöglichen. Diese Anforderungen helfen der Fed, am offenen Markt zu operieren, indem sie eine stabile Beziehung zwischen den Offenmarktoperationen und den Einlagen herstellt. Mit anderen Worten, die hohen Mindestreserveanforderungen zusammen mit der Tatsache, dass diese Reserven keinerlei Erträge erwirtschaften, sorgen dafür, dass Banken nicht mehr als das gesetzlich vorgeschriebene Minimum vorhalten wollen. Die Giralgeldschöpfung bestimmt sich so durch das Angebot an Bankreserven (das die Fed durch ihre Offenmarktoperationen festlegt) und durch den Geldmengenmultiplikator (der vom Mindestreservesatz beeinflusst wird).
Da die Fed sowohl die Bankreserven als auch den Mindestreservesatz kontrolliert, hat sie (im Rahmen einer geringen Fehlerquote) die Geldmenge fest im Griff. Die Auswirkung geänderter Mindestreservesätze. Ein weiteres Instrument der Fed sind Änderungen der Mindestreserveanforderungen. Möchte die Fed beispielsweise die Geldmenge über Nacht beschränken, kann sie den Mindestreservesatz für Sichteinlagen anheben. Sie könnte sogar die Mindestreserveanforderung für Termineinlagen anheben. Wie verknappt nun eine Erhöhung der Mindestreserve die Kreditversorgung? Unterstellen wir erneut eine gesetzliche Mindestreserve von 10 Prozent und nehmen wir an, die Banken hätten ihre Reserven genau so gebildet, dass sie dieser gesetzlichen Anforderung genügen. Nun entschließt sich die Fed zu einer Anhebung der gesetzlichen Mindestreserve auf 20 Prozent. (Diese fiktive Zahl haben wir nur gewählt, weil wir mit ihr leichter rechnen können. Die Fed kann und würde einen solch drastischen Schritt heute niemals unternehmen.)
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
Selbst wenn die Zentralbank sonst nichts tut, müssen die Banken nun ihre Darlehensvergabe und Investitionstätigkeit stark einschränken – ebenso wie ihre Einlagen. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, dürfen die Bankeinlagen nun nur noch das Fünffache und nicht mehr das Zehnfache der Bankreserven ausmachen. Es werden daher alle Bankeinlagen um die Hälfte zurückgehen. Eine solche schmerzhafte Kürzung macht sich sofort bemerkbar. Sobald das Federal Reserve Board die neue Bestimmung in Kraft setzt und die Mindestreserve auf 20 Prozent anhebt, erkennen die Banken, dass ihre Reserven unzureichend sind. Sie müssen daher Staatsanleihen verkaufen und Kredite fällig stellen. Anleihenkäufer und Darlehensnehmer müssen ihre Girokonten plündern. Dieser Prozess kommt erst dann wieder zum Stillstand, wenn die Banken ihre Einlagen auf das Fünffache anstatt des Zehnfachen ihrer Reserven reduziert haben. Eine derart drastische Veränderung innerhalb kürzester Zeit würde zu sehr hohen Zinssätzen, zu Kreditverknappung, einem starken Rückgang der Investitionen und massiven Einbrüchen bei Produktion und Beschäftigung führen. Dieses Beispiel führt uns also vor Augen, dass das sehr effektive Instrument einer Änderung des Mindestreservesatzes mit größter Vorsicht anzuwenden ist. Tatsächlich wird der Mindestreservesatz auch nur sehr selten geändert, weil dies jedes Mal eine umfassende und sehr abrupte Änderung der Vorgehensweise bedeutet. Mit Offenmarktoperationen lassen sich dieselben Ergebnisse ohne eine derartige Schockwirkung erzielen. Trends in der Regulierung der Finanzmärkte In der Vergangenheit war der Finanzsektor häufig der Ursprung für wirtschaftliche Unruhen und Krisen, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einschneidenden Regulierungen führte. Die weit
757
verbreitete Bankenkrise während der Großen Depression führte zu einer Kontrolle von Zusammenschlüssen und der Zinssätze. Bis in die achtziger Jahre hinein waren die Zinssätze, die Geschäftsbanken zu zahlen hatten, streng reguliert. Es war den Banken verboten, Zinsen auf Sichteinlagen zu zahlen, und für die Zinssätze für Sparguthaben sowie Termineinlagen gab es Obergrenzen. Als der Wettbewerb an den Finanzmärkten jedoch immer mehr zunahm, wurde die Reglementierung der Zinssätze unhaltbar. Die Finanzinstitute entwickelten neue Anlageinstrumente, die Gelder von den wenig ertragbringenden Girokonten weglockten; während der Hochzinsphase in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren beschleunigte sich dieser Trend. Schließlich begann das im Zuge der Großen Depression entwickelte Regelwerk zu bröckeln. Der Kongress reagierte darauf mit den Banking Acts von 1980 und 1982, welche die Zinssätze weitgehend freigaben. Die Grundlage dieses neuen Ansatzes war eine Trennung von Transaktionskonten und Nichttransaktionskonten. Hauptzweck eines Transaktionskontos, beispielsweise eines Girokontos, ist es, dem Zahlungsverkehr zu dienen. Ein Nichttransaktionskonto dient dagegen Einlagen, die primär als Investition gedacht sind und nicht zum Begleichen von Rechnungen genutzt werden (ein Sparkonto ist ein Beispiel hierfür). Nachdem diese Unterscheidung getroffen war, deregulierten die Gesetze von 1980 und 1982 die Nichttransaktionskonten. Derartige Konten werden heutzutage mit dem gängigen Marktzinssatz verzinst und unterliegen de facto nicht der Regulierung durch die Fed. Mit einer bedeutenden Ausnahme wurden auch Transaktionskonten, also beispielsweise Girokonten, dereguliert. Wie Tabelle 26-3 zeigt, besteht die einzige, aber wichtige Einschränkung darin, dass für derartige Konten beträchtliche Reserven gehalten werden müssen. Auch wenn die meisten Kontrollen der Zinssätze aufgehoben wurden, führt die Regierung ihre „treuhänderische” Bankenaufsicht fort. Um das Vertrauen in das
758
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Banksystem zu erhalten und einen plötzlichen Ansturm auf die Banken zu verhindern, überprüft die Regierung die Bilanzen der Banken und übernimmt insolvente Institute. Außerdem garantiert die Regierung die Rückzahlung von bis zu US-$ 100.000 pro Girokonto bei allen Banken, die Mitglieder der Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) sind. Die Fed und andere Kontrollorgane überwachen außerdem die Bankpraktiken, um sicherzustellen, dass Betrug und Missbrauch, wie sie im Sparund Darlehenskandal während der achtziger Jahre auftraten, nicht wieder vorkommen. Das bislang letzte Kapitel der US-Finanzgeschichte wurde 1999 geschrieben, als der Kongress den Glass-Steagall Act von 1933 aufhob. Glass-Steagall verbot Banken, andere Finanzdienstleistungen zu verkaufen, beispielsweise Maklerdienste oder Versicherungen, um so das Geschäftsrisiko der Banken zu vermindern. Die Aufhebung des Gesetzes entfernte die Schranken zwischen den verschiedenen Finanzinstituten. Banken, Versicherungen und Anlageberatungsfirmen dürfen nun miteinander in Wettbewerb treten und umfassende Finanzdienstleistungen anbieten. Manche Wirtschaftswissenschaftler sind darüber besorgt, dass eine Verbindung von stark reglementierten Banken, die sich auf den Schutz der Girokontenversicherung verlassen können, mit vom Konkurrenzdenken geprägten Finanzinstituten das Risiko des Finanzsektors insgesamt in turbulenten Zeiten erhöhen könnte.
Die Geldpolitik in einer offenen Marktwirtschaft In offenen Marktwirtschaften sind die Zentralbanken besonders wichtig, denn sie sind hier nicht nur für die Reserven, sondern auch für die Wechselkurse und die Beobachtung der internationalen Finanzentwicklungen verantwortlich. Bewegliche Reserven. Heutzutage wird der US-Dollar ausgiebig sowohl als Wertanlage
Teil 5
als auch als internationales Tauschmittel von all jenen genutzt, die mit internationalem Handel oder internationalen Finanzen zu tun haben. Ausländer besitzen Anlagen im Wert von Hunderten Milliarden von US-Dollar. Da für Transaktionsgeld keine oder nur geringe Zinsen gezahlt werden, bevorzugen Ausländer zinsträchtige Anlagen (festverzinsliche Wertpapiere, Aktien etc.). Aber auch Ausländer halten Transaktionsgeld in Dollar auf irgendwelchen Girokonten, denn sie müssen Waren und Anlagen kaufen und verkaufen. Außerdem horten viele Menschen in Ländern mit unsicherem Wirtschaftssystem oder hoher Inflation US-Dollar als Bargeld. Warum interessieren uns an dieser Stelle die internationalen Geldbestände? Der Grund liegt darin, dass die Einlagen von Ausländern im Bankensystem die Gesamtmenge der Bankreserven ebenso erhöhen wie die Einlagen der Inländer. Daher können Schwankungen in den Dollar-Geldbeständen der Ausländer eine Kettenreaktion auslösen und die USGeldmenge erhöhen oder verknappen. Nehmen wir an, die Japaner möchten US$ 1.000 in US-Banken einlegen. Was geschieht? Es kommt im heimischen Bankensystem zu einer Steigerung der Reserven um US-$ 1.000, wie in Tabelle 25-5(a) im vorigen Kapitel gezeigt wurde. Infolgedessen kann das Bankensystem die Einlagen um das Zehnfache, in diesem Fall um US-$ 10.000, ausweiten. So wird die Steuerung der Geldmenge M des Landes durch störende internationale Einflüsse im Bereich der Bankreserven beeinträchtigt. Doch die Fed hat die Möglichkeit, sämtliche aus dem Ausland herrührenden Änderungen der Reserven wieder auszugleichen. Dies erreicht sie durch den Einsatz eines Instrumentes, das als Neutralisierung bezeichnet wird. Der Begriff der Neutralisierung von Geldern bezeichnet Maßnahmen einer Zentralbank, mit denen die heimische Geldmenge von den internationalen Reserveflüssen abgekoppelt wird. Im Allgemeinen kommt es zu einer Neutralisierung, wenn die Zentralbank Offenmarktoperationen ein-
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
setzt, die die internationalen Reservenbewegungen kompensieren. In der Praxis ist die Neutralisierung internationaler Störungen der Reserven für die Fed Routinearbeit. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Kontrolle der Zentralbank über die Bankreserven unterliegt Störungen aus dem Ausland. Diese Störungen können jedoch kompensiert werden, wenn die Zentralbank die internationalen Geldflüsse neutralisiert.
759 US-Dollar gebunden hat, dann muss Hongkong die gleichen Zinssätze wie die Vereinigten Staaten haben – und tatsächlich ist das meistens der Fall. Wir werden später auf das Thema offener Volkswirtschaften zurückkommen. Sie sind besonders wichtig, um die außerhalb der Vereinigten Staaten betriebene Geldpolitik zu verstehen.
Die Rolle der Wechselkurse.2 Die Wechselkurse haben für die Finanzmärkte eines Landes eine große Bedeutung. Wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, werden auf den internationalen Güter- und Finanzmärkten unterschiedliche nationale Währungen verwendet, die durch relative Preise, die man als Wechselkurse bezeichnet, miteinander verbunden sind. Flexible Wechselkurse sind ein wichtiges Tauschsystem, bei dem der Preis der Auslandswährung durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage bestimmt wird. In den Vereinigten Staaten, Europa und Japan vertraut man zur Zeit auf flexible Wechselkurse. Diese drei Regionen können ihre Geldpolitik unabhängig von anderen Ländern verfolgen. In diesem Kapitel konzentriert sich die Analyse hauptsächlich auf Geldmarktaktivitäten bei flexiblen Wechselkursen. Manche Volkswirtschaften, heutzutage beispielsweise Hongkong, in der Vergangenheit aber so gut wie alle Länder, haben oder hatten feste Wechselkurse und „binden“ ihre Währung an eine oder mehrere Fremdwährungen. Wir werden schon bald sehen, dass ein Land, dessen Währung festen Wechselkursen unterliegt, seine Geldpolitik im Gleichschritt mit dem Land gestalten muss, an dessen Währung seine eigene gebunden ist. Wenn Hongkong beispielsweise offene Kapitalmärkte besitzt, seine Währung jedoch an den
Der Devisenschalter. Die Federal Reserve ist das ausführende Organ der US-Regierung im Rahmen der internationalen Finanzsysteme. Die Fed kauft und verkauft im Auftrag des US-Finanzministeriums unterschiedliche Währungen auf ausländischen Devisenmärkten. Im Allgemeinen ist das eine Routineaufgabe, doch von Zeit zu Zeit werden die ausländischen Devisenmärkte recht unübersichtlich, und die Fed greift dann in Zusammenarbeit mit dem Finanzministerium ein. Mitunter beschließt das Finanzministerium, ein Eingreifen in die Wechselkurse sei notwendig – weil der Wechselkurs des US-Dollars entweder deutlich höher oder beträchtlich niedriger liegt, als die zugrunde liegenden Wirtschaftsdaten begründet erscheinen lassen. Bei derartigen Interventionen ist die Fed das ausführende Organ des Finanzministeriums. Außerdem ergreift die Federal Reserve bei der Zusammenarbeit mit dem Ausland oder mit internationalen Organisationen oft die Initiative, wenn sich irgendwo eine internationale Finanzkrise zusammenbraut. In den Jahren 1994–1995 spielte die Fed eine bedeutende Rolle bei der Darlehensvergabe an Mexiko; sie arbeitete während der Ostasien- und weltweiten Liquiditätskrise in den Jahren 1997 und 1998 mit anderen Ländern zur Beruhigung der Märkte zusammen, und tat das Gleiche 2001– 2002, als es in Argentinien zur Krise kam. Wir haben unsere Analyse der Geldmenge abgeschlossen. Man kann die Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen:
2 Dieser Abschnitt behandelt Themen, die ausführlicher in den Kapiteln 29 und 30 diskutiert werden, und sollte nach Bearbeitung dieser Kapitel noch einmal gelesen werden.
Die Geldmenge in den USA wird letztlich durch die Geldpolitik der Fed bestimmt. Indem sie die Mindestreserven und den Dis-
760
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
kontsatz festlegt und vor allem Offenmarktoperationen durchführt, bestimmt die Fed die Höhe der Bankreserven, die Geldmenge und die Zinssätze für kurzfristige Anlagen. Die Banken und die Bevölkerung arbeiten an diesem Prozess mit. Die Banken bewirken durch eine Vervielfältigung der Reserven die so genannte Giralgeldschöpfung. Die Bevölkerung ist bereit, Geld bei den Banken zu deponieren.
B. Die Auswirkungen der Geldmenge auf Produktion und Preise Der monetäre Transmissionsmechanismus Nach unserer Untersuchung einzelner Bausteine der Geldtheorie wollen wir nun den monetären Transmissionsmechanismus beschreiben und uns fragen, wie sich Änderungen der Geldmenge auf andere Bereiche wie Produktion, Beschäftigung, Preise und Inflation übertragen. Um möglichst konkret zu bleiben, nehmen wir an, dass die Inflation der Fed Sorgen bereitet und sie daher beschlossen hat, das Wirtschaftswachstum zu drosseln. Dieser Prozess verläuft in fünf Stufen: 1. Um den Prozess in Gang zu bringen, verknappt die Fed die Bankreserven. Wie wir bereits in Abschnitt A dieses Kapitels gesehen haben, erfolgt eine Verknappung der Bankreserven hauptsächlich dadurch, dass die Fed Staatspapiere auf dem offenen Markt verkauft. Diese so genannten Offenmarktoperationen wirken sich auf die Bilanz des Bankensystems aus, weil damit die Bankreserven insgesamt zurückgehen. 2. Jede Verringerung der Bankreserven führt zu einer mehrfachen Verringerung der Sichteinlagen, wodurch die Geldmenge
Teil 5
sinkt. Diesen Schritt haben wir in Kapitel 25 beschrieben, als wir darstellten, dass Änderungen bei den Reserven zu mehrfach verstärkten Änderungen bei den Einlagen führen. Da die Geldmenge M1 dem Bargeld und den Sichteinlagen entspricht, verringert ein Rückgang der Sichteinlagen diese Geldmenge. 3. Die Verringerung der Geldmenge führt zu höheren Zinssätzen und restriktiveren Kreditkonditionen. Bei unveränderter Geldnachfrage erhöht ein verringertes Geldangebot die Zinsen. Außerdem geht das Kreditvolumen (Darlehen und kurzfristige Kredite) zurück. Die Zinssätze steigen für Hypothekendarlehen und für Unternehmen, die Fabriken bauen, neue Anlagen und Maschinen erwerben oder ihre Lagerbestände erhöhen möchten. Höhere Zinssätze verringern tendenziell auch den Preis von Kapitalanlagen (beispielsweise Aktien, festverzinsliche Wertpapiere und Häuser), wodurch der Wert dieser Anlagen sinkt.3 4. Bei höheren Zinssätzen und geringeren Vermögen geht der zinsensensible Anteil der Ausgaben zurück – vor allem die Investitionen. Die Kombination aus höheren Zinssätzen, knapperen Krediten und geringerem Vermögen wirkt dämpfend auf das Investitions- und Konsumverhalten. Die Unternehmen rücken von ihren Investitionsplänen ab, ebenso Bundesstaaten und Kommunen. Höhere Zinssätze können beispielsweise Fluggesellschaften dazu bewegen, den Ankauf von neuen Flugzeugen hinauszuzögern. Die Konsumenten entscheiden sich in einer solchen Situation für kleinere Wohnungen, oder sie renovieren einfach ihre alte, wenn die steigenden Darlehenszinsen die Monatsraten im Verhältnis zum Einkommen in die Höhe schnellen lassen. Und in einer 3 Die Beziehung zwischen den Zinssätzen und den Preisen für Anlagen wird in dem Kasten „Üblicherweise vermindern höhere Zinssätze den Preis für Anlagen“ in Kapitel 25 auf S. 712 erörtert.
761
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
Wirtschaft, die zunehmend in die internationalen Handelsströme eingebunden ist, können steigende Zinssätze den Wechselkurs des US-Dollars erhöhen und so die Exporte dämpfen. Eine knappe Geldmenge erhöht somit die Zinssätze und verringert die Ausgaben in zinssensiblen Bereichen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. 5. Letztlich senkt der Druck der knappen Geldmenge über den Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die Einkommen, die Produktion, das Arbeitsplatzangebot und die Inflation. Die Analyse von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage (in gleicher Weise auch die des Multiplikators) hat gezeigt, wie ein solcher Rückgang bei den Investitionen und anderen autonomen Ausgaben die Produktionsmenge und die Beschäftigung drastisch senken können. Und wenn Produktionsmenge und Beschäftigung unter jenes Niveau fallen, das anderenfalls erreicht würde, steigen die Preise weniger schnell oder sinken womöglich sogar. Die inflationstreibenden Kräfte verlieren ihre Wirkung. War also die Fed-Diagnose einer drohenden Inflation zutreffend, dann helfen der Rückgang der Produktion und der Anstieg der Arbeitslosenquote bei ihrer Eindämmung. Wir können die eben besprochenen Schritte wie folgt zusammenfassen: R sinkt –> M sinkt –> i steigt –> I, C, X sinken –> AD sinkt –> reales BIP und die Inflation sinken Dieser Fünfstufenmechanismus – von den Eingriffen der Fed über die Senkung der Reserven der Geschäftsbanken, der mehrfachen Veränderung der Gesamtgeldmenge M, den Änderungen der Zinssätze und Kreditmöglichkeiten, den Änderungen bei den Investitionsausgaben, die die gesamtwirtschaftliche Nachfrage verschieben, bis zur Reaktion der Produktion, Beschäftigung und Inflation – ist für die Ermittlung von Produk-
tionsmenge und Preisen entscheidend. Wenn Sie noch einmal Abbildung 26-1 betrachten, sehen Sie, wie sich jeder der fünf Schritte in unser Flussdiagramm einfügt. Wir haben die ersten beiden Schritte bereits erklärt; den Rest dieses Kapitels wollen wir einer Analyse der Schritte 3 bis 5 widmen.
Der Geldmarkt Stufe 3 des Transmissionsmechanismus ist die Reaktion der Zinssätze und Kreditkonditionen auf Änderungen der Geldmenge. Wie wir in Kapitel 25 gesehen haben, hängt die Geldnachfrage in erster Linie von der Notwendigkeit, Transaktionen durchzuführen, ab. Haushalte, Unternehmen und Staaten halten Geld, damit sie Güter, Dienstleistungen und Sonstiges kaufen können. Außerdem leitet sich ein Teil der Geldnachfrage vom Bedarf an einem absolut sicheren und möglichst liquiden Vermögenswert ab. Das Geldangebot wird vom privaten Bankensystem und der Zentralbank eines Landes gemeinsam bestimmt. Die Zentralbank stellt durch Offenmarktoperationen und andere Instrumente dem Bankensystem Reserven zur Verfügung. Die Geschäftsbanken schaffen dann aus den Zentralbankreserven Einlagen. Durch Einflussnahme auf die Reserven kann die Zentralbank die Geldmenge recht genau festlegen.
Geldangebot und Geldnachfrage Geldangebot und Geldnachfrage bestimmen gemeinsam den Marktzinssatz. In Abbildung 26-5 ist die gesamte Geldmenge (M) auf der X-Achse und der Nominalzinssatz (i) auf der Y-Achse abgetragen. Der senkrecht verlaufenden Angebotskurve liegt die Annahme zugrunde, dass die Federal Reserve mithilfe ihre Instrumente die Geldmenge auf einem gegebenen Niveau M* konstant hält. Außerdem zeichnen wir die Geldnachfragefunktion als abwärtsgeneigte Kurve, weil die Geldhaltung mit steigenden Zinssätzen
762
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
i D
Zinssatz (Prozent/Jahr)
10
S
8 6 4 2 0
D S M* Geld
M
Abbildung 26-5: Der Geldmarkt Die Wechselwirkung zwischen Geldnachfrage und -angebot bestimmt den Zinssatz. Das Geldmengenziel der Fed liegt bei M*. Die Geldnachfragefunktion der Konsumenten ist abwärts geneigt. In dieser Darstellung befindet sich der Geldmarkt bei einem Nominalzinssatz von 4 Prozent pro Jahr im Gleichgewicht.
geringer wird. Bei höheren Zinssätzen ziehen Privatpersonen und Unternehmen einen größeren Teil ihrer Gelder von den schlecht oder unverzinsten Girokonten ab und verlagern sie in ertragreichere Anlageformen, wie im letzten Kapitel beschrieben. Der Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragefunktion in Abbildung 26-5 bestimmt den Marktzinssatz. Wie wir gesehen haben, sind Zinssätze der Preis für die Nutzung von Geld. Zinssätze werden auf Geldmärkten gebildet, jenen Märkten, auf denen kurzfristige Gelder aufgenommen und verliehen werden. Zu den wichtigen Zinssätzen gehören die kurzfristigen Zinssätze wie die Zinsen für 90-Tage-Schatzwechsel und kurzfristige Unternehmensanleihen (Wertpapiere, die von großen Unternehmen emittiert werden). Wie oben bemerkt, ist die Fed hauptsächlich auf dem Markt für Bundesstaatsanleihen tätig und beeinflusst damit deren Zinssatz. Unter den längerfristigen Zinssätzen sind solche für staatliche 10- und 20-Jahres-Anleihen, Industrieschuldverschrei-
Teil 5
bungen sowie Hypothekendarlehen von großer Bedeutung (siehe Abbildung 25-2, S. 714, wo Sie ein Diagramm mit den neuesten Trends der Zinsentwicklung finden). In Abbildung 26-5 liegt der Gleichgewichtszinssatz bei 4 Prozent jährlich. Nur bei 4 Prozent entspricht das von der Fed angepeilte Geldangebot den gewünschten Geldbeständen der Allgemeinheit. Bei einem höheren Zinssatz käme es zu Geldüberschüssen. Die Menschen würden ihre zu hohen Geldbestände loswerden wollen, indem sie Anleihen oder andere Wertpapiere kauften, wodurch der Marktzinssatz in Richtung des Gleichgewichts bei 4 Prozent gesenkt würde. (Was geschähe bei einem Zinssatz von 2 Prozent?) Veränderungen an den Geldmärkten. Um den monetären Transmissionsmechanismus zu verstehen, müssen wir untersuchen, wie sich Veränderungen auf dem Geldmarkt auf die Zinssätze auswirken. Nehmen wir an, die Fed wäre angesichts einer drohenden Inflation besorgt und würde eine restriktivere Geldpolitik betreiben, indem sie Wertpapiere verkauft und die Geldmenge verknappt. Die Auswirkung einer Geldverknappung sehen Sie in Abbildung 26-6(a). Die Verschiebung der Geldangebotsfunktion nach links bedeutet, dass die Marktzinssätze steigen müssen, um die Menschen zu veranlassen, ihre Geldeinlagen gegen Anleihen und sonstige nichtmonetäre Anlageformen zu tauschen. Der Abstand zwischen E und N zeigt das Ausmaß des Geldnachfrageüberhangs beim alten Zinssatz. Die Zinssätze steigen, bis das neue Gleichgewicht erreicht ist, was in Abbildung 26-6(a) in Punkt E' bei einem neuen und höheren Zinssatz von 6 Prozent jährlich der Fall ist. Die Geldnachfrage kann auch leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Nehmen wir beispielsweise an, dass ein Anstieg der Öloder sonstiger Rohstoffpreise das Preisniveau generell erhöhte. Bei höheren Preisen wird die Nachfrage nach Geld steigen, wodurch die Geldnachfragekurve wie in Abbildung 26-6(b)
763
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
(a) Geldverknappung
(b) Verschiebung der Geldnachfrage
i
i D
S′
10
S
Zinssatz (Prozent/Jahr)
Zinssatz (Prozent/Jahr)
10
8 E′
6
4
N
E
2
0
D′ D
M* Geld
8 E′′
6
4
E
2
D
M*′
S
M
0
D′
D
M* Geld
M
Abbildung 26-6: Änderungen der Geldpolitik oder der Preise wirken sich auf die Zinssätze aus In (a) verknappt die Fed die Geldmenge aus Sorge um steigende Preise. Die geringere Geldmenge führt zu einem Geldnachfrageüberhang, der durch die Lücke NE verdeutlicht wird. Da die Menschen versuchen, ihr Portfolio entsprechend anzupassen, steigen die Zinssätze auf das neue Gleichgewichtsniveau von E'. In (b) steigt die Geldnachfrage infolge einer Erhöhung des Preisniveaus, während alle anderen Faktoren konstant bleiben. Die höhere Geldnachfrage treibt die Marktzinssätze nach oben, bis die Menge nachgefragten Geldes wieder mit der angebotenen Geldmenge übereinstimmt.
nach rechts, von DD nach D'D', verschoben wird, was zu einer Erhöhung der Gleichgewichtszinssätze führt. (Um Ihr Verständnis dieses Mechanismus zu überprüfen, beantworten Sie Frage 1 am Ende dieses Kapitels.) Fassen wir unsere Erkenntnisse über den Geldmarkt zusammen: Der Geldmarkt wird durch die Kombination aus (1) dem Bedürfnis der Allgemeinheit nach dem Besitz von (Bar-)Geld (dargestellt durch die Geldnachfragekurve DD) und (2) der Geldpolitik der Fed (die als konstantes Geldangebot SS erscheint) beeinflusst. Die Interaktion dieser beiden Faktoren bestimmt den Marktzinssatz i. Eine restriktivere Geldpolitik verschiebt die SS-Kurve nach links und erhöht den Marktzinssatz. Eine Steigerung der nationalen Produktionsleistung oder eine Erhöhung des Preisniveaus verschiebt die DD-Kurve nach rechts und erhöht den Zinssatz. Eine Ausweitung der Geldmen-
ge oder ein Rückgang der Geldnachfrage hat den gegenteiligen Effekt.
Der Geldmechanismus Wir haben gesehen, wie Maßnahmen der Zentralbank die Zinssätze verändern können. Lassen Sie uns nun untersuchen, wie die Geldpolitik die Wirtschaft beeinflusst.
Grafische Analyse der Geldpolitik Abbildung 26-7 zeigt die Auswirkungen einer Geldmengenexpansion auf das Wirtschaftsleben. Teil (a) links unten stellt den Geldmarkt, (b) rechts unten das Investitionsniveau dar, und (c) oben rechts zeigt die Bestimmung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und des BIP mithilfe des Multiplikatormechanismus. Wir können uns die hier wirkende Kausalität
764
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Teil 5
(c) Produktionsleistung
Bruttoinlandsprodukt (pro Jahr)
BIP
S
3.300
B′′
3.000
A′′
S
0
I, S
100 200
Zinssätze (Prozent/Jahr)
i 10 8
D
i
SA 10
SB A
DI A′
6 4 2
SA
B
SB
0
B′ 2
D M
Geld
(a) Der Geldmarkt
0
DI
I 100 200 Investitionen (pro Jahr)
(b) Investitionsnachfrage
Abbildung 26-7: Die Zentralbank steuert die Geldmenge, indem sie die Zinssätze und Investitionen verändert und so Einfluss auf das BIP nimmt Wenn die Fed die Geldmenge von SA auf SB ausweitet, fallen die Zinssätze mit dem steigenden Geldbestand der Konsumenten, was einer Bewegung nach unten entlang der Geldnachfragefunktion in (a) entspricht. Niedrigere Zinssätze verringern die Investitionskosten und fördern so Käufe von Fabriken, Anlagen und Maschinen durch Unternehmen und die Hauskäufe der Konsumenten. Die Wirtschaft bewegt sich entlang ihrer Investitionsnachfragekurve von A' nach B' in (b) abwärts. Aufgrund des Multiplikatoreffekts in (c) erhöht die gestiegene Investitionstätigkeit die Gesamtnachfrage und das BIP von A'' auf B''.
als Bewegung gegen den Uhrzeigersinn vom Geldmarkt über die Investitionen zur Festlegung der Gesamtnachfrage und des BIP als eine Einheit vorstellen. Wenn wir links unten beginnen, erkennen wir in Abbildung 26-7(a) Geldnachfrage und angebot, wie sie bereits in den Abbildungen 26-5 und 26-6 dargestellt waren. Für die Zwecke unserer Analyse nehmen wir an, dass die Geldangebotsfunktion ursprünglich bei SA lag
und dass der Zinssatz 8 Prozent jährlich betrug. Wäre die Fed über eine drohende Rezession besorgt, könnte sie die Geldmenge durch Offenmarktoperationen, die die Kurve hin zu SB verschieben, erhöhen. In dem in Abbildung 26-7(a) gezeigten Fall würden die Marktzinssätze dadurch auf 4 Prozent jährlich sinken. Abbildung 26-7(b) nimmt nun dieses Szenario auf, um zu zeigen, wie die niedrigen Zinssätze das Ausgabenniveau bei zinssen-
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Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
siblen Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage erhöhen. Wir haben in Kapitel 22 gesehen, dass ein Rückgang der Zinssätze die Unternehmen dazu bewegt, ihre Ausgaben für Fabriken, Anlagen, Maschinen und Lagerbestände zu erhöhen. Die Auswirkungen einer gelockerten Geldpolitik machen sich auf dem Immobilienmarkt rasch bemerkbar, wo niedrigere Zinsen eine geringere monatliche Darlehensbelastung für das typische Einfamilienhaus bedeuten, was einen Anreiz für die Haushalte darstellt, mehr und größere Wohnungen und Häuser zu erwerben. Darüber hinaus steigen mit sinkenden Zinssätzen auch die Preise von Vermögenswerten. Die Konsumausgaben nehmen zu, einerseits weil die geringeren Zinssätze im Allgemeinen den Wert der Vermögen steigern – wenn Aktien-, Anleihen- und Immobilienpreise steigen – und andererseits, weil die Konsumenten zumeist mehr für Autos und sonstige teurere langlebige Konsumgüter ausgeben, wenn die Zinsen niedrig und Kredite leicht erhältlich sind. Außerdem, und darauf werden wir gleich zurückkommen, senken die niedrigeren Zinssätze den Wechselkurs des US-Dollar und erhöhen so die Nettoexporte. Wir werden anschließend sehen, wie niedrigere Zinsen in vielen verschiedenen Bereichen der Wirtschaft zu vermehrten Ausgaben führen. Diese Folgen sieht man ganz deutlich in Abbildung 26-7(b), wo der Rückgang der Zinsen (bedingt durch ein erhöhtes Geldangebot) zu einem Anstieg der Investitionen von A' auf B' führt. In diesem Fall sollten wir den Begriff „Investitionen“ so breit interpretieren, wie wir das bereits angedeutet haben: Investitionen umfassen nicht nur Unternehmensausgaben für Anlagen und Maschinen, sondern auch dauerhafte Konsumgüter und Immobilien sowie Auslandsinvestitionen in Form von Nettoexporten. Schließlich zeigt Abbildung 26-7(c) die Auswirkungen der Änderungen bei den Investitionen im Multiplikatormodell. Dieses Diagramm ist nichts anderes als Abbildung
24-2 in seitenverkehrter Darstellung. Erinnern Sie sich aus Kapitel 24, dass nach dem einfachen Multiplikatormodell die Gleichgewichtsproduktion dann erreicht wird, wenn die erwünschten Ersparnisse den erwünschten Investitionen entsprechen. In Abbildung 26-7(c) haben wir diese Beziehung dargestellt, indem wir die Sparfunktion als SSFunktion gezeichnet haben; diese Linie stellt das gewünschte Sparniveau (gemessen entlang der X-Achse) als Funktion des BIP auf der Y-Achse dar. Das Gleichgewichts-BIP stellt sich bei jenem Niveau ein, bei dem die Investitionsnachfrage von Darstellung (b) dem gewünschten Sparniveau der SS-Funktion entspricht. Das ursprüngliche Investitionsniveau lag bei 100, abzulesen bei A' in Darstellung (b), und es führte zu einem BIP von 3.000. Wenn eine Lockerung der Geldpolitik den Zinssatz von 8 Prozent auf 4 Prozent senkt, steigen die Investitionen auf 200 in Punkt B'. Dieses höhere Investitionsniveau steigert die gesamtwirtschaftlichen Ausgaben auf das neue Gleichgewicht B'' in Darstellung (c) bei einem neuen Gleichgewichts-BIP von 3.300. Was ist geschehen? Der Anstieg des Geldangebotes von SA auf SB hat den Zinssatz von A auf B gesenkt; er hat damit einen Investitionsanstieg von A' nach B' bewirkt; so kam es, dank des Multiplikatoreffekts, zu einem BIPAnstieg von A'' nach B''. Dies ist also der Weg, über den die Geldpolitik über Zwischenziele wie die Geldmenge und den Zinssatz auf die letztlich zu erreichenden Ziele einwirkt. Die US-Wirtschaftspolitik während der Rezession von 1982 Eine der dramatischsten Wirtschaftsmaßnahmen in der Geschichte der USA wurde von 1979 bis 1982 ergriffen, als sich die Fed entschloss, die Inflation zu senken. Aufgrund der hohen Beschäftigungslage und steigender Ölpreise war die jährliche Inflationsrate 1979 sprunghaft auf 13 Prozent angestiegen. Darauf reagierte die Fed in
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
diesem Jahr mit ihrem „monetaristischen Experiment”, wobei sie sich auf das Wachstum der Reserven und das Geldangebot statt auf die Zinsen konzentrierte. Sie hoffte, mit einer klaren und entschiedenen Strategie, die sich auf die Geldmenge richtete, die inakzeptable Inflation in den Griff zu bekommen. Die Entscheidung von 1979, sich auf die Geldmenge zu konzentrieren, war stark umstritten. Die unmittelbare Auswirkung war eine drastische Reduktion des Anstiegs des Geldangebots und eine restriktive Geldpolitik. Dies trieb die Marktzinssätze in eine Höhe, die man seit dem amerikanischen Bürgerkrieg nicht mehr erlebt hatte. Mit steigenden Zinssätzen sanken die Investitionen und andere zinsempfindliche Ausgaben drastisch, was zur schlimmsten Rezession seit den 1930er Jahren führte. Im Hinblick auf die Inflation, die bis 1982 auf 4 Prozent sank, waren diese Maßnahmen ein voller Erfolg. Angesichts einer sich verschärfenden Rezession fürchtete die Fed, mit ihrer Politik der Geldverknappung zu weit gegangen zu sein. Die Arbeitslosenquote lag bei über 10 Prozent, und der Kongress machte gegen die Fed mobil. Wir können anhand dieses Beispiels sehr schön erkennen, wie die Fed ihre geldpolitischen Entscheidungen trifft – wir schalten uns zu dem Zeitpunkt ein, an dem sich die Fed zu einer Entspannung ihrer Geldpolitik durchrang. Beginnen wir mit der Verfügung vom August 1982. Mitten in der tiefsten Rezession der Nachkriegszeit begann der FOMC mit seiner Analyse der Wirtschaftslage:4 Die in dieser Sitzung betrachteten Daten weisen auf einen nur leichten Anstieg des realen BIP im laufenden Quartal hin, nach einem ebenfalls geringen Anstieg im zweiten Quartal, während die Preise im Durchschnitt nach wie vor langsamer steigen als 1981. Welche Ziele setzte sich die Fed daraufhin für ihre Geldpolitik? Sie verkündete: Der Offenmarktausschuss versucht, monetäre und Finanzbedingungen zu fördern, die zu einem Rückgang der Inflation beitragen, ein erneutes Wachstum der Produktion nach-
Teil 5
haltig unterstützen und zu einer nachhaltigen Entwicklung internationaler Transaktionen beitragen. Der FOMC gab der New York Federal Reserve Bank im August 1982 dann folgende Anweisung: Auf kurze Sicht strebt der Ausschuss ein Verhalten der Reserven im Einklang mit einem Wachstum von M1 und M2 von Juni bis September [1982] zu einer jährlichen Rate von fünf beziehungsweise neun Prozent an.
Wie soll man diese Aussage interpretieren? Sie macht deutlich, dass angesichts der ausgeprägten Rezession von 1982 die Fed zu dem Schluss kam, ihre Geldpolitik sei zu restriktiv. Außerdem waren zu dieser Zeit die Definitionen der verschiedenen Geldmengen schwammig geworden, weil eine Reihe neuer Anlageformen (beispielsweise Girokonten, für deren Einlagen Zinsen bezahlt wurden) zu M1 und M2 dazukamen. Angesichts der Mehrdeutigkeit der verschiedenen Geldmengendefinitionen erschienen Maßnahmen, die sich nur auf M konzentrierten, nicht mehr sinnvoll. Daher gab die Fed im Herbst 1982 ihre einseitige Konzentration auf die Geldmenge auf. Die Zinssätze fielen daraufhin deutlich, beispielsweise für eine Schatzanweisung mit dreimonatiger Laufzeit von 15 Prozent Mitte 1981 auf 8 Prozent Ende 1982. Infolgedessen verdoppelten sich die Realausgaben für Immobilien zwischen 1982 und 1984 beinahe, und 1983 kam es zu einer deutlichen Erholung der Wirtschaft. Obgleich die Geldpolitik in dieser Periode ausgesprochen unpopulär war, glauben viele Wirtschaftswissenschaftler zurückblickend, dass sie eine gute „Investition in stabile Preise” darstellte.
Geldpolitik in einer offenen Wirtschaft4 Mit zunehmender Öffnung der US-Wirtschaft und angesichts tiefgreifender Ände4 Die Zitate des FOMC stammen aus dem Federal Reserve Bulletin, das monatlich über die Aktivitäten der Federal Reserve und andere wichtige Entwicklungen im Finanzbereich berichtet.
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
rungen im Wechselkurssystem hat sich der monetäre Transmissionsmechanismus in den USA während der letzten zwanzig Jahre stark entwickelt. Die Beziehung zwischen Geldpolitik und Außenhandel war für kleinere und offenere Volkswirtschaften wie jene Kanadas oder Großbritanniens schon seit jeher von großer Bedeutung. Nach Einführung der flexiblen Wechselkurse im Jahre 1973 und bei zunehmender grenzüberschreitender Vernetzung spielten der Außenhandel und das internationale Finanzwesen auch in der Wirtschaftspolitik der USA eine neue und zentrale Rolle. Betrachten wir diese neue Entwicklung kurz anhand der gerade dargestellten historischen Episode. Als die Federal Reserve von 1979–1982 die Geldmenge verknappte, stiegen die Zinssätze für Anlagen in US-Dollar. Angezogen durch die höheren Dollar-Zinssätze kauften Investoren Dollar-Wertpapiere und trieben so den Wechselkurs des USDollar ihrerseits in die Höhe. Der hohe Dollar-Wechselkurs kurbelte die Importe in die USA an und schadete den US-Exporten. Die Nettoexporte gingen zurück, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schrumpfte. Das wirkte sich sowohl in einem Rückgang des realen BIP als auch in einer geringeren Inflationsrate aus. Wir werden die internationalen Aspekte der Wirtschaft in den Kapiteln 29 und 30 untersuchen. Im Augenblick geht es uns hauptsächlich darum zu verstehen, dass der Außenhandel eine weitere Schiene im monetären Transmissionsmechanismus eröffnet. Die Geldpolitik hat auf den internationalen Handel die gleichen Auswirkungen wie auf die heimischen Investitionen: Eine knappe Geldmenge senkt die Investitionen im Inund Ausland und damit auch das Produktionsvolumen und die Preise. Der Außenhandelseffekt der Geldpolitik verstärkt den Effekt auf die heimische Wirtschaft.
767 Geldpolitik im Rahmen von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage (AD-AS) Das dreiteilige Diagramm in Abbildung 26-7 zeigt, wie eine Zunahme der Geldmenge zu einem Anstieg der Gesamtnachfrage führt. Wir können nun mit Hilfe der Gesamtangebots- und der Gesamtnachfragekurve die Auswirkung auf das gesamte makroökonomische Gleichgewicht nachweisen. Die durch eine Expansion der Geldmenge hervorgerufene Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt zu einer Rechtsverschiebung der AD-Kurve, wie in Abbildung 26-8 dargestellt. Diese Verschiebung zeigt eine Expansion der Geldmenge im Fall ungenutzter Ressourcen und einer vergleichsweise flach verlaufenden AS-Kurve. Hier verschiebt die Ausweitung der Geldmenge die Gesamtnachfrage von AD nach AD', wodurch sich das Gleichgewicht von E nach E' verlagert. Dieses Beispiel zeigt, wie eine Ausdehnung der Geldmenge die Gesamtnachfrage erhöhen und damit einen bedeutenden Einfluss auf die reale Produktion haben kann. Dies ist die Abfolge der Ereignisse: Die Geldmengenexpansion senkt die Marktzinssätze. Dadurch werden zinsempfindliche Ausgabenbereiche wie Unternehmensinvestitionen, Wohnungsbau, Nettoexporte und dergleichen stimuliert. Durch den Multiplikatoreffekt erhöht sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, was Produktion und Preise auf ein Niveau steigen lässt, das sie sonst nicht erreicht hätten. Schematisch läst sich diese Abfolge darstellen als M steigt –> i sinkt –> I, C, X steigen –> AD steigt –> BIP und P steigen Man darf aber nie die Rolle unbeschäftigter Ressourcen vergessen. Die Auswirkung einer Verschiebung der AD-Kurve in einer voll beschäftigten Wirtschaft lässt sich in Abbil-
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Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
gung ein erhöhter Geldbestand, der einer konstanten Produktionsmenge gegenübersteht, primär zu Preiserhöhungen führen.
Expansive Geldpolitik potenzielles BIP
P
Allgemeines Preisniveau
AD′ AD
E
AS
E′′
E′
Q
0
Teil 5
QP reales BIP
Abbildung 26-8: Eine Ausweitung der Geldmenge verschiebt die AD-Kurve nach rechts und führt zu einem Produktions- und Preisanstieg Wie bereits erörtert wurde und wie auch Abbildung 26-7 zeigt, führt eine Ausweitung der Geldmenge zu einer Steigerung der Investitionen und der Nettoexporte und somit zu einer mehrfachen Steigerung der Gesamtnachfrage. Dies bewirkt eine Rechtsverschiebung der AD-Kurve. Im keynesianischen Bereich, in dem die AS-Kurve relativ flach verläuft, wirkt sich eine Geldmengenausweitung primär auf die reale Produktionsleistung und nur im geringem Maß auf die Preise aus. In einer Wirtschaft mit voller Auslastung der Ressourcen ist die AS-Kurve fast senkrecht (wie in Punkt E'' zu sehen), und eine Geldmengenexpansion wird primär das Preisniveau und das nominale BIP erhöhen, ohne große Wirkung auf das reale BIP. Können Sie erkennen, warum Geld langfristig vielleicht nur geringfügige Auswirkungen auf die reale Produktionsleistung haben könnte?
dung 26-8 darstellen. Zeichnen Sie eine AD''Kurve ein, die durch den Punkt E'' im steilen Bereich der AS-Kurve verläuft; zeichnen Sie dann eine Geldmengenausweitung als eine höhere AD‘“-Kurve ein. Beachten Sie, dass die Geldexpansion nur eine geringe Wirkung auf die reale Produktion hat. Stattdessen wird in einer Wirtschaft mit Vollbeschäfti-
Wenn Sie wissen wollen, ob Sie die hier skizzierte Abfolge auch verstanden haben, durchdenken Sie den gegenteiligen Fall einer Verknappung der Geldmenge. Nehmen wir an, die Federal Reserve würde sich, genau wie 1979–1982, dazu entscheiden, die Zinssätze zu erhöhen und dadurch das Wirtschaftswachstum bremsen und die Inflation senken. Sie können die daraus folgende Entwicklung in Abbildung 26-7 nachvollziehen, indem Sie die Richtung der Geldpolitik ins Gegenteil verkehren und so erkennen, wie Geld, Zinssätze, Investitionen und Gesamtnachfrage auch dann in wechselseitiger Abhängigkeit stehen, wenn die Geldpolitik restriktiver wird. Überlegen Sie anschließend, wie eine Linksverschiebung der AD-Kurve in Abbildung 26-8 sowohl die Produktion als auch die Preise senken würde.
Langfristige Auswirkungen der monetären Effekte Viele Ökonomen sind der Ansicht, Veränderungen der Geldmenge würden langfristig vor allem das Preisniveau erhöhen, jedoch nur wenig oder gar keinen Einfluss auf die reale Produktionsleistung ausüben. Wir werden diesen Einwand verstehen, wenn wir die Auswirkungen monetärer Änderungen anhand unterschiedlich verlaufender AS-Kurven analysieren. Wie in Abbildung 26-8 dargestellt, wirken sich Änderungen der Geldmenge auf die Gesamtnachfrage aus und führen kurzfristig zu einem veränderten realen BIP, wenn ungenützte Ressourcen vorhanden sind und die AS-Kurve relativ flach verläuft. In unserer Analyse des Gesamtangebotes in den nächsten Kapiteln werden wir sehen, dass die AS-Kurve langfristig senkrecht oder nahezu senkrecht verläuft, wenn sich Löhne und Preise angepasst haben. Wegen dieser Anpassung und der fast senkrecht verlaufen-
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
den AS-Kurve nimmt die Wirkung der Verlagerung der AD-Kurve auf die Produktion ab, und langfristig gesehen wird der Preiseffekt dominieren. Mit anderen Worten: Wenn Preise und Löhne langfristig flexibler reagieren können, beeinflussen Veränderungen der Geldmenge tendenziell die Preise stärker als die Produktion. Welche Überlegung steht hinter dieser Unterscheidung zwischen Kurz- und Langfristigkeit? Wir können ein stark vereinfachtes Beispiel konstruieren, um diesen Unterschied zu verdeutlichen. Nehmen wir an, unser Ausgangspunkt wäre jener in Abbildung 26-7, mit einem nominalen BIP von 3.000 und stabilen Preisen; dann könnte eine Expansion der Geldmenge um 10 Prozent das nominale BIP ebenfalls um 10 Prozent auf 3.300 steigern. Studien von Robert J. Gordon und anderen zeigen, dass sich kurzfristig „Veränderungen des nominalen BIP durchgehend aufteilen, wobei sich zwei Drittel in Form einer Produktionsänderung und ein Drittel in Form einer Preisänderung auswirken“. Infolgedessen könnte eine zehnprozentige Expansion der Geldmenge im ersten Jahr das reale BIP um rund 7 Prozent erhöhen und einen Preisanstieg von rund 3 Prozent auslösen. (Oder wir sehen, wie in Abbildung 26-8, bei einer leicht geneigten ASKurve eine starke Reaktion von Q und nur eine kleine Reaktion von P auf die Verlagerung der AD-Kurve.) Im Laufe der Zeit beginnen sich jedoch Preise und Löhne immer stärker an die höheren Preise und Produktionsmengen anzupassen. Eine höhere Nachfrage sowohl auf den Arbeits- als auch auf den Gütermärkten treibt die Löhne und Preise in die Höhe; die Löhne werden angepasst, um den höheren Lebenshaltungskosten Rechnung zu tragen; die Indexanpassung in den Arbeitsverträgen führt zu einer weiteren Steigerung bei Löhnen und Preisen. Nach dem zweiten Jahr könnten die Preise um weitere 1 oder 2 Prozent ansteigen, wobei die Produktionsleistung dann nur noch 5 Prozent oder 6 Prozent über dem ursprünglichen Niveau liegt. Im dritten Jahr könnten
769 die Preise neuerlich steigen, während die Produktionsleistung ein wenig zurückgeht. Dieser Prozess könnte sich fortsetzen, bis die Preise um die gesamten 10 Prozent angezogen haben und die Produktionsleistung wieder auf ihr ursprüngliches Niveau zurückgefallen ist. Somit hätte die Geldmengenexpansion bei gleich bleibendem realen BIP zu Preis- und Lohnsteigerungen um etwa 10 Prozent geführt. Wenn sich alle Anpassungen letztendlich nur auf die Preise auswirken, werden am Ende alle nominalen Variablen um 10 Prozent angestiegen sein, während alle realen Größen konstant geblieben sind. Die nominalen Größen wie der BIP-Deflator, der Verbraucherpreisindex, das nominale BIP, die Löhne, die Geldmenge, der Konsum in USDollar, die Dollarimporte, der Geldwert der Vermögen etc. weisen eine Steigerung von 10 Prozent auf. Das reale BIP, der reale Konsum, die Reallöhne, die Realeinkommen und der Realwert der Vermögen sind hingegen durch die geldpolitischen Maßnahmen unverändert geblieben. In einem solchen Fall sagen wir, das Geld sei neutral, was bedeutet, dass Veränderungen der Geldmenge keine Auswirkungen auf reale Variablen haben. Ein warnendes Wort ist angebracht: Der Zustand, in dem Änderungen der Geldmenge zu proportionalen Veränderungen aller Nominalgrößen, jedoch zu keinerlei Veränderungen der realen Variablen führen, erscheint intuitiv plausibel und kann auch durch bestimmte empirische Beweise belegt werden. Aber es handelt sich hierbei nicht um ein allgemeingültiges Gesetz. „Langfristig“ kann einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten bedeuten; irgendwelche Interventionen können die Wirtschaft von der idealisierten langfristigen Bahn abbringen, und Änderungen der Zinssätze könnten in der Zwischenzeit die Wirtschaft aufgrund von Pleiten, Änderungen der Handelsströme und sonstigen Einflüssen unabänderlich beeinflussen. Die langfristige Neutralität des Geldes gilt daher nur als Tendenz, nicht als allgemeingültiges Gesetz.
770
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Wir haben die Geldpolitik ohne jeden Bezug zur Fiskalpolitik erörtert. Tatsächlich aber betreibt jede reife Volkswirtschaft, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung, sowohl eine Fiskal- als auch eine Geldpolitik. Jedes dieser beiden Instrumente hat seine Stärken und Schwächen. In den folgenden Kapiteln werden wir uns daher wieder um eine gemeinsame Betrachtung der Rollen von Geld- und Fiskalpolitik sowohl beim Ausgleich der Konjunkturzyklen als auch bei der Förderung des Wirtschaftswachstums bemühen.
Von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zum gesamtwirtschaftlichen Angebot Wir haben unsere einführende Analyse der für die Gesamtnachfrage bestimmenden Faktoren nun abgeschlossen. Wir haben die Grundlagen der Gesamtnachfrage untersucht und sind dabei zu dem Schluss gekommen, dass AD einerseits von exogenen oder autonomen Faktoren wie Investitionen und Nettoexporten, andererseits jedoch auch von geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen des Staates bestimmt wird. Kurzfristig führen Änderungen dieser Faktoren zu einer Erhöhung der Ausgaben, und sie steigern sowohl die Produktionsleistung als auch die Preise. In unserer unbeständigen Welt sind die Volkswirtschaften diversen Schocks von innen und außen ausgesetzt. Kriege, Revolutio-
Teil 5
nen, Finanz- und Währungskrisen, Ölschocks, Pleiten und staatliche Fehleinschätzungen haben zu Perioden hoher Inflation oder hoher Arbeitslosigkeit oder beidem geführt. Kein Marktmechanismus funktioniert wie ein Autopilot, der makroökonomische Schwankungen rasch ausgleicht, und daher übernehmen die Regierungen die Verantwortung für die Nivellierung von Konjunkturzyklen. Die Vereinigten Staaten haben zwar 1990 und 2001 milde Rezessionen erlebt, waren aber während der letzten 20 Jahre in der glücklichen Lage, gravierende und lang anhaltende Abschwünge vermeiden zu können. Anderen Ländern ging es nicht so gut. Japan, weite Teile Europas, Lateinamerika und ostasiatische Länder sind gelegentlich in den Strudel von rasch steigender Inflation, hoher Arbeitslosigkeit, Währungsturbulenzen oder eines drastischen Rückgangs des Lebensstandards geraten. Solche Ereignisse dienen als Erinnerung daran, dass es angesichts aller plötzlichen unvorhersehbaren Einflüsse, denen eine Volkswirtschaft ausgesetzt ist, kein Universalheilmittel gegen Arbeitslosigkeit und Inflation gibt. Damit sind unsere Einführungskapitel in kurzfristige makroökonomische Entwicklungen abgeschlossen. Im nächsten Teil wenden wir uns dem Wirtschaftswachstum, einer offenen Volkswirtschaft und der Wirtschaftspolitik zu.
Zusammenfassung A. Die Rolle der Zentralbank und das Federal Reserve System 1.
Das Federal Reserve System der Vereinigten Staaten ist eine Zentralbank, eine Bank für alle anderen Banken. Sie hat das Ziel, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu fördern, die Vollbeschäftigung zu erhalten, für geordnete Finanzmärkte zu sorgen und vor allem eine angemessene Preisstabilität zu garantieren.
2.
Das Federal Reserve System (oder die „Fed”) wurde 1913 ins Leben gerufen, um Geldmenge und Kreditangebot des Landes zu kontrollieren und als „letzte Instanz des Geldverleihs” zu fungieren. Sie wird vom Board of Governors (Vorstand) und dem Federal Open Market Committee (FOMC, Offenmarktausschuss) geleitet. Die Fed agiert als unabhängige staatliche Behörde und hat einen beträchtlichen Ermessensspielraum bei der Festlegung geldpolitischer Maßnahmen.
771
Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
3.
4.
5.
Die Fed verfügt über drei Hauptinstrumente: (a) Operationen am offenen Markt, (b) die Festlegung des Diskontsatzes für Ausleihen, die Banken bei ihr tätigen wollen, und (c) die Festlegung der gesetzlichen Mindestreserven für alle Finanzinstitute mit Sichteinlagen. Mithilfe dieser drei Instrumente kann die Fed Zwischenziele beeinflussen, beispielsweise die Höhe der Bankreserven, die Marktzinssätze und das Geldangebot. Alle diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, die Wirtschaftsleistung im Hinblick auf das übergeordnete Ziel der Geldpolitik zu verbessern: die bestmögliche Kombination aus niedriger Inflation, geringer Arbeitslosigkeit, raschem BIP-Wachstum und funktionierenden Finanzmärkten zu erreichen. Außerdem muss die Fed zusammen mit anderen Bundesbehörden das einheimische und ausländische Finanzsystem in Zeiten der Krise stützen. Das wichtigste geldpolitische Instrument sind die Offenmarktoperationen der Fed. Verkäufe von Staatsanleihen durch die Fed am offenen Markt verringern die Aktiva und Verbindlichkeiten der Fed und damit auch die Reserven der Banken. Das führt zu einer Verringerung der Reservebasis der Banken für ihre Einlagen. Dadurch haben die Menschen geringere Geldbestände M, aber mehr Staatsanleihen. Offenmarktkäufe bewirken das Gegenteil, sie erhöhen letztendlich die Geldmenge M, indem sie die Reserven der Banken mehren. Abflüsse von internationalen Reserven können die Bankreserven und die Geldmenge M reduzieren, sofern sie nicht durch Zentralbankkäufe von festverzinslichen Wertpapieren am offenen Markt neutralisiert werden. Zuflüsse haben den gegenteiligen Effekt, sofern die Zentralbank sie nicht ausgleicht. Während der letzten Jahre hat die Fed routinemäßig internationale Reservebewegungen neutralisiert. In offenen Volkswirtschaften mit festen Wechselkursen müssen die Länder ihre Geldpolitik eng mit denen anderer Länder abstimmen.
B. Die Auswirkungen der Geldmenge auf Produktion und Preise 6.
Wenn die Fed das Produktionswachstum drosseln möchte, dann läuft ein Fünfstufenmechanismus ab: a. Die Fed reduziert die Bankreserven mit Hilfe von Offenmarktoperationen. b. Jede Senkung der Bankreserven führt zu einer Reduzierung des Buchgeldes und der Geldmenge insgesamt um ein Vielfaches.
c.
d.
e.
Auf dem Geldmarkt führt ein verringertes Geldangebot zu einer Bewegung entlang einer unveränderten Geldnachfragekurve, was zu einer Erhöhung der Zinssätze, einer Kreditverknappung, strengeren Kreditkonditionen und einer Reduzierung der Geldmenge führt. Die knappe Geldmenge drosselt die Investitionen und andere zinsempfindliche Ausgabenpositionen, beispielsweise für langlebige Konsumgüter oder Nettoexporte. Der Rückgang der Investitionen und anderer Ausgaben verringert durch den bekannten Multiplikatoreffekt die Gesamtnachfrage. Das geringere Niveau der Gesamtnachfrage senkt das Produktions- und Preisniveau beziehungsweise die Inflation.
Zusammenfassend lässt sich sagen: R sinkt –> M sinkt –> i steigt –> I, C, X sinken –> AD sinkt–> reales BIP und die Inflation sinken. 7.
8.
Obwohl der Geldmengenmechanismus häufig so beschrieben wird, dass sich die Geldmenge auf die „Investitionen” auswirkt, ist dieser Mechanismus de facto ein äußerst komplexer Vorgang, bei dem Änderungen der Zinssätze und der Preise verschiedener Anlageformen eine ganze Reihe von Ausgabenelementen beeinflussen. Dazu gehören der Wohnungsbau, der von den veränderlichen Hypothekenzinsen und den Hauspreisen abhängt; die Unternehmensinvestitionen, auf die sich die veränderlichen Zinssätze und die Aktienkurse auswirken; die Ausgaben für langlebige Konsumgüter, die von den Zinssätzen und der Verfügbarkeit von Krediten betroffen sind; staatliche und kommunale Ausgaben, die ebenfalls von den Zinssätzen abhängen, sowie die Nettoexporte, bei denen sich die Wirkung der Zinssätze auf die Wechselkurse bemerkbar macht. In einer offenen Marktwirtschaft verstärken die internationalen Handelsbeziehungen die Auswirkungen der Geldpolitik auf das Inland. Wenn flexible Wechselkurse gegeben sind, dann beeinflusst die Geldpolitik auch diese Wechselkurse und die Nettoexporte, womit dem Geldmechanismus eine weitere Facette hinzugefügt wird. Die Handelsverbindung verstärkt tendenziell die Wirkung der Geldpolitik, da sie auf die gleiche Weise die Nettoexporte wie die einheimischen Investitionen beeinflusst.
772 9.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Die Geldpolitik kann kurz- und langfristig unterschiedliche Auswirkungen haben. Kurzfristig wirkt sich eine Veränderung der Gesamtnachfrage AD bei einer relativ flachen AS-Kurve größtenteils auf die Produktion und nur zu einem geringen Teil auf die Preise aus. Langfristig gesehen, wenn die AS-Kurve fast schon senkrecht verläuft, führen Geldmengenveränderungen vorwiegend zu Änderungen des
Teil 5
Preisniveaus und haben kaum noch einen Einfluss auf das Produktionsniveau. Im Extremfall, wenn Änderungen der Geldmenge nur nominale Variablen betreffen und ohne Auswirkungen auf reale Variablen bleiben, sagen wir, Geld sei neutral. In der Realität haben die meisten Geldmengenveränderungen reale volkswirtschaftliche Auswirkungen.
Begriffe zur Wiederholung Zentralbankwesen Bankreserven Bilanz der Federal Reserve Käufe und Verkäufe am offenen Markt Diskontsatz, Kredite von der Fed Gesetzliche Mindestreserven FOMC (Offenmarktausschuss), Board of Governors (Vorstand) Geldpolitische Instrumente, Zwischenziele, Endziele
Der monetäre Transmissionsmechanismus Geldnachfrage und -angebot Die fünf Schritte des monetären Transmissionsmechanismus: Änderungen der Reserven Von den Reserven zum Geld Vom Geld zu den Zinssätzen Von den Zinssätzen zu den Investitionen Von den Investitionen zum BIP Zinsempfindliche Ausgabenkomponenten Geldpolitik im Rahmen der Gesamtnachfrage und des Gesamtangebots (AS-AD) R sinkt –> M sinkt –> i steigt –> I, C, X sinken –> AD sinkt –> reales BIP und die Inflation sinken. Kurzfristige und langfristige Auswirkungen der Geldpolitik „Neutralität” des Geldes
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Das Federal Reserve Bulletin enthält Monatsberichte der Aktivitäten der Federal Reserve und Informationen über wichtige Entwicklungen auf den Finanzmärkten. (Man findet das Bulletin im Internet unter www.federalreserve.gov/pubs/bulletin/default.htm.) Deutschsprachige Literatur: Matthias Ernst, Finanzmärkte im keynesianischen makroökonomischen Gesamtmodell (Metropolis, Marburg, 1999); Michael Heine, „Geldpolitik in Europa vor dem Hintergrund der Euro-Schwäche“, in: WSI-Mitteilungen, Heft 5/2002; Arne Heise (Hrsg.), Neues Geld – alte Geldpolitik? Die EZB im makroökonomischen Interaktionsraum (Metropolis, Marburg, 2002); Klaus Oppermann, Zinskosten und Geldwert. Eine klassisch-keynesianische Untersuchung monetärer Transmissionsprozesse (Metropolis, Marburg, 2000).
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Kapitel 26 Zentralbank und Geldpolitik
Websites The Federal Reserve System: Purposes and Functions (Board of Governors of the Federal Reserve System, Washington, D.C., 1994), verfügbar unter www.federalreserve.gov/ pf/pf.htm, gibt eine nützliche Beschreibung der Aktivitäten und Funktionen der Fed. Weitere Informationen zu Websites über Geldpolitik finden Sie in den Internet-Empfehlungen zu Kapitel 25. Wenn Sie etwas über die regionale Organisation der US-amerikanischen Zentralbank wissen möchten, finden Sie entsprechende Informationen unter www.federalreserve.gov/otherfrb.htm. Warum sind die Bezirke im Osten der USA so klein? Biografien von Mitgliedern des Fed-Vorstandes finden sich unter www.federalreserve.gov/bios/. Besonders interessant sind die Abschriften und Protokolle von Fed-Treffen, die man unter www.federalreserve.gov/fomc/ findet.
Übungen 1.
2.
3.
Versuchen Sie mithilfe von Abbildung 26-6 die folgenden Fragen zu beantworten: a. Die Federal Reserve hat entschieden, dass die Arbeitslosigkeit zu rasch steigt, und will diesem Trend entgegenwirken, indem sie die Geldmenge erhöht. Welche Schritte muss die Fed hierzu unternehmen? Wie werden sich die Maßnahmen auf die Geldangebotskurve auswirken? Wie werden die Geldmärkte reagieren? b. Infolge des starken Wirtschaftswachstums im Ausland steigen die Exporte und führen zu einem Anstieg des realen BIP. Was geschieht mit der Geldnachfrage? Wie wird der Marktzinssatz beeinflusst? c. Mit zunehmender Verbreitung von Geldautomaten kommen die Menschen zu dem Schluss, dass sie weniger Bargeld nur aus Gründen der „Vorsicht“ benötigen. Auf jedem Zins- und BIP-Niveau geht die Geldnachfrage zurück. Der Fed ist die Bedeutung der Verhaltensänderung noch nicht ganz klar, und sie hält die Geldmenge konstant. Welche Auswirkungen hat das geänderte Anlageverhalten auf Geldnachfrage und -angebot? Wie wirkt es sich auf die Marktzinssätze aus? Versetzen Sie sich in die Lage des Vorstandsvorsitzenden der Fed, der zu einer Zeit, in der die Konjunktur anfängt zu überhitzen, vor einem Ausschuss des Kongresses aussagen muss. Schreiben Sie den Auskunft fordernden Senatoren eine Erklärung, in der Sie darlegen, welche Maßnahmen Sie zur Erhaltung stabiler Preise ergreifen wollen. Betrachten Sie die Bilanz der Fed in Tabelle 26-1. Erstellen Sie eine entsprechende Bilanz für die Geschäftsbanken (wie jene in Tabelle 25-3 im
4.
letzten Kapitel) unter der Annahme, dass die Mindestreserveanforderung 10 Prozent auf Sichteinlagen und 0 Prozent auf alle anderen Einlagen beträgt. a. Erstellen Sie die Bilanzen neu unter der Annahme, dass die Fed Staatspapiere im Wert von US-$ 1 Milliarde über Offenmarktoperationen verkauft. b. Schreiben Sie die Bilanzen nun so um, dass sie zeigen, was geschieht, wenn die Fed die Mindestreserveanforderungen auf 20 Prozent erhöht. c. Nehmen Sie an, die Geschäftsbanken borgten sich US-$ 1 Milliarde an Reserven von der Fed. Wie verändert diese Maßnahmen die Bilanzen? Nehmen Sie an, die Geschäftsbanken hätten US-$ 100 Milliarden an Sichteinlagen und US-$ 4 Milliarden an Bargeld im Tresor. Unterstellen Sie zudem, dass die Mindestreserveanforderung bei 10 Prozent der Sichteinlagen liegt. Eine weitere Annahme ist, dass die Menschen in dem Land einen konstanten Bargeldbestand von US-$ 200 Milliarden halten. Die Aktiva der Zentralbank bestehen ausschließlich aus Staatsanleihen. a. Erstellen Sie die Bilanz für die Zentralbank und die Gesamtheit der Banken. Vergessen Sie nicht die Einlagen der Banken bei der Zentralbank. b. Nehmen Sie nun an, die Zentralbank wollte am offenen Markt tätig werden und US-$ 1 Milliarde an Staatsanleihen an die Bürger des Landes verkaufen. Entwickeln Sie die neue Bilanz. Was ist mit M1 geschehen? c. Verwenden Sie nun die grafische Darstellung des Geldtransmissionsmechanismus, um die qualitative Auswirkung dieser
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5.
6.
7.
8.
Makroökonomie: Wirtschaftswachstum und Konjunkturzyklen
Maßnahme auf den Gleichgewichtspunkt des Geldangebots, der Zinssätze, der Investitionen und der Produktion zu zeigen. Erklären Sie anhand von Abbildung 26-7, wie die Verknappung der Geldmenge nach 1979 das BIP senkte. Erläutern Sie jeden einzelnen Schritt in Worten. „Ein Budgetdefizit des Staates ist schlecht, denn es führt zu einem raschen Anstieg der Geldmenge.” Erläutern Sie, warum diese Aussage nicht stimmt. Während der Jahre 1998 und 1999 sanken in Japan die Preise um 2 Prozent pro Jahr, während der kurzfristige Zinssatz 0,1 Prozent pro Jahr betrug. a. Wie hoch war der Realzinssatz? b. „In den Jahren 1998 und 1999 war Japan in einer Liquiditätsfalle gefangen, während der die Zentralbank die Zinssätze nicht weiter senken und daher die Wirtschaft auch nicht ankurbeln konnte.” Erläutern Sie diese Aussage. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 führten die Ausgaben für den Aufbau Ost zu einer beträchtlichen Ausweitung der Geldnachfrage in Deutschland. Die Deutsche Bundesbank reagierte darauf mit einer Verlangsamung des Geldmengenwachstums und einer drastischen Erhöhung der deutschen Realzinssätze. Erläutern Sie in einzelnen Schritten, warum man damit rechnen musste, dass diese restriktive Geldpolitik Deutschlands zu eine Abwertung des US-Dollars führen würde. Erklären Sie, weshalb eine derartige Abwertung die Wirtschaft in den USA stimulieren müsste. Verdeutlichen Sie außerdem, warum jene europäischen Länder, die ihre Währung an die DM gebunden hatten, eine tiefe Rezession befürchten mussten, als die Zinssätze in Deutschland stiegen und diejenigen in anderen europäischen Ländern mit sich rissen.
Teil 5
Teil 6
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
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KAPITEL 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
Die Industrielle Revolution war keine vorübergehende Erscheinung, deren Anfang und Ende wir kennen ... Sie findet ständig und auch heute noch statt. E. J. Hobsbawm, The Age of Revolution (1962)
In den Tageszeitungen wird hauptsächlich über Konjunkturzyklen berichtet. So wichtig sie auch sein mögen, diese Schwankungen sind nur das sanfte Plätschern am Rande der großen Welle, die wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen und die es fortgeschrittenen Volkswirtschaften wie derjenigen der Vereinigten Staaten ermöglicht, große Mengen von Kapitalgütern anzuhäufen, die Grenzen des technischen Wissens weiter nach außen zu verschieben und zunehmend produktiver zu werden. Wenn man Jahrzehnte und ganze Generationen zurückblickt, erkennt man, dass der Lebensstandard, gemessen an der Pro-Kopf-Produktion oder dem Konsum pro Haushalt, hauptsächlich von dem Gesamtangebot und dem Produktivitätsniveau in einem Land bestimmt wird. Am Anfang dieses Kapitels steht ein Überblick über die Theorie des Wirtschaftswachstums. Anschließend wird die historische Entwicklung wirtschaftlicher Aktivitäten untersucht, unter besonderer Berücksichtigung wohlhabender Länder wie der Vereinigten Staaten. Das nächste Kapitel befasst sich dann mit dem anderen Ende des Einkommensspektrums und betrachtet die Not der Entwicklungsländer, die hart darum kämpfen, den Wohlstand zu erreichen, den der Westen schon genießt. Die beiden anschließenden Kapitel erforschen die Rolle, die der Außenhandel und die finanziellen Außenbeziehungen in der Makroökonomie spielen. Abbildung 27-1 bietet uns mithilfe des nun schon bekannten Flussdiagramms eine Übersicht über die Kapitel, die sich mit dem Wirtschaftswachstum befassen.
Die langfristige Bedeutung des Wachstums Ein kurzer Blick auf die Entwicklung der realen Produktionsleistung der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert zeigt, dass das reale BIP der USA seit 1900 um den Faktor 30 gewachsen ist. Für die Vereinigten Staaten ist das wahrscheinlich die wichtigste wirtschaft-
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Produktionsleistung (reales BIP)
Gesamtnachfrage AD
Wechselwirkung zwischen AS und AD
Bestimmungsfaktoren des Gesamtangebots Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital …)
Gesamtangebot AS
Technologie
Steuern u. sonstige wirtschaftspolitische Maßnahmen
Abbildung 27-1: Für den langfristigen Lebensstandard ist das Wirtschaftswachstum ausschlaggebend Langfristig gesehen hängt das wirtschaftliche Geschick eines Landes vom Wachstum seiner potenziellen Produktion ab. In diesem Kapitel werden die langfristigen Wachstumstrends zusammen mit den Theorien zur Erklärung dieser Trends betrachtet.
liche Tatsache des Jahrhunderts. Das anhaltende rasche Wirtschaftswachstum versetzt die entwickelten Industrienationen in die Lage, ihren Bürgern mehr von allem zu bieten – bessere Nahrung und größere Wohnungen, mehr Ressourcen für die medizinische Versorgung und den Umweltschutz, eine umfassende Ausbildung für die Kinder, mehr Ressourcen für die Verteidigung und eine staatliche Altersversorgung für Rentner. Der letzte Irakkrieg zeigte deutlich, wie die Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten in militärische Stärke umgesetzt werden kann. Dank ihres schnellen Wirtschaftswachstums stellen die USA etwa ein Viertel
der gesamten Weltproduktion her. Obwohl die Vereinigten Staaten nur 4 Prozent ihres BIP für die Verteidigung ausgeben, entspricht dies der Summe aller Verteidigungsausgaben der übrigen Welt. Der Irak, der fast die Hälfte seiner Produktion für militärische Zwecke nutzte, wurde sowohl in finanzieller Hinsicht als auch bezüglich seiner Militärausrüstung um mindestens das Fünfzigfache übertroffen. Da das Wirtschaftswachstum eine so zentrale Bedeutung für den Lebensstandard hat, ist es auch ein wichtiges Ziel der Wirtschaftspolitik. Die Sprinter im Rennen um das höchste Wachstum, wie Großbritannien im
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Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
19. Jahrhundert und die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert, dienen anderen Ländern, die auch wohlhabend werden möchten, als Leitbilder. Am anderen Ende der Skala erleben Länder, deren Wirtschaft zerfällt, häufig politische und soziale Spannungen. Die Revolutionen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 haben ihren Ursprung in der Erkenntnis der Bürger dieser Länder, dass ihre Wirtschaft unter dem Sozialismus stagnierte, während die Marktwirtschaften des Westens wuchsen. Langfristig gesehen ist das Wirtschaftswachstum der wichtigste Faktor für den Erfolg eines Landes.
A. Volkswirtschaftliche Wachstumstheorien Beginnen wir mit einer präzisen Definition des Begriffs Wirtschaftswachstum: Wirtschaftswachstum ist die Steigerung des potenziellen BIP oder der potenziellen Produktionsleistung eines Landes. Anders ausgedrückt sprechen wir dann von Wirtschafts-
wachstum, wenn die Produktionsmöglichkeitskurve (PMK) eines Landes nach außen verschoben wird. Ein eng verwandter Begriff ist die Wachstumsrate der Pro-Kopf-Produktion. Sie bestimmt die Geschwindigkeit, mit welcher der Lebensstandard in einem Land steigt. Staaten sorgen sich hauptsächlich um das Wachstum der Pro-Kopf-Produktion, weil sie zu steigenden Durchschnittseinkommen führt. Welche langfristigen Wachstumsmuster lassen sich in Ländern mit rasch wachsendem Einkommen beobachten? Tabelle 27-1 zeigt das Wirtschaftswachstum seit 1870 für 16 Länder mit hohem Einkommen, darunter die führenden Nationen Nordamerikas und Westeuropas ebenso wie Japan und Australien. Wir erkennen eine stetige Zunahme der Produktion in diesem Zeitraum. Noch wichtiger für den Lebensstandard ist das Wachstum der Produktion pro Arbeitsstunde, das in engem Zusammenhang mit der Verbesserung des Lebensstandards steht. Während des gesamten Zeitraums stieg die Produktion pro Beschäftigtem im Durchschnitt um 2,3 Prozent jährlich, was sich über einen Zeitraum von 130 Jahren hinweg zu einem Wachstumsfaktor von fast 20 kumuliert.
Durchschnittliches jährliches Wachstum Periode
BIP
BIP pro Arbeitsstunde
Gesamtzahl der Arbeitsstunden
Beschäftigte
1870–1913
2,5
1,6
0,9
1,2
1913–1950
1,9
1,8
0,1
0,8
1950–1973
4,8
4,5
0,3
1,0
1973–2000
2,7
2,2
0,5
1,1
Gesamtzeitraum
2,8
2,3
0,5
1,0
Tabelle 27-1: Wachstumsmuster in 16 Industrienationen Während des letzten Jahrhunderts sind die bedeutenderen Länder mit hohem Einkommen, wie die Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich und Japan, stark gewachsen. Die Produktion ist schneller angestiegen als die dafür erforderliche Arbeitsleistung, ein Zeichen für den zunehmenden Einsatz von Kapital und den technischen Fortschritt. Quelle: Angus Maddison, Phases of Capitalist Development (Oxford, 1982); von den Autoren anhand von Daten von Maddison, der Weltbank und weiteren Publikationen aktualisiert.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Was sind die Haupttriebkräfte für dieses Wachstum? Was können Länder tun, um ihr Wirtschaftswachstum anzukurbeln? Wie sehen die Aussichten für das 21. Jahrhundert aus, angesichts des Rückgangs im Produktivitätswachstum während der letzten drei Jahrzehnte sowie der Möglichkeit strengerer Umweltschutzauflagen? Mit solchen Themen muss sich eine Analyse des Wirtschaftswachstums beschäftigen. Zum Wirtschaftswachstum gehört der langfristige Anstieg der potenziellen Produktionsleistung. Das Wachstum der Pro-KopfProduktion ist ein wichtiges Ziel staatlichen Handelns, denn es geht mit steigenden durchschnittlichen Realeinkommen und einer Verbesserung des Lebensstandards einher.
Die vier Antriebskräfte des Wirtschaftswachstums Wie erreicht man wirtschaftliches Wachstum? Viele Wege führen nach Rom, und es gibt viele erfolgreiche Strategien, um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. So wurde beispielsweise Großbritannien im 19. Jahrhundert aufgrund seiner Pionierleistungen in der industriellen Revolution führend, indem es die Dampfmaschinen und Eisenbahnen erfand und den Freihandel forcierte. Japan schloss sich dagegen erst viel später dem Rennen um das Wirtschaftswachstum an. Seinen Erfolg hat das Land der Nachahmung ausländischer Technologien, dem Schutz der heimischen Industrie vor Importen und schließlich dem Erwerb eines enormen Fachwissens in den Bereichen Fertigungstechnik und Elektronik zu verdanken. Auch wenn sie unterschiedliche Wege beschritten haben, gibt es doch einige Gemeinsamkeiten zwischen den wachstumsstarken Ländern. Es war derselbe grundlegende Prozess wirtschaftlicher Expansion und Entwicklung, der Großbritannien und Japan nach vorn brachte und heute in Schwellenländern wie China und Indien wirkt. Die Wachstums-
Teil 6
forschung ist zu dem Schluss gelangt, dass der Motor wirtschaftlichen Fortschritts sozusagen immer auf denselben vier Rädern oder Antriebskräften ruht, gleichgültig wie reich oder arm ein Land ist. Diese vier Räder oder Wachstumsfaktoren sind: • die menschlichen Ressourcen (Arbeitsangebot, Ausbildung, Arbeitsdisziplin, Motivation) • die natürlichen Ressourcen (Grund und Boden, Bodenschätze, Brennstoffe, Umweltqualität) • die Kapitalbildung (Maschinen, Fabriken, Straßen) • die Technologie (Wissenschaft, Technik, Management, Unternehmertum) Häufig stellen Wirtschaftswissenschaftler die herrschende Beziehung zwischen den Faktoren als gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion (APF = aggregate production function) dar, die eine Verbindung zwischen der Produktion eines Landes und dem dafür notwendigen Input und der Technologie herstellt. Algebraisch ausgedrückt kann man schreiben: Q = AF (K, L, R) wobei Q der Produktion entspricht, K der produktiven Nutzung des Kapitals, L der genutzten Arbeitsleistung und R den eingesetzten natürlichen Ressourcen. A stellt den Grad der Technologie in einer Wirtschaft dar, und F ist die Produktionsfunktion. Sobald die Verwendung von Kapital, Arbeit und sonstigen Ressourcen steigt, erwarten wir, dass auch die Produktion wächst, auch wenn die Skalenerträge beim Einsatz zusätzlicher Produktionsfaktoren möglicherweise sinken. Wir können uns die Technologie als einen Verstärker der Produktivität der anderen Faktoren vorstellen. Mit Produktivität bezeichnet man das Verhältnis der Produktion zu einem gewichteten Durchschnitt der Pro-
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
duktionsfaktoren. Wenn die Technologie sich aufgrund von neuen Erfindungen oder der Übernahme von Technologien aus dem Ausland weiterentwickelt, erlaubt dieser Fortschritt einem Land, mit der gleichen Menge an Produktionsfaktoren mehr herzustellen. Betrachten wir nun jeden der einzelnen Faktoren, die zum Wachstum beitragen.
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fangreichen Dienstleistungsgewerbes. Viele Länder, beispielsweise Japan, besitzen fast keine natürlichen Ressourcen, konzentrieren sich aber erfolgreich auf arbeits- und kapitalintensive Sektoren statt auf Bodenschätze. Das winzige Hongkong, dessen Fläche nur einen Bruchteil des ressourcenreichen Russlands ausmacht, erzielt ein größeres Außenhandelsvolumen als das riesige Land.
Menschliche Ressourcen Der Faktor Arbeit wird bestimmt von der Anzahl der Arbeitenden und den Fähigkeiten der Beschäftigten. Viele Ökonomen sind der Ansicht, die Qualität des Faktors Arbeit – Fertigkeiten, Wissen und Disziplin der Arbeitnehmer – sei die wichtigste Triebkraft für das Wirtschaftswachstum. Ein Land kann schnelle Computer, moderne Telekommunikationsanlagen, Elektrizitätskraftwerke auf dem neuesten Stand der Technik und Überschallkampfflugzeuge kaufen. Doch diese Kapitalgüter müssen von gut ausgebildeten Fachkräften effektiv genutzt und gewartet werden. Eine Verbesserung der Ausbildung, der Gesundheit und Disziplin der Computerkenntnisse erhöhen die Arbeitsproduktivität eines Landes beträchtlich.
Natürliche Ressourcen Natürliche Ressourcen sind der zweite klassische Produktionsfaktor. Dazu gehören insbesondere kultivierbarer Boden, Erdöl und Erdgas, Wälder, Wasser und Mineralien. Manche Länder mit hohem Einkommensniveau wie Kanada oder Norwegen sind hauptsächlich aufgrund ihrer reichen Bodenschätze gewachsen und in der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei stark. Die Vereinigten Staaten mit ihrem fruchtbaren Ackerland sind der weltweit größte Produzent und Exporteur von Getreide. Der Besitz von natürlichen Ressourcen ist jedoch für den Wirtschaftserfolg in der modernen Welt nicht notwendig. New York City gedeiht hauptsächlich aufgrund seines um-
Kapitalbildung Erinnern wir uns, dass zum Sachkapital Straßen und Elektrizitätswerke, Ausrüstungsgegenstände wie Lastkraftwagen und Computer, aber auch Lagerbestände gehören. Bei den dramatischsten Episoden der Wirtschaftsgeschichte steht oft die Kapitalbildung im Mittelpunkt. Im 19. Jahrhundert brachte die transkontinentale Eisenbahn Güter in die Mitte Amerikas, die bis dahin praktisch isoliert gewesen war. Im letzten Jahrhundert erhöhten Investitionen in Autos, Straßen und Elektrizitätswerke die Produktivität und schufen eine Infrastruktur, die zum Entstehen völlig neuer Industriezweige führte. Viele glauben, dass die Computer und Datenautobahnen für das 20. Jahrhundert die gleiche Bedeutung haben wie Eisen- und Autobahnen für frühere Zeiten. Wie wir gesehen haben, erfordert die Ansammlung von Kapital den jahrelangen Verzicht auf sofortigen Konsum. Schnell wachsende Länder investieren meistens stark in neue Kapitalgüter; in den Staaten mit dem raschesten Wachstum können 10–20 Prozent der Produktion in die Nettokapitalbildung fließen. Die große Ausnahme bilden heutzutage die Vereinigten Staaten. Im Jahre 2003 sank die Nettosparquote in diesem Land auf null, nachdem sie während der Nachkriegszeit zumeist bei durchschnittlich 7 Prozent gelegen hatte. Diese niedrige Quote ist durch die geringen privaten Ersparnisse und das große staatliche Budgetdefizit bedingt. Am deutlichsten zeigten sich die niedrigen Ersparnisse in dem hohen Außenhandelsdefizit.
782
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Viele Wirtschaftswissenschaftler befürchten, die niedrige Sparquote könne Investitionen und Wirtschaftswachstum in künftigen Jahrzehnten hemmen, und prognostizieren, dass die hohe Auslandsverschuldung möglicherweise zu spürbaren negativen Veränderungen des Wechselkurses und der Reallöhne führen werde. Wenn wir von Kapital sprechen, sollten wir nicht nur an Computer und Fabriken denken. Viele Investitionen tätigt ausschließlich der Staat, und sie bilden die Grundlage für einen blühenden privaten Sektor. Diese Investitionen werden als Infrastruktur bezeichnet und bestehen aus Großprojekten, die Handel und Warenverkehr vorausgehen. Straßen, Bewässerungssysteme und Wasserprojekte sowie Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsfürsorge sind wichtige Beispiele. Derartige Projekte erfordern hohe Investitionen, die zumeist „unteilbaren“ oder pauschalen Charakter haben und bisweilen steigende Skalenerträge aufweisen. Im Allgemeinen sind diese Projekte auch durch externe Effekte gekennzeichnet, die Privatunternehmen nicht auf sich nehmen können, sodass der Staat hier eingreifen und sicherstellen muss, dass diese Infrastrukturinvestitionen auf sinnvolle Weise getätigt werden. Manche Investitionen, wie diejenigen in das Transport- und Kommunikationswesen, werden auch von „Netzwerkexternalitäten“ beeinflusst, das heißt, ihre Produktivität hängt von der Dichte der sie nutzenden Bevölkerung ab.
Technischer Wandel und Innovation Zusätzlich zu den drei bisher erörterten klassischen Faktoren ist der technische Fortschritt eine wesentliche vierte Triebkraft für den raschen Anstieg des Lebensstandards. Historisch gesehen ist das Wirtschaftswachstum durchaus kein einfacher Wiederholungsprozess, bei dem nur neue Stahlwerke und Elektrizitätswerke zusätzlich zu den bereits bestehenden errichtet werden. Ein unendlicher Strom von Erfindungen und technischen
Teil 6
Neuerungen hat zu der beträchtlichen Verbesserung der Produktionsmöglichkeiten in Europa, Nordamerika und Japan geführt. Heute sind wir Zeugen einer geradezu explosiven technischen Entwicklung, besonders im Bereich Computer und Kommunikation (beispielsweise im Internet) sowie in Medizin, Pharmazie und Biologie. Doch es ist nicht das erste Mal, dass die amerikanische Gesellschaft von grundlegenden Innovationen tiefgreifend verändert wurde. Auch die Elektrizität, das Radio, das Auto und das Fernsehen haben sich zuvor in der US-amerikanischen Volkswirtschaft verbreitet. Abbildung 27-2 zeigt die Ausbreitung wichtiger Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Dieses S-förmige Muster ist typisch für die Verbreitung neuer Technologien. Als technischen Wandel bezeichnet man Veränderungen von Produktionsprozessen sowie die Einführung von neuen Produkten oder Dienstleistungen. Neue Prozesse, welche die Produktion beträchtlich gesteigert haben, waren die Dampfmaschine, die Elektrizitätserzeugung, Antibiotika, der Verbrennungsmotor, der Großraumjet, der Mikroprozessor und das Faxgerät. Zu den wirklich grundsätzlichen Produktinnovationen zählen Telefon, Handy, Radio, Flugzeug, Tonaufnahmegerät, Fernsehen, Computer, Videorecorder, DVD-Spieler et cetera. Die bedeutendsten technischen Entwicklungen in unserem modernen Zeitalter lassen sich in der Informationstechnik beobachten. Die winzigen Notebooks von heute können mehr leisten als die schnellsten Computer der sechziger Jahre, während über Glasfaserkabel 10.000 Unterhaltungen gleichzeitig geführt werden können, für die man in der Vergangenheit 10.000 Kupferdoppelleitungen brauchte. Diese Erfindungen sind die spektakulärsten Beispiele für den technischen Wandel. Technische Veränderungen sind jedoch ein kontinuierlicher Prozess kleiner und größerer Verbesserungen, was durch die Tatsache belegt wird, dass die Vereinigten Staaten pro Jahr über 100.000 neue Patente ausstellen und dass es weitere Millionen klei-
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Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
100 Autos
Haushalte (%)
80
Fernsehgeräte
60 Elektrizität
Handys
40
Heimcomputer 20 Internetzugang 0 1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960 Jahr
1970
1980
1990
2000
2010
Abbildung 27-2: Verbreitung wichtiger Technologien Die heutige Informationstechnik, beispielsweise Handys, Computer und das Internet, hat sich rasch in der USamerikanischen Gesellschaft ausgebreitet. In der Vergangenheit ließen sich ähnliche Verbreitungsmuster für andere grundlegende Erfindungen beobachten. (Quelle: Economic Report of the President, 2000; von den Autoren aktualisiert.
nerer Verbesserungen gibt, die in unserer modernen Wirtschaft fast schon zum Routineprozess geworden sind. Wegen seiner Bedeutung für die Hebung des Lebensstandards grübeln Ökonomen seit langem darüber nach, wie sich der technische Fortschritt fördern lässt. Es wird zunehmend deutlich, dass es sich bei dem technischen Wandel nicht um einen mechanischen Ablauf handelt, bei dem es darum geht, bessere Produkte und Verfahren zu finden. Stattdessen erfordert eine Kultur schneller Innovationen die Förderung des Unternehmergeistes. Betrachten wir etwa die heute florierende Internetindustrie – ein Sektor, der Warenaustausch und Einzelhandel völlig verändert hat. Warum konnte der nötige Unternehmergeist in den USA gedeihen? Ein Hauptgrund ist sicherlich die Kombination eines offenen Forschungsklimas mit dem Fehlen von Regulierungen und den lockenden Gewinnen des freien Marktes in Silicon Valley. In Tabelle 27-2 sind die vier Faktoren des Wirtschaftswachstums zusammengefasst.
Wachstumstheorien Fast alle Menschen befürworten ein Wirtschaftswachstum. Die Meinungen, wie dieses Ziel erreicht werden soll, gehen jedoch auseinander. Manche Ökonomen und Entscheidungsträger betonen die Notwendigkeit vermehrter Kapitalinvestitionen. Andere plädieren für Maßnahmen, die Forschung, Entwicklung und technologischen Fortschritt anregen sollen. Eine dritte Gruppe betont dagegen die Bedeutung besser ausgebildeter Arbeitskräfte. Manche denken auch, Wirtschaftsprotektionismus sei nützlich. Wirtschaftswissenschaftler befassen sich seit langem mit der Frage der relativen Bedeutung der verschiedenen Faktoren für das Wirtschaftswachstum. In der nachfolgenden Darstellung beschäftigen wir uns mit Theorien des Wirtschaftswachstums, die uns einige Hinweise auf die Antriebskräfte dieses Wachstums liefern. Anschließend werden wir im letzten Teil dieses Abschnitts untersuchen, was wir aus den historischen Entwicklungen
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Bestimmungsfaktoren des Wirtschaftswachstums Menschliche Arbeit
Teil 6
Beispiele Anzahl der Arbeitskräfte Qualität der Arbeitskräfte (Bildungsstand, berufliche Ausbildung, Disziplin)
Natürliche Ressourcen
Öl und Erdgas Boden und Klima
Kapitalbildung
Fabriken, Anlagen und Maschinen Infrastruktur
Technologie und Unternehmertum
Qualität des wissenschaftlichen und technischen Wissens Managementwissen Belohnungen für Innovationen
Tabelle 27-2: Die vier Faktoren des Fortschritts Das Wirtschaftswachstum beruht unabdinglich auf den vier Faktoren Arbeit, natürliche Ressourcen, Kapital und Technik. Doch diese Faktoren können von Land zu Land deutlich verschieden eingesetzt werden, wobei manchen Ländern eine effektivere Kombination gelingt als anderen.
Institutionen, Anreize und Innovationen Über einen sehr langen Zeitraum betrachtet sind Produktion und Wohlstand in unserer Welt hauptsächlich aufgrund verbesserten Wissens gewachsen. Doch Institutionen zur Schaffung und Verbreitung von Wissen, zusammen mit Anreizen, menschliche Anstrengungen auf diese Aufgabe zu konzentrieren, wurden erst spät in der Geschichte der Menschheit entwickelt – in Westeuropa ganz langsam während der letzten 500 Jahre. Diese Tatsache hat William Baumol sehr eloquent unterstrichen: Das Museum von Alexandria war das Zentrum technischer Erfindungen im römischen Reich. Im 1. Jahrhundert v.Chr. kannte diese Stadt praktisch jede Art von Maschine, die wir heute benutzen, einschließlich einer funktionsfähigen Dampfmaschine. Doch die Kenntnisse schienen nur genutzt zu werden, um etwas herzustellen, was man als ausgefallenes Spielzeug bezeichnen kann. Die Dampfmaschine wurde genutzt, um die Türen eines Tempels zu öffnen und zu schließen.1
Baumol und der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr behaupten, Innovation hänge
ganz wesentlich von der Entwicklung von Anreizen und Institutionen ab. Sie weisen insbesondere auf die Rolle des Privatbesitzes, des Patentsystems und eines Regelwerks zur Entscheidung von Streitfragen als Mittel zur Förderung von Erfindungen hin.
des letzten Jahrhunderts über das Wachstum lernen können. 1
Die klassische Dynamik nach Smith und Malthus Frühe Ökonomen wie Adam Smith und T.R. Malthus betonten die wesentliche Rolle von Grund und Boden für das Wirtschaftswachstum. Mit The Wealth of Nations (1776; deutsch: Der Wohlstand der Nationen) schuf Adam Smith ein Handbuch der Wirtschaftsentwicklung. Er zeichnete zunächst das Bild eines hypothetischen goldenen Zeitalters: „jener Ursprungszustand, welcher der Aneignung des Bodens und der Anhäufung von 1 Siehe Baumol in dem Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
[Kapital]beständen vorausging“. Dies war eine Zeit, als der Boden für jedermann frei verfügbar war und als Kapitalbildung noch keine Rolle spielte. Wie sähe die Dynamik des Wirtschaftswachstums in einem solchen „goldenen Zeitalter“ aus? Da Boden frei verfügbar ist, greifen die Menschen mit zunehmendem Bevölkerungswachstum einfach auf immer neue Flächen zurück, wie das die Siedler im amerikanischen Westen auch taten. Da es kein Kapital gibt, verdoppelt sich die nationale Wirtschaftsleistung, wenn sich die Bevölkerung verdoppelt. Wie entwickeln sich in dieser Situation die Reallöhne? Das gesamte Volkseinkommen fließt in die Löhne, weil es keine Abzüge für Bodenpacht oder Kapitalzinsen gibt. Die Wirtschaftsleistung expandiert im Gleichschritt mit der Bevölkerung, weshalb der Reallohn pro Arbeiter im Zeitverlauf konstant bleibt. Aber dieses goldene Zeitalter kann nicht ewig andauern. Irgendwann wird bei anhaltendem Bevölkerungswachstum der gesamte Boden besetzt sein. Sobald die freien Flächen verschwunden sind, ist ein ausgeglichenes Wachstum von Boden, Arbeit und Produktion nicht mehr möglich. Immer neue Arbeitskräfte drängen auf den bereits bearbeiteten Boden. Dieser wird knapp und die Pachten steigen, um eine Bodenrationierung unter den verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten zustande zu bringen. Das Bevölkerungswachstum hält weiterhin an, und mit ihm wächst auch das Sozialprodukt. Doch die Produktion kann nur langsamer expandieren als die Bevölkerung. Warum? Wenn immer neue Arbeitskräfte auf eine lediglich konstante Bodenmenge zugreifen müssen, steht jeder Arbeitskraft laufend weniger Boden zur Verfügung, und das Gesetz über den abnehmenden Grenznutzen kommt zur Wirkung. Das steigende Verhältnis von Arbeit zu Boden führt zu einem rückläufigen Grenzprodukt der Arbeit und so zu sinkenden Reallöhnen.2 Wie weit kann sich eine solche Situation verschlimmern? Der gestrenge Pfarrer T.R. Malthus glaubte, dass der durch die Übervöl-
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kerung ausgelöste Druck die Wirtschaft an einen Punkt bringen müsse, an dem die Arbeiter auf ein Existenzminimum gedrückt würden. Malthus war der Ansicht, das Bevölkerungswachstum würde andauern, solange die Löhne über dem Existenzminimum lägen. Löhne unter dem Existenzminimum hingegen würden zu einer hohen Sterblichkeit und einem Bevölkerungsrückgang führen. Daher könnte sich seiner Ansicht nach ein stabiles Gleichgewicht der Bevölkerungszahl nur bei Löhnen einstellen, die genau dem Existenzminimum entsprechen. Malthus war davon überzeugt, dass die Arbeiterklassen zu einem primitiven, unerfreulichen und kurzen Leben verdammt sind. Dieses düstere Bild veranlasste Thomas Carlyle, die Volkswirtschaftslehre als „die trostlose Wissenschaft“ zu kritisieren. Abbildung 27-3(a) zeigt den Prozess des Wirtschaftswachstums in Smith’s goldenem Zeitalter. Hier bewegt sich die Produktionsmöglichkeitskurve (PMK) mit Verdoppelung der Bevölkerung um einen Faktor zwei in jede Richtung nach außen, was anzeigt, dass es keine Wachstumsbeschränkungen durch Boden oder Ressourcen gibt. Abbildung 27-3(b) zeigt den pessimistischen, von Malthus angenommenen Fall, bei dem eine Verdoppelung der Bevölkerung nicht zu einer Verdoppelung der Nahrungs- und Bekleidungsbestände führt. Dabei sinkt die Pro-Kopf-Produktion, da immer mehr Menschen den begrenzt vorhandenen Boden bevölkern und die rückläufigen Erträge die Produktionsleistung pro Kopf vermindern.
2 Die in diesem Kapitel dargelegte Theorie stützt sich auf eine wichtige Entdeckung der Mikroökonomik. Bei der Analyse der Lohnbildung unter vereinfachten Bedingungen bei vollkommenem Wettbewerb kann nachgewiesen werden, dass die Lohnrate für Arbeit dem zusätzlichen oder Grenzprodukt der letzten eingesetzten Arbeitskraft entspricht. Wenn beispielsweise der letzte Beschäftigte Güter im Wert von US-$ 12,50 pro Stunde zur Produktionsleistung des Unternehmens beiträgt, dann wird das Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen bereit sein, diesem Arbeiter einen Stundenlohn von bis zu US-$ 12,50 zu zahlen. Nach dem gleichen Prinzip entspricht die Bodenpacht dem Grenzprodukt der letzten Bodeneinheit und der Realzinssatz dem Grenzprodukt der am wenigsten produktiven Kapitaleinheit.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
(a) Das goldene Zeitalter nach Smith
Teil 6
(b) Die düstere Wissenschaft nach Malthus
L=4
200 L=2
Bekleidungsproduktion
Bekleidungsproduktion
400
300
L=4
200
100 200 Nahrungsmittelproduktion
L=2
100 125 Nahrungsmittelproduktion
Abbildung 27-3: Die klassische Wirtschaftsdynamik von Smith und Malthus In Schaubild (a) bedeutet der unbeschränkt vorhandene Boden im Grenzland, dass sich die Arbeit bei einer Verdoppelung der Bevölkerung ganz einfach verteilt und die doppelte Menge von jeder Kombination von Nahrungsmitteln und Bekleidung produziert werden kann. In Schaubild (b) bedeutet der nur begrenzt vorhandene Grund und Boden, dass eine Verdoppelung der Bevölkerung von 2 Millionen auf 4 Millionen zu abnehmenden Erträgen führt. Beachten Sie, dass bei einer Verdoppelung des Faktors Arbeit die potenzielle Nahrungsmittelproduktion nur um 25 Prozent steigt.
Stößt das Wachstum an Grenzen? Oft gelangen alte Ideen im Licht neuer gesellschaftlicher Entwicklungen oder wissenschaftlicher Erkenntnisse wieder ans Tageslicht. Während der letzten zwei Jahrzehnte sind die Ideen von Malthus wieder aktuell geworden, da viele Wachstumsgegner und Umweltschützer die Auffassung vertreten, das Wirtschaftswachstum müsse wegen der Endlichkeit unserer natürlichen Ressourcen und der Belastung für die Umwelt an Grenzen stoßen. Zum Wirtschaftswachstum gehören eine rasche Zunahme der Nutzung von Grund und Boden sowie von Bodenschätzen, aber auch (falls nicht überwacht) ein Anstieg der Luftund Wasserverschmutzung. Beispielsweise lag der Energieverbrauch der Vereinigten Staaten 1850 bei 220 Billionen kWh. 1900 betrug der Gesamtverbrauch bereits 7.600 Billionen kWh, und 1995 war er bereits auf 66.000 Billionen kWh angewachsen. Wäh-
renddessen stieg der Ausstoß von Schwefeldioxid 1850 um etwa 0,2 Millionen Tonnen jährlich, erreichte 1970 mit 31 Millionen Tonnen einen Höhepunkt und ging dann bis 1997 wieder auf 20 Millionen Tonnen zurück. Dieses wichtige Beispiel zeigt, warum sich Menschen darum sorgen, dass ein schnelles Wirtschaftswachstum zur Erschöpfung von Ressourcen und zur Verschlechterung der Umweltbedingungen führen kann. Die Sorge um die Nachhaltigkeit des Wachstums war in den frühen siebziger Jahren Thema einer Reihe von Studien, die von einer Gruppe mit dem mysteriös klingenden Namen „Club of Rome“ veröffentlicht wurden. Die Wachstumskritiker stießen auf offene Ohren, bedingt durch die zunehmende Beunruhigung um das schnelle Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern und, nach 1973, dem beträchtlichen Anstieg der Ölpreise sowie dem deutlichen Rückgang des Wachstumsvon Produktivität und Lebensstandard in
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
den wichtigsten Industrieländern. Diese erste Welle der Angst ebbte mit dem Rückgang der Rohstoffpreise nach 1980 sowie dem verlangsamten Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern wieder ab. Während des letzten Jahrzehnts hat uns eine zweite Welle des Wachstumspessimismus erfasst. Dieses Mal geht es nicht um die Erschöpfung der Bodenschätze wie Öl und Erdgas, sondern um die Zwänge, die unsere Umwelt auf das Wirtschaftswachstum ausübt. Die Möglichkeit weltweiter Umweltprobleme beschäftigt uns, weil es wissenschaftliche Beweise dafür gibt, dass industrielle Aktivitäten Klima und Ökosysteme auf dieser Erde wesentlich verändern. Heute sorgt man sich um die globale Erwärmung, das heißt die Aufheizung des Klimas aufgrund des Verbrauchs von fossilen Brennstoffen, um den in großen Gebieten auftretenden sauren Regen, um das „Ozonloch“ über der Antarktis zusammen mit dem Rückgang des Ozons in gemäßigteren Regionen sowie um die Entwaldung, vor allem das Verschwinden des tropischen Regenwalds, wodurch das ökologische Gleichgewicht der Erde gestört werden könnte. Weitere Probleme sind die Bodenerosion, durch die langfristig die Landwirtschaft bedroht wird, sowie das Aussterben ganzer Tier- und Pflanzenarten, was möglicherweise der medizinischen Forschung und anderen Technologien Schaden zufügt. Die weltweiten Umweltzwänge sind mit den von Malthus vor über einem Jahrhundert erwähnten eng verwandt. Während Malthus glaubte, die Produktion werde durch den konstanten Faktor Land beschränkt, erklären die heutigen Wachstumspessimisten, das Wachstum stoße aufgrund der endlichen Absorptionsfähigkeit unserer Umwelt an seine Grenzen. Manche behaupten, wir könnten nur eine bestimmte Menge an fossilen Brennstoffen verbrauchen, bis uns gefährliche Klimaveränderungen drohten. Die Notwendigkeit, die Nutzung von fossilen Brennstoffen einzuschränken, könnte das langfristige Wirtschaftswachstum tatsächlich verlangsamen.
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Welche empirischen Belege gibt es für die Auswirkungen der Ressourcenerschöpfung und der Umweltbelastung auf das Wirtschaftswachstum? Es gibt Beweise dafür, dass sich die Qualität von Grund und Boden und der Bodenschätze während des letzten Jahrhunderts verschlechtert hat und dass wir heute tiefer nach Öl bohren müssen, weniger ertragreiches Land nutzen und weniger ergiebige Erze abbauen. Doch bisher hat der technische Fortschritt diese Entwicklungen weitgehend wettgemacht, sodass die Preise für Öl, Gas, die meisten Bodenschätze und Land relativ zum Preis für Arbeit zurückgegangen sind. Außerdem nimmt die Bedeutung von umweltfreundlicheren Technologien zu, und viele der schlimmsten Umweltsünden sind während der letzten zwei Jahrzehnte zumindest eingeschränkt worden. Nichtsdestoweniger entstehen der Wirtschaft durch Vorschriften zur Einschränkung der Umweltverschmutzung Kosten. Im Jahre 1999 beliefen sich die Ausgaben zur Senkung der Umweltverschmutzung auf US-$ 18 Milliarden. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Umweltvorschriften während der letzten drei Jahrzehnte das Produktivitätswachstum geringfügig verlangsamt haben.
Wirtschaftswachstum mit Kapitalbildung: Das neoklassische Wachstumsmodell Die malthusianische Prognose hat sich als falsch erwiesen, weil Malthus nicht erkannte, dass technische Innovationen und Kapitalinvestitionen das Gesetz abnehmender Grenzerträge überwinden können. Der Boden wurde nicht zum einschränkenden Faktor in der Produktion. Stattdessen brachte die industrielle Revolution Dampfmaschinen zur Steigerung der Produktion hervor; Fabriken, in denen Arbeiterteams zu riesigen Betrieben zusammengefasst wurden; Eisenbahnen und Dampfschiffe, die die entferntesten Punkte der Erde miteinander verbanden; sowie Eisen- und Stahlwerke, die wiederum den Bau stärkerer Maschinen und schnellerer Loko-
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
motiven ermöglichten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in den Marktwirtschaften bedeutende neue Industriezweige rund um das Telefon, das Auto und die Stromerzeugung. Die Kapitalbildung und neue Techniken wurden zur treibenden Kraft hinter der wirtschaftlichen Entwicklung. Sollten sich die Behauptungen der Wachstumspessimisten von heute einmal als falsch herausstellen, so wird dies daran liegen, dass umweltfreundliches und ressourcenschonendes Kapital die heutigen rohstoffintensiven, umweltschädigenden Techniken ersetzen wird. Um verstehen zu können, wie Kapitalbildung und technischer Wandel sich auf die Wirtschaft auswirken, müssen wir das neoklassische Wachstumsmodell begreifen. Robert Solow vom MIT, der als erster diesen Ansatz vertrat, erhielt im Jahre 1987 den Nobelpreis für diesen und andere Beiträge zur Wachstumstheorie. Das neoklassische Wachstumsmodell dient als Grundwerkzeug für das Verständnis des Wachstumsprozesses in entwickelten Ländern und wurde auch in empirischen Studien über die Ursachen des Wirtschaftswachstums angewandt. Der Apostel des Wirtschaftswachstums Robert M. Solow wurde im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren und studierte in Harvard, bevor er 1950 an das MIT Economics Department kam. Während der ersten Jahre dort entwickelte er das neoklassische Wachstumsmodell und wandte es in einer Reihe von Untersuchungen mit der substitutionalen Produktionsfunktion an, die weiter unten in diesem Kapitel erläutert wird. Eine der wichtigsten Studien von Solow war 1956 „A Contribution to the Theory of Economic Growth“. Dabei handelte es sich um eine mathematische Version des neoklassischen Wachstumsmodells, das in diesem Kapitel behandelt wird. Die Bedeutung dieses Werkes wurde in der Laudatio für
Teil 6
Solow bei der Verleihung des Nobelpreises hervorgehoben: Solows theoretisches Modell hat beträchtliche Auswirkungen auf die Analyse der Wirtschaft. Das anfangs einfache Werkzeug zur Untersuchung des Wachstumsprozesses wurde seither in mehrere unterschiedliche Richtungen verallgemeinert. Es wurde durch die Einführung anderer Arten von Produktionsfaktoren erweitert, und es wurde umformuliert, um auch stochastische Elemente berücksichtigen zu können. Die Entwicklung von dynamischen Verbindungen in bestimmten „numerischen“ Modellen, die in der allgemeinen Gleichgewichtsanalyse verwendet werden, gründet auch auf dem Modell von Solow. Doch vor allem bildet das Wachstumsmodell Solows einen Rahmen, innerhalb dessen die moderne makroökonomische Theorie strukturiert werden kann. Das zunehmende Interesse von Regierungen an der Ausweitung von Bildung sowie Forschung und Entwicklung wurde durch diese Studien geweckt. Jeder langfristige Bericht ... gleich für welches Land hat eine Art Solowscher Analyse verwendet.
Solow hat außerdem Beiträge zu empirischen Studien über das Wirtschaftswachstum, zur Ökonomie der Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen sowie zur Entwicklung der Kapitaltheorie geleistet. Darüber hinaus war Solow als Wirtschaftsberater für die Regierung Kennedy tätig. Solow ist ebenso für seine Begeisterung für die Wirtschaftswissenschaften bekannt wie für seinen Humor. Er hat mehrmals die Besorgnis geäußert, dass die Sucht nach Publicity manche Ökonomen dazu verleite, ihr Wissen zu übertreiben. Er kritisierte Wirtschaftswissenschaftler wegen „eines anscheinend unwiderstehlichen Drangs, ihre Wissenschaft weiter zu treiben, als sie überhaupt gehen kann, und Fragen zu beantworten, die so heikel sind, dass unser beschränktes Verständnis die Komplexität der Frage gar nicht erfassen kann. Keiner mag zugeben: ‚Das weiß ich nicht.’“ Als Autor mit lebendigem Stil ist Solow besorgt darüber, dass die Volkswirtschaft
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
der Öffentlichkeit so unendlich schwer zu erklären sei. Anlässlich seiner Pressekonferenz nach Verleihung des Nobelpreises bemerkte Solow: „Die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen, für die man schreibt, ist kürzer als ein ganzer wahrer Satz.“ Trotzdem setzt sich Solow weiter für sein Verständnis der Volkswirtschaftslehre ein, und die Welt hört diesem Apostel des Wirtschaftswachstums am MIT aufmerksam zu.
Grundlegende Annahmen. Das neoklassische Wachstumsmodell beschreibt eine Wirtschaft, in der ein einziges homogenes Produkt mithilfe zweier Produktionsfaktoren, Kapital und Arbeit, produziert wird. Im Gegensatz zur malthusianischen Analyse wird das Wachstum des Faktors Arbeit als gegeben angenommen. Außerdem nehmen wir an, dass in der Wirtschaft Wettbewerb und ständig Vollbeschäftigung herrschen. Dies erlaubt uns, das Wachstum der potenziellen Produktion zu untersuchen. Die wichtigen neuen Faktoren im neoklassischen Wachstumsmodell sind Kapital und technologischer Wandel. Wir nehmen zunächst an, dass es keinen technologischen Fortschritt gibt. Kapitalgüter sind langlebige Güter, die zur Produktion weiterer Güter verwendet werden. Zu ihnen zählen Gebäude wie Fabriken und Häuser, Ausstattungen wie Computer und Werkzeugmaschinen und Lagerbestände an Fertig- und Halbfertigwaren. Der Bequemlichkeit halber wollen wir auch annehmen, dass es nur eine einzige Art von Kapitalgut (nennen wir es K) gibt. Nun messen wir den Gesamtkapitalbestand als die Gesamtmenge der Kapitalgüter. In unseren realen Berechnungen verwenden wir als Näherungswert für unser universelles Kapitalgut K den gesamten Geldwert an Kapitalgütern (das heißt den konstanten Geldwert der Anlagen, Maschinen, Gebäude und Lagerbestände). Wenn L die Anzahl der Arbeitskräfte ist, entspricht (K/L) der Menge des pro Arbeitskraft vorhandenen Kapitals oder dem Kapital-Arbeitsverhältnis. Wir können unsere
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Gesamtproduktionsfunktion im neoklassischen Wachstumsmodell ohne technologischen Wandel als Q = F (K, L) angeben. Wenden wir uns nun dem wirtschaftlichen Wachstumsprozess zu. Ökonomen betonen die Notwendigkeit von Kapitalvertiefung, also jenes Prozesses, durch den die Kapitalmenge pro Arbeitskraft im Laufe der Zeit erhöht wird. Zu den Beispielen für eine Kapitalvertiefung gehören die Vervielfachung landwirtschaftlicher Geräte und Bewässerungssysteme, der Transport per Bahn oder Autobahn sowie der zunehmende Einsatz von Computern im Bankwesen. Dies sind alles Beispiele für Investitionen der Wirtschaft in Kapitalgüter, wodurch die Kapitalmenge pro Arbeitskraft steigt. Infolgedessen ist die Produktion pro Beschäftigtem in der Landwirtschaft sowie im Transport- und im Bankwesen beträchtlich gestiegen. Wie entwickeln sich im Verlauf der Kapitalvertiefung die Kapitalerträge? Bei gegebenem Stand der Technik sinkt der Kapitalertrag bei rasch zunehmenden Investitionen in Fabriken und Maschinen.3 Dies geschieht deshalb, weil besonders lohnende Investitionsprojekte zuerst in Angriff genommen werden und spätere Investitionen immer weniger Ertrag bringen. Sobald ein vollständiges Eisenbahnnetz oder Telefonsystem errichtet ist, fließen neue Investitionen in weniger dicht besiedelte Gebiete oder in die Zweitausführung bestehender Leitungssysteme. Die Erträge aus diesen späteren Investitionen sind geringer als die hohen Erträge der ersten Leitungen in den dicht bevölkerten Regionen. Darüber hinaus steigt auch der Lohn, den die Arbeitskräfte mit zunehmender Kapitalvertiefung erhalten. Warum? Jeder Arbeitskraft steht nun mehr Kapital zur Verfügung, und daher steigt auch ihr Grenzprodukt. Infolgedessen steigen die Wettbewerbslöhne zusammen mit dem Grenzprodukt der Arbeit an. 3 Bei vollkommenem Wettbewerb und ohne die Einflüsse von Risiko, Steuern oder Inflation entspricht die Kapitalertragsrate dem Realzinssatz für festverzinsliche Anleihen und anderer Finanzanlagen.
790
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Die Auswirkungen der Kapitalvertiefung nach dem neoklassischen Wachstumsmodell lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es kommt zu einer höherer Kapitalintensität, wenn der Kapitalbestand rascher wächst als der Faktor Arbeit. Ohne technologischen Wandel führt die Kapitalvertiefung zu einer erhöhten Produktionsleistung pro Arbeitskraft, zu einem höheren Grenzprodukt der Arbeit und zur Erhöhung der Reallöhne. Außerdem kommt es zu geringeren Kapitalerträgen und einer demzufolge abnehmenden Kapitalrendite.
Die geometrische Analyse des neoklassischen Modells Wir können die Auswirkungen der Kapitalbildung anhand von Abbildung 27-4 untersuchen. Dieses Schaubild zeigt eine grafische Darstellung der Gesamtproduktionsfunktion, wobei die Produktion pro Arbeitskraft
Produktionsleistung pro Arbeitskraft
Q/L
V E′
(Q/L)1 (Q/L)0
0
E″
APF
E′″
E
(K/L)0 (K/L)1 Kapital pro Arbeitskraft
K/L
Abbildung 27-4: Wirtschaftswachstum durch Kapitalvertiefung Mit zunehmendem Kapitaleinsatz pro Arbeitskraft steigt auch die Produktionsleistung pro Arbeitskraft. Dieses Schaubild zeigt die Bedeutung der „Kapitalvertiefung“, das heißt die Erhöhung der Kapitalmenge pro Beschäftigtem. Bedenken Sie aber, dass alle anderen Faktoren wie Technologie, Qualität der Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen konstant gehalten werden.
Teil 6
auf der senkrechten und Kapital pro Arbeitskraft auf der waagrechten Achse abgetragen ist. Im Hintergrund, und momentan konstant gehalten, sind alle anderen Variablen, die wir am Anfang dieses Abschnitts betrachtet haben – die Menge an Grund und Boden, die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen, und, am allerwichtigsten, die von der Wirtschaft verwendete Technik. Steht jeder Arbeitskraft zunehmend mehr Kapital zur Verfügung, bewegt sich die Wirtschaft auf ihrer gesamtwirtschaftlichen Produktionskurve nach rechts oben. Nehmen wir einmal an, die Kapitalintensität erhöht sich von (K/L)0 auf (K/L)1. Damit erhöht sich auch die Produktionsmenge pro Arbeitskraft von (Q/L)0 auf (Q/L)1. Wie entwickeln sich in diesem Szenario die Faktorpreise für Arbeit und Kapital? Mit zunehmender Kapitalintensität kommt es zu einer Verringerung der Kapitalerträge; Kapitalrendite und Realzinssatz fallen. (Die Steigung der Kurve in Abbildung 27-4 ist das Grenzprodukt des Kapitals, das mit steigender Kapitalvertiefung sinkt.) Zusätzlich steigt die Grenzproduktivität der Arbeiter, weil jeder Arbeitskraft nun mehr Kapital zur Verfügung steht, und die Reallohnrate steigt infolgedessen ebenfalls. Das Gegenteil wäre der Fall, würde aus irgendeinem Grund die Kapitalmenge pro Arbeitskraft zurückgehen. Kriege vernichten üblicherweise einen großen Teil des Kapitals eines Landes und senken dadurch die Kapitalintensität. In Nachkriegszeiten konstatieren wir daher zumeist Kapitalmangel und hohe Kapitalerträge. Somit wird unsere vorherige verbale Zusammenfassung der Auswirkungen einer Kapitalvertiefung durch die geometrische Analyse anhand von Abbildung 27-4 bestätigt. Der langfristig stabile Zustand. Wie sieht das langfristige Gleichgewicht nach dem neoklassischen Wachstumsmodell aus, wenn man den technologischen Wandel außer Acht lässt? Irgendwann steigt die Kapitalintensität nicht weiter an. Langfristig tritt daher die Wirtschaft in einen stabilen Zustand ein, in
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Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
Ohne technischen Fortschritt müssen Einkommen und Löhne irgendwann stagnieren. Natürlich wäre auch dies schon ein viel besseres Ergebnis als die von Malthus vorhergesagte Welt der Löhne am Existenzminimum. Doch das langfristige Gleichgewicht nach dem neoklassischen Wachstumsmodell zeigt uns deutlich, dass in einem Szenario, in dem das Wirtschaftswachstum nur aus der Kapitalbildung durch die Vervielfachung bestehender Fabriken und Produktionsmethoden besteht, der Lebensstandard irgendwann nicht mehr weiter steigen kann.
Die Bedeutung des technischen Fortschritts Auch wenn uns das Kapitalbildungsmodell in unserem Verständnis des Wirtschaftswachstums einen guten Schritt voranbringt, lässt es doch einige wichtige Fragen unbeantwortet. Beispielsweise sagt ein Modell, das technischen Stillstand unterstellt, voraus, dass die Reallöhne allmählich stagnieren werden. Doch im 20. Jahrhundert sind die Reallöhne durchaus nicht konstant geblieben. Außerdem kann das Modell den beträchtlichen Anstieg der Produktivität im Zeitverlauf nicht erklären, und es gibt keine Antwort auf die Frage, warum die Pro-Kopf-Einkommen verschiedener Länder so außerordentlich unterschiedlich sind.
Es fehlt eben der technische Fortschritt. Wie Abbildung 27-5 zeigt, können wir in unserem Wachstumsdiagramm der technischen Entwicklung durch eine Verschiebung der Gesamtproduktionskurve nach oben Rechnung tragen. In dem Schaubild ist eine Gesamtproduktionsfunktion für die Jahre 1950 und 2000 dargestellt. Wegen des technischen Wandels hat sich die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion von APF1950 auf APF2000 verschoben. Diese Aufwärtsverschiebung zeigt die Produktivitätsfortschritte, die durch eine breite Palette neuer Verfahren und Produkte wie elektronische Geräte, Computer, Fortschritte in der metallverarbeitenden Industrie, verbesserte Dienstleistungstechniken und so weiter möglich wurden. Daher müssen wir zusätzlich zur Berücksichtigung der Kapitalvertiefung, wie oben beschrieben, auch technische Fortschritte berücksichtigen. Die Summe der Kapitalvertiefung und des technologischen Fortschritts ist der Pfeil in Abbildung 27-5, der zu einer Steigerung der Produktionsleistung pro Arbeitskraft von (Q/L)1950 auf (Q/L)2000 führt. Anstatt sich auf einem stabilen Niveau einzuQ/L
Produktionsleitung pro Arbeitskraft
dem die Kapitalvertiefung nachlässt, die Reallöhne nicht weiter steigen und die Kapitalerträge und Realzinssätze konstant bleiben. Wir können mithilfe von Abbildung 27-4 nachweisen, wie sich die Wirtschaft in Richtung dieses stabilen Zustandes bewegt. Mit zunehmender Kapitalbildung erhöht sich die Kapitalintensität, was durch die Pfeile von E' nach E'' nach E''' angezeigt wird, bis die Kapitalintensität schließlich in V nicht mehr weiter steigt. In diesem Punkt ist die Produktionsleistung pro Arbeitskraft (Q/L) konstant, und die Reallöhne stagnieren.
APF2000 (Q/L)2000
E2000
APF1950 (Q/L)1950
E1950
0
(K/L)1950 (K/L)2000 Kapital pro Arbeitskraft
K/L
Abbildung 27-5: Der technische Fortschritt verschiebt die Produktionsfunktion nach oben Infolge technischer Verbesserungen verschiebt sich die Gesamtproduktionsfunktion im Zeitverlauf nach oben. In Verbindung mit der Kapitalvertiefung steigern die technischen Verbesserungen daher die Produktionsleistung pro Arbeitskraft und die Reallöhne.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
pendeln, erfreut sich die Wirtschaft einer weiterhin steigenden Produktionsleistung pro Arbeitskraft, steigender Löhne und eines steigenden Lebensstandards. Von besonderem Interesse sind die Auswirkungen des technologischen Wandels auf Gewinnraten und Realzinssätze. Dank des technischen Fortschritts braucht der Realzinssatz nicht zu sinken. Erfindungen erhöhen die Kapitalproduktivität und wirken der Tendenz zu sinkenden Gewinnraten entgegen.
Technischer Fortschritt als Wirtschaftsleistung Bisher haben wir den technischen Fortschritt als etwas behandelt, das geheimnisvoll von Wissenschaftlern und Erfindern ausgeht, so wie Manna vom Himmel fällt. Die jüngste Forschung zum Thema Wirtschaftswachstum hat begonnen, sich für die Ursachen technischer Veränderungen zu interessieren. Diese Forschung, die mitunter auch als neue Wachstumstheorie oder „Theorie der endogenen technischen Veränderung“ bezeichnet wird, versucht die Prozesse aufzudecken, durch die private Kräfte am Markt, Entscheidungen des öffentlichen Sektors und alternative Institutionen zu unterschiedlichen Mustern technischer Entwicklung führen. Es ist wichtig festzuhalten, dass technische Veränderungen aus dem Wirtschaftssystem selbst heraus entstehen. Die Glühbirne von Edison war das Ergebnis jahrelanger Untersuchungen verschiedener Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Glühbirnen; der Transistor war das Produkt der Bemühungen der Wissenschaftler in Bell Labs, einen Prozess zu finden, der die Fernsprechvermittlung verbessern würde; die Pharmaindustrie gibt Milliardensummen für die Erforschung und das Testen von neuen Medikamenten aus. Mit genügend Talent und Glück kann man astronomische Gewinne erzielen und vielleicht wie der Microsoft-Gründer Bill Gates Milliardär werden, aber es gibt viele enttäuschte
Teil 6
Erfinder und Unternehmen, die am Ende mit leeren Taschen dastehen. Eine ungewöhnliche Eigenschaft von Technologien besteht darin, dass es sich bei ihnen um öffentliche Güter oder, in der Sprache der Techniker, um „nicht konkurrierende Güter“ handelt. Das bedeutet, dass sie gleichzeitig von vielen Menschen benutzt werden können, ohne je verbraucht zu werden. Ein neues Softwarepaket, ein neues Wundermedikament, das Design für einen neuen Prozess in der Stahlerzeugung – ich kann alles dies verwenden, ohne dessen Produktivität für Sie oder die Briten oder die Japaner oder sonst jemanden zu senken. Außerdem kostet es zwar viel Geld, Erfindungen zu machen, sie lassen sich dann aber billig reproduzieren. Diese Eigenschaften technischer Veränderungen können zu gewaltigen Flops am Markt führen – das bedeutet, dass Erfinder mitunter große Schwierigkeiten haben, selbst von ihren Erfindungen zu profitieren, weil andere sie kopieren können. Die größten Reinfälle am Markt erleben daher zumeist die größten und grundlegendsten Forschungsergebnisse. Daher muss der Staat sicherstellen, dass es für Erfinder hinreichende Anreize gibt, um sich mit Forschung und Entwicklung zu befassen. Folglich achten die Regierungen zunehmend auf den Schutz der Rechte an geistigem Eigentum, zu denen beispielsweise Patente oder Urheberrechte gehören, um kreativen Aktivitäten die notwendige Belohnung am Markt zu sichern. Was ist der wichtigste Beitrag der neuen Wachstumstheorie? Sie hat die Art und Weise verändert, wie wir über Wachstumsprozesse und öffentliche Interessen denken. Wenn Unterschiede in der Technik der Hauptgrund für den unterschiedlichen Lebensstandard in einzelnen Ländern sind, und wenn die Technik ein Faktor ist, der hergestellt werden kann, dann müssen sich Maßnahmen, die das Wirtschaftswachstum fördern sollen, viel mehr auf die Frage konzentrieren, wie eine Nation ihre technische Leistung verbessern kann. Dies ist nur einer der Schlüsse, den Paul Romer von der Stanford Universität,
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
einer der führenden Köpfe der neuen Wachstumstheorie, zieht: Die Wirtschaftswissenschaft kann dem vollständigen Verständnis der Faktoren, die über den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg entscheiden, wieder etwas näher kommen. Letztendlich wird uns dieses Verständnis in die Lage versetzen, den Entscheidungsträgern etwas Konstruktiveres zu bieten als die üblichen neoklassischen Rezepte – Erhöhung der Ersparnisse und bessere Ausbildung. Wir können uns wieder in die laufenden Debatten über Steuererleichterungen und Subventionen für die private Forschung, Ausnahmen von den Kartellgesetzen für gemeinschaftliche Forschungsprojekte, die Aktivitäten von multinationalen Unternehmen, die Auswirkungen staatlicher Beschaffungsmaßnahmen, das Wechselspiel zwischen Handelspolitik und Innovationen, den Umfang des Schutzes der Rechte an geistigem Eigentum, die Beziehungen zwischen privaten Unternehmen und den Universitäten, die Methoden zur Auswahl der Forschungsbereiche, die öffentliche Unterstützung erhalten, sowie die Kosten und Nutzen einer expliziten staatlichen Technologiepolitik einschalten.4
Zusammenfassend lässt sich sagen: Technische Fortschritte – durch die bei einer konstanten Einsatzmenge die Produktion erhöht wird – sind ein wesentlicher Bestandteil des Wachstums in einem Land. Die neue Wachstumstheorie versucht, die Prozesse offen zu legen, die zu technischen Änderungen führen. Dieser Ansatz betont, dass diese Änderungen selbst ein Produkt darstellen, das sich am Markt als Fehlschlag erweisen kann, weil die Technik ein öffentliches Gut ist, das zwar in der Erstherstellung teuer ist, sich dann aber billig nachahmen lässt. Die Regierungen bemühen sich zunehmend, für den wirksamen Schutz der Rechte an geistigem Eigentum jener zu sorgen, die neue Technologien entwickeln. 4 Siehe Paul Romer in dem Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
793
B. Wachstumsmuster in den Vereinigten Staaten Die Fakten des Wirtschaftswachstums Im ersten Teil dieses Kapitels wurden die grundlegenden Theorien des Wirtschaftswachstums vorgestellt. Aber Theorien allein genügen den Wirtschaftswissenschaftlern nicht. Ein großes, weltweites Forschungsgebiet beschäftigt sich mit der Messung der verschiedenen Komponenten des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses und versucht, die Ergebnisse mit den wichtigsten Theorien zu verbinden. Ein Verständnis für die Wachstumsmuster hilft zu erkennen, warum es manchen Ländern wirtschaftlich gut, anderen dagegen schlecht geht. Abbildung 27-6 zeigt die Haupttrends der Wirtschaftsentwicklung in den Vereinigten Staaten seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Ähnliche Muster lassen sich in den meisten bedeutenden Industrienationen entdecken. Abbildung 27-6(a) stellt die tendenzielle Entwicklung des realen BIP, des Kapitalstocks und der Bevölkerung dar. Seit 1900 haben sich Bevölkerung und Beschäftigung mehr als verdreifacht. Gleichzeitig sind die physischen Kapitalbestände um beinahe das Vierzehnfache angestiegen. Der Kapitaleinsatz pro Arbeitskraft (das Verhältnis K/L) ist daher um mehr als das Vierfache gewachsen. Ganz offensichtlich stellt die Kapitalvertiefung ein wesentliches Charakteristikum des amerikanischen Kapitalismus im 20. und frühen 21. Jahrhundert dar. Was lässt sich über den Anstieg der Produktionsleistung sagen? In einer Welt ohne technologischen Fortschritt läge das Wachstum der Produktion irgendwo zwischen dem Wachstum der Arbeit und dem des Kapitals.
794
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
1.000
Kapitalstock (K)
500
Bevölkerung (L)
100 1920
1940
1960 Jahr
1980
Kapital-Produktions-Verhältnis (%/Jahr)
reales Inlandsprodukt (Q)
1900
Reallohnrate, Produktion pro Arbeitsstunde (Prozentsatz 1900, Verhältnisskala)
(b) Kapital-Produktionsverhältnis 8
3.500 3.000 2.500 2.000 1.500
2000
7 6 5 4
2 1 0 1900
600
1940
1960 Jahr
1980
2000
20 Reallohn pro Arbeitsstunde (W)
400 Produktionsleistung pro Arbeitsstunde (Q/L)
200
100 1900
1920
(d) Realzinssatz
1,000 800
K/Q
3
(c) Reallöhne und Produktionsleistung pro Arbeitsstunde
1920
1940
1960 Jahr
1980
2000
Realzinssatz (Prozentsatz pro Jahr)
Produktion, Kapital, Bevölkerung (Prozentsatz 1990, Verhältnisskala)
(a) Produktion, Arbeit, Kapital
Teil 6
15
r
10 5 0 –5 –10 1900
1920
1940
1960 Jahr
1980
2000
Abbildung 27-6: Das Wirtschaftswachstum weist erstaunliche Regelmäßigkeiten auf (a) Der Kapitalstock ist rascher gestiegen als die Bevölkerung und das Arbeitsangebot. Die gesamtwirtschaftliche Produktion ist allerdings noch schneller gewachsen als der Kapitalstock. (b) Das Verhältnis von Kapital zu Produktion sank während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich, ist seither aber konstant geblieben. (c) Die durchschnittlichen realen Stundenlöhne sind während des ganzen Zeitraums stetig und in gleichem Maß gestiegen wie die Durchschnittsproduktion pro Arbeitsstunde. (d) Für den Realzinssatz lässt sich seit 1900 kein deutlicher Trend erkennen, wohl ein Hinweis darauf, dass der technische Fortschritt die abnehmenden Kapitalerträge kompensiert hat. Quelle: US-Handels- und Arbeitsministerium, Federal Reserve Board, U.S. Bureau of the Census, sowie historische Untersuchungen von John Kendrick.
Die Produktionskurve in Abbildung 27-6(a) liegt aber nicht zwischen den Kurven der beiden Faktoren, sondern über den beiden. Das weist darauf hin, dass der technische Fortschritt die Produktivität von Kapital und Arbeit erhöht haben muss. Die meisten Leute messen die Wirtschaftsleistung anhand der Löhne, wie in Abbildung
27-6(c) dargestellt, und zwar anhand der realen Durchschnittslöhne (oder inflationsbereinigten Geldlöhne). Die Durchschnittslöhne sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts fast ständig und beeindruckend gestiegen, wie wir aufgrund des Anstiegs der Kapitalintensität und des ständigen technischen Fortschritts auch erwarten durften.
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
Der Realzinssatz (das heißt der Geldzinssatz abzüglich Inflationsrate) ist Abbildung 27-6(d) zu entnehmen. Zinssätze und Gewinnraten schwankten je nach Konjunkturzyklus und bedingt durch Kriege beträchtlich, zeigen aber für die gesamte Periode keinen starken Trend in irgendeine Richtung. Sei es durch Zufall oder weil ein volkswirtschaftlicher Mechanismus dieses Muster begünstigt: Der technische Wandel hat die abnehmenden Kapitalrenditen mehr oder weniger ausgeglichen. Die Produktionsleistung pro Arbeitskraft ist in Abbildung 27-6(c) als durchgängige schwarze Kurve dargestellt. Wie infolge der Kapitalvertiefung und des technischen Fortschritts zu erwarten war, ist die Produktionsleistung pro Arbeitskraft stetig gestiegen. Die Tatsache, dass die Löhne in gleichem Maße steigen wie die Produktionsleistung pro Arbeiter, bedeutet nicht, dass alle Vorteile des Produktivitätsfortschritts dem Faktor Arbeit zugute gekommen sind. Stattdessen lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass während der untersuchten Periode der Anteil der Arbeit an der Gesamtleistung konstant geblieben ist und dass wir hinsichtlich des Kapitals die gleiche Aussage treffen können. Abbildung 27-6(c) zeigt, dass die Reallöhne seit 1900 etwa in gleichem Maße gestiegen sind wie die Produktionsleistung pro Beschäftigtem. Genauer gesagt lag das durchschnittliche Wachstum der Reallöhne bei 2,1 Prozent pro Jahr, während es für die Produktionsleistung pro Beschäftigtem 2,2 Prozent betrug. Diese Zahlen verdeutlichen, dass sich der Anteil der Arbeit (und damit auch derjenige des Kapitals) am Volkseinkommen während der letzten hundert Jahre kaum verändert hat.
Die Beziehung zwischen den sieben Trends und den Wachstumstheorien Wenn auch die sieben Trends der Wirtschaftsgeschichte nicht mit den unabänderlichen Gesetzen der Physik zu vergleichen sind, führen
795
Sieben grundlegende Trends der Wirtschaftsentwicklung Ökonomen, die sich mit der Wirtschaftsgeschichte entwickelter Länder befassen, haben die folgenden Trends in den meisten Ländern beobachten können: 1. Der Kapitalstock ist schneller gestiegen als die Bevölkerung und die Beschäftigung, wodurch eine Kapitalvertiefung entsteht. 2. Für die meiste Zeit seit 1900 lässt sich eine deutliche Aufwärtsbewegung der durchschnittlichen realen Stundenlöhne beobachten. 3. Der Anteil des Arbeitsentgelts am Volkseinkommen ist während der letzten 100 Jahre bemerkenswert konstant geblieben. 4. Es lassen sich deutliche Schwankungen des Realzinssatzes und der Gewinnrate beobachten, insbesondere im Zusammenhang mit den Konjunkturzyklen, aber seit 1900 zeigt sich keine eindeutige Auf- oder Abwärtsbewegung. 5. Statt stetig anzusteigen, was das Gesetz abnehmender Skalenerträge bei unverändertem Stand der Technik nahe legen würde, ist das Verhältnis von Kapital zu Produktion seit Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich zurückgegangen. 6. Seit 1900 war das Verhältnis der nationalen Ersparnisse und Investitionen zum BIP meistens unverändert. Seit 1980 ist die nationale Sparquote in den Vereinigten Staaten drastisch zurückgegangen. 7. Wenn man die Auswirkungen der Konjunkturschwankungen herausrechnet, ist das Volkseinkommen im Durchschnitt um fast 3 Prozent pro Jahr gestiegen. Die Zunahme der Produktion ist deutlich höher als das gewichtete durchschnittliche Wachstum von Kapital und Arbeit sowie sonstiger Ressourcen, was darauf hindeutet, dass der technische Fortschritt einen wesentlichen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben muss.
796
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
sie uns doch wesentliche Fakten über das Wirtschaftswachstum der Neuzeit vor Augen. Wie passen die Trends in unsere Wachstumstheorien? Die Trends 2 und 1 – höhere Löhne bei gleichzeitiger Kapitalvertiefung – fügen sich recht gut in unser neoklassisches Wachstumsmodell ein, das in Abbildung 27-4 dargestellt ist. Trend 3 – der Anteil der Löhne ist bemerkenswert konstant geblieben – ist eine interessante Tatsache, die zu einer Reihe von Produktionsfunktionen passt, die Q zu L und K in Beziehung setzen. Die Trends 4 und 5 weisen dagegen darauf hin, dass hier ganz offensichtlich der technische Wandel eine Rolle spielen muss, sodass Abbildung 27-5 mit ihrer Darstellung des technischen Fortschritts realistischer erscheint als der in Abbildung 27-4 dargestellte statische Zustand. Stabile Gewinne und ein abnehmendes oder ebenfalls stabiles Verhältnis von Kapital zu Produktion sind undenkbar, wenn das Verhältnis K/L in einer Welt konstanter Technologie ansteigt; zusammengenommen widersprechen diese Trends dem Gesetz abnehmender Grenzerträge bei zunehmender Kapitalvertiefung. Wir müssen daher die wesentliche Rolle des technischen Fortschritts bei der Erklärung der sieben Trends des modernen Wirtschaftswachstums berücksichtigen. Unsere Modelle bestätigen nur, was uns bereits die Intuition sagt.
Die Auslöser des Wirtschaftswachstums Wir haben festgestellt, dass eine fortgeschrittene Marktwirtschaft durch zusätzlichen Einsatz von Arbeit und Kapital, aber auch infolge des technischen Wandels wächst. Wie hoch ist nun der jeweilige Beitrag, den Arbeit, Kapital und Technologie leisten? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns einer Analyse der quantitativen Aspekte des Wachstums und einem sehr nützlichen Konzept mit der Bezeichnung „substitutionale Produktionsfunktion“ zu. Dieser Ansatz ist
Teil 6
der erste Schritt zu einer quantitativen Wachstumsanalyse für jedes Land. Die substitutionale Produktionsfunktion. Detaillierte Untersuchungen des Wirtschaftswachstums stützen sich auf die so genannte substitutionale Produktionsfunktion. Bei dieser Technik handelt es sich nicht um eine Bilanz oder Berechnung des Sozialprodukts, wie wir sie in früheren Kapiteln kennen gelernt haben. Stattdessen werden hier die verschiedenen Faktoren herausgefiltert, die für den beobachteten Wachstumstrend entscheidend waren. Ausgangspunkt für die substitutionale Produktionsfunktion ist üblicherweise die Gesamtproduktionsfunktion, die uns schon weiter oben in diesem Kapitel begegnet ist: Q = AF (K, L, R). Häufig werden einzelne Ressourcen unberücksichtigt gelassen, weil die Menge an Land konstant ist. Mithilfe der Grundrechenarten und einiger vereinfachenden Annahmen können wir das Wachstum der Produktion als eine Funktion des Wachstums seiner Bestandteile und des Beitrags der technischen Veränderung darstellen. Das Produktionswachstum (Q) kann in seine drei Komponenten aufgelöst werden: Wachstum der Arbeit (L) multipliziert mit ihrer Gewichtung, Wachstum des Kapitals (K) multipliziert mit seiner Gewichtung, sowie den technologischen Fortschritt selbst (T). Wenn wir vorerst den technischen Fortschritt außer Acht lassen, bedeutet die Annahme konstanter Skalenerträge, dass ein Prozent Wachstum von L in Kombination mit einem Prozent Wachstum von K zu einem einprozentigen Wachstum der Produktionsleistung führt. Nehmen wir aber an, dass L um ein Prozent und K um fünf Prozent wächst. Hier wäre es verlockend, aber trotzdem falsch, anzunehmen, dass Q um drei Prozent, also um den Durchschnitt von eins und fünf wachsen muss. Warum falsch? Weil die beiden Produktionsfaktoren nicht notwendigerweise gleich viel zur Produktionsleistung beitragen. Die Tatsache, dass drei Viertel des Volkseinkommens an den Faktor
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
Arbeit, jedoch nur ein Viertel an das Kapital fließen, bedeutet, dass eine Steigerung des Arbeitseinsatzes stärker zur Produktionsleistung beiträgt als eine Steigerung des Kapitaleinsatzes. Wenn eine Steigerung des Arbeitseinsatzes ein dreimal so hohes Gewicht hat wie diejenige des Kapitals, können wir die Antwort folgendermaßen berechnen: Q wird um 2 Prozent jährlich wachsen = (3/4 von 1 Prozent + 1/4 von 5 Prozent). Zu dem Wachstum der Produktionsfaktoren addieren wir noch den technologischen Wandel und haben so alle Auslöser des Wirtschaftswachstums berücksichtigt. Das jährliche Wachstum der Produktionsleistung folgt also der fundamentalen Gleichung der substitutionalen Produktionsfunktion: Q-Wachstum
(1)
= 3/4 (L-Wachstum) + 1/4 (K-Wachstum) + T wobei “T“ für den technologischen Fortschritt (oder die gesamte Faktorproduktivität) steht, die zur Hebung der Produktivität beiträgt, und 3/4 sowie 1/4 die relativen Beiträge jedes einzelnen Wachstumsfaktors zum Gesamtwachstum darstellen. In einer Situation vollkommenen Wettbewerbs sind diese Brüche mit dem Anteil der beiden Faktoren am Volkseinkommen identisch (natürlich müssten diese Bruchzahlen durch andere ersetzt werden, wenn sich der relative Anteil der Faktoren änderte oder wenn neue Faktoren hinzukämen). Um das Pro-Kopf-Wachstum zu erklären, können wir L als eigenständige Wachstumsquelle weglassen. Angesichts der Tatsache, dass ein Viertel der Produktion auf den Kapitaleinsatz zurückzuführen ist, ergibt sich aus Gleichung (1): %
Q -Wachstum = % Q-Wachstum – % L-Wachstum (2) L K 1 Wachstum + T = /4 % L
(
)
797
Diese Beziehung zeigt deutlich, wie die Kapitalvertiefung die Pro-Kopf-Produktionsleistung beeinflussen würde, wenn kein technischer Fortschritt stattfände. Die Produktionsleistung pro Arbeitskraft würde nur um ein Viertel so rasch wie die Kapitalintensität steigen, ein Zeichen für die abnehmenden Ertragszuwächse. Ein letzter Punkt bleibt noch zu klären: Wir können das Wachstum von Q, K und L messen, genauso wie die Anteile von K und L. Aber wie können wir die technische Veränderung T messen? Nun, wir können es nicht. Stattdessen müssen wir T als Residualfaktor ableiten, nachdem wir die anderen Input- und Outputkomponenten berechnet haben. Wenn wir Gleichung (2) verwenden, wird T durch Subtraktion von Gleichung (1) berechnet als T = % Q-Wachstum – 3/4 (L-Wachstum) – 1/4 (K-Wachstum) (3) Mit dieser Gleichung können wir überaus wichtige Wachstumsfragen beantworten. Inwieweit ist die Steigerung der Pro-Kopf-Produktionsleistungen auf Kapitalvertiefung und inwieweit auf technischen Fortschritt zurückzuführen? Ergibt sich der Erfolg vor allem durch Sparsamkeit und Verzicht auf gegenwärtigen Konsum? Oder ist unser steigender Lebensstandard die Belohnung für den Erfindungsreichtum der Techniker und die Risikobereitschaft innovativer Unternehmer? Ein Rechenbeispiel. Um die jeweiligen Beiträge von Arbeit, Kapital und anderen Faktoren zum erzielten Produktionswachstum zu ermitteln, setzen wir die entsprechenden Zahlen für den Zeitraum 1900–2003 in Gleichung (2) für das Wachstum von Q/L ein. Seit 1900 ist L um 1,4 Prozent jährlich gestiegen, während für K ein Zuwachs von 2,6 Prozent pro Jahr zu verzeichnen war und Q um 3,4 Prozent pro Jahr wuchs. Die Berechnung mittels der Formel
798
%
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Q – Wachstum = 1/4 L
K % L – Wachstum + T
(
)
ergibt somit 2,0 = 1/4 (1,2) + T = 0,3 + 1,7 Von der zweiprozentigen jährlichen Produktionssteigerung pro Arbeitskraft entfallen etwa 0,3 Prozentpunkte auf die Kapitalvertiefung, während der größte Teil, 1,7 Prozentpunkte pro Jahr, auf den technischen Fortschritt T zurückzuführen ist. Detaillierte Studien. In gründlicheren Untersuchungen wird diese einfache Berechnung weiter präzisiert, aber die Schlussfolgerungen bleiben mehr oder weniger gleich. Tabelle 27-3 zeigt die Ergebnisse von Studien des US-Arbeitsministeriums für den Zeitraum 1948–2001. In diesem Zeitraum ist die Produktionsleistung (gemessen als Bruttoproduktionsleistung des privaten Sektors) durchschnittlich um 3,6 Prozent jährlich angestiegen, während der Faktoreinsatz (Kapital, Arbeit und Boden) jährlich 2,2 Prozent-
Teil 6
punkte beitrug. Das Wachstum der gesamten Faktorproduktivität – also der Anstieg der Produktionsleistung abzüglich des Anstiegs der gewichteten Summe aller Faktoreinsätze und somit dessen, was wir als technologischen Fortschritt bezeichnen – betrug daher im Durchschnitt 1,3 Prozent jährlich. Etwas weniger als zwei Drittel der Produktionssteigerungen in den USA gehen auf das Konto eines intensivierten Arbeits- und Kapitaleinsatzes. Das restliche Drittel lässt sich auf Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Innovationen, Skalenerträge, wissenschaftlichen Fortschritt und andere Faktoren zurückführen. Andere Länder weisen andere Wachstumsmuster auf. Wissenschaftler haben beispielsweise mithilfe der substitutionalen Produktionsfunktion die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion untersucht, die von 1930 bis Mitte der sechziger Jahre ein rapides Wachstum aufwies. Es scheint jedoch, als sei die hohe Wachstumsrate in erster Linie auf erzwungene Kapitalerhöhungen und vermehrten Arbeitseinsatz zurückzuführen. In den letzten Jahren des Bestehens der UdSSR sank die Produk-
Beiträge verschiedener Faktoren zum Wachstum des realen BIP, Vereinigte Staaten, 1948–2001 Prozent pro Jahr
als Prozentsatz des BIP-Wachstums
Wachstum des realen BIP (private Unternehmen)
3,56
100
Beitrag der Produktionsfaktoren
2,22
63
Kapital
1,13
32
Arbeit
1,09
31
1,34
37
Gesamtwachstum der Faktorproduktivität (Forschung und Entwicklung, Ausbildung, Wissensfortschritte und sonstige Quellen)
Tabelle 27-3: Bessere Ausbildung und ein höherer Wissensstand tragen mehr zum Wirtschaftswachstum bei als das Kapital Untersuchungen, die die substitutionale Produktionsfunktion verwenden, haben die privatwirtschaftlich erzielten BIP-Zuwächse in ihre Komponenten zerlegt. Neuere, umfassende Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass für 32 Prozent der gestiegenen Produktionsleistung Kapitalzuwächse verantwortlich sind. Ausbildung, Forschung und Entwicklung und sonstige Wissensfortschritte trugen 37 Prozent zum gesamten Produktionswachstum und etwa die Hälfte zum Wachstum der Produktion pro Beschäftigtem bei. Quelle: US-Arbeitsministerium unter www.bls.gov/bls/productivity.htm.
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
tivität, als der Zentralplanungsapparat zunehmend versagte, die Korruption zunahm und die wirtschaftlichen Anreize immer schwächer wurden. Insgesamt lag das geschätzte Wachstum der Sowjetunion in den 50 Jahren vor ihrem Zusammenbruch unter jenem der Vereinigten Staaten und anderer wichtiger Marktwirtschaften. Nur die Fähigkeit der Zentralregierung, durch Zwangsmaßnahmen das gerade Produzierte wieder zu investieren (also nicht zu konsumieren), kompensierte die Ineffizienz des Systems.
Neuere Produktivitätstrends Wenn man Produktivitätstrends genau betrachtet, fällt auf, dass es sowohl starke Ausschläge von Jahr zu Jahr als auch langfristige Wellen gibt. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität ist in Abbildung 27-7 dargestellt. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der sechziger Jahre stieg die Produktivität deutlich an. Dann, etwa ab 1973, stagnierte die Produktivität oder sank sogar. Untersuchungen dieses Zeitraums deuten darauf hin, dass die schwache Leistung auf den Anstieg der Ölpreise, zunehmende Regulierungen, die Auswirkungen der Preis- und Lohnkontrollen, umfassendere Kontrollen im gesamten Energiebereich und einen Rückgang der Ausgaben für Forschung und Entwicklung zurückzuführen ist. Die Wirtschaftswissenschaftler sorgen sich um die Produktivität, weil sie eng mit dem Wachstum der Reallöhne und des Lebensstandards zusammenhängt. Abbildung 27-6(c) zeigt, wie der Anstieg der Reallöhne seit 1900 der Produktivität pro Beschäftigtem folgt. Tabelle 27-4 bietet eine quantitative Übersicht dieser Entwicklung. Einfache Berechnungen zeigen, dass der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen konstant ist, was bedeutet, dass die Reallöhne im gleichen Verhältnis steigen wie die Arbeitsproduktivität.5
799
Die Rückkehr zur Produktivität Die Wirtschaftswissenschaftler haben lange auf einen Anstieg des Produktivitätswachstums gewartet und gehofft, dass die durch die Informationstechnik bewirkte Revolution der gesamten Wirtschaft zu schnellem Wachstum verhelfen würde. Innovationen in diesem Bereich (Computer Hardware, Software und dem Kommunikationswesen) haben an allen Ecken und Enden zu erstaunlichen Verbesserungen geführt. Während der letzten 30 Jahre ist der Preis von Computern um mehr als das Tausendfache gesunken. Die elektronische Post und das Internet führen zu tiefgreifenden Veränderungen im Einzelhandel. Computer sind inzwischen das Nervensystem des Geschäftslebens – sie setzen die Preise für Flugscheine fest und erledigen die Buchungen, in Läden scannen sie Preise und verwalten Warenbestände, sie verteilen Elektrizität, verbuchen Schecks, senden Forderungen an Steuerzahler und Studenten die Benachrichtigung über Studiengebühren. Manche Ökonomen halten die Computer für einen neuen vierten Produktionsfaktor. Bis vor kurzem wunderten sich die Experten, dass – um es mit den Worten von Robert Solow auszudrücken – „man Computer überall findet, außer in den Produktivitätsstatistiken“. Auch als die Computer bereits in die letzten Bereiche des Wirtschaftslebens Einzug hielten, zeigte das Produktivitätswachstum kaum eine Reaktion. Doch etwa im Jahre 1995 änderte sich dies, denn auf einmal stieg die Produktivität wieder rasant an. Nach einem Wachstum von 3,1 Prozent pro Jahr zwischen 1948 und 1973 sank die Zunahme der Produktivität auf 0,8 Prozent jährlich zwischen 1973 und 1995; seitdem schoss die Produktivität bis 2002 jähr5 Um diesen Zusammenhang zu erkennen, kann man den Anteil der Arbeit als W L = s P Q ausdrücken, wobei s = Anteil der Arbeit, W = monetärer Lohnsatz, L = Arbeitsstunden, P = Preisindex und Q = Produktion. Wenn man beide Seiten durch L beziehungsweise P dividiert, erhält man (W/P) = s (Q/L), was bedeutet, dass der Reallohn dem Anteil der Arbeit multipliziert mit der Arbeitsproduktivität entspricht. Wenn daher der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen konstant ist, müssen die Reallöhne im gleichen Verhältnis steigen wie die Arbeitsproduktivität.
800
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Produktivitätswachstum (Prozent pro Jahr)
10
8
6
4
2
0
2 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Jahr
Abbildung 27-7: Anstieg der Arbeitsproduktivität in der US-Wirtschaft, 1948–2002 Die Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität ist bis in die späten siebziger und frühen achtziger Jahre hinein allmählich auf ein niedriges Niveau gesunken. Aufgrund der beträchtlichen Fortschritte in der Informationstechnik, insbesondere bei Computern, hat sich das Produktivitätswachstum seit den späten neunziger Jahren wieder erholt. Quelle: Statistiken des US-Arbeitsministeriums unter www.bls.gov/lpc/home.htm.
Produktivität und Reallöhne Durchschnittliches jährliches prozentuales Wachstum Zeitraum
Arbeitsproduktivität
Reallöhne
1948–1973
3,1
2,9
1973–2000
1,0
1,5
Tabelle 27-4: Die Reallöhne spiegeln den Produktivitätsanstieg wider Langfristig gesehen scheinen sich die Reallöhne entsprechend der Entwicklung der Arbeitsproduktivität zu bewegen. Nach der Verlangsamung des Produktivitätsanstiegs im Jahre 1973 stiegen auch die Reallöhne deutlich langsamer an. Quelle: US-Arbeitsministerium. Die Produktivität wurde für den Geschäftssektor der Vereinigten Staaten ermittelt; die Nominalvergütung wurde mithilfe des Verbraucherpreisindex deflationiert.
lich um 2,6 Prozent nach oben. Auch die Zuwachsraten der Reallöhne sind wieder gestiegen, von mageren 1,2 Prozent jährlich im Zeit-
raum von 1973–1995 auf 2,5 Prozent pro Jahr von 1995–2002. Enthusiasten sprachen bereits von einer „neuen Ära“ und einer „schönen neuen Welt des amerikanischen Kapitalismus“. Sogar der damalige Vorsitzende der Fed, Alan Greenspan, der sich zumeist im Untertreiben übt, schloss sich den Technologiebegeisterten an und erklärte: „Eine merkliche Beschleunigung in der Umsetzung von technischen Innovationen spricht für die Hypothese, dass die jüngste deutliche Zunahme der Arbeitsproduktivität nicht einfach ein zyklisches Phänomen oder ein statistischer Irrtum ist, sondern dass sie zumindest teilweise eine tiefergehende, grundlegende und sich immer noch entwickelnde Veränderung der Wirtschaftslandschaft reflektiert.“ Als sich die Wirtschaftswissenschaftler die Zahlen unter dem Mikroskop ansahen, entdeckten sie einige interessante Tatsachen über den neuen Produktivitätsaufschwung. Wesentliche Faktoren des Produktivitätswachstums sind:
801
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
menten durch die Einkäufe per Internet sparen, die Ersparnis von Zeit und Postgebühren dank des Umstiegs von der Schneckenpost auf E-Mails oder die Annehmlichkeiten, die uns Handys bieten – all dies wird bei Produktivitätsmessungen nicht berücksichtigt. Andere meinen, die wahren Gewinne durch Computer stünden uns erst noch bevor. Der Wirtschaftshistoriker Paul David von der Universität Stanford, der vergangene Erfindungen wie die des Elektromotors untersucht hat, glaubt, dass die Wirtschaft Jahrzehnte braucht, ehe sie alle Vorteile neuer Erfindungen nutzen kann.
• Eine wahre Explosion der Produktivität im Computerbereich. Der Anstieg der Produktivität (gefolgt von einem deutlichen Preisverfall) in der Computerbranche war außerordentlich. Von 1972–1995 sanken die relativen Computerpreise um etwa 18 Prozent pro Jahr, und im Zeitraum von 1995–2002 betrug der Preisrückgang rund 30 Prozent pro Jahr. • Kapitalvertiefung. Seit 1995 sind die Investitionen deutlich angestiegen. Unternehmen investierten viel Geld in Computer und Software, um den Vorteil sinkender Preise und zunehmend leistungsfähigerer Software zu nutzen. • Unerfasste Produktionsleistungen. Viele Fortschritte der neuen Wirtschaftszweige sind bisher von den Produktionsstatistiken nicht berücksichtigt worden. Die enorme Entwicklung des Internet, von E-Mail und Handys ist den Produktionsstatistiken kaum zu entnehmen. Manche Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass die Produktivität für Software und einige Kommunikationsgeräte (siehe die Diskussion über die Beurteilung von Preisen in Kapitel 21) deutlich unterschätzt wird. Berücksichtigt werden sollte auch die Zeit, die Konsu-
Ob das schnelle Produktivitätswachstum in unserer Wirtschaft nun von Dauer sein wird oder nicht, es ist auf jeden Fall deutlich, dass Computer unsere Wirtschaft und unser Leben auf erstaunliche Weise prägen. Damit schließen wir unsere Einführung über das Wirtschaftswachstum. Im nächsten Kapitel werden die hier dargestellten Erkenntnisse auf den Kampf der armen Länder um die Verbesserung ihres Lebensstandards angewandt. In den weiteren Kapiteln dieses Teils untersuchen wir den internationalen Handel und internationale Finanzströme.
Zusammenfassung A. Wachstumstheorien 1.
2.
Die Analyse wirtschaftlichen Wachstums beschäftigt sich mit den Faktoren, die langfristig zum Anstieg der potenziellen Produktionsleistung führen. Das Pro-Kopf-Wachstum der Produktion ist ein wichtiges Ziel staatlichen Handelns, denn es geht gemeinhin mit dem Anstieg der durchschnittlichen Realeinkommen und des Lebensstandards einher. Die historischen Erfahrungen über verschiedene Zeiträume hinweg und in einer Vielzahl von Staaten zeigen, dass wirtschaftliches Wachstum auf vier Säulen beruht: (a) auf Quantität und Qualität der Arbeitskräfte; (b) auf dem vorhandenen Boden und den natürlichen Ressourcen; (c) auf der Kapitalbildung; (d) auf dem
3.
technologischen Wandel und den Innovationen, die eine höhere Produktionsleistung bei gleich hohem Faktoreinsatz ermöglichen; der zuletzt genannte Punkt ist vermutlich der wichtigste. Es gibt jedoch keine einzelne Erfolgskombination dieser vier Zutaten, denn die Vereinigten Staaten, Europa und einige asiatische Länder haben völlig verschiedene Wege zum wirtschaftlichen Erfolg eingeschlagen. Die klassischen Modelle von Adam Smith und Malthus beschreiben wirtschaftliche Entwicklung anhand von Boden und Bevölkerungsentwicklung. Lässt man technische Veränderungen außer Acht, muss die wachsende Bevölkerung irgendwann das gesamte Angebot an verfügbarem Boden beanspruchen. Die zunehmende Bevölkerungsdichte bewirkt sinkende
802
4.
5.
6.
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Skalenerträge; daher führt Wachstum nach diesem klassischen Modell zu höheren Bodenpachten bei immer niedrigeren Wettbewerbslöhnen. Das malthusianische Gleichgewicht ist dann erreicht, wenn die Löhne auf das Existenzminimum gesunken sind, unter dessen Niveau ein Überleben nicht mehr gesichert ist. In der Realität hat jedoch der technische Wandel durch die kontinuierliche Aufwärtsverschiebung der Produktivitätskurve der Arbeit die Wirtschaftsentwicklung in den Industrienationen in Gang gehalten. Bedenken hinsichtlich der Endlichkeit natürlicher Ressourcen und zunehmender Umweltschäden, welche die Wirtschaftsentwicklung hervorruft, führen häufig zu der Frage, ob das Wirtschaftswachstum in seinem heutigen Ausmaß noch lange weitergehen kann. Die Bedenken aufgrund des beschränkten Angebots an Land, Energie und Bodenschätzen sind dank immer neuer Entdeckungen und energiesparender Techniken zurückgegangen. Da es jedoch überall eine Umwelt gibt, kommt es entweder zu teuren Umweltschäden oder es müssen notwendigerweise teure Vorbeugemaßnahmen ergriffen werden. Die Kapitalbildung und als komplementäres Element die Arbeit bilden den Kern der modernen Analyse nach dem neoklassischen Wachstumsmodell. Dieser Ansatz bedient sich eines Werkzeugs, das als gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion bekannt ist und eine Beziehung zwischen Arbeit und Kapital und der gesamten potenziellen Produktionsleistung herstellt. Wenn man den technischen Wandel und Innovationen unberücksichtigt lässt, hat eine Erhöhung des Kapitalbestandes pro Arbeitskraft (der so genannten Kapitalvertiefung) keinen proportionalen Anstieg der Produktionsmenge pro Arbeiter zur Folge, was auf die abnehmenden Kapitalerträge zurückzuführen ist. Eine Kapitalvertiefung würde daher die Kapitalertragsrate (entsprechend dem Realzinssatz im risikofreien Wettbewerb) senken und die Reallöhne erhöhen. Bei einer konstanten Mischung von Produktionsfaktoren erhöht der technische Wandel die potenzielle Produktionsmenge. Dadurch wird die Gesamtproduktionsfunktion nach oben verschoben, wodurch bei gleichem Arbeitsund Kapitaleinsatz die Produktionsmenge steigt. Jüngste Untersuchungen im Rahmen der „neuen Wachstumstheorie“ versuchen die Prozesse aufzudecken, die den technischen Fortschritt antreiben. Dieser Ansatz betont,
Teil 6
dass (a) der technische Fortschritt ein Produkt des Wirtschaftssystems ist, (b) die Technologie ein öffentliches, konkurrenzfreies Produkt ist, das gleichzeitig von vielen Menschen genutzt werden kann, und (c) es viel Geld kostet, eine neue Erfindung zu machen, diese dann aber billig zu reproduzieren ist. Diese Eigenschaften bedeuten, dass Staaten sorgfältig darauf achten müssen, mit dem sicheren Schutz geistigen Eigentums ausreichende Anreize für Erfinder zu schaffen, sich in Forschung und Entwicklung zu engagieren.
B. Die Wachstumsmuster in den Vereinigten Staaten 7.
8.
9.
Die vorliegenden Daten für das 20. und frühe 21. Jahrhundert zeigen zahllose Trends in Bezug auf das Wirtschaftswachstum. Besonders wichtige Erkenntnisse sind die Tatsache, dass die Reallöhne und die Produktion pro Beschäftigtenstunde stetig gestiegen sind, dass sich kein klarer Trend des Realzinssatzes beobachten lässt und dass das Verhältnis von Kapital zu Produktion sinkt. Die wichtigsten Trends lassen sich mit dem neoklassischen Wachstumsmodell unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts vereinbaren. So bestätigt die Wirtschaftstheorie, was uns die Wirtschaftsgeschichte vor Augen führt – dass die technische Entwicklung die Produktivität der Produktionsfaktoren erhöht und Löhne und Lebensstandard steigen lässt. Die letzte Entwicklung, stetiges Wachstum der potenziellen Produktionsleistung seit 1900, führt zu der wichtigen Frage nach den Ursachen des Wirtschaftswachstums. Im Rahmen quantitativer Analysen sind Wirtschaftswissenschaftler mithilfe der substitutionalen Produktionsfunktion zu der Erkenntnis gelangt, dass „Restgrößen“ – beispielsweise technische Veränderungen und Ausbildung – stärkere Auswirkungen auf das Wachstum des BIP oder der Arbeitsproduktivität haben als die Kapitalvertiefung. Nach 1970 hat sich das Produktivitätswachstum aufgrund der Last hoher Energiepreise, zunehmender Umweltschutzmaßnahmen und sonstiger Strukturveränderungen verlangsamt. Ende der neunziger Jahre haben jedoch die beträchtlich gestiegene Produktivität und die Investitionen in Computer und andere Bereiche der Informationstechnik zu einem deutlichen Anstieg des gemessenen Produktionswachstums geführt.
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
803
Begriffe zur Wiederholung Die vier Faktoren des Wirtschaftswachstums: Arbeit Natürliche Ressourcen Kapital Technik Gesamtproduktionsfunktion Das Goldene Zeitalter von Adam Smith Das Verhältnis von Kapital zu Arbeit Die begrenzte Menge an Grund und Boden laut Malthus Die moderne Variante des malthusianischen Modells: begrenzte Ressourcen und Umweltschutzmaßnahmen Das neoklassische Wachstumsmodell Anstieg von K/L mit zunehmender Kapitalvertiefung Neue Wachstumstheorie, Technik als produziertes Gut Die sieben Trends des Wirtschaftswachstums Substitutionale Produktionsfunktion: % Q-Wachstum = 3/4 (L-Wachstum) + 1/4 (K-Wachstum) + T % Q/L-Wachstum = 1/4 (% K/L-Wachstum) + T
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine der besten Übersichten über das Wirtschaftswachstum bietet Robert Solow in Economic Growth (Oxford University Press, Oxford, U.K., 1970; deutsch: Wachstumstheorie, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, 1971). Siehe auch seinen bahnbrechenden Artikel, „A Contribution to the Theory of Economic Growth“, Quarterly Journal of Economics, 1956. Im Text beziehen wir uns auf William Baumol, „Entrepreneurship: Productive, Unproductive, and Destructive“, Journal of Political Economy, Oktober 1990, S. 893–921. Zwei ausgezeichnete neuere Bücher über das Wirtschaftswachstum sind Charles Jones, Introduction to Economic Growth, 2. Aufl. (Norton, New York, 2001), und die eher technische Monografie von Robert Barro und Xavier Sala-i-Martin, Economic Growth (McGraw-Hill, New York, 1995). Eine gute Analyse der Bedeutung des technischen Fortschritts in der Wachstumstheorie bietet Paul Romer, „The Origins of Endogenous Growth“, Journal of Economic Perspectives, Winter 1994, S. 3–22. Deutschsprachige Literatur: Michael Frenkel und Hans-Rimbert Hemmer, Grundlagen der Wachstumstheorie (Vahlen, München, 1999); Jürgen Heubes, Konjunktur und Wachstum (Vahlen, München, 1991); Alfred Maußner und Rainer Klump, Wachstumstheorie (Springer, Berlin Heidelberg, 1996), die sich auf den neoklassischen Ansatz konzentrieren; Christoph Vogel, Deutschland im internationalen Technologiewettlauf. Bedeutung der Forschungs- und Technologiepolitik für die technologische Wettbewerbsfähigkeit (Duncker & Humblot, Berlin, 2000).
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Websites Eine Website, die sich dem Wirtschaftswachstum widmet, wird von Jonathan Temple von der Universität Oxford betreut: www.bris.ac.uk/Depts/Economics/Growth/. Sie bietet zahlreiche Hinweise und Links. Die Artikel von Solow und Baumol findet man unter www.jstor.org. Daten und Zahlen zum Wirtschaftswachstum findet man unter www.bris.ac.uk/Depts/Economics/ Growth/. Der technische Fortschritt wird häufig mit bestimmten Erfindungen in Zusammenhang gebracht. Informationen über Leben und Patente großer Erfinder findet man unter www.invent.org/ hall_of_fame/1_0_0_hall_of_fame.asp. Wer sich für das Thema Produktivität in der Neuen Wirtschaft interessiert, sollte sich den Economic Report of the President, 2000 unter www.gpoaccess.gov/eop, Kapitel 3 ansehen.
Übungen 1.
2.
3.
4.
Laut den vorliegenden Wirtschaftsdaten ist der Lebensstandard einer Familie im Jahre 2003 etwa neunmal höher als derjenige einer Familie im Jahre 1900. Was bedeutet dies für das tatsächliche Konsumverhalten? Diskutieren Sie mit Ihren Eltern oder älteren Verwandten, wie Ihr Lebensstandard heute im Vergleich zu dem Ihrer Eltern aussieht. Wo gibt es Unterschiede? „Wenn der Staat für einen besseren Schutz des geistigen Eigentums sorgt, die Grundlagenforschung subventioniert und die Konjunkturzyklen in den Griff bekommt, werden wir ein Wirtschaftswachstum erleben, das die klassischen Ökonomen erstaunen würde.“ Erklären Sie, was der Autor mit dieser Aussage meint. „Bei einem Bevölkerungswachstum von null und keinerlei technologischem Fortschritt muss die laufende Kapitalbildung irgendwann die kapitalistische Klasse zerstören.“ Erklären Sie, warum eine derartige Situation zu einem Realzinssatz von null und zum Verschwinden aller Gewinne führen könnte. Erinnern Sie sich an die substitutionale Produktionsfunktion [Gleichung (1) auf Seite 797]. Berechnen Sie das Wachstum der Produktion, wenn der Arbeitseinsatz um 1 Prozent pro Jahr steigt, der Kapitaleinsatz um 4 Prozent jährlich wächst und der technologische Fortschritt 1,5 Prozent pro Jahr beträgt. Wie änderte sich Ihre Antwort, wenn: a. der Arbeitseinsatz überhaupt nicht mehr stiege? b. der Kapitaleinsatz auf 5 Prozent pro Jahr erhöht würde? c. Arbeits- und Kapitalanteil am BIP gleich hoch wären?
5.
6.
Berechnen Sie außerdem für jede dieser Situationen die Produktionssteigerungsrate pro Arbeitskraft. Verwenden Sie die Produktionsmöglichkeitskurve (PMK), um die Argumentation von Malthus zu verdeutlichen und ihre Mängel aufzuzeigen. Tragen Sie die Lebensmittelproduktion pro Kopf auf einer Achse ab und die Produktion sonstiger Erzeugnisse auf der anderen. Unterstellen Sie sinkende Grenzerträge der Arbeit in der Lebensmittelproduktion und konstante Skalenerträge der Arbeit bei den übrigen Erzeugnissen. Wachstumskritiker weisen auf verschiedene Faktoren hin, die ihrer Meinung nach eine echte Verbesserung des Lebensstandards in diesem Jahrhundert verhindern werden. Betrachten Sie die folgenden möglichen Situationen (die mehr oder weniger realistisch sein können): a. Die globale Erwärmung führt zu einer Austrocknung des Getreidegürtels der Welt, wodurch die Erträge bedeutender Getreidearten zurückgehen. b. Eine Zunahme des Terrorismus zwingt Regierungen, Unternehmen und die privaten Haushalte, sich vor den Drohungen zu schützen, was zu erhöhten Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit führt. c. Die Forschung und Entwicklung konzentriert sich überwiegend auf militärische und Raumfahrttechniken. d. Technische Veränderungen führen zu höherer struktureller Arbeitslosigkeit, da die Ausbildung der Bevölkerung mit dem wachsenden Bedarf an geschulten Kräften für zunehmend computerisierte Arbeitsplätze nicht Schritt hält. Diskutieren Sie die Auswirkungen der eben skizzierten Situationen auf das Wachstum des
Kapitel 27 Der Prozess des Wirtschaftswachstums
7.
Pro-Kopf-Konsums. Betrachten Sie sowohl den über den Markt als auch den außerhalb des Marktes befriedigten Konsum. Verwenden Sie die substitutionale Produktionsfunktion, umso weit wie möglich ihre Argumentation zu verdeutlichen. Frage für Fortgeschrittene: Viele fürchten, dass Computer für den Menschen die gleichen Folgen haben könnten, die einst Traktoren und Autos für die Pferde hatten – Anfang des 20. Jahrhunderts sank die Anzahl der Pferde deutlich, nachdem der technische Wandel sie überflüssig gemacht hatte. Wenn wir Computer als besonders produktive Variante von K behandeln, wie wirkt sich dann ihre Einführung auf das Verhältnis von Kapital zu Arbeit in Abbildung 27-4 aus? Kann die Gesamtproduktion bei konstanter Anzahl der Beschäftigten sinken? Unter welchen Bedingungen sinken die Reallöhne? Können Sie verdeutlichen, warum der Vergleich mit den Pferden möglicherweise hinkt?
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KAPITEL 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Ich glaube an den Materialismus. Ich glaube an all die Segnungen des gesunden Materialismus – gute Küche, trockene Wohnungen, trockene Füße, Kanalisation, Abflussrohre, heißes Wasser, Bäder, elektrisches Licht, Autos; gute, helle Straßen; lange Urlaube weit weg vom Dorfbrunnen, neue Ideen, schnelle Pferde, anregende Gespräche, Theater, Opern, Orchester, Musikkapellen – ich glaube daran, dass alle Menschen diese Errungenschaften genießen können sollten. Ein Mensch, der stirbt, ohne diese Annehmlichkeiten gekannt zu haben, war vielleicht herausragend wie ein Heiliger oder fantasievoll wie ein Dichter, aber er war es trotz und nicht wegen des Mangels, den er litt. Francis Hackett
Es gibt gewaltige Unterschiede im Lebensstandard der Menschen auf unserem Planeten. Auf der einen Seite gibt es die Wohlhabenden in Nordamerika und Westeuropa, wo das reichste Prozent der Menschheit über etwa 20 Prozent des Welteinkommens und der Konsumgüter verfügt. Am anderen Ende der Skala sind die Armen Afrikas und Asiens, wo Millionen Menschen in absoluter Armut bar jeden Komforts leben und häufig nicht einmal wissen, wo die nächste Mahlzeit herkommen wird. Wodurch werden die großen Unterschiede im Wohlstand der Nationen verursacht? Kann die Welt in Frieden überleben, wenn es Armut inmitten der Fülle gibt, auffallenden Konsum und landwirtschaftliche Überschüsse in Amerika neben Hunger und Umweltzerstörung in Afrika? Welche Maßnahmen können die ärmeren Nationen ergreifen, um ihren Lebensstandard zu heben? Welche Verantwortung haben die wohlhabenden Länder? Die Entwicklungshemmnisse, mit denen sich Entwicklungsländer auseinandersetzen müssen, zählen zu den größten Herausforderungen der modernen Wirtschaft. Hier können die Instrumente der Wirtschaftswissenschaften das Alltagsleben der Menschen am stärksten beeinflussen. In diesem Bereich kann die Ökonomik wirklich den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Am Anfang des Kapitels beschreiben wir die Eigenschaften von Entwicklungsländern und betrachten noch einmal die wesentlichen Faktoren für den Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung. Der zweite Teil dieses Kapitels befasst sich mit alternativen Ansätzen zur Herstellung von Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern, insbesondere mit den durchaus erfolgreichen Modellen Asiens und dem gescheiterten kommunistischen Experiment in Russland.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
A. Wirtschaftswachstum in armen Ländern Eigenschaften von Entwicklungsländern Was verstehen wir unter dem Begriff Entwicklungsland? Die auffälligste Eigenschaft eines Entwicklungslandes ist sein niedriges Pro-Kopf-Einkommen. Außerdem steht es mit der Gesundheit der Menschen in Ent-
Teil 6
wicklungsländern meistens nicht zum Besten; sie sind häufig Analphabeten, unterernährt und verfügen nur über wenig Kapital, mit dem sie arbeiten können. Tabelle 28-1 liefert wichtige Daten über die Protagonisten der Weltwirtschaft und die Kennzeichen einer mangelhaften wirtschaftlichen Entwicklung. Die verschiedenen Länder sind zu sechs bedeutenden Weltregionen zusammengefasst. Man kann einige wichtige Erkenntnisse aus der Tabelle ziehen. Ganz offensichtlich sind die Länder mit niedrigem Einkommen deutlich ärmer als hoch entwickelte Länder wie die Vereinigten Staaten. Die Menschen in
Wachstum, 1980–2000 (% pro Jahr)
Analphabetentum bei Jugendlichen (15–24 Jahre, in %)
Personal-Computer (pro 1.000 Menschen)
1.823
1,4
69
3.790
6,2
3
19
Osteuropa, Zentralasien (Russland, Polen, ...)
475
0,5
69
6.320
20,8
1
52
Lateinamerika und Karibik (Brasilien, Mexiko, ...)
524
1,8
71
6.900
0,7
5
59
Mittlerer Osten und Nordafrika (Ägypten, Iran, ...)
301
2,6
68
5.430
20,1
20
32
1.378
2,0
63
2.570
3,6
33
5
674
2,7
46
1.750
20,7
23
10
Region
US-$
Technologie
Lebenserwartung bei Geburt (Jahre)
Bildung
Wachstumsrate, 1980–2001 (%)
BIP pro Kopf*
Anzahl, 2001 (Mio.)
Bevölkerung
Ostasien und Pazifik (China, Indonesien, ...)
Südasien (Indien, Pakistan, ...) Afrika südlich der Sahara (Nigeria, Äthiopien, ...)
* Für die Zahlen des Pro-Kopf-Einkommens wurde die Kaufkraftparität der Einkommen herangezogen, um widerzuspiegeln, was man mit diesen Einkommen tatsächlich in den jeweiligen Ländern kaufen kann.
Tabelle 28-1: Wesentliche Indikatoren für verschiedene Ländergruppen Die Weltbank teilt die Entwicklungsländer in sechs Regionen ein. Für jedes dieser Gebiete sind eine Reihe von wichtigen Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung angegeben. Beachten Sie, dass Staaten mit niedrigem Einkommen meistens auch eine niedrige Alphabetisierungsrate und wenige Computer haben. In einigen einkommensschwachen Ländern liegt die Lebenserwartung nahe bei derjenigen der reichen Länder. Quelle: Weltbank, World Development Report, und Daten unter www.worldbank.org.
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
den Staaten mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen verdienen nur etwa ein Zwanzigstel dessen, was die Leute in den Ländern mit hohem Einkommen erhalten. Die Zahlen in der Tabelle fußen auf Berechnungen zur Kaufkraftparität (PPP), welche die relativen Einkommen widerspiegelt. Die am Markt herrschenden Wechselkurse weisen die Einkommen in den Niedriglohnländern meist zu gering aus. (Die Verwendung der kaufkraftparitätischen Wechselkurse zur Beurteilung unterschiedlicher Lebensstandards wird in Kapitel 29 behandelt.) Darüber hinaus lassen sich die Auswirkungen der Armut in den Ländern mit niedrigem Einkommen an vielen sozialen und gesundheitlichen Indikatoren ablesen. Die Lebenserwartung liegt unter derjenigen in den Staaten mit hohem Einkommen, die Bildungschancen sind schlecht, und oft können nur wenige Menschen lesen und schreiben. Zwischen den Entwicklungsländern bestehen große Unterschiede. In manchen von ihnen vegetieren die Menschen am Rande des Hungertods dahin – das sind die ärmsten Länder wie Kongo, Äthiopien und Liberia. Andere Staaten, die noch vor zwei oder drei Jahrzehnten zu dieser Gruppe gehörten, haben bereits die nächsthöhere Stufe erklommen. Die erfolgreicheren unter ihnen – beispielsweise Singapur und Südkorea – zählen gar nicht mehr zu den Entwicklungsländern, und die ganz erfolgreichen haben hinsichtlich ihres Pro-Kopf-Einkommens zu den Ländern mit hohem Einkommen aufgeschlossen. Die erfolgreichen Entwicklungsländer von gestern werden zu den einkommensstarken Ländern von morgen. Das Leben in einkommensschwachen Ländern Um den Unterschied zwischen fortgeschrittenen und Entwicklungsländern zu verstehen, stellen Sie sich vor, Sie wären ein(e) typische(r) Einundzwanzigjährige(r) in einem einkommensschwachen Land wie Mali, Indien oder Bangladesch. Sie sind
809
arm. Selbst wenn man die Güter berücksichtigt, die Sie selbst herstellen und konsumieren, beträgt Ihr Jahreseinkommen im Durchschnitt kaum US-$ 1.000. Ein entsprechender junger Mensch in Nordamerika verdient im Durchschnitt möglicherweise über US-$ 30.000. Vielleicht tröstet Sie ja der Gedanke, dass auf dieser Welt nur eine von vier Personen ein Jahreseinkommen von über US-$ 3.000 hat. Auf jeden Ihrer Mitbürger, die lesen können, kommt einer wie Sie, der es nicht kann. Ihre Lebenserwartung beträgt nur vier Fünftel derjenigen eines Durchschnittsbürgers in einem entwickelten Land; zwei Ihrer Geschwister sind bereits im Kindesalter gestorben. Die Geburtenrate ist hoch, vor allem in Familien, in denen die Frauen keine Schulbildung haben, aber die Sterblichkeitsrate ist auch wesentlich höher als in Ländern mit guter Gesundheitsversorgung. Die meisten Ihrer Mitbürger arbeiten auf dem Land. Nur wenige können es sich erlauben, nicht für die Produktion der notwendigen Grundnahrungsmittel, sondern in einer Fabrik zu arbeiten. Sie arbeiten nur mit einem Sechzigstel der Pferdestärken eines nordamerikanischen Arbeiters. Über die Wissenschaften wissen Sie wenig, aber viel über die Traditionen Ihres Dorfes. Sie und alle anderen Menschen in den 40 ärmsten Ländern machen 55 Prozent der Weltbevölkerung aus, Sie können sich aber nur 4 Prozent des Welteinkommens teilen. Sie sind oft hungrig und essen meistens grobe Nahrung oder Reis. Sie haben zwar die Grundschule besucht, aber wie die meisten Ihrer Freunde keine weiterbildende Schule; nur die wohlhabendsten Menschen in Ihrem Land können eine Universität besuchen. Sie arbeiten ohne Maschinen viele Stunden auf den Feldern. Nachts schlafen Sie auf einer Matte. Sie haben kaum Möbel, vielleicht einen Tisch und ein Radio. Ihr einziges Transportmittel ist ein altes Paar Stiefel.
810
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Die Entwicklung der Menschen Diese Übersicht über das Leben in den ärmsten Ländern der Welt verdeutlicht, wie wichtig ein angemessenes Einkommen ist, um die Grundbedürfnisse zu decken, aber auch, dass am Markt erzielte Einkommen nicht alles sind. Nachdenkliche Ökonomen wie die Nobelpreisträgerin Amartya Sen und Gustav Ranis von der Yale Universität betonen, dass man bei der Beurteilung der Fortschritte eines Landes auch anderes berücksichtigen sollte: Faktoren wie Gesundheit und Lebenserwartung, Schulbesuch, Lese- und Schreibfähigkeit der Erwachsenen sowie die Unabhängigkeit der Frauen sind neben der Steigerung des Pro-Kopf-Konsums weitere wesentliche Ziele. Abbildung 28-1 stellt die Lebenserwartung und das BIP pro Kopf der Bevölkerung dar. Zwischen beiden besteht generell eine enge Korrelation, doch es gibt auch Ausnahmen. In manchen Ländern, beispielsweise in Botswana, Äquatorial Guinea und Südafrika, ist wegen der Geißel Aids die Lebenserwar-
Teil 6
tung im Vergleich zum Einkommen gering. In keinem armen Land ist die Lebenserwartung wirklich hoch, aber in Griechenland und Costa Rica ist sie genauso hoch oder höher als in den Vereinigten Staaten, weil dort das Gesundheitswesen schlecht aufgebaut ist.
Die vier Elemente wirtschaftlicher Entwicklung Nachdem wir gesehen haben, was es bedeutet, ein Entwicklungsland zu sein, wenden wir uns nun der Untersuchung des Prozesses zu, durch den Länder mit niedrigem Einkommen ihren Lebensstandard erhöhen können. In Kapitel 27 haben wir festgestellt, dass das Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten – das Wachstum der potenziellen Produktion – auf vier Antriebskräften gründet: (1) den menschlichen Ressourcen, (2) den natürlichen Ressourcen, (3) der Kapitalbildung und (4) der Technologie. Diese vier Kräfte finden wir in armen und reichen Ländern, aber ihre Mischung und die Strategien
100 Japan Lebenserwartung (in Jahren)
80
Norwegen
China
USA 60 Botswana Äquatorial-Guinea 40 Sierra Leone 20
0 0
10.000 20.000 30.000 Pro-Kopf-Einkommen (US-$, PPP)
40.000
Abbildung 28-1: Lebenserwartung und Einkommen, 2000 Es besteht eine hohe Korrelation zwischen Lebenserwartung und Pro-Kopf-Einkommen. Höhere Einkommen ermöglichen höhere Investitionen in die Gesundheitsvorsorge, und eine gesunde Bevölkerung ist auch produktiver. Beachten Sie, dass einige afrikanische Länder mit mittlerem Einkommen stark von der AidsEpidemie betroffen sind, die sowohl die Gesundheit als auch die wirtschaftliche Entwicklung bedroht. Quelle: Human Development Report, 2002.
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
für ihre Kombination sind je nach Grad der Entwicklung unterschiedlich. Betrachten wir nun, wie jede dieser Antriebskräfte in den Entwicklungsländern funktioniert und wie staatliche Maßnahmen den Wachstumsprozess in eine günstige Richtung lenken können.
Menschliche Ressourcen Bevölkerungsexplosion: Das Erbe von Malthus. Viele arme Länder müssen hart kämpfen, um nicht noch tiefer zu sinken. Wenn das BIP eines armen Landes ansteigt, tut dies in der Regel auch dessen Bevölkerungszahl. Erinnern Sie sich an unsere Diskussion der Bevölkerungsfalle laut Malthus in Kapitel 27 – eine Situation, in der die Bevölkerung so rasch wächst, dass die Einkommen immer auf dem Niveau des Existenzminimums bleiben. Während diese Theorie für die Länder mit hohem Einkommen längst nicht mehr gilt, ist Afrika immer noch in der Falle hoher Geburtenraten und stagnierender Einkommen gefangen. Das Bevölkerungswachstum ist noch nicht zum Stillstand gekommen – die Demografen sagen voraus, dass in den einkommensschwachen Ländern während der nächsten 25 Jahre eine weitere Milliarde Menschen hinzukommen werden. Bei derart hohen Geburtenraten ist es für die armen Länder schwierig, die Armut zu überwinden. Doch die Überbevölkerung muss kein ewiges Schicksal bleiben. Eine Strategie besteht darin, aktiv auf die Eindämmung des Bevölkerungswachstums einzuwirken, auch wenn derartige Maßnahmen gegen die herrschenden religiösen Normen verstoßen. Viele Länder haben entsprechende Aufklärungsprogramme eingeführt und subventionieren Maßnahmen zur Geburtenkontrolle. China mit seiner Einwohnerzahl von mehr als 1 Milliarde bemüht sich besonders stark, das Bevölkerungswachstum einzudämmen; es gibt strikte Geburtenquoten vor, verhängt wirtschaftliche Sanktionen und besteht auf Zwangssterilisierungen jener, die gegen die „Babyquote“ verstoßen. Länder, denen es tatsächlich gelingt, ihr Pro-Kopf-Einkommen stark zu erhöhen, ha-
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ben die Aussicht, den demografischen Übergang zu einer stabilen Bevölkerungszahl mit geringen Geburtenraten und hoher Lebenserwartung zu schaffen. Sobald ein Land reich genug ist und die Kindersterblichkeit zurückgeht, verzichten die Menschen dieses Landes freiwillig auf reichen Kindersegen. Wenn die Frauen eine Schulbildung haben und nicht mehr unterdrückt sind, sinkt zumeist ihre Kinderzahl. Die Familien entscheiden sich für Qualität statt Quantität – sie widmen ihre Zeit und ihr Einkommen einer besseren Ausbildung von weniger Kindern. Die Geburtenraten von Mexiko, Korea und Taiwan gingen mit steigenden Einkommen drastisch zurück, und die Bevölkerung erhält in diesen Ländern heute eine bessere Ausbildung. Nach und nach werden die Ergebnisse der Bemühungen um wirtschaftliche Entwicklung und Geburtenkontrolle spürbar. Wir verzeichnen einen Rückgang der Geburtenrate in einkommensschwachen Ländern von 42 pro 1.000 im Jahr 1965 auf 28 pro 1.000 im Jahr 1995. Allerdings liegt sie damit immer noch viel höher als jene von 12 zu 1.000 in einkommensstarken Ländern. Der Kampf gegen eine durch exzessives Bevölkerungswachstum hervorgerufene Armut geht weiter. Doch der demografische Übergang ist noch nicht auf der ganzen Welt gelungen. In weiten Teilen des tropischen Afrikas ist die Fruchtbarkeit nach wie vor hoch, trotz der Aids-Epidemie, die die Lebenserwartung auf eine Weise reduziert, wie man es seit der Pest vor vielen Jahrhunderten nicht mehr beobachtet hat. Das Gespenst von Malthus bedroht nach wie vor weite Teile Zentralafrikas. Menschliches Kapital. Entwicklungsländer müssen sich nicht nur um ihr exzessives Bevölkerungswachstum, sondern auch um die Qualität ihrer menschlichen Ressourcen sorgen. Wirtschaftsplaner in Entwicklungsländern weisen auf die Bedeutung der folgenden konkreten Schritte hin: 1. Eindämmung von Seuchen und Verbesserungen in Bezug auf Gesundheit und Er-
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
nährung. Eine Anhebung des Gesundheitsniveaus der Bevölkerung macht die Menschen nicht nur glücklicher, sondern auch zu produktiveren Arbeitskräften. Der Aufbau von Gesundheitszentren und die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser sind wesentliche Infrastrukturmaßnahmen. 2. Verbesserung der Schulbildung, Senkung des Analphabetentums, Berufsausbildung. Gut ausgebildete Menschen sind produktivere Arbeitskräfte, weil sie Kapital effektiver nutzen können, neue Technologien annehmen und aus ihren Fehlern lernen. Um die Kenntnisse in den Bereichen Wissenschaft, Technik, Medizin und Management zu verbessern, sollten die Länder ihre klügsten Köpfe ins Ausland schicken und so die neuesten Entwicklungen ins Land holen. Doch sie müssen sich auch vor der Gefahr hüten, dass die fähigsten Leute in Hochlohnländer abwandern. 3. Vor allem darf die Bedeutung der menschlichen Ressourcen nicht unterschätzt werden. Die meisten anderen Produktionsfaktoren kann man auf dem internationalen Markt kaufen. Der Faktor Arbeit muss zu Hause entwickelt werden, auch wenn er sich mitunter durch Einwanderung vermehren lässt. Die entscheidende Bedeutung ausgebildeter Arbeitskräfte hat sich immer wieder gezeigt, wenn die aus dem Ausland importierten komplizierten Maschinen, die für den Abbau von Bodenschätzen, in der Rüstung oder in der Produktion eingesetzt wurden, nicht mehr funktionstauglich waren, weil die heimischen Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern nicht das nötige Wissen zu ihrer Bedienung und Wartung hatten.
Natürliche Ressourcen Manche der armen Länder Afrikas und Asiens verfügen nur über unzureichende natürliche Ressourcen, und diese müssen unter den zahlreichen Bewohnern aufgeteilt werden. Die wahrscheinlich wertvollste natürliche Res-
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source der Entwicklungsländer ist Ackerboden. Ein großer Teil der Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern ist in der Landwirtschaft beschäftigt. Daher kann hier die produktive Nutzung des Bodens – mit den geeigneten Kultivierungs-, Dünge- und Anbaumethoden – viel zur Steigerung der Produktionsleistung eines armen Landes beitragen. Darüber hinaus kommt es durch die Vergabe des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens an private Bauern zu starken Investitionsanreizen in Kapital und Technologien, die eine Steigerung des Bodenertrags bewirken. Wenn Bauern eigenes Land besitzen, sind sie eher bereit, Verbesserungen vorzunehmen, also beispielsweise Bewässerungssysteme zu errichten und die erforderlichen Kultivierungsmaßnahmen zu ergreifen. Manche Wirtschaftswissenschaftler glauben, der Besitz von natürlichen Ressourcen wie Öl oder Erz sei kein reiner Segen. Länder wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Norwegen haben ihre Naturschätze als solide Grundlage für ihre industrielle Expansion genutzt. In anderen Ländern haben korrupte Führer und Militärcliquen den Reichtum geplündert oder hohe Pachten dafür bezogen. Ländern wie Nigeria und Kongo (das ehemalige Zaire), die über beträchtliche Bodenschätze verfügen, ist es nicht gelungen, ihr unterirdisches Vermögen in produktives menschliches oder Sachkapital zu verwandeln, weil korrupte Herrscher den Wohlstand auf ihre eigenen Konten und in ostentativen Konsum umleiteten.
Kapitalbildung Eine moderne Wirtschaft benötigt eine breite Palette an Kapitalgütern. Länder müssen auf sofortigen Konsum verzichten, um sozusagen auf Umwegen eine ertragreiche Produktion aufzubauen. Aber gerade darin besteht die Schwierigkeit, weil sich die ärmsten Länder immer nahe am Existenzminimum bewegen. Für die, die immer schon arm waren, erscheint eine Zurücknahme des laufenden zugunsten eines zukünftigen Konsums praktisch unmöglich.
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Dabei investieren jene Länder, die im Wachstumswettlauf die vordersten Ränge belegen, zumindest 20 Prozent ihrer Produktion in die Kapitalbildung. Im Gegensatz dazu sind die ärmsten Agrarstaaten häufig nur in der Lage, etwa 5 Prozent des Volkseinkommens beiseite zu legen. Dazu kommt, dass ein Großteil der ohnehin niedrigen Sparquote in die Versorgung der wachsenden Bevölkerung mit Wohnungen und einfachen Werkzeugen fließt. In dieser Situation bleibt für die Wirtschaftsentwicklung wenig übrig. Doch nehmen wir einmal an, ein Land hätte es geschafft, seine Sparquote zu erhöhen. Selbst dann dauert es noch viele Jahrzehnte, bis es die Autobahnen, Telekommunikationssysteme, Computer, Elektrizitätswerke und anderen Kapitalgüter angesammelt hat, die erst die Grundlage einer produktiven Volkswirtschaft bilden. Bevor noch die schnellsten und größten Computer angeschafft werden, müssen die Entwicklungsländer ihre Infrastruktur aufbauen, die aus Großprojekten besteht, von denen eine Marktwirtschaft abhängt. So helfen vor Ort eingesetzte Landwirtschaftsberater den Bauern einer Region, etwas über neue Anbaumöglichkeiten zu erfahren; ein Straßensystem verbindet die verschiedenen Märkte; ein staatliches Gesundheitsprogramm, das für eine Impfung der Menschen gegen Typhus oder Diphtherie sorgt, schützt nicht nur die Geimpften. Aus keiner dieser Maßnahmen können privatwirtschaftliche Unternehmen Nutzen ziehen, weil sie dazu von Tausenden oder Millionen von Begünstigten Gebühren einfordern müssten. Wegen der Unteilbarkeit und der enormen externen Effekte durch die Errichtung einer Infrastruktur muss hier der Staat einschreiten, der die nötigen Investitionen entweder selbst zu tätigen oder jedenfalls sicherzustellen hat. Das größte Problem in zahlreichen Entwicklungsländern ist die zu geringe Sparquote. Insbesondere in den ärmsten Regionen konkurriert der dringend benötigte tägliche Konsum mit ebenfalls nötigen Investitionen um
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die knappen Ressourcen. Dabei bleiben Investitionen in das für einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung unabdingbare Produktivkapital auf der Strecke. Auslandskredite und Krise der Schwellenländer Wenn es zu schwer fällt, einheimische Ersparnisse zur Kapitalbildung aufzutreiben, warum dann nicht im Ausland borgen? Die Wirtschaftstheorie lehrt uns, dass ein reiches Land, das seine eigenen ertragreichen Investitionsprojekte bereits erfolgreich durchgeführt hat, von Investitionen in ertragreiche Auslandsprojekte ebenso profitieren kann wie das Empfängerland. Die Kapitalströme in Entwicklungsländer sind in Abbildung 28-2 dargestellt. Das Schaubild zeigt, dass sowohl direkte als auch indirekte Investitionen in Entwicklungsländer während der letzten Jahre gestiegen sind – einer der Hauptindikatoren der Globalisierung der Finanzmärkte. So ertragreich das Verleihen von Geldern ins Ausland auch sein mag, es ist auch mit Risiken verbunden. Die Geschichte der Kredite der reichen an die armen Regionen zeigt einen Kreislauf von günstiger Gelegenheit, Kreditvergabe, Gewinnen, allzu rascher Expansion, Spekulation, Krise und Versiegen von Geldmitteln, gefolgt von einer neuen Runde von Kreditzusagen allzu blauäugiger Investoren. Kaum ist die eine Krise vergessen, folgt schon die nächste. Es lohnt sich, die Geschichte der Schwellenländer zu betrachten; eine Bezeichnung, die häufig für schnell wachsende Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, die ausländischen Investoren vielversprechend erscheinen, verwendet wird. In den neunziger Jahren schickten Investoren aus den wohlhabenden Ländern auf der Suche nach höheren Erträgen ihr Kapital ins Ausland. Arme Länder, die dringend Kapital benötigten, begrüßten diesen ausländischen Geldsegen. Während der neunziger Jahre wuchsen Darlehen und Kapitalbeteiligungen von Thailand bis Südafrika rasch an.
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Solange das Wachstum in den Schwellenländern anhielt, blieb alles ruhig, und die Erträge sprudelten verlässlich. Doch ein Rückgang des Wachstums in Verbindung mit einer Reihe von Bankkrisen führte zu einem beträchtlichen kurzfristigen Kapitalabfluss aus Thailand, Indonesien und Südkorea. Banken, die sich stark engagiert hatten, forderten ihre Darlehen zurück. Dies führte zu einem beträchtlichen Anstieg des Währungsangebots dieser Länder. Die meisten von ihnen wiesen feste Wechselkurse auf, und die Verkäufe erschöpften ihre Reserven an Auslandswährungen. Nacheinander wurden die Währungen der ostasiatischen Länder deutlich abgewertet. Viele dieser Länder wandten sich zwecks Aufnahme kurzfristiger Kredite an den Internationalen Währungsfonds, doch dieser forderte eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik. Im Verbund führten diese Faktoren zu gravierenden Rezessionen in ganz Südostasien. Die meisten dieser Länder hatten sich nach einer Anpassungsphase – langsames Wachstum der Produktion, Rückgang der Reallöhne, Umschuldung und Handelsüberschüsse – binnen drei Jahren von der Krise erholt. Die Welt hatte eine weitere Finanzkrise überstanden. Doch das internationale Finanzvirus schlummert nur und wartet darauf, die nächste Herde übermütiger Spekulanten zu infizieren.
Technischer Wandel und Innovationen Die letzte und wichtigste Antriebskraft ist der technische Fortschritt. In dieser Beziehung haben die Entwicklungsländer einen wesentlichen Vorteil: Sie können darauf hoffen, die technischen Entwicklungen der Industriestaaten für sich nutzen zu können. Die Nachahmung von Technologien. Arme Länder brauchen nicht erst moderne Newtons hervorzubringen, um das Gesetz der Schwerkraft neu zu entdecken; sie können es in einem Physiklehrbuch nachlesen. Sie müs-
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sen den mühsamen und gewundenen Pfad der industriellen Revolution nicht noch einmal beschreiten, sondern können Traktoren, Computer und elektrisch betriebene Webstühle kaufen, von denen die großen Kaufleute der Vergangenheit nicht einmal träumten. Die historische Entwicklung Japans und der USA zeigt dies ganz deutlich. Die Vereinigten Staaten geben dem Rest der Welt ein Beispiel der Hoffnung. Die wesentlichen Entwicklungen im Automobilbereich wurden fast alle im Ausland gemacht. Doch es waren Ford und General Motors, die ausländische Erfindungen erfolgreich anwandten und schon bald zu den Weltmarktführern in der Automobilindustrie aufstiegen. Japan begann erst spät, sich am industriellen Wettlauf zu beteiligen, und entsandte Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Studenten ins Ausland, um die westlichen Technologien zu studieren. Die japanische Regierung spielte damals eine aktive Rolle bei der Förderung der technischen Entwicklung sowie der Errichtung von Eisenbahnen und Versorgungsbetrieben. Durch Übernahme ausländischer Technologien erreichte Japan schließlich seine heutige Position als zweitgrößte Industrienation der Welt. Die Beispiele der Vereinigten Staaten und Japans zeigen, wie vorteilhaft sich die Anpassung ausländischer wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse auf die lokalen Marktbedingungen eines Landes auswirken kann. Unternehmertum und Innovation. Die Geschichte der Vereinigten Staaten und Japans lässt scheinbar darauf schließen, dass die Anpassung ausländischer Technologie ein einfaches Rezept für Entwicklung darstellt. Das Motto würde demnach lauten: „Gehe ins Ausland, kopiere effiziente Methoden, setze sie zu Hause ein, und lehne dich dann zurück und warte auf die Zusatzproduktion, die sich von allein ergibt.“ Leider gestaltet sich die Umsetzung des technischen Wandels nicht so einfach. Sie
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200
Mrd. US-$/Jahr
150
Direktinvestitionen Portfolio-Investitionen Gesamt
100
50
0
50 1973–1978
1979–1982
1983–1988
1989–1992
1993–1996
Jahr
Abbildung 28-2: Investitionen in Entwicklungsländern Die Investitionen in Entwicklungsländern sind rasch gestiegen. Dazu zählen sowohl Direktinvestitionen (der Kauf von Sachanlagen) als auch Kapitalanlagen (der Kauf von Aktien, festverzinslichen Wertpapieren und anderen Kreditinstrumenten). Diese Entwicklung stellt einen der Hauptindikatoren der „Globalisierung“ dar. Quelle: Council of Economic Advisers.
können ein Textbuch über technische Chemie in ein armes Land schicken, aber ohne ausgebildete Wissenschaftler, Techniker, Unternehmer und ausreichendes Kapital kann dieses Land nicht einmal daran denken, eine funktionierende Raffinerie zu errichten. Die fortschrittliche Technik wurde für die speziellen Bedingungen in entwickelten Ländern geschaffen – wo gut ausgebildete Ingenieure und Arbeiter, zuverlässige Elektrizität, schnell verfügbare Ersatzteile und Reparaturdienste bereitstehen. Diese Bedingungen gibt es in armen Ländern nicht. Die Förderung des Unternehmergeistes ist eine der wesentlichen Aufgaben wirtschaftlicher Entwicklung. Ein Land kann ohne eine Gruppe von Eigentümern oder Managern, die bereit sind, Risiken zu übernehmen, in neue Geschäfte einzusteigen, neue Techniken einzusetzen und neue Geschäftsmethoden zu importieren, nicht vorankommen. Eine wesentliche Voraussetzung für das Gedeihen von Erfindungen und Unternehmertum sind klare und umfassende Besitzrechte so-
wie niedrige und vorhersehbare Steuern und sonstige Abzüge von Gewinnen (beispielsweise aufgrund von Korruption). Die Regierung kann das Unternehmertum durch spezielle Investitionen fördern: Fortbildungsmaßnahmen für Landwirte, Fortbildungen für Arbeitskräfte und die Einrichtung von Managementschulen.
Den Teufelskreis durchbrechen Wir haben betont, dass sich arme Länder gewaltigen Hindernissen gegenübersehen, wenn es darum geht, die vier Antriebskräfte des Fortschritts – Arbeit, Kapital, Ressourcen und Innovation – zu kombinieren. Außerdem stellen einkommensschwache Länder fest, dass sich die auftretenden Schwierigkeiten in einem Teufelskreis der Armut gegenseitig verstärken. Abbildung 28-3 zeigt, wie eine Hürde ihrerseits wieder zu einer neuen Hürde führt. Niedrige Einkommen führen zu einer geringen Sparquote; eine geringe Sparquote hemmt die
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Geringe Ersparnisse und Investitionen
Niedrige Durchschnittseinkommen
Langsame Kapitalakkumulation
Geringe Produktivität
Abbildung 28-3: Der Teufelskreis der Armut Viele Entwicklungshemmnisse verstärken einander gegenseitig. Ein niedriges Einkommensniveau verhindert Ersparnisse, verlangsamt das Kapitalwachstum, behindert den Anstieg der Produktivität und hält die Einkommen niedrig. Für eine erfolgreiche Entwicklung kann es notwendig sein, den Teufelskreis an mehreren Stellen zu durchbrechen.
Kapitalbildung; ein unzureichender Kapitalstock verhindert die Einführung von neuen Maschinen und ein rasches Produktivitätswachstum; eine niedrige Produktivität bedeutet niedrige Einkommen. Auch andere Elemente der Armut verstärken einander wechselseitig. So treten im Gefolge der Armut zumeist auch ein niedriges Bildungsniveau, Analphabetentum und mangelnde berufliche Fertigkeiten auf. Dieser Umstand verhindert seinerseits die Übernahme neuer und verbesserter Technologien und führt andererseits zu einem rapiden Bevölkerungswachstum, das Verbesserungen der Wirtschaftsleistung und Nahrungsmittelproduktion schnell absorbiert. Die Überwindung der Armutsbarrieren erfordert häufig ein konzertiertes Handeln an vielen Fronten, und manche Entwicklungsforscher empfehlen einen „kräftigen Anstoß“ zur Überwindung des beschriebenen Teufelskreises. Hat ein Land Glück, können Simultanmaßnahmen in Richtung auf mehr Investitionen, den Ausbau des Gesundheits- und Bildungswesens, eine qualitativ bessere Berufsausbildung sowie die Eindämmung des Bevölkerungswachstums den Teufelskreis der Armut durchbrechen und einen
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wünschenswerten Kreislauf rascher wirtschaftlicher Entwicklung auslösen.
Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung Wir erkennen, dass ein Land eine Kombination aus Arbeit, Ressourcen, Kapital und Technologie einsetzen muss, um rasch zu wachsen. Doch das ist keine wirkliche Erfolgsformel, sondern gleicht dem guten Rat an einen olympischen Kurzstreckenläufer, er solle laufen wie der Wind. Warum gelingt es einigen Ländern, schneller zu laufen als andere? Wie können es arme Länder jemals schaffen, den Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung hin zu beschreiten? Historiker und Sozialwissenschaftler sind seit langem von dem unterschiedlich schnellen Wirtschaftswachstum der Staaten fasziniert. In einigen frühen Theorien wurde auf die unterschiedlichen klimatischen Einflüsse hingewiesen, wobei man konstatierte, dass alle reifen Volkswirtschaften in der gemäßigten Zone der Erde liegen. Andere betrachteten eher Bräuche, Kultur oder Religion als entwicklungsökonomisch entscheidende Faktoren. Max Weber hob die Bedeutung der „protestantischen Ethik“ als Triebkraft des Kapitalismus hervor. In jüngerer Zeit meldete sich Mancur Olson mit einem Beitrag zu Wort, dem zufolge der Abstieg eines Staates beginne, wenn seine Entscheidungsstrukturen allzu rigide werden und wenn Interessengruppen oder Oligarchien den nötigen sozialen und wirtschaftlichen Wandel verhindern. Zweifellos hat jede dieser Theorien für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Region ihre Gültigkeit, doch als universelle Erklärung wirtschaftlicher Entwicklungsvorgänge taugen sie kaum. Die Webersche Theorie erklärt beispielsweise nicht, warum die Wiege der Zivilisation im Nahen Osten und in Griechenland stand und warum damals die später dominanten Europäer noch in Höhlen lebten, Trolle verehrten und sich in Bärenfelle kleideten. Wo finden wir die protestantische Ethik im
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
lebhaften Hongkong? Wie können wir erklären, dass ein Land wie Japan, mit seiner wahrlich rigiden Sozialstruktur und den mächtigen Lobbys, zu einem der weltweit produktivsten Wirtschaftssysteme geworden ist? Selbst in unserem modernen Zeitalter haben die Menschen eine Vorliebe für einfache holistische Erklärungen der Wirtschaftsentwicklung. Vor zwei Jahrzehnten wurde die Importsubstitution (das Ersetzen von Importen durch einheimische Waren) als sicherste Entwicklungsstrategie betrachtet. In den siebziger Jahren glaubte man, eine Konzentration auf arbeitsintensive Produktionsmethoden sei vorteilhaft. Wie wir noch sehen werden, neigen die Wirtschaftswissenschaftler heutzutage zu der Empfehlung, sich auf die Marktkräfte zu stützen und dabei auch eine gewisse Außenorientierung walten zu lassen. Die Erfahrung sollte uns lehren, uns vor einfachen Lösungsansätzen für komplexe Prozesse zu hüten. Historiker und Entwicklungsökonomen haben jedoch viel aus dem Studium der unterschiedlichen Formen des Wirtschaftswachstums gelernt. Welche Lektionen sind dies? Die folgende Übersicht stellt wichtige Ideen zusammen, die während der letzten Jahre entwickelt wurden. Jeder Ansatz beschreibt, wie Länder sich dem Teufelskreis der Armut entziehen und die vier Antriebskräfte des wirtschaftlichen Fortschritts mobilisieren können.
Die Rückständigkeitshypothese Eine Theorie betont den internationalen Kontext wirtschaftlicher Entwicklung. Oben haben wir dargelegt, dass einkommensschwache Länder bedeutende Vorteile haben, welche die Pioniere der Industrialisierung nicht hatten. Die Entwicklungsländer können heute Kapital, Fertigkeiten und Technologien der weiter fortgeschrittenen Länder nutzen. Eine von Alexander Gerschenkron von der Universität Harvard aufgestellte These besagt, dass die relative Rückständigkeit selbst eine Art Entwicklungshilfe darstellen kann. Die betroffenen Länder können moderne Textilma-
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schinen, effiziente Pumpen, ertragreiches Saatgut, chemische Dünger und Medikamente kaufen. Da sie auf die Techniken fortgeschrittener Länder zurückgreifen können, haben die heutigen Entwicklungsländer die Möglichkeit, schneller zu wachsen als Großbritannien oder Westeuropa zwischen 1780 bis 1850. Die Länder mit niedrigen Einkommen profitieren von den produktiven Technologien der führenden Nationen, und wir können somit eine Konvergenz dieser Länder in Richtung technologische Grenze erwarten. Es kommt dann zu einer Konvergenz, wenn diese Länder oder Regionen mit anfänglich geringem Einkommen schneller wachsen als Länder mit hohem Einkommen.
Industrialisierung oder Landwirtschaft In den meisten Ländern sind die städtischen Einkommen beinahe doppelt so hoch wie die landwirtschaftlichen Einkommen. In reichen Ländern entfällt zusätzlich der Löwenanteil der Wirtschaft auf den industriellen sowie den Dienstleistungssektor. Daraus ziehen viele Länder den Schluss, dass die Industrialisierung der Grund und nicht die Folge des Reichtums sei. Mit derartigen Schlüssen sollte man jedoch vorsichtig sein, weil hier ein Nebeneinander zweier Aspekte mit einem Kausalzusammenhang verwechselt wird. Schließlich gilt auch: „Reiche Leute fahren einen BMW, aber wer am Steuer eines BMW sitzt, ist deshalb noch lange nicht reich.“ Und genauso lässt sich volkswirtschaftlich kaum argumentieren, dass ein armes Land unbedingt auf einer eigenen Fluglinie und einem großen Stahlwerk bestehen muss. Das sind keine unabdingbaren Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. Jahrzehntelange Versuche, die Industrialisierung auf Kosten der Landwirtschaft voranzutreiben, haben viele Entwicklungstheoretiker zu einer neuen Sicht der Landwirtschaft bewegt. Industrialisierung ist kapitalintensiv,
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
zieht Arbeitskräfte in die überfüllten Städte und führt häufig zu hoher Arbeitslosigkeit. Die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität ist dagegen weniger kapitalintensiv, sorgt aber für eine produktive Beschäftigung der ohnehin im Überfluss vorhandenen Arbeitskräfte. Gelänge es Bangladesch, die Produktivität seiner Landwirtschaft um 20 Prozent zu steigern, könnte dieser Fortschritt mehr dazu beitragen, Ressourcen für die Produktion von Konsumgütern freizusetzen, als ein Versuch zum Aufbau einer eigenen Stahlindustrie, um Importe zu ersetzen.
Staatliche Lenkung oder Marktwirtschaft Aufgrund ihrer Kultur stehen viele Entwicklungsländer der freien Marktwirtschaft skeptisch gegenüber. Oft stehen der Wettbewerb zwischen Unternehmen oder gewinnmaximierendes Verhalten im Gegensatz zu traditionellen Methoden, Religion oder den Interessen einiger Wenigen. Doch jahrzehntelange Erfahrungen deuten darauf hin, dass eine weitgehende Nutzung der Marktwirtschaft die beste Methode darstellt, eine Volkswirtschaft zu lenken und rasches Wirtschaftswachstum zu fördern. Welches sind die wichtigen Elemente einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Politik? Wesentlich sind das Vorherrschen von Privateigentum, eine Handelspolitik, die nach außen offen ist, niedrige Zölle und wenige quantitative Handelsbeschränkungen, die Förderung von Kleinunternehmertum und die Unterstützung des Wettbewerbs. Außerdem funktionieren Märkte am besten in einem stabilen wirtschaftlichen Umfeld – einem, in dem die Steuern vorhersehbar sind und die Inflation niedrig ist.
Wachstum und Orientierung nach außen Eine grundlegende Frage im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Entwicklungspro-
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zess bezieht sich auf die Haltung eines Landes zum internationalen Handel. Sollten sich die Entwicklungsländer um wirtschaftliche Autarkie bemühen, indem sie den Großteil aller Exporte durch heimische Produkte ersetzen? (Diese Strategie wird als Importsubstitution bezeichnet.) Oder sollte ein einkommensschwaches Land danach trachten, für die benötigten Importe mithilfe verbesserter Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit, der Entwicklung der Außenmärkte und niedriger Handelsschranken zu bezahlen? (Diese Strategie wird als außenwirtschaftliche Orientierung oder Offenheit bezeichnet.) Die Politik der Importsubstitution erfreute sich bis in die achtziger Jahre in Lateinamerika immer wieder einer gewissen Popularität. Die konkreten Maßnahmen, mit denen sie häufig verfolgt wurde, bestanden in der Errichtung hoher Zollbarrieren rund um heimische Produktionszweige, damit lokale Unternehmen Güter produzieren und verkaufen konnten, die man andernfalls hätte importieren müssen. Eine Politik der Offenheit hält Handelsschranken so niedrig wie möglich und verlässt sich hauptsächlich auf Zölle statt auf Quoten oder sonstige Barrieren. Sie greift so wenig wie möglich in Kapitalströme ein und lässt zu, dass auf den Finanzmärkten das Gesetz von Angebot und Nachfrage herrscht. Sie vermeidet ein staatliches Export- oder Importmonopol. Sie beschränkt staatliche Vorschriften auf das für eine ordentliche Marktwirtschaft notwendige Minimum. Sie verlässt sich vor allem auf ein privatwirtschaftliches Marktsystem, in dem Gewinne und Verluste die Produktion bestimmen, statt sich auf Verstaatlichungen, staatliche Kontrollen oder planwirtschaftliche Befehle zu stützen. Den Erfolg einer außenwirtschaftlichen Expansion belegen am besten die ostasiatischen Schwellenländer. Noch vor einer Generation erzielten Länder wie Taiwan, Südkorea und Singapur Pro-Kopf-Einkommen, die nur ein Viertel bis ein Drittel derjenigen der reichsten lateinamerikanischen Staaten
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ausmachten. Doch durch die Ersparnis eines hohen Prozentsatzes ihrer Volkseinkommen und durch die Lenkung dieser Mittel in ertragreiche Exportbranchen hatten die ostasiatischen Länder bis zum Ende der achtziger Jahre alle lateinamerikanischen Staaten überholt. Das Geheimnis ihres Erfolges war nicht eine doktrinäre Laissez-faire-Politik, denn in diesen Staaten gab es sehr wohl ein gewisses Maß an Wirtschaftsplanung und staatlichen Interventionen. Nein, die Offenheit und außenwirtschaftliche Orientierung ermöglichte es diesen Ländern, Skalenerträge und die Vorteile der internationalen Spezialisierung zu nutzen, was zu einer höheren Beschäftigungszahl, einer effektiven Nutzung der heimischen Ressourcen, einem raschen Produktivitätswachstum und zu beeindruckenden Zugewinnen beim Lebensstandard führte. Offenheit bietet zwar viele Vorteile, aber eine übertriebene Offenheit, insbesondere hinsichtlich kurzfristiger Finanzbewegungen, ist eine Einladung zu spekulativen Angriffen. Was Investoren geben, können sie auch wieder nehmen. Dieses Phänomen kann zu Finanz- und Bankenkrisen führen, wie sie die ostasiatischen Staaten vor nicht allzu langer Zeit erlebten. Eine vor wenigen Jahren von Jeffrey Sachs und Andrew Warner durchgeführte Untersuchung1 verdeutlicht die Vorteile der Offenheit. Die Autoren untersuchten die Beziehung zwischen Offenheit und Wirtschaftswachstum. Eine offene Wirtschaft wird als eine definiert, die durch niedrige Handelsschranken, offene Finanzmärkte und private Märkte gekennzeichnet ist. Eine geschlossene Wirtschaft ist eben das genaue Gegenteil. Sachs und Warner kommen zu dem Ergebnis, dass eine enge Beziehung zwischen Offenheit und raschem Wirtschaftswachstum besteht. Die grundlegenden Erkenntnisse ihrer Studie sind in Abbildung 28-4 veranschaulicht. Die linke Darstellung zeigt die Leistung von geschlossenen Volkswirtschaf1 Siehe die „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
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ten. Sie erzielten im Zeitraum von 1970–1989 ein durchschnittliches Wachstum des ProKopf-Einkommens von nur 0,9 Prozent pro Jahr. Es lässt sich keine Annäherung dieser Länder – viele mit niedrigem Einkommen – an diejenigen mit hohem Einkommen beobachten. Abbildung 28-4(b) zeigt das Wachstum in offenen Volkswirtschaften. Während des gleichen Zeitraums wuchsen sie im Durchschnitt um 4,5 Prozent jährlich; außerdem näherten sich die offenen armen Länder ganz offensichtlich den reicheren Ländern an. Wie wichtig eine offene Wirtschaft ist, verdeutlichen diese Trends auf hervorragende Weise.
Zusammenfassende Beurteilung Jahrzehntelange Erfahrungen in Dutzenden von Ländern haben viele Entwicklungstheoretiker zu der folgenden zusammenfassenden Ansicht darüber geführt, wie der Staat eine rasche Wirtschaftsentwicklung am besten fördern kann: Dem Staat kommt bei der Errichtung und Erhaltung eines fördernden wirtschaftlichen Umfelds eine bedeutende Rolle zu. Er muss für die Einhaltung von Gesetzen sorgen, vertragliche Vereinbarungen durchsetzen und seine Vorschriften im Sinne von Wettbewerb und Innovation erlassen. Der Staat spielt bei den Investitionen in das Humankapital durch das bei ihm angesiedelte Bildungs-, Gesundheits- und Transportwesen eine wichtige Rolle, aber er sollte dem privaten Sektor den Vortritt lassen, wenn er selbst keinen komparativen Vorteil hat. Eine Regierung sollte ihre Bemühungen auf jene Bereiche konzentrieren, in denen es klare Anzeichen für ein Marktversagen gibt, und sie sollte hinderliche Vorschriften für den privaten Sektor auf jenen Gebieten beseitigen, auf denen der Staat einen komparativen Nachteil hat.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
(b) Geringe Barrieren
8 Botswana
6 China
4
Tunesien Ungarn Brasilien
Sri Lanka
2
Mexiko
0
Israel Neuseeland
Äthiopien Argentinien
Angola
4
Venezuela
Iran
2
Nicaragua Madagaskar Mozambique
0
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BIP pro Kopf 1970 (in US-$ 1.000, zu Preisen von 1985)
Jährliches Pro-Kopf-Wachstum (Durchschnitt, 1970–1989)
Jährliches Pro-Kopf-Wachstum (Durchschnitt, 1970–1989)
(a) Hohe Barrieren
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8 Korea Taiwan Singapur
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Hongkong
Indonesien Malaysia
4
Jordanien
2
Japan Kanada Norwegen Italien Spanien USA Griechenland Deutschland Australien Frankreich Niederlande Schweiz
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0
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BIP pro Kopf 1970 (in US-$ 1.000, zu Preisen von 1985)
Abbildung 28-4: Offenheit und Wirtschaftswachstum, 1970–1989 Welche Auswirkung hat die Öffnung nach außen für das Wirtschaftswachstum? Schaubild (a) zeigt, dass Volkswirtschaften mit hohen Schranken langsam gewachsen sind und sich nicht zu einkommensstarken Ländern entwickelt haben. Schaubild (b) zeigt Volkswirtschaften mit niedrigen Barrieren – Marktwirtschaften, die Handels- und Kapitalströme nur wenig beschränken. Sie sind wesentlich schneller gewachsen, und es zeigt sich eine Konvergenz zu einkommensstarken Ländern. Quelle: Jeffrey Sachs und Andrew Warner, „Economic Reform and the Process of Global Integration“, in: Brookings Papers on Economic Activity, Nr. 1, 1995, S. 42–43.
B. Alternative Entwicklungsmodelle Die Menschen suchen ständig nach Methoden, um ihren Lebensstandard zu verbessern. Besonders für einkommensschwache Länder, die einen Weg zu dem Wohlstand suchen, den sie in ihrem Umfeld wahrnehmen, ist ein wirtschaftlicher Aufstieg erstrebenswert. Dieses Lehrbuch beschäftigt sich ausgiebig mit der gemischten Marktwirtschaft der Vereinigten Staaten, in der grundsätzlich freie Märkte und ein bedeutender Staatssektor zusammenwirken. Welche Alternativen gibt es noch?
Die diversen „Ismen“ Das eine Extrem ist der marktwirtschaftliche Absolutismus, der postuliert, dass es am besten sei, möglichst wenig vom Staat zu spüren. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Verfechter des Kommunismus, in dem der Staat eine kollektivistische Wirtschaftsordnung aufrecht erhält, für die es die erste Person Singular praktisch nicht gibt. Zwischen diesen beiden Extremen eines vollständigen Laissez-faire und eines doktrinären Kommunismus finden wir den gemischten Kapitalismus, die gelenkte Marktwirtschaft, den Sozialismus und viele Kombinationen aus diesen Modellen. Im vorliegenden Abschnitt wollen wir einige der einflussreicheren alternativen Strategien für Wachstum und Entwicklung kurz beschreiben:
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
1. Der asiatische Ansatz der gelenkten Marktwirtschaft. Südkorea, Taiwan, Singapur und andere ostasiatische Länder haben sich ihren eigenen Cocktail aus volkswirtschaftlichen Modellen gemixt, der eine starke staatliche Kontrolle mit ausgeprägten Marktkräften kombiniert. 2. Sozialismus. Das sozialistische Denken umfasst eine große Bandbreite unterschiedlicher Ansätze. Im Westeuropa der Nachkriegszeit bauten sozialistische Regierungen, die in einem demokratischen Rahmen agierten, den Wohlfahrtsstaat aus; sie verstaatlichten weite Bereiche der Wirtschaft und betrieben eine Art von Planwirtschaft. In letzter Zeit ist jedoch in diesen Ländern eine Entwicklung zurück in Richtung Freihandel mit extensiver Deregulierung und Privatisierungsmaßnahmen festzustellen. 3. Kommunismus nach Sowjetart. Viele Jahre hindurch stellte die Sowjetunion die eindeutigste Gegenposition zur Marktwirtschaft dar. Nach dem sowjetischen Modell besitzt der Staat den gesamten Grund und Boden sowie den Großteil des Produktionskapitals; er setzt die Löhne und den Großteil der Preise fest und dirigiert die mikroökonomischen Funktionen der Wirtschaft.
Das zentrale Dilemma: Marktwirtschaft oder Planwirtschaft Eine Übersicht über verschiedene Wirtschaftssysteme mag wie eine bunte Palette wirtschaftlicher „Ismen“ erscheinen. Staaten organisieren tatsächlich ihre Wirtschaft auf sehr unterschiedliche Weise. Mit den folgenden Fragen beschäftigen sich alle Debatten über alternative Wirtschaftssysteme: Sollten die wirtschaftlichen Entscheidungen hauptsächlich im privaten Sektor oder gemäß Regierungsbefehl gefällt werden? Sollten Privatbesitz und private Entscheidungen die Wirtschaft leiten, oder sollte die Regierung den Befehlsstand übernehmen?
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Am einen Ende des Spektrums findet sich die Marktwirtschaft. In einem Marktsystem agieren die Menschen auf freiwilliger Basis und in erster Linie zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil oder zu ihrer persönlichen Befriedigung. Die Unternehmen kaufen Produktionsfaktoren und produzieren Güter, wobei sie beide im Hinblick auf ihre Gewinnmaximierung wählen. Die Konsumenten stellen Produktionsfaktoren zur Verfügung und kaufen Verbrauchsgüter, um ihre Bedürfnisse möglichst gut zu befriedigen. Abkommen über Produktion und Konsum werden auf freiwilliger Basis und unter Zuhilfenahme von Geld auf der Grundlage von Arrangements zwischen Käufern und Verkäufern getroffen, zu Preisen, die auf freien Märkten gebildet werden. Obwohl sich die einzelnen Wirtschaftssubjekte hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft stark voneinander unterscheiden, sind die Beziehungen zwischen ihnen ihrer Natur nach horizontal, essenziell freiwillig und nicht hierarchisch. Am anderen Ende des Spektrums steht die Befehls- oder Zentralverwaltungswirtschaft, in der Entscheidungen von der staatlichen Bürokratie getroffen werden. Nach diesem Modell sind die Wirtschaftssubjekte durch vertikale Beziehungen untereinander verbunden, und die Kontrolle wird von einer vielschichtigen Hierarchie ausgeübt. Die Planungsbürokratie bestimmt, welche Güter produziert werden, wie die Güter produziert werden und für wen die Wirtschaftsleistung erbracht wird. Die wichtigsten Entscheidungen werden auf höchster Ebene dieser Pyramide getroffen, und hier werden auch die Bausteine des wirtschaftlichen Plans entwickelt. Der Plan wird danach in seine Komponenten zerlegt und von oben nach unten übermittelt, wobei die unteren Etagen der Hierarchie den Plan mit zunehmender Detailgenauigkeit ausführen. Der Einzelne wird durch Zwang und rechtliche Sanktionen motiviert; die Organisationen zwingen ihn, Anweisungen von oben entgegenzunehmen. Transaktionen können mit oder ohne Geld
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
getätigt werden. Die Preise können staatlich festgelegt sein oder auch nicht. Zwischen diesen beiden Extrempositionen liegen die sozialistische und die gelenkte Marktwirtschaft. In beiden Fällen spielt der Staat eine wichtige Rolle bei der Führung und Lenkung der Wirtschaft, allerdings deutlich weniger als in der Befehlswirtschaft. Die Spannung zwischen marktwirtschaftlicher und staatlicher Lenkung zieht sich durch alle Diskussionen über die verschiedenen Wirtschaftssysteme. Aber betrachten wir einige der Alternativen zur gemischten Marktwirtschaft ein wenig genauer.
Die asiatischen Modelle Tigerstaaten und Nachzügler Die Ostasienkrise hat während der letzten Jahre laufend Schlagzeilen gemacht, aber die wirklich beeindruckende Nachricht aus dieser Region ist das ostasiatische Wirtschaftswunder, das während der letzten 50 Jahre in Südkorea, Singapur, Hongkong und Taiwan stattfand. Tabelle 28-2 vergleicht die Leistung der „asiatischen Tigerstaaten“ mit derjenigen der „lateinamerikanischen Nachzügler“ sowie der stagnierenden Volkswirtschaften in Afrika südlich der Sahara. Trotz der Krise Ende der neunziger Jahre ist der Wachstumserfolg der ostasiatischen Länder beträchtlich. Eine in den neunziger Jahren durchgeführte Studie der Weltbank untersuchte die wirtschaftlichen Maßnahmen in verschiedenen Regionen, um mögliche Muster aufzudecken.2 Die Ergebnisse bestätigen zwar die herrschende Auffassung, warten aber auch mit ein paar Überraschungen auf. Die wichtigsten Erkenntnisse sind: • Investitionsraten. Die asiatischen Tigerstaaten folgten dem klassischen Rezept hoher Investitionsraten, um sicherzustellen, dass 2 Siehe die Weltbank-Studie über das Wirtschaftswunder in Ostasien im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
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ihre Wirtschaft von dem neusten Stand der Technik profitiert, und es ist ihnen gelungen, die erforderliche Infrastruktur aufzubauen. Wie Tabelle 28-2 zeigt, lagen die Investitionsraten der asiatischen Tigerstaaten um fast 20 Prozentpunkte höher als jene anderer Regionen. • Makroökonomische Grundlagen. Wirtschaftlich erfolgreiche Länder betrieben eine bewusste Wirtschaftspolitik, hielten die Inflationsrate niedrig und die Sparquote hoch. Sie investierten in hohem Maß in menschliches und Sachkapital und förderten Bildung und Ausbildung stärker als alle anderen Entwicklungsregionen. Ihre Finanzsysteme zielten auf Währungsstabilität und eine harte Währung ab. • Außenwirtschaftliche Orientierung. Die asiatischen Tigerstaaten waren stark außenwirtschaftlich orientiert und setzten ihren Wechselkurs zur Förderung der Exporte eher zu niedrig an; außerdem förderten sie die Exporte durch fiskalische Anreize und strebten technologische Fortschritte an, indem sie die bestmöglichen Techniken der einkommensstarken Länder übernahmen. Die Krise der späten neunziger Jahre deckte gewisse Mängel in den Entwicklungsstrategien einiger dieser Länder auf – was uns an J.K. Galbraiths Bemerkung erinnerte, wonach eine Depression enthülle, was die Wirtschaftsprüfer übersehen hätten. Die Strategie des „gelenkten“ Kapitalismus mit ihren Subventionen und direkten Darlehen öffnet der Korruption Tür und Tor und wird daher mitunter als „Vetternwirtschaft“ bezeichnet. Dies kann zu überhöhten Investitionen in bevorzugten Bereichen und geringen Kapitalerträgen führen. Dieses Syndrom trat vor allem in Indonesien und Südkorea auf, während es anderen Ländern, beispielsweise Singapur, gelang, die mit zügelloser Korruption verbundene Fehlallokation von Mitteln zu vermeiden.
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Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Regionen
Durchschnittl. Wachstum des BIP pro Kopf, 1965–1998
Investitionen in Prozent des BIP, 1990
Ostasien und Pazifik
5,7
35
Südasien
2,7
19
Lateinamerika und Karibik
1,3
17
Afrika südlich der Sahara
–20,3
9
Tabelle 28-2: Die Konzentration auf das Wesentliche förderte das Wachstum der Tigerstaaten Quelle: Weltbank, The East Asia Miracle: Economic Growth and Government Policies (1993) sowie World Development Indicators (2000).
Die Gefahren der Korruption Was ist Korruption und warum ist sie so lähmend? Die folgende Darlegung des Spezialisten für wirtschaftliche Entwicklung, Robert Klitgaard, erklärt, wie Korruption die Wirtschaft beeinflusst: Ganz allgemein gesprochen ist Korruption der Missbrauch offizieller Positionen für inoffizielle Ziele. Zur Korruption gehören Bestechung, Erpressung, der Verkauf von Begünstigungen, Vetternwirtschaft, Betrug, Schmiergeld, Unterschlagung und Ähnliches. Obgleich wir bei Korruption meistens an die Sünden von Behörden und Regierungen denken, gibt es sie natürlich auch im privaten Bereich. Tatsächlich ist der private Sektor in den überwiegenden Teil der Regierungskorruption verwickelt. Die verschiedenen Arten der Korruption unterscheiden sich nach dem Grad des Schadens, den sie anrichten. Korruption, die die Spielregeln unterläuft – beispielsweise das Justizwesen, die Besitzrechte oder das Bank- und Kreditwesen –, zerstört die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Eine Korruption, die es Umweltverschmutzern erlaubt, Flüsse zu verseuchen, oder Krankenhäusern, ihre Patienten zu erpressen, erweist sich als umwelt- und gesellschaftszersetzend. Im Vergleich dazu sind einige Schmiergelder für öffentliche Dienstleistungen und eine milde Korruption zur Finanzierung von Wahlkämpfen weniger schädlich. Natürlich zählt auch das gesamte Ausmaß der Korruption. Die meisten Systeme ertragen ein gewisses Maß an Korruption, und manch schreckliches System wird dadurch möglicherweise sogar verbessert. Doch
wenn Korruption alltäglich wird, dann lähmt sie. Es gibt in jedem Land Korruption, aber Art und Ausmaß sind verschieden. Wirklich tödlich ist eine systematische Korruption, die die Spielregeln völlig zerstört. Sie ist einer der Hauptgründe, warum die meisten unterentwickelten Länder der Erde es auch bleiben werden.3
Der Kampf gegen Korruption ist besonders schwierig, weil der Staat, der das ausführende Organ der Justiz sein sollte, oft selbst korrupt ist.
Der chinesische Riese: Sozialistische Marktwirtschaft 3 Eine der größten Überraschungen, was die wirtschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts betraf, war das rasche Wachstum der chinesischen Wirtschaft. Nach der Revolution im Jahre 1949 übernahm China ursprünglich die zentrale Planwirtschaft sowjetischen Typs. Ihren Höhepunkt erreichte die Zentralisierung mit der Kulturrevolution der Jahre 1966–1969, die zu einer Verzögerung der Wirtschaftsentwicklung Chinas führte. Nach dem Tod von Revolutionsführer Mao Tse Tung kam eine neue Generation zu dem Schluss, dass Wirtschaftsreformen für das Überleben der kommunistischen Partei unverzichtbar seien. Unter Deng Xiaoping (1977–1997) wurde in China ein großer Teil 3 Siehe die Hinweise unter „Websites“ im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
der Wirtschaftsmacht dezentralisiert und Wettbewerb erlaubt. Die Wirtschaftsreform wurde jedoch von keiner politischen Reform begleitet. Die chinesische Demokratiebewegung wurde 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking rücksichtslos niedergeschlagen, und die kommunistische Partei monopolisiert auch weiterhin den politischen Prozess. Um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, unternahm die chinesische Führung drastische Schritte, wie die Einrichtung so genannter „Sonderwirtschaftszonen“ und die Zulassung nichtkommunistischer Eigentumsverhältnisse. Am schnellsten wuchsen dabei die Küstenregionen, etwa die südchinesische Region rund um Hongkong. Dieses Gebiet ist heute wirtschaftlich eng mit anderen Ländern außerhalb Chinas verflochten und konnte beträchtliche ausländische Investitionen anziehen. Zusätzlich ließ China Kollektive, Privatbetriebe und ausländische Unternehmen ohne jede zentrale Planung oder Kontrolle zu, die Seite an Seite mit staatlichen Firmen agieren. Diese innovativeren Eigentumsformen nahmen rapide zu und erwirtschafteten Ende der neunziger Jahre bereits mehr als 50 Prozent des chinesischen BIP. Die starke Leistung der chinesischen Wirtschaft überraschte Beobachter beinahe ebenso sehr wie der Zusammenbruch der Sowjetwirtschaft. Laut Angaben der Weltbank erzielte China im Zeitraum von 1977–2001 ein reales BIP-Wachstum von durchschnittlich 9 Prozent pro Jahr. Die Exporte wuchsen im gleichen Zeitraum um über 16 Prozent. Der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Arbeitskräfte an der Gesamtbeschäftigtenzahl sank von 30 Prozent im Jahre 1977 auf 18 Prozent im Jahre 2000. Im Jahre 2003 hatten Chinas Exporte einen Wert von US-$ 550 Milliarden erreicht und das Land US-$ 300 Milliarden an Devisenreserven angehäuft. Dieser bemerkenswerte wirtschaftliche Fortschritt wurde erzielt, während gleichzeitig politische Reformen und Freiheiten stark eingeschränkt wurden. Viele Länder beobachten China sorgfältig, um zu sehen, ob das
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Land sein rapides Wirtschaftswachstum fortsetzen kann.
Sozialismus Der Sozialismus als Doktrin hat sich aus den Ideen von Marx und anderen radikalen Denkern des 19. Jahrhunderts heraus entwickelt. Er bezieht eine Mittelposition zwischen dem Laissez-faire-Kapitalismus und dem planwirtschaftlichen Modell, das wir im nächsten Unterabschnitt behandeln werden. Es gibt einige Elemente, die den meisten sozialistischen Philosophien gemein sind: • Staatliches Eigentum an Produktionsmitteln. Die Sozialisten glauben seit jeher, dass die Rolle des Privateigentums beschnitten werden müsse. Wichtige Industriezweige wie Eisenbahn- und Bankwesen sollten demnach verstaatlicht werden (also in den Besitz des Staates gebracht und von diesem betrieben werden). In den letzten Jahren allerdings ebbte die Begeisterung für Verstaatlichungen wegen des schlechten Abschneidens vieler verstaatlichter Betriebe in den meisten reifen Demokratien ab. • Planung. Sozialisten hegen ein tiefes Misstrauen gegen das „Chaos“ des Marktes und stellen die Allokationseffizienz der unsichtbaren Hand in Frage. Sie behaupten, ein Planungsmechanismus sei nötig, um die verschiedenen Sektoren zu koordinieren. In letzter Zeit konzentrieren sich Wirtschaftsplaner insbesondere auf staatliche Subventionen zur Förderung einer raschen Entwicklung von High-TechBranchen wie der Mikroelektronik, der Flugzeugproduktion und der Biotechnologie; derartige Ansätze begegnen uns häufig unter der Bezeichnung „Industriepolitik“. • Einkommensumverteilung. Ererbte Vermögen und Spitzeneinkommen sollen durch eine rigide Anwendung staatlicher Steuermacht beschnitten werden; in manchen westeuropäischen Staaten konnte man
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Grenzsteuersätze von bis zu 98 Prozent beobachten. Sozialleistungen, freie medizinische Betreuung und ein Sozialstaat, der den Bürger von der Wiege bis zur Bahre begleitet – Dienstleistungen, die kollektiv aus den progressiven Steuern bestritten werden –, erhöhen den Wohlstand der weniger Privilegierten und garantieren jedem einen Mindestlebensstandard. • Friedliche, demokratische Evolution. Sozialisten sprechen sich häufig für die friedliche und stufenweise Ausweitung des Staatseigentums aus – eine Evolution, die über die Wahlurne, nicht über kriegerische Revolutionen stattfinden soll. In den letzten Jahrzehnten verlor der Sozialismus durch den Zusammenbruch des Kommunismus, der Stagnation in Europa und den Erfolg der Marktwirtschaft an Ansehen. Nachdenkliche Sozialisten durchwühlen die Trümmer, um eine zukünftige Rolle für diese Art wirtschaftlichen Denkens zu finden.
Das gescheiterte Modell: Der sowjetische Kommunismus Jahrelang betrachteten Entwicklungsländer die Sowjetunion und andere kommunistische Staaten als Vorbild für ihre eigene Industrialisierung. Der Kommunismus bot ihnen sowohl eine zufriedenstellende theoretische Kapitalismuskritik als auch eine scheinbar funktionierende Strategie wirtschaftlicher Entwicklung. Wir beginnen mit der Betrachtung der theoretischen Grundlage des Marxismus und Kommunismus und untersuchen dann, wie die Befehlswirtschaft sowjetischer Prägung in der Praxis funktionierte. Anschließend wollen wir uns noch mit den Problemen beschäftigen, mit denen die ehemals kommunistischen Staaten heute im Übergang hin zu einer marktorientierten Wirtschaft zu kämpfen haben.
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Karl Marx: Ein Ökonom als Revolutionär Oberflächlich betrachtet war das Leben von Karl Marx (1818–1883) ereignislos; im British Museum las er Unmengen von Büchern, schrieb Zeitungsartikel und arbeitete an seinen wissenschaftlichen Untersuchungen des Kapitalismus. Obwohl er sich anfangs von deutschen Universitäten angezogen fühlte, führten ihn sein Atheismus, seine Begeisterung für den Konstitutionalismus sowie seine radikalen Ideen zum Journalismus. Er lebte schließlich im Exil in Paris und London, wo er seine massive Kritik des Kapitalismus verfasste, Das Kapital (1867, 1885, 1894). Das Kernstück der Arbeit von Marx ist eine scharfsinnige Untersuchung der Stärken und Schwächen des Kapitalismus. Marx behauptete, der Wert jeder Ware werde durch ihren Arbeitsgehalt bestimmt – sowohl durch den direkten Arbeitsanteil als auch durch den indirekten, der in den Kapitalgütern steckt. Der Wert eines Hemdes beruht beispielsweise auf den Mühen der Textilarbeiter, die es gefertigt haben, sowie den Anstrengungen der Arbeiter, welche die Webstühle herstellten. Indem er den ganzen Wert der Produktion dem Faktor Arbeit zuschrieb, versuchte Marx zu zeigen, dass Gewinne – der Teil der Produktion, der von Arbeitern hergestellt wird, den aber die Kapitalisten bekommen – als „unverdientes Einkommen“ zu betrachten sind. Nach Ansicht von Marx rechtfertigt die Ungerechtigkeit, dass Kapitalisten nicht verdientes Einkommen erhalten, die Übertragung des Besitzes von Fabriken und anderen Produktionsmitteln von den Kapitalisten auf die Arbeiter. Er verkündete seine Botschaft im Kommunistischen Manifest (1848): „Die herrschenden Klassen sollen vor der kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ Über ein Jahrhundert lang zitterten die herrschenden kapitalistischen Klassen tatsächlich vor dem Marxismus! Wie viele große Wirtschaftswissenschaftler, aber leidenschaftlicher als die meisten von ihnen, war Marx zutiefst bewegt von dem Kampf der arbeitenden Klasse und hoffte, ihr Leben verbessern zu
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
können. Er schrieb die Worte, die nun auf seinem Grabmal stehen: „Bisher haben die Philosophen die Welt nur auf unterschiedliche Weise interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern!“ Unser Epitaph für Marx ist ein Echo des Urteils des angesehenen intellektuellen Historikers Sir Isaiah Berlin: „Kein Denker des 19. Jahrhunderts hatte einen so direkten, bewussten und entscheidenden Einfluss auf die Menschheit wie Karl Marx.“
Böse Prophezeiungen Marx war der festen Überzeugung, der Kapitalismus müsse unweigerlich in einen Sozialismus münden. In seiner Welt ermöglicht es der technologische Fortschritt den Kapitalisten, Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen, um noch höhere Gewinne zu erzielen. Doch diese zunehmende Kapitalbildung führt zu zwei gegensätzlichen Konsequenzen. Mit zunehmendem Kapitalangebot sinkt die Gewinnquote aus diesem Kapital. Zugleich steigt wegen der geringeren Zahl an Arbeitsplätzen die Arbeitslosigkeit, und die Löhne sinken. In der marxistischen Terminologie wird demnach das „Reserveheer der Arbeitslosen“ wachsen und die Arbeiterklasse zunehmend „verelenden“ – womit Marx meinte, dass sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern und Arbeiter ihrer Arbeit immer mehr entfremdet würden. Mit sinkenden Gewinnen und Erschöpfung der Investitionsmöglichkeiten im Inland wird die herrschende kapitalistische Klasse Zuflucht zum Imperialismus nehmen. Das Kapital strebt nach höheren Gewinnquoten im Ausland. Nach dieser Theorie (vor allem in ihrer späteren Erweiterung durch Lenin) versucht die Außenpolitik imperialistischer Staaten zunehmend, Kolonien zu gewinnen und anschließend gnadenlos den gewünschten Mehrwert aus ihnen herauszupressen. Marx glaubte, das kapitalistische System könne dieses einseitige Wachstum nicht ewig durchhalten. Er sagte deshalb eine zunehmende Ungleichheit innerhalb des Kapitalismus
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und das langsame Entstehen eines Klassenbewusstseins unter dem ausgebeuteten Proletariat voraus. Die konjunkturellen Schwankungen nähmen zu, da die Massenarmut einen zu geringen gesamtwirtschaftlichen Konsum bewirken würde. Schließlich werde, so meinte Marx, eine katastrophale Depression den Tod des Kapitalismus einläuten. Wie schon zuvor der Feudalismus trage der Kapitalismus die Saat des eigenen Untergangs in sich. Die wirtschaftliche Geschichtsinterpretation ist einer der bleibenden Beiträge marxistischer Philosophie zum westlichen Gedankengut. Marx meinte, unsere Werte würden von wirtschaftlichen Interessen geformt und bestimmt. Warum wählen Manager konservative Kandidaten, während Arbeiterführer jene Politiker unterstützen, die sich für eine Anhebung der Mindestlöhne oder eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes aussprechen? Der Grund ist laut Marx darin zu suchen, dass die Ansichten und Ideologien der Menschen die materiellen Interessen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Klasse widerspiegeln. Damit ist Marx gar nicht weit von der herrschenden volkswirtschaftlichen Lehrmeinung entfernt. Er verallgemeinert letztlich Adam Smiths Analyse des eigennützigen Handelns, das dieser auf die Kaufentscheidungen am Markt bezog, auf politische Abstimmungen bis hin zur Abstimmung mit dem Gewehr auf den Barrikaden.
Vom Lehrbuch zur Taktik: Die Befehlswirtschaft sowjetischer Prägung Marx beschrieb zwar ausführlich die Mängel des Kapitalismus, doch er hinterließ keinen Entwurf für sein sozialistisches Paradies. Aus seiner Argumentation lässt sich ableiten, dass der Kommunismus in den am weitesten entwickelten Industrienationen entstehen müsse. Stattdessen war es das rückständige, feudale Russland, das die marxistische Vision übernahm. Untersuchen wir kurz dieses faszinierende und erschreckende Kapitel der Wirtschaftsgeschichte.
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Historische Wurzeln. Eine Analyse des Kommunismus sowjetischer Prägung ist volkswirtschaftlich gesehen von größter Bedeutung, weil die Sowjetunion als Labor für Theorien über das Funktionieren einer Befehlswirtschaft dienen kann. Manche Ökonomen behaupteten, der Sozialismus könne überhaupt nicht funktionieren; das sowjetische Experiment strafte sie Lügen. Seine Befürworter behaupteten, der Kommunismus werde den Kapitalismus überflügeln; die Geschichte der Sowjetunion hat auch diese These widerlegt. Zwar wuchs das zaristische Russland rasch zwischen 1880 und 1914, doch das Land war sehr viel weniger entwickelt als die damaligen Industrienationen USA oder Großbritannien. Der Erste Weltkrieg war für Russland überaus hart, und er ermöglichte den Kommunisten die Machtübernahme. Zwischen 1917 und 1933 experimentierte die Sowjetunion mit verschiedenen sozialistischen Modellen, bevor man sich für die zentrale Planungswirtschaft entschied. Doch die Unzufriedenheit mit der Geschwindigkeit, in der sich die Industrialisierung vollzog, ließ Stalin etwa um 1928 ein radikal neues Unterfangen beginnen – er kollektivierte die Landwirtschaft, zwang das Land in die Industrialisierung und führte die Planwirtschaft ein.4 Im Verlauf der Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft zwischen 1929 und 1935 wurden 94 Prozent der sowjetischen Bauern gezwungen, Kolchosen und Sowchosen beizutreten. Dabei wurden viele reiche Bauern deportiert, und die Bedingungen verschlechterten sich derart, dass Millionen starben. Das andere Element des sowjetischen „großen Sprungs nach vorn“ war die Einführung der Wirtschaftsplanung zur Erzielung einer raschen Industrialisierung. Die Wirtschaftsplaner erstellten einen ersten Fünfjahresplan für die Periode 1928–1933. Dieser erste Plan legte die Prioritäten der sowje4 Siehe die im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel aufgeführten Untersuchungen zur Geschichte der sowjetischen Wirtschaft.
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tischen Planung fest. Dabei wurde der Schwerindustrie der Vorzug vor der Leichtindustrie gegeben, und Verbrauchsgüter sollten erst dann berücksichtigt werden, wenn alle anderen Prioritäten erfüllt waren. Obwohl es zahlreiche Reformen und Änderungen in der Schwerpunktsetzung gab, kam das stalinistische Modell einer Befehlswirtschaft in der Sowjetunion und nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Niedergang des Sowjetkommunismus Ende der achtziger Jahre sogar in ganz Osteuropa zur Anwendung. Wie die Befehlswirtschaft funktionierte. In der Befehlswirtschaft sowjetischer Prägung wurden die übergeordneten Produktionsziele durch politische Entscheidungen festgelegt. In der Sowjetunion wurde immer ein großer Teil der Produktion und der wissenschaftlichen Ressourcen für militärische Zwecke genutzt, während Investitionen die zweite große Priorität waren. Auf den Konsum entfiel lediglich der Rest der Produktion, nachdem die Planziele der Sektoren mit höherer Priorität erfüllt waren. Entscheidungen darüber, wie Güter produziert werden sollten, wurden weitgehend von den Planungsbehörden getroffen. Die Planer entschieden zuerst über die Mengen des gewünschten Endproduktes (das Was). Anschließend arbeiteten sie sich rückwärts von der Produktion zu den erforderlichen Produktionsfaktoren und zu den Transaktionen zwischen den verschiedenen Firmen durch. Investitionsentscheidungen wurden bis ins letzte Detail von den Planern getroffen, während den Betrieben größtmögliche Freiheit bei der Zusammensetzung des Arbeitsinputs gewährt wurde. Natürlich konnte kein Planungssystem alle Aktivitäten für alle Firmen festlegen – das hätte jedes Jahr Billionen von Befehlen erfordert. Viele Details blieben den Leitern der einzelnen Betriebe überlassen. Aufgrund des Principal-Agent-Problems entstanden die größten Schwierigkeiten innerhalb der Befehlswirtschaft.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Das Principal-Agent-Problem tritt auf, weil die Person an der Spitze der Hierarchie (der Auftraggeber, „Principal“) angemessene Anreize für die Menschen, die weiter unten in der Hierarchie die Entscheidungen treffen (die „Ausführenden“, „Agents“) schaffen wollte, damit sie sich seinen Wünschen entsprechend verhalten. In einer Marktwirtschaft dienen Gewinne und Preise als Koordinierungsmechanismus zwischen Produzenten und Konsumenten. Eine Befehlswirtschaft leidet unter ihrer Unfähigkeit, einen effizienten Ersatz für Gewinne und Preise als Motivation für die Ausführenden zu finden. Ein schönes Beispiel für das Unvermögen, das Principal-Agent-Problem zu lösen, stellte die Veröffentlichung von Büchern in der Sowjetunion dar. In einer Marktwirtschaft werden kommerzielle Entscheidungen über Bücher hauptsächlich aufgrund von Gewinn- und Verlustüberlegungen getroffen. Da in der Sowjetunion Gewinne tabu waren, setzten die Planer stattdessen quantitative Ziele. Der erste Ansatz bestand darin, die Firmen gemäß der Anzahl produzierter Bücher zu belohnen, woraufhin die Verlage Tausende dünner, ungelesener Bände druckten. Angesichts dieses offensichtlichen Problems änderte die Zentrale (der Principal) den Anreiz und belohnte nun die Verleger (Agents) auf der Basis der gedruckten Seiten; daraufhin liefen viele dicke Bücher mit hauchdünnem Papier und großer Schrift vom Band. Nun legten die Planer die Anzahl der Wörter als neues Kriterium fest – was die Verleger zum Druck gewaltiger Schinken mit winziger Schriftgröße animierte. Keiner der Mechanismen war in der Lage, den Produzenten die Wünsche der Konsumenten effektiv zu vermitteln. Das Principal-Agent-Problem tritt in Organisationen aller Länder auf, aber die sowjetische Planwirtschaft verfügte nur über wenige Mechanismen (nach Art von Pleiten in der Marktwirtschaft oder Wahlen zur Entscheidung über öffentliche Güter), um Verschwendung kontrollieren zu können.
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Wirtschaftlicher Leistungsvergleich. Ab dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der achtziger Jahre begaben sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in einen Wettkampf der Supermächte um die öffentliche Meinung, militärischer Überlegenheit und wirtschaftlicher Dominanz. Wie gut schnitt die Befehlswirtschaft im wirtschaftlichen Wachstumswettbewerb ab? Die Beantwortung dieser Frage ist angesichts des Fehlens verlässlicher statistischer Daten unmöglich. Der Großteil der Ökonomen meinte bis vor kurzem, die Sowjetunion habe zwischen 1928 und der Mitte der sechziger Jahre ein rapides Wirtschaftswachstum verzeichnet, wobei die Wachstumsraten jene in Nordamerika und Westeuropa sogar übertroffen haben könnten. Ab Mitte der sechziger Jahre stagnierte das Wachstum jedoch, und die reale Produktionsleistung sank sogar. Zuverlässige Schätzungen des heutigen Lebensstandards sind sicher nicht möglich, aber das Pro-Kopf-Einkommen in Russland lag zu Beginn der neunziger Jahre offenbar bei weniger als einem Viertel des US-amerikanischen Werts. Ein aufschlussreicher Vergleich der Leistungen von Markt- und Befehlswirtschaft lässt sich durch die Gegenüberstellung der Erfahrungen in Ost- und Westdeutschland anstellen. Die beiden Länder hatten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Bezug auf Produktivität und Industriestruktur eine ganz ähnliche Ausgangsposition. Nach vier Jahrzehnten Kapitalismus in Westdeutschland und Sozialismus sowjetischer Prägung in Ostdeutschland war die ostdeutsche Produktivität auf schätzungsweise ein Viertel bis ein Drittel der westdeutschen gesunken. Dazu kommt, dass in Ostdeutschland hauptsächlich die Produktion von Halbfertigwaren und anderen Gütern vorangetrieben wurde, die für die Konsumenten nur geringen Wert hatten. Ziel war dabei stets die Quantität, nicht die Qualität. Wie steht es schließlich um die Geißeln des Kapitalismus – Arbeitslosigkeit und Inflation? Im sowjetischen Wirtschaftsmodell war die Arbeitslosigkeit immer sehr gering,
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
weil Arbeit infolge der ehrgeizigen Wirtschaftspläne fast immer knapp war. Die staatlich kontrollierten Preise verhielten sich auch ziemlich stabil, sodass keine messbare Inflation auftrat. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre brach jedoch eine offene Inflation aus. Außerdem lag das Preisniveau weit unter Markträumungsniveau, und in der sogenannten angestauten Inflation kam es zu einer akuten Knappheit. Die Bilanz. Lässt sich heute eine endgültige Bilanz der sowjetischen Planwirtschaft ziehen? Das sowjetische Modell hat gezeigt, dass eine Befehlswirtschaft funktionieren kann – sie ist in der Lage, Kapital und Arbeit zu mobilisieren und sowohl Gewehre als auch Butter herzustellen. Aber die Sowjetwirtschaft, mit ihren für Handel, Technologie und Menschen verschlossenen Grenzen, überlebte sich schließlich selbst. Da es keine entsprechenden Anreize gab, wurden keine Erfindungen gemacht. Im Wettbewerb mit den offenen Marktwirtschaften konnte Russland, vor allem nachdem sich die Welt zunehmend qualitativ hochwertigen Waren und Dienstleistungen zuwandte, nur noch Rohmaterialien exportieren. Im Endstadium der zentralen Planwirtschaft verlangsamte sich das Wachstum, und das Pro-Kopf-Einkommen sank. Als sie feststellen mussten, dass es moralisch, politisch und wirtschaftlich bankrott war, gaben die Führer das sowjetische zentrale Planungswesen schließlich ganz auf.
Von Marx zum Markt Von 1989 an wandten sich die Länder Osteuropas sowie die ehemalige Sowjetunion zunehmend vom kommunistischen Experiment ab und führten die Marktwirtschaft ein. In Osteuropa erzählt man einen grausamen Witz: „Frage: Was ist Kommunismus? Antwort: Der längste Weg vom Kapitalismus zum Kapitalismus.“ Nach der Entscheidung, den Rückweg zur Marktwirtschaft anzutreten,
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liegt ein steiniger Weg vor einer Befehlswirtschaft. Die größten Hürden auf dem Weg zu Reformen sind die folgenden: • Preisreform und Preisbildung auf dem freien Markt. Güter- wie Faktorpreise wichen häufig weit von jenem Wert ab, den sie bei Bildung auf dem Markt erreicht hätten. Nahrungsmittel, Wohnungsbau und Energie wurden im Allgemeinen stark subventioniert, während Autos und dauerhafte Konsumgüter weit über dem Weltmarktpreis verkauft wurden. In den meisten Ländern bestand der erste Schritt darin, eine Preisbildung durch Angebot und Nachfrage zuzulassen. • Harte Budgetrestriktionen. In Befehlswirtschaften arbeiteten Betriebe häufig unter „weichen Budgetrestriktionen“, was bedeutet, dass betriebliche Verluste durch Subventionen abgedeckt wurden und nicht in den Konkurs führten. In der Marktwirtschaft tragen die Unternehmen selbst die Verantwortung für ihre Budgetierung – es ist ihnen bewusst, dass ein unrentables Wirtschaften letztlich den Konkurs des Unternehmens und den wirtschaftlichen Ruin für dessen Manager bedeutet. • Privatisierung. In einer Marktwirtschaft erfolgt der Großteil der Produktion in privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen. So erbringt beispielsweise in den Vereinigten Staaten die Bundesregierung nur 3 Prozent der Produktionsleistung des BIP. In den kommunistischen Ländern, nach sowjetischem Muster, wurden hingegen zwischen 80 und 90 Prozent der gesamten Produktionsleistung vom Staat erbracht. Die Einführung der Marktwirtschaft bedeutete, dass die eigentlichen Entscheidungen über Einkäufe, Verkäufe, Preisgestaltung, Produktion sowie Kreditaufnahmen und -vergaben nun durch die Privatwirtschaft getroffen werden mussten.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
• Sonstige Reformen. Der Übergang zur Marktwirtschaft erforderte die Errichtung eines gesetzlichen Rahmenwerkes für den Markt, den Aufbau eines modernen Bankensystems, das Aufbrechen der verbreiteten Monopole, eine restriktivere Geldund Fiskalpolitik, um eine galoppierende Inflation zu verhindern, sowie die Öffnung der Wirtschaft für den internationalen Wettbewerb. • Der Ablauf des Übergangs. Die schwierigste aller Entscheidungen lautete, wo man bei der Rückkehr zur Marktwirtschaft beginnen sollte. Die Reformdebatte konzentrierte sich auf den radikalen Ansatz (die „Schocktherapie“) und den langsamen (oder „Stufen-“) Ansatz. Ein einflussreicher Berater war Jeffrey Sachs, ein hervorragender junger Harvard-Ökonom, der so manches kränkelnde Land wieder gesund gepflegt hat. Im Januar 1990 überredete er die polnische Regierung, die Schocktherapie zu wählen. Dies war das Modell, dem Russland von 1991–1992 unter Präsident Jelzin und einer Regierung unter der Leitung des Ökonomen Yegor Gaidar folgte. Die radikalen russischen Reformer gaben die Preise und den internationalen Handel frei, bauten den Planungsapparat ab und versuchten, das Geld knapp zu halten. In den nächsten Jahren kam es zum offenen Kampf zwischen den Reformern, den Bürokraten des alten Regimes und wehmütigen Romantikern, die sich nach den „guten alten Tagen des Kommunismus“ zurücksehnten. „Zwei Schritte vorwärts und einer zurück“ könnte als Motto der Reformbewegung in Russland und vielen früheren sozialistischen Ländern dienen. Diese Prüfliste der Reformen ist auch auf andere Länder anwendbar, die sich in geringerem oder höheren Maße auf eine zentrale Planwirtschaft eingelassen haben und sich nun wieder stärker am Markt orientieren wollen.
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Der Fortschritt der Reformen Die Reformen in den Ländern mit früherer Planwirtschaft haben ein Jahrzehnt des Übergangs hinter sich, und die Ergebnisse sind ernüchternd. Erstens schlitterten fast alle Länder in eine tiefe Depression, als sie ihre sozialistischen Strukturen abwarfen. Die Gründe für den Produktionsrückgang sind unterschiedlich, aber eine wichtige Ursache ist sicherlich die Tatsache, dass das fein gesponnene Netz zwischen Käufern und Verkäufern völlig zerstört wurde. Zweitens erlebten viele Länder eine hohe Inflation, einige (wie die Ukraine) sogar eine Hyperinflation. Der große Anstoß zu schnellen Preissprüngen entstand, als die Freisetzung von Preisen und Löhnen eine Anfangsinflation auslöste, auf die dann eine klassische Lohn-Preis-Spirale folgte. Zu einem weiteren Inflationsschub kam es in jenen Ländern, in denen eine schwache Regierung nicht in der Lage war, das Budgetdefizit unter Kontrolle zu halten und sich daher der Notenpresse zur Finanzierung ihrer Ausgaben bediente. Abbildung 28-5 zeigt den Wachstumspfad der wichtigsten Volkswirtschaften, die sich während der neunziger Jahre in einer Übergangsperiode befanden. Welche Eigenschaften zeigten jene Länder, die die Umstellung am besten bewältigten? In diesen Staaten hatte es die zentrale Planwirtschaft nur für relativ kurze Zeit gegeben; sie konnten auf eine tief verwurzelte Tradition einer bürgerlichen Gesellschaft zurückblicken, verfügten über größeres „soziales Kapital“, bewegten sich schneller auf die Marktwirtschaft zu, befanden sich in größerer geografischer Nähe zu den reichen Ländern Westeuropas und gingen schneller daran, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren. Polen und Slowenien sind Beispiele für einen erfolgreichen Übergang. Die meisten ehemaligen kommunistischen Länder Osteuropas sehen ihre Zukunft als Teil des gemeinsamen europäischen Marktes, und acht von ihnen traten 2004 der Europäischen Union bei.
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Die größten Schwierigkeiten erlebten die osteuropäischen und asiatischen Reste der Sowjetunion, insbesondere jene Länder wie die Ukraine und Russland, wo der Wechsel nur langsam und widerwillig vollzogen wurde. Während eines Großteils der neunziger Jahre wurde Russland von Korruption, großer Ungleichheit, Budgetdefiziten, Inflation, Bürgerkrieg und politischer Instabilität geplagt. Nach der Abdankung von Präsident Boris Jelzin 1999 und unter dem neuen Präsidenten, Alexander Putin, hat Russlands schwieriger Übergang zur Marktdemokratie eine neue Wende genommen. Putin orientierte sich entschlossen nach Westen und versuchte, Ordnung in die chaotische Wirtschaft zu bringen; Russland schien das Schlimmste überwunden zu haben und ein positives Wirtschaftswachstum zu erzielen. Der Kampf zwischen den alten autokratischen Elementen und den neuen, marktwirtschaftlich orientierten „Oligarchen“ flammte 2003 wieder auf, als der reichste Geschäftsmann Russlands verhaftet wurde. Erneut wurden beunruhigte Fragen laut, wie sehr sich das Land tatsächlich für marktwirtschaftliche Reformen und die demokratischen Freiheiten engagieren wolle.
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Eine vorsichtige Schlussbemerkung Dieses Kapitel hat die Probleme und Aussichten armer Länder beschrieben, die darum kämpfen, reich und frei zu sein – die trockenen Häuser, die Ausbildung, das elektrisches Licht, die schnelle Pferde, die Autos und die langen Urlaube zu bieten, die im Zitat am Anfang dieses Kapitels erwähnt sind. Wie stehen die Chancen für die Erreichung dieses Ziels? Wir schließen mit einer hoffnungsvollen Bemerkung und ernsten Warnung von Sachs und Warner: Am Ende des 20. Jahrhunderts gleicht die Weltwirtschaft stark derjenigen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Ein globales kapitalistisches System zeichnet sich ab, in dem fast alle Regionen der Erde sich am offenen Handel und an harmonisierten wirtschaftlichen Einrichtungen beteiligen. Genau wie im 19. Jahrhundert verspricht diese neue Runde der Globalisierung, die Länder, die dem System beitreten, zur wirtschaftlichen Konvergenz zu führen. ... Doch es bestehen auch grundsätzliche Risiken für die Konsolidierung der Marktreformen in Russland, China und Afrika, genauso wie für die Einhaltung internationaler Abkommen unter den führenden Nationen. ... Die Ausbreitung des Kapitalismus während der [letzten] 25 Jahre ist ein vielversprechendes, bedeutendes historisches Ereignis, aber ob wir [in 25 Jahren] die Konsolidierung eines demokratischen und marktorientierten weltweiten Systems werden feiern können, hängt von unserem Weitblick und unserer Urteilsfähigkeit in den kommenden Jahren ab.5
5 Siehe den Hinweis unter „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
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180 Slowenien Slowakei Polen Kroatien Tschechische Republik Ungarn Rumänien Kasachstan Weißrussland
Reales BIP (1990 = 100)
160 140 120 100 80 60
Russland Ukraine
40 20 0
1990
2002
1998 Jahr
Abbildung 28-5: Der Übergang zur Marktwirtschaft war bisher kein voller Erfolg In den meisten Ländern sank während der Übergangsphase nach Abschaffung der zentralen Planungssysteme die Produktion deutlich. Länder wie Polen und Slowenien, die auf eine starke marktwirtschaftliche Tradition zurückgreifen konnten, entschiedene Reformen durchführten und enge Verbindungen zu Westeuropa hatten, erholten sich am schnellsten. Andere, wie Russland und die Ukraine, führten nur zögernd Reformen durch, waren weniger stark in der Marktwirtschaft verwurzelt, verfolgten keine klare Wirtschaftspolitik und litten unter hoher Inflation – infolgedessen erlebten sie nach dem Übergang einen deutlichen wirtschaftlichen Abschwung und haben das BIP-Niveau von 1990 noch nicht wieder erreicht. Quelle: Internationaler Währungsfonds, World Economic Outlook (WEO) Database, verfügbar unter www.imf.org/external/ pubs/ft/weo/2003/01/index.htm.
Zusammenfassung A. Wirtschaftswachstum in armen Ländern 1.
2.
Der größte Teil der Weltbevölkerung lebt in Entwicklungsländern mit vergleichsweise geringem Pro-Kopf-Einkommen. Typische Merkmale dieser Länder sind ein rasches Bevölkerungswachstum, eine hohe Analphabetenrate, ein mangelhaftes Gesundheitswesen und ein hoher Anteil der Bevölkerung, der von landwirtschaftlicher Tätigkeit lebt. Der Schlüssel zur wirtschaftlichen Entwicklung liegt in vier grundlegenden Faktoren: menschlichen Ressourcen, natürlichen Ressourcen, Kapitalbildung und Technologie. Das explosive Bevölkerungswachstum verursacht Probleme, denn die Vorhersagen von Malthus über abnehmende Erträge verfolgen die ärmsten Länder. Hinsichtlich positiver Maßnahmen genießen die Verbesserung der Volksgesundheit, das Schulwesen und die technische Ausbildung oberste Priorität.
3.
4.
5.
Die Investitions- und Sparquoten in den armen Ländern sind niedrig, weil die Einkommen derart gering sind, dass nur wenig für die Zukunft gespart werden kann. Die internationale Finanzierung von Investitionen in armen Ländern wurde während der letzten zwei Jahrhunderte häufig von Krisen geschüttelt. Die letzte unruhige Phase war 1997–1998, als viele ostasiatische Länder hohe Darlehen aufgenommen hatten und dann nicht in der Lage waren, sie zurückzuzahlen. Technologischer Wandel wird häufig mit Investitionen und neuen Maschinen in Zusammenhang gebracht. Damit zeichnet sich mehr als ein Hoffnungsschimmer für die Entwicklungsländer ab, weil sie die produktiveren Techniken der reifen Industrienationen übernehmen können. Das erfordert jedoch Unternehmertum. Eine Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es daher, in diesen Ländern den nur spärlich vorhandenen Unternehmergeist zu wecken. Zahlreiche Theorien der Wirtschaftsentwicklung helfen zu erklären, warum zu einer gege-
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
benen Zeit die vier grundlegenden Faktoren vorhanden sind oder fehlen. Geografie und Klima, Bräuche, religiöse und geschäftliche Gepflogenheiten, Klassenkonflikte und politische Systeme – sie alle beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung, allerdings auf unterschiedliche und oft komplexe Weise. Heutzutage betonen Entwicklungsökonomen den Wachstumsvorteil der relativ rückständigen Länder, die Notwendigkeit, die Bedeutung der Landwirtschaft zu respektieren, und die Kunst, die richtige Abgrenzung zwischen Staat und Markt zu finden. In jüngster Zeit herrscht Einigkeit darüber, dass Offenheit von Vorteil ist.
B. Alternative Entwicklungsmodelle 6.
7.
8.
Im Wettbewerb als Modell für wirtschaftliche Entwicklung stehen auch andere Ansätze als die gemischte Marktwirtschaft. Zu den alternativen Strategien gehören der Ansatz der gelenkten Marktwirtschaft in den ostasiatischen Ländern, der Sozialismus und die Befehlswirtschaft sowjetischer Prägung. Die gelenkte Marktwirtschaft Japans und der Tigerstaaten Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur hat sich in den letzten 25 Jahren als bemerkenswert erfolgreich erwiesen. Zu den wichtigsten Zutaten dieser Politik gehören makroökonomische Stabilität, hohe Investitionsraten, ein vernünftiges Finanzsystem, rasche Fortschritte im Ausbildungsstand der Bevölkerung und eine ausgeprägte Außenorientierung hinsichtlich Handel und technischer Entwicklung. Der Sozialismus bezieht eine Mittelstellung zwischen Kapitalismus und Kommunismus, wobei hier das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln, staatliche Planung, Einkommens-
833
umverteilung und ein friedlicher Übergang in eine Welt mit mehr Gleichberechtigung im Vordergrund stehen. 9. Historisch betrachtet konnte der Marxismus im halbfeudalen Russland die tiefsten Wurzeln schlagen. Eine Studie über die Ressourcenverteilung in einer Befehlswirtschaft sowjetischen Stils zeigt eine umfassende Zentralplanung weiter Bereiche der Ressourcenallokation, mit einer besonderen Betonung der Schwerindustrie. Die sowjetische Wirtschaft wuchs während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens sehr schnell, aber Stagnation und schließlich der Zusammenbruch haben heute in Russland und den früheren kommunistischen Ländern zu einem Einkommensniveau geführt, das weit unter jenem Nordamerikas, Japans und Westeuropas liegt. 10. Angesichts des verlangsamten Wirtschaftswachstums und dem Wunsch ihrer Bevölkerungen nach wirtschaftlichen Reformen haben Russland und die früheren kommunistischen Länder den schwierigen Weg in die Marktwirtschaft betreten. Auf diesem Weg gibt es viele Hürden, unter anderem weiche Budgetrestriktionen, rigide und verzerrte Preisstrukturen sowie unzureichende gesetzliche Rahmenbedingungen. Zwei bedeutende Strategien für diesen Übergang sind der Schocktherapieansatz mit zahlreichen gleichzeitig unternommenen radikalen Maßnahmen sowie der vorsichtigere schrittweise Ansatz, der eine bestimmte Abfolge der Reformen vorsieht, um Störungen der Wirtschaft zu verhindern. Die Lektionen eines solchen Übergangs können im Großen und Ganzen auf alle Länder angewendet werden, die hoffen, Regierungskontrollen durch ein marktwirtschaftliches System zu ersetzen.
834
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Begriffe zur Wiederholung Wirtschaftliche Entwicklung Entwicklungsländer Indikatoren der Entwicklung Vier Antriebskräfte der Entwicklung Durchbrechung des Teufelskreises Die Hypothese der Rückständigkeit Offenheit und Konvergenz
Alternative Entwicklungsmodelle Marktwirtschaft im Gegensatz zur Befehlswirtschaft Sozialismus, Kommunismus Principle-Agent-Problem Die Befehlswirtschaft sowjetischen Typs Übergang zur Marktwirtschaft
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Die einflussreiche Studie über das Wunder in Ostasien findet sich in der Veröffentlichung der Weltbank, The East Asia Miracle: Economic Growth and Government Policies (World Bank, Washington, D.C., 1993). Die Daten in Abbildung 28-4 wurden dem faszinierenden Beitrag von Jeffrey Sachs und Andrew Warner, „Economic Reform and the Process of Global Integration“, Brookings Papers on Economic Activity, Nr. 1, 1995, S. 42–43 entnommen; das Zitat am Ende des Kapitels ist auf S. 63–64 zu finden. Ein gut lesbarer Bericht über die Entwicklungsgeschichte der Sowjetwirtschaft findet sich in Alec Nove, An Economic History of the U.S.S.R., 3. Aufl. (Penguin, Baltimore, 1990). Eine sorgfältige Untersuchung des sowjetischen Wirtschaftssystems liefern Paul R. Gregory und Robert C. Stuart, Russian and Soviet Economic Performance and Structure, 6. Aufl. (Harper & Row, New York, 1997).
Websites Informationen über Programme und Veröffentlichungen der Weltbank finden sich auf deren Website unter www.worldbank.org; der Internationale Währungsfonds (IWF) bietet ähnliche Informationen unter www.imf.org. Die Website der Vereinten Nationen bietet Links zu den meisten internationalen Organisationen und deren Datenbanken unter www.unsystem.org. Eine gute Informationsquelle für die einkommensstarken Länder ist die Website der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), www.oecd.org. Handelsstatistiken der Vereinigten Staaten findet man unter www.census.gov. Für viele Länder bieten deren Statistische Ämter umfassende Informationen. Ein Kompendium dieser Organisationen findet sich unter www.census.gov/main/. Die Weltbank ist eine der besten Quellen für Studien über Entwicklungsländer; siehe insbesondere die jährliche World Development Review unter www.worldbank.org. Das Zitat von Klitgaard wurde im März 1998 in der Zeitschrift Finance and Development veröffentlicht.
835
Kapitel 28 Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung
Übungen 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Stimmen Sie mit der Lobrede über das materielle Wohlergehen überein, die im Eingangszitat dieses Kapitels gehalten wird? Was würden Sie dieser Liste der Vorteile wirtschaftlicher Entwicklung hinzufügen? Skizzieren Sie jeden der vier Antriebsfaktoren wirtschaftlicher Entwicklung. Wie sind im Hinblick darauf die einkommensstarken erdölexportierenden Länder zu Reichtum gelangt? Welche Hoffnung besteht für ein Land wie Mali mit seinen geringen Pro-Kopf-Ressourcen an Kapital, Land und Technik? Von Zeit zu Zeit wird der „Teufelskreis der Unterentwicklung“ beschworen. Das rasche Bevölkerungswachstum in einkommensschwachen Ländern macht sofort jeglichen technologischen Fortschritt zunichte und führt zu einer Minderung des Lebensstandards. Bei einem geringen Pro-Kopf-Einkommen kann das Land nicht sparen und investieren und betreibt daher in erster Linie Landwirtschaft für den Eigenbedarf. Solange aber der Großteil der Bevölkerung auf Bauernhöfen lebt und arbeitet, besteht wenig Hoffnung auf Bildungsfortschritte, eine geringere Geburtenrate oder auf Industrialisierung. Müssten Sie ein solches Land beraten, wie könnte es Ihrer Meinung nach den Teufelskreis durchbrechen? Vergleichen Sie die Situation, in der sich ein Entwicklungsland heute befindet, mit jener, in der es sich (bei vergleichbarem Pro-Kopf-Einkommen) vor 200 Jahren befunden haben könnte. Erklären Sie anhand der vier Antriebsfaktoren der Wirtschaftsentwicklung die Vorund Nachteile, denen sich ein Entwicklungsland heute gegenüber sieht. Heutzutage bezweifeln einige Wirtschaftswissenschaftler, dass es klug ist, eine völlige Offenheit der Handels- und Finanzströme zuzulassen. Sie behaupten, dass durch vollkommen freie kurzfristige Kapitalbewegungen ein Land spekulativen Angriffen ausgesetzt sei. Erörtern Sie die Vor- und Nachteile einer Einschränkung der kurzfristigen Kapitalbewegungen. Würden Sie sich eher für eine Besteuerung kurzfristiger Transaktionen als für Mengenrestriktionen entscheiden? Analysieren Sie die Art und Weise, wie das Was, Wie, und Für wen in einer Befehlswirtschaft nach Art der Sowjetunion gelöst werden, und vergleichen Sie Ihre Analyse mit der Antwort auf die drei zentralen Fragen der Marktwirtschaft.
7.
Frage für Fortgeschrittene (für jene, die sich auch mit der substitutionalen Produktionsfunktion in Kapitel 27 befasst haben): Wir können unsere Produktionsfunktion auf drei Faktoren erweitern und schreiben: gQ = sLgL + sKgK + sRgR + T wobei gQ = Output-Wachstumsrate, gi = InputWachstumsrate (i = Produktionsfaktoren: L für Arbeit, K für Kapital und R für Boden und andere natürliche Ressourcen), und si = der Beitrag jedes Produktionsfaktors zum Outputwachstum, gemessen als dessen Anteil am Volkseinkommen (0 ≤ si ≤ 1 und sL + sK + sr = 1). T misst die technische Veränderung. a. In den ärmsten Entwicklungsländern liegt der Kapitalanteil nahe bei null; die wichtigste Ressource ist landwirtschaftlich genutzter Boden (dessen Menge konstant ist), und es gibt kaum technologischen Fortschritt. Können Sie diese Ausgangslage zur Erklärung der Hypothese von Malthus verwenden, die von einer konstanten oder gar sinkenden Pro-Kopf-Produktion ausgeht (d.h. gQ < gL)? b. In entwickelten Industriestaaten sinkt der Anteil der Ressource Land praktisch auf null. Wieso führt dies zu der substitutionalen Produktionsfunktion, die wir im letzten Kapitel betrachtet haben? Können Sie mithilfe dieser Funktion erklären, wie ein Land die von Malthus beschriebene Falle stagnierender Einkommen vermeiden kann? c. Laut den Pessimisten unter den Wirtschaftsprognostikern (darunter auch eine Gruppe so genannter Neo-Malthusianer vom Club of Rome, der im vorherigen Kapitel erwähnt wurde) liegt der technische Fortschritt nahe bei null, das verfügbare Angebot natürlicher Ressourcen nimmt ab, während der Einsatz der Ressourcen hoch ist und weiter zunimmt. Erklärt dies, warum die Industrienationen eine düstere Zukunft vor sich haben könnten? Welche Annahmen der Neo-Malthusianer könnten Sie in Frage stellen?
837
Internationale Verflechtungen
KAPITEL 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Der Vorteil des internationalen Handels – eine effizientere Nutzung der produktiven Kräfte dieser Welt. John Stuart Mill
Das 20. Jahrhundert zerfällt in zwei deutlich unterschiedliche Perioden. Der Zeitraum zwischen 1914 und 1945 ist durch ruinösen Wettbewerb, einen rückläufigen internationalen Handel, wachsende Isolierung der Finanzmärkte, heiße und kalte militärische und Handelskriege, Despotismus und Depression gekennzeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich in einem großen Teil der Welt eine wachsende wirtschaftliche Zusammenarbeit, weit reichende Handelsverflechtungen und eine zunehmende Integration der Finanzmärkte; die Demokratie als Staatsform verbreitete sich weiter, und es herrschte vielerorts ein kräftiges Wirtschaftswachstum. Der enorme Unterschied zwischen der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert daran, wie viel auf der ganzen Welt vom vernünftigen Management der Volkswirtschaften abhängt. Wirtschaftlich betrachtet ist kein Land eine isolierte Insel. Wenn irgendwo eine wirtschaftliche Depression oder Finanzkrise ausbricht, sind die Erschütterungen auf der ganzen Welt zu spüren. Welche wirtschaftlichen Beziehungen bestehen zwischen den Ländern? Zu den wichtigen ökonomischen Konzepten gehören der internationale Handel und die internationalen Finanzen. Der internationale Handel mit Waren und Dienstleistungen ermöglicht es den Nationen, ihren Lebensstandard zu heben, indem sie sich auf die Bereiche spezialisieren, in denen sie einen relativen Produktionsvorteil genießen, und diejenigen Güter und Dienstleistungen exportieren, die sie effizient produzieren können, während sie andere importieren, bei denen dies nicht der Fall ist. In einer modernen Wirtschaft wird der Handel mithilfe unterschiedlicher Währungen abgewickelt. Das internationale Finanzsystem spielt eine wichtige Rolle, denn es ist das Schmiermittel, das den Kauf und Verkauf von Waren mittels US-Dollar, Euro und sonstigen Währungen sowie den Austausch dieser Währungen ermöglicht.
838
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Der internationale Handel scheint mitunter einem Nullsummenspiel zu gleichen, einem Darwinistischen Kampf um Marktanteile, Gewinne und lebenswichtige Ressourcen. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man jedoch, dass sich die daran teilnehmenden Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit von dem Kampf mit Zähnen und Klauen entfernt haben – sie haben Organisationen aufgebaut, die dem gemeinsamen Ziel von Wachstum und Fairness auf internationaler Ebene dienen. Die wirtschaftliche Integration birgt jedoch auch Gefahren. Während des letzten Jahrzehnts jagte eine Finanzkrise die nächste – mangelndes Vertrauen in den Wechselkursmechanismus in Europa von 1991–1992, der Zusammenbruch der mexikanischen Währung 1994–1995, eine Reihe von Banken- und Währungskrisen in Ostasien im Jahre 1997, die Unfähigkeit Russlands, seine Schulden zurück zu zahlen, eine weltweite Liquiditätskrise im Jahr 1998 sowie eine ganze Serie von Währungsproblemen in Lateinamerika, die 2002 im Zusammenbruch des argentinischen Peso und der argentinischen Wirtschaft ihren Höhepunkt fand. In allen diesen Fällen mussten die politischen Entscheider in den betroffenen und anderen Ländern abwägen, ob sie intervenieren oder ihre Politik ändern sollten, aber letztendlich führte keine dieser Krisen zu einem großflächigen wirtschaftlichen Zusammenbruch. Dieses und das folgende Kapitel beschäftigen sich mit der Makroökonomie auf internationaler Ebene. Betrachtet werden die Regeln, die für das internationale Währungssystem gelten, auf das wir uns vorwiegend in diesem Kapitel konzentrieren werden, sowie die Auswirkungen des Außenhandels auf Produktion, Beschäftigung und Preise, Aspekte, die im nächsten Kapitel behandelt werden. Wirtschaftswissenschaftliche Betrachtungen auf internationaler Ebene beschäftigen sich mit vielen gegenwärtigen Streitfragen: Erhöht der Außenhandel Produktion und Beschäftigung, oder senkt er sie gar? Welche
Teil 6
Verbindung besteht zwischen den Ersparnissen und Investitionen im Inland und der Handelsbilanz? Was verursacht die gelegentlichen Finanzkrisen, die sich dann wie ein ansteckender Bazillus von Land zu Land verbreiten? Welche Auswirkungen wird die europäische Währungsunion auf die gesamtwirtschaftliche Leistung der Teilnehmerländer haben? Wieso sind die Vereinigten Staaten während des letzten Jahrzehnt zum weltweit größten Schuldnerland geworden? Für die wirtschaftspolitischen Entscheider ist es äußerst wichtig, kluge Antworten auf diese Fragen zu finden.
Trends im Außenhandel Eine Volkswirtschaft, die Außenhandel betreibt, bezeichnet man als offene Volkswirtschaft. Ein nützliches Maß für die Offenheit ist das Verhältnis von Exporten und Importen eines Landes zu seinem BIP. Abbildung 29-1 zeigt die Entwicklung des Anteils von Importen und Exporten für die Vereinigten Staaten während der letzten 50 Jahre. Wir erkennen während der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einen deutlichen Exportüberschuss, da die USA den europäischen Wiederaufbau finanzierten. In den fünfziger und sechziger Jahren war der Außenhandel generell niedrig. Aufgrund des Wachstums im Ausland und der Lockerung von Handelsbeschränkungen wuchs der Handel anschließend wieder und erreichte einen Durchschnitt von 12 Prozent des BIP im Jahre 2003. Es wird Sie vielleicht überraschen zu erfahren, dass die Vereinigten Staaten weitgehend wirtschaftliche Selbstversorger sind. Abbildung 29-2 oben zeigt die Bedeutung des Außenhandels für ausgewählte Länder. Kleine Länder und die stark integrierten Staaten Westeuropas sind offener als die Vereinigten Staaten. Dort ist das Maß an Offenheit in einigen Branchen deutlicher höher als in der Wirtschaft insgesamt, vor allem in der verarbeitenden Industrie, im Stahlbau, in der Textilbranche, bei der Heimelektronik und in der
839
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
16
Importe/BIP
Importe und Exporte (in % des BIP)
14
12
10
Exporte/BIP 8
6
4
2
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 29-1: Wachsende Offenheit der Vereinigten Staaten Wie alle bedeutenden Marktwirtschaften haben die Vereinigten Staaten während der letzten 50 Jahre zunehmend ihre Grenzen für den Außenhandel geöffnet. In der Folge entfällt heute ein wachsender Teil von Produktion und Konsum auf den internationalen Handel. Seit den achtziger Jahren liegen die Importe deutlich über den Exporten, wodurch die Vereinigten Staaten zum größten Gläubigerland der Welt geworden sind. Quelle: US-Handelsministerium.
Automobilindustrie. Manche Sektoren, beispielsweise Ausbildung und Erziehung sowie das Gesundheitswesen, sind praktisch vom Außenhandel abgeschottet.
A. Die Zahlungsbilanz Die Konten der Zahlungsbilanz Am Anfang dieses Kapitels steht eine Übersicht über die Konten der Zahlungsbilanz.
Ökonomen behalten den Überblick über das Wirtschaftsgeschehen, indem sie Gewinnund Verlustrechnungen und Bilanzen analysieren. Den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern ermöglichen Zahlungsbilanzen. Die Zahlungsbilanz eines Landes stellt eine systematische Aufstellung aller wirtschaftlichen Transaktionen zwischen diesem Land und dem Rest der Welt dar. Ihre wesentlichen Bestandteile sind die Leistungsbilanz und die Kapitalbilanz. Die Grundstruktur einer Zahlungsbilanz ist in Tabelle 29-1 dargestellt; die einzelnen Positionen werden im Folgenden erörtert.
840
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
140
120
Handel (in % des BIP)
100
80
60
40
20
USA
Italien Japan
Frankreich China
GroßRussische Niederlande Singapur britannien Föderation Deutschland Mexiko Kanada Hongkong
Abbildung 29-2: Je nach Weltregion ist der Grad der Offenheit deutlich verschieden Große Länder wie die Vereinigten Staaten haben einen relativ geringen Außenhandelsanteil, während Stadtstaaten wie Singapur ein größeres Handels- als Produktionsvolumen haben. Quelle: World Trade Organization. Die Anteile geben das Verhältnis des Außenhandels zum BIP an.
I. Leistungsbilanz Waren (oder „Handelsbilanz“) Dienstleistungen Investitionseinkommen Laufende Übertragungen II. Kapitalbilanz Private Unternehmen und Haushalte Staat Veränderungen der offiziellen Währungsreserven Sonstiges Tabelle 29-1: Grundelemente der Zahlungsbilanz Die Zahlungsbilanz besteht aus zwei Hauptteilen. Die Leistungsbilanz stellt den Empfang und die Abgabe von Waren und Dienstleistungen sowie die Übertragungen dar. In der Kapitalbilanz werden Käufe und Verkäufe von Kapitalanlagen und Verbindlichkeiten zusammengefasst. Beachten Sie, dass die Summe der beiden Teile immer null ergibt:
Leistungsbilanz + Kapitalbilanz = I + II = 0
Zahlungseingänge und -ausgänge Wie in anderen Bilanzen auch, wird in der Zahlungsbilanz jede Transaktion entweder auf der Soll- oder auf der Habenseite verbucht. Die allgemeine Regel bei der Erstellung der Zahlungsbilanz lautet: Bringt eine Transaktion den betreffenden Land Devisen (Bestände an ausländischer Währung) ein, wird sie als Zahlungseingang verbucht. Bewirkt eine Transaktion einen Abfluss an Devisen, wird sie als Zahlungsausgang verbucht. Im Allgemeinen sind Exporte Zahlungseingänge, Importe dagegen Zahlungsausgänge. Exporte bringen Devisen ein und gelten daher als Zahlungseingänge. Importe erfordern die Ausgabe von Devisen und gelten daher
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
als Zahlungsausgänge. Wie wird der Import einer japanischen Kamera in die Vereinigten Staaten verbucht? Da sie letztendlich in japanischen Yen zu bezahlen ist, handelt es sich eindeutig um einen Zahlungsausgang. Wie sind Zins- und Dividendeneinkommen für Investitionen zu behandeln, die US-Amerikaner aus dem Ausland erhalten? Hier handelt es sich offensichtlich um Zahlungseingänge wie im Fall der Exporte, weil sie den USA Devisen einbringen.
Der Aufbau der Zahlungsbilanz Leistungsbilanz. Die Gesamtheit aller Positionen in Teil I von Tabelle 29-1 ist die Leistungsbilanz. Dazu gehören alle Einnahmen- und Ausgabenposten – Import und Export von Waren und Dienstleistungen, Einkommen aus Investitionen sowie Transferzahlungen. Der Saldo der Leistungsbilanz ist dem Nettoeinkommen einer Volkswirtschaft vergleichbar. Vom Konzept her ähnelt er den Nettoexporten in der Produktionsrechnung. In der Vergangenheit konzentrierten sich viele Autoren auf die Handelsbilanz, in der Importe und Exporte von Waren berücksichtigt werden. Importe und Exporte bestehen hauptsächlich aus Primärgütern (wie Lebensmitteln und Brennstoffen) sowie industriell gefertigten Waren. In früheren Zeiten erstrebten die so genannten Merkantilisten einen Handelsbilanzüberschuss (einen Überschuss der Exporte über die Importe), einen Zustand, den sie als „wünschenswerte (aktive) Handelsbilanz“ bezeichneten. Sie hofften, eine „ungünstige (passive) Handelsbilanz“ zu vermeiden, womit ein Handelsdefizit (ein Überschuss der Importe über die Exporte) bezeichnet wird. Noch heute lassen sich Spuren des Merkantilismus beobachten, wenn Länder einen Handelsüberschuss zu erzielen versuchen. Die Wirtschaftswissenschaftler von heute vermeiden diese Ausdrucksweise, denn ein Handelsbilanzdefizit ist nicht unbedingt schädlich. Wie wir noch sehen werden, spiegelt ein solches Defizit nur das Ungleichge-
841
wicht zwischen einheimischen Investitionen und einheimischen Ersparnissen wider. Häufig weist ein Land ein Handelsbilanzdefizit auf, weil sich im Inland Kapital äußerst gewinnbringend einsetzen lässt und es daher nützlich ist, im Ausland Geld zu leihen, das dann im Inland investiert wird, um dort die Einkommen zu erhöhen. Außerdem gewinnen die Dienstleistungen im internationalen Handel zunehmend an Bedeutung. Zu den Dienstleistungen gehören Spedition und Versand, Finanzdienstleistungen und der Auslandstourismus. Eine dritte Position in der Leistungsbilanz ist das Einkommen aus Investitionen, wozu auch dasjenige aus Auslandsinvestitionen gehört (beispielsweise Einnahmen aus US-Aktiva im Ausland). Eine der bedeutendsten Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte ist das Wachstum der Einnahmen aus Dienstleistungen und Investitionen. Eine letzte Position stellen die Transferzahlungen dar, also Zahlungen, denen keine Gegenleistung in Form von Waren und Dienstleistungen entspricht. Tabelle 29-2 fasst die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten für das Jahr 2002 zusammen. Beachten Sie die zwei Hauptkomponenten: Leistungsbilanz und Kapitalbilanz. Die Namen der einzelnen Positionen stehen in Spalte (a). Zahlungseingänge finden sich in Spalte (b), während Zahlungsausgänge in Spalte (c) ausgewiesen sind. Spalte (d) zeigt die Nettoposition aus Zahlungseingängen und -ausgängen; sie weist einen Habensaldo aus, wenn die Position den Devisenbestand der Vereinigten Staaten vergrößert, oder einen Sollsaldo, wenn dadurch der Devisenbestand verringert wird. Im Jahre 2002 führten die Warenexporte der Vereinigten Staaten zu Zahlungseingängen in Höhe von US-$ 683 Milliarden. Die Warenimporte verursachten jedoch Zahlungsausgänge im Wert von US-$ 1.167 Milliarden. Die Nettodifferenz zwischen Haben- und Sollpositionen ergab ein Defizit von US-$ 484 Milliarden. Dieses Handelsbilanzdefizit erscheint in der zweiten Zeile von Spalte (d). (Sie sollten wissen, warum hier ein algebrai-
842
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
US-Zahlungsbilanz 2002 (Mrd. US-$) (a)
(b)
(c)
(d)
Positionen
Haben
Soll
Nettoposition
(+)
(–)
Haben (+), Soll (–)
I. Leistungsbilanz
–503
(a) Waren (oder „Handelsbilanz“)
683
–1.167
–484
(b) Dienstleistungen
289
–240
49
(c) Investitionseinkommen
245
–257
–12
(d) Laufende Übertragungen
–56
II. Kapitalbilanz [Defizit (–) / Überschuss (+)] (a) Private Anleihen
503 534
–152
381
(b) Staat Veränderungen der offiziellen US-Reserven
–4
Veränderungen der offiziellen ausländischen Währungsreserven
97
(c) Statistische Abweichungen III. Summe der Leistungs- und Kapitalbilanz
29 0
Tabelle 29-2: Grundelemente der Zahlungsbilanz 2002 Quelle: US-Handelsministerium (Website), April 2003.
sches Minus- statt eines Pluszeichens steht.) Aus der Tabelle ersehen wir, dass die Dienstleistungen einen Überschuss erwirtschaftet haben, während das Einkommen aus Investitionen einen geringfügig negativen Saldo aufweist. Das Leistungsbilanzdefizit betrug im Jahr 2002 US-$503 Milliarden. Kapitalbilanz.1 Wir haben nun unsere Untersuchung der Leistungsbilanz beendet. Doch wie haben die Vereinigten Staaten ihr Leistungsbilanzdefizit von US-$ 503 Milliar1 Im Jahr 1999 änderten die Vereinigten Staaten ihre Zahlungsbilanzstatistik, um neuen Richtlinien zu genügen. Die frühere „capital account“ wurde zur „financial account“ (im Deutschen ist der Ausdruck „Kapitalbilanz“ geblieben). In der neu definierten Kapitalbilanz sind Finanztransfers und Zugänge sowie Abgänge nichtproduktiver, nichtfinanzieller Aktiva enthalten. In der englischen Sprache ist der neue Ausdruck leichter verständlich, weil er verdeutlicht, dass es um Finanzströme geht und nicht um Sachkapital, wie beispielsweise Flugzeuge und Fabriken. Die neu definierte „capital account“ ist sehr klein und wird daher in diesem Kapitel nicht weiter erörtert.
den im Jahre 2002 „finanziert“? Entweder muss das Land Darlehen aufgenommen oder sein Auslandsvermögen verringert haben, denn das, was gekauft wird, muss entweder bezahlt oder auf Pump erworben werden. Das bedeutet, dass definitionsgemäß – wie andere Bilanzen auch – die Zahlungsbilanz als Ganzes immer ausgeglichen sein (also einen Nullsaldo aufweisen) muss. In der Kapitalbilanz der Vereinigten Staaten schlagen sich Kapitaltransaktionen zwischen US-Amerikanern und Ausländern nieder. Solche Kapitalbewegungen finden beispielsweise statt, wenn ein japanischer Pensionsfonds US-Staatspapiere kauft oder wenn ein US-Amerikaner Aktien eines deutschen Unternehmens erwirbt. In der Kapitalbilanz sind Zugänge und Abgänge etwas schwieriger zu verstehen. Die aus der doppelten Buchhaltung abgeleitete allgemeine Regel lautet: Eine Zunahme des
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Vermögens eines Landes und eine Abnahme seiner Verbindlichkeiten erscheinen als Sollposten, während umgekehrt eine Abnahme des Vermögens eines Landes und eine Zunahme seiner Verbindlichkeiten einen Habenposten darstellt. Ein Sollposten ist mit einem negativen (–) und ein Habenposten mit einem positiven (+) Vorzeichen gekennzeichnet. Meistens finden Sie die richtige Antwort schneller, wenn Sie sich an die folgende vereinfachte Regel halten: Betrachten Sie die Vereinigten Staaten als ein Land, das Aktien, Schuldverschreibungen und sonstige Wertpapiere aus- oder einführt – das heißt, es findet ein Export und Import von Schuldscheinen für Auslandswährungen statt. Dann können Sie diese Aus- und Einfuhren von Wertpapieren wie alle übrigen Exporte und Importe auch behandeln. Wenn wir im Ausland etwas borgen, um ein Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren, schicken wir Schuldscheine (in Form von Staatsschuldverschreibungen) ins Ausland und bekommen dafür Devisen. Ist das nun ein Soll- oder Habenposten? Ganz offensichtlich handelt es sich hier um einen Habenposten, denn es fließt Auslandswährung in die Vereinigten Staaten. Wenn die Vereinigten Staaten ein Darlehen vergeben, um eine Computer-Montageanlage in Mexiko zu finanzieren, dann importieren die Banken der USA Schuldscheine von den Mexikanern, und die Vereinigten Staaten verlieren Devisen; ganz offensichtlich ist dies ein Sollposten in der Zahlungsbilanz der USA. Zeile II zeigt, dass im Jahre 2002 die Vereinigten Staaten ein Nettoschuldner waren: Sie haben im Ausland mehr geborgt, als sie ans Ausland verliehen haben. Die USA waren ein Nettoexporteur von Schuldscheinen (ein Nettoschuldner) in Höhe von US-$ 503 Milliarden.2 2
Wie in allen anderen Wirtschaftsstatistiken auch, treten in der Zahlungsbilanz statistische Fehler auf (die man als „statistische Abweichungen“ bezeichnet). Sie spiegeln die Tatsache wider, dass viele Waren- und Kapitalströme (von kleinen Devisentransaktionen bis zum Drogenhandel) nicht aufgezeichnet werden. Die statistische Abweichung ist in Zeile II(c) von Tabelle 29-2 aufgeführt.
843
B. Die Bildung der Wechselkurse Wechselkurse Uns allen ist der Binnenhandel vertraut. Wenn ein Amerikaner Orangen aus Florida oder Computer aus Kalifornien kauft, will er natürlich in US-Dollar bezahlen. Zum Glück wollen die Orangenverkäufer und Computerhersteller in US-amerikanischer Währung bezahlt werden, und so kann der gesamte Handel in US-Dollar getätigt werden. Wirtschaftliche Transaktionen innerhalb eines Landes sind relativ einfach. Aber nehmen wir an, ein Amerikaner verkaufte japanische Fahrräder. Jetzt wird die Transaktion komplizierter. Der Fahrradhersteller will in japanischer Währung und nicht in US-Dollar bezahlt werden. Um daher japanische Fahrräder importieren zu können, muss der Fahrradhändler erst japanische Yen (¥) kaufen und damit den japanischen Hersteller bezahlen. Wenn die Japaner ihrerseits US-amerikanische Waren kaufen wollen, müssen sie sich erst US-Dollar besorgen. Es werden also Devisenkäufe notwendig. Der Außenhandel erfordert die Verwendung von unterschiedlichen nationalen Währungen. Der Wechselkurs ist der Preis einer Währung, ausgedrückt in einer anderen Währung. Festgelegt wird der Wechselkurs auf dem Devisenmarkt, also dem Markt, auf dem Auslandswährungen gehandelt werden. Dieser kleine Absatz enthält viele Informationen, die im Folgenden näher erläutert werden. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass viele Länder ihre eigene Währung haben – den USDollar, den japanischen Yen, den mexikanischen Peso und so weiter. (Einige westeuropäische Länder bilden eine Ausnahme, denn sie verwenden eine gemeinsame Währung, den
844
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Euro.) Wir halten uns an die herkömmliche Definition von Wechselkursen, wonach der Wechselkurs die Menge an Auslandswährung ist, die man für eine Einheit der einheimischen Währung kaufen kann. Beispielsweise könnte der Wechselkurs des US-Dollar bei 100 Yen pro US-Dollar (¥ 100/US-$) liegen. Wirtschaftsgeschichte anhand der Zahlungsbilanz Die Entwicklung der Zahlungsbilanzen von Industrienationen folgt oft ähnlichen Lebenszyklen, wenn sich die Staaten von jungen Schuldnerländern zu reifen Gläubigerländern entwickeln. Mit gewissen historisch bedingten Abweichungen lässt sich diese Entwicklung für alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften in Nordamerika, Europa und Südostasien beobachten. Wir können diese Studien anhand der Zahlungsbilanzgeschichte der Vereinigten Staaten verdeutlichen: 1. Junge, aufstrebende Schuldnernation. Vom Unabhängigkeitskrieg bis zum Bürgerkrieg importierten die USA ihrer Leistungsbilanz zufolge mehr, als sie exportierten. Für die Differenz kam Europa auf, was es dem Land gestattete, seinen Kapitalstock aufzubauen. Die Vereinigten Staaten waren eine typische junge und wachsende Schuldnernation. 2. Reife Schuldnernation. Von etwa 1873 bis 1914 bewegte sich die amerikanische Handelsbilanz ins Plus. Doch steigende Dividenden und Zinszahlungen, die die USA dem Ausland für frühere Darlehen schuldeten, sorgten für einen weitgehenden Ausgleich der Leistungsbilanz. Auch die Kapitalbewegungen waren nahezu ausgeglichen, weil Kapitalexporte und -importe sich die Waage hielten. 3. Junge Gläubigernation. Während des Ersten Weltkrieges erweiterten die USA ihre Exporttätigkeit enorm. Die Vereinigten Staaten gewährten den Alliierten England und Frankreich Darlehen für ihre Rüstung und zum Wiederaufbau nach dem Krieg. Sie gingen aus dem Ersten Weltkrieg als Gläubigernation hervor.
Teil 6
4. Reife Gläubigernation. Im vierten Stadium sorgen Einnahmen aus Kapitalexporten und Investitionen im Ausland für einen großen Überschuss in der Kapitalbilanz, der durch ein Defizit im Warenhandel ausgeglichen wird. Diese Situation traf auf die USA bis zum Beginn der achtziger Jahre zu. Heute spielen Länder wie Japan die Rolle der reifen Gläubigernation und genießen hohe Leistungsbilanzüberschüsse, die sie im Ausland investieren. Während der letzten zwei Jahrzehnte hat sich in den Vereinigten Staaten ein interessanter neuer Zustand entwickelt. Obgleich sie ein reiches Land und die führende Wirtschaftsmacht der Welt waren, borgten die USA reichlich Kapital im Ausland, um Investitionen im Inland zu finanzieren. Teilweise wurde die Kreditaufnahme im Ausland durch die im Vergleich zu den Investitionen niedrigen heimischen Ersparnisse bedingt. Während die US-Amerikaner selbst kaum sparten, floss Geld wegen der politischen Stabilität des Landes, der niedrigen Inflation, der positiven Entwicklung des Aktienmarktes und solider technischer Innovationen in die USA. Während die Vereinigten Staaten sozusagen entsparten, häuften andere Länder, insbesondere Japan, mehr Ersparnisse an, als sie im eigenen Land investierten, und erzielten Leistungsbilanzüberschüsse. Ist dieser neue Zustand der US-Zahlungsbilanz nur ein temporärer Ausrutscher, oder markiert er den Beginn einer langfristigen Phase von strukturellen Leistungsbilanzdefiziten? Viele Wirtschaftswissenschaftler befürchten, dass dieses Defizit nicht lange wird bestehen können und dass es schließlich zu einem deutlichen Rückgang des Dollarkurses führen muss. Selbst wenn die US-Leistungsbilanz wieder ausgeglichen wäre, blieben dem Land immer noch hohe Auslandsschulden, die es bedienen muss. Irgendwann werden die Vereinigten Staaten wohl wieder ein reifes Schuldnerland werden und damit zu der oben erwähnten 2. Phase zurückkehren.
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Wenn wir das Geld eines Landes in dasjenige eines anderen tauschen wollen, tun wir das zum geltenden Wechselkurs. Wenn ein US-Amerikaner Anfang 2004 nach Kanada fuhr, bekam er etwa 1,3 kanadische Dollar für 1 US-Dollar. Es gibt einen Wechselkurs zwischen dem USDollar und den Währungen aller anderen Länder. Im Herbst 2000 lag der Wechselkurs für einen US-Dollar bei 0,80 Euro, 0,55 Pfund Sterling, 106 Yen und elf mexikanischen Pesos. Dank des Wechselkurses ist es mir möglich, ein japanisches Fahrrad zu kaufen. Nehmen wir an, der Preis für dieses Fahrrad betrüge 20.000 Yen. Ich kann in der Zeitung den Wechselkurs für Yen nachlesen. Bei einem Wechselkurs von ¥ 100/US-$ könnte ich daher meine US-$ 200 in ¥ 20.000 umtauschen. Mit dem japanischen Geld kann ich dann den Exporteur in der von ihm gewünschten Währung für mein Fahrrad bezahlen. Sie sollten nun erklären können, was japanische Importeure von amerikanischen Lastwagen tun müssen, wenn sie beispielsweise einen Lastwagen für US-$ 36.000 von einem US-amerikanischen Exporteur kaufen wollen. In diesem Fall müssen Yen in Dollar gewechselt werden. Sie können sich mühelos ausrechnen, dass bei einem Wechselkurs von 100 Yen pro Dollar diese LKW-Lieferung ¥ 3.600.000 kosten wird.3 Für ihre Exporte und Importe brauchen Unternehmen und Touristen nicht mehr zu wissen. Doch wir können die volkswirtschaftlichen Aspekte der Wechselkurse nicht verstehen, ehe wir nicht die Kräfte untersucht haben, die Angebot und Nachfrage nach ausländischen Währungen und der Funktionsweise des Devisenmarktes zugrunde liegen.
3 Diese Beispiele lassen Transaktionskosten sowie die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis (die „Spanne zwischen Geld- und Briefkurs“) außer Acht. Derartige Kosten können beträchtlich sein, insbesondere für geringfügige Transaktionen. Einer der Vorteile einer gemeinsamen Währung zwischen verschiedenen Regionen mit intensiven Handelskontakten ist die Tatsache, dass die Abwicklungskosten dadurch gesenkt und die Effizienz somit erhöht wird.
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Der Devisenmarkt Wie die meisten anderen Preise auch, variieren Wechselkurse von Woche zu Woche und von Monat zu Monat je nach Angebot und Nachfrage. Der Devisenmarkt ist jener Markt, auf dem Währungen verschiedener Länder gehandelt und auf dem Wechselkurse gebildet werden. In kleinen Mengen werden Devisen von vielen Banken und Finanzinstituten, die sich auf dieses Geschäft spezialisiert haben, gehandelt. An organisierten Märkten in New York, Tokio, London und Zürich wechseln täglich Devisen im Wert von Hunderten von Milliarden US-Dollar den Besitzer. Wir können die uns vertrauten Angebotsund Nachfragekurven verwenden, um zu zeigen, wie die Märkte den Preis für Devisen bestimmen. Abbildung 29-3 zeigt Angebot und Nachfrage für US-Dollar, die sich aus dem Handel mit Japan ergeben.4 Angeboten werden US-Dollar von Menschen in den Vereinigten Staaten, die Yen benötigen, um japanische Waren, Dienstleistungen oder Kapitalanlagen zu kaufen. Nachgefragt werden USDollar von Menschen in Japan, die amerikanische Waren, Dienstleistungen oder Vermögenswerte erwerben wollen und US-Dollar brauchen, um dafür zu bezahlen. Der Preis für die Auslandswährung – der Wechselkurs – pendelt sich auf dem Niveau ein, bei dem Angebot und Nachfrage ausgeglichen sind. Betrachten wir zunächst die Angebotsseite. US-Dollar werden am Devisenmarkt angeboten, wenn Amerikaner Yen brauchen, um japanische Autos, Kameras oder andere Waren zu kaufen, um in Tokio Urlaub zu machen oder Ähnliches. Außerdem sind Devisen erforderlich, wenn Amerikaner in Japan Vermögen erwerben möchten, beispielsweise Aktien von japanischen Unternehmen. Kurz gesagt, Amerikaner bieten US-Dollar an, wenn sie ausländische Waren, Dienstleistungen und Kapitalanlagen erwerben. 4 Dies ist ein vereinfachtes Beispiel, in dem wir nur den bilateralen Handel zwischen Japan und den Vereinigten Staaten betrachten.
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Wechselkurs (¥/US-$)
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Abbildung 29-3: Bestimmungsfaktoren des Wechselkurses Hinter dem Angebot von und der Nachfrage nach Auslandswährung stehen Käufe von Waren, Dienstleistungen und Kapitalanlagen. Die Nachfrage nach US-Dollar wird durch den japanischen Wunsch bestimmt, amerikanische Waren zu kaufen und in den USA Investitionen zu tätigen. Angeboten werden die US-Dollar von Amerikanern, die japanische Waren und Anlagen erwerben möchten. Das Gleichgewicht stellt sich in Punkt E ein. Läge der Wechselkurs oberhalb von E, käme es zu einem Überangebot an US-Dollar. Sofern die Regierung nicht dieses Überangebot mit offiziellen Reserven kaufte, würden die Marktkräfte den Wechselkurs nach unten drücken, um Angebot und Nachfrage wieder in Punkt E ins Gleichgewicht zu bringen.
In Abbildung 29-3 zeigt die senkrechte Achse den für uns wichtigen Wechselkurs (e), gemessen als Anzahl der Einheiten der Auslandswährung pro Einheit inländischer Währung – das heißt, als Yen pro US-Dollar, mexikanische Pesos pro US-Dollar und so weiter. Auf der waagrechten Achse wird die Menge an US-Dollar angegeben, die auf dem Devisenmarkt gekauft und verkauft wird. Das Angebot an US-Dollar ist als nach oben geneigte SS-Kurve dargestellt. Der Ver-
Teil 6
lauf nach oben zeigt, dass mit steigendem Wechselkurs die Anzahl von Yen zunimmt, die man mit einem US-Dollar kaufen kann. Wenn alle anderen Variablen konstant sind, bedeutet dies, dass die Preise japanischer Waren relativ zu denen amerikanischer Waren sinken. Daher werden Amerikaner tendenziell mehr japanische Waren kaufen, womit sich das Angebot an US-Dollar erhöht. Das zeigt, warum die Angebotskurve nach oben gekrümmt ist. Nehmen wir wieder die Fahrräder als Beispiel. Wenn der Wechselkurs von ¥ 100/US-$ auf ¥ 200/US-$ stiege, würde das Fahrrad, das ¥ 20.000 kostet, im Preis von US-$ 200 auf US-$ 100 fallen. Unter der Annahme, dass alle anderen Faktoren gleich bleiben, würde das japanische Fahrräder attraktiver machen, und Amerikaner würden mehr US-Dollar auf dem Devisenmarkt verkaufen, um Fahrräder erwerben zu können. Daher wäre das Angebot an US-Dollar bei einem höheren Wechselkurs ebenfalls höher. Wie lässt sich die Nachfrage nach USDollar (in Abbildung 29-3 als Nachfragekurve DD nach US-Dollar als Auslandswährung) darstellen? Ausländer fragen US-Dollar nach, wenn sie amerikanische Waren, Dienstleistungen und Anlagen kaufen. Nehmen wir beispielsweise an, eine japanische Studentin wollte ein amerikanisches Wirtschaftsfachbuch oder eine Reise in die Vereinigten Staaten kaufen. Um dafür zu bezahlen, wird sie US-Dollar brauchen. Wenn Japan Airlines eine Boeing 767 für ihre Flotte kauft, erhöht diese Transaktion die Nachfrage nach US-Dollar. Wenn ein japanischer Pensionsfond in US-Aktien investiert, muss er vorher US-Dollar kaufen. Ausländer fragen US-Dollar nach, um für ihre Käufe von amerikanischen Waren, Dienstleistungen oder Anlagen zu zahlen. Die Nachfragekurve in Abbildung 29-3 ist nach unten geneigt, was verdeutlicht, dass im Falle eines Rückganges des Dollarpreises (das heißt einer Verteuerung des Yen) Japaner mehr ausländische Waren, Dienstleistungen und Investitionen nachfragen werden. Daher werden sie am Devisenmarkt mehr US-Dollar
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kaufen. Überlegen Sie, was passiert, wenn der Wechselkurs zum US-Dollar von ¥ 100/US-$ auf ¥ 50/US-$ fällt. Amerikanische Computer, die bisher US-$ 2.000 (¥ 100/US-$) = ¥ 200.000 kosteten, bekommt man nun für nur US-$ 2.000 (¥ 50/US-$) = ¥ 100.000. Die japanischen Käufer werden daher geneigt sein, mehr amerikanische Computer zu erwerben, und die Menge der als Auslandswährung nachgefragten US-Dollar wird steigen. Die Marktkräfte bewegen den Wechselkurs so lange nach unten oder oben, bis Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind. Der Preis wird sich beim Gleichgewichtswechselkurs stabilisieren, also auf dem Niveau, auf dem die Anzahl der freiwillig gekauften US-Dollar der Menge der freiwillig verkauften US-Dollar entspricht. Der Ausgleich zwischen dem Angebot an einer Auslandswährung und der Nachfrage nach dieser Währung bestimmt deren Wechselkurs. Bei einem Wechselkurs von 100 Yen pro US-Dollar, wie er in Punkt E in Abbildung 29-3 vorliegt, befindet sich der Markt im Gleichgewicht; der Wechselkurs tendiert folglich weder nach oben noch nach unten. Wir haben den Devisenmarkt im Hinblick auf das Angebot von und die Nachfrage nach USDollar betrachtet. An diesem Markt nehmen aber zwei Währungen teil; wir könnten daher genauso gut Angebot und Nachfrage für den japanischen Yen untersuchen. Dafür sollten Sie eines unserer üblichen Angebots- und Nachfragediagramme zeichnen, mit der Menge Yen als Auslandswährung auf der waagrechten und dem Yen-Wechselkurs (US-$ pro ¥) auf der senkrechten Achse. Wenn, aus Sicht des US-Dollars, das Gleichgewicht bei ¥ 100/ US-$ liegt, dann liegt umgekehrt der Wechselkurs für den Yen bei US-$ 0,01/¥. Führen Sie übungshalber die Untersuchung auch für diesen Wechselkurs durch. Sie werden feststellen, dass es in dieser einfachen bilateralen Welt für jede Aussage über den US-Dollar eine genau entsprechende für den Yen gibt: Das Angebot an US-Dollar entspricht der
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Nachfrage nach Yen, und die Nachfrage nach US-Dollar entspricht dem Angebot an Yen. Nur noch ein weiterer Schritt ist notwendig, um zu den wahren Devisenmärkten zu gelangen. In Wirklichkeit gibt es viele verschiedene Währungen. Wir müssen daher für sie alle Angebot und Nachfrage bestimmen. Angesichts der vielen Länder auf dieser Welt ist es dieser vielfache Austausch und Handel, mit Angebot und Nachfrage aus allen Gegenden der Erde, der die ganze breite Palette der Wechselkurse bestimmt. Die Terminologie der Devisenmärkte Devisenmärkte haben ihre eigene Terminologie. Definitionsgemäß wird ein sinkender Preis einer Währung gemessen an einer oder allen anderen als Kursverlust, ein Preisanstieg einer Währung gemessen an einer anderen Währung hingegen als Kursgewinn bezeichnet. In unserem obigen Beispiel, in dem der Preis des US-Dollars von ¥ 100/US-$ auf ¥ 200/US-$ stieg, erzielte der US-Dollar einen Kursgewinn, der Yen dagegen einen Kursverlust. In dem Angebots- und Nachfragediagramm für den US-Dollar bedeutet ein sinkender Wechselkurs (e) einen Kursverlust für den US-Dollar; ein Anstieg des Wechselkurses e bedeutet einen Kursgewinn. Häufig kommt es zu einer Verwechslung der Begriffe „Abwertung“ und „Kursverlust“. Der Ausdruck Abwertung ist auf Situationen beschränkt, in denen ein Land seinen Wechselkurs gegenüber einer oder mehreren Auslandswährungen offiziell festgelegt hat. In einem solchen Fall kommt es zu einer Abwertung, wenn der feste Wechselkurs durch eine Senkung des Preises der Währung verändert wird. Es kommt zu einer Aufwertung, wenn der offizielle Preis erhöht wird. Beispielsweise wertete Mexiko im Dezember 1994 seine Währung ab, als es den offiziellen Kurs, zu dem es den Peso verteidigte, von 3,5 Peso auf 3,8 Peso pro USDollar senkte. Bald musste Mexiko feststellen, dass es auch die neue Parität nicht
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
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verteidigen konnte, und gab seinen Wechselkurs frei. Daraufhin sank der Pesokurs weiter.
Auswirkungen von Veränderungen im Außenhandel
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Wechselkurs (¥/US-$)
Sinkt der Wechselkurs einer Währung gegenüber einer anderen, dann sagen wir, die heimische Währung habe einen Kursverlust erlitten, während die Auslandswährung einen Kursgewinn zu verzeichnen hat. Wird der offizielle Wechselkurs einer Währung gesenkt, sagen wir, dass diese Währung abgewertet wurde. Eine Erhöhung des offiziellen Wechselkurses wird als Aufwertung bezeichnet.
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Devisenverkehr (in US-$)
Was würde geschehen, wenn sich die Nachfrage änderte? Wenn in Japan beispielsweise Rezession herrscht, dann sinkt dort die Nachfrage nach Importen. Infolgedessen geht auch die Nachfrage nach US-Dollar zurück. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist in Abbildung 29-4 dargestellt. Der Rückgang der Käufe von amerikanischen Waren, Dienstleistungen und Investitionen vermindert am Devisenmarkt die Nachfrage nach US-Dollar. Diese Änderung wird durch eine Linksverschiebung der Nachfragekurve dargestellt. Das Ergebnis ist ein niedrigerer Wechselkurs – das heißt, der US-Dollar sinkt im Kurs, und der Yen steigt im Kurs. Bei dem niedrigeren Wechselkurs wird die Dollarmenge, die Amerikaner auf dem Markt anbieten, zurückgehen, weil japanische Waren nun teurer sind. Außerdem werden die Japaner aufgrund der Rezession weniger USDollar nachfragen. Um wie viel wird sich der Wechselkurs verändern? Nun, um gerade so viel, dass Angebot und Nachfrage wieder im Gleichgewicht sind. Im Beispiel in Abbildung 29-4 wurde der US-Dollar von ¥ 100/US-$ auf ¥ 75/US-$ abgewertet. Betrachten wir einen Fall, der die Kapitalbilanz betrifft. Nehmen wir an, dass, wie im Jahr 2000 tatsächlich geschehen, die amerikanische Zentralbank wegen des zunehmenden
Abbildung 29-4: Eine abnehmende Nachfrage nach US-Dollar führt zu einem sinkenden Dollarkurs Nehmen wir an, eine Rezession oder Deflation in Japan reduzierte die japanische Nachfrage nach US-Dollar. Dadurch würde die Nachfragekurve nach US-Dollar von DD nach links zu D'D' verschoben. Der Wechselkurs des US-Dollar sinkt, derjenige des Yen steigt. Warum würde das neue Kursverhältnis Amerikaner tendenziell davon abhalten, japanische Waren zu kaufen?
Inflationsdrucks eine restriktive Geldpolitik einführt. Das macht Anlagen in US-Dollar attraktiver als in ausländischer Währung, da die Zinsen im Dollarraum relativ zu den Zinsen für japanische oder europäische Wertpapiere steigen. Infolgedessen nimmt die Nachfrage nach US-Dollar zu, und der Dollarkurs steigt. Diese Entwicklung ist in Abbildung 29-5 dargestellt.
Wechselkurse und die Zahlungsbilanz Welche Verbindung besteht zwischen Wechselkursen und Anpassungen in der Zahlungsbilanz? Nehmen wir im einfachsten Fall an, die Wechselkurse würden durch privates Angebot und private Nachfrage bestimmt, ohne irgendwelche Interventionen des Staates. Be-
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
rer Währungen, beispielsweise des US-Dollar, sinken. Die Wechselkursverschiebung hält so lange an, bis Kapital- und Leistungsbilanz wieder im Gleichgewicht sind. Am leichtesten verständlich ist der Vorgang bei der Leistungsbilanz. Hier verteuert der steigende DM-Kurs deutsche Waren und führt zu einem Rückgang deutscher Exporte und einer Zunahme deutscher Importe. Beide Faktoren bewirken einen Rückgang des Überschusses in der deutschen Leistungsbilanz.
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Wechselkursschwankungen dienen als Ausgleichsmechanismus zur Beseitigung von Zahlungsbilanzungleichgewichten.
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Kaufkraftparität und Wechselkurse
Devisenverkehr (in US-$)
Abbildung 29-5: Eine Geldverknappung erhöht die Nachfrage nach US-Dollar und führt zu einer Kurssteigerung der Währung Über die Kapitalbilanz kann die Geldpolitik den Wechselkurs beeinflussen. Wenn die Zentralbank die Zinssätze für US-Dollar erhöht, wollen Investoren Mittel in Wertpapiere anlegen, die in US-Dollar notiert sind, was die Nachfrage nach US-Dollar als Fremdwährung erhöht. Dies führt zu einem Anstieg des Dollarkurses. (Erläutern Sie, warum gleichzeitig der Kurs des japanischen Yen oder des Euro sinkt.)
trachten wir, was 1990 nach der deutschen Wiedervereinigung geschah, als die Deutsche Bundesbank beschloss, die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation niedrig zu halten. Nach dieser Geldverknappung legten Ausländer einige ihrer Mittel in Deutschland an, um von den hohen deutschen Zinsen zu profitieren. Dadurch kam es zum alten Wechselkurs zu einer zusätzlichen Nachfrage nach D-Mark. Anders formuliert: Zum alten Wechselkurs kauften die Menschen D-Mark und verkauften andere Währungen. (Sie können Abbildung 29-5 so neu zeichnen, dass sie diese Situation widerspiegelt.) In einer solchen Situation spielt der Wechselkurs eine Rolle als Gleichgewichtsfaktor. Aufgrund der steigenden DM-Nachfrage steigt auch der DM-Kurs, und die Kurse ande-
Kurzfristig reagieren die auf dem Markt gebildeten Wechselkurse stark auf die Geldpolitik, auf politische Ereignisse und geänderten Erwartungen. Langfristig hingegen werden Wechselkurse primär durch die relativen Preise für Güter in den einzelnen Ländern bestimmt. Eine wichtige Folge hiervon ist die Kaufkraftparitätentheorie (PPP) der Wechselkurse. Laut dieser Theorie bewirkt der Wechselkurs, dass sich die Kosten für den Kauf einer bestimmten Ware im In- und Ausland tendenziell angleichen. Die Kaufkraftparitätentheorie lässt sich anhand eines einfachen Beispiels illustrieren. Nehmen wir an, der Preis für einen bestimmten Warenkorb (Autos, Schmuck, Öl, Nahrung und so weiter) beträgt in den Vereinigten Staaten US-$ 1.000 und in Mexiko 10.000 Pesos. Bei einem Wechselkurs von 100 Pesos pro US-Dollar kostet dieser Warenkorb in Mexiko US-$ 100. Angesichts der jeweiligen Preise und des Freihandels zwischen den beiden Ländern müsste man erwarten, dass amerikanische Unternehmen und Konsumenten über die Grenze strömen, um zu den niedrigeren mexikanischen Preisen einzukaufen. Das Ergebnis wären höhere Importe aus Mexiko und eine größere Nachfrage nach mexikanischen Pesos. Dadurch käme es zu einer Aufwertung des Pesos gegenüber dem
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US-Dollar, sodass plötzlich mehr US-Dollar benötigt würden, um dieselbe Anzahl von Pesos zu kaufen. In der Folge würden die Preise für die mexikanischen Waren ausgedrückt in US-Dollar steigen, obwohl sich die Peso-Preise nicht geändert haben. Wo würde dieser Prozess enden? Bei unveränderten einheimischen Preisen in beiden Ländern muss der Wechselkurs auf 10 Pesos pro Dollar sinken. Nur bei diesem Wechselkurs wäre der Preis für den Warenkorb in beiden Märkten wieder gleich hoch. Bei 10 Pesos pro US-Dollar sagen wir, dass die Währungen in Bezug auf die gehandelten Güter die gleiche Kaufkraft haben. (Sie können Ihr Verständnis dieser Tatsache vertiefen, indem Sie den Preis für den Warenkorb vor und nach dem Kursanstieg des Peso sowohl in mexikanischen Pesos als auch in US-Dollar berechnen.) Die Kaufkraftparitätendoktrin besagt auch, dass Länder mit hohen Inflationsraten mit einer Abwertung ihrer Währung rechnen müssen. Wenn beispielsweise die Inflation in Land A 10 Prozent jährlich beträgt, während die Inflation in Land B jährlich 2 Prozent ausmacht, wird die Währung von Land A gegenüber jener von Land B im Ausmaß der Differenz der Inflationsraten, also um 8 Prozent jährlich, abgewertet werden. Nehmen wir alternativ an, dass eine galoppierende Inflation während eines Jahres zu einer hundertfachen Erhöhung der Preise in Russland führt, während die Preise in den USA unverändert bleiben. Laut der Kaufkraftparitätentheorie müsste der russische Rubel um 99 Prozent abgewertet werden, um die Preise amerikanischer und russischer Waren wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Vorsichtshalber wollen wir darauf hinweisen, dass uns die Kaufkraftparitätentheorie nur einen Näherungswert liefert, nicht aber die genauen Bewegungen der Wechselkurse vorhersagen kann. Der Spielraum, den die Kaufkraftparitätentheorie einräumt, lässt sich anhand des Verhältnisses zwischen dem US-Dollar und dem japanischen Yen im letzten Jahrzehnt darstellen: Der Wechselkurs lag sowohl schon bei 168 Yen pro US-Dollar
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als auch bei nur 85 Yen pro US-Dollar, während die meisten Ökonomen das PPP-Niveau bei etwa 120 Yen pro Dollar ansetzen. Handelsschranken, Transportkosten und kostenlose Dienstleistungen führen zu signifikanten Preisunterschieden zwischen den Ländern. Zusätzlich können die Finanzflüsse kurzfristig gegenüber den Handelsflüssen überwiegen. Während daher die Kaufkraftparitätentheorie langfristig einen durchaus nützlichen Anhaltspunkt für die Wechselkurse darstellt, weichen die Wechselkurse de facto oft jahrelang von ihrem PPP-Niveau ab. Die Kaufkraftparitätentheorie und die wirtschaftliche Größe der Nationen Unabhängig vom angelegten Maßstab stellen die USA weltweit die größte Volkswirtschaft dar. Aber welches Land kommt an zweiter Stelle? Handelt es sich um Japan, Deutschland, Russland oder um irgendein anderes Land? Sie denken vielleicht, diese Frage sei einfach zu beantworten, so als wäre eine Größe oder ein Gewicht zu messen. Das Problem besteht jedoch darin, dass die Japaner ihr BIP in Yen messen, während die Russen Rubel und die US-Amerikaner US-Dollar zugrunde legen. Für einen vernünftigen BIP-Vergleich muss man zuerst eine Umrechnung in dieselbe Währung vornehmen. Der übliche Ansatz besteht darin, einen marktgängigen Wechselkurs zur Umrechnung jeder Währung in US-Dollar zu verwenden, und nach diesem Maßstab kommt Japan nach den USA als Wirtschaftsmacht weltweit an zweiter Stelle. Doch dieser auf dem Markt gebildete Wechselkurs ist nicht unproblematisch. Erstens können Wechselkurse stark fallen oder steigen, das heißt, die „wirtschaftliche Größe“ eines Landes könnte sich über Nacht um 10 Prozent oder gar 20 Prozent ändern. Außerdem scheinen bei dieser Heranziehung der auf dem Devisenmarkt gebildeten Wechselkurse viele arme Länder nur über ein sehr geringes BIP zu verfügen. Heutzutage bevorzugen Wirtschaftswissenschaftler generell die Kaufkraftparität, wenn sie den Lebensstandard verschiedener
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Länder vergleichen. Der Unterschied kann gewaltig sein, wie Abbildung 29-6 zeigt. Bei Zugrundelegung der auf dem Devisenmarkt gebildeten Wechselkurse wird die Wirtschaftsleistung einkommensschwacher Länder wie jene Chinas oder Indiens zu gering bewertet. Dies geschieht deshalb, weil ein großer Teil der Wirtschaftsleistung aus nicht auf dem Markt gehandelten, arbeitsintensiven Dienstleistungen herrührt, die in Niedriglohnländern zumeist äußerst billig sind. Wenn wir also die Kaufkraftparität unter Einbeziehung der Preise für nicht auf dem Markt gehandelte Güter berechnen, erhöht dies die BIPs der einkommensschwachen Länder im Vergleich zu den Hochlohnländern. Bei Verwendung der Kaufkraftparität ist beispielsweise Chinas BIP fünfmal so hoch wie bei einer Berechnung anhand des Devisenkurses. Außerdem rangiert China nach dieser Berechnungsmethode weltweit noch vor Japan an zweiter Stelle.
C. Das internationale Währungssystem Während das einfache Angebots- und Nachfragediagramm für den Devisenmarkt die wesentlichen Bestimmungsfaktoren erklärt, kann es die Wirkungsweise und zentrale Bedeutung des internationalen Währungssystems nicht widerspiegeln. Während der neunziger Jahre kam es ständig zu internationalen Finanzkrisen – in Europa von 1991-1992, in Mexiko und Lateinamerika zwischen 1994 und 1995, in Ostasien und Russland 1997 bis 1998 und dann wieder in Lateinamerika von 1998–2002. Die Vereinigten Staaten konnten sich zwar weitgehend den Folgen dieser Krisen entziehen, die Ereignisse in diesem Zeitraum unterstreichen aber die Bedeutung eines gut funktionierenden internationalen Währungssystems.
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Was ist ein internationales Währungssystem? Mit diesem Begriff bezeichnen wir Vorgehensweisen und Institutionen, die bei Zahlungen für grenzüberschreitende Transaktionen eingesetzt werden. Insbesondere bestimmt das internationale Währungssystem, wie die Wechselkurse festgelegt werden und wie Regierungen diese Kurse beeinflussen können. Die Bedeutung des internationalen Währungssystems hat der Wirtschaftwissenschaftler Robert Solomon gut beschrieben: Genau wie die Ampeln einer Stadt wird das internationale Währungssystem als selbstverständlich hingenommen, bis es plötzlich nicht mehr richtig funktioniert und das Leben der Menschen empfindlich stört. ... Ein gut funktionierendes Währungssystem erleichtert den internationalen Handel und Investitionen im Ausland und ermöglicht eine flexible Anpassung an Veränderungen. Ein schlecht funktionierendes Währungssystem kann nicht nur die Entwicklung von Handel und Kapitalanlagen der Länder untereinander behindern, sondern kann in den betroffenen Volkswirtschaften auch beträchtliche Störungen verursachen, wenn notwendige Anpassungen an veränderte Situationen verhindert oder hinausgeschoben werden.5
Im Mittelpunkt des internationalen Währungssystems stehen die Mechanismen, durch welche die Wechselkurse festgelegt werden. Während der letzten Jahre hat sich jedes Land für eines von drei bedeutenden Wechselkurssystemen entschieden: • ein System fester Wechselkurse • ein System flexibler oder schwankender Wechselkurse, in dem der Kurs durch die Marktkräfte bestimmt wird • ein Mischsystem aus administrierten Wechselkursen, bei dem der Staat interveniert, um Schwankungen des Wechselkurses auszugleichen oder einen Wechselkurs innerhalb einer vorgegebenen Bandbreite zu halten. 5 Für dieses Zitat siehe den Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
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BIP, 1998 (Mrd. US-$, PPP-Wechselkurse)
China Japan Indien 1.000 Indonesien
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Deutschland Frankreich Großbritannien
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BIP, 1998 (Mrd. US-$, Devisenmarktkurse)
Abbildung 29-6: Berechnungen mittels der Kaufkraftparität verändern die relative Wirtschaftsgröße der Länder Die wirtschaftliche Rangordnung der Länder ändert sich, wenn statt der marktgängigen Wechselkurse die Kaufkraftparität verwendet wird. Nachdem die entsprechende Einkommenskorrektur vorgenommen wurde, steigt China von einem Land mittlerer Größe zu einer wirtschaftlichen Supermacht auf. Beachten Sie, dass Länder, die einen Punkt auf der 45˚-Linie einnehmen, nach jeder der beiden Messmethoden das gleiche BIP erreichen. Punkte oberhalb der Linie, wie im Falle Chinas, drücken aus, dass das mittels der Kaufkraftparität geschätzte BIP über der Berechnung mithilfe des Wechselkurses liegt. Japan liegt unterhalb dieser Linie, denn die relativen Preise in Japan sind aufgrund der hohen Mieten und Handelsschranken hoch. Quelle: Weltbank. Beachten Sie, dass die Produktion im Verhältnismaßstab dargestellt ist.
Feste Wechselkurse: Der klassische Goldstandard An dem einen Ende des Spektrums finden wir das System fester Wechselkurse, in dem die Staaten das genaue Verhältnis festlegen, zu dem US-Dollar in Pesos, Yen und andere Währungen umgetauscht werden können. Historisch gesehen ist das wichtigste Beispiel für ein System fester Wechselkurse der Goldstandard, der mit Unterbrechungen von 1717 bis 1933 verwendet wurde. In diesem System definierte jedes Land den Wert seiner Währung anhand einer festgelegten Goldmenge, wodurch sich auf der Grundlage des Goldstandards feste Wechselkurse zwischen den Ländern ableiteten.6
Wie der Goldstandard funktionierte, lässt sich leicht an einem vereinfachten Beispiel demonstrieren. Nehmen wir an, überall auf der Welt würden die Leute darauf bestehen, sich mit kleinen Goldstücken bezahlen zu lassen. So wäre für den Kauf eines Fahrrads in Großbritannien nur eine Zahlung in Gold zu einem Kurs erforderlich, der sich in Goldunzen ausdrücken ließe. Es gäbe definitionsgemäß kein Wechselkursproblem. Gold wäre die gemeinsame Weltwährung.
6 Warum wurde Gold anstatt irgendeiner anderen Ware als standardmäßiges Tausch- und Zahlungsmittel verwendet? Man hätte natürlich auch ein anderes Material einsetzen können, doch Gold hatte den Vorteil, knapp, verhältnismäßig robust und kaum für industrielle Zwecke verwendbar zu sein. Verstehen Sie, warum Wein, Weizen und Rinder als außenwirtschaftliches Zahlungsmittel nicht geeignet gewesen wären?
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Mit diesem Beispiel treffen wir sehr genau das Wesen des Goldstandards. Solange Gold Tausch- oder Geldmittel war, unterschied sich der Außenhandel in keiner Weise vom Binnenhandel; man konnte für alles mit Gold bezahlen. Der einzige Unterschied von Land zu Land bestand darin, dass verschiedene Maßeinheiten für die jeweiligen Goldmünzen gewählt wurden. So beschloss Königin Victoria von England, britische Münzen zu rund einer Viertel Unze Gold prägen zu lassen (das britische Pfund), während Präsident McKinley die amerikanische Einheit mit 1/20 Unze Gold festlegte (den US-Dollar). In diesem Fall betrug der Wechselkurs des britischen Pfund, das fünfmal so schwer war wie der US-Dollar, US-$ 5 zu £ 1. So funktionierte der Goldstandard. In der Praxis verwendeten die Länder dann doch lieber ihre eigenen Münzen. Aber es stand jedem frei, Münzen einzuschmelzen und sie zum gängigen Goldpreis zu verkaufen. Damit wurden die Wechselkurse aller Länder anhand des Goldstandards festgelegt. Die Wechselkurse (auch als amtliche Wechselkurse oder Paritäten bezeichnet) für verschiedene Währungen wurden durch den Goldgehalt der Geldeinheiten bestimmt.
Humes Anpassungsmechanismus Das Wechselkurssystem dient der Förderung des internationalen Handels und internationaler Finanztransaktionen und soll eine Anpassung an unvorhergesehene, plötzliche Ereignisse erleichtern. Wie genau funktioniert der internationale Anpassungsmechanismus? Was geschieht beispielsweise, wenn das Lohn- und Preisniveau eines Landes so stark ansteigt, dass die Waren dieses Landes auf den Weltmärkten nicht mehr wettbewerbsfähig sind? Bei flexiblen Wechselkursen würde der Kurs dieses Landes in diesem Fall sinken, um die heimische Inflation auszugleichen. Doch bei festen Wechselkursen muss das Gleichgewicht durch eine Deflation im Inland oder eine Inflation im Ausland wiederhergestellt werden.
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Lassen Sie uns den internationalen Anpassungsmechanismus bei festen Wechselkursen zwischen zwei Ländern, den USA und Großbritannien, untersuchen. Nehmen wir an, aufgrund der Inflation in den USA wären amerikanische Waren nicht mehr wettbewerbsfähig. Infolgedessen stiegen die amerikanischen Importe, während die Exporte sänken. Dadurch entstünde ein Handelsbilanzdefizit mit Großbritannien. Zur Finanzierung dieses Defizits müssten die USA Gold nach Großbritannien schicken. Wenn es weder in den USA noch in Großbritannien zu einer Anpassung käme, wären die amerikanischen Goldvorräte irgendwann erschöpft. Tatsächlich existiert jedoch ein automatischer Anpassungsmechanismus, wie der britische Philosoph David Hume 1752 nachwies. Hume zeigte, dass der Goldabfluss nur Teil eines Mechanismus ist, der auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz hinwirkt. Auch wenn seine Argumentation fast 250 Jahre alt ist, bietet sie doch wichtige Einsichten in den Ablauf dessen, was auch in der heutigen Wirtschaft zum Ausgleich der Handelsströme führt. Die Erklärung Humes beruhte teilweise auf der Quantitätstheorie der Preise, einer Schlüsseltheorie zum Thema allgemeines Preisniveau, mit dem sich die Makroökonomik beschäftigt. Nach dieser Lehre verhält sich das allgemeine Preisniveau in einer Wirtschaft proportional zur jeweiligen Geldmenge. Unter dem Goldstandard war Gold ein wichtiger Teil des Geldangebotes – sei es direkt, in Form von Goldmünzen, oder indirekt, wenn die Staaten Gold zur Deckung ihres Papiergeldes verwendeten. Wie würde sich ein Goldverlust eines Landes auswirken? Erstens wäre dadurch ein Rückgang der Geldmenge dieses Landes zu verzeichnen, entweder durch den Export von Goldmünzen oder durch den Abfluss eines Teils des Goldes zur Deckung der Währung. Wenn wir diese beiden Folgen kombiniert betrachten, so führt ein Verlust an Gold offensichtlich zu einem Rückgang der Geldmenge. Laut der Mengentheorie kommt es zu
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
einer Verschiebung der Preise und Kosten proportional zur Änderung der Geldmenge. Verlieren also die USA 10 Prozent ihres Goldes, weil sie damit ein Handelsdefizit bezahlen, so prognostiziert die Quantitätstheorie, dass die amerikanischen Preise, Kosten und Einkommen um 10 Prozent fallen werden. Mit anderen Worten, die Wirtschaft schlittert in eine Deflation. Würden plötzlich entdeckte Goldvorkommen in Kalifornien das amerikanische Goldangebot drastisch erhöhen, dürften wir erwarten, dass auch das Preisniveau in den USA proportional ansteigen würde. Der Vierphasenmechanismus. Betrachten wir nun Humes Theorie des Zahlungsbilanzausgleichs. Nehmen wir an, die USA hätten ein großes Außenhandelsdefizit und begännen daher, Gold zu verlieren. Nach der Quantitätstheorie vermindert dieser Goldverlust die amerikanische Geldmenge und senkt so Preise und Kosten in den USA. Infolgedessen reduzieren (1) die USA ihre Importe britischer und anderer ausländischer Güter, die sich relativ verteuert haben; da (2) die in den USA produzierten Waren auf den Weltmärkten relativ billig geworden sind, steigen die amerikanischen Exporte. Der gegenteilige Effekt tritt in Großbritannien und anderen Ländern ein. Bei einem rapiden Anstieg der britischen Exporte erhält das Land im Gegenzug Gold. Die britische Geldmenge steigt an, was gemäß der Quantitätstheorie die britischen Preise und Kosten in die Höhe treibt. Hier kommen zwei weitere Phasen des Humeschen Mechanismus ins Spiel: (3) Die britischen und sonstigen ausländischen Exporte haben sich verteuert, daher nimmt das Volumen der in die USA und in andere Länder exportierten Güter ab; und (4) die britischen Bürger importieren nun, angesichts eines höheren heimischen Preisniveaus, größere Mengen an billigen amerikanischen Gütern. Abbildung 29-7 verdeutlicht die Logik des Humeschen Mechanismus. Führen Sie sich die Abfolge von dem ursprünglichen Defizit
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ganz oben über die Anpassung zum neuen Gleichgewicht ganz unten vor Augen. Das Ergebnis des vierphasigen Humeschen Goldflussmechanismus ist eine Verbesserung der Zahlungsbilanz jenes Landes, das Gold verliert, und eine Verschlechterung der Zahlungsbilanz des Landes, das Gold gewinnt. Schließlich tritt bei einem neuen relativen Preisniveau wieder ein Außenhandels- und Finanzgleichgewicht ein, bei dem die Handelsflüsse und Kreditvergaben – per Saldo ohne Goldfluss – im Gleichgewicht bleiben. Dieses neue Gleichgewicht ist stabil und erfordert zu seiner Aufrechterhaltung keine Zölle oder sonstigen staatlichen Interventionen. Anpassung bei festen Wechselkursen. Den Goldstandard sollte man nicht nur verstehen, weil er eine so wichtige historische Rolle spielte, sondern auch, weil er ein unverfälschtes Beispiel für ein festes Wechselkurssystem ist. Die gleiche Analyse lässt sich dann auf alle festen Wechselkurssysteme anwenden: Können die Kurse sich nicht frei bewegen, wenn die Preise oder Einkommen der Länder nicht mehr miteinander harmonieren, dann müssen sich die einheimischen Preise und Einkommen anpassen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Nachdem einige westeuropäische Länder sich für eine gemeinsame Währung entschieden haben, müssen Ungleichgewichte in Produktion oder Beschäftigung dieser Länder durch Veränderungen im einheimischen Preisniveau beseitigt werden, Wechselkurse können hier nicht mehr helfen. Im Mechanismus von Hume bewegt der Goldfluss Preise und Löhne und stellt so ein neues Gleichgewicht her. Im modernen makroökonomischen Denken wird eine Anpassung von Preisen und Löhnen durch Bewegungen in Produktion und Beschäftigung erreicht. Wenn ein Land sich für feste Wechselkurse entscheidet, muss es sich einer Tatsache bewusst sein: Die reale Produktion und die reale Beschäftigung müssen sich anpassen,
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Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
USA weisen ein Zahlungsbilanzdefizit auf
USA verlieren Gold, Großbritannien gewinnt Gold
Schritt 1: US-Warenimporte sinken
US-Geldmenge schrumpft
Britische Geldmenge steigt
US-Preise sinken
Britische Preise steigen
Schritt 2: US-Warenexporte steigen
Schritt 3: BritischeWarenimporte steigen
US-Zahlungsbilanz im Gleichgewicht
Schritt 4: BritischeWarenexporte sinken
Britische Zahlungsbilanz im Gleichgewicht
Abbildung 29-7: Der internationale Anpassungsmechanismus laut Hume Hume erklärte, wie unter dem Goldstandard ein Ungleichgewicht in der Zahlungsbilanz automatisch zu Ausgleichsbewegungen führt. Folgen Sie der Entwicklung von dem ursprünglichen Ungleichgewicht ganz oben in der Abbildung über die Veränderung der Preise bis zur Wiederherstellung des Gleichgewichts unten in der Abbildung. In modifizierter Form funktioniert dieser Mechanismus in jedem System fester Wechselkurse. Heutzutage ergänzt die Wirtschaftwissenschaft den Mechanismus dadurch, dass sie die vierte Reihe durch „Preise, Produktion und Beschäftigung sinken in den USA“ und „Preise, Produktion und Beschäftigung steigen in Großbritannien“ ersetzt.
um sicherzustellen, dass die relativen Preise im richtigen Verhältnis zu denen der Handelspartner stehen.
Internationale Währungsinstitutionen nach dem Zweiten Weltkrieg Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beteiligten sich selbst Staaten, die politisch betrachtet im Frieden lebten, an zermürbenden Handelskriegen und sinnlosen Abwertungswettläu-
fen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden angesichts dieser Erfahrung internationale Institutionen geschaffen, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Staaten zu fördern. Über diese Institutionen koordinieren die Staaten ihre Politik und suchen Lösungen für gemeinsame Probleme. Die USA waren aus dem Zweiten Weltkrieg mit einer intakten Wirtschaft hervorgegangen – gewillt und fähig, die Länder ihrer ehemaligen Verbündeten und Feinde gleichermaßen wieder aufzubauen. Das internationale politische Gefüge der Nachkriegszeit kam den Bedürfnissen der kriegsgeschüttel-
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
ten Länder durch die Errichtung dauerhafter Institutionen entgegen, die eine rasche Erholung der internationalen Wirtschaft ermöglichten. Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Institutionen der Nachkriegszeit waren das Internationale Freihandelsabkommen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade, das als World Trade Organization 1995 eine neue Satzung erhielt), das Wechselkurssystem von Bretton Woods, der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF) und die Weltbank. Diese vier Institutionen halfen den demokratischen Industrienationen beim eigenen Wiederaufbau und raschen Wachstum nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, und sie sind nach wie vor die wichtigsten internationalen Organisationen.
Der Internationale Währungsfonds Eine wesentliche Errungenschaft der Konferenz in Bretton Woods war die Schaffung des Internationalen Währungsfonds (IMF), der noch heute das internationale Währungssystem administriert und als Zentralbank der Zentralbanken fungiert. Die Mitgliedsstaaten stellen ihre Währungen zur Verfügung, die der IMF weiterreicht, um Ländern in Zahlungsbilanzschwierigkeiten zu helfen. Die wichtigste Funktion des IMF besteht darin, Ländern mit Zahlungsbilanzproblemen oder solchen, die sich spekulativen Angriffen der Finanzmärkte ausgesetzt sehen, zeitweilig Darlehen zu gewähren.
Die Weltbank Eine weitere internationale Finanzinstitution, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde, ist die Weltbank. Die Kapitalausstattung der Weltbank erfolgt über kreditgebende Länder mit hohen Einkommen, die sich je nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, gemessen am Sozialprodukt und Ähnlichem, proportional beteiligen. Die Weltbank vergibt für wirtschaftlich vernünftige, jedoch privatwirtschaftlich nicht zu fi-
Teil 6
nanzierende Projekte langfristige, zinsgünstige Kredite an einzelne Staaten. Infolge dieser Langzeitkredite fließen Güter und Dienstleistungen von den reichen Industrienationen in die einkommensschwachen Entwicklungsländer.
Das Bretton-Woods-System Wirtschaftswissenschaftler der dreißiger und vierziger Jahre, insbesondere John Maynard Keynes, wurden durch das wirtschaftliche Chaos der Vorkriegsperiode stark beeinflusst. Sie waren daher auch fest entschlossen, die chaotischen Zustände und Abwertungswettläufe des Goldstandards während der Großen Depression künftig zu verhindern. Sie hielten den Goldstandard für äußerst inflexibel und glaubten, er verschlimmere und verlängere Konjunkturzyklen. Um den Goldstandard zu ersetzen, legte das Bretton-Woods-System für jede Währung eine Parität sowohl in Bezug auf den US-Dollar als auch auf Gold fest. Die revolutionäre Neuerung des Systems von Bretton Woods war die Tatsache, dass die Wechselkurse zwar fest, aber anpassbar waren. Sobald eine Währung von ihrem angestammten oder „fundamentalen“ Wert zu sehr abwich, ließ sich die Parität anpassen. Die Möglichkeit, die Wechselkurse im Fall eines fundamentalen Ungleichgewichts anzupassen, war der wesentliche Unterschied zwischen dem System von Bretton Woods und dem Goldstandard. Während der ersten 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg funktionierte das Bretton-Woods-System sehr effektiv. Es brach schließlich zusammen, als der US-Dollar überbewertet war und sich die Vereinigten Staaten weigerten, die notwendigen Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um international wieder wettbewerbsfähig zu werden. Von 1971–1973 gaben die Vereinigten Staaten das System von Bretton Woods auf, und für die Welt begann eine neue Ära.
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Garantie von festen Wechselkursen durch „glaubhafte Fixierung“ Obwohl der Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods das Ende des weltweit dominierenden Systems fester Wechselkurse bedeutete, entscheiden sich viele Länder nach wie vor für feste Wechselkurse. In solchen Systemen tritt jedoch immer wieder das Problem auf, dass sie spekulativen Angriffen ausgesetzt sind, wenn dem Land die ausländischen Währungsreserven auszugehen drohen. (Wir werden dieses Problem im nächsten Kapitel wieder aufgreifen.) Wie können Länder die Glaubwürdigkeit ihres festen Wechselkurssystems erhöhen? Gibt es irgendwelche „garantiert“ festen Wechselkurse, die spekulativen Angriffen besser widerstehen können? Fachleute auf diesem Gebiet betonen die Notwendigkeit, für Glaubwürdigkeit zu sorgen. In diesem Zusammenhang kann die Glaubwürdigkeit dadurch erhöht werden, dass man ein System schafft, das es einem Land äußerst schwer macht, seine Wechselkurse zu ändern. Dieser Ansatz gleicht dem militärischen Vorgehen, die Brücken hinter einem vorrückenden Heer zu sprengen, sodass es keine Rückzugsmöglichkeit gibt und die Soldaten sich auf einen Kampf auf Leben und Tod einlassen müssen. Der Präsident Argentiniens versuchte tatsächlich, das Vertrauen in die Währung des Landes zu stärken, indem er verkündete, er ziehe „den Tod einer Abwertung“ vor. Ein Lösungsansatz besteht in der Einrichtung von Währungsämtern (currency boards). Ein solches Währungsamt ist eine Finanzinstitution, die nur Währung herausgibt, die vollständig durch Kapitalanlagen in einer wichtigen Auslandwährung, üblicherweise US-Dollar, gedeckt ist. Ein Währungsamt verteidigt einen Wechselkurs, der gesetzlich festgeschrieben und nicht einfach nur politisch verordnet ist; üblicherweise ist das Währungsamt unabhängig und kann sogar privat geführt werden. Wenn ein Währungsamt tätig wird, dann löst ein Defizit in der Regel den von Hume beschriebenen automatischen Mechanismus aus. Das heißt, ein Zahlungsbilanzde-
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fizit reduziert das Geldangebot, was zum Schrumpfen der Wirtschaft und letztendlich zu einem Rückgang der einheimischen Preise und damit zur Wiederherstellung des Gleichgewichts führt. In Hongkong hat ein Währungsamt sehr effizient gearbeitet, doch das argentinische System war nicht in der Lage, den wirtschaftlichen und politischen Unruhen zu widerstehen, und brach 2002 zusammen. Ein fester Wechselkurs wird praktisch festgeschrieben, wenn Länder sich für eine gemeinsame Währung im Rahmen einer Währungsunion entscheiden. Seit 1776 haben die Vereinigten Staaten eine gemeinsame Währung. Das bedeutendste Beispiel aus jüngerer Zeit ist der Zusammenschluss von zwölf europäischen Ländern zu einer Währungsunion und die Einführung des „Euro“ als gemeinsame Währung im Jahre 2002. Dies ist die festeste Bindung von allen, denn laut Definition sind nun die Währungen der einzelnen Länder identisch. (Wir werden uns im nächsten Kapitel noch ausführlich mit dem Euro beschäftigen.) Eine Variante der gemeinsamen Währung besteht darin, dass ein Land eine der wichtigsten Währungen der Welt als eigene Währung übernimmt. Ecuador entschied sich für diese Lösung, als das Land im Jahr 2000 den US-Dollar als Währung annahm. Werden diese neuen Systeme zur Verhinderung der Finanzkrisen beitragen, die Länder mit nur halbherzig festen Wechselkursen während der neunziger Jahre heimsuchten? Dies ist eine der wichtigen noch unbeantworteten Fragen der modernen Wirtschaftspolitik.
Interventionen Wenn eine Regierung den Wechselkurs des Landes festsetzt, muss sie auf den Devisenmärkten „intervenieren“, um diesen Kurs zu stützten. Zu derartigen Interventionen kommt es, wenn die Regierung Auslandswährung kauft oder verkauft, um die Wechselkurse zu beeinflussen. So könnte beispielsweise die japanische Regierung an einem bestimmten Tag
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Peso-Wechselkurs (US-$/Peso)
1,5
D′
D
C
1,0
S
A D
0,5
B D′ S
Teil 6
oder weil Brasilien, ein wichtiger Handelspartner, unter einer Rezession oder Währungsabwertung leidet. Das führt zu einer Verlagerung der Nachfragekurve für Pesos nach unten von D auf D'. In einer Welt flexibler Wechselkurse würde der Peso einfach abgewertet und ein neues Gleichgewicht würde erreicht, beispielsweise in Punkt B. Denken Sie daran, dass Argentinien am Wechselkurs von US-$ 1 für einen Peso festhalten will. Was kann das Land tun?
0 Devisenverkehr (argentin. Pesos)
Abbildung 29-8: Regierungen intervenieren, um feste Wechselkurse zu verteidigen Nehmen wir an, Argentinien richtete ein Währungsamt ein und legte einen festen Wechselkurs von US$ 1 für einen Peso fest. Das ursprüngliche Gleichgewicht liegt in Punkt A. Die sich verschlechternde Wirtschaftslage – vielleicht aufgrund einer Inflation oder infolge von Sorgen wegen einer Rezession in Brasilien – lassen die Nachfrage nach Pesos zurückgehen. Bei flexiblen Wechselkursen würde sich das neue Gleichgewicht in Punkt B einstellen, bei einem Wechselkurs von US-$ 0,50 pro Peso (oder 2 Pesos für einen US-Dollar). Argentinien kann die offizielle Parität wieder herstellen, indem das Land Pesos im Wert von CA kauft, wodurch die Nachfrage zurück zur ursprünglichen Nachfragekurve D verlagert würde. Eine Alternative besteht darin, die Zinssätze in Argentinien zu erhöhen, wodurch die Regierung private Investoren dazu bewegen könnte, ihre Nachfrage nach Pesos um CA zu steigern.
mit US-Dollar japanische Yen im Wert von US-$ 1 Milliarde kaufen. Dies würde eine Wertsteigerung des Yen auslösen. Abbildung 29-8 verdeutlicht das Funktionieren eines Systems fester Wechselkurse. Im Jahre 1991 richtete Argentinien ein Währungsamt ein, das den Wechselkurs auf US-$ 1 pro Peso festsetzte. Das Ausgangsgleichgewicht ist in Punkt A in Abbildung 29-8 gegeben. Bei einem Kursverhältnis von US-$ 1 pro Peso sind die nachgefragten und angebotenen Peso-Mengen identisch. Nehmen wir an, die Nachfrage nach Pesos fiele – vielleicht, weil die Inflation in Argentinien höher ist als in den Vereinigten Staaten
• Ein möglicher Ansatz wäre eine Intervention durch Ankäufe der abgewerteten Währung (Pesos) und Verkäufe der aufgewerteten Währung (US-Dollar). Wenn die argentinische Zentralbank in diesem Beispiel die durch den Bereich CA angegebene Menge kauft, wird dies die Nachfrage nach Pesos erhöhen, und die offizielle Parität wird beibehalten. • Eine Alternative wären geldpolitische Maßnahmen. Argentinien könnte den privaten Sektor veranlassen, seine Peso-Nachfrage zu erhöhen, indem es die Zinssätze erhöht. Nehmen wir an, die argentinischen Zinssätze stiegen relativ zu den US-amerikanischen. Das würde Investoren bewegen, Mittel in Pesos anzulegen, wodurch die private Nachfrage nach Pesos steigen würde; das heißt, die private Nachfragekurve würde zurück zu der ursprünglichen Nachfragekurve D verschoben. Diese beiden Maßnahmen unterscheiden sich nicht so sehr, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Beide erfordern geldpolitische Maßnahmen in Argentinien. Tatsächlich besteht, wie wir noch sehen werden, eines der Probleme einer offenen Wirtschaft darin, dass die Notwendigkeit, sich im Rahmen des Wechselkursmanagements geldpolitischer Maßnahmen zu bedienen, mit der Notwendigkeit des Einsatzes geldpolitischer Instrumente zur Stabilisierung des heimischen Konjunkturzyklus kollidieren kann.
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
Flexible Wechselkurse Feste Wechselkurse sind eine der tragenden Säulen des heutigen internationalen Währungssystems – das zweite wichtige System sind die flexiblen Wechselkurse. Ein Land hat flexible Wechselkurse, wenn diese ausschließlich durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden. In einem solchen System gibt die Regierung weder einen Wechselkurs bekannt, noch ergreift sie Maßnahmen, um einen solchen zu erzwingen. Ein anderer Ausdruck für die gleiche Sache ist frei schwankende Wechselkurse. Heutzutage haben die drei wichtigsten Wirtschaftsregionen – die Vereinigten Staaten, der Euroraum und Japan – flexible Wechselkurse. Für diese drei Regionen werden die Wechselkursschwankungen fast vollständig durch das private Angebot von und die private Nachfrage nach Waren, Dienstleistungen und Investitionen bestimmt. Auch viele mittelgroße Länder verlassen sich auf flexible Wechselkurse. Betrachten wir nun, wie die Kurse in einem solchen System bestimmt werden. Im Jahr 1994 wurde der mexikanische Peso auf den Devisenmärkten angegriffen, und das Land gab den Wechselkurs frei. Zum ursprünglichen Kurs von etwa 4 Peso pro US-Dollar gab es ein Überangebot an Pesos. Das bedeutete, dass zu diesem Kurs die Peso-Menge, die Mexikaner anboten, welche amerikanische und andere ausländische Waren und Anlagen kaufen wollten, die Nachfrage nach Pesos von Amerikanern und anderen Ausländern übertraf, die mexikanische Waren und Kapitalanlagen kaufen wollten. Was war das Resultat? Infolge des Überangebots sank der Kurs des Peso relativ zum USDollar. Wie weit bewegte sich der Wechselkurs? Gerade so weit, dass – bei einem reduzierten Wechselkurs von 6 Pesos pro USDollar – die Angebotsmenge und die nachgefragte Menge wieder im Gleichgewicht waren.
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Wie kommt das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zustande? Zwei bedeutende Kräfte tragen dazu bei: (1) Da der USDollar teurer ist, kostet es Mexikaner nun mehr, amerikanische Waren, Dienstleistungen und Kapitalanlagen zu kaufen, woraufhin das Angebot an Pesos auf die übliche Weise zurückgeht. (2) Aufgrund des Kursverlustes des Pesos werden mexikanische Waren und Vermögenswerte für Ausländer nun billiger. Dadurch steigt die Nachfrage nach Pesos am Markt. (Beachten Sie, dass diese vereinfachte Darstellung davon ausgeht, dass nur Transaktionen zwischen den beiden Ländern stattfinden; eine umfassendere Analyse würde auch Angebot und Nachfrage für die Währungen aller anderen Länder berücksichtigen.) Welche Rolle spielt der Staat? Für ein System völlig freier Wechselkurse hat der Staat kaum eine Bedeutung. Er erlaubt dem Devisenmarkt, den Wert des US-Dollars zu bestimmen, genauso wie er es anderen Märkten überlässt, die Preise von Kopfsalat, Maschinen, General-Motors-Aktien oder Kupfer zu bestimmen. Daher kann es vorkommen, dass die Wechselkurse binnen kurzer Zeit stark schwanken.
Administrierte Wechselkurse Zwischen den beiden Extremen fester und völlig freier Wechselkurse liegen die administrierten Wechselkurse. In diesem Fall werden die Kurse grundsätzlich von den Kräften am Markt bestimmt, aber Regierungen kaufen oder verkaufen Währungen oder verändern die Geldmenge, um den Kurs zu beeinflussen. Mitunter segeln Regierungen gegen den von den privaten Märkten kommenden Wind. Manchmal wird ihre Politik auch von vorgegebenen „Bandbreiten“ bestimmt. Dieses System verliert an Bedeutung, da sich Länder zunehmend entweder für feste oder flexible Wechselkurse entscheiden.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Das heutige Mischsystem Anders als das frühere einheitliche System unter dem Goldstandard oder nach den Bretton-Woods-Regeln passt das heutige Wechselkurssystem in kein vorgegebenes Schema. Ohne dass irgendjemand dies geplant hätte, hat sich die Welt auf ein Wechselkurs-Mischsystem eingelassen. Seine wichtigsten Merkmale sind die folgenden: • Einige wenige Länder lassen ihre Währungen frei schwanken. Diese Vorgehensweise erlaubt es dem Markt, den Wert der Währung eines Landes zu bestimmen; auf staatliche Interventionen wird weitgehend verzichtet. Während der letzten zwei Jahrzehnte folgten die Vereinigten Staaten diesem Muster. Der Euro als gemeinsame Währung steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber Europa scheint zu frei schwankenden Wechselkursen zu tendieren. • Manche große Länder haben sich für ein administriertes, jedoch freies Wechselkurssystem entschieden. Zu diesen Ländern gehören heute Kanada, Japan und viele Entwicklungsländer. Nach diesem System kauft oder verkauft ein Land seine eigene Währung, um die täglichen Währungsschwankungen aufzufangen. Zusätzlich nimmt der Staat von Zeit zu Zeit systematische Interventionen vor, um die Währung auf das von ihm für richtig gehaltene Niveau zu bringen.
Teil 6
• Viele Länder, vor allem die kleineren, binden ihre Währung an die Währung eines großen Landes oder an einen „Währungskorb“. In manchen Fällen ist die Bindung eher locker, und geringfügige Schwankungen nach oben und unten sind möglich. Dieses System ist unter der Bezeichnung limitierte Wechselkursflexibilität oder gleitende Bandbreite bekannt. Manche Länder haben ein Währungsamt, das die Wechselkurse recht genau kontrolliert. • Außerdem intervenieren fast alle Staaten, wenn die Märkte „außer Tritt geraten“ oder wenn die Wechselkurse überhaupt nicht mehr zu den „grundlegenden wirtschaftlichen Gegebenheiten“ zu passen scheinen – das heißt, wenn sie für die vorherrschenden Preisniveaus und Handelsströme unangemessen sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein völlig freier Wechselkurs ist einer, der ausschließlich durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird, ohne dass der Staat interveniert. Ein System fester Wechselkurse liegt vor, wenn die Regierung den Kurs offiziell festlegt, den sie dann mittels Interventionen und der Geldpolitik verteidigt. Ein administriertes Wechselkurssystem ist eine Mischung aus festen und flexiblen Kursen, wobei die Regierungen versuchen, die Kurse direkt durch den An- oder Verkauf von Devisen oder indirekt durch die Geldpolitik oder das Erhöhen beziehungsweise Senkungen von Zinssätzen zu beeinflussen.
Zusammenfassung A. Die Zahlungsbilanz 1. Die Zahlungsbilanz eines Landes besteht aus mehreren Einzelbilanzen, die alle wirtschaftlichen Transaktionen zwischen einem Land und dem Rest der Welt messen. Sie umfasst Exporte und Importe von Gütern, Dienstleistungen und Finanzkapi-
tal. Exporte werden als Zahlungseingänge, Importe als Zahlungsausgänge verbucht. Allgemeiner ausgedrückt sind die Zahlungseingänge eines Landes Transaktionen, die ihm Devisen einbringen. Zahlungsausgänge hingegen sind jene Transaktionen, die seine Devisenbestände schmälern.
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
2.
3.
Die Hauptbestandteile einer Zahlungsbilanz sind: I. Die Leistungsbilanz (Warenhandel, Dienstleistungen, Erwerbs- und Vermögenseinkommen, laufende Übertragungen) II. Die Kapitalbilanz (private Unternehmen und Personen, öffentliche Hand sowie Veränderungen der staatlichen Reserven) Die Regel der Zahlungsbilanzbuchhaltung lautet, dass die Summe aller Positionen immer null ergeben muss: I + II = 0. Historisch gesehen kann man verschiedene Zahlungsbilanzstadien beobachten, die Staaten durchlaufen: Sie entwickeln sich vom jungen Schuldnerstaat, der Kapital für seine wirtschaftliche Entwicklung aufnimmt, über den reifen Schuldnerstaat und den jungen Gläubigerstaat hin zum reifen Gläubigerstaat, der von den Einkünften aus früheren Investitionen lebt. In den achtziger Jahren traten die USA in ein neues Stadium ein, in dem die geringe heimische Sparquote und attraktive Investitionsmöglichkeiten das Land wieder zu einer intensiven Kapitalaufnahme im Ausland bewegten und somit neuerlich zu einem Schuldnerstaat machten.
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7.
5.
Zum internationalen Handel gehört die Verwendung verschiedener nationaler Währungen, die durch relative Preise, die so genannten Wechselkurse, miteinander verbunden sind. Wenn Amerikaner japanische Waren importieren, müssen sie diese letztendlich in japanischen Yen bezahlen. Auf dem Devisenmarkt könnten japanische Yen beispielsweise für ¥ 100/US-$ gehandelt werden (umgekehrt bekäme man für ¥ 1 US-$ 0,01). Dieser Preis ist der Wechselkurs. Auf einem Devisenmarkt mit nur zwei Ländern geht das gesamte Angebot an US-Dollar auf Amerikaner zurück, die Güter, Dienstleistungen und Investitionen aus Japan kaufen möchten. Nachgefragt werden US-Dollar von Japanern, die amerikanische Waren oder Finanzanlagen kaufen möchten. Das Zusammenspiel dieses Angebotes und dieser Nachfrage bestimmt den Wechselkurs. Allgemeiner ausgedrückt werden Wechselkurse durch das komplexe Wechselspiel vieler Länder gebildet, die alle untereinander Käufe und Verkäufe tätigen. Bei sich verändernden Handels- und Kapitalflüssen verschieben sich Angebot und Nachfrage, und der Gleichgewichts-Wechselkurs verändert sich.
Ein Sinken des Marktpreises einer Währung wird als Kursverlust, ein Anstieg als Kursgewinn bezeichnet. In einem System, in dem Staaten offizielle Wechselkurse festlegen, wird eine Senkung des offiziellen Wechselkurses als Abwertung und eine Anhebung als Aufwertung bezeichnet. Laut der Kaufkraftparitätentheorie der Wechselkurse entwickeln sich die Wechselkurse langfristig im Gleichklang mit Veränderungen der jeweiligen Preise der Länder. Diese Theorie erklärt langfristige Entwicklungen besser als kurzfristige. Bedienen wir uns dieser Theorie, um die Wirtschaftsleistung verschiedener Länder zu messen, so erhöht sich durch sie die Wirtschaftsleistung pro Kopf in einkommensschwachen Ländern.
C. Das internationale Währungssystem 8.
B. Die Bildung der Wechselkurse 4.
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Eine gut funktionierende internationale Wirtschaft erfordert ein gut funktionierendes Währungssystem, Vorgehensweisen und Institutionen, durch die Transaktionen zwischen den Ländern geregelt werden. Die drei wichtigsten Arten von Wechselkurssystemen sind: (a) flexible Wechselkurse, wobei der Wechselkurs eines Landes ausschließlich durch die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage gebildet wird; (b) feste Wechselkurse, wie der Goldstandard und das Bretton-Woods-System, bei dem die Länder eine gegebene Wechselkursstruktur festlegen und beibehalten; und (c) das administrierte Wechselkurssystem, bei dem staatliche Interventionen und Marktkräfte zusammenwirken und gemeinsam die Wechselkurse bilden. Klassiker unter den Ökonomen wie David Hume haben internationale Anpassungen an Außenhandels-Ungleichgewichte mithilfe des Goldflussmechanismus erklärt. Dabei verändern die Goldbewegungen die Geldmenge und das Preisniveau. So würde beispielsweise ein Handelsdefizit zu einem Goldabfluss und einem Rückgang der heimischen Preise führen, was (a) einen Anstieg der Exporte und (b) einen Rückgang der Importe jener Länder, die Gold verlieren sowie (c) einen Rückgang der Exporte und (d) steigende Importe jener Länder, in die das Gold fließt, zur Folge hätte. Dieser Mechanismus zeigt, dass bei festen Wechselkursen Länder mit Zahlungsbilanzproblemen Anpassungen über eine Änderung des heimischen Preis- und Lohnniveaus vornehmen müssen.
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
10. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete die Staatengemeinschaft eine Reihe internationaler Wirtschaftsinstitutionen, um das internationale Handels- und Finanzwesen besser zu organisieren. Im Bretton-Woods-System beschlossen die Länder eine feste Bindung ihrer Währungen an den US-Dollar und an Gold, und sie erreichten damit zwar feste, zugleich aber anpassungsfähige Wechselkurse. Nach
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dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods im Jahre 1973 ersetzte man es durch das heutige Mischsystem. Heutzutage nutzen die wichtigsten Wirtschaftsregionen (die Vereinigten Staaten, die Euro-Zone und Japan) untereinander flexible Wechselkurse. Die meisten kleinen Länder binden ihre Währungen fest an den US-Dollar oder an andere Währungen.
Begriffe zur Wiederholung Zahlungsbilanz Zahlungsbilanz I. Leistungsbilanz II. Kapitalbilanz Für die Zahlungsbilanz gilt immer die Gleichung: I + II = 0. Veränderungen der staatlichen Währungsreserven Zahlungseingänge und -abgänge Unterschiedliche Zahlungsbilanzzustände
Wechselkurse Wechselkurs, Devisenmarkt Angebot an und Nachfrage nach Auslandswährung Ausdrücke aus dem Bereich der Wechselkurse: Kurserhöhung und Kurssenkung Aufwertung und Abwertung
Internationales Währungssystem Wechselkurssysteme: Flexible Kurse Feste Kurse (Goldstandard, Bretton Woods, Währungsamt) Administrierte Kurse Gemeinsame Währung Internationale Anpassungsmechanismen Der Goldflussmechanismus laut Hume
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine faszinierende Sammlung von Essays zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen stammt von Paul Krugman, Pop International (MIT Press, Cambridge, Mass., 1997). Das Zitat zum internationalen Währungssystem stammt von Robert Solomon, The International Monetary System, 1945–1981: An Insider’s View (Harper & Row, New York, 1982), S. 1, 7.
Kapitel 29 Wechselkurse und das internationale Währungssystem
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Deutschsprachige Literatur: Gerhard Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen (Vahlen, München, 2001); Elmar Döhler und Marc S. Resinek, Dollarisierung in Lateinamerika, Euro-Anbindung in Mittel- und Osteuropa: Das Ende nationaler Währungen (Verlag für Wissenschaft und Forschung, 2003); Jürgen B. Donges, „Globale Finanzmärkte, Währungskrisen und aufstrebende Volkswirtschaften“, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 48. Jg., 1999, S. 129–146; Barbara Fritz, Entwicklung durch wechselkursbasierte Stabilisierung? Der Fall Brasilien (Metropolis, Marburg, 2002); Marc S. Resinek, Internationale Finanzmarktkrisen: Ursachen, Ablauf, Prävention. Erkenntnisse aus der Asienkrise (Verlag für Wissenschaft und Forschung, 2001); Uwe Vollmer, Geld- und Währungspolitik (Vahlen, München, 2005); Gerhard Volz, Die Organisation der Weltwirtschaft (Oldenbourg, München, 2000).
Websites Zahlen zum Außenhandel und Kapitalbewegungen für verschiedene Länder finden sich auf den in Kapitel 28 angegebenen Websites. Giancarlo Corsetti bietet auf einer Webseite Informationen und Links zum Euro: www.iue.it/Personal/corsetti. Wechselkursinformationen finden sich unter finance.yahoo.com/m3?u. Die besten nicht wissenschaftlichen Texte zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen findet man in der Zeitschrift The Economist, die unter www.economist.com im Internet bereitstehen.
Übungen 1.
2.
3.
Tabelle 29-3 zeigt einige Wechselkurse (angegeben als Einheiten pro US-Dollar) von Anfang des Jahres 2004. Bitte setzen Sie die Werte für den Preis des US-Dollar in der jeweiligen Fremdwährung in der letzten Spalte der Tabelle ein und achten Sie besonders darauf, die jeweiligen Einheiten in Klammern anzufügen. Abbildung 29-3 zeigt Angebot und Nachfrage nach US-Dollar anhand eines Beispiels, in dem nur Japan und die Vereinigten Staaten miteinander Handel treiben. a. Beschreiben und zeichnen Sie die wechselseitigen Angebots- und Nachfragefunktionen für japanische Yen. Erklären Sie, warum das Yen-Angebot der Dollar-Nachfrage entspricht. Erklären und zeichnen Sie auch die Funktion, die dem Dollar-Angebot entspricht. Ermitteln Sie den Gleichgewichtskurs für Yen in diesem neuen Diagramm und stellen Sie die Beziehung zum Gleichgewicht in Abbildung 29-3 her. b. Nehmen Sie an, die Amerikaner entwickelten eine Vorliebe für japanische Waren. Zeigen Sie, was dann mit Angebot und Nachfrage für Yen geschieht. Würde der Kurs des Yen im Vergleich zum US-Dollar steigen oder sinken? Nennen Sie die Gründe. Erstellen Sie eine Liste der Positionen, die auf der Habenseite der Zahlungsbilanz ausgewiesen werden, sowie eine Liste jener Positionen, die auf der Sollseite verbucht werden. Was bedeutet ein Handelsbilanzüberschuss? Was
4.
5.
6.
7.
versteht man unter einer ausgeglichenen Leistungsbilanz? Erstellen Sie eine hypothetische Zahlungsbilanz für ein junges Schuldnerland, ein reifes Schuldnerland, ein junges Gläubigerland und ein reifes Gläubigerland. Betrachten Sie die im obigen Abschnitt „Wechselkurse und die Zahlungsbilanz“ beschriebene Lage in Deutschland. Erklären Sie anhand einer Abbildung wie 29-3, wie DM-Angebot und DM-Nachfrage vor und nach der plötzlichen Veränderung aussehen. Ermitteln Sie in Ihrer Abbildung den DM-Nachfrageüberhang vor dem Kursgewinn der D-Mark. Zeigen Sie dann, wie ein Kursgewinn der D-Mark den Nachfrageüberhang wieder beseitigen würde. Ein Land im Mittleren Osten entdeckt plötzlich riesige Ölvorkommen. Zeigen Sie, wie seine Handels- und Leistungsbilanz plötzlich Überschüsse aufweisen. Erklären Sie, warum dieser Staat nun Finanzanlagen in New York zum Ausgleich seiner Kapitalbilanz erwerben kann. Zeigen Sie, wie später, wenn er diese Finanzanlagen für die landesinterne Entwicklung einsetzt, Leistungs- und Kapitalbilanz die Rollen tauschen. Betrachten Sie das folgende Zitat aus dem Economic Report of the President von 1984: Langfristig folgt der Wechselkurs üblicherweise dem Gefälle zwischen heimischem und ausländischem Preisniveau. Gerät das Preisniveau eines Landes gemessen an den
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Preisen eines anderen Landes zu weit aus der Bahn, muss es schließlich zu einem Nachfragerückgang nach den Gütern dieses Landes kommen, was einen Kursverlust seiner Währung zur Folge hat.
8.
Erklären Sie, welcher Zusammenhang zwischen dem ersten Satz und der Kaufkraftparitätentheorie für Wechselkurse besteht. Erläutern Sie die Argumentation dieser Theorie. Erläutern Sie die Abfolge der Ereignisse, die im zweiten Satz des Zitats erwähnt werden, mithilfe eines Angebots- und Nachfragediagramms wie in Abbildung 29-3, nämlich die Situation, dass ein Land, dessen Preisniveau relativ hoch ist, einen Kursverlust seiner Währung hinnehmen muss. Ein Land verzeichnet für 2000 folgende Zahlungsbilanzposten: Autoexporte (US-$ 100); Getreideexporte (US-$ 150); Importe von Öl (US-$ 150) und Stahl (US-$ 75); Ausgaben der Touristen im Ausland (US-$ 25); private Darlehen ans Ausland (US-$ 50); Kapitalimporte aus dem Ausland (US-$ 40); Änderungen der offiziellen Währungsreserven (US-$ 30 in Auslandswährung, die von der heimischen Zentralbank gekauft wurden). Berechnen Sie den statistischen Aus-
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gleichsposten und fassen Sie ihn mit den privaten Darlehen ans Ausland zusammen. Erstellen Sie eine Zahlungsbilanz gemäß Tabelle 29-2. 9. Betrachten Sie die folgenden drei Wechselkurssysteme: den klassischen Goldstandard, frei schwankende Wechselkurse und das System von Bretton Woods. Vergleichen Sie die drei Systeme im Hinblick auf die folgenden Aspekte und arbeiten Sie Unterschiede heraus: a. Rolle des Staates im Vergleich zur Rolle des Marktes bei der Bildung der Wechselkurse b. Ausmaß der Wechselkursschwankungen c. Methode zur Anpassung der relativen Preise in den einzelnen Ländern d. Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit und Beratungen zur Bildung der Wechselkurse e. Möglichkeit der Entstehung und des hartnäckigen Fortbestehens einer schweren Wechselkursfehlanpassung 10. Betrachten Sie die Europäische Währungsunion. Schreiben Sie Vor- und Nachteile auf. Würden Sie eine Währungsunion befürworten? Würde sich Ihre Antwort ändern, wenn die Vereinigten Staaten davon betroffen wären?
Preis Währung
Einheiten Fremdwährung pro US-$
US-$ pro Einheit Fremdwährung
Zloty (Polen)
3,76
_____
(US-$/Zloty)
Real (Brasilien)
2,91
_____
(______)
Yuan (China)
8,28
_____
(______)
Peso (Mexiko)
10,98
_____
(______)
Rubel (Russland)
28,49
_____
(______)
0,80
_____
(______)
Euro Tabelle 29-3.
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KAPITEL 30 Offene Volkswirtschaften
Ehe ich eine Mauer baue versuche ich zu erfahren was ich mit ihr einoder ausgrenzen würde ... Robert Frost
Der internationale Konjunkturzyklus hat bedeutende Auswirkungen auf jedes Land weltweit. Die US-amerikanische Geldpolitik kann zu wirtschaftlicher Depression, Armut und Revolutionen in Südamerika führen. Politische Unruhen im Mittleren Osten können die Ölpreise in die Höhe treiben, wodurch eine weltweite Rezession ausgelöst werden kann. Revolutionen, Kriege oder schlichte Zahlungsunfähigkeit von Staaten können Aktienmärkte ins Wanken bringen und das Vertrauen der Geschäftsleute auf der ganzen Welt erschüttern. Wenn man den internationalen Handel ignoriert, verpasst man einen wesentlichen Teil des Wirtschaftsgeschehens. Das letzte Kapitel behandelte wesentliche Konzepte des internationalen Wirtschaftsgeschehens – die Zahlungsbilanz, die Bestimmung von Wechselkursen und das internationale Währungssystem. Das vorliegende Kapitel setzt diese Betrachtungen fort und zeigt, wie plötzliche wirtschaftliche Erschütterungen in einem Land Auswirkungen auf Produktion und Beschäftigung in anderen Ländern haben. Außerdem untersucht es die Verbindung zwischen den einheimischen Ersparnissen und Investitionen und der Handelsbilanz. Das Kapitel schließt mit einer Übersicht über einige der wichtigsten aktuellen internationalen Themen.
A. Außenhandel und wirtschaftliche Aktivitäten Nettoexporte und Produktion in einer offenen Volkswirtschaft Die Makroökonomik einer offenen Volkswirtschaft untersucht, wie sich Volkswirtschaften verhalten, wenn man auch ihre wechselseitigen Handels- und Finanzbeziehungen berücksichtigt. Im letzten Kapitel
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
wurden die Grundkonzepte der Zahlungsbilanz dargestellt. Wir werden sie hier im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung noch einmal betrachten. Zum Außenhandel gehören Importe und Exporte. Obgleich die Vereinigten Staaten das meiste von dem, was sie konsumieren, auch selbst produzieren, importieren sie auch große Mengen von Waren und Dienstleistungen, die im Ausland hergestellt, aber im Inland verbraucht oder genutzt werden. Bei Exporten handelt es sich um Waren und Dienstleistungen, die im Inland her- oder bereitgestellt und von Ausländern gekauft werden. Als Nettoexporte bezeichnet man die Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen abzüglich der Importe von Waren und Dienstleistungen. Im Jahre 2002 betrugen die Nettoexporte der Vereinigten Staaten US-$ –424 Milliarden, die sich aus den US-$ 1.015 Milliarden an Exporten abzüglich der US-$ 1.439 Milliarden an Importen ergaben. Sind die Nettoexporte eines Landes positiv, häuft es ausländische Guthaben an. Das Gegenstück zu Nettoexporten sind die Nettoauslandsinvestitionen, worunter man US-amerikanische Ersparnisse im Ausland versteht, die in etwa dem Wert der Nettoexporte entsprechen. Wegen der negativen Nettoexporte der Vereinigten Staaten sind auch die Nettoauslandsinvestitionen negativ, was bedeutet, dass die Auslandsverschuldung der USA wächst. Im Jahre 2000 verzeichneten die Vereinigten Staaten negative Nettoexporte, das heißt, sie borgten vom Ausland, wodurch auch die Nettoauslandsinvestitionen negativ waren. Anders ausgedrückt, Ausländer leisteten einen erheblichen Beitrag zu den US-Investitionen. Wie kommt es, dass die reichen USA sich so viel im Ausland liehen? Dieses überraschende Phänomen lässt sich mit der vergleichsweise niedrigen Sparquote und beträchtlichen Investitionen im Inland erklären, die durch den langen Wirtschaftsaufschwung und die technische Dynamik des Landes bedingt waren. In einer offenen Volkswirtschaft müssen Ausgaben- und Produktionsniveau eines
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Landes nicht identisch sein. Die gesamten heimischen Ausgaben (manchmal als Inlandsnachfrage bezeichnet) entsprechen dem Konsum zuzüglich der heimischen Investitionen zuzüglich der Staatsausgaben. Sie unterscheiden sich aus zwei Gründen vom Bruttoinlandsprodukt (BIP). Erstens entfällt ein Teil der Gesamtausgaben eines Staates auf im Ausland erzeugte Güter, die Importe, also beispielsweise auf mexikanisches Öl oder japanische Autos. Außerdem wird ein Teil der einheimischen amerikanischen Produktion ins Ausland exportiert, darunter beispielsweise Weizen und Flugzeuge von Boeing. Die Differenz zwischen der Gesamtproduktion und den Gesamtausgaben entspricht daher den Nettoexporten, also Ausfuhr (Ex) abzüglich Einfuhr (Im): Ex–Im = X. Um die Gesamtproduktion von amerikanischen Gütern und Dienstleistungen zu berechnen, müssen wir zur Inlandsnachfrage die Auslandsnachfrage addieren. Wir müssen also die Gesamtproduktion für die Menschen in den Vereinigten Staaten genauso kennen wie die Nettoproduktion für Ausländer. Zu dieser Summe gehören die Ausgaben im Inland (C + I + G) zuzüglich der Verkäufe an Ausländer (Ex) abzüglich der Käufe von Ausländern (Im). Die Gesamtproduktion oder das BIP entspricht dem einheimischen Konsum plus den einheimischen Investitionen zuzüglich der Staatsausgaben und der Nettoexporte: Gesamte Inlandsproduktion = BIP =C+I+G+X
Bestimmungsfaktoren des Außenhandels und der Nettoexporte Was bestimmt die Höhe von Ausfuhr und Einfuhr und somit auch der Nettoexporte? Dazu sollten wir uns die Import- und Exportkomponenten der Nettoexporte getrennt ansehen.
867
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
Zwischen den Importen in die Vereinigten Staaten und deren Einkommen und Produktion besteht eine positive Korrelation. Wenn das BIP der USA ansteigt, tun dies auch die Importe in das Land, (1) weil einige der zunehmenden (C + I + G)-Käufe (beispielsweise Autos und Schuhe) aus ausländischer Produktion stammen und (2) weil die Vereinigten Staaten ausländische Rohstoffe und Halbfertigprodukte (wie Öl oder Stahl) zur Produktion ihrer eigenen Waren verwenden. Die Nachfrage nach Importen hängt vom relativen Preis einheimischer und ausländischer Waren ab. Steigt der Preis einheimischer im Vergleich zu japanischen Autos, etwa weil der Wechselkurs des US-Dollars ansteigt, werden die Amerikaner mehr japanische und weniger einheimische Autos kau-
fen. Daher hängen Menge und Wert der Importe von der heimischen Produktion und den relativen Preisen heimischer und ausländischer Waren ab. Exporte sind ein Spiegelbild der Importe: Die US-amerikanischen Exporte sind die Importe anderer Länder. Die amerikanische Ausfuhr hängt daher primär von der Produktionsleistung im Ausland ab sowie von den Preisen für diese Exporte im Vergleich zu denjenigen der Auslandswaren. Mit steigender ausländischer Produktion oder bei sinkendem Wechselkurs des US-Dollars steigen tendenziell Menge und Wert der amerikanischen Exporte. Abbildung 30-1 zeigt das Verhältnis der Nettoexporte zum BIP. Seit dem Zweiten Weltkrieg wies die US-amerikanische Han-
2
4
Defizite aufgrund des Vietnamkriegs
0
Dollarblase
2
Marshall-Plan und Wiederaufbau nach dem Krieg
Nettoexporte/BIP (in %)
4
Rasches Wachstum in den USA und Stagnation im Ausland
6
6 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Jahr
Abbildung 30-1: Während der achtziger Jahre entwickelte sich in den Vereinigten Staaten ein deutliches Außenhandelsdefizit Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinigten Staaten beim Wiederaufbau von Europa halfen, verzeichneten sie einen deutlichen Außenhandelsüberschuss. Doch in den achtziger Jahren sanken die Nettoexporte mit dem drastischen Rückgang der einheimischen Ersparnisse und dem Kursanstieg des US-Dollars deutlich unter null. Ende der neunziger Jahre verzeichneten die Nettoexporte erneut Werte im Negativbereich, bedingt durch ein starkes Wirtschaftswachstum im Inland sowie eine Rezession im Ausland.
868
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
delsbilanz entweder einen Überschuss aus oder war ausgeglichen. Seit den frühen achtziger Jahren kam es aufgrund des Rückgangs der einheimischen Ersparnisse, vor allem aufgrund des hohen staatlichen Defizits, zu einem deutlichen Anstieg des Dollarkurses. Ausländische Volkswirtschaften wuchsen nicht so schnell wie die der Vereinigten Staaten, was die Exporte verminderte. Der Effekt war ein hohes Außenhandelsdefizit und eine zunehmende Auslandsverschuldung. War das gut oder schlecht? Der folgende kurze Kommentar des Wirtschaftsrats des US-Präsidenten aus dem Jahr 2000 stellt das US-Handelsdefizit in einen gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang: Für sich allein genommen ist ein Defizit in der Handels- oder Leistungsbilanz weder gut noch schlecht. Es kommt auf die Gründe für dieses Defizit an. Hauptursache für die heutigen Defizite scheint die Stärke des Wirtschaftswachstums in den Vereinigten Staaten im Vergleich zum langsamen Wachstum oder sogar Rückgang des BIP in vielen anderen Ländern zu sein. ... Derartige Defizite sind letztlich ein makroökonomisches Phänomen; sie deuten auf höhere einheimische Investitionen als einheimische Ersparnisse hin. Die Zunahme des Defizits ... ist eher auf steigende Investitionen als auf sinkende Ersparnisse zurückzuführen.1
Kurzfristige Auswirkungen des Außenhandels auf das BIP Wie wirken sich Änderungen des Handelsstroms eines Landes auf dessen BIP und die dortige Beschäftigungssituation aus? Zunächst behandeln wir diese Frage im Rahmen des Modells zur Bestimmung der kurzfristigen Produktionsentwicklung, des Multiplikatormodells aus Kapitel 25. Dieses Modell zeigt, wie im Fall von nicht beschäftigten Ressourcen Außenhandelsveränderungen die Gesamtnachfrage, die Gesamtproduktion 1 Siehe Economic Report of the President, 2000, S. 231–235, aufgeführt im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
Teil 6
und die Beschäftigung kurzfristig beeinflussen werden. Wenn man den Außenhandel mit einbezieht, müssen zwei neue wichtige makroökonomische Komponenten berücksichtigt werden: Zunächst haben wir eine vierte Ausgabenkomponente, die Nettoexporte, die zur Gesamtnachfrage addiert werden. Außerdem gibt es in einer offenen Volkswirtschaft andere Multiplikatoren für private Investitionen und Staatsausgaben als in einer geschlossenen Volkswirtschaft, denn einige Ausgaben werden ins Ausland abfließen. Tabelle 30-1 zeigt, wie die Berücksichtigung der Nettoexporte die Bestimmung des Produktionsvolumens beeinflusst. Diese Tabelle beginnt mit denselben Komponenten, die wir auch in einer geschlossenen Volkswirtschaft vorfinden. (Schauen Sie sich zur Erinnerung an die wichtigsten Bestandteile und die Art und Weise, wie sie zu den Gesamtausgaben addiert werden, noch einmal Tabelle 25-2 an.) Die gesamte Binnennachfrage in Spalte (2) setzt sich aus dem Konsum, den Investitionen und den Staatsausgaben zusammen, die wir bereits untersucht haben. Spalte (3) fügt nun die Exporte von Waren und Dienstleistungen hinzu. Wie bereits oben beschrieben, hängen diese vom Einkommen und dem Produktionsvolumen des Auslandes sowie von den jeweiligen Preisen und Wechselkursen ab, die als gegeben angenommen werden. Die Exporte werden daher als konstant betrachtet und erreichen ein Niveau von US-$ 250 Milliarden, die das Ausland für heimische Güter und Dienstleistungen ausgibt. Das interessante neue Element ergibt sich aus den Importen, die in Spalte (4) angegeben sind. Wie die Exporte hängen auch die Importe von exogenen Variablen wie Preisen und Wechselkursen ab. Zusätzlich sind die Importe vom inländischen Einkommen und der heimischen Produktionsleistung abhängig, die sich in den verschiedenen Zeilen von Tabelle 30-1 deutlich ändern. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass das Land immer 10 Prozent seiner Gesamtproduktion
869
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
Ermittlung der Produktionsleistung unter Berücksichtigung des Außenhandels (Mrd. US-$) (1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
Ursprüngliches BIP-Niveau
Inlandsnachfrage (C + I + G)
Exporte
Importe
(Ex)
(Im)
Nettoexporte (X = Ex – Im)
Gesamtausgaben (C + I + G + X)
Wirtschaftliche Entwicklung
4.100
4.000
250
410
–160
3.840
Kontraktion
3.800
3.800
250
380
–130
3.670
Kontraktion
3.500
3.600
250
350
–100
3.500
Gleichgewicht
3.200
3.400
250
320
–70
3.330
Expansion
2.900
3.200
250
290
–40
3.160
Expansion
Tabelle 30-1: Die Nettoexporte erhöhen die Gesamtnachfrage einer Volkswirtschaft Zur inländischen Nachfrage C + I + G müssen wir die Nettoexporte X = Ex – Im hinzuzählen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach der Produktion eines Landes zu ermitteln. Höhere Nettoexporte haben eine ähnliche Auswirkung auf die Gesamtnachfrage wie Investitionen und Staatsausgaben.
importiert, das heißt, die Importe in Spalte (4) betragen immer 10 Prozent der Werte in Spalte (1). Subtrahieren wir nun Spalte (4) von Spalte (3), erhalten wir die Nettoexporte in Spalte (5). Diese Zahl hat, wenn die Importe die Exporte übersteigen, ein negatives, und wenn die Exporte höher liegen als die Importe, ein positives Vorzeichen. Die Nettoexporte in Spalte (5) entsprechen dem durch den Außenhandel bewirkten Nettozuwachs zum Ausgabenstrom. Die Gesamtausgaben für die inländische Produktion in Spalte (6) entsprechen der Inlandsnachfrage in Spalte (2) plus den Nettoexporten in Spalte (5). Das Gleichgewichtsproduktionsvolumen in einer offenen Volkswirtschaft stellt sich an jenem Punkt ein, an dem die einheimischen und ausländischen Nettogesamtausgaben in Spalte (6) genau der inländischen Gesamtproduktionsleistung in Spalte (1) entsprechen. In diesem Fall stellt sich das Gleichgewicht bei einem Nettoexportwert von –100 ein, was bedeutet, dass das Land mehr einführt als ausführt. Beachten Sie, dass in diesem Gleichgewichtspunkt die Inlandsnachfrage über der Inlandsproduktion liegt. (Überlegen Sie, ob Sie erklären können, warum sich die Wirtschaft, wenn die Ausgaben nicht der
Produktion entsprechen, außerhalb ihres Gleichgewichts befindet.) Abbildung 30-2 stellt das Gleichgewicht einer offenen Volkswirtschaft grafisch dar. Die nach oben verlaufende schwarze Linie mit der Bezeichnung C + I + G ist dieselbe Kurve wie in Abbildung 25-7. Zu dieser Linie müssen wir die Nettoexporte addieren, die sich beim jeweiligen BIP-Niveau ergeben. Wenn man die Nettoexporte aus Spalte (5) in Tabelle 30-1 hinzu addiert, erhält man die rostfarbene Linie der Gesamtnachfrage oder der Gesamtausgaben. Wenn diese Linie unterhalb der schwarzen Kurve verläuft, ist die Einfuhr höher als die Ausfuhr, und die Nettoexporte sind negativ. Liegt die rostfarbene Linie dagegen über der schwarzen Kurve, fallen die Nettoexporte positiv aus; das Land erzielt einen Außenhandelsüberschuss, und die Produktion ist höher als die Inlandsnachfrage. Das BIP befindet sich im Gleichgewicht, wo die rostfarbene Gesamtausgabenkurve die 45˚-Linie schneidet. Dieser Schnittpunkt liegt genau im selben Punkt, der in Tabelle 30-1 als BIP-Gleichgewicht angegeben ist, nämlich bei US-$ 3.500 Milliarden. Nur bei diesem Wert entspricht das BIP genau dem, was Konsumenten, Unternehmen, der Staat
870
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
CIG CIGX Nettoexportdefizit 3.500 Gesamtausgaben (Mrd. US-$)
E
F 3.000
2.500
45° 2.500
3.000 3.500 Bruttoinlandsprodukt (Mrd. US-$)
BIP 4.000
Abbildung 30-2: Die Hinzufügung der Nettoexporte zur Inlandsnachfrage ergibt das Gleichgewichts-BIP in einer offenen Volkswirtschaft Die schwarze Linie stellt die Inlandsnachfrage (C + I + G) dar, die Käufe der heimischen Konsumenten, Unternehmen und des Staates. Hierzu müssen die Nettoauslandsausgaben addiert werden. Die Nettoexporte ergeben zusammen mit der Inlandsnachfrage die rostfarbene Linie der Gesamtausgaben. Das Gleichgewicht stellt sich in Punkt E ein, wo das gesamte BIP den Gesamtausgaben für in den USA erzeugte Waren und Dienstleistungen entspricht. Beachten Sie, dass die Steigung der rostfarbene Gesamtnachfragekurve geringer ist als diejenige der Inlandsnachfrage, was auf den Ausgabenabfluss in die Importe zurückzuführen ist.
und der Rest der Welt für Waren und Dienstleistungen ausgeben wollen, die in den USA produziert wurden.
Die marginale Importquote und die Ausgabenkurve Bitte beachten Sie, dass die Gesamtnachfragekurve, die rostfarbene (C + I + G + X)Kurve in Abbildung 30-2, eine etwas geringere Steigung als die schwarze Binnennachfragekurve aufweist. Die Erklärung dafür liegt darin, dass ein Teil der Ausgaben nun in die Importe sickert. Zu diesem neuen Abfluss kommt es aufgrund unserer Annahme, dass von jedem Dollar Einkommen 10 Cents für Importe ausgegeben werden. Um diese Tat-
sache berücksichtigen zu können, müssen wir einen neuen Begriff einführen, nämlich die marginale Importquote oder Grenzneigung zum Import, die als MPm bezeichnet wird und für jede Steigerung des BIP um eine Geldeinheit die entsprechende wertmäßige Zunahme der Importe angibt. Die marginale Importquote ist eng mit der marginalen Sparquote (MPS) verwandt. Sie werden sich sicher erinnern, dass die MPS angibt, welcher Teil einer zusätzlichen Geldeinheit an Einkommen nicht ausgegeben, sondern gespart wird. Die Grenzneigung zum Import zeigt, welcher Teil zusätzlicher Produktion und zusätzlichen Einkommens in den Import fließt. In unserem Beispiel beträgt die MPm 0,10, denn zusätz-
871
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
liches Einkommen in Höhe von US-$ 300 Milliarden erhöht die Importe um US-$ 30 Milliarden. (Wie hoch ist die marginale Importquote in einem Land ohne Außenhandel? Sie liegt bei null.) Betrachten Sie nun die Steigung der Gesamtausgabenkurve in Abbildung 30-2 (also der Kurve, die die Gesamtausgaben für C + I + G + X darstellt). Beachten Sie, dass die Steigung der Gesamtausgabenkurve unter derjenigen der Binnennachfragekurve von C + I + G liegt. Wenn BIP und Gesamteinkommen um US-$ 300 zunehmen, steigen die Konsumausgaben um die Einkommenserhöhung multipliziert mit der MPm (von der wir annehmen, dass sie zwei Drittel beträgt), oder um US-$ 200. Zugleich steigen die Importausgaben ebenfalls um US-$ 30. Daher nehmen die Ausgaben für heimische Güter nur um US-$ 170 (= US-$ 200 – US-$ 30) zu, und die Steigung der Gesamtausgabenkurve sinkt von 0,667 in unserer geschlossenen Wirtschaft auf US-$ 170/US-$ 300 = 0,567 in unserer offenen Wirtschaft.
Der Multiplikator in einer offenen Volkswirtschaft Erstaunlicherweise sinkt der Multiplikator bei Öffnung der Wirtschaft. Eine Möglichkeit, den Ausgabenmultiplikator in einer offenen Volkswirtschaft zu verstehen, besteht darin, die diversen Ausgabenrunden zu berechnen, die durch eine zusätzliche Geldeinheit an Staatsausgaben, Investitionen oder Exporten ausgelöst werden. Nehmen wir an, Deutschland müsste amerikanische Computer kaufen, um die veraltete Büroausstattung in der früheren DDR zu modernisieren. Jeder zusätzliche Dollar für US-Computer führt in den USA zu US-$ 1 an zusätzlichem Einkommen, wovon US-$ 2/3 = US-$ 0,667 von Amerikanern für den Konsum ausgegeben werden. Aufgrund der marginalen Importquote von 0,10 wird ein Zehntel des zusätzlichen Dollars für ausländische Waren und Dienstleistungen ausgegeben, wodurch nur US-$ 0,567 an Ausgaben für
heimische Güter verbleiben. Diese US-$ 0,567 an heimischen Ausgaben generieren US-$ 0,567 US-Einkommen, wovon 0,567 (US-$ 0,567) = US-$ 0,321 für den Konsum heimischer Güter und Dienstleistungen in der nächsten Runde ausgegeben werden. Somit ergibt sich die gesamte Produktionssteigerung oder der Multiplikator der offenen Volkswirtschaft als: Multiplikator in der offenen Volkswirtschaft = 1 + 0,567 + (0,567)2 + ... = 1 + (2/3 – 1/10) + (2/3 – 1/10)2 + ...
=
1 1 – 2/ 3 + 1/ 10
=
1 13
/ 30
= 2,3
Im Gegensatz dazu beträgt der Multiplikator einer geschlossenen Volkswirtschaft 1 ÷ (1 – 0,667) = 3. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, den Multiplikator zu berechnen: Denken Sie daran, dass der Multiplikator in unserem einfachsten Modell 1/MPS betrug, wobei MPS den „Abfluss“ von Geldeinheiten in Ersparnisse bezeichnete. Wie oben bemerkt, handelt es sich bei Importen um einen weiteren Geldabfluss. Insgesamt versickern also Geldeinheiten in Ersparnisse (MPS) und in Importe (MPm). Daher ergibt sich der Multiplikator in der offenen Volkswirtschaft als: 1 ÷ (MPS + MPm) = 1 ÷ (0,333 + 0,1) = 1 ÷ 0,433 = 2,3. Beachten Sie, dass sowohl die Sickerverlustanalyse als auch die Ausgabenrundenanalyse zum gleichen Ergebnis führt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Da in einer offenen Volkswirtschaft ein Teil des Einkommens für Importe ausgegeben wird, fällt der Multiplikator in der offenen Volkswirtschaft geringer aus als in der geschlossenen. Das genaue Verhältnis lautet: 1 Multiplikator in der = offenen Volkswirtschaft MPS + MPm
872
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
wobei MPS die marginale Sparquote und MPm die marginale Importquote bezeichnet.
Makroökonomische Maßnahmen und das Wechselkurssystem Unsere Untersuchung der Konjunkturzyklen und des Wirtschaftswachstums hat sich weitgehend auf die Maßnahmen in einer geschlossenen Wirtschaft konzentriert. Wir haben analysiert, wie Geld- und Fiskalpolitik zur Stabilisierung der Konjunkturzyklen beitragen, der Inflation die Spitze brechen und der Produktion aus der Talsohle helfen können. Wie verändert sich das alles in einer offenen Volkswirtschaft? Erstaunlicherweise hängt die Antwort auf diese Frage ganz wesentlich davon ab, ob das Land feste oder flexible Wechselkurse hat. Unsere Betrachtung konzentriert sich an dieser Stelle auf Länder mit hohem Einkommen, deren Finanzmärkte eng miteinander verflochten sind – also Länder wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und Japan. Wenn Finanzinvestitionen leicht zwischen den Ländern zirkulieren können und kaum regulative Barrieren überwinden müssen, sagen wir, das Finanzkapital sei äußerst mobil. Feste Wechselkurse. Für Länder mit festen Wechselkursen und einer hohen Mobilität des Kapitals gilt, dass ihre Zinssätze eng beieinander liegen müssen. Zinsdifferenzen zwischen zwei derartigen Ländern würden Spekulanten anziehen, die so lange die eine Währung kaufen und die andere verkaufen, bis die Zinssätze wieder gleich sind. Betrachten wir ein kleines Land, das seinen Wechselkurs an die Währung eines großen Landes bindet. Da die Zinssätze des kleinen Landes durch die Geldpolitik des großen Staates beeinflusst werden, kann das kleine Land keine unabhängige Geldpolitik mehr betreiben. Die Geldpolitik des kleinen Landes muss dafür sorgen, dass die Zinssätze
Teil 6
dieses Landes sich an denen des großen Partners ausrichten. In einem solchen Fall entsprechen die makroökonomischen Maßnahmen genau dem Fall, den wir oben in unserem Multiplikatormodell beschrieben haben. Aus der Sicht eines kleinen Landes sind die Investitionen exogene Variablen, denn sie werden von den auf der Welt herrschenden Zinssätzen bestimmt. Die Fiskalpolitik wird sich als äußerst wirkungsvoll erweisen, denn es wird keine Reaktionen der Geldmenge auf Veränderungen von G oder T geben. Flexible Wechselkurse. Im Zusammenhang mit unserem Thema ist es wichtig zu erkennen, dass im Fall flexibler Wechselkurse makroökonomische Maßnahmen ganz andere Auswirkungen haben als in einem System fester Wechselkurse. Bei frei schwankenden Wechselkursen ist die Geldpolitik äußerst wirkungsvoll. Betrachten wir den Fall der Vereinigten Staaten. Der monetäre Transmissionsmechanismus hat sich infolge der zunehmenden Offenheit und des Übergangs zu flexiblen Wechselkursen in den USA während der letzten Jahrzehnte deutlich verändert. In jüngster Zeit spielen der Außenhandel und internationale Finanztransaktionen eine zunehmend wichtige Rolle für die Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten. Eines der besten Beispiele für die Auswirkungen makroökonomischer Maßnahmen bei flexiblen Wechselkursen bietet die Geldverknappung durch die Federal Reserve in den Jahren 1979–1982. Die restriktive Geldpolitik erhöhte die US-Zinssätze, wodurch Mittel aus dem Ausland in Dollar-Wertpapiere flossen. Dieser Anstieg der Nachfrage nach US-Dollar erhöhte den Wechselkurs des Dollars. (Betrachten Sie noch einmal Abbildung 29-5 im vorhergehenden Kapitel.) An diesem Punkt kam der Multiplikatoreffekt ins Spiel. Der hohe Wechselkurs des US-Dollars reduzierte die Nettoimporte und trug zur schweren Rezession in den USA von 1981–1983 auf die früher schon beschriebene Art und Weise bei. Insgesamt führte dies alles zu einem Rückgang des realen BIP.
873
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
Wenn ein Land flexible Wechselkurse hat, stellt der Außenhandel eine neue, bedeutende Verbindung innerhalb des monetären Transmissionsmechanismus dar. Eine geldpolitisch bedingte Veränderung der Zinssätze wirkt sich sowohl auf den Wechselkurs und die Nettoexporte wie auch auf die Inlandsinvestitionen aus. Restriktive geldpolitische Maßnahmen führen zu einem Anstieg des Wechselkurses und damit zu einem Rückgang der Nettoexporte (eine expansive Geldpolitik hat die gegenteilige Wirkung). Der Einfluss des Zinssatzes auf die Nettoexporte verstärkt dessen Wirkung auf die einheimischen Investitionen: Knappes Geld führt zu sinkender Produktion und sinkenden Preisen.
Außenhandel und wirtschaftliche Aktivitäten 1980–2003 In einer Welt, in der die Länder zunehmend durch Handel und Finanztransaktionen miteinander verbunden sind, kann der Außenhandel bedeutende Auswirkungen auf Produktion und Beschäftigung im Inland haben. Abbildung 30-3 zeigt zwei beträchtliche Einbrüche in den Nettoexporten der Vereinigten Staaten – in den frühen achtziger Jahren und in der Phase von 1995–2001. Eine Betrachtung dieser beiden Perioden kann die Rolle des Außenhandels für die wirtschaftliche Entwicklung im Inland beleuchten.
3
Rapides Wachstum in den USA, Stagnation im Ausland
1 0
2 3 4 5
Budgetdefizit und Dollarblase
1
Überbewertung des US-Dollars unter dem Bretton-Woods-Abkommen
Reale Nettoexporte/reales BIP (%)
2
6 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Jahr
Abbildung 30-3: Abhängig von der Inlandsnachfrage können sich Nettoexporte positiv oder negativ auf die Wirtschaft auswirken Angesichts eines starken Kursanstiegs des US-Dollars und eines schwachen Wirtschaftswachstums im Ausland rutschten die realen US-Nettoexporte in den frühen achtziger Jahren deutlich in den Negativbereich ab. Diese Veränderung hatte beträchtliche Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage C + I + G + X und führte zu einer der schwersten Rezessionen der letzten 50 Jahre. Das wachsende Außenhandelsdefizit seit 1995 fiel mit einem deutlichen Wachstum der Inlandsnachfrage zusammen, bei maßvollem Anstieg von Produktion und Preisen. Quelle: US-Handelsministerium.
874
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Der überbewertete Dollar der achtziger Jahre. Während der achtziger Jahre kam es zu dramatischen Kursgewinnen und -verlusten des US-Dollars. Der Aufstieg begann 1980 infolge einer restriktiven Geld- und einer lockeren Fiskalpolitik in den Vereinigten Staaten, die zu einem deutlichen Anstieg der Zinssätze führten. Die hohen Zinssätze im Inland und wirtschaftliche Unruhen im Ausland führten zu vermehrten Anlagen in US-Dollar. Abbildung 30-4 zeigt, dass von 1979 bis Anfang 1985 der Wechselkurs des US-Dollars um 80 Prozent anstieg. 1985 hielten viele Wirtschaftswissenschaftler den USDollar für überbewertet – eine überbewertete Währung ist eine, deren Wert im Vergleich zu ihrem langfristigen oder vertretbaren Niveau hoch ist.
Teil 6
Als der Wert des US-Dollars stieg, erhöhten sich damit auch die amerikanischen Exportpreise, während diejenigen für Waren, die in die Vereinigten Staaten eingeführt wurden, sanken. Von 1980–1985 fielen die Preise für importierte Waren und Dienstleistungen um 6 Prozent, während die Preise für Exporte in andere Währungszonen um mehr als 80 Prozent stiegen. Infolgedessen stieg das Einfuhrvolumen um 51 Prozent, während das Ausfuhrvolumen nur um 2 Prozent zunahm. Abbildung 30-5 verdeutlicht die dramatische Wirkung der Kurssteigerung des USDollars auf den Außenhandel. Vom Höhepunkt im Jahre 1980 bis zu ihrem niedrigsten Stand im Jahre 1986 sanken die realen Nettoexporte um US-$ 158 Milliarden – das entsprach 3 Prozent des BIP von 1983.
Wechselkurs des US-$ (März 1973 = 100)
150 140
Periode fester Wechselkurse
Periode flexibler Wechselkurse
130 120 110 100 90 80 70 1955
1960
1965
1970
1975
1980 Jahr
1985
1990
1995
2000
2005
Abbildung 30-4: Der Wechselkurs des US-Dollars Während der Phase fester Wechselkurse (System von Bretton Woods) war der Wert des US-Dollars auf den Devisenmärkten stabil. Nachdem sich die Vereinigten Staaten 1973 für flexible Wechselkurse entschieden, schwankte der Außenwert des US-Dollars stärker. Als die USA während der frühen achtziger Jahre eine restriktive Geldpolitik betrieben, lösten die hohen Zinssätze einen Kursanstieg des US-Dollar aus. Ende der neunziger Jahre und Anfang des neuen Jahrtausends führten die erneut hohen US-Zinssätze verbunden mit der Stagnation in Japan und Europa zu einem Kursanstieg des US-Dollars und einer kleinen Spekulationsblase, die jedoch 2003 platzte. Quelle: Federal Reserve System, verfügbar unter www.federalreserve.gov/releases/h10/summary/
875
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
130
3,0 120 2,5 2,0
110
1,5 100 1,0 0,5
90
0 Handelsbilanzdefizit/BIP (linke Skala)
0,5 1,0 1976
1980
Realer effektiver Wechselkurs (rechte Skala)
1985
1990
1995
80
Realer Wechselkurs des US-$ (1973 = 100)
Handelsbilanzdefizit (in % des BIP)
3,5
70 2000
Jahr
Abbildung 30-5: Außenhandel und Wechselkurse Außenhandelsströme reagieren auf Wechselkursänderungen, aber mit zeitlicher Verzögerung. Der reale Kursanstieg des US-Dollars während der frühen achtziger Jahre erhöhte die US-amerikanischen Exportpreise und verbilligte Importe in die Vereinigten Staaten. Infolgedessen stieg das Außenhandelsdefizit deutlich. Als der Dollarkurs 1985 wieder sank, schrumpfte auch das Außenhandelsdefizit. Die jüngste Zunahme des Leistungsbilanzdefizits ist bedingt durch den Anstieg des Dollarkurses und das geringe Wirtschaftswachstum außerhalb der Vereinigten Staaten. Quelle: Council of Economic Advisers, Economic Report of the President, 2000.
Schon für sich allein genommen hätte dieser starke Rückgang der Nettoexporte die wirtschaftliche Entwicklung gedämpft. Unglücklicherweise verstärkte er aber noch den durch die restriktive Geldpolitik bedingten Rückgang der Inlandsnachfrage. Das Ergebnis war die schlimmste Rezession in 50 Jahren. Antizyklischer Außenhandel in der Zeit von 1995–2001. In den späten neunziger Jahren erlebten wir die genau umgekehrte – und glücklichere – Entwicklung. Nach 1995 führte das Zusammentreffen von niedrigen Realzinssätzen und einem Aufschwung am Aktienmarkt zu einem schnellen Wachstum der Inlandsnachfrage in den Vereinigten Staaten, insbesondere der privaten Investitionen. Die Arbeitslosigkeit ging drastisch zurück. Ein rascher Anstieg der Auslandsnachfrage für US-Anlagen ließ den Dollarkurs deutlich ansteigen.
In dieser Periode kamen die makroökonomischen Auswirkungen der Kursgewinne des US-Dollars gerade zur rechten Zeit. Als sich die amerikanische Wirtschaft der Vollbeschäftigung näherte, sanken Importpreise und Nettoexporte, und der Außenhandel erwies sich als leichter Bremsfaktor der Wirtschaft. Wäre der Dollarkurs gesunken statt gestiegen, hätte der Außenhandel zugenommen, die Inflation in den USA wäre gestiegen, und die Fed hätte es für notwendig gehalten, eine restriktive Geldpolitik durchzusetzen, um das Wirtschaftswachstum zu drosseln. Ein Kursanstieg des US-Dollars und sinkende Nettoexporte waren daher Ende der neunziger Jahre genau das, was der makroökonomische Onkel Doktor verordnet hätte.
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
B. Wechselseitige Abhängigkeiten in der Weltwirtschaft Wirtschaftswachstum in einer offenen Volkswirtschaft Im ersten Teil haben wir die kurzfristigen Auswirkungen des internationalen Handels und von wirtschaftspolitischen Maßnahmeänderungen in einer offenen Volkswirtschaft beschrieben. Diese Aspekte sind wesentlich für derartige Volkswirtschaften, um Unterbeschäftigung oder Inflation zu bekämpfen. Doch die Länder müssen auch über die Auswirkungen ihrer Wirtschaftspolitik auf das langfristige Wirtschaftswachstum nachdenken. Insbesondere in kleinen Ländern dominiert die Sorge um das Wirtschaftswachstum. Mitunter ist es ganz nützlich, eine Region innerhalb der Vereinigten Staaten (beispielsweise einen Bundesstaat oder ein Großstadtgebiet) als kleine offene Volkswirtschaft mit festem Wechselkurs zu betrachten. Wie wir bereits in Kapitel 27 gesehen haben, hängt das Wirtschaftswachstum von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Der wichtigste Ansatz, um ein rasches Wirtschaftswachstum zu fördern, besteht vermutlich darin, für hohe Ersparnisse und Investitionen zu sorgen. Abbildung 30-6 zeigt den Zusammenhang zwischen der nationalen Sparquote und dem Wachstum des BIP pro Kopf der Bevölkerung. Wir werden zunächst untersuchen, wodurch Ersparnisse und Investitionen in einer offenen Volkswirtschaft bestimmt werden. Kapital allein genügt nicht, damit die Wirtschaft wächst. Man muss sich auch an die Grenzen des technisch Machbaren begeben und Spitzentechnologie einsetzen. Institutionen müssen entwickelt werden, die Investitionen und den Unternehmergeist fördern.
Teil 6
7
Reales Wachstum des Pro-Kopf-BIP (Durchschnitt 1976–2000)
876
Korea
China
6
Hongkong
5
Irland
4 Argentinien
3
USA Japan
2 Türkei Brasilien
1 0 10
Mexiko
20 30 Nationales Sparaufkommen/BIP (Durchschnitt 1975–2000, in %)
40
Abbildung 30-6: Investitionen im Inland und Wirtschaftswachstum Länder, in denen die Spar- und Investitionsquote hoch sind, erzielen auch ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum pro Kopf der Bevölkerung. Langfristig gesehen ist die Förderung von Ersparnissen und Investitionen eine der sichersten Methoden, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Quelle: World-Penn Tabellen.
Andere Aspekte – die Handelspolitik, der Schutz geistigen Eigentums, Maßnahmen zur Unterstützung von Direktinvestitionen und das gesamtwirtschaftliche Klima – sind ebenfalls wesentlich für das Wachstum einer offenen Volkswirtschaft.
Ersparnisse und Investitionen in einer offenen Volkswirtschaft In einer geschlossenen Volkswirtschaft entsprechen die Gesamtinvestitionen den einheimischen Ersparnissen. Offene Volkswirtschaften können auf die Finanzmärkte der ganzen Welt als Quellen für Investitionsmittel und Anlagemöglichkeiten für einheimische Ersparnisse zurückgreifen. Länder, die
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Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
aufgrund gewinnbringender einheimischer Investitionsmöglichkeiten dringend Mittel benötigen, können diese auf den internationalen Finanzmärkten finden. Traditionellerweise nehmen lateinamerikanische und asiatische Länder der mittleren Einkommensgruppe Mittel im Ausland auf, um einheimische Kapitalanlagen zu finanzieren. Erstaunlicherweise haben sich die Vereinigten Staaten während der letzen Jahre als Magnet für ausländische Ersparnisse erwiesen, weil hier die Investitionstätigkeit hoch und die Sparquote niedrig ist. Die umgekehrte Situation beobachten wir in Ländern mit hoher Sparquote, die aber nur über wenige ertragreiche einheimische Investitionsmöglichkeiten verfügen. Länder wie Großbritannien im letzten Jahrhundert oder Japan in der jüngsten Vergangenheit haben Staaten, die knapp an Kapital waren, umfangreiche Finanzmittel zur Verfügung gestellt. Zunächst untersuchen wir die Beziehung, die zwischen Investitionen und Ersparnissen besteht, und anschließend den Mechanismus, der für die Verteilung der Ersparnisse unter den einzelnen Ländern sorgt. Die Beziehung zwischen Ersparnissen und Investitionen in einer offenen Volkswirtschaft Erinnern wir uns an die Identität von Ersparnissen und Investitionen, wie in Kapitel 21 dargestellt: IT = I + X = S + (T –G). Diese Identität besagt, dass die Gesamtinvestitionen eines Landes (IT) sich zusammensetzen aus den Investitionen in einheimisches Kapital (I) sowie den Nettoauslandsinvestitionen oder Nettoexporten (X). Diese Summe muss den gesamten privaten Ersparnissen (S) von Haushalten und Unternehmen zuzüglich der öffentlichen Ersparnisse, ausgedrückt als Budgetüberschuss des Staates (T – G), entsprechen.
Wir können diese Gleichung folgendermaßen umschreiben, um die Bedeutung der Nettoexporte zu unterstreichen: X = S + (T –G) – I oder Nettoexporte = private Ersparnisse + öffentliche Ersparnisse – einheimische Investitionen Diese wichtige Gleichung zeigt, dass die Nettoexporte die Differenz zwischen einheimischen Ersparnissen und einheimischen Investitionen darstellen. Die Komponenten der gesamten einheimischen US-Investitionen sind für die letzten Jahrzehnte in Tabelle 30-2 dargestellt.
Die Bestimmung von Ersparnissen und Investitionen bei Vollbeschäftigung Wir müssen über die definitionsgemäße Gleichheit von Ersparnissen und Investitionen hinausgehen, um den Mechanismus zu verstehen, der in einer offenen Wirtschaft für diese Gleichheit sorgt. Kurzfristig betrachtet ist das Gleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen nur ein Spiegelbild des Multiplikatormechanismus, der in Abbildung 30-2 dargestellt ist. Es ist hilfreich, sich zu überlegen, wie Ersparnisse und Investitionen langfristig in einer „klassischen“ Volkswirtschaft mit Vollbeschäftigung und flexiblen Preisen verteilt werden. Wir beginnen mit einer geschlossenen Volkswirtschaft und weiten die Untersuchung dann auf eine offene Volkswirtschaft aus. Geschlossene Volkswirtschaft. Von einer geschlossenen Volkswirtschaft wissen wir, dass die Investitionen mit der Summe aus privaten Ersparnissen und Staatsüberschuss identisch sein müssen. Wir vereinfachen die Untersuchung, indem wir annehmen, dass Steuern,
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Ersparnisse und Investitionen als Prozentsatz des Nettosozialprodukts 1959–1981
1982–1997
1998–2002
10,7
5,6
5,3
Private Nettoersparnisse
10,7
9,2
4,6
Öffentliche Nettoersparnisse
0,0
–3,5
0,6
10,0
5,1
6,3
Private Nettoinvestitionen
8,9
6,4
7,1
Öffentliche Nettoinvestitionen
2,1
1,4
1,3
Nettoauslandsinvestitionen
0,4
–1,7
–4,1
Statistische Abweichung
0,7
0,5
–1,0
Netto-Inlandsersparnisse
Netto-Inlandsinvestitionen
Tabelle 30-2: Handelsbilanz und Nettoauslandsinvestitionen sind ein Teil der nationalen Ersparnisse und Investitionen Als im Jahr 1982 erstmals hohe Budgetdefizite auftraten, gerieten die nationalen Ersparnisse und Investitionen unter Druck. Etwa die Hälfte der Einschränkungen betraf die inländischen Investitionen, während sich der Rest in einem Handelsbilanz- und einem Nettoexportdefizit äußerte. Die deutliche Budgetstabilisierung nach 1997 ging mit einem drastischen Rückgang der privaten Ersparnisse einher, wodurch die Veränderung der Nettoinlandsinvestitionen nur gering ausfiel. Quelle: Bureau of Economic Analysis.
Staatsausgaben und private Ersparnisse zinsunabhängig sind. Dadurch sind die gesamten Ersparnisse (öffentliche und private) bei Vollbeschäftigung eine konstante Größe. Wie wir in Kapitel 22 gelernt haben, reagieren die Investitionen dagegen sehr sensibel auf Änderungen der Zinssätze. Höhere Zinssätze führen zu sinkenden Ausgaben für private Immobilien, Fabriken und Kapitalgüter. Daher definieren wir die Investitionen als I(r), um anzuzeigen, dass die Höhe der Investitionen vom Realzinssatz, r, abhängt. Abbildung 30-7 zeigt, wie in einer geschlossenen Volkswirtschaft bei Vollbeschäftigung die nationalen Ersparnisse und Investitionen einen Gleichgewichtspunkt finden. Die Ersparnis- und Investitionsfunktionen bestimmen einen Zinssatz von r*, bei dem sich das Gleichgewicht einstellt. Nehmen wir nun an, die Regierung kaufe mehr ein, wodurch entweder das Staatsdefizit erhöht oder der staatliche Überschuss vermindert wird. Dadurch wird die Sparfunktion nach links verschoben, zu S + T – G'. Um wieder ein Gleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen zu bewirken, steigt der
Realzinssatz, und der Wert der Investitionen geht zurück. Wichtig ist festzuhalten, dass ein höheres öffentliches Defizit in einer geschlossenen Wirtschaft bei Vollbeschäftigung zu einem Rückgang der Investitionen führt. Ersparnisse in einer offenen Volkswirtschaft. In einer offenen Volkswirtschaft gibt es alternative Quellen zur Finanzierung von Investitionen und alternative Anlagemöglichkeiten für Ersparnisse. Diese Situation ist in Abbildung 30-8 für eine kleine offene Volkswirtschaft mit einem hohen Ausmaß an Kapitalmobilität dargestellt. Eine solche Volkswirtschaft muss dafür sorgen, dass der Zinssatz im Inland dem weltweiten Realzinssatz, rW, entspricht. Das Land selbst ist zu klein, um diesen Zinssatz zu beeinflussen, und aufgrund der hohen Mobilität des Kapitals werden die Finanzströme dafür sorgen, dass sich die Zinssätze im In- und Ausland ausgleichen. Abbildung 30-8 verdeutlicht, wie in einer offenen Volkswirtschaft Ersparnisse, Investitionen und Nettoexporte bestimmt werden. Bei dem vorherrschenden Weltzinssatz gibt Punkt A die Höhe der Inlandsinvestitionen
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Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
S + T – G S+T–G
Realzins
r **
r* I (r )
I **
I*
Investitionen, Ersparnis
Abbildung 30-7: Ersparnisse und Investitionen in einer geschlossenen Volkswirtschaft Die Investitionen stehen im umgekehrten Verhältnis zum Realzinssatz, während private und öffentliche Ersparnisse verhältnismäßig wenig auf den Zinssatz reagieren. Zum Gleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen kommt es bei einem Zinssatz von r*. Nehmen wir an, der Staat tätigte mehr Einkäufe. Dadurch erhöht sich das Staatsdefizit, und die öffentlichen Ersparnisse sinken. Infolgedessen verschiebt sich die gesamtwirtschaftliche Sparkurve nach links auf S + T – G', wodurch der Marktzinssatz auf r** steigt und die einheimischen Ersparnisse und Investitionen auf I** zurückgehen.
an, am Schnittpunkt der Investitionskurve mit dem Zinssatz. Die Gesamtersparnisse werden durch Punkt B auf der Gesamtersparnisfunktion S + T – G dargestellt. Der Abstand zwischen den beiden Punkten – also die Strecke AB – entspricht den Nettoexporten. (Diese Situation wird durch die Ersparnis-Investitions-Identität im obigen Kasten verdeutlicht.) Bestimmungsfaktoren der Nettoexporte sind also das Gleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen, die von inländischen Aspekten beeinflusst werden, sowie der Weltzinssatz. Diese Diskussion drängt den Mechanismus, durch den ein Land seinen Außenhandel, seine Ersparnisse und Investitionen anpasst, in den Hintergrund. Auf dieser Ebene spielt
der Wechselkurs seine wesentliche ausgleichende Rolle. Veränderungen des Wechselkurses stellen den Mechanismus dar, durch den sich Ersparnisse und Investitionen einander angleichen. Das heißt, die Veränderung des Wechselkurses bewirkt, dass die Höhe der Nettoexporte den Unterschied zwischen einheimischen Ersparnissen und Investitionen ausgleicht.2 Diese Untersuchung kann die Entwicklung von Ersparnissen, Investitionen und Handelsmustern in wichtigen Ländern während der letzten Jahre erklären. Abbildung 30-8 ver2 Allgemeiner ausgedrückt erfolgt die Anpassung durch Veränderungen der relativen Preise für Inlands- und Auslandswaren. Der relative Preis für diese Waren wird durch den Wechselkurs sowie die Preisniveaus im In- und Ausland bestimmt. Bei flexiblen Wechselkursen erfolgt die Anpassung schnell durch Veränderungen eben dieses Kurses. Bei festen Wechselkursen führen Änderungen der Preisniveaus in den beiden Ländern zum Ausgleich. Das erforderliche Endergebnis – eine Änderung der relativen Preise – ist in beiden Fällen gleich.
880
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
S+T–G
Realzinssatz
I
rw
C
X A
rw
B
I
Inland I
Nettoexporte
Inland S
I, S, X Investitionen, Ersparnis, Nettoexporte
Abbildung 30-8: Ersparnisse und Investitionen in einer kleinen offenen Volkswirtschaft Die einheimischen Investitionen und Ersparnisse werden wie in Abbildung 30-7 vom Einkommen, den Zinssätzen und der Fiskalpolitik der Regierung bestimmt. Doch in einer kleinen offenen Volkswirtschaft mit mobilem Finanzkapital werden die Realzinssätze an den globalen Finanzmärkten bestimmt. Bei einem relativ hohen Realzinssatz sind die inländischen Ersparnisse höher als die Investitionen, und die zusätzlichen Ersparnisse fließen in gewinnbringendere Investitionsmöglichkeiten im Ausland. Der Unterschied zwischen den Nettoexporten und den Nettoauslandsinvestitionen, X, entspricht dem Unterschied zwischen den inländischen Ersparnissen und den inländischen Investitionen zum vorherrschenden Zinssatz. Ein Handelsüberschuss, wie er in Japan und Deutschland während der letzten zwei Jahrzehnte fast ständig zu beobachten war, entsteht durch das Zusammenspiel von hohen einheimischen Ersparnissen und geringen einheimischen Investitionen.
deutlicht die Rolle Japans in der Weltwirtschaft recht gut. Traditionellerweise ist die einheimische Sparquote in Japan hoch. Doch während der letzten Jahre war die Kapitalrendite in Japan vergleichsweise niedrig – wegen der hohen Produktionskosten im Inland und dem starken Wettbewerb durch die benachbarten industrialisierten Länder. Japanische Sparer suchten daher nach Anlagemöglichkeiten im Ausland, was dazu führte, dass Japan einen hohen Handelsbilanzüberschuss und hohe Nettoexporte verzeichnete. Bis zur Wiedervereinigung 1990 konnten man in Deutschland mit seiner hohen Sparquote und vergleichsweise niedrigen Investitionen eine ähnliche Entwicklung beobachten.
Wie in Tabelle 30-2 gezeigt, kam es in den Vereinigten Staaten zu einer interessanten Umkehr von Ersparnissen und Investitionen. Bis 1980 bewegten sich die Nettoexporte der USA im niedrigen positiven Bereich. Doch Anfang der achtziger Jahre führte die Fiskalpolitik der Regierung zu einem deutlichen Defizit. Sie können das darstellen, indem Sie eine neue (S + T' – G')-Linie in Abbildung 30-8 einzeichnen, welche die Realzinslinie in Punkt C schneidet. Sie erkennen, dass die Gesamtersparnisse eines Landes zurückgehen, wenn das staatliche Defizit wächst. Die einheimischen Investitionen bleiben davon unberührt. Die Nettoexporte werden negativ und sind in der Grafik durch das Teilstück CA dargestellt.
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
Wir können diese Analyse auch verwenden, um den Mechanismus zu erklären, durch den sich die Nettoexporte anpassen, um für die nötigen Investitionen zu sorgen, wenn ein Defizit des Staates entsteht oder wächst. Betrachten wir ein Land mit positiven Nettoüberschüssen, wie in Abbildung 30-8 dargestellt. Nehmen wir an, es entstünde ein beträchtliches staatliches Defizit. Diese Veränderung führt zu einem Ungleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen, was generell zu einem Anstieg der Zinssätze im Inland relativ zum Weltmarktniveau führt. Eine Erhöhung der inländischen Zinssätze zieht Mittel aus dem Ausland an, was den Wechselkurs in dem Land ansteigen lässt, in dem das Budgetdefizit vorliegt. Dieser Kursanstieg lässt die Exporte sinken und die Importe steigen, führt also zu einer Abnahme der Nettoexporte. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, bis die Nettoexporte weit genug gefallen sind, um die Lücke zwischen Ersparnissen und Investitionen zu füllen. Weitere wichtige Folgerungen aus der Ersparnis-Investitions-Theorie in einer kleinen offenen Volkswirtschaft sind die folgenden: • Ein Anstieg der privaten Ersparnisse oder eine Senkung der Staatsausgaben in einem Land erhöht die Ersparnisse insgesamt, was durch die Rechtsverschiebung der nationalen Sparfunktion in Abbildung 30-8 dargestellt ist. Dies führt zu einem Sinken des Wechselkurses, bis die Nettoexporte ausreichend gestiegen sind, um den Zuwachs an einheimischen Ersparnissen auszugleichen. • Eine Zunahme der einheimischen Investitionen, möglicherweise aufgrund einer Verbesserung des Wirtschaftsklimas oder einer Reihe von Innovationen, führt zu einer Verlagerung der Investitionsfunktion. Daraufhin steigt der Wechselkurs so lange an, bis die Nettoexporte weit genug gesunken sind, um Ersparnisse und Investitionen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In einem solchen Fall verdrängen
881 einheimische Investitionen die ausländischen. • Ein Anstieg der Zinssätze am Weltmarkt wird das Investitionsniveau senken. Dadurch wächst die Diskrepanz zwischen Ersparnissen und Investitionen, woraufhin der Wechselkurs sinkt und die Nettoexporte und ausländischen Investitionen steigen. (Dies entspricht einer Bewegung entlang der Investitionskurve.) Tabelle 30-3 fasst die wesentlichen Ergebnisse für eine kleine offene Volkswirtschaft zusammen. Erarbeiten Sie sich selbst die Fälle einer Abnahme des Staatsdefizits, der privaten Ersparnisse, der Investitionen und der Zinssätze am Weltmarkt. Diese übersichtliche Tabelle und ihre Erklärungen verdienen eine sorgfältige Betrachtung.3 Die Integration eines Landes in das weltweite Finanzsystem fügt der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Wirtschaftspolitik eine neue Dimension hinzu. Wichtige Erkenntnisse sind: • Der Außenwirtschaftsbereich stellt eine wichtige Finanzierungsquelle für Inlandsinvestitionen und eine Anlagemöglichkeit für inländische Ersparnisse dar. • Höhere Ersparnisse im Inland – seien es private oder öffentliche – führen sowohl zu höheren Nettoexporten als auch zu höheren Inlandsinvestitionen. • Die Handelsbilanz eines Landes spiegelt hauptsächlich die Beziehung zwischen Ersparnissen und Investitionen in diesem Land wider, nicht dessen absolute Produktivität oder dessen Wohlstand.
3 Diese Debatte konzentriert sich auf „kleine“ offene Volkswirtschaften, die die Zinssätze auf dem Weltmarkt nicht beeinflussen können. Für „große“ offene Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten liegen die Auswirkungen irgendwo zwischen denjenigen für eine kleine offene und jenen für eine geschlossene Volkswirtschaft. Eine derart komplexe Situation wird in Lehrbüchern für Fortgeschrittene behandelt (siehe dazu den Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu Kapitel 20).
882
Veränderung exogener Variablen
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Veränderung des Wechselkurses
Veränderung der Investitionen
Veränderung der Nettoexporte
Zunahme von G oder Abnahme von T
e↑
0
X↓
Zunahme der privaten Ersparnisse S
e↓
0
X↑
Zunahme der Investitionsnachfrage
e↑
I↑
X↓
Anstieg der Zinssätze am Weltmarkt
e↓
I↓
X↑
Tabelle 30-3: Wichtige Schlussfolgerungen aus dem Ersparnis-Investitions-Modell für eine kleine offene Volkswirtschaft Verdeutlichen Sie sich den Mechanismus, der zu den verschiedenen Resultaten führt.
• Anpassungen der Handelsbilanz eines Landes bedingen eine Veränderung der einheimischen Ersparnisse oder Investitionen. • Langfristig gesehen werden Anpassungen der Handelsbilanz durch eine Veränderung der relativen Preise des Landes bewirkt, häufig durch eine Änderung des Wechselkurses.
Die Förderung des Wachstums in einer offenen Volkswirtschaft Um die Produktion in einer offenen Volkswirtschaft anzukurbeln, genügt es nicht, mit einem Zauberstab zu wedeln, der auf wundersame Weise Investoren und Sparer anlockt. Zur Beeinflussung des Spar- und Investitionsklimas sind eine Reihe von Maßnahmen erforderlich; notwendig sind ein insgesamt stabiles wirtschaftliches Umfeld, gesicherte Eigentumsrechte und vor allem ein verlässliches und positives Investitionsklima. In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit einigen der Methoden, die in offenen Volkswirtschaften angewendet werden, um durch bestmögliche Ausnutzung des Weltmarktes das Wachstum zu fördern. Langfristig gesehen besteht die wichtigste Maßnahme zur Erhöhung der Pro-Kopf-Produktion und des Lebensstandards darin, dass ein Land die optimalen Verfahren für seine
Produktionsprozesse übernimmt. Es nützt wenig, eine hohe Investitionsquote zu haben, wenn in die falschen Techniken investiert wird. Dies wurde während der letzten Jahre der sowjetischen Planwirtschaft (in Kapitel 28 behandelt) überdeutlich, als die Investitionsquote außerordentlich hoch war, die Investitionen aber schlecht gewählt und oft nicht vollständig durchgeführt wurden oder sich auf unproduktive Sektoren konzentrierten. Kleine Länder müssen auch nicht ganz von vorn beginnen und ihre eigenen Turbinen, Maschinen, Computer und Managementsysteme entwerfen. Um an die Grenzen der Technologie vorzustoßen, ist es oft notwendig, mit ausländischen Firmen Gemeinschaftsunternehmen zu gründen, was wiederum bedingt, dass der institutionelle Rahmen ausländischem Kapital Tür und Tor öffnet. Ein weiteres wichtiges Maßnahmenbündel stellt die Handelspolitik dar. Es gibt Belege dafür, dass eine nach außen offene Volkswirtschaft zu mehr Wettbewerb und der Übernahme optimaler technischer Verfahren führt. Indem es Zölle und andere Schranken niedrig hält, kann ein Land sicherstellen, dass seine binnenländischen Unternehmen Wettbewerber erhalten und dass ausländische Firmen die Möglichkeit haben, im Binnenmarkt zu operieren, wenn die einheimischen Produzenten Verkaufspreise zu hoch ansetzen oder bestimmte Sektoren monopolisieren. Wenn Länder ihre Ersparnisse und Investitionen betrachten, dürfen sie sich nicht nur auf physisches Kapital konzentrieren. Imma-
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
terielles Kapital ist genauso wichtig. Untersuchungen zeigen, dass Länder, die mittels Bildung und Ausbildung in ihr menschliches Kapital investieren, in der Regel hohe Leistungen erzielen und schockresistent sind. Viele Länder verfügen über wertvolle natürliche Ressourcen – Wälder, Mineralien, Erdöl und Erdgas, Fischgründe und Ackerland –, die sorgfältig verwaltet und betreut werden müssen, um sicherzustellen, dass sie dem Land den größtmöglichen Ertrag bringen. Ein- und Auswanderungsbewegungen stellen einen äußerst komplexen Faktor für das Wachstum eines Landes dar. Historisch betrachtet haben die Vereinigten Staaten eine große Anzahl von Immigranten angezogen, die nicht nur das Arbeitskräfteangebot vergrößerten, sondern auch einen positiven Beitrag zur Kultur des Landes und zur wissenschaftlichen Forschung leisteten. In den letzten Jahren waren die Einwanderer jedoch weniger gut ausgebildet und verfügten über geringere Fertigkeiten als die einheimischen Arbeitskräfte. Laut einiger Untersuchungen hat die Immigration infolgedessen die relativen Löhne der Niedriglohnarbeiter in den Vereinigten Staaten nach unten gedrückt. Länder, die Arbeitskräfte „exportieren“, wie beispielsweise Mexiko, empfangen häufig einen stetigen Einkommensstrom, den die Auswanderer an ihre Verwandten schicken und der eine ordentliche Ergänzung zu den Exportverdiensten darstellen kann. Ein besonders wichtiger und subtiler Einfluss geht von den Institutionen des Marktes aus. Die erfolgreichsten offenen Volkswirtschaften – wie die Niederlande und Luxemburg in Europa oder Taiwan und Hongkong in Asien – haben ein sicheres Umfeld für Investitionen und Unternehmertum geschaffen. Dazu gehört auch die Festlegung von garantierten und einklagbaren Eigentumsrechten. Zunehmend an Bedeutung gewinnt die Entwicklung von Rechten an geistigem Eigentum, die Erfindern und kreativen Künstler garantieren, einen Nutzen aus ihrer Arbeit ziehen zu können. Länder müssen Korruption bekämpfen, die eine Art privates
883 Steuersystem darstellt und sich die gewinnträchtigsten Unternehmen als Beute aussucht, zu Unsicherheit hinsichtlich der Eigentumsrechte führt, die Kosten erhöht und sich dämpfend auf die Investitionen auswirkt. Ein stabiles gesamtwirtschaftliches Klima bedeutet, dass die Steuern erträglich und vorhersehbar sind und die Inflation niedrig ist, damit Kreditgeber sich keine Sorgen machen müssen, dass die Inflation den Ertrag ihrer Investitionen auffrisst. Es ist unabdingbar, dass die Wechselkurse relativ stabil und hochkonvertibel sind, sodass man die einheimische Währung schnell und billig kaufen und wieder verkaufen kann. Länder, die einen günstigen institutionellen Rahmen bieten, ziehen ausländisches Kapital in beträchtlichem Umfang an, während solche mit unsicheren Bedingungen, wie beispielsweise Russland oder der Sudan, vergleichsweise wenige ausländische Mittel anlocken und eher unter „Kapitalflucht“ leiden, weil die Einheimischen ihre Mittel ins Ausland transferieren, um Steuern, Enteignungen oder Wertverluste zu vermeiden. Abbildung 30-9 verdeutlicht die Auswirkungen des Investitionsklimas auf die Investitionen in einem Land. Links ist ein Land dargestellt, in dem ein günstiges Investitionsklima herrscht, daher entspricht der einheimische Zinssatz demjenigen an den Weltmärkten. Das Gesamtniveau der Investitionen ist dort hoch, und das Land zieht ausländische Mittel zur Finanzierung einheimischer Investitionen an. Diagramm (b) zeigt ein äußerst riskantes Land – geplagt von Revolution, hoher Inflationsrate, unvorhersehbaren Steuern, Verstaatlichungen, Korruption, einem schwankenden Wechselkurs und so weiter. In diesem Land liegen die einheimischen Zinssätze mit einer deutlichen „Risikoprämie“ über den globalen Zinssätzen, sodass die tatsächlichen Kapitalkosten bei 10 Prozent, 20 Prozent oder 30 Prozent pro Jahr liegen können, verglichen mit den 5 Prozent in dem Land mit geringem Risiko. Das risikoreiche Land wird Schwierigkeiten haben, inländische und ausländische Investi-
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Teil 6
Abbildung 30-9: Das Geschäftsklima beeinflusst die Höhe der Zinssätze und der Investitionen In einem Land mit geringem Risiko (a) führt das stabile Wirtschaftsklima zu einem niedrigen einheimischen Zinssatz in Höhe von rW und einem hohen Investitionsniveau, l geringes Risiko. In einem Land mit hohen Risiken (b), das von politischen Unruhen, Korruption und wirtschaftlicher Unsicherheit gebeutelt wird, erwarten Investoren eine hohe Risikoprämie für ihre Investitionen; daher liegt der Zinssatz im Inland deutlich über dem Zinssatz am Weltmarkt. Dies führt zu einem niedrigen Investitionsniveau, da ausländische Investoren sich ein sichereres Umfeld suchen.
tionen anzuziehen, was zu einem insgesamt niedrigen Investitionsniveau führen wird. Zur Förderung des Wachstums in einer offenen Volkswirtschaft muss sichergestellt werden, dass Geschäfte dort für einheimische und ausländische Investoren interessant sind, denen schließlich weltweit eine breite Palette von Investitionsmöglichkeiten geboten werden. Letztendlich hat die Wirtschaftspolitik das Ziel, ein hohes Maß an Ersparnissen und Investitionen in produktive Kanäle zu lenken und sicherzustellen, dass optimale technische Verfahren eingesetzt werden. Um diese Ziele zu erreichen, muss der Staat ein stabiles Wirtschaftsklima schaffen, die Eigentumsrechte an materiellen Gütern und geistigem Eigentum verlässlich sichern, für eine frei
konvertible Währung sorgen, damit Investoren ihre Gewinne auch mit nach Hause nehmen können, und das Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Stabilität erhalten.
C. Internationale Wirtschaftsprobleme am Beginn eines neuen Jahrhunderts In diesem letzten Abschnitt wenden wir die außenwirtschaftlichen Analyseinstrumente an, um zwei der wesentlichen wirtschaftspoli-
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
tischen Fragen während der letzten Jahre zu untersuchen. Im ersten Teil analysieren wir den Unterschied zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität. Im letzten Teil wenden wir uns einem der Dauerbrenner der globalen Wirtschaftspolitik zu – der Wahl zwischen festen und flexiblen Wechselkursen.
Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität „Die Deindustrialisierung der Vereinigten Staaten“ Wenn die Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Vorliegen eines Handelsdefizits stark ansteigt, werden häufig laute Zweifel an der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit des betreffenden Landes geäußert. Zu einer derartigen Situation kam es in den Vereinigten Staaten während der achtziger Jahre, und ein Blick auf die Geschichte hilft zu erkennen, was die Handelsströme bestimmt. Der überbewertete US-Dollar führte in den achtziger Jahren zu schweren wirtschaftlichen Verwerfungen in vielen US-Sektoren, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt waren. Branchen wie die Automobil-, Stahl- und Textilindustrie sowie die Landwirtschaft waren mit sinkender Nachfrage nach ihren Produkten konfrontiert, weil durch den Kursanstieg des US-Dollars ihre Preise im Verhältnis zu den Preisen ausländischer Konkurrenten stiegen. Die Arbeitslosenzahlen in der industriellen Kernregion schnellten in die Höhe, viele Fabriken wurden geschlossen, und der mittlere Westen der USA wurde als „Rostgürtel“ bekannt. Viele Nichtökonomen interpretierten die Handelsprobleme der USA damals als ein Indiz für den „Niedergang Amerikas“. Sie sorgten sich, dass die Vereinigten Staaten wegen eines Übermaßes an Vorschriften, einer Abnahme der Zahl von Erfindungen und schwacher Managementleistungen ihre technologische Führungsstellung verlieren könn-
885 ten. Manche sprachen sich für protektionistische Maßnahmen gegen Japan und Westeuropa aus. Andere riefen nach einer gezielten „Industriepolitik“ für unter Druck geratene Branchen, um der „Deindustrialisierung Amerikas“ entgegenzuwirken. Man fürchtete, Amerika sei dazu verurteilt, Kartoffelchips zu servieren, während die anderen die Computerchips produzierten. Wirtschaftswissenschaftler beurteilten die Lage anders – sie sahen das klassische Phänomen einer überbewerteten Währung. Um die Hintergründe dieses Befunds zu verstehen, müssen wir zwischen der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes und seiner Produktivität unterscheiden. Wettbewerbsfähigkeit bezieht sich auf das Ausmaß, in dem die Waren eines Landes auf dem Markt konkurrieren können; sie hängt hauptsächlich von den relativen Preisen in- und ausländischer Güter ab. Man muss zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität unterscheiden, die als Produktionsleistung pro Einheit Faktoreinsatz gemessen wird. Für das Ansteigen des Lebensstandards eines Landes ist die Produktivität entscheidend: Grob gesagt wächst das Realeinkommen einer Nation proportional zu deren Produktivität. Es stimmt, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren deutlich zurückging. Doch dieser Rückgang wurde nicht durch eine Verlangsamung des Produktivitätswachstums verursacht. Die Wettbewerbsfähigkeit sank, weil ein Rückgang der Ersparnisse in den Vereinigten Staaten zu einer Kurssteigerung des Dollars führte, wodurch die amerikanischen Preise relativ zu denen der Handelspartner anstiegen. Tatsächlich wuchs die Produktivität während dieser Zeit sogar etwas schneller an als im vorhergehenden Jahrzehnt. Grundlegende Quelle der Wettbewerbsfähigkeit: Wie die Theorie des komparativen Vorteils zeigt, gibt es kein Land, das grundsätzlich nicht wettbewerbsfähig ist. Ein Land verliert jedoch seine Wettbewerbsfähigkeit, wenn seine Preise sich zu weit von denen seiner Handelspartner entfernen.
886
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
Produktivitätstrends Entscheidend für die Einkommenssituation der USA war nicht die Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Produktivität. Denken Sie daran, Produktivität ist das Maß für die Produktionsleistung pro Arbeiter oder pro Bündel an Produktionsfaktoren. In den Vereinigten Staaten stagnierten die Realeinkommen bis in die frühen neunziger Jahre hinein, weil sich das Produktivitätswachstum verlangsamte, nicht weil die USA auf dem Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Wettbewerbsfähigkeit ist für den Handel wichtig, hat jedoch keine unmittelbare Beziehung zur Wachstumsrate der Realeinkommen. China erzielte in den neunziger Jahren einen massiven Handelsbilanzüberschuss, während die USA ein großes Handelsbilanzdefizit zu verzeichnen hatten. Doch das bedeutet natürlich nicht, dass die Amerikaner in punkto Lebensstandard mit den Chinesen tauschen würden. Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten tritt ein, wenn die Preise eines Landes nicht mehr jenen seiner Handelspartner entsprechen; er steht jedoch in keinem zwingenden Zusammenhang damit, wie die Produktivität eines Landes im Vergleich zu der eines anderen Landes abschneidet. Eine sehr aufschlussreiche Studie des McKinsey Global Institute stellte fest, dass im Jahr 1990 die Industrieproduktivität Japans um 17 Prozent und diejenige Deutschlands um 21 Prozent unter jener der USA lag.4 Außerdem hatten die Vereinigten Staaten einen Produktivitätsvorsprung in vier der neun untersuchten Industriebereiche: Computer, Seifen und Waschmittel, Bier und Nahrungsmittel. Die japanischen Arbeiter übertrafen die Produktivität ihrer amerikanischen Kollegen in den Bereichen Autos, Autoteile, Metallbearbeitung, Stahl und Unterhaltungselektronik. Deutsche Arbeiter waren in keinem untersuchten Bereich am produktivsten, 4 Siehe den Abschnitt „Weiterführende Literatur“ am Ende dieses Kapitels.
Teil 6
und tatsächlich ist die deutsche Produktivität in den achtziger Jahren sogar langsamer gewachsen als die amerikanische. Die McKinsey-Studie fragte auch nach den Gründen für die Produktivitätsunterschiede zwischen den wichtigsten Ländern in den neun untersuchten Branchen. Das Ergebnis war überraschend: • Skalenerträge und Produktionstechnik spielten in manchen Bereichen nur eine untergeordnete Rolle. • Überraschenderweise hatten auch Schulund Berufsausbildung der Arbeiter nur geringe Bedeutung; sie lagen in allen drei Ländern etwa auf gleichem Niveau. • Es gibt große Produktivitätsunterschiede zwischen den Firmen in einer Branche. Das Management könnte die Produktivität in allen Branchen signifikant erhöhen, würden optimale technische Verfahren angewandt. Untersuchungen der Produktivitätsunterschiede zwischen einzelnen Ländern betonen immer auch die Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit und Außenorientierung. Es ist ganz wichtig, dass die Wirtschaftspolitik die einheimische Industrie dazu bewegt, mit den führenden Technologien und Unternehmen der jeweils eigenen Branche zu konkurrieren. Ausländische Direktinvestitionen aus den produktivsten Ländern (beispielsweise die Errichtung japanischer Automobilfabriken auf amerikanischem Boden) haben zu beachtlichen Produktivitätsverbesserungen beigetragen, sowohl durch die Einführung neuester Technologien als auch durch die Belebung des Wettbewerbs. Die sicherste Methode zum Erreichen hoher Produktivität und damit auch eines hohen Lebensstandards besteht darin, die heimische Industrie den Weltmärkten auszusetzen und einen lebhaften Wettbewerb mit Unternehmen zuzulassen, die neueste Technologien verwenden.
Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
Die Europäische Währungsunion Ein ideales Wechselkurssystem ist eines, das die relativen Preise gut vorhersehbar macht und die Wirtschaft plötzlichen Erschütterungen gegenüber festigt. Im Rahmen eines gut funktionierenden Systems können die Menschen mit anderen Ländern Handel treiben und dort investieren, ohne sich sorgen zu müssen, dass die Wechselkurse sich plötzlich ändern und das ganze Unternehmen unrentabel machen könnten. Solange das System von Bretton Woods in Kraft war und die Wechselkurse nur selten verändert wurden, während Produktion und Handel rasch wuchsen, schien dieser Idealzustand gegeben. Seit den frühen neunziger Jahren haben sich feste Wechselkurse jedoch eher als destabilisierend denn als stabilisierend erwiesen. Immer wieder wurden Systeme fester Wechselkurse zum Ziel heftiger spekulativer Angriffe, die sich wie eine ansteckende Krankheit auch auf andere Länder ausbreiteten. Man konnte dies in Europa von 1991–1992 beobachten, in Mexiko von 1994–1995, in Russland und Ostasien zwischen 1997 und 1998 sowie in Lateinamerika von 1998–2002. Nirgends wurden die frei schwankenden Wechselkurse so intensiv und stetig kritisiert wie in Westeuropa. Infolgedessen entschieden sich die meisten Länder der Europäischen Union für ein System fester Wechselkurse und wagten dann einen gewaltigen Schritt vorwärts, indem sie die Geschicke ihrer Volkswirtschaften in der Europäischen Währungsunion mit einander verbanden und eine gemeinsame Währung, den Euro, annahmen.
Das Europäische Währungssystem: ein Bretton-Woods-System für Europa Nachdem das System von Bretton Woods 1973 aufgegeben wurde, schlossen sich mehrere westeuropäische Länder in einem Sys-
887 tem fester Wechselkurse zusammen, dem so genannten Europäischen Währungssystem (European Monetary System, EMS). Wenn Länder sich für feste Wechselkurse und offene Grenzen entscheiden, müssen sie die selbstständige Kontrolle über ihre einheimischen Zinssätze aufgeben. Wenn der Wechselkurs des französischen Franc eng an den der D-Mark gekoppelt ist, dann können sich die Zinssätze am freien Markt in Frankreich nicht wesentlich von denen in Deutschland unterscheiden. Unter normalen Umständen ist der Verlust der Möglichkeit, die Geldpolitik selbst zu bestimmen, nicht tragisch. Doch in Krisensituationen kann ein gemeinsamer Zinssatz zu derart unterschiedlichen Inflationsraten und Arbeitslosenquoten führen, dass Länder, in denen Rezession herrscht, versucht sein könnten, ihre Währung abzuwerten. Genau das geschah in den Jahren 1989–1993, und das Ergebnis zerstörte beinahe das Europäische Währungssystem und führte schließlich zur Währungsunion. Die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990 war der erste wesentliche Krisenauslöser im EMS. Nach der Vereinigung verfolgte Deutschland eine expansive Fiskalpolitik, denn viel Geld floss in den Aufbau Ost. Die Expansion in Westdeutschland führte zu einer steigenden Inflationsrate. Die Deutsche Bundesbank reagierte darauf mit einer Erhöhung der deutschen Zinssätze, um die Inlandsnachfrage zu dämpfen. In dieser Situation wurde die deutsche Geldpolitik zum Zwecke der einheimischen Wirtschaftssteuerung eingesetzt, und die internationalen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Handelspartner Deutschlands wurden binnenwirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet. Angesichts der erhöhten Zinssätze in Deutschland mussten auch die anderen Länder des Europäischen Währungssystems ihre Zinssätze erhöhen, um zu verhindern, dass ihre Währungen der D-Mark gegenüber Kursverluste erlitten. Das führte in vielen Ländern zu überhöhten Wechselkursen. In Verbindung mit einer weltweiten Rezession
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Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
und einem beträchtlichen Produktionsrückgang im zusammenbrechenden Ostblock ließ die Erhöhung der Zinssätze Europa, mit Ausnahme von Deutschland, in eine tiefe Rezession schlittern. 5 Der grundlegende Widerspruch fester Wechselkurse „Man kann nicht alles haben“ ist einer der Hauptglaubenssätze der Wirtschaftswissenschaften. Sein Wahrheitsgehalt wurde während der neunziger Jahre auf gesamtwirtschaftlicher Ebene mehrfach deutlich. Als Länder, die an festen Wechselkursen festhielten, ihre Finanzmärkte liberalisierten, stießen sie auf den grundlegenden Widerspruch fester Wechselkurse: Ein Land kann nicht gleichzeitig (a) feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse, (b) freizügige Kapitalund Finanzbewegungen und (c) eine unabhängige einheimische Geldpolitik haben. Der Widerspruch zwischen den drei Zielen wurde von Paul Krugman folgendermaßen erklärt: Man kann nicht alles haben, das ist der Punkt: Ein Land muss sich für zwei von drei Optionen entscheiden. Es kann an einem festen Wechselkurs festhalten, ohne seine Zentralbank zu entmachten, aber nur, wenn es die Kapitalströme kontrolliert (wie es China heute tut); es kann freie Kapitalbewegungen zulassen und seine Geldpolitik autonom gestalten, aber nur, wenn es seine Wechselkurse frei schwanken lässt (wie Großbritannien oder Kanada); oder es kann freie Kapitalbewegungen bei festen Wechselkursen zulassen, aber nur, wenn es die Möglichkeit preisgibt, zum Kampf gegen Inflation und Rezession die Zinssätze anzupassen (wie Argentinien heutzutage oder ein Großteil Europas).5
Spekulativer Angriff! In den frühen neunziger Jahren befanden sich die europäischen Länder in einer widersprüchlichen Situation. Ihre Wechselkurse wurden von Spekulanten angegriffen, die glaubten, die Länder würden 5 Siehe „Websites“ im Abschnitt über weiterführende Literatur am Ende dieses Kapitels.
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überbewertete Wechselkurse sowie die daraus folgenden hohen Zinssätze und die hohe Arbeitslosigkeit nicht lange tolerieren. Eine Währung nach der anderen wurde angegriffen – die finnische Mark, die schwedische Krone, die italienische Lira, das britische Pfund, die spanische Peseta. Letztendlich konnten sich nur Frankreich und Deutschland diesen Angriffen widersetzen. Diese Beobachtung zeigt eine Folge des grundlegenden Widerspruchs: Ein System fester Wechselkurse ist verheerenden spekulativen Angriffen ausgesetzt, wenn Kapital frei zwischen den Ländern zirkulieren kann. Warum ist das so? Ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse ist immer dann anfällig für Angriffe, wenn Spekulanten glauben, dass eine Veränderung der Wechselkurse kurz bevorsteht. Wenn eine Währung vermutlich bald abgewertet wird, werden Spekulanten diese Währung möglichst rasch verkaufen. Das Angebot an dieser Währung steigt, während die Nachfrage sinkt. An diesem Punkt greifen üblicherweise die Zentralbanken ein, um die Währung zu verteidigen (erinnern Sie sich an die grafische Darstellung der Intervention in Abbildung 29-8). Doch angesichts der privaten Mittel, die für spekulative Angriffe zur Verfügung stehen – leicht viele Milliarden US-Dollar in wenigen Stunden – gehen dem Verteidiger einer schwachen Währung schnell die Reserven aus. Wenn „Hartwährungsländer“ nicht bereit sind, unbegrenzte Kredite zu gewähren, wird die verteidigende Zentralbank irgendwann aufgeben und den Wechselkurs der Währung freigeben.
Der Weg zu einer gemeinsamen Währung: Der Euro Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die demokratischen Staaten Westeuropas eine immer weitergehende wirtschaftliche Integration angestrebt, hauptsächlich, um nach zwei verheerenden Kriegen die politische Stabilität zu fördern. Viele Volkswirtschaftler sind da-
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Kapitel 30 Offene Volkswirtschaften
von überzeugt, dass ein enger Zusammenhang zwischen Friede und Handel besteht. Angefangen mit einem Freihandelsabkommen im Jahre 1957 haben die Westeuropäer allmählich alle Schranken für den Handel mit Waren, Dienstleistungen und Finanzmitteln beseitigt. Der letzte Schritt im Rahmen der wirtschaftlichen Integration war die Annahme einer gemeinsamen Währung. Dadurch sollten nicht nur die wirtschaftlichen Verbindungen weiter gefestigt, sondern auch das Problem instabiler Währungen gelöst werden, welches das vorhergehende System fester Wechselkurse so belastet hatte. Europäische Fachleute waren überzeugt, dass die teilnehmenden Länder eine Reihe von Mindestanforderungen, so genannte Konvergenzkriterien, würden erfüllen müssen, ehe man sie in die Währungsunion aufnehmen konnte. Zu diesen Kriterien gehörten eine Inflationsrate und Zinssätze nahe den niedrigsten entsprechenden Sätzen in den Beitrittsländern, außerdem strenge Einschränkungen hinsichtlich des erlaubten Staatsdefizits und der Staatsverschuldung. Elf europäische Länder erfüllten die Konvergenzkriterien und traten am 1. Januar 1999 offiziell der Europäischen Währungsunion (EMU) bei. Diese Länder, die zusammen mitunter als Euroland bezeichnet werden, übernahmen ab dem Jahr 2002 den „Euro“ als offizielle neue westeuropäische Währung. Die Währungsstruktur innerhalb der Union gleicht derjenigen der Vereinigten Staaten. Die Geldpolitik ist Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB), die für alle Länder der Währungsunion zuständig ist. Sie agiert am offenen Markt und bestimmt somit die Zinssätze im Euroraum. Die Geldpolitik wird ganz wesentlich von den Zielen der Zentralbank bestimmt. Die EZB ist laut ihrer Satzung gehalten, vorrangig die „Preisstabilität“ zu verfolgen, kann sich aber im Interesse der Gemeinschaft auch anderen Zielen widmen, solange dadurch die Preisstabilität nicht gefährdet wird. Diese Preisstabilität wird von der EZB als ein An-
stieg der Verbraucherpreise im Euroraum von weniger als 2 Prozent pro Jahr auf mittlere Sicht definiert. Wie wir bei unserer Diskussion der Geldpolitik in Kapitel 34 noch sehen werden, haben sich viele Zentralbanken außerhalb der Vereinigten Staaten das Ziel einer niedrigen Inflation auf ihre Fahnen geschrieben.
Kosten und Nutzen einer Währungsunion Welche Kosten entstehen durch die Europäische Währungsunion und welchen Nutzen bringt sie? Die Befürworter der Union sehen wichtige Vorteile. Dank der gemeinsamen Währung wird die Gefahr von Wechselkursänderungen im Euroraum völlig beseitigt, Handel und Kapitalverkehr werden also nicht mehr mit Preisunsicherheiten leben müssen, weil sich die Wechselkurse ändern könnten. Das wird zu einer Senkung der Transaktionskosten zwischen den beteiligten Ländern führen. Insofern die nationalen Finanzmärkte segmentiert sind, könnte die gemeinsame Währung zu einer effizienteren Verteilung von Kapital innerhalb Europas führen. Manche glauben, dass dank der unabhängigen Europäischen Zentralbank mit ihrem Ziel der Preisstabilität eine strikte wirtschaftpolitische Disziplin durchgesetzt werden wird. Der wichtigste Vorteil könnte jedoch die politische Integration und Stabilität Westeuropas sein – einer Region, in der seit über einem halben Jahrhundert Frieden herrscht, nachdem sie zuvor jahrhundertelang immer wieder von Kriegen erschüttert wurde. Manche Wirtschaftswissenschaftler sind vom Nutzen einer Währungsunion in Europa nicht überzeugt und verweisen auf die erheblichen Kosten einer solchen Union. Der wichtigste Einwand beruht auf der Tatsache, dass die einzelnen Länder nun weder die Geldpolitik noch die Wechselkurse als Instrumente gesamtwirtschaftlicher Anpassung nutzen können. Damit wird die Frage nach dem optimalen Währungsraum tangiert, einem
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Konzept, das erstmals von Robert Mundell von der Columbia University vorgestellt wurde, der 1999 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Beiträge auf diesem Gebiet erhielt. Ein optimaler Währungsraum ist ein Gebiet, in dessen Regionen eine hohe Arbeitsmobilität herrscht oder die ein gemeinsames oder synchrones Gesamtangebot haben, dass auf plötzliche Nachfrageänderungen reagiert. In einem optimalen Währungsraum sind zur schnellen gesamtwirtschaftlichen Anpassung keine wesentlichen Änderungen der Wechselkurse erforderlich. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler halten die Vereinigten Staaten für einen optimalen Währungsraum. Wenn in den USA eine plötzliche wirtschaftliche Erschütterung die verschiedenen Regionen auf unterschiedliche Weise trifft, wird das Gleichgewicht in der Regel durch eine Wanderung von Arbeitskräften wieder hergestellt. Nach der Ölkrise der siebziger Jahre verließen Arbeitskräfte den schwer betroffenen Norden und wanderten in die Bundesstaaten im Südwesten mit ihrem Ölreichtum. Ist Europa ein optimaler Währungsraum? Einige Wirtschaftswissenschaftler sind nicht dieser Meinung, weil die Lohn- und Gehaltsstrukturen zu unbeweglich seien und die Mobilität der Arbeitskräfte zwischen den Ländern zu gering sei. Wenn es zu irgendeiner plötzlichen Erschütterung kommt – wie beispielsweise der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 –, führen die starren Lohnund Gehaltsstrukturen zunehmend zu Inflation in den Gebieten, wo sich die Nachfrage erhöht hat, und andererseits zu wachsender Arbeitslosigkeit in den wirtschaftlich schwachen Regionen. Eine Währungsunion könnte daher die benachteiligten Gebiete zu anhaltend niedrigem Wachstum und hoher Dauerarbeitslosigkeit verdammen. Trotz der Probleme ließ sich Europa auf seinem Weg zur Währungsunion nicht aufhalten. Der erste Schritt war die Übernahme des Euros für wirtschaftliche Transaktionen. Der bedeutendste Stichtag war der 1. Januar 2002, als die Länder des Euroraums ihre eigenen
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Währungen durch Euromünzen und -banknoten ersetzten. Der Übergang verlief problemlos, und der Euro entwickelt sich zu einer der weltweit wichtigsten Währungen. Wie sieht die Anfangsbilanz der Europäischen Währungsunion aus? Die Schaffung des Euro hat eine der gravierendsten Ursachen für mangelnde Stabilität in der europäischen Wirtschaft beseitigt – die Wechselkursbewegungen innerhalb Europas. Außerdem hat sie zu einer Konvergenz der Zinssätze und Inflationsraten der beteiligten Länder geführt. Andererseits herrscht in Europa auch nach Einführung des Euro weiterhin hohe Arbeitslosigkeit. Bisher hat Europa noch keine bedeutende Wirtschaftskrise überstehen müssen; wenn sie kommt, wird dies der wahre Test für das revolutionäre neue System sein. Die Europäische Währungsunion ist ein großes historisches Wirtschaftsexperiment. Noch nie zuvor hat eine so große und mächtige Gruppe von Ländern ihr wirtschaftliches Schicksal in die Hand einer multinationalen Institution wie der Europäischen Zentralbank gelegt. Noch nie zuvor wurde eine Zentralbank beauftragt, sich um das gesamtwirtschaftliche Wohlergehen einer großen Anzahl von Ländern mit 300 Millionen Einwohner zu kümmern, die Waren und Dienstleistungen im Wert von US-$ 7 Billionen herstellen. Während Optimisten auf die gesamtwirtschaftlichen Vorteile eines größeren Marktes und die gesunkenen Transaktionskosten hinweisen, sorgen sich die Pessimisten, dass die Währungsunion wegen des Mangels an Preis- und Lohnflexibilität und der mangelnden Mobilität der Arbeitskräfte zwischen den Teilnehmerländern zu Stagnation und Arbeitslosigkeit führen könnte. Bis jetzt haben der Euro und die Europäische Zentralbank zufriedenstellend funktioniert.
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Abschließende Beurteilung Diese Übersicht über die internationale Entwicklung der Wirtschaft hat einige Erfolge und einige Misserfolge aufgezeigt. Doch wenn wir uns einmal von den Details lösen, würde ein unvoreingenommenes Gremium von Historikern die letzten 50 Jahre sicherlich als eine beispiellose Erfolgsgeschichte für die Länder Nordamerikas und Westeuropas bezeichnen: • Solide wirtschaftliche Leistung. In dieser Zeit kam es zum schnellsten und nachhaltigsten Wirtschaftswachstum seit Beginn der Aufzeichnungen. Seit der industriellen Revolution ist dies der erste Fünfzigjahreszeitraum, in dem es zu keiner schweren Wirtschaftsdepression kam. Außerdem hat keines der bedeutenden Industrieländer unter einer Hyperinflation gelitten. • Das neu entstehende Währungssystem. Das internationale Währungssystem ist nach wie vor ein Unruheherd mit häufigen Zahlungsbilanz- oder Währungskrisen, von denen wechselnde Länder betroffen sind. Nichtsdestoweniger zeichnet sich ein neu entstehendes System ab, in dem die bedeutenden Wirtschaftsregionen – die Vereinigten Staaten, Europa und Japan – bei
flexiblen Wechselkursen eine unabhängige Geldpolitik verfolgen, während kleinere Länder entweder frei schwankende oder „garantierte“ feste Wechselkurse haben, die an einen der bedeutenden Wirtschaftsblöcke gebunden sind. Erst in den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob der Euroraum größeren wirtschaftlichen Erschütterungen standhalten kann. • Das Wiederentstehen freier Märkte. Man hört oft, Nachahmung sei das beste Kompliment. In der Wirtschaft kommt es zur Nachahmung, wenn ein Land die Wirtschaftsstruktur eines anderen in der Hoffnung übernimmt, dass dadurch Wachstum und Stabilität geschaffen werden. Während der letzten 15 Jahre hat ein Land nach dem anderen die Fesseln des Kommunismus abgeworfen und die lähmende Planwirtschaft aufgegeben – nicht aufgrund irgendwelcher Lehrbücher, sondern hauptsächlich aufgrund der Erkenntnis, dass es den marktwirtschaftlich orientierten Ländern im Westen gut ging, während die Planwirtschaften im Osten zusammenbrachen. Zum ersten Mal ist ein Imperium zusammengebrochen, weil es zusätzlich zu den Gewehren nicht auch noch genug Butter produzieren konnte.
Zusammenfassung A. Außenhandel und wirtschaftliche Aktivitäten 1.
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Als offen bezeichnet man eine Wirtschaft, die in den internationalen Austausch von Waren, Dienstleistungen und Investitionen eingebunden ist. Exporte sind Waren und Dienstleistungen, die an Käufer im Ausland verkauft werden, während es sich bei Importen um solche handelt, die Inländer von Ausländern erwerben. Die Differenz zwischen Exporten und Importen wird als Nettoexport bezeichnet. Bei der Einführung von Außenhandelsbeziehungen kann die Binnennachfrage von der nationalen Produktionsleistung abweichen.
Zur Inlandsnachfrage gehören Konsum, Investitionen und Staatsausgaben (C + I + G). Zur Berechnung des BIP müssen die Exporte (Ex) hinzuaddiert und die Importe (Im) subtrahiert werden, sodass gilt: BIP = C + I + G + X wobei X = Nettoexporte = Ex – Im. Die Importe hängen von den heimischen Einkommen und der heimischen Produktionsleistung sowie von den Preisen für inländische Güter im Verhältnis zum Preis ausländischer Güter ab; die Exporte sind das Gegenstück zu den Importen und werden durch die ausländischen Einkommen
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3.
Wachstum, Entwicklung und die Weltwirtschaft
und die ausländische Produktionsleistung in Kombination mit den jeweiligen Preisen ermittelt. Die wertmäßige Steigerung der Importe pro Geldeinheit an BIP-Steigerung wird als marginale Importquote (MPm) bezeichnet. Die Auswirkungen des Außenhandels auf das BIP gleichen jenen der Investitionen oder Staatsausgaben für Güter und Dienstleistungen. Mit steigenden Nettoexporten kommt es zu einer Erhöhung der Gesamtnachfrage nach heimischen Produkten. Die Nettoexporte haben daher einen Multiplikatoreffekt auf die Produktion. Doch der Ausgabenmultiplikator in einer offenen Volkswirtschaft ist geringer als jener einer Wirtschaft ohne Außenhandel, weil es zu Sickerverlusten durch die Ausgaben für Importe kommt. 1 Multiplikator in der = offenen Volkswirtschaft MPS + MPm
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Wenn alle anderen Faktoren gleich sind, fällt der Multiplikator in der offenen Volkswirtschaft geringer aus als jener in einer geschlossenen Volkswirtschaft, für den gilt: MPm = 0. In einer offenen Volkswirtschaft hat die Geldpolitik ganz andere Folgen. Ein wichtiges Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Wirken der Geldpolitik in einer kleinen offenen Volkswirtschaft bei hoher Kapitalmobilität. Ein solches Land muss seine Zinssätze an denen jener Länder ausrichten, an die es seine Währung anlehnt. Das bedeutet, dass Ländern mit festen Wechselkursen grundsätzlich die Geldpolitik als unabhängiges wirtschaftspolitisches Instrument fehlt. Die Fiskalpolitik entpuppt sich dagegen als bedeutendes Instrument, denn fiskalische Anreize werden nicht durch Veränderungen der Zinssätze ausgeglichen. Eine offene Volkswirtschaft mit flexiblen Wechselkursen kann die Geldpolitik zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung nutzen, da sie von anderen Ländern unabhängig ist. In diesem Fall schaffen die internationalen Verbindungen einen weiteren bedeutenden Kanal für den einheimischen Geldmechanismus. Eine restriktive Geldpolitik führt zu höheren Zinssätzen, wodurch Auslandskapital angezogen wird, was zu einem Anstieg des Wechselkurses führt. Diese Kurserhöhung senkt in der Regel die Nettoexporte, wodurch die dämpfende Wirkung hoher Zinsen auf die einheimischen Investitionen noch verstärkt wird. Der internationale Geldmechanismus spielte eine wesentliche Rolle bei der Veränderung der
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Investitionsmuster in den Vereinigten Staaten während der achtziger Jahre. Eine lockere Fiskalpolitik und restriktive Geldpolitik senkten die Nettoexporte und verschoben das Verhältnis von handelbaren zu nichthandelbaren Gütern innerhalb des BIP zugunsten der nichthandelbaren Güter.
B. Wechselseitige Abhängigkeiten in der Weltwirtschaft 7.
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Langfristig betrachtet bringt die Teilnahme am weltweiten Wirtschaftsgeschehen für die betreffenden Länder zwar Einschränkungen mit sich, aber auch Chancen, ihr Wirtschaftswachstum zu verbessern. Am wichtigsten ist wohl der Einfluss auf Ersparnisse und Investitionen, die beide sehr mobil sind und auf Anreize und das Investitionsklima in verschiedenen Ländern reagieren. Die Außenwirtschaft stellt eine weitere Quelle für Ersparnisse dar und schafft zusätzliche Investitionsmöglichkeiten. Höhere Ersparnisse im Inland – seien es private Ersparnisse oder ein Budgetüberschuss des Staates – erhöhen die Summe der einheimischen Investitionen und der Nettoexporte. Erinnern wir uns an die Gleichung: X = S + (T – G) – I oder Nettoexporte = private Ersparnisse + öffentliche Ersparnisse – einheimische Investitionen
9.
Langfristig gesehen spiegelt die außenwirtschaftliche Situation eines Landes dessen Ersparnis- und Investitionsquote wider. Will man ein Handelsbilanzdefizit reduzieren, muss man die einheimischen Ersparnisse und Investitionen verändern. Ein wichtiger Mechanismus zur Ausrichtung der Handelsströme an den einheimischen Ersparnissen und Investitionen ist der Wechselkurs. Neben der Förderung hoher Ersparnisse und Investitionen gibt es eine ganze Palette weiterer Maßnahmen und Institutionen, mit denen Länder ihr Wirtschaftswachstum ankurbeln können. In diesem Zusammenhang sind ein stabiles gesamtwirtschaftliches Klima, verlässliche Besitzrechte für materielle Güter und geistiges Eigentum, eine leicht konvertierbare Währung mit geringen Einschränkungen des
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Kapitalverkehrs sowie politische und gesamtwirtschaftliche Stabilität von Bedeutung.
C. Internationale Wirtschaftsprobleme am Beginn eines neuen Jahrhunderts 10. In der öffentlichen Meinung wird ein großes Handelsdefizit häufig mit „Deindustrialisierung“ gleichgesetzt. Doch diese Sicht unterschlägt den wichtigen Unterschied zwischen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Wettbewerbsfähigkeit bezieht sich darauf, wie gut die Waren eines Landes auf dem Weltmarkt konkurrieren können; sie wird hauptsächlich durch die relativen Preise bestimmt. Die Produktivität gibt an, welche Produktionsmenge mit einer Einheit an Produktionsfaktoren erzeugt werden kann. Die Realeinkommen und der Lebensstandard hängen hauptsächlich von der Produktivität ab, wohingegen die Handelsund Leistungsbilanzsituation maßgeblich von der Wettbewerbsfähigkeit beeinflusst wird. Es besteht kein enger Zusammenhang zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität.
11. Feste Wechselkurse sind in einer Welt mit äußerst flexiblem Finanzkapital eine Quelle der Instabilität. Erinnern Sie sich an den grundlegenden Widerspruch fester Wechselkurse: Ein Land kann nicht gleichzeitig flexible, aber anpassungsfähige Wechselkurse, freie Kapitalund Finanzbewegungen und eine unabhängige einheimische Geldpolitik haben. 12. Einige europäische Länder haben sich für „absolut garantierte“ feste Wechselkurse mit einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Zentralbank entschieden. Eine gemeinsame Währung ist angemessen, wenn eine Region einen optimalen Währungsraum darstellt. Befürworter der Europäischen Währungsunion verweisen auf die verbesserte Vorhersagbarkeit, die niedrigeren Transaktionskosten und die Möglichkeit einer besseren Kapitalverteilung. Skeptiker befürchten, dass eine gemeinsame Währung – genau wie jedes unwiderruflich festgelegte Wechselkurssystem – flexible Löhne und Preise erforderlich machen wird, um eine Anpassung an gesamtwirtschaftliche Erschütterungen zu ermöglichen.
Begriffe zur Wiederholung (C + I + G + X)-Kurve für eine offene Wirtschaft Nettoexporte = X = Ex – Im Inlandsnachfrage verglichen mit den BIP-relevanten Gesamtausgaben Marginale Importquote oder Grenzneigung zum Import (MPm) Multiplikator: in einer geschlossenen Volkswirtschaft = 1 ÷ MPS in einer offenen Volkswirtschaft = 1 ÷ (MPS + MPm) Auswirkungen der Handelsströme und Wechselkurse auf das BIP Identität von Ersparnissen und Investitionen in einer offenen Volkswirtschaft: X = S + (T – G) – I Gleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen in geschlossenen und offenen Volkswirtschaften Wachstumspolitik in einer offenen Volkswirtschaft Wettbewerbsfähigkeit versus Produktivität
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Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Das Zitat aus dem Economic Report of the President, 2000 (Government Printing Office, Washington, D.C., 2000) findet man auch unter w3.access.gpo.gov/eop. Die McKinsey-Studie wurde vom McKinsey Global Institute unter dem Titel Manufacturing Productivity veröffentlicht (Washington, D.C., 1993). Deutschsprachige Literatur: Oliver Büsse, Makroökonomische Interdependenzen in der Europäischen Union. Eine theoretische und empirische Analyse für Arbeits- und Gütermärkte (Metropolis, Marburg, 2001); Michael Heine und Hansjörg Herr, Die Europäische Zentralbank. Eine kritische Einführung in die Strategie und Politik der EZB (Metropolis, Marburg, 2004); Marc S. Resinek, Die geldpolitischen Instrumente der Europäischen Zentralbank. Theorie und Praxis (Verlag für Wissenschaft und Forschung, 2002); Horst Tomann, Stabilitätspolitik. Theorie, Strategie und europäische Perspektive (Springer, Berlin Heidelberg, 1997).
Websites Informationen über den Außenhandel und die Finanztransaktionen verschiedener Länder finden sich auf den zu Kapitel 28 genannten Websites. Die Website der Europäischen Zentralbank findet sich unter www.ecb.int; sie umfasst auch Erläuterungen zum Management des Euro. Weitere Informationen finden sich auf den zu Kapitel 28 angegebenen Websites.
Übungen 1.
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Nehmen Sie an, dass es aufgrund einer expansiven Geldpolitik bei unbeschäftigten Ressourcen kurzfristig zu einem Rückgang des Dollarkurses im Vergleich zu den Währungen der USHandelspartner kommt. Erklären Sie den Mechanismus, wonach dies zu einer Wirtschaftsexpansion in den Vereinigten Staaten führt. Erläutern Sie auch, wie der durch den Handel ausgelöste Effekt die Wirkung auf die einheimischen Investitionen noch verstärkt. Erklären Sie mithilfe des Multiplikatormodells die kurzfristigen Auswirkungen folgender Entwicklungen auf die Nettoexporte und das BIP, so weit wie möglich unter Zuhilfenahme von Tabelle 30-1: a. Ein Anstieg der Investitionen (I) um US-$ 100 Milliarden b. Ein Rückgang der Staatsausgaben (G) um US-$ 50 Milliarden c. Eine Steigerung der ausländischen Produktionsleistung, die zu einer Zunahme der Exporte um US-$ 10 Milliarden führt d. Ein Kursrückgang des US-Dollar, die bei der jeweiligen BIP-Höhe zu einer Steigerung der Exporte um US-$ 30 Milliarden und einer Senkung der Importe um US-$ 20 Milliarden führt Wie hoch wäre der Ausgabenmultiplikator in einer Volkswirtschaft ohne Staatsausgaben oder Steuern, wenn die Grenzneigung zum
4.
5.
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Konsum MPC 0,8 beträgt und die marginale Importquote MPm gleich null ist? Wenn MPm = 0,1? Wenn MPm = 0,9? Erklären Sie, warum der Multiplikator sogar unter 1 liegen kann. Betrachten Sie Tabelle 30-3. a. Erläutern Sie jede Eintragung in dieser Tabelle. b. Fügen Sie der Tabelle eine weitere Spalte mit der Überschrift „Veränderung der Zinssätze“ an. Vervollständigen Sie dann die Tabelle für eine geschlossene Wirtschaft auf der Grundlage von Abbildung 30-7. Ein bedeutender Wirtschaftswissenschaftler schrieb kürzlich: „Wenn man sich durch die Annahme einer gemeinsamen Währung auf eine Währungsunion zubewegt, ist die Währung an sich nicht das Hauptthema. Der wichtigste Aspekt ist die Tatsache, dass alle Länder der Region sich auf eine gemeinsame Geldpolitik für die ganze Region einigen müssen.“ Erläutern Sie diese Aussage. Warum könnte eine gemeinsame Geldpolitik zu Schwierigkeiten führen? Betrachten wir den Ort New Heaven, eine sehr offene Volkswirtschaft. Diese Stadt exportiert Reliquienschreine, und es gibt in ihr weder Investitionen noch Steuern. Die Bürger der Stadt konsumieren 50 Prozent ihres verfügbaren Einkommens, und 90 Prozent aller Käufe entfallen auf Importe aus anderen Orten des Landes. Der Bürgermeister schlägt die Erhebung einer Steu-
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er von US-$ 100 Millionen vor, um damit öffentliche Aufträge vergeben zu können. Er argumentiert, dass auf diese Weise Produktionsleistung und Einkommen in der Stadt wegen irgendeines seltsamen „Multiplikators“ kräftig steigen würden. Schätzen Sie die Auswirkungen der öffentlichen Auftragsvergabe auf Einkommen und Produktion in New Heaven. Stimmen Sie der Prognose des Bürgermeisters zu? 7. Betrachten Sie die Aufstellung des Zusammenspiels von Ersparnissen, Investitionen und Außenhandel auf Seite 881. Zeichnen Sie ein Schaubild wie in Abbildung 30-8, um die verschiedenen Einflüsse zu verdeutlichen. Stellen Sie sicher, dass Sie die umgekehrten Fälle erläutern können, die im Abschnitt nach der Aufstellung erwähnt sind. 8. Politiker zeigen sich oft über das hohe Außenhandelsdefizit der USA besorgt. Wirtschaftswissenschaftler antworten ihnen, dass zur Senkung dieses Defizits Steuererhöhungen oder eine Senkung der Staatsausgaben erforderlichen seien. Erläutern Sie den Standpunkt der Ökonomen mithilfe des Konzepts des Ersparnis-Investitions-Gleichgewichts in Abbildung 30-8. Erklären Sie auch das Zitat aus dem Economic Report 2000 auf Seite 868. 9. Betrachten Sie ein Land wie Russland, das versucht, die Marktwirtschaft einzuführen. Es hat eine hohe Inflation erlebt, zahlreiche Änderungen der steuerlichen Behandlung von ausländischen Investitionen sowie politische Instabilität (einschließlich des andauernden Bürgerkriegs in Tschetschenien) und leidet unter wenig verlässlichen und sich ändernden Eigentumsrechten. Erläutern Sie, warum jeder dieser Faktoren die Attraktion von Investitionen in Russland negativ beeinflusst, und nutzen Sie Ihre Darlegungen zur Erklärung der Risikoprämie für Investitionen in Abbildung 30-9. 10. Nehmen Sie eine kleine offene Volkswirtschaft wie Belgien oder die Niederlande als Beispiel, wo Finanzkapital frei fließen kann und feste Wechselkurse herrschen, das staatliche Budgetdefizit aber hoch ist. Nehmen Sie an, in diesen Ländern herrschte eine schwache Konjunktur, mit niedriger Produktionsleistung und hoher Arbeitslosigkeit. Erläutern Sie, warum diese Länder nicht die Geldpolitik einsetzen können, um die Wirtschaft anzukurbeln. Warum wäre eine Expansion mittels Fiskalpolitik
895 wirkungsvoll, wenn die Länder bereit wären, höhere Budgetdefizite in Kauf zu nehmen? Warum würde eine Senkung des Wechselkurses sowohl zu höherer Produktion führen als auch das Staatsdefizit senken? 11. Frage für Fortgeschrittene. Nach der deutschen Wiedervereinigung führten Zahlungen für den Aufbau Ost zu einer beträchtlichen Ausweitung der Gesamtnachfrage in Deutschland. Die Deutsche Bundesbank reagierte darauf mit einer Drosselung des Geldwachstums und einer Erhöhung der Realzinssätze in Deutschland. Diese Maßnahmen fanden im Rahmen des Europäischen Währungssystems statt, in dem die meisten Länder feste Wechselkurse hatten und in dem die Deutsche Bundesbank die Geldpolitik dominierte. a. Erläutern Sie, warum europäische Länder mit festen Wechselkursen, die den Vorgaben der Deutschen Bundesbank folgten, einen Anstieg ihrer Zinssätze entsprechend denen in Deutschland beobachten konnten. Erklären Sie, warum dies die anderen europäischen Länder in eine tiefe Rezession führen musste. b. Erläutern Sie die Vorteile des Europäischen Währungssystems im Vergleich zum Vorgängermodell. c. Erläutern Sie Schritt für Schritt, warum man erwarten konnte, dass die Geldverknappung in Deutschland zu einem Rückgang des Dollarkurses führen würde. Erläutern Sie, warum ein derartiger Kursrückgang die wirtschaftlichen Aktivitäten in den Vereinigten Staaten anregen musste. 12. Frage für Fortgeschrittene. Lesen Sie noch einmal die Erklärung des grundlegenden Widerspruchs eines festen Wechselkurssystems und die Analyse von Paul Krugman auf Seite 888((Kasten auf Original S. 637)). Erläutern Sie, warum die drei Elemente einfach nicht zusammenpassen. Verwenden Sie das Ergebnis, um die europäische Finanzkrise in den Jahren 1989– 1993 zu erklären. Warum gibt es keinen solchen grundlegenden Widerspruch für das System fester Wechselkurse zwischen dem „kalifornischen Dollar“ und dem „texanischen Dollar“? Erläutern Sie die Argumente, die für und gegen die drei „Wahlmöglichkeiten“ in dem von Krugman beschriebenen Widerspruch sprechen.
Teil 7
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
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KAPITEL 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
Sei freundlich zu allen, die Du auf Deinem Weg nach oben triffst, Du könntest ihnen beim Abstieg wieder begegnen. Wilson Mizner
Typische Eigenschaften einer Marktwirtschaft sind periodisch auftretende Rezessionen und Depressionen, während denen die Arbeitslosigkeit deutlich ansteigt, sowie Expansionsphasen, in denen die Arbeitslosigkeit zurückgeht und die Wirtschaft rasch wächst. Während der neunziger Jahre erlebten die Vereinigten Staaten eine außerordentliche Wachstumsperiode mit sinkender Arbeitslosigkeit. Vom Tiefpunkt der Rezession im Jahr 1992 bis zum Höhepunkt der Expansion im Jahr 2001 gelang es der US-amerikanischen Wirtschaft, über 35 Millionen Stellen zu schaffen. Während der folgenden beiden Jahre war das Wachstum nur noch gering, und die Beschäftigung ging wieder zurück. Dieses Muster lässt sich in zahlreichen Variationen auch in anderen Ländern auf der ganzen Welt beobachten. Während der neunziger Jahre ging es Europa und Japan nicht so gut wie den Vereinigten Staaten, sie litten ständig unter hoher Arbeitslosigkeit. Obwohl ein besseres Verständnis für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge es den meisten Ländern inzwischen ermöglicht, die schlimmsten Wirtschaftsdepressionen zu vermeiden, werden viele Marktwirtschaften doch nach wie vor von Phasen hoher Arbeitslosigkeit heimgesucht. Im vorliegenden Kapitel beschäftigen wir uns erst mit den Grundlagen des Gesamtangebots und untersuchen anschließend, wie die Arbeitslosigkeit durch das Zusammenspiel von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage bestimmt wird. Dann befassen wir uns mit den wichtigsten wirtschaftspolitischen Aspekten im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
A. Die Grundlagen des Gesamtangebots Frühere Kapitel konzentrierten sich auf die Gesamtnachfrage und das Wirtschaftswachstum. In diesem Teil beschreiben wir die Faktoren, die das Gesamtangebot bestimmen und deren Kenntnis wesentlich ist, um die wirtschaftliche Entwicklung zu verstehen. Kurzfristig gesehen hängt die Art inflationärer Prozesse und die Wirksamkeit antizyklischer wirtschaftspolitischer Maßnahmen von der Gesamtnachfrage ab. Langfristig, also über einen Zeitraum von zehn Jahren oder mehr betrachtet, hängen Wirtschaftswachstum und ein steigender Lebensstandard eng mit der Zunahme des Gesamtangebots zusammen. Diese Unterscheidung zwischen kurzfristigem und langfristigem Gesamtangebot ist in der modernen Makroökonomie äußerst wichtig. Kurzfristig bestimmt das Zusammenspiel von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage die Konjunkturschwankungen, die Inflation, die Arbeitslosigkeit, Rezessionen und Wirtschaftsaufschwünge. Langfristig aber erklärt das Wachstum der potenziellen Produktion, das sich auf das Gesamtangebot auswirkt, die Entwicklung von Produktion und Lebensstandard. Beginnen wir mit ein paar Definitionen. Wie Sie sich sicher erinnern, beschreibt das gesamtwirtschaftliche Angebot die Entwicklung der Produktionsseite der Wirtschaft. Die Gesamtangebotskurve oder AS-Kurve ist die Funktion, die die Höhe der Gesamtproduktion eines Landes anzeigt, die bei jedem möglichen Preisniveau erzielt wird, wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben. Für die Analyse des gesamtwirtschaftlichen Angebots ist es wesentlich, AS-Kurven nach ihrem Zeitrahmen zu unterscheiden. Kurzfristig, also höchstens ein paar Jahre lang, gilt die kurzfristige Gesamtangebotsfunktion. Diese Funktion wird als aufwärtsgerichtete AS-Kurve dargestellt – eine Kurve,
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entlang der höhere Preise mit einer Erhöhung der Produktion von Waren und Dienstleistungen, einhergehen. Langfristig (das heißt für einen Zeitraum von mehreren Jahren bis zu einem Jahrzehnt oder länger) haben wir die langfristige Gesamtangebotsfunktion zu analysieren. Diese Beziehung wird als senkrecht verlaufende ASKurve dargestellt, eine Kurve, bei der Erhöhungen des Preisniveaus nicht zu einer Erhöhung des Gesamtangebots führen. Im vorliegenden Teil werden wir diese wesentlichen Punkte näher beleuchten.
Bestimmungsfaktoren des Gesamtangebots Das gesamtwirtschaftliche Angebot hängt im Wesentlichen von zwei unterschiedlichen Kräften ab: von der potenziellen Produktionsleistung und den Faktorkosten. Untersuchen wir nun diese beiden Einflüsse genauer.
Potenzielle Produktionsleistung Das wesentliche Konzept zum Verständnis des Gesamtangebots ist die potenzielle Produktionsleistung oder das potenzielle BIP. Die potenzielle Produktionsleistung ist die höchste stetige Produktion, die erzeugt werden kann, ohne einen wachsenden Inflationsdruck auszulösen. Langfristig hängt das gesamtwirtschaftliche Angebot primär von der potenziellen Produktionsleistung ab. Das bedeutet, dass die langfristige AS-Kurve von denselben Faktoren bestimmt wird, die auch das langfristige Wirtschaftswachstum beeinflussen: von der Menge und Qualität der verfügbaren Arbeit, der Menge an Maschinen und anderen Kapitalgütern, die von den Arbeitskräften genutzt werden, und dem technologischen Niveau. Die Analyse der langfristigen Wachstumstrends in diesem Kapitel bezieht sich sowohl auf die Steigerung der potenziellen Produktionsleistung als auch auf die Bestimmung des gesamtwirtschaftlichen Angebots.
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
Für quantitative Zwecke verwenden Makroökonomen im Allgemeinen folgende Definition der potenziellen Produktionsleistung: Die potenzielle Produktionsleistung oder das potenzielle BIP ist das höchstmögliche nachhaltige Niveau nationaler Produktion. Wir messen das potenzielle BIP als jene Produktionsleistung, die bei einer vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenquote erzielt werden könnte, die als inflationsneutrale Arbeitslosenquote (oder NAIRU = non-accelerating inflation rate of unemployment) bekannt ist. Gegenwärtige Schätzungen für die Vereinigten Staaten legen diese Quote bei 5– 6 Prozent der Arbeitskräfte fest. Variable
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Die potenzielle Produktionsleistung als Ziel erhöht sich ständig. Sie steigt mit zunehmendem Wirtschaftwachstum, und die Gesamtangebotskurve verschiebt sich nach rechts. Tabelle 31-1 zeigt die wesentlichen Bestimmungsfaktoren des Gesamtangebots, unterteilt danach, ob sie sich auf die potenzielle Produktionsleistung oder die Produktionskosten auswirken. Aufgrund unserer Untersuchung des Wirtschaftswachstums wissen wir, dass die Haupteinflussfaktoren auf das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung die Zunahme der Produktionsfaktoren und der technische Fortschritt sind.
Auswirkungen auf das Gesamtangebot Potenzielle Produktionsleistung
Produktionsfaktoren
Die wichtigsten Produktionsfaktoren sind das Angebot an Kapital, Arbeit und Boden. Die potenzielle Produktionsleistung wird erreicht, wenn die Nichtbeschäftigung von Arbeit und anderen Ressourcen inflationsneutral ist. Ein Anstieg der Produktionsfaktoren erhöht die potenzielle Produktionsleistung und das Gesamtangebot.
Technologie und Effizienz
Innovation, technische Verbesserungen und zunehmende Effizienz erhöhen die potenzielle Produktionsleistung und das Gesamtangebot. Produktionskosten
Löhne und Gehälter
Ein Rückgang der Löhne und Gehälter führt zu geringeren Produktionskosten; niedrigere Kosten bedeuten, dass bei einer gegebenen potenziellen Produktionsleistung das Angebot bei jedem Preisniveau höher sein wird.
Importpreise
Ein Rückgang der Preise im Ausland oder ein Anstieg des Wechselkurses senkt die Importpreise. Dies führt zu niedrigeren Produktionskosten und erhöht das Gesamtangebot.
Sonstige Faktorkosten
Niedrigere Ölpreise oder weniger kostspielige Umweltschutzauflagen senken die Produktionskosten und erhöhen damit das Gesamtangebot.
Tabelle 31-1: Das Gesamtangebot hängt von der potenziellen Produktionsleistung und den Produktionskosten ab Das Gesamtangebot setzt die gesamte angebotene Produktionsleistung in Beziehung zum Preisniveau. Der ASKurve liegen die wichtigen Produktivitätsfaktoren zugrunde, die sich in der potenziellen Produktionsleistung und den Produktionskosten niederschlagen. Die erwähnten Faktoren erhöhen das Gesamtangebot, wodurch die AS-Kurve nach unten oder nach rechts verschoben wird.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Potenzielle und maximale Produktionsleistung sind nicht identisch Im Hinblick auf die potenzielle Produktionsleistung müssen wir einen wesentlichen Punkt betonen: Die potenzielle Produktionsleistung ist die maximale Produktionsleistung, die auf Dauer beibehalten werden kann, aber nicht die höchste Produktionsleistung, die eine Volkswirtschaft überhaupt erreichen kann. Kurzfristig kann die Produktion durchaus über der potenziellen Produktionsleistung liegen, und während des langen Wirtschaftsaufschwungs am Ende der neunziger Jahre war das auch der Fall. Eine Zeit lang können Fabriken und Arbeiter Überstunden machen, aber auf Dauer lässt sich keine Produktion oberhalb der potenziellen Produktionsleistung aufrechterhalten. Wenn eine Volkswirtschaft längerfristig mehr produziert, führt das in der Regel zu mehr Inflation, während die Arbeitslosigkeit zurückgeht, die Fabriken an ihrer Kapazitätsgrenze produzieren und Erwerbstätige wie Unternehmen versuchen, höhere Löhne, Gehälter und Gewinne zu erzielen. Der Vergleich mit einem Marathonläufer kann nützlich sein. Stellen Sie sich die potenzielle Produktionsleistung als diejenige Höchstgeschwindigkeit vor, die ein Läufer beibehalten kann, ohne sich zu „überhitzen“ und vor Erschöpfung aufgeben zu müssen. Ganz offensichtlich kann der Läufer kurzfristig eine noch höhere Geschwindigkeit erreichen, genau wie die US-amerikanische Wirtschaft während der neunziger Jahre rascher wuchs als ihre potenzielle Wachstumsrate. Doch auf der Gesamtstrecke kann eine Volkswirtschaft, genau wie der Marathonläufer, nur eine höchste Dauergeschwindigkeit erreichen, und diese langfristig durchhaltbare Produktionsgeschwindigkeit bezeichnen wir als potenzielle Produktionsleistung.
Faktorkosten Die Gesamtangebotskurve wird nicht nur von der potenziellen Produktionsleistung, sondern auch von Änderungen der Produk-
Teil 7
tionskosten beeinflusst. Mit steigenden Produktionskosten sind die Unternehmen nur zu einem höheren Preis bereit, eine gegebene Produktionsmenge anzubieten. Sollten beispielsweise die Faktorkosten so sehr steigen, dass sich die Produktionskosten dadurch genau verdoppeln, würde sich auch der Preis, zu dem die Unternehmen die jeweilige Produktionsmenge anbieten, verdoppeln. Es käme zu einer Aufwärtsverschiebung der AS-Kurve, sodass jedes AS-Paar (P, Q) der Produktion durch (2P, Q) ersetzt werden müsste. Tabelle 31-1 zeigt einige der Kostenfaktoren, die sich auf das gesamtwirtschaftliche Angebot auswirken. Die bei weitem wichtigsten Faktorkosten sind die Arbeitseinkommen, die in einem Land wie den USA etwa drei Viertel der Gesamtproduktionskosten ausmachen. Für kleine offene Volkswirtschaften wie die Niederlande oder Hongkong spielen die Importkosten für die Höhe des gesamtwirtschaftlichen Angebots eine noch größere Rolle als die Lohnkosten. Wie können wir die Beziehung zwischen potenzieller Produktionsleistung, Kosten und gesamtwirtschaftlichem Angebot grafisch darstellen? Abbildung 31-1 zeigt die Auswirkungen einer Veränderung der potenziellen Produktionsleistung und der Kosten auf das gesamtwirtschaftliche Angebot. Die linke Darstellung zeigt, dass eine Erhöhung der potenziellen Produktionsleistung ohne Veränderung der Produktionskosten die Gesamtangebotskurve von AS nach außen, nach AS', verschieben würde. Im Falle einer Erhöhung der Produktionskosten ohne Änderung der potenziellen Produktionsleistung würde sich die Kurve geradewegs nach oben, von AS nach AS'' verschieben, wie in Abbildung 31-1(b) zu erkennen. Die tatsächliche Verschiebung der ASKurve in den USA ist in Abbildung 31-2 dargestellt. Beide Kurven sind realistische empirische Schätzungen für die Jahre 1982 und 2000. Die senkrechten, als Qp und Qp' bezeichneten Linien, verdeutlichen die Höhe der potenziellen Produktionsleistung in den beiden Jahren. Einigen Studien zufolge stieg
903
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
(b) Kostensteigerung
(a) Steigerung des potenziellen Output
AS″
P
P potenzieller Output
potenzieller Output AS AS′
Preisniveau
Preisniveau
AS
Qp realer Output
p Q ′
Q
Q
p
Q
realer Output
Abbildung 31-1: Wie wirkt sich ein Anstieg der potenziellen Produktionsleistung und eine Zunahme der Kosten auf das Gesamtangebot aus? In (a) verschiebt eine Zunahme der potenziellen Produktionsleistung bei unveränderten Produktionskosten die AS-Kurve nach rechts, von AS zu AS'. Bei steigenden Produktionskosten, etwa infolge höherer Löhne oder Importkosten, aber unveränderter potenzieller Produktionsleistung, verschiebt sich die AS-Kurve senkrecht nach oben, von AS nach AS'' in (b).
die reale potenzielle Produktionsleistung während dieses Zeitraums um etwa 67 Prozent. Die Abbildung zeigt, wie sich die ASKurve während des Zeitraums nach außen und oben verschoben hat. Die Verschiebung nach außen wurde durch die Erhöhung der potenziellen Produktionsleistung verursacht, die sich aus der Zunahme der Arbeitskräfte, der Steigerung des Kapitaleinsatzes sowie aus technologischen Verbesserungen ergab. Die Verschiebung nach oben wurde durch eine Zunahme der Produktionskosten verursacht, weil Löhne, Importpreise und andere Kosten stiegen. Die Kombination aus Kostensteigerungen und Wachstum der potenziellen Produktionsleistung ergibt die Verschiebung des Gesamtangebots in Abbildung 31-2.
Kurz- und langfristiges gesamtwirtschaftliches Angebot Welche Auswirkungen haben Veränderungen des gesamtwirtschaftlichen Angebots auf Produktion und Beschäftigung? Diese Frage führt zu einem der Hauptstreitpunkte der modernen Makroökonomik – der Bestimmung des Gesamtangebots. Der eigentliche Zankapfel ist dabei die Frage, wie das Gesamtangebot auf Nachfrageveränderungen reagiert. Ökonomen der keynesianischen Schule glauben, dass Veränderungen der Gesamtnachfrage eine wesentliche und anhaltende Wirkung auf die Produktion haben. Wenn daher die Gesamtnachfrage wegen einer Geldverknappung oder eines Rückgangs der Konsumausgaben sinkt, behaupten die Keynesianer, dies führe kurzfristig zu einer Abnahme der Produktion und einem Rück-
904
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Gesamtangebot und potenzieller Output 2,0
P p
Q
p Q ′
1,8 AS′-Kurve 2000
Preisniveau (1996 = 100)
1,6 1,4 1,2 B
1,0 0,8 0,6 0,4
AS-Kurve 1982
A
0,2 0
2.000 4.000 6.000 8.000 Reales BIP (Mrd. US-$, Preise von 1996)
Q 10.000
Abbildung 31-2: In Wirklichkeit sind Verschiebungen des Gesamtangebots auf Kostensteigerungen und eine erhöhte potenzielle Produktionsleistung zurückzuführen Zwischen 1982 und 2000 stieg die potenzielle Produktionsleistung in den USA aufgrund einer Zunahme der Faktoren Kapital und Arbeit kombiniert mit technischen Verbesserungen. Gleichzeitig bedeutete der Anstieg von Löhnen, Gehältern und sonstigen Kosten, dass das Preisniveau, bei dem die Unternehmen die potenzielle Produktionsleistung der Volkswirtschaft erbrachten, ebenfalls anstieg.
gang der Beschäftigung. Das bedeutet, dass die AS-Kurve kurzfristig gesehen relativ flach verläuft; ein Rückgang von AD führt daher zu einer geringen Preissenkung, aber einer relativ starken Abnahme der Produktion. Eine gegensätzliche Meinung vertritt der klassische Ansatz in der Makroökonomie. Diese Schule betont, dass der Preismechanismus eine wirksame Ausgleichsfunktion ausübt, wodurch die Wirtschaft auch ohne staatliche Maßnahmen in der Nähe der Vollbeschäftigung bleiben wird; infolgedessen gibt es nur geringfügige unfreiwillige Arbeitslosigkeit. In Bezug auf die AS-Funktion stellt der klassische Ansatz fest, dass die AS-Kurve sehr steil, wenn nicht gar senkrecht verläuft: Änderungen der Gesamtnachfrage haben daher nur geringe Auswirkungen auf die Produktionsleistung. Welche Auffassung ist richtig? Abhängig von den Umständen hat jede der beiden
Teil 7
Theorien ihr Gutes, wie Abbildung 31-3 verdeutlicht. Der wesentliche Unterschied ist der Zeitraum der Betrachtung. Die kurzfristige AS-Kurve ist nach oben gerichtet oder keynesianisch. Sie zeigt an, dass die Unternehmen bereit sind, ihre Produktionsmengen in Reaktion auf Veränderungen der Gesamtnachfrage zu erhöhen, insbesondere dann, wenn in der Wirtschaft Unterbeschäftigung herrscht. Doch die Ausweitung der Produktion kann nicht unendlich weitergehen. Mit steigender Produktion kommt es zu Engpässen beim Faktor Arbeit, und die Fabriken arbeiten nahe an ihrer Kapazitätsgrenze. Löhne und Preise steigen nun rascher an. Die Reaktion auf die Nachfrageerhöhung erfolgt nun hauptsächlich in Form von Preiserhöhungen und nur in geringem Maß in Form von Produktionserhöhungen. Abbildung 31-3(b) zeigt, was langfristig geschieht – nachdem Löhne und Preise Zeit hatten zu reagieren. Nachdem alle Anpassungen vorgenommen wurden, verläuft die langfristige AS-Kurve senkrecht oder nach klassischem Muster. Im klassischen Fall, über längere Zeit betrachtet, ist das Produktionsniveau von der Gesamtnachfrage unabhängig.
Warum unterscheidet sich die kurzfristige AS-Funktion von der langfristigen? Warum verhält sich das Gesamtangebot kurzfristig anders als langfristig? Warum erhöhen Unternehmen kurzfristig Preise und Produktion, wenn die Gesamtnachfrage zunimmt? Wieso führt dagegen eine steigende Gesamtnachfrage langfristig gesehen vorwiegend zu Preisänderungen und hat nur geringe Auswirkungen auf die Produktion? Der Schlüssel zur Antwort auf diese Fragen liegt im Verhalten von Löhnen und Preisen in einer modernen Marktwirtschaft. Manche Arten von Geschäftskosten sind kurzfristig gesehen inflexibel oder gegeben. Aufgrund dieses Beharrungsvermögens kön-
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(a) Kurzfristig
(b) Langfristig
P
P
Qp
AS
Q
realer Output
potenzieller Output
AS
Preisniveau
potenzieller Output
Preisniveau
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
Qp realer Output
Q
Abbildung 31-3: AS verläuft kurzfristig relativ flach, langfristig jedoch senkrecht Die kurzfristige AS-Kurve in (a) weist einen Aufwärtstrend auf, weil viele Kosten kurzfristig unbeweglich sind. Doch die inflexiblen Preise und Löhne kommen im Laufe der Zeit in Bewegung, weshalb die langfristige ASKurve in (b) senkrecht verläuft und die tatsächliche Produktion durch die potenzielle Produktionsleistung bestimmt wird. Erkennen Sie, warum ein Anhänger von Keynes nach Darstellung (a) den Wunsch hegen könnte, die Wirtschaft durch Einflussnahme auf die Gesamtnachfrage zu stabilisieren, während ein Anhänger der klassischen Lehre nach Darstellung (b) sich hauptsächlich auf eine Erhöhung der potenziellen Produktionsleistung konzentrieren würde?
nen Unternehmen von einer höheren Gesamtnachfrage profitieren, indem sie ihre Produktion erhöhen. Nehmen wir an, die Sorge um die nationale Sicherheit führe zu steigenden Verteidigungsausgaben. Die Unternehmen wissen, dass es sich bei einem großen Teil ihrer Produktionskosten um Fixbeträge handelt – die Arbeiter erhalten US-$ 15 pro Stunde, die Miete beträgt US-$ 1.500 pro Monat und so weiter. In Reaktion auf die gestiegene Nachfrage werden Unternehmen im Allgemeinen ihre Verkaufspreise ebenso wie die Produktion erhöhen. Dieser positive Zusammenhang zwischen Preisen und Menge lässt sich aus der aufwärts gerichteten AS-Kurve in Abbildung 31-3(a) ablesen. Wie haben wiederholt von „festgelegten“ oder „inflexiblen“ Kosten gesprochen. Welche Beispiele dafür gibt es? Das bedeutendste sind sicherlich Löhne und Gehälter. Löhne passen sich aus mehreren Gründen an geänderte wirtschaftliche Bedingungen nur langsam an. Sind die Arbeiter beispielsweise
gewerkschaftlich organisiert, werden sie zumeist gemäß den langfristig ausgehandelten Kollektivverträgen bezahlt, die einen festen Stundensatz vorsehen. Während der Dauer dieser Verträge ist die Lohnhöhe weitgehend festgelegt. Aber auch für gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeitnehmer werden die Löhne selten öfter als einmal im Jahr erhöht. Noch seltener kommt es zu Lohn- oder Gehaltskürzungen, es sei denn, einem Unternehmen drohe der Konkurs.1 Andere Preise und Kosten sind kurzfristig ähnlich unflexibel. Mietet ein Unternehmen ein Gebäude an, läuft der Mietvertrag häufig für ein Jahr und länger, und die Miete wird im Allgemeinen als fixer Geldbetrag festgesetzt. Außerdem unterzeichnen Unternehmen zumeist Verträge mit ihren Lieferanten, in denen sie die Material- oder Bauteilepreise festlegen. Manche Preise sind staatlich regu-
1 Vergleiche die im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel aufgeführte Studie von Bewley für eine Diskussion zur Inflexibilität von Löhnen.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
liert, vor allem jene für Strom, Wasser und örtliche Telefongebühren. Wenn man dies alles zusammen nimmt, wird deutlich, wieso in einer modernen Marktwirtschaft Löhne und Preise kurzfristig eher unbeweglich sind. Wie aber verläuft die langfristige Entwicklung? Irgendwann kommen auch die unflexiblen oder festgelegten Kostenelemente – Lohnverträge, Mietverträge, regulierte Preise und so weiter – in Bewegung und können verhandelt werden. Die Unternehmen können nicht auf Dauer von den fixen Lohnsätzen in den Arbeitsverträgen profitieren. Ihre Mitarbeiter werden bald bemerken, dass das Preisniveau angestiegen ist, und auf eine entsprechende Anpassung ihrer Löhne bestehen. Letztendlich passen sich alle Kosten an die höheren Produktionspreise an. Bei einer Erhöhung des allgemeinen Preisniveaus um x Prozent infolge einer gestiegenen Nachfrage reagieren schließlich Löhne, Mieten, regulierte Preise und andere Kosten, indem sie ebenso um rund x Prozent steigen. Sobald sich die Kosten an die Preisentwicklung angepasst haben, können die Unternehmen nicht mehr von der gestiegenen Gesamtnachfrage profitieren. Langfristig stehen die Unternehmen nach Anpassung aller Kostenelemente demselben Preis-KostenVerhältnis gegenüber wie vor der Nachfrageänderung. Es besteht daher für die Unternehmen kein Anreiz mehr, ihre Produktionsmengen zu erhöhen. Die langfristige ASKurve verläuft daher üblicherweise senkrecht, was bedeutet, dass die Angebotsmenge von Preis- und Kostenniveau unabhängig ist. Das Gesamtangebot in einer Volkswirtschaft unterscheidet sich kurzfristig von deren potenziellem Produktionsniveau infolge der zu geringen Flexibilität von Kostenfaktoren. Kurzfristig reagieren die Unternehmen auf eine gestiegene Nachfrage durch die Anhebung sowohl der Produktion als auch der Preise. Langfristig jedoch, wenn sich schließ-
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lich auch die Kosten an das höhere Preisniveau angepasst haben, erfolgt die Reaktion auf die gestiegene Nachfrage größtenteils in Form höherer Preise und kaum oder gar nicht in Form einer erhöhten Produktionsmenge. Während die kurzfristige AS-Kurve aufwärts gerichtet ist, verläuft die langfristige AS-Kurve senkrecht, weil sich im Laufe der Zeit alle Kosten anpassen.
B. Arbeitslosigkeit Nach den Kursverlusten am Aktienmarkt, einem schweren Terroranschlag, Skandalen wegen gefälschten Bilanzen und dem kriegerischen Eingreifen der Vereinigten Staaten im Ausland stieg die Arbeitslosenzahl in den USA um 2,5 Millionen Personen an. Die meisten von ihnen waren „Stellenverlierer“, Menschen, die ihren Arbeitsplatz unfreiwillig verloren. In früheren Zeiten, beispielsweise während der Großen Depression oder in den frühen achtziger Jahren, war die Arbeitslosenquote wesentlich deutlicher angestiegen, wobei sie 1933 den traurigen Höhepunkt von 25 Prozent erreichte. Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit in einer Marktwirtschaft führt zu beunruhigenden Fragen: Wie können Millionen von Menschen unbeschäftigt sein, wenn so viel getan werden müsste? Welcher Fehler in unserem modernen gemischtwirtschaftlichen System zwingt so viele arbeitswillige Menschen zur Untätigkeit? Inwieweit beruht die hohe Arbeitslosigkeit hauptsächlich auf mangelhaften staatlichen Programmen (wie der Arbeitslosenversicherung), die den Anreiz zur Arbeitsaufnahme mindern? Oder liegt die Lohn- und Preisentwicklung dem Problem zugrunde? Dieses Kapitel beschäftigt sich hauptsächlich mit der Bedeutung der Arbeitslosigkeit und versucht, einige Antworten auf diese wichtigen Fragen zu geben.
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
Die Messung der Arbeitslosigkeit Die Veränderungen der Arbeitslosenquote sorgen jeden Monat für Schlagzeilen. Betrachten Sie noch einmal Abbildung 20-3 auf Seite 584, um sich den langfristigen Trend ins Gedächtnis zu rufen. Sie können auch zu Abbildung 32-10 auf Seite 949 vorblättern, die die Arbeitslosenquote mit der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit vergleicht. Was besagen diese Zahlen?2 Arbeitslosen- und Erwerbstätigenstatistiken zählen zu den am sorgfältigsten konzipierten und umfassendsten Wirtschaftsdaten, die in einem Land erhoben werden. Die Zahlen für die Vereinigten Staaten werden monatlich mittels eines Verfahrens erhoben, das auf einer Zufallsstichprobe der Bevölkerung gründet.3 Jeden Monat werden in den USA etwa 60.000 Haushalte zu der aktuellen und jüngsten Arbeitssituation ihrer Mitglieder befragt. Die Untersuchung teilt die Bevölkerung ab einem Alter von 16 Jahren in die folgenden vier Gruppen ein:4 • Erwerbstätige. Dabei handelt es sich um Personen, die bezahlte Arbeit verrichten, aber auch alle jene, die zwar eine Stelle haben, jedoch aus Krankheits-, Streikoder Urlaubsgründen zum Zeitpunkt der Befragung nicht gearbeitet haben. • Arbeitslose. Zu dieser Gruppe gehören jene Menschen, die keine Arbeit haben, jedoch aktiv nach Arbeit suchen oder auf ihre Wiederbeschäftigung warten. Um als arbeitslos zu gelten, muss eine Person konkrete Anstrengungen unternehmen, eine 2 Arbeitslosenzahlen und Methoden zur Schätzung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit finden Sie auf den dazu angegebenen Websites im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel. 3 Das Ziehen von Zufallsstichproben ist ein zur Schätzung des Verhaltens oder bestimmter Merkmale der Gesamtbevölkerung äußerst wichtiges Verfahren. Dazu wählt man nach dem Zufallsprinzip eine Untergruppe der Bevölkerung aus (beispielsweise durch Auswahl bestimmter Telefonnummern mit einem computergestützten Zufallsgenerator) und untersucht dann diese Gruppe. Dieses statistische Verfahren wird in vielen Sozialwissenschaften und auch in der Marktforschung angewandt.
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Stelle zu finden (beispielsweise zu Vorstellungsgesprächen gehen oder Bewerbungsschreiben verschicken); es genügt nicht, nur auf Arbeit zu hoffen. • Nichterwerbspersonen. Darunter fallen rund 34 Prozent der Erwachsenen, die entweder den Haushalt führen, in Rente sind, generell zu krank sind, um zu arbeiten, oder die sich einfach um keine Arbeit bemühen. • Erwerbsbevölkerung. Diese Gruppe umfasst alle Erwerbstätigen und Arbeitslosen. Abbildung 31-4 zeigt, wie sich die männliche und weibliche Bevölkerung der USA auf die vier genannten Kategorien verteilt. (Die Zuordnung von Studenten wird in Frage 6 am Ende dieses Kapitels erörtert.) Die staatliche Definition der einzelnen Gruppen lautet wie folgt: 4 Die folgende Klassifizierung des Bureau of Labor Statistics liefert die vollständige Definition für die Vereinigten Staaten: Menschen gelten als erwerbstätig, wenn sie während der ausgewählten Woche irgendeiner bezahlten Arbeit nachgingen, selbstständig tätig waren oder einen eigenen Bauernhof bewirtschafteten oder aber unentgeltlich mindestens 15 Stunden in einem Familienunternehmen oder auf dem Bauernhof der Familie tätig waren. Menschen gelten auch dann als erwerbstätig, wenn sie ihrer Arbeit nur zeitweilig nicht nachgingen, wegen Krankheit, schlechten Wetters, Urlaubs, eines Arbeitskampfes oder aus persönlichen Gründen. Als arbeitslos gelten Menschen, wenn auf sie alle der folgenden Kriterien zutreffen: Während der ausgewählten Woche gingen sie keiner Beschäftigung nach; sie standen während dieser Zeit jedoch grundsätzlich für Arbeit zur Verfügung; und sie unternahmen während der vier Wochen, die mit der ausgewählten Woche endeten, konkrete Anstrengungen, Arbeit zu finden. Menschen, die entlassen wurden, aber mit Wiederbeschäftigung durch ihren alten Arbeitgeber rechnen können, gelten als arbeitslos. Die USA richten sich somit nach der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), die von der EU-Kommission (Verordnung 1897/2000) für die EU-Statistiken (EUROSTAT) konkretisiert wurde. Als arbeitslos gilt demnach, wer (a) keine Arbeit hat (nicht einmal für eine Stunde pro Woche), (b) Arbeit sucht (ab einer Stunde pro Woche), (c) für die Arbeitsaufnahme innerhalb von zwei Wochen verfügbar ist und (d) zwischen 15 und 74 Jahre alt ist. Diese Definition weicht durchaus von den nationalen Definitionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ab. Beispielsweise gelten nach Maßgabe der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland alle Personen als arbeitslos, die (a) sich bei ihr persönlich gemeldet haben, (b) keine Arbeit haben (oder weniger als 15 Stunden pro Woche arbeiten), (c) eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung suchen, (d) für die Arbeitsaufnahme sofort verfügbar sind und (e) zwischen 15 und 64 Jahre alt sind. Quelle: www.karin-roth.de/servlet/PB/show/1545079/Arbeitsmarktbmwa.pdf
908
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Männer
Frauen
Nicht zur Erwerbsbevölkerung gehörig
65+ 55–64
Teil 7
Nicht zur Erwerbsbevölkerung gehörig
Nicht zur Erwerbsbevölkerung gehörig
Beschäftigte
erwerbstätig arbeitslos
Beschäftigte
Alter (Jahre)
45–54
35–44
25–34 20–24 16–19 0
20
40
60
80
100
Prozent der Bevölkerung
Abbildung 31-4: Erwerbssituation der Bevölkerung, USA, 2003 Womit verbringen die Amerikaner ihre Zeit? Die obige Abbildung zeigt die Aufteilung von Männern und Frauen auf folgende Gruppen: Erwerbstätige, Arbeitslose, Nichterwerbspersonen. Die Größe der einzelnen Bereiche verdeutlicht den relativen Anteil der entsprechenden Kategorie an der jeweiligen Altersgruppe. Beachten Sie die anhaltenden Unterschiede in der Erwerbssituation von Männern und Frauen. Quelle: US-Arbeitsministerium, Employment and Earnings.
Menschen mit einer Arbeitsstelle sind erwerbstätig; Menschen, die keine Stelle haben, jedoch eine suchen, gelten als arbeitslos; Menschen ohne Arbeit, die auch keine anstreben, zählen nicht zur Erwerbsbevölkerung. Die Arbeitslosenquote errechnet sich aus der Anzahl der Arbeitslosen dividiert durch die gesamte Erwerbsbevölkerung.
Auswirkungen der Arbeitslosigkeit Eine hohe Arbeitslosenquote ist nicht nur ein volkswirtschaftliches, sondern auch ein soziales Problem. Aus volkswirtschaftlicher Sicht stellt sie eine Verschwendung wertvoller Ressourcen dar. Aus sozialer Sicht ist Arbeitslosigkeit problematisch, weil sie großes Leid verursacht, da Arbeitslose hohe Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wirkt sich die wirt-
schaftliche Anspannung schließlich auch auf die Gefühle und auf das Familienleben der Menschen aus.
Volkswirtschaftliche Auswirkungen Bei steigender Arbeitslosenquote wirft eine Volkswirtschaft bildlich gesprochen alle Waren und Dienstleistungen weg, die die Arbeitslosen hätten produzieren können. In Zeiten der Rezession gehen sozusagen riesige Mengen an Autos, Häusern, Bekleidung und anderen Gütern einfach den Bach runter. Wie groß ist die durch Arbeitslosigkeit bedingte Verschwendung? Wie hoch sind die Opportunitätskosten von Rezessionen? Tabelle 31-2 zeigt, wie weit während der wichtigsten Perioden hoher Arbeitslosigkeit in den letzten 50 Jahren die Produktionsleistung vom potenziellen BIP abwich. Der größte volkswirtschaftliche Schaden ent-
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Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
Produktionsverlust Durchschnittliche Arbeitslosenquote (%)
BIP-Verlust (Mrd. US-$, Preise von 2003)
Als Prozentsatz des BIP während des Zeitraums
18,2
2.560
27,6
Öl- und Inflationskrisen (1975–1984)
7,7
1.570
3,0
Rückgang nach dem Zusammenbruch der New Economy (2001–2003)
5,5
220
0,2
Große Depression (1930–1939)
Tabelle 31-2: Volkswirtschaftliche Kosten der Perioden hoher Arbeitslosigkeit Die zwei bedeutendsten Perioden hoher Arbeitslosigkeit seit 1929 waren die Große Depression und die Zeit hoher Inflation von 1975–1984 im Gefolge der Ölkrise. Der Produktionsverlust wird als kumulative Differenz zwischen dem potenziellen BIP und dem tatsächlichen BIP berechnet. Beachten Sie, dass während der Großen Depression die BIP-Verluste fast zehn Mal so hoch waren wie jene während der durch die Ölkrise bedingten Rezession. Der wirtschaftliche Einbruch zu Beginn des neuen Millenniums war im Vergleich zu früheren Rezessionen harmlos. Quelle: Schätzungen der Autoren auf der Basis der offiziellen BIP- und Arbeitslosenzahlen.
stand während der Weltwirtschaftskrise, aber auch die Öl- und Inflationskrisen der siebziger und achtziger Jahre führten zu Produktionsverlusten von mehr als US-$ 1 Billion. Seit 1992 ist die US-amerikanische Wirtschaft rasch gewachsen, mit nur einer geringfügigen Verlangsamung nach dem Rückgang der Aktienkurse, dem Terrorangriff und den zunehmenden Sorgen um die nationale Sicherheit. Die in Perioden hoher Arbeitslosigkeit entstehenden wirtschaftlichen Schäden sind die bedeutendste dokumentierte Verschwendung in einer modernen Volkswirtschaft. Sie sind um ein Vielfaches größer als die geschätzte Ineffizienz aufgrund von monopolistischer mikroökonomischer Verschwendung oder als die Verschwendung aufgrund von Zöllen und restriktiven Importquoten.
Soziale Auswirkungen Die volkswirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit sind sicherlich hoch, aber den menschlichen und psychologischen Schaden aufgrund langer unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kann man überhaupt nicht in Geld messen. Welche persönliche Tragödie Arbeitslosigkeit darstellt, hat sich immer wieder ge-
zeigt. So lesen wir beispielsweise über die vergebliche Arbeitssuche in San Francisco während der Großen Depression: Ich stand üblicherweise um fünf Uhr morgens auf und ging hinunter zum Meer. Vor den Toren der Zuckerraffinerie Spreckles standen etwa tausend Leute. Natürlich war bekannt, dass die nur drei oder vier Stellen zu vergeben hatten. Irgendwann erschien dann der Typ in Begleitung von zwei Pinkerton-Detektiven: „Ich brauche zwei Mann für den Kontrollgang. Zwei, die ins Loch hinuntersteigen.“ Wie ein Rudel Schlittenhunde kämpften tausend Männer, um durch das Tor zu kommen. Schließlich schafften es vier.5
Oder wir können die Erinnerungen eines arbeitslosen Bauarbeiters betrachten: Ich rief bei Dachdeckerbetrieben an, aber die brauchten mich nicht, weil sie genügend Leute beschäftigt hatten, die schon seit fünf oder sechs Jahren für sie arbeiteten. Es gab nicht viele freie Stellen. Für die meisten musste man eine College-Ausbildung nachweisen. Ich suchte einfach irgendetwas, Autowaschen oder was sich sonst noch anbot. 5 Studs Terkel, Hard Times: An Oral History of the Great Depression in America (Pantheon, New York, 1970).
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Was tut man also den ganzen Tag? Man geht nach Hause und sitzt herum. Vom Herumsitzen wird man frustriert. Nach und nach werden alle im Haushalt gereizt. Man streitet über völlig sinnlose Dinge, weil alle ständig zusammengepfercht sind. Irgendwie bekam die ganze Familie durch meine Arbeitslosigkeit einen Knacks.6
Es wäre schon erstaunlich, wenn solche Erfahrungen keine tiefen Narben hinterließen. Psychologische Studien belegen, dass eine Kündigung für einen Menschen etwa ebenso traumatisch ist wie der Todesfall eines nahen Freundes oder Schulversagen. Doch die Arbeitslosigkeit trifft nicht nur ungelernte Hilfskräfte, wie viele gut bezahlte Manager, Fachkräfte und Büroangestellte während der Entlassungswellen der letzten zwei Jahrzehnte erfahren mussten. Lesen Sie die Geschichte eines Firmenmanagers in mittleren Jahren, der seine Stelle 1988 verloren hatte und 1992 immer noch ohne dauerhafte Anstellung war: Ich habe den Kampf, den es heute einfach kostet, um in der Wirtschaft die Nase vorn zu haben, verloren ... Ich war fest entschlossen, wieder Arbeit zu finden, aber im Verlauf all der Monate und Jahre wurde ich schließlich depressiv. Man verträgt nur ein gewisses Maß an Zurückweisung. Irgendwann hat man dann jedes Selbstbewusstsein verloren.7
Okunsches Gesetz Die schlimmste Folge jeder Rezession ist immer der Anstieg der Arbeitslosenquote. Mit sinkender Produktionsleistung benötigen die Unternehmen weniger Arbeitskräfte, also werden neue Arbeitskräfte nicht eingestellt, alte jedoch entlassen. Die Folgen dieser Entwicklung können dramatisch sein: Als die Rezession von 1981/82 zu Ende ging, war beinahe jede zehnte Arbeitskraft in den Vereinigten Staaten ohne Beschäftigung. Es hat 6
Harry Maurer, Not Working: An Oral History of the Unemployed (Holt, New York, 1979). 7 Business Week, 23. März 1992.
Teil 7
sich gezeigt, dass sich die Arbeitslosigkeit während eines Konjunkturzyklus im umgekehrten Verhältnis zur Produktion entwickelt. Das erstmals von Arthur Okun beschriebene Wesen dieser Beziehung ist als Okunsches Gesetz bekannt. Das Okunsche Gesetz besagt, dass für jede 2 Prozent, die das tatsächliche BIP im Verhältnis zum potenziellen BIP sinkt, die Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt ansteigt. Das heißt, wenn das BIP ursprünglich 100 Prozent des potenziellen BIP beträgt und dann auf 98 Prozent dieses Potenzials sinkt, dann steigt die Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt, beispielsweise von 6 Prozent auf 7 Prozent. Abbildung 31-5 zeigt, wie sich Produktion und Arbeitslosigkeit in Abhängigkeit von einander entwickelt haben. Wir können das Okunsche Gesetz verdeutlichen, wenn wir uns die Entwicklung 3 Veränderung der Arbeitslosenrate (in Prozentpunkten)
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2
Okunsches Gesetz
1 0 –1 –2 –3
4
2 0 2 4 6 Veränderung des realen BIP (in Prozent)
8
Abbildung 31-5: Okunsches Gesetz, grafisch aufbereitet für den Zeitraum 1955–2002 Das Okunsche Gesetz besagt, dass die Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt sinkt, wenn die Produktion um 2 Prozent stärker wächst als das potenzielle BIP. Diese Grafik verdeutlicht, dass sich Veränderungen der Arbeitslosenquote gut aufgrund der Veränderung des BIP vorhersagen lassen. Erklären Sie anhand der gezeichneten Linie, bei welchem BIP-Wachstum die Arbeitslosigkeit unverändert bliebe. Quelle: US-Arbeitsministerium.
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
von Produktion und Arbeitslosigkeit während der neunziger Jahre ansehen. Während der Rezession im Jahre 1991 stieg die Arbeitslosenquote auf 6,9 Prozent. Man schätzt, dass zu diesem Zeitpunkt das tatsächliche BIP um 2,5 Prozent unter der potenziellen Produktionsleistung lag. Während der nächsten neun Jahre stieg die tatsächliche Produktion dann um 5,8 Prozent stärker als die potenzielle Produktionsleistung, sodass laut Schätzungen im Jahre 1999 das tatsächliche BIP um 3,3 Prozent über der potenziellen Produktionsleistung lag. Laut dem Okunschen Gesetz hätte die Arbeitslosenquote um 2,9 Prozentpunkte (5,8 ÷ 2) auf 4,0 (6,9 – 2,9) Prozent zurückgehen müssen. Tatsächlich lag die Arbeitslosenquote bei 4,2 Prozent – also eine bemerkenswert genaue Vorhersage. Dies zeigt, dass man das Okunsche Gesetz verwenden kann, um Veränderungen der Arbeitslosenquote in Relation zum Produktionswachstum zu setzen. Eine wichtige Folgerung aus dem Okunschen Gesetz besagt, dass das tatsächliche BIP ebenso rasch wachsen muss wie das potenzielle, damit die Arbeitslosigkeit nicht ansteigt. In gewisser Weise muss also das BIP ständig auf Trab sein, damit die Arbeitslosigkeit konstant bleibt. Soll darüber hinaus die Arbeitslosenquote gesenkt werden, muss das tatsächliche BIP rascher steigen als das potenzielle. Das Okunsche Gesetz liefert uns das entscheidende Bindeglied zwischen dem Produktions- und dem Arbeitsmarkt. Es beschreibt die Verbindung zwischen kurzfristigen Entwicklungen des realen BIP und der Arbeitslosenquote. Arbeitslosigkeit und Politik Die Arbeitslosigkeit ist eines der wichtigsten Themen für Wähler. Wenn in Wahljahren die Arbeitslosigkeit hoch ist, werden amtierende Politiker oft abgewählt. Während Depressionen und Rezessionen, genauer gesagt in den Jahren 1932, 1960, 1980 und 1992, verlor die gerade regieren-
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de Partei die Präsidentschaftswahl. Im Gegensatz dazu wurden in Jahren wirtschaftlichen Aufschwungs mit niedriger Arbeitslosigkeit (wie 1964, 1972, 1984 und 1996) die Amtsinhaber wiedergewählt. Nehmen Sie an, Sie wären der Wirtschaftsberater von Präsidentin Mary James, die gerade ihr Amt angetreten hat. Der folgende Dialog entwickelt sich: PRÄSIDENTIN JAMES: Zu viele Menschen sind arbeitslos. Ich möchte eine Fiskal- und Geldpolitik betreiben, die die Arbeitslosenquote von 7 Prozent auf 5 Prozent senkt, bis wir uns zur Wiederwahl stellen müssen. Wie stark muss die Wirtschaft während der nächsten vier Jahre wachsen, damit ich dieses Ziel erreiche? WIRTSCHAFTSBERATER: Wir können das aus dem Okunschen Gesetz ableiten. Die Wirtschaft muss im gleichen Maß wachsen wie das potenzielle BIP (momentan etwa 3 Prozent jährlich in den Vereinigten Staaten), plus so viel, dass die Arbeitslosenquote um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr gesenkt wird. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des BIP muss also 3 Prozent zur Fortsetzung des Trends plus 1 Prozent zur Senkung der Arbeitslosigkeit betragen. Wir müssen uns somit das Ziel setzen, in den vier Jahren bis zur nächsten Wahl ein jährliches Wachstum des realen BIP von 4 Prozent zu erreichen.
Stellen Sie sicher, dass Sie die Argumentation des Chef-Ökonomen erklären können.
Volkswirtschaftliche Interpretation der Arbeitslosigkeit Wenden wir uns nun der wirtschaftlichen Analyse der Arbeitslosigkeit zu. Einige der wichtigen Fragen, mit denen wir uns beschäftigen, sind: Welche Gründe für die Arbeitslosigkeit gibt es? Worin unterscheiden sich „freiwillige“ und „unfreiwillige“ Arbeitslosigkeit? Welche Beziehung besteht zwischen den verschiedenen Arten der Arbeitslosigkeit und dem Konjunkturzyklus?
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Drei Arten der Arbeitslosigkeit Bei der Untersuchung der Struktur der Arbeitsmärkte haben die Wirtschaftswissenschaftler drei Arten der Arbeitslosigkeit identifiziert: friktionelle, strukturelle und konjunkturelle Arbeitslosigkeit. Friktionelle Arbeitslosigkeit (Sucharbeitslosigkeit) entsteht durch die unaufhörliche regionale Wanderungsbewegung der Menschen, durch Fluktuationen zwischen unterschiedlichen Stellen oder die verschiedenen Stadien des Lebenszyklus. Sogar bei Vollbeschäftigung kommt es immer zu einer gewissen Fluktuation, weil Studenten nach ihrem Studienabschluss eine Stelle suchen oder weil Eltern nach Jahren der Kindererziehung wieder ins Berufsleben eintreten möchten. Da Sucharbeitslose oft die Stelle wechseln oder sich nach einem besseren Arbeitsplatz umsehen, wird häufig behauptet, dass es sich bei ihnen um freiwillig Arbeitslose handle. Strukturelle Arbeitslosigkeit bedeutet, dass Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage nicht zusammenpassen. Dazu kann es kommen, weil die Nachfrage nach einer Art von Arbeit steigt, während die Nachfrage in einer anderen Branche zurückgeht, wobei sich das Angebot nicht rasch genug anpassen kann. Oft lassen sich strukturelle Ungleichgewichte quer durch verschiedene Berufe oder regionsübergreifend beobachten, wenn bestimmte Sektoren wachsen, während andere schrumpfen. So trat beispielsweise Mitte der achtziger Jahre ein akuter Mangel an Krankenschwestern auf, weil ihre Zahl nur langsam zunahm, während die Nachfrage infolge der Verschiebung der Altersstruktur und anderer Faktoren im Gesundheitswesen deutlich stieg. Erst als die Löhne der Krankenschwestern rasch nachzogen und sich das Angebot entsprechend erhöhte, konnte die strukturell bedingte Krankenschwesternknappheit beseitigt werden. Dagegen besteht seit Jahrzehnten kaum eine Nachfrage nach Bergleuten, wobei die mangelnde geografische Mobilität von Arbeit und Kapital in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielt; die
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Arbeitslosenquote in Bergbauregionen ist heute noch hoch. In manchen europäischen Ländern haben hohe Reallöhne, Sozialleistungen und Steuern während des letzten Jahrzehnts zu einer beträchtlichen strukturellen Arbeitslosigkeit ganzer Volkswirtschaften geführt. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit schließlich tritt dann auf, wenn die allgemeine Arbeitsnachfrage gering ist. Bei einem Rückgang der Gesamtausgaben und der Produktionsleistung nimmt die Arbeitslosigkeit praktisch überall zu. Im Rezessionsjahr 1982 stieg die Arbeitslosenquote in 48 der insgesamt 50 US-Bundesstaaten. Dieser gleichzeitige Anstieg der Arbeitslosigkeit auf vielen Märkten ist ein Hinweis auf eine weitgehend konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit. Aufgrund der Erholung vom Tiefpunkt der Rezession im Jahre 1991 bis zum Boomjahr 2000 sank die Arbeitslosenquote in jedem der Bundesstaaten der USA. Die Unterscheidung zwischen konjunktureller, friktioneller und struktureller Arbeitslosigkeit hilft den Ökonomen bei der Diagnose des Allgemeinzustandes des Arbeitsmarktes. Ein hoher Anteil friktioneller oder struktureller Arbeitslosigkeit kann auch bei einem insgesamt ausgeglichenen Arbeitsmarkt auftreten, beispielsweise aufgrund einer hohen Fluktuation oder wenn durch zu hohe Mindestlöhne einzelne Gruppen einfach zu teuer für den Arbeitsmarkt werden. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit tritt hingegen in Rezessionszeiten auf, wenn der Beschäftigungsstand infolge eines Ungleichgewichtes zwischen gesamtwirtschaftlichem Angebot und gesamtwirtschaftlicher Nachfrage insgesamt zurückgeht.
Die mikroökonomischen Grundlagen Auf den ersten Blick scheint der Grund für das Auftreten von Arbeitslosigkeit klar auf der Hand zu liegen: Zu viele Arbeitskräfte konkurrieren um zu wenige freie Stellen. Und doch hat dieses einfache Phänomen die Ökonomen 60 Jahre lang vor ein beträcht-
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
liches Rätsel gestellt. Die Erfahrung zeigt, dass bei vollkommenem Wettbewerb die Preise jeweils bis zur Markträumung steigen oder fallen. Beim Markträumungspreis kaufen die Käufer freiwillig das, was die Verkäufer freiwillig verkaufen. Doch das Getriebe des Arbeitsmarktes scheint durch irgendetwas blockiert zu sein, wenn so viele Krankenhäuser nach Krankenschwestern suchen, diese jedoch nicht finden, während Tausende von Bergleuten zum gängigen Lohn Arbeit suchen, die sie ebenfalls nicht finden. Ähnliche Symptome von Arbeitsmarktversagen stellen wir in allen Marktwirtschaften fest. Die Wirtschaftswissenschaftler haben sich daher auf die mikroökonomischen Aspekte der Arbeitsmärkte konzentriert, um das Wesen der Arbeitslosigkeit zu ergründen. Obwohl bis heute keine allgemein anerkannte Theorie entwickelt werden konnte, glauben doch viele Analysten, dass die Löhne nicht flexibel genug sind, um den Markt zu räumen. Im Folgenden werden wir uns mit der Frage befassen, warum die Löhne unflexibel sind und warum starre Löhne zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen.
Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit Beginnen wir mit einer Betrachtung der Gründe für eine freiwillige Arbeitslosigkeit auf einem typischen Arbeitsmarkt. Für eine Gruppe von Arbeitern gilt die Arbeitsangebotsfunktion SS in Abbildung 31-6. Diese Angebotskurve wird bei einer Arbeitsmenge von L* vollkommen unelastisch, wenn die Löhne hoch sind. Wir bezeichnen L* als die Erwerbstätigen. Die linke Tafel in Abbildung 31-6 zeigt das übliche Bild von Angebot und Nachfrage im Wettbewerb, bei einem Marktgleichgewicht in Punkt E und einem Lohn von W*. Im markträumenden Wettbewerbsgleichgewicht stellen die Unternehmen alle qualifizierten Arbeitskräfte, die Arbeit zum marktgängigen Lohn annehmen wollen, freiwillig ein. Die
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Anzahl dieser Eingestellten ist durch die Linie von A nach E dargestellt. Einige Erwerbstätige würden auch gerne arbeiten, aber nur zu einem höheren Lohn. Diese Arbeitslosen, dargestellt durch das Segment EF, sind insofern freiwillig arbeitslos, als sie zum gängigen Marktlohn keine Arbeit annehmen möchten. Das Bestehen freiwilliger Arbeitslosigkeit weist auf ein oft missverstandenes Phänomen hin: Arbeitslosigkeit kann das durchaus effiziente Resultat einer Situation sein, in der die unterschiedlichsten Arbeitskräfte sich eine andere Art von Arbeit suchen oder sie ausprobieren. Die freiwilligen Arbeitslosen ziehen vielleicht mehr Freizeit oder andere Aktivitäten einer Stelle zum gängigen Marktlohn vor. Es könnte sich jedoch auch um friktionelle Arbeitslose handeln, die beispielsweise ihre erste Arbeitsstelle suchen. Oder es könnte sich um Arbeitskräfte handeln, die nur eine geringe Produktivität zu bieten haben und lieber in Rente gehen oder Arbeitslosengeld beziehen, als eine gering bezahlte Arbeit anzunehmen. Es gibt zahllose Gründe, warum Menschen freiwillig beschließen, zum gängigen Marktlohn nicht zu arbeiten, und doch gelten diese Menschen in der offiziellen amerikanischen Statistik als Arbeitslose. Lesen Sie die Zitate von Arbeitslosen auf den Seiten 909/910 noch einmal durch. Wer könnte ernsthaft behaupten, dass ihre Arbeitslosigkeit freiwillig gewählt sei? Diese Leute klingen nicht so, als würden sie den Nutzwert von Arbeit sorgfältig gegen den Nutzwert von Freizeit abwägen. Sie hören sich auch nicht wie Menschen an, die auf der Suche nach einem lukrativeren Job und daher kurzfristig ohne Arbeit sind. Die Erfahrung zahlreicher Arbeitsloser lässt sich mit der eleganten klassischen Theorie freiwilliger Arbeitslosigkeit einfach nicht vereinbaren. Einer der ganz großen Verdienste von Keynes bestand darin, diese schöne, jedoch irrelevante Theorie durch Aufzeigen der Fakten umzustoßen. Er erklärte, warum wir immer wieder ein Ansteigen der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit beobachten, Perioden, in
914
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
(b) unflexible Löhne
(a) flexible Löhne W
W
S
D
Lohnniveau (US-$ pro Stunde)
Lohnniveau (US-$ pro Stunde)
S
beschäftigt W*
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F
A
E
S
freiwillig arbeitslos
D
unfreiwillig arbeitslos
beschäftigt W**
H
J
G
W* E
D
L* (Erwerbsbevölkerung)
D S L
Arbeit (Personen)
L* (Erwerbsbevölkerung)
L
Arbeit (Personen)
Abbildung 31-6: Mangelnde Flexibilität bei Löhnen und Gehältern kann zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen Die verschiedenen Arten der Arbeitslosigkeit lassen sich mithilfe der mikroökonomischen Angebots- und Nachfragefunktionen darstellen. In (a) bewegen sich die Löhne nach W*, wodurch eine Markträumung erzielt wird. Hier ist jede Arbeitslosigkeit freiwillig. Diagramm (b) zeigt, was geschieht, wenn sich die Löhne nicht ausreichend anpassen, sodass eine Markträumung ausbleibt. Beim überhöhten Lohnniveau W** sind JH Arbeitnehmer beschäftigt, aber HG Arbeitnehmer unfreiwillig arbeitslos. Viele glauben, (a) spiegele den flexiblen Arbeitsmarkt der Vereinigten Staaten wider, während (b) die Auswirkungen von hohen Lohnsteuern, hohen Mindestlöhnen und eines engmaschigen sozialen Netzes in Europa zeige.
denen qualifizierte Arbeitskräfte zum gängigen Marktlohn einfach keine Anstellung finden können. Der Schlüssel zu seinem Ansatz war die Beobachtung, dass sich die Löhne eben nicht bis zur Markträumung anpassen. Sie reagieren nur langsam auf volkswirtschaftliche Veränderungen. Doch wenn sich die Löhne nicht anpassen und die Märkte räumen, kommt es zu einem Missverhältnis zwischen Arbeitsuchenden und freien Stellen. Dieses Missverhältnis kann zu dem heute beobachtbaren Muster der Arbeitslosigkeit führen. Wir verstehen besser, wie unflexible Löhne zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen, wenn wir einen Arbeitsmarkt, auf dem es zu keiner Räumung kommt, wie er in Abbildung
31-6(b) dargestellt ist, analysieren. Dieses Beispiel geht von der Annahme aus, dass angesichts einer volkswirtschaftlichen Störung auf dem Arbeitsmarkt überhöhte Löhne vorherrschen. Der Lohn liegt bei W** anstatt beim Gleichgewichts- oder Markträumungsniveau von W*. Bei diesem überhöhten Lohnniveau gibt es mehr qualifizierte Arbeitskräfte auf der Suche nach Arbeit als freie Arbeitsplätze, die auf Arbeitskräfte warten. Die Anzahl der Arbeiter, die bereit sind, bei einem Lohn von W** zu arbeiten, ist mit Punkt G auf der Angebotskurve angegeben, doch die Unternehmen wollen nur H Arbeitskräfte einstellen, wie wir aus der Nachfragekurve ersehen können. Da der Lohn über dem Markträu-
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
mungsniveau liegt, kommt es zu einem Arbeitskräfteüberschuss. Die Arbeitslosen, die durch das gestrichelte Segment HG dargestellt sind, werden als unfreiwillig Arbeitslose bezeichnet, was bedeutet, dass es sich bei ihnen um qualifizierte Arbeitskräfte handelt, die zum gängigen Marktlohn Arbeit suchen, jedoch keine Stelle finden. Bei zu vielen Arbeitsuchenden rationieren die Unternehmen die Arbeitsplätze und stellen nur die bestqualifizierten oder besonders erfahrene Arbeitnehmer ein. Der gegenteilige Fall tritt ein, wenn der Lohn unter Markträumungsniveau liegt. Hier, in einer Volkswirtschaft mit knappem Arbeitsangebot, können die Unternehmen nicht genügend Arbeitskräfte finden, um alle ihre freien Stellen zu besetzen. Die Unternehmen hängen „Gesucht“-Schilder an ihren Toren auf, setzen Inserate in die Zeitung und suchen auch in einem größeren geografischen Gebiet nach neuen Beschäftigten.
Gründe für die mangelnde Flexibilität der Löhne Die Theorie der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit geht von der Annahme aus, dass Löhne nicht beweglich sind. Dadurch aber erhebt sich eine weitere Frage: Warum reagieren die Löhne nicht flexibel, sodass es zu einer Markträumung kommen kann? Warum funktioniert der Arbeitsmarkt nicht wie ein Auktionsmarkt für Weizen, Mais oder Aktien? Diese Fragen gehören zu den großen ungelösten Geheimnissen der modernen Volkswirtschaftslehre. Nur wenige Ökonomen würden heutzutage behaupten, dass sich die Löhne rasch genug anpassen, um Arbeitsknappheit oder -überschüsse auszugleichen. Und doch versteht niemand wirklich die Gründe für die träge Reaktion von Löhnen und Gehältern. Wir können an dieser Stelle daher nur den Versuch einer Bewertung der Gründe für die mangelnde Flexibilität der Löhne anbieten.
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Eine nützliche Unterscheidung lässt sich zwischen Auktionsmärkten und administrierten Märkten treffen. Ein Auktionsmarkt ist ein gut organisierter Wettbewerbsmarkt, auf dem die Preise durch ihre Aufwärts- und Abwärtsbewegungen auf einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage hinwirken. So ändert sich beispielsweise an der Chicago Board of Trade der Preis für „in Kansas City ausgelieferter Hartweizen, Kategorie 2“ oder für „in New York ausgelieferte bratfertige Hühner, Klasse A“ jede Minute und spiegelt so die Marktbedingungen wider – jene Marktbedingungen, die wir in den hektischen Kauf- und Verkaufsaufträgen der Bauern, Mühlen, Verpackungsbetriebe, Zwischenhändler und Spekulanten erkennen. Die meisten Güter und die Gesamtheit der Arbeit werden jedoch auf administrierten Märkten, nicht auf Auktionsmärkten mit hohem Wettbewerb, verkauft. Niemand würde einen Arbeitsuchenden als „Internet-Entwickler, Stufe B“ oder „Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre, Klasse AAA“ bezeichnen. Kein Experte bleibt bis spät abends wach, um dafür zu sorgen, dass sich die Gehälter von Entwicklern und Universitätsprofessoren genau auf jenem Niveau einpendeln, bei dem alle qualifizierten Arbeitskräfte eine Stelle finden. Stattdessen handelt es sich bei den Löhnen und Gehältern der meisten Unternehmen um sogenannte administrierte Preise, die auf einem festen Tarifsystem beruhen und bei denen neue Arbeitnehmer zu einem bestimmten Eintrittslohn oder -gehalt eingestellt werden. Ein solches Tarifsystem bleibt zumeist ein Jahr lang in Kraft, und wenn es schließlich zu einer Anpassung kommt, werden die Löhne für sämtliche Kategorien angehoben. So könnte es in einer Bank etwa 15 verschiedene Gehaltsstufen geben: drei Stufen für Sekretariatskräfte, zwei für Schalterbeamte und so weiter. Die Bankmanager haben dann alljährlich zu entscheiden, um wie viel die jeweiligen Löhne und Gehälter angehoben werden sollen – sagen wir im Jahr 2003 um durchschnittlich 3 Prozent. Manchmal steigen alle Lohn-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
oder Gehaltsklassen proportional, manchmal werden für bestimmte Gehaltsklassen Erhöhungen über oder unter dem Durchschnitt beschlossen. Angesichts dieses Verfahrens einer Lohn- und Gehaltsbildung bleibt nur wenig Spielraum für größere Anpassungen, wenn das Unternehmen in einem bestimmten Arbeitsbereich eine Knappheit oder einen Überschuss feststellt. Abgesehen von wenigen Extremfällen wird das Unternehmen, sobald ein Marktungleichgewicht spürbar wird, nur versuchen, die für eine Position geforderten Mindestqualifikationen anzupassen, nicht jedoch die Löhne.8 Auf gewerkschaftlich bestimmten Arbeitsmärkten ist der Spielraum für Veränderungen noch geringer. Hier werden die Gehaltsstrukturen typischerweise für drei Jahre im Voraus vereinbart; innerhalb dieses Zeitraums dürfen die Löhne auch bei einer Steigerung von Angebot oder Nachfrage in bestimmten Bereichen nicht angepasst werden. Gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer akzeptieren Gehaltskürzungen häufig selbst dann nicht, wenn ein großer Teil der Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Lohnbildung in den USA und in anderen Marktwirtschaften heute weitgehend von Unternehmen und festen Verträgen bestimmt wird. Löhne und Gehälter werden in langen zeitlichen Abständen angepasst und reagieren auf Knappheit oder Überangebot nur nach längerer Verzögerung. Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen wir uns, worin die volkswirtschaftlichen Gründe für die geringe Anpassungs8 Das Beispiel der College-Zulassungen in den USA zeigt, welche Anpassungen vorgenommen werden, wenn es zu Knappheit oder Überschuss kommt. Während der letzten Jahre sahen sich viele Colleges einem wahren Ansturm von Studenten ausgesetzt. Wie haben sie reagiert? Wurden die Studiengebühren so weit angehoben, dass die Nachfrage nach Plätzen zurückging? Nein. Stattdessen wurden die Zulassungsanforderungen verschärft; es wurden bessere High-School-Abschlüsse und höhere Durchschnittsnoten verlangt. Diese Anhebung der Mindestanforderungen anstelle einer Lohnund Preisanpassung ist auch genau das, was kurzfristig geschieht, wenn Unternehmen mit einem zu hohen Arbeitsangebot konfrontiert werden.
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neigung von Löhnen und Gehältern besteht. Viele Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass die mangelnde Flexibilität auf die hohen Kosten der Lohnadministrierung zurückzuführen ist. Am Beispiel von Tariflöhnen kann man beobachten, dass Lohnverhandlungen Arbeitern und Management sehr viel Zeit abverlangt, die nicht produktiv genutzt werden kann. Da Kollektivvertragsverhandlungen so teuer sind, werden die Verträge auch jeweils gleich für drei Jahre abgeschlossen. Die Lohn- und Gehaltsbildung für nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer ist weniger kostspielig, erfordert jedoch ebenfalls relativ viel knappe Managementzeit und hat wichtige Auswirkungen auf die Arbeitsmoral. Jedes Mal, wenn die Löhne und Gehälter festgelegt werden oder über Sozialleistungen entschieden wird, verändern sich auch die früheren Lohnvereinbarungen. Manche Arbeitnehmer empfinden diese Änderungen vielleicht als ungerecht, andere beschweren sich über den unfairen Entscheidungsprozess, und es könnte zu einer gewissen Arbeitsunzufriedenheit kommen. Viele Personalchefs ziehen daher ein System vor, bei dem die Löhne weniger häufig angepasst werden und bei dem die Arbeitnehmer überwiegend dieselbe Lohnerhöhung erhalten, unabhängig von den Marktbedingungen, von persönlichen Fähigkeiten oder sonstigen Kategorien. Dieses System mag Volkswirten ineffizient erscheinen, weil es keine vollkommene Lohnanpassung an das Marktangebot und die Marktnachfrage zulässt. Doch dieser Ansatz spart knappe Managementzeit und fördert das wichtige Gefühl der Gerechtigkeit und Gleichheit in einem Unternehmen. Schließlich kann es billiger sein, Arbeitskräfte aktiv zu suchen oder die Mindestanforderungen für eine ausgeschriebene Stelle zu ändern, als die gesamte Lohnstruktur des Unternehmens über den Haufen zu werfen, nur um einige neue Arbeitskräfte einzustellen. Die Theorie der unflexiblen Löhne und der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit besagt, dass
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Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
eine zu langsame Lohnanpassung zu Überschüssen und Knappheiten auf einzelnen Arbeitsmärkten führt. Kurzfristig betrachtet kommt es auf Arbeitsmärkten zu keiner Räumung. Doch irgendwann passen sich die Arbeitsmärkte den Marktbedingungen an, wenn die Löhne für anspruchsvollere Stellen im Verhältnis zu jenen in weniger fordernden Berufen steigen. Langfristig verschwinden Arbeitslosigkeit oder Arbeitskräftemangel weitgehend, wenn sich Löhne und Mengen an die Marktbedingungen angepasst haben. Das Wort „langfristig“ kann in diesem Fall jedoch einen Zeitraum von vielen Jahren bezeichnen, und so kann oftmals jahrelang eine hohe Arbeitslosigkeit herrschen.
Arbeitsmarktthemen Nachdem wir die Gründe der Arbeitslosigkeit untersucht haben, wenden wir uns wich-
tigen heutigen Arbeitsmarktthemen zu. Welche Gruppen sind besonders von Arbeitslosigkeit bedroht? Wie lange sind diese Menschen arbeitslos? Warum ist die Arbeitslosigkeit in Europa im letzten Jahrzehnt so drastisch angestiegen?
Wer sind die Arbeitslosen? Der Zustand des Arbeitsmarktes lässt sich diagnostizieren, wenn wir die Jahre, in denen die tatsächliche Produktionsleistung weit über der potenziellen lag (die Zeit von 1999 bis 2000 war eine solche Periode), mit Jahren einer tiefen Rezession (wie etwa 1982) vergleichen. Die Unterschiede zwischen diesen Jahren zeigen uns, inwieweit sich konjunkturelle Schwankungen auf Höhe, Gründe, Dauer und Verteilung der Arbeitslosigkeit auswirken. Tabelle 31-3 zeigt die Arbeitslosenstatistik für jeweils ein Hochkonjunktur- und ein Re-
Arbeitslosenquote unterschiedlicher Gruppen
Gruppe
(in % der Erwerbstätigen) Rezession Hochkonjunktur (1982) (März 2000)
Nach Alter: 16–19 23,2 20 Jahre und darüber 8,6 Nach Rasse: Weiße 8,6 Farbige 17,3 Nach Geschlecht (nur Erwachsene): Männer 8,8 Frauen 8,3 Alle Arbeitskräfte 9,7
Verteilung der gesamten Arbeitslosigkeit auf die verschiedenen Gruppen (in % aller Arbeitslosen) Rezession Hochkonjunktur (1982) (März 2000)
13,3 3,3
18,5 81,5
20,2 80,0
3,6 7,3
77,2 22,8
77,6 22,4
3,8 4,3 4,1
58,5 41,5 100,0
50,5 49,5 100,0
Tabelle 31-3: Arbeitslosigkeit in den verschiedenen demografischen Gruppen Die Tabelle zeigt, dass die Arbeitslosigkeit einzelne demografische Gruppen in Jahren der Hochkonjunktur oder Rezession unterschiedlich trifft. Die ersten beiden Spalten zeigen die Arbeitslosenquote für jede Gruppe für die Jahre 1982 und 2000. Die letzten beiden Spalten zeigen die prozentuale Verteilung aller Arbeitslosen auf die jeweiligen Gruppen. Quelle: US-Arbeitsministerium, Employment and Earnings.
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
zessionsjahr. Die ersten beiden Zahlenspalten geben die Arbeitslosenquote nach Alter, Rasse und Geschlecht wieder. Diese Daten zeigen, dass die Arbeitslosenquote in jeder Gruppe in Zeiten der Rezession tendenziell ansteigt. Die dritte und vierte Spalte zeigen, wie sich die gesamte Arbeitslosigkeit unter den verschiedenen Gruppen verteilt; bitte beachten Sie, dass sich diese Verteilung zwischen den einzelnen Gruppen durch den Konjunkturzyklus nur geringfügig verändert. Beachten Sie außerdem, dass die Arbeitslosenquote der Farbigen mehr als doppelt so hoch ist wie diejenige der Weißen, sowohl in der Hochkonjunktur als auch in einer Rezession. Bis in die achtziger Jahre hinein lag die Arbeitslosenquote von Frauen über derjenigen von Männern, aber während der letzten zwei Jahrzehnte ließen sich kaum geschlechtsspezifische Unterschiede in der Arbeitslosenquote beobachten. Die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen, die stark von friktioneller Arbeitslosigkeit betroffen sind, war im Allgemeinen deutlich höher als diejenige von Erwachsenen.
Dauer der Arbeitslosigkeit Eine weitere wichtige Frage betrifft die Dauer der Arbeitslosigkeit. Wie hoch ist die Langzeitarbeitslosigkeit, die sozial besonders problematisch ist, und wie viel entfällt auf kurzfristige Arbeitslosigkeit, wenn die Leute nur rasch die Stelle wechseln? Abbildung 31-7 zeigt die Dauer der Arbeitslosigkeit im Jahre 2003. Ein überraschendes Merkmal der US-Arbeitsmärkte ist der hohe Anteil der kurzfristigen Arbeitslosigkeit. Im Jahre 2003 war ein Drittel der Arbeitslosen weniger als fünf Wochen lang ohne Stelle, und es gab nur wenige Langzeitarbeitslose. In Europa mit seiner geringeren Mobilität und größeren rechtlichen Hemmnissen, die einem wirtschaftlichen Wandel entgegenstehen, betrug der Anteil der langfristigen an der Gesamtarbeitslosigkeit Mitte der neunziger Jahre 50 Prozent. Die Langzeitarbeitslo-
Prozentsatz aller Arbeitslosen
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40 30 20 10 0
<5 10–14 15–26 27+ Dauer der Arbeitslosigkeit, 2003 (in Wochen)
Abbildung 31-7: In den Vereinigten Staaten sind die meisten Menschen nur kurzfristig arbeitslos Wie lange dauert die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt? Anfang 2003, kurz nach einer Rezession und in einer Phase langsamen Wirtschaftswachstums, waren nur 18 Prozent der Arbeitslosen länger als 26 Wochen ohne Stelle, während 35 Prozent weniger als fünf Wochen unbeschäftigt waren. In Zeiten der Rezession nimmt die Dauer der Arbeitslosigkeit zu. In europäischen Ländern mit unbeweglichen Arbeitsmärkten sind über die Hälfte aller Arbeitslosen seit über einem Jahr ohne Stelle. Quelle: Bureau of Labor Statistics, Employment Situation Summary, Februar 2003, verfügbar unter www.bls.gov/cps/home.htm#news.
sigkeit stellt ein schwerwiegendes soziales Problem dar, weil die Mittel, die den Haushalten zur Verfügung stehen – Ersparnisse, Arbeitslosengeld und gegenseitige Unterstützung – nach einigen Monaten erschöpft sind.
Gründe der Arbeitslosigkeit Warum sind Menschen arbeitslos? Abbildung 31-8 zeigt die Antworten, die Befragte im Rezessionsjahr 1982 und 2000, einem Jahr der Vollbeschäftigung, auf die Frage nach dem Grund ihrer Arbeitslosigkeit gaben. Ein gewisser Teil ist immer Sucharbeitslosigkeit aufgrund von Änderungen des Wohnortes oder der Lebensphase – ein Umzug, der Ersteinstieg ins Erwerbsleben und so weiter. Die größten Schwankungen der Arbeitslosenquote ergeben sich im Zeitverlauf durch die unterschiedliche Zahl an Arbeitslosen, die aufgrund einer Kündigung ihre Stelle
919
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
Gründe der Arbeitslosigkeit
Rezession
(% der Erwerbsbevölkerung)
Stelle verloren
5,7
Hochkonjuktur
1,8
Stelle verloren
1,3
Wiedereinstieg
0,8
0,3 0,5
Neuzugang Ausscheiden
1982
2000
Wiedereinstieg
2,2
Neuzugang
1,1
Ausscheiden
Abbildung 31-8: Gründe für die Arbeitslosigkeit, 1982 und 2000 Warum wird man arbeitslos? In einem Jahr der Vollbeschäftigung wie 2000 waren nur sehr wenige Menschen arbeitslos, weil sie ihre Stelle aufgegeben hatten, und fast 2 Prozent waren Neuzugänge auf dem Arbeitsmarkt (beispielsweise College-Abgänger) oder Menschen, die ins Berufsleben zurückkehrten. Die Hauptänderung beim Wechsel von Hochkonjunktur zu Rezession besteht jedoch in der Anzahl derer, die ihre Stelle verlieren. Von 1982–2000 sank der Anteil derjenigen, die arbeitslos wurden, weil sie ihre Stelle verloren, von 5,7 Prozent auf 1,8 Prozent. Quelle: US-Arbeitsministerium, verfügbar unter www.bls.gov/data.
verlieren. In Rezessionszeiten nimmt die Arbeitslosenquote aus zwei Gründen enorm zu: Erstens steigt die Zahl jener, die ihren Job verlieren, und zweitens dauert es länger, einen neuen Arbeit zu finden.
Arbeitslosigkeit nach Altersgruppen Wie unterschiedlich ist die Arbeitslosenquote je nach Lebensphase? Von allen Bevölkerungsgruppen leiden Jugendliche generell unter der höchsten Arbeitslosigkeit, und unter farbigen Teenagern lag in den letzten Jahren die Arbeitslosenquote zwischen 30 und 50 Prozent. Handelt es sich dabei um eine friktionelle, eine strukturelle oder eine konjunkturelle Arbeitslosigkeit?
Es gibt in letzter Zeit Hinweise darauf, dass vor allem unter den Weißen die Jugendarbeitslosigkeit eine bedeutende friktionelle Komponente aufweist. Teenager bewegen sich äußerst flexibel auf dem Arbeitsmarkt. Sie bekommen leicht eine Stelle, die sie aber auch häufig wieder aufgeben. Die durchschnittliche Dauer der Jugendarbeitslosigkeit beträgt nur die Hälfte der Arbeitslosigkeitsdauer unter Erwachsenen. Die typische Beschäftigungsdauer eines Erwachsenen in einem Job ist etwa zwölfmal länger als die eines Jugendlichen. In den meisten statistisch erfassten Jahren handelt es sich bei der Hälfte der Jugendlichen um „Neuzugänge“, die noch nie zuvor eine bezahlte Stelle hatten. Alle diese Faktoren lassen darauf schließen,
920
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Arbeitslosenquote (in % der Erwerbsbevölkerung) Alter
Weiße
Farbige
16–17
15,2
31,1
18–19
11,1
27,8
20–24
6,9
16,2
25–34
4,1
8,1
35–44
3,2
6,4
45–54
2,8
4,8
55–64
2,9
3,9
65–69
2,9
4,8
70–74
2,8
3,1
75 und darüber
2,8
3,3
Tabelle 31-4: Arbeitslosenquote für unterschiedliche Altersgruppen, USA, 2001 Nach diversen Stellensuchen und aufgrund zunehmender Berufserfahrung entscheiden sich Arbeitskräfte schließlich für einen bestimmten Beruf; meistens bleiben sie erwerbstätig und finden irgendwann den von ihnen bevorzugten Arbeitgeber. Infolgedessen sinkt die Arbeitslosenquote für ältere Personen auf einen Bruchteil der Jugendarbeitslosigkeit. Quelle: US-Arbeitsministerium, Employment and Earnings, Januar 2003.
dass Jugendarbeitslosigkeit zu einem hohen Prozentsatz friktioneller Natur ist. Das bedeutet, dass sie die Stellensuche der jungen Leute, die erst ihre persönlichen Fähigkeiten erkennen und ausbilden müssen, und deren häufigen Arbeitsplatzwechsel widerspiegelt. Aber auch Jugendliche erwerben irgendwann die Fähigkeiten und Arbeitsgewohnheiten erfahrener Arbeitskräfte. Tabelle 31-4 zeigt die Arbeitslosenquote für verschiedene Altersstufen und getrennt für Farbige und Weiße im Jahre 2001. Zunehmende Erfahrung und Ausbildung sowie der stärkere Wunsch und die Notwendigkeit, eine Vollzeitstelle anzunehmen, sind der Grund dafür, dass unter den Arbeitnehmern der mittleren Altersgruppen bedeutend weniger Arbeitslosigkeit herrscht als unter Teenagern.
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Jugendarbeitslosigkeit und Minderheiten. Während vieles auf einen hohen Anteil von Sucharbeitslosigkeit unter den weißen Jugendlichen hindeutet, sieht es auf dem Arbeitsmarkt für junge Afroamerikaner ganz anders aus. Während des ersten Jahrzehnts nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Arbeitsmarktdaten für schwarze Teenager mit denen weißer Jugendlicher fast identisch. Danach kam es allerdings zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosenquote unter den schwarzen Jugendlichen gegenüber der Vergleichsgruppe, während gleichzeitig ihr Anteil an der Erwerbsbevölkerung rückläufig war. Im Jahr 2001 hatten 25 Prozent der schwarzen Teenager (im Alter von 16–19 Jahren) eine Arbeitsstelle, im Vergleich zu 42 Prozent der weißen Jugendlichen. Abbildung 31-9 vergleicht die Arbeitslosenquote unter schwarzen Jugendlichen mit derjenigen der weißen sowie mit jener aller weißen männlichen Arbeiter. Was führte zu dieser außerordentlich unterschiedlichen Erfahrung Jugendlicher aus Minderheiten im Vergleich mit anderen Gruppen? Eine Erklärung könnte lauten, dass die Kräfte des Arbeitsmarktes (wie Arbeitsplatzstruktur oder lokales Stellenangebot) im Allgemeinen nachteilig für farbige Arbeiter waren. Diese Erklärung ist jedoch nicht hinreichend. Obwohl die Arbeitslosenquote unter schwarzen erwachsenen Erwerbstätigen immer höher lag als unter ihren weißen Kollegen – wegen schlechterer Schulbildung, geringeren Kontakten zu den Leuten, die Stellen zu vergeben haben, geringerer Berufserfahrung und -ausbildung und wegen Rassendiskriminierung –, hat sich das Verhältnis zwischen schwarzer und weißer Arbeitslosigkeit seit dem Zweiten Weltkrieg insgesamt nicht verändert. Zahlreiche Studien über die Gründe für die steigende Jugendarbeitslosigkeit unter Schwarzen konnten keine wirklich schlüssige Erklärung für diesen Trend bieten. Eine mögliche Antwort wäre die Diskriminierung, doch eine gestiegene Diskrepanz in der Beschäftigung von Schwarzen und Weißen wür-
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Arbeitslosenquote (Prozent der jeweiligen Gruppe der Arbeitnehmer)
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
60
Afroamerikanische Teenager Weiße Teenager Weiße, männliche Erwachsene
50
40
30
20
10
0 1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahr
Abbildung 31-9: Arbeitslosigkeit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen Die Arbeitslosenquote von Jugendlichen, insbesondere der farbigen, liegt schon seit langem über derjenigen der Erwachsenen. Der lange Wirtschaftsaufschwung während der neunziger Jahre senkte auch die Arbeitslosigkeit unter farbigen Teenagern, doch die anschließende Rezession und das langsame Wachstum seit dem Jahr 2000 hat sie wieder erhöht. Quelle: US-Arbeitsministerium, verfügbar unter www.bls.gov/cps/cpsatabs.htm.
de eine zunehmende Neigung zur Diskriminierung voraussetzen – obwohl es heute einen verbesserten gesetzlichen Schutz für Arbeitskräfte aus Minderheiten gibt. Eine andere Theorie besagt, dass überhöhte Mindestlöhne die in wenig produktiven Bereichen tätigen schwarzen Jugendlichen in die Arbeitslosigkeit abdrängen. Das geänderte Verhältnis zwischen Mindestlohn und Durchschnittslohn ermöglicht es uns, diese Hypothese zu überprüfen. Zwischen 1981 und 1989 war ein Rückgang des Verhältnisses von Mindest- zu Durchschnittslohn außerhalb des landwirtschaftlichen Sektors von 46 Prozent auf 34 Prozent zu verzeichnen, doch es kam zu keiner Verbesserung der relativen Arbeitsmarktsituation für schwarze Jugendliche. Die Tatsache, dass hier keine Verbesserung eintrat, lässt uns am Mindestlohn als dem Hauptverdächtigen zweifeln. Einige konservative Kritiker des Wohlfahrtsstaates
machen die Kultur der Abhängigkeit vom Staat, die durch die staatliche Unterstützung von Mittellosen erzeugt wird, für die höhere Arbeitslosigkeit der Schwarzen verantwortlich, obwohl sie für ihre Thesen kaum stichhaltige Daten vorlegen können. Führt die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu einer langfristigen Beeinträchtigung des Arbeitsmarktes mit einem permanent niedrigeren Niveau sowohl der Fertigkeiten als auch der Löhne? Diese Frage wird derzeit intensiv untersucht, und eine erste vorsichtige Antwort scheint Ja zu lauten, vor allem was Jugendliche aus Minderheiten anbelangt. Es scheint so, als würden Jugendliche, die keine Möglichkeit haben, spezielle Fertigkeiten in ihrem Job und die entsprechende Arbeitseinstellung zu entwickeln, auch in höherem Alter weniger verdienen und als wären sie eher in Gefahr, arbeitslos zu werden. Diese Feststellung lässt den Schluss zu, dass es für den
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Staat von größter Bedeutung sein muss, Programme zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit unter den Minderheitengruppen einzuführen. Arbeitslosigkeit: In Europa hoch, in den USA niedrig Während die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten während der neunziger Jahre einen außerordentlichen Tiefstand erreichte, stieg sie in Europa während der letzten drei Jahrzehnte deutlich an. Den vormaligen europäischen Wirtschaftslokomotiven Deutschland und Frankreichen ist es während des letzten Jahrzehnts nicht gelungen, ihre Arbeitslosenquote unter 8 Prozent zu senken. Abbildung 31-10 zeigt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den beiden Regionen. Wie lassen sich die unterschiedlichen Entwicklungen erklären? Teilweise sind sie vermutlich auf unterschiedliche makroökonomische Maßnahmen zurückzuführen. Die Vereinigten Staaten haben eine Zentralbank, die Federal Reserve, welche die amerikanische Wirtschaft sorgfältig beobachtet. Wenn die Arbeitslosigkeit zu steigen beginnt, wie beispielsweise 1982 und 1991, betreibt die Fed eine expansive Geldpolitik, um die Gesamtnachfrage anzuregen, die Produktion zu erhöhen und den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bremsen. Bis vor kurzem ergriffen die Zentralbanken der verschiedenen europäischen Länder unterschiedliche Maßnahmen. Bis 1999 wurde die Geldpolitik in den Ländern der Europäischen Union von den Aktionen der Deutschen Bundesbank dominiert. Diese Institution war fast völlig unabhängig und verfolgte als Hauptziel die Preisstabilität in Deutschland. Als die Arbeitslosigkeit nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 im übrigen Europa zunahm und gleichzeitig in Deutschland die Inflation stieg, erhöhte die Bundesbank die Zinssätze. Dies senkte überwiegend die Produktion und erhöhte die Arbeitslosigkeit in Ländern, deren Geldpolitik eng an die deutsche gebunden war. Man kann die Auswirkungen in der steigenden Arbeitslosigkeit in Europa nach 1990 beobachten.
Teil 7
Ein zweites europäische Phänomen ist die wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit. Europa ist die Heimat des Wohlfahrtsstaates, und Länder wie Deutschland, Frankreich und Schweden führten großzügige Sozialleistungen und Arbeitslosenversicherungen ein, Mindestlöhne und einen Kündigungsschutz für Erwerbstätige. Derartige Maßnahmen führen üblicherweise zu einem Anstieg der Reallöhne, denn sie stärken die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer und machen die Nichterwerbstätigkeit attraktiver. Menschen, die Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld kassieren, sind unter Umständen freiwillig arbeitslos; sie werden in den Statistiken aber als tatsächliche Arbeitslose ausgewiesen. Die Vereinigten Staaten sind in Bezug auf das Arbeitslosengeld und Sozialhilfe weniger großzügig, und in den kommenden Jahren wird die Sozialhilfe aufgrund von Gesetzesänderungen sogar noch weniger attraktiv werden als eine bezahlte Beschäftigung. Anhand unseres Angebots- und Nachfragediagramms in Abbildung 31-6 können wir die unterschiedliche Entwicklung der Volkswirtschaften verdeutlichen. Der amerikanische Arbeitsmarkt gleicht einer Volkswirtschaft mit flexiblen Löhnen und Gehältern, wie in Diagramm (a) dargestellt. Ein Rückgang der Arbeitsnachfrage wird zu einem Gleichgewicht in Punkt E führen. Im Gegensatz dazu entspricht die unbeweglichere Situation in Europa eher 31-6(b). In Europa sind die Reallöhne nicht so stark gesunken wie in den Vereinigten Staaten, dafür ist aber die Arbeitslosigkeit in die Höhe geschnellt und die Zahl der Erwerbstätigen nur langsam gestiegen. Wie kann man die hohe Arbeitslosigkeit in Europa bekämpfen? Manche Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass die neue Europäische Zentralbank ein besseres Gleichgewicht zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage in der Region schaffen kann. (Erinnern Sie sich an unsere Diskussion der Europäischen Währungsunion in Kapitel 30.) Eine Ankurbelung der Nachfrage wird jedoch nur wenig zur Beseitigung der strukturellen Arbeitslosigkeit beitragen. Viele Experten vertreten die Auf-
923
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
fassung, dass der europäische Arbeitsmarkt gründlich überholt werden muss, mit einem Abbau großzügiger Sozialleistungen und Arbeitslosengelder sowie der Beseitigung von Einschränkungen bezüglich der Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften. In manchen Ländern sind bereits allmähliche schmerzliche Reformen eingeführt
worden. Diese Maßnahmen haben zusammen mit einer expansiven Geldpolitik, einem Kursverlust des Euro und der Zugkraft der amerikanischen Wirtschaftslokomotive einen langsamen Rückgang der hohen Arbeitslosigkeit in Europa eingeleitet.
12
Arbeitslosenquote (in %)
10 8 USA 6 4
Europa
2 0 1960
1965
1970
1975
1980 1985 Jahr
1990
1995
2000
2005
Abbildung 31-10: Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten und Europa Während sich die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten um einen zyklischen Trend herum bewegt, ist die Arbeitslosigkeit in Europa während der letzten drei Jahrzehnte deutlich angestiegen. Ein Teil dieses Anstiegs ist durch eine Nachfrageschwäche bedingt, doch die Hauptschuld daran trägt die mangelnde Flexibilität des europäischen Arbeitsmarktes in Verbindung mit großzügigen Sozialleistungen. Quelle: US-Arbeitsministerium und OECD.
Zusammenfassung A. Die Grundlagen des gesamtwirtschaftlichen Angebots 1.
Das gesamtwirtschaftliche Angebot (Gesamtangebot) beschreibt das Verhältnis zwischen der Produktionsmenge, die die Unternehmen freiwillig produzieren, und dem allgemeinen Preisniveau, vorausgesetzt, alle anderen Faktoren bleiben gleich. Die dem gesamtwirtschaftlichen Angebot zugrunde liegenden Faktoren sind: (a) die potenzielle Produktionsleistung, bestimmt durch die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und natürliche Ressourcen, die einer Wirtschaft zur Verfügung stehen, sowie durch die verfügbare Technologie oder Effizienz, mit der diese Produktions-
2.
faktoren eingesetzt werden, und (b) die Faktorkosten wie beispielsweise Löhne, Energiekosten sowie Importpreise. Änderungen dieser zugrunde liegenden Faktoren führen zu einer Verschiebung der AS-Kurve. Zwei wichtige Ansätze zur Ermittlung der Produktionsmenge sind die klassische und die keynesianische Methode. Nach klassischer Ansicht sind Preise und Löhne flexibel, sodass jedes überschüssige Angebot oder jeder Nachfrageüberhang rasch ausgeglichen wird, wobei nach einer plötzlichen Erschütterung der AD- oder AS-Kurve wieder Vollbeschäftigung eintritt. Diese klassische Ansicht wird durch eine senkrecht verlaufende AS-Kurve dargestellt. Nach keynesianischer Ansicht sind Prei-
924
3.
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
se und Löhne kurzfristig unbeweglich, was auf vertragliche Bindungen wie die allseits üblichen Kollektivverträge zurückzuführen ist. Diesem Wirtschaftsmodell zufolge reagiert die Produktionsmenge auf ein höheres Gesamtnachfrageniveau positiv, weil diese Theorie eine relativ flach verlaufende AS-Kurve unterstellt, insbesondere bei geringen Produktionsmengen. Nach der keynesianischen Variante kann eine Wirtschaft auch lange Perioden hartnäckiger Arbeitslosigkeit durchlaufen, weil sich Löhne und Preise nur langsam an konjunkturell bedingte Erschütterungen anpassen und nur allmählich ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht hergestellt wird. Eine Synthese der klassischen und der keynesianischen Ansicht unterscheidet zwischen lang- und kurzfristiger Entwicklung. Kurzfristig verläuft die AS-Kurve nach oben, weil Löhne und Preise nicht genügend Zeit haben, sich vollständig anzupassen, was den Schluss zulässt, dass die Unternehmen bei einem höheren Preisniveau mehr produzieren und anbieten werden. Langfristig jedoch haben Löhne und Preise genügend Zeit, sich den Veränderungen vollständig anzupassen, weshalb wir die langfristige AS-Kurve als senkrechte oder klassische Kurve behandeln können. Langfristig wird die Produktionsmenge daher durch die potenzielle Produktionsleistung eines Landes bestimmt, und die Gesamtnachfrageentwicklung wirkt sich eher auf die Preise als auf die Menge aus.
6.
7.
8.
B. Arbeitslosigkeit 4.
5.
Der US-amerikanische Staat erhebt allmonatlich mittels einer Zufallsstichprobe statistische Daten über die Arbeitslosenzahlen, den Arbeitsmarkt und die Erwerbsbevölkerung. Menschen mit einer bezahlten Arbeit werden als Erwerbstätige, stellenlose Arbeitsuchende als Arbeitslose, nicht Arbeitsuchende ohne Stelle als Nichterwerbspersonen geführt. In den letzten zehn Jahren zählten 66 Prozent der Bevölkerung über 16 zur Erwerbsbevölkerung, und 6 Prozent der Erwerbsbevölkerung waren arbeitslos. Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Veränderungen der Produktionsleistung und der Arbeitslosenquote im Verlauf des Konjunkturzyklus. Laut dem Okunschen Gesetz steigt die Arbeitslosenquote pro 2 Prozent Abweichung des tatsächlichen vom potenziellen BIP um einen Prozentpunkt. Diese Regel ist für die Übertragung konjunkturell bedingter
9.
Teil 7
Veränderungen des BIP auf den Arbeitsmarkt nützlich. Rezessionen und die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit sind für eine Volkswirtschaft extrem kostspielig. Längere Rezessionsperioden wie jene während der siebziger und frühen achtziger Jahre kosteten die USA Hunderte von Milliarden US-Dollar und waren auch aus sozialer Sicht überaus schädlich. Obwohl die Arbeitslosigkeit den Kapitalismus seit den Tagen der industriellen Revolution plagt, können wir deren Ursachen und Kosten erst mithilfe der modernen makroökonomischen Theorie verstehen. Ökonomen teilen die Arbeitslosigkeit in drei Kategorien ein: (a) friktionelle oder Sucharbeitslosigkeit, die entsteht, wenn Arbeitskräfte ihre Stelle wechseln, neu zur Erwerbsbevölkerung stoßen oder aus dieser ausscheiden; (b) strukturelle Arbeitslosigkeit, ein Begriff, der sich auf Arbeitskräfte in Regionen oder Branchen bezieht, die aufgrund eines Ungleichgewichts am Arbeitsmarkt oder wegen hoher Reallöhne benachteiligt sind; und (c) konjunkturelle Arbeitslosigkeit, eine Kategorie, unter die jene Erwerbsfähigen fallen, die im Zuge einer allgemeinen Rezession ihre Arbeit verlieren. Die Benennung der Ursachen von Arbeitslosigkeit hat sich als eines der größten Probleme der modernen Makroökonomik erwiesen. Ein Teil der Arbeitslosigkeit (häufig als freiwillige Arbeitslosigkeit bezeichnet) tritt in einer Wirtschaft mit flexiblen Löhnen und vollkommenem Wettbewerb auf, wenn es qualifizierte Arbeitskräfte vorziehen, zum gängigen Lohn nicht zu arbeiten. Freiwillige Arbeitslosigkeit könnte das effiziente Ergebnis eines vollkommenen Marktes sein. Die Theorie unbeweglicher Löhne und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit besagt, dass die nur langsame Anpassung von Löhnen und Gehältern zu einem Überangebot beziehungsweise einem zu knappen Angebot an Arbeit in einzelnen Märkten führt. Laut dieser Theorie kommt es zu konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit aufgrund mangelnder Flexibilität der Löhne, die sich an ein Überangebot oder eine Knappheit des Faktors Arbeit nicht rasch genug anpassen. Liegen die Löhne über dem Markträumungsniveau, werden zwar einige Arbeitskräfte eingestellt, andere qualifizierte Arbeitskräfte können jedoch keine Stelle finden. Diese Art der Arbeitslosigkeit ist ebenso unfreiwillig wie ineffizient; sowohl Arbeitskräfte als auch Un-
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
ternehmen würden von angemessenen geldund fiskalpolitischen Maßnahmen profitieren. 10. Ein Grund dafür, dass die Markträumung am Arbeitsmarkt ausbleibt, liegt in der kostspieligen Verwaltung von Lohn- und Gehaltssystemen. Eine häufige Anpassung des Arbeitsentgelts an die Marktbedingungen würde den Managern zu viel Zeit abverlangen und den Vorstellungen der Erwerbstätigen von einem fairen Lohnsystem zuwiderlaufen, was sich schädlich auf Arbeitsmoral und Produktivität auswirken würde. Langfristig betrachtet passen sich Löhne und Gehälter durchaus an und beseitigen eine zu hohe Arbeitslosigkeit oder ein Überangebot an offenen Stellen. Aufgrund der langsamen Anpassung der Arbeitsentgelte kann es jedoch in einzelnen Volkswirtschaften zu langanhaltenden Perioden der Arbeitslosigkeit kommen. 11. Ein sorgfältiger Blick auf die Arbeitslosenstatistiken wirft einige Unregelmäßigkeiten auf: a. Rezessionen betreffen alle Gruppen mehr oder weniger gleich stark – was bedeutet, dass die Arbeitslosenquote aller Gruppen
b.
c.
d.
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proportional zur Gesamtarbeitslosenquote steigt oder fällt. Ein beträchtlicher Teil der Arbeitslosigkeit in den USA ist nur kurzfristiger Natur. In Jahren mit geringer Arbeitslosigkeit (etwa 1999) waren etwa 85 Prozent der Arbeitslosen weniger als 26 Wochen lang arbeitslos. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit steigt in tiefen und langen Rezessionen stark an. In den meisten Jahren ist die Ursache für einen Großteil der Arbeitslosigkeit in einfachen Fluktuationen oder Arbeitssuche zu sehen, wenn beispielsweise Menschen erstmals Arbeit suchen oder nach einer Pause einen Wiedereintritt ins Berufsleben anstreben. Nur in Rezessionszeiten besteht das Heer der Arbeitslosen primär aus Menschen, die ihre Stelle verloren haben. Die Gründe für die lang anhaltende Arbeitslosigkeit in Europa scheinen eine schwache Gesamtnachfrage und die inflexiblen Bedingungen auf den Arbeitsmärkten zu sein.
Begriffe zur Wiederholung Grundlagen des gesamtwirtschaftlichen Angebots Gesamtangebot, AS-Kurve Faktoren, die dem Gesamtangebot zugrunde liegen und dieses verschieben Gesamtangebot: Rolle der potenziellen Produktionsleistung und der Produktionskosten Kurzfristige und langfristige AS-Kurve Klassische und keynesianische Vorstellungen vom Gesamtangebot Flexible und unbewegliche Löhne, Gehälter und Preise
Arbeitslosigkeit Bevölkerungsstatistik: Arbeitslose Erwerbstätige Erwerbsbevölkerung Nichterwerbspersonen Arbeitslosenquote Friktionelle (Such-), strukturelle und konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit Okunsches Gesetz Arbeitslosigkeit bei flexiblen Löhnen (Markträumung) verglichen mit Arbeitslosigkeit bei unbeweglichen Löhnen (keine Markträumung) Freiwillige oder unfreiwillige Arbeitslosigkeit
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Eine vergleichsweise neue Untersuchung, die auf der Befragung von Unternehmen hinsichtlich ihrer Beschäftigungspraktiken gründet und zum Verständnis des zyklischen Verhaltens von Löhnen und Gehältern beiträgt, ist Truman F. Bewley, Why Wages Don’t Fall during a Recession (Harvard University Press, Cambridge, Mass., 2000). Deutschsprachige Literatur: Manfred Neumann, Theoretische Volkswirtschaftslehre, Bd. 1: Makroökonomische Theorie: Beschäftigung, Inflation und Zahlungsbilanz, 5. Aufl. (Vahlen, München, 1996); Wolf Schäfer, „Arbeitslosigkeit in Deutschland: Wer wagt es wieder mal mit Keynes“, in: Ulrich Steinvorth und Gerd Brudermüller (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und die Möglichkeiten ihrer Überwindung (Königshausen & Neumann, Würzburg, 2004), S. 101–111; Jan-Oliver Wenzel, „Arbeitslosigkeit in der OECD und die Suche nach ihren Ursachen: Ein Überblick über erklärende Faktoren in neu-keynesianischen Empiriemodellen“, sowie Winfried Vogt, „Makroökonomische Auswirkungen von beschränkter Marktmacht auf dem Güterund Arbeitsmarkt“, beide in: Jörg Flemmig (Hrsg.), Moderne Makroökonomie – eine kritische Bestandsaufnahme (Metropolis, Marburg, 1995).
Websites Untersuchungen von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten veröffentlicht das Bureau of Labor Statistics (BLS) unter www.bls.gov. Statistiken über die Arbeitslosigkeit in Europa und anderen OECD-Ländern finden sich unter www.oecd.org. Auf der Website des BLS findet man auch die Online-Version der The Monthly Labor Review (www.bls.gov/opub/mlr/mlrhome.htm), die eine ausgezeichnete Quelle für Untersuchungen zu den Themen Beschäftigung, Arbeitsmarkt und Arbeitsentgelte darstellt. Hier finden sich beispielsweise ein Artikel über „Arbeitsverhandlungen im Baseball“ (www.bls.gov/opub/mlr/2002/12/contents.htm), aber auch eine wirtschaftliche Untersuchung über die Karriereaussichten von Frauen, die den Anwaltsberuf anstreben (www.bls.gov/opub/mlr/2002/08/ contents.htm).
Übungen 1.
2.
3.
Erläutern Sie sorgfältig, was man unter der Gesamtangebotskurve versteht. Unterscheiden Sie zwischen Bewegungen entlang der Kurve und Verschiebungen der Kurve. Wie könnte die Produktionsleistung durch eine Bewegung entlang der AS-Kurve erhöht werden? Was könnte die Produktionsleistung durch eine Verschiebung der AS-Kurve erhöhen? Erstellen Sie als Gegenstück zu Tabelle 31-1 eine neue mit Ereignissen, die zu einer Abnahme des Gesamtangebots führen könnten. (Verwenden Sie nicht die gleichen Beispiele, sondern bemühen Sie Ihre Fantasie.) Wie, wenn überhaupt, würde die AS-Kurve auf jedes der folgenden Ereignisse sowohl kurzwie langfristig reagieren, wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben? a. Die potenzielle Produktionsleistung steigt um 25 Prozent. b. Wegen eines drohenden Krieges erhöht die Regierung die Verteidigungsausgaben,
4.
und die Zentralbank betreibt eine restriktive Geldpolitik, um die Expansionswirkung zu dämpfen. c. Die erfolgreiche Umsetzung von Geheimabsprachen unter den OPEC-Ländern verdreifacht die Ölpreise am Weltmarkt. d. Umweltschützer bewegen Regierungen dazu, für Neuinvestitionen und den Energieverbrauch teure Regulierungen einzuführen und die Ausbeute natürlicher Ressourcen zu drosseln. Nehmen Sie an, die Arbeitslosenquote betrüge 7 Prozent und das BIP läge bei US-$ 4.000 Milliarden. Wie hoch schätzen Sie ungefähr das potenzielle BIP, wenn die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit bei 5 Prozent liegt? Nehmen Sie an, das potenzielle BIP wüchse jährlich um 3 Prozent. Wie hoch wird das potenzielle BIP in zwei Jahren sein? Wie schnell muss das tatsächliche BIP wachsen, um in zwei Jahren das potenzielle BIP zu erreichen?
Kapitel 31 Arbeitslosigkeit und die Grundlagen des Gesamtangebots
5.
6.
Wie ist jede der folgenden Personen oder Gruppen in Bezug auf das Erwerbsleben einzustufen? a. Ein Jugendlicher, der auf der Suche nach seiner ersten Stelle Bewerbungen verschickt. b. Ein Kfz-Arbeiter, der entlassen wurde und gerne wieder arbeiten möchte, aber jede Hoffnung aufgegeben hat, eine neue Stelle zu finden oder von seinem ehemaligen Betrieb wieder eingestellt zu werden. c. Ein Rentner, der nach Florida umgezogen ist und nun auf Anzeigen reagiert, weil er eine Teilzeitstelle sucht. d. Ein Vater oder eine Mutter mit einer Teilzeitstelle, der oder die ganztags arbeiten möchte, aber keine Zeit hat, eine entsprechende Stelle zu suchen. e. Ein Lehrer mit einer festen Stelle, der zum Arbeiten zu krank ist. Zur Erläuterung seiner Vorgehensweise (Befragung von Menschen aufgrund einer Zufallsstichprobe) gibt das Arbeitsministerium folgende Beispiele an: a. „Joan Howard erzählte dem Interviewer, sie habe sich bei drei Unternehmen um einen Ferienjob beworben. Es ist aber erst April, und sie möchte nicht vor dem 15. Juni die Arbeit aufnehmen, weil sie bis dahin noch zur Schule geht. Obgleich sie konkrete Schritte unternommen hat, eine Stelle zu finden, wird sie nicht zu den Erwerbstätigen gerechnet, weil sie momentan keine Arbeit annehmen kann oder will.“ b. „James Kelly und Elyse Martin gehen auf die Jefferson High School. James arbeitet nach der Schule im North Star Café, und Elyse bemüht sich dort um eine Teilzeitstelle (auch nach der Schule). Die Arbeit von James zählt für die Statistik mehr als seine schulischen Aktivitäten, genauso wie
7.
8.
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Elyses Bemühungen, eine Stelle zu finden; daher wird James zu den Erwerbstätigen und Elyse zu den Arbeitslosen gezählt.“ Erläutern Sie diese Beispiele. Machen Sie eine Umfrage unter Ihren Kommilitonen. Bitten Sie diese, sich anhand der erwähnten Beispiele selbst in die Gruppen Nichterwerbsperson, erwerbstätig und arbeitslos einzuordnen. Nehmen Sie an, der Kongress beabsichtigte die Verabschiedung eines Mindestlohngesetzes, das den Mindestlohn für Jugendliche über dem Markträumungsniveau, jedoch unter demjenigen für erwachsene Arbeitskräfte ansetzt. Zeigen Sie mithilfe von Angebots- und Nachfragediagrammen die Auswirkungen einer Einführung dieses Mindestlohns auf den Beschäftigungsstand, die Arbeitslosigkeit und die Einkommen beider Gruppen von Arbeitskräften. Handelt es sich um eine freiwillige oder unfreiwillige Arbeitslosigkeit? Was würden Sie dem Kongress empfehlen, müssten Sie sich zu diesem Gesetzesentwurf äußern? Sind die volkswirtschaftlichen Kosten und der persönliche Stress eines Jugendlichen, der einen Sommermonat lang arbeitslos bleibt, Ihrer Meinung nach größer oder kleiner als die eines Haushaltsvorstands, der ein Jahr lang arbeitslos ist? Sollten die politischen Maßnahmen im Hinblick auf diese beiden Gruppen unterschiedlich sein? Führen Sie Gründe auf, warum die Arbeitslosigkeit sich in den Vereinigten Staaten ganz anders darstellt als in Europa. Zeigen Sie anhand der Darstellung in Abbildung 31-6, wie (a) ein Rückgang der Arbeitsnachfrage zu einer unveränderten Arbeitslosigkeit, aber niedrigeren Löhnen in den USA mit ihren flexiblen Löhnen und Gehältern führen würde, aber (b) zu einer niedrigeren Beschäftigungsquote, höherer Arbeitslosigkeit und unveränderten Löhnen in Europa mit seiner inflexiblen Lohnstruktur.
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KAPITEL 32 Die Sicherung der Preisstabilität
Lenin soll angeblich gesagt haben, die beste Methode zur Zerstörung des kapitalistischen Systems sei die Aushöhlung der Währung. Mittels einer anhaltenden Inflation können Regierungen heimlich, still und leise einen beträchtlichen Teil des Vermögens ihrer Bürger konfiszieren. J. M. Keynes
Seit einigen Jahren herrscht in den Vereinigten Staaten eine niedrige und relativ unveränderte Inflationsrate, wie man sie weder in der Geschichte des Landes noch in anderen entwickelten Industriestaaten bisher beobachtet hat. Diese Erfahrung verdanken wir hauptsächlich dem Erfolg der Geldpolitik in ihrem Bemühen, die Produktion in einem engen Korridor zwischen überhöhter Inflation und drohender Rezession zu halten. Teilweise beruht die niedrige Inflation auf dem gemäßigten Anstieg von Löhnen und Gehältern, der auf einen Rückgang gewerkschaftlich organisierter Arbeit zurückzuführen ist, auf dem höhere Durchschnittsalter der Beschäftigten sowie auf deren verstärkter Lohnzurückhaltung angesichts aggressiver Kostensenkungsmaßnahmen des Managements. Zur Inflationsdämpfung trugen auch der massive Preisverfall von Computern und anderen Produkten der New Economy sowie die relative Ruhe an den Öl- und sonstigen Rohstoffmärkten bei. Ein neuer Einflussfaktor auf die Inflation war die zunehmende „Globalisierung“ der Produktion. Mit der wachsenden Integration der Vereinigten Staaten in die Weltmärkte mussten die einheimischen Firmen feststellen, dass ihren Preisen aufgrund des Drucks internationaler Wettbewerber nach oben hin Schranken gesetzt waren. Selbst als die Inlandsverkäufe von Kraftfahrzeugen Rekordhöhen erreichten, konnten die einheimischen Automobilhersteller ihre Preise nur geringfügig anheben – aus Furcht, Marktanteile an die Japaner und andere ausländische Anbieter zu verlieren. Diese Einflussfaktoren auf die amerikanische Wirtschaft haben während der letzten zwei Jahrzehnte für eine nur mäßige Inflationsrate gesorgt. Andere Länder waren jedoch in einer weniger glücklichen Lage. In diesem Kapitel werden Bedeutung und Bestimmungsfaktoren der Inflation untersucht und damit verknüpfte bedeutende wirtschaftspolitische Themen beschrieben. Abbildung 32-1 gibt eine Übersicht über dieses Kapitel.
930
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Wechselwirkung zwischen AS und AD
Teil 7
Arbeitslosigkeit
Preise und Inflation
Abbildung 32-1: Die Inflation stellt eine tief greifende Belastung für die Wirtschaftspolitik dar Welche Auswirkungen hat die Inflation auf die Wirtschaft? Welche Einflussfaktoren führen zu einer anhaltenden Inflation? Wie können Regierungen die Inflation niedrig halten? Diese Fragen sind für die heutige makroökonomische Theorie und Wirtschaftspolitik überaus bedeutend.
A. Definition und Auswirkungen der Inflation Was ist Inflation? In Kapitel 21 wurden die wichtigsten Preisindizes beschrieben und die Inflation definiert, aber eine kurze Wiederholung kann nur nützlich sein:
die Inflation anhand von Preisindizes berechnet – gewichteten Durchschnitten der Preise von tausenden Einzelprodukten. Der Verbraucherpreisindex (VPI) vergleicht die Kosten eines ganzen Korbes von Konsumwaren und -dienstleistungen mit denjenigen des gleichen Korbes in einem Basisjahr. Der BIPDeflator ist sozusagen der Preis des Bruttoinlandsprodukts. Die Inflationsrate ist die prozentuale Veränderung des Preisniveaus: Inflationsrate (im Jahr t)
Man spricht von Inflation, wenn das allgemeine Preisniveau steigt. Heutzutage wird
Preisniveau (Jahr t) – Preisniveau (Jahr t – 1) = --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- × 100 Preisniveau (Jahr t – 1)
931
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
Wenn Ihnen die Definitionen nicht mehr geläufig sind, blättern Sie noch einmal zu Kapitel 21 zurück.
Die Geschichte der Inflation Die Inflation ist so alt wie die Marktwirtschaft selbst. In Abbildung 32-2 ist die Preisentwicklung in England seit dem 13. Jahrhundert dargestellt. Wie wir aus dem Verlauf der rostfarbenen Kurve ersehen, sind die Preise langfristig betrachtet zumeist gestiegen. Doch beachten Sie auch die Entwicklung der Reallöhne (Lohntarif dividiert durch Verbraucherpreise), die durch die schwarze Li-
nie dargestellt wird und bis zur Industriellen Revolution durch ein ständiges Auf und Ab gekennzeichnet ist. Wir können bei einem Vergleich der beiden Kurven feststellen, dass die Inflation nicht notwendigerweise einen Rückgang der Reallöhne zur Folge haben muss. Es lässt sich beobachten, dass die Reallöhne seit etwa 1800 stetig und insgesamt auf mehr als das Zehnfache angestiegen sind. Abbildung 32-3 zeigt die Entwicklung der Verbraucherpreise in den Vereinigten Staaten seit dem Revolutionskrieg. Bis zum Zweiten Weltkrieg hielten sich die USA generell an eine Kombination von Gold- und Silberstandard, und die Preisentwicklung folgte
100.000
Nachkriegsinflation
Preise und Reallöhne (1264 = 100)
10.000
Erster Weltkrieg Napoleonische Kriege
1.000
Edelmetalle aus der Neuen Welt
Preisniveau
100 Reallöhne
Beginn der Industriellen Revolution
Abbildung 32-2: Preisniveau und Reallöhne in England, 1264–2002 (1264 = 100) Die Grafik zeigt die Entwicklung von Preisen und Reallöhnen in England seit dem Mittelalter. In den frühen Jahren ging der Anstieg der Preise mit einer Zunahme der Geldmenge einher, etwa infolge der Entdeckung der Schätze der Neuen Welt oder aufgrund der Zunahme des gedruckten Geldes während der Napoleonischen Kriege. Beachten Sie die starken Schwankungen des Reallohns vor der Industriellen Revolution. Seitdem sind die Reallöhne stetig und deutlich angestiegen. Quelle: E.H. Phelps Brown und S. V. Hopkins, Economica, 1956, von den Autoren aktualisiert.
932
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
120 100
Verbrauerpreisindex (2000 = 100)
80 60 40
20
Krieg von 1812 Revolutionskrieg
10
Zweiter Weltkrieg Erster Weltkrieg Bürgerkrieg
5 1775
1800
1825
1850
1875
1900
1925
1950
1975
2000
Jahr
Abbildung 32-3: Verbraucherpreise in den Vereinigten Staaten, 1776–2003 Bis zum Zweiten Weltkrieg schwankten die Preise ohne erkennbaren Trend – während eines Krieges stiegen sie rasch an, um dann wieder allmählich zu sinken. Doch seither sind die Preise nur noch gestiegen, sowohl in den USA als auch im Ausland. Quelle: US-Arbeitsministerium, Bureau of Labor Statistics für die Zahlen ab 1919.
einem regelmäßigen Muster: Die Preise stiegen in Kriegszeiten sprunghaft an und sanken nach Kriegsende wieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch ein grundsätzlich anderer Verlauf zu beobachten: Preise und Löhne bewegten sich nur noch nach oben. In Perioden wirtschaftlicher Expansion steigen sie sehr schnell, in Rezessionsphasen etwas langsamer. Abbildung 32-4 zeigt die Inflation gemessen am Verbraucherpreisindex während der letzten 50 Jahre. Sie erkennen, dass die letzten Jahre mit ihrer niedrigen und gleichmäßigen Inflationsrate eine ungewöhnlich ruhige Phase darstellten.
Niedrige Inflation. Eine niedrige Inflation ist durch einen langsamen und vorhersagbaren Preisanstieg gekennzeichnet. Wir verstehen darunter eine Inflation mit einstelligen jährlichen Inflationsraten. Bei relativ stabilen Preisen vertrauen die Menschen dem Geld, denn es behält von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr seinen Wert. Die Leute sind bereit, langfristige, in Geldleistungen definierte Verträge abzuschließen, weil sie darauf vertrauen, dass sich die relativen Preise der ge- bzw. verkauften Güter nicht allzu sehr ändern werden. Während des letzten Jahrzehnts war die Inflationsrate in den meisten Industrieländern niedrig.
Drei Arten von Inflation
Galoppierende Inflation. Wenn sich die Inflationsrate bereits im zwei- bis dreistelligen Bereich von jährlich 20, 100 oder 200 Prozent bewegt, spricht man von galoppierender Inflation oder „äußerst hoher Inflation“. Recht häufig kommt es zu einer galoppierenden Inflation, in Ländern mit schwachen Regierungen oder solchen, die von Kriegen oder
Ähnlich wie Krankheiten tritt auch die Inflation in verschiedenen Varianten auf. Sinnvollerweise lässt sie sich in drei Kategorien einteilen: niedrige Inflation, galoppierende Inflation und Hyperinflation.
933
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
16 Ölpreisschocks Inflationsrate (VPI, Prozent/Jahr)
12
Koreakrieg
8
VietnamKrieg
Erster Golfkrieg
4
0
4 1950
1955
1960
1965
1970
1975 1980 Jahr
1985
1990
1995
2000
2005
Abbildung 32-4: Während der letzten Jahre war die Inflation niedrig und hat sich nur wenig geändert Historisch betrachtet hat die Inflation in den Vereinigten Staaten deutlich geschwankt, und Anfang der achtziger Jahre erreichte sie ein unerträglich hohes Niveau. Während des letzten Jahrzehnts hat die sorgfältige Kontrolle der Geldmenge durch die Federal Reserve in Verbindung mit positiven äußeren Einflüssen auf das Angebot zu einer niedrigen und stabilen Inflationsrate geführt. Quelle: Bureau of Labor Statistics, www.bls.gov. Das Schaubild zeigt die Inflation gemessen am Verbraucherpreisindex.
Revolutionen heimgesucht werden. Viele lateinamerikanische Länder, beispielsweise Argentinien, Chile und Brasilien, erlebten in den siebziger und achtziger Jahren Inflationsraten zwischen 50 Prozent und 700 Prozent jährlich. Hält die galoppierende Inflation länger an, ist mit ernsthaften wirtschaftlichen Problemen zu rechnen. Im Allgemeinen werden in solchen Fällen die meisten Verträge an einen Preisindex oder eine Fremdwährung wie den US-Dollar gebunden. In Phasen äußerst hoher Inflation verliert Geld sehr schnell an Wert, weshalb die Menschen nur das absolute Minimum an Geld für ihre täglichen Besorgungen halten. Da eine Kapitalflucht ins Ausland einsetzt, trocknen die Finanzmärkte aus. Die Menschen horten Güter, kaufen Häuser und verleihen Geld unter keinen Umständen zu niedrigen Nominalzinssätzen.
Hyperinflation. Während Volkswirtschaften eine galoppierende Inflation offenbar überstehen können, wirkt das Krebsgeschwür der Hyperinflation wie eine tödliche Krankheit. Es lässt sich auch beim besten Willen nichts Gutes über eine Marktwirtschaft sagen, in der die Preise jährlich um Millionen, wenn nicht gar um Billionen Prozent in die Höhe schießen. Hyperinflationen sind ein überaus interessantes Lehrbeispiel, weil an ihnen die vernichtenden Einflüsse der Preissteigerung deutlich werden. Hier eine Beschreibung der Hyperinflation in den Südstaaten während des Bürgerkrieges: Früher gingen wir in die Läden mit Geld in den Manteltaschen und kamen mit Nahrungsmitteln in den Körben wieder heraus. Heute gehen wir mit Geld in den Körben hinein und können die gekauften Nahrungsmittel in der Mantelta-
934
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
sche heraustragen. Alles ist knapp außer Geld! Die Preise sind chaotisch, die Produktion desorganisiert. Eine Mahlzeit, die früher zum Preis einer Opernkarte erhältlich war, kostet heute 20 Mal so viel. Jeder versucht, „Sachwerte“ zu horten und das „schlechte“ Papiergeld loszuwerden, von dem das „gute“ Metallgeld aus dem Umlauf verdrängt wird. Eine teilweise Rückkehr zum Tauschhandel mit all seinen Unannehmlichkeiten ist die Folge.
Das am besten dokumentierte Beispiel einer Hyperinflation bietet Deutschland in den zwanziger Jahren, während der Weimarer Republik. Abbildung 32-5 zeigt, wie die damalige deutsche Regierung die Notenpresse anwerfen ließ und damit Geldmenge und Preisniveau in astronomische Höhen trieb. Von Januar 1922 bis November 1923 stieg der Preisindex von 1 auf 10.000.000.000. Wenn Die Hyperinflation der Weimarer Republik
Geldumlauf und Großhandelspreise (Januar 1922 = 1)
100.000.000.000 10.000.000.000 1.000.000.000
Geldumlauf
100.000.000 10.000.000 1.000.000 100.000 10.000 1.000
Preise
Teil 7
eine Person zu Beginn des Jahres 1922 deutsche Anleihen im Wert von 300 Millionen Mark besaß, so konnte man sich für diesen Betrag zwei Jahre später nicht einmal ein Bonbon kaufen. Studien haben einige gemeinsame Merkmale von Hyperinflationen aufgedeckt: Erstens geht das reale Geldangebot (das der Geldmenge dividiert durch das Preisniveau entspricht) drastisch zurück. Am Ende der deutschen Hyperinflation belief sich die reale Geldnachfrage auf nur noch ein Dreißigstel dessen, was sie zwei Jahre davor ausgemacht hatte. Die Menschen versuchen verständlicherweise in einer Hyperinflation, ihr Geld so schnell wie möglich loszuwerden, ehe es durch den Wertverlust aufgezehrt wird. Zweitens werden die relativen Preise sehr instabil. Unter normalen Verhältnissen verändern sich die Reallöhne von Monat zu Monat um maximal 1 Prozent. Während des Jahres 1923 schwankten sie in Deutschland jedoch um ein Drittel pro Monat (sowohl nach oben als auch nach unten). Diese hohe Fluktuation der relativen Preise und Löhne – und die dadurch verursachten Ungerechtigkeiten und Verzerrungen – forderten einen hohen Tribut von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und verdeutlichten die enormen Kosten der Inflation. Die Auswirkungen der Inflation hat J. M. Keynes sehr schön beschrieben:
100 10 1
1922
1923 Jahr
1924
Abbildung 32-5: Geldumlauf und Hyperinflation in Deutschland, 1922–1924 In den frühen zwanziger Jahren konnte die deutsche Regierung nicht genügend Steuern einnehmen, daher betätigte sie die Notenpresse, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Daraufhin stieg die Geldmenge von Anfang 1922 bis Dezember 1923 in astronomische Höhen, und die Preise schraubten sich dementsprechend nach oben, da die Menschen verzweifelt versuchten, ihr Geld auszugeben, ehe es seinen ganzen Wert verlor.
Wenn die Inflationsrate steigt und der wahre Wert einer Währung von Monat zu Monat erheblich schwankt, werden alle Beziehungen zwischen Kreditgebern und -nehmern, die letztendlich die Basis des Kapitalismus bilden, so chaotisch, dass sie praktisch sinnlos werden, und der Versuch, Wohlstand zu erwerben, verkommt zu einem reinen Glücksspiel und einer Lotterie.
Erwartete und unerwartete Inflation Eine für die Analyse wichtige Unterscheidung ist diejenige zwischen erwarteter und
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Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
unerwarteter Inflation. Nehmen wir an, alle Preise stiegen jährlich um 3 Prozent und jeder erwartete eine Fortsetzung dieser Entwicklung. Gäbe es dann überhaupt einen Grund, sich über diese Inflation aufzuregen? Würde es irgendeinen Unterschied machen, wenn sowohl die tatsächliche als auch die erwartete Inflationsrate bei 1 Prozent, bei 3 Prozent oder bei 5 Prozent jährlich läge? Wirtschaftswissenschaftler vertreten generell die Ansicht, dass eine erwartete niedrige Inflation kaum Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche Effizienz oder die Verteilung von Einkommen und Wohlstand hat. Die Menschen passen einfach ihr Verhalten an das sich ändernde Geldmaß an. In Wirklichkeit kommt die Inflation jedoch gewöhnlich unerwartet. Beispielsweise hatten sich die Russen mehrere Jahrzehnte lang an stabile Preise gewöhnt. Als die Preise ab 1992 nicht mehr der Kontrolle der Planwirtschaft unterlagen, erwartete niemand, nicht einmal die Wirtschaftswissenschaftler, dass sie während der nächsten fünf Jahre um 400.000 Prozent steigen würden. Menschen, die das Pech hatten, ihren Wohlstand in irgendeiner Form in Rubel angelegt zu haben, mussten dem vollständigen Wertverlust ihrer Ersparnisse zusehen. In wirtschaftlich stabileren Ländern wie den Vereinigten Staaten sind die Auswirkungen der unerwarteten Inflation weniger dramatisch, doch grundsätzlich gelten die gleichen Regeln. Ein unerwarteter Anstieg des Preisniveaus macht einige ärmer und andere reicher. Wie viel kostet diese Umverteilung? Vielleicht ist „kosten“ das falsche Verb in diesem Zusammenhang. Die Auswirkungen könnten eher gesellschaftlicher als wirtschaftlicher Art sein. Eine rapide Zunahme von Einbruchdiebstählen mag das BIP nicht verringern, aber sie beunruhigt die Bevölkerung. Eine Umverteilung des Wohlstands aufgrund von Inflation zwingt die Menschen dazu, sich gegen ihren Willen an einem Lotteriespiel zu beteiligen.
Der Morast der Deflation Wenn die Inflation so schädlich ist, sollten sich Gesellschaften dann um eine Deflation bemühen – eine Situation, in der die Preise sinken, anstatt zu steigen? Sowohl die historische Erfahrung als auch die makroökonomische Analyse zeigen, dass eine Deflation in Kombination mit niedrigen Zinssätzen zu ernsthaften gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen führen kann. Eine leichte Deflation ist für sich allein genommen nicht besonders schädlich. Deflationen können aber dadurch zu wirtschaftlichen Problemen führen, dass sie bisweilen in eine Situation münden, in der die Geldpolitik wirkungslos wird. Wenn die Preise aufgrund einer Rezession zu sinken beginnen, kann die Zentralbank normalerweise die Wirtschaft ankurbeln, indem sie die Bankreserven vergrößert und die Zinssätze senkt. Wenn aber die Preise rasch sinken, kann der Realzinssatz vergleichsweise hoch sein. Wenn beispielsweise der Nominalzinssatz bei 0,25 Prozent liegt und die Preise um 3,75 Prozent pro Jahr sinken, beträgt der Realzinssatz 4 Prozent pro Jahr. Ein derart hoher Realzinssatz kann die Investitionsneigung deutlich drosseln, was eine Rezession zur Folge haben kann. Die Zentralbank mag beschließen, die Zinssätze zu senken. Doch die untere Begrenzung für den Nominalzinssatz ist null. Warum? Wenn die Zinssätze bei null liegen, dann sind festverzinsliche Wertpapiere praktisch Bargeld, und die Menschen werden kaum bereit sein, festverzinsliche Wertpapiere mit einem negativen Zinssatz zu halten, wenn für Bargeld ein Zinssatz von null gilt. Wenn die Zentralbank nun die Zinssätze auf null gesenkt hat, dann beträgt in unserem Beispiel der Realzinssatz immer noch 3,75 Prozent pro Jahr, was zu viel sein könnte, um die Volkswirtschaft in Schwung zu bringen. Die Zentralbank steckt im Morast fest – einem Morast, den man als Liquiditätsfalle bezeichnet –, da sie die kurzfristigen Zinssätze nicht weiter senken kann. Damit hat die Zentralbank ihre gesamte Munition verschossen.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kam es häufig zu Deflationen, aber während des letzten Jahrhunderts sind sie weitgehend verschwunden. Ende der neunziger Jahre litt Japan jedoch längere Zeit unter Deflation. Sie wurde teilweise durch einen gewaltigen Preisverfall von Vermögensgegenständen, hauptsächlich Grund und Boden sowie Aktien, verursacht, aber auch durch eine lang anhaltende Rezession. Nach 2000 lagen die kurzfristigen Zinssätze praktisch bei null. Mitte des Jahres 2003 betrug beispielsweise der Ertrag einer einjährigen Bankanlage 0,032 Prozent pro Jahr. Die Zentralbank Japans schien angesichts der Deflation und der Zinssätze von null hilflos. Ende 2002 und Anfang 2003 machten auch die Vereinigten Staaten kurz Erfahrung mit der Deflation und der Liquiditätsfalle, als die kurzfristigen Zinssätze auf ihr niedrigstes Niveau in 50 Jahren sanken. Gibt es Mittel gegen die Deflation und die Liquiditätsfalle? Eine Lösung besteht im Einsatz der Fiskalpolitik. Geht von ihr ein stimulierender Effekt aus, wird sich die Gesamtnachfrage erhöhen, ohne dass hohe Zinssätze die Menschen zum Sparen animieren würden. Einige Spezialisten der Geldpolitik argumentieren, die Zentralbank könne langfristige festverzinsliche Wertpapiere, inflationsindizierte Wertpapiere oder sogar Aktien kaufen – denn sie sind von der Liquiditätsfalle nicht betroffen. Doch die meisten Wirtschaftswissenschaftler glauben, Angriff sei die beste Verteidigung: Man müsse sicherstellen, dass die Wirtschaft sich weit entfernt von einer Deflation bewege, indem man für Vollbeschäftigung und einen langsamen Preisanstieg sorge.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Inflation Vertreter von Zentralbanken sind wild entschlossen, die Inflation unter Kontrolle zu halten. In Zeiten hoher Inflation stellen sogar Meinungsumfragen häufig fest, dass die Inflation als Wirtschaftsfeind Nummer eins gilt.Wieso ist die Inflation so gefährlich und kostspielig?
Teil 7
Wir haben oben festgestellt, dass sich in Inflationszeiten Preise und Löhne nicht im gleichen Verhältnis verändern; das heißt, es treten relative Preisveränderungen auf. Als Folge der unterschiedlichen relativen Preise ergeben sich zwei eindeutige Auswirkungen der Inflation: • Eine Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen • Verzerrungen der relativen Preise und Produktionsniveaus verschiedener Güter, manchmal sogar der Produktion und Beschäftigung der gesamten Volkswirtschaft
Auswirkungen auf Einkommensund Vermögensverteilung Die Inflation beeinflusst die Verteilung von Einkommen und Vermögen hauptsächlich deshalb, weil die Menschen unterschiedlich viel besitzen oder schulden.1 Für Schuldner ist ein starker Preisanstieg ein unverhoffter Gewinn. Nehmen Sie an, sie hätten US-$ 100.000 für einen Hauskauf geliehen, und für die Hypothek mit festem Zinssatz müssten Sie jährlich US-$ 10.000 zahlen. Plötzlich verdoppeln sich aufgrund einer hohen Inflation alle Löhne und Einkommen. Ihre nominale Hypothekenrückzahlung beträgt immer noch US-$ 10.000 pro Jahr, aber die realen Kosten haben sich halbiert. Sie müssen nur noch die Hälfte der bisherigen Zeit arbeiten, um das Geld für die Rückzahlung des Kredits zu verdienen. Die hohe Inflation hat Ihren Wohlstand vermehrt, indem sie den realen Wert Ihrer Schulden halbiert hat. Wenn Sie jedoch Geld verleihen und Vermögenswerte in Form von festverzinslichen Hypotheken oder langfristigen Schuldverschreibungen Ihr Eigentum nennen, sieht die Lage für Sie ganz anders aus. Ein unerwarteter Preisanstieg wäre für Sie überaus nachtei-
1 Die wesentlichen Elemente von Bilanzen sind in den Kapiteln 7 und 25 beschrieben.
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Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
lig, weil das zurückgezahlte im Vergleich zum verliehenen Geld viel weniger wert ist. Dauert eine Inflationsphase längere Zeit an, beginnen die Menschen diese zu antizipieren, und die Märkte passen sich an. Der Marktzinssatz wird allmählich um die Inflationsrate nach oben korrigiert. Nehmen wir an, eine Volkswirtschaft begänne mit einem Zinssatz von 3 Prozent und stabilen Preisen. Wenn die Menschen nun annehmen, dass die Preise in Zukunft um 9 Prozent steigen werden, so wird der Nominalzinssatz für Schuldverschreibungen und Hypothekenardarlehen wohl eher 12 Prozent als 3 Prozent betragen. Dieser Nominalzinssatz von 12 Prozent beinhaltet nämlich die Realverzinsung von 3 Prozent zuzüglich der Inflationsabgeltung von 9 Prozent. Wenn sich die Zinssätze an die neue Inflationsrate angepasst haben, treten keine größeren Einkommens- und Vermögensumverteilungen mehr auf. Die Anpassung der Zinssätze an eine chronische Inflation lässt sich in allen Ländern mit einem lang anhaltenden Preisanstieg beobachten.2 Aufgrund der Änderung von Gesetzen und Regeln entsprechen einige alte Mythen längst nicht mehr der Wahrheit. Lange hielt man den Besitz von Aktien für einen guten Schutz gegen die Inflation, aber heutzutage bewegen sich die Aktienkurse generell in die der Inflation entgegengesetzte Richtung. Allgemein wurde behauptet, die Inflation schade Witwen und Waisen; heutzutage sind diese Gruppen durch die Sozialhilfe, deren Höhe an den Verbraucherpreisindex gekoppelt ist, vor der Inflation geschützt. Heute begünstigt beziehungsweise schädigt die unerwartete Inflation Schuldner und Verleiher auch weniger als früher, weil für ein Großteil der Schulden (beispielsweise Hypotheken mit „schwankenden“ Zinssätzen) Zinssätze gelten, die sich im gleichen Rhythmus wie die Marktzinssätze bewegen. Die größte Umverteilungswirkung der Inflation beruht auf dem Effekt, den sie auf den 2 Abbildung 25-3 zeigt die Entwicklung der nominalen und realen Zinssätze in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren.
Realwert der privaten Vermögen hat. Im Allgemeinen verteilt eine unerwartete Inflation Vermögen von Gläubigern zu Schuldnern; sie hilft jenen, die sich Geld ausborgen, und schädigt die anderen, die welches verleihen. Ein unerwarteter Inflationsrückgang hat die gegenteilige Wirkung. Doch grundsätzlich bringt die Inflation Einkommen und Vermögen durcheinander und verteilt den Wohlstand nach dem Zufallsprinzip innerhalb der Gesellschaft, ohne dass sich deutliche Auswirkungen auf irgendeine Einzelgruppe feststellen lassen.
Auswirkungen auf die wirtschaftliche Effizienz Zusätzlich zur Einkommensumverteilung wirkt sich die Inflation auch auf zwei weitere Bereiche der Volkswirtschaft aus: Sie kann der ökonomischen Effizienz schaden und die gesamtwirtschaftliche Produktion beeinflussen. Wir beginnen mit den Auswirkungen auf die Effizienz. Die wirtschaftliche Effizienz wird durch die Inflation beeinträchtigt, weil die Inflation Preise und Preissignale verzerrt. In Volkswirtschaften mit niedriger Inflation wissen sowohl Käufer als auch Verkäufer, dass einem höheren Marktpreis für ein Produkt eine tatsächliche Veränderung der Relation von Angebot und Nachfrage entsprechen muss, und dementsprechend können sie auch reagieren. Sollten zum Beispiel alle Lebensmittelgeschäfte in der Nachbarschaft ihre Rindfleischpreise um 50 Prozent erhöhen, wissen aufmerksame Konsumenten, dass sie mehr Geflügel essen sollten. Bei einer Preissenkung von 90 Prozent für PCs würden Sie sich vielleicht eher dazu durchringen, Ihr altes Gerät durch ein neues zu ersetzen. In einer Volkswirtschaft mit hoher Inflation ist es hingegen viel schwieriger, zwischen relativen Preisänderungen und Änderungen des allgemeinen Preisniveaus zu unterscheiden. Liegt die Inflationsrate erst einmal bei monatlich 20–30 Prozent, ändert sich alles so
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
schnell, dass relative Preisänderungen in dem allgemeinen Durcheinander gar nicht mehr wahrgenommen werden. Die Inflation beeinträchtigt auch den Gebrauch des Geldes. Bargeld ist Geld mit einem Nominalzinssatz von null. Bei einem Anstieg der Inflationsrate von jährlich 0 Prozent auf 10 Prozent fällt der Realzinssatz von Bargeld von jährlich 0 Prozent auf –10 Prozent. Es gibt keine Möglichkeit, diese Verzerrung zu korrigieren. Infolge des negativen Realzinssatzes für Geld verwenden die Menschen in Zeiten hoher Inflation viel Energie darauf, ihre Geldbestände zu verringern. Sie gehen häufiger zur Bank – was Schuhsohlen und wertvolle Zeit kostet. Großunternehmen entwickeln ausgeklügelte Pläne zur Verwaltung ihrer Bargeldbestände. Auf diese Weise werden Ressourcen nur dazu verwendet, sich an das unzuverlässige Wertmaß Geld anzupassen, statt für produktive Investitionen zur Verfügung zu stehen. Viele Wirtschaftswissenschaftler weisen auch auf die Verzerrung von Steuern durch die Inflation hin. Ein Teil der Steuern ist als fester Geldbetrag fixiert. Wenn die Preise steigen, dann sinkt der Wert dieser Beträge. Möglicherweise sind Sie berechtigt, einen festen „Steuerfreibetrag“ bei der Berechnung Ihrer Lohn- oder Einkommenssteuer abzuziehen. Wenn Inflation herrscht, sinkt der Wert dieses Freibetrags, und derjenige der tatsächlich gezahlten Steuern steigt. Eine derartige „Besteuerung ohne entsprechendes Gesetz“ hat in vielen Ländern dazu geführt, dass Steuern an einen Index gebunden werden, um eine inflationsgetriebene Steuererhöhung zu verhindern. Während der achtziger Jahre wurden Teile der US-amerikanischen Steuern indexiert. Die Indexbindung der Steuerstufen allein befreit das Steuersystem jedoch noch nicht von den Auswirkungen der Inflation, weil die Inflation die Messung des Einkommens verzerrt. Wenn Sie zum Beispiel in den USA im Jahr 2003 einen Zinssatz von 6 Prozent für Ihr
Teil 7
Vermögen erhielten, dann mussten Sie wegen der dreiprozentigen Inflationsrate einen Kaufkraftverlust in Höhe des halben Zinsgewinns hinnehmen. Die Steuergesetze unterscheiden jedoch nicht zwischen realen Renditen und jenem Teil der Zinsen, der nur Inflationsverluste kompensiert. In den Steuergesetzen sind auch heute noch zahlreiche Verzerrungen von Steuern und Einkommen zu finden. Dies sind jedoch nicht die einzigen Kosten; einige Ökonomen verweisen in diesem Zusammenhang auf die so genannten menu costs (Menükosten) der Inflation. Damit soll der Umstand beschrieben werden, dass die Unternehmen im Fall von Preisänderungen reale Ressourcen aufwenden müssen, um ihre eigenen Preise laufend anzupassen. Ein Restaurant druckt neue Speisekarten, Versandhäuser ändern ihre Kataloge, Taxiunternehmen stellen die Zähler in ihren Autos um, Stadtverwaltungen ändern die Einstellung der Parkuhren, und Geschäfte zeichnen ihre Produkte neu aus. Bisweilen sind die dadurch entstehenden Kosten kaum quantifizierbar, wie zum Beispiel jene, die aufgrund der zahlreichen firmeninternen Besprechungen zur Neufestsetzung von Preisen anfallen.
Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen Welche makroökonomischen Auswirkungen hat die Inflation? Mit dieser Frage werden wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen, wir wollen hier nur die wesentlichen Punkte ansprechen. Bis in die siebziger Jahre hinein trat in den Vereinigten Staaten eine hohe Inflation normalerweise gleichzeitig mit wirtschaftlichem Wachstum auf; die Inflation nahm üblicherweise zu, wenn viel investiert wurde und es viele Stellenangebote gab. Phasen der Deflation oder abnehmender Inflation – die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts sowie die dreißiger und teilweise auch die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts –
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Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
waren Zeiten von Arbeitslosigkeit und ungenutztem Kapital. Eine sorgfältigere Untersuchung historischer Tatsachen enthüllt jedoch einen interessanten Sachverhalt: Der positive Zusammenhang zwischen Produktion und Inflation scheint nur von begrenzter Dauer zu sein. Langfristig gesehen scheint eine umgekehrte U-förmige Beziehung zwischen Inflation und dem Wachstum der Produktion zu bestehen. Tabelle 32-1 stellt das Ergebnis einer kürzlich durchgeführten Mehrländerstudie über die Beziehung zwischen Inflation und Wachstum dar. Es zeigt sich, dass das Wirtschaftswachstum in Ländern mit niedriger Inflation am höchsten ist, während Länder, in denen entweder eine hohe Inflationsrate oder Deflation herrscht, langsamer wuchsen. (Hüten Sie sich aber davor, hier eine Ursache-WirkungsBeziehung konstruieren zu wollen; wir werden uns hiermit in Übung 7 am Ende dieses Kapitels beschäftigen.) Inflationsrate (% pro Jahr) –20 –
Pro-Kopf-Wachstum des BIP (% pro Jahr)
0
0,7
0 – 10
2,4
10 – 20
1,8
20 – 40
0,4
100 – 200
–1,7
1.000 und mehr
–6,5
Tabelle 32-1: Inflation und Wirtschaftswachstum Die aus 127 Ländern zusammengefassten Daten zeigen, dass das schnellste Wachstum mit niedrigen Inflationsraten einhergeht. Deflation und eine geringe Inflation sind mit einem langsamen Wachstum verbunden, während Hyperinflationen zu einem deutlichen Rückgang des Wirtschaftswachstums führen. Quelle: Michael Bruno und William Easterly, „Inflation Crises and Long-Run Growth“, World Bank Policy Research Working Paper 1517, September 1995
Wie hoch ist die optimale Inflationsrate? Die meisten Länder streben nach schnellem Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Preisstabilität. Doch was genau bedeutet „Preisstabilität“? Eine Inflationsrate von null? Über welchen Zeitraum hinweg? Oder einfach nur eine geringe Inflation? Eine Lehrmeinung besagt, die Wirtschaftspolitik solle sich um völlig stabile Preise, also eine Inflationsrate von null, bemühen. Wenn wir sicher sein können, dass das Preisniveau in 20 Jahren sehr nahe beim heutigen liegen wird, können wir bessere langfristige Investitions- und Sparentscheidungen treffen. Viele Makroökonomen vertreten jedoch die Auffassung, dass eine Inflationsrate von null in einer idealen Wirtschaft zwar sehr schön sei, wir aber in einem System mit Reibungsverlusten leben. Eines der größten Hindernisse stellt möglicherweise der Widerstand der Beschäftigten dar, einen Rückgang ihrer Löhne und Gehälter zu akzeptieren. Ein im Durchschnitt unverändertes Lohnniveau ergibt sich jedoch nur dann, wenn einige Löhne sinken, während andere steigen. Doch Beschäftigte und Unternehmen sind kaum bereit, Löhne und Gehälter zu kürzen. Beweise für die Unbeweglichkeit von Löhnen nach unten findet man in einer umfassenden Untersuchung der US-Regierung über Lohnveränderungen in Produktionsbetrieben im Zeitraum von 1958 – 1978. Während dieser Periode mussten durchschnittlich weniger als 0,1 Prozent der amerikanischen Beschäftigten Lohnsenkungen hinnehmen, selbst in Jahren, in denen die Inflation außerordentlich niedrig war. Aus makroökonomischer Sicht deutet dies darauf hin, dass eine Inflationsrate von null mit einem höheren anhaltenden Niveau der Arbeitslosigkeit und geringerer Produktion einhergeht, als man bei einer Inflationsrate von 2 bis 4 Prozent erwarten würde. Eine vor einigen Jahren durchgeführte Studie kam zu dem Schätzergebnis, dass der Versuch, für völlig
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
stabile Preise zu sorgen, den Vereinigten Staaten eine auf Dauer um 1 – 3 Prozent niedrigere Produktion und Beschäftigung bescheren würde als ein Inflationsziel von etwa 3 Prozent. Die Autoren kommen zu dem Schluss: Unbeweglichkeit [der Löhne] nach unten behindert die Fähigkeit mancher Unternehmen, die Reallöhne anzupassen, was zu einem ineffizienten Beschäftigungsrückgang führt. ... Die wichtigste Schlussfolgerung für die Wirtschaftspolitik ist, dass der Versuch, eine Inflationsrate von null zu erreichen, zu einer äußert ineffizienten Ressourcenverteilung führen wird, was sich in einer unnötig hohen Arbeitslosenquote äußern wird.3
Wir können die Debatte folgendermaßen zusammenfassen: Es herrscht zwar unter den Wirtschaftswissenschaftlern keine Einigkeit über das exakte Inflationsziel, aber die meisten stimmen überein, dass ein langsamer und vorhersehbarer Anstieg des Preisniveaus das beste Umfeld für ein gesundes Wirtschaftswachstum schafft. Sorgfältige Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine niedrige Inflationsrate wie diejenige, die während der letzten Jahre in den Vereinigten Staaten herrschte, kaum Auswirkungen auf Produktivität und die reale Produktionsleistung hat. Im Gegensatz dazu kann eine galoppierende oder gar Hyperinflation Produktivität und Menschen durch die Umverteilung von Einkommen und Vermögen ernsthaft schädigen.
B. Die moderne Inflationstheorie Können Marktwirtschaften gleichzeitig die Segnungen der Vollbeschäftigung und der 3 Siehe den Hinweis auf Akerlof, Dickens, und Perry in dem Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
Teil 7
Preisstabilität genießen? Gibt es wirklich keine andere Art der Inflationskontrolle als die Abschwächung der wirtschaftlichen Dynamik, die wiederum für einen unerwünschten Anstieg der Arbeitslosigkeit sorgt? Wenn Rezessionen einen allzu hohen Preis für die Inflationskontrolle darstellen, benötigen wir dann vielleicht eine „Lohn- und Einkommenspolitik“, die zwar die Inflation senkt, aber die Arbeitslosigkeit nicht erhöht? Fragen über Fragen. Die Antworten darauf sind für das wirtschaftliche Wohlergehen moderner, gemischter Volkswirtschaften von entscheidender Bedeutung. Im restlichen Teil dieses Kapitels untersuchen wir die moderne Inflationstheorie sowie die Kosten einer Inflationssenkung.
Preise im Rahmen von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage Man kann Inflation nicht einer einzigen Ursache zuschreiben. Genau wie Krankheiten tritt die Inflation aus vielen verschiedenen Gründen auf. Mitunter wird die Inflation von der Nachfrageseite induziert, manchmal von der Angebotsseite. Doch eine wesentliche Eigenschaft moderner Inflationen besteht darin, dass sie eine Eigendynamik entwickeln und es teuer wird, wenn man sie einzudämmen versucht.
Schleichende Inflation In modernen Industrienationen wie den Vereinigten Staaten hat die Inflation eine starke Eigendynamik und bleibt oft beständig auf einem Niveau. Wir können die schleichende Inflation mit einem alten, faulen Hund vergleichen. Wenn der Hund nicht durch einen Fußtritt oder die Anziehungskraft einer Katze aus dem Konzept gebracht wird, bleibt er, wo er ist. Einmal aufgescheucht, wird der Hund der Katze zwar nachjagen, doch sobald er sich wieder an einem anderen Platz nieder-
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
lässt, bleibt er dort bis zur nächsten Störung liegen. Während der neunziger Jahre stiegen die US-Preise regelmäßig um etwa 3 Prozent pro Jahr, und die meisten Menschen rechneten bereits mit dieser Inflationsrate. Dadurch wurde diese erwartete Inflationsrate in allen wirtschaftlichen Entscheidungen und Mechanismen berücksichtigt. Lohnabschlüsse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kamen unter Einbeziehung einer etwa dreiprozentigen Inflationsrate zustande, ebenso fanden die 3 Prozent ihren Niederschlag in der staatlichen Geld- und Fiskalpolitik. Die schleichende Inflation, die mitunter auch als beständige Inflation, Kerninflation oder erwartete Inflation bezeichnet wird, betrug in dieser Periode jährlich 3 Prozent. Eine Inflationsrate kann zwar eine Zeitlang auf dem gleichen Niveau verharren, aber die Geschichte zeigt, dass unerwartete wirtschaftliche Veränderungen sie nach oben oder unten treiben. In einer Volkswirtschaft gibt es ständig Änderungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, heftige Öl- und Rohstoffpreisschwankungen, Missernten, Veränderungen des Wechselkurses oder der Produktivität, sowie zahllose weitere wirtschaftliche Ereignisse, durch welche die Kerninflation geändert wird. Der Wirtschaft liegt eine anhaltende schleichende Inflationsrate zugrunde, an die sich die Menschen mit ihrer Erwartungshaltung angepasst haben. Diese in das Wirtschaftsgeschehen integrierte schleichende Inflation bleibt so lange unverändert, bis plötzliche Ereignisse eine Bewegung nach unten oder oben auslösen.
Nachfrageinduzierte Inflation Eine der Hauptursachen für das Entstehen einer Inflation ist die Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. In früheren Kapiteln haben wir bereits festgestellt, dass Erhöhungen des Investitionsniveaus, der Staatsausgaben oder der Nettoexporte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage verändern
941 und die Produktion bisweilen über ihr Potenzial hinaustreiben können. Wir haben ebenso gesehen, wie die Zentralbank eines Landes Einfluss auf die Volkswirtschaft nehmen kann. Aufgrund welcher Ursachen auch immer tritt die nachfrageinduzierte Inflation (auch Nachfrage- oder Nachfragesoginflation genannt) auf, wenn die Gesamtnachfrage schneller steigt als das produktive Potenzial der Volkswirtschaft. Dabei werden die Preise in die Höhe getrieben, um Gesamtangebot und Gesamtnachfrage wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Tatsächlich herrscht Wettbewerb unter den Nachfragern um das begrenzte Güterangebot, und dies treibt die Preise nach oben. Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt und damit Arbeitskräfte knapp werden, steigen die Löhne ganz zwangsläufig, und der inflationäre Prozess verstärkt sich. Ein wichtiger Auslöser einer nachfrageinduzierten Inflation ist ein rasches Wachstum des Geldangebots. Eine Erhöhung der Geldmenge lässt die Gesamtnachfrage steigen, was zu einem Anstieg des Preisniveaus führt. Als die Reichsbank 1922 und 1923 Geldscheine im Wert von Milliarden und Abermilliarden von Reichsmark drucken ließ und diese für Brot und Wohnungen ausgegeben wurden, war es nicht überraschend, dass das Preisniveau in Deutschland damals um das Milliardenfache anstieg. Hier handelte es sich sogar um eine exzessive nachfrageinduzierte Inflation. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich, als die russische Regierung zu Beginn der neunziger Jahre ihr Budgetdefizit über die Notenpresse finanzierte. In der Folge stieg die Inflation auf durchschnittlich 25 Prozent pro Monat [oder 100 (1,2512 – 1) = 1.355 Prozent pro Jahr] an.4 Abbildung 32-6 zeigt den Prozess der nachfrageinduzierten Inflation anhand des Verlaufs der aggregierten Angebots- und Nachfragekurven. Wir gehen von einem Anfangsgleichgewicht in Punkt E aus. Kommt es 4 Die Übersicht im nächsten Kapitel über unterschiedliche makroökonomische Ansätze untersucht auch „monetaristische“ Theorien, die behaupten, Preisveränderungen hingen grundsätzlich von Änderungen der Geldmenge ab.
942
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
P
Preisniveau
wenn 30 Prozent der Fabrikkapazitäten ungenutzt und 10 Prozent der Arbeitskräfte ohne Beschäftigung sind. Dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung Kostendruck- beziehungsweise angebotsinduzierte Inflation bekannt.
potenzielles BIP Qp
AS
E′
P′
Inflation, die aufgrund steigender Kosten bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder Auslastung der Produktionskapazitäten entsteht, wird kosteninduzierte Inflation (oder Kostendruckinflation) genannt.
E
P
Teil 7
AD′ AD Q reales BIP
Abbildung 32-6: Eine Nachfragesoginflation tritt auf, wenn zu hohen Ausgaben ein zu geringes Güterangebot gegenübersteht Wenn die Gesamtnachfrage ansteigt, dann konkurrieren die höheren Ausgaben um ein begrenztes Güterangebot. Die Preise steigen bei dieser nachfrageinduzierten Inflation von P nach P'. Wie könnte man eine Kostendruckinflation anhand dieser Abbildung untersuchen?
nun zu einer Ausgabenerhöhung, so verlagert sich die Gesamtnachfragekurve AD nach rechts oben. Das volkswirtschaftliche Gleichgewicht bewegt sich von E nach E'. Bei diesem höheren Nachfrageniveau haben sich auch die Preise von P nach P' verschoben. So entsteht eine nachfrageinduzierte Inflation.
Kostendruckinflation Bereits die Klassiker unter den Ökonomen haben die Grundlagen der nachfrageinduzierten Inflation verstanden und sie zur Erklärung früherer Preisveränderungen herangezogen. Doch im Verlauf der letzten 50 Jahre passierte etwas Merkwürdiges – die inflationären Prozesse veränderten sich. Schauen Sie sich noch einmal die in Abbildung 32-3 dargestellte Entwicklung der Preise an, und beachten Sie, dass sich diese heute in einer Einbahnstraße bewegen – sie steigen in Rezessionszeiten und noch schneller in der Hochkonjunktur. Was die moderne Inflation von der einfachen nachfrageinduzierten Variante unterscheidet, ist das Ansteigen der Preise und Löhne selbst in einer Rezession,
Wenn Ökonomen nach einer Erklärung für die kosteninduzierte Inflation suchen, gehen sie häufig von den Löhnen aus. So stiegen etwa 1982, als die Arbeitslosenquote bei fast 10 Prozent lag, die Löhne trotzdem um 5 Prozent. Löhne steigen generell sogar in einer Rezession an, weil es sich bei ihnen um administrierte Preise handelt und ein hoher Widerstand gegen Lohnkürzungen besteht. Mitunter treibt ein plötzlicher Kostenanstieg die Inflation in die Höhe. In den Jahren 1973, 1978 und dann wieder gegen Ende 1999 und Anfang 2000, als die meisten Länder mit ihrer eigenen Wirtschaft beschäftigt waren, traten auf einmal gravierende Verknappungen am Ölmarkt auf. Die Ölpreise stiegen stark an, und in der Folge erhöhten sich auch die Produktionskosten, was zu einer deutlichen Kostendruckinflation führte. Unerwartete Einflüsse auf die Kosten können mitunter auch positiv sein. Während der neunziger Jahre erlebten die Vereinigten Staaten beispielsweise aufgrund des raschen Produktivitätswachstums einen Rückgang der Produktionskosten bei gleichzeitig sinkenden Energie-, Import- und Rohstoffkosten; sogar die Kosten für das Gesundheitswesen gingen in dieser Zeit zurück.
Erwartungshaltung und schleichende Inflation Wieso, könnten Sie nun fragen, weist die Inflation ein derart ausgeprägtes Beharrungsvermögen und eine solche Eigendynamik auf? Die Antwort lautet, dass die meis-
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Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
ten Preise und Löhne bereits mit Blick auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung festgelegt werden. Wenn Preise und Löhne rasch steigen und diese Entwicklung auch für die Zukunft erwartet wird, werden Unternehmer und Arbeitnehmer die hohe Inflationsrate in ihren Preis- und Lohnentscheidungen generell mit berücksichtigen. Hohe wie niedrige Inflationserwartungen haben die Tendenz, sich zu selbsterfüllenden Prophezeiungen zu entwickeln. Verwenden wir ein hypothetisches Beispiel, um die Rolle der Erwartungshaltungen für die schleichende Inflation zu verdeutlichen. Nehmen wir an, Brass Mills Inc., ein Unternehmen, das Beleuchtungskörper produziert und dessen Mitarbeiter nicht gewerkschaftlich organisiert sind, trifft im Jahr 2004 die jährlichen Lohn- und Gehaltsentscheidungen für 2005. Die Verkaufzahlen entwickeln sich prächtig, und es sind keine wesentlichen Versorgungs- bzw. Nachfragestörungen zu erwarten. Der Chefvolkswirt meldet, dass weder inflationäre noch deflationäre Störungen absehbar seien, und die wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren für 2005 nationale Lohnsteigerungen von 4 Prozent. Das Ergebnis einer von Brass Mills unter heimischen Betrieben durchgeführten Umfrage ergab, dass die meisten Arbeitgeber für das nächste Jahr Lohnerhöhungen von 3 – 5 Prozent geplant haben. Somit deuteten alle Zeichen auf eine Lohnerhöhung von rund 4 Prozent für 2005 im Vergleich mit 2004 hin. Ein Blick auf die Beschäftigungslage in der eigenen Firma überzeugte Brass Mills, dass die Löhne den am lokalen Arbeitsmarkt üblichen entsprachen. Die Geschäftsleitung wollte dieses Lohnniveau nicht unterschreiten und entschloss sich daher, die allgemein geplante Lohnerhöhung mitzumachen. Deshalb wurden die Lohnerhöhungen für 2005 gemäß der erwarteten Marktentwicklung von rund 4 Prozent festgesetzt. Praktisch alle Arbeitgeber machen die Lohn- und Gehaltserhöhungen von der erwarteten Wirtschaftsentwicklung abhängig.
Dieselbe Argumentationsweise gilt übrigens ebenso für viele Produkt- und Dienstleistungspreise – Studiengebühren, Autopreise, Telefongebühren –, die, sobald sie einmal festgelegt wurden, nur noch schwer zu ändern sind. Da sich Inflationserwartungen nur langsam ändern und die folgende Anpassung der Löhne und Preise nur mit Verzögerung erfolgt, reagiert die schleichende Inflation nur auf bedeutende plötzliche Einflüsse und wirtschaftspolitische Änderungen. Abbildung 32-7 veranschaulicht den Prozess der schleichenden Inflation. Nehmen wir an, das potenzielle Produktionsniveau wäre konstant, und es gäbe keine Angebots- bzw. Nachfrageschocks. Wenn alle eine durchschnittliche Erhöhung von Kosten und Preisen um jährlich 3 Prozent erwarten, so verschiebt sich die Gesamtangebotskurve AS um jährlich 3 Prozent nach oben. Bleiben Nachfrageschocks aus, so wird sich die Gesamtnachfragekurve AD ebenfalls in diesem Ausmaß nach oben verlagern. Damit liegt auch der Schnittpunkt der beiden Kurven jährlich um 3 Prozent höher. Das makroökonomische Gleichgewicht bewegt sich von E über E' nach E''. Die Preise steigen jährlich um 3 Prozent, das heißt, die schleichende Inflation liegt bei 3 Prozent. Eine schleichende Inflation entsteht aufgrund von stetig und im gleichen Ausmaß steigenden Gesamtangebots- und Gesamtnachfragekurven.
Preisniveau und Inflation Anhand von Abbildung 32-7 können wir eine zweckmäßige Unterscheidung zwischen Veränderungen des Preisniveaus und der Inflationsrate treffen. Im Allgemeinen wird ein Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die Preise erhöhen, wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben. Genauso wird eine Aufwärtsbewegung der AS-Kurve aufgrund von steigenden Löhnen und sonstigen Kosten die Preise erhöhen, wenn keine anderen Veränderungen auftreten.
944
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
P
Teil 7
potenzielles BIP
Preisniveau
Qp AS″
AD″′ E″
P″ = (1,03)P′ = (1,03)2P
AS′ E″′
P′ = 1,03P
AS E′ E
P
AD″ AD′ AD
reales BIP
Q
Abbildung 32-7: Wenn sich gesamtwirtschaftliches Angebot und gesamtwirtschaftliche Nachfrage gleichzeitig nach oben verlagern, beginnt sich die Lohn-Preis-Spirale zu drehen Nehmen Sie an, die Produktionskosten und AD stiegen jährlich um 3 Prozent. Die AS- und AD-Kurven würden dann jedes Jahr um 3 Prozent nach oben verschoben. Wenn sich das Gleichgewicht von E nach E' und dann nach E'' bewegt, steigen die Preise aufgrund der schleichenden Inflation stetig an.
Doch in der Realität verändern sich die Rahmenbedingungen fortlaufend. Insbesondere verschieben sich die AS-Kurve und die AD-Kurve ständig. Abbildung 32-7 zeigt beispielsweise, dass Gesamtangebot und Gesamtnachfrage gleichmäßig ansteigen. Welche Auswirkungen hätte eine unerwartete Verlagerung der Gesamtangebots- oder Gesamtnachfragekurve in der dritten Periode? Wie würden Preise und Inflation reagieren? Nehmen Sie zum Beispiel an, dass sich die Nachfragekurve AD'' in der dritten Periode aufgrund einer Geldmengenverringerung nach links auf AD''' verschiebt. Das könnte eine Rezession mit einem neuen Gleichgewichtspunkt E''' auf der Angebotskurve AS'' nach sich ziehen. Hier ist nun die reale Produktionsleistung unter das potenzielle Produktionsniveau gefallen; Preise wie Inflationsrate sind niedriger als im Punkt E'', aber es kommt trotzdem zur Inflation, weil das Preisniveau im Punkt E''' noch immer über dem Gleichgewicht der Vorperiode E' mit ihrem Preisniveau P' liegt. Dieses Beispiel erinnert uns daran, dass plötzliche Einflüsse auf Angebot oder Nach-
frage das Preisniveau unter den Wert drücken können, den es anderenfalls erreicht hätte. Doch in der Gesamtwirtschaft kann es aufgrund der inflationären Dynamik nach wie vor zu einer Inflation kommen.
Die Phillips-Kurve Ein nützliches Hilfsmittel zum Verständnis der Inflation ist die Phillips-Kurve. Sie stellt die Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation dar. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, dass bei hoher Produktion und niedriger Arbeitslosigkeit Löhne und Preise generell rascher ansteigen als sonst. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Beschäftigte und Gewerkschaften stärker auf Lohn- und Gehaltserhöhungen drängen, wenn es genügend Arbeitsplätze gibt, und dass Firmen leichter die Preise erhöhen können, wenn ihre Verkaufszahlen ohnehin schon hoch sind. Auch der Umkehrschluss gilt – ein hohes Maß an Unterbeschäftigung von Ressourcen verlangsamt generell die Inflation.
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
Die kurzfristige Phillips-Kurve Die Wirtschaftswissenschaftler unterscheiden zwischen einer kurz- und einer langfristigen Phillips-Kurve. Eine typische kurzfristige Phillips-Kurve ist in Abbildung 32-8 dargestellt. Auf der waagrechten Achse ist die Arbeitslosenquote, auf der senkrechten Achse (links, schwarz) die jährliche Preisinflation abgetragen. Die senkrechte rechte Skala (rostfarben) zeigt die nominale Lohninflationsrate. Mit einer Linksbewegung entlang der Phillips-Kurve infolge einer rückläufigen Arbeitslosenquote steigt das Ausmaß der Preis- und Lohnerhöhungen. Dieser Kurve liegt ein wichtiges Element der Inflationsarithmetik zugrunde. Nehmen wir an, die Arbeitsproduktivität (Produktion pro Beschäftigten) stiege kontinuierlich um 1 Prozent jährlich. Zudem unterstellen wir der Einfachheit halber, dass Unternehmen die Preise auf Basis der durchschnittlichen Ar-
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9
7
8
6
7
5
6
4
Phillips-Kurve
5
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4
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3
1
2
0
1
2 3 4 5 6 7 8 9 10 Arbeitslosenrate (in Prozent)
beitskosten festlegen, weshalb sich die Preise nur im gleichen Maß wie die durchschnittlichen Arbeitskosten pro Produktionseinheit ändern. Aus einer Lohnerhöhung von 4 Prozent und einer Produktivitätssteigerung um 1 Prozent resultiert somit eine durchschnittliche Arbeitskostenerhöhung von 3 Prozent. Konsequenterweise steigen auch die Preise um 3 Prozent. Mittels derartiger Berechnungen können wir also die Beziehung zwischen Lohn- und Preiserhöhungen in Abbildung 32-8 beschreiben. Diese beiden Skalen unterscheiden sich nur durch die erwartete Zuwachsrate der Produktivität. (Eine Preisänderung von jährlich 4 Prozent würde einer Lohnänderung von 5 Prozent entsprechen, wenn die Produktivitätszuwachsrate 1 Prozent jährlich betrüge und die Preise immer genauso schnell wie die durchschnittlichen Arbeitskosten anstiegen.) Die Logik der Lohn-Preis-Arithmetik
ΔW/W jährlicher Lohnanstieg (in Prozent)
Preisinflation (in Prozent pro Jahr)
Δ P/P
945
1
Abbildung 32-8: Die kurzfristige Phillips-Kurve beschreibt den Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit Die kurzfristige Phillips-Kurve zeigt die inverse Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Die Skalen der beiden senkrechten Achsen unterscheiden sich insofern, als bei den Lohnveränderungen auf der rostfarbene Skala (rechts) ein Zuwachs der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität um 1 Prozent angenommen wird; somit ist diese Skala höher als die schwarze Inflationsskala (links).
Die Beziehung zwischen Preisen, Löhnen und Produktivität lässt sich in folgender Formel ausdrücken: Die Tatsache, dass die Preise auf den durchschnittlichen Arbeitskosten pro Produktionseinheit beruhen, bedeutet, dass P sich immer proportional zu WL/Q verhält, wobei P das Preisniveau, W die Lohnquote, L die Arbeitsstunden und Q die Produktion bezeichnet. Nehmen wir an, die durchschnittliche Arbeitsproduktivität (Q/L) stiege stetig um 1 Prozent pro Jahr. Wenn nun die Löhne um 4 Prozent pro Jahr steigen, wird dies die Preise um 3 Prozent jährlich ( = 4 Prozent Lohnwachstum – 1 Prozent Produktivitätswachstum) in die Höhe treiben. Allgemeiner ausgedrückt gilt: prozentualer Inflations- prozentualer = – Anstieg der rate Lohnanstieg Produktivität Diese Gleichung zeigt die Beziehung zwischen der Inflation der Preise und Löhne. Wie eng diese Beziehung ist, können wir anhand tatsächlicher Zahlen aus einer Periode mit hoher und einer mit niedriger Infla-
946
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
tion verdeutlichen. Die folgende Tabelle zeigt, dass die Inflation langfristig vom Anstieg der Löhne und den Veränderungen der Produktivität bestimmt wird. Von der ersten auf die zweite Periode nahm die Inflation zu, weil die Löhne geringfügig anstiegen, während die Produktivität deutlich zurückging. Während der letzten beiden Jahre war die Inflation deshalb so niedrig, weil die Löhne nur langsam erhöht wurden, während die Produktivität wieder deutlicher anstieg. Inflationsrate (VPI) (%)
Lohnanstieg (%)
Anstieg der Produktivität (%)
1959–1973
3,1
5,8
3,2
1974–1997
6,0
6,3
1,5
1998–1999
2,4
3,9
2,5
Alle Werte beziehen sich auf die USA. Quelle: Bureau of Labor Statistics, Daten für den Unternehmenssektor, verfügbar unter www.bls.gov.
Die inflationsneutrale Arbeitslosenquote Wirtschaftswissenschaftler, die Inflationszeiten untersuchten, stellten fest, dass die Phillips-Kurve in Abbildung 32-8 recht instabil ist. Auf der Grundlage der theoretischen Arbeiten von Edmund Phelps und Milton Friedman, kombiniert mit statistischen Analysen der jüngsten Geschichte, entwickelten die Makroökonomen eine moderne Inflationstheorie, die zwischen langfristiger und kurzfristiger Entwicklung unterscheidet. Die nach unten geneigte Phillips-Kurve aus Abbildung 32-8 kann nur kurzfristig als Erklärungsansatz dienen. Langfristig gesehen verläuft die PhillipsKurve senkrecht und nicht nach unten gekrümmt. Dies bedeutet aber, dass es langfristig eine Mindestarbeitslosenquote gibt, die mit einer stetigen Inflationsrate einhergeht. Dabei handelt es sich um die in früheren Kapiteln schon erwähnte inflationsneutrale Arbeitslosenquote oder NAIRU (nonaccelerating inflation rate of unemployment).5
Teil 7
Die inflationsneutrale Arbeitslosenquote (oder NAIRU) ist diejenige Arbeitslosenquote, die mit einer konstanten Inflationsrate vereinbar ist. Wenn eine inflationsneutrale Arbeitslosenquote vorliegt, dann wird auf die Preis- oder Lohninflation der gleiche Druck nach oben und unten ausgeübt, sodass die Inflation keine Neigung zur Veränderung zeigt. Die inflationsneutrale Arbeitslosenquote ist die niedrigste Arbeitslosenquote, die langfristig vorherrschen kann, ohne dass die Inflation in die Höhe getrieben wird. Dem NAIRU-Konzept liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Zustand einer Volkswirtschaft stets von einer der folgenden drei Situationen beschrieben wird: • Überschüssige Nachfrage. Wenn die Märkte äußerst angespannt sind, mit geringer Arbeitslosigkeit und hoher Auslastung aller Kapazitäten, wird auf Preise und Löhne ein Nachfragesog ausgeübt, was die Inflation antreibt. • Überschüssiges Angebot. In Zeiten der Rezession, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist und Fabriken stillstehen, senken Unternehmen ihre Preise, und die Beschäftigten halten sich mit Lohnforderungen zurück. Preis- und Lohninflation sind niedrig. • Druckneutrale Situation. Mitunter bewegt sich die Wirtschaft sozusagen im „druckneutralen“ Raum. Der Druck nach oben, der von freien Stellen ausgeht, hält sich mit dem von der Arbeitslosigkeit ausgeübten Druck nach unten die Waage. Es kommt in der Wirtschaft zu keinen exogen bedingten plötzlichen Veränderungen, beispielsweise zu einer drastischen Ölpreiserhöhung. In diesem Fall liegt eine inflationsneutrale Arbeitslosenquote vor, und die Inflation bewegt sich weder nach oben noch nach unten. 5 Gelegentlich begegnet man auch anderen Bezeichnungen. Der ursprüngliche Ausdruck für NAIRU war „natürliche Inflationsrate“. Diese Bezeichnung ist unbefriedigend, denn die NAIRU hat nichts Natürliches an sich.
947
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
Der Übergang von kurz- zu langfristig
mehrt Arbeitskräfte einstellen und eine höhere Entlohnung anbieten als zuvor. Wenn sich die Produktion der Kapazitätsgrenze nähert, werden die Margen erhöht. Damit beginnen Löhne und Preise zu steigen. Für unsere Phillips-Kurve bedeutet dies, dass sich die Volkswirtschaft entlang der kurzfristigen Phillips-Kurve zu Punkt B links oben bewegt (entlang der SRPC in Abbildung 32-9). Wie in der Abbildung dargestellt, haben sich die Inflationserwartungen noch nicht verändert, daher bewegt sich die Wirtschaft nach wie vor entlang der ursprünglichen Phillips-Kurve, SRPC. In der zweiten Periode führt die gesunkene Arbeitslosenquote zu einer höheren Inflation.
Wie bewegt sich eine Wirtschaft vom kurzfristigen zum langfristigen Zustand? Der Grundgedanke lautet, dass sich die kurzfristige Phillips-Kurve bei unerwarteten Preisänderungen nach oben oder unten verlagert. Diese Entwicklung wird hier in einer Reihe von Schritten anhand einer „Hochkonjunkturphase“ und in Abbildung 32-9 verdeutlicht: • Periode 1. In der ersten Periode herrscht eine inflationsneutrale Arbeitslosigkeit. Es gibt weder nachfrage- noch angebotsseitige Überraschungen, und die Volkswirtschaft befindet sich auf der unteren kurzfristigen Phillips-Kurve (SRPC) in Punkt A.
• Periode 3. Firmen und Beschäftigte werden vom Anstieg der Inflation überrascht, und sie revidieren ihre Inflationserwartungen nach oben. Sie bauen diese Erwartungen in ihre Lohn- und Preisentscheidungen mit ein. Das Resultat ist eine Verlage-
• Periode 2. Nun nehmen wir an, dass eine wirtschaftliche Expansion zum Rückgang der Arbeitslosenquote führt. Die Arbeitslosenziffer sinkt, weil die Unternehmen verSRPC ′
Langfristige Phillips-Kurve
SRPC Inflationsrate
Inflation 2,3
C B
Kurzfristige Phillips-Kurve für Periode 3
Inflation 1
A
Kurzfristige Phillips-Kurve für die Perioden 1 und 2
U ∗ = NAIRU Arbeitslosenquote
Abbildung 32-9: Die Verlagerung der Phillips-Kurve Diese Abbildung zeigt, wie eine wirtschaftliche Expansion zu einer bösen inflationären Überraschung und einer Verschiebung der kurzfristigen Phillips-Kurve nach oben führt. Die einzelnen Schritte der Verlagerung werden in der Aufzählung im Text erläutert. Beachten Sie, dass die Verlagerung der Kurve bei Verbindung der Punkte A, B und C eine im Uhrzeigersinn verlaufende Schlaufe darstellt.
948
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
rung der kurzfristigen Phillips-Kurve. Die neue kurzfristige Phillips-Kurve ist als SRPC' in Abbildung 32-9 eingezeichnet; sie liegt oberhalb der ursprünglichen Phillips-Kurve, was die höhere erwartete Inflationsrate widerspiegelt. Die Kurve wurde hier so gezeichnet, dass die neue erwartete Inflationsrate für Periode 3 der tatsächlichen Inflationsrate in der zweiten Periode entspricht. Wenn eine Verlangsamung wirtschaftlicher Aktivitäten in Periode 3 die Arbeitslosenquote auf das Niveau der NAIRU zurückführt, bewegt sich die Volkswirtschaft zu Punkt C. Obgleich die Arbeitslosenquote nun ebenso hoch ist wie in der ersten Periode, ist die tatsächliche Inflation jetzt höher, bedingt durch die Verschiebung der kurzfristigen Phillips-Kurve nach oben. Beachten Sie dieses erstaunliche Ergebnis. Da die erwartete Inflationsrate gestiegen ist, liegt die tatsächliche Inflationsrate in Periode 3 über derjenigen in Periode 1, obgleich die Arbeitslosenquote dieselbe ist. In der dritten Periode erreicht die Volkswirtschaft dasselbe reale BIP und die gleiche Arbeitslosenquote wie in der ersten Periode, obwohl die nominalen Größen (Preise und nominales BIP) nun rascher steigen als zu der Zeit, bevor die Wirtschaftsexpansion die erwartete Inflationsrate erhöhte. Wir können auch einen „Wirtschaftsabschwung“ nachzeichnen, der dann auftritt, wenn die Arbeitslosigkeit steigt und die tatsächliche Inflationsrate hinter der erwarteten zurückbleibt. In einer Rezession sinkt die erwartete Inflationsrate, und die Wirtschaft kehrt bei einem niedrigeren Inflationsniveau zur inflationsneutralen Arbeitslosigkeit zurück. Eine derart schmerzhafte Entwicklung aufgrund eines Sparkurses der öffentlichen Hand erlebten die Vereinigten Staaten von 1979 – 1984 im Zuge der Inflationsbekämpfung der Carter-Volcker-Reagan-Ära.
Teil 7
Die senkrechte langfristige Phillips-Kurve Wenn die Arbeitslosenquote von dem inflationsneutralen Niveau abweicht, führt dies tendenziell zu einer Änderung der Inflationsrate. Was geschieht, wenn die Lücke zwischen der tatsächlichen und der inflationsneutralen Arbeitslosenrate bestehen bleibt? Nehmen wir zum Beispiel an, die NAIRU liege bei 5 Prozent, die tatsächliche Arbeitslosenrate bei 3 Prozent. Aufgrund dieser Lücke wird die Inflation jährlich eher steigen. Sie könnte im ersten Jahr 3 Prozent, im zweiten Jahr 4 Prozent, im dritten Jahr 5 Prozent betragen – und in den darauffolgenden Jahren immer weiter steigen. Wann würde diese Aufwärtsbewegung enden? Sie kommt erst zum Stillstand, wenn die Arbeitslosenquote zu ihrem inflationsneutralen Niveau zurückkehrt. Anders ausgedrückt: Solange das tatsächliche Niveau der Arbeitslosigkeit unter dem inflationsneutralen bleibt, wird die Inflation zunehmen. Der genau entgegengesetzte Trend ist bei hoher Arbeitslosigkeit zu beobachten: Liegt die Arbeitslosenquote über der inflationsneutralen, wird die Inflation eher sinken. Die Inflationsrate stabilisiert sich erst, wenn wieder die inflationsneutrale Arbeitslosenquote erreicht ist; erst dann werden die Angebots- und Nachfrageänderungen auf den unterschiedlichen Arbeitsmärkten im Gleichgewicht sein; erst dann wird die Inflation – egal bei welchem beständigen Wert – weder steigen noch fallen. Die moderne Inflationstheorie hat wichtige Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik. Sie unterstellt, dass es ein Mindestniveau an Arbeitslosigkeit gibt, das in einer Wirtschaft auch langfristig vorherrschen kann. Wenn in einer Volkswirtschaft eine sehr hohe Produktion und Beschäftigung erreicht werden, wird dies die Preis- und Lohnspirale nach oben treiben. Die Theorie liefert auch eine Formel zur Inflationsbekämpfung. Falls die Inflationsrate zu hoch ist, können in einem Land das Geld verknappt, eine Rezession ausge-
949
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
löst und die Arbeitslosenquote über das inflationsneutrale Niveau hinaus erhöht werden, um so die Inflation zu senken. Die inflationsneutrale Arbeitslosenquote definiert den neutralen Bereich zwischen sehr hoher Beschäftigung/steigender Inflation und hoher Arbeitslosigkeit/rückläufiger Inflation. Kurzfristig kann man die Inflation senken, indem man die Arbeitslosenquote über das inflationsneutrale Niveau steigen lässt, aber langfristig betrachtet handelt es sich bei der NAIRU um die niedrigste beständige Arbeitslosenquote.
Quantitative Schätzungen Obgleich die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit ein wesentliches makroökonomisches Konzept darstellt, gibt es bisher keine präzisen numerischen Schätzungen dafür. Viele Makroökonomen haben für derartige Schätzungen komplexe Methoden entwickelt. Für dieses Buch haben wir die Werte übernommen, die vom Congressional Budget Office (CBO) vorgelegt wurden. Laut dem CBO stieg die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit in den USA während der fünfziger Jahre allmählich an, erreichte etwa um 1980 einen Höhepunkt bei 6,3 Prozent aller Erwerbstätigen und sank dann bis 2002 wieder auf 5,2 Prozent. Die CBO-Schätzungen sind zusammen mit der tatsächlichen Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 in Abbildung 32-10 dargestellt.
12
Arbeitslosenquote (in Prozent)
10
8 NAIRU 6
4 Tatsächliche Rate 2
0 1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975 Jahr
1980
1985
1990
1995
2000
Abbildung 32-10: Tatsächliche und inflationsneutrale Arbeitslosenquote Die inflationsneutrale Arbeitslosenquote (NAIRU) ist diejenige Quote, bei der sich die Kräfte, welche die Inflation antreiben oder dämpfen, im Gleichgewicht befinden. Quelle: Die tatsächliche Arbeitslosenquote wurde vom Bureau of Labor Statistics erhoben; die inflationsneutrale Arbeitslosenquote beruht auf Schätzungen des Congressional Budget Office.
950
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Das Inflationsrätsel der neunziger Jahre Gegen Ende der neunziger Jahre erlebten die Vereinigten Staaten eine Phase ungewöhnlicher gesamtwirtschaftlicher Stabilität und des Wohlstands. Die Produktion stieg rasch an, die Arbeitslosigkeit sank drastisch, und die Inflationsrate befand sich auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Während sich die meisten Amerikaner einfach über das gesunde Wirtschaftswachstum freuten, waren die Makroökonomen über das ungewöhnliche Verhalten von Löhnen und Preisen überrascht. Wirtschaftsstudien aus früheren Zeiten deuteten darauf hin, dass Löhne und Preise anfangen würden zu steigen, wenn die Arbeitslosenquote unter ihr inflationsneutrales Niveau fiele, das man allgemein bei etwa 5,5 Prozent der Erwerbstätigen ansiedelte. Ab 1997 lag die Arbeitslosenquote drei Jahre lang unter 5 Prozent. Doch während dieser Zeit ging die Inflation zurück. Das Rätsel, das sich den Inflationstheoretikern stellte, ist in Abbildung 32-11 dargestellt. Die Linie, die mit „tatsächlich“ gekennzeichnet ist, zeigt die wirkliche Inflationsrate für den Zeitraum 1995–1999. Die als „Prognose“ gekennzeichnete Linie zeigt entsprechend die aufgrund des historischen Zusammenhangs zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit prognostizierte Inflationsrate, wobei eine inflationsneutrale Arbeitslosenquote von 5,5 Prozent angenommen wurde. Die üblichen Theorien zur Phillips-Kurve hätten für 1999 eine Inflationsrate von 4 Prozent vorhergesagt, tatsächlich lag sie jedoch bei etwa 2 Prozent. Viele angebotsorientierte Anhänger der klassischen Lehre betrachten die Entwicklung während der neunziger Jahre als einen weiteren Nagel im Sarg der PhillipsKurve. Andere suchen nach besonderen Einflüssen als Erklärung. Was könnte die Inflation während der neunziger Jahre gebremst haben? Der damalige Vorsitzende der Federal Reserve, Alan Greenspan, vertrat folgende Auffassung:
Teil 7
Die zunehmende Verfügbarkeit von Maschinen, Geräten und Software, die Arbeitskräfte ersetzen konnten – zu sinkenden Preisen sowie bei verbesserten Lieferzeiten –, stecken wohl hinter dem Unvermögen der Unternehmen, während der letzten Jahre ihre Preise zu erhöhen. Natürlich waren auch andere Kräfte am Werk, die dazu beitrugen, die Inflation auf niedrigem Niveau zu halten. Die weltweit verfügbare Kapazität wuchs deutlich, als sich eine Reihe von Ländern, die zuvor dem autarken Sowjetblock angehört hatten, dem Westen öffneten und als viele Schwellenländer einen Wirtschaftsaufschwung verzeichneten. Ein Rückgang der Ausgaben für den Kalten Krieg in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern setzte Ressourcen für produktivere privatwirtschaftliche Zwecke frei. Außerdem erwiesen sich Deregulierungen, die Engpässe beseitigten und somit die Reaktionsfähigkeit des Angebots in vielen Volkswirtschaften, insbesondere der unsrigen, verbesserten, als weitere beachtliche Kraft, die Preiserhöhungen entgegenwirkte. Darüber hinaus senkte die weltweite Wirtschaftskrise in den Jahren 1997 und 1998 die Preise für Energie und andere wichtige Faktoren für Produktion und Konsum, was ebenfalls dazu beitrug, die Inflation mehrere Jahre lang in Schach zu halten.6
Zweifel an der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit 6 Das Konzept der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit sowie sein Gegenstück auf der Produktionsseite, das potenzielle BIP, ist wesentlich für das Verständnis der Inflation und des Übergangs von kurzfristigen zu langfristigen Darstellungen in der Makroökonomie. Diese Theorie wird jedoch nach wie vor kontrovers diskutiert. Kritiker stellen infrage, dass es sich bei der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit um ein zuverlässiges Konzept handelt. Die Erfahrungen mit der Inflation in den Vereinigten 6 Vergleichen Sie hierzu den Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel und die dortigen Hinweise auf die Rede von Alan Greenspan sowie die Artikel von Lawrence Katz, Alan Krueger und Robert Gordon, in denen das Inflationsrätsel der neunziger Jahre diskutiert wird.
951
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
5
1999 Prognose laut historischen Erfahrungen
Inflationsrate (in Prozent)
4
3 1995 1999 tatsächlich
2
1 4,0
4,5
5,0
5,5
6,0
Arbeitslosenquote (in Prozent)
Abbildung 32-11: Tatsächliche und prognostizierte Inflation, 1995–1999 Gegen Ende der neunziger Jahre war die Inflation während einer Periode raschen Wachstums und niedriger Arbeitslosigkeit erstaunlich gering. Diese Abbildung zeigt die tatsächliche Inflationsrate gegen Ende der neunziger Jahre zusammen mit der entsprechenden Prognose aufgrund einer herkömmlichen Gleichung. Bedeutete dies den Beginn einer „neuen Ära“ in der amerikanischen Wirtschaft – oder nur ein Zusammentreffen von unvorhergesehenen Ereignissen, die sich günstig auf Preise und Löhne auswirkten? Quelle: Die tatsächlichen Zahlen zum Verbraucherpreisindex und der Arbeitslosenquote wurden vom Bureau of Labor Statistics erhoben. Die Inflationsprognose fußt auf der Annahme, die inflationsneutrale Arbeitslosenquote läge bei 5,5 Prozent.
Staaten haben zumindest für dieses Land den Glauben an eine stabile NAIRU untergraben. Eine andere Frage ist, ob eine längere Periode hoher Arbeitslosigkeit insgesamt zu einer Absenkung des Niveaus von Fachkenntnissen sowie zu einem Verlust von Berufserfahrung und beruflicher Fertigkeiten führt, mit der Folge, dass die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit steigt. Könnte nicht auch ein schwaches reales BIP-Wachstum zu einem Rückgang der Investitionen führen und dem Land einen rückläufigen volkswirtschaftlichen Kapitalstock bescheren? Und wäre es nicht möglich, dass dieser Kapazitätsengpass eine höhere Inflation nach sich zieht, selbst wenn die tatsächliche Arbeitslosenrate über der inflationsneutralen Rate liegt?
Die europäischen Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte unterstützen einige dieser Zweifel. (Erinnern Sie sich an unsere Erörterung der hohen Arbeitslosigkeit in Europa am Ende des letzten Kapitels.) In den frühen sechziger Jahren befanden sich die Arbeitsmärkte in Deutschland, Frankreich und Großbritannien mit Arbeitslosenraten zwischen l Prozent und 2 Prozent im Gleichgewicht. Nach einem Jahrzehnt der Stagnation und unzureichender Schaffung von Arbeitsplätzen schien das Arbeitsmarktgleichgewicht in den frühen neunziger Jahren plötzlich bei Arbeitslosenraten zwischen 6 Prozent und 12 Prozent zu liegen. Aufgrund dieser europäischen Erfahrungen in jüngerer Zeit suchen viele Makroökonomen nach Erklä-
952
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
rungen für die Instabilität der inflationsneutralen Arbeitslosenquote und für ihre Abhängigkeit von der tatsächlichen Arbeitslosigkeit sowie von den Gegebenheiten am Arbeitsmarkt.
Teil 7
flation und Arbeitslosigkeit entwickelt wurden, müssen sich ebenfalls anpassen. In diesem letzten Abschnitt zur Inflationstheorie behandeln wir die dringenden Probleme, die im Zusammenhang mit der Inflationsbekämpfung auftreten.
Zur Wiederholung Die für das Verständnis wichtigen Punkte sind die folgenden: • Kurzfristig führt ein Anstieg der Gesamtnachfrage, der die tatsächliche Arbeitslosenquote unter das inflationsneutrale Niveau senkt, zu einer höheren Inflationsrate. Rezessionen und hohe Arbeitslosigkeit lösen tendenziell einen Rückgang der Inflation aus. Kurzfristig muss man sich zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit entscheiden. • Liegt die Inflation unter oder über dem von den Menschen erwarteten Wert, dann werden die Erwartungen angepasst. Diese veränderten Inflationserwartungen verschieben im Allgemeinen die kurzfristige Phillips-Kurve nach oben oder unten. • Die langfristige Phillips-Kurve verläuft bei inflationsneutraler Arbeitslosigkeit (NAIRU) senkrecht. Eine Arbeitslosenquote über (unter) dem inflationsneutralen Niveau senkt (erhöht) tendenziell die Inflationsrate. • Phillips-Kurven sind langfristig instabil und von Land zu Land verschieden.
C. Probleme der Inflationsbekämpfung Eine Volkswirtschaft entwickelt sich in Reaktion auf politische Einflüsse und technische Veränderungen. Unsere Wirtschaftstheorien, die zur Erklärung von Phänomenen wie In-
Wie lange ist langfristig? Die Theorie der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit besagt, dass die Phillips-Kurve langfristig gesehen senkrecht verläuft. Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang langfristig? Man kennt den Zeitraum, den eine Volkswirtschaft benötigt, um sich vollständig an plötzliche Veränderungen anzupassen, nicht genau. Neuere Studien legen den Schluss nahe, dass eine völlige Anpassung zumindest fünf, wenn nicht sogar zehn Jahre erfordert. Der Grund für diese beträchtliche Verzögerung ist darin zu sehen, dass es Jahre dauert, bis sich Erwartungen anpassen, bis Arbeits- und andere langfristige Verträge neu verhandelt werden und bis alle diese Entwicklungen die ganze Volkswirtschaft durchdringen.
Wie viel kostet es, die Inflation zu senken? Unsere Analyse scheint anzudeuten, dass ein Land die schleichende Inflation eindämmen kann, indem es zeitweilig die Produktion drosselt und so die Arbeitslosigkeit erhöht. Doch die politischen Entscheidungsträger werden wissen wollen, wie viel es kostet, die Inflation aus der Volkswirtschaft zu verbannen. Wie teuer kommt die Desinflation, also Maßnahmen zur Senkung der Inflationsrate? Untersuchungen dieser Frage gelangen zu dem Ergebnis, dass derartige Kosten von dem betreffenden Land, der anfänglichen Inflationsrate und den ergriffenen Maßnahmen abhängen. Für die Vereinigten Staaten führen die bisherigen Studien zu einer weitgehend übereinstimmenden Antwort: Eine Senkung der Kerninflation um einen Pro-
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Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
zentpunkt kostet die Nation etwa 4 Prozent des BIP eines Jahres. Wenn wir vom gegenwärtigen BIP-Niveau ausgehen, entspricht dies einem Verlust an Produktionsleistung von US-$ 400 Milliarden (in Preisen von 2003), um die Inflationsrate um einen Prozentpunkt zu senken. Zum Verständnis der Kosten der Desinflation ziehen wir die Phillips-Kurve heran. Wenn die Phillips-Kurve vergleichsweise flach verläuft, erfordert die Senkung der Inflationsrate ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit und Produktionsverlust; ist die PhillipsKurve dagegen steil, wird ein geringer Anstieg der Arbeitslosigkeit die Inflation rasch und vergleichsweise schmerzlos senken. Statistische Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein einjähriger Anstieg der Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt über die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit mit anschließender Rückkehr der Arbeitslosigkeit auf inflationsneutrales Niveau zu einem Rückgang der Inflationsrate um einen halben Prozentpunkt führt. Wenn man die Inflation um einen ganzen Prozentpunkt senken will, muss daher die Arbeitslosenquote ein ganzes Jahr lang um zwei Prozentpunkte über der NAIRU gehalten werden. Vergegenwärtigen Sie sich bitte noch einmal das Okunsche Gesetz (das in Kapitel 31 besprochen wurde). Danach liegt das tatsächliche BIP um 4 Prozent unter dem potenziellen BIP, wenn sich die Arbeitslosenquote um zwei Prozentpunkte über der inflationsneutralen Quote befindet. Bei einem potenziellen BIP im Jahr 2003 von US-$ 10.000 Milliarden (zu Preisen des Jahres 1999) würde eine Senkung der Inflation um l Prozentpunkt einen einjährigen Anstieg der Arbeitslosenrate (U) um rund zwei Prozentpunkte erfordern. In US-Dollar berechnet betragen die Kosten einer Inflationssenkung um ein Prozentpunkt somit insgesamt 2 U-Punkte 2 Prozent des BIP, also 0,4 Prozent US-$ 10.000 Milliarden = US-$ 400 Milliarden. Es herrscht jedoch eine gewisse Unsicherheit bei diesen Berechnungen, und die Schätzungen der Kosten schwanken zwischen US-$
200 Milliarden und US-$ 550 Milliarden je Prozentpunkt Inflationsverringerung. Diese statistische Kostenschätzung der Inflationsbekämpfung lässt sich mit den Erfahrungen während der tiefen Rezession, die zu Beginn der achtziger Jahre in den USA herrschte, vergleichen. Tabelle 32-2 zeigt eine Kalkulation des geschätzten Produktionsverlusts aufgrund der Rezession (verglichen mit dem potenziellen Produktionsniveau) sowie des geschätzten Rückgangs der beständigen Inflationsrate. Diese Berechnung deutet darauf hin, dass die Desinflation in den Jahren 1980 bis 1984 den Staat rund US-$ 275 Milliarden an entgangener Produktion (in Preisen des Jahres 2003) je Prozentpunkt Inflationssenkung gekostet hat. Die statistische Kostenschätzung der Desinflation konnte also für diese Zeitspanne bestätigt werden.
Glaubwürdigkeit und Inflation Eine der wichtigsten Fragen bezüglich antiinflationärer Maßnahmen bezieht sich auf die Glaubwürdigkeit solcher Maßnahmen. Viele Ökonomen argumentieren, der Ansatz der Phillips-Kurve sei zu pessimistisch. Diese Kritiker vertreten die Auffassung, dass glaubwürdige und öffentlich angekündigte Wirtschaftsmaßnahmen – beispielsweise strenge Geldmengenregeln oder Zielvorgaben für das nominale BIP – es der Antiinflationspolitik ermöglichen würden, die Inflation bei geringeren Produktions- und Arbeitslosenkosten zu senken. Diese Vorstellung beruht auf der Tatsache, dass sich die Inflation üblicherweise nur langsam ändert und dass diese Veränderungen von den Erwartungen der Menschen an die Inflationsentwicklung abhängen. Eine glaubwürdige Geldpolitik – beispielsweise eine, die strikt eine bestimmte niedrige Inflationsrate anstrebt – könnte zu der Erwartung führen, dass die zukünftige Inflation niedriger ausfallen werde, und dieser Glaube könnte sich wenigstens teilweise als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen. Die Befürworter einer glaubwürdigen Politik unterstützen ihre
954
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Die Kosten der Desinflation, 1980–1984 Kerninflationsrate: 1979
9%
1984
4%
Veränderung:
–5 Prozentpunkte
Differenz zwischen potenziellem und tatsächlichem BIP (in US-$, zu Preisen von 2003): 1980
150 Mrd.
1981
170 Mrd.
1982
440 Mrd.
1983
425 Mrd.
1984
190 Mrd.
Insgesamt: US-$ 1.375 Mrd. Kosten der Desinflation = US-$ 1.375 Mrd. ÷ 5 Prozentpunkte = US-$ 275 Mrd. pro Prozentpunkt = 24 Prozent des BIP = 4,8 Prozent des BIP pro Prozentpunkt Inflation Tabelle 32-2: Die Kosten der Desinflation, 1980–1984 Wie hoch waren die Kosten für die Senkung der Inflationsrate von 1980 – 1984? Eine restriktive Geldpolitik führte zu einer schweren Rezession, während der die Produktionsleistung der US-Wirtschaft um US-$ 1.375 Milliarden unterhalb des potenziellen BIP lag. Infolgedessen sank die Inflationsrate um 5 Prozentpunkte. Bei einer Division dieser beiden Zahlen ergibt sich ein Produktionsverlust von schätzungsweise US-$ 275 Milliarden pro Prozentpunkt Inflationssenkung. (Quelle: Schätzungen der Autoren auf der Basis von CBO-Schätzungen der inflationsneutralen Arbeitslosenquote)
Theorien mit Hinweisen auf „Maßnahmenänderungen“, wie die Reformen der Geld- und Fiskalpolitik, welche die österreichische und bolivianische Hyperinflation zu vergleichsweise niedrigen Kosten in Bezug auf Produktionsverluste und Arbeitslosenzahlen beendeten. Viele Wirtschaftswissenschaftler standen der Behauptung skeptisch gegenüber, dass Glaubwürdigkeit die mit einer Desinflation verbundenen Produktionsverluste signifikant reduzieren könnte. Während solche Maßnahmen in Ländern funktionieren könnten, die unter Hyperinflation, Kriegen oder Revolutionen litten, wären sie in den Vereinigten Staaten viel weniger glaubwürdig. Sowohl der Kongress als auch der Präsident würden den Mut verlieren, wenn im Rahmen der Inflationsbekämpfung die Arbeitslosenzah-
len drastisch anstiegen, und Bauern wie Bauarbeiter würden das Kapitol stürmen und das Weiße Haus belagern. Das mutige US-amerikanische Experiment der Jahre 1980 – 1984 war ein gutes Versuchsobjekt, um die Kritik an der Glaubwürdigkeitsthese zu überprüfen. In der erwähnten Periode wurde ganz eindeutig eine restriktive Geldpolitik betrieben. Wie Tabelle 32-2 zeigt, waren die Kosten der Inflationsbekämpfung trotzdem hoch. Offensichtlich hat die strikte vorangekündigte Politik zur Verstärkung der Glaubwürdigkeit die Kosten der Desinflation in den Vereinigten Staaten nicht gesenkt. Da die wirtschaftliche und politische Lage in den Vereinigten Staaten so stabil ist, mögen die Erfahrungen dieses Landes untypisch sein. Wirtschaftswissenschaftler haben anti-
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
inflationäre Maßnahmen in anderen Ländern untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie gelegentlich expansive Wirkung haben können. Eine wenige Jahre alte Studie von Stanley Fischer, Ratna Sahay und Carlos A. Végh kam zu folgendem Ergebnis: Perioden hoher Inflation gehen mit einer schlechten gesamtwirtschaftlichen Leistung einher. Vor allem wirkt sich eine hohe Inflation negativ auf das Wirtschaftswachstum aus. Diese Erkenntnis stützt sich auf eine Stichprobe von 18 Ländern, die Phasen hoher Inflation erlebt haben. Während solcher Zeiträume sank das reale BIP pro Kopf im Durchschnitt um 1,6 Prozent pro Jahr (verglichen mit einem positiven Wachstum von 1,4 Prozent in Jahren niedriger Inflation). ... Stabilisierungsbemühungen mithilfe des Wechselkurses scheinen zu einer anfänglichen Steigerung des realen BIP und des realen privaten Konsums zu führen.7
Wie kann die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit gesenkt werden? Angesichts der Kosten hoher Arbeitslosigkeit scheint die Frage gerechtfertigt, ob die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit das bestmögliche Niveau für die Nichtbeschäftigung ist. Falls nicht, wie kann sie dann weiter auf ein annehmbareres Niveau gesenkt werden? Wirtschaftswissenschaftler der klassischen Schule argumentieren häufig, dass die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit (oder die von ihnen so genannte „natürliche Arbeitslosenquote“) das effiziente Arbeitslosigkeitsniveau einer Volkswirtschaft darstelle. Sie vertreten die Auffassung, dies sei das Ergebnis von Angebot und Nachfrage, die zusammen ein effizientes System von Arbeitsplätzen, freien Stellen und Stellensuchenden schafften. Ihrer Meinung nach ist es genauso sinnlos, die NAIRU zu senken wie die Anzahl freier Mietwohnungen oder die Anzahl von Ersatzreifen, die wir in unseren Autos haben.
7 Siehe die Hinweise zu Fischer und anderen im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
955 Andere Ökonomen widersprechen ihnen vehement und erklären, die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit liege wahrscheinlich über der optimalen Arbeitslosenquote, bei welcher der Nettowohlstand einer Volkswirtschaft maximiert werde. Diese Gruppe argumentiert, dass der Arbeitsmarkt auch auf andere Bereiche deutliche Auswirkungen habe. Beispielsweise litten Menschen, die entlassen würden, unter einer ganzen Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Doch die Arbeitgeber trügen die Kosten der Arbeitslosigkeit nicht; der größte Teil der Kosten (Arbeitslosenversicherung, Krankenkassenkosten, Beeinträchtigung des Familienlebens) erwiesen sich als externe Kosten, die von dem Arbeitslosen selbst oder der Regierung getragen würden. Wenn man die „externen“ Kosten der Arbeitslosigkeit mit berücksichtige, sei die inflationsneutrale Arbeitslosenquote sicherlich höher als das optimale Niveau. Eine Senkung der Quote würde somit den Nettowohlstand einer Nation erhöhen. Eine Gesellschaft, die herausfindet, wie man die inflationsneutrale Arbeitslosenquote signifikant senken kann, darf also mit einer beträchtlichen sozialen Dividende als Belohnung rechnen. Durch welche Maßnahmen könnte man die NAIRU senken? • Verbesserung der arbeitsmarktbezogenen Dienstleistungen. Ein Teil der Arbeitslosigkeit ist auf Mängel bei der Zusammenführung von freien Arbeitsplätzen und potenziellen Arbeitnehmern zurückzuführen. Das Ausmaß an friktioneller und struktureller Arbeitslosigkeit lässt sich mithilfe eines verbesserten Informationsflusses, etwa durch zentral verwaltete Listen freier Stellen, reduzieren. • Ausweitung von Ausbildungsprogrammen. Wenn Sie den Stellenteil Ihrer Zeitung durchlesen, werden Sie feststellen, dass in den meisten Inseraten Fertigkeiten gesucht werden, über die nur relativ wenige Menschen verfügen. Umgekehrt haben die meisten Arbeitslosen keine oder nur
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
geringe Qualifikationen, hatten bisher die für sie falsche Stelle oder waren in einer krisengeschüttelten Branche tätig. Staatliche und private Ausbildungsprogramme stellen eine Möglichkeit zur Umschulung von Arbeitslosen im Hinblick auf vielversprechendere Stellen in Wachstumsbereichen dar. Im Erfolgsfall bieten diese Programme einen doppelten Vorteil: Menschen erhalten so die Möglichkeit, ein produktives Leben zu führen, und die staatlichen Transferzahlungen werden gesenkt. • Beseitigung staatlicher Hemmnisse. Wir haben bereits erwähnt, dass der Staat in seinem Bestreben, die Menschen vor Arbeitslosigkeit und Armut zu schützen, zwar einerseits die verheerendsten Folgen der Arbeitslosigkeit beseitigt, er andererseits aber auch die Anreize zur Arbeitsuche verringert hat. Einige Ökonomen fordern eine Reform der Arbeitslosenversicherung und wollen jene Elemente in Sozialhilfe-, Fürsorge- und Behindertenprogrammen abbauen, die von der Annahme einer Arbeit abhalten. Während der letzten zwei Jahrzehnte haben die Vereinigten Staaten ihre Unterstützungsprogramme deutlich eingeschränkt, 1996 wurde das gesamte System der Sozialhilfe völlig neu strukturiert. Derartige Maßnahmen steigern wahrscheinlich den Anteil von Mitgliedern aus sozial schwachen
Teil 7
Haushalten an den Erwerbstätigen, aber die Auswirkungen auf die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit sind nicht eindeutig zu benennen. Wenn eine Kürzung der Sozialhilfe ungelernte und unerfahrene Arbeitskräfte, unter denen die Arbeitslosenquote generell hoch ist, auf den Arbeitsmarkt schwemmt, könnte dies die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit durchaus erhöhen. *** Nachdem wir die Theorie und historische Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Inflation erörtert haben, möchten wir mit der folgenden vorsichtigen Zusammenfassung schließen: Kritiker glauben, die hohe Arbeitslosigkeit, die häufig in Nordamerika und Europa herrscht, sei das wesentliche Manko des modernen Kapitalismus. Tatsächlich muss zur Erhaltung der Preisstabilität gelegentlich eine Arbeitslosigkeit über dem gesellschaftlich optimalen Niveau toleriert werden, und die notwendige Wahl zwischen Preisstabilität und niedriger Arbeitslosigkeit ist eines der grausamsten Dilemmas unserer modernen Gesellschaft. Während es den Vereinigten Staaten gelungen ist, während des letzten Jahrzehnts eine hohe Inflationsrate und/oder eine hohe Arbeitslosigkeit zu vermeiden, waren andere Länder in dieser Hinsicht weniger erfolgreich.
Zusammenfassung A. Definition und Auswirkungen der Inflation 1.
2.
Erinnern Sie sich daran, dass man von Inflation spricht, wenn das allgemeine Preisniveau steigt. Die Inflationsrate ist die prozentuale Veränderung eines Preisindex von einer Periode zur nächsten. Die für die USA wichtigsten Preisindizes sind der Verbraucherpreisindex (VPI) und der BIP-Deflator. Wie Krankheiten treten auch Inflationen mit unterschiedlicher Stärke auf. In den USA
herrscht im Allgemeinen eine niedrige Inflation (einige Prozentpunkte jährlich). Mitunter führt eine galoppierende Inflation aber zu Preissteigerungen von jährlich 50, 100 oder gar 200 Prozent. Von einer Hyperinflation spricht man, wenn die Notenpressen unaufhörlich Banknoten ausspucken und daraufhin die Preise allmonatlich um ein Vielfaches steigen. Aus historischer Sicht kennen wir Hyperinflationen fast nur im Zusammenhang mit Kriegen und Revolutionen.
957
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
3.
Eine Inflation beeinträchtigt die Entwicklung einer Volkswirtschaft, weil sie zu einer willkürlichen Verteilung von Einkommen und Vermögen führt und damit die volkswirtschaftliche Effizienz untergräbt. Die unerwartet auftretende Inflation begünstigt normalerweise Schuldner, Profitjäger und Spekulanten. Auf der Verliererseite stehen dagegen die Gläubiger, alle Teile der Bevölkerung mit fixem Einkommen und vorsichtige Investoren. Inflation führt zu Verzerrungen der relativen Preise, Steuerquoten und Realzinssätze. Die Menschen müssen häufiger den Weg zur Bank nehmen, die Steuerzahlungen steigen allmählich an, und auch das gemessene Einkommen kann verzerrt werden. Wenn die Zentralbanken Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung ergreifen, können die daraus entstehenden realen Kosten in Form von Produktionsverlusten und Arbeitslosigkeit sehr schmerzhaft sein.
6.
7.
B. Die moderne Inflationstheorie 4.
5.
Eine Volkswirtschaft hat zu jeder Zeit eine schleichende oder erwartete Inflationsrate. Dies ist jene Rate, mit der die Menschen rechnen und die sie deshalb auch in Arbeitsverträgen und sonstigen Übereinkünften berücksichtigen. Die Kerninflationsrate stellt ein kurzfristiges Gleichgewicht dar, das bis zum Eintritt plötzlicher wirtschaftlicher Ereignisse erhalten bleibt. Preisschocks sind jedoch in der Realität die ständigen Begleiter einer Volkswirtschaft. Hierbei bilden der Nachfragesog und der Kostenschub (demand-pull und cost-push) die zwei wichtigsten Ursachen des Preisauftriebs. Die nachfrageinduzierte Inflation resultiert aus einem Nachfrageüberhang, dem ein zu geringes Güterangebot gegenübersteht. Dies verursacht eine Verlagerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfragekurve nach rechts oben. Auf den Märkten steigen Löhne und Preise. Die kosteninduzierte Inflation ist ein relativ neues Phänomen in modernen Industriestaaten. Sie tritt bei einer allgemeinen Steigerung der Produktionskosten auf, und dies sogar in Perioden mit hoher Arbeitslosigkeit und freien Kapazitäten.
Die Phillips-Kurve veranschaulicht die Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Kurzfristig betrachtet bedeutet die Senkung der einen Größe die Erhöhung der jeweils anderen. Da sich im Zeitablauf die erwartete Inflation und andere Faktoren verändern, tendiert auch die kurzfristige Phillips-Kurve dazu, sich mit der Zeit zu verschieben. Wenn die politischen Entscheidungsträger die Arbeitslosigkeit längerfristig unter der inflationsneutralen Arbeitslosenquote halten wollen, bewirken sie damit zumeist einen Anstieg der Inflation. Die moderne Inflationstheorie gründet auf dem Konzept der inflationsneutralen Arbeitslosenquote (NAIRU). Diese stellt die niedrigste dauerhafte Arbeitslosigkeit in einem Land dar, bei der keine Inflationssteigerung droht. Es handelt sich hierbei um jenes Niveau unausgelasteter Ressourcen, bei dem sich Arbeits- und Produktmärkte in einem Inflationsgleichgewicht befinden. Gemäß der Theorie der inflationsneutralen Arbeitslosenquote gibt es keinen dauerhaften Zielkonflikt zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation, und die langfristige PhillipsKurve verläuft vertikal.
C. Probleme der Antiinflationspolitik 8.
9.
Für politische Entscheidungsträger sind die Kosten einer Verringerung der schleichenden Inflation von wesentlichem Interesse. Aktuelle Schätzungen legen den Schluss nahe, dass nur eine Rezession beträchtlichen Ausmaßes die schleichende Inflationsrate senken kann. Ökonomen haben zahlreiche Vorschläge zur Senkung der inflationsneutralen Arbeitslosenquote vorgelegt. Zu den beachtenswerten Empfehlungen gehören eine Verbesserung des Informationsflusses auf dem Arbeitsmarkt und die Reform von Aus- und Weiterbildungsprogrammen sowie der sonstigen öffentlichen Programme, sodass für Erwerbslose ein höherer Anreiz zur Arbeitsaufnahme besteht.
958
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Begriffe zur Wiederholung Geschichte und Theorien der Inflation P(t) – P(t – 1) Inflationsrate (t) = ------------------------------------P(t – 1)
× 100
Inflationsarten: niedrig galoppierend Hyperinflation Auswirkungen der Inflation (Umverteilung, auf Produktion und Beschäftigung) Erwartete und unerwartete Inflation Kosten der Inflation „Schuhsohlen“ Menükosten Verzerrungen von Einkommen und Steuern Informationsverlust Schleichende Inflation, Inflation aufgrund von Nachfragesog oder Kostendruck Kurzfristige und langfristige Phillips-Kurven Inflationsneutrale Arbeitslosenquote (NAIRU) und langfristige Phillips-Kurve
Probleme der Inflationsbekämpfung Kosten der Desinflation Maßnahmen zur Senkung der inflationsneutralen Arbeitslosenquote
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Das Zitat über die niedrige Inflation stammt aus George A. Akerlof, William T. Dickens und George L. Perry, „The Macroeconomics of Low Inflation“, Brookings Papers on Economic Activity, Nr. 1, 1996, S. 1– 59. Das Zitat von Stanley Fischer, Ratna Sahay und Carlos A. Végh stammt aus ihrem Artikel „Modern Hyper- and High Inflations“, Journal of Economic Literature, September 2002, S. 837–880. Interessante Untersuchungen des Rätsels Inflation finden sich in Lawrence F. Katz und Alan B. Krueger, „The High-Pressure U.S. Labor Market of the 1990s“, Brookings Papers on Economic Activity, Nr. 1, 1999, und Robert J. Gordon, „Foundations of the Goldilocks Economy“, Brookings Papers on Economic Activity, Nr. 2, 1998. Eine Besprechung der Faktoren, welche die inflationsneutrale Arbeitslosenquote beeinflussen, findet sich in: Congressional Budget Office, The Effect of Changes in Labor Markets on the Natural Rate of Unemployment, April 2002. Deutschsprachige Literatur: Jürgen Heubes, Inflationstheorie (Vahlen, München, 1989); Manfred Neumann, Theoretische Volkswirtschaftslehre. Bd. 1: Makroökonomische Theorie: Beschäftigung, Inflation und Zahlungsbilanz, 5. Aufl. (Vahlen, München, 1996).
Websites Die Alan-Greenspan-Zitate stammen aus einer am 13. Januar 2000 gehaltenen Rede vor dem Economic Club of New York, die man auf der Homepage der Federal Reserve unter www.federalreserve.gov/ boarddocs/speeches/2000/200001132.htm findet. Die Untersuchung der Konsumentenpreise für die Vereinigten Staaten stammt vom Bureau of Labor Statistics, nachlesbar unter www.bls.gov.
959
Kapitel 32 Die Sicherung der Preisstabilität
Übungen 1.
2.
3.
4.
Betrachten Sie die folgenden Auswirkungen einer Inflation: Steuerverzerrungen, Einkommensund Vermögensumverteilung, Kosten, für Schuhsohlen, Menükosten. Definieren Sie die jeweiligen Kosten und geben Sie jeweils ein Beispiel dafür an. „In Inflationszeiten setzen die Menschen vermehrt auf Sachwerte, um ihre Geldbestände zu vermindern. Dieses Vorgehen mag zwar privat nützlich sein, es steht ihm allerdings kein entsprechender volkswirtschaftlicher Wertzuwachs gegenüber. Und genau das sind die sozialen Kosten der Inflation.“ Erklären Sie dieses Zitat und geben Sie ein Beispiel dafür an. Eine unerwartete Deflation verursacht ebenfalls bedeutende soziale Kosten. Beschreiben Sie für die beiden nachfolgenden Beispiele den Deflationsprozess, und untersuchen Sie die damit verbundenen Kosten: a. Während der Großen Depression fielen in den USA die Preise der wichtigsten Getreidesorten ebenso wie diejenigen anderer Waren. Welche Auswirkungen hatte diese Entwicklung wohl auf einen Landwirt, der einen hohen Hypothekenkredit zurückzahlen musste? b. Während der neunziger Jahre erlebte Japan eine milde Deflation. Nehmen Sie an, japanische Studenten borgten pro Person 2.000.000 Yen (ungefähr US-$ 20.000 ), um für ihr Studium zu bezahlen, in der Hoffnung, die Inflation werde es ihnen ermöglichen, ihre Darlehen mit Inflationsgeld zurückzuzahlen. Welche Auswirkungen hätte ein Rückgang von Löhnen und Preisen um 5 Prozent pro Jahr für diese Studenten? In Tabelle 32-3 sind die Inflations- und Arbeitslosendaten für die Vereinigten Staaten von 1979 – 1987 aufgelistet. Beachten Sie, dass sich die Volkswirtschaft 1979 nahe der inflationsneutralen Arbeitslosenquote befand, zu der sie 1987 fast wieder zurückkehrte. Können Sie den Inflationsrückgang der dazwischenliegenden Jahre erklären? Versuchen Sie dies mithilfe der kurzfristigen sowie der langfristigen PhillipsKurve für jedes Jahr von 1979 – 1987.
5.
6.
7.
8.
Viele Ökonomen argumentieren wie folgt: „Da man langfristig nicht Arbeitslosigkeit gegen Inflation eintauschen kann, ist es sinnlos, Höhen und Tiefen des Konjunkturzyklus abschwächen zu wollen.“ Diese Sichtweise scheint anzudeuten, dass wir uns gar nicht darum kümmern sollten, ob sich eine Volkswirtschaft stabil verhält oder starken Schwankungen ausgesetzt ist, solange die durchschnittliche Arbeitslosenquote konstant bleibt. Diskutieren Sie diese Ansicht kritisch. Ein berühmter Wirtschaftswissenschaftler hat einmal geschrieben: „Wenn wir die sozialen Kosten der Inflation, jedenfalls jene einer geringen Inflation, in Betracht ziehen, so entsteht der Eindruck, dass diese im Vergleich zu den Kosten von Arbeitslosigkeit und gedrosselter Produktion unbedeutend sind.“ Schreiben Sie eine kurze Abhandlung, in der Sie Ihre Meinung zu diesem Thema darlegen. Schauen Sie sich in Tabelle 32-1 die Zahlen zur jährlichen Inflationsrate und zum BIP pro Kopf der Bevölkerung an. Erkennen Sie, dass eine geringe Inflation mit den höchsten Wachstumsraten einhergeht? Welche wirtschaftlichen Gründe gibt es dafür, dass das Wachstum während einer Deflation oder Hyperinflation geringer ausfallen könnte? Erläutern Sie, warum in diesem Fall rückblickend eine falsche Ursache-Wirkungs-Beziehung hergestellt werden könnte (vergleichen Sie dazu die Diskussion in Kapitel 1). Die folgenden Maßnahmen und Entwicklungen haben den Arbeitsmarkt während der letzten zwei Jahrzehnte beeinflusst. Erklären Sie ihre voraussichtlichen Auswirkungen auf die inflationsneutrale Arbeitslosenquote: a. Die Arbeitslosenversicherung musste auf einmal versteuert werden. b. Die Bundesregierung kürzte die Gelder für Schulungsprogramme für Arbeitslose drastisch. c. Die Mitgliedschaft in Gewerkschaften ging deutlich zurück. d. Das Welfare-Reform-Gesetz von 1996 senkte die Zahlungen an Familien mit niedrigem Einkommen beträchtlich und machte die staatlichen Transferzahlungen davon abhängig, dass die Familien arbeiteten.
960
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Jahr
Arbeitslosenquote (%)
Inflationsrate des VPI (% pro Jahr)
1979
5,8
11,3
1980
7,1
13,5
1981
7,6
10,3
1982
9,7
6,2
1983
9,6
3,2
1984
7,5
4,4
1985
7,2
3,6
1986
7,0
1,9
1987
6,2
3,6
Tabelle 32-3: Zahlen zur Arbeitslosigkeit und Inflation in den Vereinigten Staaten, 1979–1987 Quelle: Economic Report of the President, 2000.
Teil 7
961
KAPITEL 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
Wenn man alle Ökonomen aneinander reiht, kommt dabei doch keine Lösung heraus. George Bernard Shaw
Verfolgt man die Debatten über das Budgetdefizit, die Steuerpolitik oder die Sozialversicherung, so erlebt man heftige Streitgespräche zu praktisch allen Themen, außer der Definition des BIP. Manche Wirtschaftswissenschaftler plädieren für eine Senkung des Budgetdefizits, während andere auf Steuersenkungen zur Stimulierung des langfristigen Wachstums drängen. Manche fordern, der Staat solle eine aktivere Rolle bei der Steuerung der Volkswirtschaft übernehmen, während andere glauben, der Staat solle so klein und unauffällig wie möglich bleiben. Man kann also der witzigen Bemerkung Shaws am Anfang dieses Kapitels durchaus zustimmen. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass ein sorgfältiges Studium der Wirtschaftswissenschaften es Ihnen ermöglichen wird, den Hintergrund der heftigen Debatten zu sehen und zu erkennen, dass es nur einige wenige, immer wieder auftretende Themen sind, welche die unterschiedlichen Lehrmeinungen voneinander trennen. Ein Streitpunkt beruht auf den abweichenden Meinungen darüber, welche Faktoren die Gesamtnachfrage bestimmen; ein anderer betrifft die Rolle der Preisflexibilität; und bei einem dritten geht es darum, wie die Erwartungen der Menschen entstehen und wie sie ihre Entscheidungen treffen. In diesem Lehrbuch behandeln wir alle wichtigen Lehrmeinungen. Üblicherweise konzentrieren wir uns auf den etablierten modernen keynesianischen Ansatz als beste Methode, um die Konjunkturzyklen in Marktwirtschaften zu erklären. Doch die Kräfte, die das langfristige Wirtschaftswachstum bestimmen, versteht man am besten, wenn man das neoklassische Modell verwendet. Zu diesen beiden grundlegenden Hilfsmitteln treten zunehmend noch die Aspekte einer offenen Volkswirtschaft, die in den Kapiteln 29 und 30 erörtert wurden. Während unsere Hauptaufgabe darin besteht, die etablierten Lehrmeinungen vorzustellen, zeigt doch die Erfahrung, wie wichtig es ist, auch für alternative Ansichten offen zu bleiben. In der Wissenschaft werden die or-
962
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
thodoxen Meinungen einer Periode immer wieder durch neue Entdeckungen über den Haufen geworfen. Genau wie Menschen sind wissenschaftliche Lehrmeinungen von Verkalkung bedroht. Studenten lernen die ewige Wahrheit von ihren Lehrern und aus heiligen Lehrbüchern, und die Mängel der orthodoxen Doktrinen werden als unwichtig abgetan. Beispielsweise schrieb John Stuart Mill, einer der größten Ökonomen und Philosophen aller Zeiten, 1848 in seinem Klassiker Principles of Political Economy (Grundsätze der politischen Ökonomie): „Glücklicherweise bleibt an der Werttheorie für gegenwärtige und zukünftige Schreiber nichts mehr zu klären.“ Diese kühne Behauptung wurde aufgestellt, ehe die Analyse von Angebot und Nachfrage überhaupt erfunden wurde! Wissenschaftshistoriker beobachten, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht kontinuierlich stattfindet. Neue Denkschulen entstehen, üben ihren Einfluss aus und überzeugen Skeptiker. Vielleicht liegt irgendwo in den konkurrierenden Lehrmeinungen der Makroökonomie, die wir in diesem Kapitel behandeln, der Keim jener neuen Theorie, welche die drängenden ungelösten Probleme der gemischten Marktwirtschaften lösen wird.
A. Klassische Bewegung und keynesianische Revolution Die klassische Tradition Seit den Anfangstagen der Volkswirtschaftslehre vor 200 Jahren stellen sich Wirtschaftswissenschaftler die Frage, ob sich eine Marktwirtschaft grundsätzlich spontan auf ein langfristiges Vollbeschäftigungsgleichgewicht zubewegt, ohne dass es staatlicher Eingriffe bedarf. In unserer modernen Terminologie
Teil 7
bezeichnen wir jene Ansätze als klassisch, welche die selbstregulierenden Kräfte einer Volkswirtschaft betonen. Dem klassischen Ansatz zufolge sind Preise und Löhne flexibel und die Wirtschaft ist stabil, weshalb sie sich rasch und automatisch in Richtung auf ihr langfristiges Vollbeschäftigungsgleichgewicht entwickelt. In der folgenden Diskussion werden wir mithilfe der gesamtwirtschaftlichen Angebots- und Nachfragediskussion die wissenschaftlichen Grundlagen und politischen Implikationen des klassischen makroökonomischen Ansatzes erläutern.
Das Saysche Theorem (Theorie der Absatzwege) Ehe Keynes 1935 seine makroökonomischen Theorien entwickelte, neigten die wichtigen volkswirtschaftlichen Vordenker zur klassischen Sicht der Wirtschaft, zumindest in guten Zeiten. Die ersten Ökonomen waren von der Industriellen Revolution mit ihrer Arbeitsteilung, der Kapitalbildung und dem wachsenden internationalen Handel fasziniert. Sie kannten zwar Konjunkturzyklen, betrachteten diese jedoch als vorübergehende Abweichungen mit Tendenz zur Selbstkorrektur. Die klassische Analyse ging vom so genannten Sayschen Theorem aus. Diese 1803 in Frankreich vom Ökonomen Jean Baptiste Say erstmals entwickelte Theorie besagt, dass es unmöglich zu einer Überproduktion kommen kann. Diese Ansicht wird gelegentlich auch mit dem Leitsatz „Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage“ umschrieben. Was liegt nun dem Sayschen Theorem zugrunde? Es beruht auf der Ansicht, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer Geld- und einer Tauschwirtschaft gibt – dass sich die Arbeiter all das, was die Fabriken produzieren, auch leisten können. Eine lange Reihe äußerst angesehener Ökonomen, darunter auch David Ricardo (1817), John Stuart Mill (1848) und Alfred Marshall (1890) waren Anhänger der klassi-
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Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
Bei absolut freiem Wettbewerb wird immer eine starke Tendenz zur Vollbeschäftigung herrschen. Wenn zu gewissen Zeiten Arbeitslosigkeit besteht, so ist diese zur Gänze auf den Reibungswiderstand zurückzuführen, [der] die geeigneten unverzüglichen Lohn- und Preisanpassungen verhindert.1
Die klassische Theorie vertritt die Auffassung, dass die Flexibilität der Löhne und Preise die Märkte immer wieder „räumt“ oder eine rasche Rückkehr zum Gleichgewicht bewirkt. Infolgedessen herrscht in der Wirtschaft Vollbeschäftigung. Das bleibende und entscheidende Kernstück des Sayschen Theorems sowie des klassischen Ansatzes ist in Abbildung 33-1 dargestellt. Sie zeigt eine Volkswirtschaft, in der Preise und Reallöhne auf Wettbewerbsmärkten gebildet werden und sich flexibel nach oben oder unten bewegen, um Nachfrageoder Angebotsüberhänge zu beseitigen. Anhand unserer AS-AD-Analyse lässt sie sich als eine herkömmliche abwärts verlaufende Gesamtnachfragekurve in Kombination mit einer senkrechten Gesamtangebotskurve beschreiben. Nehmen wir an, die Gesamtnachfrage ginge infolge Geldmengenverknappung, sinkender Exporte oder anderer exogener Faktoren zurück. Infolgedessen verschiebt sich die AD-Kurve nach links zu AD' in Abbildung 33-1. Beim ursprünglichen Preis von P liegen die Gesamtausgaben in Punkt B. Aufgrund des Überangebots sinkt das Gesamtpreisniveau von P auf P'. Bei sinkenden Preisen wird die Vollbeschäftigung in Punkt C wieder erreicht.
1 Siehe die Angaben zu Pigou im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
P
AS potenzieller Output
Preisniveau
schen makroökonomischen Ansicht, dass Überproduktion unmöglich sei. Die klassische Lehrmeinung wurde deutlich von dem führenden britischen Wirtschaftswissenschaftler A.C. Pigou formuliert, der zur Zeit der Großen Depression schrieb:
P
B
A E″
P′
AD
C AD′
Q Q = Q′ = Q p realer Output
Abbildung 33-1: Laut dem Sayschen Theorem schafft sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage, wobei die Bewegung der Preise für den Ausgleich von Gesamtnachfrage und Gesamtangebot sorgt Anhänger der klassischen Lehrmeinung vertraten die Auffassung, dass ein Angebotsüberhang nicht lange bestehen könne. Bei einer Verlagerung von AS oder AD würden die Preise flexibel reagieren, um sicherzustellen, dass die bei Vollbeschäftigung hergestellte Produktion verkauft wird. Hier erkennen wir, wie die flexiblen Preise so weit absinken, dass nach einem Rückgang der Gesamtnachfrage die realen Ausgaben wieder der Produktion bei Vollbeschäftigung entsprechen.
Nach der klassischen Meinung beeinflussen Änderungen der Geldmenge, der Fiskalpolitik oder sonstiger Ausgaben Produktion und Beschäftigung nicht dauerhaft. Preise und Löhne ändern sich flexibel und sorgen so für Vollbeschäftigung.
Die Folgen für wirtschaftspolitische Maßnahmen Aus der klassischen Lehre lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen, die wesentlich für die Wirtschaftspolitik sind. Erstens gibt es nach der klassischen Ansicht in einer Volkswirtschaft nur kurze und vorübergehende Abweichungen von Vollbeschäftigung und vollständiger Kapazitätsauslastung. Lange anhaltende Rezessionen oder Depressionen
964
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
treten nicht auf, und qualifizierte Arbeitskräfte finden zum gängigen Marktlohn schnell Arbeit. Das bedeutet jedoch nicht, dass die klassische Wirtschaftstheorie der Fata Morgana des reibungslosen, perfekten Wettbewerbs anhinge. Es lässt sich ihr zufolge durchaus eine friktionelle Arbeitslosigkeit von Menschen beobachten, die gerade ihre Stelle wechseln, oder strukturelle Arbeitslosigkeit unter gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern, die einen zu hohen Lohn über dem Gleichgewichtsniveau ausgehandelt haben. Die Kräfte des Marktes können zu mikroökonomischer Verschwendung, Verzerrungen und mangelnder Effizienz führen. Doch nach klassischer Ansicht kommt es in einer Volkswirtschaft zu keiner verbreiteten und anhaltenden makroökonomischen Verschwendung im Sinne ungenutzter Ressourcen infolge einer unzureichenden Gesamtnachfrage. Die zweite überraschende Aussage der klassischen Theorie lautet: Wirtschaftspolitisches Einwirken auf die Gesamtnachfrage hat keinen Einfluss auf die Arbeitslosigkeit und die reale Produktion. Geld- und Fiskalpolitik können ausschließlich auf das Preisniveau einer Volkswirtschaft sowie auf die Zusammensetzung des realen BIP einwirken. Diese zweite klassische Behauptung ist in Abbildung 33-1 dargestellt. Betrachten Sie eine Volkswirtschaft, die sich in Punkt A im Gleichgewicht befindet. Was geschähe, wenn die Zentralbank zur Inflationsbekämpfung die Geldmenge verknappte? Für kurze Zeit käme es beim ursprünglichen Preisniveau P zu einem Angebotsüberschuss. Da jedoch Löhne und Preise unter dem Druck des Angebotsüberhangs rasch zu sinken beginnen, bewegt sich die Wirtschaft zu ihrem neuen Gleichgewicht in Punkt C. Die restriktive Wirtschaftspolitik hat also nur eine Senkung des allgemeinen Preisniveaus bewirkt. Produktion und Beschäftigung bleiben im Wesentlichen jedoch unverändert, weil Preisund Lohnflexibilität einen nahtlosen Übergang zwischen altem und neuem Gleichgewicht sicherstellen.
Teil 7
Im Zentrum der klassischen Denkweise steht der Glaube an flexible Preise und Löhne und daran, dass die Lohn-Preis-Flexibilität für einen selbstregulierenden Mechanismus sorgt, der umgehend wieder Vollbeschäftigung herstellt. Diesen Ansatz finden wir auch in den Schriften der heutigen neoklassischen Schule, mit der wir uns weiter hinten in diesem Kapitel beschäftigen werden. Die Neoklassiker gehen über die einfachen klassischen Ansätze hinaus; sie berücksichtigen die Möglichkeit unzureichender Informationen, das plötzliche Auftreten technologischer Veränderungen sowie mögliche Reibungsverluste durch Ressourcenverschiebungen zwischen den Branchen. Doch obwohl sie in modernem Gewand erscheinen, stehen die Schlussfolgerungen hinsichtlich zu ergreifender Maßnahmen in engem Zusammenhang mit der klassischen Wirtschaftstheorie einer früheren Zeit.
Die keynesianische Revolution Während die Klassiker predigten, eine anhaltende Arbeitslosigkeit sei ein Ding der Unmöglichkeit, konnten die Ökonomen der dreißiger Jahre das riesige Heer der Erwerbslosen, die um Arbeit bettelten und an Straßenecken Bleistifte verkauften, schwerlich übersehen. Welche Erklärung fand die Volkswirtschaftslehre für eine derart massive und hartnäckige Unterbeschäftigung? Keynes Buch Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936) bot eine alternative makroökonomische Theorie, eine völlig neue Sichtweise auf die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen wie plötzlicher exogener Einflüsse. Tatsächlich kombinierte die keynesianische Revolution zwei unterschiedliche Elemente. Erstens legte Keynes das Prinzip der Gesamtnachfrage dar, mit dem wir uns in früheren Kapiteln eingehend beschäftigt haben. Ein zweites und ebenso revolutionäres Merkmal der keynesianischen Lehre war seine Theorie des Gesamtangebotes. Während der
965
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
potenzieller Output AS
P
Preisniveau
klassische Ansatz flexible Preise und Löhne unterstellte, was eine senkrecht verlaufende klassische AS-Kurve impliziert, bestand der keynesianische Ansatz auf unflexiblen Löhnen und Preisen und einer flachen oder leicht aufwärts verlaufenden AS-Kurve. Laut dem Ansatz von Keynes schafft sich das Angebot nicht seine eigene Nachfrage; die Nachfrage kann durchaus ein eigenständiges Leben führen.
B
AS
A
Die überraschenden Folgen Mit der Kombination dieser beiden Elemente löste Keynes eine wahre Revolution in der Makroökonomik aus. Die Grundaussagen der keynesianischen Argumente sind in Abbildung 33-2 dargestellt. Dieses uns inzwischen vertraute Diagramm verbindet eine Gesamtnachfragekurve mit einer keynesianischen, aufwärts verlaufenden Gesamtangebotskurve. Zuerst stellen wir fest, dass eine moderne Marktwirtschaft sehr wohl in einem Gleichgewichtszustand der Unterbeschäftigung gefangen sein kann – einem Gleichgewicht zwischen Gesamtangebot und Gesamtnachfrage, bei dem die Produktionsleistung weit unter ihrem Potenzial liegt und ein wesentlicher Teil der Erwerbsbevölkerung unfreiwillig arbeitslos ist. Wenn beispielsweise die Gesamtnachfrage niedrig ist (dargestellt als Punkt A in Abbildung 33-2), kann die Volkswirtschaft ein Jahrzehnt lang in einem Gleichgewicht mit hoher Arbeitslosigkeit verharren. Ein Land kann demnach lange Zeit unter geringer Produktion und großem Elend leiden, weil kein selbstregulierender Mechanismus und keine unsichtbare Hand eingreift, um die Wirtschaft wieder zurück zur Vollbeschäftigung zu führen. Die zweite keynesianische Beobachtung ergibt sich aus der ersten. Mithilfe geld- oder fiskalpolitischer Maßnahmen kann der Staat die Wirtschaft stimulieren und dazu beitragen, einen hohen Produktions- und Beschäftigungsstand beizubehalten. Würden beispielsweise die Staatsausgaben für Waren
AD′
AD
Q Q Q′ realer Output
Q
p
Abbildung 33-2: Der keynesianischen Lehrmeinung zufolge beeinflusst die Gesamtnachfrage das Produktionsniveau Die keynesianische Gesamtangebotskurve verläuft nach oben, was bedeutet, dass die Produktion bei steigender Gesamtnachfrage so lange zunehmen wird, wie noch ungenutzte Ressourcen bestehen. Bei niedriger Gesamtnachfrage befindet sich die Produktion in Punkt A im Gleichgewicht; es herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Wenn die Gesamtnachfrage von AD auf AD' steigt, erhöht sich die reale Produktion von Q auf Q'. Die Keynesianer betonen, dass es durch eine Stimulierung der Gesamtnachfrage gelingen kann, Produktion und Beschäftigung zu steigern.
und Dienstleistungen erhöht, so würde dadurch die Gesamtnachfrage gesteigert, etwa von AD nach AD' in Abbildung 33-2. Die Folge wäre eine Produktionssteigerung von Q nach Q', wodurch die Kluft zwischen realem und potenziellem BIP verringert würde. Die keynesianische Analyse löste eine makroökonomische Revolution aus, vor allem unter den jungen Ökonomen, welche die Krise der dreißiger Jahre hautnah miterlebten und fühlten, dass irgendetwas an dem klassischen Modell falsch sein musste. Natürlich war die Weltwirtschaftskrise nicht das erste Ereignis, das die Mängel der klassischen Hypothese aufzeigte. Wer auch nur einen Funken gesunden Menschenverstands besaß, musste die ho-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
he unfreiwillige Arbeitslosigkeit während Depressionsphasen erkennen. Aber erstmalig wurde dem klassischen Ansatz eine alternative Analyse gegenübergestellt. Das keynesianische System bot eine neue Synthese, die wie ein frischer Wind durch die Volkswirtschaft blies und die Denkweise von Ökonomen und Politikern über Konjunkturzyklen und Wirtschaftspolitik von Grund auf veränderte.
Theorien und wirtschaftliche Maßnahmen Was man bei der volkswirtschaftlichen Analyse sieht, hängt von der jeweiligen Theoriebrille ab, die man trägt. Tendiert ein Präsident, Minister oder Makroökonom eher zur klassischen oder zur keynesianischen Sichtweise? Die Antwort auf diese Frage erklärt häufig die Meinung eines Menschen zu vielen wichtigen wirtschaftspolitischen Diskussionen unserer Tage. Es gibt zahlreiche Beispiele. Ökonomen mit einem Hang zum klassischen Modell sind häufig skeptisch, was den staatlichen Beitrag zum Ausgleich konjunkturzyklischer Schwankungen betrifft. Ihrer Ansicht nach kann eine staatliche Politik zur Ankurbelung der Gesamtnachfrage nur zu einer eskalierenden Inflation führen; schlimmer noch: Die Auswirkungen keynesianischer Maßnahmen würden das langfristige Wirtschaftswachstum verlangsamen. Ökonomen des klassischen Typs sorgen sich um die langfristigen Folgen staatlicher Maßnahmen für Investitionen und Wirtschaftwachstum. Beispielsweise können aus klassischer Sicht staatliche Budgetdefizite private Investitionen verdrängen. Erhöhte öffentliche Ausgaben für das Gesundheitswesen oder die Sozialhilfe leiten ihrer Meinung nach Ressourcen um, die ansonsten privaten Investitionen in Fabriken und Maschinen zugeflossen wären. Die Keynesianer betrachten die Wirtschaft aus einem anderen Blickwinkel. Sie glauben, dass die Gesamtwirtschaft Konjunkturzyklen unterworfen ist, in denen auf Perioden hoher
Teil 7
Arbeitslosigkeit Spekulation und Inflation folgen. Während der klassische Ökonom die Wirtschaft als einen gemäßigten Typ wahrnimmt, der täglich die erforderlichen Vitamine mit einem Glas Mineralwasser herunterspült, vergleicht der Keynesianer die Wirtschaft eher mit einem manisch-depressiven Menschen, der zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt hin und her schwankt. Ein Vorsitzender der Federal Reserve sagte einmal, die Rolle seiner Institution bestehe darin, die alkoholischen Getränke wegzuräumen, wenn die Party zu wild werde. Die Keynesianer glauben, der Staat könne mittels geldpolitischer oder fiskalischer Maßnahmen zur Steuerung der Gesamtnachfrage das reale Wirtschaftsgeschehen beeinflussen. Ein moderner Keynesianer billigt daher Schritte zur Senkung der Gesamtnachfrage, wenn die Inflation steigt, oder zu ihrer Belebung während einer Rezession. In den Vereinigten Staaten plädieren solche Wirtschaftswissenschaftler zunehmend dafür, die Geldpolitik zur Stabilisierung von Konjunkturzyklen zu nutzen. Doch sie unterstreichen auch die Notwendigkeit automatischer fiskalischer Stabilisatoren, um den Multiplikatoreffekt unvorhergesehener Einflüsse abzumildern, und sie wenden sich strikt gegen Maßnahmen, die zur Verstärkung von Konjunkturzyklen durch die Fiskalpolitik führen, wie beispielsweise einen Verfassungszusatz, der ein ausgeglichenes Budget festschreibt. Die Debatte zwischen Keynesianern und Anhängern der klassischen Lehre dreht sich im Wesentlichen darum, ob es in der Wirtschaft dank flexibler Preise und Löhne starke selbstregulierende Kräfte gibt, die zur Stabilisierung der Vollbeschäftigung beitragen. Die klassischen Ansätze konzentrieren sich zumeist auf das langfristige Wirtschaftwachstum und verzichten auf Maßnahmen zum Ausgleich von Konjunkturzyklen. Keynesianer möchten die Wachstumspolitik durch angemessene geldpolitische und fiskalische Maßnahmen zur Eindämmung übertrieben starker Konjunkturzyklen ergänzen.
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
B. Der Ansatz der Monetaristen Die Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen in dem Sinne, dass sie ausschließlich dadurch bewirkt wird und werden kann, dass die Geldmenge rascher steigt als die Produktion. Milton Friedman, The New Palgrave Dictionary of Economics (1987)
Finanz- und Geldsysteme können sich nicht selbst verwalten. Der Staat, zu dem auch die Zentralbank zählt, muss hinsichtlich des Währungsstandards, der Geldmenge, der Festlegung von Wechselkursen, der Regeln für internationale Finanztransaktionen und der leichten oder schweren Verfügbarkeit von Geld und Krediten grundsätzliche Entscheidungen treffen. Heute gibt es viele verschiedene Ansichten über die bestmögliche Geldpolitik. Manche glauben an eine aktive Politik, die „gegen den Strom schwimmt“, indem sie bei drohender Inflation die Geldmenge drosselt und umgekehrt. Andere sind skeptisch, was die Fähigkeit der Akteure betrifft, eine Geldpolitik zur „Feinabstimmung“ von Inflation und Arbeitslosigkeit zu betreiben, und möchten die Aufgaben der Geldpolitik auf die Inflationsdämpfung beschränken. Am äußersten Ende des Spektrums finden wir die Monetaristen, die glauben, eine Geldpolitik nach jeweiligem Ermessen sollte durch feste Vorgaben ersetzt werden. Wir können den Monetarismus nur dann verstehen, wenn wir seine Wurzeln bis zur älteren Quantitätstheorie des Geldes und der Preise (im Allgemeinen als Quantitätstheorie des Geldes bezeichnet) zurückverfolgen. So werden wir die engen Verbindungen sowohl zum klassischen als auch zum keynesianischen Ansatz erkennen.
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Die Wurzeln des Monetarismus Der Monetarismus behauptet, dass das Geldangebot der wichtigste Bestimmungsfaktor kurzfristiger Schwankungen des nominalen BIP und langfristiger Preisschwankungen sei. Natürlich anerkennt auch die keynesianische Makroökonomie die Schlüsselrolle des Geldes als Bestimmungsfaktor der Gesamtnachfrage. Der Hauptunterschied zwischen Monetaristen und Keynesianern liegt in ihren unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich der Faktoren, die sich auf die Gesamtnachfrage auswirken. Während die Keynesianer darauf pochen, dass neben dem Geld auch verschiedene andere Kräfte die Gesamtnachfrage beeinflussen, vertreten die Monetaristen die Ansicht, Schwankungen der Geldmenge übten den Haupteinfluss auf die Produktionsund Preisbewegungen aus. Zum Verständnis des Monetarismus müssen wir eine neue Gleichung (die Tauschgleichung oder Verkehrsgleichung), ein neues Konzept (die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes) und eine neue Beziehung (die Quantitätstheorie des Geldes) einführen.
Die Tauschgleichung und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes Manchmal bewegt sich Geld nur langsam; es wird zwischen den einzelnen Transaktionen lange Zeit unter der Matratze oder auf Bankkonten gehortet. Dann wieder, vor allem in Zeiten hoher Inflation, wollen die Leute ihr Geld rasch loswerden, und das Geld zirkuliert deshalb schnell. Die Theorie von der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes wurde um die Jahrhundertwende von Alfred Marshall aus Cambridge und Irving Fisher aus Yale begründet. Sie misst, wie viele Male eine durchschnittliche Münze im Jahr für Waren und Dienstleistungen ausgegeben wird. Ist die Geldmenge im Verhältnis zum Ausgabenfluss groß, so ist die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes gering; bei rascherer Zirkulation ist die Umlaufgeschwindigkeit höher.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Das Konzept der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes wird in der Tauschgleichung (Verkehrsgleichung) formalisiert. Diese Gleichung besagt: MV PQ (p1q1 + p2q2 + ...) wobei M die Geldmenge, V die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, P das Preisniveau und Q die reale Produktion angibt. Durch Division durch M erhält man die Gleichung für die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes:
V ≡ PQ ------M Üblicherweise messen wir PQ als Gesamteinkommen oder -produktion (BIP), und das damit verbundene Konzept der Umlaufgeschwindigkeit ist die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die Geschwindigkeit gibt an, wie oft das Geld durch die Wirtschaft zirkuliert. Die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ist das Verhältnis des nominalen BIP zur Geldmenge.2 Intuitiv können wir uns die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit des Geldes als das Tempo vorstellen, mit dem das Geld in der Wirtschaft von Hand zu Hand geht. Nehmen wir als einfaches Beispiel an, die Wirtschaft würde nur Brot produzieren, und das BIP bestünde aus 48 Millionen Laib Brot, die zu einem Preis von jeweils US-$ 1 verkauft werden, weshalb gilt: BIP = PQ = US-$ 48 Millionen jährlich. Beträgt die Geldmenge US-$ 4 Millionen, so gilt laut Definition V = US-$ 48 ÷ US-$ 4 = 12 pro Jahr. Das bedeutet, das Geld zirkuliert einmal im Monat, wenn die Einnahmen dazu verwendet werden, das monatliche Brot einzukaufen.3 2 In den Gleichungen wird statt des üblichen Gleichheitszeichens das aus drei Parallellinien bestehende „identisch gleich“-Symbol verwendet. Es soll betonen, dass es sich hier um „Identitäten“ handelt – Aussagen, die nichts über die Realität aussagen, aber definitionsgemäß stimmen, gleich ob die Vereinigten Staaten nun an Hyperinflation oder einer tiefen Wirtschaftsdepression leiden.
Teil 7
Abbildung 33-3 zeigt die Entwicklung der Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit von Transaktionsgeld (M1) und der erweiterten Geldmenge (M2). Die Umlaufgeschwindigkeit von M2 war während der letzten 150 Jahre erstaunlich stabil, während diejenige von M1 während der letzten 50 Jahre stark gestiegen ist. Die Frage nach der Stabilität und Vorhersehbarkeit der Umlaufgeschwindigkeit ist ein zentrales Problem gesamtwirtschaftlicher Politik.
Die Quantitätstheorie Nach der Definition dieser interessanten neuen Variablen werden wir nun beschreiben, wie frühe Geldwirtschaftler dieses Konzept zur Erklärung von Entwicklungen des allgemeinen Preisniveaus einsetzten. Die wichtigste Annahme lautet hier, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes relativ stabil und vorhersehbar ist. Nach Meinung der Monetaristen hängt dies damit zusammen, dass die Umlaufgeschwindigkeit hauptsächlich die ihr zugrunde liegenden Muster der Einkommens- und Ausgabenzeiten widerspiegelt. Wenn die Leute einmal monatlich ihren Lohn ausbezahlt erhalten und ihr gesamtes Einkommen im Laufe des Monats gleichmäßig ausgeben, so muss die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit pro Jahr 12 betragen. Ob sich nun die Einkommen verdoppeln, die Preise um 20 Prozent angehoben werden oder das gesamte BIP immer wieder steigt – bei unverändertem Ausgabenmuster bleibt die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit des Geldes unverändert. Nur wenn die Haushalte oder Unternehmen ihre Ausgabenmuster oder die Art, wie sie ihre Rechnungen bezahlen, verändern, ändert sich auch dieser Parameter.
3
Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes hängt eng mit der Geldnachfrage zusammen. Wenn wir die Tauschgleichung umschreiben, erhalten wir M ÷ (PQ) = 1 ÷ V. Die linke Seite bezeichnet die Geldnachfrage pro BIP-Einheit. Unsere frühere Diskussion der Geldnachfrage lässt sich auch mit der Untersuchung der Umlaufgeschwindigkeit verbinden.
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
10 9 8 7 6
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Umlaufgeschwindigkeit von M1
5 4 3
2 Umlaufgeschwindigkeit von M2 1
1875
1900
1925
1950
1975
2000
Jahr
Abbildung 33-3: Entwicklung der Umlaufgeschwindigkeiten Die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit von M1 ist das Verhältnis des nominalen BIP zu M1, und entsprechend ist die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit von M2 das Verhältnis des nominalen BIP zu M2. Einer der Glaubenssätze der Monetaristen besagt, dass sich V relativ stabil und vorhersehbar verhält. Doch wie stabil erscheint V tatsächlich? Fallen Ihnen Gründe dafür ein, warum V im Lauf der Zeit gestiegen ist? Hinweis: Wie beeinflussen die Zinssätze die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes? Quelle: V1 und V2 wurden aus Daten des Federal Reserve Board, des US-amerikanischen Handelsministeriums, von Milton Friedman und Anna Schwartz sowie anderen Wissenschaftlern abgeleitet.
Auf der Basis des oben skizzierten Gedankens über die relative Stabilität der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes wurde dieser Faktor in manchen frühen Publikationen dazu verwendet, Schwankungen des Preisniveaus zu erklären. Nach diesem Ansatz, der als Quantitätstheorie des Geldes und der Preise bezeichnet wird, ist die Definition der Umlaufgeschwindigkeit neu zu schreiben als:
MV V P ≡ -------- ≡ ---- M ≡ kM Q Q Diese Gleichung erhalten wir aus der früheren Definition der Umlaufgeschwindigkeit, indem wir die Variable k als Kurzformel für V/Q einsetzen und die Gleichung nach P auflösen. Wir schreiben die Gleichung deshalb auf diese Weise, weil viele klassische
Ökonomen glaubten, dass bei stabilen Transaktionsmustern k konstant oder vergleichsweise stabil wäre. Außerdem unterstellten sie im Allgemeinen einen Zustand der Vollbeschäftigung, bei dem das reale BIP stetig ansteigen und dem potenziellen BIP entsprechen würde. Wenn wir diese beiden Annahmen kombinieren, müsste k (= V/Q) kurzfristig beinahe konstant sein und langfristig einem konstanten Wachstumstrend folgen. Welche Implikationen hat die Quantitätstheorie? Wie wir aus der Gleichung ersehen können, müsste das Preisniveau, wenn k konstant ist, proportional zur Geldmenge steigen. Eine stabile Geldmenge müsste daher stabile Preise nach sich ziehen; ein rasches Geldmengenwachstum hingegen müsste auch die Preise in die Höhe treiben. Würde man die Geldmenge mit 10 oder 100 multipli-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
zieren, bedeutete das für die Wirtschaft eine galoppierende Inflation oder Hyperinflation. Besonders deutlich lässt sich die Quantitätstheorie des Geldes tatsächlich im Fall einer Hyperinflation zeigen. Beachten Sie, wenn Sie sich Abbildung 32-5 (auf Seite 934) noch einmal ansehen, wie die Preise in der Weimarer Republik auf das Milliardenfache anstiegen, nachdem die Reichsbank die Notenpresse angeworfen hatte – ein nachdrücklicher Beleg für die Gültigkeit der Quantitätstheorie. Zum Verständnis der Quantitätstheorie ist es wesentlich, daran zu denken, dass sich Geld grundsätzlich von gewöhnlichen Gütern wie Brot oder Autos unterscheidet. Das Brot brauchen wir zum Essen, die Autos zum Fahren. Geld hingegen benötigen wir nur zum Kauf von Brot oder Autos. Wenn die Preise in Russland heute tausendmal so hoch sind wie noch vor wenigen Jahren, dann folgt daraus, dass die Menschen dort heute etwa tausendmal so viel Geld benötigen, um dieselben Dinge zu kaufen wie früher. Und hier liegt der Kern der Quantitätstheorie: Die Geldnachfrage steigt proportional zum Preisniveau.
Ansatz der Keynesianer infrage und betonten die Bedeutung der Geldpolitik für die wirtschaftspolitische Stabilisierung. Vor etwa 20 Jahren spaltete sich die monetaristische Schule. Es gibt eine traditionellere Richtung, die wir gleich beschreiben werden. Aus dem jüngeren Abkömmling entwickelte sich die einflussreiche neoklassische Lehrmeinung, mit der wir uns später in diesem Kapitel beschäftigen werden. Der monetaristische Ansatz postuliert, dass das Geldmengenwachstum kurzfristig das nominale BIP und langfristig die Preise bestimmt. Diese Analyse ist in die Quantitätstheorie des Geldes und der Preise eingebettet und stützt sich auf die Untersuchung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Monetaristen gehen von einer stabilen (in Extremfällen sogar von einer konstanten) Umlaufgeschwindigkeit des Geldes aus. Sollte diese Annahme zutreffen, so ist dies eine wichtige Einsicht, weil die Quantitätsgleichung zeigt, dass bei konstanter Umlaufgeschwindigkeit V Entwicklungen von M proportional auf PQ (oder das nominale BIP) durchschlagen.
Die Quantitätstheorie des Geldes und der Preise sagt aus, dass sich die Preise proportional zur Geldmenge entwickeln. Obwohl es sich bei dieser Theorie nur um eine grobe Annäherung handelt, hilft sie doch zu erklären, warum es in Ländern mit geringem Geldmengenwachstum nur eine mäßige Inflation gibt, während in anderen mit einem raschen Geldmengenwachstum die Preise davonlaufen.
Das Wesen des Monetarismus
Der moderne Monetarismus Die moderne monetaristische Theorie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Chicagoer Ökonomen Milton Friedman und seinen zahlreichen Kollegen und Schülern entwickelt. (Sie können die Biographie von Friedman in Kapitel 2 nachlesen.) Unter Friedmans Leitung stellten die Monetaristen den
Wie alle ernst zu nehmenden Lehrmeinungen hat auch der Monetarismus seine speziellen Lieblingsthemen und betont bestimmte Aspekte. Folgende Punkte stehen im Mittelpunkt des monetaristischen Denkens: 1. Das Geldmengenwachstum ist der primäre systeminterne Bestimmungsfaktor des nominalen BIP-Wachstums. Laut Monetarismus wird die nominale Gesamtnachfrage primär von Veränderungen der Geldmenge beeinflusst. Die Fiskalpolitik hat keinerlei Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage. Das lässt sich klar durch die folgende Vereinfachung ausdrücken: „Nur Geld zählt.“ Zwei Thesen stehen im Mittelpunkt der monetaristischen Theorien. Zum einen gilt, wie Friedman feststellte: „Für Größen
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
wie die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit lässt sich empirisch eine derartige Stabilität und Regelmäßigkeit nachweisen, dass jeder, der sich ausführlich mit Gelddaten befasst, davon beeindruckt sein muss.“ Zweitens, argumentierten viele Monetaristen, sei die Geldnachfrage absolut zinsunempfindlich.4 Aus der Tauschgleichung ergibt sich, dass im Fall einer stabilen Umlaufgeschwindigkeit V das nominale BIP durch M bestimmt wird. Fiskalpolitische Maßnahmen sind wirkungslos, weil bei stabiler Umlaufgeschwindigkeit M die einzige Kraft ist, die PQ beeinflussen kann. Bei konstanter V haben Steuern oder Staatsausgaben jegliche Bedeutung verloren. 2. Preise und Löhne sind relativ flexibel. Erinnern Sie sich, dass eine Aussage des Ansatzes von Keynes lautete, dass Preise und Löhne relativ „unbeweglich“ oder inflexibel seien. Im Allgemeinen akzeptieren die Monetaristen eine gewisse Trägheit des Lohn-Preis-Gefüges, doch ihrer Meinung nach verläuft die Phillips-Kurve sogar kurzfristig relativ steil, langfristig jedoch auf jeden Fall senkrecht. Hinsichtlich des AS-AD-Rahmens sind Monetaristen der Ansicht, die kurzfristige AS-Kurve verlaufe ziemlich steil. Die Monetaristen bringen nun diese beiden Aspekte zusammen. Da (1) die Geldmenge der primäre Bestimmungsfaktor des nominalen BIP ist und (2) Preise und Löhne im Bereich der potenziellen Produktionsleistung ziemlich flexibel sind, lautet die Folgerung, dass Veränderungen der Geldmenge nur geringe oder kurzfristige Auswirkungen auf die reale Produktion haben. M wirkt sich hauptsächlich auf P aus. 4 Wenn die Umlaufgeschwindigkeit konstant ist, reagiert sie nicht auf den Zinssatz. Sollte die Umlaufgeschwindigkeit jedoch auf Veränderungen des Zinssatzes reagieren, dann können die Fiskalpolitik und andere nichtmonetäre Einflussfaktoren durch eine Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit die Produktion beeinflussen. Die Ansicht, dass die Geldnachfrage nicht auf Änderung des Zinssatzes reagiert, ist in den letzten Jahren außer Mode gekommen.
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Dementsprechend kann die Geldmenge kurzfristig sowohl Produktion als auch Preise beeinflussen. Binnen weniger Jahre jedoch wirkt die Geldmenge, weil die Wirtschaft tendenziell nahe am Vollbeschäftigungsniveau agiert, vor allem auf das Preisniveau. Fiskalpolitische Maßnahmen haben sowohl kurz- als auch langfristig nur geringfügige Auswirkungen auf die Produktionsleistung und die Preise. Das ist der Kern der monetaristischen Doktrin. 3. Der private Sektor ist stabil. Die Monetaristen glauben auch, dass die Privatwirtschaft, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, nicht zu Instabilität neigt. Die meisten Schwankungen im nominalen BIP werden nach ihrer Ansicht durch staatliche Maßnahmen ausgelöst – insbesondere durch Geldmengenveränderungen, die von der jeweiligen Zentralbankpolitik abhängen.
Vergleich der Ansätze der Monetaristen und der Keynesianer Wie sehen die beiden Lehrmeinungen des Monetarismus und des modernen Keynesianismus im Vergleich aus? Tatsächlich konnte man in den letzten 30 Jahren eine weitgehende Annäherung beider Strömungen feststellen, und die heutigen Streitigkeiten beziehen sich eher auf die Betonung einzelner Aspekte als auf fundamentale Meinungsverschiedenheiten. Wir haben die Hauptunterschiede zwischen Monetarismus und modernem Keynesianismus in Abbildung 33-4 dargestellt. Diese Darstellung zeigt beide Ansichten anhand des Verhaltens von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage. Es ergeben sich zwei bedeutende Unterschiede. Erstens gibt es Meinungsverschiedenheiten der beiden Schulen hinsichtlich der Kräfte, die auf die Gesamtnachfrage einwirken. Nach Ansicht der Monetaristen wird die Gesamtnachfrage ausschließlich (oder primär) von der Geldmenge beeinflusst, und ihre Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage sind
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
P AS
Preisniveau
potenzieller Output
AD
nur M
potenzieller Output
P AD
Preisniveau
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AS
M, G, –T, X
AD AD Q
0 realer Output
Q
0 realer Output
Abbildung 33-4: Vergleich zwischen monetaristischer und keynesianischer Denkweise Im Wesentlichen sagen die Monetaristen: „Nur das Geld bestimmt die Gesamtnachfrage.“ Die gängige Lehrmeinung hält dagegen: „Geld spielt eine Rolle, aber auch die Fiskalpolitik hat ihre Bedeutung.“ Der zweite Unterschied bezieht sich auf das Gesamtangebot, wobei die Keynesianer betonen, dass die AS-Kurve relativ flach verläuft. Wenn Preise und Löhne weitgehend flexibel sind, wie die Monetaristen glauben, dann liegt die Produktionsleistung im Allgemeinen nahe bei ihrem Potenzial.
stabil und verlässlich. Sie glauben auch, dass fiskalpolitische Maßnahmen oder autonome Ausgabenänderungen, sofern sie nicht von geldpolitischen Maßnahmen begleitet werden, nur einen vernachlässigbar geringen Effekt auf Produktion und Preise haben.5 Im Gegensatz dazu halten die Keynesianer die Welt für komplexer. Sie stimmen zwar zu, dass die Geldmenge einen bedeutenden Einfluss auf die Gesamtnachfrage, die Produktion und die Preise hat, aber sie meinen, dass auch noch andere Faktoren eine Rolle spielen. Außerdem verweisen keynesianische Ökonomen darauf, dass es schlüssige Beweise gibt, die belegen, dass V systematisch mit den Zinssätzen steigt. Es könne daher nicht ausreichen, M konstant zu halten, um das nominale oder reale BIP konstant zu halten. 5
Beachten Sie auch, dass die AD-Kurve entsprechend monetaristischen Annahmen als „gleichseitige Hyperbel“ gezeichnet ist. Erinnern Sie sich, dass die Gleichung xy = konstant eine gleichseitige Hyperbel in einem X-Y-Diagramm darstellt. Wenn M und V gegeben sind, wird die Gesamtnachfragekurve durch PQ = konstant bestimmt, sodass die AD-Kurve eine gleichseitige Hyperbel darstellt.
Eines der bemerkenswertesten Beispiele für das Zusammenrücken der beiden Lehrmeinungen ist die Tatsache, dass heutzutage sowohl Monetaristen als auch Keynesianer glauben, in den Vereinigten Staaten müsse Stabilitätspolitik hauptsächlich mittels der Geldpolitik betrieben werden. Der zweite Hauptunterschied zwischen Monetaristen und Keynesianern betrifft das Verhalten des Gesamtangebotes. Die Keynesianer betonen die Trägheit von Löhnen und Preisen. Monetaristen glauben jedoch, die Keynesianer betonten diese Trägheit zu sehr, und die kurzfristige AS-Kurve verlaufe ziemlich steil – vielleicht nicht senkrecht, jedoch viel steiler, als Keynesianer dies jemals zugeben würden. Wegen ihrer unterschiedlichen Ansichten zur Steigung der AS-Kurve sind die beiden Schulen auch über die kurzfristigen Auswirkungen einer Änderung der Gesamtnachfrage uneinig. Keynesianer glauben, eine Änderung der (nominalen) Nachfrage werde die
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
Produktion wesentlich verändern, habe jedoch kurzfristig nur geringfügige Auswirkungen auf die Preise. Monetaristen sind der Ansicht, eine Nachfrageverschiebung werde primär zu einer Änderung der Preise, nicht jedoch der Produktionsmengen führen. Das Hauptmerkmal der monetaristischen Makroökonomie ist vor allem die Bedeutung, die sie dem Geld bei der Bestimmung der Gesamtnachfrage und der relativen Preis- und Lohnflexibilität zuerkennt.
Die monetaristische Forderung: Konstantes Geldmengenwachstum Während der letzten 40 Jahre spielte der Monetarismus eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik. Monetaristen plädieren häufig für eine Politik der freien Märkte und des Laissez-faire. Doch ihr wichtigster wirtschaftspolitischer Anstoß war die Befürwortung einer fixen Geldmengenregelung anstelle einer bedarfsgerechten Fiskal- und Geldpolitik. Grundsätzlich könnte ein Monetarist den Einsatz geldpolitischer Maßnahmen zur Feinabstimmung der Wirtschaft empfehlen. Generell beschreiten die Monetaristen jedoch einen anderen Weg, indem sie argumentieren, die Privatwirtschaft sei stabil, und der Staat könne sie deshalb nur destabilisieren. Darüber hinaus glauben Monetaristen, dass sich die Geldmenge auf die Produktionsleistung erst mit unterschiedlich großer Verzögerung auswirkt, sodass eine effektive Stabilisierungspolitik als enorme Aufgabe erscheint. Das Kernstück der monetaristischen Wirtschaftsphilosophie ist daher eine monetaristische Regel: Eine optimale Geldpolitik legt eine feste Quote für das Geldmengenwachstum fest und hält sich unter allen wirtschaftlichen Bedingungen an diese Quote. Wie lässt sich diese Auffassung begründen? Monetaristen glauben, ein fixes Geld-
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mengenwachstum (zwischen 3 Prozent und 5 Prozent jährlich) könne die wichtigste Quelle der Instabilität in einer modernen Volkswirtschaft – die kapriziösen und unzuverlässigen Veränderungen der Geldpolitik – eliminieren. Würden wir die Federal Reserve durch ein Computerprogramm ersetzen, das immer für eine feste Wachstumsrate von M sorgt, könnte es nie zu einem explosiven Anwachsen der Geldmenge kommen. Bei stabiler Umlaufgeschwindigkeit des Geldes würde das BIP ebenfalls kontinuierlich wachsen. Bei einem Wachstum von M, das etwa der Geschwindigkeit des potenziellen BIPWachstums entspricht, könnte die Wirtschaft innerhalb kurzer Zeit Preisstabilität erreichen.
Das monetaristische Experiment Gegen Ende der siebziger Jahre gewannen monetaristische Ansichten stark an Einfluss. In den Vereinigten Staaten bemängelten viele, der keynesianischen Stabilisierungspolitik sei es nicht gelungen, die Inflation einzudämmen. Als im Jahr 1979 schließlich eine zweistellige Inflationsrate erreicht wurde, sahen zahlreiche Ökonomen und Politiker in einer monetaristischen Politik die einzige Hoffnung auf eine effektive Anti-Inflationspolitik. Im Oktober 1979 startete der neue Vorsitzende der Federal Reserve, Paul Volcker, mit seinem so genannten monetaristischen Experiment einen massiven Angriff auf die Inflation. In einer dramatischen Änderung ihrer Strategie beschloss die Fed, sich nicht mehr in erster Linie auf die Zinssätze zu konzentrieren, sondern ab sofort die Mindestreserven der Geschäftsbanken und die Geldmenge auf vorbestimmten Wachstumspfaden zu halten.6 Die Fed hoffte, ein streng quantitativer Ansatz in der Geldmengenpolitik werde zweierlei erreichen. Erstens würden auf diese Weise die Zinssätze genügend ansteigen, um 6 Erinnern Sie sich an die Diskussion des monetaristischen Experiments in Kapitel 26.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
die Gesamtnachfrage zu reduzieren, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen und den Anstieg von Löhnen und Preisen aufgrund des Mechanismus der Phillips-Kurve zu dämpfen. Manche glaubten außerdem, dass eine strikte und glaubwürdige Geldpolitik die Inflationserwartungen, insbesondere in den Kollektivverträgen, dämpfen und das Ende der Periode hoher Inflation deutlich signalisieren werde. Wären erst einmal die Erwartungen der Leute gesenkt, könnte die Wirtschaft auf relativ schmerzlosem Weg mit der Inflation fertig werden. Das Experiment war äußerst erfolgreich, was die Dämpfung des Wachstums des nominalen BIP und die Senkung der Inflationsrate betraf. Aufgrund der Geldverknappung und hohen Zinssätze verlangsamte sich das Wachstum des nominalen BIP von 13 Prozent im Jahr 1978 auf 4 Prozent im Jahr 1982. Die Arbeitslosenquote stieg im selben Zeitraum von 6 Prozent auf 10 Prozent. Die Inflation ging drastisch zurück. Etwaige Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen wurden durch das monetaristische Experiment beseitigt. Geld funktioniert. Auf das Geld kommt es offensichtlich an. Eine Geldverknappung kann die Inflation aus einer Volkswirtschaft vertreiben.
Der Niedergang des Monetarismus Paradoxerweise führten gleich nach der erfolgreichen Ausrottung der Inflation aus der amerikanischen Wirtschaft dank des monetaristischen Experiments – und wahrscheinlich sogar wegen dieses Erfolgs – Änderungen auf den Finanzmärkten zu Verhaltensveränderungen, die den monetaristischen Ansatz untergruben. Während des monetaristischen Experiments und nach dessen Ende veränderte sich vor allem die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes deutlich. Denken Sie daran, dass die Monetaristen glauben, diese Umlaufgeschwindigkeit sei relativ stabil und vor-
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hersehbar. Wenn das zutrifft, müssten Geldmengenänderungen reibungslos zu Änderungen des nominalen BIP führen. Doch gerade mit der Annahme der monetaristischen Doktrin wurde die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes extrem instabil. Abbildung 33-5 zeigt die Veränderungen dieser Umlaufgeschwindigkeit im Zeitraum von 1960 bis 1999. Man erkennt, dass die Umlaufgeschwindigkeit von M1 von 1960 – 1980, als der Monetarismus an Einfluss gewann, ziemlich stabil war. Doch nach 1980 wurde die Geschwindigkeit deutlich instabil, als die hohen Zinssätze in der Zeit von 1979 – 1982 zur Erfindung neuer Finanzinstrumente und zur Zunahme von verzinslichen Girokonten führten. Manche glauben, die Instabilität sei tatsächlich darauf zurückzuführen, dass man sich in dieser Periode zu stark auf das Festlegen von Geldmengenzielen verließ. Als die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zunehmend instabil wurde, gab die Federal Reserve allmählich ihren Vorsatz auf, sie als Richtlinie für ihre Geldpolitik zu verwenden. Anfang der neunziger Jahre nutzte die Fed Entwicklungen der Produktion, der Inflation, der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit als Hauptindikatoren für den Zustand der Volkswirtschaft. Im Jahr 1999 erwähnt das Sitzungsprotokoll des Offenmarktkomitees der Fed den Ausdruck „Umlaufgeschwindigkeit“ kein einziges Mal in der Beschreibung des wirtschaftlichen Zustands oder der Begründung des Komitees für seine kurzfristigen Maßnahmen. Auch wenn der Monetarismus aus der Mode gekommen ist, bleibt die Geldpolitik ein wesentliches Element der Stabilitätspolitik in großen Volkswirtschaften. Keine dieser Entwicklungen mindert die Bedeutung des Geldes für die gesamtwirtschaftliche Politik. Auch heute ist die Geldpolitik das wichtigste wirtschaftspolitische Instrument zur Steuerung von Konjunkturzyklen in den Vereinigten Staaten und Europa.
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Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
25 20 15 10
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10
15 1960
1965
1970
1975
1980 Jahr
1985
1990
1995
an Bedeutung
Monetaristisches Experiment
0
verlieren
Monetaristische Ziele
5
2000
Abbildung 33-5: Veränderung der Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit von M1 Die Monetaristen nehmen eine stabile Umlaufgeschwindigkeit des Geldes an und plädieren folglich für eine konstante Wachstumsrate der Geldmenge. Bis in die frühen achtziger Jahre hinein war die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes vergleichsweise konstant. Danach führten eine aktive Geldpolitik, stärker schwankende Zinssätze und neue Finanzinstrumente zu einer außerordentlichen Instabilität der Umlaufgeschwindigkeit. Quelle: Die Umlaufgeschwindigkeit ist definiert als Verhältnis des BIP zu M1; die Angaben zur Geldmenge stammen vom Federal Reserve Board, diejenigen zum BIP vom US-Handelsministerium; zwischen den Zeitpunkten der Datenerhebung bestehen zwei Jahre Unterschied.
C. Neue Ansätze in der Makroökonomie Die bestehenden keynesianischen makroökonomischen Modelle können keine verlässliche Anleitung für geld-, fiskal- oder sonstige politische Maßnahmen bieten. ... Es gibt keine Hoffnung, dass kleinere oder sogar tiefgreifende Änderungen dieser Modelle ihre Verlässlichkeit signifikant verbessern könnten. Robert E. Lucas Jr. and Thomas J. Sargent, „After Keynesian Macroeconomics“
Obwohl die meisten Makroökonomen darin übereinstimmen, dass geldpolitische Maßnahmen zumindest kurzfristig einen Einfluss auf Arbeitslosigkeit und Produktion haben können, stellt eine neue Richtung der klassischen Lehrmeinung den Standardansatz infrage. Diese Theorie, die man als neoklassische Makroökonomie bezeichnet, wurde von Robert Lucas (Chicago), Thomas Sargent (Chicago und Stanford) und Robert Barro (Harvard) entwickelt. Sie folgt dem Geist des oben beschriebenen klassischen Ansatzes insofern, als sie die Flexibilität von Löhnen und Preisen betont, aber sie fügt ein neues Element hinzu, das als „rationale Erwartungen“ bezeichnet wird, um Beobachtungen erklären zu können, wie sie sich etwa aus der Phillips-Kurve ergeben.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Für seine Beiträge zur Entwicklung des neoklassischen Ansatzes und insbesondere zur modernen Auffassung von rationalen Erwartungen wurde Robert Lucas 1996 der Nobelpreis für Wirtschaft verliehen.
Die Grundlagen Die Neoklassiker sagen, (1) Preise und Löhne seien flexibel, und (2) die Menschen bedienten sich aller verfügbaren Informationen, um ihre Entscheidungen zu treffen. Diese beiden Postulate bilden den Kern des neoklassischen makroökonomischen Ansatzes. Der erste Teil der Aussage gründet auf der klassischen Annahme der Preis- und Lohnflexibilität. Diese vertraute Annahme besagt nur, dass sich Preise und Löhne rasch anpassen, um Angebot und Nachfrage auszugleichen. Die zweite, völlig neue Aussage beruft sich auf heutige Annahmen in Bereichen wie der Statistik und der Theorie des Verhaltens unter unsicheren Bedingungen. Der neoklassischen Hypothese zufolge entwickeln die Menschen ihre Erwartungen aufgrund aller verfügbaren Informationen. Demnach kann der Staat seine Bürger gar nicht „zum Besten halten“, weil diese Bürger gut informiert sind und Zugang zu denselben Informationen wie der Staat haben. Wir haben die Bedeutung der Preis- und Lohnflexibilität für die Makroökonomie bereits weiter oben in diesem Kapitel erörtert. Wenden wir uns nun der Theorie der rationalen Erwartungen zu.
Rationale Erwartungen Erwartungen sind im Wirtschaftsleben wichtig. Sie wirken sich auf die Ausgaben von Investoren für Investitionsgüter und auf Ausgaben- und Sparverhalten der Konsumenten aus. Wie aber kann man mit diesen Erwartungen im Rahmen der Volkswirtschaftlehre vernünftig umgehen? Die Neoklassiker beant-
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worten diese Frage mit der Theorie der rationalen Erwartungen. Danach werden Prognosen unvoreingenommen und auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen getroffen.7 Ws heißt das? Zunächst erklärt die Theorie der rationalen Erwartungen, dass Menschen Vorhersagen unvoreingenommen treffen.8 Eine eher kontroverse Annahme besagt, dass die Menschen alle verfügbaren Informationen und volkswirtschaftlichen Theorien in ihre Entscheidungen einbauen. Das impliziert, dass die Menschen das Funktionieren der Wirtschaft und die Handlungsweise des Staates verstehen. Nehmen wir beispielsweise an, dass der amerikanische Kongress in Wahljahren die Staatsausgaben immer großzügig handhabt. Die Theorie der rationalen Erwartungen geht davon aus, dass die Leute dies wissen und sich entsprechend verhalten. Das wesentlich Neue an der neoklassischen Theorie ist die Behauptung, dass der Staat infolge der rationalen Erwartungen seiner Bürger diese mit systematischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht täuschen kann.
Auswirkungen auf die Makroökonomie Die Erkenntnisse der neoklassischen Makroökonomik und verwandter Ansätze werden im Folgenden anhand von wichtigen Anwendungsmöglichkeiten verdeutlicht.
7 Die Annahme rationaler Erwartungen hängt eng mit der Hypothese effizienter Märkte zusammen, die sich auf Aktienkurse und die Preise anderer Aktiva bezieht und die in Kapitel 25 dargelegt wurde. 8 Eine Prognose ist „unverzerrt“, wenn sie keine systematischen Prognosefehler enthält. Natürlich kann eine Prognose nicht immer hundertprozentig zutreffen – wenn man eine Münze nur ein Mal wirft, kann man das Ergebnis nicht genau vorhersagen. Doch man sollte niemals die statistische Sünde begehen und ein verzerrtes Ergebnis (bias) vorhersagen, beispielsweise, dass eine unverfälschte Münze bei 10 oder 90 Prozent aller Würfe Kopf zeigt. Ihre Vorhersage ist unverzerrt, wenn Sie erklären, dass beim Münzwurf im Durchschnitt fünfzigmal Kopf oben liegen wird oder dass beim Würfeln jede Zahl etwa in einem Sechstel aller Fälle oben sein wird.
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
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Fehlinterpretationen der Konjunkturzyklen
Die Theorie der realen Konjunkturzyklen
In unserer Diskussion in Kapitel 31 definierten wir die unfreiwillige Arbeitslosigkeit als eine Situation, in der qualifizierte Arbeitskräfte nicht in der Lage sind, zum gängigen Lohnniveau eine Stelle zu finden. Die Neoklassiker halten den größten Teil der Arbeitslosigkeit für freiwillig. Ihrer Meinung zufolge passen sich nach wirtschaftlichen Störungen die Arbeitsmärkte schnell an, weil sich die Preise ändern, um für ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu sorgen. Die Arbeitslosigkeit nimmt hauptsächlich deshalb zu, weil Menschen ihre Stellen aufgeben, um sich nach einer besseren Arbeit umzusehen, nicht, weil sie keine Arbeit finden können. Diese These führte zu einem frühen von Robert Lucas entwickelten Ansatz, der besagt, Fehleinschätzungen seien der Grund für Konjunkturzyklen. Laut diesem Ansatz kommt es zu hoher Arbeitslosigkeit, weil sich die Arbeitnehmer hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation nicht im Klaren sind – manche geben in einer Rezession freiwillig ihre Arbeit auf, weil sie auf etwas Besseres hoffen, und sind dann überrascht, wenn es keine freien Stellen gibt. Während eines Konjunkturaufschwungs treten hohe Produktion und niedrige Arbeitslosigkeit dann auf, wenn die Menschen die Reallöhne überschätzen und aufgrund dieser Täuschung härter arbeiten. Die Theorie der Fehleinschätzungen wurde recht begeistert aufgenommen, denn sie konnte Konjunkturzyklen ohne solch unelegante Konzepte wie starre Löhne und Preise erklären. Sie ist jedoch wieder aus der Mode gekommen, weil sie viele zyklische Phänomene einfach nicht begründen konnte, beispielsweise warum Arbeitnehmer im Konjunkturaufschwung häufiger (statt seltener) kündigen und in Rezessionen eher unfreiwillig ihre Stelle verlieren (anstatt sie selbst aufzugeben).
Ein nah verwandter Ansatz, der zunehmend klassische Makroökonomen angezogen hat und ebenfalls rationale Erwartungen und Wettbewerbsmärkte unterstellt, aber andere Mechanismen betont, ist die Theorie der realen Konjunkturzyklen. Laut diesem Ansatz entstehen Konjunkturzyklen hauptsächlich aufgrund von Änderungen in der Technologie; geldpolitische oder nachfrageseitige Einflüsse werden zur Erklärung nicht herangezogen. Gemäß dem Ansatz der realen Konjunkturzyklen sind es plötzliche Veränderungen der Technik, der Investitionen oder des Arbeitsangebots, welche die potenzielle Produktionsleistung der Wirtschaft beeinflussen. Anders ausgedrückt: Derartige Schocks verschieben die senkrechte AS-Kurve. Solche Einflüsse auf das Angebot haben dann infolge der Veränderungen des Gesamtangebots Auswirkungen auf die tatsächliche Produktion und sind von der Gesamtnachfrage völlig unabhängig. Entwicklungen der Arbeitslosenquote sind das Resultat von Veränderungen der inflationsneutralen Arbeitslosenquote (NAIRU) aufgrund mikroökonomischer Einwirkungen, beispielsweise der Intensität bestimmter Schocks in einzelnen Sektoren oder steuerpolitischer beziehungsweise Regulierungsmaßnahmen.
Die Ricardianische Sicht der Fiskalpolitik Eine der einflussreichsten Kritiken des makroökonomischen Ansatzes von Keynes fußt auf einem neuen Verständnis der Rolle der Fiskalpolitik. Diese Auffassung, die als Ricardianische Sicht der Fiskalpolitik bekannt und von Robert Barro von der Harvard-Universität entwickelt wurde, betont, dass Veränderungen der Steuersätze keinen Einfluss auf die Konsumausgaben haben.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Diese Vorstellung ist eine logische Weiterentwicklung des Lebenszyklusmodels des Konsums, das wir in Kapitel 22 vorgestellt haben. Laut der Ricardianischen Ansicht sind die Menschen vorausschauend und bilden Teil einer ganzen Kette von Familienmitgliedern, ähnlich einer Dynastie. Eltern kümmern sich nicht nur um ihren eigenen Konsum, sondern sorgen sich auch um das Wohlergehen ihrer Kinder; die Kinder ihrerseits sorgen sich um das ihrer eigenen Kinder, und so weiter. Diese Annahme, die als „dynastische Präferenzen“ bezeichnet wird, hat zur Folge, dass sich der Planungshorizont der jetzigen Generation aufgrund sich überschneidender Sorgen jeder Generation für die jeweiligen Nachkommen bis in die unendliche Zukunft erstreckt. Diese Überlegung führt zu einem überraschenden Ergebnis: Wenn die Regierung die Steuern senkt, aber ihre Ausgaben nicht reduziert, muss sie sich zwangsweise mehr Geld leihen. Bleiben die Ausgaben längerfristig unverändert, muss die Regierung früher oder später die Steuern wieder erhöhen, um künftig irgendwann die Zinsen für die neuen Darlehen bezahlen zu können. Nach der Ricardianischen Ansicht haben Konsumenten durchaus rationale Zukunftserwartungen; das heißt, wenn Steuern gesenkt werden, dann wissen sie, dass sie für eine zukünftige Steuererhöhung Vorsorge treffen müssen. Daher werden sie in Höhe der Summe der Steuererleichterung vermehrt sparen, und der Konsum wird sich nicht ändern. Selbst wenn die Steuererhöhung erst nach dem Ableben der Konsumenten erfolgen sollte, denken diese doch an das Wohlergehen ihrer Kinder; daher reduzieren sie ihren Konsum jetzt, sodass sie ihren Kindern mehr vererben können, damit diese die zusätzlichen Steuern werden zahlen können. Unter dem Strich besagt die Ricardianische Sicht, dass Steueränderungen keine Auswirkungen auf den Konsum haben. Außerdem handelt es sich bei der Staatsverschuldung aus Sicht der Haushalte nicht um eine Nettoverschuldung, denn in Gedanken zie-
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hen sie von ihren Aktiva den Gegenwartswert derjenigen Steuern ab, die in Zukunft zu zahlen sein werden, damit der Staat seine Schulden begleichen kann. Die Ricardianische Sicht hinsichtlich Steuern und Staatsverschuldung hat zu kontroversen Diskussionen unter den Makroökonomen geführt. Kritiker weisen darauf hin, dass die Konsumenten außerordentlich weitsichtig sein müssen, wenn sie schon für das Erbe ihrer Kinder planen und permanent ihre eigenen Interessen gegenüber denjenigen ihrer Nachkommen abwägen. Die Kette muss zwangsläufig reißen, wenn keine Kinder da sind, es nichts zu vererben gibt, den Eltern ihre Kinder gleichgültig sind oder sie einfach nicht über genügend Weitblick verfügen. Bisher bieten empirische Daten keine Unterstützung der Ricardianischen Sicht, aber sie ist eine nützliche Erinnerung an die logischen Grenzen der Fiskalpolitik.
Effizienzlohntheorie Eine weitere wichtige Entwicklung der letzten Zeit, die Elemente sowohl der klassischen als auch der keynesianischen Volkswirtschaftslehre kombiniert, ist die so genannte Effizienzlohntheorie (efficiency wage theory). Sie wurde von Edmund Phelps (Unversity of Columbia), Joseph Stiglitz (1995 bis 1997 Vorsitzender der Wirtschaftsberater von Präsident Clinton) und Janet Yellen (Governor der Fed und von 1997 – 1999 Vorsitzende der Wirtschaftberater Präsident Clintons) begründet. Diese Theorie erklärt die Unbeweglichkeit der Reallöhne und das Bestehen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit mit dem Bemühen der Unternehmen, die Löhne über dem Markträumungsniveau zu halten, um die Produktivität zu erhöhen. Laut dieser Theorie führen höhere Löhne zu einer größeren Produktivität, weil die Arbeiter gesünder sind (insbesondere in armen Ländern), weil sie eine bessere Arbeitsmoral haben und weniger trödeln, weil gute Arbeiter bei gutem Lohn eher nicht kündigen, um sich nach einer neuen Stelle umzusehen, oder auch
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
weil die höheren Löhne die besseren Arbeitnehmer anziehen. Wenn die Unternehmen die Löhne anheben, um damit die Produktivität zu steigern, sind Arbeitsuchende möglicherweise bereit, für diese Stellen anzustehen; dadurch entsteht unfreiwillige Sucharbeitslosigkeit. Was an dieser Theorie überrascht, ist die Tatsache, dass ihr zufolge unfreiwillige Arbeitslosigkeit ein Gleichgewichtsmerkmal ist und deshalb auch nicht von selbst verschwinden wird.
Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik In den frühen achtziger Jahre mischte sich noch eine weitere lockere Gruppierung von Wirtschaftswissenschaftlern in die Debatte ein. Die als angebotsorientierte Wirtschaftspolitik bekannt gewordene Lehrmeinung betonte die Notwendigkeit wirtschaftlicher Anreize und Steuersenkungen zur Förderung des Wirtschaftswachstums. Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik wurde besonders begeistert von Präsident Reagan (1981–1989) in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien von Premierministerin Margaret Thatcher (1979–1990) aufgenommen. Ein Hauptthema der angebotsorientierten Ökonomen war die wichtige Rolle, die sie wirtschaftlichen Anreize zusprachen, insbesondere einer angemessenen Vergütung der Arbeit, Ersparnissen und unternehmerischer Initiative. Die angebotsorientierten Wirtschaftswissenschaftler wiesen auf die Wunder hin, die uneingeschränkt freie Märkte produzieren, und wollten gegen die Vernichtung dieser Anreize durch überhöhte Steuern antreten. Darüber hinaus argumentierten sie, dass die Keynesianer in ihrer übertriebenen Sorge um die Gesamtnachfrage die Auswirkungen von Steuersätzen und wirtschaftlichen Anreizen auf die Angebotsseite einfach ignorierten. Das zweite Element der angebotsorientierten Lehrmeinung ist ihre Forderung nach drastischen Steuersenkungen. Wir haben in
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unserer Analyse des Multiplikatormodells gesehen, wie sich Steuern auf Gesamtnachfrage und Produktionsleistung auswirken können. Die angebotsorientierten Ökonomen argumentierten, dass Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage überbetont worden seien. Sie vertraten die Auffassung, hohe Steuern veranlassten die Menschen dazu, weniger zu arbeiten und das Kapitalangebot zu verknappen. Manche Exponenten der Schule, vor allem Arthur Laffer, meinten sogar, hohe Steuersätze könnten die Steuereinnahmen insgesamt senken. Die Laffer-Kurve stellt dar, dass hohe Steuersätze zu einem Rückgang wirtschaftlicher Aktivitäten führen und damit die Basis für die Besteuerung reduzieren. Anhänger gängigerer Lehrmeinungen aus allen Bereichen des politischen Spektrums und sogar einige angebotsorientierte Theoretiker lachten über Laffers Idee, dass eine Senkung der Steuersätze zu höheren Steuereinnahmen führen würde. Um das von ihnen als mangelhaft empfundene Steuersystem in Ordnung zu bringen, schlugen angebotsorientierte Ökonomen einen radikalen Umbau des gesamten Systems vor, wobei ihre diesbezüglichen Forderungen unter der Bezeichnung „angebotsseitige Steuerkürzungen“ bekannt wurden. Die zugrunde liegende Philosophie besagt, dass die Reformen die wirtschaftlichen Anreize durch Senkung der Grenzsteuersätze verstärken sollten, das Steuersystem weniger progressiv aufgebaut sein müsse (also die Steuerlast einkommensstarker Haushalte zu verringern sei) und das System so konzipiert sein müsse, dass Anreize für Produktion und Angebot entstünden, statt die Gesamtnachfrage zu beeinflussen. Nachdem er während der achtziger Jahre so prominent vertreten war, verschwand der angebotsseitige Ansatz nach dem Ausscheiden Reagans aus dem Präsidentenamt nach und nach. Bei der Analyse dieser Periode sind die meisten Wirtschaftswissenschaftler zu dem Schluss gekommen, dass viele der Behauptungen der angebotsorientierten Ökonomen von den wirtschaftlichen Tatsa-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
chen nicht gestützt wurden. Die Folge der angebotsorientierten Maßnahmen waren hohe Budgetdefizite und eine zunehmende Staatsverschuldung. Die Defizite gingen nicht aufgrund niedriger Steuersätze zurück, sondern infolge von Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Viele der angebotsorientierten Maßnahmen wurden 2001 erneut vorgeschlagen, als Präsident George W. Bush erfolgreich Einkommensteuersenkungen durchsetzte. Man begründete diese Senkungen jedoch nicht damit, dass sie die Staatseinnahmen erhöhen würden. Vielmehr wurde als wirtschaftliche Begründung angeführt, sie würden die Effizienz des Steuersystems und langfristig auch das Wirtschaftswachstum erhöhen.
Auswirkungen auf wirtschaftspolitische Maßnahmen Die Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen Die neuen nicht-keynesianischen Ansätze haben einige bedeutende Auswirkungen auf die Entscheidung über wirtschaftspolitische Maßnahmen. Eine der wichtigsten Behauptungen der neuen klassischen Lehrmeinung lautet, dass eine systematische Fiskal- und Geldpolitik die Arbeitslosigkeit nicht senken kann. Dieser Aussage liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine vorhersehbare Bemühung zur Ankurbelung der Wirtschaft schon im Voraus bekannt wäre und damit keine Wirkung auf die Volkswirtschaft hätte. Nehmen wir beispielsweise an, die Regierung stimuliert die Wirtschaft immer dann, wenn Wahlen vor der Tür stehen. Nachdem sie einige dieser politisch motivierten Fiskalmanöver erlebt haben, werden die Menschen vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie sich wiederholen werden. Sie könnten zu sich selbst sagen:
Teil 7
Wahlen stehen bevor. Ich weiß aus Erfahrung, dass die Staatsausgaben vor Wahlen immer erhöht werden. Im Wahljahr werden meine Steuern gesenkt, aber darauf wird eine beträchtliche Steuererhöhung im nächsten Jahr folgen. Mich können die nicht dazu bewegen, mehr zu konsumieren oder härter zu arbeiten.
Dies ist das Theorem der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen der klassischen Makroökonomik. Angesichts der rationalen Erwartungen der Menschen und flexibler Preise und Löhne können erwartete wirtschaftspolitische Maßnahmen der Regierung die reale Produktion oder die Arbeitslosigkeit nicht beeinflussen.
Feste Regeln sind wünschenswert Wir haben bereits auf die Forderung der Monetaristen nach festen Regeln hingewiesen. Die Neoklassiker stellen diese Forderung auf eine weitaus festere Basis. Wirtschaftspolitik hat demnach zwei Teile, einen vorhersehbaren Teil (die „Regel“) und einen unvorhersehbaren Teil („Ermessen“). Die Neoklassiker argumentieren, dass Maßnahmen nach freiem Ermessen zu nichts führen. Sie behaupten, Politiker könnten die Zukunft der Wirtschaft auch nicht besser vorhersagen als der private Sektor. Deshalb hätten sich, bis die Politiker auf Neuigkeiten reagierten, die flexiblen Preise auf Märkten, auf denen gut informierte Käufer und Verkäufer agierten, bereits an die neue Situation angepasst und ihr effizientes Angebots- und Nachfragegleichgewicht erreicht. Der Staat könne nach eigenem Ermessen gar keine Maßnahmen mehr treffen, um die Wirtschaftsleistung zu verbessern oder die durch vorübergehende Fehleinschätzungen oder reale Konjunkturschocks hervorgerufene Arbeitslosigkeit zu verhindern. Verbessern könnten staatliche Maßnahmen die Lage nicht, aber sie könnten diese auf jeden Fall verschlechtern. Unvorhergesehene Ermessensentscheidungen könnten irreführende
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
wirtschaftspolitische Signale aussenden, Menschen verwirren, ihr wirtschaftliches Verhalten verzerren und Verschwendung bewirken. Nach Ansicht der neoklassischen Makroökonomen sollte der Staat auf diskretionäre wirtschaftspolitische Maßnahmen verzichten, statt Verwirrung zu stiften.
Monetaristische Regeln und die Lucas-Kritik Obwohl die neoklassische Schule einige Fallen aufgezeigt hat, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen drohen, hat sie zugleich auch ein vernichtendes Argument gegen eine der Hauptthesen der Monetaristen vorgebracht. Die Monetaristen behaupten, die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes habe sich als bemerkenswert stabil erwiesen. Daher, so schließen sie, könnten wir die Gleichung MV = PQ = nominales BIP stabilisieren, indem wir eine feste Regel für die Geldmenge aufstellen. Doch die Lucas-Kritik, benannt nach Robert Lucas von der Universität Chicago, besagt, dass die Menschen bei einem Politikwechsel ihr Verhalten ändern. Genauso wie sich die scheinbare kurzfristige Phillips-Kurve verschieben kann, wenn eine keynesianisch ausgerichtete Regierung sie zu manipulieren versucht, so könnte sich auch die nur scheinbar konstante Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ändern, wenn die Zentralbank feste Regeln für das Geldmengenwachstum erlässt. Diese Erkenntnis wurde in der Zeit von 1979 bis 1982 bestätigt, als sich die Vereinigten Staaten auf das monetaristische Experiment einließen, das im vorhergehenden Teil beschrieben wurde. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes wurde extrem instabil, und schließlich verwendete die Fed Geldmengenaggregate immer weniger für ihre Geldpolitik.
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Gegenwärtiger Stand der Debatte Die Lucas-Kritik ist eine ernst zu nehmende Warnung, dass sich wirtschaftliches Verhalten ändern kann, wenn sich der Staat zu sehr auf frühere Regelmäßigkeiten verlässt. Die neoklassische Makroökonomik steht nach wie vor im Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Kontroversen. Einerseits handelt es sich bei der Diskussion um eine Wiederholung der früheren Argumente, die zwischen Keynes und den Anhängern der klassischen Wirtschaftstheorie ausgetauscht wurden. Wie in früheren Debatten auch bezieht sich eine der Hauptfragen auf die Flexibilität von Preisen und Löhnen. Die Keynesianer verweisen auf zahlreiche Beweise für eine nur schleppende Anpassung der Preise und insbesondere der Löhne nach wirtschaftlichen Schocks, und nur wenige Ökonomen glauben, dass sich der Arbeitsmarkt in einem konstanten Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage befindet. Wenn die Annahme völlig flexibler Löhne und Preise aufgegeben wird, haben wirtschaftspolitische Maßnahmen auf einmal doch wieder die Fähigkeit, die reale Wirtschaft kurzfristig zu beeinflussen. Darüber hinaus verweisen Kritiker auf einige Behauptungen der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die den Tatsachen ganz einfach widersprechen. Die Theorie besagt, konjunkturzyklische Schwankungen seien „Gleichgewichtszustände“, in denen Unternehmen und Erwerbstätige durch Preis- oder monetäre Schocks verwirrt würden. Doch können Fehlinterpretationen der Lohn- und Preisentwicklung tatsächlich tiefe Wirtschaftsdepressionen und anhaltende Beschäftigungskrisen erklären? Brauchten die Menschen wirklich ein ganzes Jahrzehnt, um zu verstehen, wie hart die Weltwirtschaftskrise war? Ist den Europäern tatsächlich die schlechte Arbeitsmarktlage nicht bewusst, die seit 1990 in ihren Ländern herrscht? Wie können wir schließlich die rein theoretische Prognose, wonach konjunkturell be-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
dingte Arbeitslosigkeit dadurch entsteht, dass Arbeitnehmer kündigen, um sich bessere Stellen zu suchen, mit den Beweisen vereinbaren, die zeigen, dass die Zahl der neu Erwerbslosen in Rezessionen stark ansteigt (siehe Abbildung 31-8 auf Seite 919). Da die meisten klassischen Theorien zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen, bleiben viele Anhänger etablierter Lehrmeinungen skeptisch, was die Nützlichkeit der neoklassischen Ansätze zur Erklärung konjunkturzyklisch bedingter Schwankungen der Produktion, des Arbeitsmarktes und der Güterpreise betrifft.
Eine neue Synthese? Nachdem die Ökonomen zwei Jahrzehnte lang Zeit hatten, den neoklassischen Ansatz zu verdauen, scheint langsam eine Synthese aus Elementen der alten und neuen Theorien zu entstehen. Wirtschaftswissenschaftlern ist inzwischen klar, dass sie die Erwartungshaltung sorgfältig berücksichtigen müssen. Eine sinnvolle Unterscheidung ist zwischen dem adaptiven (oder rückwärts gewandten Anpassungs-)Ansatz und dem rationalen (oder vorwärts gewandten) Ansatz zu treffen. Der adaptive Ansatz geht davon aus, dass die Menschen ihre Erwartungen einfach und mechanisch anhand vergangener Informationen bilden; der rationale oder vorwärts gewandte Ansatz wurde bereits weiter oben beschrieben. Die Bedeutung vorwärts gerichteter Erwartungen ist wesentlich zum Verständnis von Verhalten, insbesondere demjenigen auf Auktionsmärkten mit Wettbewerb wie im Finanzsektor. Manche Makroökonomen haben begonnen, die neoklassische Sichtweise hinsichtlich der Erwartungshaltungen mit der keynesianischen Meinung zu Produkt- und Arbeitsmärkten zu verbinden. Diese Synthese finden wir in makroökonomischen Modellen, die auf der Annahme beruhen, dass (1) Arbeitsund Gütermärkte durch unflexible Löhne und Preise gekennzeichnet sind, (2) die Preise und Mengen auf den Finanz-Auktions-
Teil 7
märkten auf wirtschaftliche Schocks und Erwartungen rasch reagieren und (3) die Erwartungen auf Auktionsmärkten vorwärts gewandt sind. Eine bedeutende Aussage der neuen Ansätze lautet, dass vorwärts gerichtete Erwartungsmodelle in Reaktion auf bedeutende Neuigkeiten zu großen „Sprüngen“ oder diskontinuierlichen Veränderungen der Zinssätze, Aktien- oder Wechselkurse und Ölpreise neigen. Heftige Reaktionen treten häufig nach Wahlen oder dem Ausbruch eines Krieges auf. Als beispielsweise die Vereinigten Staaten im März 2003 im Irak einmarschierten, sanken die Ölpreise in einer einzigen Woche um 35 Prozent, während die Aktienkurse in derselben Zeit um 10 Prozent stiegen. Die neoklassische Vorhersage von „Preissprüngen“ bildet also ein realistisches Merkmal von Auktionsmärkten nach und bietet Hinweise darauf, wo vorwärts gerichtete Erwartungen im wirklichen Leben von Bedeutung sein könnten. Abbildung 33-6 stellt einen Vergleich zwischen den Ausgabenmultiplikatoren von vier verschiedenen vorwärts gerichteten Modellen und sieben adaptiven Modellen an. Beachten Sie, dass die Multiplikatoren der vorwärts gerichteten Modelle signifikant geringer sind als jene der adaptiven Modelle. Die kleineren Multiplikatoren in den vorwärts gerichteten Modellen fallen infolge schnellerer Reaktionen auf den Finanzmärkten geringer aus. Ein Grund dafür besteht darin, dass die Zinssätze nach einer fiskalpolitischen Expansion im Allgemeinen in vorwärts gerichteten Modellen rascher ansteigen, weil vorausschauende Marktteilnehmer nach einer Erhöhung der Staatsausgaben eine zukünftige Produktionssteigerung erwarten. Diese vorhergesehene höhere zukünftige Produktion treibt die Zinssätze schon heute in die Höhe, weshalb die Investitionen in vorwärts gerichteten Modellen rasch zurückgehen. Außerdem schießt in solchen Modellen mit den infolge einer fiskalpolitischen Stimulierung rasch steigenden Zinssätzen der flexible Wechselkurs des US-Dollars in die
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
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Eine Zwischenbilanz 1.5
adaptiv
1.0
0.5
rational
0 1 2 3 4 5 Anzahl der Jahre nach den fiskalpolitischen Maßnahmen
Abbildung 33-6: Vergleich der Multiplikatoren in rationalen und adaptiven Modellen Welcher Unterschied besteht zwischen den Ausgabenmultiplikatoren in adaptiven (rückwärts gerichteten) und rationalen (vorwärts gerichteten) Modellen? Da die Zinssätze einheimische Investitionen verdrängen und die Wechselkurse sich auf die Nettoexporte auswirken, finden Anpassungen schneller in vorwärts gerichteten Modellen statt. Rationale Ausgabenmultiplikatoren sind deutlich kleiner als jene in adaptiven Modellen. Quelle: Ralph C. Bryant, Gerald Holtham und Peter Hooper, „Consensus and Diversity in the Model Simulations,“ in Ralph C. Bryant u.a. (Hrsg.), Empirical Macroeconomics for Interdependent Economies (Brookings Institution, Washington, D.C., 1988), Abbildung 3-33
Höhe. Ein gestiegener Wechselkurs des USDollars führt zu einem Rückgang der Nettoexporte und dämpft das Ausmaß der fiskalpolitischen Stimulierung. Der neoklassische Ansatz in der Makroökonomie hat zu vielen überaus nützlichen Einsichten geführt. Er weist uns insbesondere darauf hin, dass die Wirtschaft von intelligenten, informationsverarbeitenden Wesen bevölkert ist, die auf politische Maßnahmen reagieren und diese oft sogar schon antizipieren. Diese Reaktion und Gegenreaktion kann auch das Verhalten der realen Wirtschaft verändern. ***
In diesem Kapitel haben wir die Streitthemen, die Makroökonomen entzweien, zusammenfassend erörtert. Nach Anhörung aller Beweise könnte eine Jury unvoreingenommener Wirtschaftswissenschaftler zu folgendem Schluss kommen: 1. Langfristiges Wirtschaftswachstum. Tendenziell wird das Wachstum des Lebensstandards sowie der Reallöhne und -einkommen hauptsächlich durch das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung pro Kopf der Bevölkerung bestimmt. Außerdem hängt die potenzielle Produktion von Qualität und Quantität der Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital sowie vom Stand der Technologie, vom Unternehmertum und vom den Managementfähigkeiten in einer Volkswirtschaft ab. Zur Verbesserung des langfristigen Wirtschaftswachstums ist ein verstärktes Wachstum der Produktionsfaktoren oder eine Verbesserung von Effizienz und Technologie erforderlich. 2. Kurzfristige Wirtschaftsleistung und Beschäftigung. Produktion und Beschäftigung werden kurzfristig durch die Wechselwirkung von Gesamtangebot und -nachfrage bestimmt. Zumindest einige Jahre lang können Veränderungen der Gesamtnachfrage (egal, ob durch die Fiskaloder Geldpolitik beziehungsweise externe Faktoren ausgelöst) zweifellos Produktion und Beschäftigung beeinflussen. Geldund Fiskalpolitik haben das Potenzial zur Stabilisierung der Konjunkturzyklen. Die Zentralbanken sind in einer guten Position, um eine führende Rolle in der Stabilitätspolitik zu übernehmen. 3. Arbeitslosigkeit und Inflation. Inflation ist generell recht träge. Wenn in einer Volkswirtschaft Arbeit und Kapital aber in hohem Maße genutzt werden, steigt die Inflation in der Regel an. Umgekehrt führen
984
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Arbeitslosigkeit ist zeitlich wie örtlich recht instabil, sodass die Steuerung der Inflation eine überaus schwierige Aufgabe ist. Darüber hinaus können sich Länder keine permanent niedrige Arbeitslosigkeit erkaufen, indem sie eine hohe Inflationsrate dulden.
Rezessionen und hohe Arbeitslosigkeit üblicherweise zu sinkender Inflation. Die inflationsneutrale Arbeitslosigkeit (NAIRU) ist jener neutrale Bereich für die Arbeitslosenquote, in dem die Inflation stabil bleibt. Doch die Balance zwischen Inflation und
Zusammenfassung A. Klassische Bewegung und keynesianische Revolution 5. 1.
2.
3.
Die klassischen Ökonomen stützten sich auf das Saysche Theorem, wonach sich das „Angebot seine eigene Nachfrage schafft“. Modern ausgedrückt bedeutet der klassische Ansatz, dass flexible Löhne und Preise jeden Angebots- oder Nachfrageüberhang sofort zum Verschwinden bringen und Vollbeschäftigung sowie volle Kapazitätsauslastung rasch wiederherstellen. Im Rahmen des klassischen Systems besteht keine Notwendigkeit, wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Stabilisierung der realen Wirtschaft zu ergreifen; solche Maßnahmen werden allerdings die Preisentwicklung beeinflussen. Die keynesianische Revolution postulierte die geringe Flexibilität von Preisen und Löhnen, infolge deren Produktionsleistung und Arbeitslosigkeit durch die Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage bestimmt werden. Die keynesianische AS-Kurve verläuft zwar nach oben, jedoch nicht wie die klassische Kurve senkrecht, und daher wirken sich monetäre oder Fiskalmaßnahmen sowohl auf die Preise als auch auf die reale Produktionsleistung aus. Es gibt keinen automatischen selbstregulierenden Preismechanismus, und die Wirtschaft kann daher durchaus auch längere Depressions- oder Inflationsperioden durchlaufen. Nach Ansicht moderner Keynesianer sind Geld- und Fiskalpolitik mögliche Substitute für flexible Löhne und Preise, weil sie die Wirtschaft in Zeiten der Rezession ankurbeln und in Aufschwungzeiten die Gesamtnachfrage drosseln, um inflationären Tendenzen entgegenzuwirken.
V
6.
7.
Nach Ansicht der Monetaristen ist die Geldmenge der primäre Bestimmungsfaktor kurzfristiger Schwankungen von realem und nomi-
8.
BIP ≡ PQ -------- ≡ ---------M M
Obwohl V sicherlich keine Konstante ist – und sei es nur deshalb, weil sie mit den Zinssätzen steigt –, glauben die Monetaristen daran, dass sie sich regelmäßig und vorhersehbar entwickelt. Aus der Definition der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ergibt sich die Quantitätstheorie des Geldes: P
B. Der monetaristische Ansatz 4.
nalem BIP sowie langfristiger Entwicklungen des nominalen BIP. Der Monetarismus orientiert sich bei seiner Erklärung des Einflusses des Geldes auf die Wirtschaft an der Entwicklung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die EinkommensUmlaufgeschwindigkeit des Geldes (V) wird als das Verhältnis des in Geld ausgedrückten nominalen BIP zur Geldmenge M definiert:
V ≡ kM, wobei k ≡ ---Q -
Nach der Quantitätstheorie des Geldes ist P beinahe absolut proportional zu M. Diese Ansicht ist zum Verständnis von Hyperinflationen und bestimmten langfristigen Trends zwar nützlich, sollte jedoch nicht allzu wörtlich genommen werden. Die monetaristische Schule geht von drei grundlegenden Voraussetzungen aus: (a) Das Geldmengenwachstum ist der wichtigste systematische Bestimmungsfaktor des nominalen BIP-Wachstums; (b) Preise und Löhne sind relativ flexibel; (c) die Privatwirtschaft verhält sich stabil. Diese Aussagen führen zu dem Schluss, dass makroökonomische Schwankungen primär auf sprunghaftes Geldmengenwachstum zurückzuführen sind. Die Monetaristen schlagen häufig vor, das Geldmengenwachstum auf eine bestimmte Rate von 3 Prozent oder 5 Prozent jährlich zu
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
9.
begrenzen. Manche Monetaristen meinen, dies würde zu einem kontinuierlichen Wachstum und langfristig stabilen Preisen führen. Die Federal Reserve führte in den Jahren 1979 bis 1982 ein umfassendes monetaristisches Experiment durch. Die Erfahrungen dieser Periode überzeugten die Skeptiker, dass Geld ein wichtiger Bestimmungsfaktor der Gesamtnachfrage ist und dass sich Änderungen der Geldmenge kurzfristig stärker auf die Produktionsleistung als auf die Preise auswirken. Dagegen besagt die Lucas-Kritik, die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes könne bei Verfolgung eines monetaristischen Ansatzes durchaus sehr instabil werden.
C. Neue Ansätze in der Makroökonomie 10. Die neoklassische Makroökonomik vertritt die These, dass die Menschen rationale Erwartungen haben, Preise und Löhne flexibel sind und
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die Arbeitslosigkeit überwiegend freiwillig ist. Das Theorem von der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen besagt, dass der Staat durch vorhersehbare wirtschaftspolitische Maßnahmen weder die reale Produktion noch die Arbeitslosigkeit beeinflussen kann. Wenn Wirtschaftspolitiker systematisch versuchen, die Produktion zu steigern und die Arbeitslosigkeit zu senken, werden die Menschen dies schnell erkennen und die Maßnahmen vorhersehen. Feste Regeln werden daher zu besseren volkswirtschaftlichen Ergebnissen führen. Die Theorie der realen Konjunkturzyklen hält technologische Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Angebotsseite sowie Verschiebungen des Arbeitsmarktes für die Gründe konjunkturzyklischer Schwankungen. 11. Lesen Sie noch einmal die Zwischenbilanz zur gegenwärtigen Synthese der verschiedenen Ansätze.
Begriffe zur Wiederholung Klassische Bewegung und keynesianische Revolution Flexible versus unbewegliche Löhne und Preise Saysches Theorem (Theorie der Absatzwege) Alternative Theorien über das Gesamtangebot
Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und Monetarismus Tauschgleichung: MV PQ Umlaufgeschwindigkeit des Geldes: V PQ ÷ M Quantitätstheorie des Geldes: P kM Monetaristisches Experiment 1979–1982
Neue Ansätze in der Makroökonomie Rationale (vorwärts gewandte) Erwartungen, adaptive (rückwärts gewandte) Erwartungen Theorem von der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen Reale Konjunkturzyklen, effiziente Löhne Glaubenssätze der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik Grundannahmen: rationale Erwartungen und flexible Preise und Löhne Lucas-Kritik Ricardianische Sicht der Fiskalpolitik
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Das Zitat von Arthur Pigou stammt aus The Theory of Unemployment (Macmillan, London, 1933). Das Buch über die Geldgeschichte der Vereinigten Staaten von Milton Friedman und Anna Jacobson Schwartz liefert eine monetaristische Interpretation der Geschichte. Siehe dazu Monetary History of the United States 1867–1960 (Princeton University Press, Princeton, N.J., 1963). Viele Grundlagen der neoklassischen Wirtschaftstheorie wurden von Robert Lucas entwickelt und in Studies in Business-Cycle Theory (MIT Press, Cambridge, Mass., 1990) wieder veröffentlicht. Die moderne Theorie effizienter Löhne ist in Edmund Phelps, Structural Slumps: The Modern Equilibrium Theory of Unemployment, Interest, and Assets (Harvard University Press, Cambridge, Mass., 1994) dargestellt. Eine Übersicht über die verschiedenen Lehrmeinungen und ihre Anhänger bietet Paul Krugman in: Peddling Prosperity: Economic Sense and Nonsense in the Age of Diminished Expectations (Norton, New York, 1994). Deutschsprachige Literatur: Jürgen B. Donges, „Angebotspolitik: Ein wissenschaftliches Konzept für die Politik“, in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zwischen wissenschaftlichem Anspruch und politischer Wirklichkeit (Deutscher Institituts-Verlag, Köln, 2004), S. 7–16; Eckhard Hein u.a. (Hrsg.), Neu-Keynesianismus. Der neue wirtschaftspolitische Mainstream? (Metropolis, Marburg, 2003); Gilbert Marchlewitz, „Neue Keynesianische Makroökonomie und die Theorie realer Konjunkturzyklen“, in: Jörg Flemmig (Hrsg.), Moderne Makroökonomie – eine kritische Bestandsaufnahme (Metropolis, Marburg, 1995); K. Dietrich, H. Hoffmann, J. Kromphardt u.a., Postkeynesianismus. Ökonomische Theorie in der Tradition von Keynes, Kalecki und Sraffa. Mit Beiträgen von Karl Dietrich, Karl Kühne, Jürgen Kromphardt, Heinz D. Kurz u.a. (Metropolis, Marburg, 1987).
Websites Für die Theorie der realen Konjunkturzyklen gibt es eine eigene Website unter ideas.uqam.ca/QMRBC/ index.html.
Übungen 1.
2.
Die Monetaristen sagen: „Nur Geld zählt.“ Die Keynesianer antworten: „Geld zählt, aber andere Faktoren, wie beispielsweise die Fiskalpolitik, sind auch wichtig.“ Erläutern und beurteilen Sie die beiden Positionen. Ist es möglich, nicht mit den Monetaristen übereinzustimmen, aber trotzdem daran zu glauben, dass die Geldpolitik zur Bekämpfung von Rezessionen genutzt werden sollte? Erläutern Sie Ihre Meinung. Nehmen Sie an, das nominale BIP betrüge US-$ 1.000 Milliarden im Jahr 0 und der BIP-Deflator wäre 1. Die Geldmenge in den Jahren 0, 1, 2, 3 und 4 betrüge jeweils US-$ 50, 52, 55, 58, 60 Milliarden. a. Geben Sie die Höhe der nominalen Produktion in den Jahren 1, 2, 3, und 4 nach der Quantitätstheorie des Geldes an.
b.
3.
4.
Angenommen, die potenzielle Produktion steigt nicht und die Geldmenge nimmt einen vorher angekündigten Verlauf; wie hoch muss dann das reale BIP laut der neoklassischen Lehre sein? Wie würde sich das Drucken und Ausgeben von neuen Dollarnoten im Wert von US-$ 100 Billionen während einer Hochkonjunktur auf die Preisentwicklung auswirken? Enthält die Quantitätstheorie des Geldes vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit? Wie würden sich die Preise entwickeln, wenn M während einer Depression um 1 Prozent erhöht würde? Vergleichen Sie die beiden Fälle. Ein Keynesianer könnte zur Belebung der Wirtschaft eine Steuersenkung empfehlen. Welche Auswirkungen hätte diese Maßnahme auf die AD-Kurve, die Preise und die reale Produktion? Beziehen Sie sich in Ihrer Antwort auf die
987
Kapitel 33 Die unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Makroökonomie
5.
6.
7.
8.
9.
monetaristische Theorie. (Hinweis: Was geschieht mit der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes?) Definieren Sie die Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (V). Berechnen Sie für die Daten aus Tabelle 33-1 die jährliche Wachstumsrate der Geldmenge sowie Niveau und Änderungen der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Erstellen Sie von Hand oder am Computer eine Grafik der Variablen. Welche Auswirkungen hätten nach Ansicht der Monetaristen, der Keynesianer und der Neoklassiker folgende Ereignisse auf die Entwicklung der Preise, der Produktion und der Beschäftigung? (Lassen Sie in allen Fällen Steuern und Geldmenge konstant, sofern nicht konkret etwas anderes angegeben ist.) a. Eine deutliche Steuersenkung b. Eine drastische Erhöhung der Geldmenge c. Eine Innovationswelle, die die potenzielle Produktion um 10 Prozent erhöht d. Ein beträchtlicher Anstieg der Exporte Bei der Erörterung der Geldnachfrage wie auch in der Geldnachfragefunktion in Abbildung 26-4 wurde gezeigt, dass die Geldnachfrage zinsempfindlich reagiert. Welche Folgen hätten höhere Zinssätze auf die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes bei einem gegebenen Niveau des nominalen BIP? Welche Folgen hat eine zinsempfindliche Geldnachfrage auf jene monetaristischen Argumente, die sich auf eine konstante Umlaufgeschwindigkeit des Geldes stützen? Formulieren und erklären Sie das Saysche Theorem. Gehen Sie von einem makroökonomischen Gleichgewicht aus und nehmen Sie an, dass die potenzielle Produktion steigt, während die Gesamtnachfrage unverändert bleibt. Zeigen Sie anhand eines grafischen Nachtrags zu Abbildung 33-1, wie das Angebot seine eigene Nachfrage schafft. Beschreiben Sie diesen Prozess in Worten. Frage für Fortgeschrittene (zu rationalen Erwartungen): Betrachten Sie die Auswirkungen rationaler Erwartungen auf das Konsumverhalten. a. Nehmen wir an, dass die Regierung für ein Jahr eine vorübergehende Steuersenkung in Höhe von US-$ 20 Milliarden beschließt. Konsumenten mit adaptiven Erwartungen
b.
c.
könnten annehmen, dass ihr verfügbares Einkommen nun jedes Jahr um US-$ 20 Milliarden steigen wird. Welche Auswirkungen hätte dies auf die Konsumausgaben und das BIP in unserem einfachen Multiplikatormodell aus Kapitel 24? Nehmen wir als Nächstes an, die Konsumenten hätten rationale Erwartungen. Sie sagen ganz rational voraus, dass die Steuerkürzung nur ein Jahr lang andauern wird. Da sie sich als Konsumenten an ihrem Lebenseinkommen orientieren, erkennen sie, dass ihr durchschnittliches Lebenseinkommen nur um (sagen wir) US-$ 2 Milliarden jährlich, nicht aber um US-$ 20 Milliarden pro Jahr ansteigen wird. Wie würden diese Konsumenten reagieren? Untersuchen Sie die Auswirkungen rationaler Erwartungen auf die Wirksamkeit zeitlich befristeter Steuersenkungen. Nehmen Sie schließlich an, die Konsumenten verhielten sich entsprechend der Ricardianischen Sicht. Welche Auswirkungen auf Ersparnisse und Konsum hätte die Steuerkürzung dann? Erläutern Sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Modellen.
Jahr
Nominales BIP (Mrd. US-$)
Geldmenge M1 (Mrd. US-$, 12 Monate verzögert)
1981
3.131,4
408,9
1982
3.259,2
436,5
1983
3.535,0
474,5
1984
3.932,8
521,2
1985
4.213,0
522,1
1986
4.452,9
620,1
1987
4.742,5
724,7
1988
5.108,3
750,4
1989
5.489,1
787,5
1990
5.803,3
794,8
Tabelle 33-1.
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KAPITEL 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
Will man wirtschaftliche Stabilität erzielen, muss man die Wirtschaft daran hindern, zu weit nach oben oder unten vom Pfad stetiger Vollbeschäftigung abzuweichen. Auf der einen Seite droht Inflation, auf der anderen Rezession. Nur eine flexible und zugleich wachsame Fiskal- und Geldpolitik ermöglicht die Beibehaltung des goldenen Mittelwegs. President John F. Kennedy (1962)
Produktivität ist nicht alles, langfristig gesehen jedoch fast alles. Paul Krugman (1990)
Die US-Wirtschaft hat sich in den vergangenen 50 Jahren grundlegend gewandelt. Bauern sind fast schon vom Aussterben bedroht. Es gibt immer weniger Fabrikarbeiter, und in der Produktion benötigt man inzwischen mehr Leute an Computerbildschirmen als am Fließband. Die Steuern sind gestiegen, und der Staat ist aus dem Wirtschaftsleben nicht mehr wegzudenken. Die Technologie hat unser Alltagsleben verändert: Moderne Telekommunikationssysteme ermöglichen es Unternehmen, ihre Betriebe nicht nur im ganzen Land, sondern auf der ganzen Welt zu steuern, und immer leistungsfähigere Computer haben einen Großteil der Routinetätigkeiten abgeschafft, die einmal so viele Menschen beschäftigten. Waren und Geld passieren heute die Staatsgrenzen beinahe mühelos. Doch auch nach einem halben Jahrhundert des Wandels bleiben die Hauptziele der Wirtschaftpolitik unverändert: gute Arbeitsplätze, niedrige Arbeitslosigkeit, steigende Produktivität und Realeinkommen sowie eine niedrige und stabile Inflationsrate. Die Herausforderung besteht darin, genau die richtige Mischung politischer Maßnahmen zu finden, um auch im neuen Jahrtausend die genannten Ziele erreichen zu können. In diesem Kapitel bedienen wir uns der makroökonomischen Instrumente, um einige der wichtigsten politischen Themen unserer Zeit zu analysieren. Wir beginnen mit einer Beurteilung der Auswirkungen von Budgetdefiziten und Staatsschulden auf die Wirtschaft und diskutieren die überraschende Wendung in Richtung auf einen Budgetüberschuss in den Vereinigten Staaten. Anschließend untersuchen wir die Kontroversen um eine kurzfristige Stabilitätspolitik, einschließlich der aktuellen Fragen zu Geldund Fiskalpolitik. Sollte die Regierung ihre Bemühungen um Dämpfung der Konjunkturzyklen aufgeben und sich auf feste Regeln verlassen, anstatt nach Ermessen zu handeln? Wir schließen das Kapitel mit einer
990
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Analyse der Bedenken, die das verlangsamte Produktivitäts- und Reallohnwachstum während der letzten 20 Jahre ausgelöst haben, und betrachten die möglichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, um Produktivität und Wachstum zu steigern.
A. Die wirtschaftlichen Folgen der Staatsverschuldung Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfolgten die Vereinigten Staaten eine kontinuierliche Fiskalpolitik, und das Budget des Bundes wies einen Überschuss auf. Wie ein Ungeheuer aus der Tiefe tauchte dann ein Budgetdefizit auf, verschlang das Finanzpolster und verschreckte die Bevölkerung. Bedingt durch eine Rezession, die Terrorismusbekämpfung, Steuersenkungen und den Krieg im Irak verwandelte sich der Budgetüberschuss von US-$ 240 Milliarden im Jahr 2000 innerhalb von nur drei Jahren in ein Defizit von US-$ 460 Milliarden; alle Prognosen rechnen mit weiteren Defiziten in den kommenden Jahren. Wie konnte das Loch im Staatssäckel so groß werden? Was sollte die Regierung dagegen unternehmen? Mit diesen wichtigen Fragen befassen wir uns in diesem Abschnitt. Es wird sich zeigen, dass es für die Sorge der Öffentlichkeit über das Defizit solide wirtschaftliche Gründe gibt. Ein hohes Defizit und beträchtliche Staatsverschuldung haben in Zeiten der Vollbeschäftigung ernst zu nehmende Folgen, einschließlich des Rückgangs der einheimischen Ersparnisse und Investitionen sowie einer Dämpfung des langfristigen Wirtschaftswachstums. Staaten verwenden Budgets, um ihre finanziellen Angelegenheiten zu planen und zu überwachen. Ein Budget weist für das jeweilige Jahr die geplanten Ausgaben für staatliche Programme sowie die erwarteten Ein-
Teil 7
nahmen aus Steuern und Abgaben aus. Typischerweise enthält es eine Liste konkreter Programme (Erziehungs- und Sozialwesen, Verteidigung und so weiter) sowie staatlicher Steuereinnahmequellen (Einkommensteuer, Sozialversicherungsabgaben und so weiter). Ein Budgetüberschuss entsteht, wenn alle Steuern und sonstigen Einnahmen die staatlichen Ausgaben eines Jahres übersteigen. Ein Budgetdefizit tritt hingegen auf, wenn die Ausgaben höher sind als die Steuereinnahmen. Sind Einnahmen und Ausgaben für einen gegebenen Zeitraum gleich hoch – was auf Bundesebene in den Vereinigten Staaten kaum je der Fall war –, spricht man von einem ausgeglichenen Budget. Wenn ein Budgetdefizit entsteht, muss der Staat bei der Öffentlichkeit zur Begleichung seiner Rechnungen Darlehen aufnehmen. Zu diesem Zweck begibt der Staat Anleihen, so genannte Schuldverschreibungen oder Schuldscheine, die ein Zahlungsversprechen für die Zukunft beinhalten. Die Staatsverschuldung (mitunter auch als öffentliche Verschuldung bezeichnet) setzt sich aus den gesamten Verbindlichkeiten des Staates zusammen; dies ist der in Geldeinheiten ausgedrückte Wert aller staatlichen Schuldverschreibungen. Man sollte zwischen der Gesamtschuld und der Nettoverschuldung unterscheiden. Die Nettoverschuldung schließt nicht die Schulden ein, die der Staat bei sich selbst hat. Bei der Nettoverschuldung handelt es sich um die Beträge, die den Haushalten, Banken, Unternehmen, dem Ausland und sonstigen nicht bundesstaatlichen Einrichtungen geschuldet werden. Die Bruttoverschuldung entspricht der Nettoverschuldung zuzüglich der Schuldverschreibungen, welche die Regierung selbst hält, hauptsächlich aus dem Treuhandfonds der Sozialversicherung. In den Vereinigten Staaten weist das Budget der Sozialversicherung einen hohen Überschuss aus, sodass die Differenz zwischen Bruttound Nettoverschuldung rasch steigt.
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
Schulden oder Defizit Häufig werden Verschuldung und Defizit miteinander verwechselt. Vielleicht können Sie sich den Unterschied wie folgt verdeutlichen: Die Verschuldung gleicht dem Wasser, das bereits in der Badewanne ist, während das Defizit dem Wasser entspricht, das noch aus dem Hahn dazufließt. Die Staatsverschuldung ist der Bestand an Verbindlichkeiten der Regierung. Das Defizit ist die Zunahme aufgrund neuer Schulden, welche die Regierung macht, wenn sie mehr ausgibt, als sie über Steuern einnimmt. Als beispielsweise im Jahr 2003 das Staatsdefizit US-$ 460 Milliarden betrug, kam diese Summe zu den bereits bestehenden Staatsschulden noch hinzu. Wenn die Regierung dagegen, wie im Jahr 2000, auf einen Überschuss von US-$ 240 Milliarden blicken kann, wird die Staatsverschuldung um diesen Betrag gesenkt.
Budgetgeschichte Wie einst Sisyphos seinen Stein, so bewegen die politischen Entscheidungsträger ein Defizit mühsam in Richtung auf einen ausgeglichenen Haushalt, nur um kurz vor Erreichen des Ziels einen Rückschlag zu erleiden. Während der achtziger und neunziger Jahre erließ die US-Regierung zahllose Gesetze, um das Defizit wenigstens einzudämmen. Doch kaum schien der Ausgleich in trockenen Tüchern zu sein, als das Defizit 2001 wieder auftauchte und rasch anwuchs. War dies typisch oder eine neue Entwicklung in der amerikanischen Wirtschaft? An sich sind Defizite nichts Neues, aber große Löcher im Staatssäckel während Friedenszeiten traten erstmals in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte auf. Während der ersten zwei Jahrhunderte nach der amerikanischen Revolution war das Staatsbudget der USA generell ausgeglichen. Hohe Verteidigungsausgaben in Kriegszeiten wurden mit geborgtem Geld finanziert, wodurch das Budgetdefizit drastisch anstieg. Sobald wie-
991 der Frieden herrschte, zahlte die Regierung wenigstens einen Teil ihrer Schulden zurück, und das Defizit schrumpfte. Ab etwa 1940 veränderten sich die Staatsfinanzen dann schnell. Tabelle 34-1 verdeutlicht die wesentlichen Entwicklungen. Hier sehen wir die wichtigsten Posten des Bundesbudgets und ihren Anteil am BIP für den Zeitraum von 1940 – 2004. Beachtenswert sind die folgenden Punkte: • Der Anteil von Staatsausgaben und Steuern wuchs von 1940 bis 1960 deutlich, hauptsächlich aufgrund des Anstiegs der öffentlichen Ausgaben für Verteidigungsund zivile Zwecke. Diese zusätzlichen Ausgaben wurden durch eine beträchtliche Erhöhung von Einkommen- und Körperschaftsteuer finanziert. • In die Zeit von 1960 bis 1980 fallen die „New Society“-Programme für das Gesundheitswesen, die Einkommenssicherung und die Sozialversicherung. Infolgedessen stiegen die Ausgaben drastisch an. Der Anteil der Staatseinkünfte am BIP stabilisierte sich in dieser Zeit. • In der Periode von 1980 bis 2000 wandten sich die beiden großen Parteien gegen „big government“, also einen hohen Anteil des Staates am BIP. Die Steuersenkungen zur Förderung der Angebotsseite in den frühen achtziger Jahren führten zu einer ganzen Reihe von Defiziten. Aufgrund der Bedenken der Öffentlichkeit wurden Maßnahmen zur Senkung des Defizits ergriffen; als besonders wichtig sind hier die Budgetgesetze von 1990 und 1993 der ersten Bush- sowie der Clinton-Administration zu nennen. Der Anstieg der Ausgaben wurde stark beschränkt, und die Steuern wurden erhöht. Die Ausgaben für das Gesundheitswesen schnellten zwar in die Höhe, aber der Anteil der meisten anderen Ausgabenkategorien am BIP sank. • Anfang des neuen Jahrtausends konnte man die dramatischste Eintrübung des Zu-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Prozent des BIP Komponenten des Bundesbudgets
1940
1960
1980
2000
2004
Einnahmen
6,4 %
17,6 %
18,5 %
20,6 %
16,3 %
Einkommensteuern
0,9 %
7,7 %
8,8 %
10,2 %
7,2 %
Körperschaftsteuern
1,2 %
4,1 %
2,3 %
2,1 %
1,4 %
Renten- und Sozialversicherungseinnahmen
1,8 %
2,8 %
5,7 %
6,7 %
6,5 %
Sonstige
2,7 %
3,0 %
1,8%
1,6 %
1,2 %
Insgesamt
9,4 %
17,5 %
21,2 %
18,2 %
18,9 %
Verteidigung und Außenpolitik
1,8 %
9,7 %
5,3 %
3,2 %
3,5 %
Gesundheitswesen
0,1 %
0,2 %
2,0 %
3,6 %
4,3 %
Einkommenssicherung
1,5 %
1,4 %
3,1 %
2,6 %
2,8 %
Sozialversicherung
0,0 %
2,2 %
4,2 %
4,2 %
4,2 %
Nettozinsen
0,9 %
1,3 %
1,9 %
2,3 %
1,5 %
Sonstige
5,2 %
2,7 %
4,7 %
2,4 %
2,6 %
–2,9 %
0,1 %
–2,6 %
2,4 %
–2,6 %
Ausgaben
Überschuss oder Defizit (–)
Tabelle 34-1: Entwicklung des Budgets der Vereinigten Staaten, 1940–2004 Der Anteil des Bundes an der Gesamtwirtschaft wuchs von 1940 – 1960 drastisch an, als die Vereinigten Staaten während heißer und kalter Kriege eine aktive Rolle als Weltpolizist übernahmen. Nach 1960 stabilisierte sich der Anteil des Bundes, aber der Ausgabenschwerpunkt verschob sich von der Verteidigung zunehmend in die Bereiche Gesundheit und Sozialausgaben. Nach der Jahrtausendwende wuchs das Defizit des Bundes wieder deutlich an, vor allem, weil die Einnahmen drastisch zurückgingen. Quelle: Die Daten beziehen sich auf Finanzjahre und wurden vom Finanzministerium, dem Office of Management and Budget sowie dem Handelsministerium erhoben.
stands der US-amerikanischen Staatsfinanzen seit dem Zweiten Weltkrieg beobachten. Der drastische Einbruch der Börsenkurse zehrte an den Steuereinnahmen; eine Rezession und die nur langsame anschließende Erholung ließen das Defizit weiter steigen; aufgrund zweier deutlicher Steuersenkungen gingen die Einnahmen erneut zurück; andererseits schossen die Ausgaben aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen, Verteidigungsausgaben und des Irakkriegs in die Höhe. Diese Periode verdeutlicht drastisch, dass ein Unglück selten allein kommt.
Die Budgetpolitik der Regierung Das Budget des Staates dient der Regierung dazu, nationale Prioritäten zu setzen, die Gesamtleistung der Wirtschaft zwischen privatem und staatlichem Konsum und Investitionen aufzuteilen und Anreize zur Erhöhung oder Senkung der Produktion in bestimmten Sektoren zu geben. Aus makroökonomischer Sicht beeinflusst das Budget über die Fiskalpolitik die wesentlichen wirtschaftspolitischen Ziele. Konkret verstehen wir unter Fiskalpolitik die Festlegung von Steuern und Staatsausgaben zum Ausgleich extremer Konjunkturschwankungen und zur Erhal-
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
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tung des Wirtschaftswachstums bei hohem Beschäftigungsstand ohne hohe oder stark schwankende Inflation. Einige der ersten begeisterten Anhänger des keynesianischen Ansatzes glaubten, die Fiskalpolitik sei eine Art Drehknopf zur Steuerung oder „Feineinstellung“ der Wirtschaftsentwicklung. Ein größeres Budgetdefizit bedeutete demnach eine verstärke Stimulierung der Gesamtnachfrage, wodurch die Arbeitslosigkeit gesenkt und die Wirtschaft aus einer Rezession geführt werden könnte. Umgekehrt sollte ein Budgetüberschuss in der Lage sein, eine überhitzte Wirtschaft abzukühlen und der Inflation entgegenzuwirken. Heutzutage glauben nur wenige, dass sich Konjunkturzyklen so leicht eliminieren lassen. Auch rund 70 Jahre nach Keynes kennen wir noch Rezessionen und Inflationen, und die Fiskalpolitik funktioniert in der Theorie besser als in der Praxis. Dazu kommt, dass heute die Geldpolitik das bevorzugte Instrument zum Ausgleich konjunktureller Schwankungen darstellt. Trotzdem übt bei steigender Arbeitslosigkeit die Öffentlichkeit nach wie vor einen starker Druck auf den Staat aus, die Ausgaben zu erhöhen. In diesem Abschnitt wollen wir die wichtigsten Methoden betrachten, mit denen der Staat eine gezielte Fiskalpolitik betreiben kann, und wir werden die Mängel untersuchen, die inzwischen deutlich geworden sind.
des Budgets passiv durch die jeweilige Phase des Konjunkturzyklus, also dadurch, wie hoch oder gering das jeweilige Volkseinkommen oder Produktionsniveau ausfällt. Die genaue Definition lautet:
Tatsächliches, strukturelles und konjunkturbedingtes Budget Die moderne Finanzwissenschaft unterscheidet zwischen strukturellen und konjunkturbedingten Defiziten. Der Grundgedanke ist einfach: Der strukturelle Teil des Budgets ist aktiv bestimmt – durch wirtschaftspolitische Maßnahmen nach jeweiligem Ermessen, wie die Festsetzung der Steuersätze, der Sozialhilfezahlungen oder der Staatsausgaben für Bildung beziehungsweise Verteidigung. Dagegen ergibt sich der konjunkturbedingte Teil
Das tatsächliche Budget verzeichnet die tatsächlichen Geldausgaben, Einnahmen und Defizite einer bestimmten Periode. Das strukturelle Budget stellt die Berechnung der staatlichen Einnahmen, Ausgaben und Defizite unter der Annahme dar, dass die Wirtschaft ihre potenzielle Produktionsleistung erreicht. Das konjunkturbedingte Budget stellt die Differenz zwischen tatsächlichem und strukturellem Budget dar. Es misst die Auswirkungen des Konjunkturzyklus auf das Budget unter Berücksichtigung der konjunkturellen Einflüsse auf Einnahmen, Ausgaben und staatliches Defizit. Der Anteil des tatsächlichen, strukturellen und konjunkturbedingten Budgetdefizits am BIP ist in Abbildung 34-1 dargestellt. Die Unterscheidung zwischen dem aktuellen und dem strukturellen Budget ist für die politischen Entscheidungsträger von Bedeutung, die zwischen langfristigen, trendmäßigen Budgetveränderungen und kurzfristigen Abweichungen, die hauptsächlich konjunkturbedingt sind, unterscheiden wollen. Strukturell bedingte Ausgaben und Einnahmen ergeben sich aus den nach Ermessen festgelegten Programmen, welche die Legislative umsetzt; konjunkturell bedingte Ausgaben und Defizite entstehen durch die automatische Anpassung von Steuern und Ausgaben an den jeweiligen Zustand der Wirtschaft. Das Verhältnis von Ersparnissen zu Investitionen eines Landes wird hauptsächlich durch das strukturelle Budget beeinflusst. Bemühungen um eine Veränderung der Ersparnisse des Staates sollten sich auf das strukturelle Budget konzentrieren, denn nur mit höheren Steuereinnahmen aufgrund eines Wirtschaftsaufschwungs lassen sich keine anhaltenden Veränderungen erzielen.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
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Bundesbudgetüberschuss oder -defizit (in Prozent des potenziellen BIP)
3
2
1
0
–1
Strukturell
–2
–3
Konjukturbedingt
–4 Tatsächlich –5
–6 1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahr
Abbildung 34-1: Tatsächliches, strukturelles und konjunkturbedingtes Defizit Die rostfarbene Linie zeigt das tatsächliche Budgetdefizit beziehungsweise den -überschuss (als Prozentsatz des potenziellen BIP). Die schwarze Kurve stellt die strukturelle Komponente dar. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen und dem strukturellen Defizit oder Überschuss ist das konjunkturbedingte Defizit bzw. der konjunkturbedingte Überschuss. Quelle: Congressional Budget Office, verfügbar unter www.cbo.gov.
Wirtschaftliche Auswirkungen von Staatsschulden und Defiziten Kein wirtschaftpolitisches Thema wird heutzutage derart kontrovers diskutiert wie die Auswirkungen eines hohen Staatsdefizits auf die Wirtschaft. Manche behaupten, derartige Defizite würden zukünftige Generationen außerordentlich belasten. Andere entgegnen, dass es kaum Beweise für die Auswirkungen von Defiziten auf Zinssätze und Investitio-
nen gebe. Eine dritte Gruppe gelangt sogar zu dem Schluss, Defizite übten eine positive Wirkung auf die Wirtschaft aus, besonders in Zeiten der Rezession. Wie können wir Ordnung in diese unterschiedlichen Meinungen bringen? Einerseits müssen wir uns vor der üblichen Ansicht hüten, Staatsschulden seien etwas Negatives, weil private Schuldner bestraft würden. Andererseits dürfen wir nicht die Augen vor den echten Problemen verschließen, die große Budgetdefizite mit sich bringen, und die Vorteile einer geringen Staatsverschuldung übersehen.
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
Die kurzfristigen Auswirkungen eines Staatsdefizits Kurz- und langfristige Entwicklung Es ist hilfreich, zwischen kurz- und langfristigen Auswirkungen der Fiskalpolitik zu unterscheiden. In der Makroökonomie bezeichnet man solche Situationen als kurzfristig, in denen keine Vollbeschäftigung herrscht – das heißt jene, in denen die tatsächliche Produktionsleistung von der potenziellen abweicht. Dies ist die Welt des keynesianischen Multiplikatormodells. Dagegen bezieht sicht die Bezeichnung langfristig auf eine Situation mit Vollbeschäftigung, in der tatsächliche und potenzielle Produktionsleistung identisch sind. Dies ist die Ausgangslage für unsere Analysen des Wirtschaftswachstums. Mit den kurzfristigen Auswirkungen der Fiskalpolitik haben wir uns bereits beschäftigt, daher werden wir uns hier nur kurz darauf beziehen. Die langfristigen Auswirkungen sind dagegen etwas Neues und werden im nächsten Teil ausführlich behandelt.
Die Fiskalpolitik und das Multiplikatormodell In früheren Kapiteln haben wir uns bereits mit der Frage befasst, welche kurzfristigen Auswirkungen die Fiskalpolitik auf die Wirtschaft hat – genauer: auf eine Wirtschaft, in der noch keine Vollbeschäftigung herrscht. Nehmen wir an, die Regierung kaufte Computer für die Schulen oder Raketen für das Heer. Unser Multiplikatormodell zeigt, dass kurzfristig, ohne Veränderungen der Zinssätze oder Wechselkurse, das BIP um ein Mehrfaches (vielleicht das Eineinhalb- oder Zweifache) des Anstiegs von G zunehmen wird. Die gleiche Regel gilt (bei geringerem Multiplikator) für die Senkung von Steuern (T). Gleichzeitig wird das Staatsdefizit ansteigen, weil das Defizit als T – G definiert ist und daher zunimmt, wenn T sinkt oder G steigt.
995 Kurzfristig stellt sich die Situation also wie folgt dar: Wenn noch keine Vollbeschäftigung herrscht, werden Zunahmen des strukturellen Defizits aufgrund von Steuersenkungen oder Ausgabenerhöhungen nach jeweiligem Ermessen tendenziell zu höherer Produktion und geringerer Arbeitslosigkeit, möglicherweise aber auch zu einem Anstieg der Inflation führen. Wir müssen die einfachste Multiplikatoranalyse jedoch etwas abwandeln, weil die Reaktionen der Finanzmärkte zu berücksichtigen sind. Wenn Produktion und Inflation zunehmen, steigen vermutlich auch Zinssätze und Wechselkurs (sofern in dem betreffenden Land flexible Wechselkurse herrschen). Der steigende Zinssatz und der höhere Wechselkurs werden tendenziell einheimische und ausländische Investitionen abwürgen oder „verdrängen“.1 Könnte der Verdrängungseffekt den gesamten fiskalischen Anreiz zunichte machen? Dies hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise der Größe der Volkswirtschaft und den Maßnahmen der Zentralbank. Allgemein nehmen Makroökonomen an, dass die Nettowirkung fiskalischer Anreize (nach Berücksichtigung jedweder Verdrängung) mindestens ein bis zwei Jahre lang auf jeden Fall positiv sein wird. Kurzfristig führt die Fiskalpolitik in der Regel zu Wirtschaftswachstum – das heißt, so lange noch keine Vollbeschäftigung herrscht. Höhere Ausgaben und niedrigere Steuern erhöhen tendenziell die Gesamtnachfrage, die Produktion, die Beschäftigung und die Inflation. Aufgrund der Reaktionen von Zinssätzen und Wechselkursen ist der Ausweitungseffekt jedoch begrenzt und gegebenenfalls nur von kurzer Dauer. 1 Warnung: Das Konzept der Verdrängung bezieht sich nur auf strukturelle Defizite. Nimmt das Defizit aufgrund einer Rezession zu, dann wäre die Annahme einer Verdrängung unlogisch. Eine Rezession verursacht einen Rückgang der Geldnachfrage und führt zu niedrigeren Zinssätzen; in einer Rezession betreibt die zuständige Behörde in der Regel eine expansive Geldpolitik. Die Tatsache, dass es während einer Rezession zu keiner Verdrängung kommt, erinnert uns daran, dass es keine automatische Verbindung zwischen Defiziten und Investitionen gibt.
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Staatsverschuldung und Wirtschaftswachstum Statt der kurzfristigen betrachten wir nun die langfristigen Auswirkungen der Fiskalpolitik auf Investitionen und Wirtschaftswachstum, und dabei insbesondere diejenigen einer großen Staatsverschuldung. Hier beschäftigt sich die Analyse mit den Kosten eines umfangreichen Schuldendienstes, der Wirkungslosigkeit von Steuererhöhungen zur Begleichung der Schuldenzinsen und den Auswirkungen der Schulden auf die Kapitalbildung.
Historische Entwicklung Ehe wir mit der Untersuchung der Staatsverschuldung beginnen, ist eine Betrachtung historischer Entwicklungen nützlich. Ein Blick auf das Verhältnis der Nettobundesverschuldung zum BIP der Vereinigten Staaten (die so genannte Nettoverschuldungsquote) seit 1789 zeigt, dass Kriege diese Verhältniszahl stets vergrößerten, während ein schnelles Produktionswachstum mit vergleichsweise ausgeglichenen Budgets in Friedenszeiten das Verhältnis der Schulden zum BIP reduzierte. Als die Defizite ab 1980 laufend zunahmen, erlebten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal einen Anstieg des Verhältnisses ihrer Schulden zum BIP in Friedenszeiten. In den meisten Industriestaaten nimmt die Staatsverschuldung heutzutage rasch zu. Tabelle 34-2 vergleicht die Vereinigten Staaten mit sieben anderen großen Industrienationen. Die Verschuldungsquote in Japan ist während des letzten Jahrzehnts aufgrund der aggressiven Fiskalpolitik und der lang anhaltenden Rezession stark gestiegen. Japans Bonitätseinstufung hat sich deshalb verschlechtert, und viele Wirtschaftswissenschaftler sind besorgt, dass Japan in einem Teufelskreis gefangen sein könnte, in dem hohe Schulden zu einem hohen Schuldendienst führen, der seinerseits die Schulden weiter ansteigen lässt.
Teil 7
Externe und interne Schulden Eine erste Unterscheidung ist zwischen interner und externer Verschuldung zu treffen. Eine interne Staatsverschuldung besteht den eigenen Staatsbürgern gegenüber. Hierbei wird oft das Argument vorgebracht, dass eine interne Verschuldung keinerlei Belastung darstelle, weil „wir alles uns selbst schulden“. Obwohl diese Ansicht eine unzulässige Vereinfachung darstellt, liegt ihr doch ein Körnchen Wahrheit zugrunde. Besäße jeder Staatsbürger staatliche Anleihen im Wert von US-$ 10.000 und hätte er Steuerverbindlichkeiten in genau derselben Höhe, um diese Schulden zu bedienen, wäre die Vorstellung, die Staatsverschuldung stelle eine schwere Bürde für jeden Staatsbürger dar, absurd. In diesem Fall hätten die Menschen bei sich selbst Schulden. Die externe Verschuldung ist etwas ganz anderes. Von externen Schulden spricht man dann, wenn das Ausland einen Teil der Aktiva eines Landes besitzt. Beispielsweise schuldeten die Vereinigten Staaten aufgrund ihres hohen Leistungsbilanzdefizits dem Rest der Welt Ende 2003 US-$ 3 Milliarden. Das heißt, dass US-Bürger letztendlich Waren und Dienstleistungen in diesem Wert exportieren oder Aktiva in diesem Wert an andere Länder verkaufen müssen. Nehmen wir an, der Realzinssatz für diese Schulden betrüge 5 Prozent pro Jahr. Dann müssten die Bewohner der Vereinigten Staaten jedes Jahr Exporte im Wert von US-$ 150 Milliarden (etwa US-$ 500 pro Kopf der Bevölkerung) ins Ausland schicken, um die externen Schulden zu „bedienen“. Dies bedeutet, dass externe Schulden stets zu einem Nettoabzug von Ressourcen führen, die sonst zum Konsum im Schuldnerland verfügbar wären. Gerade Entwicklungsländer lernen diese Lektion immer wieder – insbesondere dann, wenn ihre Geldgeber auf eine rasche Schuldenrückzahlung drängen.
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Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
Japan Italien Frankreich Vereinigte Staaten Deutschland Großbritannien Russland Mexiko
Verhältnis der staatlichen Bruttoverschuldung zum BIP (Bruttoverschuldungsquote), in %* 1980 1990 2000 2003 52 65 124 158 58 97 111 106 30 40 65 67 33 56 58 64 30 60 n.v. n.v.
42 44 n.v. 48
61 52 59 21
63 51 39 25
* Bei den Zahlen handelt es sich um die Bruttoverschuldung, die auch das Treuhandvermögen des Staates einschließt.
Tabelle 34-2: Staatsverschuldung in wichtigen Industrieländern Niedrige Wachstumsraten und eine Zunahme staatlicher Ausgabenprogramme führten während der letzten zwei Jahrzehnte zu steigenden Defiziten und einer zunehmenden Staatsverschuldung in den meisten wichtigen Industrieländern. Das Verhältnis von Verschuldung zu BIP löste im Fall Japans eine Bonitätsherabstufung des Landes aus, obgleich es die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Quelle: Economist Intelligence Unit
schaftlicher Effizienz und eine Schmälerung wirtschaftlichen Wohlergehens.
Kapitalverschiebung Die schwerwiegendste Folge einer hohen Staatsverschuldung ist vermutlich die Kapitalverschiebung aus den Privatvermögen eines Landes. Infolge eines solchen Kapitalabflusses kommt es zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums mit nachfolgend niedrigerem Lebensstandard. Über welchen Mechanismus wirkt sich die Staatsverschuldung auf das Kapital aus? Erinnern Sie sich an das bisher Gesagte und daran, dass Menschen aus einer Vielzahl von Gründen Vermögen anhäufen, beispielsweise für ihre Pension, Ausbildung oder ein Haus. Wir können diese Vermögenswerte in zwei große Gruppen untergliedern: (1) in die Staatsverschuldung und (2) in Vermögenswerte wie Häuser und Finanztitel, beispielsweise Aktien, die Eigentum an privatem Kapital darstellen. Die Staatsverschuldung führt dazu, dass die Menschen staatliche Schulden anstelle privaten Kapitals akkumulieren, und der private Kapitalstock des Landes wird durch öffentliche Schulden ersetzt.
Effizienzverluste durch Steuern Eine interne Verschuldung erfordert Zinszahlungen an die Inhaber von Staatsanleihen, und zu diesem Zweck müssen Steuern erhoben werden. Doch selbst wenn dieselben Leute genau in der Höhe ihrer Zinserträge aus den Anleihen besteuert würden, käme es als unweigerliche Folge der Besteuerung zu einer Verzerrung wirtschaftlicher Anreize. Die Besteuerung der Zinseinnahmen oder des Lohns von Paula, nur damit der Staat an Paula Zinsen bezahlen kann, muss einfach zu mikroökonomischen Verzerrungen führen. Paula könnte in diesem Fall vielleicht weniger arbeiten oder weniger sparen, und wie immer sie sich entscheiden würde, das Ergebnis wäre jedenfalls eine Verzerrung wirt-
Um diesen Aspekt zu illustrieren, nehmen wir an, die Menschen wollten genau 1.000 Vermögenseinheiten für ihre Pensionierung und für andere Zwecke besitzen. Bei steigender Staatsverschuldung sinkt der Besitz dieser Menschen an anderen Vermögenswerten kontinuierlich. Dies geschieht deshalb, weil infolge des Verkaufs der staatlichen Anleihen andere Vermögenswerte zurückgedrängt werden, sofern man das erwünschte Gesamtvermögen der Bürger als konstant annimmt. Doch diese anderen Vermögenswerte stellen letztlich nichts anderes als den privaten Kapitalstock dar; Aktien, Anleihen und Hypotheken sind das Gegenstück zu Fabriken, Anlagen, Maschinen und Häusern. Anhand dieses Beispiels können wir erkennen, dass bei einer Erhöhung
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
der Staatsverschuldung um 100 Einheiten der Besitz an Kapital und anderen privaten Vermögenswerten um 100 Einheiten fiele. Damit haben wir den Fall einer hundertprozentigen Verschiebung (also das langfristige Analog einer hundertprozentigen Verdrängung). Eine vollkommene Kapitalverschiebung wird in der Praxis aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eintreten. Die höhere Verschuldung kann zu einer Erhöhung der Zinssätze und einer Stimulierung des Sparverhaltens der Haushalte führen. Außerdem wird das Land womöglich eher im Ausland Darlehen aufnehmen, als seinen inländischen Kapitalstock zu verringern (wie es in den Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren der Fall war). Das exakte Ausmaß der Kapitalverschiebung hängt von den Produktionsbedingungen und
vom Sparverhalten der heimischen Haushalte und des Auslands ab. Eine geometrische Analyse. Der Prozess, durch den der Kapitalstock langfristig verschoben wird, ist in Abbildung 34-2 dargestellt. Das linke Diagramm zeigt Kapitalangebot und nachfrage als Funktion des realen Zinssatzes oder der Kapitalrendite. Mit steigenden Zinssätzen fragen die Unternehmen weniger Kapital nach, während Privatpersonen möglicherweise mehr anbieten. Das Gleichgewicht ist für einen Kapitalstock von 4.000 Einheiten bei einem Realzinssatz von 4 Prozent dargestellt. Nehmen wir nun an, die Staatsverschuldung stiege von 0 auf 1.000 – beispielsweise bedingt durch Krieg, Rezession, eine angebotsseitige Fiskalpolitik oder irgendwelche
(a) Ohne Staatsverschuldung
(b) Mit Staatsverschuldung D
12
8 S
A 4 D
Realzinssatz (jährlicher Prozentsatz)
Realzinssatz (jährlicher Prozentsatz)
D
12 S′
8 B
S 1.000
6 S′
A
4
D S
S 0
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0 3.500 4.000 4.500 privater Kapitalstock (K)
3.500
4.000
4.500
ΔK privater Kapitalstock (K)
Abbildung 34-2: Die Staatsverschuldung verdrängt privates Kapital Die Unternehmen fragen Kapital nach, während die Haushalte Kapital anbieten, indem sie ihre Ersparnisse in privaten und öffentlichen Vermögenswerten anlegen. Die Nachfragekurve entspricht der nach unten gerichteten Unternehmensnachfrage nach K, während die Angebotskurve der aufwärts gerichteten Haushaltsangebotskurve von Finanzmitteln entspricht. Die Situation vor Eintreten der Verschuldung (a) zeigt das Gleichgewicht ohne Staatsverschuldung: K liegt bei 4.000 und der Realzinssatz bei 4 Prozent. Fall (b) zeigt die Auswirkungen einer Staatsverschuldung um 1.000 Einheiten. Diese Schulden verschieben das Nettoangebot von K um die 1.000 Einheiten der Staatsverschuldung nach links. Das neue Gleichgewicht entsteht weiter links oben entlang der Nachfragekurve nach K, bewegt sich also von Punkt A nach Punkt B. Der Zinssatz liegt nun höher, die Nachfrage der Unternehmen nach K wird gedämpft, und der Kapitalstock schrumpft.
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
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anderen Gründe. Die Auswirkungen der erhöhten Verschuldung lassen sich im rechten Diagramm in Abbildung 34-2 erkennen. Diese Grafik stellt die Mehrverschuldung um 1.000 Einheiten als Verschiebung der Kapitalangebots- (oder SS-) Kurve dar. Wie hier gezeigt, verschiebt sich das Kapitalangebot der Haushalte um 1.000 Einheiten nach links zu S'S'. Wir stellen eine Erhöhung der Staatsverschuldung als Linksverschiebung der Kapitalangebotsfunktion der Haushalte dar. Beachten Sie, dass die SS-Kurve jene Menge an privatem Kapital darstellt, das die Menschen bei den jeweiligen Zinssätzen freiwillig besitzen, und dass daher der Kapitalstock dem Gesamtvermögen abzüglich der Anteile an der Staatsverschuldung entspricht. Da die Staatsverschuldung (oder das Gesamtvermögen mit Ausnahme des Kapitals) um 1.000 ansteigt, ist das private Kapital, das die Menschen erwerben können, wenn sie 1.000 Einheiten an Staatsschulden besitzen, um 1.000 Einheiten geringer als das Gesamtvermögen beim jeweiligen Zinssatz. Wenn daher das Kapitalangebot SS das von den Bürgern besessene Gesamtvermögen darstellt, stellt S'S' (gleich SS abzüglich 1.000) die Gesamtkapitalhöhe im Besitz dieser Bürger dar. Kurz gesagt: Nach dem Verkauf von 1.000 Einheiten Staatsverschuldung liegt die neue Kapitalangebotsfunktion in S'S'. Mit dem Versiegen des Kapitalangebots – wobei die nationalen Ersparnisse in Staatsanleihen anstatt in den Wohnungsbau oder in Unternehmensaktien und Industriepapiere fließen – bewegt sich das Marktgleichgewicht entlang der K-Nachfragekurve nach links oben. Die Zinssätze steigen, und die Unternehmen kaufen weniger neue Fabriken, Lastkraftwagen und Computer. In der Grafik fällt im neuen langfristigen Gleichgewicht der Kapitalstock von 4.000 auf 3.500. So haben in diesem Beispiel 1.000 Einheiten Staatsverschuldung 500 Einheiten Privatkapital ersetzt. Ein solcher Rückgang
hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft. Bei einem geringeren Kapitalbestand sind die potenzielle Produktionsleistung, die Löhne und das Volkseinkommen niedriger, als sie anderenfalls wären. Die Darstellungen in Abbildung 34-2 sind als Beispiel zu verstehen. Wirtschaftswissenschaftler haben keine verlässlichen Schätzwerte für die Höhe der Verschiebung. Wenn man die historische Entwicklung betrachtet, scheint es Beweise dafür zu geben, dass einheimisches Kapital teilweise durch die Staatsverschuldung verdrängt wird, es aber darüber hinaus zu einer erhöhten Auslandsverschuldung kommt.
Verschuldung und Wirtschaftswachstum Nimmt man alle Auswirkungen der Staatsverschuldung auf die Volkswirtschaft zusammen, so wird eine hohe Verschuldung der öffentlichen Hand das Wirtschaftswachstum langfristig wahrscheinlich senken. Abbildung 34-3 zeigt diesen Zusammenhang. Nehmen wir an, eine Wirtschaft wäre über eine gewisse Periode schuldenfrei. Nach den in Kapitel 27 dargelegten Prinzipien des Wirtschaftswachstums müssten sich Kapitalstock und potenzielle Produktionsleistung hypothetisch wie die durchgehenden schwarzen Linien in Abbildung 34-3 verhalten. Betrachten wir als Nächstes eine Situation mit wachsender Staatsverschuldung. Während sich die Schulden im Laufe der Zeit summieren, wird mehr und mehr Kapital durch die Schuldenlast verschoben, wie durch die gestrichelte rostfarbene Kapitallinie im unteren Teil von Abbildung 34-3 dargestellt ist. Wenn die Steuern erhöht werden, um die Zinsen für die Staatsschulden aufbringen zu können, verringern die dadurch entstehenden Ineffizienzen die Wirtschaftsleistung zusätzlich. Auch eine Erhöhung der Auslandsschulden verringert das Volkseinkommen und steigert jenen Anteil des BIP, der in den Zinsen-
1000
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Output, Kapital (Verhältnisskala)
Output (ohne Verschuldung)
Output (mit Verschuldung)
Kapitalstock (ohne Verschuldung)
Teil 7
das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung eines Landes, weil es zu einer Verschiebung privaten Kapitals kommt, weil die Ineffizienz durch die Besteuerung steigt und weil ein Land so gezwungen wird, den Konsum zu reduzieren, um die Auslandschulden zu bedienen. Ein erhellender Blick auf das Defizit
Kapitalstock (mit Verschuldung)
1980 Zeitablauf
Abbildung 34-3: Auswirkungen der Staatsverschuldung auf das Wirtschaftswachstum Die durchgehenden Linien zeigen die Kapital- und Produktionsentwicklung, wenn der Staat ein ausgeglichenes Budget vorweist und keine Schulden hat. Wenn die Regierung dagegen Schulden macht, nimmt das private Kapital ab. Die gestrichelten Linien illustrieren die Auswirkungen der höheren Staatsverschuldung auf Kapital und Produktion.
dienst für diese externe Verschuldung fließt. Wenn man alle Auswirkungen zusammennimmt, lässt sich feststellen, dass Produktion und Konsum langsamer wachsen werden, als dies ohne hohe Staatsverschuldung und ohne Defizit der Fall gewesen wäre, wie man aus dem Vergleich der oberen Linien in Abbildung 34-3 ersieht. Welche Auswirkungen haben ein Budgetüberschuss und eine Abnahme der Staatsverschuldung? In diesem Fall verläuft unsere Argumentation in umgekehrter Richtung. Eine niedrigere Staatsverschuldung bedeutet, dass mehr nationaler Wohlstand ins Kapital als in Staatsanleihen fließen kann. Ein höherer Kapitalstock fördert das Produktionswachstum und erhöht Löhne und Konsum pro Kopf der Bevölkerung. Damit sind wir beim entscheidenden Punkt angelangt, was die langfristigen Auswirkungen einer hohen Staatsverschuldung auf das Wirtschaftswachstum betrifft: Eine hohe Staatsverschuldung verringert in der Regel
Nachdem wir unsere Analyse der wirtschaftlichen Auswirkungen von Defiziten und Schulden beendet haben, können wir die wesentlichen Punkte zusammenfassen, indem wir einen Teil der Verwirrung in dieser Hinsicht beseitigen. Die Konsequenzen der Fiskalpolitik für die Wirtschaft zählen zu den am häufigsten missverstandenen Aspekten der Makroökonomie. Die Verwirrung entsteht dadurch, dass die Fiskalpolitik unterschiedliche Auswirkungen hat, je nachdem, ob man einen kurz- oder langfristigen Zeitraum betrachtet: • Kurzfristig betrachtet führen höhere Staatsausgaben und niedrigere Steuersätze zu einer Zunahme der Gesamtnachfrage, steigern somit die Produktion und senken die Arbeitslosigkeit. Dies ist die keynesianische Auswirkung der Fiskalpolitik, welche die tatsächliche Produktion relativ zur potenziellen Produktionsleistung erhöht. Man würde erwarten, dass die expansive Wirkung der Fiskalpolitik – die Zunahme der Kapazitätsauslastung – wenigstens ein paar Jahre lang anhält. Sie könnte durch eine restriktive Geldpolitik ausgeglichen werden, insbesondere dann, wenn die Zentralbank der Meinung wäre, die Wirtschaft bewege sich auf eine inflationäre Phase zu. Es kann zu einer gewissen Verdrängung von Investitionen kommen, wenn die Geldpolitik zu heftig reagiert. • Langfristig gesehen wirken sich höhere Staatsausgaben und niedrigere Steuersätze negativ auf das Wachstum einer Volkswirtschaft aus. Dies ist der Wachstumseffekt der Fiskalpolitik. Dabei handelt es sich um die Auswirkungen von staatlichen Defiziten auf das Verhältnis
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Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
von Ersparnissen zu Investitionen in einer Wirtschaft mit Vollbeschäftigung. Sinken die Steuern, dann nehmen auch die Ersparnisse des Staates ab, und da es eher unwahrscheinlich ist, dass die privaten Ersparnisse in gleicher Höhe steigen werden, wie die öffentlichen Ersparnisse fallen, werden die gesamten Ersparnisse und Investitionen zurückgehen. Die Abnahme der Investitionen wird zu einem langsameren Wachstum des Kapitalstocks und damit zur potenziellen Produktion führen. Diese unterschiedlichen Konsequenzen der Fiskalpolitik können einen leicht verwirren und führen zu hitzigen Debatten über die Fiskalpolitik. Betrachten Sie die folgende Diskussion zwischen den Senatoren Falke und Taube: Senator Taube: Die Wirtschaft bewegt sich am Rand einer Rezession. Wir können es uns nicht leisten, nichts zu tun, während Millionen von Menschen ihre Stelle verlieren. Der Zeitpunkt für deutliche Steuersenkungen ist gekommen, die vor allem Menschen mit mittleren Einkommen begünstigen sollten, da diese ihre zusätzlichen Einnahmen schnell ausgeben werden. Rezessionen sind der falsche Zeitpunkt, um sich an überholte Dogmen über staatliche Defizite zu klammern. Senator Falke: Jetzt die Steuern zu senken wäre der Gipfel fiskalischer Verantwortungslosigkeit. Ein niedrigeres Steueraufkommen würde das Defizit nur vergrößern, die Zinssätze würden steigen und die Unternehmen daraufhin ihre Ausgaben für neue Fabriken, Anlagen, Maschinen und Informationstechnologie reduzieren. Angesichts der zahlreichen Bedürfnisse in diesem Land können wir es uns nicht leisten, das Wirtschaftswachstum während der nächsten zehn Jahre zu verlangsamen. Verdeutlichen Sie sich die Theorien, die den Aussagen der angesehenen Senatoren zugrunde liegen. Beide haben Recht ... und doch wieder Unrecht.
B. Wirtschaftliche Stabilisierung Während die Vereinigten Staaten in letzter Zeit eine Periode des Wirtschaftswachstums verbunden mit niedriger Arbeitslosigkeit und Inflation erlebten, um die sie die Welt beneidete, waren andere Länder weniger glücklich. Europa und Japan steckten in einer Wirtschaftskrise und litten unter hoher Arbeitslosigkeit. Die Volkswirtschaften Ostasiens mussten erleben, dass sich ihr Wirtschaftswunder zeitweilig aufgrund der Turbulenzen auf den Finanzmärkten zu einem Debakel wandelte. Während die meisten Länder die Inflation inzwischen im Griff haben, können nur wenige den rasanten Preisanstieg während der siebziger und frühen achtziger Jahre vergessen. Niemand kann vorhersagen, wann und wo der nächste schädliche Konjunkturzyklus auftreten wird. Deshalb ist es nach wie vor so wichtig, Maßnahmen zu finden, welche die Wirtschaft auf den goldenen Mittelweg zwischen zu hoher Arbeitslosigkeit und inakzeptabler Inflation führen. Wir haben gesehen, dass die Entwicklung von Produktion und Preisen durch das Zusammenspiel von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage bestimmt wird. Aber wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Stabilisierung von Konjunkturzyklen müssen hauptsächlich durch ihre Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage effektiv werden. Anders ausgedrückt beruhen die Chancen der Regierung, eine Rezession zu bekämpfen oder die Inflation einzudämmen, hauptsächlich darauf, die geld- und fiskalpolitischen Hebel zu nutzen, um auf das Wachstum der Gesamtnachfrage Einfluss zu nehmen. Zwei wesentliche Fragen bleiben damit noch unbeantwortet: Wie sieht im Hinblick auf die Stabilisierung der Wirtschaft die ideale Arbeitsteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik aus? Kann es sein, dass die geld- und fiskalpolitischen Entscheidungsträger bei ih-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
rem aktiven Bemühen um eine Stabilisierung der Wirtschaft mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen?
Das Zusammenspiel von Geld- und Fiskalpolitik Für große Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten und die Eurozone hängt die günstigste Kombination von Geld- und Fiskalpolitik von zwei Faktoren ab: der Notwendigkeit einer Nachfragesteuerung und der gewünschten Mischung aus Geld- und Fiskalpolitik.
Steuerung der Gesamtnachfrage Die wichtigste Überlegung bei der Steuerung von Konjunkturzyklen gilt dem allgemeinen Zustand der Wirtschaft und der Notwendigkeit, die Gesamtnachfrage situationsgerecht anzupassen. Bei stagnierender Wirtschaft können Geld- und Fiskalpolitik dazu eingesetzt werden, die Wirtschaft zu stimulieren und einen Aufschwung einzuleiten. Bei drohender Inflation können Geld- und Fiskalpolitik helfen, das Wachstum zu drosseln und der inflationären Entwicklung Einhalt zu gebieten. Dies sind zwei Beispiele einer Nachfragesteuerung, worunter wir den aktiven Einsatz der Geld- und Fiskalpolitik zur Bestimmung der Gesamtnachfrage verstehen. Nehmen wir beispielsweise an, ein Staat befände sich am Rand einer schweren Rezession. Gemessen an ihrem Potenzial ist die Produktion niedrig. Was kann dieser Staat zur Belebung der Wirtschaft tun? Er kann die Gesamtnachfrage erhöhen, indem er die Geldmenge oder die Staatsausgaben oder beide erhöht. Reagiert die Wirtschaft auf diese geld- und fiskalpolitische Stimulierung, kommt es zu einem Anstieg der Produktionsleistung und der Beschäftigung; die Arbeitslosigkeit geht zurück. (Welche Maßnahmen könnte ein Staat in Zeiten der Inflation ergreifen?)
Teil 7
Betrachten wir noch einmal die Stärken und Schwächen der Geld- und Fiskalpolitik. Kann Fiskalpolitik etwas bewirken? In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Fiskalpolitik als Instrument zur Stabilisierung der Wirtschaft für Politiker wie auch für Makroökonomen deutlich an Attraktivität eingebüßt. In der Anfangsphase der keynesianischen Revolution betrachteten Ökonomen die Fiskalpolitik als das wirksamste und ausgeglichenste Instrument zur Nachfragesteuerung. Doch nach und nach zeigten sich ihre Schwächen. Sie leiten sich aus der Wahl des richtigen Zeitpunkts, den Maßnahmen sowie der makroökonomischen Theorie selbst ab. So wird beispielsweise kritisiert, dass die Zeitspanne zwischen einem Konjunkturschock und der angemessenen Reaktion lang ist und zunehmend länger wird. Es dauert schon geraume Zeit, bis die Ökonomen einen Wendepunkt im Konjunkturzyklus überhaupt erkennen können. Zusätzlich zu diesem Zeitverlust kommt es zu einer weiteren Reaktionsverzögerung, bis die Politiker beschlossen haben, was zu tun sei, und bis entsprechende Maßnahmen die Legislative passiert haben. Wenn schließlich tatsächlich Besteuerung oder Staatsausgaben verändert werden, dauert es wieder lang, bis die Wirtschaft darauf reagiert. Zwar gelten diese Verzögerungen bis zu dem Erkennen der Situation, der Reaktion und der Wirkung sowohl für die Geld- als auch die Fiskalpolitik, aber gerade im Fall fiskalpolitischer Maßnahmen kann sich die Reaktionszeit so lange hinziehen, bis die Wirkung zu keiner Stabilisierung mehr führt. Die Verzögerung der Wirkung fiskalpolitischer Maßnahmen hat in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten noch zugenommen, weil die Beschlussfassung über das Budget zunehmend komplizierter wird und weil beinahe ein Jahr zwischen den Empfehlungen des Präsidenten und der Beschlussfassung durch den Kongress verstreicht. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Steuern viel leichter gesenkt als erhöht
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
1003
werden können, während es sich bei den Staatsausgaben umgekehrt verhält. In den sechziger Jahren verabschiedete der Kongress begeistert die Steuersenkungen der Regierungen Kennedy und Johnson. Zwei Jahre danach, als die durch den Vietnamkrieg ausgelöste wirtschaftliche Überhitzung zu steigender Inflation führte, wären restriktive Maßnahmen notwendig gewesen. Die Entwicklung der Steuern von 1981 bis 2001 zeigt erneut, dass sich Steuererhöhungen und -senkungen nicht symmetrisch entwickeln. Als Präsident Ronald Reagan Steuersenkungen vorschlug, wurden sie binnen sechs Monaten umgesetzt. Als dann ein Defizit auftrat, bemühte sich die Bundesregierung eifrig, die Einnahmen zu erhöhen und Ausgaben zu senken, benötigte dann aber 17 Jahre, bis wieder ein ausgeglichenes Budget erreicht wurde. Gerade im Wahlkampf lieben Politiker Steuergeschenke, und niemand kandidiert gerne mit dem Slogan „Lasst uns Steuern erhöhen, um das Defizit abzubauen“. Der letzte Kandidat, der sich offen für Steuererhöhungen aussprach, war 1984 Walter Mondale, der dann die Wahl haushoch verlor.
wirken. Selbst wenn sie rasch umgesetzt werden, wirken sich fiskalpolitische Maßnahmen möglicherweise nicht so aus, wie dies die Makroökonomen früher annahmen. So sprachen sich viele für kurzfristige Steuersenkungen im Fall einer Rezession und entsprechende Steuererhöhungen bei einer Überhitzung der Wirtschaft und drohender Inflation aus. Studien belegen jedoch, dass die Konsumenten den vorübergehenden Charakter dieser steuerlichen Maßnahmen genau erkennen und daher ihr Ausgabeverhalten nur geringfügig anpassen, weil die zeitweilige Steueränderung kaum Auswirkungen auf ihr Lebenseinkommen hat. Die Federal Reserve ist in einer viel günstigeren Position, eine wirksame Stabilitätspolitik zu betreiben, als fiskalpolitische Entscheidungsträger. Die in der Federal Reserve tätigen Wirtschaftsfachleute erkennen konjunkturzyklische Entwicklungen frühzeitig, und sie können bei Bedarf rasch handeln. So verkündete etwa das US-Handelsministerium am 28. Januar 1994, die Konjunktur habe zum Jahresende 1993 überraschend schnell angezogen; schon eine Woche später folgte die Reaktion der Fed, die zur Dämpfung der Wirtschaft erstmals in fünf Jahren die Zinssätze erhöhte. Dieses Ereignis steht in deutlichem Kontrast zu den zwei Jahren, welche die Fiskalpolitik während des Vietnamkrieges benötigte, um das gleiche Resultat zu erzielen. Besonders wichtig für die Zentralbankpolitik ist die Unabhängigkeit dieses Organs, und es hat sich gezeigt, dass die amerikanische Federal Reserve zur Bekämpfung einer beginnenden Inflation durchaus auch unpopuläre Entscheidungen durchsetzen kann. Wie oben erwähnt ist das wichtigste Argument für die Geldpolitik jedoch, dass sie im Hinblick auf die gewünschte Nachfragesteuerung mindestens genau so viel erreichen kann wie die Fiskalpolitik. Um eine Stabilisierung der Wirtschaft zu erreichen, muss die Zentralbank natürlich das richtige Maß an Stimulierung oder Dämpfung finden. Neuere Schätzungen der
Die Wirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen. Verglichen mit der Fiskalpolitik wirkt sich die Geldpolitik eher indirekt auf die Wirtschaft aus. Während im Rahmen einer expansiven Fiskalpolitik Waren und Dienstleistungen direkt gekauft werden oder den Konsumenten und Unternehmen mehr Einkommen in die Hände gegeben wird, beeinflusst die Geldpolitik das Ausgabeverhalten durch Veränderung der Zinssätze, der Kreditkonditionen, der Wechselkurse und der Preise für Finanzanlagen. In den ersten Jahren nach der keynesianischen Revolution waren viele Makroökonomen skeptisch hinsichtlich der Wirksamkeit der Geldpolitik – manche erklärten: „Die Geldpolitik gleicht dem Stoßen einer Schnur.“ Während der letzten zwei Jahrzehnte sind diese Bedenken jedoch zerstreut worden, da sich die Zentralbank als durchaus fähig erwiesen hat, dämpfend oder stimulierend auf die Wirtschaft zu
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Geld, Produktion und Preise Reaktion der betreffenden Variablen auf eine vierprozentige Änderung der Geldmenge (als prozentuale Abweichung der jeweiligen Variablen von der Vergleichsbasis) Betroffene Variable
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
Reales BIP
0,9
1,1
1,2
1,1
0,8
Verbraucherpreise
0,2
0,7
1,1
1,5
1,8
Nominales BIP
1,1
1,8
2,3
2,5
2,7
Tabelle 34-3: Geschätzte Auswirkungen der Geldpolitik auf Produktionsleistung und Preise Eine Studie von acht ökonometrischen Modellen untersuchte die Auswirkungen der Geldpolitik. In jedem Fall wurde eine Ausgangslinie des Modells dadurch „ins Wanken gebracht“, dass die Geldmenge im Jahr 1 um 4 Prozent erhöht wurde und im allen Folgejahren die Geldmenge weiterhin um 4 Prozent über der Ausgangslinie lag. Die Schätzwerte in der Tabelle zeigen die auf der Basis aller Modelle errechnete durchschnittliche Reaktion. Beachten Sie die starke Anfangsreaktion des realen BIP auf die geldpolitische Maßnahme, wobei der Höhepunkt im Jahr 3 eintritt. Der Effekt auf das Preisniveau steigt allmählich an, da Preise und Löhne zunächst nur träge reagieren. Beachten Sie auch, dass die Wirkung auf das nominale BIP selbst nach fünf Jahren noch unterproportional zum Geldmengenwachstum ist. Quelle: Ralph C. Bryant, Peter Hooper und Gerald Holtham, „Consensus and Diversity in the Model Simulations,“ in Ralph Bryant u.a. (Hrsg.), Empirical Macroeconomics for Interdependent Economies (Brookings Institution, Washington, D.C., 1988.
quantitativen Auswirkungen der Geldpolitik auf eine Volkswirtschaft in verschiedenen makroökonomischen Modellen sind in Tabelle 34-3 dargestellt. Diese Studie schätzte die Auswirkungen einer gegenüber der prognostizierten Entwicklung um 4 Prozent erhöhten Geldmenge auf die US-Wirtschaft unter der Annahme, dass die Geldmenge auch in Zukunft 4 Prozent über der Vergleichsbasis liegen wird. Die Ergebnisse zeigen eine starke anfängliche Reaktion des realen BIP auf die Geldmengenexpansion. Dagegen steigt das Preisniveau nur langsam, denn im ersten Jahr nach der Maßnahme ist weniger als ein Fünftel des Anstiegs des nominalen BIP auf Preiserhöhungen zurückzuführen. Nach den Modellsimulationen ist am Ende des Fünfjahreszeitraums der größte Teil des Anstiegs des nominalen BIP auf Preiserhöhungen statt auf ein reales Wachstum zurückzuführen. Die Modelle bestätigen also die keynesianische Theorie einer verzögerten Reaktion von Löhnen und Preisen auf Änderungen der Geldmen-
ge; sie zeigen aber auch, dass die Wirtschaft sich langfristig zunehmend gemäß dem klassischen Modell verhält. Wie können die Währungshüter diese statistischen Erkenntnisse nutzen? Nehmen wir beispielsweise an, die Zentralbank prognostizierte für das kommende Jahr ein Wachstum des realen BIP um 4 Prozent; die Zentralbank glaubte darüber hinaus, dass die Wirtschaft ohne allzu großes Inflationsrisiko nur eine Wachstumsrate von 3 Prozent auf Dauer aushalten könnte. Welche Geldmengenänderungen wären in diesem Fall erforderlich, um die Wachstumsrate des realen BIP um einen Prozentpunkt zu drosseln? Die Antwort lautet, dass die Geldmengensteigerung um etwas mehr als 4 Prozent gedrosselt werden müsste, um einen Rückgang des realen BIP um einen Prozentpunkt zu erreichen. Wie nützlich derartige Berechnungen sind, hängt natürlich davon ab, inwieweit statistische Korrelationen der Vergangenheit auch in Zukunft noch gelten werden. Ökonomen,
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
1005
die sich vornehmlich mit monetären Effekten beschäftigen, betonen, dass die Auswirkungen geldpolitischer Maßnahmen nicht sicher vorhersehbar seien und dass sie sich im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung verändern könnten. So würden mit zunehmender Bedeutung des Außenhandels die geldpolitischen Einflüsse auf die Nettoexporte immer wichtiger, während zugleich deren unerwünschte Auswirkungen auf den Wohnungsbau und sonstige heimische Wirtschaftssektoren durch eine Deregulierung des Finanzsystems gemildert würden. Wir können die gegenwärtige Lage der Fiskal- und Geldpolitik folgendermaßen zusammenfassen:
Grundidee nach sind Fiskalpolitik und Geldpolitik bei der Nachfragesteuerung Substitute. Es können unterschiedliche Kombinationen aus geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft gewählt werden, aber ihre jeweiligen Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Produktion sind recht unterschiedlich. Durch das Variieren steuerlicher, ausgabenpolitischer und geldpolitischer Maßnahmen kann ein Staat die jeweils gewünschte Aufteilung des BIP zwischen Investitionen, Konsum, Nettoexporten und dem staatlichen Ankauf von Waren und Dienstleistungen beeinflussen.
Aufgrund ihrer politischen Unabhängigkeit und Fähigkeit, rasche Entscheidungen zu treffen, befinden sich die Zentralbanken in einer günstigen Ausgangslage, um als erste die Wirtschaft vor starken Konjunkturschwankungen zu schützen. Gelegentlich wird die Fiskalpolitik nach jeweiligem Ermessen eingesetzt, aber die Wirtschaftswissenschaftler bezweifeln, dass sie antizyklisch wirken kann, weil Steuersenkungen leichter durchzusetzen sind als Steuererhöhungen und weil politische Hindernisse einer schnellen Umsetzung im Weg stehen.
Die Mischung aus Fiskalund Geldpolitik Der zweite in der Fiskal- und Geldpolitik wesentliche Faktor ist die richtige Mischung aus Fiskal- und Geldpolitik, womit der jeweilige Umfang jeder der beiden Komponenten und ihre Auswirkungen auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren gemeint sind. Als Veränderung der fiskal- und geldpolitischen Mischung bezeichnen wir eine Maßnahme, die zu einer Lockerung in dem einen bei gleichzeitig strengerer Handhabung im anderen Bereich führt, mit dem Ergebnis, dass die Gesamtnachfrage und somit auch die Gesamtproduktion konstant bleiben. Der
Auswirkungen einer Änderung der geld- und fiskalpolitischen Mischung. Um die Folgen einer Veränderung der Mischung aus Geldund Fiskalpolitik zu verstehen, wollen wir eine bestimmte Kombination betrachten. Nehmen wir an, die Bundesregierung senkte ihr Budgetdefizit um US-$ 100 Milliarden, kombiniert mit einer Geldmengenexpansion, die genau ausreichte, die dämpfende Wirkung der fiskalpolitischen Änderung auszugleichen. Dieses Paket gleicht den Maßnahmen zur Defizitbekämpfung, die 1993 zusammen mit einer Geldpolitik ergriffen wurden, welche die negativen Auswirkungen höherer Steuern und geringerer Staatsausgaben ausglich. Mithilfe eines quantitativen ökonometrischen Modells, ähnlich dem langfristig angelegten, ausgefeilten DRI-Modell für die Vereinigten Staaten, können wir die Auswirkungen schätzen. Tabelle 34-4 zeigt die Ergebnisse des Experiments. Wir stellen dabei zwei interessante Entwicklungen fest: Erstens zeigt die Simulation, dass eine Änderung der fiskal- und geldpolitischen Mischung tatsächlich zu einer veränderten Zusammensetzung des realen BIP führt. Während das Defizit um US-$ 100 Milliarden zurückgeht, steigen die Unternehmensinvestitionen um US-$ 30 Milliarden. Auch die Investitionen in den Wohnungsbau steigen mit sinkenden Zinssätzen. Zugleich geht der private Konsum zurück und macht Ressourcen für Investitionszwecke frei. Diese Simulation verdeut-
1006
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Sektor
Teil 7
Änderung der Produktionsleistung (Mrd. US-$, in Preisen von 2003)
Investitionssektor
132
Einheimische private Bruttoinvestitionen
48
Wohnungsbau
18
Anlageinvestitionen
30
Nettoexporte
83
Konsumbereich
–106
Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen
–68
Private Konsumausgaben
–38
Anmerkungen: Änderung des realen BIP
26
Änderung des Budgetdefizits des Bundes
–100
Tabelle 34-4: Änderung der Mischung aus Geld- und Fiskalpolitik Welche Auswirkungen hätte eine Veränderung der Mischung aus Geld- und Fiskalpolitik für die Vereinigten Staaten? Die obige Simulation geht davon aus, dass das Defizit des Bundes durch höhere Personensteuern und geringere Zivilausgaben um US-$ 100 Milliarden gesenkt wird, während die Federal Reserve die Geldpolitik einsetzt, um die Arbeitslosenquote stabil zu halten. Es werden die Durchschnittswerte der Veränderung gegenüber der Ausgangsbasis für den Zeitraum von 2000–2009 gezeigt. Quelle: Simulation auf der Basis des DRI-Modells für die US-Wirtschaft.
licht, wie eine Veränderung der Kombination von Geld- und Fiskalpolitik die Zusammensetzung der Produktion ändern kann. Das Experiment führt zu einem besonders interessanten Ergebnis: Die Nettoexporte steigen deutlich stärker als die Investitionen in den Wohnungsbau oder in die Unternehmensanlagen. Dies liegt daran, dass die sinkenden Zinssätzen zu einem deutlichen Rückgang des Dollarkurses führen. Während dieses Ergebnis die offensichtlichen Reaktionen der Finanzmärkte und Wechselkurse auf die Maßnahmen zum Defizitabbau zeigt, deutet es auch darauf hin, dass einige der üblichen Analysen der Folgen eines solchen Wirtschaftspaktes durchaus irreführend sein können. Viele Forscher behaupten, dass eine Verringerung des Budgetdefizits signifikante Auswirkungen auf Investitionsverhalten und Produktivität haben müsse. Da das verringerte Defizit vorrangig Exporten und dem Wohnungsbau zugute kommt, ist nur ein relativ geringer Anstieg der Pro-
duktivität zu erwarten. Laut dem DRI-Modell erhöht eine Senkung des Budgetdefizits um US-$ 100 Milliarden die Wachstumsrate des potenziellen BIP für einen Zeitraum von zehn Jahren von 2,3 Prozent auf 2,6 Prozent jährlich. Vielleicht erklärt dieser bescheidene Ertrag des Defizitabbaus, warum es so schwierig ist, den politischen Willen zu diesem Schritt aufzubringen. Alternative Mischungen in der Praxis Die richtige Mischung von Geld- und Fiskalpolitik wird in den USA heftig diskutiert. Zwei alternative Ansätze sind: • Eine lockere Fiskal- und eine strenge Geldpolitik. Nehmen wir an, in der Ausgangslage herrschte eine niedrige Inflation, und die Produktion läge bei der potenziellen Produktionsleistung. Ein neuer Präsident entscheidet nun, es sei notwendig, die Verteidigungsausgabendeutlich zu erhöhen, nicht aber die
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
Steuern. Für sich allein genommen würde dadurch das Staatsdefizit vergrößert und die Gesamtnachfrage erhöht. In dieser Situation dürfte sich die Federal Reserve veranlasst sehen, eine restriktive Geldpolitik zu betreiben, um ein Überhitzen der Wirtschaft zu vermeiden. Dies würde zu höheren Realzinssätzen und einem Anstieg des Wechselkurses des US-Dollars führen. Die gestiegenen Zinssätze würden sich dämpfend auf die Investitionen auswirken, während der Kursgewinn des US-Dollars die Nettoexporte reduzieren würde. Unter dem Strich würden also die erhöhten Verteidigungsausgaben die einheimischen Investitionen und die Nettoexporte verdrängen. In den frühen achtziger Jahren und dann wieder ab 2000 verfolgten die Vereinigten Staaten diese Wirtschaftspolitik. • Eine strenge Fiskal- und eine lockere Geldpolitik. Nehmen wir an, in einem Land machte man sich Sorgen über die niedrige einheimische Sparquote und wünschte die Investitionen zu erhöhen, um so den Kapitalstock zu vermehren und das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung zu stimulieren. Zur Erreichung dieses Ziels könnte das Land Verbrauchsteuern erhöhen und Transferzahlungen reduzieren, um so das verfügbare Einkommen zu senken und damit den Konsum zu drosseln (restriktive Fiskalpolitik). Diese Maßnahme könnte von einer expansiven Geldpolitik flankiert werden, um die Zinssätze zu senken und damit die Investitionen zu fördern sowie den Wechselkurs zu senken und somit die Nettoexporte zu erhöhen. Diese Vorgehensweise würde durch die Zunahme der öffentlichen Ersparnisse die privaten Investitionen ansteigen lassen. Dies war die wirtschaftliche Philosophie von Präsident Clinton, die sich im Budget Act von 1993 niederschlug und bis Ende des Jahrzehnts zu einem Budgetüberschuss führte.
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Die Kontroverse um Regeln und Ermessensentscheidungen Wir haben gesehen, dass fiskal- und geldpolitische Maßnahmen die Wirtschaft prinzipiell stabilisieren können. Viele Ökonomen meinen, dass der Staat auch tatsächlich Maßnahmen ergreifen sollte, um einer Überhitzung oder Unterkühlung der Konjunktur entgegenzuwirken. Andere Wirtschaftswissenschaftler sind hinsichtlich der Möglichkeiten, Konjunkturzyklen vorherzusagen und die richtigen Maßnahmen zur richtigen Zeit aus den richtigen Gründen zu treffen, eher skeptisch. Diese zweite Gruppe vertritt die Ansicht, man könne sich keinesfalls darauf verlassen, dass der Staat eine gute Wirtschaftspolitik betreiben werde, weshalb dessen wirtschaftspolitischer Handlungsspielraum auch stark eingeschränkt sein müsse. Vertreter einer konservativen Fiskalpolitik argumentieren beispielsweise, der Kongress könne leichter Staatsausgaben erhöhen und Steuern senken als umgekehrt. Damit wäre es leicht, in Rezessionsphasen das Budgetdefizit zu erhöhen, aber viel schwieriger, die Wende zu schaffen und das Defizit in der Hochkonjunktur wieder abzubauen, wie es eine antizyklische Fiskalpolitik erfordern würde. Daher haben Konservative mehrere Versuche unternommen, die Möglichkeiten des Kongresses zur Bereitstellung neuer finanzieller Mittel oder zur Erhöhung des Defizits zu beschneiden. Ebenso würden geldpolitisch konservativ Denkende gerne der Zentralbank die Hände binden und sie zwingen, vorgegebene Ziele für Geldmengenwachstum und Inflation zu akzeptieren. Dies würde ihrer Meinung nach die Unsicherheit hinsichtlich der Geldpolitik eliminieren und die Glaubwürdigkeit der Zentralbank als Hüter der Währungsstabilität stärken. Im weitesten Sinne reduziert sich die Debatte darüber, ob Regeln oder Ermessensentscheidungen vorzuziehen seien, auf die Frage, ob die Vorteile flexibler Entschei-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
dungsprozesse durch die Unsicherheiten und den potenziellen Missbrauch freier Entscheidungen nicht wieder zunichte gemacht werden. Wer glaubt, dass die Wirtschaft inhärent instabil und komplex ist und dass Regierungen im Allgemeinen kluge Entscheidungen treffen, der wird politischen Entscheidungsträgern einen großen Ermessensspielraum zugestehen, um bei Bedarf entschiedene Stabilitätsmaßnahmen zu ergreifen. Wer jedoch meint, der Staat sei selbst der größte destabilisierende Faktor in der Wirtschaft und politische Entscheidungsträger neigten zu Selbstsucht und Fehlurteilen, sieht die Hände der fiskal- und geldpolitischen Entscheidungsträger lieber gebunden.
Sind Budgetbeschränkungen sinnvoll? Als die Defizite in den achtziger Jahren anzuwachsen begannen, meinten viele, dem Kongress fehle die Selbstbeherrschung, um die exzessive Ausgabenpolitik und die steigende Staatsverschuldung einzuschränken. Die Konservativen schlugen einen Verfassungszusatz vor, in dem ein ausgeglichenes Budget verankert werden sollte. Wirtschaftswissenschaftler kritisierten diese Idee, weil es dadurch sehr schwer würde, die Fiskalpolitik zur Bekämpfung von Rezessionen einzusetzen. Bis heute wurde kein derartiger Verfassungszusatz vom Kongress verabschiedet. Stattdessen hat der Kongress eine Reihe von Budgetregeln zur Einschränkung von Ausgaben und Steuersenkungen erlassen. Der erste derartige Versuch war der GrammRudman Act von 1985, der vorschrieb, das Budgetdefizit jährlich um einen absoluten Geldbetrag zu verringern und bis zum Jahr 1991 ein ausgeglichenes Budget zu erreichen. Sollte der Kongress nicht in der Lage sein, die Zielvorgaben von Gramm-Rudman zu erreichen, würden die Ausgaben generell und in allen Bereichen gekürzt. Die Ergebnisse verfehlten den Auftrag des Kongresses deutlich. Das Gramm-RudmanGesetz trat zwar Ende 1985 in Kraft, aber die
Teil 7
ehrgeizigen Ziele konnten nie erreicht werden. Das Gesetz musste daher 1987 novelliert werden, doch die vorgesehene Budgetsteuerung erwies sich als ebenso unpraktisch wie unwirksam. Im Jahr 1990 ersetzte man die ursprünglichen Ziele durch eine Reihe von Ausgabenrestriktionen. Diese Regeln wurden in den Budget Act von 1993 aufgenommen und beinhalteten eine verbindliche Beschränkung des Wachstums von nicht genau festgelegten Ausgabenprogrammen (darunter Verteidigungsprojekte und Zivilprogramme im Bereich Schulwesen, Wissenschaftsförderung und staatliche Verwaltung). Die Haushaltsgesetze von 1993 und 1997 sahen für die Periode 1993–1998 einen realen Rückgang der Ausgaben für derartige Programme um beinahe 25 Prozent vor. Die andere wichtige Änderung, die in den Novellen der neunziger Jahre eingeführt wurde und sich in den Haushaltsgesetzen von 1993 und 1997 widerspiegelt, ist die sogenannte „Pay-as-you-go“-Bestimmung. Sie verlangt, dass der Kongress selbst die nötigen Einnahmen zur Finanzierung aller neuen Ausgabenprogramme auftreiben muss. Die „Pay-as-you-go“-Bestimmung stellt für den Kongress eine Budgetbeschränkung dar, und sie fordert ausdrücklich, dass die Kosten für neue Programme entweder durch höhere Steuern oder mittels geringerer Ausgaben in anderen Bereichen aufgebracht werden. Welche Wirkung hatten die genannten Budgetbeschränkungen auf den Kongress? Die Regeln führten zu einer bemerkenswerten Finanzdisziplin, trugen zum Abbau des Defizits im Laufe der neunziger Jahre bei und führten nach 1998 sogar zu einem Überschuss. Als jedoch dieser Wechsel vollzogen und ein Abbau des Defizits nicht mehr vordringlich erschien, entzogen sich die politischen Entscheidungsträger den früheren Auflagen mit fadenscheinigen Ausreden wie „Notfallausgaben“ für vorhersehbare Ausgabenposten wie den Zehnjahreszensus. Im Jahr 2002 wurden die Budgetbeschränkungen schließlich vollständig aufgegeben. Es bleibt abzuwarten, ob sie wieder eingeführt
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
1009
werden, wenn das Defizit in den nächsten Jahren weiter wächst.
Stabilisierung der Produktion geführt haben könnte.
Monetäre Regeln für die Federal Reserve?
Ein festgelegtes Inflationsziel. Während der letzten Jahrzehnte haben Zentralbanken in der Geldpolitik viele unterschiedliche Ansätze verfolgt. Dazu zählten einerseits solche mit hohem Ermessensspielraum, wobei geldund fiskalpolitische Maßnahmen unter Leitung der Regierung koordiniert wurden, andererseits stark mechanisierte Vorgehensweisen, bei denen ein Ziel für die Geldmenge oder für die Reservehaltung der Banken vorgegeben war. Die Festlegung eines Inflationsziels erfordert folgende Maßnahmen: Eine der wichtigsten neuen Entwicklungen im letzten Jahrzehnt war die Neigung vieler Länder, Inflationsziele zu setzen. Die Festlegung eines Inflationsziels bedeutet, dass dieses Ziel offiziell, im Rahmen einer Bandbreite und mit dem ausdrücklichen Hinweis angegeben wird, das Hauptziel der Geldpolitik bestehe darin, die Inflation niedrig und stabil zu halten. Viele Industrieländer haben sich diesem Konzept mit mehr oder weniger strenger Zielsetzung während der letzten Jahre verschrieben, unter anderem Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland. Der Vertrag über die Einrichtung der Europäischen Zentralbank legt ausdrücklich die Preisstabilität als oberstes Ziel der Bank fest, auch wenn formell kein Inflationsziel angegeben werden muss.2 Eine Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern und Kongressabgeordneten befürworten diesen Ansatz auch für die Vereinigten Staaten.
Bei unserer Erörterung des Monetarismus in Kapitel 33 haben wir auch die Möglichkeit fester geldpolitischer Regeln erörtert. Das traditionelle Argument zugunsten fester Regeln besagt, dass sich die Privatwirtschaft relativ stabil verhält und es durch ein bewusstes politisches Eingreifen wahrscheinlich eher zu einer Destabilisierung als zu einer Stabilisierung der Wirtschaft kommt. Außerdem würden fixe Regeln einer Zentralbank die Hände binden, sollte diese auf Druck der Regierung versucht sein, vor Wahlen den Aufschwung der Wirtschaft zu fördern und so einen politischen Konjunkturzyklus zu schaffen. Zusätzlich weisen moderne Makroökonomen darauf hin, wie nützlich es ist, sich bereits im Voraus auf bestimmte Aktionen festzulegen. Wenn sich die Zentralbank zur Inflationsbekämpfung verpflichtete, würden sich die Erwartungen der Menschen entsprechend anpassen, und Inflationserwartungen könnten gedämpft werden. Bis vor kurzem empfahlen Verfechter einer festen Geldmengenregelung (vor allem Monetaristen) ein im Voraus festgelegtes nominales Geldmengenwachstum von beispielsweise 4 Prozent jährlich. Bei konstanter Geldumlaufgeschwindigkeit und einem jährlichen Produktionswachstum von 3 Prozent würde dies zu einer stetigen jährlichen Inflationsrate von 1 Prozent führen. Doch wie die Daten über die Umlaufgeschwindigkeit zeigen (siehe insbesondere Abbildung 33-3 im vorhergehenden Kapitel), war diese noch nie besonders stabil und hat während der letzten zwei Jahrzehnte sogar zunehmend geschwankt. Angesichts dieser offensichtlichen Instabilität der Geldumlaufgeschwindigkeit kann man schwerlich behaupten, dass eine Festlegung des Geldmengenwachstums während dieses Zeitraums tatsächlich zu einer
• Die Regierung oder Zentralbank verkündet, dass es Ziel der Geldpolitik sei, die Inflation nahe einem numerisch festgelegten Ziel zu halten. • Das Ziel wird üblicherweise als Bandbreite angegeben, beispielsweise 1 bis 3 Prozent pro Jahr, nicht als absolute Preisstabilität. 2 Die Europäische Währungsunion wurde in Kapitel 30 behandelt.
1010
Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Normalerweise wählt die Regierung eine Kerninflationsrate als Zielgröße, beispielsweise den Verbraucherpreisindex, aus dem allerdings die stark schwankenden Lebensmittel- und Energiepreise ebenso herausgerechnet sind wie preistreibende Steuern. • Mittel- bis langfristig ist die Stabilisierung der Inflation das Hauptziel. Die Länder bewahren sich jedoch immer einen Spielraum für kurzfristige Stabilitätsziele, vor allem im Hinblick auf die Produktionsleistung, die Arbeitslosigkeit sowie Finanzund Währungsstabilität. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass plötzliche Einwirkungen auf das Angebot Produktion und Arbeitslosigkeit beeinflussen können und dass es wünschenswert sein könnte, kurzfristig vom Inflationsziel abzuweichen, um eine zu hohe Arbeitslosigkeit oder Produktionsverluste zu vermeiden. Die Befürworter einer Festlegung von Inflationszielen verweisen auf viele Vorteile. Wenn man langfristig nicht Inflation für Arbeitslosigkeit eintauschen kann, dann ist diejenige Rate ein vernünftiges Inflationsziel, welche die Effizienz des Preissystems maximiert. Unsere Untersuchung der Inflation in Kapitel 32 hat zu der Erkenntnis geführt, dass eine niedrige und stabile Inflationsrate die Effizienz fördert und eine unnötige Umverteilung von Einkommen und Wohlstand minimiert. Außerdem glauben manche Wirtschaftswissenschaftler, dass eine entschiedene und glaubhafte Verpflichtung zur Einhaltung einer niedrigen und stabilen Inflationsrate einen besseren kurzfristigen Kompromiss zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit ermöglicht. Schließlich würde die ausdrückliche Festlegung eines Inflationsziels die Transparenz der Geldpolitik erhöhen.
Teil 7
Das Setzen von Inflationszielen ist ein Kompromiss zwischen festen Regeln und Maßnahmen nach reinem Ermessen. Ein wesentlicher Nachteil könnte dann entstehen, wenn sich die Zentralbank zu streng an die Inflationsvorgabe hielte und in Zeiten erheblicher Angebotsschocks übermäßige Arbeitslosigkeit zuließe. Kritiker erinnern daran, dass die strengen Regeln während des monetaristischen Experiments von 1979 – 1982 zu stark schwankenden Zinssätzen und einer ernsten Rezession führten. Skeptiker befürchten, eine Volkswirtschaft sei zu komplex, um sie mittels fester Regeln zu steuern. Um ein analoges Beispiel zu verwenden, stellen sie die Frage, ob man etwa eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung für Autos erlassen oder ein Flugzeug unabhängig vom Wetter und eventuellen Notfällen immer vom Autopiloten fliegen lassen würde. Die Federal Reserve muss sich nicht mit strengen Zielen oder strikten Regeln herumschlagen. Glücklicherweise wurde die Geldpolitik unter Paul Volcker (Vorsitzender von 1979 bis 1987) und Alan Greenspan (Vorsitzender von 1987–2006) in einer Zeit großer struktureller Veränderungen und Turbulenzen außerordentlich geschickt gehandhabt. Der Erfolg der Geldpolitik in dieser Zeit ist ein Beweis dafür, wie sinnvoll unparteiische Maßnahmen nach jeweiligem Ermessen zur Erreichung klar definierter Ziele sind. Die Debatte über Regeln oder Entscheidungen nach Ermessen ist eine der ältesten Kontroversen in der Volkswirtschaftslehre. Es gibt nicht den einen optimalen Ansatz, der immer und überall hilft. Das Dilemma zeigt, wie schwierig es für demokratische Gesellschaften ist, einen Kompromiss zwischen kurzfristigen Maßnahmen, die politisch vertretbar sind, und langfristigen Vorgehensweisen zur Verbesserung des allgemeinen Wohlstands zu finden.
1011
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
C. Die Aussichten für die Wirtschaft im neuen Jahrhundert Die Bedeutung des Wirtschaftswachstums Am Anfang des 21. Jahrhunderts tut man gut daran, sich den bemerkenswerten Kommentar von Paul Krugman vom MIT ins Gedächtnis zu rufen: Produktivität ist nicht alles, aber langfristig gesehen doch beinahe alles. Die Fähigkeit eines Landes, seinen Lebensstandard im Laufe der Zeit zu erhöhen, hängt beinahe vollständig von seiner Fähigkeit ab, die Produktionsleistung pro Beschäftigten zu steigern.3
Die Förderung eines hohen und weiterhin steigenden Lebensstandards für die Bewohner eines Landes ist eines der grundlegenden Ziele jeder Wirtschaftspolitik. Da das gegenwärtige Niveau der Realeinkommen die frühere Entwicklung des Produktivitätswachstums widerspiegelt, können wir den relativen Erfolg dieses Wachstums messen, indem wir das BIP pro Kopf der Bevölkerung verschiedener Länder vergleichen. Eine kurze Übersicht findet sich in Tabelle 34-5, die einen Einkommensvergleich mithilfe der Kaufkraftparität anstellt, welche die Kaufkraft der verschiedenen nationalen Währungen (oder die Menge der jeweils für sie erhältlichen Waren und Dienstleistungen) misst. Offensichtlich erzielten die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit ein deutliches Wirtschaftswachstum. Die bedenklichste Entwicklung in letzter Zeit ist vielleicht darin zu sehen, dass die Verbesserung des Lebensstandards nicht allen Teilen der Bevölkerung zugute kommt. 3 Siehe den Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
Land
BIP pro Kopf, 2003*
Vereinigte Staaten
37.470
Japan
27.840
Italien
27.670
Deutschland
27.660
Frankreich
27.370
Großbritannien
27.010
Mexiko
9.290
Russland
6.250
China
5.070
Indien
2.770
Irak
2.720
Nigeria
987
*Die Daten wurden mittels der Kaufkraftparität einander angepasst und vergleichbar gemacht.
Tabelle 34-5: Gegenwärtiges Einkommen ist das Ergebnis vergangenen Wachstums Diejenigen Länder, deren Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit am größten war, haben nun das höchste BIP-Niveau pro Kopf der Bevölkerung erreicht. Quelle: Weltbank und Economist Intelligence Unit.
Spricht man von Wachstumsraten, so erscheinen die betreffenden Zahlen oft unerheblich klein. Eine erfolgreiche Maßnahme kann vielleicht die Wachstumsrate eines Landes um einen Prozentpunkt pro Jahr erhöhen (erinnern Sie sich an die Auswirkung der Maßnahmen zur Defizitsenkung im vorhergehenden Abschnitt). Langfristig betrachtet macht das jedoch viel aus. Tabelle 34-6 zeigt, wie durch die stetige Kumulation geringer Unterschiede in den Wachstumsraten kleine Eicheln sich zu mächtigen Eichen entwickeln. Ein Wachstumsunterschied von 4 Prozent jährlich bewirkt im Verlauf eines Jahrhunderts eine Verfünfzigfachung der Differenz im Einkommensniveau. Wie kann das Wirtschaftswachstum durch staatliche Politik angekurbelt werden? Wie wir in unseren Kapiteln über das Wirtschaftswachstum betont haben, hängt die Zunahme
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Jährliche Wachstumsrate (%)
Realeinkommen pro Kopf, in US-$ (konstante Preise) 2000
2050
2100
0
24.000
24.000
24.000
1
24.000
39.471
64.916
2
24.000
64.598
173.872
4
24.000
170.560
1.212.118
Tabelle 34-6: Geringfügige Unterschiede in der Wachstumsrate summieren sich im Laufe der Jahrzehnte zu großen Einkommensunterschieden
der Produktion pro Beschäftigten und des Lebensstandards von der Sparquote eines Landes und seinen technologischen Fortschritten ab. Mit dem Thema Ersparnisse haben wir uns weiter oben in diesem Kapitel beschäftigt. Zum technologischen Wandel gehören nicht nur die Entwicklung neuer Produkte und Prozesse, sondern auch Verbesserungen im Management und Unternehmertum sowie Unternehmensgeist – und mit einer Diskussion darüber wollen wir dieses Kapitel beschließen.
Unternehmensgeist Obwohl Investitionen ein wesentlicher Bestimmungsfaktor des Wirtschaftswachstums sind, kommt dem technologischen Fortschritt vermutlich eine noch größere Bedeutung zu. Wenn wir die Arbeitskräfte des Jahres 1900 mit zwei- oder dreimal so viel Kapital für Maultiere, Sättel, Hacken und Saumpfaden ausstatteten, käme ihre Produktivität trotzdem nicht annähernd an jene der heutigen Beschäftigten mit ihren Riesentraktoren, vierspurigen Autobahnen und Supercomputern heran.
Förderung des technologischen Fortschritts Obwohl die positive Wirkung des technologischen Fortschritts auf Produktivität und Lebensstandard offensichtlich ist, können Re-
Teil 7
gierungen den Menschen nicht einfach befehlen, länger nachzudenken oder klüger zu sein. In den zentralen Planungswirtschaften des Sozialismus wurde zur Förderung von Wissenschaft, Technologie und Innovation die „Peitsche“ eingesetzt, aber die Bemühungen erwiesen sich als Fehlschlag, weil es weder die Institutionen noch das „Zuckerbrot“ gab, um Innovationen und die Einführung neuer Technologien zu fördern. Regierungen unterstützen den raschen technologischen Wandel oft dann am besten, wenn sie für einen soliden wirtschaftlichen und gesetzlichen Rahmen mit verlässlichem Schutz des geistigen Eigentums sorgen und dann innerhalb dieses Rahmens die größtmögliche wirtschaftliche Freiheit gewähren. Als fruchtbarster Boden für Innovationen und technologischen Wandel haben sich freie Märkte für Arbeit, Kapital, Güter und Ideen erwiesen. Im Rahmen freier Märkte kann der Staat einen raschen technologischen Wandel sowohl durch die Förderung neuer Ideen als auch durch die Garantie herbeiführen, dass neue Technologien effektiv eingesetzt werden. Wirtschaftspolitische Maßnahmen können sich sowohl auf die Angebots- als auch auf die Nachfrageseite konzentrieren. Förderung der Nachfrage nach besseren Technologien. Die Welt ist voller hervorragender Technologien, die niemals übernommen wurden. Wie könnten wir sonst die ungeheuren Produktivitätsunterschiede in Tabelle 34-5 erklären? Bevor ein Staat überlegt, woher neue Technologien kommen sollen, muss er erst gewährleisten, dass Unternehmen und Branchen sich an ihrer technologischen Grenze befinden, das heißt in allen Bereichen die optimale Technologie eingesetzt wird. Die wichtigste Lehre in diesem Zusammenhang besagt: „Not ist die Mutter aller Erfindungen.“ Mit anderen Worten: Nichts fördert Innovationen so sehr wie ein lebhafter Wettbewerb zwischen Unternehmen und Branchen. Genau wie Athleten zu Höchstleistungen angespornt werden, wenn sie versuchen, ihren Mitbewerber davonzulaufen,
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
1013
werden Unternehmen zur Verbesserung ihrer Produkte und Verfahren angespornt, wenn dem Sieger Ruhm und Vermögen winken, während die Letzten bankrott gehen. Lebhafter Wettbewerb bezieht sowohl heimische als auch ausländische Mitbewerber ein. Für große Länder, die schon an die technologische Grenze stoßen, ist der heimische Wettbewerb zur Förderung von Innovationen erforderlich. Die Deregulierungsbewegung während der letzten beiden Jahrzehnte hat auch zu Konkurrenz unter Fluglinien, in der Energiewirtschaft, der Telekommunikation und im Finanzwesen geführt, und die positiven Auswirkungen auf die Innovationstätigkeit waren beträchtlich. In kleinen oder technologisch rückständigen Ländern ist der importierte Wettbewerb entscheidend für die Übernahme fortschrittlicher Technologien und die Sicherstellung von Wettbewerb auf den Produktmärkten.
durch ein starkes Patentsystem, vorhersehbare und wenig belastende staatliche Regulierungen sowie fiskalische Anreize wie die derzeitigen steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Forschung und Entwicklung bei. Zweitens kann der Staat die heimische Technologie vorantreiben, indem er ausländische Investoren anzieht. Wenn andere Länder die amerikanische Technologiegrenze erreichen und sogar überschreiten, können sie auch zum amerikanischen Know-how beitragen, indem sie Niederlassungen in den USA gründen. In den letzten zehn Jahren ließen sich einige japanische Autohersteller in den USA nieder, und Fabriken in japanischem Besitz haben neue Technologien und Managementtechniken zum Nutzen der japanischen Aktionäre wie auch der Produktivität der amerikanischen Arbeiter ins Land gebracht. Drittens kann der Staat neue Technologien fördern, indem er eine vernünftige Wirtschaftspolitik betreibt. Dazu gehören niedrige und stabile Steuern auf Kapitaleinkommen und geringe Finanzierungskosten für die Unternehmen. Die Bedeutung der Finanzierungskosten bringt uns zum Thema niedrige Sparquote und hohe Realzinssätze zurück. Mitunter werden amerikanische Unternehmen der Kurzsichtigkeit beschuldigt, weil sie sich vor langfristigen Investitionen scheuen. Diese Haltung beruht wenigstens teilweise auf den hohen Realzinssätzen – sie zwingen rational handelnde amerikanische Unternehmen, sich bei ihren Investitionen um eine rasche Amortisierung zu bemühen. Eine Änderung der Wirtschaftspolitik, die zur Senkung der Realzinssätze führte, würde auch die „Wirtschaftsbrille“ ändern, durch die Unternehmen sehen, wenn sie ihre technologischen Strategien planen. Bei niedrigeren Realzinssätzen würden die Unternehmen langfristige riskante Projekte wie Investitionen in neue Technologien positiver bewerten, und die steigenden Investitionen in Wissen würden zu rascheren technologischen Verbesserungen und höherer Produktivität führen.
Das Angebot an neuen Technologien fördern. Für ein rasches Wirtschaftswachstum müssen die technologischen Grenzen durch zunehmende Innovationen und durch die Gewährleistung einer entsprechenden Nachfrage nach solchen Technologien weiter nach vorn geschoben werden. Es gibt drei Möglichkeiten, wie Staaten das Angebot an neuen Technologien fördern können. Erstens können Staaten sicherstellen, dass Grundlagenforschung, Technik und Technologie entsprechend dem Bedarf unterstützt werden. In dieser Hinsicht waren während der letzten 50 Jahre die USA führend, wo die Unterstützung der angewandten Forschung durch die Unternehmen mit einer hervorragenden und großzügig vom Staat geförderten universitären Grundlagenforschung kombiniert wird. Besonders hervorzuheben sind hierbei die beeindruckenden Verbesserungen in der biomedizinischen Technologie in Form neuer Medikamente und medizinischer Geräte, die den Konsumenten in ihrem täglichen Leben direkt zugute kommen. Zur Unterstützung der gewinnorientierten Forschung trägt der Staat
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Ein letztes Wort zum Wirtschaftswachstum Nach der keynesianischen Revolution glaubten die kapitalistischen Demokratien, sie könnten gedeihen und rasch wachsen, indem sie Extremfälle von Arbeitslosigkeit und Inflation, Armut und Reichtum, Privilegien und Diskriminierung verhinderten. Viele dieser Ziele konnten erreicht werden, als die Marktwirtschaften eine bisher nicht gekannte Periode steigender Produktionsleistung und wachsender Beschäftigung erlebten. In den Vereinigten Staaten waren die letzten 15 Jahre eine Zeit nie gekannter Stabilität und niedriger Inflation. Die Marxisten unkten jedoch die ganze Zeit, der Kapitalismus werde eines Tages in einer katastrophalen Depression untergehen; die Ökologen sorgten sich, dass die Marktwirtschaften an ihren eigenen Abgasen ersticken könnten, und Anhänger eines radikalen Wirtschaftsliberalismus befürchteten, die Pläne der Regierung würden noch zu unserer Versklavung führen. Doch die Pessimisten übersahen den Unternehmensgeist, den eine offene Gesellschaft und freie Märkte fördern und der zu ständigen technologischen Verbesserungen führt. Ein Abschiedswort von John Maynard Keynes, das heute noch genauso aktuell ist wie in früheren Zeiten, stellt eine passende Zusammenfassung unserer Übersicht über die Wirtschaftspolitik dar: Es ist das Unternehmertum, das die Besitztümer dieser Welt schafft und verbessert. Ist der Unternehmensgeist wach und rege, wird Wohlstand angesammelt, gleichgültig, wie es um die Sparsamkeit bestellt ist; schläft der Unternehmensgeist dagegen, dann verfällt der Wohlstand, ganz egal, wie viel gespart wird.
Wirtschaftlicher Fortschritt und politische Freiheit Eines der auffallendsten Merkmale des 20. und frühen 21. Jahrhunderts ist die enge Verbindung zwischen wirtschaftlichem Fort-
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schritt und politischer Freiheit. Eine bemerkenswerte Tatsache lässt sich nicht übersehen: Nicht jedes Land, in dem die Marktwirtschaft herrscht, ist demokratisch, aber in jedem Staat mit einem demokratischen politischen System gibt es die Marktwirtschaft. Außerdem ist so gut wie jedes Land mit hohem Pro-Kopf-Einkommen demokratisch geführt und marktwirtschaftlich ausgerichtet. Die Freiheit des Marktes ist eng mit politischen Freiheiten verbunden, beispielsweise freien und fairen Wahlen, dem Vorhandensein einer starken Opposition sowie Selbstbestimmung der wichtigsten Minderheiten; hinzu treten bedeutende Bürgerrechte wie Rede- und Versammlungsfreiheit, eine freie Presse, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschenrechte. Warum begünstigt ein demokratisches politisches System die Wirtschaftsentwicklung? Robert Dahl, Volkswirt an der Yale Universität, beschreibt die Verbindung folgendermaßen: Demokratische Systeme fördern die Erziehung und Ausbildung der Menschen; gebildete Erwerbstätige üben einen günstigen Einfluss auf Innovationen und Wirtschaftswachstum aus. Außerdem wird in demokratischen Ländern in der Regel die Rechtsstaatlichkeit stärker unterstützt; die Gerichte sind vergleichsweise unabhängig; die Eigentumsrechte sind relativ sicher; die Einhaltung von Verträgen wird effektiver durchgesetzt, und willkürliche Eingriffe der Regierung oder einzelner Politiker in das Wirtschaftsleben sind eher unwahrscheinlich. Letztendlich ist für eine moderne Wirtschaft Kommunikation äußerst wichtig, und in demokratischen Ländern unterliegt die Kommunikation nur geringen Beschränkungen.4
Abbildung 34-4 zeigt, dass die Freiheitsrechte zumeist mit einem hohen Durchschnittseinkommen Hand in Hand gehen. Die Verbindung zwischen beiden Faktoren ist offensichtlich: Die reichsten Länder haben auch 4 Siehe Dahl im Abschnitt „Weiterführende Literatur“ zu diesem Kapitel.
1015
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
10
USA
Polen Japan Frankreich 8 Indien
6
1972 Nigeria
2002
4
Spanien
Iran 2
Ägypten
Griechenland
China 0
0
5.000
10.000
15.000
20.000
25.000
30.000
35.000
40.000
Abbildung 34-4: Wirtschaftlicher Fortschritt und politische Freiheit, 1972 und 2002 In Ländern mit hohem Einkommen herrscht meistens die größte politische Freiheit, und sie verfügen über die meisten Bürgerrechte. Wenn es Ländern gelingt, ihr Einkommen zu erhöhen, dann folgen häufig, allerdings nicht immer, die politischen Freiheiten dieser Entwicklung auf dem Fuß. Man erkennt, dass während der letzten drei Jahrzehnte die Freiheiten insgesamt zugenommen haben. Quelle: Die Daten bezüglich der politischen und bürgerlichen Rechte stammen von Freedom House. Bei dem hier angewandten Index ist 0 der niedrigste und 10 der höchste Wert. Die Pro-Kopf-Einkommen für 2002 wurden von der Weltbank und der Economist Intelligence Unit erhoben und mittels der Kaufkraftparität bereinigt.
die meisten Freiheiten, während viele arme Länder mit Unterdrückung, Rede-, Versammlungs- und Presseeinschränkungen zu kämpfen haben. Es gibt allerdings auch bedeutende Ausnahmen, denn eine Marktwirtschaft ist weder notwendig noch hinreichend für eine Demokratie. Manche Länder an der Schwelle zwischen traditionellen Gesellschaftsformen und Kapitalismus durchleben erst eine Phase autoritärer Herrschaft – dies ließ sich während des letzten Jahrhunderts in den ostasiatischen Ländern Taiwan und Südkorea sowie in vielen lateinamerikanischen Staaten beobachten. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten erleben Länder gelegentlich auch eine gewisse „Demokratiemüdigkeit“ und erlauben starken Führerpersönlichkei-
ten, sich über demokratische Institutionen hinwegzusetzen. Wir sollten die wirtschaftlichen Freiheiten nicht falsch verstehen. Eine moderne Marktwirtschaft ist keine freizügige, anarchische Gesellschaft mit einem Schutzmann. Auch in diesem System müssen Untenehmen Steuern zahlen, sich an Gesundheits-, Sicherheitsund Umweltauflagen halten und Geschwindigkeitsbeschränkungen beachten. Am Ende unseres Überblicks über die Wirtschaft können wir uns vielleicht entspannen und über etwas nachdenken, das sich nie wissenschaftlich beweisen lassen wird. Unsere vorsichtig optimistische Interpretation der Wirtschaftsgeschichte kommt zu folgendem Resultat: Eine moderne Demokratie, die be-
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
hutsam voranschreitet und das in Jahrhunderten angesammelte Wissen klug nutzt, kann von beiden Welten das Beste haben. Sie kann die schlimmsten Mängel der Marktwirtschaft beheben und ohne allzu große Kosten Effizienz und Fairness fördern.
Teil 7
Gleichzeitig kann sie aber auch die kostbaren Schätze erhalten, die sich niemals im BIP niederschlagen werden: Redefreiheit, das Recht auf Veränderung sowie die Freiheit, so zu leben, wie wir möchten.
Zusammenfassung A. Die wirtschaftlichen Folgen der Staatsverschuldung 1.
2.
3.
4.
Budgets sind Instrumente, die von Staaten und Organisationen zur Planung und Überwachung ihrer Einnahmen und Ausgaben genutzt werden. Man spricht von einem Budgetüberschuss (oder -defizit), wenn die Staatseinnahmen höher (oder niedriger) sind als die Staatsausgaben. Einfluss auf das Budget nimmt die Fiskalpolitik, die über Staatsausgaben und Steuern entscheidet. Wirtschaftswissenschaftler teilen das tatsächliche Budget in seine strukturellen und konjunkturbedingten Komponenten auf. Das strukturelle Budget berechnet die Staatseinnahmen und -ausgaben für den Fall, dass die Wirtschaftsleistung der potenziellen Produktion entspricht. Das konjunkturbedingte Budget berücksichtigt die Auswirkungen von Konjunkturzyklen auf Steuereinnahmen, Ausgaben und das Defizit. Zur Beurteilung der Fiskalpolitik sollten wir genau auf das strukturelle Defizit achten; Änderungen des konjunkturbedingten Defizits sind das Ergebnis wirtschaftlicher Veränderungen, während ein strukturelles Defizit eine Ursache für wirtschaftliche Veränderungen ist. Die Staatsverschuldung stellt die kumulierten Schulden dar, die der Staat bei anderen hat. Sie ist die Summe früherer Defizite. Ein nützlicher Maßstab für die Höhe der Verschuldung ist die Verschuldungsquote, also das Verhältnis von Verschuldung zum BIP, das in den Vereinigten Staaten in Kriegszeiten meistens stieg und im Frieden wieder sank. Die achtziger Jahre stellen eine Ausnahme dar, denn die Verschuldungsquote stieg in dieser Zeit deutlich an. Für das Verständnis der Auswirkungen von Staatsdefiziten und -schulden ist es wichtig, zwischen kurzfristiger und langfristiger Analyse zu unterscheiden. Betrachten Sie dazu noch einmal den obigen Kasten „Ein erhellender
5.
6.
Blick auf das Defizit“ und verdeutlichen Sie sich, warum ein wachsendes Defizit die Produktion kurzfristig erhöhen kann, sie langfristig jedoch senkt. In dem Ausmaß, in dem wir vom Ausland für unseren Konsum Darlehen aufnehmen und die Nachwelt verpflichten, Zinsen und Tilgungszahlungen für diese externen Schulden zu übernehmen, werden unsere Nachkommen tatsächlich auf einen Teil ihres Konsums verzichten müssen, um unsere Schulden zu bedienen. Hinterlassen wir zukünftigen Generationen eine interne Verschuldung ohne Änderung des Kapitalstocks, wird das im Inland verschiedenartige Auswirkungen haben. Besteuern wir Peter, um Paula bezahlen zu können, oder besteuern wir Paula selbst, um sie bezahlen zu können, so kann dies zu diversen mikroökonomischen Verzerrungen in Bezug auf Produktivität und Effizienz führen. Man sollte jedoch nicht eine interne Verschuldung mit Schulden einem anderen Land gegenüber verwechseln. Das Wirtschaftswachstum kann sich verlangsamen, wenn die Staatsverschuldung zu einer Kapitalverschiebung führt. Dieses Syndrom tritt auf, wenn Menschen lieber Staatsschuldverschreibungen als Kapital oder private Vermögenswerte erwerben, wodurch der private Kapitalstock einer Wirtschaft sinkt. Langfristig kann eine vergleichsweise hohe Staatsverschuldung aufgrund der Kosten des externen Schuldendienstes, der Ineffizienzen, die durch höhere Steuern zur Zahlung der Schuldenzinsen entstehen, und der niedrigeren Kapitalbildung infolge der Kapitalverschiebung das Wachstum der potenziellen Produktionsleistung und des Konsums beeinträchtigen.
B. Stabilisierung der Wirtschaft 7.
Länder müssen sich bei der Festlegung ihrer Geld- und Fiskalpolitik mit zwei Aspekten befassen: der angemessenen Höhe der Gesamtnachfrage und der besten Mischung aus Geld-
Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
1017
und Fiskalpolitik. Diese Mischung ist einer der Bestimmungsfaktoren der Zusammensetzung des BIP. Der Wunsch nach mehr Investitionen erfordert einen Budgetüberschuss verbunden mit niedrigen Realzinssätzen. Nach der keynesianischen Revolution glaubten viele Wirtschaftswissenschaftler an die Möglichkeiten einer Stabilitätspolitik zur Dämpfung der Konjunkturzyklen. In der Realität hat sich die Fiskalpolitik jedoch als eher schwerfällig erwiesen, hauptsächlich aufgrund der Schwierigkeiten, in Inflationszeiten die Steuern zu erhöhen und die Ausgaben zu senken. Infolgedessen verlassen sich die Vereinigten Staaten heutzutage fast ausschließlich auf die Geldpolitik zur Stabilisierung der Wirtschaft. Sollten sich Regierungen an feste Regeln halten oder eine Wirtschaftspolitik nach eigenem Ermessen betreiben? Bei der Beantwortung dieser Frage spielen positive volkswirtschaftliche Überlegungen und normative Werte eine Rolle. Konservative sind häufig für feste Regeln, während sich Liberale eher für eine aktive Feinabstimmung der Wirtschaftspolitik zur Erreichung der jeweiligen Ziele aussprechen. Eher grundsätzlicher Natur ist die Frage, ob aktive Maßnahmen nach jeweiligem Ermessen die Wirtschaft eher stabilisieren oder destabilisieren. Wirtschaftswissenschaftler betonen häufig die Notwendigkeit glaubwürdiger Maßnahmen, unabhängig davon, ob diese Glaubwürdigkeit durch feste Regeln oder eine kluge
Führung erreicht wird. Eine neuere Mode ist die Festlegung von Inflationszielen, die mittels der Geldpolitik eingehalten werden sollen; darunter versteht man ein System mit flexiblen Regeln, das mittelfristig ein bestimmtes Inflationsziel verfolgt, während kurzfristig flexibel reagiert werden darf, falls irgendwelche plötzlichen Einwirkungen auf die Wirtschaft die Beibehaltung eines starren Inflationsziels zu kostspielig machen würden.
8.
9.
C. Die Aussichten für die Wirtschaft im neuen Jahrhundert 10. Denken Sie an den Ausspruch: „Produktivität ist nicht alles, aber langfristig betrachtet beinahe alles.“ Die Fähigkeit eines Landes, im Laufe der Zeit seinen Lebensstandard zu heben, hängt fast ausschließlich von seiner Fähigkeit ab, die Technologien und die Kapitalausstattung, die den Arbeitskräften zur Verfügung stehen, zu verbessern. 11. Zur Förderung des Wirtschaftswachstums gehört die Förderung von Technologie. Die Hauptaufgabe der Regierung besteht darin, freie Märkte zu sichern, verlässliche Rechte auf geistiges Eigentum zu schützen, einen lebhaften Wettbewerb zu fördern sowie die Grundlagenforschung und die technologische Entwicklung zu unterstützen.
Begriffe zur Wiederholung Die wirtschaftlichen Folgen der Staatsverschuldung Staatliches Budget Budgetdefizit, -überschuss, ausgeglichenes Budget Budget: tatsächliches strukturelles konjunkturbedingtes Kurzfristige Auswirkungen von Staatsausgaben und Steuern auf die Produktion Langfristige Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum: Interne oder externe Verschuldung Verzerrungen durch Besteuerung Kapitalverschiebung Verschuldungsquote
Stabilisierung Nachfragesteuerung Mischung aus Geld- und Fiskalpolitik Feste Regeln oder Entscheidungen nach Ermessen Feste Inflationsziele
Langfristiges Wachstum und Produktivität Erreichen der technologischen Grenzen oder Verschiebung dieser Grenzen Unternehmensgeist
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Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftspolitik
Teil 7
Weiterführende Literatur und Websites Weiterführende Literatur Das Krugman-Zitat stammt aus Paul Krugman, The Age of Diminished Expectations (MIT Press, Cambridge, Mass., 1990), S. 9. Die Quelle für Tabelle 34-3 ist Ralph C. Bryant, Peter Hooper und Gerald Holtham, „Consensus and Diversity in the Model Simulations“, in: Ralph Bryant u.a. (Hrsg.), Empirical Macroeconomics for Interdependent Economies (Brookings Institution, Washington, D.C., 1988). Das Zitat von Robert Dahl stammt aus On Democracy (Yale University Press, New Haven, 1998), S. 59. Deutschsprachige Literatur: Norbert Andel, „Der konjunkturneutrale Haushalt – ein Irrweg?“ in: FranzXaver Bea und Wolfgang Kitterer (Hrsg.), Finanzwissenschaft im Dienste der Wirtschaftspolitik (Mohr Siebeck, Tübingen, 1990), S. 377–395; Charles Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 5. Aufl. (Vahlen, München, 2003); Dietrich Dickertmann, Annemarie Leiendecker und Stefan Ronnecker, „Öffentliche Verschuldung: Das europäische Regelwerk“, in: WISU, Das Wirtschaftsstudium, Heft 4/2004; Toni Maniotis, „Kosten und Nutzen der Staatsverschuldung. Grundlagenpapier zur Schuldenbremse“, herausgegeben von der Eidgenössischen Finanzverwaltung, Dok.-Nr. ÖT/1999/3b (Bern, 1999); Ulrich Teichmann, Grundriss der Konjunkturpolitik. Wachstum in Stabilität als Ziel (Vahlen, München, 1997); Helmut Wagner, Stabilitätspolitik. Theoretische Grundlagen und institutionelle Alternativen (Oldenbourg, München, 2004).
Websites Informationen und Daten zur Fiskalpolitik, dem Staatsbudget und den Schulden werden regelmäßig von dem parteienunabhängigen Congressional Budget Office bereitgestellt, in dem professionelle Ökonomen arbeiten. Die jüngsten Entwicklungen kann man unter www.cbo.gov einsehen. Die Daten über länderspezifische politische Freiheit stammen von der Website des Freedom House, www.freedomhouse.org. Eine Übersicht über monetäre Disziplin findet sich in der Rede „Inflation Targeting,“ die das Mitglied der Federal Reserve Edward Gramlich im Januar 2000 hielt und die unter www.federalreserve.gov/ boarddocs/speeches/2000 verfügbar ist.
Übungen 1.
2.
Häufig werden Staatsverschuldung und Budgetdefizit verwechselt. Erläutern Sie die folgenden Aussagen: a. Ein Budgetdefizit führt zu wachsender Staatsverschuldung. b. Ein Rückgang des Budgetdefizits führt nicht zu einem Rückgang der Staatsverschuldung. c. Um die Staatsverschuldung zu senken, sind Budgetüberschüsse notwendig. d. Obwohl das Defizit in der Zeit von 1993 bis 1998 auf null zurückging, stieg die Staatsverschuldung in dieser Zeit trotzdem deutlich an. Können Versprechungen der Regierung im Zusammenhang mit der Staatsverschuldung einen Kapitalverschiebungseffekt bewirken? Würden sich also die Beschäftigten reicher fühlen, wenn der Staat ihnen für die Zukunft hohe Sozialleistungen verspräche? Würde dies
3.
4.
möglicherweise zu einer niedrigeren Sparquote führen? Könnte es zu negativen Auswirkungen auf den Kapitalstock kommen? Nutzen Sie Abbildung 34-2 zur Erläuterung Ihrer Argumentation. Beschreiben Sie die Auswirkungen der nachfolgend genannten Regierungsprogramme auf die Staatsverschuldung, den Kapitalstock des Landes und die reale Produktionsleistung, wenn das Geld dafür im Ausland geborgt und im Inland ausgegeben wird: a. die Bereitstellung von Kapital für Ölbohrungen, wobei das Öl exportiert werden soll (Mexiko tat dies in den siebziger Jahren); b. die Bereitstellung von Korn zur Ernährung der eigenen Bevölkerung (die Sowjetunion unternahm dies in den achtziger Jahren) Zeichnen Sie eine Grafik entsprechend Abbildung 34-3 und zeigen Sie darin:
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Kapitel 34 Wachstums- und Stabilitätspolitik
a.
5.
6.
7.
die Entwicklung von Konsum und Nettoexporten mit und ohne hohe Staatsverschuldung b. die Entwicklung des Konsums bei einem ausgeglichenen Budget und einem Finanzüberschuss der Regierung. Betrachten Sie noch einmal die Diskussion der beiden Senatoren im obigen Kasten „Ein erhellender Blick auf das Defizit“. Erläutern Sie, welcher Senator in den folgenden Situationen Recht hätte: a. Während der Großen Depression erhöht die Regierung die Verteidigungsausgaben. b. In den frühen sechziger Jahren, einer Zeit der Vollbeschäftigung, senkt die Regierung die Steuersätze. c. In der Vollbeschäftigungszeit während des Vietnamkrieges weigert sich die Regierung, die Steuersätze zu erhöhen. Welche Argumente sprechen für oder gegen die alljährliche strenge Einhaltung von Inflationszielen? Betrachten Sie insbesondere die Schwierigkeiten, nach einer gravierenden äußeren Einwirkung auf das Angebot, durch welche die Phillips-Kurve nach oben verschoben wird, an einem strikten Inflationsziel festzuhalten. Vergleichen Sie ein strenges mit einem flexiblen Inflationsziel, das über einen Fünfjahreszeitraum durchschnittlich erreicht werden soll. Politiker haben die unten erwähnten Maßnahmen vorgeschlagen, um während der letzten Jahre das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Beschreiben Sie für alle Vorschläge die qualitativen Auswirkungen auf die potenzielle Produktion und die Produktion pro Kopf der Bevölkerung. Geben Sie, so weit wie möglich, quantitative Schätzwerte für den Anstieg des Wachstums der potenziellen und der Pro-KopfProduktion während der nächsten zehn Jahre an.
a.
8.
Senkung des Budgetdefizits des Bundes (oder Erhöhung des Überschusses) um 2 Prozent des BIP, wodurch das Verhältnis der Investitionen zum BIP um den gleichen Betrag erhöht wird. b. Erhöhung der staatlichen F&E-Subventionen um 0,25 Prozent des BIP, unter der Annahme, dass diese Subventionen die privaten F&E-Ausgaben um den gleichen Betrag erhöhen werden und dass die soziale Rentabilität dieser Maßnahme viermal so hoch ist wie jene der privaten Investitionen. c. Senkung der Verteidigungsausgaben um 1 Prozent des BIP bei einem Multiplikator von zwei. d. Senkung der Anzahl der Einwanderer, sodass die Erwerbsbevölkerung um 5 Prozent zurückgeht. e. Erhöhung der Investitionen in Humankapital (Bildung und Ausbildung) um 1 Prozent des BIP. J.M. Keynes schrieb: „Wenn das Finanzministerium alte Flaschen mit Banknoten füllte, sie in nicht mehr genutzten Bergwerken vergrübe und es dem privaten Unternehmensgeist überließe, sie wieder auszugraben, bräuchte es keine Arbeitslosigkeit mehr zu geben, und das Realeinkommen der Volkswirtschaft würde wahrscheinlich beträchtlich über dem gegenwärtigen liegen.“ (The General Theory, S. 129). Erläutern Sie, warum die keynesianische Analyse der Nützlichkeiten von staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen während einer Depression durchaus zutreffen kann. Wie könnten eine ausgeklügelte Geld- oder Fiskalpolitik die gleiche Wirkung auf die Beschäftigung haben und gleichzeitig für mehr nützliche Waren und Dienstleistungen sorgen?
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A Abgeleitete Nachfrage (derived demand): Die Nachfrage nach einem Produktionsfaktor, die aus der Nachfrage nach dem Endprodukt entsteht (davon abgeleitet ist), das mit diesem Faktor hergestellt wird. Die Nachfrage nach Reifen ergibt sich beispielsweise aus der Nachfrage nach Autofahrten. Abnehmende Grenzerträge, Gesetz der (diminishing returns, law of): Das Gesetz besagt, dass die zusätzliche Produktionsleistung, die aufgrund der Erhöhung des Einsatzes eines Produktionsfaktors um jeweils eine Einheit erbracht werden kann, irgendwann abnehmen wird, wenn alle anderen Faktoren konstant gehalten werden. Man kann auch sagen, dass das Grenzprodukt des betreffenden Faktors von einem bestimmten Punkt an sinkt. Abnehmender Grenznutzen, Gesetz des (diminishing marginal utility, law of): Das Gesetz besagt, dass mit zunehmendem Konsum eines Produktes dessen Grenznutzen sinkt. Abnehmende Skalenerträge (decreasing returns to scale): Siehe Skalenerträge. Abschreibung (depreciation, capital consumption allowance): Der Rückgang im
Wert eines Vermögensgegenstandes. Sowohl in den Bilanzen der Unternehmen als auch in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist die Abschreibung der geschätzte Geldwert des Ausmaßes, in dem Kapital während des betrachteten Zeitraums abgenutzt oder verbraucht wurde. Absoluter Vorteil (absolute advantage): Darunter versteht man die Fähigkeit von Land A, eine Ware effizienter herzustellen als Land B (das heißt, pro Einheit Produktionsfaktor wird eine größere Produktionsleistung erzielt). Das Vorliegen eines solchen absoluten Vorteils bedeutet nicht notwendigerweise, dass A diese Ware erfolgreich nach B exportieren kann. Land B kann durchaus einen komparativen Vorteil haben. Abwärts geneigte Nachfragekurve, Gesetz der (downward-sloping demand, law of): Dieses Gesetz besagt, dass beim Sinken des Preises einer Ware die Konsumenten mehr von dieser Ware kaufen werden, vorausgesetzt, alle anderen Variablen bleiben gleich. Abwertung einer Währung (devaluation): Ein Rückgang des offiziellen Preises der Währung eines Landes, ausgedrückt in Währungen anderer Länder oder in Gold. Als der offizielle Preis des US-Dollars in
1 Fettgedruckte Ausdrücke im Text haben einen eigenen Glossareintrag. Detaillierte Informationen zu einzelnen Begriffen bietet natürlich das Buch selbst. Ausführlichere Definitionen der amerikanischen Originalbegriffe finden sich in: Douglas Greenwald (Hrsg.), The McGraw-Hill Encyclopedia of Economics (McGraw-Hill, New York, 1994); David W. Pearce, Macmillan Dictionary of Modern Economics (Macmillan, London, 1992); sowie John Eatwell, Murray Milgate und Peter Newman, The New Palgrave: A Dictionary of Economics, in vier Bänden (Macmillan, London, 1987). Eine Fülle nützlicher Artikel (zu 25.000 Stichwörtern) in deutscher Sprache bietet das mehrbändige Gabler Volkswirtschaftslexikon, 4. Aufl. (Gabler, Wiesbaden, 1997). Etwas weniger umfangreich, aber ebenfalls nützlich ist Artur Wolls Wirtschaftslexikon, 9. Aufl. (Oldenbourg, München, 1999).
1022 Bezug auf Gold 1971 gesenkt wurde, bedeutete dies eine Abwertung des US-Dollars. Das Gegenteil einer Abwertung ist eine Aufwertung, die eintritt, wenn ein Land den offiziellen Wechselkurs seiner Währung gegenüber Gold oder anderen Währungen erhöht. Abzinsung (zukünftigen Einkommens) (discounting): Damit bezeichnet man den Prozess, mit dem der Gegenwartswert von zukünftigem Einkommen berechnet wird. Man nimmt dafür den zukünftigen Geldbetrag und reduziert ihn mittels eines Abzinsungsfaktors, der den angemessenen Zinssatz widerspiegelt. Wenn Ihnen beispielsweise jemand die Zahlung von US-$ 121 in zwei Jahren verspricht und der angemessene Zinssatz oder die angemessene Abzinsung jährlich 10 Prozent beträgt, dann lässt sich der Gegenwartswert durch Abzinsung der US-$ 121 mittels des Abzinsungsfaktors (1,10)2 berechnen. Ein anderer Ausdruck für Abzinsungsfaktor ist Abzinsungssatz. Abzinsungssatz (discount rate): Der Faktor, der verwendet wird, um den Gegenwartswert eines Vermögensgegenstandes zu berechnen. Adaptive Erwartungsmodelle (adaptive expectations): Siehe Erwartungsmodelle. Administrierte Wechselkurse (managed exchange rate): Dies ist das heutzutage vorherrschende Wechselkurssystem. In einem solchen System greift ein Staat gelegentlich ein, um die eigene Währung zu stabilisieren, aber es gibt keine festen oder offiziell verkündeten Kursparitäten. Aktien, Stamm- (stock, common): Siehe Stammaktien. Aktienbörse (stock market): Ein organisierter Markt, auf dem Stammaktien gehandelt werden. Die größte Aktienbörse in den Vereinigten Staaten ist die New York Stock Exchange, an der die Aktien der größten US-amerikanischen Unterneh-
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men gehandelt werden. Die umsatzstärkste Börse Europas ist die London Stock Exchange. Aktivum (asset): Siehe Vermögenswert. Alles-oder-Nichts-Spiele (winner-take-all games): Bezeichnet Situationen, in denen die Auszahlungen vom relativen Wert/Verdienst des Einzelnen im Vergleich zu seinen Wettbewerbern/Mitspielern bestimmt werden, nicht von seinem absoluten Wert/ Verdienst. Bei derartigen Wettbewerben erhalten die besten Konkurrenten zumeist den Löwenanteil oder die Gesamtheit der Zahlungen. Allgemeines (totales) Gleichgewicht, Analyse des (general equilibrium analysis): Analysiert wird der Gleichgewichtszustand für die Wirtschaft als Ganzes, bei dem die Märkte für sämtliche Waren und Dienstleistungen gleichzeitig im Gleichgewicht sind. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Analyse des partiellen Gleichgewicht auf die Untersuchung eines einzelnen Marktes. Allokationseffizienz (allocative efficiency): Ist in einer Situation gegeben, in der weder Umorganisation noch Handel den Nutzen oder die Zufriedenheit eines Einzelnen erhöhen könnten, ohne den Nutzen oder die Zufriedenheit eines anderen Individuums zu schmälern. Unter bestimmten Bedingungen kann vollkommener Wettbewerb zu Allokationseffizienz, die auch als Pareto-Effizienz bezeichnet wird, führen. Angebotsänderung im Gegensatz zur Änderung der angebotenen Menge (change in supply): Man trifft beim Angebot die gleiche Unterscheidung wie bei der Nachfrage, vergleiche daher Nachfrageänderung im Gegensatz zur Änderung der nachgefragten Menge. Angebotskurve oder Angebotsfunktion (supply curve/schedule): Diese Funktion zeigt die Menge einer Ware, die Anbieter in einem bestimmten Markt zu den unter-
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schiedlichsten Preisen verkaufen möchten, wenn alle anderen Variablen konstant sind. Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik (supply-side economics): Eine derartige Politik bemüht sich, Maßnahmen zur Beeinflussung des Gesamtangebots oder der potenziellen Produktionsleistung zu ergreifen. Gemäß diesem Ansatz senken hohe Grenzsteuersätze für Arbeits- und Kapitaleinkommen den Anreiz zu arbeiten und zu sparen. Angebotsschock (supply shock): In der Makroökonomie spricht man von Angebotsschock, wenn eine plötzliche Änderung der Produktionskosten oder der Produktivität schwerwiegende und unerwartete Auswirkungen auf das Gesamtangebot hat. Infolge eines solchen Angebotsschocks kommt es zu unerwarteten Änderungen des Preisniveaus und des realen BIP. Äquivalenzprinzip (benefit principle): Siehe Nutzenprinzip. Arbeitsangebot (labor supply): Die Anzahl der Beschäftigten (oder, allgemeiner ausgedrückt, die Anzahl an Beschäftigtenstunden), die in einer Wirtschaft verfügbar sind. Die wichtigsten Bestimmungsfaktoren des Arbeitsangebots sind die Größe der Bevölkerung, die Reallöhne und gesellschaftliche Traditionen. Arbeitslose (unemployed): In den deutschsprachigen Ländern Menschen, die bei den zuständigen Behörden als arbeitslos gemeldet sind. In den Vereinigten Staaten alle jene Erwerbsfähige, die gerade Arbeit suchen oder darauf warten, zu einer Arbeitsstelle zurückkehren zu können.
1023 freiwilliger Arbeitslosigkeit, wenn qualifizierte Arbeitskräfte bei den vorherrschenden Löhnen und Gehältern zur Arbeit bereit sind, aber keine Stelle finden. (2) Laut der offiziellen Definition des U.S. Bureau of Labor Statistics gilt jemand als arbeitslos, wenn er oder sie (a) nicht arbeitet und (b) entweder darauf wartet, nach einer Phase der Nichtbeschäftigung zum Arbeitsplatz zurückzukehren, oder seit mindestens vier Wochen aktiv eine Stelle sucht: Siehe auch friktionelle Arbeitslosigkeit und strukturelle Arbeitslosigkeit. Arbeitsproduktivität (labor productivity): Siehe Produktivität. Arbeitsteilung (division of labor): Eine Methode, mit der die Produktion auf solche Art und Weise organisiert wird, dass sich jeder Arbeiter auf einen Teil des Produktionsprozesses spezialisiert. Arbeitsteilung führt zu einer höheren Gesamtproduktion, weil sich die Beschäftigten nun stärker spezialisieren und mehr Fertigkeiten im Rahmen ihrer bestimmten Aufgabe entwickeln können, aber auch, weil Spezialmaschinen eingesetzt werden können, um genau definierte kleine Arbeitsschritte auszuführen. Arbeitswertlehre (labor theory of value): Die häufig mit Karl Marx in Zusammenhang gebrachte Auffassung, dass jedes Gut allein danach bewertet werden sollte, wie viel Arbeit für seine Herstellung erforderlich war.
Arbeitslosenquote (unemployment rate): Der Prozentsatz der Erwerbstätigen, die keine Arbeit haben.
Arbitrage (arbitrage): Der Kauf einer Ware oder eines Vermögenswertes auf einem Markt zum sofortigen Wiederverkauf auf einem anderen Markt, um aufgrund des Preisunterschieds einen Gewinn erzielen zu können. Die Arbitrage trägt entscheidend zur Beseitigung von Preisunterschieden bei und sorgt dadurch für ein effizienteres Funktionieren von Märkten.
Arbeitslosigkeit (unemployment): (1) In der Volkswirtschaftslehre spricht man von un-
Armut (poverty): Armut ist die unzureichende Mittelausstattung zur Befriedigung der
1024 lebenswichtigen Grundbedürfnisse. Sie wird häufig durch ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze verursacht, das den Erwerb aller lebensnotwendigen Ressourcen nicht mehr zulässt. Aufwertung einer Währung (revaluation): Ein Anstieg des offiziellen Wechselkurses einer Währung. Siehe auch Abwertung. Ausgabenmultiplikator (expenditure multiplier): Siehe Multiplikator. Ausgeglichenes Budget (balanced budget): Siehe Budget, ausgeglichenes. Ausschlussprinzip (exclusion principle): Ein Kriterium, anhand dessen man zwischen öffentlichen und privaten Gütern unterscheidet. Wenn ein Produzent eine Ware an den Konsumenten A verkauft und die Konsumenten B, C, D usw. leicht daran hindern kann, einen Vorteil aus dieser Ware zu ziehen, kommt das Ausschlussprinzip zum Tragen, und es handelt sich um ein privates Gut. Wenn es, wie bei der staatlichen Gesundheitsvorsorge oder Verteidigung, nicht oder nur schwer möglich ist, Menschen vom Nutzen der produzierten Güter auszuschließen, handelt es sich um öffentliche Güter. Auszahlungsmatrix (payoff table): Diese Matrix wird in der Spieltheorie zur Darstellung der Strategien und Gewinne oder Nutzen in einem Spiel mit zwei oder mehreren Spielern verwendet. Automatische (oder eingebaute) Stabilisatoren (automatic stabilizers): Eine bestimmte Eigenschaft einer Steuer oder eines staatlichen Ausgabensystems, die Einkommensveränderungen im privaten Sektor abfedert. Beispiele hierfür sind die Arbeitslosenversicherung sowie die progressive Lohn- und Einkommensteuer.
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B Bankreserven (bank reserves): Siehe Mindestreserven der Banken. Beschäftigte (employed): Laut der offiziellen Arbeitsmarktstatistik der USA gelten Personen als beschäftigt, wenn sie einer bezahlten Arbeit nachgehen oder in einem Arbeitsverhältnis stehen, aber wegen Krankheit, Streik oder Urlaub gerade nicht arbeiten. Beschränkte Haftung (limited liability): Die Beschränkung der Verluste eines Firmenbesitzers auf die Kapitalsumme, die er zum Unternehmen beigesteuert hat. Die beschränkte Haftung war ein bedeutender Auslöser für die Entstehung von Großunternehmen. Im Gegensatz dazu haften die Teilhaber in Personengesellschaften sowie Einzelunternehmer in der Regel voll und ganz für die Schulden ihrer Unternehmen. Besitzrechte (property rights): Diese Rechte definieren die Möglichkeit von Einzelpersonen oder Unternehmen, Kapitalgüter und sonstigen Besitz in einer Marktwirtschaft zu besitzen, zu kaufen, zu verkaufen und zu nutzen. Bestandsgröße (stock): Siehe Fluss- oder Bestandsgröße. Betriebsminimum (shutdown price/point/ rule): In der Unternehmenstheorie ist das Betriebsminimum erreicht, wenn der Marktpreis gerade ausreicht, um die durchschnittlichen variablen Kosten zu decken. Die Verluste des Unternehmens in einer Periode entsprechen dann den Fixkosten; es kann genauso gut schließen. Bewegung zur Einführung einer einzigen Steuer (single tax movement): Diese Bewegung wurde im 19. Jahrhundert von Henry George initiiert, der die Auffassung vertrat, die anhaltende Armut trotz des stetigen wirtschaftlichen Fortschritts sei auf die Knappheit von Land und die hohen Grundrenten zurückzuführen, die Land-
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besitzer erhielten. Seiner Meinung nach sollte daher nur eine einzige Steuer auf die durch den Grundbesitz verdiente Grundrente erhoben werden. Bilanz (balance sheet): Eine Übersicht über die finanzielle Situation eines Unternehmens zu einem bestimmten Zeitpunkt, in der die Aktiva auf einer Seite und die Passiva (Verbindlichkeiten) sowie der Nettowert des Unternehmens auf der anderen verzeichnet sind. Jeder Posten wird mit seinem tatsächlichen oder geschätzten Geldwert angegeben. Die jeweiligen Summen der beiden Seiten müssen identisch sein, denn der Nettowert ist definiert als Aktiva abzüglich der Passiva. BIP-Deflator (GDP deflator): Der Preis des BIP, das heißt der Preisindex, der den Durchschnittspreis der Komponenten des BIP relativ zu einem Basisjahr misst. Branche (industry): Die Gesamtheit von Unternehmen, die gleiche oder ähnliche Produkte herstellen. Bruttoinlandsprodukt (BIP), nominales (gross domestic product, nominal): Der Wert der Gesamtproduktionsleistung eines Landes innerhalb eines bestimmten Jahres zu jeweiligen Marktpreisen. Bruttoinlandsprodukt (BIP), reales (gross domestic product, real): Die Menge an Gütern und Dienstleistungen, die in einem Land während eines Jahres produziert werden. Das reale BIP entspricht dem nominalen BIP, korrigiert um den Preisanstieg. Bruttosozialprodukt (BSP), reales (gross national product, real): Das inflationsbereinigte nominale BSP, das heißt, das reale BSP entspricht dem nominalen BSP dividiert durch den BSP-Deflator. Buchgeld (bank money): Geld, das von den Banken geschaffen wird, insbesondere aus den Einlagen auf Girokonten (Bestandteil
von M1), und das durch die mehrfache Ausdehnung der Bankreserven entsteht. Budget (budget): Eine Aufstellung von geplanten Ausgaben und erwarteten Einnahmen, normalerweise für ein Jahr. Im Fall des Staates entsprechen die Einnahmen dem Steueraufkommen. Siehe auch tatsächliches, konjunkturbedingtes und strukturelles Budget. Budget, ausgeglichenes (budget, balanced): Ein Budget, in dem die Gesamtausgaben genau den Gesamteinnahmen entsprechen (unter Vernachlässigung möglicher Einnahmen aufgrund von Kreditaufnahme). Budgetbeschränkung (budget constraint): Siehe Budgetgrenze. Budgetdefizit (budget deficit): Im Fall des Staates der Betrag der Gesamtausgaben, der über die Gesamteinnahmen hinausgeht, wobei die Kredite nicht bei den Einnahmen berücksichtigt werden. Diese Differenz (das Defizit) wird üblicherweise durch Kreditaufnahme finanziert. Budgetgrenze (budget line): Die Grenze, die anzeigt, wie viele Waren ein Konsument mit einem gegebenen Einkommen zu gegebenen Preisen kaufen kann. Wird auch als Budgetobergrenze oder -beschränkung bezeichnet. Budgetüberschuss (budget surplus): Der Überschuss der Staatseinnahmen über die Staatsausgaben; das Gegenteil eines Budgetdefizits.
C Ceteris-paribus-Klausel (other things constant): Dieser Ausdruck besagt, dass einer der betrachteten Faktoren verändert wird, während alle anderen Faktoren unverändert, das heißt konstant bleiben. Beispielsweise zeigt eine nach unten geneigte Nachfragekurve, dass die nachgefragte Menge
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bei steigendem Preis abnehmen wird, solange alle anderen Variablen (beispielsweise das Einkommen) konstant sind. Chicago School (Chicago School of Economics): Eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern (die prominentesten sind wohl Henry Simons, F.A. von Hayek und Milton Friedman), die der Überzeugung sind/waren, dass Wettbewerbsmärkte ohne staatliche Interventionen zur größtmöglichen wirtschaftlichen Effizienz führen. (C + I)-, (C + I + G)-, (C + I + G + X)Formeln: Dies sind Formeln, welche die geplante oder gewünschte Höhe der Gesamtnachfrage für jedes BIP-Niveau anzeigen, oder die grafische Darstellung dieser Formeln. Die Bestandteile sind Konsum (C), Investitionen (I), Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen (G) sowie die Nettoexporte (X).
D Defizitfinanzierung (deficit spending): Auch als „öffentliche Verschuldung durch Anleiheaufnahme“ bezeichnet. Die Staatsausgaben für Waren, Dienstleistungen und Transferzahlungen übersteigen hier die Steuer- und sonstigen Einnahmen, und die Finanzlücke muss durch Kreditaufnahme finanziert werden. Deflationieren (von volkswirtschaftlichen Daten) (deflating): Der Prozess der Umwandlung „nominaler“ Variablen in „reale“ Variablen. Man erzielt eine Deflationierung, indem man die Variable in aktuellen Preisen durch einen Preisindex dividiert. Deflation (deflation): Ein allgemeiner Rückgang des Preisniveaus. Demographie (demography): Die Untersuchung des Bevölkerungsverhaltens.
Depression (depression): Ein lang anhaltender Zeitraum, der durch hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Produktion und Investitionen, mangelndes Vertrauen der Unternehmer in die Wirtschaft, sinkende Preise und zahlreiche Unternehmenszusammenbrüche gekennzeichnet ist. Eine mildere Form des Wirtschaftsabschwungs bezeichnet man als Rezession, in der man viele Eigenschaften der Depression, allerdings weniger deutlich ausgeprägt, vorfindet. Devisen (foreign exchange): Die Währungen (oder sonstige Finanztitel) anderer Länder, die es einem Land erlauben, seine Auslandsschulden zu begleichen. Devisenmarkt (foreign exchange market): Der Markt, auf dem die Währungen verschiedener Länder gehandelt werden. Direkte Steuern (direct taxes): Steuern, die direkt von Einzelpersonen oder Unternehmen erhoben werden, einschließlich der Einkommenssteuer, der Lohnsteuer und der Kapitalertragssteuer. Im Gegensatz zu den direkten Steuern stehen die indirekten Steuern, die auf Waren und Dienstleistungen erhoben werden und damit die Menschen nur indirekt betreffen, beispielsweise die Mehrwertsteuer und die Vermögenssteuer, Brandweinsteuer, Benzin- und Dieselsteuer. Diskontsatz (discount rate): Der Zinssatz, den die Zentralbank für ein Darlehen zugrunde legt, das sie einer Bank gewährt. Diskriminierung (discrimination): Führt zu Einkommensunterschieden aufgrund von persönlichen Eigenschaften, die nichts mit der Arbeitsleistung zu tun haben, vor allem Rasse, Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, sexuelle Neigungen oder Religionszugehörigkeit. Dominantes Gleichgewicht (dominant equilibrium): Siehe Dominante Strategie.
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Dominante Strategie (dominant strategy): In der Spieltheorie die Bezeichnung für eine Situation, in der ein Spieler über eine beste Strategie verfügt, unabhängig davon, welche Strategie die anderen Spieler verfolgen. Wenn alle Spieler über eine dominante Strategie verfügen, das heißt jeder Spieler eine optimale Strategieentscheidung trifft, nennt man das Ergebnis ein dominantes Gleichgewicht. Duopol (duopoly): Eine Marktsituation, in der es nur zwei Anbieter gibt. (Siehe auch Oligopol.) Duopolistisches Preisspiel (duopoly price game): Eine Situation in der Spieltheorie, in der zwei Unternehmen den Markt beliefern, die entscheiden müssen, ob sie sich auf einen Preiskrieg einlassen wollen, indem sie die Preise des jeweils anderen unterbieten. Durchschnittliche Fixkosten (average fixed cost): Siehe Kosten, durchschnittliche FixDurchschnittlicher Steuersatz (average tax rate): Die gesamten Steuern dividiert durch das Gesamteinkommen; auch als tatsächlicher Steuersatz bezeichnet. Durchschnittseinnahmen (average revenue): Die Gesamteinnahmen dividiert durch die gesamten verkauften Einheiten, mit anderen Worten: die Einnahmen pro Einheit. Die Durchschnittseinnahmen entsprechen üblicherweise dem Preis. Durchschnittskosten (average cost): Siehe Kosten, durchschnittliche. Durchschnittskostenkurve, kurzfristige (average cost curve, short-run): Die grafische Darstellung der durchschnittlichen Mindestkosten der Herstellung einer Ware bei jedem Produktionsniveau, wenn alle anderen Faktoren (Technik, Fabrikanlagen, Faktorkosten) gleich bleiben. Durchschnittskostenkurve, langfristige (average cost curve, long-run): Die grafische Darstellung der durchschnittlichen Min-
destkosten der Herstellung einer Ware bei jedem Produktionsniveau, wenn alle anderen Faktoren (Technik, Faktorkosten) gleich bleiben, der Produzent jedoch die Möglichkeit hat, die optimale Größe der Fabrikanlagen zu wählen. Durchschnittsprodukt (average product): Das Gesamtprodukt oder die gesamte Produktion dividiert durch die Menge eines der Produktionsfaktoren. Das Durchschnittsprodukt der Arbeit ist daher definiert als Gesamtproduktion dividiert durch die zur Produktion notwendige Arbeitsmenge. Entsprechendes gilt für die anderen Produktionsfaktoren.
E Effektivsteuersatz (effective tax rate): Das prozentuale Verhältnis der insgesamt gezahlten Steuern zum Gesamteinkommen oder einer anderen verwendeten Steuergrundlage; auch als Durchschnittssteuersatz bekannt. Effizienter Markt (efficient market): Ein Markt ist dann effizient, wenn die Marktteilnehmer neue Informationen schnell erhalten, verstehen und bei der Bildung des Marktpreises berücksichtigen. Die Theorie der Kapitelmarkteffizienz besagt, dass alle verfügbaren Informationen bereits im Preis von Aktien oder sonstigen Vermögenswerten berücksichtigt sind. Effizienz (efficiency): Die Abwesenheit von Verschwendung oder die Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen auf eine Weise, dass mit den vorhandenen Faktoren und der bestehenden Technologie das größtmögliche Maß an Zufriedenheit erreicht wird. Ein kürzerer Ausdruck für Allokationseffizienz. Effizienzlohntheorie (efficiency-wage theory): Laut dieser Theorie führen höhere Löhne zu höherer Produktivität. Das liegt daran, dass Beschäftigte mit höheren Löh-
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nen oder Gehältern gesünder und motivierter sind und weniger häufig den Arbeitsplatz wechseln.
Einkommens-Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (income velocity of money): Siehe Umlaufgeschwindigkeit des Geldes.
Eingeschränkte Reservehaltung (fractionalreserve banking): Eine Regelung im modernen Bankwesen, durch die Finanzinstitute per Gesetz zur Haltung eines bestimmten Bruchteils ihrer Gesamteinlagen als Einlagen bei der Zentralbank (oder im eigenen Tresor) verpflichtet sind.
Einzelunternehmen (proprietorship, individual): Ein Unternehmen, das einer einzelnen Person gehört und von ihr betrieben wird.
Einkommen (income): Der Fluss von Löhnen, Gehältern, Zins- und Dividendenzahlungen sowie sonstigen Einnahmen, der einer Einzelperson oder einem ganzen Land während eines bestimmten Zeitraums (meistens ein Jahr) zugeht. Einkommenseffekt (einer Preisänderung) (income effect): Die Änderung der nachgefragten Menge einer Ware, die dadurch entsteht, dass die Änderung ihres Preises Auswirkungen auf das Realeinkommen des Konsumenten hat. Dadurch wird der Substitutionseffekt der Preisänderung noch verstärkt. Einkommenselastizität der Nachfrage (income elasticity of demand): Die Nachfrage nach jedem beliebigen Gut wird nicht nur vom Preis dieses Gutes beeinflusst, sondern auch vom Einkommen der Käufer. Die Einkommenselastizität misst diese Reaktion. Genauer gesagt handelt es sich dabei um die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge dividiert durch die prozentuale Einkommensänderung (Siehe hierzu auch Preiselastizität der Nachfrage). Einkommenspolitik (incomes policy): Eine staatliche Politik – die häufig in Kriegszeiten verfolgt wird –, die zur Eindämmung der Inflation direkt versucht, Lohn- und Preisänderungen zu beschränken. Es kann sich dabei um einfache Richtlinien für die Lohn- und Preisfestsetzung handeln, aber auch um direkte gesetzliche Kontrollen von Löhnen, Gehältern und Preisen.
Elastizität (elasticity): Dieser Begriff ist in den Wirtschaftswissenschaften weit verbreitet und bezeichnet die Reaktionsfähigkeit einer Variablen auf Änderungen einer anderen. Die Elastizität von X in Bezug auf Y bezeichnet die prozentuale Änderung von X bei einer einprozentigen Änderung von Y. Besonders wichtige Beispiele hierfür sind die Preiselastizität der Nachfrage und die Preiselastizität des Angebots. Endprodukt (final good): Eine Ware, die für den Endverbrauch hergestellt wurde und nicht für den Wiederverkauf oder zur Nutzung als Zwischenprodukt in der Herstellung (Vergleiche dazu Zwischenprodukt). Entsparen (negatives Sparen) (dissaving): Negatives Sparen bedeutet, dass während eines gewissen Zeitraums mehr als das für diesen Zeitraum verfügbare Einkommen für den Konsum ausgegeben wird (die Lücke wird durch Kreditaufnahme oder den Abbau früherer Ersparnisse finanziert). Entwicklungsland (developing country): Anderer Ausdruck für unterentwickeltes Land. Erfindung (invention): Die Schaffung eines neuen Produktes oder die Entdeckung einer neuen Produktionstechnik (im Unterschied zur Innovation). Erneuerbare Ressourcen (renewable resources): Natürliche Ressourcen (wie Ackerland), deren Nutzbarkeit regelmäßig wiederhergestellt wird und die, bei entsprechender Behandlung und Pflege, unendlich lange zur Verfügung stehen.
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Ersparnisse (personal saving): Der Teil des Einkommens, der nicht konsumiert wird, oder anders ausgedrückt: die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen und Konsum. Ertrag (yield): Ein anderer Ausdruck für Zinssatz oder Rendite einer Anlage. Erwartungen (expectations): Ansichten oder Meinungen über unbekannte Variablen (beispielsweise zukünftige Zinssätze, Preise oder Steuersätze). Man spricht von rationalen Erwartungen, wenn diese nicht systematisch falsch (oder verzerrt/voreingenommen) sind und alle verfügbaren Informationen genutzt werden. Erwartungen werden als adaptiv bezeichnet, wenn die Menschen ihre Erwartungen aufgrund bisheriger Erfahrungen bilden. Erweiterte Geldmenge M2 (broad money): Eine Geldmengengröße, die sowohl Transaktionsgeld (M1) als auch Spar- und ähnliche Guthaben bei Banken umfasst, die eng verwandte Substitute für Transaktionsgeld sind. Erwerbstätige (labor force): In den offiziellen Statistiken der USA Menschen im Alter von mindestens 16 Jahren, die entweder eine Stelle haben oder arbeitslos sind. Erwerbsquote (labor force participation rate): Der Anteil der Erwerbstätigen an der gesamten Bevölkerung im Alter von 16 Jahren und darüber. Erzeugerpreisindex (producer price index): Der Preisindex für die auf Großhandelsebene verkauften Waren (beispielsweise Stahl, Weizen, Öl). Exogene gegenüber endogenen (induzierten) Variablen (exogenous vs. induced variables): Exogene Variablen sind diejenigen, die von Umständen und Verhältnissen außerhalb des Wirtschaftsgeschehens bestimmt werden. Das Gegenteil sind endogene (induzierte) Variablen, die innerhalb des Wirtschaftsgeschehens bestimmt wer-
1029 den. Wetter- und Klimaveränderungen sind exogen; Konsumänderungen sind dagegen häufig auf Einkommensänderungen zurückzuführen. Exporte (exports): Waren oder Dienstleistungen, die im Inland produziert und an ein anderes Land verkauft werden. Dazu gehören alle Arten von Waren (beispielsweise Autos), Dienstleistungen (beispielsweise Transportdienste) sowie Zinszahlungen für Darlehen und Investitionen. Bei Importen handelt es sich um Bewegungen in umgekehrter Richtung – aus dem Ausland ins Inland. Externalitäten (externalities): Aktivitäten, durch die andere besser oder schlechter gestellt werden, ohne dass diese anderen für die Aktivitäten zahlen oder für den Schaden kompensiert werden. Es kommt zu Externalitäten, wenn die privaten Kosten beziehungsweise der private Nutzen nicht den sozialen Kosten oder dem sozialen Nutzen entsprechen. Die beiden Hauptkategorien sind externe Zusatzkosten und externer Zusatznutzen. Externe Variablen (external variables): Siehe Exogene Variablen. Externe Zusatzkosten (external diseconomies): Entstehen in Situationen, in denen Produktion oder Konsum Drittparteien Kosten verursachen, für die sie nicht entschädigt werden. Stahlwerke, die ihre Abgase in die Luft blasen, schädigen Besitz in ihrer Nachbarschaft und die Gesundheit der Menschen, aber die so Geschädigten werden hierfür nicht bezahlt. Die Umweltverschmutzung verursacht externe Zusatzkosten. Externer Zusatznutzen (external economies): Entsteht in Situationen, in denen Produktion oder Konsum Drittparteien positive Erträge bringt, für die sie nicht bezahlen müssen. Ein Unternehmen, das einen Wachmann einstellt, schreckt in der ganzen Nachbarschaft Diebe ab und bietet
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damit in seinem Umfeld einen Sicherheitsdienst. Externe Zusatznutzen und -kosten bezeichnet man zusammen auch häufig als Externalitäten (externe Effekte).
F Federal Reserve System (Federal Reserve System): Dies ist der Name für die Zentralbank der Vereinigten Staaten, die aus zwölf regionalen Federal Reserve Banks besteht. An ihrer Spitze steht der Verwaltungsrat (Board of Governors). Feste Wechselkurse: Siehe Wechselkurs. Festverzinsliches Wertpapier (bond): Ein verzinsliches Papier, das der Staat oder ein Unternehmen ausgibt und das mit dem Versprechen verbunden ist, eine Geldsumme (das eingezahlte Kapital) zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt mit Zinsen zurückzuzahlen. Finanzanlagen (financial assets): Geldforderungen oder -verpflichtungen einer Partei einer anderen gegenüber. Beispiele sind Schuldverschreibungen, Hypotheken, Bankdarlehen und Wertpapiere. Finanzierung (finance): Der Prozess, durch den Wirtschaftssubjekte voneinander Geld borgen oder es an einander ausleihen, um es zu sparen oder auszugeben. Finanzmärkte (financial markets): Märkte, auf denen Finanztitel wie beispielsweise Aktien oder festverzinsliche Wertpapiere gehandelt werden. Finanzmittler (financial intermediaries): Institutionen, die Finanzdienstleistungen und -produkte anbieten. Dazu gehören Geldinstitute, bei denen man Giro- und Sparkonten unterhalten kann, aber auch Investmentfonds, Börsenmakler, Versicherungen oder Rentenfonds. Finanzsystem (financial system): Die Märkte, Unternehmen und sonstigen Institutionen,
die Finanzentscheidungen von Haushalten, Unternehmen, Regierungen und dem Ausland in die Tat umsetzen. Wichtige Bestandteile des Finanzsystems sind der Geldmarkt, die Märkte für festverzinsliche Anlagen, beispielsweise Schuldverschreibungen oder Hypotheken, Aktienmärkte, auf denen man sich an Unternehmen beteiligen kann, sowie Devisenmärkte, auf denen die Währungen unterschiedlicher Länder gehandelt werden. Finanzwirtschaft (financial economics): Der Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der untersucht, wie rationale Investoren ihre Mittel investieren sollten, um ihre Ziele auf bestmögliche Weise zu erreichen. Fiskalpolitik (fiscal policy): Das Programm einer Regierung im Hinblick auf (1) den Kauf von Waren und Dienstleistungen sowie Transferzahlungen und (2) Art und Umfang der Steuern. Fixkosten (fixed cost): Siehe Kosten, fixe. Flexible (frei schwankende) Wechselkurse (flexible exchange rates): Ein System der Wechselkurse zwischen unterschiedlichen Währungen, bei dem der Kurs hauptsächlich durch private Marktkräfte bestimmt wird (das heißt durch Angebot und Nachfrage), ohne dass Regierungen bestimmte Kurse festsetzen und dann stützen. Wenn die öffentliche Hand vollkommen auf Eingriffe in die Kursbildung verzichtet, spricht man von reinen flexiblen Wechselkursen. Fluss von Finanzmitteln (flow of funds): Hiermit wird erfasst, wie Geld und andere Finanztitel durch eine Volkswirtschaft fließen. Fluss- oder Bestandsgröße (flow vs. stock): Eine Flussgröße beinhaltet eine Zeitdimension; sie verändert sich im Zeitverlauf (wie ein fließender Wasserstrom). Eine Bestandsgröße misst eine bestimmte Menge zu einem bestimmten Zeitpunkt (das Wasser in einem See). Einkommen wird in Geldeinheiten pro Jahr ausgedrückt und
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stellt somit eine Flussgröße dar. Das Vermögen im Dezember 2005 ist eine Bestandsgröße. Frei schwankende Wechselkurse (free floating exchange rates): Siehe Flexible Wechselkurse. Freie Güter (free goods): Hierbei handelt es sich nicht um Wirtschaftsgüter. Wie beispielsweise Luft und Seewasser existieren sie in solch großen Mengen, dass unter denjenigen, die sie nutzen möchten, keine Rationierung vorgenommen werden muss. Daher ist ihr Marktpreis gleich null. Freihandel (free trade): Verfolgt eine Regierung diese Politik, so greift sie nicht in den Handel zwischen verschiedenen Ländern mithilfe von Zöllen, Quoten oder auf sonstige Art und Weise ein. Freiwillige Arbeitslose (voluntary unemployed): Diesen Ausdruck verwendet man für Personen, die deshalb arbeitslos sind, weil ihnen der Wert des erzielbaren Lohns oder Gehalts geringer erscheint als der Opportunitätsnutzen ihrer Zeit, beispielsweise für Freizeitaktivitäten. Friktionelle Arbeitslosigkeit (frictional unemployment): Auch Sucharbeitslosigkeit genannt; sie entsteht aufgrund von Veränderungen auf einzelnen Märkten. Beispielsweise dauert es eine Weile, bis Arbeitssuchende eine geeignete Stelle finden; selbst erfahrene Arbeitskräfte müssen häufig eine kurze Zeit der Arbeitslosigkeit hinnehmen, wenn sie den Arbeitsplatz wechseln. Friktionelle Arbeitslosigkeit unterscheidet sich von der konjunkturbedingten Arbeitslosigkeit, die aufgrund einer niedrigen Gesamtnachfrage angesichts inflexibler Löhne und Preise entsteht.
G Galoppierende Inflation (galloping inflation): Siehe Inflation. Gefangenendilemma (prisoner’s dilemma): Ein berühmtes Spiel, in dem ein nichtkooperatives Gleichgewicht ineffizient ist. Gegenwartswert einer Anlage (present value): Der heutige Wert einer Anlage, die im Lauf der Zeit zu einem Einkommensstrom führt. Die Bewertung solcher Einnahmen erfordert die Berechnung des Gegenwartswertes jeder einzelnen Einnahmenkomponente, was mithilfe des Zinssatzes der zukünftigen Einkommen geschieht. Geld (money): Das Zahlungsmittel oder Hilfsmittel beim Warenaustausch. Siehe Geldmenge für nähere Details darüber, was alles zum Geld gerechnet wird. Geld ohne Edelmetalldeckung (fiat money): Geld, beispielsweise unser heutiges Papiergeld, das keinen intrinsischen Wert besitzt, aber von der Regierung zum gesetzlichen Zahlungsmittel erklärt wird. Solches Geld wird nur so lange angenommen, wie die Menschen daran glauben, dass es seine Gültigkeit behalten wird. Geld, Umlaufgeschwindigkeit des: Siehe Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Geldähnliche Forderungen (near money): Risikolose Finanzanlagen, die sich so leicht in Bargeld umwandeln lassen, dass sie praktisch selbst Geld darstellen. Beispiele hierfür sind kurzfristige Geldmarktanlagen und Schatzwechsel. Geldanlagen, kurzfristige (money funds): Darunter versteht man hochliquide Finanztitel, deren Zinssätze nicht reglementiert sind. Dazu zählen hauptsächlich Girokonten und Geldmarktfonds. Geldbasis (monetary base, high-powered money): Unter Geldbasis (monetärer Basis) versteht man in einer Volkswirtschaft
1032 die emittierte Zentralbankgeldmenge. Sie setzt sich zusammen aus dem Bargeld und den Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Geldmarkt (money market): Mit diesem Ausdruck bezeichnet man eine Reihe von Institutionen und Arrangements, über die Kauf und Verkauf von kurzfristigen Kreditinstrumenten, wie beispielsweise kurzfristige Schatzwechsel und Schuldscheine, abgewickelt werden. Geldmenge (money supply): Die Geldmenge im engeren Sinne (M1) besteht aus Münzen, Banknoten und Einlagen auf Girokonten. Man bezeichnet sie auch als Transaktionsgeld. Zur erweiterten Geldmenge (Quasigeld, M2) zählen M1 und einige liquide Anlagen, beispielsweise die Einlagen auf Sparkonten und Geldmarktfonds. Geldmengeneffekt (money supply effect): Wenn bei fixer nominaler Geldmenge die Preise steigen, kommt es zu einer Geldverknappung, wodurch die Gesamtausgaben gesenkt werden. Geldnachfrage (demand for money): Ein Ausdruck, den Wirtschaftswissenschaftler verwenden, um zu erklären, warum Unternehmen und Einzelpersonen überhaupt Geld halten. Die Hauptgründe hierfür sind (1) die Transaktionsnachfrage, die entsteht, weil Menschen Geld zum Kauf von Gütern benötigen, und (2) die Veranlagungsgeldnachfrage, die auf dem Wunsch beruht, hochliquide, risikofreie Vermögenswerte zu halten. Geldnachfragefunktion (money demand schedule): Die Beziehung zwischen Geldbeständen und Zinssätzen. Wenn die Zinsen steigen, werden festverzinsliche und sonstige Wertpapiere attraktiver, woraufhin die Nachfrage nach Geld zurückgeht. Siehe auch Geldnachfrage. Geldpolitik (monetary policy): Bestimmt die Ziele, welche die Zentralbank bei ihrer Überwachung und Steuerung der Geld-
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menge, der Zinssätze und der Kreditkonditionen verfolgt. Die Instrumente der Geldpolitik sind hauptsächlich Operationen am offenen Markt, Mindestreserveanforderungen und die Festlegung des Diskontsatzes. Geldschöpfungsmultiplikator (money supply multiplier): Das Verhältnis der Zunahme der Geldmenge (oder der Sichteinlagen) zum Anstieg der Mindestreserven. Im Allgemeinen entspricht der Geldschöpfungsmultiplikator der umgekehrten geforderten Mindestreservequote. Wenn die Mindestreservequote bei 0,125 liegt, dann beträgt der Geldschöpfungsmultiplikator 8. Geldsurrogat (token money): Geld mit geringem oder fehlendem Eigenwert. Geldwirtschaft (monetary economy): Eine Wirtschaft, in der Handel mittels eines allgemein akzeptierten Tauschmittels abgewickelt wird. Gemeinsame Währung (common currency): Wird verwendet, wenn mehrere Länder zusammen eine Währungsunion bilden und eine gemeinsame Zentralbank einsetzen, wie im Fall der Europäischen Währungsunion (EWU), die 1999 die Einführung des Euro beschloss. Gesamtangebot (aggregate supply): Darunter versteht man den Gesamtwert von Waren und Dienstleistungen, die Unternehmen in einem bestimmten Zeitraum freiwillig produzieren oder anbieten. Das Gesamtangebot ist eine Funktion der verfügbaren Produktionsfaktoren, der Technologie und des Preisniveaus. Gesamtangebotskurve, AS-Kurve (aggregate supply): Diese Kurve zeigt die Beziehung zwischen der Produktionsmenge, die Unternehmen freiwillig anbieten, und dem Gesamtpreisniveau, wobei alle anderen Faktoren konstant sind. Die Gesamtangebotskurve verläuft sehr langfristig betrachtet senkrecht in Höhe des potenziellen
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Produktionsniveaus, kann kurzfristig jedoch relativ flach sein.
zen, Tonnen Stahl oder die Anzahl von Haarschnitten.
Gesamteinnahmen (total revenue): Errechnen sich aus dem Preis multipliziert mit der abgesetzten Menge, entsprechen also dem Gesamtverkauf.
Geschäftsbank (bank, commercial): Ein Finanzinstitut, dessen Haupteigenschaft in den USA bis vor kurzem die Tatsache war, dass es Girokonten akzeptierte, auf die Schecks ausgestellt werden konnten. Alle Finanzinstitute, die Spar- und Girokonten unterhalten, werden in den USA als depository institutions (öffentliches Geldinstitut) bezeichnet.
Gesamtfaktorproduktivität (total factor productivity, multifactor productivity): Hierbei handelt es sich um einen Produktivitätsindex, der die Gesamtproduktion pro Einheit der gesamten Produktionsfaktoren misst. Im Zähler des Index steht die Gesamtproduktion (also das BIP), während der Nenner ein gewichteter Durchschnitt der Faktoren Kapital, Arbeit und sonstige Ressourcen ist. Das Wachstum der Gesamtfaktorproduktivität wird oft als Maß für den technischen Fortschritt verwendet. Gesamtkosten (cost, total): Siehe Kosten, GesamtGesamtnachfrage, gesamtwirtschaftliche Nachfrage (aggregate demand): Die gesamten geplanten oder gewünschten Ausgaben in einer Volkswirtschaft während eines bestimmten Zeitraums. Die Gesamtnachfrage wird durch das Gesamtpreisniveau bestimmt und durch die einheimischen Investitionen, die Nettoexporte, die Staatsausgaben, die Konsumfunktion und die Geldmenge beeinflusst. Gesamtnachfragekurve, AD-Kurve (aggregate demand curve): Diese Kurve zeigt die Beziehung zwischen der Menge an Waren und Dienstleistungen, die Menschen zu kaufen bereit sind, und dem Gesamtpreisniveau, wobei alle anderen Faktoren konstant sind. Wie alle anderen Nachfragekurven auch, wird die Gesamtnachfragekurve von einer Reihe wichtiger Variablen bestimmt, beispielsweise den Staatsausgaben, Exporten und der Geldmenge. Gesamtproduktion (total product/output): Die gesamte von einem Gut produzierte Menge, die in physischen Einheiten gemessen wird, beispielsweise Scheffel Wei-
Geschlossene Volkswirtschaft (closed economy): Siehe Offene Volkswirtschaft. Gesellschaftliche Regulierung (social regulation): Siehe Regulierung. Gesetz der abnehmenden Grenzerträge (law of diminishing returns): Siehe Abnehmende Grenzerträge, Gesetz der. Gesetz des abnehmenden Grenznutzens (law of diminishing marginal utility): Siehe Abnehmender Grenznutzen, Gesetz des. Gesetz der nach unten geneigten Nachfragekurve (law of downward-sloping demand): Fast überall gilt die Beobachtung, dass beim Anstieg des Preises eines Gutes (unter der Voraussetzung, dass alle anderen Faktoren konstant bleiben) die Käufer weniger von diesem Gut erwerben. Wird der Preis dagegen gesenkt (wenn wiederum alle anderen Faktoren konstant bleiben), dann steigt die nachgefragte Menge. Gewinn (profit): (1) In der Buchhaltung versteht man darunter die Gesamteinnahmen abzüglich der für die verkauften Güter entstandenen Kosten (siehe Gewinn- und Verlustrechung). (2) In der Wirtschaftstheorie bezeichnet man so die Differenz zwischen den Verkaufseinnahmen und den vollen Opportunitätskosten der Ressourcen, die zur Herstellung der Güter verwendet wurden. Gesetzliches Zahlungsmittel (legal tender): Geld, das laut Gesetz zur Bezahlung von Schulden akzeptiert werden muss. Alle
1034 Münzen und Banknoten sind gesetzliche Zahlungsmittel, Schecks jedoch nicht. Gewinn- und Verlustrechnung (income statement, profit-and-loss statement): Aufstellung eines Unternehmens für einen bestimmten Zeitraum (üblicherweise ein Jahr), welche die Einnahmen oder Verkäufe während dieser Periode verzeichnet, wobei alle entstandenen Kosten den Verkäufen zugerechnet werden und sich der Gewinn (das Nettoeinkommen) als Differenz zwischen Einnahmen und Kosten ergibt. Gewinnschwelle (zero-profit point): Für ein Unternehmen das Preisniveau, an dem es weder Gewinne noch Verluste erwirtschaftet – der Punkt, an dem zwar alle Kosten gedeckt werden, aber noch kein Gewinn anfällt. Girokonten (checking accounts): Dabei handelt es sich um Einlagen bei einer Geschäftsbank oder anderen Finanzmittlern, auf die Schecks ausgestellt werden können. Es handelt sich dabei also um Transaktionsgeld (M1). Die Einlagen auf Girokonten stellen die größte Komponente von M1 dar. Gleichgewicht (equilibrium): Im Gleichgewicht befindet sich eine Wirtschaftseinheit im Ruhezustand; die auf diese Einheit einwirkenden Faktoren halten sich die Waage, sodass keine Neigung zu Veränderungen besteht. Gleichung, Funktion (Angebots-, Nachfrage-, Gesamtangebots-, Gesamtnachfrage-) (schedule): Ein Ausdruck, der auch anstelle von Kurve verwendet wird, also statt Angebotskurve, Nachfragekurve und so weiter. Gleichgewicht, allgemeines (equilibrium, general): Siehe Allgemeines (totales) Gleichgewicht.
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Gleichgewicht im Fall eines einzelnen Konsumenten (equilibrium): So wird eine Situation bezeichnet, in welcher der Konsument seinen Nutzen maximiert, das heißt, in der er ein Güterbündel gewählt hat, das angesichts seines gegebenen Einkommens und gegebener Preise seine Bedürfnisse am besten befriedigt. Gleichgewicht im Fall eines Unternehmens (equilibrium): In diesem Fall bezeichnet der Ausdruck das Produktionsniveau, bei dem das Unternehmen im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Gewinn maximiert und daher keinen Anreiz hat, seine Produktion oder sein Preisniveau zu ändern. In der herkömmlichen Unternehmenstheorie bedeutet dies, dass das Unternehmen eine Produktionsmenge wählen muss, bei der die Grenzerträge genau den Grenzkosten entsprechen. Gleichgewicht im Wettbewerb (equilibrium, competitive): Siehe Wettbewerbsgleichgewicht. Gleichgewicht, makroökonomisches (equilibrium, macroeconomic): Das BIP-Niveau, bei dem die geplante Gesamtnachfrage dem geplanten Gesamtangebot genau entspricht. In diesem Gleichgewicht entspricht die Summe des gewünschten Konsums (C), der gewünschten Staatsausgaben (G), der gewünschten Investitionen (I) und der gewünschten Nettoexporte (X) genau der Produktionsmenge, die Unternehmen zum vorherrschenden Preisniveau verkaufen möchten. Goldstandard (gold standard): Ein System, bei dem ein Land (1) seine Geldeinheit als Äquivalent eines bestimmten Goldgewichts definiert, (2) seine Währung durch Goldreserven deckt und (3) Gold uneingeschränkt zu dem so festgesetzten Preis verkauft, ohne Beschränkung der Goldeinfuhr oder -ausfuhr. Grenzbetrachtung (marginal principle): Die grundlegende Feststellung, dass Menschen
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ihr Einkommen oder ihren Gewinn maximieren, wenn Grenzkosten und Grenznutzen ihrer Handlungen identisch sind. Grenzerlös (marginal revenue): Der zusätzliche Erlös, den ein Unternehmen erzielen könnte, wenn es eine zusätzliche Einheit an Produktion verkaufte. Bei vollständigem Wettbewerb entspricht der Grenzerlös dem Preis. Bei unvollkommenem Wettbewerb ist der Grenzerlös geringer als der Preis, denn um die zusätzliche Einheit verkaufen zu können, muss der Preis für alle bisher verkauften Einheiten gesenkt werden. Grenzprodukt (marginal product): Die zusätzliche Produktionsmenge, die man durch Einsatz einer zusätzlichen Einheit eines bestimmten Produktionsfaktors erhält, wenn alle anderen Faktoren konstant gehalten werden. Mitunter auch als physisches Grenzprodukt bezeichnet. Grenzkosten (marginal cost): Siehe Kosten, GrenzGrenzneigung zum Import (marginal propensity to import): In der Makroökonomik der Anstieg der in Geldeinheiten ausgedrückten Importe, der aus der Erhöhung des BIP um eine Geldeinheit hervorgeht. Grenzneigung zum Konsum (marginal propensity to consume, MPC): Die zusätzliche Menge, die Menschen konsumieren, wenn sie eine zusätzliche Einheit an verfügbarem Einkommen erhalten. Sie ist von der durchschnittlichen Konsumneigung zu unterscheiden, bei der es sich um das Verhältnis von Gesamtkonsum zu gesamtem verfügbarem Einkommen handelt. Grenzneigung zum Sparen (marginal propensity to save, MPS): Der Bruchteil einer zusätzlichen Geldeinheit an verfügbarem Einkommen, der gespart wird. Beachten Sie, dass definitionsgemäß MPC + MPS = 1 gilt.
Grenznutzen (marginal utility): Der zusätzliche Nutzen, der sich aus dem Konsum einer zusätzlichen Einheit einer Ware ergibt, während die konsumierten Mengen aller anderen Güter konstant bleiben. Grenzsteuersatz (marginal tax rate): Im Fall der Einkommenssteuer der Prozentsatz der letzten verdienten Geldeinheit, der als Steuern abgeführt werden muss. Im Fall eines progressiven Steuersystems liegt der Grenzsteuersatz über dem durchschnittlichen Steuersatz. Grund und Boden (land): Die klassische und neoklassische Denkrichtung der Wirtschaftswissenschaften betrachtet Grund und Boden als einen der drei grundlegenden Produktionsfaktoren (zusammen mit Arbeit und Kapital). Der Begriff beinhaltet sowohl Land, das für landwirtschaftliche oder Industriezwecke genutzt wird, als auch natürliche Ressourcen, die man auf oder unter der Erde findet. Grundrente (rent, economic): Einkommen, das mittels Grund und Boden erworben wird. Die Gesamtmenge des verfügbaren Landes ist (von geringfügigen Änderungen abgesehen) konstant, und die den Besitzern zufließenden Einkünfte stellen Pacht oder Miete dar. Der Ausdruck „Grundrente“ oder „reine volkswirtschaftliche Rente“ wird häufig auch für die Einnahmen aller Faktoren verwendet, deren Angebot konstant ist, das heißt für alle Faktoren, deren Angebotskurve vollkommen unelastisch ist oder senkrecht verläuft.
H Handelsbilanz (balance of trade, trade balance): Der Teil der Zahlungsbilanz eines Landes, der sich auf die Warenein- und -ausfuhr bezieht, beispielsweise Lebensmittel, Kapitalgüter und Autos. Werden zusätzlich Dienstleistungen und durchlau-
1036 fende Posten berücksichtigt, erhält man die Leistungsbilanz. Bei der Zahlungsbilanzberechnung wird die Leistungsbilanz durch die Kapitalbilanz finanziert. Handelsgewinne (gains from trade): Der Gesamtanstieg des Wohlergehens oder Nutzens, der sich aus dem freiwilligen Tausch ergibt; er entspricht der Summe aus Konsumentenrente und Unternehmensgewinnen. Handelsschranke (trade barrier): Eine protektionistische Maßnahme, mit deren Hilfe Länder Importe beschränken. Zölle und Quoten sind die offensichtlichsten Schranken, aber in jüngster Zeit sind noch weitere hinzugekommen; beispielsweise hat die Aufstellung umfassender Vorschriften traditionelle Schranken in vielen Fällen ersetzt. Hedging (hedging): Der Abschluss von Deckungsgeschäften zur Reduzierung von Risiko. Wenn ein Landwirt beispielsweise Weizen anbaut, der im Herbst geerntet werden wird, kann er das Risiko von Preisschwankungen senken, indem er bereits im Frühjahr oder Sommer die Weizenmenge, die er voraussichtlich ernten wird, zu einem bestimmten Preis verkauft. Herfindahl-Hirschman Index (HHI): Eine Methode zur Messung der Marktmacht, die bei der Analyse von Marktstrukturen häufig verwendet wird. Man errechnet den Index, indem man die quadrierten prozentualen Marktanteile aller Marktteilnehmer addiert. Bei vollkommenem Wettbewerb liegt der HHI nahe bei null, während in einem vollkommenen Monopol der HHI bei 10.000 liegt. Horizontale Gleichheit gegenüber vertikaler Gleichheit (horizontal equity vs. vertical equity): Horizontale Gleichheit bezieht sich auf die Fairness oder Gleichheit der Behandlung von Personen in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen; das Prinzip der horizontalen Gleichheit besagt,
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dass diejenigen, die grundsätzlich gleich sind, auch gleich behandelt werden sollten. Vertikale Gleichheit bezieht sich auf die Gleichbehandlung von Personen, die sich in ganz verschiedenen Situationen befinden. Horizontale Integration (horizontal integration): Siehe Integration, horizontale und vertikale. Horizontaler Zusammenschluss (horizontal merger): Siehe Zusammenschluss. Humankapital (human capital): Der Bestand an technischem Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, der durch die Beschäftigten eines Landes verkörpert wird und sich aufgrund von Investitionen in Ausbildung, Schulung und Lehre ergibt. Hyperinflation (hyperinflation): Siehe Inflation.
I Importe (imports): Siehe Exporte. Importbeschränkung, Quote, Kontingent (quota): Eine Schutzmaßnahme gegen Einfuhren aus dem Ausland, wodurch die Gesamtmenge der Importe einer bestimmten Ware (beispielsweise Zucker oder Autos) während eines bestimmten Zeitraums limitiert wird. Indexbindung (indexing, indexation): Ein Mechanismus, durch den Löhne, Gehälter, Preise und Beträge in Verträgen ganz oder teilweise angepasst werden, um Änderungen des allgemeinen Preisniveaus zu kompensieren. Indifferenzkarte (indifference map): Eine grafische Darstellung, die eine ganze Reihe von Indifferenzkurven für einen Konsumenten zeigt. Im Allgemeinen spiegeln Kurven mit zunehmendem Abstand vom Achsenschnittpunkt der Grafik nach
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rechts oben einen zunehmenden Grad an Nutzen wider. Indifferenzkurve (indifference curve): Eine Kurve in einer grafischen Darstellung, auf deren Achsen Mengen von unterschiedlichen Konsumgütern angegeben sind. Jeder Punkt auf einer solchen Kurve (die unterschiedliche Kombinationen der beiden Güter anzeigt) verleiht dem betreffenden Konsumenten genau den gleichen Nutzen oder die gleiche Befriedigung. Indirekte Steuern (indirect taxes): Siehe Direkte Steuern. Induzierte Variablen (induced variables): Siehe Exogene gegenüber endogenen (induzierten) Variablen. Inferiores Gut (inferior good): Ein Gut, dessen Konsum zurückgeht, wenn das Einkommen steigt. Inflation oder Inflationsrate (inflation, inflation rate): Die Inflationsrate ist der prozentuale jährliche Anstieg des allgemeinen Preisniveaus. Von Hyperinflation spricht man bei besonders hohen Zuwächsen (beispielsweise 1.000, 1 Million oder sogar 1 Milliarde Prozent pro Jahr). Als galoppierende Inflation bezeichnet man eine Wachstumsrate von 50, 100 oder 200 Prozent jährlich. Eine mäßige Inflation besteht, wenn der Anstieg des Preisniveaus die relativen Preise oder Einkommen nicht signifikant verzerrt. Inflationseindämmung (disinflation): Der Prozess der Senkung einer hohen Inflationsrate. Beispielsweise führte die tiefe Rezession der Jahre 1980–1983 in den Vereinigten Staaten zu einer deutlichen Senkung der Inflationsrate während dieser Zeit. Inflationsneutrale Arbeitslosigkeit (nonaccelerating inflation rate of unemployment, NAIRU): Eine Arbeitslosenquote, die mit einer konstanten Inflationsrate in Einklang steht. Bei der inflationsneutralen
1037 Arbeitslosenquote halten sich die Kräfte, die Preise und Löhne nach oben oder unten drücken, die Waage; die Inflationsrate tendiert also nicht zu Änderungen. Die NAIRU ist die niedrigste Arbeitslosenquote, die ohne den Druck steigender Inflation beibehalten werden kann. Sie ist die Arbeitslosenquote, bei der die langfristige Phillips-Kurve senkrecht verläuft. Inflationsziele, Festlegung von (inflation targeting): Die Ankündigung von offiziellen Zielkorridoren für die Inflationsrate verbunden mit der ausdrücklichen Versicherung, dass die Geldpolitik eine niedrige und stabile Inflationsrate als ihr Hauptziel betrachtet. Während der letzten Jahre haben viele Industriestaaten mehr oder weniger energisch Inflationsziele gesetzt und verfolgt. Informationsökonomik (economics of information): Darunter versteht man die Analyse von Wirtschaftssituationen, in denen Information eine Ware darstellt. Da Information teuer zu produzieren, aber billig zu reproduzieren ist, kommt es auf Märkten für Informationsgüter und -dienstleistungen, beispielsweise Erfindungen, Veröffentlichungen und Software, häufig zu Marktversagen. Infrastruktur (social overhead capital, infrastructure): Die wesentlichen Investitionen, von denen die wirtschaftliche Entwicklung abhängt, vor allem in sanitäre Anlagen und sauberes Trinkwasser, Transport- und Kommunikationswesen. Innovation (innovation): Ein Ausdruck, den man insbesondere mit Joseph Schumpeter in Verbindung bringt, der darunter Folgendes verstand: (1) die Markteinführung eines neuen und signifikant anderen Produktes, (2) die Einführung einer neuen Produktionstechnik oder (3) das Öffnen eines neuen Marktes. (Siehe im Unterschied dazu Erfindung.) Inputs (inputs): Siehe Produktionsfaktoren.
1038 Integration, horizontale und vertikale (integration, vertical vs. horizontal): Der Produktionsprozess verläuft üblicherweise in verschiedenen Phasen oder Stufen; beispielsweise werden aus Eisenerz Stahlblöcke hergestellt, diese werden dann zu Stahlblech ausgewalzt, aus dem man dann die Karosserie eines Autos herstellt. Vertikale Integration bedeutet die Kombination von einer oder mehrerer dieser Phasen in einem Unternehmen (beispielsweise vom Eisenerz zum Stahlblech). Von horizontaler Integration spricht man, wenn in einem Unternehmen unterschiedliche Einheiten zusammengefasst sind, die alle auf der gleichen Produktionsebene tätig sind. Internalisierbar (appropriable): Ressourcen, für die der Besitzer gemäß dem vollen Wirtschaftswert entgolten wird. In einem gut funktionierenden Wettbewerbsmarkt werden internalisierbare Ressourcen üblicherweise effizient verteilt und angemessen bezahlt. Internationales Währungssystem (international monetary/financial system): Das System, innerhalb dessen Zahlungen für Transaktionen getätigt werden, die Landesgrenzen überschreiten. Ein zentraler Aspekt ist die Festlegung, wie Wechselkurse bestimmt werden sollen und wie und inwieweit Regierungen sie beeinflussen können. Intervention (intervention): Der Kauf oder Verkauf der Währung eines Landes durch die Regierung auf den Devisenmärkten, um den Wechselkurs dieser Währung zu beeinflussen. Investition (investment): (1) Eine wirtschaftliche Aktivität, die auf Konsum in der Gegenwart verzichtet, um die zukünftige Produktion erhöhen zu können. Es geht dabei sowohl um Sachkapital, beispielsweise Häuser, wie auch um immaterielle Werte, beispielsweise Investitionen in Ausbildung und Schulung. Die Nettoinvestitionen erhält man, wenn man von den
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Gesamtinvestitionen die Abschreibung abzieht. Die Bruttoinvestitionen beinhalten zusätzlich die Abschreibungssumme. (2) Im Finanzwesen hat das Wort „Investition“ eine ganz andere Bedeutung, man versteht darunter den Kauf einer Aktie oder eines festverzinslichen Wertpapiers. Investitionsnachfrage oder Investitionsnachfragekurve (investment demand, investment demand curve): Diese Formel stellt die Beziehung zwischen dem Investitionsniveau und den Kapitalkosten (oder, genauer gesagt, dem Realzinssatz) dar; die Kurve ist die grafische Darstellung dieser Formel. Isokostenlinie (equal-cost line): In einer grafischen Darstellung zeigt diese Linie die verschiedenen möglichen Kombinationen von Produktionsfaktoren, die mit einer bestimmten Geldsumme gekauft werden können. Isoquante (equal-product curve, isoquant): In einer grafischen Darstellung zeigt diese Linie die verschiedenen möglichen Kombinationen von Produktionsfaktoren, die alle zur gleichen Produktionsmenge führen.
J Junge Branche (infant industry): In der Außenhandelstheorie bezeichnet man so eine Branche, die noch nicht genügend Zeit hatte, ausreichende Fertigkeiten zu entwickeln und Erfahrungen zu sammeln, um mithilfe ausreichend hoher Skalenerträge erfolgreich gegen reifere Branchen konkurrieren zu können, die in anderen Ländern die gleiche Ware produzieren. Häufig glaubt man, junge Branchen benötigten Zölle oder Quoten, um sie in ihrer Entwicklungsphase zu schützen.
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K Kalkulatorische Kosten (implicit cost elements): Kosten, die nicht explizit als Geldwert erscheinen, aber als solcher betrachtet werden sollten (beispielsweise die Arbeitskosten des Besitzers eines kleinen Ladengeschäfts). Mitunter werden sie auch als Opportunitätskosten bezeichnet, allerdings ist dieser Ausdruck weiter gefasst. Kapital (Kapitalgüter, Kapitalausstattung) (capital, capital goods, capital equipment): (1) In der Wirtschaftstheorie Teil der Triade der Produktionsfaktoren (Land, Arbeit und Kapital). Kapital besteht aus dauerhaften Gebrauchsgütern, die ihrerseits wieder für die Produktion verwendet werden. (2) In der Buchhaltung und im Finanzwesen bedeutet „Kapital“ die Gesamtmenge des von Aktienbesitzern eines Unternehmens gezeichneten Kapitals, für das sie Unternehmensanteile in Form von Aktien erhalten. Kapitalbilanz (financial account): Siehe Handelsbilanz. Kapitalerträge (capital gains): Der Wertanstieg eines Kapitalgutes, beispielsweise von Land oder Aktien, wobei der Gewinn die Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis des Gutes darstellt. Kapitalerweiterung (capital widening): Eine Wachstumsrate des tatsächlichen Kapitalstocks, die genau derjenigen der Beschäftigten (oder der Bevölkerung) entspricht, sodass das Verhältnis zwischen dem Gesamtkapital und der Gesamtbeschäftigtenzahl gleich bleibt. (Steht im Gegensatz zur Kapitalvertiefung.) Kapitalgesellschaft (corporation): Eine häufige Unternehmensform in den modernen kapitalistischen Volkswirtschaften. Eine Kapitalgesellschaft ist ein Unternehmen im Besitz von Einzelpersonen oder anderen Unternehmen. Sie hat das gleiche
Recht, Käufe, Verkäufe und Verträge abzuschließen wie eine Einzelperson. Sie hat eine eigene Rechtspersönlichkeit, die unabhängig von ihren Eigentümern besteht, und haftet nur beschränkt. Kapitalismus (capitalism): Ein Wirtschaftssystem, in dem die meisten Vermögenswerte (Land und Kapital) sich im Eigentum von Privatleuten befinden. In einem solchen System erfolgt die Verteilung von Ressourcen und der Erwerb von Einkommen hauptsächlich über private Märkte. Kapitalmärkte (capital markets): Märkte, auf denen Finanzmittel (Geld, festverzinsliche Wertpapiere, Aktien) gehandelt werden. Zusammen mit den Finanzmittlern stellen die Kapitalmärkte Institutionen dar, durch die in einer Volkswirtschaft Ersparnisse an Investoren weitergeleitet werden. Kapitalmarkteffizienz (efficient financial markets): Man bezeichnet Kapitalmärkte als effizient, wenn sie die Eigenschaften effizienter Märkte aufweisen. Kapitalrendite ([rate of] return on capital): Der Ertrag einer Investition oder eines Kapitalgutes. Wenn eine Investition US-$ 100 gekostet hat und jährlich US-$ 12 einbringt, dann beträgt die Kapitalrendite 12 Prozent pro Jahr. Kapitalvertiefung (capital deepening): In der Theorie des Wirtschaftswachstums ein Anstieg des Verhältnisses von Kapital zu Arbeit. (Steht im Gegensatz zur Kapitalerweiterung.) Kardinalnutzen (cardinal utility): Siehe Ordinaler Nutzen. Kartell (Trust): Eine Organisation unabhängiger Unternehmen, die alle gleiche oder ähnliche Produkte herstellen und Absprachen mit dem Ziel treffen, die Preise zu erhöhen oder die Produktionsmenge zu begrenzen. Sowohl in der EU als auch in den Vereinigten Staaten sind Kartelle gesetzlich verboten.
1040 Keynesianische Wirtschaftstheorie (Keynesian economics): Der Hauptgedanke von John Maynard Keynes besagt, dass ein kapitalistisches System nicht automatisch zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht neigt. Laut Keynes kann das entstehende Unterbeschäftigungsgleichgewicht mittels Geld- und Fiskalpolitik zur Steigerung der Gesamtnachfrage behoben werden. Klassischer Ansatz (classical approach): Siehe Klassische Schule. Klassische Schule (classical economics): Die vorherrschende wirtschaftswissenschaftliche Lehrmeinung vor der Veröffentlichung der Werke von Keynes; sie wurde 1776 von Adam Smith begründet. Andere bedeutende Vertreter, die Smiths Theorie folgten, waren David Ricardo, Thomas Malthus und John Stuart Mill. Im Großen und Ganzen vertrat diese Lehrmeinung die Auffassung, dass wirtschaftliche Gesetze (insbesondere der Eigennutz des Einzelnen und der Wettbewerb) Preise und Faktoreinkommen bestimmen und dass ein Preissystem das bestmögliche Instrument zur Ressourcenverteilung darstellt. Knappheit (scarcity): Dies ist die Haupteigenschaft eines Wirtschaftsgutes. Die Tatsache, dass ein Wirtschaftsgut knapp ist, heißt nicht, dass es selten ist, sondern bedeutet nur, dass es nicht frei verfügbar ist und einfach mitgenommen werden kann. Um ein solches Gut zu erhalten, muss man es entweder produzieren oder andere Wirtschaftsgüter dafür im Austausch hergeben. Klassische Theorien (der Makroökonomie) (classical theories): Diese Theorien betonen, dass die Wirtschaft die Kraft zur Selbstkorrektur und -heilung besitzt. Der klassische Ansatz unterstellt generell eine Vollbeschäftigungssituation, mit der Folge, dass Maßnahmen zur Stimulierung der Gesamtnachfrage keine Auswirkungen auf die Produktionsleistung haben.
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Knappheitsgesetz (scarcity, law of): Dieser Grundsatz besagt, dass die meisten Dinge, die Menschen haben möchten, nur in geringfügigen Mengen angeboten werden (Ausnahme sind freie Güter). Das heißt, Güter sind im Allgemeinen knapp und müssen rationiert werden, entweder über den Preis oder mit anderen Mitteln. Körperschaftssteuer (corporate income tax): Eine Steuer, die auf das jährliche Nettoeinkommen von Unternehmen erhoben wird. Kollusion (collusion): Ein rechtswidriges Abkommen zwischen verschiedenen Unternehmen über Preiserhöhungen, die Aufteilung von Märkten oder andere Maßnahmen zur Beschränkung des Wettbewerbs. Kollusionsoligopol (collusive oligopoly): Eine Marktstruktur, bei der eine kleine Anzahl von Unternehmen (also einige wenige Oligopolisten) sich zusammentun und gemeinsam Entscheidungen treffen. Wenn es ihnen gelingt, den gemeinsam erzielten Gewinn zu maximieren, sind Preise und Mengen in einem solchen Markt denen in einem Monopol vergleichbar. Kommunismus (communism): Ein kommunistisches Wirtschaftsystem (auch als Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischer Art bezeichnet) ist eines, in dem der Staat die Produktionsmittel, insbesondere das Industriekapital, besitzt und kontrolliert. Eine derartige Wirtschaft ist auch durch umfassende zentrale Planung gekennzeichnet, wobei viele Preise, Produktionsmengen und andere wichtige volkswirtschaftliche Variablen staatlich festgelegt werden. Komparativer Vorteil (comparative advantage): Das Gesetz des komparativen Vorteils besagt, dass ein Land sich auf die Produktion und Ausfuhr derjenigen Güter spezialisieren sollte, die es zu vergleichsweise niedrigeren Kosten herstellen kann, und diejenigen Waren und Dienstleistun-
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gen importieren sollte, die es nur zu relativ hohen Kosten anbieten kann. Daher sollten die Handelsströme von komparativen und nicht absoluten Vorteilen bestimmt werden. Kompensatorische Lohnunterschiede (compensating differentials): Unterschiede in der Entlohnung für einzelne Arbeiten, die dazu dienen, die nichtmonetären Unterschiede zwischen verschiedenen Beschäftigungen auszugleichen. Beispielsweise werden für unangenehme Arbeiten, die monatelange Isolation in Alaska bedingen, deutlich höhere Löhne gezahlt als für entsprechende Tätigkeiten in stärker besiedelten Gegenden. Komplementärgüter (complements): Zwei Güter, die nach Ansicht der Konsumenten „zusammengehören“ (beispielsweise linker und rechter Schuh). Güter werden als Substitute bezeichnet, wenn sie miteinander in Wettbewerb stehen (beispielsweise Finger- und Fausthandschuhe). Konjunkturabhängiges Budget (cyclical budget): Siehe Tatsächliches, konjunkturabhängiges und strukturelles Budget. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit (cyclical unemployment): Siehe Friktionelle Arbeitslosigkeit. Konjunkturzyklen (business cycles): Schwankungen in der Gesamtproduktion, dem Gesamteinkommen und der Beschäftigung eines Landes mit einer Dauer von üblicherweise zwei bis zehn Jahren. Sie sind durch gleichzeitige und gleichgerichtete Schwankungen in zahlreichen Branchen gekennzeichnet.
1041 Ausdruck „Konsum“ nur auf jene Güter beziehen, die während dieser Periode vollständig aufgebraucht, genossen oder verzehrt werden. In der Praxis zählt man zu den Konsumgütern alle während des Zeitraums gekauften Waren, von denen viele auch noch nach dieser Zeit genutzt werden können – beispielsweise Möbel, Bekleidung und Autos. Konsumentenrente (consumer surplus): Die Differenz zwischen dem Betrag, den ein Konsument für ein Gut zu bezahlen bereit ist, und dem tatsächlich entrichteten Preis. Der Unterschied entsteht, weil die in Geld ausgedrückten Grenznutzen aller Einheiten, mit Ausnahme der letzten, über dem Preis liegen. Unter bestimmten Bedingungen kann die Konsumentenrente (mittels des Diagramms der Nachfragekurve) als der Bereich unterhalb der Nachfragekurve, aber oberhalb der Preislinie gemessen werden. Konsumfunktion (consumption function): Eine Formel, die den gesamten Konsum zum persönlichen verfügbaren Einkommen (DI) in Beziehung setzt. Häufig wird angenommen, dass auch der persönliche Wohlstand und andere Variablen einen Einfluss auf den Konsum haben. Konsummöglichkeitenkurve (consumptionpossibility line): Siehe Budgetgrenze.
Konstante Skalenerträge (constant returns to scale): Siehe Skalenerträge.
Konzentrationsrate (concentration ratio): Der Prozentsatz der Gesamtproduktionsmenge einer Branche, der von den größten Unternehmen dieser Branche erbracht wird. Ein typisches Maß ist die Konzentrationsrate der vier größten Unternehmen, das heißt der Teil der Gesamtproduktion, den die vier größten Unternehmen einer Branche herstellen.
Konsum (consumption): In der Makroökonomie die Gesamtausgaben von Einzelpersonen oder eines ganzen Landes während eines bestimmten Zeitraums für Konsumgüter. Genaugenommen sollte sich der
Konzern (conglomerate): Ein Großunternehmen, das eine ganze Reihe unterschiedlicher Produkte herstellt, die nichts miteinander zu tun haben (beispielsweise sind einige Zigarettenhersteller in so artfremde
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Branchen wie Spirituosen, Autovermietung und Filmvertrieb eingestiegen).
ren und Entscheidungen vollkommen flexibel wäre.
Kooperatives Gleichgewicht (cooperative equilibrium): In der Spieltheorie bezeichnet man hiermit eine Situation, in der die Parteien gemeinsam nach Strategien suchen, welche die Gesamtauszahlung an alle verbessern.
Kosten, Grenz- (cost, marginal): Die zusätzlich anfallenden Kosten (oder der Anstieg der Gesamtkosten) zur Herstellung einer zusätzlichen Einheit (oder die Reduzierung der Gesamtkosten, wenn eine Einheit weniger produziert wird).
Korrelation (correlation): Gibt die Beziehung zwischen zwei oder mehr Variablen an, die in der Regel eine geordnete und nahe zeitliche Abfolge besitzen. Die Korrelation beschreibt nicht unbedingt ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis.
Kosten, Mindest- (cost, minimum): Die niedrigstmöglichen Kosten pro Einheit (gleich ob Durchschnitts-, Grenz- oder variable Kosten). Jeder Punkt auf der Durchschnittskostenkurve ist ein Minimum in dem Sinne, als dies die bestmögliche Situation darstellt, die ein Unternehmen im Hinblick auf die Kosten für diejenige Produktion erreichen kann, die dieser bestimmte Punkt repräsentiert. Die minimalen Durchschnittskosten sind der niedrigste Punkt/die niedrigsten Punkte auf dieser Kurve.
Kosten, durchschnittliche (cost, average): Die Gesamtkosten (siehe Kosten, gesamte) dividiert durch die Anzahl der produzierten Einheiten. Kosten, durchschnittliche Fix- (cost, average fix): Die Fix- oder Festkosten (siehe Kosten, Fix-) dividiert durch die Anzahl der produzierten Einheiten. Kosten, durchschnittliche variable (cost, average variable): Die variablen Kosten (siehe Kosten, variable) dividiert durch die Anzahl der produzierten Einheiten. Kosten, Fix- (cost, fixed): Die Kosten, die einem Unternehmen entstehen, selbst wenn seine Produktion während des Betrachtungszeitraums null beträgt. Die gesamten Fixkosten setzen sich aus Einzelposten, wie beispielsweise den Zins- und Hypothekenzahlungen und den festen Lohnkosten, zusammen. Kosten, Gesamt- (cost, total): Die niedrigsten erreichbaren Gesamtkosten bei einem gegebenen Stand der Technologie und gegebenen Faktorkosten. Die kurzfristigen Gesamtkosten nehmen die bestehenden Produktionsanlagen und sonstige Fixkosten als gegeben an. Als langfristige Gesamtkosten bezeichnet man jene Kosten, die einem Unternehmen entstehen würden, das hinsichtlich aller eingesetzten Fakto-
Kosten, variable (cost, variable): Kosten, die je nach Produktionsmenge variieren, beispielsweise für Rohmaterial, Arbeitskräfte, Betriebs- und Treibstoffe. Die variablen Kosten errechnen sich als Gesamtkosten abzüglich der Fixkosten. Kostendruckinflation (cost-push inflation): Eine Inflation, die durch die Angebotsseite der Märkte bedingt ist und aufgrund deutlich gestiegener Kosten entsteht. Im Rahmen der Gesamtangebots- und Gesamtnachfragekurven wird die Kostendruckinflation als eine Verschiebung der AS-Kurve nach oben dargestellt. Auch als Angebotsschockinflation bezeichnet. Kostenoptimierungsregel (least cost rule): Diese Regel besagt, dass die Kosten für eine bestimmte Produktionsmenge minimiert werden, wenn das Verhältnis des Wertgrenzprodukts jedes Produktionsfaktors zum Preis dieses Produktionsfaktors für alle Faktoren gleich ist. Kredit (credit): (1) In der Geldtheorie bezeichnet man so die Verwendung der Mit-
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tel anderer, wofür man verspricht, diese Mittel (üblicherweise mit Zinsen) zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückzuzahlen. Hauptbeispiele sind Kredite und Darlehen von Banken, Kreditrahmen, die Lieferanten gewähren, sowie Handelsund Warenwechsel. (2) In der Zahlungsbilanztheorie bezeichnet man damit einen Posten, beispielsweise die Exporte, die einem Land Auslandswährung einbringen. Kreuzpreiselastizität der Nachfrage (cross elasticity of demand): Ein Maß für den Einfluss der Preisänderung einer Ware auf die Nachfrage nach einer anderen Ware. Genauer gesagt entspricht die Kreuzpreiselastizität der prozentualen Änderung der Nachfrage nach Gut A, wenn sich der Preis für Gut B um 1 Prozent verändert, unter der Annahme, dass alle anderen Variablen gleich bleiben. Kursgewinn (einer Währung) (currency appreciation): Siehe Kursverlust (einer Währung). Kursverlust (einer Währung) (currency depreciation): Man spricht von einem Kursverlust der Währung eines Landes, wenn deren Wert im Vergleich zu demjenigen anderer Währungen sinkt. Wenn der Wechselkurs des US-Dollars beispielsweise von 110 Yen auf 100 Yen pro US-Dollar zurückgeht, dann ist der Kurs des USDollar gesunken, und der US-Dollar hat einen Kursverlust erlitten. Das Gegenteil eines Kursverlustes ist ein Kursgewinn, der beim Anstieg des Wechselkurses einer Währung entsteht. Kurzfristig (short run): Ein Zeitraum, in dessen Verlauf sich nicht alle Faktoren vollständig an eine Veränderung anpassen können. In der Mikroökonomie können der Kapitalstock und andere konstante Produktionsfaktoren sich nicht anpassen, und kurzfristig ist ein Markteintritt nicht möglich. In der Makroökonomie können sich Preise, Löhne und Gehälter, Steuer-
sätze und Erwartungen kurzfristig möglicherweise nicht vollständig anpassen. Kurzfristige Gesamtangebotsfunktion (shortrun aggregate supply schedule): Diese Funktion zeigt die kurzfristige Beziehung zwischen Produktion und Preisen, wobei die Produktion durch Änderungen der Gesamtnachfrage beeinflusst werden kann. Sie wird durch eine nach oben verlaufende oder waagerechte AS-Kurve dargestellt.
L Laissez-faire (laissez-faire): Mit diesem Ausdruck bezeichnet man die Vorstellung, Regierungen sollten sich so wenig wie möglich in das Wirtschaftsgeschehen einmischen und Entscheidungen dem Markt überlassen. Diese von den Klassikern unter den Wirtschaftswissenschaftlern, beispielsweise Adam Smith, vertretene Lehrmeinung besagt, die Aufgabe der Regierung bestehe ausschließlich in der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung, der Landesverteidigung sowie der Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter, die von Privatunternehmen nicht bereitgestellt werden (beispielsweise das Gesundheitswesen). Langfristig (long run): Ein Ausdruck, der für einen Zeitraum verwendet wird, in dessen Verlauf eine volle Anpassung an Veränderungen möglich ist. In der Mikroökonomik wird er für die Zeitspanne verwendet, in der Unternehmen in eine Branche eintreten oder sie verlassen können und der Kapitalstock ersetzt werden kann. In der Makroökonomie gebraucht man den Begriff häufig für die Periode, in der sich alle Preise, Löhne, Gehälter, Verträge, Steuersätze und Erwartungen an Veränderungen anpassen können. Langfristige Gesamtangebotsfunktion (longrun aggregate supply schedule): Eine Funktion, welche die Beziehung zwischen
1044 Produktion und dem Preisniveau darstellt, nachdem alle Preis- und Lohnanpassungen stattgefunden haben und die AS-Kurve daher senkrecht verläuft. Leistungsbilanz (balance of current account): Siehe Handelsbilanz. Leistungsfähigkeitsprinzip (ability-to-pay principle): Das Prinzip besagt, dass die Steuerlast sich an der am Einkommen oder Vermögen gemessenen Zahlungsfähigkeit des Einzelnen orientieren sollte. Das Prinzip gibt nicht an, wie viel mehr die Wohlhabenden zahlen sollten. Libertarianismus (libertarianism): Eine Wirtschaftsphilosophie, welche die Bedeutung der persönlichen Freiheit im wirtschaftlichen und politischen Umfeld betont; sie wird auch gelegentlich als Liberalismus bezeichnet. Libertarianische Schriftsteller (einschließlich Adam Smith in der Vergangenheit und Milton Friedman und James Buchanan heutzutage) vertreten die Auffassung, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, ihre eigenen Interessen und Wünsche zu verfolgen und dass sich die staatlichen Aktivitäten darauf beschränken sollten, das Einhalten von Verträgen zu garantieren und eine Polizei und Landesverteidigung bereitzustellen, wodurch ein Höchstmaß an individueller Freiheit garantiert wird. Lohn- und Einkommenssteuer (income tax, personal): Die Steuer, die auf das Einkommen erhoben wird, das Einzelpersonen in Form von Löhnen und Gehältern oder von Einnahmen aus Vermögen, beispielsweise in Form von Mieten, Dividenden oder Zinsen, zufließt. Wie in Westeuropa gibt es auch in den USA eine progressive Einkommenssteuer, das heißt, für Personen mit höherem Einkommen liegt der Steuersatz höher als für solche mit niedrigem Einkommen.
Glossar
Lorenzkurve (Lorenz curve): Eine grafische Darstellung, die das Ausmaß der Streuung, das heißt der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, anzeigt.
M M1, M2: Siehe Geldmenge. Makroökonomie (macroeconomics): Beschäftigt sich mit dem Verhalten der Wirtschaft als Ganzes im Hinblick auf Produktion, Einkommen, das Preisniveau, den Außenhandel, Arbeitslosigkeit und weitere gesamtwirtschaftliche Variablen. (Im Gegensatz dazu steht die Mikroökonomie.) Makroökonomie der rationalen Erwartungen (rational expectations macroeconomics): Eine von Robert Lucas, Robert Barro und Thomas Sargent angeführte Richtung der Volkswirtschaftslehre, welche die Auffassung vertritt, dass es schnell zu einer Markträumung kommt und dass Erwartungen rational sind. Unter diesen und einigen weiteren Bedingungen kann nachgewiesen werden, dass vorhersehbare wirtschaftspolitische Maßnahmen keine Auswirkungen auf die tatsächliche Produktion und die Arbeitslosigkeit haben. Wird mitunter auch als neoklassische Makroökonomie bezeichnet. Makroökonomisches Gleichgewicht (macroeconomic equilibrium): Siehe Gleichgewicht, makroökonomisches. Malthusianische Theorie des Bevölkerungswachstums (Malthusian theory of population growth): Diese erstmals von Thomas Malthus vertretene Hypothese besagt, dass die Bevölkerung „natürlicherweise“ dazu neige, schneller zu wachsen als das Nahrungsangebot. Im Lauf der Zeit müsse daher die Pro-Kopf-Produktion an Lebensmitteln zurückgehen, wodurch der Bevölkerungszuwachs begrenzt werde. In ihrer allgemeineren Form besagt die Theo-
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rie, dass die Bevölkerung mit zunehmendem Einkommen oder Lebensstandard schneller wachse. Markt (market): Die Interaktion von Käufern und Verkäufern zur Bestimmung von Preis und abgesetzten Warenmengen. Für manche Märkte (die Börse, Flohmärkte) gibt es einen physischen Ort, andere Märkte werden übers Telefon abgehalten oder per Computer und inzwischen auch per Internet organisiert. Marktanteil (market share): Der Teil der Produktion in einer Branche, der von einem Unternehmen oder einer Firmengruppe verkauft wird. Markteintrittsbarrieren (barriers to entry): Faktoren, die den Marktzugang behindern und dadurch das Ausmaß an Wettbewerb oder die Anzahl der Hersteller in einer Branche beschränken. Wichtige Beispiele sind gesetzliche Schranken, Vorschriften und Produktdifferenzierung. Marktgleichgewicht (market equilibrium): Ein anderer Ausdruck für Wettbewerbsgleichgewicht. Marktmacht (market power): Das Ausmaß an Kontrolle, das ein Unternehmen oder eine Firmengruppe über Preise und Produktion in einer Branche ausüben kann. In einem Monopol hat der Monopolist ein hohes Maß an Marktmacht; in Branchen, in denen vollkommener Wettbewerb herrscht, haben Unternehmen überhaupt keine Marktmacht. Zur Messung der Marktmacht wird üblicherweise die Konzentrationsrate verwendet. Markträumung (clearing market): Markträumung tritt in Situationen auf, wenn die Preise flexibel genug sind, um für eine schnelle Angleichung von Angebot und Nachfrage zu sorgen. Im Fall der Markträumung gibt es keine Rationierung, keine unbeschäftigten Ressourcen und keinen Überhang von Angebot oder Nachfrage. Man nimmt an, dass diese Be-
1045 dingungen in der Praxis auf einigen Rohstoff- und Finanzmärkten gegeben sind, aber nicht für den Arbeitsmarkt und die meisten Warenmärkte gelten. Markträumungspreis (market-clearing price): Der Preis im Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Er zeigt an, dass alle Angebots- und Nachfrageaufträge zu diesem Preis erfüllt werden, sodass in den Büchern keine unerledigten Aufträge mehr stehen. Marktversagen (market failure): Entsteht aufgrund eines unvollkommenen Preissystems, das eine effiziente Ressourcenverteilung verhindert. Wichtige Gründe für Marktversagen sind Externalitäten und unvollkommener Wettbewerb. Marktwirtschaft (market economy): Eine Wirtschaft, in der die Fragen bezüglich des Was, Wie und Für Wen der Ressourcenverteilung hauptsächlich aufgrund von Angebot und Nachfrage am Markt beantwortet werden. In dieser Wirtschaftsform kaufen Unternehmen, getrieben von dem Wunsch, ihre Gewinne zu maximieren, Produktionsfaktoren und produzieren Waren und Dienstleistungen, die sie dann verkaufen. Die Haushalte mit ihren Faktoreinkommen suchen Märkte auf und bestimmen dort die Nachfrage nach Waren. Die Interaktion des Angebots der Unternehmen und der Nachfrage der Haushalte bestimmt sodann die Preise und Mengen der verkauften Waren. Marxismus (Marxism): Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Doktrin, die Karl Marx im 19. Jahrhundert entwickelte. Die marxistische Wirtschaftstheorie sagte voraus, der Kapitalismus werde aufgrund seiner inneren Widersprüche zusammenbrechen, insbesondere wegen seiner Neigung, die arbeitende Klasse auszubeuten. Die Überzeugung, dass die Arbeitenden zwangsläufig im Kapitalismus unterdrückt würden, gründete auf dem ehernen Lohngesetz, wonach die Löhne langfristig auf
1046 das Existenzminimum des Lohnbeziehers sinken müssten. Median, mittlerer Wert (median): Die Zahl, die genau in der Mitte einer Zahlenreihe steht, welche von der niedrigsten bis zur höchsten Zahl eine Rangreihe bildet (beispielsweise Einkommen oder Examenspunktzahlen). Der mittlere Wert der Zahlenreihe 1, 3, 6, 10, 20 ist 6. Siehe auch Mittelwert. Mehrwert (value added): Die Differenz zwischen dem Wert produzierter Güter und den Kosten für Material und Teile, die zur Produktion verwendet wurden. Bei einem Brotlaib für US-$ 1, dessen Inhaltsstoffe US-$ 0,60 wert sind, beträgt der Mehrwert US-$ 0,40. Im Mehrwert enthalten sind die Löhne und Gehälter, Zinsen und Gewinnkomponenten, die ein Unternehmen zu den Kosten der Produktionsfaktoren addiert. Mehrwertsteuer, MwSt. (value-added tax): Eine prozentuale Steuer, die der Staat von einem Unternehmen auf den von ihm geschaffenen Mehrwert erhebt. Merkantilismus (mercantilism): Eine politische Doktrin, welche die Bedeutung von Zahlungsbilanzüberschüssen als Mittel zur Anhäufung von Gold betont. Ihre Anhänger befürworteten daher strenge staatliche Kontrollen des Wirtschaftslebens, denn sie glaubten, eine Laissez-faire-Politik könne zu einem Abfluss von Gold führen. Mindestkosten (cost, minimum): Siehe Kosten, MindestMikroökonomie (microeconomics): Beschäftigt sich mit der Analyse des Verhaltens von einzelnen Wirtschaftssubjekten und -elementen, beispielsweise der Bestimmung des Preises eines einzelnen Produktes oder dem Verhalten eines einzelnen Konsumenten oder Unternehmens. (Siehe im Gegensatz dazu Makroökonomie.) Mindestreserven (reserves, bank): Der Teil ihrer Einlagen, den Banken entweder im
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Tresor verwahren oder als unverzinsliche Einlagen bei der Zentralbank halten. In den Vereinigten Staaten müssen die Banken 10 Prozent der Einlagen auf Girokonten als Mindestreserven halten. Mischung aus Fiskal- und Geldpolitik (fiscalmonetary mix): Die Kombination aus Fiskal- und Geldpolitik, die eingesetzt wird, um die gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten zu beeinflussen. Eine Mischung aus restriktiver Geld- und expansiver Fiskalpolitik fördert generell den Konsum und schränkt Investitionen ein, während eine großzügige Geld- und restriktive Fiskalpolitik in der Regel den gegenteiligen Effekt haben. Mischwirtschaft (mixed economy): In den nichtkommunistischen Ländern die am häufigsten vorkommende Wirtschaftsform. Mischwirtschaften verlassen sich zur Organisation der Wirtschaft hauptsächlich auf das Preissystem, kennen aber auch staatliche Interventionen (Steuern, Staatsausgaben, Vorschriften) zur Regulierung von makroökonomischer Instabilität und Marktversagen. Mittelwert (mean): In der Statistik ein anderer Ausdruck für arithmetischer Durchschnitt. Der Mittelwert oder arithmetische Durchschnitt von 1, 3, 6, 10 und 20 ist 8 [= (1 + 3 + 6 + 10 + 20) ÷ 5]. Siehe auch Median. Modell (model): Ein festgelegtes Rahmenwerk zur Darstellung grundlegender Eigenschaften eines komplexen Systems mittels weniger wesentlicher Zusammenhänge. Für Modelle verwendet man häufig Grafiken, mathematische Gleichungen und Computerprogramme. Monetärer Transmissionsmechanismus (monetary transmission mechanism): In der Makroökonomie der Mechanismus, durch den Änderungen der Geldmenge zu Änderungen der Produktion, der Beschäftigung, der Preise und der Inflation führen.
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Monetarismus (monetarism): Eine Richtung der Wirtschaftswissenschaften, deren Anhänger die Auffassung vertreten, Änderungen der Geldmenge seien der Hauptauslöser makroökonomischer Schwankungen. Kurzfristig gesehen stellen Änderungen der Geldmenge demnach den Hauptbestimmungsfaktor für Änderungen der tatsächlichen Produktion und des Preisniveaus dar. Langfristig gesehen verändern sich die Preise dieser Lehrmeinung zufolge im gleichen Verhältnis wie die Geldmenge. Monetaristen kommen häufig zu dem Schluss, die beste Wirtschaftspolitik bestehe darin, für ein stabiles Wachstum der Geldmenge zu sorgen. Monetaristische Regel (monetary rule): Der wichtigste Glaubenssatz der monetaristischen Wirtschaftsphilosophie ist die so genannte monetaristische Regel, die besagt, eine optimale Geldpolitik lege für das Wachstum der Geldmenge eine fixe Rate fest, an der ungeachtet der Verhältnisse nicht mehr gerüttelt wird. Monopol (monopoly): Ein Markt, auf dem eine Ware von einem einzigen Anbieter bereitgestellt wird. Siehe auch Natürliches Monopol. Monopolistischer Wettbewerb (monopolistic competition): Ein Markt, auf dem viele Anbieter Güter verkaufen, die enge, aber nicht vollkommene Substitute darstellen. Auf einem solchen Markt kann jeder Anbieter einen Einfluss auf den Preis seines Produktes ausüben. Moral hazard, subjektives Risiko (eines Versicherten) (moral hazard): Ein besonderer Fall des Marktversagens, in dem das Bestehen einer Versicherung gegen ein Risiko die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass der Risikofall schließlich eintreten wird. Wenn beispielsweise ein Autobesitzer seinen Wagen hundertprozentig gegen Diebstahl versichert, wird er vielleicht sorglos und vergisst, die Tür abzuschließen, weil die bestehende Versicherung für ihn den An-
reiz mindert, etwas zur Diebstahlverhinderung zu unternehmen. Multiplikator (multiplier): Dieser Begriff aus der Makroökonomie bezeichnet die Änderung einer endogenen Variablen (beispielsweise des BIP oder der Geldmenge), die durch eine zusätzliche Einheit einer exogenen Variablen (beispielsweise der Staatsausgaben oder der Mindestreserven) verursacht wird. Der Ausgabenmultiplikator gibt die Steigerung des BIP an, die aus der Zunahme der Ausgaben (beispielsweise für Investitionen) um eine Geldeinheit resultiert. Multiplikator der offenen Volkswirtschaft (open-economy multiplier): In einer offenen Volkswirtschaft wirken sich Veränderungen des Einkommens sowohl auf die Importe als auch auf die Ersparnisse aus. Daher wird der Multiplikator einer offenen Volkswirtschaft für Investitionen und Staatsausgaben durch folgende Formel wiedergegeben: Multiplikator der offenen Volkswirtschaft = 1 / (MPS + MPm), wobei MPS für die Grenzneigung zum Sparen und MPm für die Grenzneigung zum Import steht. Multiplikatormodell (multiplier model): Diese makroökonomische Theorie wurde von John Maynard Keynes entwickelt und betont die Bedeutung autonomer Ausgaben (insbesondere Investitions- und Staatsausgaben sowie Nettoexporte) für die Höhe der Änderungen von Produktion und Beschäftigung. Siehe auch Multiplikator.
N Nachfrageänderung im Gegensatz zur Änderung der nachgefragten Menge (change in demand): Eine Änderung der Menge, die Käufer erwerben möchten, aus einem beliebigen Grund, der nicht in einer Preisänderung besteht (beispielsweise aufgrund
1048 einer Einkommenserhöhung oder wegen einer Änderung des Geschmacks), ist eine Nachfrageänderung. Grafisch wird sie durch eine Verschiebung der Nachfragekurve ausgedrückt. Wenn stattdessen die Entscheidung, mehr oder weniger zu kaufen, durch eine Preisänderung ausgelöst wird, spricht man von einer Änderung der nachgefragten Menge. Eine derartige Änderung wird in der Grafik als Bewegung auf einer gleich bleibenden Nachfragekurve dargestellt. Nachfragekurve (oder Nachfragefunktion) (demand curve): Eine Funktion oder Kurve, welche die Menge an Waren angibt, die Käufer zu jedem betrachteten Preisniveau zu erwerben bereit sind, wenn alle anderen Variablen konstant sind. Normalerweise trägt man in der grafischen Darstellung der Nachfragekurve den Preis auf der senkrechten oder Y-Achse ab und die nachgefragte Menge auf der waagerechten oder X-Achse. Siehe auch Nachfrageänderung im Gegensatz zur Änderung der nachgefragten Menge. Nachfragemonopol (monopsony): Das Gegenstück zum Monopol: ein Markt, auf dem es nur einen einzigen Käufer gibt, dem dadurch eine beherrschende Marktmacht zufällt. Nachfragesoginflation (demand-pull inflation): Eine Preisinflation, die durch eine übermäßige Nachfrage nach Gütern verursacht wird, beispielsweise durch einen deutlichen Anstieg der Gesamtnachfrage. Wird oft im Gegensatz zur Kostendruckinflation gesehen. Nachgefragte Menge (quantity demanded): Siehe Nachfrageänderung im Gegensatz zur Änderung der nachgefragten Menge. NAIRU (non-accelerating inflation rate of unemployment): Siehe Inflationsneutrale Arbeitslosigkeit. Nash-Gleichgewicht (Nash equilibrium): So nennt man in der Spieltheorie ein Strate-
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giebündel der Spieler, das dazu führt, dass kein Spieler angesichts der Strategie der/ des anderen seinen Ertrag steigern kann. Das heißt, angesichts der Strategie von A kann sich B nicht verbessern, und aufgrund der Strategie von B kann sich A nicht verbessern. Das Nash-Gleichgewicht wird mitunter auch als nichtkooperatives Gleichgewicht bezeichnet. Nationale Sparquote (national saving rate): Die privaten und staatlichen Gesamtersparnisse, dividiert durch das Nettoinlandsprodukt. Natürliches Monopol (natural monopoly): Ein Unternehmen oder eine ganze Branche, dessen/deren Durchschnittskosten pro Produktionseinheit mit zunehmender Produktion deutlich sinken, wie es beispielsweise bei einem Elektrizitätswerk der Fall ist. Daher kann das Einzelunternehmen als Monopolist die Gesamtproduktion effizienter anbieten, als eine Vielzahl von Firmen es könnte. Negative Auslese, adverse Selektion (adverse selection): Eine Art Marktversagen, wodurch die Menschen mit dem höchsten Risiko auch diejenigen sind, die am wahrscheinlichsten eine Versicherung abschließen. Allgemeiner ausgedrückt tritt die negative Auslese, das Ausscheiden der besseren Risiken, in Situationen auf, in denen Verkäufer und Käufer unterschiedliche Informationen über ein Produkt haben, wie beispielsweise auf dem Markt für Gebrauchtwagen. Neoklassische Makroökonomie (new classical macroeconomics): Diese Theorie besagt, dass (1) Preise und Löhne flexibel sind und (2) die Menschen Vorhersagen aufgrund der Theorie der rationalen Erwartungen treffen. Die wichtigste Ableitung aus dieser Theorie ist das Theorem der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen.
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Neoklassisches Wachstumsmodell (neoclassical model of growth): Ein Modell (eine Theorie), das verwendet wird, um die langfristigen Trends des Wirtschaftswachstums von Industrienationen zu erklären. Das Modell betont die Bedeutung der Kapitalvertiefung (das heißt eines steigenden Verhältnisses von Kapital zu Arbeit) und des technologischen Fortschritts zur Erklärung des Wachstums des potenziellen realen BIPs. Nettoauslandsinvestitionen (net foreign investment): Nettoersparnisse eines Landes im Ausland; sie entsprechen in etwa den Nettoexporten. Nettoexporte (net exports): In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Wert der Exporte von Waren und Dienstleistungen abzüglich des Wertes der Importe von Waren und Dienstleistungen. Nettoinlandsprodukt (NIP) (net domestic product): Entspricht dem BIP abzüglich der Abschreibungen auf Kapitalgüter. Nettoinvestitionen (net investment): Bruttoinvestitionen abzüglich der Abschreibungen auf Kapitalgüter. Nettoproduktivität des Kapitals (productivity of capital, net): Siehe Kapitalrendite. Nettosozialwohlfahrt (net economic welfare): Ein Maß für die Gesamtproduktion eines Landes, das einige Mängel des BIP als entsprechendes Maß korrigiert. Nettowert (net worth): In der Buchhaltung die Aktiva abzüglich aller Passiva (Verbindlichkeiten). Nettowohlfahrtsverlust (deadweight loss): Der Verlust an Realeinkommen oder Konsumenten- bzw. Produzentenrente, der aufgrund von Monopolen, Zöllen, Quoten, Steuern oder sonstigen Wettbewerbsverzerrungen entsteht. Wenn beispielsweise ein Monopolist seine Preise erhöht, ist der Verlust an Konsumentenzufriedenheit höher als der Zuwachs des monopolisti-
1049 schen Einkommens – die Differenz ist der Nettwohlfahrtsverlust der Gesellschaft, der durch das Monopol verursacht wird. Nicht erneuerbare Ressourcen (nonrenewable resources): Natürliche Ressourcen wie Öl oder Gas, deren Bestand grundsätzlich unveränderbar ist und deren Regenerierung zu langsam erfolgt, um wirtschaftlich relevant zu sein. Nicht zur Erwerbsbevölkerung Gehörige (not in the labor force): Diejenigen Erwachsenen, die weder arbeiten noch arbeitslos gemeldet sind. Nicht internalisierbar (inappropriable): Ein Ausdruck, den man für Ressourcen verwendet, deren individuelle Nutzung kostenlos ist oder deren Kosten unter den vollen sozialen Kosten liegen. Im Zusammenhang mit diesen Ressourcen kommt es meist zu Externalitäten, wodurch die Märkte ihre Nutzung vom Standpunkt der Gesellschaft aus ineffizient aufteilen. Nichtkooperatives Gleichgewicht (noncooperative equilibrium): Siehe Nash-Gleichgewicht. Nominales BIP (nominal GDP): Siehe Bruttoinlandsprodukt, nominales. Nominalzinssatz (nominal interest rate): Der Zins, der für verschiedene Anlagen gezahlt wird. Er stellt einen Geldbetrag pro Jahr pro investierte Geldeinheit dar. Vergleiche im Gegensatz dazu den Realzinssatz, der die Einnahmen an Gütern pro Jahr pro eingesetzte Gütereinheit darstellt. Normative Ökonomie versus Positiver Ökonomie (normative vs. positive economics): Die normative Ökonomie beschäftigt sich mit dem, was sein sollte – es geht also um Werturteile und die Ziele staatlicher Maßnahmen. Im Gegensatz dazu untersucht die positive Ökonomie Tatsachen und Verhalten in einer Volkswirtschaft, also die Situation, so wie sie ist.
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Nutzen ([total] utility): Die Gesamtbefriedigung, die durch den Konsum von Waren und Dienstleistungen erzielt wird. Sie steht im Gegensatz zum Grenznutzen, worunter man den Zusatznutzen versteht, den der Konsum einer zusätzlichen Einheit eines Gutes mit sich bringt. Nutzenprinzip (Äquivalenzprinzip) (benefit principle): Das Prinzip, dass Menschen im Verhältnis des Vorteils besteuert werden sollten, der ihnen aus staatlichen Programmen erwächst.
O Offene Volkswirtschaft (open economy): Eine Volkswirtschaft, die Außenhandel (also Ausfuhr nach und Einfuhr aus anderen Ländern) von Waren und Kapital betreibt. In einer geschlossenen Wirtschaft hingegen gibt es weder Exporte noch Importe. Öffentliches Gut (public good): Ein Gut, dessen Nutzen unteilbar ist und der ganzen Gemeinschaft zugute kommt, unabhängig davon, ob Einzelpersonen dieses Gut konsumieren möchten oder nicht. Beispielsweise schützt eine staatliche Gesundheitsmaßnahme zur Ausrottung der Kinderlähmung auch jene, die nicht für die Impfung bezahlen. Im Gegensatz zum öffentlichen Gut steht das private Gut, wie beispielsweise Brot, das, wenn es von einer Person gegessen wird, nicht auch noch von einer anderen konsumiert werden kann. Ökonometrie (econometrics): Der Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der statistische Methoden einsetzt, um quantitative wirtschaftliche Beziehungen zu messen und zu bewerten. Okunsches Gesetz (Okun’s Law): Die von Arthur Okun entdeckte empirische Beziehung zwischen den konjunkturbedingten Schwankungen des BIP und der Arbeitslosigkeit. Das Gesetz besagt, dass bei einem Rückgang des tatsächlichen BIPs um 2
Prozent gegenüber dem potenziellen BIP die Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt steigt. (Frühere Schätzungen haben das Verhältnis bei 3:1 angesiedelt.) Oligopol (oligopoly): Eine Situation unvollkommenen Wettbewerbs, in der eine Branche von einer kleinen Anzahl von Anbietern dominiert wird. Operationen am offenen Markt (open-market operations): Die Aktivitäten der Zentralbank, die Staatsanleihen kauft oder verkauft, um die Mindestreserven der Banken, die Geldmenge und den Zins zu beeinflussen. Wenn sie Wertpapiere kauft, so erhöht das von der Zentralbank dafür gezahlte Geld die Reserven der Geschäftsbanken, und die Geldmenge steigt. Werden dagegen Wertpapiere verkauft, sinkt die Geldmenge. Opportunitätskosten (opportunity cost): Der Wert des nächstbesten Nutzens (der nächstbesten Opportunität) eines Wirtschaftsgutes oder der Wert der geopferten Alternative. Nehmen wir an, der beste Alternativnutzen der zur Schürfung einer Tonne Kohlen eingesetzten Faktoren bestehe darin, zehn Scheffel Weizen anzubauen. Die Opportunitätskosten der Tonne Kohlen sind dann die zehn Scheffel Weizen, die hätten produziert werden können, aber nicht produziert wurden. Die Opportunitätskosten sind besonders nützlich zur Bewertung von nicht gehandelten Gütern, beispielsweise Umweltschutz oder Sicherheit. Optimaler Währungsraum (optimal currency area): Ein Zusammenschluss von Regionen oder Ländern, zwischen denen hohe Arbeitsmobilität herrscht oder die sich gemeinsamen und synchronen plötzlichen Erschütterungen von Angebot oder Nachfrage gegenübersehen. Unter derartigen Bedingungen sind deutliche Änderungen der Wechselkurse nicht notwendig, um rasche gesamtwirtschaftliche Anpassungen zu bewirken, und diese Gebiete können
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sich für feste Wechselkurse oder eine gemeinsame Währung entscheiden. Ordinaler Nutzen (ordinal utility): Ein dimensionsloses Nutzenmaß, das in der Angebotstheorie verwendet wird. Das Konzept des ordinalen Nutzens erlaubt die Aussage, dass A gegenüber B vorgezogen wird; es sagt jedoch nichts darüber aus, um wie viel. Das heißt, die relative Rangordnung zweier beliebiger Güterbündel kann bestimmt werden, der absolute Nutzenunterschied der beiden Bündel lässt sich jedoch nicht feststellen. Dieses Maß steht im Gegensatz zum Kardinalnutzen oder dimensionalen Nutzen, der mitunter für die Analyse des Risikoverhaltens verwendet wird. Ein Beispiel für ein kardinales Nutzenmaß liegt vor, wenn wir sagen, dass eine Substanz von 100 K (Kelvin) doppelt so heiß ist wie eine von 50 K. Output (output): Siehe Produktion.
P Pareto-Effizienz (Pareto efficiency): Siehe Allokationseffizienz. Partielle Gleichgewichtsanalyse (partialequilibrium analysis): Diese Analyse konzentriert sich auf die Auswirkungen von Veränderungen in einem einzelnen Markt, wenn alle anderen Variablen gleich bleiben (sich beispielsweise das Einkommen nicht ändert). Partnerschaft (partnership): Ein Zusammenschluss von zwei oder mehr Personen zu Geschäftszwecken, allerdings nicht in Form eines Unternehmens und mit unbeschränkter Haftung. Patent (patent): Ein Exklusivrecht, das einem Erfinder zur Überwachung der Ausnutzung seiner Erfindung gewährt wird und bis zu 20 Jahre lang gelten kann. Patente schaffen zeitweilige Monopole, um die Erfindungstätigkeit zu belohnen,
und stellen, ebenso wie andere Rechte zum Schutz geistigen Eigentums, ein Mittel zur Förderung der Erfindertätigkeit von Einzelpersonen und kleinen Unternehmen dar. Persönliches Einkommen (personal income): Das Einkommen vor Abzug der Steuern, oder genauer gesagt: das verfügbare Einkommen zuzüglich der Nettosteuern. Phillipskurve (Phillips curve): Eine von A.W. Phillips entwickelte grafische Darstellung des Zielkonflikts zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation. Die herrschende Lehrmeinung der modernen Makroökonomie vertritt, dass die nach unten geneigte Philippskurve nur kurzfristig gelte; langfristig gesehen unterstellt man in der Regel eine senkrechte Phillipskurve in Höhe der inflationsneutralen Arbeitslosenquote (NAIRU). Planwirtschaft (command economy): Ein Wirtschaftssystem, in dem die wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen – was, wie und für wen – grundsätzlich aufgrund staatlicher Direktiven getroffen werden. Dieses System wird gelegentlich auch als Zentralverwaltungswirtschaft bezeichnet. Portfoliotheorie (portfolio theory): Diese Wirtschaftstheorie beschreibt, wie rationale Investoren ihre Mittel auf verschiedene Finanzanlagen verteilen, das heißt wie sie ihr Vermögen in einem Portfolio anlegen. Positive Ökonomie (positive economics): Siehe Normative Ökonomie versus Positive Ökonomie. Post-hoc-Irrtum, Trugschluss über Ursache und Wirkung (post hoc fallacy): Zu diesem Trugschluss kommt es, wenn angenommen wird, dass die Tatsache, dass Ereignis A vor Ereignis B eintritt, bedeutet, dass A damit auch die Ursache für B sein muss. Potenzielles BIP (potential GDP): Das BIP bei Vollbeschäftigung, oder, genauer ge-
1052 sagt, das höchstmögliche BIP-Niveau, das sich bei einem gegebenen Stand der Technologie und einer gegebenen Bevölkerungsgröße aufrechterhalten lässt, ohne die Inflation anzuheizen. Heutzutage nimmt man allgemein an, dass das potenzielle BIP dem Produktionsniveau bei inflationsneutraler Arbeitslosenquote (NAIRU) entspricht. Das potenzielle BIP oder die potenzielle Produktionsleistung entspricht nicht notwendigerweise der höchstmöglichen Produktionsleistung. Potenzielle Produktionsleistung (potential output): Ist mit dem potenziellen BIP identisch. Preis (price): Die in Geld ausgedrückten Kosten einer Ware, einer Dienstleistung oder einer Anlage. Der Preis wird in Geldeinheiten pro Einheit eines Gutes angegeben (beispielsweise US-$ 3 für einen Hamburger). Preis des BIP: Siehe BIP-Deflator. Preisdiskriminierung (price discrimination): Eine Situation, in der das gleiche Produkt (beispielsweise Flugscheine) an verschiedene Konsumenten zu unterschiedlichen Preisen verkauft wird. Preiselastische Nachfrage (price-elastic demand): Eine Situation, in welcher der absolute Wert der Preiselastizität der Nachfrage den absoluten Wert 1 übersteigt. Dies bedeutet, dass die prozentuale Nachfrageänderung höher ausfallen wird als die sie verursachende prozentuale Preisänderung. Außerdem bedeutet eine elastische Nachfrage, dass die Gesamteinnahmen (Preis multipliziert mit der Menge) bei Preissenkungen steigen, weil die Zunahme der nachgefragten Menge so groß ist. (Im Gegensatz dazu steht eine preisunelastische Nachfrage.) Preiselastizität des Angebots (price elasticity of supply): Gleicht vom Konzept her der Preiselastizität der Nachfrage, misst aber die Reaktion des Angebots auf Preisände-
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rungen. Genauer gesagt misst die Preiselastizität des Angebots die prozentuale Änderung der gelieferten Menge pro prozentuale Preisänderung. Bei vollkommenem Wettbewerb ist es am nützlichsten, die Angebotselastizitäten zu kennen. Preiselastizität der Nachfrage (price elasticity of demand): Dies ist ein Maß für den Umfang, in dem die nachgefragte Menge auf eine Preisänderung reagiert. Der Elastizitätskoeffizient (Preiselastizität der Nachfrage, Ep) ist die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge, dividiert durch die prozentuale Preisänderung. Verwenden Sie bei der Berechnung der Prozentsätze die Durchschnitte der alten und neuen Menge im Zähler sowie des alten und des neuen Preises im Nenner, ignorieren Sie negative Vorzeichen. Siehe auch Preiselastische Nachfrage, Preisunelastische Nachfrage und Preiselastizität von 1. Preiselastizität von 1 (unit-elastic demand): Dies ist die Grenze zwischen preiselastischer und preisunelastischer Nachfrage; der absolute Wert der Preiselastizität beträgt hier genau 1. Siehe auch Preiselastizität der Nachfrage. Preisfestsetzung per Kalkulationsaufschlag (markup pricing): Die Preisfestlegungsmethode, die viele Unternehmen bei unvollkommenem Wettbewerb verwenden; sie schätzen die Durchschnittskosten und addieren dann einen festen Prozentsatz hinzu, um den geforderten Marktpreis zu errechnen. Preisflexibilität (price flexibility): Das Preisverhalten auf Auktionsmärkten (das heißt den Aktienmärkten und Märkten vieler Rohstoffe), auf denen die Preise sofort auf Änderungen von Angebot oder Nachfrage reagieren. Preisindex (price index): Eine Indexzahl, die angibt, wie sich der Durchschnittspreis eines Güterbündels im Laufe der Zeit verändert. Zur Berechnung des Durch-
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schnitts werden die Preise der verschiedenen berücksichtigten Güter im Allgemeinen gemäß ihrer wirtschaftlichen Bedeutung gewichtet (das heißt beispielsweise für den Verbraucherpreisindex entsprechend dem Anteil des jeweiligen Gutes an den gesamten Konsumausgaben). Preisunelastische Nachfrage (price-inelastic demand): Eine Situation, in welcher der absolute Wert der Preiselastizität der Nachfrage unter 1 liegt. Wenn in einem solchen Fall der Preis sinkt, dann gehen auch die Einnahmen zurück, und wenn der Preis steigt, so nehmen auch die Einnahmen zu. Eine vollkommen unelastische Nachfrage bedeutet, dass eine Preisänderung überhaupt keine Auswirkungen auf die nachgefragte Menge hat. (Siehe im Gegensatz dazu Preiselastische Nachfrage und Preiselastizität von 1.) Prinzip gleichen Grenznutzens (equimarginal principle): Nach diesem Prinzip wird die Entscheidung über die Aufteilung des Einkommens auf verschiedene Konsumgüter getroffen. Laut diesem Prinzip maximiert ein Konsument seinen Nutzen, indem er das Konsumgüterbündel wählt, bei dem der Grenznutzen pro ausgegebene Geldeinheit für alle Güter gleich ist. Privates Gut (private good): Siehe Öffentliches Gut. Produkt, durchschnittliches (product, average): Siehe Durchschnittsprodukt. Produkt, Grenz- (produkt, marginal): Siehe Grenzprodukt. Produktdifferenzierung (product differentiation): Das Vorhandensein von Eigenschaften, die ähnliche Produkte zu nur unvollkommenen Substituten machen. Beispielsweise macht die Lage der verschiedenen Tankstellen das dort verkaufte Benzin zu unvollkommenen Substituten. Unternehmen, die eine Produktdifferenzierung betreiben, sehen sich einer nach unten geneigten statt einer waagerechten Nachfra-
1053 gekurve (wie im vollkommenen Wettbewerb üblich) gegenüber. Produktion, Output (output): Die Her- oder Bereitstellung nützlicher Waren und Dienstleistungen, die entweder konsumiert oder zur Produktion weiterer Güter verwendet werden. Produktionsfaktoren (factors of production, inputs): Dies sind für die Produktion genutzte Faktoren, beispielsweise Arbeit, Grund und Boden sowie Kapital; alle Ressourcen, die man zur Herstellung von Waren und Dienstleistungen benötigt. Auch gelegentlich als Inputs bezeichnet. Produktionsfunktion (production function): Eine Beziehung (oder mathematische Funktion), welche die maximale Produktionsmenge anzeigt, die bei einem gegebenen Stand der Technik und gegebenen Produktionsfaktoren hergestellt werden kann; sie bezieht sich auf ein Unternehmen oder, als Gesamtproduktionsfunktion, auf eine gesamte Volkswirtschaft. Produktionsmöglichkeitenkurve (productionpossibility frontier, PPF): Diese grafische Darstellung zeigt die Palette an Gütern, die von einer Volkswirtschaft hergestellt werden kann. Als Beispiel wird gerne die Situation angenommen, dass es sich um nur zwei Güter, Kanonen und Butter, handelt. Punkte rechts oberhalb der Produktionsmöglichkeitenkurve sind nicht erreichbar. Punkte links unterhalb der Kurve sind ineffizient, da die Ressourcen nicht vollständig oder nicht angemessen genutzt werden oder weil veraltete Produktionstechniken verwendet werden. Produktionseffizienz (productive efficiency): Eine Situation, in der eine Volkswirtschaft nicht mehr von einem Gut herstellen kann, ohne weniger von einem anderen Gut zu produzieren; dies bedeutet, dass die Wirtschaft ihre Produktionsmöglichkeitenkurve erreicht hat.
1054 Produktivität (productivity): Dieser Ausdruck bezieht sich auf das Verhältnis von Produktion zu Faktoreinsatz (die Gesamtproduktion dividiert durch die eingesetzte Menge des Faktors Arbeit ergibt die Arbeitsproduktivität). Man spricht von einer Produktivitätssteigerung, wenn mit dem gleichen Faktoreinsatz eine höhere Produktion erzielt werden kann. Die Arbeitsproduktivität steigt aufgrund von technologischen Fortschritten, besseren Fertigkeiten der Beschäftigten oder einer Kapitalvertiefung. Produktivitätswachstum (productivity growth): Der prozentuale Anstieg der Produktivität von einer Periode zur nächsten. Wenn beispielsweise der Index für die Arbeitsproduktivität im Jahr 2004 bei 100 liegt und bei 101,7 im Jahr 2005, dann beträgt das jährliche Produktivitätswachstum von 2004 auf 2005 1,7 Prozent. Progressive, proportionale und regressive Steuern (progressive, proportional and regressive taxes): Eine progressive Steuer belastet die Reichen stärker als die Armen, bei einer regressiven Steuer ist es umgekehrt. Genauer gesagt bezeichnet man eine Steuer dann als progressiv, wenn der Durchschnittssteuersatz (also die Steuern dividiert durch das Einkommen) mit zunehmendem Einkommen steigt; man spricht von einer regressiven Steuer, wenn der Durchschnittssteuersatz mit wachsendem Einkommen sinkt; der Steuersatz ist proportional, wenn er für alle Einkommensniveaus gleich ist. Proportionale Steuer (proportional tax): Siehe Progressive, proportionale und regressive Steuern. Protektionismus (protectionism): Maßnahmen, die ein Land ergreift, um die einheimische Industrie gegen den Wettbewerb durch Importe zu schützen (üblicherweise werden auf derartige Importe Zölle erhoben, oder sie werden mit Importquoten belegt).
Glossar
Public-Choice-Theorie (Theorie der öffentlichen Entscheidung) (public-choice theory): Hierbei handelt es sich um einen Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der sich mit der Art und Weise beschäftigt, wie Regierungen Entscheidungen treffen und die Wirtschaft lenken. Diese Theorie unterscheidet sich von der marktwirtschaftlichen insofern, als sie die Bedeutung der Stimmenmaximierung für politische Entscheidungen betont, die im Gegensatz zur Gewinnmaximierung der Unternehmen steht.
Q Quantitätstheorie des Geldes und der Preise (quantity theory of money and prices): Eine Theorie über die Bestimmung der Produktion und des Gesamtpreisniveaus, die besagt, dass sich die Preise proportional zur Geldmenge entwickeln. Ein etwas vorsichtigerer Ansatz der Monetaristen drückt die Auffassung aus, die Geldmenge sei der wichtigste Bestimmungsfaktor der Änderung des nominalen BIP (siehe Monetarismus).
R Rationale Erwartungen: Siehe Erwartungen. Reales BIP: Siehe Bruttoinlandsprodukt, reales. Reallöhne (real wages): Die in Waren und Dienstleistungen ausgedrückte Kaufkraft der Löhne und Gehälter der Beschäftigten. Sie werden mittels des Verhältnisses der Geldlöhne zum Verbraucherpreisindex bestimmt. Realzinssatz (real interest rate): Der in Gütern statt in Geldeinheiten gemessene Zinssatz. Er entspricht daher dem Geldoder Nominalzinssatz abzüglich der Inflationsrate.
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Glossar
Recht an geistigem Eigentum (intellectual property rights): Gesetze schützen Patente, Urheberrechte, Betriebsgeheimnisse, elektronische und sonstige Medien, die hauptsächlich aus Informationen bestehen. Diese Gesetze geben üblicherweise dem eigentlichen Schöpfer das Recht, die Vervielfältigung dieser Informationen zu überwachen und dafür entschädigt zu werden. Regressive Steuer (regressive tax): Siehe Progressive, proportionale und regressive Steuern. Regulierung (regulation): Staatliche Gesetze und Vorschriften, durch die das Verhalten der Unternehmen beeinflusst wird. Die wichtigsten Regulierungsmaßnahmen sind wirtschaftliche Vorschriften (die sich auf Preise, den Markteintritt oder Dienstleistungen einer einzelnen Branche, beispielsweise Telefondienste, auswirken) sowie gesellschaftliche Vorschriften (die versuchen, Externalitäten zu korrigieren, die zahlreiche Branchen betreffen, beispielsweise die Verschmutzung von Luft und Wasser). Reine volkswirtschaftliche Rente (pure economic rent): Siehe Grundrente. Ressourcenverteilung (resource allocation): Die Art und Weise, wie eine Volkwirtschaft ihre Ressourcen (ihre Produktionsfaktoren) so auf potenzielle Nutzenmöglichkeiten verteilt, dass eine bestimmte Kombination von Endprodukten damit hergestellt werden kann. Rezession (recession): Ein Zeitraum, in dessen Verlauf die Gesamtproduktion, das Einkommen und die Beschäftigung zurückgehen und der üblicherweise sechs Monate bis ein Jahr lang dauert sowie durch eine Kontraktion in vielen Branchen gekennzeichnet ist. Siehe auch Depression. Ricardianische Sicht der Fiskalpolitik (Ricardian view of fiscal policy): Diese von dem Harvard-Professor Robert Barro entwi-
ckelte Theorie besagt, dass Änderungen des Steuersatzes keine Auswirkungen auf die Konsumausgaben haben, weil die Haushalte beispielsweise vorhersehen, dass im Fall von heutigen Steuersenkungen in der Zukunft die Steuern erhöht werden müssen, um den Finanzbedarf des Staates zu decken. Risiko (risk): Im Finanzwesen bezieht sich dieser Ausdruck auf die Veränderlichkeit der Einkünfte aus Investitionen. Risikoscheu (risk averse): Eine Person ist risikoscheu, wenn in einer Situation der Unsicherheit die Unzufriedenheit aufgrund des Verlustes einer bestimmten Einkommenssumme größer ist als die Zufriedenheit aufgrund des Gewinns der gleichen Einkommenssumme. Risikostreuung (risk spreading): Der Prozess der Aufteilung eines einzelnen großen Risikos in viele kleine Risiken, die dann von einer großen Anzahl von Personen getragen werden. Die bedeutendste Form der Risikostreuung ist die Versicherung, bei der es sich um eine Art Umkehr des Glücksspiels handelt.
S Sachanlagen (tangible assets): Diejenigen Anlagen, beispielsweise Grund und Boden oder Kapitalgüter wie Computer, Gebäude und Autos, die eingesetzt werden, um weitere Waren und Dienstleistungen zu produzieren. Saysches Theorem (Say’s Law of Markets): Diese Theorie besagt, dass das Angebot sich seine eigene Nachfrage schafft. J.B. Say argumentierte 1803, es könne aufgrund der Tatsache, dass die gesamte Kaufkraft genau dem Gesamteinkommen und der Gesamtproduktion entspricht, zu keinem Überhang von Angebot oder Nachfrage kommen. Keynes griff diese Theorie an, indem er darauf hinwies, dass
1056 eine zusätzliche Geldeinheit an Einkommen nicht unbedingt vollständig ausgegeben wird (das heißt, die Grenzneigung zum Konsum beträgt nicht unbedingt 1). Schattenwirtschaft (underground economy): Nicht gemeldete und statistisch nicht erfasste Wirtschaftstätigkeiten. Zur Schattenwirtschaft zählen an sich legale Aktivitäten, die den Finanzämtern jedoch nicht gemeldet werden (Schwarzarbeit, Tauschgeschäfte unter Bekannten, Garagenverkäufe), sowie illegale Handlungen (Verkauf von Drogen, Glücksspiel, Prostitution). Schatzwechsel (treasury bills): Von der Bundesregierung der USA ausgegebene kurzfristige, festverzinsliche Wertpapiere. Schleichende (beständige) Inflation (inertial rate of inflation): Der Zustand stetiger Inflation, der entsteht, wenn ein Anhalten der Inflation erwartet wird und die erwartete Inflationsrate in den Plänen und Verträgen der Menschen schon mit berücksichtigt wird. Schuldposten, Kontobelastung, Soll (debit): (1) Ein Ausdruck aus der Buchhaltung, der eine Abnahme der Aktiva beziehungsweise eine Zunahme der Verbindlichkeiten anzeigt. (2) Im Rahmen der Zahlungsbilanzberechnung zählen solche Posten als Kontobelastungen, die, wie beispielsweise Importe, den Bestand eines Landes an Auslandswährung reduzieren. Siebzig-Jahre-Regel (rule of 70): Eine nützliche Faustregel bei der Rechnung mit Zinseszins. Eine Summe, die um r Prozent pro Jahr zunimmt, wird sich in etwa 70/r Jahren verdoppeln. Skaleneffekte (economies of scale): Kostenersparnisse aufgrund einer optimalen Betriebsvergrößerung; eine Zunahme der Produktivität oder eine Abnahme der durchschnittlichen Produktionskosten, die dadurch entsteht, dass alle Produktionsfaktoren im gleichen Ausmaß erhöht werden.
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Skalenerträge (returns to scale): Das Verhältnis, in dem die Produktion zunimmt, wenn alle Produktionsfaktoren proportional zueinander erhöht werden. Wenn man beispielsweise die Menge sämtlicher Produktionsfaktoren verdoppelt und dadurch auch die Produktion verdoppelt, sagt man, es lägen konstante Skalenerträge vor. Nimmt die Produktion bei einer Verdoppelung aller Produktionsfaktoren jedoch um weniger als 100 Prozent zu, spricht man von abnehmenden Skalenerträgen; bei einer Zunahme von über 100 Prozent liegen zunehmende Skalenerträge vor. Sozialismus (socialism): Eine politische Theorie, die besagt, dass (fast) alle Produktionsmittel außer der Arbeit der Gemeinschaft gehören sollten. Dadurch könnten Kapitalerträge gleichmäßiger verteilt werden als in einem kapitalistischen System. Sozialversicherung (social insurance): Eine von der Regierung eingeführte Pflichtversicherung zur Verbesserung der sozialen Wohlfahrt, die Verluste auffängt, die durch Marktversagen entstehen, beispielsweise subjektive Risiken (Moral hazard) oder negative Auslese. Sparfunktion (saving function): Die Gleichung, die anzeigt, wie viel Haushalte oder ein ganzes Land bei unterschiedlichen Einkommensniveaus sparen. Sparparadox (paradox of thrift): Das erstmalig von John Maynard Keynes vorgestellte Phänomen, dass der Versuch einer ganzen Gesellschaft, ihre Ersparnisse zu erhöhen, tatsächlich zu einem Rückgang der Gesamtersparnisse führen kann. Sparquote (personal saving rate): Das prozentuale Verhältnis der privaten Ersparnisse zum verfügbaren Einkommen. Sparschwelle (break-even point in macroeconomics): Dasjenige Einkommensniveau einer Einzelperson, einer Familie oder einer Gemeinschaft, bei dem 100 Prozent für Konsum ausgegeben wird (das heißt der
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Punkt, an dem weder gespart noch entspart wird). Positive Ersparnisse beginnen erst bei höherem Einkommensniveau. Spekulant (speculator): Jemand, der spekuliert, das heißt eine Ware oder einen Finanztitel mit dem Ziel kauft oder verkauft, zu einem späteren Zeitpunkt durch deren/ dessen Verkauf (Kauf) zu einem höheren (niedrigeren) Preis einen Gewinn zu erzielen. Spieltheorie (game theory): Analyse von Situationen mit zwei oder mehr Entscheidungsträgern, die wenigstens teilweise entgegengesetzte Ziele verfolgen. Man kann sie ebenso auf Interaktionen auf oligopolistischen Märkten anwenden wie auf Verhandlungssituationen, beispielsweise Streiks oder generelle Konflikte, auf Spiele oder auch Kriege. Staatliche Wirtschaftlenkung (economic regulation): Siehe Regulierung. Staatsausgabenmultiplikator (government expenditure multiplier): Gibt die Zunahme des BIP an, die aus dem Wachstum der Staatsausgaben um eine Geldeinheit resultiert. Staatsverschuldung (government debt, national debt, public debt): Die Gesamtheit staatlicher Verpflichtungen in Form von Schuldverschreibungen und kurzfristiger Kreditaufnahme. Zur Staatsverschuldung der Öffentlichkeit gegenüber zählen nicht die Schuldverschreibungen, die von staatlichen oder halbstaatlichen Behörden, beispielsweise der Zentralbank, gehalten werden. Stagflation (stagflation): Dieser Ausdruck wurde Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt und beschreibt das gleichzeitige Zusammentreffen von hoher Arbeitslosigkeit infolge wirtschaftlicher Stagnation mit einer anhaltenden Inflation. Der Grund für eine solche Situation ist vor allem in der Kerninflation zu suchen.
1057 Stammaktien (common stock): Ein Finanzinstrument, das einen Eigentumsanteil an einer Aktiengesellschaft darstellt und generell auch damit verbundene Stimmrechte. Ein gewisser Anteil an den Aktien eines Unternehmens verleiht deren Besitzer in entsprechendem Umfang ein Stimmrecht sowie Anspruch auf Dividendenzahlungen und Eigentum der Gesellschaft. Statistische Diskriminierung (statistical discrimination): Die Behandlung von Einzelpersonen auf der Basis des Durchschnittsverhaltens oder üblicher Eigenschaften von Mitgliedern der Gruppe, zu der sie gehören. Statistische Diskriminierung kann unter anderem dann auftreten, wenn man die Anreize für die Einzelnen reduziert, sich dem Stereotyp zu entziehen. Steigung (slope): In einer grafischen Darstellung die Änderung der auf der senkrechten Achse dargestellten Variablen pro Änderung der auf der waagerechten Achse dargestellten Variablen um eine Einheit. Nach oben weisende Kurven haben eine positive Steigung, nach unten geneigte Kurven (beispielsweise Nachfragekurven) haben eine negative Steigung; bei waagerechten Linien beträgt die Steigung null. Steuerinzidenz ([tax] incidence): Die tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Steuer auf die Realeinkommen von Produzenten oder Konsumenten im Gegensatz zu der gesetzlich erforderlichen Steuerzahlung. Eine Umsatzsteuer mag vom Einzelhändler gezahlt werden, es ist aber durchaus möglich, dass sie den Konsumenten belastet. Die genaue Steuerinzidenz hängt von der Preiselastizität von Angebot und Nachfrage ab. Stoffwert (intrinsischer Wert des Geldes) (intrinsic value): Der Warenwert eines Geldstücks (beispielsweise der Marktwert des Kupfers in einer Kupfermünze).
1058 Strategische Interaktion (strategic interaction): Eine Situation in oligopolistischen Märkten, in der die Geschäftsstrategien jedes Unternehmens von den Plänen seiner Konkurrenten abhängen. Die Spieltheorie bietet eine förmliche Analyse strategischer Interaktionen. Strukturelle Arbeitslosigkeit (structural unemployment): Diese Art der Arbeitslosigkeit tritt auf, wenn die Regionen oder Berufsgruppen, in denen freie Stellen angeboten werden, nicht mit den Regionen oder Berufsgruppen übereinstimmen, in denen Arbeitskräfte verfügbar sind. Die Arbeitslosen haben möglicherweise nicht die erforderlichen Fertigkeiten, um die freien Stellen zu besetzen, oder die Arbeitsplätze werden in Regionen angeboten, die zu weit vom Wohnort der Arbeitslosen entfernt sind. Substitute (substitutes): Waren, die miteinander in Wettbewerb stehen (beispielsweise Fingerhandschuhe und Fäustlinge). Waren, die dagegen nach Meinung der Konsumenten zusammengehören (wie beispielsweise ein linker und ein rechter Schuh), sind Komplementärgüter. Substitutionseffekt einer Preisänderung (substitution effect): Die Neigung der Konsumenten, mehr von einem Gut zu konsumieren, wenn dessen relativer Preis sinkt (andere Güter werden durch dieses Gut substituiert), und davon weniger zu konsumieren, wenn sein relativer Preis steigt (dann wird dieses Gut durch andere substituiert). Dieser Substitutionseffekt im Fall einer Preisänderung führt zu der nach unten geneigten Nachfragekurve. (Siehe auch Einkommenseffekt.) Substitutionsregel (substitution rule): Dieser Regel zufolge kann ein Untenehmen in dem Fall, dass der Preis eines Produktionsfaktors sinkt, während alle anderen Faktorpreise konstant bleiben, seine Kosten senken, wenn es die anderen Produktionsfaktoren durch den nun billigeren ersetzt.
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Diese Regel ist die logische Folge aus der Kostenoptimierungsregel. Subvention (subsidy): Eine Zahlung des Staates an ein Unternehmen, das ein bestimmtes Gut herstellt, oder an einen Haushalt, der ein bestimmtes Gut konsumiert. Beispielsweise subventionieren Regierungen häufig Lebensmittel, indem sie Haushalten mit geringem Einkommen eine Lebensmittelzulage zahlen.
T Tarifverhandlungen (collective bargaining): Der Verhandlungsprozess zwischen einer Gruppe von Beschäftigten (meistens vertreten durch eine Gewerkschaft) und den zuständigen Arbeitgebern. Derartige Verhandlungen führen zu Abkommen über Löhne und Gehälter, Zusatzleistungen und Arbeitsbedingungen. Tagesgeldmarktsatz (federal funds rate): Der Zinssatz, den Banken einander für die Nutzung von Bankreserven über Nacht zahlen. Tatsächliches, konjunkturabhängiges und strukturelles Budget (actual, cyclical, and structural budget): Das tatsächliche Budgetdefizit beziehungsweise der tatsächliche Budgetüberschuss ist die in einem Jahr tatsächlich gemessene Summe. Das tatsächliche Budget besteht aus dem strukturellen Budget, einer Rechengröße, die angibt, wie hoch die Staatseinnahmen, -ausgaben und -defizite wären, wenn die Volkswirtschaft ihre potenzielle Produktionsleistung erreichte, sowie dem konjunkturabhängigen Budget, das die Auswirkungen des Konjunkturzyklus auf das Budget misst. Tauschgleichung (Verkehrsgleichung) ([quantity] equation of exchange): Diese Gleichung ist eine reine Definition und besagt, dass MV PQ oder dass die Geldmenge multipliziert mit der Umlaufgeschwindig-
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keit des Geldes der gesamten Produktionsmenge multipliziert mit dem Gesamtpreisniveau entspricht. Diese Gleichung ist die Kernaussage des Monetarismus; sie gilt immer, weil V als PQ/M definiert ist. Tauschhandel (barter): Der direkte Tausch einer Ware gegen eine andere, ohne dass irgendetwas als Geld oder Tauschmittel verwendet wird. Technischer Fortschritt (technological progress, technological change): Eine Veränderung eines Produktionsprozesses oder die Einführung eines neuen Produkts, die bewirkt, dass mit dem gleichen Bündel an Produktionsfaktoren eine höhere oder bessere Produktion erzielt werden kann. Sie führt zu einer Verschiebung der Produktionsmöglichkeitenkurve nach außen. Häufig wird sie auch als technologischer Wandel bezeichnet. Termineinlage (time deposit): Einlagen bei einer Bank, die erst nach einer Mindestfrist abgehoben werden können; sie sind in der erweiterten Geldmenge (M2) berücksichtigt, aber nicht in M1, da sie nicht als Zahlungsmittel akzeptiert werden. Terms of Trade (terms of trade): Austauschverhältnis im internationalen Handel, das heißt die „realen“ Bedingungen, zu denen ein Land seine Exporte verkauft und seine Importe einkauft. Dieses Maß entspricht dem Verhältnis eines Index der Exportpreise zu einem Index der Importpreise. Theorem der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen (policy-ineffectiveness theorem): Dieses Theorem behauptet, dass eine antizipierte Geld- oder Fiskalpolitik des Staates angesichts rationaler Erwartungen und flexibler Preise und Löhne keine Auswirkungen auf die reale Produktionsleistung oder die Arbeitslosigkeit haben kann. Theorie der Einkommensverteilung (theory of income distribution): Diese Theorie erklärt die Art und Weise, wie persönliches
1059 Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft verteilt werden. Theorie der öffentlichen Entscheidung (public-choice theory): Siehe Public-ChoiceTheorie. Theorie der rationalen Erwartungen (rational-expectations hypothesis): Diese Hypothese besagt, Menschen träfen unvoreingenommene und unverzerrte Vorhersagen und nutzten alle verfügbaren Informationen und die notwendige Wirtschaftstheorie, um diese Vorhersagen zu treffen. Theorie der realen Konjunkturzyklen (realbusiness-cycle theory): Diese Theorie erklärt Konjunkturzyklen als reine Verschiebung des Gesamtangebots, hauptsächlich aufgrund von Veränderungen der Technologie, ohne dabei monetäre Faktoren oder Einflusskräfte von der Nachfrageseite zu berücksichtigen. Transaktionsgeld (narrow money, M1): Eine Geldmengengröße, die Münzen, Banknoten und Einlagen auf Girokonten umfasst. Auch als Geldmenge im engeren Sinne bezeichnet. Transaktionsnachfrage nach Geld (transactions demand for money): Siehe Geldnachfrage. Transferzahlungen des Staates (transfer payments, government): Zahlungen, die der Staat an Einzelpersonen leistet und für die diese Einzelpersonen keine Gegenleistung erbringen. Beispiele sind Sozialversicherungszahlungen und Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Trugschluss der Verallgemeinerung (fallacy of composition): Die falsche Annahme, dass etwas, das für Einzelpersonen gilt, auch für eine ganze Gruppe beziehungsweise das ganze System gelten muss.
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U Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ([income] velocity of money): In seiner Funktion als Zahlungsmittel wandert das Geld von Käufer zu Verkäufer und immer so weiter. Die Umlaufgeschwindigkeit ist ein Maß dafür, wie schnell dies geschieht. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ist definiert als nominales BIP dividiert durch die gesamte Geldmenge: V P Q/M BIP/M. Umsatzsteuer (sales tax): Siehe Verbrauchssteuer gegenüber Umsatzsteuer. Unabhängige Güter (independent goods): Güter, deren Nachfrage vergleichsweise unabhängig von derjenigen nach dem jeweils anderen Gut ist. Genauer gesagt betrachtet man Gut A dann von Gut B als unabhängig, wenn eine Änderung des Preises von Gut A keine Auswirkungen auf die von Gut B nachgefragte Menge hat, vorausgesetzt, alle anderen Variablen bleiben gleich. Unbeschränkte Haftung (unlimited libability): Siehe Beschränkte Haftung. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit (involuntary unemployment): Siehe Arbeitslosigkeit. Ungleichgewicht (disequilibrium): Ein Zustand, bei dem sich eine Volkswirtschaft nicht im Gleichgewicht befindet. Er kann dadurch entstehen, dass plötzliche Einwirkungen (auf Einkommen oder Preise) die Angebots- oder Nachfragefunktion verschoben haben, der Marktpreis (oder die Menge) aber noch nicht vollständig reagiert und zu einem Ausgleich auf neuem Niveau geführt hat. In der Makroökonomie wird vielfach angenommen, dass sich Arbeitslosigkeit aufgrund eines Ungleichgewichts ergibt. Unsichtbare Hand (invisible hand): Ein von Adam Smith 1776 eingeführtes Konzept zur Beschreibung des Paradoxons einer Laissez-faire-Marktwirtschaft. Die Doktrin der unsichtbaren Hand besagt, dass
ein Marktsystem, in dem jeder Teilnehmer seine eigenen privaten Interessen verfolgt, trotzdem zum Nutzen und zur Befriedigung aller funktioniert, so als ob eine gütige unsichtbare Hand den ganzen Prozess lenkte. Unterentwickeltes Land (less-developed country): Ein Land mit einem Pro-KopfEinkommen, das deutlich unter dem von „entwickelten“ Nationen liegt (zu Letzteren zählt man üblicherweise die Länder Westeuropas und Nordamerikas). Unternehmen ([business] firm): Die grundlegende privat produzierende Einheit in einer Volkswirtschaft. Sie stellt Arbeitskräfte ein, besitzt oder mietet Kapital, Grund und Boden und kauft Produktionsfaktoren, um Waren und/oder Dienstleistungen herzustellen und zu verkaufen. Unternehmergewinn (producer surplus): Die Differenz zwischen den Verkaufseinnahmen eines Herstellers und den Produktionskosten. Der Unternehmergewinn wird im Allgemeinen als der Bereich zwischen der Angebotskurve und der Preislinie bis zur verkauften Menge gemessen. Unvollkommener Wettbewerb (imperfect competition): Siehe Wettbewerb, unvollkommener. Unvollkommener Wettbewerber (imperfect competitor): Jedes Unternehmen, das eine Ware in Mengen kauft oder verkauft, die groß genug sind, um den Preis dieser Ware zu beeinflussen.
V Variable (variable): Eine im Rahmen der Betrachtung interessante Größe, die definiert und gemessen werden kann. Zu den wichtigen Variablen in der Volkswirtschaftslehre zählen beispielsweise Preise, Mengen, Zinssätze, Wechselkurse, in Geldeinheiten ausgedrücktes Vermögen.
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Variable Durchschnittskosten (average variable cost): Siehe Kosten, durchschnittliche variable. Variable Kosten (variable cost): Siehe Kosten, variable. Verbindlichkeiten (liabilities): In der Buchhaltung die Bezeichnung für Schulden oder finanzielle Verpflichtungen anderen Unternehmen oder Personen gegenüber. Verbraucherpreisindex (VPI) (consumer price index, CPI): Ein Preisindex, der die Kosten eines bestimmten Warenkorbs an Konsumgütern misst, wobei jedes einzelne Gut entsprechend den dafür von Konsumenten getätigten Ausgaben in einem Basisjahr gewichtet wird. Verbrauchssteuer gegenüber Umsatzsteuer (excise tax vs. sales tax): Eine Verbrauchssteuer wird nur auf den Kauf einer bestimmten Ware oder Warengruppe erhoben (beispielsweise Alkohol oder Tabak). Umsatzsteuer wird dagegen auf so gut wie alle Waren erhoben; eine Ausnahme bilden beispielsweise Portokosten (in Deutschland u.a. auch die Gebühren einiger Fortbildungskurse). Verbundvorteile (economies of scope): Kostenersparnisse aufgrund einer optimalen Erweiterung der Produktpalette. Solche Ersparnisse ergeben sich, wenn ein Unternehmen eine ganze Bandbreite von Produkten oder Dienstleistungen her- oder zur Verfügung stellt, das heißt, wenn es billiger ist, Ware X und Ware Y zusammen zu produzieren als unabhängig voneinander. Verfügbares Einkommen (DI) (disposable income): Vereinfacht gesagt: das Geld, das man mit nach Hause nimmt, oder der Teil des Volkseinkommens, der Haushalten für Konsum und Ersparnisse zur Verfügung steht. Genauer gesagt entspricht das verfügbare Einkommen dem BIP abzüglich aller Steuern, Ersparnisse und Abschreibungen der Unternehmen, zuzüglich sämt-
1061 licher Transferzahlungen und Zinszahlungen des Staates. Verfügbares persönliches Einkommen (disposable personal income): Ein anderer Ausdruck für verfügbares Einkommen. Verhältnis von Kapital zu Produktion (capital-output ratio): In der Theorie des Wirtschaftswachstums das Verhältnis des gesamten Kapitalstocks zu dem BIP eines Jahres. Vermögen (wealth): Der Nettowert von Sach- und Finanzanlagen, den eine Person oder ein Land zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Er entspricht der Gesamtheit der Aktiva abzüglich aller Passiva (Verbindlichkeiten). Vermögenswert (Aktivum) (asset): Ein physischer Besitz oder ein immaterielles Recht mit wirtschaftlichem Wert. Wichtige Beispiele sind Fabriken, Sachanlagen, Land, Patente, Urheberrechte und Finanzanlagen, beispielsweise Geld oder Wertpapiere. Verpflichtender Mindestreservesatz (required reserve ratio): Siehe Mindestreserven. Versicherung (insurance): Ein System, durch das Individuen das Risiko hoher Verluste reduzieren können, indem sie dieses Risiko auf eine hohe Anzahl von Personen verteilen. Verteilung (distribution): In den Wirtschaftswissenschaften bezeichnet dieser Ausdruck die Art und Weise, wie die gesamte Produktion und das Gesamteinkommen auf Einzelpersonen oder Faktoren verteilt ist (beispielsweise die Aufteilung des Einkommens auf Arbeit und Kapital). Verteilung gemäß dem Grenzprodukt (marginal product theory of distribution): John B. Clark hat eine Einkommensverteilung dergestalt vorgeschlagen, dass jeder Produktionsfaktor gemäß seinem Grenzprodukt entlohnt wird.
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Verteilungstheorie (distribution theory): Siehe Theorie der Einkommensverteilung.
tum von Arbeit, Grund und Boden, Kapital, Bildung und Erziehung, technischem Wissen und sonstiger Wachstumsquellen.
Vertikale Gleichheit (vertical equity): Siehe Horizontale Gleichheit gegenüber vertikaler Gleichheit.
Währung (currency): Münzen und Papiergeld.
Vertikale Integration (vertical integration): Siehe Integration; Horizontale Integration gegenüber vertikaler Integration.
Währung, Kursgewinn oder -verluste (currency appreciation/depreciation): Siehe Kursverlust (einer Währung).
Vertikaler Zusammenschluss (merger): Siehe Zusammenschluss.
Währungsamt (currency board): Eine Institution, die wie eine Zentralbank für ein Land fungiert und nur Währung ausgibt, die vollständig durch Aktiva in einer bedeutenden Auslandswährung (häufig der US-Dollar) gedeckt ist.
Vier-Unternehmens-Konzentrationsrate (four-firm concentration rate): Siehe Konzentrationsrate. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (national income and product accounts): Eine Reihe von Konten, mit denen man Ausgaben, Einkommen und Produktion eines ganzen Landes für ein Viertel- oder ein ganzes Jahr erfasst. Vollbeschäftigung (full employment): Ein Ausdruck, der ganz unterschiedliche Bedeutung haben kann. Historisch betrachtet verstand man darunter das Beschäftigungsniveau, bei dem keine (oder nur minimale) unfreiwillige Arbeitslosigkeit herrschte. Heutzutage halten sich Wirtschaftswissenschaftler eher an das Konzept der inflationsneutralen Arbeitslosigkeit (NAIRU), die das Beschäftigungsniveau bezeichnet, das sich langfristig aufrechterhalten lässt. Vollkommener Wettbewerb (perfect competition): Siehe Wettbewerb, vollkommener.
W Wachstumsrechnung (substitutionelle Produktionsfunktion) (growth accounting): Eine Technik zur Schätzung des Beitrags verschiedener Faktoren zum Wirtschaftswachstum. Sie beruht auf der Grenzproduktivitätstheorie und zerlegt das Wachstum der Gesamtproduktion in das Wachs-
Währungsreserven (reserves, international): Auslandswährung, die von einem Land gehalten wird, um den Wechselkurs der eigenen Währung zu stabilisieren oder für die notwendige Finanzierung zu sorgen, wenn das Land Zahlungsbilanzschwierigkeiten hat. Während des Goldstandards wurden die Reserven als Gold gehalten. Heutzutage werden die meisten Reserven in Form von US-Dollar gehalten; der Euro und der japanische Yen sind andere wichtige Reservewährungen. Länder, die bereit sind, ihre Wechselkurse frei schwanken zu lassen, benötigen nur ein Minimum an Währungsreserven. Währungsunion (monetary union): Entsteht, wenn mehrere Länder vereinbaren, eine gemeinsame Währung als Zahlungs- und Verrechnungsmittel zu verwenden. Die Europäische Währungsunion beschloss 1999, den Euro als gemeinsames Zahlungsmittel anzunehmen. Warengeld (commodity money): Hierbei handelt es sich um Geld mit einem eigenen Wert als Ware; man versteht darunter auch Waren (Vieh, Glasperlen, Muscheln usw.), die als Geld verwendet werden. Was, wie und für wen (what, how and for whom): Die drei grundlegenden Fragen oder Probleme jedes Wirtschaftssystems.
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„Was“ bezieht sich auf das Problem, wie viel von jedem möglichen Gut oder jeder möglichen Dienstleistung mit den beschränkten Ressourcen einer Volkswirtschaft produziert werden soll. „Wie“ bezieht sich auf die Wahl bestimmter Techniken, mit denen das jeweilige Gut hergestellt werden soll. „Für wen“ betrifft die Verteilung von Konsumgütern unter den Mitgliedern einer Gesellschaft. Wechselkurs ([foreign] exchange rate): Der Kurs oder Preis, zu dem die Währung eines Landes für die Währung eines anderen Landes eingetauscht wird. Wenn man beispielsweise mit 1 US-Dollar 0,89 Euro kaufen kann, dann beträgt der Wechselkurs des US-Dollar zum Euro 0,89. Ein Land hat einen festen Wechselkurs, wenn es einen bestimmten Preis für seine Währung festsetzt und diesen Preis dann auch stützt. Wechselkurse, die sich aufgrund von Angebot und Nachfrage nach einer Währung ergeben, bezeichnet man als flexible Wechselkurse. Wechselkurssystem (exchange-rate system): Die Gesamtheit der Regeln, Vereinbarungen und Institutionen, die bei Zahlungen zwischen verschiedenen Ländern eine Rolle spielen. Historisch betrachtet waren der Goldstandard und das System von Bretton Woods die wichtigsten Wechselkurssysteme; heute herrscht überwiegend ein System flexibler Wechselkurse. Wertgrenzprodukt (marginal revenue product): Der Grenzerlös multipliziert mit dem Grenzprodukt. Es gibt den zusätzlichen Erlös an, der erzielt werden könnte, wenn ein Unternehmen eine zusätzliche Einheit von einem Produktionsfaktor kaufte, sie einsetzte und die damit zusätzlich hergestellte Produkte verkaufte. Wertpapiere (securities): Ein Ausdruck, mit dem man eine breite Palette von Finanzanlagen bezeichnet, beispielsweise Aktien, Schuldverschreibungen, Optionen und Wechsel. Genauer gesagt handelt es sich
1063 hierbei um die Dokumente, die das Eigentum an diesen Finanzanlagen verbriefen. Wertparadoxon (paradox of value): Das Paradoxon, dass viele lebensnotwendige Güter (beispielsweise Wasser) einen niedrigen Marktwert, zahlreiche Luxusgüter (beispielsweise Diamanten) mit an sich niedrigem Nutzen dagegen einen hohen Marktpreis haben. Es lässt sich durch die Tatsache erklären, dass ein Preis nicht den Gesamtnutzen einer Ware widerspiegelt, sondern deren Grenznutzen. Wettbewerb, unvollkommener (competition, imperfect): Ein Ausdruck, mit dem man Märkte bezeichnet, auf denen kein vollkommener Wettbewerb herrscht, weil wenigstens ein Verkäufer (oder Käufer) groß genug ist, um den Marktpreis zu beeinflussen und sich daher einer nach unten geneigten Nachfrage- (oder Angebots-)kurve gegenübersieht. Unvollständiger Wettbewerb bezieht sich auf jede Art von Wettbewerbsverzerrung – reines Monopol, reines Oligopol oder monopolistischer Wettbewerb. Wettbewerb, vollkommener (competition, perfect): Ein Ausdruck, mit dem man Märkte bezeichnet, auf denen kein Unternehmen und kein Konsument stark genug ist, um den Marktpreis zu beeinflussen. Eine derartige Situation liegt vor, wenn sich (1) eine große Anzahl von Käufern und Verkäufern gegenüberstehen und (2) die von den Verkäufern angebotenen Produkte homogen (oder nicht unterscheidbar) sind. Unter diesen Bedingungen sieht sich jedes Unternehmen einer waagerechten (oder vollkommen elastischen) Nachfragekurve gegenüber. Wettbewerbsgleichgewicht (competitive equilibrium): Der Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf einem Markt oder in einer Volkswirtschaft, auf dem beziehungsweise in der vollkommener Wettbewerb herrscht. Da bei vollkommenem Wettbewerb die einzelnen Verkäufer und Käufer nicht die
1064 Macht haben, den Markt zu beeinflussen, wird sich der Preis auf dem Niveau einpendeln, auf dem er sowohl den Grenzkosten als auch dem Grenznutzen entspricht. Wettbewerbsmarkt (competitive market): Siehe Wettbewerb, vollkommener. Wettbewerbsprodukte (differentiated products): Produkte, die miteinander im Wettbewerb stehen, Substitute darstellen und sich gleichen, aber nicht identisch sind. Es können Unterschiede in der Funktion der Produkte, ihrem Aussehen, ihrer Qualität, ihrer Verfügbarkeit oder sonstigen Eigenschaften bestehen. Wirtschaftliche Rente oder Differentialrente (economic surplus): Der Begriff bezeichnet den Überschuss an Gesamtnutzen oder Gesamtzufriedenheit über die Produktionskosten; er entspricht der Summe aus Konsumentenrente (dem Überschuss des Konsumentennutzens über den Gesamtwert der Käufe) und Produzentennutzen (Überschuss der Produzenteneinnahmen über die Kosten). Wirtschaftsgut (economic good): Ein Gut, das im Vergleich zur Nachfrage relativ knapp ist. Es muss daher rationiert werden, üblicherweise dadurch, dass ein bestimmter Preis dafür verlangt wird. Wirtschaftswachstum (economic growth): Eine Zunahme der Gesamtproduktion eines Landes im Zeitverlauf. Üblicherweise wird das Wirtschaftswachstum gemessen als die jährliche Zuwachsrate des realen BIP (oder des realen potenziellen BIP) eines Landes. Wirtschaftswissenschaften (economics): Sozialwissenschaftliche Fachrichtung, die sich mit der Frage befasst, wie Gesellschaften knappe Ressourcen nutzen, um wertvolle Güter herzustellen und sie an verschiedene Menschen zu verteilen. Wohlfahrtsstaat (welfare state): Das Konzept einer gemischten Wirtschaft, das in Euro-
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pa Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und während der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten eingeführt wurde. Laut der modernen Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat bestimmen die Märkte die Details des täglichen wirtschaftlichen Handelns, während der Staat die gesellschaftlichen Bedingungen reglementiert und für Renten, Gesundheitsfürsorge und sonstige Aspekte des sozialen Sicherheitsnetzes sorgt. Wohlfahrtstheorie (welfare economics): Die normative Analyse von Wirtschaftssystemen, das heißt die Untersuchung, was in einer Volkswirtschaft richtig oder falsch funktioniert. Wucher (usury): Davon spricht man, wenn für das Verleihen von Geld ein Zinssatz berechnet wird, der über der gesetzlich festgelegten Höchstgrenze liegt.
Z Zahlungsbilanz (balance of international payments): Eine Bilanz, die für einen bestimmten Zeitraum sämtliche Transaktionen eines Landes mit dem Rest der Welt aufzeichnet. Erfasst werden Käufe und Verkäufe von Waren und Dienstleistungen, Geschenke, staatliche Transaktionen und Kapitalbewegungen. Zentralbank (central bank): Eine von einer oder mehreren Regierungen eingesetzte Organisation (Europäische Zentralbank für die EU, Federal Reserve System für die Vereinigten Staaten), die für die Überwachung und Bestimmung der Geldmenge eines Landes oder einer Ländergruppe, die Festlegung der Kreditkonditionen und die allgemeine Überwachung des Finanzsystems, insbesondere der Banken und Sparkassen, zuständig ist. Zinseszins (compound interest): Zins, der auf Basis der Summe aus Kapitalanlage und bereits angesammeltem Zins berechnet
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wird. Nehmen wir beispielsweise an, eine Kapitalanlage von 100 US-$ würde mit Zinseszins auf einem Konto mit jährlicher Verzinsung von 10 Prozent angelegt. Nach Ende des ersten Jahres wurden US-$ 10 an Zinsen verdient. Am Ende des zweiten Jahres beträgt die Zinszahlung US-$ 11, nämlich US-$ 10 für die ursprüngliche Einlage und US-$ 1 für den angelegten Zins. In späteren Jahren wird entsprechend verfahren. Zins (interest): Die Zahlung, die an diejenigen geleistet wird, die Geld verleihen. Zinssatz (interest rate): Der Preis, der für das Ausleihen von Geld für einen bestimmten Zeitraum gezahlt wird und der üblicherweise als Prozentsatz der betreffenden Summe angegeben wird. Wenn der Zinssatz 10 Prozent pro Jahr beträgt, dann müssen für ein Darlehen von US-$ 1.000, das über ein Jahr läuft, US-$ 100 an Zinsen gezahlt werden. Zoll (tariff): Eine Abgabe oder Steuer, die auf jede Einheit einer Ware erhoben wird, die ein Land importiert.
1065 Zunehmende Skalenerträge (increasing returns to scale): Siehe Skalenerträge. Zusammenschluss (merger): Der Erwerb eines Unternehmens durch ein anderes, meistens dadurch, dass der Käufer die Aktien des anderen Unternehmens erwirbt. Wichtige Formen sind (1) vertikale Zusammenschlüsse, die entstehen, wenn zwei Unternehmen auf unterschiedlichen Stufen des Produktionsprozesses tätig sind (also beispielsweise Eisenerz und Stahlplatten), (2) horizontale Zusammenschlüsse, die vorliegen, wenn zwei Unternehmen für die gleichen Märkte produzieren (beispielsweise zwei Automobilbauer), sowie (3) konglomerate Zusammenschlüsse, die entstehen, wenn zwei Unternehmen auf völlig verschiedenen Märkten tätig sind (beispielsweise Schnürsenkel und Ölraffinerien). Zwischenprodukte (intermediate goods): Produkte, die schon eine gewisse Be- oder Verarbeitung erlebt haben, aber noch nicht zum Endprodukt geworden sind. Beispielsweise handelt es sich bei Stahl oder Baumwollfäden um Zwischenprodukte.
Wörterbuch englisch – deutsch
A ability-to-pay principle absolute advantage accelerator effect accelerator principle accounting conventions adaptive expectations (backward looking) models adjusted gross income adjustment mechanism administered prices adverse selection affirmative action aggregate demand aggregate demand curve aggregate production function aggregate supply aggregate supply curve agriculture allocation allocative efficiency amounts of factors analysis of costs, cost analysis annual net profit anticipated inflation anti-merger proceedings
Leistungsfähigkeitsprinzip (Besteuerung) Absoluter Vorteil Akzeleratoreffekt Akzeleratorprinzip Bilanzierungsgrundsätze Adaptive Erwartungsmodelle Berichtigtes Bruttoeinkommen Anpassungsmechanismus Administrierte Preise Negative Auslese (Ausscheiden der besseren Risiken) Bevorzugte Behandlung ethnischer Minderheiten Gesamtnachfrage, gesamtwirtschaftliche Nachfrage Gesamtnachfragekurve Gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion Gesamtangebot, gesamtwirtschaftliches Angebot Gesamtangebotskurve Landwirtschaft Allokation, Verteilung Allokationseffizienz Faktormengen Volkswirtschaftliche Kostenanalyse Jährlicher Nettogewinn Erwartete Inflation Antifusionsverfahren
1068 antitrust policy appreciation appropriable arbitrage arbitrager asset asset demand for money auction market augmented national accounts austerity budget automated teller machine (ATM) automatic stabilizers average cost average income average price level average product average revenue average tax rate average variable cost
Wörterbuch
Antitrustpolitik (Kartellrecht) Kursgewinn einer Währung Internalisierbar Arbitrage Arbitrageur Aktivum, Vermögenswert Veranlagungsgeldnachfrage Auktionsmarkt Erweiterte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Sparhaushalt Geldautomat Automatische/eingebaute Stabilisatoren Durchschnittskosten, Stückkosten Durchschnittseinkommen Durchschnittspreisniveau Durchschnittsprodukt Durchschnittseinnahmen Durchschnittlicher Steuersatz Variable Durchschnittskosten
B backward-bending supply curve backwardness hypothesis balance of current account balance of international payments balance of trade balance sheet balanced budget balanced growth theory bank money bank reserves banking barriers to entry Barro effect barter
Rückwärts gekrümmte Angebotskurve Rückständigkeitshypothese (Entwicklungstheorie) Leistungsbilanz Zahlungsbilanz Handelsbilanz Bilanz Ausgeglichenes Budget Theorie des gleichgewichtigen/ausgewogenen Wachstums Buchgeld Mindestreserven Bankwesen Markteintrittsbarrieren Barro-Effekt Tauschhandel, Naturaltausch
Wörterbuch
base year basic multiplier model basket of goods and services beggar-thy-neighbor policy benefit principle best practice bilateral monopoly bilateral trade black market bond boom cycle borrowed reserves bottom line bounded rationality
bracket creep break-even-point broad money budget budget constraint budget deficit budget line budget surplus business business accounting business accounts business cycle business fluctuations business saving business unionism bust
1069 Basisjahr Einfaches Multiplikatormodell Warenkorb Außenhandelspolitik zulasten anderer Länder Äquivalenzprinzip, Nutzenprinzip (Besteuerung) Optimales Verfahren Bilaterales Monopol Bilateraler Handel Schwarzmarkt Festverzinsliches Wertpapier Hochkonjunkturphase Diskontkredite Saldo, Nettoergebnis Selektive Informationsaufnahme aufgrund beschränkter kognitiver und zeitlicher Kapazitäten Kalte Progression Gleichgewichtspunkt, Gewinnschwelle, Sparschwelle Erweiterte Geldmenge, M2, Quasigeld, Geldsurrogat Budget Budgetbeschränkung, Budgetgrenze, Budgetrestriktion Budgetdefizit Budgetgrenze Budgetüberschuss Unternehmen Betriebliches Rechnungswesen Unternehmensbilanzen Konjunkturzyklus Konjunkturschwankungen Spartätigkeit der Unternehmen Gewerkschaftstätigkeit als rein wirtschaftliches (unpolitisches) Druckmittel (USA) Wirtschaftsflaute
1070
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C capacity utilization capital capital account capital accumulation capital consumption allowance capital deepening capital displacement capital flight capital formation capital gains/returns capital markets capital property capital stock capital widening capitalism cardinal utility cartel central bank chain weighting change checking account circular flow diagram closed economy coincidence of wants collective bargaining collusion collusive oligopoly command economy commercial bank commodity commodity money common currency common stock communism comparable worth principle comparative advantage
Kapazitätsauslastung Kapital, Kapitalgüter, Kapitalausstattung Kapitalbilanz Kapitalbildung Abschreibung (in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) Kapitalvertiefung Kapitalverschiebung Kapitalflucht Kapitalbildung Kapitalerträge Kapitalmärkte Kapitalbesitz Kapitalstock Kapitalerweiterung Kapitalismus Kardinalnutzen Kartell Zentralbank Kettengewichtung Veränderung Girokonto, Sichteinlagen Darstellung des Wirtschaftskreislaufs Geschlossene Volkswirtschaft Bedürfniskoinzidenz Tarifverhandlungen Kollusion Kollusionsoligopol Planwirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft Geschäftsbank Ware, Gut, Rohstoff Warengeld Gemeinsame Währung Stammaktie Kommunismus Gleichwertigkeitsprinzip in Lohnfragen Komparativer Vorteil
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compensating wage differentials competition competition, imperfect competition, perfect competitive equilibrium competitive market competitiveness complements composition of assets compound interest concentration ratio conglomerate conglomerate merger constant cost constant returns to scale consumer behavior consumer equilibrium consumer goods consumer price index (CPI) consumer surplus consumption consumption function consumption-possibility line consumption tax contingent valuation contraction cooperative equilibrium core inflation corporate bonds corporate income tax corporation correlation cost cost-benefit analysis cost minimization cost-of-living adjustment cost-push inflation cost schedule
1071 Kompensatorische Lohnunterschiede Wettbewerb Unvollkommener Wettbewerb Vollkommener Wettbewerb Wettbewerbsgleichgewicht Wettbewerbsmarkt Wettbewerbsfähigkeit Komplementärgüter Zusammensetzung des Kapitalbestands Zinseszins Konzentrationsrate Konzern Konglomerater Zusammenschluss Konstante Kosten Konstante Skalenerträge Konsumentenverhalten Konsumentengleichgewicht Konsumgüter Verbraucherpreisindex (VPI) Konsumentenrente Konsum Konsumfunktion Budgetgrenze, Konsummöglichkeitenkurve Verbrauchsabgabe, Verbrauchssteuer Kontingenter Bewertungsansatz Schrumpfung, Schrumpfungsprozess, Abschwächung Kooperatives Gleichgewicht Kerninflation Industrieobligationen Körperschaftssteuer Kapitalgesellschaft Korrelation Kosten Kosten-Nutzen-Analyse Kostenminimierung Anpassung der Lebenshaltungskosten Kostendruckinflation Kostenplan
1072 countervailing duty coupon rationing craft union crawling (gliding) peg credit crop restrictions cross elasticity of demand crowding out currency currency area currency appreciation currency depreciation currency board cyclical budget cyclical unemployment
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Ausgleichszoll, Kompensationszoll, Umsatzausgleichssteuer Gutscheinbewirtschaftung Fachgewerkschaft Gleitende Bandbreite für Wechselkurse Kredit, Haben (in der Bilanz) Anbaubeschränkungen Kreuzpreiselastizität der Nachfrage Verdrängungseffekt Währung Währungsraum Kursgewinn einer Währung Kursverlust einer Währung Währungsamt Konjunkturabhängiges Budget Konjunkturelle Arbeitslosigkeit
D deadweight loss debit debt burden debtor nation declining marginal product decrease in quantity decreasing returns to scale deficit reduction deficit spending deflation demand for investment demand for money demand curve demand deposits demand management demand-pull inflation demand schedule demerit goods demography
Nettowohlfahrtsverlust Schuldposten, Kontobelastung, Soll Schuldenlast Schuldnerland Abnehmendes Grenzprodukt Mengenrückgang Abnehmende Skalenerträge Defizitabbau Defizitfinanzierung, öffentliche Verschuldung durch Begebung von Anleihen Deflation Investitionsnachfrage Geldnachfrage Nachfragekurve, Nachfragefunktion Sichteinlagen Steuerung der Gesamtnachfrage Nachfragesoginflation Nachfragefunktion Unerwünschte, schädliche Güter (u.a. Drogen) Demografie
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deposit creation deposit insurance depreciation depression derivative derived demand to detrend devaluation developing country differentiated products diminishing marginal utility diminishing returns direct taxes discount rate discounting discrimination disequilibrium disinflation disposable (personal) income dissaving distortion distribution distribution theory dividend division of labor domestic demand domestic expenditure domestic trade dominant equilibrium double counting downturn downward sloping of demand curves dragon states duopoly duopoly price game
1073 Giralgeldschöpfung Einlagen-, Depositenversicherung Abschreibung, Kursverlust einer Währung Depression Derivat Abgeleitete Nachfrage Eine Trendbereinigung vornehmen Abwertung einer Währung Entwicklungsland Wettbewerbsprodukte Abnehmender Grenznutzen Abnehmende Grenzerträge Direkte Steuern Diskontsatz, Abzinsungssatz Abzinsung Diskriminierung Ungleichgewicht Inflationseindämmung Verfügbares Einkommen Entsparen, negatives Sparen Verzerrung Verteilung Verteilungstheorie Dividende Arbeitsteilung Binnennachfrage, Nachfrage im Inland Inlandsausgaben Binnenhandel Dominantes Gleichgewicht Doppelzählungen Konjunkturabschwächung Abwärtsneigung der Nachfragekurve Tigerstaaten Duopol Duopolistisches Preisspiel
1074
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E earned-income tax credit earnings econometrics economic costs economic good economic growth economic regulation economic rent economic stimulus economic surplus economics economics of information economies of scale economies of scope effective tax rate efficiency efficiency losses from taxation efficiency-wage theory efficient financial markets elasticity emerging market country employed person employment Engel’s law entitlement program environmental damage environmental economics equal-cost line equal-product curve equation of exchange equilibrium equilibrium-business-cycle theories equilibrium condition equimarginal principle erosion of the tax base
Steuergutschrift auf Erwerbseinkommen Einkommen Ökonometrie Volkswirtschaftliche Kosten Wirtschaftsgut Wirtschaftswachstum Staatliche Wirtschaftslenkung Grundrente, reine volkswirtschaftliche Rente Wirtschaftlicher Anreiz Wirtschaftliche Rente, Differenzialrente Wirtschaftswissenschaften, Volkswirtschaftslehre Informationsökonomik Skaleneffekte, Kostenersparnisse aufgrund optimaler Betriebsvergrößerung Verbundvorteile, Kostenersparnisse aufgrund optimaler Erweiterung der Produktpalette Effektivsteuersatz Effizienz Effizienzverluste durch Steuern Effizienzlohntheorie Kapitalmarkteffizienz Elastizität Schwellenland Beschäftigte(r) Beschäftigung Engelsches Gesetz Sozialprogramm (USA) Umweltschaden Umweltökonomie Isokostenlinie Isoquante Tauschgleichung, Verkehrsgleichung Gleichgewicht Gleichgewichts-Konjunkturtheorien Gleichgewichtsbedingung Prinzip gleichen Grenznutzens Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage
1075
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escape hatch European Monetary System (EMS) excess demand excess reserves exchange rate exchange rate parity exchange rate system excise tax exclusion principle exogenous business cycle exogenous/external variable expectations expected value expenditure cuts expenditure multiplier exponential growth export external debt external diseconomies external economies external variable externalities
Schlupfloch (Steuern) Europäisches Währungssystem (EWS) Nachfrageüberhang Überschussreserven der Banken Wechselkurs Wechselkursparität Wechselkurssystem Verbrauchssteuer, indirekte Steuer Ausschlussprinzip Exogener (exogen bestimmter) Konjunkturzyklus Exogene Variable Erwartungen Erwartungswert des Nutzens Ausgabenkürzungen Ausgabenmultiplikator Exponentielles Wachstum Ausfuhr, Export Externe Verschuldung Externe Zusatzkosten Externer Zusatznutzen Exogene/externe Variable Externalitäten
F factor demand factor income factors of production fallacy fallacy of composition federal expenditure federal funds rate Federal Open Market Committee Federal Reserve System federalism fiat money fiduciary
Faktornachfrage Faktoreinkommen Produktionsfaktoren Trugschluss Trugschluss der Verallgemeinerung Ausgaben des Bundes, Bundesausgaben Tagesgeldmarktsatz Offenmarktausschuss der US-amerikanischen Zentralbank US-amerikanische Zentralbank Föderalismus Geld ohne Edelmetalldeckung Treuhänder
1076 final good/product financial account financial assets financial economics financial flow financial intermediaries financial markets financial system firm fiscal deficit fiscal expansion fiscal federalism fiscal-monetary mix fiscal policy fixed cost fixed exchange rate fixed investments (business) flexible exchange rates flexible wages floating rate mortgage flow flow of funds flow of money flow-of-product approach foreign aid foreign borrowing foreign currency/exchange foreign exchange market foreign exchange rate foreign investment foreign sector foreign trade fractional-reserve banking franchise monopoly free floating exchange rates free goods
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Endprodukt Kapitalbilanz Finanzanlagen Finanzwirtschaft Finanzstrom Finanzmittler Finanzmärkte Finanzsystem Unternehmen Haushaltsdefizit Expansive Finanzpolitik Fiskalföderalismus Mischung fiskal- und geldpolischer Maßnahmen Fiskalpolitik Fixkosten Fester Wechselkurs Investitionen in Betriebsgebäude und Maschinen Frei schwankende/flexible Wechselkurse Flexible Löhne Flexibel verzinstes Hypothekenardarlehen Flussgröße Fluss von Finanzmitteln Geldfluss Güterstromansatz (Verwendungsrechnung zur Ermittlung des BIP) Entwicklungshilfe Auslandskredite Devisen Devisenmarkt Wechselkurs Auslandsinvestitionen Außenwirtschaftsbereich Außenhandel Eingeschränkte Reservehaltung Lizenzmonopol Frei schwankende/flexible Wechselkurse Freie Güter
1077
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free market pricing free trade frictional unemployment fringe benefits full employment fully distributed average cost
Preisbildung auf dem freien Markt Freihandel Friktionelle Arbeitslosigkeit, Sucharbeitslosigkeit Lohnnebenleistungen, betriebliche Vergünstigungen Vollbeschäftigung Vollständig umgelegte Durchschnittskosten
G gains from trade galloping inflation game theory GDP-deflator GDP-equilibrium General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) general equilibrium Gini coefficient gliding (crawling) peg global liquidity crisis gold standard government debt government expenditure government expenditure multiplier government-sponsored competition Great Depression great stock market crash green accounting green accounts green tax gross gross domestic product (GDP) gross national product (GNP) growth growth accounting growth recession
Handelsgewinne Galoppierende Inflation Spieltheorie BIP-Deflator BIP-Gleichgewichtsniveau Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen Allgemeines/vollständiges Gleichgewicht Gini-Koeffizient Gleitende Bandbreite eines Wechselkurses Weltweite Liquiditätskrise Goldstandard Staatsverschuldung Staatsausgaben Staatsausgabenmultiplikator Staatlich geförderter Wettbewerb Große Depression, Weltwirtschaftskrise Großer Börsenkrach (1929) Ökologische Gesamtrechnung Umweltkonten Ökosteuer Brutto Bruttoinlandsprodukt (BIP) Bruttosozialprodukt (BSP) Wachstum Wachstumsrechnung, substitutionelle Produktionsfunktion Wachstumsrezession
1078
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H health-care expenditures hedging high-employment level of output high-powered money historical cost horizontal horizontal equity (taxation) horizontal integration human capital Hume’s gold-flow equilibrating mechanism hyperinflation
Ausgaben für das Gesundheitswesen Hedging Vollbeschäftigungsproduktionsniveau Geldbasis Anschaffungskosten Horizontal, waagerecht Horizontale Steuergerechtigkeit Horizontale Integration Humankapital Humes Goldflussanpassungsmechanismus Hyperinflation
I illegal conduct impact imperfect competition implicit cost elements implicit returns import import restrictions inappropriable, unappropriable incentive incidence of tax income income-based tax income class income effect income elasticity of demand income statement income tax income velocity of money incomes policy increase independent goods index-number problem indexation, indexing
Gesetzwidriges Verhalten Auswirkung Unvollkommener Wettbewerb Kalkulatorische Kosten Kalkulatorische Faktorerträge Einfuhr, Import Einfuhrbeschränkungen Nicht internalisierbar (wirtschaftlicher) Anreiz Steuerinzidenz Einkommen Ertragsabhängige Steuer Einkommensklasse Einkommenseffekt (einer Preisänderung) Einkommenselastizität der Nachfrage Gewinn- und Verlustrechnung Einkommensteuer Umlaufgeschwindigkeit des Geldes Einkommenspolitik Anstieg, Steigerung, Zunahme Unabhängige Güter Problem der Indexzahlen (bei Preisindizes) Indexbindung
1079
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indifference curve indifference map indirect tax individual proprietorship induced variable industrial production Industrial Revolution industrial union industrialization industry inefficiency inequality inertial inflation infant industry inferior good inflation rate inflation-unemployment tradeoff influx of capital infrastructure input input costs insurance inertial rate of inflation innovation insurance intellectual property intellectual property rights interest interest rate interest-sensitive spending intermediate good internal business cycle theory internal debt Internal Revenue Service International Monetary Fund (IMF) international monetary/financial system international reserves intersection
Indifferenzkurve Indifferenzkarte Indirekte Steuer Einzelunternehmen Endogene/induzierte Variable Industrielle Produktion Industrielle Revolution Industriegewerkschaft Industrialisierung Industrie, Branche Ineffizienz Ungleichheit Schleichende Inflation Junge Branche Inferiores Gut Inflationsrate Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit Kapitalzufluss Infrastruktur Produktionsfaktor(en) Faktorkosten Versicherung Schleichende Inflationsrate Innovation Versicherung Geistiges Eigentum Rechte an geistigem Eigentum Zins Zinssatz Zinsabhängige Ausgaben Zwischenprodukt, Halbfertigprodukt Endogene Konjunkturtheorie Interne Verschuldung US-Steuerbehörde Internationaler Währungsfonds (IWF) Internationales Währungssystem Währungsreserven Schnittpunkt
1080 intervention intrinsic value invention inventory investment investment investment demand invisible balance invisible earnings invisible hand involuntary unemployment isoquant
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Intervention Stoffwert Erfindung Investitionen in Lagerbestände Investition Investitionsnachfrage Dienstleistungsbilanz (im Außenhandel) Einkünfte aus unsichtbaren Geschäftstransaktionen Unsichtbare Hand Unfreiwillige Arbeitslosigkeit Isoquante
J joblessness junk bond
Arbeitslosigkeit Hoch riskante Anleihe, Ramschanleihe
K Keynesian economics
Keynesianische Wirtschaftstheorie
L labor demand labor force labor force participation rate labor market issues labor productivity labor supply labor theory of value labor union Laffer-curve lag land law of diminishing marginal utility law of diminishing returns leakage
Nachfrage nach Arbeit (nach Arbeitskräften) Erwerbstätige, Erwerbsbevölkerung Erwerbstätigenquote Arbeitsmarktthemen Arbeitsproduktivität Arbeitsangebot Arbeitswertlehre Gewerkschaft Laffer-Kurve Verzögerung Grund und Boden Gesetz des abnehmenden Grenznutzens Gesetz der abnehmenden Grenzerträge Sickerverlust
1081
Wörterbuch
least-cost condition least-cost factor combination least-cost method of production least-cost rule legal person legal reserve requirements legal tender lender of last resort less-developed country levy liabilities liability rules libertarianism life cycle lifetime income limited liability liquid assets liquidity loans and acceptances locomotive for growth long-run long-term securities loopholes Lorenz curve loss low-risk asset Lucas critique lump-sum tax
Minimalkostenbedingung Kostenoptimale Faktorkombination Kostengünstigste Produktionsmethode Kostenoptimierungsregel, Minimalkostenregel Rechtspersönlichkeit Gesetzliche Mindestreserveanforderungen an Banken Gesetzliches Zahlungsmittel Refinanzierungsinstitut der letzten Instanz (Zentralbank) Unterentwickeltes Land Abgabe Verbindlichkeiten Haftungsfragen Libertarianismus Lebenszyklus Lebenseinkommen Beschränkte Haftung Verfügbare (flüssige, liquide) Mittel Liquidität Kredite und Handelswechsel Wachstumslokomotive Langfristig Langfristige Wertpapiere (Steuer-) Schlupflöcher Lorenzkurve Verlust, Einbuße Risikoarme Anlageform Lucas-Kritik Pauschalsteuer
M macroeconomic equilibrium macroeconomic growth macroeconomic policy macroeconomics majority rule managed exchange rate
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Gesamtwirtschaftliches Wachstum Wirtschaftspolitik Makroökonomie, Makroökonomik Mehrheitsprinzip Administrierter Wechselkurs
1082 managed market approach manufactured products marginal cost marginal cost pricing marginal principle marginal product marginal product theory of distribution marginal productivity marginal propensity to consume (MPC) marginal propensity to save (MPS) marginal rate of substitution marginal revenue marginal revenue product marginal social benefit marginal tax rate marginal utility market market clearing market-clearing price market demand market economy market equilibrium market failure market forces market imperfection market interest rate market leninism market power market share Marxism mass production maximizing of profits maximum ceiling mean median medium of exchange mercantilism merger
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Gelenkte Marktwirtschaft Fabrikwaren, Industriewaren Grenzkosten Preisbildung in Höhe der Grenzkosten Grenzbetrachtung Grenzprodukt Verteilung gemäß dem Grenzprodukt Grenzproduktivität Grenzneigung zum Konsum Grenzneigung zum Sparen Grenzrate der Substitution Grenzerlös Wertgrenzprodukt Sozialer Grenznutzen Grenzsteuersatz Grenznutzen Markt Markträumung Markträumungspreis Marktnachfrage Marktwirtschaft Marktgleichgewicht, Wettbewerbsgleichgewicht Marktversagen Marktmächte Unvollkommenheit des Marktes Marktzinssatz Sozialistische Marktwirtschaft Marktmacht Marktanteil Marxismus Massenproduktion Gewinnmaximierung Preisobergrenze Mittelwert Mittlerer Wert, Median Tauschmittel Merkantilismus Zusammenschluss, Fusion
1083
Wörterbuch
microeconomics mineral resources minimum cost minimum floor minimum level of subsistence minimum wage rate mixed economy models for development moderate monetarism monetarist experiment monetary aggregate monetary base monetary business cycle theory monetary economy monetary expansion monetary policy monetary rule monetary transmission mechanism monetary union money money demand schedule money funds money interest rate money market money supply money supply effect money supply multiplier monopolistic competition monopoly monopsony moral hazard mortgage moving average multifactor productivity multilateral trade multiple expansion of bank deposits multiplier
Mikroökonomie, Mikroökonomik Bodenschätze Mindestkosten Preisuntergrenze Existenzminimum Mindestlohnsatz Mischwirtschaft Entwicklungsmodelle Gemäßigt Monetarismus Monetaristisches Experiment Geldmengenaggregat Geldbasis Monetaristische Konjunkturtheorie Geldwirtschaft Geldmengenexpansion Geldpolitik Monetaristische Regel Monetärer Transmissionsmechanismus Währungsunion Geld Geldnachfragefunktion Kurzfristige Geldanlagen Nominalzinssatz, Geldzinssatz Geldmarkt Geldmenge Geldmengeneffekt Geldschöpfungsmultiplikator Monopolistischer Wettbewerb Monopol Nachfragemonopol Moral hazard, Subjektives Risiko (eines Versicherten) Hypothek Gleitender Durchschnitt Gesamtfaktorproduktivität Multilaterale Handelsbeziehungen Multiple Giralgeldschöpfung Multiplikator
1084 multiplier model mutual fund
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Multiplikatormodell Investmentfonds
N narrow money Nash equilibrium national accounts national debt national income national income and product accounts nationalized health service natural monopoly natural rate of unemployment near money neoclassical model of growth net corporate saving net domestic product (NDP) net economic welfare net exports net investment net national product (NNP) net worth new classical macroeconomics newly industrialized countries nominal interest rate non-accelerating inflation rate of unemployment (NAIRU) non-cooperative equilibrium non-rational expectations non-renewable resources normative economics
Transaktionsgeld Nash-Gleichgewicht Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Staatsverschuldung Volkseinkommen Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Staatlicher Gesundheitsdienst Natürliches Monopol Natürliche Arbeitslosenquote Geldähnliche Forderungen Neoklassisches Wachstumsmodell Nettoersparnisse der Unternehmen Nettoinlandsprodukt (NIP) Nettosozialwohlfahrt Nettoexporte, Außenbeitrag Nettoinvestitionen Nettosozialprodukt (NSP) Nettowert, Reinvermögen, Eigenkapital Neoklassische Makroökonomiek Schwellenländer Nominalzinssatz Inflationsneutrale Arbeitslosigkeit Nichtkooperatives Gleichgewicht, Nash-Gleichgewicht Irrationale Erwartungen Nicht erneuerbare Ressourcen Normative Ökonomie
O Okun’s Law oligopoly
Okunsches Gesetz Oligopol
1085
Wörterbuch
open economy open-economy multiplier open-market operations opportunity cost optimal currency area ordinal utility origin of a graph other things constant/equal outsourcing output outward orientation overhead(s)
Offene Volkswirtschaft Multiplikator der offenen Volkswirtschaft Operationen am offenen Markt Opportunitätskosten Optimaler Währungsraum Ordinaler Nutzen Nullpunkt, Ursprung eines Diagramms Ceteris-paribus-Klausel Auslagerung Produktion Außenwirtschaftliche Orientierung Festkosten, Betriebskosten, Gemeinkosten
P paper money paradox of thrift paradox of value Pareto efficiency partial-equilibrium analysis partnership patent payoff table payroll tax pension fund per capita perfect competition permanent income theory personal income personal income tax personal saving personal saving rate Phillips curve policy ineffectiveness theorem political theory of business cycles poll tax pollution population explosion
Papiergeld Sparparadox Wertparadox Allokationseffizienz, Pareto-Effizienz Partielle Gleichgewichtsanalyse Partnerschaft, Personengesellschaft Patent Auszahlungsmatrix Sozialversicherungsbeiträge (USA) Pensionskasse Pro Kopf Vollständiger Wettbewerb Theorie des permanenten Einkommens Persönliches Einkommen Lohn- und Einkommenssteuer Ersparnisse Sparquote Phillipskurve Theorem der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen Politische Konjunkturtheorie Kopfsteuer Umweltverschmutzung Bevölkerungsexplosion
1086 positive economics potential GDP potential output poverty poverty line preference present value price price ceiling price controls price discrimination price elasticity price flexibility price index price-inelastic demand price stability price taker price war pricing principal principles of taxation prisoner’s dilemma private good private property privatization producer price index producer surplus product differentiation production function production-possibility frontier (PPF) production tax productive potential productivity productivity growth profit profit and loss statement progressive tax prohibitive tariff
Wörterbuch
Positive Ökonomie Potenzielles BIP Potenzielle Produktionsleistung Armut Armutsgrenze Präferenz Gegenwartswert Preis Preisobergrenze Preiskontrollen Preisdiskriminierung Preiselastizität Preisflexibilität Preisindex Preisunelastische Nachfrage Preisstabilität Mengenanpasser Preiskampf Preisgestaltung Kapitaleinlage Besteuerungsgrundlagen Gefangenendilemma (Spieltheorie) Privates Gut Privateigentum Privatisierung Erzeugerpreisindex Unternehmergewinn Produktdifferenzierung Produktionsfunktion Produktionsmöglichkeitenkurve Indirekte Steuer Produktionspotenzial Produktivität Produktivitätswachstum, -steigerung Gewinn Gewinn- und Verlustrechnung Progressive Steuer Prohibitiver Zoll
1087
Wörterbuch
property rights property tax proportional tax protectionism public choice theory public debt public employment projects public good public health care public utility public works projects publicly owned corporation purchasing power parity pure economic rent
Besitzrechte Vermögensteuer Proportionale Steuer Protektionismus Public-Choice-Theorie, Theorie der öffentlichen Entscheidung Staatsverschuldung Staatliche Beschäftigungsprogramme Öffentliches Gut Gesundheitswesen Öffentliches Versorgungsunternehmen (Gas, Strom, Wasser) Staatliche Aufträge Publikumsgesellschaft Kaufkraftparität Reine volkswirtschaftliche Rente
Q quantity equation of exchange quantity theory of money and prices quota
Tauschgleichung, Verkehrsgleichung Quantitätstheorie des Geldes und der Preise Quote, Importbeschränkung
R random sample random walk rate of inflation rate of profit rate of return rate of return on capital rational expectations hypothesis rational expectations macroeconomics rationing real balance effect (Pigou effect) real business cycle theory real estate tax real income
Zufallsstichprobe Zufallsbewegung, zufällige Entwicklung Inflationsrate Gewinnquote Rendite Kapitalrendite Rationale Erwartungshypothese Makroökonomie der rationalen Erwartungen Rationierung Realkasseneffekt, Pigou-Effekt Theorie realer Konjunkturzyklen Grundsteuer Realeinkommen
1088 real interest rate real wages recession redistribution of income regressive tax regulated pricing regulation regulatory body related goods relative price equilibrium renewable resources rent reproducible capital research and development (required) reserve ratio reserve requirements policy reserves reserves, international residual resource allocation restriction of market power retail retirement income return on capital returns to scale revaluation revenues risk averse risk sharing/spreading
Wörterbuch
Realzinssatz Reallöhne Rezession Einkommensumverteilung Regressive Steuer Preisregulierung Vorschrift Aufsichtsbehörde Verbundene Güter Relatives Preisgleichgewicht Erneuerbare Ressourcen Bodenpacht, Miete Reproduzierbares Produktionsvermögen Forschung und Entwicklung Mindestreservesatz Mindestreservepolitik Mindestreserven Währungsreserven Restposten Ressourcenverteilung Einschränkung der Marktmacht Einzelhandel, Einzelkundengeschäft Rente Kapitalrendite Skalenerträge Aufwertung einer Währung Erträge Risikoscheu, risikoavers Risikoverteilung
S sacrifice of (current) consumption sales tax satisfaction saving account saving function saving rate
Konsumverzicht Umsatzsteuer Bedürfnisbefriedigung Sparkonto Sparfunktion Sparquote
1089
Wörterbuch
Say’s Law of Markets scarcity scatter diagram schedule securities share shift shock short-run short-term securities shortage shutdown price/point/rule size skilled workers slope social cost of unemployment social insurance social overhead capital social security tax socialism socialist central planning speculative bubble speculator spending line spirit of enterprise, entrepreneurship spot market spreading of risk stagflation standard deviation standard of living statistical discrimination sticky stock stock exchange/market structural budget structural unemployment subsidy subsistence wage
Saysches Theorem Knappheit Streudiagramm Gleichung, Funktion Wertpapiere Anteil, Aktie Verschiebung Plötzliche Einwirkung, Erschütterung Kurzfristig Wertpapiere mit kurzfristiger Anlage Knappheit, Fehlmenge Betriebsminimum Größe Fachkräfte, Facharbeiter Steigung (von Kurven) Soziale Kosten der Arbeitslosigkeit Sozialversicherung Infrastruktur Sozialversicherungsabgabe Sozialismus Sozialistische Planwirtschaft Spekulationsblase (Aktienmarkt) Spekulant Ausgabenkurve Unternehmergeist Kassamarkt Risikostreuung Stagflation Standardabweichung Lebensstandard Statistische Diskriminierung Inflexibel, unbeweglich Bestandsgröße Aktienbörse Strukturelles Budget Strukturelle Arbeitslosigkeit Subvention Mindestlohn, Existenzlohn
1090 substitution effect sunk cost supply supply of labor supply curve supply shock supply-side economics surplus surplus value sustainable economic growth
Wörterbuch
Substitutionseffekt Versunkene Kosten Angebot Arbeitsangebot Angebotskurve Angebotsschock Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik Überschuss, Überhang Mehrwert Nachhaltiges Wirtschaftswachstum
T tacit collusion tangency point tangible assets tangible capital tariff tax on profit tax cut tax incidence technological change technological frontier term of maturity terms of trade tight monetary policy tight money time deposit token money total cost total output/product total revenue trade trade agreement trade balance trade barrier transactions demand for money transactions money
Stillschweigende Kollusion Tangentialpunkt Sachanlagen Sachkapital Zoll Ertragssteuer Steuersenkung Steuerinzidenz Technologischer Wandel/Fortschritt Technologische Grenze Laufzeit/Fälligkeit eines Kredits Austauschverhältnis (im Außenhandel) Geldmengenverknappung Knappe Geldmenge Termineinlage Geldsurrogat Gesamtkosten Gesamtproduktion Gesamteinnahmen Handel Handelsabkommen Handelsbilanz Handelsschranke Transaktionsnachfrage nach Geld Transaktionsgeld, M1
1091
Wörterbuch
transfer payments treasury bill treasury bond
Transferzahlungen Schatzwechsel Schatzanweisung
U unanticipated inflation unbiased forecast underground economy unemployed unemployed resources unemployment unemployment rate unincorporated enterprise unit of account unit-elastic demand unit costs unlimited liability usury utilitarian principle utility utility possibility frontier utility theory
Unerwartete Inflation Unvoreingenommene Vorhersage Schattenwirtschaft Arbeitslose(r) Ungenutzte Ressourcen Arbeitslosigkeit Arbeitslosenquote Unternehmen ohne Rechtspersönlichkeit Recheneinheit Preiselastizität der Nachfrage von 1 Stückkosten Unbeschränkte Haftung Wucher Utilitaristisches Prinzip Nutzen Nutzenmöglichkeitenkurve Nutzentheorie
V value-added value-added tax variable variable cost velocity of money vertical axis vertical equity vertical integration voluntary unemployed voluntary wage-price guidelines
Mehrwert Mehrwertsteuer Variable Variable Kosten Umlaufgeschwindigkeit des Geldes Senkrechte Achse, Y-Achse Vertikale Gleichheit (Steuern) Vertikale Integration Freiwillige(r) Arbeitslose(r) Freiwillige Lohn- und Preisrichtlinien
1092
Wörterbuch
W wage determination wage level wage-price controls waste wealth weighting welfare economics welfare state worker-hour workforce
Lohnbildung Lohnniveau Lohn- und Preiskontrollen Verschwendung Vermögen, Wohlstand Gewichtung Wohlfahrtstheorie Wohlfahrtsstaat Beschäftigtenstunde Arbeitskräfte
Y yield
Ertrag, Zinssatz, Rendite
Z zero-profit point
Gewinnschwelle
Register
A Abschreibung 198, 201, 613, 614, 616 AD-Kurve 593 –, historische Beispiele 594 Airbus 422 Akerlof, George 136 Aktien(-) 732, 735, 736, 737, 738 -fonds 738 -kurs 733, 734, 737 –, Stamm- 732 Aktienmarkt(-) 708, 731, 734, 736, 738 –, Dow-Jones Industrial Average (DJIA) 734 -indizes 734 –, Standard and Poor’s Index 734, 735 Aktionäre 178, 179 Aktiva 199, 201 Alles-oder-nichts-Spiel 318 Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes 22, 679, 964 Allokation –, effiziente 530 –, ineffiziente 21 Allokationseffizienz 232, 234, 406, 413, 414 Alternativkosten 185 Analphabetentum 816 Angebot 54, 79, 80, 88, 89, 93, 95, 97, 103, 104, 161, 409, 433 –, Produktionsfaktoren 339 –, Verschiebung des 95 –, vollkommen elastisches 113 –, vollkommen unelastisches 113, 230, 382, 384 –, vollkommener Wettbewerb 219 Angebot und Nachfrage –, Gleichgewicht 91 Angebotselastizität 113, 114 Angebotsfunktion 86 Angebotskurve 86, 87, 88, 89, 91, 92, 93, 94. 231 Angebotsmenge 89, 92 Angebotsregel 229 Angebotsrückgang 94 Angebotsüberhang 91 Angebotsverschiebung 89, 229, 231 Anlagevermögen 201 Anreize 24, 488, 537, 566, 587 Anschaffungspreis 199 Antitrustpolitik 290, 502, 503, 512 –, Antifusionsverfahren 506 –, AT&T 507 –, Bell-Doktrin 507 –, Clayton Act (1914) 503 –, Federal Trade Commission 504 –, Gesetzwidriges Verhalten 505 –, IBM 508 –, Kartellprobleme der letzten Jahre 507
–, Microsoft 508, 509, 510 –, Sherman Act (1890) 503 Arbeit 351 –, als Produktionsfaktor 28, 353, 354, 781, 812 Arbeitsangebot 356 Arbeitslose 584, 907, 908, 917 Arbeitslosengeld 922, 923 Arbeitslosenquote 584, 766, 907, 908, 910, 911, 947, 948, 974 –, inflationsneutrale 901, 946, 949, 950, 951, 952 –, NAIRU 948 –, optimale 955 –, tatsächliche 948, 949 Arbeitslosenversicherung 309, 906, 922, 956 Arbeitslosigkeit 370, 579, 580, 584, 899, 906, 908, 909, 939, 995 –, Dauer 918 –, Definition 907 –, Europa 912, 918, 922, 923 –, freiwillige 912, 913, 922 –, friktionelle 912, 913, 919 –, Gründe 918 –, inflationsneutrale 907, 955 –, klassische 369 –, konjunkturelle 912, 919 –, Langzeit- 918 –, Messung der 907 –, soziale Auswirkungen 909 –, strukturelle 912, 919, 922 –, unfreiwillige 904, 909, 913, 914, 915, 916 –, USA 909, 917, 918, 921, 923 –, volkswirtschaftliche Auswirkungen 908 Arbeitsmarkt 351, 363 –, Diskriminierung 365 –, segmentierte Märkte 363 Arbeitsnachfrage 353 Arbeitsproduktivität 354 Arbeitsqualität 360 Arbeitsteilung 57, 58, 59, 63, 176 Arbeitszeit 351, 352, 356 Arbitrage 299, 300 Argentinien 858 Armut(s-) 556, 557, 558, 560, 565, 567, 816, 817 -grenze 556, 557 Arrow, Kenneth 241, 464 AS-Kurve 593, 594 Äthiopien 809 Auktionsmarkt 915, 982 Ausbildung 355 Ausbildungsrendite 361 Ausgabenmultiplikator 695 Auslandsnachfrage 866, 875 Auslandsschulden 589, 868 Ausscheiden der besseren Risiken 307, 308
Außenhandel(s-) -defizit 589 -überschuss 589 Austauschverhältnis 427 Auszahlungsmatrix 311
B Bangladesch 818 Banken –, Diskontkredite 750, 753 –, Glass-Steagall Act 758 –, Mindestreserve 747, 748, 750, 751, 755, 756, 973 Banking Acts 757 Barro, Robert 666, 975, 977 Baruch, Bernard 739 Bastiat, Frédéric 432 Baumol, William 784 Baxter, William 507, 508 Becker, Gary 120, 371 Beckerman, Wilfred 521 Bedürfnisbefriedigung 129, 134 Beggar-Thy-Neighbor-Politik 444 Bentham, Jeremy 132 Benzin(-) -preis 79, 123 -steuer 117, 118 Bernoulli, Daniel 131 Beschäftigung 584 Bestandsgröße 200 Besteuerung 587 –, progressive 471 –, proportionale 471 –, Ramseysche Besteuerungsregel 479 –, regressive 471 –, Verzerrung wirtschaftlicher Anreize 997 Betrachtungsweise 168, 169 Betriebseinstellungsregel 222, 223 Betriebsminimum 222, 223 Bevölkerungswachstum 518, 519, 520 Beziehung –, inverse 41 Bilanz(-) 199, 200, 201 -betrug 202, 501 –, Bilanzierungsgrundsätze 200 –, Definition 723 -fälschung 202 Bismarck, Otto von 560 Blinder, Alan 120 Boden 381, 382, 383 Bodenrente 344, 382, 383 Boeing 422, 512 Böhm-Bawerk, E.v. 393 Börsenzusammenbruch 732, 734 Boskin, Michael 626 Branchenangebotskurve 235
1094 Brasilien 586 –, Hyperinflation 586 –, Computerindustrie 445 Brennstoffe –, fossile 525 Brown, E.H. Phelps 931 Bruno, Michael 939 Bruttoinlandsprodukt (BIP) 457, 581, 603, 616, 634, 680, 768, 866, 867, 868, 869, 870, 871, 876 –, Berechnung 604, 605 –, Deflator 930 –, Gleichgewicht 692 –, nominales 582, 609, 612, 769, 968 –, potenzielles 582, 583, 779, 900, 901, 908, 910 –, reales 582, 609, 612, 767, 769, 910, 911 Bruttosozialprodukt (BSP) 616 Bryant, Ralph C. 701, 983, 1004 Buchanan, James 464 Budget(-) –, ausgeglichenes 990, 991 -beschränkung 154, 155 -defizit 698. 990, 991, 993, 994, 995 -gerade 154, 155, 156, 157, 158 –, Gesetzesvorlage 1008 –, konjunkturbedingtes 993 –, Pay-as-you-go 1008 –, strukturelles 993 –, tatsächliches 993 -überschuss 621, 699, 990, 993, 1000 Budget Act 699, 991, 1007, 1008 Buffett, Warren 363 Bush, George W. 699
C Capitalism and Freedom 73 Carlyle, Thomas 458, 785 ceteris paribus 80 Chancengleichheit 561 Chicago School 512 Chile 50 China 50, 811, 823, 852, 886 –, Sonderwirtschaftszonen 824 Civil Aeronautics Board (CAB) 498 Civil Rights Act 375 Clark, John Bates 343 Clayton Act (1914) 366 Clean Air Act 536 Clinton, Bill 569, 698 Club of Rome 786 Coase, Ronald 180, 539 Coca-Cola 255 Computer(-) -markt 82 -software 489 Cook, Philip 318
D Dahl, Robert 1014 David, Paul 801 Debreu, Gerard 241 Deflation 586, 610, 624, 935, 936 Dell 422 Depression 579, 583, 661, 662 Der Weg zur Knechtschaft 72 Der Wohlstand der Nationen 21, 784 Deregulierung 488, 499, 501, 559 –, Stromversorgung 499, 500 –, zivile Luftfahrt 498 Deutsche Bundesbank 849, 887, 922 Deutschland 887, 888, 922
Register
Devisen(-) 843, 845 -markt 708, 759, 843, 845, 846, 847, 848, 850, 851 Diagramm 39 Die Grenzen des Wachstums 520 Diskontierung 390 Diskriminierung 371, 372, 561 –, Abbau der 375 –, Definition 371 –, Frauen 374 –, schwarze Arbeitnehmer 372 –, statistische 373 –, umgekehrte 375 –, volkswirtschaftliche Erklärungsmodelle 371 Disraeli, Benjamin 560 Dividende 731, 732, 737 Dixit, Avinash 297 Doha-Runde 448 Dollar –, überbewerteter 874, 885 Downs, Anthony 464 Dumping 280 Duopol 278, 310 Durchschnitt(s-) -einkommen 83, 84 -erlös 258, 259 -kosten 189, 191, 192, 495 -menge 109 -preis 107, 109 -produkt 163, 165
E Easterly, William 939 Econometric Society 395 Effekte –, externe 65, 66, 68, 491, 523, 529, 530, 536, 813 Effizienz(-) 21, 58, 63, 64, 70, 232, 233, 301, 302, 400, 406, 487, 490, 491, 494, 495, 496, 497, 511, 532, 547, 562, 563 –, der Märkte 21 –, des vollständigen Wettbewerbs 406, 413 –, oder Gleichheit 561, 562 –, technische 583 -verlust 238, 289, 497 –, volkswirtschaftliche 406, 414, 439 Ehrlich, Paul 529 Eigenkapital 199, 201, 331 Eigentumsrechte 62, 63, 884 –, Copyright 285, 286 –, einklagbare 883 –, geistige 285, 286, 792, 793 Einflussfaktoren 83, 84, 89 Einfuhrbeschränkung –, für Zucker 441 Einkommen 327, 328 –, Besitz- 329 –, Durchschnitts- 809 –, Erwerbs- 329 –, Faktor- 329 –, permanentes 645 –, persönliches 329, 330, 548 –, Pro-Kopf-Einkommen 808, 809, 810, 819, 828, 1014 –, reales 137, 886 –, Streuung der 548, 553 –, verfügbares 548, 619, 620, 635, 636, 637, 640, 645, 680, 708 Einkommens(-) -änderung 157 -effekt 82, 136, 137, 140, 356
-elastizität 137, 140, 141, 142 -Grenznutzen 134 -politik 588 -streuung 549, 550 -strom 604, 605, 606 -Umlaufgeschwindigkeit 967, 968, 969, 970, 971, 973, 974, 981 -ungleichheit 69 -untergrenze 563 Einkommensverteilung 328, 432, 548, 551, 552, 560, 562 –, Einkommen aus Vermögen 554 –, einkommenssichernde Programme zur 566 –, Einkommens-Transformationskurve 562 –, Entwicklungsländer 552 –, Erbschaft 556 –, größte Ungleichheit 552 –, Programme zur Einkommenssicherung 565 –, Quellen der Ungleichheit 552 –, Sparen 555 –, Theorie der 332 –, Umverteilung 461, 496, 563, 564, 565, 824, 937 –, Unternehmertum 555 –, Wohlfahrtsstaaten 552 Einsteuerbewegung 477 Einwanderung 95, 883 Einzelfirmen 177 Elastizität 104, 105, 108, 109, 110, 111 –, der Nachfrage 111, 219 Elastizitätsformel 107 Emissionszertifikate 488 Employment Act 578 Endprodukte 604 Energiepreiskontrollen 122 Engel, Ernst 635 Engelsches Gesetz 635 Engpässe 123 Enron 202, 282, 501 Entwicklungshilfe 462 Entwicklungsländer 522, 808, 809, 811, 813, 814, 818 –, Bevölkerungswachstum 811, 816 –, Existenzminimum 811, 812 –, Geburtenkontrolle 811 –, Gesundheit 811 –, Industrialisierung 817 –, Infrastruktur 812, 813 –, Investitionen in 813, 815 –, Korruption 815, 822, 823 –, Landwirtschaft 812 –, Lebenserwartung 810, 811 –, Schulbildung 812 –, Sparquote 813, 815 –, technischer Fortschritt 814 –, Unternehmertum 814, 815 Entwicklungsmodelle 820 –, gelenkte Marktwirtschaft 820, 821 –, Kommunismus 820, 821 –, marktwirtschaftlicher Absolutismus 820 –, Sozialismus 821 Equal Pay Act 375 Erntebeschränkung 116, 117 Ersatzgüter 105 Ersparnisse 620, 621, 633, 634, 636, 637, 682, 877 –, alternative Messmethoden der 648 –, des Staates 621 –, in einer offenen Volkswirtschaft 876, 878
1095
Register
–, Netto- 640 –, persönliche 637 Erträge –, abnehmende 194 Ertragsgesetz 164, 165, 166, 210 Erwerbsbevölkerung 584, 907, 908, 920 Erwerbsquote 356, 357 –, Frauen 357 Erwerbstätige 907, 908, 913 EU-Binnenmarkt 449 Euro 844, 857, 888, 890 Existenzminimum 520, 785 Expansion(s-) 661, 662 -politik 594 Export 588, 615, 761, 840, 841, 866, 867, 868, 869 –, Netto- 589, 603, 615, 669, 765, 767, 865, 866, 868, 869, 870, 873, 874, 875, 877, 879, 880, 1006 Externalitäten 65, 66, 237
F Fair Standards Act (1938) 367 Faktoreinkommensverteilung –, Theorie 343 Faktoreinsatz 162, 170 Faktoren –, fixe 168, 169 –, variable 168 Faktorkombination 212 –, optimale 337 Faktorkosten 194, 900, 901, 902 –, Arbeitseinkommen 902 –, Importkosten 902 –, kalkulatorische 392 Faktormärkte 53, 54, 104, 381, 400 Faktornachfrage 332, 333, 334, 336, 337, 338 Faktorpreis 53, 87, 193, 211, 327, 332, 340 Faktorproduktivität 798 Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) 758 Federal Reserve 1003, 1009, 1010 Federal Reserve Act 747 Federal Reserve System 587, 708, 745, 747 –, Aufgaben 747 –, Bilanz 750 –, Board of Governors 747, 748 –, Chairman of the Board of Governors 747 –, Federal Open Market Committee (FOMC) 747, 748, 766 –, Federal Reserve Banks 747, 748 –, Instrumente 749 –, monetaristisches Experiment 753, 766, 973, 974 –, Neutralisierung 758, 759 –, Notenumlauf 750 –, Organisationsstruktur 748 –, Struktur 747 –, Zielsetzung 747, 749 Fehlmenge 91 Finanzanlage 387, 707, 709, 710, 711, 760 –, Aktien 731 –, Anlagen 713 –, Bundesschuldverschreibungen 710 –, Definition 709 –, Finanzderivate 710 –, Gegenwartswert 712, 713, 732 –, Geld 710, 717, 718 –, Handelswechsel 754 –, Hypotheken 713 –, Industrieschuldverschreibungen 713
–, Liquidität 713 –, Pensionsfonds 711 –, Risiko 713 –, Schatzanweisung 716, 732, 753 –, Schuldscheine 754 –, Schuldverschreibungen 750 –, Sparguthaben 710 –, Staatsanleihen 710 –, Verzinsung 711 –, wahrer Wert 732, 733 –, Wertpapiere 710, 731 –, Zukunftswert 733 Finanzbetrug 202 Finanzkrise 60, 759, 814, 838, 851 Finanzmanagement –, internationales 589 Finanzmärkte 491, 501, 707, 708, 709, 748, 757, 759, 818, 819, 837, 995, 1006 Finanzmittler 708, 709, 723 Finanzökonomik 307 Finanzspekulation 303 Finanzstrategien 738 Finanzsystem 707, 708, 709 Finanztheorie 735 Finanztransaktionen 873 Fischer, Stanley 955 Fisher, Irving 393, 395, 967 Fiskalföderalismus 465, 466 Fiskalinzidenz 481, 482 Fiskalpolitik 70, 586, 672, 690, 698, 699, 872, 887, 936, 970, 972, 977, 990, 993, 995, 996, 1000, 1005, 1008 –, Auswirkungen auf die Produktion 691 –, Definition 992 –, kurzfristige Auswirkungen 995 –, langfristige Auswirkungen 995, 996 –, Wirkung 1002 –, Zusammenspiel mit der Geldpolitik 1002, 1005 Fixkosten 187, 190 –, durchschnittliche 189, 190 –, variable 191 Fluglinien 110, 111, 248, 275, 498, 499 –, mörderischer Konkurrenzkampf 249 Flugzeugindustrie 254 Flussgröße 200 Forschung 286 Fortschritt –, technischer 170, 520, 782, 783, 787, 791, 792, 793, 794, 796, 797, 901 Frank, Robert 318 Freihandel(s-) 449 -abkommen 447 Freiheit –, politische 1014 Freizeit 356, 622 Friedberg, Rachel M. 96 Friedman, Milton 72, 73, 290, 645, 665, 946, 967, 969, 970 Füllhorntheorie 518, 529 Fullerton, Don 482 Fusionen 510 –, horizontale 510 –, konglomerater Zusammenschluss 511 –, vertikale 511
G Gaidar, Yegor 830 Galbraith, John Kenneth 707, 822 Gates, Bill 363 GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) 447
Gefangenendilemma 315, 316 Geld(-) 57, 60, 63, 65, 707, 719 –, Buch- 719, 720, 726 –, Definition 717 –, elektronisches 720 –, Funktionen 722 –, Metall- 719 –, Münzen 720 –, Neutralität 769 –, Papier- 719, 720 -umlaufgeschwindigkeit 1009 –, Waren- 719 Geldangebot 761, 763, 764, 765, 766 Geldhaltung –, Kosten der 722 Geldmarkt 708, 761, 762, 763 Geldmenge(n-) 587, 750, 751, 756, 758, 759, 760, 761, 766, 769, 854, 934, 968, 971, 972, 973 –, erweiterte 721, 968 –, Expansion 763, 767, 768, 769 –, feste Geldmengenregelung 1009 –, Geldsurrogat 721 –, Geldtransfermechanismus 752 –, Komponenten 720 –, M1 720, 721, 760 -multiplikator 756 –, Quasigeld 721 –, Sichteinlagen 720, 756 –, Transaktionsgeld 720, 721, 758, 968 –, Verknappung 595, 753, 761, 762, 766, 768, 849, 872, 974 -wachstum 970, 973 Geldnachfrage 722, 723, 761, 762, 763, 764 –, zinsunempfindliche 971 Geldpolitik 70, 73, 587, 672, 699, 717, 745, 747, 748, 749, 751, 753, 759, 763, 767, 887, 935, 972, 973, 974, 993, 1003, 1004, 1005, 1009, 1010 –, Diskontpolitik 749 –, expansive 765, 768 –, feste Wechselkursen 872 –, flexible Wechselkursen 872 –, Gesamtnachfrage 767 –, Mindestreservepolitik 749 –, offene Marktwirtschaft 758, 766 –, Operationen am offenen Markt 749, 751, 752, 758, 760 –, restriktive 587, 595, 762, 766, 875 –, Wirkung 1004 Geldschöpfung 724, 725, 726, 727, 729, 750, 756, 760 –, Abfluss des Geldes 730 –, Multiplikator 729 George, Henry 384, 477 Gerechtigkeit –, soziale 64, 68, 70 Gerschenkron, Alexander 817 Gesamtangebot(s-) 590, 592, 777, 899, 900, 901, 906, 971, 972 –, Bestimmungsfaktoren 900 –, keynesianisches 904 -kurve 224, 591, 900, 901, 902, 903, 904 –, nach klassischem Muster 904 Gesamtausgaben(-) 683 -kurve 871 Gesamterlös 256, 257, 258, 259 Gesamtertrag 110, 111, 112 Gesamtkosten 187, 189, 190, 192, 193, 211 Gesamtnachfrage(-) 138, 590, 592, 654, 660, 665, 668, 765, 768, 868, 869, 873, 905, 906, 971, 972, 995, 1001, 1002 –, Bestimmungsfaktoren 672, 673
1096 –, Definition 668 –, Komponenten 669 -kurve 591, 669, 670, 671, 672, 870 Gesamtnutzen(-) 130, 131, 132, 145 -kurve 131 Gesamtpreis 249 Gesamtprodukt 163, 164, 165, 603 Gesamtproduktion 683, 688 Gesamtproduktionsfunktion 780, 789, 790, 791, 796 Geschäfte –, gegenläufige 301 Geschäftsbanken 708, 723 Geschäftsleitung 281, 282 Gesetz der abnehmenden Grenzerträge 87, 164, 165, 210, 397, 787, 796 Gesetz des abnehmenden Grenznutzens 130, 131, 134 Gesetz des negativen Nachfrageverlaufs 81, 82 Gewerkschaften 365, 367, 368, 559 –, American Federation of Labor (AFL) 365 –, Congress of Industrial Organizations (CIO) 366 –, Fach- 366 –, Gesamtauswirkungen 369 –, Industrie- 366 –, Machtverlust der 370 Gewinn 53, 185, 197, 199, 218, 220, 391, 392 –, einbehaltener 619 Gewinn- und Verlustrechnung 197, 198, 199 Gewinnmaximierung 218, 221, 222, 261, 408, 411 Gewinnmaximum 259, 260 Gewinnschwelle 221, 222, 223 Gini-Koeffizient 550, 552 Gladstone, William E. 560 Gläubigernation 844 Glaubwürdigkeit 319 Gleichgewicht 80, 93, 95, 96 –, allgemeines 407, 408, 409, 410, 411 –, Angebot und Nachfrage 52, 92 –, dominantes 312 –, Konsumenten- 411 –, kooperatives 314, 315 –, kurzfristiges 224, 226 –, langfristiges 224, 226 –, makroökonomisches 593 –, Markt- 224 –, nichtkooperatives 314 –, ohne Außenhandel 433, 434 –, Produzenten- 411 –, vollkommenes Wettbewerbsgleichgewicht 315 Gleichgewichtsanalyse 407 Gleichgewichtsbedingung 228 Gleichgewichtslohn 344 Gleichgewichtsmenge 92, 93, 94, 95, 97 Gleichgewichtspreis 89, 90, 92, 93, 96, 340 Gleichgewichtspunkt 93, 155 Globalisierung 59, 60 Glücksspiel 305 Goldstandard 852, 853, 854, 855 Gompers, Samuel 365 Gordon, Robert. J. 525, 666 Gramm-Rudman Act 1008 Greenspan, Alan 734, 748, 800, 950, 1010 Grenzanalyse 263 Grenzerlös 256, 257, 258, 259, 336 –, Elastizität 259 Grenzerträge 194 –, abnehmende 394, 519, 520
Register
Grenzkosten 185, 188, 189, 190, 191, 192, 194, 219, 220, 221, 236, 495 –, soziale 533 Grenzkostenkonzept 195 Grenzkostenkurve 188 Grenzneigung –, zum Import 870 –, zum Konsum 641, 643, 684, 686, 687 –, zum Sparen 642, 643, 687 Grenznutzen(-) 130, 131, 132, 133, 134, 135, 145, 153, 410, 411, 785 -kurve 131 –, sozialer 532, 533 Grenzprodukt 163, 164, 165, 166, 195, 196, 210, 334, 336 –, der Arbeit 163, 195, 210, 785, 789 –, der Computerleistung 394 –, des Kapitals 790 –, Grenzproduktivität des Bodens 210 –, physisches 335 Grenzproduktivität 163, 164, 195, 196, 332, 343, 345, 353 Grenzrate der Substitution 153, 213 Grenzsteuersatz 473 Große Depression 757 Grund und Boden 27 Grundfragen der Wirtschaft 25 Güter 51, 54 –, demeritorische 141, 142 –, inferiore 139 –, Komplementär- 140 –, lebensnotwendige 104 –, Luxus- 104 –, meritorische 141 –, nicht konkurrierende 792 –, öffentliche 30, 66, 67, 68, 530, 531, 540, 541, 792, 793 –, private 30, 530 –, Substitutions- 140, 141 –, unabhängige 140 Güterbündel 133 Gütermärkte 54 Güternachfrage 79 Güterstrom 604, 606 Gutscheinrationierung 124
H Haftung 539 –, beschränkte 178, 179 –, unbeschränkte 178 Hahn, Robert W. 497 Halbleiterindustrie 440 Hall, Robert 475 Hamilton, Alexander 445 Hand –, unsichtbare 49, 55, 57, 301, 346, 406, 460 Handel 57, 58, 59, 60, 63 –, Außen- 425 –, Binnen- 420 –, freier 433 –, internationaler 419, 420, 421, 424, 426, 433, 767, 818, 837, 838, 839, 851, 865, 873, 875 –, US-Außenhandel 421 Handelsbeziehungen –, bilaterale 431 –, Dreieckshandel 431 –, multilaterale 431, 447 Handelsbilanz(-) -defizit 875, 886 –, Handelsüberschuss 880 -überschuss 886
Handelskrieg 443 Handelsministerium 622 Handelspolitik 589, 882 Handelsschranken 433, 434, 446, 818, 819 –, Abbau 462 –, Kontingentierung 446 –, nichttarifäre Handelshemmnisse 447 Hartwährungsland 888 Haushalte 54 –, Ausgabenmuster 635 Hayek, Friedrich 72 Hedging 301 Herfindahl-Hirschman-Index (HHI) 271, 511 Hicks, John R. 241, 288 Hird, John A. 497 Hobhouse, L.T. 147 Hochlohnländer 354, 851 Holtham, Gerald 983, 1004 Hongkong 50, 355, 809, 822, 824, 857 Hooper, Peter 701, 983, 1004 Hopkins, S. V. 931 Hotham, Gerald 701 Humankapital 353, 354, 361, 362, 554 Hume, David 853 Hunt, Jennifer 96
I Import(-) 434, 615, 588, 840, 841, 866, 867, 868, 869 –, Netto- 872 -substitution 817, 818 Importbeschränkungen 254, 434, 435, 436, 437, 443 Importquote 433 –, marginale 870, 871, 872 Indifferenzanalyse 136, 152 Indifferenzenkarte 154 Indifferenzkurve 152, 153, 154, 156, 157, 158 Indonesien 814 Industrialisierung 352, 521, 827 Ineffizienz 34, 65, 124, 529, 531, 536, 563 –, volkswirtschaftliche 437 Inflation 388, 399, 579, 586, 594, 623, 624, 715, 749, 760, 761, 766, 929, 935, 936, 937, 938, 943, 946, 974, 995, 1009 –, angebotsinduzierte 942 –, Auswirkungen auf die wirtschaftliche Effizienz 937 –, Auswirkungen auf Einkommens- und Vermögensverteilung 936 –, chronische 937 –, Definition 930 –, erwartete 934, 935, 937, 941 –, galoppierende 932, 933 –, hohe 937 –, Hyper- 932, 933, 934 –, Kern- 941 –, Kostendruck- 942 –, nachfrageinduzierte 941, 942 –, Nachfragesog- 941, 942 –, niedrige 932, 937 –, schleichende 940, 941, 942, 943 –, unerwartete 934, 935 –, Wirtschaftswachstum 939 Inflationsbekämpfung 952, 1009 –, Glaubwürdigkeit 953, 954 Inflationsbereinigung 715 Inflationsrate 388, 585, 624, 745, 753, 767, 883, 930, 932, 937, 938 –, optimale 939 Inflationsziel 1009, 1010
1097
Register
Information 284, 491 –, unzureichende 237, 490 Informationsökonomie 285 Informationstechnik 782, 783, 799 Infrastruktur 781, 782, 822 Inlandsnachfrage 866, 868, 869, 870, 873, 875, 887 Innovation 283, 284, 286, 287, 392, 393, 782, 783, 1012, 1014 Innovationsgewinne 393 Input 27, 162, 165 Instrumente –, staatliche 672 –, wirtschaftspolitische 586 Integration 59, 60 Intel 422, 512 Interaktion –, strategische 272, 273, 278 Interdependenz 333 Interessengruppen 492 Internalisierbarkeit 286 Internet 285 Interstate Commerce Commission (ICC) 459, 488 Investition 386, 399, 612, 613, 620, 621, 633, 669, 680, 682, 760, 765, 877, 996, 1013 –, als exogene Variable 680 –, Bestimmungsfaktoren 650 –, Brutto- 613, 614, 616 –, Bruttoinlands- 650 –, die exogene Variable 686 –, Erträge 650 –, Erwartungen 651 –, Finanz- 613 –, in einer offenen Volkswirtschaft 876 –, Kosten 651 –, Netto- 613, 614, 616 –, Nettoauslands- 866, 878 –, Real- 613 Investitionsfunktion 652, 653, 682 Investitionsgüter 28 Investitionsklima 883 Investitionsnachfragefunktion 652 Investitionsquote 822, 876, 882 Investmentfonds 708, 709 Inzidenz 118 Irakkrieg 28, 696, 778 Isokostenlinie 211, 213 Isoquante 211, 212, 213, 526
J Japan 580, 624, 731, 814, 880, 936, 996 Jevons, Stanley 717 Jewkes, John 287
K Kahneman, Daniel 136 Kapital 61, 62, 63, 381, 385, 650, 789 –, als Produktionsfaktor 28 -erträge 789, 790, 791 -gewinn 732 –, immaterielles 882 -intensität 790, 791, 794, 797 -verlust 732 Kapitalbildung 612, 613, 650, 780, 781, 788, 790, 791, 812, 813 Kapitalflucht 883, 933 Kapitalgesellschaft 177, 178, 179 Kapitalgüter 30, 58, 61, 62, 199, 385, 391, 613 –, Akkumulation 394, 398, 399, 401 –, Gegenwartswert 389 –, immaterielle 612
–, materielle 612 –, Zeitwert 389 Kapitalismus 50, 72, 381, 464 Kapitalmärkte 401 –, und Risikoverteilung 306 Kapitalmarkteffizienz 735 –, Theorie 736, 737 Kapitalnachfragekurve 397 Kapitalrendite 175, 386, 396, 397, 398, 399, 880, 998 –, Nettorendite 386 –, Realwert 388 Kapitalstock 612, 614, 997, 998, 999, 1000 Kapitaltheorie 393, 396, 398, 788 Kapitalvertiefung 789, 790, 791, 792, 793, 796, 797, 801 Kartell 273, 274, 275 Kartellrecht 290, 511 Käufer 51 Kaufkraftparität 809, 849, 850, 851, 1011 Kendrick, John 794 Kennedy, John F. 594, 698 Keynes, John Maynard 22, 70, 577, 580, 639, 660, 679, 699, 733, 856, 913, 929, 934, 964, 965, 1014 Keynesianische Revolution 70 Klein, Lawrence 667 Klima –, gesamtwirtschaftliches 883, 884 Klimaveränderungen 540, 541 Klitgaard, Robert 823 Knappheit 20, 92, 93, 203, 586 Knebelungsverträge 505 Knight, Frank 185 Kollusion 273, 314, 505 Kollusionsoligopol 272, 273, 274 Kongo 809, 812 Konjunktur(-) -abschwung 579, 583, 665 -aufschwung 583, 665 Konjunkturtheorien 663, 665 –, Angebotsschock 666 –, Gleichgewichts- 666 –, monetaristische 665 –, Multiplikator-Akzelerator-Theorie 664, 665 –, politische 666 –, Real-Business-Cycle-Theorie 666, 677 Konjunktur-Vorlaufindikatoren 667 Konjunkturzyklus 34, 577, 579, 580, 586, 644, 659, 660, 679, 681, 993, 1001 –, Auslöser der 22 –, Definition 661 –, endogene 663 –, exogene 663 –, Fehleinschätzungen 977 –, nachfragebedingte 665 –, Phasen 661 –, Vermeidbarkeit 674 Konkurrenzkapitalismus 49 Konkurrenzspiel 312, 313 Konsum(-) 130, 131, 612, 633, 637, 669 -ausgaben 612, 640, 686, 687 –, Bestimmungsfaktoren 645 –, Hauptbestandteile 612 –, Lebenszyklusmodell 645, 647, 978 –, realer 669 –, sofortiger 393 Konsument 52, 54, 79, 81, 83, 89, 90, 93, 133, 134 Konsumentengleichgewicht 156, 157 Konsumentenrente 145, 146, 147 –, Verlust durch Zölle 437
Konsumfunktion 639, 640, 643, 680, 681 –, gesamtwirtschaftliche 646 Konsumgleichgewicht 134 Konsumgüter 30, 130 Konsummöglichkeitenkurve 428, 429 Konsumnachfrage 133 Konsumverhalten 129, 152 –, gesamtwirtschaftliches 643 Konzentrationsrate 270, 271 Korruption 883 Kosten(-) 161, 185, 193, 199 –, Anschaffungs- 200 –, Betriebs- 186 –, durchschnittlich variable 189 –, Fix- 186, 194, 198, 199 –, Gesamt- 186 –, Grenz- 410, 411 –, historische 199 –, inflexible 905 –, kurzfristige 193 –, langfristige 194 –, Mindest- 187 -optimierung 211 –, relative 424 –, soziale 532 –, Transport- 437 -unterschiede 422 –, unvollkommener Wettbewerb 251 –, variable 186, 187, 190, 194, 198, 222 –, volkswirtschaftliche Kosten der Zölle 437, 438 Kostenanalyse 185, 209 –, volkswirtschaftliche 186 Kostenkurve –, Bestimmungsfaktoren 193 Kostenminimierung 195 Kosten-Nutzen-Analyse 147, 532, 533 Kostenoptimierungsregel 195, 196 Kostenrechnung 197 Kostentheorie 209 Kreditverknappung 757 Krugman, Paul 888, 1011 Kurssicherung 301 Kyoto-Protokoll 541
L Laffer, Arthur 486, 979 Laffer-Kurve 486, 979 Laissez-faire(-) 49, 72, 458, 819, 820, 973 -Kapitalismus 69, 824 Landwirtschaft 114, 115, 116, 118 –, Kollektivierung der sowjetischen 827 Landwirtschaftliche Produkte 114, 115 Lange, Oskar 72 Lateinamerika 818, 851 Lebensstandard 778, 779, 780, 786, 810, 819, 820, 837, 850, 885, 886, 900, 997, 1011, 1012 Lehrmeinungen –, adaptiver Ansatz 982 –, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik 979 –, Effizienzlohntheorie 978 –, keynesianischer Ansatz 961, 962, 964, 965, 966 –, klassische Theorie 962, 963, 964, 966 –, Lucas-Kritik 981 –, makroökonomische 961 –, Monetarismus 967, 970, 971, 973, 974, 1009 –, neoklassische Makroökonomik 961, 964, 970, 975, 976, 982, 983 –, rationaler Ansatz 982
1098 –, Ricardianische Sicht 977, 978 –, Saysche Theorem 962, 963 –, Theorem der Wirkungslosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen 980 –, Theorie der rationalen Erwartungen 976 –, Theorie der realen Konjunkturzyklen 977 –, Vergleich der Ansätze der Monetaristen und der Keynesianer 971 Lenkung –, staatliche 818 Lerner, Abba 72 Leuchttürme 67, 68 Liberia 809 Lincoln, Abraham 440 Liquiditätsfalle 935, 936 Liquiditätskrise 759 Lohn(-) 344, 351, 905, 906, 916 -bildung 351 –, Durchschnittslöhne 794 –, Durchschnittsstunden- 351 -gefälle 558 –, Flexibilität 915, 916 –, Mindest- 365 -niveau 351, 353, 354, 355, 369 –, ostdeutscher 370 –, Real- 399, 400, 425, 790, 791, 795, 800 –, überhöhter 914 –, unflexibler 913, 914, 916 -untergrenze 121 -unterschiede 358, 559 Lohn- und Preiskontrollen 119 Lohn-Preis-Spirale 944 Lohnunterschied –, kompensatorischer 359, 360 Lorenzkurve 549, 550 Lucas, Robert E. 666, 975, 977, 981 Luxusgüter 637
M Maddison, Angus 779 Makroökonomie 22 Malthus, T. R. 518, 784, 785, 786, 787 Marginalprinzip 264 Markenwert 255 Markt 50, 51, 54, 64, 73 –, administrierter 915 –, Öffnung des Marktes 433 Marktangebot 225 Marktangebotskurve 224 Marktaufteilung 505 Märkte für festverzinsliche Wertpapiere 708 Märkte für Güter und Dienstleistungen 103 Markteintritt(s-) -barrieren 251, 253, 254, 255 –, freier 224, 225, 226 Marktgleichgewicht 52, 89, 91, 93, 94, 382 –, allgemeines 406 Marktgleichgewichtspreis 233 Marktgröße 83 Marktmacht 270, 271, 279, 287, 510, 511 –, Einschränkung der 489 Marktmechanismus 49, 51, 52, 54, 56, 63, 67, 68, 69, 73, 96 Marktnachfrage(-) 82, 129, 138 -kurve 82, 83, 139, 235 Marktpreis 64, 86, 87, 89, 218, 605 Markträumung 91, 370, 913, 914, 915 Marktstruktur 250, 252 Marktversagen 72, 237, 307, 308, 501, 530 Marktwert 145
Register
Marktwirtschaft 26, 50, 51, 52, 55, 57, 70, 73, 80, 550, 818, 821, 906, 1014, 1015 Marktzinssatz 396, 397 Marshall, Alfred 37, 224, 445, 962, 967 Marx, Karl 561, 824, 825, 826 Massenproduktion 176 Maßnahmen –, wirtschaftspolitische 88 McKinsey Global Institute 886 McMillan, John 501 Medicare 309, 565 Menge –, angebotene 86, 91 –, nachgefragte 81, 82, 86, 91, 95 Mengenbeschränkungen 505 Merkantilismus 440 Mexiko 355 Microsoft 512 Microsoft Windows 248 Mikroökonomie 21 Mikroprozessoren 430 Mill, John Stuart 444, 445, 560, 837, 962 Mindestanforderungen 727 Mindestlohn 119, 120, 121, 122 –, und Jugendarbeitslosigkeit 120 Mindestreserve 724, 725, 726 Minimalkostenbedingung 213, 337 Mischsystem 26, 49, 71, 73, 74, 455, 547 Modigliani, Franco 645 Monetaristen 673, 753 Monetary History of the United States 73 Monopol 64, 245, 248, 256 –, bilaterales 368 -gleichgewicht 261 –, Grenzerlös 256 –, natürliches 252, 253, 488, 489, 490, 493, 499 Multiplikator 686, 687, 982 –, Ausgaben- 695, 698, 729 –, Definition 686 -effekt 764, 872 –, in einer offenen Volkswirtschaft 871 –, Staatsausgaben- 700 –, Steuer- 695, 698 Multiplikatormodell 679, 686, 868, 872, 995 –, Annahmen 689 –, Fiskalpolitik im 690 –, Mängel 688 –, Vergleich zum AS-AD-Modell 689 –, Vollbeschäftigung 689 Mundell, Robert 890
N Nachfrage 54, 79, 80, 88, 89, 93, 95, 97, 103, 104, 108, 129, 140, 382, 409, 433 –, abgeleitete 332, 333, 383, 396 –, elastische 104, 105, 106, 107, 112 –, Erhöhung 94 –, unelastische 104, 105, 107 Nachfrageanstieg 85 Nachfrageelastizität 105, 108, 110 Nachfragefunktion 80, 81 Nachfragekurve 81, 82, 83, 84, 85, 91, 92, 93, 94, 97, 136, 137, 138, 139, 158 –, lineare 108 –, nach unten geneigte 134 –, Verschiebung der 84, 85, 86, 94, 96 –, vollkommener Wettbewerb 219 Nachfragemenge 92 Nachfrageregel 229 Nachfragetheorie 152 Nachfrageverschiebung 93, 229
NAFTA 442, 448 Nalebuff, Barry 297 NASDAQ 731 Nash-Gleichgewicht 312, 313, 315 National Labor Relations Act (1935) 367 Nettoeffekt 85 Nettoertrag 197 Nettoinlandsprodukt (NIP) 616 Nettokapitalstock 61, 381 Nettoproduktionswert 533 Nettowohlfahrtsverlust 289, 290 Netzwerkmärkte 172, 253 Neumann, John von 309 New Economics 594 New Economy 400, 491, 654, 664, 734, 735 New York Stock Exchange (NYSE) 731 Nichterwerbspersonen 907 Niederlande 565 Niedriglohnländer 809, 851 Nigeria 812 Nominalwert 388 Nordhaus, William D. 666 Nutzen 129, 133, 414 –, größtmöglicher 134 –, Kardinal- 133 –, maximaler 134 –, Netto- 234 –, ordinaler 133 Nutzenmaximierung 133, 408 Nutzenmöglichkeitenkurve 414 Nutzentheorie 129, 131, 133, 135, 304
O Ökonometrie 22, 667, 699 Ökonomik –, behavioristische 136 –, normative 25 –, positive 25 Ökonomische Theorie der Unsicherheit 298 Okun, Arthur 547, 561, 627, 675, 910 Okunsches Gesetz 910, 911, 953 Oligopol 245, 248, 249, 269, 270 Ölpreis 79 Ölproduktion 297, 298 Ölschock 80 Olson, Mancur 816 OPEC 274, 275 Opportunitätskosten 32, 33, 185, 203, 204, 392, 622, 722, 908 Orientierung –, außenwirtschaftliche 817, 818, 819, 822 Ostasien 851 Output 27, 162 Ozonloch 529
P Pareto, Vilfredo 152 Pareto-Effizienz 232 Pareto-Optimum 414 Passiva 200, 201 Patente 254, 285 PC-Industrie 276 Pensionskassen 708 Pensionsversicherung 565 Perry, George 678 Personengesellschaften 177, 178 Phelps, Edmund 946, 978 Phillips-Kurve 944, 945, 946, 947, 948, 952, 953, 971 Pigou, A.C. 963 Planwirtschaft 26, 50, 821, 823, 826, 827, 828, 829, 830, 882
1099
Register
Polen 830 Posner, Richard 512 Post-hoc-Irrtum 22 Präferenzen 54, 79, 83, 421 Preis(-) 51, 52, 68, 80, 81, 82, 83, 84, 89, 91, 92, 93, 96, 219, 220, 221, 495 -dumping 505 -obergrenze 119, 122, 123 –, relativer 867 Preisabsprachen 505 –, illegale 273 Preisänderung 104, 105, 110, 157 Preisanstieg 82 Preisbereinigung 610 Preisbildung 219 Preisdiskriminierung 111, 279, 280, 505 Preise 54, 204, 246, 769, 906 –, administrierte 915, 942 –, Quantitätstheorie 853, 854 –, zweigeteilte 279 Preiselastizität 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 112, 113, 141, 382 –, bei unvollkommenem Wettbewerb 247 –, der Nachfrage 104, 105, 141 –, des Angebots 113 Preisindex 585, 609, 610, 611, 623, 624, 626 –, BIP-Deflator 610, 612, 625, 626 –, Erzeugerpreisindex 624, 625 –, Gewichtung 625, 626 –, Indexzahlproblem 626 –, Kettengewichtung 611, 625, 626 –, Preisindex des BIP 624, 625 –, Verbraucherpreisindex 624, 626 Preiskontrollen 124, 291 Preiskrieg 273, 274, 310, 311, 312 Preismechanismus 80 Preisnehmer 218 Preisniveau 624, 768, 930, 934, 943 Preisrückgang 82 Preisspiel –, duopolistisches 310, 311 Preisstabilität 579, 585 Privateigentum 62 Produktdifferenzierung 249, 275, 276, 277 Produktinnovation 170, 171 Produktion 161, 185 –, Gleichgewicht 682 –, Gleichgewichtsniveau 681, 683, 687 –, pro Arbeitsstunde 779 –, Pro-Kopf-Produktion 779, 780, 785 –, Verlagerung nach Übersee 442 Produktionsbeschränkungen 117 Produktionseffizienz 33 Produktionsfaktor 27, 54, 61, 161, 162, 163, 164, 165, 186, 193, 195, 196, 329, 391, 523 –, abgeleiteter 385 –, primärer 385 –, produzierter 385 –, ursprünglicher 385 Produktionsfunktion 162, 163, 164, 166, 170, 193, 209, 211, 334, 343 –, substitutionale 788, 796, 797, 798 Produktionskapazität 161 Produktionskosten 79, 87, 211 –, Bestimmungsfaktoren 87 Produktionsleistung 581, 680, 768, 792, 793, 795, 796, 908, 1004 –, potenzielle 586, 688, 779, 780, 900, 901, 902, 903, 911, 1000 Produktionsmenge 162, 167, 210 Produktionsmöglichkeitenkurve 28, 30, 39, 41, 64, 413, 426, 429, 779, 785 Produktionspotenzial 580, 582, 583
Produktionsstatistik 801 Produktionstheorie 161, 162 Produktivität 70, 88, 161, 170, 171, 173, 419, 780, 786, 792, 794, 798, 885, 886, 1011, 1012, 1013 –, Arbeits- 173, 175, 799, 800 –, Gesamt- 175 –, Gesamtfaktor- 173 –, in Deutschland 828 Produktivitätsniveau 777 Produktivitätstrends 799 Produktivitätsunterschiede 886 Produktivitätswachstum 175, 791, 799, 800, 801, 819, 885 Produktmärkte 103 Produzenten(-) 52, 53, 54, 91 -rente 234 Protektionismus 60, 419, 432, 433 –, volkswirtschaftliche Aspekte des 440 Prozessinnovation 170 Publikumsgesellschaft 178, 281, 731
Q Quantitätstheorie 967, 968, 969, 970 Quoten 589
R Rabushka, Alvin 475 Ramsey, Frank 384 Random walk 736, 737 Ranis, Gustav 810 Rationierung 123 Reagan, Ronald 478, 698, 979 Realeinkommen 137 Reallohn 354, 355 -entwicklung 352 Rechtspersönlichkeit 178, 179 Regeln und Ermessensentscheidungen 1007, 1010 Regulierung 290, 456, 458, 488, 489, 490, 491, 492, 493 –, Abkehr 498 –, Kosten der 496 –, leistungsbasierte 495 –, ökologische 489 –, ökonomische 497 –, Preisgestaltung 493 –, soziale 489, 497, 536 –, wirtschaftliche 488 Reinvermögen 331 Rendite 385, 392, 731, 732 –, Aktien- 731, 736 –, Definition 711 –, implizite 391 Rente 344 –, ewige 389 –, volkswirtschaftliche 230, 233, 382, 384 Report on Manufactures 445 Reservehaltung –, eingeschränkte 726 Reserven 724, 726, 727 –, Überschuss- 730, 731 Ressourcen(-) 27 -allokation 236 –, erneuerbare 523, 524, 525 –, essentielle 525, 527 –, internalisierbare 523, 524 -kategorien 522 –, knappe 517, 518 –, menschliche 780, 781, 812 –, natürliche 421, 518, 522, 524, 526, 780, 781, 812, 883
–, nicht erneuerbare 523, 524, 525 –, nicht internalisierbare 523 –, ungenutzte 34, 767 Ressourcenallokation 460 Revolution –, industrielle 352, 520, 777, 780 Rezession 34, 583, 661, 698, 766, 873, 875, 887, 908, 936, 996 –, Merkmale 662 Ricardo, David 423, 962 Risiko(-) 301, 302, 303, 305, 399, 731, 732 –, Ausfall- 392 -aversion 303, 304, 732 -bereitschaft 392 –, nicht versicherbares 392 -prämie 399 –, staatliches 392 -streuung 305, 307 -übertragung 302 –, versicherbares 392, 399 Rogers, Diane Lim 482 Rohstoffknappheit 527 Rolle des Staates 49, 63, 330, 401, 455, 456, 579 Romer, Paul 284, 792 Roosevelt, Franklin D. 560 Rückständigkeitshypothese 817 Russland 50, 297, 578, 586, 826, 828, 830, 831, 851 Rüstungswettlauf 317
S Sachanlagen 386, 387 Sachkapital 57 Sachs, Jeffrey 819, 820, 830 Sahay, Ratna 955 Sargent, Thomas J. 666, 975 Say, Jean Baptiste 962 Schattenwirtschaft 622 Schuldendienst 996 Schuldenzinsen 996 Schuldnernation 844 Schumpeters Hypothese 286, 512 Schumpeter, Joseph 72, 283, 399, 455, 464 Schwartz, Anna 73, 969 Schwarzarbeit 622 Schwarzmarktpraktiken 123 Schweden 462, 565 Schwellenländer 813, 814, 818 Sektor –, öffentlicher 586 –, privater 586 Sen, Amartya 810 Sherman Antitrust Act 459 Shiller, Robert 735 Sicherheitsnetz –, soziales 69 Simon, Herbert 282 Simon, Julian 529 Singapur 445, 809, 818, 822 Skaleneffekte 173, 251, 252, 253, 422 Skalenerträge 167, 168, 174 Slowenien 830 Smith, Adam 21, 49, 55, 56, 57, 64, 144, 315, 406, 432, 784, 785, 826 Smith, Vernon L. 136 Smoot-Hawley-Zollgesetz 447 Social Security Act 475 Software-Industrie 254 Solomon, Robert 851 Solow, Robert M. 788, 799 Sowjetunion 26, 381, 578, 798, 799, 827, 828, 829
1100 Sozialismus 820 Sozialleistungen 467 –, großzügige 922, 923 Sozialversicherung(s-) 308, 309, 565 -beiträge 475, 476 Sparen –, negatives 638, 640 Sparfunktion 639, 640, 641, 643, 680, 681, 682 Sparquote 637, 646, 876, 1012, 1013 –, Einflussfaktoren 647 –, marginale 870, 872 Sparschwelle 638, 641, 681 Spekulation 299, 300, 301 Spekulationsblase 664, 732, 733, 734, 874 Spekulationsmärkte 302 Spezialisierung 57, 58, 59, 60, 63, 176, 419, 423 Spieltheorie 278, 297, 298, 309, 310 Spillover 65, 530 Staatliche Funktionen 459 –, internationale Wirtschaftspolitik 459, 462 –, Stabilisierung der Wirtschaft 459, 462 –, Verbesserung der Effizienz 459 –, Verringerung der Ungleichheit 459, 461 Staatsausgaben 455, 456, 457, 458, 464, 586, 587, 603, 669, 680, 691, 991, 992 –, Auswirkungen 468 Staatsquote 464 Staatsverbrauch 615 Staatsverschuldung 698, 990, 991, 994, 996, 997, 999, 1000 –, Bruttoverschuldung 990 –, externe 996 –, interne 996 –, Kapitalverschiebung 997, 998 –, Nettoverschuldung 990 Stabilisierung 1001, 1005 Stabilität 64, 70, 71 Stabilitätspolitik 699, 989 Stagflation 578 Standort 249 Steuergutschriften auf Erwerbseinkommen 568 Steuerinzidenz 119, 480, 481 Steuerlast 118 Steuern 68, 291, 330, 399, 455, 456, 586, 587, 615, 694, 991, 992 –, Auswirkungen 117, 691, 692 –, direkte 471, 472 –, Effizienz 478, 479 –, Effizienzverluste 997, 1000 –, Einheits- 475 –, Einkommens- 472, 473 –, Einsteuerbewegung 384, 479 –, Erbschafts- 552 –, Grund- 383, 384 –, indirekte 471 –, Kopf- 480 –, Körperschafts- 476 –, Negativ- 568 –, Öko- 480 –, Pauschal- 479 –, progressive 558 –, Schenkungs- 552 –, Umsatz- 476, 478 –, Verbrauchs- 476 –, Vermögens- 477 –, Verteilungsgerechtigkeit 479 –, volkswirtschaftliche Aspekte 468
Register
Steuerprinzipien 469 –, Äquivalenzprinzip 469, 470 –, Leistungsfähigkeitsprinzip 469, 470 –, Steuergerechtigkeit 469 Steuersatz 473, 474 Steuersenkungen 699, 991 Steuerüberwälzung 119 Stigler, George 492 Stiglitz, Joseph 978 Streubesitz 281 Streudiagramme 45 Stückkosten 189 Substituierbarkeit 526 Substitution 33 Substitutionseffekt 82, 136, 137, 140, 356 Substitutionsgesetz 152, 153, 339 Substitutionsgüter 83, 88 Substitutionsrate 153, 156, 213 Substitutionsregel 197 Subventionen 118, 445 Sucharbeitslosigkeit 918, 920 Suchtmittel 141, 142, 143, 144 Südkorea 355, 580, 809, 814, 818, 822 Superernte 111, 116
T Tabaksteuer 112 Taiwan 50, 355, 445, 580, 818, 822 Tarifpaket 366 Tarifverträge 365, 366 Tauschgleichung 967, 968, 971 Tauschhandel 717, 718 Tauschmittel 61, 758 Technologie 54, 88, 780 Technologischer Wandel 170 Temporary Assistance for Needy Families (TANF) 569 Terms of Trade 427 Textilproduktion 439 Thailand 814 Thatcher, Margaret 979 The Calculus of Consent 464 The General Theory of Employment, Interest, and Money (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes) 580 The Nature of Capital and Income 395 The Theory of Interest 395 The Wealth of Nations 784 Theorie der öffentlichen Entscheidung 463, 464 Tietenberg, Tom 538 Tinbergen, Jan 667 Tobin, James 577, 690 Transaktionskonto 757 –, Nichttransaktionskonto 757 Transferleistungen 615 Transferzahlungen 330, 456, 614, 694 Transformationskurve 30 Transmissionsmechanismus 760, 761, 762, 767, 872, 873 Treibhauseffekt 529, 541 Trugschluss der Verallgemeinerung 23 Trust 503 Tufte, E. 666 Tullock, Gordon 464
U Überbevölkerung 518 Überkapazitäten 689 Ukraine 830, 831
Umlaufvermögen 201 Umverteilung 439 Umverteilungssystem 70 Umweltschutz 463, 517, 531 Umweltverschmutzung 62, 63, 64, 66, 521, 522, 532, 533, 534, 535, 536, 539, 787 –, Bewertung von Umweltschäden 533 –, Emissionsgebühren 537, 538 –, Emissionszertifikate 537, 538 –, kontingenter Bewertungsansatz 534 –, staatliche Programme 536 Umweltverschmutzungsspiel 316 Ungleichgewicht 95 Unsicherheit 297, 298, 299, 399 Unternehmen 54, 79, 161, 176 –, börsennotierte 281 Unternehmensgeist 1012, 1014 Unternehmensgewinne 391, 392 Uruguay-Runde 448 US International Trade Commission 443 Utilitarismus 131
V Variable 39 –, exogene 672 Végh, Carlos A. 955 Verbindlichkeiten 199, 201 Verbraucherpreisindex (VPI) 585, 930 Verbundvorteile 489, 490 Verdrängungseffekt 995 Verfahren –, optimale 882, 886 Verhalten –, fahrlässiges 307, 308 Verkäufer 51 Verkaufserlöse 197 Vermögen 327, 328, 330, 381, 548, 646, 937, 938 –, Gesamt- 999 –, Verteilung 550 Vermögenseffekt 646 Vermögensverteilung 551, 552, 556 Verschwendung 123 Versicherung 305, 306, 307, 308, 709 Verteidigungsausgaben 594 Verteilungsgerechtigkeit 547 Verteilungstheorie 332 Vier-Unternehmens-Konzentrationsrate 270 Vietnamkrieg 594, 698 Volcker, Paul 595, 973, 1010 Volkseinkommen 328, 329, 432, 562, 563, 619, 620, 621 Volkswirtschaft –, einfaches Modell 604 –, Gesamtleistung 581 –, geschlossene 396, 691, 868, 877 –, offene 589, 838, 865, 866, 868, 869, 871, 872, 881 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 603, 609, 621, 622 –, Aktivitäten, die nicht am Markt angeboten werden 622 –, Bilanzen als Grundlage der 606 –, Ersparnisse in der 648 –, erweiterte 623 –, Gewinn als Restbetrag der 606 –, Investitionen 612 –, Staatsverbrauch 614 –, statistische Abweichungen 620 –, Umweltkonten 623 –, Umweltschäden 622
1101
Register
Vollbeschäftigung 995 Vorschriften 488 Vorteil –, komparativer 419, 422, 423, 424, 425, 427, 431, 442, 885
W Wachstum 64, 71, 519 Wachstumsmotor 50 Wachstumspessimismus 787 Wachstumstheorie 284, 779, 783 –, klassische 784, 786 –, neoklassische 787, 788, 789, 790 –, neue 792, 793 Wagner Act 367 Währung 837, 838, 843, 845, 846, 847, 872 –, Abwertung 847, 850 –, Aufwertung 847, 848 –, gemeinsame 854, 857, 889 –, konvertible 884 –, spekulativer Angriff 888 Währungsamt 857, 858, 860 Währungsfond –, internationaler 814 Währungsinstitutionen 855 –, GATT (General Agreement on Tariffs and Trade 856 –, internationaler Währungsfond 856 –, System von Bretton Woods 857 –, Wechselkurssystem von Bretton Woods 856 –, Weltbank 856 –, World Trade Organization 856 Währungsraum –, Arbeitsmobilität 890 –, optimaler 889 –, Preis- und Lohnflexibilität 890 Währungssystem 851 –, europäisches 887 –, internationales 838, 851 Währungsunion 857, 889, 890 –, europäische 838, 887, 922 –, Konvergenzkriterien 889 Wandel –, Förderung 1012, 1013 –, technologischer 789, 790, 797, 1012 Warenknappheit 123 Warenangebot 79 Warenkorb 129, 130 Warner, Andrew 819, 820 Weber, Max 816 Wechselkurs(-) 589, 758, 759, 761, 837, 843, 844, 845, 846, 847, 848, 849, 850, 867, 868, 872, 879, 995 –, administrierter 851, 859 –, Bandbreite 851, 859 –, Bindung 860 –, fester 759, 847, 851, 852, 853, 854, 857, 872, 887, 888 –, flexibler 759, 767, 851, 853, 859, 872, 873 –, glaubhafte Fixierung 857 –, Gleichgewichts- 847 –, gleitende Bandbreite 860 –, Humes Anpassungsmechanismus 853, 854, 855 –, Interventionen 857
–, Kaufkraftparität 849 –, Kursgewinne und -verluste 847, 848, 874 –, limitierte Wechselkursflexibilität 860 -mechanismus 838 –, Mischsystem 860 –, Parität 856, 858 –, überbewerteter 888 –, Zahlungsbilanz 848 Weimarer Republik 586 –, Hyperinflation 934 Welthandelsorganisation (WTO) 447 Weltwirtschaftskrise 22, 34, 578, 580, 731, 734, 909 Wertgrenzprodukt 335, 336, 338 –, der Arbeit 332 Wertparadoxon 144 Wertschöpfung 607, 608 Wessel, David 487 Wettbewerb 1012, 1013 –, ausländische Arbeitskräfte 442 –, Förderung des 290 –, monopolistischer 245, 249, 269, 275, 276, 277 –, unvollkommener 64, 65, 237, 245, 246, 247, 271, 502 –, vollkommener 64, 204, 217, 218, 384, 396, 406, 409, 410, 413, 424 Wettbewerbsbeschränkung 492 Wettbewerbsfähigkeit 885, 886 Wettbewerbsgleichgewicht 232, 233, 234, 235 Wettbewerbsmarkt 64, 217, 228, 232 Wicksell, Knut 393 Wiedervereinigung 370, 849, 880, 887, 890, 922 Wilson, E.O. 517 Wilson, William 567 Wirtschaft –, geschlossene 819 –, offene 819 –, postkommunistische 34 Wirtschaftsflaute 664 Wirtschaftsgüter 20 Wirtschaftskreislauf 408 Wirtschaftskrise 577, 1001 Wirtschaftslenkung –, staatliche 459 Wirtschaftspolitik 456, 488, 571, 577 –, angebotsorientierte 478 –, keynesianischer Ansatz 690 –, Ziele 586 Wirtschaftssysteme 821 –, gelenkter Kapitalismus 822 –, Marktwirtschaft 821 –, sowjetischer Kommunismus 825, 827 –, Sozialismus 824, 825, 826 –, sozialistische Marktwirtschaft 822 –, Tigerstaaten 822 –, zentrale Planwirtschaft 821 Wirtschaftstheorie –, keynesianische 903 –, klassische 904 Wirtschaftswachstum 30, 58, 59, 70, 72, 518, 521, 577, 578, 580, 595, 644, 650, 681, 777, 778, 779, 780, 783, 786, 808, 810, 819, 900, 901, 990, 993, 995, 996, 997, 999, 1011, 1012, 1013, 1014 –, Antriebskräfte 780, 783 –, Auslöser 796
–, Förderung 882, 884 –, nachhaltiges 517, 526 –, offene Volkswirtschaft 876 –, Wachstumsmuster 779, 793 Wohlfahrtsreform 1996 568 Wohlfahrtsstaat 49, 72, 461, 462, 547, 560, 921, 922 Wohlfahrtszuwachs 305 WorldCom 202, 225, 282, 501
Y Yellen, Janet 978
Z Zahlungsbilanz 839, 840, 841, 842, 843, 844, 848, 854 –, Handelsbilanz 838, 841, 867, 878 –, Kapitalbilanz 839, 840, 841, 842, 848 –, Leistungsbilanz 839, 840, 841, 842 –, Vierphasenmechanismus 854 Zahlungsmittel 60, 717, 719, 720, 721 Zeitreihe 45 Zeitwert 389, 390, 391 Zentralbank 708, 745, 748, 749, 935, 936 -aktivitäten 745 –, Europäische (EZB) 889, 890, 922, 1009 Zentralverwaltungswirtschaft 26 Zinsbildung 396 Zinsen 385 Zinseszins 519 Zinssatz 387, 389, 397, 711, 712, 713, 731, 745, 757, 760, 762, 872, 873, 874, 878, 879, 887, 935, 995, 998 –, Bestimmungsfaktoren 713 –, Definition 711 –, Diskontsatz 750, 754 –, Diskontsätze 748 –, Geld- 715 –, Gleichgewichts- 397, 763 –, kurzfristiger 762 –, längerfristiger 762 –, Markt- 761, 762, 763, 764, 766 –, Nominal- 388, 715, 716, 718, 761, 937, 938 –, Real- 388, 399, 715, 716, 718, 790, 791, 794, 938, 1013 –, risikofreier 713 –, Zentralbankgeld 753 Zollbarrieren 818 Zölle 254, 433, 434, 435, 437, 589 –, Antidumping- 443 –, Arbeitslosigkeit 444, 446 –, Ausgleichs- 443 –, nicht prohibitive 435 –, Optimal- 444 –, Prohibitiv- 435 –, Schutzzölle für neue Branchen 444, 445 –, Terms of Trade 444 –, Vergeltungsmaßnahme 442 Zufallsprinzip 310 Zuwanderung 356, 357
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PAUL A. SAMUELSON, Gründer des weltweit anerkannten postgradualen Universitätslehrgangs für Volkswirtschaft am MIT, erhielt seine Ausbildung an der University of Chicago und in Harvard. Bereits in jungen Jahren erwarb er sich mit zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen Ruhm und Anerkennung, und 1970 hieß der erste Amerikaner, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, Paul Samuelson. Als einer jener seltenen Wissenschaftler, die ihr Wissen auch Studienanfängern und Laien vermitteln können, bestritt er lange Zeit hindurch die Wirtschaftsspalte der Newsweek. Präsident John F. Kennedy schätzte ihn als wirtschaftlichen Ratgeber. Paul Samuelson wird häufig zu Beratungen des amerikanischen Kongresses nach Washington berufen und stellt seine Dienste der Federal Reserve Bank, dem US-Finanzministerium, aber auch zahlreichen privaten gemeinnützigen Organisationen zur Verfügung. Was Professor Samuelson zwischen seiner Forschungstätigkeit am MIT, einer Gastprofessur an der New York University und seinem liebsten Hobby, dem Tennis, an Zeit verbleibt, verbringt er im Kreise seiner Familie mit seinen sechs Kindern (darunter Drillinge) und 15 Enkelkindern. WILLIAM D. NORDHAUS gilt zu Recht als einer der bedeutendsten Ökonomen Amerikas. Der in Albuquerque, New Mexico, geborene und aufgewachsene Nordhaus studierte zunächst an der Universität Yale und danach am MIT, wo er in Wirtschaftswissenschaften promovierte. Heute ist Professor Nordhaus Inhaber des Sterling-Lehrstuhls für Ökonomie in Yale sowie
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leitender Mitarbeiter der Cowles-Stiftung für volkswirtschaftliche Studien. Seine Forschungstätigkeit umfasst eine breite Palette an Themen – darunter Fragen der Ökologie, Inflation, Energie und des technologischen Wandels –, und er beschäftigt sich darüber hinaus mit Fragen des Wirtschaftswachstums und den Trends in der Gewinn- und Produktivitätssituation der Unternehmen. Außerdem nimmt Professor Nordhaus intensiv Anteil an wirtschaftspolitischen Fragen. Er war von 1977 bis 1979 während der Präsidentschaft von Jimmy Carter Mitglied des „Weisenrates“, sitzt in zahlreichen staatlichen Beratungsausschüssen und Komitees und schreibt gelegentlich für die New York Times und anspruchsvolle US-Zeitschriften. In Yale hält Professor Nordhaus regelmäßig die Einführungsvorlesung in Volkswirtschaftslehre. Bill Nordhaus lebt mit seiner Frau Barbara und seinem Golden Retriever Pandora in New Haven, Connecticut. Das Ehepaar Nordhaus teilt die Liebe zur Musik und beide Partner genießen Wandern, Reisen und Schifahren als zusätzliche Hobbys.