KLEINE JUGENDREIHE
Victor-Udo Krause
Zwischenlandung in Hongkong
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1957
8. Jahrg...
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KLEINE JUGENDREIHE
Victor-Udo Krause
Zwischenlandung in Hongkong
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1957
8. Jahrgang, 1.Januarheft Veröffentlicht 1957 im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3 – 285/48/57 – Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: Karl Fischer Satz und Druck: (III/9/1) Sächsische Zeitung, Dresden N 23, Riesaer Straße 32 13 268
Aufdröhnend wirbelten die vier vielhundertpferdigen Motoren die Propeller herum. Schneller und schneller rollte der schlanke Silbervogel über die betongraue Startbahn, wippte ein paarmal und hatte sich auch schon vom Boden gelöst. Zäune, Bäume, ein paar Häuser glitten unter ihm hinweg. Von den Strahlen der Morgensonne getroffen, glühte das Kupferdach einer Pagode auf. Chefpilot Wezdar trat ins Seitenruder und bediente zugleich mit dem Rad am Steuerknüppel das Querruder. Die Maschine neigte die linke Tragfläche gegen die Erde und beschrieb eine elegante Kurve. In der Ferne zog das Häusermeer des großen Peking an den Kanzelfenstern vorüber. Wezdar – der schlanke Inder – trug eine dunkelblaue Fliegeruniform und hatte die Lederkappe mit den eingebauten Kopfhörern übergestreift. Er wandte sich mit einer knappen Kopfbewegung an seinen Ersten Offizier, der neben ihm am Reservesteuer saß. „Mir scheint, Bird, bei Ihnen zu Hause lernt man’s jetzt auch!“ Dabei wies er auf eine andere Maschine, die, vielleicht um 500 Meter tiefer, den Flugplatz von Peking ansteuerte. An ihrem Seitenleitwerk leuchteten fünf goldene Sterne auf rotem Feld: das Wahrzeichen Volkschinas. Bird
hatte das chinesische Flugzeug schon vorher gesehen. Als es unter den Tragflächen der eigenen Maschine verschwunden war, heftete er den Blick seiner etwas schräggestellten Augen wieder auf das Armaturenbrett und griff dann fast automatisch nach dem Hebel der Hydraulik, um das Fahrwerk einzuziehen. Eine Kontrollampe verlosch. Durch das Kehlkopfmikrophon der Bordsprechanlage leicht verzerrt, vernahm Bird aus dem Kopfhörer die Stimme des Kapitäns: „Gehen Sie auf Kurs!“ Er bediente das Seitensteuer, bis die Nadel des Kreiselkompasses sich eingespielt hatte, schaltete dann die automatische Kurssteuerung ein und lehnte sich zurück. Unter der Constellation sah er das breite, silbrige Band des Huangho und die fruchtbaren Reisfelder zu beiden Seiten des Flusses vorübergleiten. Barad, der Funkoffizier, hatte schon mit dem Zielhafen Verbindung aufgenommen: „Hallo Hongkong, hallo Hongkong – hier IND KA 85, IND KA 85 – starteten Peking vor 10 Minuten – bitten um Peilung – bitten um Peilung -IND KA 85…“ Hinter der Verbindungstür, die die Kanzel von der Kabine abschloß, hörte man das Donnern der Flugmotoren bedeutend weniger laut. Der Passagierraum war, wie in allen modernen Verkehrsmaschinen, so gut schallisoliert, daß man sich hier mühelos unterhalten konnte. „Sagen Sie, Dottore“ – mit dieser Frage wandte sich gerade ein schwarzhaariger, südländischer Journalist an seinen Platznachbarn –, „wie machen Sie das nur? Ich bin doch auch schon seit vier Jahren Ostasienkorrespondent, aber ich verstehe von diesem Kauderwelsch noch immer kein Wort!“ Und er schickte eine temperamentvolle Geste hinterher. Der Angeredete – ein Nordeuropäer dem Typus nach, blond
und groß und ziemlich das Gegenteil seines Nachbarn lächelte einen Augenblick. Dann wies er auf das Fensterrechteck: „Schauen Sie doch einmal dort hinunter, Senor Jorez!“ Zwischen Wolkenfetzen wurde die unermeßlich weite, übersonnte Ebene sichtbar. Teeplantagen, Maisfelder, Citrushaine teilten das Land in Schachbrettfelder. Wie eine farbige Landkarte, in große und regelmäßige Quadrate geteilt, lag das fruchtbare Südchina unter dem südwestwärts stürmenden Riesenvogel. Jorez blickte verständnislos. „Wollen Sie mir den Blick für die Schönheiten einer Luftreise öffnen?“ fragte er. „Da kommen Sie ein wenig spät. Ich glaube, auf dem Rückweg werden gerade die zweiten hunderttausend Flugkilometer voll werden, die ich über fünf Kontinenten und sämtlichen Weltmeeren zurückgelegt habe.“ „Mag sein. Aber ich habe diese Erde anders kennengelernt, blutend und brennend, habe sie Kilometer um Kilometer bald zu Fuß, bald zu Pferd und bald im Panzerwagen durchmessen. Oft genug war mein Hauptverbandplatz zugleich die Hauptkampflinie; wenn ich das Skalpell aus der Hand legte, mußte ich zum Gewehr greifen, um das Leben meiner Verwundeten vor den Tschiang-Banden zu schützen. Auf diese Weise, Senor Jorez, lernt man ein Land, seine Menschen und seine Sprache ein wenig besser kennen als beim Drüberwegfliegen. Meinen Sie nicht auch?“ Ein feines Lächeln spielte um die Mundwinkel des großen Blonden. Seinem windgegerbten Gesicht, den tiefeingegrabenen Zügen sah man wohl an, daß er ein gutes Recht hatte, so zu sprechen. Aufschneiderei hätte auch nicht recht zu seiner Art gepaßt. Der Korrespondent war neugierig geworden. „Sie haben bei
den chinesischen…“, er zögerte, verlegen um einen passenden Ausdruck, „bei den chinesischen Roten mitgekämpft?“ fragte er. „Ja. Als Arzt der Volksarmee und als Journalist. Zwölf Jahre lang.“ Bisher war die Unterhaltung auf spanisch geführt worden. Jetzt wandte sich einer der Mitpassagiere – ein ernster, hochgewachsener Chinese, dessen linker Anzugärmel an der Rocktasche festgesteckt war – um und sagte in klarem, fast akzentfreiem Deutsch: „Schauen Sie, Genosse Doktor Werner – dort am Fluß zwischen den Bergen liegt Wuhan. Erinnern Sie sich?“ Der Arzt nickte. Den zerschossenen Arm des Chinesen hatte er selbst dort unten abgenommen. Vorn in der Kanzel hantierte Barad an seinen Geräten. „Hallo, Hongkong – hallo Hongkong“, schwang seine Stimme sich in die Ferne, „haben soeben den Jangtse überflogen. Hier IND KA 85…“ Eine breite Villenstraße, der schlanke Zypressen Schatten spendeten. In diesem Außenbezirk von Hongkong herrschte zu dieser Stunde – es war kurz nach 7 Uhr Ortszeit – noch tiefe Ruhe. Irgendwo sangen die Reifen eines chromblitzenden schnellen Wagens über den Asphalt. Das zierliche Chinesenmädel kümmerte sich wenig um die empörten Blicke des würdevollen Butlers, der ihr aus dem Parterrefenster eines im englischen Herrenhausstil gehaltenen Villenbaus nachsah. Ung-ho hatte nicht einmal die Uniformjacke mit den gekreuzten Propellerblättern auf dem Kragenspiegel richtig zugeknöpft, und das „Schiffchen“ war auf ihrem glatten, dunklen Haar ganz nach hinten gerutscht. Sie hatte es sehr eilig. Endlich kam sie in belebtere Gegenden. Straßenhändler
priesen mannigfaltige Waren an, und Rikschakulis trabten mit ihren leichten zweirädrigen Wagen vorbei, überholt von schnellen, blitzenden Autos. Ung-ho zögerte einen Augenblick, schließlich rief sie einen Rikschakuli an und ließ sich weiter ins Stadtinnere fahren. Nachdem sie den mageren, ausgedörrten Jungen entlohnt hatte, schaute sie sich erst ein paarmal vorsichtig um, ehe sie sich einer Seitenstraße zuwandte. Vor einem recht stattlichen, einstöckigen Gebäude blieb sie stehen. In das Metallschild neben der Tür waren zweimal die gleichen Worte eingraviert, links in der geschwungenen chinesischen Pinselschrift und rechts in steifen Antiqualettern auf englisch: „Volksrepublik China, Handelsvertretung.“ Und darüber fünf goldene Sterne auf rotem Grund. Ung-ho trat rasch ein. Der Pförtner, ein würdiger, schon kahlköpfiger Chinese, beugte sich höflich aus seinem Schalterfenster. „Gib das sofort dem obersten Chef!“ stieß das Mädel hervor. Sie drückte dem Verwunderten einen schmalen Briefumschlag in die Hand. Schon war sie wieder verschwunden. Die viermotorige Constellation IND KA 85 der „Air India“ zog in großer Höhe ihre Bahn. „Schön, Senor Dottore“, widersprach der temperamentvolle Südländer gerade seinem Nachbarn. „Aber warum macht Peking, wenn es unbedingt Frieden will, soviel Lärm um Formosa? Vielleicht sind ja die Taiwaner mit dem Marschall Tschiang Kai-schek durchaus zufrieden.“ Doktor Werner überlegte einen Augenblick. Dann übersetzte er die Frage dem einarmigen Chinesen, der vor ihm im Sessel lehnte. Der wandte sich mit einem Ruck um: „Sagen Sie ihm, Genosse Doktor, daß ich in Taipeh geboren bin. Meinen Eltern hat
man die Hütte über dem Kopf angezündet, meinen Bruder erschossen und meine Schwester gefoltert, weil ich Offizier der Volksarmee war. Taiwan ist heute zu zwei Dritteln Exerzierplatz und zu einem Drittel Konzentrationslager. Wir wären schlechte Chinesen, wenn wir das länger dulden würden.“ Jorez schwieg etwas betreten, nachdem ihm Doktor Werner die Antwort übersetzt hatte. „Also gibt es Krieg?“ fragte er schließlich, „Es wird keinen Krieg geben. Daß wir jetzt zu einer Friedenskonferenz fliegen, daß diese Konferenz überhaupt zustande kommt, beweist es mir. Deshalb liegt manchen Leuten diese Zusammenkunft ja auch so sehr im Magen.“ „So, die Pille wird ihnen gut bekommen. Fröhliche Himmelfahrt, Tjan!“ Rou Jeng-ti machte sich an vier mittelgroßen Konservendosen zu schaffen. Darin waren freilich keine Pillen, sondern – wenn man der Aufschrift glauben wollte Corned beef, hergestellt in Chicago. Rou Jeng-ti traute der Aufschrift offenbar nicht, jedenfalls sprach die Vorsicht dagegen, mit der er in jede der Dosen ein Glasröhrchen hineinsteckte. Die Deckel der Dosen hatten eigentümlicherweise Öffnungen, gerade groß genug, um die Röhrchen aufzunehmen. Aus jedem Röhrchen hingen zwei sorgfältig isolierte Drähte heraus. Am Fenster des geräumigen Dachzimmers, in dem sich der feiste, nach alter Sitte gekleidete Chinese dergestalt betätigte, war eine Apparatur aufgebaut, in der jeder Fachmann unschwer eine Funkanlage erkannt hätte. Davor saß ein noch junger Bursche und schaute dem Tun seines Landsmannes sichtlich beunruhigt zu. „Vielleicht belieben Sie, Herr Jeng, auf das zu hören, was
ich Ihnen zu sagen habe!“ Der dritte im Raum ließ in seiner heiseren Stimme einen drohenden Ton mitschwingen, der in eigenartigem Widerspruch zu den höflich gesetzten Worten stand. Seine kleinen dunklen Augen glitten mit einem geringschätzigen Ausdruck über den jungen Mann hin. Mit dem spürbaren Willen zu beleidigen, setzte er hinzu: „Deine Mutter hat einen großen Irrtum begangen, Jeng, als sie dir
Hosen anzog. Weiberröcke stünden dir besser zu Gesicht!“
Und dann, etwas leiser, aber mit unduldsamer Schärfe, zischte er: „Starr nicht immerfort deinem Vater auf die Finger, sondern probier das Signal noch einmal durch! Wir müssen sichergehen.“ Mit einem krampfhaften Lächeln griff der junge Chinese aufs neue zur Morsetaste. Ein feines Zirpen in abgewogenem Rhythmus klang durch den Raum. Im gleichen Takt tönte metallisches Klicken aus einem großen offenen Lederkoffer, über den sich Rong-tju, der dritte Mann in dem Dachzimmer, seinem Range nach aber zweifellos der höchste von den dreien, aufmerksam beugte. Plötzlich rasselte es in dem Koffer. Erschrocken schaute der junge Jeng von seiner Taste hoch. Rong-tju kniff seine ohnehin zu schmalen Augen zusammen, machte ein paar berechnet langsame Schritte zu Jeng hinüber, packte ihn an den Ohren und verdrehte sie, daß der junge Chinese vor reißendem Schmerz aufstöhnte. „Der dreizehnte Ton, du stinkendes Schwein! Der dreizehnte Ton! Du gibst ihn zu lang!“ Schweigend machte sich Jeng wieder an die Arbeit. Diesmal klappte es. Als er sein Pensum heruntergetastet hatte, begann eine Glocke mit durchdringendem Ton zu schrillen. Rong-tju stellte sie zufrieden ab. „So, Alter, dann gib uns also deine Pillen!“ Er nahm die Corned-beef-Dosen in Empfang und verstaute sie in dem Koffer. Jovial wandte er sich wieder an den Alten: „Bist zum Glück geschickter als dein Sohn. Aber wo zum Teufel ist dein knuspriges Töchterchen?“ Rou Jeng-ti grinste verlegen. Er stank nach Schnaps. Mit einer herrischen Handbewegung hieß er seinen Sohn nachsehen gehen. Wortlos and gefügig stand der von seinem Funkgerät auf. Aber er war gleich wieder da, atemlos und
entsetzt: „Ung-ho ist – fortgegangen!“ Ehe Rong-tju sich gefaßt hatte, schrillte das Telefon. „Herr Chef, Inspektor Night von der britischen Militärpolizei möchte Sie dringend sprechen!“ meldete der Telefonist. Dem britischen Geschäftsträger in Peking saß kurz vorher ein Mitarbeiter des Außenministeriums der Volksrepublik China gegenüber. Mit offenem Blick, und ohne seine Besorgnis zu verbergen, sagte er: „Ich wiederhole: Die Nachrichten, die uns soeben aus Hongkong erreichten, sind sehr ernst, Sollte der Maschine, die unsere Delegierten und einige Korrespondenten der Weltpresse zur Friedenskonferenz bringt, bei der Zwischenlandung in Hongkong etwas zustoßen, so wird die Regierung der Volksrepublik Sie dafür voll verantwortlich machen müssen!“ „Ich versichere Ihnen, die Behörden Ihrer Majestät werden alle Vorkehrungen treffen, um die Sicherheit der von Ihnen gecharterten Maschine zu gewährleisten“, erklärte der britische Beamte höflich und kühl. „Wir werden sofort nach Hongkong kabeln.“ „Hallo Hongkong – hallo Hongkong – hier IND KA85 – haben Kanton überflogen – landen in etwa 10 Minuten – weisen Sie uns bitte Anflugschneise zu…“ Funkoffizier Barad lauschte auf die Antwort aus der Tiefe. Dann schaltete er um und sprach ein paar Zahlen in die Bordverständigungsanlage. Eigentlich wäre Bird ja an der Reihe gewesen. Aber Wezdar mochte ihn nicht stören. Der zweite Pilot war in den Anblick der Landschaft versunken, über der der Silbervogel dahinzog. Deshalb leitete der Inder selbst das Landemanöver ein. Er griff nach dem Schalter der Kurssteuerung, legte ihn auf
„aus“ und drosselte dann die Motoren. Bird fuhr auf. Wezdar deutete in die Dunstschicht, hinter der weit vorn der Horizont verschwamm: „Die Küste!“ Und dann, nach einer Pause: „Sagen Sie, Bird, ich will Ihnen ja nicht gern den Finger in eine offene Wunde legen – aber ich möchte doch wissen, was Sie bewegt, wenn Sie einen Gemieteten China-Flug machen. Immerhin sind Sie doch eigentlich hier zu Hause.“ Wezdar hatte keine Zeit, auf eine Antwort zu warten. Die Maschine war unter ein Wolkenfeld geraten und begann in den Böen heftig zu tanzen. So brauchte er seine Aufmerksamkeit, um die Schlingerbewegungen abzufangen: „Air India“ legt nämlich Wert darauf, ihre Passagiere ohne Luftkrankheit ans Ziel zu bringen. Der junge Offizier war recht froh, auf diese Weise einer Erwiderung enthoben zu sein. Er hätte jetzt nicht über seine Empfindungen sprechen können, nicht einmal zu seinem väterlichen Freund und Fliegerkameraden. Als Bird seine Heimatstadt Schanghai verlassen hatte, war er gerade 12 Jahre alt gewesen. Sein Vater, einer der reichsten einheimischen Kaufleute und Schiffsreeder, hatte sein Vermögen vor den Wirren des Bürgerkrieges in Sicherheit bringen wollen. Deshalb war er vom Jangtsekiang an den Ganges umgesiedelt, von Schanghai nach Kalkutta. Dort hatte er zunächst seinen Namen anglisiert, um sich den gutverdienenden europäischen Geschäftsleuten rein äußerlich anzugleichen. Aber was in der blumigen, bilderreichen Sprache Chinas Klang und Melodie gehabt hatte, wirkte im sachlich-trockenen Englisch dürr und sogar ein wenig lächerlich: Won-tschi -Yellow Bird – Gelber Vogel. Und mit dem Klang seines Namens schien auch das Glück des chinesischen Kaufmannes dahin: Seine Schiffe mit Waf-
fenladungen für Tschiang Kai-schek waren von der Volksbefreiungsarmee aufgebracht worden, und darauf hatte man auch seine Warenvorräte beschlagnahmt. Die Barmittel, die er gerade noch nach Indien schmuggeln konnte, reichten nicht zum Neuanfang, wie sich hinterher herausstellte. Vielleicht fehlten dem alten Won in der Fremde auch einfach der Unternehmungsgeist und die Skrupellosigkeit, die seine Familie durch viele Generationen groß gemacht hatten. Kein Erfolg lohnte seine Mühen. So hatte er denn seinen letzten Lebenszweck darin gesehen, den Sohn in tiefem Haß gegen die neue Staatsordnung Chinas zu erziehen. Was er gerettet hatte, war immerhin noch genug gewesen, dem Jungen eine Ausbildung auf der Navigationsschule und eine Anstellung als Flugoffizier bei „Air India“ zu sichern. Das hatte er getan, und dann war er gestorben. Der junge Won-tschi aber flog nun schon seit Jahren kreuz und quer über Asien. In letzter Zeit war er ein paarmal nach China gekommen. Dabei hatte er viel Stoff zum Nachdenken gesammelt. Und vor allem: In ihm begann eine Saite zu klingen, deren Ton ihm vorher fremd gewesen war. Zum erstenmal hatte er gespürt, daß „Erde“ auch ihm etwas anderes bedeuten könnte als gleichgültiger Rastpunkt zwischen zwei Flügen; daß es auch für ihn eine Heimat gab – oder geben könnte. Wenn die Roten nicht wären!, trotzte des alten Won Sohn in dem jungen Piloten. Und unversehens hieb er sich mit der Faust auf das Knie. Kapitän Wezdar schaute verwundert herüber. „Hongkong in Sicht!“ sagte der Mann am Nebensteuer aber nur, als hätte ihn diese Entdeckung zu der impulsiven Geste veranlaßt. Und dann dachte er an ein schlankes, schwarzhaa-
riges Mädel. Ob sie wohl wieder Dienst haben würde? Ungho. Ihr war auch die Heimat verschlossen. Wie ihm. „Bitten um Landeerlaubnis!“ rief Barad die Bodenstation an. Die breite Betonstraße, die aus dem Europäerviertel zum Flughafen von Hongkong hinausführt, war in dieser Vormittagsstunde recht belebt. Der fremde Besucher mochte sich darüber wundern, wie es die Chauffeure der glas- und nikkelblitzenden Luxusautos fertigbrachten, so dicht aufgeschlossen und dabei in so wahnwitzigem Tempo zu fahren. Und der Fremde mochte sich dann wohl darüber belehren lassen, daß am Steuer der meisten Wagen Malaien saßen. Diese stellten sich nämlich hinter dem Volant am gelehrigsten und im dichtesten Verkehrsgewühl am gewandtesten an, und so leicht brachte sie nichts aus der Fassung. Jetzt freilich traten sie doch alle der Reihe nach gehorsam auf das Bremspedal. Die Kolonne der tausend summenden Pferdestärken kam ins Stocken. Wie eine Welle pflanzte sich das von hinten nach vorn, von Wagen zu Wagen fort: Gas weg, rechts ran, halten, Und mit gellenden Sirenen, die einander zu überschreien suchten, jagten vier, fünf, sechs Fahrzeuge der Militärpolizei vorüber. Ein Jeep vorweg, fünf vollbesetzte Mannschaftswagen hinterher. Die würdigen Männer in den Straßenkreuzern – Repräsentanten Old Englands in einer seiner letzten Kronkolonien, geldschwere Bewahrer übriggebliebener Weltgeltung – schickten ihnen erstaunte und ein wenig mißmutige Blicke nach. Das Flughafengebäude ist dicht am Meer erbaut. Ein halbrunder Pavillon im Kolonialstil, dessen grellweißer Rauhputz im ungedämpften Licht der südlichen Sonne zu flimmern scheint, birgt Empfangshalle, Gepäck- und Zollabfertigung und was sonst noch zum „Service“ gehört, zum Kun-
dendienst der Fluggesellschaften. Darüber erhebt sich die gläserne Kuppel des Kommandoturmes, von dem der Union Jack, die Flagge mit dem Georgskreuz, flattert. Von hier kann der Wachhabende der Flugleitung die Start- und Landebahnen genausogut übersehen wie den Anlegeplatz für Wasserflugzeuge, die Hangars und den Flugsteig, eingefaßt vom flachen Gebäudehalbrund. Die Anfahrtstraße, die zwischen Blumenrabatten an der Außenseite des Rundbaus entlangführt, bietet dem Flugdienstleiter für gewöhnlich kaum Interessantes. An diesem Tage freilich nahm das seltsame Geschehen dort draußen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, so daß er sogar vergaß, den Funker anzuweisen, die Landeerlaubnis für die aus Peking gemeldete Sondermaschine zu erteilen. Mit aufjaulenden Pneumatiks stoppte die MP-Kolonne vor dem Flughafengebäude. Inspektor Night, ein noch junger, baumlanger und betont strammer Offizier, sprang mit einem eleganten Satz aus dem Jeep und schnarrte ein wenig affektiert sein „come down!“ Mit schnellem Seitenblick vermerkte er wohlgefällig, daß er auf ein paar hübsche junge Damen, die auf irgendwas oder - wen warteten, sichtlich Eindruck machte. So gab er sich denn um noch einen Grad schneidiger, während er die auf sein Kommando abgesessenen Militärpolizisten einteilte. Die Gruppen eilten davon, im Laufen noch ihr weißes Gurtzeug ordnend und die kurzläufigen Maschinenpistolen durchladend. „Kommen Sie, Brown!“ sagte der Inspektor zu dem Sergeanten an seiner Seite. Durch die weit aufschwingende Flügeltür verschwand er mit ihm im Inneren des Gebäudes. Daß er seinen Stellvertreter mitnahm, war auch auf Wirkung berechnet. Er wußte, daß seine Figur neben dem kleinen, rundlichen und schon fast kahlköpfigen Sergeanten besonders gut zur Geltung kommen mußte. Die
Blicke, die ihm hübsche Augen unter breitkrempigen Tropenhüten nachsandten, bestätigten seine Berechnung. „Oh, Pardon!“ Jorez blickte ehrlich erschrocken auf den dunklen, nassen Fleck, den sein Kaffee auf der weißen Leinenhose Doktor Werners verursacht hatte. „Um in dieser Lage Kaffee trinken zu können, müßte man ja auch Jongleur sein.“ Die IND KA 85 zog seit fünf Minuten Steilkreise. Blickte man durch das linke Kabinenfenster, so sah man die Erde wie eine rotierende Tortenplatte, während sich rechts der Himmel langsam an dem Fensterviereck vorüberdrehte. „Warum wir wohl nicht landen?“ fragte der Chilene beunruhigt und klammerte sich instinktiv an seinen Haltegurt höchst überflüssigerweise, denn die Zentrifugalkraft der raschen Drehung preßte ihn wie alle anderen ohnehin fest in den Sessel. „Ob die Briten etwa die Annahme der Maschine verweigern? Soviel ich weiß, sind sie nicht gerade Freunde von Friedenskonferenzen.“ Dr. Werner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Sie haben offenbar keine sehr hohe Meinung vom Wert der schönen Worte über .Freiheit’, ,Toleranz’ und ,Selbstbestimmungsrecht der Völker’, die bei Ihnen zu Hause so oft ausgesprochen werden, Herr Kollege! Aber beruhigen Sie sich. Es wäre allzu undiplomatisch, uns die Zwischenlandung in Hongkong nicht zu gestatten. Schließlich brauchen die Engländer den Handel mit China. Außerdem wäre solch ein Boykott recht wirkungslos; wir würden sicher einfach nach Hanoi weiterfliegen. Die Konferenz würde jedenfalls um keinen Tag später beginnen.“ Dr. Werner verstummte und schaute nach links hinaus, wo die Flugplatzanlagen sichtbar wurden; die zur Erde geneigte
Tragfläche der Constellation zielte genau in ihr Zentrum. „Wissen möchte ich aber doch, weshalb da unten alles so aufgeregt durcheinanderläuft. Ob vielleicht ein Unglück passiert ist? – Aber wir landen ja schon. Sehen Sie, Jorez, Ihre Befürchtungen waren grundlos.“ Die Maschine hatte sich aufgerichtet und zum Gleitflug angesetzt. „Glauben Sie, ich renne mir gern wegen dieser Roten die Hacken wund?“ sagte Night und zuckte dabei in einer Weise die Schultern, die deutlich sagen sollte: beileibe nicht! „Aber ich bin Polizist, und Befehl ist Befehl. Das andere ist Sache der Diplomaten.“ „Na gut.“ Der Flugdienstleiter, dem der lange Inspektor gegenüberstand, fügte sich ins Unvermeidliche und griff nach der Sprechtaste der Kommandoanlage, um seine Anordnungen zu treffen. Night tippte an seinen breiten Helm, murmelte ein „okay“ und verschwand. Nein, gern machte er diese Arbeit wahrhaftig nicht. Wozu hat er schließlich so manches Jahr „Eingeborene“ geschurigelt, wenn er jetzt für diesen Tjou-we, irgend so einen Minister aus Rotchina, auch noch Ehrenwache stehen soll? Aber da war nichts zu machen; jetzt steckte er hier und mußte diese unangenehme Sache hinter sich bringen. Zudem machte ihm auch das Telefongespräch nachträglich Kopfschmerzen, das er vor der Abfahrt noch schnell mit diesem verd… Gelbgesicht, diesem Mister Wrong oder wie der Kerl heißt, geführt hatte. Eigentlich war das ein ganz grober Verstoß, der ihn – Inspektor Night – zumindest seine Sterne kosten konnte. Aber er kannte den China-Mann vom Tschiang-Kaischek-Konsulat schließlich schon länger, von Polizeiaktionen gegen streikende Fabrikarbeiter, Bauern und so. Dabei
hatte dieser stets mit den Boys vom CIC zusammengehockt, dem amerikanischen Geheimdienst, und Inspektor Night konnte sich einen gewissen geheimen Respekt vor dem gelben Gentleman nicht verkneifen, wengleich er sonst auf alle „Farbigen“ mit dem Hochmut des rassestolzen Briten hinabsah. Alles, was er mit den amerikanischen Vettern in Zusammenhang brachte, imponierte dem langen Inspektor nun mal: Hemdsärmeligkeit, Kaugummi, Busineß und Bebop. Dem rundlichen Sergeanten Brown hingegen imponierte das alles nicht, dem imponierte auch sein Vorgesetzter kein bißchen. Ein Engländer, so dachte er bei sich, hat nicht „okay“ zu sagen und überhaupt nicht die ungehobelten Vettern von „drüben“ nachzuäffen, wenn die auch jetzt die Herren markierten. Ein Engländer hat auf sich zu halten! So dachte Brown, und deshalb brachte er jetzt auch nur ein mürrisches „Ist gut, Sir!“ zustande, als ihm Night befahl, die Postenkette zu überprüfen. Dann trollte er sich aber eilig; denn seine Arbeit nahm er sehr ernst, der rundliche Sergeant Brown von der Hongkonger Military Police. Ung-ho verfolgte die Absperrmanöver der Polizeisoldaten mit ungläubigem Staunen. War das etwa schon das Ergebnis ihres Briefes? Das zierliche Mädchen war, nachdem sie das Haus der chinesischen Handelsvertretung verlassen hatte, ein wenig ziellos in den Straßen der Innenstadt umhergewandert, denn bis zum Dienstbeginn fehlte noch viel Zeit, und nach Hause traute sie sich nicht. Ohnehin wußte sie nicht, was jetzt werden sollte. Der Vater würde sie wohl totschlagen, wenn er erführe, wo sie gewesen ist. Oder… sie wagte nicht weiterzudenken. Schließlich war sie dann zum Flugplatz gefahren, und als sie dort aus dem Stadtomnibus stieg, jaulten auch schon die MP-Sirenen heran. Jetzt stand Ung-ho auf der Veranda des Kasinos, beschatte-
te ihre Augen mit der feingliedrigen Hand und schaute in die schmerzend helle Bläue des tropischen Himmels. Ein paar englische und indische Flieger, die unter einer Loggia in bequemen Liegestühlen schwitzten, machten liebenswürdige Witze. Aber Ung-ho hörte heute nicht einmal darauf – sehr zum Leidwesen ihrer Schützlinge, die – soweit sie Hongkong regelmäßig anflogen – das schwarzhaarige Chinesenmädchen alle gut kannten und sich immer ein bißchen auf sie freuten. Die Constellation, die jetzt schon seit fünf Minuten über dem Platz kreiste – die mußte es sein. Offenbar hatte sie noch keine Landeerlaubnis. Doch – jetzt schwebte sie ein –, und da hatte Ung-ho auch schon das Kennzeichen erkannt, das in großen schwarzen Blockbuchstaben auf Rumpf und Tragflächen gemalt war: IND KA 85. Die Maschine setzte fern am Rande der Landepiste auf und rollte, größer werdend, rasch heran. Ung-ho sprang die wenigen Stufen von der Veranda zum Flugsteig hinab und wollte ihr entgegenlaufen. Ein Militärpolizist versperrte ihr den Weg: „Hier darf niemand durch!“ „Aber ich gehöre zum Flughafenpersonal, bin Stewardeß im Kasino, ich muß doch…!“ Etwa hundert Meter vor dem Empfangsgebäude, noch weit vom Flugsteig entfernt, wurde die Maschine durch Flaggensignale gestoppt. Im Laufschritt nahte ein Zug MP-Soldaten und bildete einen Kordon um sie herum. Der Tankwagen kam herangefahren. Sergeant Brown hielt ihn an, ließ sich eine Benzinprobe in ein Blechgefäß abfüllen und zündete die wasserhelle Flüssigkeit an. Dann erst durften die Tankwarte ihren Feuerwehrschlauch anbringen. Sergeant Brown nahm, wie gesagt, seine Arbeit sehr ernst; er hattte Befehl erhalten, das Flugzeug der „Air India“ vor
Anschlägen zu schützen, und er wußte aus seiner langjährigen Polizeipraxis recht gut, welche Teufeleien man mit Kraftstoff anstellen kann. Ung-ho aber wußte mit dem aufgeregten Treiben auf dem Flugplatz nichts anzufangen. Sie wußte nur, daß sie zu Wontschi wollte, zu ihm mußte, um ihn zu warnen. Das Mädchen dachte an ihre erste Zeit im Flughafenkasino. Damals war sie noch recht verschüchtert gewesen, bei jedem Scherz war sie rot geworden und davongelaufen. Wie oft hatte sie darüber nachgedacht, auf welche Weise sie Won-tschi, den chinesischen Flugoffizier mit dem englischen Namen Yellow Bird, kennenlernen könnte. Denn kennenlernen mußte sie ihn. Rong-tju wollte seinen Auftrag erfüllt sehen, und wenn sie an ihn dachte, schüttelte es sie vor Grauen. Der Pilot kam alle drei, vier Tage nach Hongkong, aß im Kasino, ruhte ein wenig aus und flog dann, wenn die Zeit gekommen war, wieder davon. Ung-ho fiel es auf, daß er ernster und stiller war als die meisten seiner Kameraden. Sie bediente ihn wie die anderen auch: schweigsam, niedergeschlagnen Blicks, höflich. Und dann war es plötzlich wie von selbst gekommen. Vielleicht war dem Flieger aufgefallen, daß ihn die kleine chinesische Stewardeß, glaubte sie sich unbeobachtet, stets unverwandt anstarrte. Vielleicht fühlte er sich auch einfach deshalb zu ihr hingezogen, weil ihr feingeschnittenes trauriges Gesicht ihn an seine Heimat erinnerte. Jedenfalls hatte er sie eines Tages zu einem Spaziergang eingeladen. Er erzählte ihr von seinem Leben, und allmählich verlor auch sie ihre Zurückhaltung. Bald stand bei den Besatzungen aller Linien, die Hongkong berührten, fest, daß Yellow Bird und Ung-ho zusammengehörten. Erst jetzt aber war ihr ganz klar, daß sie den ernsten Flieger
aus Kalkutta wirklich liebgewonnen hatte. Jetzt, da es vielleicht zu spät war. Hilfesuchend blickte sie um sich. Da sah sie etwas, was ihr den Herzschlag stocken ließ: Eine kurzgeratene Gewalt in einem modern geschneiderten schneeweißen Tropenanzug, die gerade aus der Halle auf den Flugsteig trat. Schnall barg Ung-ho sich im Schatten einer Türnische. Rong-tju war ratlos. Er trug noch das maskenhafte Lächeln spazieren, das ihn eben während seines Disputs mit dem Abfertigungsbeamten nicht für eine Sekunde verlassen hatte; aber dann besann er sich darauf, daß dieses Lächeln jetzt überflüssig war. Mit einem Ruck war es ausgelöscht. Er zitterte vor Wut. All seine Beredsamkeit hatte er aufgewendet, um den Clerk hinter dem Gepäckschalter davon zu überzeugen, daß sein Koffer unbedingt noch mit dem Sonderflugzeug nach Djakarta gehen müsse. „Dringende diplomatische Korrespondenz, Sie verstehen, Herr Beamter!“ Aber der war unnahbar geblieben. „Diese Maschine ist von der chinesischen Regierung gechartert, deshalb können wir ihr leider keine Luftfracht mitgeben.“ Und was nun? Rong-tju verzog sein aufgequollenes, hochrotes Gericht zu einer wütenden Grimasse. Hätte er jetzt nur dieses Bauerngör, diese Ung-ho, in den Fingern – jeden Finger würde er ihr einzeln brechen, schön langsam und mit Genuß. Aber das würden wohl die Herren in Taipeh ihm besorgen, wenn die Sache jetzt noch schiefginge! Rong-tju lächelte schon wieder sein maskenhaftes Lächeln, als er sich an den ihm zunächst stehenden Posten wandte: „Bitte schön, Herr Soldat, könnten Sie wohl Ihren Herrn Kommandeur bitten, für eine Minute zu mir zu kommen?“ Night wandte sich unwillig um, als ihm der Auftrag ausgerichtet wurde. Dann kam er aber doch zum Flugsteig herüber
und legte sogar grüßend die Hand an die Mütze. „Ehrenwerter Herr Inspektor, ich habe den Mut, Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten…“ O ja, die schöne Tugend der Höflichkeit beherrschte Rongtju in allen Tonarten. Sie hatte schließlich im alten China nicht weniger zur Fähigkeit eines jeden Staatsbeamten gehört wie die Bereitschaft, jedermann zu bestechen und sich von jedermann bestechen zu lassen. „Ehrenwerter Herr Inspektor, dieser Koffer hier mit wichtigen Papieren wird dringend in Djakarta erwartet. Die nächste planmäßige Maschine geht aber erst in acht Stunden, so daß das Sonderflugzeug wirklich die einzige Gelegenheit wäre. Der Koffer wiegt nicht viel – was kann es schon ausmachen, wenn man ihn mitnimmt?“ Night wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Er hätte sich brennend gern gefällig erwiesen – weniger dem Tschiang-Kai-schek-Chinesen als vielmehr denen, von denen er nicht ohne Grund annahm, daß sie hinter ihm stünden. Aber da war die eindeutige Anweisung des Gouverneurs, niemanden und nichts an das Flugzeug heranzulassen. Rongtju bemerkte das Zögern des Inspektors mit Mißvergnügen. Er wußte, dies war seine letzte Chance. „Sir, Sie werden uns doch gerade diesmal Ihre bewährte freundschaftliche Hilfe nicht versagen!“ dienerte er. Nur in seinen Augenwinkeln stand dabei eine Drohung. Night wußte nun, woran er war. Er verwünschte den Tag, da er diesen Bekannten aus früheren vergnügten Tagen als Beamten des Tschiang-Kai-schekKonsulats in Hongkong wiedergetroffen hatte. Er verwünschte sich selbst, daß er auf dessen so harmlos vorgetragenen Wunsch – „Sir, Sie würden mich zu tiefem Dank verpflichten, wenn Sie mich bei irgendwelchen Aktionen, die meine – hm, meine Landsleute vom Festland angehen, vor-
her anriefen!“ eingegangen war. Jetzt hatte der tückische Kerl die Hand an seiner Kehle. Night wußte, sein Gegenüber würde erbarmungslos zudrükken. Dem lauernden Blick Rong-tjus war es nicht entgangen, daß der Inspektor ihn verstanden hatte. Als sei es schon eine beschlossene Sache, daß sein Wunsch erfüllt würde, fügte er hinzu: „Ich achte Ihr Pflichtbewußtsein, Herr Inspektor. Um es nicht zu verletzen, könnten Sie ja den Koffer auf alle Fälle vorher abhorchen. In jeder – Höllenmaschine tickt bekanntlich eine Uhr. An Ihrer Stelle würde ich auch einen Ihrer Untergebenen an der Untersuchung teilnehmen lassen. Sie wären später dann in jedem Falle gedeckt. – Allerdings – öffnen dürften Sie den Koffer leider nicht. Sie wissen ja: Diplomatische Post.“ Night wußte Bescheid. Er schickte einen in der Nähe stehenden MP-Mann, den Sergeanten zu holen, und ließ sich aus seinem Wagen einen Apparat bringen, der wie ein kleines Funkgerät aussah. Er drehte an ein paar Knöpfen und nahm dann seinen breiten weißen Helm ab, um den Metallbügel eines Kopfhörerpaares überzustreifen. Mit raschem Seitenblick versicherte er sich, daß sein auffälliges Gehabe Zuschauer angelockt hatte. Aus einem Seitenfach seines Gerätes holte er schließlich ein kleines, aber hochempfindliches Mikrophon hervor und begann damit die Seitenwände des Koffers abzutasten, den ihm Rong-tju in die Hand gedrückt hatte. Brown trat herzu. Sein Vorgesetzter reichte ihm gleichfalls eine Hörmuschel und forderte ihn durch eine Handbewegung auf, mitzutun. Der Sergeant lauschte angestrengt auf das leise Summen des Verstärkers. Aber er vernahm kein fremdes Geräusch.
Schließlich bat er den Inspektor, ihm das Mikrophon zu überlassen, kippte den Koffer um und preßte das Hörgerät auch an dessen Boden. Nichts. „Lassen Sie schon, Brown, wir prüfen doch nur der Form halber.“ Night richtete sich hoch und klopfte seine Uniform ab. Man sah ihm an, daß ihn die Gründlichkeit seines Gehilfen langweilte. „Soll der Koffer dem Sonderflugzeug mitgegeben werden?“ Der Sergeant war trotz des negativen Verlaufs der Hörprüfung sichtlich nicht ganz einverstanden. „Unser Befehl…“ „Unsinn, Brown. Ein Sonderfall.“ „Trotzdem, Sir. An Ihrer Stelle…“ „Sie sind aber nicht an meiner Stelle, Sergeant!“ Night fertigte seinen Untergebenen kurz ab und wandte sich dann an Rong-tju: „Geht in Ordnung, Mr. Wrong!“ Und schon ergriff er den Koffer und trug ihn höchst eigenhändig zum Flugzeug. Den unterdrückten Schrei, der aus einer Türnische des Empfangsgebäudes kam, hörte er nicht. Barad fluchte. „Wegen dieses Blödsinns darf man sich nicht einmal die Füße vertreten!“ knurrte er hinter seinen Geräten hervor. Bird hörte es über die Bordsprechanlage, aber er kümmerte sich nicht darum. Mit dem scharfen Nachtglas, das er dem an seinem Sitz angebrachten Lederfutteral entnommen hatte, suchte er das Halbrund der Flugplatzanlagen und die davon eingefaßte Betonplattform des Flugsteigs systematisch ab. Aber was er suchte, wollte nicht im Okular des Feldstechers erscheinen. Unwillig hatte er bei der Landung die Fahrwerkbremsen angezogen, als die Signale vom Kommandoturm auch beim
schlechtesten Willen nicht mehr zu übersehen waren. Sofort hatte sich ein riesiger Militärpolizist vor den Ausstieg gepflanzt und deutlich zu verstehen gegeben, daß niemand die Maschine verlassen dürfe. Immerhin hatte Bird angenommen, daß man Ung-ho als Flughafenangestellte heranlassen würde. Aber offenbar war die MP entschlossen, nicht mal eine Maus in der Nähe des Flugzeugs zu dulden. Won-tschi wurde aus seinen Überlegungen herausgerissen. Wezdar kam aus der Passagierkabine wieder in die Kanzel geklettert und zwängte sich in seinen Sitz. „Nichts zu machen, Bird“, sagte er bedauernd, „niemand darf aus der Maschine hinaus, und keiner darf herein. Da müssen wir halt weiter, ohne zu dinieren. Das heißt, Ihnen geht’s ja wohl weniger um den Braten als um die, die ihn serviert. Stimmt’s?“ Er lächelte nun doch wieder. Aber sein Erster Offizier brummte nur etwas Unverständliches und hob wieder das Glas vor die Augen. „Lassen Sie man, Bird“, suchte Kapitän Wezdar ihn zu trösten, „morgen sind wir wieder hier.“ Dann faßte er aber gleich nach dem Stück Holz, das er eigens an eine Kanzelstrebe geschraubt hatte, und klopfte dreimal kräftig dagegen. Ein wenig abergläubisch sind nämlich alle Flieger der Welt, und die hübsche Sitte mit dem Holzstück als Talisman hatte Wezdar zugleich mit der ersten „Achter-Kurve“ von seinem europäischen Fluglehrer gelernt. „Eben habe ich unserer Stewardeß den Kopf waschen müssen“, setzte Wezdar beiläufig hinzu. „Der lange Inspektor, dieser Lackaffe, der unsere ,Garde’ hier kommandiert, hat ihr hübsche Augen gemacht, und schon hat sie sich von ihm ein Stück Luftfracht aufreden lassen. Es wäre Diplomatenpost, hat er gesagt, und im übrigen von ihm genau überprüft.
Dabei sind wir von Peking gechartert und haben unterwegs überhaupt nichts mitzunehmen…“ Der Chefpilot verstummte. Sein Gefährte hatte mit einem halblauten Ausruf das Fernglas sinken lassen und hob es jetzt wieder, starrte angestrengt hindurch. Im Fadenkreuz erblickte er eine zierliche, wohlvertraute Mädchengestalt, die plötzlich aus dem Hintergrund hervorgeschossen kam, gewandt zwischen zwei Posten hindurchschlüpfte und auf das Flugzeug loslief. Dabei warf sie beide Arme in die Luft und winkte – aber ihre Gebärden wirkten eigentümlich angstvoll, als ob sie… ja, als ob sie sich voller Verzweiflung mühte, ihm eine Gefahr deutlich zu machen. Beunruhigt schwang Yellow Bird sich von seinem Platz und griff nach der Bodenluke. Gerade bückte er sich, um sie zu öffnen, da peitschte scharf ein Schuß. Und noch einer. Irgend jemand rief ein grobes „hands up!“ Bird fuhr herum. Knapp fünfzig Meter entfernt stand Ungho. Sie streckte hilflos ihre Arme in die Höhe. Die Soldaten, die den Kordon um die Maschine bildeten, hielten ihre Waffen auf das Chinesenmädchen gerichtet. Mit langen Sprüngen hastete vom Flughafengelände ein Uniformierter heran. Bird schoß das Blut als heiße Welle zu Kopf. Er griff nach der Waffe in seiner Gürteltasche und riß mit einem Ruck das Kanzelfenster auf. Aber Wezdar fiel ihm in den Arm: „Lassen Sie! Sie ist nicht verletzt, morgen wird sich alles aufklären.“ Als Ung-ho abgeführt wurde, rief sie mit hoher, singender Stimme ein paar chinesische Worte. Bird glaubte so etwas wie „Weg mit dem Koffer“ zu verstehen, aber da summten auch schon die Anlasser, und gleich darauf donnerten wieder die Motoren. Das Tanken war beendet. Der Flugdienstleiter – froh, die
unliebsame Betriebsstörung loszuwerden – hatte Startbefehl erteilt. Die Wachsoldaten sprangen zur Seite. Wezdar gab Gas, drehte die Maschine gegen den Wind, bremste die Motoren ab, daß sie aufheulten, und gab schließlich die Bremsen frei. IND KA 85 ließ das ungastliche Hongkong unter und hinter sich. Bald gewann sie die freie See. Ung-ho kannte den Koffer gut, mit dem der lange Inspektor auf das Flugzeug losgestelzt war. Sie hatte ja diesen Koffer Won-tschi selbst bringen sollen. Und nun würde es also doch geschehen. Es würde seinen Körper zerfetzen, rinnende Glut würde ihn verbrennen, fetter Qualm ihn ersticken. Und sie selbst würde mitschuldig sein! Verzweifelt hatte Ung-ho ihr Hirn nach einem Ausweg zermartet. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie Won-tschi sehen. In den dicken Scheiben der Flugzeugkanzel spiegelte sich die Sonne mit flimmernden Reflexen, aber der Schatten dahinter – das mußte er sein. Sie wußte ja, daß sich der Platz des zweiten Piloten an der rechten Kanzelseite befand. Könnte sie ihm nur vier Worte zurufen, dann wäre alles gut. Dann würden sie den verhängnisvollen Koffer gleich nach dem Start ins Meer werfen. Aber wie sollte er diese vier Worte hören? Die junge Chinesin verfluchte sich selbst und ihre Feigheit. Warum war sie nicht selbst mit dem Koffer zu ihm gegangen und hatte sich ihm anvertraut? „Wontschi“, hätte sie sagen müssen, „ich bin deiner Liebe nicht wert. Man hat mich zu einer schlechten Sache verleitet. Ich hätte mich dazu nicht zwingen lassen dürfen. Dieser Koffer hier birgt deinen Tod, Wirf ihn fort, wo er niemandem schaden kann – und vergiß mich!“ Ja, das hätte sie tun müssen. Aus Angst, ihn zu verlieren, hatte sie es nicht getan. Und jetzt? -
Plötzlich begann sie zu laufen. Suchte sich eine Lücke in der äußeren Postenkette und schlüpfte hindurch. Sie wußte selbst nicht, wie sie den Entschluß gefaßt hatte, aber jetzt lief sie geradenwegs auf das Flugzeug zu. Als die Schüsse fielen und die Kugeln mit heimtückischem Sirren über ihren Kopf hinwegzischten, blieb sie sofort stehen, jäh ernüchtert. Sie wußte genau, man würde sie erschießen, ehe sie ihm auch nur ein einziges Wort sagen könnte. Ohne viel Hoffnung, verstanden zu werden, nur weil sie einfach nicht still sein konnte, schrie sie ihre Warnung noch einmal hinaus, in ihrer Muttersprache, die auch die seine war. Dann ließ sie sich widerstandslos wegführen. Sie widersprach nicht einmal, als Rong-tju sie mit entschuldigendem Lächeln von Inspektor Night losbat: „Natürlich kenne ich das Kindchen; das ist doch die Tochter meines guten alten Freundes Rou Jeng-ti. Gewiß, es ist unverzeihlich, daß sie Ihre Anordnungen durchbrochen hat, aber ich verbürge mich dafür, daß sie keine bösen Absichten verfolgte. Wenn Sie gestatten, werde ich sie ihrem Vater zurückbringen. Rou Jeng-ti wird sicher nicht versäumen, sie für ihre Ungebühr zu bestrafen.“ Night machte die Andeutung einer Verbeugung. Ihm war jetzt alles gleich. Aber Rong-tju drehte sich noch einmal um: „Eine Frage noch, Sie erlauben, Sir: Gehört zu der Reisegesellschaft dort“ – er deutete zu dem Flugzeug hinüber –, „gehört dieser Mr. Tjou vielleicht dazu?“ „Keine Ahnung. Von den Roten hat sich niemand blicken lassen.“ Willenlos ließ sich Ung-ho von Rong-tju in den Fond seines Wagens stoßen. Er befahl dem Chauffeur, nach Hause zu fahren. Dann zog er sorgfältig die Gardine vor das breite
Rückfenster und hieb Ung-ho zweimal hintereinander die Faust ins Gesicht. Mit einem Aufstöhnen sank das Mädchen zusammen. Bird hatte sich noch immer nicht beruhigt, obschon sie bereits eine gute Stunde wieder in der Luft waren. Er sah seine kleine Freundin vor sich, mit angstvoll aufgerissenen Augen, wie auf den Fleck genagelt von den Läufen der englischen Maschinenpistolen. Was sie wohl mit ihr machen werden? Und mit Bitterkeit kam ihm zum Bewußtsein, daß Ung-ho vogelfrei war. Die Militärpolizei in Hongkong konnte mit ihr genauso nach ihrem Belieben verfahren, wie es die amerikanischen GI’s und Tschiang Kai-scheks marodierende Meute in ihrer Heimat auf der Insel Taiwan taten. Er dachte an das tragische Schicksal ihrer Schwester, von dem sie ihm einmal erzählt hatte. Konnte er sie denn davor schützen, wenn er irgendwo über den Wolken dahinflog? Und es ergab sich ganz von selbst, daß ihm Peking in den Sinn kam. Gestern abend erst hatte er dort aus Neugier eine Versammlung besucht. Keinem seiner Kameraden, nicht einmal Wezdar, hatte er ein Wort davon gesagt. Eine Frau hatte dort gesprochen. Von Menschenwürde, vom Recht der Frau auf Achtung und eigene Entscheidung über ihr Leben. Das alles, so hatte sie gesagt, sei heute selbstverständlich in China. Won-tschi dachte an seine Mutter. Nie hatte er sie, des reichen Kaufherrn Frau, anders als demütig und dienend gesehen. Bei den Roten mußte doch wohl ein frischer Wind wehen. Bei ihnen würde auch Ung-ho nicht mehr getreten werden. Yellow Bird erschrak über seine Gedanken. Sie erschienen
ihm wie ein Verrat an seinem Vater, der ihm den Haß gegen Mao Tse-tung und seine Partei eingeschärft hatte. Aber er fühlte, er konnte nicht mehr hassen. Er fürchtete, daß er schon zu lieben begonnen hatte. Barad hatte bereits Verbindung mit Djakarta. „Bitten um Peilung, bitten um Peilung!“ rief er in sein Mikrophon. Das Haus in der schattigen Zypressenallee schien irgendwie verändert. Unterschied seine geschäftige Atmosphäre es ohnehin schon von der protzigen Würde der umliegenden englischen Anwesen, so war jetzt eine fieberhafte Unrast hinzugetreten, die seine Bewohner durch die Zimmer trieb. „Ein großer Chef ist angekommen.“ Mit dieser Meldung wurde Rong-tju schon am Tor empfangen. Er quetschte einen Fluch durch die Zähne und befahl dem Chauffeur, Ung-ho in ihre Kammer zu bringen. „Aber gut einschließen! Du haftest mir dafür, daß sie keinen Schritt heraus tut!“ In Rong-tjus Arbeitszimmer hatte der General es sich bequem gemacht, der „große Chef“ aus Taipeh, der Residenz des KuomintangDiktators. Seine goldstrotzende Uniformjacke hing über der Stuhllehne, er hatte die Schuhe ausgezogen und die Füße malerisch auf den wuchtigen Schreibtisch aus Zedernholz gestreckt. Rong-tju hatte eine Schwäche für kostbare Möbel in amerikanischem Stil. Sie steigerten ungemein sein Selbstgefühl und gaben ihm das schöne Bewußtsein, eine gewichtige Persönlichkeit zu sein. Jetzt freilich wirkte er gar nicht gewichtig. Bescheiden setzte er sich auf den steifbeinigen Besucherstuhl und schielte nur einmal böse zu der weit offenen rechten Seitentür seines Schreibtisches hinüber. Der General bediente sich gerade aus der dort kunstvoll eingebauten Hausbar, während er mit der Linken ein Aktenstück durchblätterte, das er auf seine feisten Schenkel gelegt hatte. Seinen Untergebenen würdigte er
nur eines undeutlich gemurmelten Grußes. Gerade schleppte Rong-tjus Sekretär wieder diensteifrig einen Stapel Akten heran. Mit einem verlegenen Achselzucken entschuldigte er sich bei seinem Chef. Ein Größerer, sollte diese Gebärde wohl sagen, hat jetzt hier das Wort. Der General schob die Papiere mit einer Handbewegung beiseite. „Was macht Tjou-we?“ fragte er mit heiserem Baß. „Es ist alles in Ordnung“, beeilte sich Rong-tju zu melden. „Das Ei ist ins Nest gelegt, jetzt muß der junge Kuckuck nur noch ausschlüpfen.“ Der Chef fixierte ihn eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Rong-tju wurde es unbehaglich. Ob dem Chef bei der Bücherdurchsicht etwas aufgefallen war? Richtig, da nahte das Unglück schon. „Sagen Sie mir, Rong-tju“, meinte der General gleichmütig, „haben Sie auf Ihrem Posten hier wirklich erst 6000 Dollar verdient? Oder haben Sie am Ende noch andere Quellen als den Fonds zur besonderen Verwendung?“ Der Agent verfärbte sich. Das war das Ende! Er versuchte noch einen schüchternen Einwand: „Herr General, neue Mitarbeiter gewinnen ist sehr teuer; die Gefahr, wissen Sie…“ Aber sein Gegenüber ließ ihn gar nicht erst ausreden. „Mach deine dreckige Schnauze zu, du Verbrecher!“ brüllte er und schlug mit der fleischigen Faust auf die Schreibtischplatte, daß die vielen Goldblechmedaillen an seiner Uniformjacke mißtönend zu klimpern begannen. Und dann, plötzlich wieder ganz bedachtsam: „Wenn die Sache mit Tjou nicht restlos klappt, machen wir Schluß mit Ihnen… Sie kennen doch gewisse, sagen wir – ungemütliche Unterkünfte, nicht wahr? Aber vielleicht haben Sie sie noch nicht gründlich genug kennengelernt. Wir könnten Ihnen dazu ausgiebig Gelegenheit verschaffen. Für den Rest Ihres Le-
bens, Rong-tju. Klar? Und jetzt berichten Sie mir, was Sie in der bewußten Angelegenheit unternommen haben.“ „Hier IND KA 85 – hallo Djakarta!“ funkte Barad in den Äther hinein. „Ich verstehe das Ganze nicht, Senor Dottore!“ sagte der Chilene zu Doktor Werner. „Wollte man nun Hongkong vor den Delegierten oder die Delegierten vor irgend etwas anderem schützen? Diese Quarantäne war doch sinnlos!“ Der Deutsche war nicht ganz einverstanden. „Sinnlos wohl nicht, Jorez. Nur zweifle ich daran, daß die Richtigen Posten gestanden – oder präziser gesagt: daß die Richtigen die Posten kommandiert haben.“ „Sagen Sie – befürchten Sie ernstlich einen Anschlag?“ Der Journalist aus Santiago machte plötzlich einen besorgten Eindruck. Blickte man genau hin, konnte man vielleicht sogar feststellen, daß er sich unter seinem südländisch dunklen Teint zu verfärben begann. Dr. Werner schien die Frage überhört zu haben, er blickte müde durch die Kabinenfenster. Die vier Motoren trugen die Constellation hoch über der dunkelblauen See dahin. Ab und an sah man weit in der Tiefe einen hellen Punkt und darüber eine lange, im Winde verwehende Rauchfahne. Dort pflügte dann ein Schiff seinen Weg durch das nasse Element. Einige Passagiere waren eingenickt. Der einarmige Delegierte, der seinen Platz vor den beiden Zeitungsleuten hatte, studierte eine Schrift mit senkrechten Kolonnen rätselhaft verschlungener Hieroglyphen und machte sich mit ebensolchen Zeichen Notizen in ein schmales Heft. Vorn im Getöse der Motoren ließ sich Bird gerade die Karte reichen, auf der der Bordnavigator den neuen Kurs abgesteckt hatte. Die Windabdrift hatte nämlich den vorher errechneten Wert
überschritten, und deshalb bedurfte der Kompaßkurs einer Korrektur. Fast automatisch verrichtete der Erste Offizier die gewohnten Handgriffe. Die Gedanken an das Mädchen, das er in Hongkong zurückgelassen hatte, wollten nicht weichen. Was hatte sie ihm nur noch zurufen wollen, als der Soldat sie abführte? Bestimmt war es wichtig gewesen. Ob er das Wort „Koffer“ richtig verstanden hatte? „Sagen Sie, Wezdar“, fragte er den Kapitän, „was war das eigentlich für eine Luftfracht, die uns der englische Inspektor mitgeben wollte?“ „Wie kommen Sie denn jetzt darauf? Ein Koffer war’s, glaube ich. Ja – ein brauner Lederkoffer, ich erinnere mich.“ „Haben Sie ihn eigentlich wieder hinausgeworfen?“ „Nein. Die Stewardeß hatte ihn schon in der Pantry verstaut. Die Sache war mir nicht der Mühe wert.“ Bird schwieg wieder. Etwas behagte ihm nicht. Dr. Werner gähnte herzhaft. „Was meinen Sie, Herr Kollege“, wandte er sich an Jorez, „sollten wir nicht das Mittagessen nachholen? Ein kleiner Imbiß bekäme mir recht gut. Und dann werde ich ein wenig schlafen. Ich verspüre das dringende Bedürfnis, mich von innen zu beschauen, das monotone Geräusch macht müde.“ Der Chilene war sehr einverstanden. Er klingelte, und die Stewardeß kam, die Bestellung aufzunehmen. Jorez sandte der jungen Inderin einen bewundernden Blick nach. Graziös und sicher schritt sie den leicht schwankenden Mittelgang entlang und verschwand hinter der Tür zur Pantry. Dort, in der kleinen, aber technisch ausgeklügelten Bordküche, würde nun wohl ein appetitanregendes Brutzeln beginnend Jorez konnte nicht sehen, daß der Stewardeß dabei etwas im Wege war: der Koffer, den ihr der stattliche englische
Offizier in Hongkong zugereicht hatte. Sie überlegte eine Sekunde, dann öffnete sie den niedrigen Durchgang zum Gepäckraum und kletterte mit dem Koffer hinein. Sie hätte ihn ja gleich vornan abstellen können, aber das wäre gegen die Vorschrift gewesen. So kroch sie mit dem lästigen Stück seufzend ganz nach hinten ins Schwanzende. Danach erst konnte sie sich den Kochkünsten widmen. Sie tat es mit viel Geschick. Ung-ho lief in ihrer engen Kammer rastlos auf und ab: von der verschlossenen Tür bis zum vergitterten Fenster, hin und her, immer hin und her, wie in einer Gefängniszelle. Vor dem Fenster reckten sich seltsame blinkende Metallarme. Es sei eine Antenne, die Hochspannung führt, hatte man ihr gesagt, als sie hier eingezogen war. Deshalb sei auch das Fenster vergittert, damit sie sich nicht einmal in Gedanken hinauslehne und an den spannungführenden Antennenstab gerate. Als sie hier eingezogen war. – So lange lag das noch gar nicht zurück. Aber wieviel hatte sich inzwischen verändert! Gern war Ung-ho nicht nach Hongkong gekommen. Gewiß, die Fischerhütte an der Westküste von Taiwan war um vieles armseliger gewesen als ihr neues Heim. Aber dort hatte sie doch jeden Abend mit ruhigem Gewissen einschlafen können. Und hier… Ung-ho weinte. Sie mußte wieder an die kleine Li denken. Eines Tages war ein betrunkener Amerikaner bei ihnen eingedrungen – und hatte Li zu sich ins Auto gezerrt. Der Vater schien damit einverstanden, er hatte in den nächsten Tagen auffällig viel Geld für Schnaps. Nie wieder hörte Ung-ho von ihrer Schwester, der kleinen, immer lustigen Li. Der Vater – für Ung-ho hatte dieses Wort einen schreckli-
chen Sinn. Sie kannte Rou Jeng-ti nur betrunken, unflätig, grausam. Ihre Mutter hatte er zu Tode geprügelt, als seine Töchter noch Kinder waren. Er betrachtete das als sein gutes Recht, und im alten China machte ihm auch niemand dieses Recht ernsthaft streitig. Den Sohn hatte der verkommene Alte den Werbern Tschiang Kai-scheks überlassen. Das Handgeld kassierte er natürlich und tauschte Reisschnaps dafür ein. Eines Abends hatte er Rong-tju mitgebracht. Ung-ho schüttelte sich, als sie sich des gierigen Ausdrucks der kleinen, wäßrigen Augen des Agenten erinnerte. Sie war fortgelaufen, hatte bei einer Freundin geschlafen – doch am nächsten Morgen hatte Rong-tju sie breit grinsend in der väterlichen Hütte erwartet. Er war teuflisch genug, sogar aus dem Abscheu, den er dem Mädchen einflößte, noch ein Geschäft zu machen. Er würde sie und ihren Vater in eine große Stadt auf dem Festland mitnehmen, hatte er ihr eröffnet. Auch ihr Bruder dürfe mitkommen – für ihn, Rong-tju, wäre es eine Kleinigkeit, Jeng aus der Armee freizubekommen. Tue sie alles, was er ihr befehle, dann würde er ihre Familie reichlich belohnen. Sonst aber würde ihr Vater sie ihm überlassen, und dann… Der alte Rou Jeng-ti hatte zu alledem beifällig genickt. Es gab damals für Ung-ho keinen anderen Ausweg. So war sie nach Hongkong gekommen. Rong-tju hatte ihr die Stellung im Flughafenkasino verschafft und ihr den Auftrag erteilt, den Ersten Offizier der IND KA 85, den Chinesen Yellow Bird, kennenzulernen. Sie hatte den Auftrag ausgeführt. Vor einigen Tagen erzählte ihr Won-tschi, daß er zu einem Sonderflug nach Peking starten werde. Sie hatte Rong-tju davon berichtet, obwohl sie wußte, daß sie damit einen Vertrauensbruch beging. Aber
die Angst vor Rong-tju war größer gewesen… Ung-ho wunderte sich nicht weiter darüber, daß ausgerechnet Won-tschi den Auftrag bekommen hatte. Sie wußte, in den Büros der indischen Luftverkehrsgesellschaft saßen noch viele Ausländer, ein paar Amerikaner waren sicher auch darunter, und die waren schließlich Rong-tjus eigentliche Brotherren - soviel war dem Mädchen schon klar. Als die Rede dann auf einen Koffer kam, den sie Won-tschi übergeben sollte, da wußte sie genug und lief zu dem Haus mit den fünf goldenen Sternen. Aber da war es wohl schon zu spät gewesen. Ung-ho hörte aus dem Nebenzimmer laute Stimmen. Ihr war schon lange aufgefallen, daß die Trennwand recht dünn sein mußte. Ob sie dort über den Koffer reden würden? Sie versuchte, etwas zu verstehen. Dabei lehnte sie sich gegen die Wand. Leise knisterte die Tapete – und gab dann einfach nach. Sie war wohl an eine Türöffnung in der Mauer geraten, die ein früherer Besitzer einfach überklebt hatte. Jetzt konnte das Mädchen die Gespräche nebenan ganz deutlich hören. Und wenn sie mit ihrem Bleistift vorsichtig ein Loch in die Tapete zu bohren versuchte, die von drüben gegen die Öffnung geklebt war? – Richtig. Jetzt konnte sie auch sehen, was drüben vorging. Der junge Jeng, Ung-hos Bruder, hockte vor seinen Apparaten. In Tschiang Kai-scheks Armee war er zum Funker ausgebildet worden; zu keinem besonders guten Funker zwar, aber dafür hatte er um so gründlicher hündischen Gehorsam und Schweigen gelernt. Drill und Laster hatten ihn, dem der Vater lange genug schlechtes Vorbild gewesen war, vollends die Menschenwürde verlieren lassen. Gerade das machte ihn für Tschiang Kai-scheks Geheimdienst sehr nützlich. Im Augenblick drehte er an einem Stellknopf. Pfeifen,
mißtönendes Quietschen, Bruchstücke von Morsezeichen und Sprachfetzen klangen aus einem Lautsprecher. Endlich hatte Jeng gefunden, was er suchte. Sehr deutlich, wenn auch von starkem Rauschen überlagert, hörte man scharf akzentuierte englische Worte: „Hier IND KA 85, IND KA 85. Hallo Djakarta, stehen auf der Linie Bangkok-Manila, BangkokManila, an Bord alles wohl, Ende.“ Ung-ho war zusammengefahren. Sie mußte an sich halten, um sich nicht durch eine unbedachte Bewegung zu verraten. Aus einer Zimmerecke, die sie nicht übersehen konnte, hörte sie eine fremde, barsche Stimme. „Ganz schön“, sagte diese, dem General gehörende Stimme-!. „Und wann wird die Bombe platzen?“ „Wann wir es wünschen.“ Rong-tju freute sich über den Ausdruck der Verblüffung, der in das Gesicht seines Vorgesetzten trat. Rasch erklärte er: „Schauen Sie, Herr General, ein Zeitzünder brauchte in jedem Falle ein Uhrwerk. Es gibt aber kein Uhrwerk, das völlig geräuschlos läuft. Deshalb haben wir in den Koffer ganz einfach einen Funkempfänger eingebaut. Wenn wir es für richtig halten, geben wir mit diesem Sender hier – er ist als Amateurstation ordnungsgemäß lizenziert – eine genau festgelegte Folge von Morsezeichen. Jedes Zeichen bringt in dem Koffer ein Relais zum Ansprechen. Wird der Rhythmus gestört, ist nur ein Impuls um ein weniges zu kurz oder zu lang, so fällt die Relaiskette sofort wieder zusammen. Sind aber alle Zeichen richtig angekommen, so schließt das letzte Relais den Zündstromkreis.“ Der dicke General gab ein erstauntes Grunzen von sich. Dieser Rong-tju schien immerhin Ideen zu haben, vermerkte er bei sich. Dafür könnte man ihm schon einiges durch die Finger sehen.
Der Taiwaner nahm sofort wahr, daß das Wetter umgeschlagen war. Er hielt es für richtig, den Bescheidenen zu spielen: „Im Grunde genommen ist die Idee nicht neu. Genauso arbeiten die automatischen Alarmgeber, die auf Schiffen eine Glocke oder Sirene auslösen, sobald sie ein Seenotsignal einfangen. Wir haben nur das Prinzip für unsere – hm, Zwecke nutzbar gemacht.“ Ung-ho war wie zu Eis erstarrt. Wer könnte das Scheusal noch daran hindern, die tödlichen Zeichen in den Äther hinauszusenden? Wer könnte Won-tschi noch retten? Ung-ho trug zwar eine europäisch geschnittene Uniform, sprach schon recht gut Englisch und begann bereits, sich in ihre neue Umwelt einzuleben. Aber sie war trotz der anderthalb Jahre, die sie jetzt in Hongkong wohnte, doch noch tief in der Vorstellungswelt des Ostens von vorgestern befangen, in der sie groß geworden war. In dieser Vorstellungswelt aber gehörte zur Frau das Gehorchen. Obschon ihr Vater sich vor ihr als Unmensch und Säufer erwiesen hatte, obschon sie kein Gefühl für ihn empfand außer dem des Hasses, war es ihr nicht in den Sinn gekommen, sich zu widersetzen. Jetzt aber erinnerte sie sich der heimlichen Erzählungen mancher Schulkameradinnen auf Taiwan von dem anderen, großen China, das hinter dem Meere liegen sollte und in dem alle Menschen frei wären. Sie verband mit diesem Begriff keine bestimmte Vorstellung – aber sie fühlte, daß „frei sein“ heißen müßte, sich nicht mehr vor Rong-tjus verschlagengrausamem Verbrechergesicht und nicht mehr vor dem Bambusstock eines verkommenen alten Mannes fürchten zu müssen. Und frei wollte sie sein und nicht den Tod des geliebten Menschen wehrlos dulden müssen. Heute früh war Ung-ho ihrem Vater zum ersten Mal davongelaufen, um
Won-tschi nicht den Koffer bringen zu müssen. Sie hatte den Weg zu dem Haus mit den goldenen Sternen gefunden; aber auch von dort war sie wieder fortgelaufen. Jetzt wußte sie, daß Fortlaufen allein nicht rettet. Plötzlich wurde sie sehr kühl und ruhig. Vorsichtig beklopfte sie die Wand auf der gegenüberliegenden Seite ihrer Kammer. Ihre Vermutung erwies sich als richtig. Auch dort war eine niedrige Türöffnung einfach zugeklebt worden. Vorsichtig ging sie daran, das zähe Papier zu lösen. Auf dem Flugplatz von Peking präsentierte eine Ehrenkompanie der chinesischen Volksarmee die Gewehre. Tjouwe, ein Minister der Volksregierung, grüßte freundlich und stieg die Treppe zu dem wartenden Flugzeug empor. Die Motoren brummten auf, rasch schwang die Maschine sich in die blaue Höhe. Es war ein chinesisches Flugzeug. Sein Kurs führte nicht über Hongkong. „Es wird Zeit“, sagte Rong-tju. Der fette General drückte seine Zigarette aus und erhob sich. Er trat hinter Jeng. Der junge Chinese war nervös. Seine Hand zitterte. „Ob Tjou überhaupt mitfliegt?“ fragte Rong-tju. In seiner Stimme schwang Zweifel. Der General fuhr herum. „Da fragst du mich? Du müßtest das wissen! Warum hast du dir das Mädel nicht vorher angesehen, mit dem du den Flieger ködern wolltest? ,Hat sich verliebt!’ Das wagst du mir zu sagen? Deine Schuld, Dummkopf, daß wir im Dunkeln tappen!“ Der Agent schwieg betreten. Nebenan schnarchte Rou Jeng-ti seinen Rausch aus. Er würde sich die Tochter schon noch vorknöpfen, schwor sich Rong-tju.
Ung-ho spähte in den Nebenraum. Es war eine Abstellkammer. Hoffentlich war das Fenster dort nicht auch vergittert! Behutsam, damit das Geräusch des reißenden Papiers niemandem auffalle, öffnete Ung-ho sich einen Durchschlupf. Die Passagiere in der Kabine der Constellation schliefen. Der Flug über das Südchinesische Meer war auf die Dauer allzu eintönig. Jorez hatte die Frischluftdusche über seinem Kopf geöffnet und ließ sich den kühlenden Fahrtwind um das Gesicht blasen. Auch für die Piloten gab es nicht viel zu tun. Sie konnten beruhigt die Füße von den Pedalen und die Hände vom Rad nehmen und ihren Gedanken nachhängen. Die automatische Steuerung arbeitete exakt. Nur Barad, der Funker, war beschäftigt: „Danke, Singapore“, sendete er, „IND KA 85 dankt für Peilung. Hallo Djakarta, hallo Djakarta – wir überfliegen in etwa 30 Minuten Borneo. Hallo Djakarta…“ Ung-ho stand in einem schmalen Raum mit schrägem Dach. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zwischen dem hochgestapelten Gerumpel zurechtzufinden. Doch dann sah sie das Lichtrechteck über sich. Sie rückte sich eine Kiste zurecht und kletterte hinauf. Jetzt konnte sie die Dachluke erreichen. „Los!“ Rong-tju stieß es heiser hervor. „Die Zünddepesche!“ Jeng schaltete den Sender ein und legte die Fingerspitzen auf die Morsetaste. Kurz-lang-kurz-kurz-lang-kurz-lang-kurz-kurz-lang-kurz… Die Zeichen fügten sich unter den Fingern des jungen Taiwaners aneinander, jagten mit kosmischer Geschwindigkeit
dem enteilenden Flugzeug nach, holten es ein. In einem Koffer, der im äußersten, niedrigsten Winkel des Gepäckraumes lag, klickte es. Aber das hörte niemand. Der Lautsprecher im Dachzimmer des Hauses an der Zypressenallee verstummte nicht. Immer noch gab er, leicht blechern tönend, das Gespräch wieder, das der Funkoffizier der IND KA 85 mit dem Zielflughafen führte. Rong-tju gab Jeng einen Tritt, daß der mit einem Schmerzenslaut vom Stuhle kippte: „Wieder der dreizehnte Ton, du dreckige Ratte! Laß mich ran.“ Er hockte sich selbst vor die Apparatur. Aber seine Finger waren ungeübt und steif. Unbeirrt von seinem wütenden Stakkato-Gehämmer zog die Constellation ihre Bahn. Der Taiwaner zerrte Jeng hoch und stieß ihn an den Sender. Er ri’ seine Pistole aus der Tasche: „Die Zünddepesche, du räudiger Hund! Die Zünddepesche!“
Jeng dachte nicht daran, daß er mit der schwarzen Taste, die unter seiner Hand vibrierte, nach dem Leben seiner Landsleute griff. Er dachte nur an sein eigenes Leben. Und
diesmal gelang es ihm. Sorgsam die Töne und die Pausen zwischen ihnen abmessend, schickte er das Sprengsignal hinaus. Der Mechanismus gehorchte. Als Jengs Hand ruhte, hörte man im Empfänger noch einen scheppernden Ton. Dann nichts mehr. Nur das Rauschen der Atmosphäre und das feine Knistern einer fernen Gewitterentladung. IND KA 85 sendete nicht mehr. Der dicke General pfiff durch die Zähne. Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Schweißperlen aus dem rotglänzenden Gesicht. Ung-ho stieß die Klappe der Dachluke hoch. Tief sog sie die Luft ein. Dann zwängte sie sich, den Oberkörper weit vorbeugend, hinaus. Von der schmalen Plattform, zu der die Dachluke führte, konnte sie fast einen Ast des stämmigen alten Mangobaumes erreichen, der sich aus dem verwilderten Park an der Rückseite des Hauses emporreckte. Nicht umsonst war Ung-ho ein Kind der Insel Taiwan. Wie eine Katze schwang sie sich hinüber, kletterte in die dichtbelaubte Krone hinein. Sie schaute sich um. Niemand hatte ihre Flucht bemerkt. „Raus, los!“ Yellow Bird schaute ratlos zu Wezdar hinüber. Der Chefpilot hockte verbissen hinter dem Steuerknüppel. Lodernd schlugen die Flammen aus dem Rumpf der Constellation, durch den sausenden Sturzflug noch angefacht. Wie hat er es nur fertiggebracht, die Kiste mit halb abgesprengtem Leitwerk noch einmal abzufangen, schoß es Bird durch den Kopf. „Hörst du nicht? Raus!“ Wezdar brüllt wie ein Stier. Bird sah, daß Barad, der Funker, die Bodenluke aufriß und in die
Tiefe sprang. Bird zögerte noch: „Und du? Und – die Passagiere?“ „Raus! Die Tanks! Raus, sag ich dir!“ Die in Stichflammen gehüllte Maschine jagte zwanzig oder dreißig Meter über dem Meeresspiegel dahin. Bird sah die gischtende, schäumende See unter sich. Der feuchte Seewind schlug ihm peitschend entgegen. Er griff zur Schwimmweste und ließ sich fallen. Wie der Drache aus dem Sagenreich, schoß es ihm durch den Sinn, als die Maschine mit loderndem Feuerschweif über ihn hinwegraste. Er nahm noch wahr, daß sich die Reste des Leitwerks vom Flugzeugrumpf lösten. Dann ein greller Blitz – die Detonation hörte der erste Offizier der IND KA 85 nicht mehr. Der Aufprall auf das Wasser hatte ihm das Bewußtsein geraubt. Seit der Explosion im Gepäckraum waren genau dreieinhalb Sekunden verstrichen. „Sie nehmen doch wohl nicht ernsthaft an, daß wir den Mitarbeiter einer bei der Regierung Ihrer Majestät akkreditierten diplomatischen Vertretung in seinem eigenen Hause behelligen werden, auf die Anzeige einer… so fragwürdigen Person hin?“ Eigentlich hatte Night „einer Gelben“ sagen wollen, aber er überlegte sich noch rechtzeitig, daß dieses beschimpfende Wort dem chinesischen Handelsvertreter gegenüber wohl nicht ganz am Platze wäre. Jedenfalls hatte er ihn erst einmal abgewimmelt. Dem Inspektor war trotzdem nicht ganz wohl in seiner Haut. Dieser verschlagene Halunke Rong-tju schien ihn da wirklich in eine verteufelt unangenehme Sache hineingeritten zu haben. Night fuhr sich mit seinem seidenen Taschentuch über die Stirn und schaute wütend zu dem Sergeanten hinüber, der
ungerührt in irgendwelchen Papieren wühlte. Night wußte aber recht gut, daß Brown ebenfalls an die lausige Affäre dachte. Der Funker in Djakarta hatte das scheppernde Geräusch gehört, mit dem seine Verbindung zu der anfliegenden Maschine der „Air India“ abbrach. Er rief noch ein paarmal in den Äther und gab dann Alarm. Vor der Insel Borneo kreuzte ein schnelles indonesisches Küstenschutzboot. Der Wachoffizier beugte sich über eine Seekarte. Hastig verglich er die Koordinaten des SOS-Rufes, den der Funker eben aus Djakarta aufgenommen hatte, mit dem eigenen Standort. Gleich darauf rasselte der Maschinentelegraph, und das Boot steckte seinen Bug hoch aus der aufstiebenden See. So war es also doch keine Halluzination gewesen, was er eben zu sehen und zu hören geglaubt hatte: ein Meteor, ein Komet, der überm Meer dahinfuhr und dröhnend zerplatzte. Der Wachoffizier griff nach Zirkel und Kursdreieck. In einer halben Stunde konnte er am Ort der Katastrophe sein. Die Manöverglocke schrillte die Mannschaft aus den Kojen. Der General tätschelte Rong-tju leutselig die Hängebacken. „Ich werde Seiner Exzellenz, dem Marschall, melden, daß Sie Ihre Sache gut gemacht haben“, versprach er ihm. „Über das andere – Sie wissen schon, was ich meine, die Sache mit dem Fonds zur besonderen Verfügung, darüber sprechen wir gar nicht mehr.“ Vorläufig, setzte er in seinen Gedanken hinzu. Laut aber fuhr er fort: „Jetzt möchte ich mir gern das Täubchen ansehen, das uns mit seinen romantischen Gefühlen beinahe alles verdorben hätte. Deinem alten Freund wirst du doch hoffentlich das
Vergnügen gönnen?“ Rong-tju lächelte süßsauer. Er hütete sich aber, dem Chef zu widersprechen. „Jeng, hol uns deine Schwester!“ befahl er. Der ging. Nicht mal jetzt hatte der verbrecherische Funker Gewissensbisse. Nur Angst vor Strafe, und deshalb zitterte er wie Espenlaub, als er zurückkam: „Ung-ho ist – fort. Geflohen, über das Dach, Fort.“ Der General griff nach seiner Mütze. „Du bist doch ein Dummkopf, Rong-tju“, schnaubte er verächtlich durch die Nase. Und ging. Sehr eilig hatte er es jetzt. „Sie sind ein Dummkopf!“ sagte auch der Gouverneur von Hongkong zum Chef seiner Militärpolizei. Das widersprach ganz seiner Gewohnheit, denn der Gouverneur war ein Gentleman. Die verächtliche Einschätzung seines Untergebenen ließ den Grad seiner Erregung ahnen. Inspektor Night stand wachsbleich vor ihm. „Sie hätten sich ausrechnen können, daß die Chinesen das nicht auf sich beruhen lassen. Und Sie hätten sich auch denken können, daß wir über eine so klare und eindeutige Aussage, wie sie dieses Mädchen da abgegeben hat, nicht einfach hinweggehen können. Wir brauchen nämlich das China-Geschäft, Night. Unsere lieben Vettern“, – er schickte einen wenig freundlichen Blick zu den Stars and Stripes hinüber, die im Hafen am Mast eines amerikanischen Schiffes wehten –, „unsere amerikanischen Vettern schnappen uns sonst die fettesten Brocken weg. Sie hätten rechtzeitig lernen müssen, Night, kommerziell zu denken: in Pfund Sterling, nicht in Bomben. Jetzt ist es zu spät dazu. Geben Sie mir Ihre Pistole! Ich muß Sie festnehmen.“ Später ließ der Gouverneur Brown rufen. „Das Mädel, das die Anzeige erstattet hat, wartet im Vorzimmer. Lassen
Sie sich von ihr das Haus zeigen, Sergeant. Und: Erledigen Sie die Sache unauffällig! Haben wir uns verstanden?“ „Verstanden, Sir!“ Er nahm seine Arbeit ernst, der rundliche Sergeant Brown von der Hongkonger Military Police. Und diesmal hatte er sogar Freude an seiner Arbeit. Eine grimmige Freude. Auf das Gezeter Rong-tjus achtete er gar nicht. Er schob den Agenten einfach zur Seite. „Handschellen!“ sagte er nur. Seine Leute ließen um die Gelenke der beiden Jengs und der anderen Achtgroschenjungen – es gab deren genug im Haus des KuomintangGeheimdienstes in der Zypressenallee – schmale stählerne Reifen einschnappen. Rong-tju blieb allein in seinem Maulwurfsbau. Er sank zusammen. Die britische Polizei hatte zwar seine diplomatische Immunität respektiert. Aber er wußte, daß eine grausamere Justiz das Urteil über ihn vollstrecken würde. Sehr hoch über dem Meer brummte ein Flugzeug. So hoch, daß man es kaum sah. Die Männer auf dem Küstenschutzboot hatten auch gar keine Zeit, nach dem Flugzeug auszuspähen. Sie suchten die See ab, rund um das Wrack, das sie im flachen Wasser bald ausgelotet hatten: Vielleicht, daß doch einer lebte. In dem Flugzeug, das über der Trümmerstätte sicher dahinzog, überlas Tjou-we, den der Anschlag hatte treffen sollen, sein Redekonzept für die Konferenz. Es gab niemanden, der es unternommen hätte, die Maschine von ihrem Kurs zu bringen. Die Sonne ist eben über den Horizont gestiegen. Rasch weichen die Morgennebel. Eine leichte, frische Brise bläht
den Windsack, der sich über dem neuerbauten Hangar dreht. Won-tschi, der sich früher Yellow Bird nannte, geht über das Rollfeld. Dabei zieht er das linke Bein ein ganz klein wenig nach. Man merkt es kaum, aber ganz verlieren wird sich die leichte Steifheit wohl nie mehr. Als er nach der Katastrophe bewußtlos im Wasser lag, traf ihn ein Trümmerstück der explodierenden Maschine am Bein. Der Arzt in dem kleinen Hafen auf Borneo, in den ihn das Küstenwachboot brachte, mochte wohl auch nicht gerade ein Meister seines Fachs gewesen sein. Auch gut. So wird er immer an die Kameraden erinnert, die in jenen schrecklichen Sekunden den Tod erlitten. An Wezdar, den Freund und Gefährten, der sein Heldentum am Steuerknüppel mit dem Leben bezahlen mußte. An die Männer in der Kabine, die er nicht gekannt, die er nur flüchtig gesehen hat und von denen er heute weiß, daß sie um einer guten, großen Sache willen die Reise angetreten hatten, auf der die Mörderhand sie ereilte. Won-tschi hatte auf dem Krankenbett viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Er hatte im Radio die Berichte von der Konferenz gehört, zu der die IND KA 85 ihre Passagiere bringen sollte. Er lauschte der Rede Tjou-wes und begriff plötzlich, daß man die Bombe deshalb in das Flugzeug gelegt hatte, damit diese Rede nicht gehalten werde. Und er wurde sich klar darüber, wohin er gehörte. Nicht zu den Bombenlegern! Und deshalb ist er jetzt hier. Er, Won-tschi. Wenn er an Yellow Bird denkt, so geschieht es wie an einen ganz anderen Menschen. Dem Piloten kommt ein schwarzhaariges Mädchen entgegengelaufen. Ung-ho trägt heute zum erstenmal ihre Fliegerkombination – und er muß ihr unbedingt sagen, wie gut sie ihr steht.
In ein paar Wochen wird Ung-ho ihre Pilotenprüfung ablegen, dann – wird auch sie hinter der Steuersäule sitzen. Won-tschi ist stolz auf sein Mädchen. Die beiden jungen Menschen treten in den Schatten, den die weitgespannte Tragfläche eines Flugzeugs auf die Betonbahn wirft. Won-tschi winkt zur Kanzel hinauf, der Erste Offizier legt grüßend die Hand an den Fliegerhelm. „Bis übermorgen, Ung-ho! Bis übermorgen!“ Won-tschi springt die Stufen zum Flugzeug empor und nimmt seinen Platz ein. Der Startbefehl. Aufdröhnend wirbeln die vier vielhundertpferdigen Motoren die Propeller herum. Schneller und schneller rollt der schlanke Silbervogel über die Betonbahn, wippt ein paarmal und hat sich auch schon vom Boden gelöst. Zäune, Bäume, ein paar Häuser gleiten unter ihm hinweg. Von den Strahlen der Morgensonne getroffen, glüht das Kupferdach einer Pagode auf. Und im Wind bauscht sich die rote Fahne mit den fünf Sternen der Volksrepublik. Als ihr Sohn ist Won-tschi zu ihr zurückgekehrt. Als ihren Sohn hat sie ihn aufgenommen, hat ihm eines ihrer Meisterwerke anvertraut. Sieghaft donnern die Motoren ihr Lied. Der Sonne entgegen!