Babylon in Hongkong
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 106 von Jason Dark, erschienen am 09.01.1990, Titelbild: Vicent...
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Babylon in Hongkong
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 106 von Jason Dark, erschienen am 09.01.1990, Titelbild: Vicente Ballestar
Selten zuvor hatte ich meinen Freund Suko so aufgeregt gesehen. Er hatte Post von seinem Vater bekommen, einem Mann, der längst tot war. Oder nicht? Suko wollte es wissen. Wir jetteten nach Hongkong, in eine Stadt voll Gegensätze. Wo sich die westlichen und asiatischen Kulturen trafen, gerieten wir in den Brennpunkt einer mörderischen Magie, in die sich auch Shao, das Mädchen aus dem Jenseits einschaltete...
Suko band den Knoten des Handtuchs dicht über seinem Bauchnabel fest, wollte die Spindtür schließen und blieb plötzlich stehen. Etwas störte ihn. Nicht die Ruhe innerhalb der Umkleidekabine, auch nicht das Schimpfen des Bademeisters draußen, der sich mit einigen Halbwüchsigen angelegt hatte, und ebenfalls nicht das gelbliche Licht, das nur spärlich durch die dicken Glasbausteine an der Westseite des Baues sickerte. Es war ein heftiges Atmen, das ihn aufhorchen ließ. Es hörte sich an, als würde ein Mensch keuchen, der einen langen Lauf hinter sich hatte. Suko rührte sich nicht. Sein trainierter Instinkt, gepaart mit einem hellwachen Verstand, sagte ihm, daß er in den nächsten Sekunden eine Überraschung erleben würde. Er wollte die Spindtür wieder aufziehen, um die Beretta herauszuholen, überlegte es sich aber, weil das Geräusch der sich öffnenden Tür den anderen unter Umständen hätte warnen können. So wartete er ab. Er schlüpfte nur aus den Badelatschen, denn barfüßig hatte er einen besseren Halt, wenn es darauf ankam. Sein Spind war der letzte in der langen Reihe. Die Bodenfliesen glänzten nur matt, sie würden später geputzt werden. Dann sah er ihn. Er tauchte am Ende der schmalen Spindreihe auf. Ein noch junger Mann, ziemlich nachlässig gekleidet. Um die Stirn trug er einen blassen Reifen, der das lange, pechschwarze Haar in Form hielt. Hatte er gekeucht? Der junge Mann schaute sich vorsichtig um. Er wischte die nassen Handflächen am Stoff der Jeans ab, bevor er Suko anstarrte. Suko entspannte sich, weil er keine Waffe bei dem Ankömmling entdecken konnte. Er ließ ihn herankommen. Als der Schmalschultrige die Distanz um die Hälfte verkürzt hatte, sprach Suko ihn an. »Wollen Sie zu mir, Mister?« »Sind Sie Suko?« »Seit meiner Geburt.« Der andere lachte. »Geburt ist gut.« »Und wie heißen Sie?« »Nennen Sie mich einfach den Namenlosen. Ich habe vergessen, wie ich heiße.« Suko grinste schief. »Namenlos haben Sie gesagt? Wissen Sie, ich habe es mir zum Prinzip gemacht, mit Namenlosen nicht zu sprechen.« »Kann sein.« »Dann verschwinden Sie .. .« »Nein, nein, Sie verstehen mich falsch.« Der junge
Mann streckte seinen Arm aus. »Mit mir werden Sie reden müssen, Suko. Ich habe Ihnen nämlich etwas zu übergeben.« »Was?« Der Junge gab nicht sofort eine Antwort. Wieder schaute er sich um, als hätte er Furcht davor, überrascht zu werden. Das stieß Suko sauer auf. »Was ist mit Ihnen, Meister? Weshalb schauen Sie sich um?« »Ich . . . ich habe so ein Gefühl.« »Werden Sie verfolgt?« »Eigentlich dachte ich, sie abgeschüttelt zu haben. Aber jetzt. . .« Er räusperte sich. »Ist auch egal. Ich bin nurderÜber-bringer, mehr nicht. Mehr will ich auch nicht sein.« »Was wollen Sie mir geben?« Der Namenlose atmete tief durch. »Eine Nachricht, mehr nicht. Ich habe den Brief bekommen und . . .« »Wer ist der Absender?« »Ihr . . .« Weiter kam der junge Mann nicht. Plötzlich entstand hinter ihm, genau dort, wo die lange Reihe der Spindschränke aufhörte, eine Bewegung. Es machte >puff<, etwas pfiff durch die Luft, und Suko sah, wie der Bote zusammenzuckte, dann nach vorn stolperte und ihm entgegenfiel. Suko streckte instinktiv seine Arme aus, um den jungen Mann aufzufangen. Er schaute in ein teigig-blasses Gesicht, in starre Augen und sah einen dünnen Blutfaden aus dem linken Auge sickern. Ansonsten gab der Bote kein Lebenszeichen von sich. Eine Hand steckte noch immer unter der dünnen Jacke aus Plastik, die ein Lederimitat darstellte. Dem Jungen war nicht mehr zu helfen. Ein Pfeil hatte ihn genau im Hinterkopf erwischt. Suko ließ ihn zu Boden gleiten. Das alles war innerhalb weniger Sekunden geschehen, aber der Mörder hatte sich bereits zurückgezogen. Suko riß die Beretta aus dem Spind, fuhr herum - und lag plötzlich flach, als er wieder dieses verdammte Geräusch vernahm. Am Ende der Reihe sah er den schwarzen Gegenstand, der um die Spindecke geschoben worden war. Diese mörderische Waffe, die tödliche Pfeile verschoß. Diesmal traf der Pfeil nicht. Suko hörte, wie der Pfeil an den Vorderseiten der Schränke entlangratschte. Aber auch er kam zu keinem gezielten Schuß, denn der Killer befand sich bereits auf der Flucht. Er war dorthin gelaufen, wo sich die großen Baderäume befanden. Ein kaltes Lächeln kerbte Sukos Lippen, als er daran dachte. Dort bei den Baderäumen gab es zwar viel, nur eben keinen zweiten Ausgang, durch den der Killer hätte entwischen können . ..
Ich lag bis zum Kinn im heißen Wasser. Durch die aufsteigenden Dampfschwaden musterte ich rechts und links der Wanne die gelblichen Trennwände, die dem Gast so etwas wie ein Gefühl von Geborgenheit und Alleinsein in diesem ansonsten großen Raum geben sollten. Der Dampf stieg nicht nur in die Höhe, er besaß auch einen besonderen Geruch. Suko hatte mir von diesem chinesischen Badehaus schon seit Tagen vorgeschwärmt und es mir so schmackhaft gemacht, daß ich einfach nicht nein sagen konnte und mit ihm hingegangen war. Nur hatte er sich nicht blicken lassen und mich schon vorgeschickt. Ein Typ mit der Figur eines Catchers hatte mich freundlich lächelnd zu meiner im Boden eingelassenen Wanne gebracht und mir die verschiedenen Essenzen gezeigt, die das Badewasser angeblich zu einer Wohltat machen sollten. Entschieden hatte ich mich für ein gelbgrünes Zeug, das die Haut angeblich reinigte wie drei Saunagänge, sie zudem geschmeidig und weich wie ein Babypopo machte. »Baden Sic auch darin?« hatte ich gefragt. »Ja.« »Dann müßten Sie die doppelte Menge nehmen, bei Ihrer Haut.« Der Knabe war beleidigt gegangen, ich hatte die Pak-kung ins Wasser geschüttet und sollte mich, was die Reklame auf der Außenseite versprach, fühlen wie im Siebten Himmel. Die Ansichten über den Siebten Himmel sind wohl unterschiedlich. Ich merkte nur, wie das Zeug meinen Kreislauf anregte und zudem für eine bessere Tragfähigkeit des Wassers sorgte, denn der Salzgehalt war gesteigert worden. Eine typische Badehausatmosphäre umgab mich. Dazu gehörte in erster Linie Dampf. Nicht nur aus meiner Wanne, in der ich ziemlich tief lag, dampfte es, auch die anderen gaben dieses Zeug ab, so daß sich die verschiedenen Gerüche miteinander mischten, bevor sie irgendwann einmal durch eine Absauganlage verschwanden. Nebel, wohin ich schaute. Wenn neue Badegäste erschienen, sahen sie aus wie geisterhafte Gestalten, die über die Fliesen schlichen. Hin und wieder hörte ich gedämpfte Stimmen oder das Klatschen nackter Füße auf den Fliesen. Das war dann auch alles. Ansonsten hatte ich meine Ruhe im warmen Wasser, das durch einen Zu— und Ablauf ständig auf Temperatur gehalten wurde, so daß ich hin und wieder von dem Gel nachkippen mußte. So begeistert wie Suko von diese Badeanstalt war, so locker sah ich das. Wenn ich unbedingt schläfrig werden wollte, konnte ich auch bei mir zu Hause Wasser einlassen, mich langstrecken und abwarten, bis mir die Augen zufielen.
Soweit war es hier schon beinahe gekommen. Die Müdigkeit drang in meinen Körper, wobei ich den Eindruck nicht loswurde, daß es an den Füßen begann und immer höher kroch. Allmählich ärgerte ich mich über Suko. Wir hatten keinesfalls davon gesprochen, daß der eine den anderen allein lassen sollte. Die Nachbarwanne rechts von mir war nämlich für meinen Freund und Partner reserviert worden. Man kannte ihn hier und hatte uns beide mit großer Freundlichkeit empfangen, was wohl mehr an Suko lag als an mir. So blieb mir weiterhin nichts anderes übrig, als auf meinen Freund zu warten und mir auszudenken, mit welchen Bemerkungen ich ihn empfangen würde, wenn er erschien. Ich veränderte meine Liegehaltung etwas, preßte die Beine zusammen und drückte sie in die Hohe, damit sie vom Wasser getragen wurden und meine Zehenspitzen wie ein kleines Kunstwerk aus dem Wasser hervorschauten. Ich grinste, als ich an die Plastikente oder das Schiffchen dachte, das mir jetzt noch gefehlt hätte. So vom Wasser getragen zu werden, konnte man durchaus als angenehm empfinden. Auch ich hatte nichts dagegen, schloß die Augen, hob beide Arme aus dem Wasser, winkelte sie an und stützte mich an den Wannenrändern ab, wo auch die beiden großen Badetücher bereitlagen. Da geschah es! Den Anfang hatte ich nicht richtig mitbekommen, wahrscheinlich waren mir die Augen zugefallen. Ich konnte auch geträumt haben, jedenfalls bekam ich das Ende mit, und das sah für mich wenig gut aus. Aus den Schwaden vor mir erschien eine Gestalt. Ziemlich kräftig gebaut, es hätte fast Suko sein können, doch der Knabe war angezogen. Urplötzlich war er da, stand neben dem Wannenrand und hob einen Fuß. Ich wollte noch schreien >Sind Sie wahnsinnig!<, als ein Schatten über meinem Kopf erschien, etwas Hartes brutal auf meinen Schädel drückte und die angesetzten Worte in einem Blubbern erstarben, denn der Druck des Fußes hatte mich blitzschnell unter Wasser getaucht. In den folgenden Augenblicken geschah nichts. Ich war wie erstarrt, hatte die Augen weit geöffnet und starrte in die graugrüne Brühe, die mich umfloß. Dann bewegte ich mich. Ich wollte weg mit dem Kopf von der verdammten Schuhsohle, wollte auftauchen, um Luft zu holen, aber der andere reagierte bereits. Er bekam mein nasses Haar zu fassen und riß mich zusammen mit einem Schwall Wasser hoch. Ich öffnete den Mund, atmete keuchend und heftig und spürte, daß der Kerl, der links neben mir hockte, meinen Kopf so weit wie möglich zurück drückte und dann etwas Kaltes gegen meinen Hals preßte: die Mündung einer Waffe. »Wenn du dich rührst, bist du tot, Mann!«
*** Träumte ich? War ich wach? Gaukelte mir die Phantasie etwas vor? War es schon soweit, daß ich durchdrehte? Nichts von dem stimmte. Ich hockte im warmen Wasser, der Unbekannte links neben mir, und am Hals drückte die Mündung der Waffe ziemlich schmerzhaft in meine dünne Haut. In solchen Situationen ist es am besten, wenn man die Ruhe behält. So tat ich zunächst einmal nichts und lauschte nur dem heftigen Atem des mir unbekannten Mannes. Seine Kleidung roch nach Teer. Jedenfalls strömte sie einen ähnlichen Geruch aus. Als ich versuchte, den Kopf zu drehen, verstärkte sich der Druck. Meine Haut spannte sich dabei verdammt hart. Ich überlegte verzweifelt, ob dieser Angriff auf mich einem reinen Zufall entsprach oder ob dahinter irgendein Plan steckte. Der Typ schien nicht gerade zu den Leuten zu gehören, die ihre Nerven unter Kontrolle hatten. Er war mächtig aufgeregt, nicht eiskalt, was mir überhaupt nicht gefiel. Derartige Typen drehten leicht durch, die schössen, ohne zu fragen, da brauchte bei ihnen nur ein Muskel zum falschen Zeitpunkt zu zucken. Gesehen wurden wir nicht. Natürlich gab es genügend Besucher. Die jedoch waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Wer in der Wanne hockte, kümmerte sich nicht um seine Umgebung. Es war eine ungewöhnliche Waffe, mit der man mich bedrohte. Sie sah aus wie ein normaler Revolver, aber der Laufund die Mündung waren doch anders gearbeitet, hinzu kam eine breite, kompakt wirkende Trommel, anders als bei einem normalen Revolver. »Darf ich fragen, was das soll?« flüsterte ich. »Das wirst du schon früh genug merken. Laß nur deinen Kumpan kommen. Er treibt sich . . .« »Geht es um ihn?« »Sicher.« »Was hat er den angestellt?« »Es wird sich herausstellen.« »Warum auch nicht.« »Hör zu, ich an deiner Stelle würde hier nicht so dumm reden. Ich kille euch beide, wenn es darauf ankommt.« »Das glaube ich Ihnen sogar. Wirklich, Sie haben tatsächlich Mut und sind . ..« »Da ist er!« Der Knabe hatte mich unterbrochen, denn Suko war im Gang erschienen. Noch umwallten ihn die Dampfschwaden, aber auch ich konnte ihn erkennen. »He, komm her!«
Suko hörte den Befehl. Er drehte sich nach rechts. Jetzt konnte er in die primitive Kabine hineinschauen, aber noch nicht sofort sehen, was sich dort tat. Zu dicht war der Rauch, der in trägen Wolken über die Wasserfläche strich und immer Nachschub bekam. »John . . .?« »Dein Freund hockt neben mir, und es geht ihm verdammt mies, wenn ich abdrücke. Komm her und schau es dir an. Aber denke nicht einmal an Dummheiten.« Mein Partner schob sich heran. Er trug nur ein Handtuch um die Hüften. Der andere mußte ihn beim Verlassen der Umkleideräume überrascht haben. »Nette Freunde hast du, Suko, wirklich.« »Ich kenne den Killer nicht.« »Killer?« »Ja, sein Opfer liegt im Umkleideraum. Du wirst es kaum glauben, John, er hat ihn vor meinen Augen in den Rücken geschossen. Was Mieseres gibt es nicht.« Mir wurde komisch. Wenn das stimmte, sah es auch für mich bitter aus. Da würde der andere nicht zögern, abzudrücken und meinen Kopf voll Blei zu pumpen. »Ich hörte keine Schüsse.« »Das konntest du auch nicht. Seine Kanone verschießt Pfeile oder Stahlnägel. Das paßt zu ihm. Eine verdammt heimtückische Art, jemand vom Leben in den Tod zu befördern, mein Freund.« »Hall dein Maul!« Der Kiiler war sauer. Gleichzeitig schien er nervös zu werden. Das paßte mir natürlich nicht. Ich warf Suko heimlich einen fragenden Blick zu. Leider konnte ich wegen des quellenden Dampfes die Antwort nicht aus seinen Augen lesen, aber der Killer mußte einen Grund gehabt haben, daß er nach dem Mord nicht geflohen war und hier auf Suko gewartet hatte. Ich sprach ihn leise an und wählte meine Worte sehr behutsam. »Hören Sie zu, Mann. Was wollen Sie eigentlich von uns? Können Sie mir das verraten?« »Nichts von dir.« »Da bin ich beruhigt.« »Aber du bist mein Pfand. Ich weiß, daß ihr zusammengehört. Ich will den Brief.« Mit allem hatte ich gerechnet, das aber ging einen Schritt zu weit. Da kam ich einfach nicht mehr mit. Er wollte von einem Nackten und einem fast Halbnackten einen Brief? »Habe ich richtig gehört?« fragte ich Suko. »Oder bin ich schon so alt.. .« »Nein, du hast richtig gehört!« flüsterte der Killer, der neben mir hockte. Seine Waffe hatte ihren Platz noch immer nicht verändert. Sie >klebte<
an meiner Haut. »Ich will den Brief von ihm haben. Von deinem Freund da vorn.« Ich räusperte mich. »Rück ihn doch rau, Suko, dann hat die arme Seele Ruhe.« »Siehst du ihn?« Nein.« Der Killer neben mir stieß einen wütenden Laut aus. »Leg mich nicht rein, Suko, du hast den Brief! Du mußt ihn haben.« »Willst du mich untersuchen?« Suko spreizte die Hände vom Körper. »Wer sollte mir denn einen Brief gegeben haben? Weshalb hätte ich ihn mit ins Bad nehmen sollen? Ich lasse die Post zumeist im Büro. Tut mir leid, ich kann dir nicht helfen.« »Der Bote brachte ihn!« »Ach, so ist das?« Suko nickte. »Jetzt weiß ich Bescheid. Nur ist der Bote nicht mehr am Leben. Er hat es auch nicht geschafft, mir den Brief oder die Botschaft zu überbringen. Ich habe ihn nicht.« Der Killer dachte nach. Für ihn war es nicht so gelaufen, wie es eigentlich hätte laufen sollen, was ihn wiederum ärgerte und aus dem Konzept brachte. Er sah sich zwar nicht in einer Klemme, aber er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Ich spürte förmlich, wie es in ihm arbeitete und er nach einer Lösung suchte. Sekunden verstrichen. Als ich tief einatmete, preßte er die Waffe noch härter gegen meinen Hals. »Mach nur keinen Unsinn, sonst fließt Blut in die Wanne.« »Keine Sorge, ich denke nur nach. Aber du solltest das auch, Meister. Es gibt keinen Brief. . .« »Doch, es gibt ihn! Dann hat ihn noch der Tote. Und du, Suko, wirst ihn holen, ganz einfach.« »Dazu müßte ich zurückgehen.« »Klar, mach das. Ich bleibe inzwischen bei deinem verfluchten Freund hier. Der sitzt so gern in der Wanne, es scheint ihm Spaß zu machen. Er soll noch länger darin bleiben. Ich warte genau eine Minute. Wenn du bis dahin nicht zurück bist, ist er tot.« »Okay, ich habe verslanden.« »Und noch etwas. Ich will den Brief geschlossen überreicht bekommen. Nicht öffnen. Hüte dich davor, ihn aufzuschlitzen, dann passiert mit Sinclair das gleiche.« Suko nickte. »Keine Sorge, Killer. Wir sind beide nicht lebensmüde. Bis gleich.« Er ging rückwärts und verließ die kleine, vorn offene Kabine. Ich entspannte mich ein wenig und konnte mich auch wieder auf die Geräusche der Umgebung konzentrieren, die gedämpft an meine Ohren klangen. Was mir widerfahren war, hatte niemand bemerkt. Die Menschen kümmerten sich innerhalb des Badehauses zumeist um sich selbst, die anderen waren da Nebensache. »Wer hat den Brief denn geschrieben?« fragte ich und schaute auf den Dampf, der dickschwadig und feucht auf der Oberfläche umherkroch.
»Du wirst es nie erfahren!« »Aber er ist wichtig, oder?« »Halt dein Maul, Sinclair. Wenn ich den Brief habe, werde ich verschwinden, und ihr könnt mich vergessen. Ist das klar? Hast du das auch verstanden?« »Fast, Killer, fast. Du hast nur eines vergessen. Du hinterläßt einen Toten. Das ist schlimm, und das zwingt uns, etwas dagegen zu unternehmen.« »Lieber einen als drei.« »Dann willst du uns auch . . .« »Klar, klar, wenn es sein muß. Ich werde euch killen. Es ist mir egal. Es geht um viel. Und wenn ich dabei draufgehe, das spielt auch keine Rolle. Die Sache allein zählt.« »Sie muß gewaltige Ausmaße haben, wenn ich dich so reden höre. Ist es gefährlich?« »Und tödlich, Sinclair. Man soll keine schlafenden Löwen wecken. Wenn doch, darf man sich nicht wundern, daß ihre Pranken irgendwann einmal zuschlagen. Da hat man als Mensch dann keine Chance, Sinclair. Aber was erzähle ich dir da? Du müßtest es selbst am besten wissen. Nimm einen Rat an: Kümmere dich um die Probleme hier, aber laß uns in Ruhe. Das gilt auch für deinen Freund.« Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen. »Das begreife ich nicht. Wie soll ich euch in Ruhe lassen, wenn ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe?« »Je weniger ihr wißt, um so besser!« Wir hatten uns jetzt länger unterhalten. Ich versuchte herauszubekommen, woher der Chinese stammte. Aus London? Vielleicht, aber die Londoner Chinesen sprachen ein anderes Englisch. Sie hatten sich in der Zwischenzeit an unseren Slang gewöhnt, den ich bei dem Killer vermißte. Er redete so wie ein Chinese, der aus dem Heimatland kam. Oder vielleicht aus Hongkong. Bevor ich ihn danach fragen konnte, wurde er wieder unruhig. »Die Minute ist um!« flüsterte er scharf. »Sie ist vorbei, und es hat sich nichts getan. Sinclair, was ist das? Kannst du dich auf deinen Freund nicht mehr verlassen?« »Er wird den Brief erst suchen.« Sein Lachen klang widerlich. Zudem spie er mir Speicheltröpfchen ins Gesicht. »Er soll sich hüten, ihn zu lesen! Falls er es doch tut, seid ihr tot.« Die Chance darauf verringerte sich, denn innerhalb der Schwaden erschien eine Gestalt, die sich nicht umgezogen hatte und noch immer das Handtuch um die Hüften geschlungen hatte. Es war tatsächlich Suko, und mir fiel die Hälfte des großen Steins vom Herzen. Er kam, und er hielt etwas in seiner rechten Hand, das hell
schimmerte. Es warder Brief. Wenn ich es recht erkannte, hatte Suko ihn nicht geöffnet. »Ist er das?« fragte er und kam noch einen Schritt näher, so daß er fast den unteren Wannenrand erreicht hatte, bevor der scharfe Ruf des Waffenträgers ihn stoppte. »Ja, das ist er.« »Gut, ich habe ihn nicht geöffnet.« Der Chinese nickte. Im Moment kam er mir unsicher vor. Offenbar suchte er nach einer Lösung, wie er an den Brief herankommen konnte, ohne daß er sich der Gefahr aussetzte, von uns überrumpelt zu werden. Auch ich war gespannt, wie er reagieren würde. Am besten war es, wenn er Suko zu mir lockte. So gut es ging, schielte ich nach links, wo ich einen Teil seines schweißüberströmten Gesichts sah. Seine Haut war dunkel. Das Haar hatte sich mittlerweile vollgesogen, es klebte wie eine schwarze, ölige Schicht auf seinem Kopf. Dann verschwand der Waffendruck von meinem Hals. Ich konnte es nicht glauben, weil es so plötzlich geschah. Die Stelle schmerzte noch nach. Ich saß bewegungslos in der Wanne, während er die Mündung auf Suko gerichtet hielt. Sie zielte genau auf seinen Kopf. »Na, komm schon, gib ihn her . . .« »Wie soll ich das machen? Ihn auf den Boden legen, damit du ihn dir nehmen kannst?« »Das ist gut, danke.« Der Killer nickte, während ich noch immer schielte und plötzlich erkannte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Der Mörder saß in der Hocke, und wer in der Hocke sitzt, der hat keinen festen Stand. Schon der leichteste Stoß kann ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ich mußte schnell sein, mehr als schnell. Sehr vorsichtig hob ich den linken Arm an. Die Hand behielt ich dabei unter Wasser, der Kerl sollte nicht mißtrauisch werden. Mein Ellbogen reichte auch. Und damit hämmerte ich zu. Es war ein wilder, harter und hinterlistiger Stoß, der ihn erwischte und aus dem Gleichgewicht brachte. Plötzlich kippte er nach rechts, schoß nicht einmal, und ich wollte aus der Wanne, als ich Sukos blitzschnelle, schattenhafte Bewegung sah, wie er nach hinten griff und mir zuschrie: »Bleib unter Wasser, John!« Ich tauchte. Was geschah, bekam ich nicht mit, aber Suko hatte hervorragend reagiert. Er hielt die Beretta bereits in der Hand, als der Killer noch auf den feuchten Fliesen lag, zwar abdrückte, aber gegen die Decke schoß. Suko schrie ihn an, die Waffe fallen zu lassen, aber der Killer kümmerte sich nicht darum, sondern schwenkte sie herum. Da schoß Suko.
Er mußte es tun, wenn er nicht selbst getroffen werden wollte, denn er wußte, welch verheerende Folgen ein abgeschossener Stahlpfeil mit sich bringen konnte. Seine Kugel war schneller, und sie traf den Killer im Liegen. Er versuchte trotzdem, seinen Oberkörper in die Höhe zu bekommen. Als er das nicht schaffte, wollte er seinen rechten Arm anheben und die Waffe auf Suko richten. Auch das gelang ihm nicht. Mit einem letzten Schrei auf den Lippen brach er zusammen, und sein aus der Wunde sickerndes Blut bildete auf den Fliesen unter ihm rosafarbene Schlieren, als es sich mit dem Wasser vermischte. Ich war wieder aufgetaucht, warf die Haare zurück und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht. Mit offenem Mund holte ich Luft, schaute wieder nach links über den Wannenrand hinweg und sah Suko, wie er sich bückte und den Mann untersuchte. Im Hintergrund liefen Badegäste und Personal zusammen. Der Schuß hatte die Menschen aufgeschreckt. Ich saß noch in der Wanne, als Suko den Kopf schüttelte. »Da ist nichts mehr zu machen, John, ich habe ihn einfach zu gut getroffen.« »Wir wissen also nicht, wer er ist?« »Noch nicht.« Suko untersuchte die Kleidung nach irgendwelchen Ausweispapieren. Ich verließ die Wanne und wickelte mich in mein Handtuch. Noch mehr Menschen waren zusammengelaufen. Der Geschäftsführer drängte sich vor. In seinem schwarzen Anzug wirkte er wie ein Pinguin unter nackten Vögeln, als er auf uns zukam, stehenblieb und beide Hände gegen sein Gesicht schlug. »Das ist doch nicht möglich, ein Toter!« »Ja«, sagte ich, »und im Umkleideraum liegt noch einer. Bitte sorgen Sie dafür, daß nichts angerührt wird, und rufen Sie die Polizei an. Das heißt, die Mordkommission. Sagen Sie unsere Namen beim Yard, dann weiß man dort Bescheid.« »Natürlich, Sir.« Man kannte Suko hier, wußte von seinem Job und ging davon aus, daß auch ich beim Yard beschäftigt war. Suko stemmte sich hoch. Das Heben seiner Schultern sagte mir alles. Er hatte den Mann nicht identifizieren können. Papiere trug ein Killer nicht bei sich. Die hatte er sicher irgendwo deponiert. »Kein Hinweis?« fragte ich. »Nein, nur ein Etikett im Kragen. Da steht Made in Hongkong. Er kann es auch hier gekauft haben.« »Also nicht Hongkong?« »Doch. Der Brief besitzt einen Hongkonger Stempel. Das muß man bewußt gemacht haben, denn er ist nicht frankiert.« »Hast du ihn schon geöffnet?«
»Nein.« Der Geschäftsführer erschien, als ich mich abtrocknete. »Ich habe alles erledigt«, erklärte er. »Danke.« Im Umkleideraum, den ich zwei Minuten später betrat, sah ich den Toten vor Sukos Spind liegen. Zum erstenmal konnte ich erkennen, welche Wunden diese verfluchten Stahlgeschosse rissen und wie tief sie in einen Körper eindrangen. Mir rann noch jetzt ein Schauer über den Rücken, und hart preßte ich die Lippen zusammen. Die Mordkommission erwartete mich am Eingang. Der Chef kannte mich. Er schob seine Goldrandbrille vor und fragte: »Sind das wirklich zwei Leichen, Sinclair?« »Ja.« »Es ist immer das gleiche. Wenn Sie in Aktion sind, lassen Sie nichts aus. Wenn Sie so weitermachen, übertreffen Sie noch einmal den guten James Bond.« »Das will ich nicht hoffen.« Ich machte eine Handbewegung. »Kommen Sie mit, ich führe Sie zu den Leichen.« Die Mannschaft folgte ihm auf dem Fuß. Wir begaben uns zunächst in den Umkleideraum, und der Kollege schluckte mehrmals, als er die erste Leiche sah. »Womit hat man ihn getötet?« Ich erklärte es ihm. »Verdammter Killer. Da ist eine normale Kugel schon ehrlicher, meine ich.« An den Zynismus der Kollegen hatte ich mich längst gewöhnt. So wird man wohl in diesem Job. »Mein Kollege Suko hat ihn erwischt, aber Hinweise haben wir nicht gefunden. Der Killer ist ein Profi gewesen. Keine Papiere, nichts.« »Das sind die Schlimmsten.« Auch Suko kam. Noch immer hatte er sein Handtuch um die Hüften gewickelt. Er zeigte den Kollegen den Weg, kehrte zurück und zog sich außerhalb seines Spinds um, um die Kollegen nicht bei der Arbeit zu stören. Den Brief hatte er noch immer nicht gelesen. Ich wollte ihn auch nicht drängen, es war seine Sache. Der Bote stammte aus Hongkong. Wir entnahmen es den Papieren, die er bei sich trug. Einen Namen hatte er auch. Er hießt Feng. Als Suko das hörte, mußte er lachen. »Was hast du?« »John, was meinst du, wie viele Fengs in Hongkong herumlaufen? Mehr als Millers in London.« »Das glaube ich dir.« »Seine Spur aufzunehmen, ist fast unmöglich.« »Klar, nur hast du den Brief, Alter. Wann willst du ihn lesen?« »Gleich und nicht hier. Es gibt hier ein Lokal. Da könnten wir uns eine ruhige Ecke suchen und nachdenken.« »Nicht schlecht.«
Um die Kollegen nicht zu verärgern, erklärten wir ihnen, wo wir zu finden waren. »Wir kommen Sie besuchen, wenn wir Fragen haben«, sagte Smitters, der Chef. »Gern.« »Ist der Mann neu?« fragte Suko. »Nein, er war früher Assistent.» Ich ging durch eine Schwingtür, die Suko mir offen gehalten hatte. Dahinter lag ein Gang, dessen Tapeten Drachenmuster zeigten. Die Lampen unter der Decke gaben ein weiches Licht ab. Ihre verdrehten Schirme sahen aus, als wären sie geflochten worden. Durch eine zweite Tür gelangten wir in das Lokal, in dem um diese Zeit kaum Gäste saßen. Die wenigen diskutierten über das Verbrechen. Es hatte sich blitzschnell herumgesprochen. Mich irritierten die mit rotem Lack bestrichenen Holzwände. Auf ihnen spiegelte sich der Lampenschein und blendete an manchen Stellen. Wir nahmen an einem Zweiertisch Platz und bestellten Tee. Suko hatte den Brief mittlerweile geöffnet, aber noch seine Hand daraufgelegt. Erst als der Tee gebracht worden war und wir kleine Schlucke aus den hauchdünnen Tassen nahmen, zog er das Papier aus dem Umschlag und begann zu lesen. Ich konnte durch das Papier schauen und erkennen, daß ich davon kaum etwas verstehen würde, denn der Brief war in chinesischer Schrift abgefaßt. Dafür beobachtete ich Suko beim Lesen. Er war ein Mensch, der sich stets in der Gewalt hatte. Es gab nur wenige Momente, wo er wirklich ausgeflippt war, aber die konnte ich an den Fingern einer Hand abzählen und hingen zumeist mit Shao zusammen, seiner im Reich der Spinnengöttin verschwundenen Partnerin. An diesem Tag allerdings sah ich Suko aus der Fassung geraten. Das geschah nicht plötzlich, sondern intervallweise. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, las weiter, sein Gesicht verlor an Farbe, wurde grau und grauer, und anschließend so bleich wie kaltes Rinderfett. Sein Blick flackerte, Schweiß lag auf seiner Stirn, den er mit einer fahrigen Bewegung wegwischte, die Lippen bewegte, aber lautlos vor sich hinsprach, so daß ich nichts verstehen konnte. Ich wollte ihn ansprechen und merkte, daß ich von ihm in diesem Moment keine Antwort bekommen würde. Das dünne Papier knisterte nur deshalb, weil Sukos Finger so zitterten. Dieser Brief hatte ihm einen regelrechten Schock versetzt. »Was ist denn?« flüsterte ich ihm über den viereckigen Tisch hinweg zu. »Was hast du?« Er ließ den Brief sinken. Dabei rutschte ihm das dünne Papier aus den Fingern. Suko starrte mich an und sah mich trotzdem nicht. Es gibt diese
Blicke, die so leer sind und wo sich der andere mit seinen Gedanken weit, weit fortbewegte. »He, schläfst du?« Suko schüttelte den Kopf. Eine Antwort bekam ich trotzdem nicht. »Was ist denn los?« Ich räusperte mich. »Hat dich der Brief dermaßen geschockt, daß du nicht reden kannst?« Diesmal nickte er. »Und wer hat ihn geschrieben?« Suko atmete tief und seufzend durch. Jetzt wirkte er wie jemand, der aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht war und sich erst noch erinnern mußte. »Sag schon was!« Er sprach mit tonloser Stimme. Jedes Wort drang stockend aus seinem Mund, während ich den Eindruck bekam, als würden sich seine Augen mit Tränen füllen. »Der Brief stammt aus Hongkong und von einem Menschen, den ich gut kenne.« »Shao?« »Nein, John, sie hat ihn nicht geschrieben. Jemand anderer, und zwar mein Vater!« Ich saß da, als hätte man meine Oberschenkel auf den Stuhl genagelt. Meine Nasenflügel vibrierten. «Dein ... dein Vater? Bist du dir da sicher?« »Ja.« »Aber das geht nicht, Suko. Dein Vater ist, wie ich weiß, seit einigen Jahren tot.« »Eben, John, eben!« *** Jetzt saß auch ich da und wußte nicht, was ich tun sollte. Lachen, weinen, schreien, stumpf in die Gegend starren, aufstehen und weglaufen? Alles und nichts schoß mir durch den Kopf. Ich starrte Suko an und sah, wie sein Gesicht verschwamm. Zwar war ich nicht so geschockt wie er, aber ich kam mir schon vor wie mit einem Hammer malträtiert. Konnte ein Toter noch Briefe schreiben? Im Prinzip nicht, aber wir hatten Geisterschreiber erlebt, die Botschaften aus dem Jenseits empfingen und sie genau mit der Schrift niederschrieben, wie sie auch der Tote zu seinen Lebzeiten besessen hatte. Das gab es alles, und nur diese Erklärung wollte ich akzeptieren, vorausgesetzt, der Brief war keine Fälschung, auf die selbst Suko hereinfiel. »Sag was, Alter!« Mein Freund schüttelte nur den Kopf. Der Inhalt des Briefes hatte ihn dermaßen geschockt, daß es ihm schwerfiel, mit mir darüber zu reden. »Es ist alles schlimm«, murmelte er, senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
»Ist der Brief wirklich echt?« »Ja.« »Was macht dich so sicher, Suko? Kanntest du deine Eltern überhaupt? Du hast mir nie viel über sie erzählt. Du bist in einem Kloster aufgewachsen, in die dich deine Eltern gebracht haben müssen. Stimmt das? Ist das so gewesen?« »Ja.« »Okay, dann bist du irgendwann nach London gekommen und hast für den Schwarzen Drachen gearbeitet. Ich konnte die Bande zerschlagen, du hast mir dabei geholfen, wir beide verstanden uns auf Anhieb, und du bist später vom Yard übernommen worden. Wir wissen, daß wir uns auf einander verlassen können und der eine für den anderen durchs Feuer geht und schon des öfteren dabei sein Leben riskiert hat. Habe ich recht?« »Natürlich.« »Wunderbar.« Ich lehnte mich zurück und legte die Hände flach auf den Tisch. »Mehr weiß ich nämlich auch nicht über dich. Alles andere verschwindet im Nebel. Deine Vergangenheit ist nebulös. Ich habe dich auch nie danach gefragt, aber jetzt werde ich es wohl müssen, denn sie geht uns beide etwas an. Damit meine ich nicht einmal die Morde. Ich als dein Freund will dir einfach helfen, und ich hoffe stark, daß du dir auch von mir helfen läßt.« Suko nickte und griff mit einer langsamen Bewegung zur Teetasse, die er anhob, an die Lippen führte, etwas trank, mit den Gedanken aber nicht bei der Sache war, denn einige Tropfen rannen an seinem Kinn herab. Er merkte es nicht einmal. Schließlich stellte er die Teetasse zur Seite. »Sag doch was, Mensch!« Suko schaute mich an. In seinen Augen lag ein trauriger Ausdruck. »Was willst du hören, John? Du müßtest doch eigentlich nachvollziehen können, wie es in mir aussieht. Es liegt noch nicht lange zurück, als deine Mutter sich in Mallmanns Klauen befand und du ebenfalls verzweifelt warst. So ähnlich fühle auch ich mich.« »Das glaube ich dir sogar. Nur kannst du beides nicht miteinander vergleichen. Dein Vater ist tot, während ich bei meiner Mutter in Zweifeln steckte.« »Ist er wirklich tot?« Ich schaute ihn an und schüttelte dabei leicht den Kopf. Dann schlug ich auf den Brief. »Glaubst du denn, daß er ihn geschrieben hat, Suko? Glaubst du das wirklich?« »Wahrscheinlich.« »Dann mußt du mir auch erklären, wie du zu der Annahme kommst.« Ich redete beschwörend und senkte gleichzeitig meine Stimme, weil ich
keine Zuhörer gebrauchen konnte. »Weißt du denn, wo dein Vater begraben liegt? Hast du sein Grab gesehen?« »Nein.« »Aber du bist sicher, daß er tot ist.« »Jetzt nicht mehr.« »Wer hat dir denn gesagt, daß er nicht mehr am Leben ist? Von irgendwoher mußt du die Information doch bekommen haben. Man geht doch nicht einfach davon aus, daß der Vater oder die Mutter tot sind, wenn man lange nichts mehr von ihnen gehört hat.« »Das stimmt. Man sagte es mir im Kloster. Der alte Abt nahm mich zur Seite und machte mir klar, daß meine Eltern nicht mehr am Leben sind. So war es.« »Das hast du hingenommen?« »Ich ging nicht davon aus, daß ein Mensch wie der Abt mich anlügt.« Das leuchtete auch mir ein, wußte ich doch, daß die Mönche in den Klöstern zur Ehrlichkeit erzogen wurden und auch die Meinung des Andersdenkenden respektierten. »Du hast dich also damit zufrieden gegeben und nie gefragt, wie sie ums Leben gekommen sind? Ob sie eines natürlichen Todes starben oder eines gewaltsamen? Auch nach dem Verlassen des Klosters hast du keine Nachforschungen angestellt.« »Richtig.« »Kanntest du deine Eltern überhaupt?« Suko nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Sagen wir so, ich habe keine Erinnerung mehr an sie, da sie mich schon sehr früh zu den Mönchen gaben.« »Aha.« »Und jetzt dieser Brief«, flüsterte der Inspektor. »Er wirft alles um, er hat mich aufgeschreckt und gleich-zeitg geschockt. Jemand wollte mir den Brief überreichen, doch dieser Jemand wurde im letzten Augenblick daran gehindert. Warum, John? Wer hat Interesse daran, daß ich nichts über meine Eltern oder meinen Vater erfahre? Was wird da gespielt? Welches Geheimnis umgibt ihn?« »Das kann ich dir auch nicht sagen. Und hier werden wir die Lösung nicht finden. Wir müssen nach Hongkong.« »Das ist mir klar.« »Noch eine andere Frage. Existiert das Kloster, in dem du aufgewachsen bist, noch heute?« »Ich weiß es nicht.« »Wir müßten es suchen und von dort möglicherweise die Spur aufnehmen. An den toten Feng können wir uns nicht halten und an den Killerebenfalls nicht. Meiner Ansicht nach sind beide aus Hongkong geschickt worden, um hier das Schlimmste zu vereiteln. Was immer auch geschehen wird, Suko, ich bleibe an deiner Seite. Wir beide werden fliegen und versuchen, den Fall zu lösen.« »Die Spuren werden verwischt sein.« »Wessen Spuren? Die deines Vaters?«
»Wessen sonst?« »Verwischt ist nicht ausgelöscht, Suko. Wir könnten möglicherweise noch eine Spur. ..« Jemand kam. Es war Smitters, der sich einen dritten Stuhl herbeiholte und Platz nahm. Er merkte, daß mit Suko etwas nicht stimmte, fragte aber nicht nach. »Was gibt es?« Smitters schaute mich an und knetete dabei seine büroblasse Wangenhaut. »Nicht viel, Sinclair, wirklich nicht. Wir haben uns zuerst den Killer vorgenommen, die Fahndung eingeschaltet, aber unser Computer hat nichts über ihn gespeichert. Vielleicht haben wir auch nur zu wenige Daten, wir müßten uns da mit Hongkong in Verbindung setzen.« »Und dieser Feng?« Smitters hob die Schultern. »Warauch nicht ergiebig, aber wir haben immerhin eine Spur entdeckt. Er trug neben seinen Papieren - alle sehr ordentlich — noch eine kleine Karte bei sich. Eine Werbung, eine Reklame für ein bestimmtes Geschäft.« Er holte das weiße Kärtchen hervor. Die Schrift darauf glänzte in einem matten Rot und war etwas erhaben. Auch war der Name so zusammengesetzt, als würden die einzelnen Teile der Buchstaben aus Knochen bestehen. Das sah etwas makaber aus. »Cheng Wang — Knochensetzer!« »Was sagen Sie?« fragte Smitters. »Nichts.« Ich schüttelte den Kopf, bevor ich Suko die Karte über den Tisch schob. Auch er las, runzelte die Stirn und schob die kleine Visitenkarte wieder von sich. »Kannst du damit etwas anfangen?« »Ja, das kann ich. Man muß sich eben in der Stadt auskennen und uns Chinesen begreifen lernen.« »Dann mal los.« »Da gibt es nicht viel zu sagen. Cheng Wang ist einer der wenigen hochgeschätzten Knochensetzer, die es in der Stadt noch gibt. Vielleicht sogar der einzige, und er ist ein Mann, dem viel Achtung entgegengebracht wird, denn diese Anwender der alten chinesischen Medizin setzten gebrochene Knochen wieder so zusammen, daß angeblich eine schnellere, bessere und perfektere Heilung erzielt wird als bei westlichen Methoden. Wir Chinesen waren ja bekannt für unsere hervorragenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin, und nicht nur dort.« Ich nickte, während Smitters Suko anstarrte, als hätte er ihm etwas Schlimmes gesagt. »Glauben Sie mir nicht, Kollege?«
Der Mann mit der Goldrandbrille lachte. »Das hat damit nichts zu tun. Ich kann es mir nicht vorstellen.« »Wir wollen uns auch nicht in Einzelheiten verlieren«, stand ich meinem Freund bei. »Dann war dieser Tote also ein Knochensetzer?« »Nein.« Suko sprach entschieden dagegen. »Dazu ist der Mann zu jung. Um Knochensetzer zu werden, muß man über lange Jahre lernen und sich immer wieder in neue Lehren bei alten Meistern begeben. Wenn er wirklich damit zu tun hatte, so war er ein Adept, ein Lehrling, dann stand er mit seiner zu erlernenden Kunst ganz am Anfang. Soviel zu den Knochensetzern und dem Toten.« Smitters hob die Schultern und drehte sein Glas in den Händen, das er mitgebracht hatte. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, muß es so hinnehmen. Doch ich frage mich, weshalb der Tote die Karte bei sich trug. Wollte er Ihnen einen Hinweis geben?« Wir nickten synchron, nur ich antwortete: »Das ist durchaus möglich. Er kann sie auch vergessen haben. Wo fanden Sie die Karte denn?« »In seinem Ausweis, ziemlich versteckt.« »Na bitte.« »Damit kann ich nichts anfangen, Kollegen. Ich brauche Fakten, um den Fall aufklären zu können.« »Das werden Sie hier nicht schaffen.« Smitters verzog die Lippen. An den Mundrändern bildete sich ein Faltenmuster. »Das habe ich mir fast gedacht. Ich habe auch gehofft, daß Sie so reagieren würden. Ich kann mir nämlich denken, daß die Spur direkt nach Hongkong in unsere Kronkolonie führt.« Ich nickte. » Dem ist auch so. Da wir der gleichen Meinung sind, werden wir die Spur nehmen. Mein Partner und ich fliegen so rasch wie möglich nach Asien.« Smitters behielt sein Grinsen bei. »Viel Spaß.« Die Augen hinter den Brillenglasern funkelten. »Und geben Sie acht, daß man Ihnen die Knochen nicht bricht.« »Keine Sorge. Sollte das geschehen, kennen wir eine Adresse, wo sie wieder zusammengesetzt werden«, sagte ich. Der Kollege stand auf. Asche hing am Revers seines hellen Sommeran/.ugs. Er wischte sie nicht ab, nickte uns zu und verschwand. Suko faltete den Brief zusammen, bevor er ihn in der Innentasche seines Jacketts verschwinden ließ. »Habe ich in deinem Sinne gesprochen, Alter?« »Sicher.« Er sah wieder geistesabwesend aus. »Es ist schlimm, John. Wenn ich ehrlich sein soll, fürchte ich mich vor dieser Reise. Sie kann mich in ein seelisches Chaos stürzen. Die Zeilen haben mich unsicher gemacht. Ich weiß jetzt nicht, woran ich bin. Irgendwie schwebe ich im luftleeren Raum.«
»Das kann ich verstehen.« Ich deutete auf seine Brusttasche, wo der Brief steckte. »Wir haben viel geredet, Suko, nur hast du mir nichts über den eigentlichen Inhalt erzählt. Nur daß der Brief von deinem Vater stammt. Was schreibt er denn?« Suko runzelte die Stirn. »Daß er mich noch einmal sehen möchte, bevor es passiert.« »Was passiert?« »Sein Tod.« Ich wollte erst mit der Hand auf den Tisch schlagen, winkte dann jedoch nur ab. »Das ist mir zu hoch, Suko. Ich will auch nicht weiter in dich dringen, denn ich gehe davon aus, daß dieser Brief noch mehr Informationen enthält. Sei allerdings versichert, daß ich an deiner Seite bleiben werden, wenn wir in Hongkong herumgeistern. Und jetzt müssen wir nur Sir James die Sache schmackhaft machen. Bin gespannt darauf, was der Alte dazu sagt.« »Selbst er kann mich nicht daran hindern, nach Hongkong zu fliegen, John.« »Ich glaube kaum, daß er das versuchen wird.« Der offizielle Feierabend war bereits vorbei, als wir im Yard Building eintrafen. Natürlich saß Superintendent Sir James Powell noch in seinem Büro und schaute uns an wie zwei Schulbuben, die einen Streich ausgeheckt hatten, über den der Lehrer inzwischen längst informiert war. »Setzen Sie sich doch«, sagte er und fuhr fort, als wir die Plätze eingenommen haben. »Ich habe mich schon darüber gewundert, daß Sie so spät zu mir gekommen sind.« »Wieso?« »Die beiden Morde im Badehaus.« »Sie wissen davon, Sir?« »Aber John«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Wir kennen uns jetzt so lange. Es gibt nur wenige Dinge, die in meinen Bereich fallen und mir nicht bekannt sind. Man hat mich informiert und mich so gut wie möglich eingeweiht. Es ist eine schlimme Sache, wenn ich ehrlich sein soll. Und ein Fall ohne Spuren - oder?« »Nicht ganz, Sir, deshalb kamen wir zu Ihnen. Aber das wird Ihnen Suko besser berichten können.« Mein Freund stand auf. Es sah so aus, als wollte er das Büro verlassen, doch vor der Tür drehte er sich nach rechts und ging auf das Fenster zu, durch dessen Scheibe er starrte und die er auch ansprach, als er einen Bericht abgab. Sir James erging es nicht anders als mir. Erzeigte sich von Sukos Worten erschüttert und bewegte einige Male den Kopf, als könnte eres nicht fassen. »Jetzt wissen Sie alles, Sir«, sagte Suko nach einer Weile, als er sich den Schweiß von der Stirn tupfte.
Der Superintendent nickte. »Und Sie wollen natürlich nach Hongkong fliegen?« »Das steht fest.« »Ja, da haben Sie wohl recht. Hier in Eondon wird die Spur verwischt sein. Und Knochensetzergibt es bei uns auch nicht, wenn ich richtig informiert bin.« »Genau, Sir.« »Wann wollen Sie fliegen?« »So rasch wie möglich«, sagte ich. Sir James trommelte mit den Fingerspitzen auf das Holz seines Schreibtisches. »Ja, das geht in Ordnung. Klären Sie die Sache, und zwar in offiziellem Auftrag. Was hier passierte, muß aufgeklärt werden. Wir können den Tod der beiden nicht auf sich beruhen lassen.« Erschaute uns durch die dicken Gläser der Brille an. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Dann wandte er sich an Suko. »Gebe Gott, daß Sie sich geirrt haben und mit Ihrem Vater nichts Schlimmes passiert ist.« »Man wird sehen.« Mir gefiel Sukos Antwort nicht. Der ganze Kerl gefiel mir nicht. Er erinnerte mich an eine Puppe, die durch eine reine Automatik reagierte. Mit seinen Gedanken war er weit fort, wahrscheinlich schon in Hongkong und bei seinem Vater. Hoffentlich ging das mal gut — hoffentlich... Im Bauch der Dschunke war es tintenschwarz! Schwer wie Blei lastete die Dunkelheit, und selbst durch die Ritzen des kleinen Fensters drang nicht ein Lichtschimmer, denn die Seiten waren mit Pech bestrichen worden. Der Mann im Bauch der Dschunke wußte nicht, ob es draußen Tag oder Nacht war. Für ihn blieb alles gleich. . . Nur manchmal war er zu hören. Da durchwehte ein röchelnd klingendes Atmen die Stille, da hörte sich jedes Lultholen an, als wäre es der letzte Atemzug der im Finstern hockenden Person, bevor sie starb. Doch es war kein Lauscher vorhanden, der etwas hätte hören können. Die Menschen auf der Dschunke hüteten sich, in den Bauch des Schiffes zu klettern, das auf den Wellen schaukelte. Dann verstummte das schreckliche Atmen. Dafür zerschnitt ein anderes Geräusch die Finsternis, und das hörte sich ebenso schaurig und schlimm an, wenn nicht noch schlimmer. Es war ein Knacken und Knirschen, als wäre jemand dabei, an seinen Knochen zu zerren, um sie voneinander zu lösen, oder sie zu richten. Das Knacken erklang mal lauter, dann wieder leiser, aber es hörte in den nächsten Minuten nicht auf, es war immer vorhanden, begleitet von stöhnenden Atemzügen und einigen scharf geflüsterten Worten, die ungehört verhallten.
Die unheimlichen Geräusche blieben, sie wollten einfach nicht aufhören, bis zu dem Augenblick, als die im Finstern sitzende Person den linken Arm ausstreckte und sich die Finger seiner Hand um eine Kordel schlossen, um daran zu zerren. Er selbst hörte nur ein Surren, als sich das Band bewegte, aber irgendwo an Deck der Dschunke erklang ein Signal, das einen Menschen aufschreckte, der aussah wie ein Relikt aus der chinesischen Vergangenheit. Sein rundes Gesicht war hell geschminkt, und einer der hellen Streifen zeichnete besonders stark den Nasenrücken nach, um ihn hervortreten und die Nase größer wirken zu lassen. Die mit Mongolenfalten umgebenen Augen waren durch dünne, dunkelblaue Pinselstriche besonders nachgezogen worden, die Augenbrauen durch die gleiche Farbe zu Balken verstärkt und scharf ausrasiert. Selbst die Uppen zeigten Farbe. Ein dunkles Rot, das aussah wie Blut. Der Mann selbst trug ein langes Gewand aus schwarzer Seide. Der aufgestickte Drache an der Vorderseite bewegte sich immer dann, wenn der Stoff Falten warf. Dann sah er aus, als würde er jeden Augenblick aufspringen wollen. Das Haar des schweren Mannes war nicht zu sehen, weil es von einer dunklen Kappe verborgen wurde. Insgesamt gesehen, wirkte er wie eine überschwere Puppe, aber er bewegte sich mit der Leichtigkeit eines Raubtiers über das Deck, bis er den Niedergang erreicht hatte. Bevor er im Bauch der Dschunke untertauchte, warf er noch einen Blick über die Bordwand und sah die im Mondlicht hellglänzende, hochmoderne Skyline von Hongkong. Sie bot ein irres Bild, eines, das die Gesellschaft widerspiegelte, die Hongkong überschwemmt hatte. In den letzten Jahren war sie zu einer supermodernen und sehr teuren Stadt geworden, aber es gab noch etwas, das die Fremden nicht sahen, das aber so tief in dieser Stadt verwurzelt war wie die alten chinesischen Traditionen. England beherrschte seine Kronkolonie, so jedenfalls dachten die Europäer. Das stimmte nicht. Hongkong und seine Menschen ließen sich nicht beherrschen. Der Mann, der dies dachte, verschwand wie ein Schatten vom Deck der Dschunke und tauchte ein in den gewaltigen Bauch des Schiffes, das ein so schreckliches Geheimnis barg. Er fand sich auch im Dunkeln zurecht, ging aber dort-hin, wo der Schein einer kleinen Ölleuchte ein helles Muster in die Finsternis warf. Dort blieb er für einen Moment stehen, räusperte sich und griff zu einer Schale, auf der drei Kerzen standen. Mit einem Streichholz zündete er sie der Reihe nach an, schaute in die Flammen, sah, wie sie sich bewegten und lautlos tanzten.
Dann ging er fort. Seine Schritte waren kaum zu hören. Er brachte einen langen Gang hinter sich und blieb vor einer dunklen Tür stehen. Das Licht hinterließ ein zuckendes Muster auf dem schwarzen Lack, der keinerlei Verzierungen zeigte, wie es an vielen Türen der Fall war. Der Mann klopfte. Ein gemurmeltes Wort erreichte seine Ohren, erst dann öffnete er die Tür. »Komm zu mir, Tao!« »Ja, großer Mandarin.« Taos Stimme hatte einen ehrfurchtsvollen Klang bekommen, denn er wußte schließlich, wem er da gegenüberstand. Einem der Mächtigsten von Hongkong, dem Mandarin, dessen Namen von vielen Menschen nur flüsternd ausgesprochen wurde. »Schließe die Tür bitte.« »Sehr wohl.« Tao bemühte sich, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, denn der Mandarin liebte die Stille, und enttäuschen wollte er ihn nicht. Noch konnte er ihn nicht sehen. Der Mandarin hockte irgendwo im Hintergrund des Raumes, in dem vor vielen Jahren einmal Waren jeglicher Art transportiert worden waren. Unter anderem auch Rohopium, aber diese Zeiten waren passe. Heute stiegen die Süchtigen auf andere Gifte um, Heroin, Kokain und Crack waren die große Mode. Erst als Tao weiterging und das Kerzenlicht weitere Teile des Laderaums erhellte, schälte sich aus dem Hintergrund eine kompakt wirkende Gestalt hervor. Sie wirkte irgendwie eckig. Aber das lag nicht an ihrer Figur. Diesen Umriß gab der hohe Stuhl, auf dem die Gestalt saß. Das Gestell bestand aus Holz, die Sitzfläche jedoch aus festem Korb, der sich quietschend bemerkbar machte, wenn sich der Mandarin bewegte. Alt sah er aus, alt und faltig. Die Haut erinnerte an braungelbes Papier und die Brauen über den engen Augen an die Schwingen eines Vogels. Er besaß ein etwas flaches Gesicht, das erst in der unteren Hälfte durch den dunklen, wellenförmig verlaufenden Oberlippenbart mehr Konturen erhielt. Der Mund stand durch die zu dicken Lippen etwas vor, und auf dem Schädel wuchs nicht ein einziges Haar. Er war glatt, als würde er jeden Tag poliert. Der Mandarin trug ein grünes Gewand, passend zu dem ungewöhnlich dunklen Grün seiner Augen, die dem Ankömmling aufmerksam entgegenblickten. Tao wußte, was sie gehörte. In zwei Schritten Entfernung blieb er vor dem Mandarin stehen und verbeugte sich. Als er sich wieder aufrichtete, gab ihm der alte Mann ein Zeichen, und Tao stellte das kleine Tablett mit den Kerzen zur Seite.
Erst als sich der Flammenschein wieder beruhigt hatte, war der Mandarin zufrieden. Er hob seine Arme, die mit den Händen aus den weiten Ärmeln des Gewandes hervorschauten. Lange, sehr lange Finger sogar kamen zum Vorschein. Ebenso ungewöhnlich für einen Mann waren die spitzen, messerartigen Nägel, die weit über die Kuppen hinwegwuchsen und wie kleine Dolche auf Tao zeigten. »Ich.. . ich habe Schmerzen«, sagte der Mandarin mit brüchig klingender Stimme. »Was kann ich tun?« flüsterte der Korpulente. Die Lippen des Mandarins verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Nichts, außer du bringst mir gute Nachrichten. Was ist? Hast du mir gute Botschaften zu vermelden?« Wieder verneigte sich Tao. »Ich hoffe es, großer Mandarin, ich hoffe es.« »Rede endlich!« »Es müßte soweit sein, Mandarin. Jetzt ist Feng bestimmt nicht mehr am Leben. Er kann seine Botschaft nicht abgegeben haben, das glaube ich einfach nicht.« Der Mandarin ließ sich Zeit. Erst eine Minute später fragte er: »Sonst weißt du nichts?« »Nein.« »Das ist wenig, sehr wenig sogar. Ich kann nur noch leben, wenn ich gute Nachrichten empfange, verstehst du das? Es soll mir immer besser gehen, auch wenn ich alt bin.« Ächzend beugte er sich vor. »Glauben heißt nicht wissen, Tao. Du mußt es wissen, Tao. Merke dir das. Ich fühle, daß nicht alles glatt gelaufen ist. . .« Er legte den Kopf zurück und begann zu keuchen. »Schmerzen, nichts als Schmerzen, immer wieder meine Gelenke. Etwas stimmt da nicht. Es ist die Niederlage, die sich anbahnt. Unser Mann hat es nicht geschafft.« »Man sagte in London anderes.« »Woher willst du das wissen, du Narr?« »Ich erlaubte mir, zu telefonieren, und rief einen meiner Bekannten an. Die Nachricht hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. Es hat zwei tote Chinesen gegeben. Der eine war Feng, der andere Mann gehörte zu uns. Seine Name ist.. .« »Den will ich nicht wissen, er interessiert mich nicht. Feng ist tot, gut. Aber gibt es dir die Gewißheit, daß er seine Nachricht für sich behalten hat, Tao?« »Das konnte ich nicht erfahren.« Der Mandarin öffnete den Mund und lachte sehr leise, kaum hörbar. »Du konntest es nicht erfahren, ja, ich weiß schon, du hast es nicht erfahren können. Aber ich spüre die Schmerzen, sie zerren an mir, sie wollen meinen Körper zersägen. Es ist furchtbar, ich kann bald nicht mehr durchhalten.« Er hob den rechten Arm und umklammerte mit der linken
Hand drei seiner Finger. Dann drehte er die Hand, als wollte er die Finger dabei auseinanderreißen. Tao hörte das Knacken und Reißen. Die Knochen und die Sehnen meldeten sich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Als er ausatmete, hörte es sich an, als würde ein alter Wasserkessel anfangen zu pfeifen. Dabei schüttelte er den Kopf, streckte noch die Beine aus, deren Füße in goldfarbenen Pantoffeln mit Drachenmustern steckten, und Tao hörte das schreckliche Reißen der Sehnen in den Beinen. Der Mandarin stöhnte, als stünde er unter einer furchtbaren Folter. Er saugte japsend nach Luft, zog dabei auch seine rechten Finger lang und produzierte abermals das Knacken. Danach war Stille. Mit einem wohlig klingenden Aufseufzen fiel der Mandarin zurück in seinen alten hochlehnigen Holzstuhl und bat darum, daß man ihm sehr bald seine Mahlzeit brachte. »Und sonst noch etwas, großer Mandarin?« erkundigte sich Tao voller Demut. »Ja, gib acht. Gib nur darauf acht, daß du unsere Leute zusammenhältst. Ihr werdet diese Stadt unter Kontrolle halten, ihr werdet sie überwachen, denn meine Schmerzen sind grausam. Ein Zeichen, daß man etwas von mir will. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, bin ich verloren, dann ist es aus, begreifst du?« »Ich habe dir sehr gut zugehört, Meister.« »Dann geh jetzt und trage dafür Sorge, daß meine Befehle in Taten umgesetzt werden.« »Sehr wohl, großer Mandarin, sehr wohl. . .« Dienernd zog sich Tao zurück. Da er die brennenden Kerzen zurückgelassen hatte, konnte er den Mandarin sehen. Er hockte auf seinem Stuhl und wand sich unter Qualen. Dabei knackte es an all den Knochen. Erwirkte wie ein Gerippe, das jeden Augenblick zusammenfallen konnte. Doch so schnell starb der Mandarin nicht. Es war noch einiges zu erledigen. Nur durfte sein großes Geheimnis nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Die Menschen fürchteten den anderen mehr, wenn er sich mit einem Geheimnis umgab... *** Es war ein langer Flug gewesen bis Hongkong, und ich hatte einen Freund neben mir sitzen, der mit einer Statue zu vergleichen war. So wenig hatte Suko noch nie gesprochen. Auf Fragen meinerseits waren seine Antworten nur sehr einsilbig gewesen. Ich hatte es schließlich bleiben lassen, die Augen geschlossen und war irgendwann eingeschlafen. Zu den Mahlzeiten hatte ich mich wecken
lassen. Irgendwann am späten Vormittag erreichten wir Hongkong und damit auch den Flughafen Kai Tak. Kai Tak Airport — dieser Name löst bei nicht wenigen Piloten leichte Schauder aus, denn sie denken dabei an die Landebahn, die wie ein langer Finger in die Bucht stößt und manch wackerem Flugzeugführer fast zum Verhängnis geworden wäre, denn oft genug mußte wegen der Kürze der Bahn wieder durchgestartet werden. Das passierte den Piloten der Cathay Airline nicht. Sie kannten sich aus und machten sich sogar einen Spaß daraus, auf Kai Tak zu landen. Und was für eine Landung! Wohnhäuser, Fenster und Wäscheleinen huschten zum Greifen nahe vorbei. Wir konnten in die Wohnräume schauen, sahen Menschen bei der Arbeit, gut geschützt durch schallisolierte Fenster. Ich hatte das Gefühl, auf der Straße zu landen, und auch mir wurde ein wenig komisch zumute. Suko bekam die Landung ebenfalls mit, nur kümmerte er sich nicht darum. Verbissen hockte er angeschnallt in seinem Sitz und starrte gegen die Rückenlehne seines Vordermanns. Noch immer tobte der Sturm an Gefühlen in seinem Innern. Wenn ich ehrlich war, ich konnte ihn verstehen. Mir wäre es an seiner Stelle kaum anders ergangen. Dann erschien das Meer. Fin graugrünes, wogendes Feld zu beiden Seiten der Landebahn, die aus der Höhe so verdammt schmal aussah, dann an Breite zuzunehmen schien, so daß wir normal einschweben und ebenso normal aufsetzen und ausrollen konnten. Einige Passagiere klatschten, andere wischten sich den Schweiß von der Stirn. Suko und ich taten nichts. Wir würden auch nach dem Aussteigen nicht viel tun, denn wir waren avisiert worden. Ein Kollege von der Hongkong Police erwartete uns. Es war schon ein kleines Wunder, daß er uns in dem wahnsinnigen Gedränge überhaupt fand. Wir kamen uns ziemlich hilflos vor, dabei hatten wir die Paßkontrolle noch vor uns. Plötzlich stand jemand vor uns, grinste breit und sagte: »Ich bin Sergeant Tarn.« »Wie?« Er behielt das Grinsen auch nach meiner Frage bei. »Ich bin Sergeant Tarn. Sie müssen Oberinspektor Sinclair sein. Und das ist natürlich Suko. Was bin icht stolz darauf, zwei Männer wie Sie in Hongkong begrüßen zu können. Ich freue mich darüber.« Erst jetzt geriet mein Denkapparat allmählich in Schwung. Vielleicht hatte ich auch unter dem langen Flug gelitten. Der Mann in Jeans und dunkler Jacke vor uns, der seinen Ausweis hielt und das Haar wie ein CollegeSchüler gescheitelt hatte, gehörte tatsächlich zur Hongkonger Polizei.
Auch wenn er keine Khaki-Uniform mit kurzen Hosen trug, wie man es von den Kollegen kannte. »Well, dann freue ich mich, Sie kennengelernt zu haben, Sergeant.« »Lassen Sie das Sergeant weg. Sagen Sie einfach Tarn, das machen alle, die mich kennen.« »Ich bin John.« Suko redete kaum. Er schaute in die Runde wie jemand, der einen Verdächtigen sucht. »Auf die Gepäckkontrolle können wir verzichten. Ich habe eure Koffer bereits aussortieren lassen.« »Wie schön.« Er lachte wieder. »Was tut man nicht alles für seine Gäste.« »Das finde ich toll. Mich wundert nur, daß Sie keine Uniform tragen. Wie kommt das?« »Ich bin ein ziviler Bulle. Ja, ein ziviler.« Wieder lachte er. »Das ist hier üblich, versteht ihr? Man muß sich manchmal tarnen, Hongkong ist voller Rätsel. Da ist es besser, wenn man selbst ein Rätsel ist. Under-CoverAgent heißt es bei euch — oder?« »So ungefähr.« »Gut. Wie war der Flug?« »Wir haben viel geschlafen.« »Wollt ihr etwas trinken — essen? Zum Hotel.. .?« »Nein, nein.« Ich winkte ab. »Wir haben bereits unsere Pläne gemacht und möchten.. .« »Ihr habt kein Auto — nicht?« »So ist es.« »Aber ich. Wir werden es nehmen. Ihr braucht mir nur zu sagen, wohin ihr fahren wollt, alles andere ist Nebensache. Aber zuvor holen wir das Gepäck.« Wir hatten zwei Koffer mitgenommen, nicht gerade groß, es paßten soeben die Ersatzklamotten hinein. »Da sind sie!« Tarn lachte und schnappte sich das Gepäck. Mit war der Knabe nicht geheuer. Er benahm sich so überfreundlich, das Lachen kam mir auch nicht echt vor. Wenn ich Suko so betrachtete, war auch er nicht gerade erbaut von unserer Hilfe. Die Art ging uns gegen den Strich. Suko und ich nahmen ihm die Koffer ab. »Die tragen wir lieber selbst«, erklärte ich. »Wie Sie wünschen, Kollegen.« Sein Haar war etwas aus der Fassung geraten. »Wo darf ich euch hinbringen?« »Kennst du dich hier aus?« fragte Suko. »Klar, Freund.« »Auch in den New Territories?« Tarn nickte heftig. »Dort gab es einmal in den Bergen ein Kloster. Es lag etwas südlich des Golf Clubs. Erinnerst du dich?« »Nein, nicht direkt.« »Das Kloster ist auch nicht mehr jung. Es hat einige Jahre auf dem Buckel. Vielleicht stehen nur noch die Ruinen, vielleicht finden wir dort noch Mönche. Jedenfalls möchten wir gerne hin. Kannst du uns fahren, Freund? Wir brauchten nicht einmal mit der Fähre rüber nach Hongkong und könnten hier in Kowloon bleiben.«
Tarn nickte einige Male. »Wir können fahren. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Sofort?« »Sicher.« Ich schaute Suko von der Seite an. Im Kloster wollte er die Spur aufnehmen. Auch für mich war die Sache neu. Ich spürte ein komisches Prickeln und rechnete damit, daß es Suko nicht anders erging. Nur war es bei ihm viel stärker. Unser Besuch im Kloster würde gleichzeitig eine Stippvisite sein, die uns in Sukos Vergangenheit führte. Denn in diesem Kloster war er aufgewachsen. Dort wollte er die Spur seines Vaters aufnehmen. Möglicherweise fand er noch jemand, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Irgendeine Spur, auch wenn sie noch so schwach war. Dabei rechneten wir auch mit Tams Hilfe, denn er war jemand, der hier alles kannte. »Traust du ihm eigentlich?« flüsterte ich Suko zu. Mein Freund hob die Schultern. »Wir werden sehen. Hongkong ist nicht London.« »Wie meinst du das?« »Hier brodelt es unter der glatten Oberfläche. Die Traditionen sind noch nicht vergessen, John, das wirst du immer wieder merken. Oft wirst du überrascht sein, wie zwei Welten aufeinanderprallen können und dabei noch eine Verbindung eingehen. Das betrifft alle. Ob Bauarbeiter, Garküchen-Koch oder Banker. Sie alle haben ihre Götter, sie alle haben ihren Glauben, und sie alle achten die Gesetze von feng, dem Wind, und shui, dem Wasser. Du brauchst hier noch immer einen Geo-mantiker, wenn du in ein anderes Haus ziehst, eines bauen willst oder dein Büro neu anlegst. Das ist eben Hongkong.« Eine derartig lange Rede hatte Suko während des gesamten Fluges nicht gehalten. Ich war schon beeindruckt und erkundigte mich vorsichtig nach einem Geomantiker. »Gehört habe ich davon. Ist das nicht ein Knabe, der genau ausmißt?« »Richtig. Es wird zu Rate gezogen, wenn es darum geht, den richtigen Ort für ein neues Geschäft oder Restaurant zu finden. Er kann dir auch sagen, wann es günstig ist, ein Boot vom Stapel laufen zu lassen. Er weiß nämlich, wie man die Kräfte fcng und s/iu/in Einklang bringt, um einen glücklichen Ausgang der Unternehmung zu gewährleisten. Daran mußt du dich hier gewöhnen.« Ich nickte, obwohl es mir schwerfiel, dies alles zu fassen, wenn ich den modernen Flughafen sah. In Hongkong regierte noch immer der kontrollierte Wahnsinn. Obwohl es in wenigen Jahren ein Teil Chinas sein würde, baute und boomte man hier weiter, und die Preise für Grundstücke stiegen in schwindelerregende Höhen. Immer neue Geschäfte und Luxushotels wuchsen dem Himmel entgegen und überragten auf der Inselseite selbst das Bergland der New Territories, dem Bergland von Kowloon. Tarn führte uns zu den Parkplätzen. Wir sahen die Maschinen starten und landen. Alles befand sich in Bewegung.
Ich hatte den Eindruck, daß die halbe Welt Hongkong anzufliegen schien. Das spielte für uns keine Rolle. Wir wollten zunächst in die relative Einsamkeit des Berglandes. Neben einem seegrünen Ford, der Tarn gehörte, blieben wir stehen. Tarn lächelte uns über das Wagendach hinweg an. »Ich wollte euch noch eines sagen, Freunde.« »Bitte.« »Verwechselt Hongkong nicht mit London, obwohl die gleiche Sprache gesprochen wird wie im Mutterland. Hier ist alles anders. Rechnet damit, daß man über euch Bescheid weiß.« »Wer sollte es denn wissen?« »Habt ihr keine Feinde?« »Noch nicht«, sagte ich. »Die Stadt hat unzählige Augen und Ohren. Die Stadt sieht und hört alles, davon muß man ausgehen.« »Ich habe hier mal gelebt«, klärte Suko den Kollegen auf. »Das dachte ich mir.« Wir stiegen ein. Ich ließ Suko vorn auf dem Beifahrersitz seinen Platz einnehmen, während ich es mir hinten bequem machte. Der Scorpio war breit genug, um auch nieine relativ langen Beine vernünftig unterzubringen. Wir rollten aus dem Wirrwarr der Straßen und Zubringer am Flughafen so rasch wie möglich hinaus, um uns in Richtung Norden zu wenden, wo die dicht bewachsenen Berge wie ein grüner Hügelteppich vor uns lagen. In der Tat zeigten die Kämme, Täler und Sättel ein dichtes Grün, das allerdings an einigen Flancken aufgerissen war, denn dort schimmerten helle Fassaden prunkvoller Villen, die den Hongkonger Millionären gehörten, und davon gab es in dieser Stadt eine ganze Menge. Wir fuhren hoch, viele Fahrzeuge kamen uns entgegen, und es waren nicht die billigsten. Jaguar, Rolls-Royce, auch die teuren Italiener, das waren keine Seltenheiten. Hinter den meisten Lenkrädern saßen die Chauffeure, eingepackt in ihre Uniformen. Das Wetter war schwül. Man hatte uns gewarnt, aber daran änderten wir nichts. Die Leinenklamotten verhinderten, daß wir zu sehr durchschwitzten. Aircondi-tion besaß der Scorpio nicht, so hatten wir die Scheiben nach unten fahren lassen und genossen die Luft, die in das Fahrzeug wirbelte, vermischt mit zahlreichen Düften, die uns aus dem dichten Wald entgegenströmten. Stichstraßen führten oft genug von der normalen Fahrbahn weg in das dichte Grün. Sie endeten meist bei den Villen der Superreichen, von denen einige gesichert waren wie Festungen. Der Wagen kletterte immer höher. Wenn ich mich drehte und durch die Rückscheibe schaute, konnte ich über Kowloon hinwegblicken, bis hin
zur Insel Hongkong, deren Hochhaussilhouette wie eine Trutzburg gegen Gefahren aus dem Norden stand. Wolken zeigten sich am Himmel. Weiße, breite Tupfer, die im Blau leuchteten. Ich hatte auch auf Verfolger geachtet, doch mir war nichts aufgefallen. So schaute auch ich nach vorn und hörte Suko nach dem Weg fragen. »Es sieht alles so verändert aus. Kennen Sie das Kloster auch?« »Ich hoffe. Zumindest den Weg.« »Aber nicht bis zum Golfplatz.« »Keine Sorge.« Eine Reihe von Schülern — alle uniform gekleidet, die Mädchen trugen weiße Blusen und blaue Röcke, die Jungen statt Röcke Hosen — kam uns entgegen. Die Gruppe wurde von zwei Lehrerinnen begleitet. Eine ging vorn, die andere am Schluß der Reihe. Tarn stoppte neben der vorderen Lehrerin. Er sprach sie mit lauter Stimme und in Hongkong-Chinesisch an. Die Lehrerin, eine zierliche Person mit Pferdeschwanz, lächelte, nickte, lächelte wieder, dann erst gab sie die Antwort. Dabei blieben die Schüler ruhig wie Kadetten. Die Lehrerin bewegte ihren Arm und deutete weiter hoch in die Hügel. Tarn stellte noch eine Frage, und die Lehrerin schüttelte bedauernd den Kopf, wobei sie noch die Schultern hob. Unser Fahrer bedankte sich und startete wieder. Erst als wir die Gruppe passiert hatten, rückte er mit einer Erklärung heraus. »Ich habe sie nach dem Kloster gefragt.« »Und?« »Sie kennt es, aber sie hat auch gesagt, daß wir es schwer haben würden, noch etwas zu finden.« »Wurde es zerstört?« fragte Suko. »Das nicht. Verlassen.« Mein Freund nickte. »So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Verdammt auch.« »Sollen wir trotzdem weiterfahren?« Er nickte Tarn zu. »Auf jeden Fall, mein Freund. Es kann ja sein, daß nicht alle Mönche weg sind. Möglicherweise finden wir jemand in der Umgebung, der uns Auskunft geben kann. Oft muß man indirekte Wege gehen, um ein Ziel zu erreichen.« »Gut gesagt, Suko, wirklich gut.« Tain gab wieder Gas. Nach einer weiten Kurve, in der nicht weit vom Straßenrand entfernt eine halbrund gebaute Villa lag, mußten wir die Fahrbahn verlassen, um in einen Weg einzubiegen, der ziemlich steil eine Bergflanke hochführte. Er war nicht asphaltiert. Glücklicherweise hatte es seit einigen Tagen nicht mehr geregnet, so daß der Boden eine gewisse Härte besaß. Die Reifen fanden Halt und rutschten nicht weg. Dichter Wald umgab uns. Tropische Gewächse, in denen zahlreiche Tiere ihren Unterschlupf gefunden hatten. Wir sahen einmal eine große
Katze, auch bunte Vögel, sogar ein Fuchs huschte über den Weg und verschwand im Unterholz. Insekten summten, wollten uns stechen. Wir schlossen die Fenster und schoben uns weiter durch die Schwüle den Berg hoch, bis sich der Wald ziemlich plötzlich lichtete und wir auf ein Plateau schauen konnten, dessen Erde einen lehmig-braunen Ton zeigte und von einer Staubschicht überdeckt war. Und wir sahen das Kloster! Es stand noch, aber es war bereits aus dieser Entfernung zu sehen, daß sich dort niemand mehr aufhielt. Die Mauern und Dächerwirkten irgendwie schmutzig, sie waren zum Teil sogar überwachsen. Flechten und Moos bildeten Schichten, die sich ineinander verkrallt hatten. Der Motor des Scorpio erstarb, wir stiegen aus und ließen uns von einem warmen Ostwind umwehen. »Das ist es«, sagte Suko. Ich stand neben ihm und sah den Schauer auf seiner Haut und bekam auch seinen tiefen Atemzug mit, als wollte er die Erinnerung in sich hineintrinken. Auch Tarn hielt sich zurück. Er wußte, ebenso wie ich, daß Suko jetzt nicht gestört werden wollte. Er ließ uns stehen, als wären wir nicht da, und ging vor bis zu der hohen, mauerartigen Wand, die das Kloster zum Süden hin begrenzte. Er blickte hoch zu dem kleinen Fenster, hob den Arm, drehte sich um und sagte: »Da irgendwo lag mein Zimmer.« »Willst du es noch einmal sehen?« fragte ich und ging langsam auf ihn zu. »Wenn du mitkommst?« »Gern.« »Soll ich hier stehenbleiben und warten?« fragte Tarn. »Das wäre nicht schlecht«, sagte Suko. »Okay.« Wir stiefelten los, gingen an der Mauer entlang, schmeckten den Wind, der auch Sukos Gesicht streichelte. Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte, Feuchtigkeit in seinen Augen erkennen zu können. Die Erinnerungen waren eben zu stark. Das Tor war nicht mehr vorhanden. Wir konnten in den Innenhof schreiten, wo mich der dschungelartige Bewuchs überraschte. Auch Suko zeigte sich verwundert. »Hast du eine Erklärung?« Er nickte. »Es gibt nur eine. Das war einmal unser Garten. Hier haben wir gesät und geerntet. Jetzt ist alles zugewuchert. Es ist eben zuviel Zeit vergangen.« »Wenn man nur wüßte, weshalb die Mönche das Kloster verlassen haben.« Er hob die Schultern. »Vielleicht sind sie woanders
untergekommen. Ich weiß es leider nicht, denn der Kontakt zwischen uns bestand nicht mehr.« Er ging weiter. Ich sah Außentreppen, kleine Vorbauten, die zum Innenhof zeigten, ich entdeckte an einigen Stellen sogar noch wunderbares Holzschnitzwerk, dessen Farben allerdings verblaßt waren. Das alles strömte den Geruch von Verfall und Vergessen aus. Suko blieb neben einem offenen Eingang stehen. »Ich werde dir meine Kammer zeigen, die Zelle.« »Gut.« Wir traten in die Düsternis. Ein wenig wurde ich an das Kloster in der Nähe von Frisco erinnert, wo Yakup lebte und noch immer seinen Kampf gegen Shimada ausfocht, obwohl er durch Alis Tod einen starken Schock erlitten hatte. In den Gängen hatte sich die Luft wie feuchte, dumpfe Watte verteilt. Sie waren an einigen Stellen so düster, daß wir Lampen einschalten mußten. Spinnennetze glitzerten wie Silberfäden. Sie hingen unter der Decke oder klebten an den Wänden fest. Käfer krabbelten hastig aus dem Lichtschein und verschwanden in zahlreichen Ritzen und Spalten. Vor einer Treppe blieb Suko stehen. »Da müssen wir hoch.« Ich hatte den Boden angeleuchtet und entdeckte dort etwas, das mich irritierte. »Suko, hier sind Spuren, und zwar frische.« Er schaute sie sich an, sah mir ins Gesicht, nickte und verfolgte den Strahl meiner Lampe, den ich über die Treppe hinweggleiten ließ und auch dort die Abdrücke erkannte. »Jemand war bereits vor uns hier«, murmelte ich. »Oder sollte noch eine Person hier leben?« »Ich kann es mir nicht vorstellen.« »Der Weg führt zu deiner Zelle. Ich frage mich, ob man uns dort erwartet.« »Dann müßten die Leute aber gut über uns Bescheid wissen.« »Was hat Tarn gesagt? In Hongkong gibt es unzählige Augen und Ohren. Sie sehen und hören alles. Allmählich habe auch ich den Eindruck, daß man uns an einer langen Leine laufen läßt.« »Scheint mir auch so.« Er nickte versonnen, bevor er seinen Weg fortsetzte. Die Treppe war zwar schmal, aber durchaus stabil gebaut worden. Wir brauchten keine Befürchtungen zu haben, daß sie unter unseren Füßen wegbrach. Hintereinander schritten wir in diese dumpfe, drük-kende Stille hinein, die mir auf den Atem drückte. Ich hatte den Eindruck, nicht mehr genügend Luft zu bekommen.
Alles war eng, auch die Kammern, die jetzt an der linken Seite erschienen, als wir die Treppe hinter uns gelassen hatten und den Gang durchschritten. »Wo liegt deine Zelle?« Suko deutete nach vorn. Der Lichterstrahl bohrte sich in die Finsternis. Die Fußspuren sahen wir nicht mehr. Es war kaum ein Laut zu hören. Manchmal nur drang von außen Vogelgezwitscher an unsere Ohren. Mit den Schriten tat ich mich etwas schwer, manchmal hatte ich den Eindruck, als würde Blei an meinen Füßen hängen. Die Türen der einzelnen Zellen waren nicht mehr vorhanden. Ich hatte in verschiedene Räume hineingeleuchtet und gesehen, wie spartanisch sie eingerichtet waren. Hier sein Leben lang zu beten, zu meditieren und zu arbeiten, das wäre nichts für mich gewesen. Suko blieb stehen. Noch mußte er zwei Schritte gehen, um seine alte Zelle zu erreichen. »Das ist sie!« flüsterte er. »Dort müssen wir hinein. Du wirst jetzt alles sehen.« »Willst du vorgehen?« »Ja.« Er mußte sich ducken, um die Schwelle überschreiten zu können. Durch das schmale Zellenfenster der Tür gegenüber drang ein Streifen Licht, der sich nicht allein auf dem Boden verteilte, sondern auch über eine Gestalt floß, die direkt unter dem Fenster saß und mit ihrem Rücken an der Wand lehnte. Wir blieben beide stehen, als hätte man uns gestoppt. Der Mann, der dort hockte, war alt, sehr alt. Er war eingepackt in eine Decke, besaß ein greisenhaftes, faltiges Gesicht, in dem die Augen als verwaschene Flecke tief in den Höhlen lagen und ungewöhnlich schimmerten. Er schaute uns entgegen, bewegte den Mund, so daß uns ein pfeifender Atemzug anwehte. Die Stimme laut zu erheben war hier fehl am Platz, deshalb stellte ich eine flüsternde Frage. »Kennst du ihn, Suko?« »Ich. . . ich bin mir nicht sicher.« »Dann frag ihn.« Der Alte hob seinen Arm. Dabei zitterte sein dünnes Barthaar ebenso wie die letzten Strähnen auf seinem Schädel. Die Lippen zuckten, und er wisperte nur ein Wort. »Suko.. .« Mein Freund zuckte zusammen. Nicht allein wegen seines Namens. Ihm war eingefallen, wer da vor ihm hockte. »Du. . . du bist der Bonze, nicht wahr? Du bist der Bonze.« »Das bin ich.« »Wer bitte?« fragte ich.
»Der Bonze des Klosters. Er hat für alles gesorgt. Er war derjenige, der auch Kontakt zur Außenwelt unterhielt, denn unser Abt kümmerte sich nicht darum. Laß mich mit ihm reden, John.« »Bitte.« Suko beugte sich vor. »Wenn du der Bonze bist, und wenn ich dich hier finde, so möchte ich gern von dir wissen, wo sich die anderen aufhalten. Der Abt, die Mönche. . .« »Sie alle sind gegangen.« »Warum?« »Jemand kaufte das Gebiet, er kaufte einfach unser Kloster. Wir wurden vertrieben und waren nicht mehr in der Lage, einen neuen Ort zu linden. Wir sind in alle Winde zerstreut worden.« »Aber du bist geblieben — weshalb?« »Ich bin nur zurückgekehrt, weil ich wußte, daß ihr kommen würdet. Ich habe lange nachgedacht und bin zu keinem guten Resultat gekommen. Ich habe nicht genau herausfinden können, wer das Kloster und das Land hier kaufte. Angeblich eine Filmfirma, die diese schlimmen Dinge drehte, aber sie haben sich nie gerührt.« Er sprach nicht flüssig, zwischen den Worten holte er stets röchelnd Luft. »Hast du einen anderen Verdacht?« Der Bonze nickte sehr langsam. »Den habe ich, doch er war nicht zu beweisen.« »Wer?« In die Augen des alten Mannes trat so etwas wie Härte. »Wenn ich dir das sage, Suko, wirst du erschrekken. Wir alle waren stolz auf dich, daß du es in einem fremden Land geschafft hast.. .« »Wer, bitte?« »Der Mandarin!« Ich hatte Suko von der Seite her angesehen, kannte ihn gut, und als seine Wangen zuckten, da wußte ich, daß er sich nur mühsam unter Kontrolle halten konnte. Trotz seines Alters mußte der Greis scharfe Augen haben, denn er bemerkte ebenfalls die Überraschung bei Suko. »Nun, du sagst nichts mehr.« Der Inspektor hob die Hand, ließ den Arm aber wieder sinken, bevor die Finger sein Gesicht berühren konnten. »Der Mandarin also«, hauchte er. »Immer noch? Nein, das geht nicht. . .« »Schon wieder«, bemerkte der Bonze flüsternd. »Aber er ist tot. Der Mandarin lebt nicht mehr. Man hat ihn begraben, glaube ich.« »Das ist lange her, und man hat ihn nicht begraben. Er stürzte von einem Felsen, er verschwand, es hielt sich das Gerücht, daß er begraben würde, aber ebenso hielt sich das Gerücht, daß er irgendwann einmal wieder auftauchen könnte. Das ist nun geschehen. Hongkong ist
zu einem Babylon geworden, Suko. Babylon in Hongkong. Es ist einfach schlimm und schrecklich.« »Und du bist dir sicher?« fragte Suko nach einer Pause des Nachdenkens. »Nicht ganz, ich spüre es nur. Die Männer, die Diener des Mandarins, sie sind überall zu finden. Sie huschen wie Schatten durch die Stadt und verbreiten die Nachricht von seiner Rückkehr flüsternd. Er ist wieder der große Meister geworden.« Ich hatte zwar alles verstanden, doch nur das wenigste davon begriffen. Deshalb wandte ich mich an meinen Freund mit der Bitte, mir etwas mehr zu erklären. »Nun ja, ich will es kurz machen. Der Mandarin ist hier in der Stadt ein Begriff. Er hält die mystischen Fäden in den Händen, er ist gewissermaßen ein Mafiabüß auf magischer Seite. Fr kennt die Tricks, er kennt die Beschwörungen, er kann dich vernichten, er kann dich reich werden lassen, er kann alles mit dir anstellen. Er ist grausam, er ist gnadenreich. Kein Licht ohne Schatten, keine Liebe ohne Haß, der Mandarin beherrscht alles. Über Hongkong hat er sein unsichtbares Netz gespannt, und es gibt nur wenige, die versuchen, ihm entgegenzutreten.« »Wer, zum Beispiel?« »Die Mönche, die meisten jedenfalls.« »Wir haben es auch versucht«, erklärte der Bonze. »Denk daran, Suko, daß auch die Welt tausend Augen und Ohren besitzt. Wir wußten über dich Bescheid, wir haben erlebt, wie du in London eine Aufgabe übernommen hast, auf die wir alle stolz sein konnten, und wir wußten uns keinen Rat mehr, als dich oder euch zu benachrichtigen.« »Dann habt ihr Feng geschickt?« »Ja, Feng. Er ist wie der Wind gewesen, so schnell, so unsichtbar. Das jedenfalls haben wir angenommen. Wir hofften, daß er sich aus der Stadt schleichen würde, was er auch getan hat. Ihr seid hier, aber ich habe schlimme Träume gehabt. Was ist mit ihm?« »Tot«, erklärte Suko. »Er ist tot. Er konnte mir noch einen Brief meines Vaters übergeben.« Der Greis erschrak. »Dann hast du ihn gelesen?« »Natürlich.« »Muß ich dich noch fragen, was du dabei gedacht hast?« »Nein, das brauchst du nicht. Ich bin völlig überrumpelt worden. Aber ich weiß noch immer nicht, ob mein Vater nun lebt oder nicht. Mit Feng habe ich nicht sprechen können. Kannst du mir sagen, was mit meinem Vater geschehen ist?« Der Bonze starrte uns beide an. In den Gesichtsfalten hatte sich Schweiß gesammelt. Er machte mir einen Eindruck, der mir überhaupt nicht gefiel. »Dein Vater, Suko.. . du. . . du weißt es nicht?«
»Ich lüge dich nicht an, Bonze. Nur kann ich mir nicht vorstellen, daß er noch am Leben ist.« Der Bonze bekam sehr große Augen. »Dein Vater...« Plötzlich fing er an zu röcheln. Dabei quoll rot gefärbter Schaum aus seinem Mund und legte sich auf die Lippen. »Dein Vater ist. . . zu spät. . . zu spät. . .« Er kippte nach vorn, als hätte ihm jemand einen Stoß in den Rük-ken gegeben. Wir konnten keinen ersichtlichen Grund ausmachen. Das geschah erst später, als er bereits vor uns lag. Da starrten wir auf einen knochigen Rücken, der in Blut und aufgerissenem Fleisch schwamm. Welche Waffe dieses Grauen zu verantworten hatte, wußten wir nicht. Jedenfalls hatte sie es trotz allem noch geschafft, den Bonzen zu töten, der sich mit einer nahezu übermenschlichen Kraft am Leben gehalten hatte. Suko ballte die Hände zu Fäusten. Ich war grau im Gesicht geworden, drehte mich weg und schaute auf den schmalen, zu niedrigen Eingang, als könnte dort jeden Moment jemand erscheinen und mit einer Maschinenpistole aufräumen. Die Tür blieb leer. Suko beschäftigte sich mit dem Toten. Ich trat bis an das Fenster vor. Es lag günstig in Gesichtshöhe. So konnte ich bequem hinausschauen und über das grüne Bergland blicken. Sonne, Himmel und weiße Wolken vereinten sich zu einem flimmernden Panorama. Flugzeuge hatten über Kowloon die normalen Vögel verdrängt. Es gab keine Minute am Tage, wo über der Stadt nicht irgendwelche Flugzeuge kreisten. Tam sah ich nicht. Eine Mauerecke verdeckte den Blick auf ihn und seinen Wagen. Ich drehte mich wiederum. Auch Suko hatte sich aufgerichtet »Er war der Bonze«, flüsterte er, »und er hat alles versucht, um uns zu warnen. Der Mandarin war schneller.« »Hat er noch einen anderen Namen?« Suko nickte. »Möglich — und wenn, dann kennt ihn niemand, verstehst du? Er ist wie eine Person, die eine Tarnkappe trägt. Zu Gesicht bekommen ihn nur wenige. Sollte er tatsächlich seine Herrschaft wieder angetreten haben, sind auch die weißen Masken unterwegs.« »Wer ist das?« »Eine Bande, die dem Mandarin gehorcht, die ihm sklavisch verbunden ist, wenn du verstehst.« »Also Killer?« »Richtig. Sie morden in seinem Sinne. Sie sind seine Diener. Er schickt sie los, wenn es Probleme gibt.« »Weshalb haben sie die weißen Gesichter?« »Tradition, John. Als Mandarine bezeichnete man früher die chinesischen Staatsbeamten. Sie bildeten die politische und soziale Führungsschicht Chinas. In die Ämter gelangten sie duch Ablegungen von Staatsprüfungen, aber auch durch Ämterkauf. Ihr Stand ging 1911
bei Ausbruch der Revolution unter, aber sie lebten weiter, sie regierten weiter, im Untergrund, und ihre Diener legten sich die weißen Masken zu. Sie schminkten ihre Gesichter fahlweiß. Das haben sie übernommen von den großen Sängern und Schauspielern der chinesischen Oper. Auch sie wirst du mit weiß geschminkten Gesichtern auf der Bühne sehen. Für den Mandarin und seine Diener ist es ein Spiel. Sie wollen den Menschen klarmachen, daß sie noch im Untergrund leben. Erst wenn ihre Gesichter nicht mehr die weiße Farbe zeigen, wird ihre Herrschaft von neuem beginnen.« »Dann muß ich also auf Menschen mit weißen Gesichtern achten?« »Falls du die siehst.« »Was heißt das?« »Sie sind wie Schatten. Schnell, unheimlich, plötzlich da, wenn du nicht mit ihnen rechnest.« »Wir werden sehen.« Suko legte mir eine Hand auf die Schultern. »John«, sprach er mit ernster Stimme. »Ich kann mich noch gut an den Bonzen erinnern, wie er früher gewesen ist. Du kannst ihm alles nachsagen, nur eines nicht. Er war kein Spinner, er hat nicht übertrieben. Wenn er von einem Babylon in Hongkong spricht, so ist das vorhanden. Zwar nicht offiziell für einen Fremden erkennbar, aber es brodelt unter der Oberfläche, wo sich sowieso das meiste abspielt.« Ich nickte zweimal und schaute auf den Toten. »Unser Aufgabe wird es demnach sein, den Mörder zu finden, das heißt, dem Mandarin das Handwerk zu legen.« »Ja.« »Schaffen wir es?« »Kaum.« Suko hatte seinen Blick gesenkt. So kannte ich ihn nicht. »Aber du willst doch nicht aufgeben?« »Das bestimmt nicht. Ich möchte nur über das Schicksal meines Vaters Bescheid wissen.« »Und kommst dabei dem Mandarin in die Quere.« Er schluckte. »Wir kommen ihm in die Quere. Wobei ich mich frage, was er mit meinem Vater zu tun hat. Weshalb will er nicht, daß ich ihn finde?« »Das sollten wir ihn selbst fragen«, erwiderte ich grinsend und wurde sofort gewarnt. »Nimm es nicht zu leicht, John, nimm es nur nicht zu leicht. Hongkong kocht.« »Verstehe.« Suko ging an mir vorbei. In der Tür blieb er stehen und warfeinen Blick in den Gang. »Rechnest du mit Ärger?« fragte ich ihn. »Man weiß nie. Ich glaube, daß die weißen Masken das Kloster unter Beobachtung gehalten haben. Auch wenn du sie nicht siehst, rechne immer damit, daß sie in deiner Nähe sind, urplötzlich zuschlagen und dir dabei keine Chance lassen.« »Laß uns gehen.«
Wohl war mir ebenfalls nicht, als wir uns nach rechts wandten und durch den schmalen Gang schritten. Ich spürte ein Kribbeln auf dem Rücken, eine leichte Warnung vor der Gefahr, die sich auf einmal verdichten konnte. Suko kannte ich lang genug, um zu wissen, daß er kein Spinner war. Wenn er sich so verhielt, mußte das seine Gründe haben. Nach der Kühle des Klosters kam mir die Luft draußen noch schwüler und drückender vor. Wir waren im Innenhof stehengeblieben und ließen unsere Blicke über das hohe Unkraut schweifen, in dem sich gut jemand vestecken konnte. Zwar bewegten sich die Büsche und auch die Spitzen der langen Grashalme, aber es war nur der Wind, der über sie hinwegtrieb, und keine Menschen, die sich innerhalb des Buschwerks bewegten. »Gefällt dir die Ruhe?« fragte ich. Suko hob die Schultern. »Sie ist nicht unnatürlich.« Er hob den Zeigefinger, als wäre ich ein Schulkind und er der Lehrer. »Aber denke daran, John, sie sind da, auch wenn du sie nicht sehen kannst. Sie lauern immer irgendwo.« »So kenne ich dich kaum.« Mein Lächeln fiel kantig aus. »Man könnte meinen, daß du dich um einhundertachtzig Grad gedreht hast.« »Nein!« sagte Suko, »das habe ich nicht. Aber ich kenne die weißen Masken. Ich weiß um ihre Grausamkeit. Sie können uns, wenn sie wollen, das Genick brechen. Und ich weiß auch, daß etwas auf uns zukommt. Es rollt lautlos heran. Bezeichne es meinetwegen als eine unsichtbare Walze, die kaum zu stoppen ist.« »Aber wir müssen weitermachen. Die Spur ist abgebrochen. Wer kann uns helfen, an die weißen Masken heranzukommen?« »Ich habe keine Ahnung. Es wäre einen Versuch wert, den Knochensetzer zu besuchen.« »Das wollte ich dir auch vorschlagen.« »Um den Toten kann sich Tarn kümmern«, sagte Suko. »Er sollte abgeholt werden.« Wir gingen über den Innenhof, und das Prickeln auf meinem Rücken blieb. Ich schaute des öfteren hoch zu den schmalen Vorbauten und Baikonen, ohne dort allerdings einen Menschen zu sehen, der uns beobachtet hätte. Die weißen Masken hielten sich zurück und arbeiteten ganz im Sinne ihres Herrn und Meisters. Staub wehte uns nach dem Verlassen des Klosters entgegen. Der grüne Scorpio hob sich vom braungelben Erdreich ab wie ein Relikt, daß jemand abgestellt und bewußt vergessen hatte. Tarn sahen wir nicht. Wir wunderten uns erst, als wir ihn auch nicht im Fahrzeug sitzen sahen. Er war verschwunden.
Über das Dach hinweg schauten wir uns an. Suko entdeckte den noch steckenden Zündschlüssel. Sehr langsam bewegte er den Kopf in meine Richtung. »John, sie haben ihn geholt. Sie haben ihn.. .« »Das ist nicht sicher.« Ich suchte den Boden nach Spuren ab. Da war nichts zu entdecken. »Doch, sie sind lautlos, sie sind immer zur Stelle, wenn man sie braucht, und sie beherrschen ihre verdammten Waffen perfekt. Sie töten dich auf vielfältige Art und Weise, denn sie haben die subtilen Methoden aus dem alten China nicht vergessen. Ihre Spezialität waren auch Haarnadeln, deren Spitzen sie vergifteten.« Ich erwiderte nichts, aber das Prickeln auf dem Rük-ken war zu einer Gänsehaut geworden. Manchmal überkam mich mein Mißtrauen wie ein heißer Schwall. Ich legte mich auf den Boden und schaute unter dem Wagen nach. Wie leicht konnte dort jemand eine Bombe deponiert haben. Sie war nicht vorhanden. Als ich mich erhob und mir den Staub aus der Kleidung klopfte, hatte Suko den Kofferraum geöffnet. »Nichts, nur unser Gepäck.« Er schlug die Haube wieder zu. »Wie stehst du zur der Sache, Alter?« »Kann es sein, daß man uns mit diesem Tarn jemand untergeschoben hat, der falschspielt?« Mein Freund atmete scharf aus. »Das ist alles möglich, John. Rechnen müssen wirmitdem Schlimmsten.« »Eine Frage. Sollen wir suchen oder fahren?« »Fahren.« »Gut.« Er hatte bereits die Fahrertür geöffnet und stieg ein. Nach einem letzten Rundblick, der ebenfalls nichts brachte, ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. Suko hatte eine gespannte Haltung eingenommen, als er startete. Es klappte wunderbar. Nichts explodierte, als der Motor ansprang. Diese normale Kleinigkeit reichte bei uns aus, um aufatmen zu können. In diesem verdammten Fall freute man sich schon über winzige Dinge, die eigentlich selbstverständlich waren. Suko drehte den Wagen. Ich hatte meine Scheibe geöffnet und hörte nur das Rollen der Räder auf dem harten Boden. Ansonsten blieb es still wie in einer großen Gruft. Der Staub verschwand, als wir das Plateau mit dem Kloster hinter uns gelassen hatten und auf den Weg einbogen, der als Schlauch durch den dichten Wald führte. Ein Wald, der mir überhaupt nicht gefiel, mir unheimlich vorkam wie undurchdringliche Wände rechts und links, die alles verbargen, jedes Geheimnis für sich behielten und es nie mehr freigeben würden.
Manchmal rollten wir auch durch einen grünen Tunnel, wenn über uns die Zweige der Bäume zusammenwuchsen. Mir wollte das Bild des toten Bonzen nicht aus dem Kopf. Es hatte sich regelrecht festgebrannt, und ich bekam den Eindruck, als würde sich sein Gesicht vervielfältigt innerhalb des Unterholzes abzeichnen und uns ständig warnende Grüße zusenden. Diese Fahrt kam mir schlimm vor. Ich empfand sie als klebrig und voller Gefahren steckend. Der Himmel über uns war kaum zu sehen. Und wenn, dann sahen wir ihn als grünes Flimmern mit hellen Inseln, durch das Sonnenlicht drang und Tupfer auf dem Weg hinterließ. Zum Schneiden dick kam mir die Luft vor. Der Durchzug brachte auch keine Kühle. War der Wald tot? Dann erschien eine schmale Kurve. Wir fuhren nicht schnell, trotzdem mußte Suko mit dem Fuß vom Gaspedal. Der Wagen näherte sich wie ein anschleichendes Raubtier der Kurve. Es war, als würde er darauf lauern, daß sich etwas tat. Das geschah auch. Links, also an meiner Seite, bewegten sich Blätter und Zweige heftiger als normal. »Aufpassen, Suko!« Meine Stimme klang gepreßt. Die Dunkelheit teilte sich. Zweige schlugen zurück, peitschten wieder vor, da aber war es längst passiert. Etwas schnellte über den Straßengraben hinweg, tauchte aus dem Dunkel ins Hellere, prallte auf die Straße und überschlug sich wie eine Puppe. Nein, keine Puppe, ein Mensch. Es war Tam! *** Suko bremste. Ich duckte mich gleichzeitig, denn ich hatte noch etwas in der Lücke gesehen. Einen hellen Schatten, und ich dachte augenblicklich an die weißen Masken. Die Tür flog so hastig auf, als sollte sie aus den Angeln gerissen werden. Beim Zurückschwingen schlug sie mir noch gegen den Ellbogen, als ich losrannte, ohne dabei auf Sukos Warnung zu achten. Ich riß die Beretta hervor und sprang in das dichte, klebrige Unterholz, das sich aus schlingpflanzenartigen Lianen zusammensetzte, die mir wie Lassos vorkamen und mich festhalten wollten. Ich hatte mir die Stelle ungefähr gemerkt, wo der weiße Schatten erschienen war. Wütend zerrte ich mich frei und überwand die nächste Distanz mitzwei großen Schritten. Ich erhielt einen Schlag gegen die Stirn, weil ich einen tiefhängenden Ast zu spät bemerkt hatte. Den Fluch
schluckte ich runter, ich wollte den verdammten Hundesohn zwischen die Finger bekommen. Diesmal war mir das Glück hold. In der mit hellen Sonnenflecken übersäten Waldfläche entdeckte ich einen schmalen Pfad, nicht mehr als einen Wildwechsel, aber ich kam voran. Und ich hörte etwas. Nicht weit entfernt versuchte jemand, sich ebenso wie ich den Weg durch dieses Wirrwarr zu bahnen. Eine zischelnde Stimme drang mir entgegen, ich tauchte unter Ästen hinweg und sah ihn vor mir. Er hatte hinter einem dicken Baumstamm gelauert, und es war tatsächlich eine weiße Maske. Das Gesicht schien innerhalb der grünen Fläche zu schweben, weil die dunkle Kleidung, die er sonst trug, nicht auffiel. Sie verschwamm mit der Umgebung. Und er griff an. Nicht mit seinen bloßen Händen, nein, er besaß einen normalen Stock, dessen Spitze jedoch aus Stahl bestand. Ich schoß. Auf einmal verzerrte sich das weiße Gesicht. Zwar sprang er noch vor, aber er konnte mich nicht mehr erreichen. Auf halber Strecke knickte sein Stock nach unten. Die Spitze drang in den Boden, er fiel auf den etwas dickeren Knauf, und es sah so aus, als wollte er sich vor mir verbeugen. Ich trat zur Seite, als er fiel. Über den Stock kippte er hinweg. Sein Kopf verschwand im dichten Blattwerk fettiger Pflanzen, die den Boden bedeckten. Hoch über mir begann ein wildes Gekreische. Die Vögel fühlten sich durch meinen Schuß gestört und flogen davon. Um den Mann kümmerte ich mich nicht. Wo einer war, konnte auch ein zweiter sein. Ich schaute mich um, blickte auch nach oben in die Bäume, aber ich entdeckte keinen mehr. Suko lief von der Straße heran. Sein Gesicht zeigte Erschrecken und Erstaunen, als er neben mir stehenblieb und sich die Gestalt auf dem Boden anschaute. »Hast du ihn . ..?« »Klar habe ich ihn«, erwiderte ich unwillig. »Verdämmt, ich mußte es tun, er wollte mich aufspießen.« »Ja, natürlich.« Suko nickte, bevor er sich bückte und den Mann auf den Rücken drehte. Ich blieb derweil wachsam neben ihm stehen, aber man ließ uns in Ruhe. »Schau mal, John.« Suko leuchtete den Mann an. Dessen weiß gepudertes Gesicht besaß violette Lippen und ebensolche Brauen. Die Kugel war nicht tödlich
gewesen, sie steckte zwischen rechter Brust und rechter Schulter. Nur brauchte er unbedingt einen Arzt. Wir hörten ihn keuchend nach Luft ringen. Dabei bewegte er die Augen. Seine Pupillen wirkten wie flache Steine, die von einer unsichtbaren Kraft in den Höhlen gedreht wurden. »Die erste Spur!« flüsterte Suko über den Toten hinweg. »John, das ist die erste Spur.« »Und Tarn?« Da wurde das Gesicht meines Freundes starr. Ich sah es selbst bei diesem grünen Schattenlicht. »Schau ihn dir an, John, schau ihn dir verdammt noch mal an. Dann wirst du selbst erleben, welche Hundesöhne die weißen Masken sind.« Ich fragte nicht noch einmal nach, aber in meinem Innern wallte der Zorn hoch. Als ich den Blick senkte und dem Verletzten in die Augen schaute, sah ich das Flackern darin. Er mußte Schmerzen haben, doch er verbiß sie sich. Kein Laut drang über seine Lippen, die er fest zusammengepreßt hielt. Nur in den Augen erkannte ich Leben. Suko hatte den Stock aufgehoben. Dabei lachte er. »Eine verdammte Waffe, John, eine ganz verdammte Waffe. Aber so sind sie. Wir müssen uns hüten. Einmal killen sie mit Nadeln, dann mit kleinen Pfeilen, die sie aus umgebauten Revolvern abschießen, und selbst Stöcke werden von ihnen manipuliert.« Er rammte ihn in den Boden, um anschließend den Verletzten vorsichtig in die Höhe zu hieven, wobei ich meinen Partner so gut wie möglich unterstützte. Der Verwundete sprach nicht. Er hielt sich zurück. Nicht einmal die Lippen zuckten, aber wenn man je von einem düsteren Feuer hätte sprechen können, so brannte es in seinen Augen wie eine Glut. »Du wirst gehen müssen«, sagte Suko zu ihm. Er bekam keine Antwort. Wir nahmen ihn zwischen uns. Ich hob seinen Arm behutsam an, um ihn über meine Schulter zu legen. Hoffentlich überstand er den Transport, den wir wegen der Dichte des Waldes nicht anders durchführen konnten. Dann schrie er! Es war ein wilder, wütender, beinahe schon ekstasischer Schrei. Dabei bewegte er sich trotz seiner Verletzung derart schnell und geschmeidig, daß er uns überraschte. Plötzlich hielt er den verfluchten Stock in der Hand, stellte beide Beine zusammen und sprang aus dem Stand zurück, wobei er sich in der Luft beinahe noch überkugelte. Wir sahen die Bewegung seiner Arme und hatten beinahe den Eindruck, als hätte er einen dritten Arm herbeigezaubert. Es war nur der Stock, der, im richtigen Winkel gehalten, zwischen den beiden Armen nach unten sauste.
Dann klatschte der Körper in einen Strauch. Wir hörten es krachen und knirschen, einen leisen Schrei ebenfalls, dann war alles vorbei. Ich schlug den Weg frei, Suko leuchtete, und diesmal war das weiß geschminkte Gesicht des Mannes verzerrt, als hätte jemand seine Haut von zwei Seiten auseinandergezogen. In der Brust steckte das Stockmesser. »Schon wieder ein Toter«, flüsterte ich. »Meine Güte, wo soll das alles hinführen?« »Das ist Hongkong«, erwiderte mein Freund leise. »Das ist dieses verdammte, gnadenlose Hongkong. Eine Stadt, in derein Menschenleben keine Rolle spielt. Laß uns gehen. Seine Kumpane werden sich um ihn kümmern. Man wird ihn wohl verbrennen.« »Ist das so üblich bei den weißen Masken?« »Sicher.« Wir liefen den Weg zurück, erreichten die Straße, und ich sah unseren Kollegen Tarn liegen. Noch immer versperrte sein Körper unsere Weiterfahrt. Allein die Haltung des Toten ließ Schreckliches erahnen, und Suko erklärte es mir mit einem Vergleich. »Es ist wie bei einem Menschen, der in die Berge steigt, nicht achtgibt und einige hundert Yards in die Tiefe fällt. Da bleibt kein Knochen mehr heil.« »Hat man das mit ihm gemacht?« fragte ich gepreßt. »So ähnlich.« Er war nur mehr ein Bündel. Wir hoben ihn an und legten ihn auf den Rücksitz. Dann stiegen wir ein. Als Suko starten wollte, legte ich meine Hand auf den Lenkradring. »Noch nicht, bitte, mir ist gerade etwas eingefallen.« »Dann sag es.« »Wie war das mit dem Mandarin? Es soll in eine Schlucht gefallen und sich die Knochen gebrochen haben.« »Richtig.« »Und bei Feng fanden wir eine Karte, die auf den Knochensetzer hinweist. Tarn ist auf eine ähnliche Art und Weise umgebracht worden. Suko, das ist der rote Faden. Es muß etwas mit den Knochen, den Knochensetzern und natürlich mit diesem Cheng Wang zu tun haben, der wohl der King dieser Gilde ist.« »Kann ich jetzt starten?« »Klar. Was meinst du denn?« »Ich bin deiner Ansicht, John. Wir sollten ihm so rasch wie möglich einen Besuch abstatten.« »Falls wir ihn antreffen, und er nicht. . .« »Mal den Teufel nicht an die Wand, Alter.« Das wollte ich auch nicht, aber ich war in diesem Fall auf alles gefaßt. Verfolgt wurden wir offiziell nicht. Als wir die belebteren Gebiete erreichten, sahen wir hoch über uns zwei Drachenflieger, die günstige
Winde ausnutzten und sich mit ihren gewaltigen Schwingen durchschaukeln ließen, wobei sie große Bögen flogen und sich hin und wieder der Straße näherten. Es ging bergab. Meine Güte, was war Hongkong für eine Stadt! Ich konnte die Augen nicht von der Insel lassen, denn Kowloon interessierte mich weniger. Mich faszinierte das Millionenspektakel Hongkong, das so wahnsinnig dicht besiedelt war und täglich neue Einwanderer, meist illegal, schlucken mußte. Es gab Menschen, die besaßen als Wohnung nur eine Schlafpritsche in irgendeinem Betonbunker und zahlten viel Geld im Monat. Es wurde viel verdient und viel ausgegeben. Ein Hupsignal schreckte uns auf. Hinter uns glitt ein cremefarbener Rolls die Fahrbahn entlang. Der Chauffeur wollte freie Bahn haben. Suko gewährte sie ihm, er fuhr dicht links heran. Zwei Frauen hockten im Fond. Ältere Ladies, aufgetakelt und spindeldürr- Ein Stück Kolonialismus, für das England leider eine traurige Berühmtheit erlangt hatte. »Da siehst du wieder die Gegensätze«, sagte Suko. »Reich, immens reich und so verflucht arm. Das ist. . .« Ich hörte überhaupt nicht hin, denn neben uns spritzte plötzlich der Asphalt auf, als hätte es eine kleine Explosion gegeben. Ich schaute nach rechts. Und da war der Schatten. Einer der verdammten Drachenflieger, der sich mit einer Hand am Gestänge seines Apparates festhielt, in der anderen aber ein Gewehr hielt, mit dem er auf uns schoß. Und oberhalb der querlaufenden Führungsstange leuchtete sein Gesicht wie eine weiße Maske... *** Die Dschunke fuhr wieder! Der Mandarin wollte nicht, daß sie immer am gleichen Fleck lag. Es wäre zu auffällig gewesen. Er hatte den Befehl an seinen Vertrauten Tao weitergeleitet, der dafür Sorge trug, daß man die Segel setzte. Die beiden starken Motoren wurden nicht angeworfen. Es ging dem Mandarin nicht gut. Das lag nicht allein an seinen Knochen und Sehnen, nein, er hatte auch das Gefühl, eingekreist zu werden. Zwar nur von zwei Leuten, aber er wußte sehr wohl, daß sie zu den Menschen gehörten, die nicht so leicht aufgaben. Was die sich einmal in den Kopf gesetzt hatten, führten sie auch durch.
Plötzlich haßte er die Dunkelheit. Er haßte eigentlich alles, was mit der Finsternis zusammenhing, und er sagte sich, daß es ihm guttun würde, wenn er etwas frische Luft bekam. Er stand auf. Nein, nicht wie ein normaler Mensch. Dieses Aufstehen glich zwangsläufig einem Ritual und war verbunden mit fürchterlichen Qualen, die der Mandarin nur selten auf sich nahm, weil sie auch einen starken Menschen irgendwann zerbrechen konnten. Zuerst bewegte er seinen Kopf. Irgendwo im Hals knackte es, ein Brennen tobte durch die Sehnen, aber er konnte den Kopf schließlich gerade halten. Danach wuchtete er sich vor. Er konnte seine beiden Körperhälften nicht gleichzeitig bewegen, sondern drückte erst die rechte nach vorn und ließ die linke dann folgen. Gleichzeitig gab er sich Schwung — und schaffte es, den Stuhl zu verlassen. Er taumelte vor wie eine Puppe, die nur an Fäden hing, schaffte es aber, sich zu fangen, schlenkerte die Beine aus, drehte sich dabei und ächzte halbwegs zufrieden, als es ihm gelungen war, sich auf den Beinen zu halten. Der Weg bis zur Tür war nur sehr kurz. Ein Kinderspiel für einen normalen Menschen, der richtig gehen konnte. Für ihn aber nicht. Er kämpfte sich voran, die Füße schleifte er mit, die Beine schlenkerte er ebenso wie seine Arme und tastete mit den Händen nach einem Halt. Seine langen Finger, die in einem unnatürlichen Winkel zueinander abstanden, griffen noch ins Leere, bis der Mandarin es schaffte, dem Körper den Schwung zu geben, den er benötigte, um sein Ziel — die Tür — zu erreichen. Er fiel hart gegen sie, spürte, daß er abrutschen würde, und bekam die Querstange zu fassen, die seinetwegen angebracht worden war und von zwei Holzklötzen gehalten wurde. Er klammerte sich fest. Seine Hände dehnten sich dabei, als bestünden sie aus Gummi, aber da war noch ein Rest an Kraft vorhanden, den der Mandarin mobilisieren konnte, so daß er nicht zu Boden stürzte und die schwere Prozedur des Aufstehens hinter sich bringen mußte. Der Mandarin hielt sich fest. Es war mehr ein verzweifeltes Klammern, ständig unterbrochen durch knackende und reißende Geräusche, als würde sein Körper allmählich auseinandergezerrt werden. Die Finsternis verstärkte die unheimlichen Laute noch, in die sich manchmal ein Heulton mischte. Doch der Mandarin machte weiter. Er dachte nicht daran, aufzugeben. Noch lebte er, und er würde weiterleben, um die große Organisation noch stärker zu machen.
Irgendwann erholte er sich. Das war daran zu hören, daß die unheimlichen Geräusche nicht mehr so laut klangen. Jetzt hatten sich sämtliche Knochen und Sehnen gerichtet. Nun brauchte er sich nur so gegen die Tür zu stemmen, daß er sie auch aufziehen konnte. Es fiel ihm unsagbar schwer. Einige Male rutschten ihm die Füße weg, so daß er in eine Schräglage geriet und sich erst aus dieser befreien mußte. Der Mandarin packte es. Allein, daß er dies überhaupt schaffte, ließ darauf schließen, welch eine immense Kraft in ihm steckte. Und er schaffte es sogar, die schwere Tür zu öffnen und sie nach innen zu ziehen. Später wankte er wie eine Puppe auf den Niedergang zu, wo das Öllicht brannte und er sich orientieren konnte, was er im Prinzip nicht brauchte, denn er kannte die Dschunke wie seine Westentasche. Der Mandarin wußte auch, in welche Richtung sie segelten. Der Wind blies aus Richtung Osten in die Segel und bauschte sie dermaßen auf, als wollte er sie aus der Takelage reißen. Das Wasser der Bucht schäumte um den Bootskörper, dessen Bug einen weißen Bart vor sich herschob. Die Mannschaft stand an Deck. Männer mit hell geschminkten Gesichtern, die sogar im Dunkeln leuchteten. Noch lag der Tag über Hongkong. Ein graues, bleiernes Gebirge aus Wolken, denn der Himmel hatte sich bezogen. Nur der Wind war noch wärmer geworden. Sie konnten sowohl nach Lantau Island segeln als auch nach Macao. Nirgendwo würden sie anlegen, sondern zwischen den Inseln kreuzen. Die Westküste von Hongkong Island war bereits außer Sicht. Sie malte sich nur mehr als grauer Streifen ab und verschwamm mit fortlaufender Zeit immer mehr. Als die ersten weißen Masken den Mandarin an Deck sahen, erstarrten sie vor Ehrfurcht oder verbeugten sich, doch der Alte nahm von ihnen keine Notiz. Sich am Schanzkleid festklammernd, näherte er sich dem hohen Ruderhaus, in dem Tao, der Leibwächter, das Regiment führte. Es schien so, als würde er die Anwesenheit des Mandarins spüren, denn er drehte sich von der Elektronik des Ruderstandes weg — kein Fremder ahnte, daß sich in dieser altmodisch wirkenden Dschunke hochmodernes Gerät verbarg — und schaute durch das schmale Fenster. Ein Fluch verließ seinen Mund. Hastig riß er die Tür auf und stand mit wenigen Sprüngen vor dem alten Mann mit dem schmerzverzerrten Gesicht. Er wollte ihn anfassen, ihm helfen, aber der Starrsinnige schüttelte nur den Kopf. »Ich will Neues hören!« keuchte er. »Ich will Neues hören. Ich will sie tot sehen.« »Sie sind bestimmt tot.«
»Schwöre das beim Leben des Drachengottes!« spie der Mandarin hervor. Tao trat zurück. »Das kann ich nicht. Ich habe alles in die Wege geleitet, um sie zu vernichten. Der Polizeispitzel muß weg, die beiden anderen auch.« »Was ist mit dem Bonzen?« »Wir haben ihn gefoltert.« »Und?« Tao grinste schmierig. »Kennst du jemand, großer Mandarin, der meine Folter je überlebt hätte?« »Nein.« »Auch der Bonze wird keine Ausnahme gemacht haben, mag er innerlich auch so stark sein. Die weißen Masken sind schon immer besser gewesen, sie werden auch besser bleiben.« Der Mandarin nickte. »Ich wünsche es uns«, krächzte er, »ich wünsche es uns von ganzem Herzen. Wir haben einmal einen Fehler gemacht. ..« »Soll ich dem Knochensetzer das Genick brechen?« »Nein, obwohl ich es liebend gern täte. Ich brauche ihn noch. Ich will nicht mehr zu ihm getragen werden, deshalb möchte ich, daß ihr ihn zu mir holt.« »Jetzt?« »So schnell wie möglich. Ich muß ihn haben, ich muß ihn sehen, und er soll seine Koffer mitbringen.« Jemand brachte auf einen Wink Taos hin dem Mandarin einen Stuhl, wo ersieh niederlassen konnte. »Beidrehen!« keuchte er Tao zu. »Laß beidrehen und ankere in der kleinen Bucht. . .« Der Koloß verbeugte sich. »Es wird alles zu deiner Zufriedenheit geschehen, Meister...« *** Der Drachenflieger war verflucht schnell und schon so gefährlich nahe heran. Die Mündung des kurzläufigen, klobigen Gewehres wirkte auf mich wie ein tödliches Auge, vor dem sich meine Magenmuskeln zusammenkrampften. Ich wußte, daß die nächsten Schüsse besser liegen würden. Durch das offene Fenster hörten wir das Rauschen des Windes unter den Flügeln. Der Drachenflieger mußte ein Meister seines Fachs sein. Flog er zu weit, konnte es passieren, daß er in den Wald hineinraste, der sich links von uns erhob. Ich brauchte Suko nichts zu sagen. Auch er hatte die Gefahr längst bemerkt und reagierte phantastisch. Ein Druck auf das Gaspedal, und der Scorpio schoß voran, als hätte er einen Tritt bekommen.
Ich sah es noch blitzen, zog den Schädel ein und wartete auf die harten Einschläge der Kugeln. Die waren auch vorhanden, aber sie jaulten an unserem Fahrzeug vorbei und hämmerten in den Wald. Suko kurbelte am Lenkrad, denn der Wagen begann zu schlingern. Sicher brachte er ihn in die Spur, während ich zurückschaute. Durch die Heckscheibe sah ich leider nur einen Ausschnitt, der aber reichte aus. Der Drachenflieger hatte die Straße fast erreicht. Er hätte sie beinahe mit den Füßen berühren können, bewegte schon die Beine, als ein Windstoß die Flügel aufblähte und ihn in die Höhe trug. Dadurch mußte er sich auf den Flug konzentrieren und konnte nicht mehr schießen. Sekunden später waren wir aus seinem Sichtfeld verschwunden und atmeten zunächst tief durch. »Da war noch ein zweiter«, sagte Suko und hatte mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen. »Den suche ich auch!« »Weißt du wenigstens die Richtung, in die er verschwunden ist?« »Nein.« »Dann fahre ich weiter.« Ich nickte. »Okay, mach das.« Erst jetzt stellte ich das leichte Zittern bei mir fest. Dieser plötzliche Angriff hatte an meinem Nervenkostüm gezerrt. Schließlich bin ich kein James Bond der alten Schule, der alles lok-ker wegsteckte. Wie es der'Teufel wollte, es kam uns auch kein Fahrzeug entgegen. Wir waren allein auf weiter Flur. Suko fuhr, ich bewegte mich auf meinem Sitz wie ein Clown, der sich unbedingt produzieren muß. So gut wie möglich suchte ich alle vier Himmelsrichtungen nach den verdächtigen Fliegern ab. Zu Gesicht bekam ich sie nicht. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Dann erschien links eine Haltebucht. Wie eine Kerbe schnitt sie in den Abhang. Für uns war es ein idealer Platz. Suko steuerte ihn an und stoppte. Ich hatte schon die Tür offen. Aussichtspunkte können eine schöne Sache sein. Ihn hier anzulegen war hervorragend. Der Blick fiel über die Bucht, gegen die Insel, aber auch gegen den grau werdenden Himmel, denn lange Wolkenbänke schoben sich vor, die das Licht der Sonne sehr bald schlucken würden. Für Drachenflieger kein gutes Wetter. Mich interessierten nicht die in der Bucht kreisenden Schiffe, ich suchte die heimtückischen Killer, aber es war Suko, der sie zuerst entdeckte. Sie flogen ziemlich dicht zusammen, fast senkrecht über uns und suchten die Gegend ab. Deckung fanden wir neben dem Scorpio. Mit gezogenen Waffen duckten wir uns dort zusammen und warteten ab.
Da war schon der erste. Nicht zu sehen, aber zu hören. Die Flügel voll gebläht, schoß er rauschend herab. Und erschoß dabei. Diesmal war es nicht der mit dem Gewehr, dieses hämmernde Tak-Tak konnte nur von einer Maschinenpistole stammen. Auf der Fahrbahn zeigten sich plötzlich Spritzer, wo der Belag durch die aufschlagenden Kugeln aufgerissen wurde. Die verdammten Garben wanderten von der linken Seite her näher. Sie würden sehr schnell unseren Wagen erreicht haben, und Suko war es diesmal, der feuerte. Mit geweihten Silbergeschossen gegen den Drachenflieger mit der MPi, der zwei Dinge gleichzeitig machen mußte: feuern und das nicht einfach zu handhabende Flugerät lenken. Dann erwischte es unseren Wagen. Wir hörten die Hinschlage, saher aber auch, daß der Schütze anfing zu schwanken und mit seinem Drachen nicht mehr zurechtkam. Der zweite Mann flog über ihm. Ein günstiger Wind trug ihn noch höher. So wie wir es sahen, würde er zunächst nicht mehr schießen. Der MPi-Schütze geriet aus der Bahn. Plötzlich fiel etwas Schwarzes aus der Höhe, landete mitten auf der Straße und wäre fast noch unter den Scorpio gerutscht. Es war die MPi. Im nächsten Augenblick hielt sich der Kerl nur mit einer Hand fest. Er mußte von Sukos Kugeln erwischt worden sein. Es hatte keinen Sinn, daß er versuchte, seinen Flieger zu lenken, er bekam ihn nichtmehrunter Kontrolle. Etwa zehn Yards über uns schwebend, packte ihn ein harter Windstoß, der ihn so abtrieb, daß er keine Chance mehr hatte. Er kippte nach rechts weg. Der zweite Flieger hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Von unten her quälte sich ein Bus die Serpentinenstraße hoch. Wir liefen an den Rand und bekamen mit, wie der Killer plötzlich in den Wald hineinrauschte. Er raste in die Bäume, beugte die Kronen, der Drache hing fest, er ebenfalls, bevor er abtauchte und unseren Blicken entschwand. In der Nähe schäumte ein Wasserfall aus einer hohen Felswand. Für uns sah es so aus, als wollte der Strom den Killer wegspülen. Suko hob die MPi auf und warf sie in den Wagen. »Das ist es dann wohl gewesen, Alter.« Ich schaute mir die Kugellöcher im Wagen an. Vier zählte ich. Kein Geschoß hatte den Tank erwischt, so daß auch kein Benzin auslaufen konnte. »Sie lassen aber auch nichts aus, verflucht!« Ich schlug auf das Wagendach. »Was haben wir ihnen getan?« »Nichts.« »Das glaubst du wohl selbst nicht.« Suko verschluckte die Antwort, weil er zunächst den Bus vorbei lassen wollte. Er sah so aus wie unsere Londoner Fahrzeuge. Kindergesichter
sahen wir hinter den Scheiben. Kleine Hände winkten uns zu, wir grüßten auch, und ich war nur froh, daß der Bus nicht drei Minuten zuvor diesen Platz erreicht hatte. Suko hatte den Arm angehoben. Er bewegte seinen ausgestreckten Zeigefinger wie ein Pendel. »Ich weiß nicht, wieso wir ihnen auf die Zehen getreten sind, John. Daß sie uns unter allen Umständen ins Jenseits schicken wollen, kann allein daran liegen, daß sie etwas Bestimmtes nicht wollen, wenn du verstehst.« »Drück dich mal deutlicher aus und nicht so geschwollen.« »Sie wollen ihre Geheimnisse bewahrt haben. Wir sollen bestimmte Dinge nicht wissen.« »Meinst du?« »Ja.« Ich nickte einige Male. So gesehen hatte Suko nicht unrecht. »Sie wollen dann auch nicht, daß du über das Schicksal deines Vaters aufgeklärt wirst.« »Stimmt.« »Das muß einen Grund haben. Hast du darüber schon nachgedacht? Wer war dein Vater? Was hat er getan?« Suko hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen. Das ist ein Kapitel in meinem Leben, über das ich überhaupt keinen Bescheid weiß. Ich stecke in einer Klemme.« »Holen wir uns die weißen Masken und den Mandarin.« Mein Freund lachte. »Wenn das mal so einfach wäre. Jedenfalls werden wir Tarn bei der Polizei abliefern, dann ins Hotel gehen. ..« »Was willst du da?« »Mich mal duschen und meine Beziehungen spielen lassen. Wir wissen noch nicht, wo wir den Knochensetzer finden können. Der steht bestimmt nicht im Telefonbuch.« »Das glaube ich auch.« Diesmal fuhr ich und ließ den Wagen auch auf die berühmte grünweiße Fähre rollen, die täglich Zehntausende von Pendlern zwischen Kow-loon und der Insel Hongkong hin- und herbefördert. Es war schon ein imposantes Bild, wie wir uns an die Insel heranschoben, die Fronten der Wolkenkratzer sahen und die massigen Reklamen, die bereits jetzt leuchteten und jeden Ankömmling darauf hinwiesen, was er in einer Stadt wie Hongkong zu erwarten hatte. Wir würden von Hongkong selbst kaum etwas zu sehen bekommen. Eigentlich schade. Wir standen an Deck, schauten gegen die näher kommende Insel, und ich riskierte einen Blick auf meinen Freund Suko. Dessen Gesicht war unbeweglich. Ich wußte jedoch, daß sich hinter der glatten Stirn eine gedankliche Hölle abspielte. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich nicht in seiner Haut stecken... ***
Die Kollegen waren bleich geworden, als wir ihnen Tam brachten. Er hatte zu ihren besten Männern gehört, darüber waren sich alle einig, und sie fluchten wild, als sie ihn zur Obduktion brachten. Wir hatten es mit einem englischen Superintendenten zu tun, der von Sir James bereits informiert worden war. Zudem kannten sich die beiden aus Londoner Clubzeiten. Der Mann hieß Neal Demison, besaß einen prächtig und schwungvoll gewachsenen Oberlippenbart und aschgraues Haar, das er gescheitelt trug und eben etwas typisch Britisches verkörperte. Über die Ränder der halben Lesebrille hinweg schaute er uns traurig an und schob die Unterlippe vor. »Es hat sich bereits bis zu uns herumgesprochen, wer Sie sind, Gentlemen, aber diesmal haben Sie sich einiges zuviel vorgenommen.« Er schüttelte den Kopf. »Schon jetzt kann ich nicht richtig begreifen, daß Sie noch am Leben sind.« »Wir haben eben Glück gehabt.« »Das Wort Glück hat hier in Hongkong eine besondere Bedeutung, über die ich nicht philosophieren will, aber können Sie sich vorstellen, daß es sich auch mal wandelt?« »Natürlich«, erwiderte ich. »Dann hoffen wir allerdings, den Fall gelöst zu haben.« Der Superintendent nickte. »Wie Sie wollen, meine Herren, aber ich möchte auf etwas anderes zu sprechen kommen. Tarn ist tot, er muß einen schrecklichen Tod gestorben sein. Sie können sich nicht vorstellen, wie er ums Leben kam oder wer ihn getötet hat?« »Jetzt ja. Es müssen die Drachenflieger gewesen sein. Sie haben ihn erwischt und aus großer Höhe fallen lassen.« Neäl Demison schüttelte sich. »Ein schrecklicher Tod«, flüsterte er, »ein wirklich. ..« Er hob die Schultern und räusperte sich, weil seine Stimme versagte. »Aber wir machen weiter.« »So schätze ich Sie beide ein. Ihr Ziel heißt der Mandarin, wenn ich mich nicht irre.« »So ist es.« »Was wissen Sie über ihn?« fragte Suko, der bisher stumm zugehört hatte. »Nicht viel oder alles.« Demison strich seinen polierten Schreibtisch. »Ich lebe über zwanzig Jahre in dieser Stadt und bin noch immer nicht mit ihr zurechtgekommen. All right, wir haben Erfolge erzielt, was die internationale Drogenszene angeht. Da konnten wir einiges gutmachen, aber mehr auch nicht. In die eigentlichen Geheimnisse dieser Stadt kommen wir nicht hinein. Die bleiben uns leider verborgen.« Fr lächelte. »So ist das nun mal.«
»Sie kennen den Mandarin oder haben zumindest von ihm und seiner Bande gehört?« »Selbstverständlich, Mr. Sinclair. Ich möchte diese Leute als Traditionalisten bezeichnen, Sie wollen das Alte bewahren oder es wieder zurückholen, wenn Sie verstehen. Sie sind diejenigen, die Dinge ins Leben holen wie Magie, wie Tanz, wie Gehorsam, wie Göt-zenkunde, was weiß ich nicht alles. Und ihre Theorien und Pläne fallen in einer Stadt wie Hongkong auf fruchtbaren Boden. Man kann auch sagen, gerade in einer Stadt wie Hongkong, wo die Technik, die Industrialisierung zu schnell vonstatten gegangen ist und alte Werte verdrängte. Verdrängte, nicht vernichtete. Es brauchte nur jemand zu kommen, der sich wieder daran erinnerte.« »Der Mandarin also.« »So ist es.« Er lehnte sich zurück, als Zeichen, daß er genug gesagt hatte, aber ich hakte nach. »Können Sie sich vorstellen oder haben Sie vielleicht einen Verdacht, wer sich hinter dieser Gestalt verbirgt? Der Mandarin, das ist ein Name, ein Synonym, tatsächlich aber muß er doch anders heißen, einen richtigen Namen haben.« Demison zog den Mund schief. »Das hat er bestimmt. Nur kann ich Ihnen den nicht sagen.« »Ist er alt, jung.. .?« Der Superintendent hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich bin überfragt.« »Sie haben nie nachgeforscht?« Demison seufzte wieder und beugte sich vor. »Mr. Sinclair, Sie übersehen noch immer nicht die Lage. Hier in Hongkong kann man nicht nachforschen. Man kann es versuchen, aber man wird sehr bald auf die lächelnde Wand treffen. Okay, Sie können Dealer jagen, das schaffen wir, da bekommen wir auch von den Einheimischen Hilfe, aber sobald es um das Eingemachte geht, stoßen wir gegen die Wand. Das alte China finden Sie überall, wenn auch äußerlich nicht sichtbar.« Er schaute Suko an. »Sie, Inspektor, stammen aus dieser Stadt. Haben Sie mit ihrem Kollegen darüber nicht gesprochen?« »Doch, das habe ich.« »Dann bewundere ich Ihren Mut, daß Sie es trotzdem versuchen wollen. Eines möchte ich klarstellen. Sollte es Ihnen tatsächlich gelingen, den Mandarin zu stellen, sind meine Männer und ich die letzten, die Sie nicht unterstützen würden. Wir würden alles daransetzen, um ihn aus seinem Versteck zu holen.« »Wir werden sehen«, sagte ich, während Suko seinen eigenen Gedanken nachging, aus dem Fenster schaute und das Häusermeer beobachtete, dessen Spitzen von der untergehenden Sonne allmählich vergoldet wurden.
»Ich habe noch etwas auf dem Herzen, Sir«, sagte ich. »Reden Sie.« »Wir suchen einen Mann.« Der Superintendent lachte. »Das ist gut, sorry. Sie suchen einen Mann hier in Hongkong.« »Natürlich.« »Es wird Ihnen kaum gelingen, ihn zu finden. Aber Sie kennen sicherlich seinen Namen.« »Cheng Wang.« Der Superintendent nickte und meinte dann: »Er ist nicht gerade selten. Was meinen Sie, wie viele Cheng Wangs es hier in dieser Stadt gibt? Da müssen Sie mir schon mit besseren Informationen dienen.« »Können wir. Er ist Knochensetzer.« Auf der Stirn des Kollegen erschienen Falten. »Knochensetzer«, murmelte er, »gibt es die immer noch?« »Es scheint so.« »Ich kenne Cheng Wang nicht. Aber«, er hob seinen Zeigefinger, bevor er zum Telefonhörer griff, »ich habe versprochen, Ihnen zu helfen, und werde alles versuchen. Auch wir sind nicht von gestern.« Der Superintendent wählte eine dreistellige Nummer und bekam auch den Partner an die Strippe, den er haben wollte. Er redete ihn mit James Wu und bat ihn, sich um das Problem Cheng Wang zu kümmern. Beim Auflegen sagte er: »Wenn ihn jemand finden kann, dann ist er es.« »Hoffentlich.« »Darf ich neugierig sein, Mr. Sinclair? Was wollen Sie von dem Knochensetzer? Sich die Schultern einrenken lassen?« »Das auf keinen Fall. Wir haben nur eine Spur. In London fanden wir bei einem Toten die Visitenkarte dieses Mannes. Es kann sein, daß er uns weiterhilft.« »Ich würde es uns allen wünschen.« Eine dunkelhaarige Person brachte Tee. Sie war keine Chinesin, lächelte und verschwand ebenso lautlos, wie sie gekommen war. Wir tranken und hörten Demison zu, der über Hongkong sprach und darauf wartete, wieder nach London zu können, wo er seine Pension verleben wollte. Dann erschien James Wu persönlich. Er war ein Mischling und trug einen weißen Kittel. Das Haar war zu einer Igelfrisur geschnitten. Er wirkte sehr wissenschaftlich, nickte uns zu und übergab seinem Chef einen Zettel. »Ich habe mir hier etwas notiert.« »Sind Sie fündig geworden?« »Ja, das kann ich sagen. Wir hatten diesen Cheng Wang einmal herbestellt, weil er uns bei einem komplizierten Fall behilflich sein sollte, mit dem unsere Gerichtsmediziner nicht zurechtkamen. Das liegt schon länger zurück, aber ich habe die Daten des Mannes gespeichert. Sie wissen ja, außergewöhnliche Personen werden. . .« »Schon gut, James. Wo finden wir ihn?«
»In einme Bezirk, der schon Romantik verspricht. Im alten Wan Chai.« Suko horchte auf, ihm war dieser Name ein Begriff, mir nicht. Deshalb fragte ich nach. Der Superintendent gab die Antwort. »Dort findet in Hongkong das Nachtleben statt. Es ist die Welt der Suzie Wong gewesen, früher die Heimat der Matrosen, heute regiert dort der Nepp, der sich vom Pauschaltourismus am Leben erhält. In der Nähe des Hafens gelegen, ist er eigentlich ein Muß für jeden Touristen.« »Und da sitzt unser Mann?« »Sicher.« Der Weißkittel nickte mir zu. »Und zwar innerhalb der Basare, die es dort auch gibt. Sie werden fragen müssen, man wird Ihnen antworten.« »Gut.« Demison nickte, bedankte sich und schaute zu, wie sich sein Mitarbeiter verbeugte, bevor er ging. Ich grinste. »Gute Arbeit, Sir.« Demison lächelte zurück. »Nun, wir sind es eben gewohnt, etwas zu leisten. Hongkong hat uns alle angesteckt, wenn Sie das meinen. Es ist etwas Besonderes.« »In der Tat. Sie sind sehr fix.« »Das müssen wir sein. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, um Ihnen zu helfen?« »Nein, danke, das reicht völlig aus.« Wenig später hatten wir uns verabschiedet, holten unser Gepäck und hielten nach einem Taxi Ausschau, das uns zu unserem Hotel, dem Hongkong Hilton, bringen sollte. Suko schwieg noch immer. »Was ist los mit dir?« fragte ich. Er strich über sein Haar. »John, ich habe ein Gefühl, das mir gar nicht gefällt.« »Was ist denn?« »Ich glaube, daß dieser Fall für einen von uns sehr übel ausgehen kann...« *** 760 Zimmer besaß das Hotel. Ein riesiger Kasten, der sich, wie viele andere Hotels in Hongkong auch, fast in die Wolken bohrte. Ich persönlich mag lieber die kleinen Hotels und nicht diese uniformierten Schlafburgen, in die Touristen aus den Staaten gekarrt wurden und froh waren, daß sie die gleichen uniformierten Zimmer bekamen wie in ihrem Land. Aber was will man machen? Scot-land Yard bezahlte, wir hatten uns also nicht zu beschweren. In der Halle hätte auch ein Flugzeug landen können, so gewaltig war sie. Um diese frühe Abendstunde herrschte reger Betrieb. Der Vergleich mit dem berühmten Ameisenhaufen kam mir in den Sinn. Hinter der
Rezeption hatten die Bediensteten alle Hände voll zu tun, um die Wünsche der Kunden zu befriedigen. Ich bewunderte die Angestellten, die trotz der Hektik freundlich blieben und auch uns lächelnd bedienten. Die Zimmer lagen in der achtzehnten Etage. Auf einen Pagen verzichteten wir, fuhren hoch und stellten fest, daß sich unsere Zimmer gegenüberlagen. Ich schaute auf die Uhr. »Wann treffen wir uns?« »In einer Stunde.« »Einverstanden.« Ich schlug Suko auf die Schultern. »Dann mach's mal gut, Alter, und sorg dafür, daß deine trüben Gedanken weggeblasen werden. Ist ja schlimm mit dir.« »Wenn das mal so einfach wäre«, sagte er, bevor er in seinem Zimmer verschwand. Dort legte Suko den Koffer auf die Ablage, trat ans Fenster und schaute hinab in das Gewimmel der Millionenstadt. Es war unwahrscheinlich, was sich dort alles durch die Straße schob. Das Hotel lag sehr zentral. Suko konnte auf den Hafen schauen und auch bis nach Kow-loon, wenn er den Kopf drehte. Irgendwo in dieser gewaltigen Stadt steckte sein Vater, hielt er sich verborgen, wobei Suko nicht wußte, ob er nun tut oder lebendig war. Jedenfalls würde er nicht eher abreisen, bis er ihn gefunden hatte. Er warf einen Blick auf das Gebläse der Klimaanlage und fand es einfach zu laut. Etwas ärgerlich runzelte er die Stirn, schaltete das Radio ein und hörte den Nachrichten zu, während er aus seiner Kleidung schlüpfte, um eine Dusche zu nehmen. Das Bad war ziemlich klein, der Duschkopf glotzte schräg aus der Wand, und Suko mußte sich in die Wanne stellen, um die Strahlen auf seinen Körper prasseln zu lassen. Acht Minuten später war er fertig und auch abgetrocknet. Dennoch verspürte er eine gewisse Müdigkeit. Seit der Ankunft in Hongkong hatten er und John keine Minute Ruhe gehabt, deshalb wollte er die Zeit nutzen und sich aufs Bett legen. Er zog sich an und schaltete nur die Nachtischleuchte ein. Die Vorhänge ließ er offen. Hinter der Scheibe glitzerte und leuchtete es in zahlreichen Farben. Die großen Reklamewände glichen schon kleinen Kunstwerken. Chinesische Musik drang aus den Lautsprechern. Suko hatte ihr früher oft gelauscht, jetzt kam sie ihm fremd vor, schläferte ihn allerdings ein. Er merkte sehr deutlich, wie die Müdigkeit durch seine Knochen kroch und auch das Gehirn erreichte. Wie eine Lähmung kam es ihm vor, und Suko wunderte sich darüber, daß sich etwas in seinem Schädel veränderte. Er glaubte, daß er wachsen würde, zugleich spürte er den Druck, der sich Minuten später zu einem leichten Schmerz steigerte.
Das war nicht normal. Selbst Suko, der sich in einem für ihn ungewöhnlichen Zustand befand, merkte dies. Er lag auf der Seite, drehte sich jedoch auf den Rücken, weil er in die Höhe schauen wollte. Etwas zwang ihn dazu, derartig zu reagieren. Unter der Decke befand sich ein dünnes Gitter, durch das die KlimaAnlage frische Luft blies. Wirklich frisch? Suko runzelte die Stirn, denn er sah genau, daß sich vor dem Gitter lange, dünne Fäden entlangzogen, als Wolken durch die Öffnung stießen und sich anschließend verteilten. War das normal? Suko überlegte. Dabei fiel ihm auf, daß er sich anstrengen mußte. Er zwinkerte mit den Augen, verfolgte die dampfigen oder wolkigen Nebelschleier und wußte plötzlich, daß man ihn reingelegt hatte. Gas! Ja, es war Gas, das durch die Klima-Anlage in sein Zimmer drang. Für Suko stand fest, daß der Arm des Mandarins auch bis in die Luxushotels reichte und man ihm in Hongkong nicht entkommen konnte. Das Gas besaß eine teuflische Wirkung. Es machte Suko nicht bewußtlos, aber es schläferte ihn ein, und es reduzierte vor allen Dingen seine Bewegungen auf ein Minimum. Er wurde träge, es fiel ihm sehr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn er etwas folgerichtig analysieren wollte, hatte er seine Mühe. Du mußt weg! Du mußt aufstehen und aus dieser verdammten Falle fliehen! Das hämmerte er sich ein, nur war es für ihn nicht einfach, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Das verdammte Gas schien durch seine gesamten Poren in den Körper gekrochen zu sein. Es hatte ihn regelrecht überschwemmt und ihn auch teilweise gelähmt. Er versuchte es trotzdem. Konzentration auf die Tat, versuchen, den Oberkörper anzuheben — und. . . Suko schaffte es nicht. Er konnte sich höchstens auf die Seite rollen, was ihn abermals große Ansiregungen kostete. Seltsamerweise blieb sein Gehör scharf, beinahe schon überempfindlich. Das Summen der Klimaanlage war für ihn zu einer Begleitmusik geworden, die plötzlich von einem anderen Geräusch übertönt wurde. Suko hörte genau, daß jemand dabei war, die Tür zu öffnen. Er merkte dieses leise Knarren und glaubte auch, einen Luftzug zu spüren, war sich aber nicht sicher. Vom schmalen Gang her fiel ein Schatten in den Raum. Er war brusthoch und viereckig. Ein kleiner Wagen, der auf lautlosen Gummirädern lief. Man sah ihn in jedem Hotel. Der Wagen besaß ein Gestänge, in das ein Sack für schmutzige Wäsche eingehängt werden konnte. Der Sack hier bestand aus besonders widerstandsfähigem
Material. Er konnte auch einen Menschen aufnehmen, ohne zu zerreißen. Zwei Gestalten schoben ihn. Männer, die aussahen wie Clowns, denn sie trugen Masken vor ihren Gesichtern, damit sie in der gasgeschwängerte Luft atmen konnten. Sie kamen näher. . . Unheimlich sahen sie aus, glichen Wesen aus einer fremden Welt, und Suko wußte, daß ihm so gut wie keine Chance blieb, ihnen zu entwischen. Dennoch wollte er sich nicht ergeben. Himmel, wie schwer war sein Arm! Welch eine Kraft kostete ihn das Anwinkeln, denn er wollte an seine Beretta gelangen. Die Hand lag auf seiner Brust. Als Suko sie in den Jackenausschnitt schieben wollte, war einer der Männer schneller. Er faßte Sukos Hand mit zwei Fingern an, hob sie hoch und legte sie kurzerhand zur Seite, als würde sie nicht mehr zum Körper gehören. Suko hatte es geschafft, sich zur Seite zu rollen, nach rechts, weg von den beiden. Zwei Hände griffen zu. Es bereitete ihnen keine Mühe, Suko wieder in die alte Lage zu bringen, dann rissen sie ihn hoch. Der Blick des Inspektors hatte längst an Glanz verloren, er besaß eine Stumpfheit, wie man sie bei Menschen kennt, die unter einem fremden Einfluß stehen. Dabei konnte Suko noch denken, hören, und er kam sich vor wie ein Stück Vieh, das man packt und abtransportiert. Sie hatten zu zweit zugegriffen und ihn hochgewuchtet. Jetzt drehten sie ihn, wobei Suko versuchte, seine Finger in das dunkle Haar eines seiner Entführer zu klammern. Er besaß nicht einmal die Kraft, die Finger zu krümmen, und hörte das Lachen der beiden Männer, die ihre Arbeit emsig, kalt und auch mit Überblick verrichteten. Sie hoben Suko an, stemmten ihn so hoch, daß sie ihn in den festen Sack hineindrücken konnten. Da fiel Suko zusammen wie eine Marionette, deren Fäden jemand zerschnitten hatte. Sie preßten noch ihre Hände auf seinen Kopf und die Schultern, um ihn in die Hocke zu zwingen. Wie ein hilfsloses Bündel sah er aus. Sein Kopf sackte nach vorn, das Kinn berührte beinahe die Brust. Die beiden Männer waren zufrieden. Einer schaute hoch zur Klimaanlage. Durch das dünne Gitter drangen keine Schwaden mehr. Das verfluchte Gas hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Der zweite schnürte den Sack zusammen. Er machte einen Doppelknoten, nickte seinem Kumpan zu, der auf den Gang ging, sich dort umschaute und ein Zeichen gab. Die Luft war rein.
Als wäre der Sack prall mit Wäsche gefüllt, so lässig fuhr ihn der Mann aus dem Zimmer. Er schloß sogar noch die Tür, bevor er den Wagen drehte und die Maske abnahm, was sein Kumpan schon getan hatte. Sie besaßen keine Schminke in den Gesichtern und sahen deshalb so aus wie lausende anderer Chinesen. Den Wagen fuhren sie dorthin, wo sich der große Transportlift befand. Ohne Schwierigkeiten schafften sie die Strecke und rollten wenig später an der Rückseite des Hotels über eine Rampe hinweg, an dessen Rand ein Wagen parkte, in dem ein dritter Mann saß. Er rangierte das Fahrzeug an eine Schräge heran. Die Hecktür des Transporters stand offen. Ohne Schwierigkeiten konnte das Fahrzeug in den Wagen geschoben werden. Knallend fielen die beiden Türhälften zu. Einer der Entführer blieb im Laderaum stehen, der andere nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Als das Fahrzeug startete, geriet es mit einer Seite in das Streulicht einer Lampe. Aufgemalt war der Name des Hotels. Niemand hätte irgendwie mißtrauisch werden können. Die Männer nickten zufrieden. Einer der beiden Schnüffler war ausgeschaltet, der andere würde auch noch in dieser Nacht daran glauben müssen. Nur sollte er sie nicht lebend überstehen... *** Ich stand da, fühlte mich verdammt mies, leicht schwindlig und schaute in ein leeres Zimmer, in dem ich eigentlich Suko zu finden gehofft hatte. Im Bad war er auch nicht, dort hatte ich schon nachgeschaut und nur mehr die Wasserspuren in der Dusche entdeckt. Ich ging durch das Zimmer wie jemand, der auf schwankenden Schiffsplanken einherschreitet. Das war nicht normal, auch der Geruch störte mich. Es war besser, wenn ich das Zimmer verließ. Im Gang blieb ich stehen. Wie in fast allen Großhotels war er ein langer Schlauch, vor dem manche Menschen Angst bekommen. Zu beiden Seiten zweigten die Zimmertüren ab, die Beleuchtung reichte gerade aus, um die Nummern auf den Türen erkennen zu können. Mehrere Chinesen kamen mir entgegen. Sie trugen Aktenkoffer und schmale Taschen. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, passierten sie mich und verteilten sich in den Zimmern. Ich hatte mich inzwischen erholt, ging noch einmal zurück in Sukos Zimmer und fand den Geruch nicht mehr so intensiv. Daß Suko nicht mal eben nur weggegangen war, lag auf der Hand. Für mich gab es nur eine Möglichkeit. Jemand war gekommen und hatte den
Inspektor auf eine verdammt raffinierte Art und Weise entführt. Das wiederum ließ bei mir die Galle hochsteigen. Plötzlich überkam mich ein unheimlicher Zorn auf die weißen Masken, die tatsächlich ihre Klauen nach der gesamten Stadt ausgestreckt hatten, alles unter Kontrolle hielten, so daß ihnen nichts verborgen blieb. Was gab es für Chancen für mich? Wenn ich ehrlich sein sollte, so gut wie keine. Wie ich meine Gegner einschätzte, waren sie raffiniert genug, alles locker durchzuziehen. Sie hatten gut geplant, vorgesorgt, ich würde keine Zeugen finden. Ich versuchte es trotzdem. Mit dem Lift rauschte ich hinab in die Halle, umschwängert vom süßen Parfümgeruch einer Amerikanerin, die sich >chic< gemacht hatte, weil sie mit ihrem Lover ausging. An der Rezeption zeigte man mir das freundliche Lächeln. Ich erkundigte mich, ob jemand eine Nachricht für micht hinterlassen hatte. Das Mädchen schaute nach, drehte sich wieder lächelnd um und hob dabei bedauernd die Schultern. »Nichts, Sir, tut mir leid.« »Mir auch, danke.« Mitten in der Halle blieb ich stehen, rauchte eine Zigarette, hörte dem Klavierspieler zu, ohne etwas von den Melodien mitzubekommen, in weiches Licht getaucht, das über die Ledersessel und den beigebraunen Teppich floß. Was sollte ich tun? Mich mit Superintendent Demi-son in Verbindung setzen? Das brachte nichts, der Mann würde mich bedauern oder auslachen. Was die weißen Masken in die Hand nehmen, das taten sie gründlich. Da waren sie perfekt. Suko und ich hatten vorgehabt, dem Knochensetzer einen Besuch abzustatten. Und diesen Plan wollte ich nicht fallenlassen. Falls es eine Chance gab, etwas über Suko zu erfahren, dann auf diese Art und Weise. Der Knochensetzer war in Hongkong ein ungewöhnlicher Mann, der einen noch ungewöhnlicheren Beruf ausübte. Möglicherweise kannte er sich aus, konnte ich von ihm mehr über die weißen Masken erfahren, wobei ich auch davon ausgehen mußte, daß er sich einem Europäer gegenüber sehr verschlossen zeigte. Hongkong — welch eine Stadt. Unter der Oberfläche brodelte sie, wobei sie ansonsten ein anderes, ein kaltes Gesicht zeigte, wie die Fassaden mancher Hotelbauten. Hongkong hatte es tatsächlich geschafft, verschiedene Gesellschaftsformen miteinander zu mischen. Taoismus, Buddhismus lebten heute hautnah mit messerscharfer Technologie und Geschäftssinn zusammen. Religion, Aberglaube und überlieferte Wissenschaften wie die des Knochensetzers sind zu einer ungewöhnlichen Mischung aus Zweckdenken und Schicksalergebenheit verflochten. Einem Touristen wird, wenn er in der Stadt nach billigen
Waren stöbert, davon kaum etwas auffallen, aber der Fremde kann davon ausgehen, daß die Türen und Eingänge der Geschäfte, die Anordnung von Theken, Farben, Materialien, Stühlen und Tischen nach den Regeln des feng-shuiersonnen wurden. Daran mußte ich denken, als ich vor der hellerleuchteten Fassade des Hotels stand und mir von einem uniformierten Portier ein Taxi heranwinken ließ, was etwas dauerte, denn vor mir enterten Männerhorden aus Europa gleich fünf Wagen. Schließlich hielt der sechste. Der Fahrer war schon älter, nickte mir freundlich zu und fragte nach dem Ziel. »Wan Chai«, sagte ich. »Oh.« Er lächelte verständnisvoll. »Wollen Sie in Hongkong eine tolle Nacht verbringen, Sir?« »Mal schauen.« »Nun ja, da könnte ich Ihnen behilflich sein. Offiziell gibt es bei uns keine Prostitution. Bei uns läuft es mehr hinter den Fassaden. Es gibt natürlich genügend Mädchen, die sie mitnehmen können, aber die wirkliche Klasse erleben Sie in den Clubs, deren Adressen sehr geheim und nur Eingeweihten bekannt sind.« »Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht.« »Was wollen Sie dann dort?« Er hielt vor einer Ampel. Ströme von Nachtschwärmern gingen über die Straße. »Ich wollte eigentlich mehr in die Basare.« »Ah — einkaufen?« »Auch.« »Da kenne ich bessere Läden. In den Basaren werden sie betrogen, glauben Sie mir.« »Vielleicht, ich suche nach einem bestimmten Laden, denn ich will keine Kamera zum Sonderpreis und auch keine Rolex-Imitation, weil ich eine echte trage.« »Sie sind wohl Fachmann?« »Mehr oder weniger.« Ich versuchte es geradeheraus. »Kennen Sie Cheng Wang, Mister?« »Wer soll das sein?« »Ein Knochensetzer.« Der Fahrer schwieg zunächst. Ich wurde das Gefühl nicht los, ins Schwarze getroffen zu haben, ein Glücksfall wahrscheinlich. Ein jüngerer Mann hätte mir da wohl nicht helfen können. Lichter huschten in einer wirbelnden Vielfalt und Farbenpracht zu beiden Seiten vorbei, daß sie mir schon sinnverwirrend vorkamen. Hongkong spie sein Angebot an Vergnügen auch äußerlich aus. Dazwischen schleichende, hupende Autos, Fußgänger, Gerüche, die aus Garküchen über die Fahrbahnen wehten und Appetit machten. Ich sah die Kochstellen unter Zeltdächern im grellen Licht der Leuchtstoffröhren und entdeckte auch elegante Restaurants auf dem Wasser, das ich hin und wieder wie einen dunklen Spiegel zwischen den
Lücken in den langen Baureihen entdeckte, auf dem sich zahlreiche Lichtreflexe ein schon künstlerisch anmutendes Stelldichein gaben. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, wandte ich mich an den Fahrer. »Das weiß ich.« »Na und?« Er hielt an, weil jemand mehrere Hunde über die Straße führte. Sie hingen an starken Leinen, bellten wütend und zerrten kräftig. »Die wissen Bescheid, daß sie geschlachtet und enthäutet werden«, sagte der Fahrer leise. »Das ist nichts für Europäer. Ihr mögt kein Hundefleisch. Überhaupt sollte der Fremde sich in Hongkong an die Dinge halten, die für ihn gemacht sind.« »Und nicht nach Knochensetzern fragen, wie?« Der Mann ließ den Wagen anrollen. »Wenn Sie es so sehen, muß ich Ihnen recht geben. Das Knochensetzen ist etwas Heiliges, man soll es nicht europäisieren.« »Das will ich auch nicht.« »Sind Sie Arzt, Sir?« »Nein.« »Ich will auch nicht unhöflich sen, aber ich frage mich...« »Sie brauchen sich nicht weiter etwas zu fragen. Ich will mit Cheng Wang über eine andere Sache reden, und die ist nicht negativ. Begreifen Sie das nicht?« Er mußte wieder stoppen und drehte sich zu mir um. Im Schein der Reklamebeleuchtung hatte sein Gesicht einen grünen Schimmer bekommen. So sahen Wasserleichen aus. »Nun?« fragte ich. Sehr bedächtig nickte er. »Ich kann in des Teufels Küche gelangen, aber ich tue es, Sir. Ich bringe Sie hin. Ihre Augen blicken nicht falsch. Ich lese darin, daß Sie einen triftigen Grund haben, Cheng Wang zu besuchen. Nur sagen Sie ihm bitte nicht, daß ich Sie hergebracht habe. Er würde es nicht gern hören.« »Schon vergessen — und danke.« Er fuhr wieder an. Bisher hatten wir uns auf einer Hauptstraße befunden. An der nächsten Kreuzung lenkte er den Wagen nach links. Dort führte der Weg auch zum Hafen. Davon sah ich nichts, denn ich befand mich wenig später mitten im Basar, wo für das Taxi kein Durchkommen mehr war. Wir fanden kaum einen Platz zum Halten. Zur Rechnung legte ich ein anständiges Trinkgeld, über das sich der Fahrer freute. Er schärfte mir noch einmal ein, den Mund zu halten, und wünschte mir den Segen aller Glücksgötter. »Ja, den werde ich brauchen können.« Dann schlug ich die Tür von außen zu und kam mir vor wie auf einer lärmenden Insel. Der Fahrer
hatte mir noch gesagt, daß Cheng Wangs Faden etwa hundert Yards weiter vorn auf der linken Seite liegen würde. Die Straße war ein Schlauch. Eingerahmt von den unterschiedlichsten Häusern und Bauten, ein wahnsinniger Wirrwarr von Fassaden, Türen, Eingängen, Durchlässen und Schlupflöchern, in dem sich ein Fremder unweigerlich verirren mußte. Und immer wieder dieses blitzende, grelle Licht, schreiend bunt, eingepackt in einem ewigen Singsang von Stimmen, Lachen, Schreien oder Musik, die ebenfalls aus vielen Läden schrillte, denn dort liefen die Bil-lig-Kassetten. Wer hier war, der kaufte ein. Es gab nur wenige, die nicht eine prallgefüllte Tüte oder Tasche bei sich trugen. Hier drängelte und schoben sich die Menschen in verschiedene Richtungen, überwölkt von Dampfschwaden, die aus zahlreichen kleinen Imbißbuden und Restaurants drangen. Zahlreiche Köche zauberten in ihren Woks, jenen typisch asiatischen Kochkesseln, die schmackhaftesten Gerichte. Zwar verspürte ich Hunger, ließ mir aber nicht die Zeit, etwas zu mir zu nehmen. Ich ging nur vorbei an den Krebsen, den Fischen, dem Fleisch, dem Gemüse, den Hühnern, Enten und Gänsen, die, schon gerupft, vor den Lokalen hingen und gleichzeitig Landeplätze für zahlreiche Fliegen waren, eine Tatsache, die es mir leichter machte, aufs Essen zu verzichten. In diesem Gedränge war sich jeder selbst der Nächste. Da fiel es zudem nicht auf, wenn einer den anderen verfolgte. Ich ging immer davon aus, beobachtet zu werden. Die weißen Masken hatten ihr Netz eben zu dicht gespannt. Etwas typisch Chinesisches entdeckte ich nicht, wenigstens nichts Altes. Hier zollte man den dollarschwangeren Touristen Tribut. Einige Male wurde ich angesprochen. Man wollte mich zu den tollsten Mädchen führen, man bot mir auch die Freuden des Himmels — sprich Opium — an, oder wollte mir die besten Anzüge der Welt auf den Leib schneidern. »Pure silk, Sir, reine Seide.. .« »Schon gut.« Ich schlenderte weiter. Hellwach, aufmerksam, fast immer auf dem Sprung stehend. Grell geschminkte Mädchen verkauften in schmalen, schlauchähnlichen Geschäften die Billigwaren der Unterhaltungsindustrie. Von der Filmkamera, den Taschenrechnern bis hin zu Kassetten, Recordern und TV-Apparaten war alles zu haben. Mich interessierten die Angebote nicht die Bohne, ich suchte einzig und allein den Laden von Cheng Wang. Es dauerte seine Zeit, wenn man fast hundert Yards in einer prallgefüllten Gasse wie dieser zurücklegen will. Dabei behielt ich die
linke Seite besonders im Auge und wunderte mich plötzlich, daß die Menschenströme weniger wurden. Der Grund war klar. Eis gab weniger Geschäfte. Läden, die nicht mehr den Kram verkauften, sondern andere Dinge. Vögel, Gewürze, Haustiere, Heuschrecken, frisch aus China importiert, und noch eine größere Garküche, die nach vorn hin offen war und wo mehrere Köche lächelnd mit ihren Woks hantierten. Die Gefäße standen auf Gaskochern, wurden von langen Flammenzungen knatternd umweht, während Huhn, Fisch oder Fleisch in das siedende Fett glitten. Der köstliche Rauch trieb auch mir das Wasser im Mund zusammen, und das einladende Lächeln der Köche trug dazu bei, daß ich fast umfiel. Dann dachte ich an Suko, an meinen Job und ging weiter. Auf der linken Seite, der großen Garküche schräg gegenüber und beinahe in der Dunkelheit versteckt, fand ich den Laden. Über der schmalen Eingangstür brannte eine einsame Lampe. Ihr Schein fiel gegen chinesische Schriftzeichen, die ich nicht entziffern konnte. Die Tür sah verschlossen aus, sie war sehr schmal, kaum breiter als das Schaufenster, hinter dessen Scheibe die gelblichen Knochen eines Skeletts sich deutlich vom samtschwarzen Hintergrund der Bespannung abhoben. Hatte Cheng Wang geschlossen? Ich hoffte es nicht, probierte die Klinke, mußte mich etwas gegen die Tür stemmen und hörte über mir ein leises Glockenspiel. Ich warf einen Blick nach oben. Im genau richtigen Winkel hingen durch kleine Glocken verzierte Knochen, die von der Türkante angestoßen und zum Klingen gebracht wurden. Sanft schloß ich die Für hinter mir. Der Laden war alt, dunkel und ein einziges Durcheinander. Als Fremder kam ich mir in dieser Enge verloren vor, denn erst im Hintergrund des Ladens brannte Licht. Der Schein mußte von Öllampen abgegeben werden. Nach meinem Geschmack strahlte das schwache Licht etwas Beruhigendes aus. Ich ging die ersten Schritte und hörte es unter meinen Sohlen knirschen. Es lag an den zahlreichen Kräutern, mit denen der Boden bedeckt war. Sie strömten einen sehr frischen Geruch aus, der mich irgendwie wieder mobil machte. Regale engten den schlauchartigen Weg noch mehr ein. In den Fächern standen Medizinflaschen der unterschiedlichsten Größen und der verschiedensten Inhalte. Auf einer schmalen Theke leuchteten in einem hellen Weiß dicke Mullbinden-Pakete. Ein Teil der Wand, sogar etwas zurückgebaut, bestand aus zahlreichen Holzschubladen. Es waren bestimmt über hundert tiefe Schubfächer wie
in einer alten Apotheke oder Eisen warenhandlung. Jede Schublade enthielt eine andere Mischung von Kräutern, deren Aroma durch die Ritzen drang und sich zu einer Duftnote vermischte, wie ich sie zuvor noch nie kennengelernt hatte. Die Schubladen waren in englischer und chinesischer Sprache beschriftet. Aus Interesse und Faszination begann ich zu lesen. Exotische Mittelchen wie Pilze, Seepferdchen, Hirschschwänze, Affenhaar, Seegras, Tang und sogar Teesorten. Langsam ging ich weiter. Wahrscheinlich war ich der einzige Kunde oder Patient in Cheng Wangs Laden. Der Chinese ließ sich nicht blicken. Aber er mußte da sein. Wahrscheinlich versteckte ersieh irgendwo in der liefe des schlauchartigen Raumes und wartete in aller Ruhe ab, was ich wohl unternehmen würde. Zunächst erreichte ich einen relativ großen, uralten Holzschreibtisch, versehen mit zahlreichen Fächern und Schubladen. Von einem Draht über dem Schreibtisch baumelten, an zahlreichen Wäscheklammern hängend, eine Anzahl großformatiger Röntgenbilder. Sie zeigten schwierige Fälle von Knochenbrüchen, die Cheng Wang behandelt hatte, das konnte selbst ich als Laie erkennen. Auf einem Informationsblatt las ich, daß der Mensch genau 206 Knochen besitzt und Cheng Wang sie alle kenne. Er machte für sich Reklame. Viel mehr konnte ich nicht sehen, denn weiter in der Tiefe des Ladens entdeckte ich weder Regale, Schränke noch Schubkästen, aber einen Vorhang, den ich schon fast vermißt hatte. Er war dunkel, das Öllicht erreichte ihn kaum, so daß er wie ein gefährlicher Schatten wirkte. Ich überlegte, ob ich auf ihn zugehen und ihn öffnen sollte, als er sich bewegte. Von der anderen Seite her wurde er zur Seite geschoben. Ich rechnete mit dem Erscheinen des Knochensetzers — und bekam vor Überraschung einen trockenen Mund, als ich sah, wer mir da entgegenkam. Eine junge Frau, die in diesem alten Laden wirkte wie ein heller Stern am finsteren Nachthimmel. »Guten Abend, Sir«, sagte sie... Ich war baff, von den Socken, und glaubte an eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, weil ich diese Person in einem Laden wie diesem einfach nicht erwartet hatte. Deshalb blieb ich auch stumm, schaute sie nur mehr an, und das lohnte sich wirklich. War sie Suzie Wong? Es hatte beinahe den Anschein, jedenfalls stand vor mir eine Eurasierin, die von beiden Elternteilen nur das Beste mitbekommen hatte. Das lackschwarze Haar hatte sie hochgesteckt. Es umgab den Kopf wie ein Kranz und rahmte ein Gesicht ein, dessen Haut die Weichheit von Aprikosen aufwies. Hinzu kamen die Mandelaugen, der wunderschön
geschwungene Mund, das kleine Kinn und die ebenfalls schmale Nase, die sich harmonisch in dieses Gesicht einfügte. Ich schätzte sie auf Anfang bis Mitte Zwanzig. Eine Frau, die keinen aggressiven oder ordinären Sex ausstrahlte, sondern eine wirklich weibliche Anmut, die auch die weit geschnittene Samthose nicht verbergen konnte. Darüber fiel der Saum einer langen hellen Bluse, die auf der vorderen Seite wunderschöne Stickereien zeigte. Aus dem runden Ausschnitt wuchs der schmale Hals. Er wurde von einer schlichten Perlenkette verziert, deren einzelne Stücke einen bläulichen Schim mer besaßen. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse entging mir nicht die Faszination ihrer Augen, die einen etwas spöttischen Ausdruck angenommen hatten. Wahrscheinlich amüsierte sie sich über meine Verblüffung. »Habe ich etwas an mir?« fragte sie plötzlich. »Nein, im Gegenteil, es ist alles in Ordnung.« Ich hob die Schultern. »Es ist nur so, eine Person, wie Sie es sind, hätte ich in diesem Laden nicht erwartet, und deshalb darf ich davon ausgehen, daß Sie nicht Cheng Wang sind.« »Das dürfen Sie.« »Mein Name ist übrigens John Sinclair. Ich komme aus London.« »Ein weiter Weg.« »An dessen Ende hoffentlich ein Erfolg steht.« »Ich wünsche es Ihnen. Ich heiße übrigens Suzie, wie eben Suzie Wong, an die Sie bestimmt dachten, als sie mich sahen. Man konnte es Ihnen direkt vom Gesicht ablesen.« »Stimmt.« »Aber ich habe mit der Suzie Wong nichts zu tun.« »Das habe ich auch nicht angenommen.« Mit der rechten Hand deutete ich einen Halbkreis an. »Ferner kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie ein weiblicher Knochensetzer sind, obwohl Hongkong ja viele Überraschungen bereithä11.« »Sie haben recht. Das bin ich nicht.« Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Cheng Wang ist ein Bekannter meines Vaters, die beiden sind sogar Freunde. Ich stamme nicht aus Hongkong und helfe dem Meister nur aus, sofern mir mein Studium Zeit läßt.« »Sie studieren?« »Geschichte des alten China, Sprachen und noch etwas Kunst. Sehr interessant übrigens.« »Das glaube ich. Aber mit dieser Arbeit, dem Knochensetzen, haben Sie nichts zu tun?« »Nein.« Mit war schon die ganze Zeit über aufgefallen, daß sie mich sehr genau, prüfend und abschätzend betrachtet hatte. Und zwar so, als wollte sie
etwas fragen, sich aber nicht traute, diese Frage zu stellen. Ich sprach Suzie direkt an. »Sie haben etwas auf dem Herzen?« »Das kann schon sein.« »Hat es mit mir zu tun?« »Nicht direkt. Sie kommen aus London, wie Sie sagten. Sie hätten sich mir gegenüber nicht vorzustellen brauchen, denn ich habe Bescheid gewußt, daß Sie hier eintreffen würden.« »Wieso?« »Feng. . .« Sie sprach den Namen zögernd aus und wartete auf meine Erwiderung. »Ich kenne ihn. Er trug eine Visitenkarte bei sich, als wir ihn durchsuchten.« Suzie begriff schnell. »Moment, soll das heißen, daß er es nicht mehr geschafft hat?« »Fast nicht mehr. Er konnte Suko einen Brief übergeben, bevor ihn ein Killer tötete.« Sie wurde bleich. Mit der rechten Hand umfaßte sie ihren Hals, und es sah so aus, als wollte sie sich die Perlenkette zerreißen. »Nein, nein«, flüsterte sie, »nicht Feng, bitte nicht. . .« Fengs Tod ging ihr nahe. Zuckend bewegten sich die Lippen, als würde sie etwas kauen. Auch zuckte sie mit den Wimpern, drehte sich zur Seite, wischte über die Augen und holte tief Luft. »Sie haben ihn gemocht?« »Nicht nur das, auch geliebt. Wir waren Freunde, Liebende, er studierte Mathematik, wir halfen hier gemeinsam aus, aber jetzt. . .« Sie hob die Schultern. »Der Mandarin ist eben zu mächtig«, sagte ich. »Sein verlängerter Arm reichte bis nach London, aber er hat sein Ziel nicht erreicht. Suko und ich sind trotzdem hierhergeflogen.« »Das wollte Cheng Wang auch.« »Oh, dann hat er es inszeniert?« Suzie nickte heftig. »Ja, er wußte von Ihnen und Suko. Er war der Meinung, daß nur Sie beide es schaffen können, die Macht des Mandarins zu brechen. Nur Sie beide.« Ich schüttelte den Kopf. »Das verstehe, wer will, ich nicht. Wieso kann er das sagen?« »Ich habe keine Ahnung. Er hat mich nicht in alle Geheimnisse eingeweiht, was ich auch gut finde. Manchmal ist es besser, wenn man nicht alles erfährt. Er hat sich allerdings besonders auf Suko verlassen. Ihr Freund war für ihn wichtig.« »Hing es vielleicht mit Sukos Vater zusammen?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sind allein gekommen. Wo befindet sich Ihr Fartner?«
»Das, meine liebe Suzie, hätte ich auch gern gewußt.« Ich erzählte ihr, was ich erlebt hatte, und sah, wie ihr Mund einen zornigen, fast haßerfüllten Zug bekam. »Ja, so machen sie es. Sie sind überall, sie werden ihn entführt haben.« »Ich will ihn herausholen!« Suzie starrte mich an, als hätte ich von ihr etwas Schlimmes verlangt. »Sie wollen tatsächlich.. .?« »Ja, ihn holen.« »Das schaffen Sie nicht. Nein, das ist unmöglich. Wen die weißen Masken einmal haben, den lassen sie lebend nicht frei. Glauben Sie das nur nicht; John.« »Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich frage mich nämlich, aus welch einem Grund man meinen Freund entführt hat. Wie ich die Bande bisher eingeschätzt habe, ist sie daran interessiert, möglichst viele Menschen umzubringen, die in ihre Nähe kommen und ihnen eventuell gefährlich werden könnten. Sie hätten Suko leicht töten können, sie haben es nicht getan. Ich frage mich nach dem Warum.« »Das weiß ich auch nicht. Ich kenne diese Bande nicht so genau, und auch ihre Ziele sind mir unbekannt.« »Wahrscheinlich wollen sie etwas von Suko«, sagte ich. »Sie brauchen ihn. Vielleicht hängt es mit seinem Vater zusammen. Ich kenne mich nicht aus, aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden.« »Sic würden allein stehen, John.« »Auch das ist mir klar.« »Stellen Sie sich das nicht so einfach vor. Nicht in einer Stadt wie Hongkong, die selbst vielen Chinesen noch fremd ist. Nein john, es ist unmöglich.« »Zum Feil gebe ich Ihnen recht, Suzie, aber ich möchte Sie darauf hinweisen, daß ich nicht grundlos hier erschienen bin. Cheng Wang ist nicht nur eine Spur, ich gehe davon aus, daß mir der Freund Ihres Vaters sehr wohl helfen kann.« »Möglich.« »Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber wäre es möglich, daß wir unsere Unterhaltung später fortsetzen und Sie mich zu Cheng Wang führen? Oder ist er nicht hier?« »In seiner Wohnung.« Ich deutete mit dem Zeigefinger gegen die Decke. »Dort?« »Ja.« »Wie wird er reagieren?« »Er hat Sie erwartet, und er wird über Fengs Tod sicherlich entsetzt sein. Aber damit haben wir rechnen müssen, so schlimm es sich anhört. Kommen Sie, John, ich gehe vor.« Sie drehte sich um und tauchte in die Düsternis des Vorhangs ein, dessen Falten sich schlangengleich bewegten, als Suzie ihn aufzog und fürmich eine Lücke schuf.
Ich blieb dicht hinter ihr und rechnete damit, in ein Büro zu gelangen. Ein Irrtum. Die Deckenleuchte erhellte einen Lagerraum, in dem ich noch zahlreiche Knochen sah, die numeriert worden waren. Der Geruch von Leim drang in meine Nase. In einer Ecke standen kunstvolle Knochengebilde, und die die Knochen verbindenden Hauptsehnen waren durch Nylonschnüre gekennzeichnet. Ein ungewöhnliches Lager, das ein anderer bestimmt mit einer Gänsehaut verlassen hätte, im Gegensatz zu Suzie und mir, die eine schmale Tür geöffnet hatte und sie mir offenhielt. Eine Wohnung befand sich nicht dahinter, dafür ein sehr schmaler Flur, der am Fuß einer steilen Treppe endete. Vor der ersten Stufe stand eine Lampe. Der breite Schirm streute das Licht und warf es auf die blanken Holzstufen. »Ich gehe vor, John.« »Bitte.« Es war nicht zu erkennen, ob die Treppe auf einem Absatz mündete. Die Stufen bewegten sich unter unserem Gewicht und gaben knarrende Laute ab. Einmal drehte sich Suzie um. Am Zucken ihrer Mundwinkel erkannte ich, daß sie mir zulächelte. »Es ist ein wenig unheimlich hier, aber man kann sich daran gewöhnen«, flüsterte sie. »Bestimmt.« Am Ende der Treppe wuchs eine dunkle Tür hoch, die nach irgendwelchen Gewürzen roch. Jedenfalls gab das Holz diesen Geruch ab. Es war still und kaum vorstellbar, daß nicht allzu weit entfernt Massen von Touristen durch die Straßen strömten. Doch hier hielt mich eine andere Welt gefangen, Hongkongs zweites Gesicht. Die Tür besaß keine Klinke, dafür einen Knauf, den Suzie umfaßte. Lautlos konnte sie das dunkle Rechteck nach innen drücken, und wenig später wunderte ich mich über die Größe des Flures, der sich vor mir auftat. Suzie sah es und gab eine Erklärung ab. »Oft genug sind die Häuser zur Straßenseite hin nur mehr schmale Fassaden. Das wahre Gesicht erscheint an der Rückseite, das ist typisch für unsere Mentalität.« Wieder glitt ein sphinxhaftes Lächeln über ihre Lippen, das sehr schnell erlosch, denn beide hatten wir einen dumpfen Laut vernommen, als wäre ein schwerer Gegenstand zu Boden gefallen. Suzie ging einen Schritt zurück, bis sie in den Bereich einer schmalen Tischleuchte geriet. Ihre Lippen zitterten plötzlich. Sic sah aus, als wäre sie von einer schlimmen Ahnung überfallen worden. »Was kann das gewesen sein?« fragte ich mit kaum hörbarer Stimme. »In seinen Räumen.« »Cheng Wang?« Sie nickte. »Ist er allein?«
Scharf atmete sie durch die Nase ein. »Er war es jedenfalls, als ich ihn verließ.« »Kann es sein, daß er Besuch bekommen hat?« »Weiß nicht.« »Gibt es einen zweiten Eingang? Bestimmt — oder?« »Ja — natürlich. Man kann vom Hof.. .« »Wo hält sich Cheng Wang zumeist auf?« Sie drehte sich nach rechts, nicht weit, streckte den Arm aus und wies auf eine dunkle Tür, die größte des Flurs. »Da hat er sein Büro, dort arbeitet er auch.« »Gut. Sie bleiben hier.« »Wieso? Ich. ..« Als sie vorging, umfaßte ich ihre Schulter und zog sie zurück. »Nein, Suzie.« »Glauben Sie denn.. .« »Was ich glaube, spielt keine Rolle. Nur soviel: Der Mandarin und seine weißen Masken können überall sein.« Ich holte bei den letzten Worten die Beretta hervor. Suzie versteifte. Ihr Gesicht glich einem geschnitzten Stück Holz. Es paßte ihr nicht, aber sie fügte sich und ließ mich allein auf die Tür zugehen. Normalerweise bin ich ein höflicher Mensch und klopfe an. Das sparte ich mir hier. Ich legte meine Hand auf den kühlen Knauf und drehte ihn vorsichtig herum. Die Tür war offen. Mit der selben Hand drückte ich sie nach innen. Schweiß perlte auf meiner Stirn. Die Warnung hatte mich urplötzlich erreicht und war wie ein Strahl. Aus dem Zimmer wehte mir ein staubiger, etwas muffiger Geruch entgegen. Die Dunkelheit lag über dem Raum, kroch in Ecken und Winkel hinein, als wollte sie das Grauen verbergen. Ich sah die Schatten der Regale, einen Schreibtisch, auch zwei niedrige Sitzkissen, dazwischen eine Bastmatte oder einen Teppich, und darauf lag die Gestalt. »Verkrümmt, die Arme etwas angezogen, beide Hände gegen den Magen gepreßt. Kein Atem wehte mir entgegen, dennoch wollte ich mich davon überzeugen, ob der Mann noch lebte. Links von ihm unterbrachen zwei schmale Fenster das Mauerwerk. Sie wirkten wie Gucklöcher und ließen nur mehr einen schmalen Lichtschein durch, der vom Hinterhof hereinfiel. Als ich mit schußbereiter Beretta den ersten Schritt vorging, raschelte hinter mir Stoff. Suzie war da. »Bleiben Sie zurück!« wisperte ich scharf. »Was ist mit Cheng?« »Ich weiß es noch nicht.« Sie drängte sich trotzdem vor, schaute an mir vorbei und sah das gleiche wie ich.
Kein Schrei drang über ihre Lippen. Diese junge Frau hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. Diesmal gehorchte sie und lehnte sich gegen den Türrahmen. Wo steckten diejenigen, die die Tat zu verantworten hatten? Erst als ich tiefer in den Raum hineingegangen war, fiel mir auf, daß die Fenster nicht geschlossen waren. Man hatte sie hochgeschoben und festgeklemmt. Ein idealer Fluchtweg. Mein Magen krampfte sich zusammen. Mein Herz pochte schneller, ich wollte zu den Fenstern, trat aber auf Cheng Wang zu und ging neben ihm mit einer steif wirkenden Bewegung in die Hocke, so daß ich den größten Teil des Raumes unter Kontrolle halten konnte. Aus der Nähe stellte ich fest, daß diesem Mann niemand mehr helfen konnte. Er war getötet worden, und ich dachte daran, daß der Mandarin und seine verfluchten weißen Masken jede Spur radikal auslöschten. Wunden waren kaum zu sehen, nur am Hals des Toten fielen mir die feuchten Flecke auf. Ich dachte daran, daß diese Bande mit den unterschiedlichsten Waffen arbeitete, meist mit solchen, die lautlos töteten. »Ist er. . .?« »Ja, Suzie, ihm kann keiner mehr helfen.« »O nein.« Ich hörte sie schluchzen und kam wieder hoch. In diesem Augenblick sah ich einen hellen Flek-ken genau dort, wo die Regale standen, hörte gleichzeitig hinter mir schnelle kurze Schritte, und Suzies schriller Schrei gellte durch den Raum. Zwei Masken waren da und hatten es geschafft, mich in eine tödliche Zange zu nehmen... *** In derartigen Augenblicken reagierte ich rein reflexhaft, ohne daß die Bewegungen bewußt vom Gehirn gesteuert wurden. Ich wuchtete mich flach nach hinten, prallte mit dem Rücken auf und sah die weiße Maske wie ein verzerrtes Clownsgesicht über mir. In der Hand hielt der Mann einen Gegenstand, der lang, dünn und vorn sehr spitz aus der geschlossenen Faust hervorragte: eine Killernadel! Um mein Leben zu retten, blieb mir nur eine Wahl. Der Zeigefinger krümmte sich automatisch, ein schnelles Zurückzucken, und das überlaute Echo des Schusses tobte in meinen Ohren. Ich bekam noch mit, wie der Killer zusammenzuckte und sein weißes Gesicht grimassenhaft verzerrt vor mir verschwand, dann rollte ich mich herum, schleuderte mich einige Male um die eigene Achse, gerade rechtzeitig genug, um dem mörderischen Stoß des zweiten Mannes zu entwischen.
Die Nadel zischte dicht an mir vorbei und rammte in die Holzdielen. Sie brach nicht ab, denn mit einer reflexhaften Bewegung zog der Killer seine Hand wieder hervor und stach nach mir. Ich drehte mich, feuerte nicht, denn ich wollte unbedingt einen Zeugen haben. Mit beiden Füßen griff ich an. Dabei wuchtete ich meinem Körper hoch, er bildete eine Brücke, und der Killer nahm seinen Kopf nicht so schnell zur Seite. Ich erwischte ihn am Hals, brachte ihn aus dem Konzept, aber er fing sich sehr schnell, denn seine Glieder zogen sich zusammen wie die einer Katze, die auf die Pfoten kommen wollte. So ähnlich sah es auch bei ihm aus. Der Kerl war flink, mit allen Wassern gewaschen, aber in mir steckte eine unheimliche Wut, die trotzdem nicht überschäumte, so daß ich cool reagieren konnte. Um Suzie kümmerte ich mich nicht. Ich wußte nicht einmal, ob sie noch zuschaute oder sich zurückgezogen hatte. Jetzt war der Chinese wichtig, und der kam. Er flog hoch, dann nach vorn, wollte Karate Kid spielen. Ich war flinker und schleuderte ihm einen Sessel entgegen. Den traf er, nicht mich. Es klatschte, als sein Fuß gegen das Leder hämmerte. Dadurch geriet er aus dem Konzept, was ich ausnutzte, denn über den zur Seite kippenden Sessel hinweg stieß ich meine Faust. Die traf sein Gesicht. Er taumelte durch das halbe Zimmer. Ein Regal stoppte ihn. Dort stand er und schüttelte den Kopf. Ich schlug wieder zu. Diesmal mit der Beretta, aber der Killer drehte den Kopf zur Seite, so daß ich gegen die strammen Buchrük-ken hämmerte. Wäre er nicht so benommen gewesen, er hätte mich bestimmt mit der verfluchten Nadel erwischt, weil ich zu unaufmerksam war. Doch so war er zu langsam, und ich konnte mich leicht zur Seite drehen. Er rammte den Kopf vor. Ich hob mein Knie an, verfehlte ihn, erwischte ihn aber mit einem Rundschlag. Die Linke hatte genau getroffen. Die Wucht schleuderte ihn auf die Für zu. Er trieb dorthin wie ein Blatt, das der Wind bewegte. Und an der Für tauchte Suzie auf. Was sie in der Hand hielt, erkannte ich nicht. Jedenfalls war es ein größerer und härterer Gegenstand, den sie zielsicher gegen den Kopf des Chinesen schlug. Sein taumelnder Gang fand ein abruptes Ende. Suzie mußte zur Seite springen, sonst wäre er noch gegen ihre Beine gefallen. So rollte er sich förmlich vor ihr zusammen, bevor er still liegenblieb und Suzie tief durchatmete.
Mit zitternden Knien ging sie mir entgegen und sah mein Nicken. In der Hand hielt sie eine Metallvase, die konnte auch bei einem Volltreffer nicht zerbrechen. »Danke«, sagte ich. Suzie nickte nur. »Flaben Sie jetzt erlebt, wie grausam und gefährlich die Leute sind?« »Leider.« »Wir. .. wir hatten Glück, aber er nicht.« Ihre Stimme sackte allmählich ab. Dann ging sie neben der Leiche in die Knie. Ich hörte sie weinen, während ich mich um die weiße Maske kümmerte. Der Mann war bewußtlos. Die Schminke auf seinem Gesicht besaß nicht mehr die Festigkeit. An einigen Stellen war sie zerlaufen und bildete einen schmierigen Film. Vom Flur her fiel noch genügend Restlicht in den Raum, um die Beule an der Stirn sehen zu können. Sie wuchs wie ein kleiner Hügel an. Bestimmt hatte er noch einige Tage unter den Schmerzen zu leiden. Ich drehte ihm die Waffe aus der Hand. Sie war ein hinterhältiges Instrument, widerlich und gemein. Die Waffe besaß die Stärke einer Stricknadel, war aber wesentlich härter. Dieses Einrammen in den Boden hatte es mir bewiesen. Als Griff diente, ähnlich wie bei einem Schraubenzieher, ein Gebilde aus Kunststoff, in das einige Fingermulden eingearbeitet waren. Im Schein meiner Lampe untersuchte ich die Spitze nach irgendwelchen Resten. Ich dachte dabei an Gift, konnte aber keine Verfärbung erkennen und ebenfalls keine winzigen Kristalle. Als ich mich aufrichtete, wischte Suzie sich die Tränen aus den Augen. Ich ließ sie in Ruhe und kümmerte mich um den Mann, der von meiner Kugel erwischt worden war. Er war von dem geweihten Silber nicht tödlich getroffen worden, dennoch zeigte mir sein gebrochener Blick, daß kein Leben mehr in ihm steckte. Der Grund war simpel. Dieser Mann hatte sich selbst umgebracht, und zwar mit der verdammten Nadel. Sie steckte an einer tödlichen Stelle in seinem Körper. Suzie hatte die Tür eines sideboardartigen Schranks geöffnet, schaltete zwei Lampen an, holte aus dem Sideboard eine Flasche und dazu zwei kunstvoll geblasene Gläser. »Möchten Sie auch einen Schluck, John?« »Was ist es?« »Ein Kräuterelixier. Es tut dem Magen gut und enthält keinen Tropfen Alkohol.« »Dann ja.« Sie schenkte ein. Ich nahm ein Glas entgegen, trank, spürte Bitterkeit und Wohlbefinden in einem. lief atmete ich durch, als ich das Glas wegstellte. »Nun?«
»Nicht schlecht«, lobte ich und lächelte. »Aber weiter sind wir noch nicht gekommen.« »Leider.« »Vielleicht haben wir eine Chance, wenn der Bewußtlose erwacht. Ich werde ihn sicherheitshalber fesseln. Dazu reicht ein Handschellenpaar auch.« Suzie dämpfte meine Hoffnungen. »Ich glaube nicht, daß er nur ein Wort sagen wird. Sie haben selbst erlebt, wie die Leute reagieren, wenn sie verloren haben. Sie bringen sich um, einfach so.« Sie hob die Schultern. »Denen ist ihr Leben überhaupt nichts wert.« »Also Harakiri.« »So ähnlich.« »Dann ist die Macht des Mandarins über die Menschen mehr als groß«, murmelte ich. »Das war auch Cheng Wang bekannt.« Suzie stand hinter dem Schreibtisch, ich davor. Wir schauten uns an, und sie hörte meine Frage. »Cheng Wang scheint mir ein besonderer Mensch gewesen zu sein. Einer, der sehr viel wußte.« Sie nickte. »Man kann sein Wissen kaum in Worte kleiden. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem er nicht firm war, wenn Sie verstehen, John. Er war Mystiker und Wissenschaftler, er war ein Mann, der die Geschichte des alten China ebenso studiert hat wie die Medizin. Hongkong hat durch seinen Tod einen immensen Verlust erlitten.« »Was wußte er von dem Mandarin?« Suzie hob die Schultern. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, John. Er hat darüber nie mit mir gesprochen.« »Haben Sie gefragt?« »Nie.« »Dann stehen wir abermals vor dem Nichts, und Suko bleibt verschwunden.« Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Damit hätte ich nicht gerechnet. Es gibt noch eine Chance.« »Nicht der Bewußtlose.« »Ich denke an die Polizei.« Suzie lachte mich aus. »Nein, John, nein, die Polizei wird Ihnen nicht helfen können. Die Polizisten sind und bleiben Fremde in dieser Stadt, da können sie noch hundert Jahre hier die Stellung halten. Es wird sich nichts ändern. Zudem gibt es in Hongkong unzählige Verstecke, der Mandarin hat Vertraute, die sich eherdie Zunge abbeißen, als über ihn zu reden, aber. . .« Suzie sprach nicht mehr weiter, denn ihr war etwas aufgefallen. Der Schreibtisch sah aufgeräumt aus, aber unter dem Telefon schaute etwas hervor, ein heller Zipfel, der eine dreieckige Form aufwies. Der Apparat stand auf einer schmalen Unterlage, die verrutscht war, deshalb war der Gegenstand erst jetzt zum Vorschein gekommen, den Suzie mit spitzen Fingern an sich nahm. »Was ist es?«
»Ein Brief«, flüsterte sie. »An wen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht an mich, sondern an Suko und auch an Sie, John.« »Oh.« Ich nahm den Brief entgegen. Die Nachricht steckte in einem hellen Umschlag aus Büttenpapier, den ich aufriß. Ich holte die zwei Seiten lange Nachricht hervor. In der Stille hörte sich das Knistern sehr laut an, als ich den Brief auseinanderfaltete. Suzie kam zu mir, sie wollte mitlesen, was bei dieser Helligkeit gut möglich war. »Der ist lang«, sagte sie, »und sehr eng geschrieben.« Da hatte sie recht. Ich mußte mir große Mühe geben, die einzelnen Worte zu entziffern. Ich las leise, obwohl sich meine Lippen bewegten, und ich war, das mußte ich zugeben, fasziniert von dem Geschriebenen. Cheng Wang hatte eine Botschaft hinterlassen, die einen gewissen Sprengstoff beinhaltete. Vieles sah ich plötzlich klarer, und ein Großteil der Lösung stand vor meinem geistigen Auge. Auch Suzie dachte wie ich. Nur schüttelte sie ab und zu den Kopf. Sie war völlig perplex, holte zwischendurch Luft und sagte immer wieder: »Das kann doch nicht wahr sein, das ist ja. . .« »Interessant, nicht?« »Und wie!« hauchte sie. Ich faltete den Brief zusammen, zündete mir eine Zigarette an und trank noch ein Glas von diesem Kräutergebräu. Dabei ließ ich mich in einen Sessel fallen. »Geschockt?« fragte Suzie. »Nicht direkt, aber diese Zusammenhänge hätte ich eigentlich ahnen können.« »Ich auch.« Den Inhalt des Briefes möchte ich hier nicht wiedergeben, sondern eine Zusammenfassung. Cheng Wang und der geheimnisvolle Mandarin hatte tatsächlich eng zusammengearbeitet, denn der Mandarin konnte nur durch Chengs Hilfe existieren. Dieser Mann hatte es geschafft, den Mandarin zusammenzuflicken. Er war irgendwo gestürzt, man hatte ihn halbtot und mit gebrochenen Knochen aus der Schlucht geholt und zu Cheng Wang geschafft, durch dessen Kunst der Mandarin so weit genesen war, daß er sich wieder bewegen und auch laufen konnte. Später allerdings, als Cheng Wang mehr über die Pläne des Mandarins erfuhr und auch dessen Taten sah, hatte er sich Vorwürfe gemacht. Tage und Wochen voller Qualen waren vergangen, er hatte überlegt geforscht und war schließlich zu dem Entschluß gekommen, daß er die Macht und den Einfluß dieser Person stoppen mußte. Er selbst besaß nicht die Kraft, überhaupt würde er in Hongkong niemanden finden, der
eine derartige Aufgabe übernahm, und so war er auf die Idee gekommen, Suko und mich nach Hongkong zu holen, weil er über uns bereits einiges gehört hatte. Auf irgendeine Art und Weise hatten die weißen Masken Wind von dem Plan bekommen, waren ebenfalls nach London gereist — vielmehr einer von ihnen — und hatten zugeschlagen. Die Visitenkarte in der lasche des toten Feng hatte uns letztendlich auf die richtige Spur gebracht. Ich ließ den Brief sinken und hörte den geflüsterten Protest der jungen Frau. »Haben Sie auch alles gelesen?« »Sicher.« »Und den letzten Teil?« Suzie fragte es mit zitternder Stimme. »Er ist doch wichtig.« Ich nickte. Wie recht sie hatte, denn Cheng Wang wußte mehr. Ihm war bekannt, wo sich der Mandarin aufhielt. Sein Hauptquartier besaß keinen festen Standort, weil er sich eine Dschunke ausgesucht hatte, auf der er ständig über das Meer kreiste. Eine alte Dschunke, die den Namen >Stern von Hongkong< trug. »Kennen Sie das Schiff?« fragte ich Suzie. »Nein.« »Wir müssen es finden.« Ihr Nicken zeigte Entschlossenheit. »Das werden wir auch, John, keine Sorge.« Sie ging zum Telefon, überlegte einen Moment und rief jemand an. Was sie mit dem Mann redete, konnte ich nicht verstehen, denn sie sprach den hier üblichen Kanton-Dialekt. Ich beobachtete nur ihr Gesicht und las darauf die Zufriedenheit ab. »Positiv?« Suzie lächelte. »Und wie. ich habe einen Studienkollegen angerufen, der Dschunkenforschung betreibt. So etwas gibt es auch bei uns, und er wußte Bescheid.« Ich bekam große Augen. »Fleißt das, wir wissen, wo sich die Dschunke befindet?« »Zumindest, wo sie kreuzt. Und ich kenne in der Nähe eine Bucht, die ziemlich versteckt liegt. Sie ist eigentlich ein idealer Platz. Auch meinem Kollegen war die Bucht bekannt. Vor langer Zeit galt sie als Paradies für Opiumschmuggler, jetzt eignet sie sich als ein ideales Versteck. Nur, was machen wir mit ihm?« Ich schaute auf den Bewußtlösen. »Den Mann überlassen wir der Polizei. Superintendent Demison wird sich freuen.« »Kennen Sie den auch?« Ich lächelte. »Das blieb nicht aus.« »Wir hatten auch mal mit ihm zu tun. Ich meine, Cheng Wang. Manchmal nahm die Polizei seinen Rat in Anspruch.«
Die Nummer suchte mir Suzie heraus. Ich hoffte, Demison noch im Büro zu finden, erwischte ihn nicht, bekam aber die Nummer, unter derer zu erreichen war. Gern störte ich ihn nicht, denn ich hörte im Hintergrund den typischen Partylärm. »Ach, Sinclair, sagen Sie nur, Sie haben eine Spur entdeckt. Sagen Sie nur.« »Ja, Sir, ich kann Ihnen eine weiße Maske abliefern.« »Wie?« »Sie können den Diener des Mandarins bei Cheng Wang abholen. Leider auch zwei Tote. ..« »Der Knochensetzer?« »Ja, und eine weitere weiße Maske, die Selbstmord verübte.« »Mann, Sinclair, das ist ein Hammer. Sind Sie noch da?« »Ich rufe von Cheng Wang aus an. Wenn Sie hier erscheinen, werde ich nicht mehr anwesend sein. Die Spur ist heiß, ich will sie nicht erkalten lassen.« Er schrie plötzlich. »Hören Sie, Sinclair, machen Sie keinen Unsinn. Sie kommen allein nie gegen. . .« »Ich muß es allein machen. Wir hören voneinander.« Bevorersich noch starker aufregen konnte,hatte ich die Verbindung unterbrochen und drehte mich Suzie zu, die wieder blaß geworden war. »Wollen Sie tatsächlich allein gegen die weißen Masken angehen, John?« »Ich will die Dschunke entern. Gern tue ich es nicht, aber ich möchte Sie fragen, ob Sie mir dabei behilflich sein könnten. Ich brauche ein Motorboot und . ..« »Kein Problem.« »Kommen Sie mit?« »Und ob«, erwiderte sie hart. »Wenn ich Cheng Wang je etwas schuldig war, will ich es jetzt abarbeiten.« An der Tür hielt ich sie fest. »Damit wir uns richtig verstehen, Suzie, Sie bringen mich bis an die Dschunke heran, falls dies möglich ist. Dann drehen Sie um und verständigen Superintendent Demison. Klar?« Sie überlegte, bevor sie nickte. Überzeugt, daß sie Wort halten würde, war ich allerdings nicht. . . Suko fühlte sich wie ein Tier, das in einen Käfig gesperrt worden war. Sein Gaumen war dermaßen dick angeschwollen, daß er kaum Luft bekam. Er war erwacht, schaffte es aber nicht, herauszufinden, wo er sich befand. Er schwankte von einer Seite zur anderen und spürte den Magen, der in Intervallen immer wieder in Richtung Kehle zu steigen schien. Allerdings mußte er sich nicht übergeben.
Die Schwäche war so heftig , daß vor seinen Augen alles verschwamm Lind die Schatten einer erneuten Bewußtlosigkeit ihn überfielen. Beim zweitenmal erwachte er durch einen Schmerz, der den Körper malträtierte. Jemand hatte ihn kurzerhand zu Boden geworfen. Über ihm tat sich etwas, er hörte flüsternde Stimmen, dann öffnete sich sein Gefängnis. Zwei starke Hände packten ihn und zerrten ihn aus tiem Sack hervor. Mit den Absätzen schleifte er über einen rauhen Boden, nahm fremde Gerüche wahr und merkte auch, daß der Boden unter ihm leicht schwankte. Das konnte nur einen Grund haben. Er befand sich auf einem Schiff, von denen es Tausende rund um Hongkong und Kowloon gab. Wer ihn hier finden wollte, mußte schon übersinnliche Fähigkeiten besitzen. Sehen konnte Suko nichts. Er lag in einer absoluten Finsternis, er roch seine Gegner nur und spürte auch die flinken Finger auf seinem Körper, die ihn abtasteten. Sie durchsuchten ihn noch einmal gründlich, fanden aber nichts mehr. Die Beretta und seine Dämonenpeitsche waren ihm sowieso schon abhanden gekommen. Wieder flüsterten sie, lachten kehlig, dann hörte Suko ihre Schritte leiser werden. Irgendwo schlug eine Tür, und Suko blieb allein in der Finsternis des Schiffsbauchs zurück. Er mußte noch immer davon ausgehen, daß ersieh im Bauch eines Schiffes befand, sehen konnte er nichts. Allein die typischen Bewegungen wiesen darauf hin. Das Schiff fuhr nicht. Es dümpelte auf den Wellen, und Suko versuchte, in die Finsternis hineinzuhorchen. Er nahm alles auf, was er konnte, die feuchten, fremden Gerüche, das Aroma, das vom alten Holz abgegeben wurde, einfach alles. Und er spürte, daß es ihm wieder besser ging. Zwar war noch eine Restübelkeit vorhanden, ansonsten hatte Suko den Gasangriff gut überstanden. Er tastete sich selbst noch einmal ab. Sogar das Taschemesser war ihm abgenommen worden, allerdings hatte man ihm eine Waffe gelassen. Es war der Stab! Der große Religionsstifter Buddha hatte ihn einst besessen. In einem tibetanischen Kloster war Suko dieser Stab übergeben worden. Durch seine Hilfe konnte er, wenn er dabei ein bestimmtes Wort rief, die Zeit für fünf Sekunden anhalten. Dann erstarrte in seiner Rufweite jegliche Bewegung. Nur der Stabträger konnte so handeln wie immer, allerdings durfte er keinen Gegner dabei töten, dann wäre die Wirkung des Stabs aufgehoben worden. Weshalb hatte man ihm diese Waffe gelassen? Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß die Männer sie bei der Durchsuchung übersehen hatten, sogar das Taschenmesser war ihnen in die Hände gefallen.
Warum nicht der Stab, der aussah wie ein Stück braungrünes Hartgummi und halb so lang wie ein Gummiknüppel war? Oder hatten sie sich nicht getraut, den Stab zu berühren? Das war auch möglich. Vielleicht war ihnen bekannt, was dieser Stab für eine Wirkung besaß, oder sie hatten es instinktiv gespürt. Suko war es egal, er freute sich darüber, daß er ihn noch bei sich trug. Sicherlich würde er ihm helfen können, zu überleben. Dabei überlegte er auch, was sie von ihm wollten. Sie hätten ihn schon längst töten können, aber nein, sie schleppten ihn fort und brachten ihn auf irgendein Schiff. Als Suko mit seinen Gedanken so weit gekommen war, spürte er einen Ruck und hörte gleichzeitig ein Grummein, Rumoren und ein leichtes Donnern, das sich durch den gesamten Schiffsrumpf fortsetzte und in seinen Ohren widerhallte. Das Schiff fuhr. . . Suko lag noch immer auf dem Rücken. Er merkte jetzt, wie es sich durch die Dünung kämpfte oder gegen querlaufende Wellen anlief, deren Klatschen gegen die Bordwand selbst an Sukos Ohren drang. Hongkong ist von Wasser umgeben. Suko konnte sich aussuchen, in welch eine Richtung sie schipperten. Er versuchte, es sich vorzustellen, es war ohne einen Orientierungspunkt nicht möglich. Auch ärgerte ihn, daß ihm die kleine Lampe entwendet worden war. Die hätte er jetzt gut gebrauchen können. So lag er nach wie vor in der Dunkelheit und versuchte, die Schwankungen des Schiffes durch Bewegungen des Körpers auszugleichen, was ihm nicht immer gelang. Sein Magen begann wieder energische zu protestieren. Die Reise wurde für ihn zu einer regelrechten Tortur. Immer wieder trieben Wellen seinen Magen in die Flöhe, der kalte Schweiß war ihm längst ausgebrochen, in der Finsternis ging auch das Zeitgefühl verloren, irgendwann mußte er sich übergeben und konnte dann wiederum nur hoffen, daß die Reise bald ein Ende hatte. Das war der Fall, doch Suko bekam kaum mit, wie das Schiff anlegte. Er war zu fertig. Zusammengekrümmt lag er nahe der Bordwand, atmete stöhnend und hatte mit der Übelkeit zu kämpfen, die allerdings nicht mehr aufs Neue auf die Probe gestellt wurde, denn sein schwimmendes Gefängnis blieb liegen und bewegte sich nur mehr schwerfällig auf den Wellen. Er glaubte auch, Stimmen zu hören. Wenn es keine Täuschung war, dann waren sie über ihm an Deck aufgeklungen. Suko ging davon aus, daß seine Entführer das Ziel ihrer Reise erreicht hatten. Dann würden sie bald bei ihm erscheinen, um ihre Forderungen zu stellen oder Taten lolgen zu lassen, was für Suko durchaus den Tod bedeuten konnte.
Er dachte an den Mandarin. Diese geheimnisvolle Figur im Hintergrund hielt sämtliche laden in der Hand. Suko fragte sich, was der Mandarin von ihm wollte. Informationen vielleicht? Was konnte ein Mann, der aus London kam, schon Wissenswertes sagen? Suko kam zu keinem Ergebnis. Ein Achselzucken, mehr nicht. Seine Gedanken irrten von diesem Problem ab und konzentrierten sich auf ein anderes. Suko beschäftigte sich mit seinem Valer und dem von ihm geschriebenen Brief. Seltsamerweise hatte man ihm das Schreiben nicht abgenommen. Es steckte in seiner Innentasche und knisterte, wenn er sich bewegte. Natürlich überlegte Suko, aus welch einem Grund man ihm die Nachricht gelassen hatte. Bestimmt nicht, weil seine Gegner nicht lesen konnten. Da mußte es irgendeine Verbindung zwischen ihm, dem Schreiben und seinem Vater geben. Es war für ihn der einzige Grund seiner Gefangenschaft hier. Sein Vater! Suko lachte auf, als er über ihn nachgrübelte. Nicht einmal den Namen seiner Eltern hatte er gekannt. Anders verhielt es sich mit einem Ahnherrn, der vor einigen hundert Jahren gelebt hatte und ein dämonischer Mandarin gewesen war. Suko erinnerte sich noch an den Namen. La-Kau hatte er geheißen. La-Kau war ein grausamer Tyrann gewesen und hatte damals viel Schrecken verbreitet. In Rotchina war es Suko und seinem Freund John gelungen, La-Kau zu vernichten, demnach konnte er auch nicht hinter dem Fall stecken.* Mandarine hatten in Chinas Geschichte schon immer eine große Rolle gespielt. Männer, die es nicht gewohnt waren, Macht zu teilen, und oftmals die Kaisertreue nur spielten, ansonsten aber ihr eigenes Süppchen kochten. Dieser Mandarin hier in Hongkong hatte mit den anderen nichts zu tun. Er war dabei, ein neues Imperium aufzubauen, oder hatte es bereits aufgebaut. Körperlich war Suko nicht so fit wie geistig, doch er spürte, daß dieses verfluchte Würgegefühl nachgelassen hatte. Jetzt noch frische Luft, und es würde ihm blendend gehen. Das blieb leider ein Wunschtraum. Nach wie vor war er gezwungen, die modrige, alte, verbrauchte Luft einzuatmen, was er als widerlich empfand. Die Stimmen blieben, vermischten sich hoch über ihm mit dumpfen Trittgeräuschen. Suko wollte zwar nicht an eine Hektik glauben, aber es hatte sich an Deck etwas verändert. Irgendwelche Leute waren dabei, bestimmte Vorbereitungen zu treffen.
* Siehe Sinclair-Taschenbuch 73041: »Die Grabräuber«
Dann hörte Suko das Klopfen. Eine Tür konnte er nicht sehen, er hatte nur die Richtung, aus der das Geräusch kam, festgestellt. Danach vernahm er das leise Knarren, als jemand eine Tür oder ein Schott aufzog. Graues Schattenlicht strömte in sein Verlies. Auf der Schwelle zeichnete sich eine mächtige Gestalt ab, die Suko an ein wahres Monster erinnerte, das sich nun bückte, etwas zu Boden stellte, ein Zündholz anrieb, mit der Flamme den Docht einer dicken Kerze anzündete, die auf einer ovalen Metallschale stand. Das Licht der Kerze schuf eine helle Insel, die vor allen Dingen den Ankömmling erreichte, so daß Suko ihn jetzt besser erkennen konnte und sich eingestehen mußte, daß dieser Mann zu den stärksten gehörte, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Er trug schwarze Seidenkleidung, die einen malten Glanz abgab. Sie war sehr weit geschnitten, dennoch wußte Suko, daß sich darunter ein mächtiger Körper verbarg. Fett, Muskeln, Fleisch und Kraft waren dort eine Verbindung eingegangen. Auf dem Kopf saß eine dunkle Kappe, die das Haar des Mannes verbarg und dafür sorgte, daß sein hellweiß geschminktes Gesicht mit den nachgezogenen Augenbrauen und den scharf konturierten Lippen noch deutlicher hervortrat. Eine weiße Maske! Ohne daß Suko ihn gefragt hätte, wußte er sofort, daß dieser Mann in der Hirarchie der Mandarin-Diener etwas ganz Besonderes darstellte. Allein sein Äußeres wies darauf hin, und auch die Bewegungen, die kaum zu ihm paßten, weil sie so geführt waren, als müßte er seine eigentliche Kraft unterdrücken. Er ging schwer, stampfte dabei nicht auf, wie es hätte sein müssen, sondern rollte sich über die Fußballen ab. Das Gesicht blieb dabei starr und die Lippen fest aufeinandergepreßt. Daß eine weiße Farbe auch schlimm und schaurig aussehen kann, bewies der Ankömmling. Seine Züge strahlten etwas aus, das anderen Furcht einjagen konnte, und als er den Lichtschein verließ, wurde seine Gestalt zu einem mächtigen Schatten, der dicht neben Suko stehenblieb, sich vorbeugte und einen Satz sprach. »Ich bin Tao!« Suko lauschte der Stimme nach. Nein, so hoch wie die eines Eunuchen klang sie nicht, aber auch nicht viel tiefer, denn sie hatte einen singenden Klang, der Suko überhaupt nicht gefiel. Seiner Ansicht nach sprach dieser Mensch hinterhältig. »Ich kenne dich nicht.« »Aber du wirst mich kennenlernen, denn ich bin der Vertraute des Mandarins. Ich bin sein wertvollster Diener, das weiß der Mandarin auch, und ich gehe für ihn in den Tod, verstehst du?« »Ja.« »Weißt du auch, was das bedeutet?«
»Du kannst es mir ja erklären.« Das Gesicht befand sich dicht über dem Sukos. Er roch die Schminke und konnte erkennen, daß sie als dicke Schicht auf der Haut lag, wobei der Nasenrücken dicker angemalt worden war, damit die Nase optisch verlängert wurde. »Ich erkläre es dir gern.« Die Lippen bewegten sich beim Sprechen wie eine zuckende Wunde. »Wenn du den Mandarin durch ein Wort oder eine Geste beleidigst, greife ich ein. Dan nehme ich dich unter meine Folter. Ich werde mich mit deinen Fingern und dabei besonders mit den Nägeln beschäftigen.« Er grinste breit und kicherte. »Du bist selbst Chinese und weißt, was es bedeutet.« Suko ging nicht weiter darauf ein. Er wollte erfahren, was der Mandarin für einen Grund gehabt hatte, ihn zu entführen. »Das wird er dir selbst sagen. Wäre es nach mir gegangen, ich hätte dich getötet.« »Zum Glück geht es nicht nach dir. Was soll ich machen?« Tao ging einen Schritt zurück. »Aufstehen. Komm hoch, dann darfst du den Frachtraum verlassen.« Hinter Sukos Stirn jagten sich die Gedanken. Er überlegte, ob er es diesem Koloß so einfach machen sollte. Waffen hatte er an Tao nicht feststellen können. Außerdem gehörte Suko nicht eben zu den Schwächlingen, gefesselt war er nicht, das Schott stand offen, und Tao konnte er durch einen Überraschungsangriff aus dem Weg räumen. Er gab sich schwächer, als er war. Mühte sich ab, auf die Beine zu kommen, und hörte Taos Lachen. Eine Sekunde später lachte der Koloß nicht mehr. Da hatte Suko zugetreten, ziemlich weit unten war die Fußspitze gelandet, und Tao quiekte plötzlich, walzte zurück, preßte die Hände auf die getroffene Stelle und kam nicht mehr vom Fleck. Das alles kümmerte Suko nicht. Er hetzte auf die Lichtinsel zu und damit auch in Richtung des offen stehenden Schotts. Mit einem Sprung war er hindurch — und lief genau in die Falle. Er hatte sie nicht gesehen, nicht einmal ihre Gesichter leuchteten als bleiche Schatten, aber sie hatten auf so etwas gelauert und Suko auflaufen lassen. Zwei straff und kniehoch gespannte Bänder, in der Dunkelheit nicht zu sehen, waren Suko zum Verhängis geworden. Er hörte sich selbst noch fluchen, dann kippte er nach vorn und landete hart auf den Schiffsplanken. Zwar rollte er sich geschickt ab, nur nutzte ihm das kaum etwas, denn die weißen Masken waren in der Überzahl und sofort bei ihm. Suko sah nicht nur ihre Gesichter, er entdeckte auch das Schimmern, wie es nur Waffenstahl abgeben konnte. Dann spürte er die Kälte des Metalls im Nacken, am Kopf und auf den Beinen.
Vorbei. Dieser Meute konnte er nicht entkommen. Es wurde für ihn noch schlimmer. Hinter Suko vibrierte der Boden. Auch ohne sich umzudrehen, wußte er, was anlag. Tao kam. Diesmal hämmerte er bei jedem Schritt seine Füße auf die Planken, er war wie ein Untier, das sich seiner gefangenen Beute näherte, um sie aufzufressen. Suko hörte ihn gehen und keuchen. Dazwischen vernahm er weinerliche Laute. Der Tritt mitten in sein Leben mußte ihm schwer zu schaffen machen. Suko grinste noch, als er sich daran erinnerte. Als der Waffendruck von seinem Körper verschwand, grinste er nicht mehr, da war es passiert. Suko hatte das Gefühl, ein Ballon zu sein, aus dem die Luft herausgepreßt wurde. Tao, dieser Riese, hatte sich kurzerhand auf Sukos Rücken gesetzt und ihm die Luft aus den Lungen gepreßt. Er hörte sich selbst nur keuchend atmen, und vor seinen Augen entstanden verschwommene Bilder. Bunte Farben, die sich mit Schmerzen anfüllten, denn er kam sich vor, als würden ihm allmählich die Knochen gebrochen. So plötzlich, wie er den Druck gespürt hatte, verschwand er auch wieder. Tao hatte sich aufgerichtet, blieb aber nicht lange auf seinen Beinen, sondern hockte sich neben Suko, suchte dessen Ohren, fand sie auch und zerrte daran. Der Schmerz war wie eine Glut, und Suko mußte sich stark zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen. Er hörte auch die Worte des Riesen nur schwach. »An den Ohren werde ich dich in die Höhe ziehen lassen, bevor ich mich mit deinen Fingern beschäftige. Hast du gehört?« Suko schwieg. »Ob du gehört hast?« kreischte Tao und zerrte noch fester. »J . . .ja ...« »Gut.« Er ließ Suko los, dessen Kopf fiel wieder nach vorn. Mit dem Kinn schlug er hart gegen den Boden. Die Tortur hatte ihn fertig gemacht. Er merkte nicht, daß sich Tao keuchend zurückzog und mit seinen Fingern die getroffene Stelle betastete. Andere packten zu und rissen ihn in die Höhe. Sie hielten ihn diesmal fest, paßten auf wie die Schießhunde, aber Suko war nicht lebensmüde. Er sah nicht die Spur einer Chance. Jemand hatte mehrere Öllampen angezündet, die in einem der Gänge leuchteten. Erdurchschnittden Bauch der Dschunke genau in der Mitte, so daß er sie praktisch in zwei Hälften teilte. Sie schoben Suko vor, dessen Sohlen über den rauhen Boden schleiften. Auch Tao ging mit, er hörte es an den Echos der Schritte. Der Koloß blieb dicht hinter ihm, als würde er seinen eigenen Leuten nicht trauen. Schließlich hatte ihm Suko ja eine Kostprobe seines Könnens gezeigt.
Wo führten sie ihn hin? Eine Antwort war leicht zu finden. Der Mandarin wartete auf den Inspektor. All das hatte er nur auf sich nehmen müssen, um dem Mandarin gegenüberzustehen. Seine Ohren brannten, als würden Flammenzungen über sie hinwegstreichen. Suko schwor sich, dem Koloß das zurückzuzahlen, wenn es eben möglich sein sollte. Auch seine Rippen schmerzten. Es war nicht jedermanns Sache, den Druck eines derart mächtigen Körpers auszuhallen. Ein weiteres Schott versperrte ihnen den Weg. Die Öllampen warfen ihren Schein als große Kreise gegen das Holz. Als Bemalung zeigte der Zugang einen Drachen mit weit aufgerissenem Maul. Er hatte den Kopf gedreht, der Betrachter konnte in den Schlund schauen und mußte das Gefühl haben, jeden Moment aufgefressen zu werden. Tao schob sich vor, die anderen Masken traten zurück, warteten hinter Suko und gingen auch nicht weg, als Tao das Schott öffnete, in einen dunklen Raum schaute, sich verbeugte und etwas in die Finsternis hineinflüsterte. Suko vernahm eine schwache Antwort, wobei er nicht verstehen konnte, was der andere sagte. Tao drehte sich um und kam auf Suko zu. Er erinnerte Suko an einen gewaltigen Kraken, der eine helle Haube auf dem Körper trug, so stark schimmerte das Gesicht. Er legte seine rechte Hand auf Sukos Schultern, die Finger bewegten sich, klammerten sich fest, dann bekam Suko den Ruck mit, der ihn in die Dunkelheit des anderen Laderaums hineinschleuderte. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, da er nicht nach vorn schaute, denn hinter ihm geschah etwas. Auch Tao betrat den Raum. Fr hielt eine Öllampe in der FFand, deren Docht nicht brannte. Jemand schloß hinten dem Koloß die Tür und ließ die drei in der dichten Finsternis allein zurück. Suko blieb stehen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Ein warnendes Gefühl hatte ihn befallen und zugleich das Wissen, daß bald etwas geschehen würde. Noch stand er da und wartete. Nichts regte sich, auch der Koloß sagte kein Wort. Nur sein Atmen war zu hören. Das Geräusch klang in der Dunkelheit überlaut, wurde von einem heftigen Stöhnen begleitet, das ebenso schnell verstummte wie das Knacken der Knochen. Dafür vernahm Suko eine Stimme. Sie gehörte einem Mann. Es mußte der Mandarin sein, und er sagte einen Satz, der Suko völlig unvorbereitet traf und ihm einen Schock fürs Leben versetzte. »Willkommen, Sohn...«
*** Der Bootsverleiher, ein kleines mickriges Männchen mit ausgefransten Jeans und einem Hongkong-Lacoste-Hemd stellte keine Fragen und forderte nur einen saftigen Preis, als wir bei ihm das Boot leihen wollten. »Sollen wir handeln?« fragte Suzie. »Das ist ein Hundesohn, der betrügt uns.« »Keine Zeit.« Ich griff bereits in die lasche und holte die HongkongDollars hervor. Der Kerl grinste noch gieriger, riß mir die Scheine aus den Fingern und führte uns zu der schmalen Anlegestelle, wo nicht nur alte Kähne schaukelten, sondern auch zwei schnittige Motorboote, die aussahen wie schwarze Pfeile. Wir entschieden uns für das mit den roten Streifen an beiden Bordwänden, auf dessem Heck ein kleines Ruderboot vertäut war, und verzichteten auf eine Einweisung, denn mit einem Motorboot umgehen, das konnte ich. Ich half Suzie hinein, ließ mir den Schlüssel zuwerfen und schaute zu, wie der Verleiher das Boot enttäute. Die Technik war gut gewartet, kaum hatte ich den Zündschlüssel herumgedreht, schallte der satte Klang an unsere Ohren und überdeckte die anderen Geräusche. Wir glitten hinaus in die schwarze Fläche der See, über die hin und wieder funkelnde Lichtreflexe huschten. Ich drehte mich für einen Moment um. Die Gestalt des Verleihers war bereits verschwunden. Hinter dem Heck schäumte das Wasser zu breiten Streifen auseinander. Suzie stand neben mir. Ich wußte, daß sie sich erst zurechtfinden mußte. Innerhalb des Hafenwirrwarrs, der aus hohen Bordwänden, Containerschiffen, erleuchteten Restaurantbooten, Kränen, Licht, Schatten und zahlreichen Geräuschen bestand, war es auch für eine Einheimische nicht leicht, die Orientierung zu behalten. »Westen oder Osten?« fragte ich. Sie fuhr durch ihr Haar. Der Wind hatte es aufgebläht. »Die Generalrichtung ist Westen.« »Stark, dann sind wir auf dem richtigen Weg.« Die Frau neben mir nickte. »Aber halten Sie sich bitte nahe der Küste auf.« »Das will ich wohl meinen.« Wir blieben in Sichtweite und natürlich außerhalb der Brandungswellen, die wir als lange, schaumige Streifen sahen, wie sie gegen das Ufer schäumten.
Der Himmel lag über uns als ein weites, dunkles Tuch, bedeckt mit Sternen und illuminiert von Lichtreflexen, die aus der Tiefe der Millionenstadt gegen den Himmel blitzten. Ein künstliches Licht, grell, farbig, nichts für Menschen, die sich den Sinn nach Romantik bewahrt hatten. Die Kulisse der Stadt glitt an der Backbordseite vorbei. Ein einziges Meer aus Häusern, Lichtern und Lärm. Letzterer schallte glücklicherweise nicht bis zu uns herüber. Die Luft war besser geworden. Der dichte Mief der City lag hinter uns, Frische peitschte in unsere Gesichter, wir atmeten sie tief ein, ich erlaubte mir sogar ein Lächeln. »Ihnen geht es gut, wie?« Suzie rief die Frage gegen den Lärm der Motoren an. »Ja — im Moment. Bei meinem Job muß man die Momente genießen, in denen nicht das Grauen über den Köpfen schwebt. Wer sich in einem permanenten Streß befindet, der nutzt jede Chance. Ich freue mich über die Luft, auch wenn ich weiß, daß sie verschmutzt ist, und das Hafenwasser den Fischen jegliche Überlebenschance nimmt.« Ich hob die Schultern. »Trotzdem, an irgendeiner Sache muß der Mensch in dieser Welt noch Gefallen finden, und sei es nur an den Kleinigkeiten.« Etwas länger als gewöhnlich schaute mich Suzie an, ohne mir eine Antwort zu geben. »Stimmt doch — oder?« »Ja, ich meine das auch.« Sie blickte zur Lichterkette hinüber, die an Dichte und Glanz verloren hatte. Es taten sich viele Lücken auf, ein Zeichen, daß wir die direkte City hinter uns gelassen hatten und uns den einsameren Stellen der Inseln näherten, die es in Hongkong tatsächlich auch noch gab. Auch die Küste veränderte sich. Ich erkannte es an der Form der Brandung, die in unterschiedlichen Höhen und Breiten gegen die Felsen schäumte. Wenn mich nicht alles täuschte, verlief sie nicht mehr so gerade. Sie war mehr zerklüftet. Kleine Buchten, Einschnitte, aber auch Felsnasen, die vorstanden. Je länger wir fuhren, um so mehr nahm auch meine Skepsis zu. »Sie kennen die Bucht wirklich?« Suzie nickte. »Ich werde sie selbst in der Dunkelheit der Nacht zu finden wissen.« »Das ist allerhand.« »Nein. Nicht wenn man so etwas gelernt hat. In Hongkong lebe ich nicht nur, diese Stadt ist für mich zu einer Heimat geworden, wenn Sie verstehen. Ich habe mich mit ihrer Geschichte, aber auch mit ihrer Geologie beschäftigt, und freue mich darüber, denn es ist wirklich eine außergewöhnliche Insel, die eine besondere Vergangenheit hinter sich hat.« »Und die Zukunft?«
Sie lachte bitter. »Niemand weiß, was geschieht, wenn Rotchina sie im Jahre 1997 übernimmt. Wir haben Hoffnungen gehabt, daß es Umwälzungen geben würde, aber aus dem Reformer Deng ist ein Schlächter geworden, der den Platz des Himmlischen Friedens mit dem Blut Tausender überschwemmt hat.« »Regiert die Furcht in Hongkong?« »Das müßte sie eigentlich. Seltsamerweise ist dies nicht so. Wenigstens nicht nach außen hin. Es wird noch immer gebaut, und auch noch höher. Neue Hotels entstehen, manchmal glaube ich, daß der Boom die Stadt noch vor der Übergabe zerfressen hat. Was wir in Hongkong erleben, ist Kapitalismus pur.« Ich konnte ihr nur zustimmen. Das Mutterland hatte tatsächlich Probleme mit der Kronkolonie, die man in Hongkong selbst wohl nicht als so schlimm sah. Die Wellen liefen teilweise quer gegen unser Boot und schaukelten es durch. Harte Schläge hatte die Bordwand auszuhalten. Gischt schäumte oft genug als dichter Schaum über und flog auch gegen unsere Gesichter. Immer häufiger wischten wir uns das Wasser von der Haut. »Soll ich den Kurs beibehalten?« »Noch.« »Und dann?« »Gebe ich Ihnen rechtzeitig genug Bescheid, John. Wir müssen natürlich näher an die Küste heran.« Wir schwammen nicht allein auf der weiten, wogenden, dunklen Fläche. Ich sah genügend Schiffe, die auf den Wellen schaukelten. Vergnügungsdampfer, bunt beleuchtet, umschwebt von Musikfetzen. Zudem bewegten wir uns auf dem Kurs der Fähre nach Lantau Island, die allerdings sahen wir um diese Zeit nicht mehr. Das Lichtermeer der großen Stadt war als helle Glocke irgendwo hinter uns verschwunden, und Suzie überfiel so etwas wie Unruhe. Sie hatte Karten gefunden und studierte sie im Schein meiner kleinen Bleistiftleuchte. »Alles klar?« Sehr bedächtig nickte sie. »Ändern Sie den Kurs, John. Wir müssen /.um Ufer hin.« »Okay. Eine Frage noch. Wie sieht es mit Stromschnellen aus, mit Felsbuckeln, die aus dem Wasser schauen, mit...« »Hier nicht so schlimm. Die Bucht, die ich meine, liegt ziemlich günstig. Wir müßten eigentlich ohne Schwierigkeiten hinkommen können.« »Wird man uns sehen?« »Eher hören, schließlich fahren wir ohne Positionsleuchten. Sie müssen den Motor drosseln und die Strömungen ausnutzen, dann haben wir eine gute Chance.«
Mein Nicken zeigte Anerkennung. »Sie kennen sich hervorragend aus, Suzie, Kompliment.« »Auch hier hat man gelernt, sich zu emanzipieren. Man kann als Frau viele Möglichkeiten nutzen, wenn man nicht im alten Rollen-Klischee hängenbleibt.« »Es bleibt trotzdem dabei, daß Sie wieder zurückfahren und Superintendent Demison alarmieren.« »Das habe ich versprochen.« »Wunderbar.« Ich hatte den Kurs gewechselt, ließ das Motorboot in südlicher Richtung über die Wellen gleiten. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würden wir auf dem Wasser tanzen. Die Küste selbst lag als dunkler Streifen vor uns. Nur tiefer im Innern schimmerten Lichter. Das Ufer blieb dunkel. Es kam mir vor wie ein Ungeheuer, das auf Beute wartet. Ich hatte mir vorgenommen, mich nicht verschlingen zu lassen, konzentrierte mich sehr stark auf meine Aufgabe und behielt auch die hellen, schaumigen Streifen genau im Auge. Sie hatten verschiedene Formen angenommen, sie tanzten, sie sprudelten und schäumten in die Höhe, klatschten gegen düstere Felswände und kippten dann über. Die ersten Strudel griffen nach dem Boot wie gierige Hände. Sie zerrten, sie ließen keine Stelle des Kiels aus, als wollten sie das Boot in einen Kreis drängen. Ich mußte mehr Gas geben. Schaukelnd entwischten wir den gefährlichen Untiefen. Am Ufer blinkte das Wasser so hell, als wäre es mit zahlreichen Diamanten bestreut. Von der Dschunke sah ich nichts. Meine Augen hatten sich dennoch gut an die Finsternis gewöhnt, so daß es mir gelang, Umrisse wahrzunehmen. Vor uns öffnete sich tatsächlich die Bucht wie ein gewaltiges Maul. Felsen standen vor, zwischen ihnen schäumte das Wasser, weil es zusammengedrängt wurde und deshalb eine gefährliche Strömung bildete, die schon einem Fluß glich, der auf direktem Weg zum Ufer führte. Suzie hatte sich leicht geduckt ud wippte dabei auf den Zehenspitzen. Ihr Gesicht glich einer kalten Maske, an deren Haut Wassertropfen hingen, als seien sie dort festgeleimt. »Was ist?« fragte ich. »Wenn die Dschunke hier liegt, müßten wir ihren Umriß eigentlich gleich sehen können.« »Dann ist es wohl besser, wenn ich mit halber Kraft fahre.« »Mit noch weniger.« »All right, Madam, einverstanden.«
Wir nutzten die Strömung aus, die uns näher in die Bucht hineinschob. Ich suchte nach Lichtern, aber auch die weißen Masken auf ihrer Dschunke hatten keine Positionsleuchten gesetzt. »Mit dem Boot kommen wir nicht bis dicht an das Schiff heran.« Suzie drehte sich. »Es wäre besser, wenn Sie das Rettungsboot am Heck nehmen und den letzten Rest rudern.« »Das habe ich mir auch vorgenommen, ich. . .« »Da«, unterbrach sie mich, »da ist die Dschunke. Links von uns. Himmel, ist die groß.« Es kam auf die Perspektive an. Tatsächlich schob sich die Bordwand wie ein gewaltiger Fels von der Wasserfläche aus in die Höhe. Noch waren die Aufbauten nicht genau zu erkennen, aber ich wollte nicht näher heran und stellte den Motor ab. Unser Boot lief aus, die Strömung erfaßte es, spielte mit ihm, drehte es im Kreis, schob es mal vor, zerrte es wieder zurück, während ich zum Heck gegangen war und den kleinen Ruderkahn losband, mit dessen Hilfe ich die letzte Strecke bis zum Ziel überwinden wollte. Suzie war mir dabei behilflich, das Boot zu Wasser zu lassen. Es klappte so, als hätten wir es zuvor studiert. Sie beugte sich über die Reling, als ich die Riemen aufnahm. Nach einem kleinen Außenborder hielt ich vergeblich Ausschau. »Sie wissen, was Sie zu tun haben?« rief ich ihr zu. »Klar doch, viel Glück.« Ihre Stimme klang sehr leise. Ich hörte ihre Angst. Auch mir war nicht wohl zumute. Wenn ich mir vorstellte, es gegen die Horde von weißen Masken aufnehmen zu müssen, wobei ich nicht einmal über ihre Anzahl informiert war, wurde mir schon etwas mulmig zumute. Ich hatte die Riemen gepackt, zog sie durch, und Suzie ließ den Motor an. Dann drehte sie ab und tuk-kerte mit halber Kraft davon. Sie wollte nicht bis zum Hafen zurückfahren, eine Telefonzelle fand sie auch an anderer Stelle, schließlich kannte sie die Insel wie ihre Handtasche. Ich ruderte mit der Strömung, die glücklicherweise stärker an- als zurücklief. Im Laufe der Jahre bekommt man bei gewissen Tätigkeiten Routine, so auch hier. Das Rudern schaffte ich schon fast profihaft. Wieder einmal mußte ich erleben, daß in der Dunkelheit die Entfernungen doch täuschen können. So sehr ich mich auch in die Riemen legte, es dauerte, bis die Bordwand der Dschunke näher kam. Außerdem mußte ich immer damit rechnen, entdeckt zu werden. Auch wenn keine Positionsleuchten gesetzt worden waren, Wachen hatte der Mandarin bestimmt aufstellen lassen. Ich dachte über ihn nach, während ich die Ruderblätter durch das Wasser zog. Was war er für ein Mensch? Oder mußte man ihn schon als
Dämon oder magisch beeinflußte Person ansehen? Vielleicht wollte er nur das Verbrechen fördern, und dies auf eine Art und Weise, die ihn selbst im Hintergrund ließ. Wellen hatten einen Kranz aus hellem Schaum um die Bordwand der Dschunke gelegt. Eine etwas weite Dünung ließ es zu, daß ich auf den letzten Yards nicht mehr zu rudern brauchte. Die langen Wellen schoben mich auf die Dschunke zu, die tatsächlich normal vor Anker lag, und zwar noch ein ziemliches Stück vom Ufer entfernt, weil dort das Wasser einfach zu flach war. Ich packte noch einmal die Riemen und sah zu, daß ich bis an die Bordwand herankam und eines der dort hängenden Taue packen konnte. Beim ersten Versuch mißlang es. Ich duckte mich, als die Dünung mein Boot bis gegen die Bordwand trieb, wo es cntlangscheuerte, und der dumpfe Aufprall mir überlaut vorkam. Hatte man ihn gehört? Nein, es zeigte sich niemand an Deck, der über das Schanzkleid blickte. Auch hörte ich keine Stimmen. Ich trieb weiter ab, dann abermals heran, hatte die Riemen eingeholt, trieb im Boot und grjff mit beiden Händen zu. Diesmal gelang es mir, das Tau zu packen. Rasch vertäute ich das Boot daran. Dann lösten sich meine Füße von den Planken, das Boot trieb ein Stück ab, und ich hing zwischen Wasser und Himmel am Tau fest. Für die Dauer einiger Sekunden ruhte ich mich aus, bewegte die Beine nach vorn und umklammerte auch mit ihnen das starke, nasse Tau. Sekunden später begann der schwierigste und härteste Teil der Arbeit. An einem Tau in die Höhe zu klettern ist nicht eben das Wahre. Ich riß mir die Haut auf, spürte den bösen Schmerz, machte aber weiter. Jede Sekunde, in der ich früher bei Suko war, zählte. Ich löste die Beine vom Tau, weil ich mich mit den Füßen an der Bordwand abstützen wollte. So klappte es besser. Das Schanzkleid war vorgebaut worden. Mit Geschick und Glück überkletterte ich es, dann aber hatte ich Pech. Ob sie mich erwartet hatten oder ob es Zufall gewesen war, ich konnte es nicht sagen. Kaum hatte ich die fremden Schiffsplanken berührt •wobei ich mich geduckt hatte -•, da passierte es. Sie waren da, und sie kamen aus allen Richtungen auf mich zugehetzt. Beinahe lautlos, nur die dumpfen Schläge ihrer Schuhe waren zu vernehmen. Als ich in die Höhe kam, griffen sie an. Wie eine Woge aus Menschenleibern schlugen sie über mir zusammen. Meine Chance, falls ich je eine gehabt hatte, wurde schon im Ansatz brutal erstickt.
Zwar setzte ich noch eine Faust in ein weißes Gesicht, säbelte mit einem Handkantenschlag zudem eine Maske von den Beinen und sah plötzlich, wie etwas Großes, Schweres auf mich zukam. Eine gewaltige Harpune mit einer immensen Durchschlagskraft. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie besaß die Breite eines Kanonenrohres und hätte meinen Schädel beim Auftreffen zerschmettert, wenn es mir nicht gelungen wäre, mich zur Seite zu rollen, so daß die Finger der weißen Masken an meiner Kleidung abglitten. Die Planken vibrierten, als die Ummantelung der Harpune dicht neben meinem Kopf das Deck traf. Dafür erwischte mich ein harter Tritt am Kinn, der mich von einer Sekunde zur anderen groggy werden ließ, aber nicht in die Bewußtlosigkeit hineinriß... *** »Willkommen, Sohn . ..« Nein, es war kein Scherz, keine böse Satire, keine Einbildung gewesen. Suko hatte den Satz tatsächlich aus der Finsternis gehört, und er war mit einer krächzenden und alt klingenden Stimme gesprochen worden, der dennoch eine gewisse Härte nicht abgesprochen werden konnte. Danach vernahm Suko wieder das Knacken und ein tiefes Seufzen. Auf diese Geräusche achtete er nur mit halbem Ohr, denn der Satz, hatte ihn zu stark geschockt. Nicht nur innerlich, auch körperlich, denn ihm war verdammt weich in den Knien geworden. Aus ihnen war die Kraft gewichen, dafür hatte sich das berühmte Pudding-Gefühl ausgebreitet, das dem Inspektor auch nicht unbekannt war. Ebensowenig wie der Schauer auf seinem Rücken, der ihm vorkam wie festgefroren. Sein Vater und der Mandarin waren ein— und dieselbe Person. Auch wenn Suko ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, bestand daran kein Zweifel. Unzählige Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Er stellte sich Fragen, ohne je eine Antwort zu bekommen, und war nicht in der Lage, diese Fragen auch in die Finsternis des Laderaums hineinzusprechen. Seine Kehle saß zu. Er hätte viel Geld für einen Stuhl gegeben, um sich setzen zu können. Doch das war nicht möglich. Dafür hörte er das leise Lachen, verbunden mit einem Knak-ken, wie es nur bei Knochen und Sehnen der Fall ist, wenn jemand seine Fingerlangzieht. »Na, Sohn. . .?« Schon wieder dieses Wort, das Suko Schauer übeiden Rücken trieb. Sohn, nein, er war nicht der Sohn, er wollte es nicht akzeptieren.
Er war als Waise aufgewachsen, aber nicht als Sohn eines verfluchten Mandarins, der sich als Verbrecher herausgestellt hatte. »Wo ist Cheng?« Die Frage hatte Tao gegolten, der auch eine Antwort gab. »Er konnte nicht mehr geholt werden. Er hat sich gewehrt, da haben ihn deine Diener getötet.« Der Mandarin schwieg, dann stöhnte er auf. »Was haben sie getan? Ihn getötet?« »Ja.« »Aber das geht nicht! Ich brauche ihn! Er hat mich wieder zurechtgeflickt. ..« »Tut mir leid.« Der Mandarin heulte auf. »Wie soll ich meinem Sohn gegenübertreten, wenn ihr nicht in der Lage seid, für meine Gesundheit zu sorgen, ihr Versager?« »Er ist aber hier!« »Das weiß ich. Ich freue mich auch darüber, daß er vor mir steht. Mach Licht!« »Sehr wohl, Herr!« Suko war gespannt. Er hörte, wie sich der Koloß bewegte. Etwas flackerte auf, beleuchtete das Gesicht des Leibwächters und ließ es noch schauriger aussehen. Dann drehte er den Docht einer Öllampe höher, deren Schein so stark war, daß er einen Großteil des Laderaums ausleuchten konnte. Vor allen Dingen die Hälfte, in der Sukos Vater saß. Zum erstenmal sah er ihn! Und er war geschockt. Schon oft hatte er sich vorgestellt, wie er wohl ausgesehen haben mochte, aber dieses Bild war ihm überhaupt nicht vertraut. Auf einem Stuhl mit hoher Lehne in einer schiefen und gleichzeitig verkrümmten Haltung ein Mensch, der bereits ins Greisenalter gekommen war. Auf seinem Kopf wuchs kein Haar. Eine Kappe bedeckte etwa ein Drittel der Glatze. Das Gesicht besaß eine faltenreiche, reliefartige Haut, die Augenbrauen waren geschwungen, so daß er einen verächtlichen Ausdruck bekommen hatte. Er trug ein langes, dunkelgrünes Gewand, das seinen Körper verbarg und nur die Hände freiließ, die aus den Ärmellöchern hervorwuchsen. Suko fiel auf, daß sein Vater sehr lange Finger besaß, als wären sie künstlich an die Hand genäht worden. Tao stand einige Schritte seitlich von ihm entfernt und hatte dort eine lauernde Haltung eingenommen. Er würde sofort eingreifen, wenn er es für nötig hielt. Ein dünner, schwarzer Bart wuchs auf der Oberlippe des Mandarins und zeichnete noch die Mundwinkel ein Stück weiter nach. Suko gefiel diese Erscheinung überhaupt nicht, und auch nicht der Blick dieser dunklen Augen, in deren Pupillen noch der Widerschein des Öllichts geisterte.
Der Mandarin bewegte seine Finger. Er zerrte an ihnen, als wollte er sie abreißen. Wieder erklang das Knacken, aber diesmal in sein kratziges Lachen hinein. »Hast du es gehört, Sohn? Hast du es gehört?« Suko nickte. »Du wunderst dich, wie?« »Kaum.« Suko sprach mit einer Stimme, die er selbst nicht kannte. »Es ist nicht zu überhören, denn es hat seinen Sinn. Glaube nur nicht, daß ich nur wegen der Geräusche meine Finger, Gelenke und Sehnen in die Länge ziehe, glaube das nur nicht. Es hat seinen Grund, und der ist verdammt schlimm. Ich will es dir erzählen, denn du könntest mein Nachfolger werden.« Der Mandarin nickte, wobei es so aussah, als würde er jeden Moment seinen Kopf verlieren. »Ich bin sehr alt, ich habe immer versucht, am Leben zu bleiben und den Göttern zu dienen. Es war nicht einfach, und sie erwischten mich. Zuerst dachte ich, daß sie mir die Kehle durchschneiden würden, denn sie haßten alle Mandarine. Dann aber warfen sie mich in eine Schlucht und ließen mich liegen, weil sie mich für tot hielten. Doch ich war nicht tot. Freunde fanden mich und holten den Knochensetzer. Er sorgte dafür, daß ich wieder gehen, stehen und sitzen konnte, wenn auch unter großen Mühen. Aber ich lebte, und ich zahlte es den anderen zurück. Ich sammelte meine Getreuen um mich. Wir zerschlugen die Bande der Tongs und rissen die Herrschaft an uns. Es war klar, daß ich dabei keinen Sohn gebrauchen konnte. Ich gab dich in ein Kloster. Niemals solltest du erfahren, wer dein Vater gewesen war. In unserer langen Ahnenreihe hat es viele Mächtige gegeben, auch Dämonen und Menschen, die den Göttern zu Diensten waren. Weißt du nun Bescheid?« »Etwas mehr.« »Ich bin alt geworden, ich suche jemand, der mir nachfolgen kann. Ich wollte es mit dir versuchen.« »Nein!« Der Mandarin lachte. »Du wirst es dir bestimmt noch überlegen, glaube mir.« »Wer war meine Mutter?« Wieder zerrte der Mandarin an seinen Fingern, hob mühevoll den Kopf und schielte Suko von der Seite her an. »Sie war eine schöne Frau, eine sehr schöne sogar.« »Lebt sie noch?« »Nein.« »Wie kam sie um?« Der Mandarin winkte ab. Die Bewegung sah schlimm aus. Wieder hatte Suko den Eindruck, als würde die Hand nur mehr an dünnen Fäden mit dem Arm verbunden sein. »Sie brachte sich selbst um.« »Du hast sie dazu getrieben?«
»Nein, sie war es selbst. Sie konnte den Druck nicht mehr ertragen. Aber ich will darüber nicht reden. Ich habe einen Sohn, ich habe ihn gefunden, das allein zählt.« »Stammt der Brief von dir?« Da lachte Sukos Vater. Mühsam hob er beide Arme. »Schau mich an, kann ich schreiben?« »Das glaube ich nicht.« »Eben. Cheng Wang schrieb ihn für mich. Er ist ein Künstler und ein Wissenschaftler gewesen, aber kein Freund, denn er hat mich enttäuscht. Er war ein Verräter.« »Er meinte es gut. Er kannte dich. Er wollte nicht, daß du das Grauen bringst, Mandarin.« Mitdem Wort Vater konnte Suko diese Person nicht ansprechen. Diese Person war ihm zu fremd, außerdem stand sie auf der anderen Seite. »Er irrte«, erklärte der Mandarin. »Ich bin zu alt. Ich will meinen Auftrag an dich übergeben, Sohn.« »Wie sieht der aus?« »Du wirst Herr über die weißen Masken. Eine alte Gruppe, die schon vor Jahrhunderten bekannt war und einstens der Prinzessin Li gedient hatte, der Tochter des Erhabenen aus Jade.« Natürlich kannte Suko die Mythologie seines Heimatlandes. Der Erhabene aus Jade hatte in alter Zeit die Spitzenposition des Kaisers inne und seinen Untertanen, zu denen oft genug die Mandarine gehörten, Posten am Hof verschafft! Die Prinzessin Li war die Tochter des Erhabenen und als Schutzpatronin auserwählt. Suko und sein Freund John Sinclair hatten bereits mit ihr Bekanntschaft gemacht, als sie den Fall der Pesthügel von Shanghai lösten, und er wußte auch, daß die Prinzessin auf seiner Seite stand. »Wenn die Masken wirklich der Prinzessin gedient haben, dann wären ihnen Morde zuwider gewesen.« »Heute nicht mehr.« »Ich glaube dir nicht, Mandarin. Ich weiß, daß du ein Babylon in Hongkong errichten willst. Du möchtest alles unter Kontrolle bekommen, aber dem werde ich einen Riegel vorschieben.« Der Greis verzog das Gesicht. »Rede nicht so dumm. Nicht ich will die Macht, du sollst sie bekommen. Gib acht«, sprach er weiter, bevor Suko Widerspruch einlegen konnte. »Gib genau acht.« Schlenkernd bewegte er seine rechte Hand, bevor er sie in den Falten seines grünen Gewandes verschwinden ließ. Ebenso schlenkernd zog er sie wieder hervor. Diesmal war sie zur Faust geballt. Mühsam streckte er Suko Arm und Faust entgegen. »Komm her, Sohn, komm näher, ich will dir etwas zeigen.« Suko zögerte zunächst, ließ sich dann auf zwei Schritte ein, was den Mandarin zufriedenstellte. Er öffnete die Faust. Gebannt starrte Suko auf den Gegenstand, der plötzlich zum Vorschein kam. Es war eine Figur.
Wunderbar geschnitzt, aus Jade bestehend, mit kleinen vorstehenden Brüsten, mit einem feingeschwungenen Gesicht, in dem sogar die Augen genau zu sehen waren. »Kennst du sie?« »Es ist die Prinzessin Li!« Die Lippen des Mandarins verzogen sich zu einem breiten Grinsen. »Ja, es ist die Prinzessin, die uns damals so unterstützt hat. Wenn du meine Nachfolge antrittst, wird sie auch dich unterstützen. Hier, nimm sie an dich, ich übergebe dir die Macht, die sie auf mich übertragen hat. Jetzt sollst du sie haben.« »Ich will sie nicht!« »Du bist mein Sohn!« »Nein, Mandarin, das mag zwar sein, aber ich werde dich niemals Vater nennen können. Hast du gehört? Niemals!« »Nimm sie, spüre die Macht.« Er ließ sich nicht beirren. »Los, du mußt sie nehmen!« Suko überlegte. Er dachte in zwei verschiedene Richtungen. Wenn er sie nicht nahm, blieb alles beim alten. Griff er jedoch zu, konnte er möglicherweise etwas verändern, und deshalb war er nach Hongkong gekommen. Diese Stadt sollte kein Babylon erleben. Tao, der Koloß, Aufpasser und Leibwächter, rührte sich nicht vom Fleck. Ausdruckslos beobachtete er die Szene, nichts in seinem weißgeschminkten Gesicht rührte sich. »Willst du mir die Qualen des Aufstehens nicht ersparen, Sohn?« keuchte der Mandarin. »Bleib sitzen!« erwiderte Suko und schritt auf seinen sitzenden Vater zu. Als er die kleine Figur an sich nahm, berührten sich für einen Moment die Hände der beiden. Fast wäre Suko zurückgezuckt, denn durch seine Finger rieselte ein kalter Schauer. Der Mandarin mußte die Hand eines Toten haben, so kalt und steif war sie. Er nahm die jadefigur zwischen zwei Finger und betrachtete sie aus der Nähe. Sie stellte tatsächlich ein kleines Kunstwerk dar. Einmalig in ihrer Art, und das Material selbst fühlte sich warm an, als würde Leben in ihm stecken. Wieder knackte der Mandarin mit den Gelenken. »Ist sie nicht schön?« flüsterte er. »Ist sie nicht wunderbar? Merkst du, daß etwas in ihr steckt? Spürst du dieses Leben?« Suko schaute ihn an. »Ja, du hast recht.« »Dann hat sie dich angenommen. Ihre Macht wird auf dich übergehen. Sie wird dich leiten.« Das genau wollte Suko nicht. Daß in der Figur eine geheimnisvolle Kraft steckte, hatte er schon längst festgestellt. Aber diese Kraft gefiel ihm
überhaupt nicht. Sie strömte keine positiven Wellen aus, sondern Vibrationen, die auf ihn negativ wirkten. Diese kleine Figur versuchte tatsächlich, ihn zum Bösen hin zu beeinflussen, was er von der Prinzessin Li eigentlich nicht kannte. »Na, was ist?« Suko hatte den lauernden Ton aus der Frage des Mandarins hervorgehört. Er schaute noch einmal hin und sah tatsächlich, daß sich die Augen innerhalb der Figur bewegten. Zuerst zuckten, dann rollten sie, und plötzlich bekamen sie Farbe. Tief in den Schächten der Pupillen stieg das Leuchten hervor. Eine Mischung aus rot und grün, und der kleine Mund verzog sich zu einem grausam wirkenden Halbkreis. Laß sie los! schrie es in Suko. Laß sie los! Er ließ sie fallen. Mit einem hell klingenden Laut fiel sie auf die Planken. Suko hörte den Mandarin scharf atmen und auch den leisen Schrei des Leibwächters. Er hob den Fuß. Dann rammte er ihn mit aller Kraft nach unten. Nein, die Figur schrie nicht. Sie blitzte hell auf, als sie durch den Druck in zahlreiche Stücke zertreten wurde. Gleichzeitig schrie der Mandarin, als würde er gefoltert. Er heulte auf, sein Körper zitterte, er bewegte seine gekrümmten Hände hektisch und brüllte Suko an. »Du hast sie vernichtet, Sohn! Du hast sie nicht angenommen. Du wolltest ihre Macht nicht. Du bist ein Feind!« »Es war nicht der wahre Geist der Prinzessin. Etwas Böses steckte in der Figur.« »Es ist die Macht gewesen. Du bist ihr Feind!« Die alte brüchige Stimme überschlug sich fast. »Und wer ihr Feind ist, der ist auch mein Feind! Ich will dich nicht mehr, Sohn, ich will dich nicht! Töte ihn, Tao, vernichte ihn!« Und Tao gehorchte. Er riß Sukos eigene Beretta hervor, um auf den Inspektor anzulegen. Suko war schneller. Bevor die Mündung noch auf ihn zeigen konnte, hielt er seinen Stab in der Hand. Ein Wort rief er, das für fünf Sekunden alles zu seinen Gunsten veränderte. »Topar!« *** Es waren wohl nur Sekunden gewesen, in denen ich mich nicht zurechtfand. Sie hatten gereicht. Die weißen Masken umstanden mich so dicht, daß mich ihre Füße berührten. Die weißen, widerlichen
Gesichter glotzten unbewegt auf mich nieder, und nicht ein Lippenpaar zuckte. In ihren Augen las ich eine Unbarmherzigkeit, die mich erschreckte. Sie würden mich töten, wenn mir nicht im letzten Augenblick noch etwas einfiel. An die Beretta kam ich nicht heran, denn sie rissen mich hart auf die Beine. Sechs Gestalten zählte ich. Line der Masken holte eine dünne Waffe hervor. Gefährlich blitzte die Nadel vor meinem Gesicht auf, während mich andere hielten. Ich trat zu. Der Mann mit der Mordnadel gurgelte nur, als er zurückkippte und auf das Deck fiel. Ein anderer zog seine Waffe, jemand packte mein Bein, hielt mich fest -da geschah es. Ich bekam es nicht so schnell mit, weil mich der Vorgang überraschte. Etwas sirrte durch die Luft. Ich hörte die Einschläge, Schreie gellten auf, hinter meinem Rük-ken brachen zwei Masken zusammen, die mich festgehalten hatten. Plötzlich konnte ich mich wieder bewegen, tauchte weg und sah, daß neben mir jemand von einem Pfeil in die Brust getroffen wurde. Er taumelte zurück, beide Hände um den Schaft geklammert. Dann hatte ich Ruhe, bewegte mich rückwärts gehend auf das Schanzkleid zu, lehnte mich dagegen, schaute zum Heck hin und sah auf dem Oberdeck eine dunkle Gestalt, deren obere Gesichtshälfte von einer schwarzen Maske verdeckt war. In der Hand hielt die Gestalt ihre Waffe, eine Armbrust mit aufgelegtem Pfeil, seit einiger Zeit das Wahrzeichen einer Person, die einmal an Sukos Seite gekämpft hatte und auf den Namen Shao hörte, die letzte in der langen Ahnenkette der Sonnengöttin Amaterasu. Ich staunte sie an und schaute zu, wie sie mit geschmeidigen Bewegungen ihren Platz verließ, auf das normale Deck sprang und mir entgegenlief. Vier Masken lagen auf den Planken. Zwei von ihnen rührten sich nicht mehr, die anderen beiden stöhnten. Shao nickte nur. Wie immer war sie ganz in Leder gekleidet, das schwarze Haar hatte sie zusammengebunden. Sie wirkte in dieser Kleidung wie ein Gespenst oder ein weiblicher Klabautermann. Ich schüttelte den Kopf. »Meine Güte, Shao, wo kommst du denn her? Was ist geschehen?« Shao entspannte sich etwas, senkte den Arm, der aufliegende Pfeil wies nach unten. »Ich mußte kommen, ich habe gespürt, wie sehrSuko in Nöten war.«
»Geht es ihm schlecht?« »Er befindet sich unter Deck und steht wahrscheinlich seinem Vater gegenüber.« Stöhnend und zischend atmete ich aus, während ich nickte. »Dann stimmt es also doch. Dann hat er nicht gelogen. Sukos Vater lebt.« Ich hob die Schultern. »Wird er ebenfalls hier gefangengehalten?« Shao lachte mich aus. »Gefangengehalten? Nein, was denkst du? Sukos Vater ist der Mandarin.« Ein Treffer in den Magen hätte mich kaum härter erwischen können als diese Antwort. »Sag. . . sag das noch einmal. . .« Sie wiederholte den Satz. »Und das ist wahr?« »Ja, er ist der Mandarin. Aber das später. Wir haben nur einen kleinen Schritt getan, die anderen sind größer, die noch vor uns liegen. Wir müssen Suko befreien.« »Er befindet sich unter Deck?« »Im Laderaum.« »Dann los.« Sie hielt mich fest. Ich wunderte mich über den harten Griff. »Nicht so voreilig, John, du hast noch etwas vergessen.« »Was denn?« »Das hier.« Shao wies auf die Harpune, die so schwer und mächtig aussah. »Die soll ich mitnehmen?« »Und ob.« »Weshalb denn?« »Sie ist eine Waffe, die du eventuell gebrauchen kannst. Du mußt Brücken abbrechen, Wege zerstören, nur so kannst du ein Babylon in Hongkong vernichten. Du mußt das Feuer mit Benzin löschen, so schlimm es sich anhört. Diese Waffe besitzt nur einen Schuß, aber er wird reichen. Tao hatte sie hergestellt, er ist ein genialer Feuerwerker, er wollte damit das Babylon in Hongkong einläuten.« Ich schaute mir die Waffe aus der Nähe an. Die Harpune oder was immer sie sein mochte, bestand aus einem Metallzylinder, der sich an seinem Ende verdünnte und in einen Gegenstand mündete, den man als Gewehrkolben bezeichnen konnte. Sogar einen Abzugshahn sah ich. »Nur einmal«, sagte Shao, »nicht mehr.« »Gut.« »Dann bleibe hinter mir.« Wir schlichen über das Deck. Ich hatte die mächtige Harpune, die trotz ihrer Masse relativ leicht war, unter den linken Arm geklemmt, in der rechten Hand hielt ich die Beretta. Zwar wußte ich nicht genau, wie zahlreich die weißen Masken auf der Dschunke verteilt waren, ging jedoch davon aus, daß sich noch einige hier aufhielten. Shao dachte nicht anders. Sehr vorsichtig bewegte sie sich über die Planken, ein gespenstischer schwarzer Schatten, der an vielen Stellen
mit der Dunkelheit verschmolz. Sie suchte und fand stets eine gute Deckung, und wir näherten uns einem Niedergang, der tief hinein in den Bauch der alten Dschunke führte. »Ist niemand mehr im Ruderhaus?« wisperte ich. »Da war ich schon.« »Aha.« Mir reichte die Antwort, und ich stellte keine weiteren Fragen mehr. In einem kleinen Aufbau entdeckten wir eine Tür, die leicht vibrierte. Ich wollte mich an Shao vorbeischieben, sie aber drückte mich zurück. Mit dem sicheren Instinkt einer Person, die sich in fremden Welten aufhielt, mußte sie bemerkt haben, daß sich hinter der Tür etwas tat. Und sie hatte recht. Plötzlich wurde die Tür nach außen gedrückt. Shao huschte gedankenschnell zur Seite. Ein weißes Gesicht erschien, dann ein Körper, der geduckt das Deck betrat. Der Mann trug ein Kurzschwert in der Hand, schaute nach links, hörte mein geflüstertes »He, du!«, drehte sich und sah meine Hand nicht einmal, so schnell hatte ich zugeschlagen. Das Gewicht der Pistole hatte dem Treffer noch mehr Wucht verliehen. Die weiße Maske fiel zusammen und blieb rücklings auf dem Deck liegen. Shao nickte mir zu, nahm das Schwert und schleuderte es weit über die Reling. »Weiter!« sagte sie, tauchte durch die Tür und wartete auf einer geländerlosen Treppe auf mich. Ich hatte damit gerechnet, den Bauch des Schiffes dunkel vorzufinden, wurde angenehm enttäuscht, denn in den Gängen verbreiteten kleine Öllampen einen genügend hellen Schein, der das Licht auch über die Wände fließen ließ. Niemand erwartete uns. Mir fiel die Stille auf, weil ich eigentlich damit gerechnet hatte, Sukos Stimme zu hören, der aber blieb ebenfalls ruhig. Shao schaute sich um, als wollte sie sich orientieren. Ein Pfeil lag gespannt auf der Sehne. »Wohin jetzt?« Shao deutete von mir aus gesehen nach rechts in die Tiefe des Ganges hinein. »Gehst du zuerst?« »Ja.« Wir bewegten uns so leise wie möglich weiter. Die Dschunke lag nicht ruhig, sie schaukelte auf den in die Bucht hineinlaufenden Wellen, schwang mal vor, dann wieder zurück. Auch hörten wir das Klatschen des Wassers gegen die Bordwand, und ich wurde den Eindruck nicht los, mich in einem schwimmenden Gefängnis zu befinden.
Shao ging, als wäre sie hier immer schon gewesen. Phantomhaft huschte ihre Gestalt durch den Lichtschein, der uns bis zu einem breiten Schott begleitete, das diesen Laderaum von einem zweiten trennte. »Dahinter?« fragte ich. Sie nickte. »Okay, und jetzt?« Ich hatte sie angeschaut und sah, wie sich ihre Lippen unter der Maske bewegten. »Werden wir angreifen...« *** Fünf Sekunden blieben Suko! Er nahm sich noch die Zeit und schaute nach links, wo sein Vater krumm im Stuhl hockte. Seine Figur sah aus, als müßte erst an Fäden gezogen werden, um sie wieder normal hinsetzen zu können. Diesmal wirkte der Koloß Tao tatsächlich wie eine Statue, wozu vor allen Dingen Gesicht und Haltung beitrugen. Nur die Waffe gefiel Suko nicht, die entwand er ihm mit einer raschen Drehung. Suko wußte auch, daß Tao noch die Dämonenpeitsche besitzen mußte, deshalb durchsuchte er ihn und hatte Glück, daß er seine freie Hand unter das lange Gewand schieben konnte. Der Peitschenstiel schmiegte sich in seine Faust, als die Zeit vorbei war. Tao brüllte auf. Sein geschminkter Mund öffnete sich dabei sehr weit. Er sah aus, als wollte er Suko in den Hals beißen. Der jedoch war schneller und versetzte Tao einen harten Schlag mit der flachen Hand. Der Koloß geriet in Bewegung. Er >rollte< förmlich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Bordwand prallte und dort stehenblieb. Jetzt sah er die Mündung der Beretta auf sich gerichtet. »Eine Bewegung noch, und es hat dich gegeben!« Tao rührte sich nicht. Er machte den Eindruck, als hätte er aufgegeben. Suko ließ sich davon nicht täuschen. Sicherlich wartete der Koloß auf eine günstige Chance. Der Inspektor trat etwas zur Seite, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Neben ihm lag die zersplitterte Figur der Prinzessin Li. »Komm hoch, Mandarin. Ich werde dich von diesem verdammten Schiff schleppen, und wenn es das letzte ist, was ich in meinem Leben tue. Ich werde dich den Behörden übergeben, damit sie endlich einen Grund haben aufzuatmen. Die Macht der weißen Masken ist gebrochen. Das Babylon in Hongkong wird es nicht geben. Cheng Wangs Einsatz hat sich letztendlich doch gelohnt. Er soll nicht umsonst gestorben sein.« Der Mandarin knackte wieder mit seinen Knochen und Gelenken. Er hatte sich auf seinem Stuhl bewegt und etwas nach vorn gedrückt, wobei
er den Eindruck machte, als wollte er jeden Augenblick starten. Das aber würde er kaum schaffen. »Los, hoch!« »Du bist nicht mehr mein Sohn. . .« »Das habe ich nie behauptet. Ich würde mich auch schämen, der Sohn eines Verbrechers zu sein. Ich wäre froh gewesen, wenn Cheng Wang dich nicht zusammengeflickt hätte.« Der Mandarin öffnete weit den Mund und lachte. »Was du alles willst, verdammt, was du alles willst.« »Komm endlich!« Der Mandarin nickte Suko zu. »Nein«, sagte er dann, »ich werde nicht mit dir gehen. Ich bleibe hier. Wenn du das willst, mußt du mich schon töten und meinen Körper als Leiche über das Deck der Dschunke schleifen. Willst du das?« »Wenn es sein muß, mache ich auch das«, erklärte ihm Suko. »Du weißt, daß ich dich nicht als Vater ansehe, und danach solltest du dich richten.« »Komm her!« Suko ahnte, daß der Mandarin eine Schlechtigkeit vorhatte. Bestimmt besaß er noch einen Trumpf, von dem Suko keine Ahnung hatte. Äußerlich sah er ihm nichts an. Zudem mußte er noch diesen Tao im Auge behalten. Der Koloß rührte sich nicht. Er klebte förmlich innen an der Bordwand. Die Schminke um seine Augen herum war verlaufen. Als dunkle Rinnsale rann das Zeug über das bleiche Gesicht. »Hol mich!« Das ließ Suko sich nicht mehr länger sagen. Mit festen Schritten ging er auf den Mandarin zu. Der wich zurück, als wollte er an der Rückenlehne Schutz suchen. Mit der Linken griff Suko zu und umklammerte das Handgelenk des Mandarins. Es fühlte sich hart an, irgendwie fleischlos. Suko empfand so etwas wie Ekel. Dann zerrte er den alten Mann zu sich heran. Der Mandarin keuchte, greinte, seine Knochen klapperten zwar nicht, aber sie bewegten sich unkontrolliert, so daß Suko den Eindruck bekam, er hätte schon einige Sehnen zerrissen. Zwar stemmte sich sein Vater gegen den Griff, schaute ihn aus weit aufgerissenen Augen an, keuchte etwas, und Suko setzte noch mehr Kraft ein. Es war ein Fehler, denn er hatte den Zusammenhalt der Knochen unterschätzt. Plötzlich fiel er zurück, etwas brach unter dem Griff seiner zufassenden Hand, der Widerstand war verschwunden, und er selbst taumelte zurück.
Er sah noch, wie der Mandarin die Hand schlenkerte und sich Tao in Bewegung setzte. Trotz seiner Körperfülle bewegte sich der Koloß ungemein schnell. Er überwand die Distanz leicht, und er hatte noch aus seinem Umhang Waffen hervorgezogen. Es waren zwei Nadeln, die er in seinen dicken Händen hielt, sie zuckend bewegte, bevor er damit auf Suko einstach. Der war wieder hochgekommen, hörte seinen Vater schreien wie einen kleinen Vogel und hätte den Koloß mit Kugeln stoppen können, was er nicht wollte. Suko steckte die Beretta weg, um die Hände freizuhaben. Als Tao mit den Nadeln zustach, unterlief Suko beide Arme und hebte den Koloß aus. Schwer und dröhnend fiel Tao um, fluchte dabei, rollte sich weiter. Er bekam von Suko einen Tritt, als er sich aufrichten wollte. Eine Nadel wirbelte aus seiner Hand. Mit der zweiten stach er noch zu, rammte sie aber in die Planken und kassierte den nächsten Karatetritt des Inspektors, der ihn endgültig ins Reich der Träume schickte, denn der Koloß besaß so etwas wie ein Glaskinn, einen schwachen Punkt bei diesem immensen Körper. Wie ein riesiges Stück Fleisch, das allmählich zur Ruhe kam, lag er neben der Öllampe. Das Hindernis war beseitigt. Suko drehte sich um, weil er den Mandarin holen wollte - und hob plötzlich beide Hände. Sein Vater hielt eine Waffe in der Hand. Die beiden Mündungen der kurzläufigen Schrotflinte glotzten Suko an wie böse Augen. Und die Augen des Mandarins selbst leuchteten ebenfalls. Aus ihnen strahlte Suko der blanke Haß und die reine Mordlust entgegen. »Ich habe sie einem Engländer abgenommen. Es ist schon lange her«, erklärte der Mandarin, der die Waffe nur mit der rechten Hand hielt, den Kolben aber so in die Fllbogenbeuge eingestemmt hatte, daß er sie auch ruhig halten konnte. »Dieser Engländer ist stolz auf die Watte gewesen, sehr stolz, nun habe ich sie. Sie ist zu meinem letzten Trumpf geworden, verstehst du?« »Sicher!« »Du hast gesagt, daß du nicht mein Sohn sein willst, dann will ich auch nicht länger dein Vater sein, dann bist du für mich nur noch ein Feind und Verräter. Diese Waffe streut, du kennst sie, ein Kind kann sie bedienen, auch jemand, der schwach ist, wie ich. Wenn ich gleich abdrücke, werden dich die Ladungen zerreißen.« Suko blieb äußerlich ruhig. »Es hat dir nie etwas ausgemacht, jemand zu töten, wie?« »So ist es. Du bist hier in Hongkong geboren, und in
Hongkong wirst du sterben. Dein Tod läutet das Babylon für diese verdammte Stadt ein, die sich gegen mich gestellt hat, anstatt mir zu Füßen zu liegen. Dafür wird sie bezahlen.« Der Mandarin war nur eine Figur, das Abziehbild eines Menschen, aber er hatte recht, was die Funktion der Schrotflinte anging. Die konnte ein Kind bedienen, er brauchte nicht einmal zu ziehen, die Streuwirkung reichte aus. »Das hat doch keinen Sinn«, versuchte es Suko noch einmal. Er merkte, daß er ins Schwitzen geraten war. »Ich bin nicht allein gekommen, ich habe Unterstützung.« »Ja, dein weißer Freund.« »Genau, er ist es. Auch die Polizei weiß Bescheid. Wir haben sie eingeweiht. Du wirst kaum eine Chance haben, Mandarin.« »Aberdu auch nicht.« »Ich wollte die Macht nicht haben, ich wollte nur wissen, ob mein Vater tatsächlich noch lebt.« »Jetzt siehst du ihn vor dir!« »Ja, ich sehe ihn. Es ist die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich wußte nicht, daß ich es mit einem Verbrecher zu tun bekomme. Ich habe dich nie hassen können, weil ich keine Hintergründe kannte. Nun aber fange ich damit an. Ja, ich hasse dich, weil ich erkannt habe, was hinter dir steckt. Du läßt dich von Kräften leiten, die nur in den Abgrund führen können. Es wäre wirklich besser gewesen, wenn man dich in der Schlucht hätte liegenlassen.« »Willst du mir sonst noch etwas sagen, Sohn?« »Ich sehe mich nicht als dein Sohn an. Ich besitze den Stab des Buddha, ich stehe auf der anderen Seite und werde dort immer stehen, solange ich lebe!« Der Mandarin deutete so etwas wie ein Nicken an. Die kleine Lampe des Öllichts flackerte, weil sie von einem Luftzug getroffen wurde. Suko bemerkte es nur am Rande, denn er konnte es nicht fassen, daß ihn sein eigener Vater erschießen wollte. Das war zuviel... »Dann stirb, Sohn!« erklärte der Mandarin. Im nächsten Augenblick ging für beide die Welt unter in einem mörderischen Inferno... *** Suko, der sich wirklich schnell bewegen konnte, hatte sich zur Seite geworfen, weil er davon ausging, dann nicht von der vollen Ladung direkt erwischt zu werden, doch diese Aktion hätte er sich sparen können. Nichts schlug in seinen Körper ein. Er prallte auf, starrte seinen Vater an und glaubte, sich in einem wirren Traum zu befinden. Etwas hatte gekracht, nur war es nicht die Schrotflinte gewesen, sondern eine andere Waffe. Ein langer, vorn etwas unförmiger Stab war an ihm
vorbeigezischt, hatte den Mandarin getroffen, war durch seinen Körper hindurchgerast und hatte ihn zurück in den Sitz geschleudert, wo er starr hockte, die Schrotflinte noch festhaltend, aber es nicht mehr schaffte, den Abzug zu ziehen. Der Mandarin war tot, die Waffe, die ihn durchbohrt hatte, steckte irgendwo in der Schiffswand. Suko hörte ein Zischen, das sehr gefährlich klang. Plötzlich packte ihn jemand, zerrte ihn herum, er schaute in Shaos Maskengesicht, verstand die Welt nicht mehr. Er sah auch seinen Freund Sinclair an dem offenen Schott stehen, der soeben eine unförmige Waffe wegschleuderte, deren Ladung dem Mandarin ein linde bereitet hatte. »Weg, wir müssen weg!« brüllte Shao. »Und schließt das Schott. Sonst fliegen wir mit in die Luft!« Das Zischen, dachte ich. Das verdammte Zischen. Diese Harpune war mit einem Explosivgeschoß geladen gewesen. Shao und Suko rannten vor mir her, während ich das Schott noch mit aller Kraft zuzerrte. Ich taumelte hinten ihnen her, erreichte sie auf den Stufen und sah, wie Suko an Deck von zwei weißen Masken attackiert wurde, sie aus dem Weg räumte, sich drehte und zusamen mit Shao auf mich wartete, die gegen die Reling deutete. »Runter!« Sie hatte das Wort kaum ausgesprochen, als im Bauch der Dschunke eine Hölle losbrach. Eine mörderische Explosion ließ das gesamte Schiff erzittern. Wir hatten dabei Glück und standen relativ günstig, denn die Dschunke brach auf, entließ einen gewaltigen Schwall aus Feuer, Rauch und Trümmern, zwischen denen ich auch zwei Körper sah. Der Mandarin und der Koloß hatten es nicht geschafft. Sie mußten zahlen. Andere weiße Masken gerieten in Panik. Die Druckwelle schleuderte sie über das Deck, auch wir blieben nicht verschont und prallten irgendwo gegen das Schanzkleid. Aus dem Loch stiegen dicke schwarze Rauchschwaden, vermischt mit zischendem Feuer und immer wieder explodierenden Knallkörpern. Ich hechtete als erster über Bord. Auf der schwarzen Wasserfläche sah ich den tanzenden Widerschein der Flammen und hatte das Gefühl, direkt in das Feuer hineinzutauchen. Dicht neben mir verschwand Suko im Wasser, von Shao sah ich nichts, dann biß die Kälte des Wassers zu, die mich nicht weiter störte, denn unter der Oberfläche schwamm ich so weit wie möglich dorthin, wo ich mein Boot an dem Tau angebunden hatte. Die Dschunke ächzte und stöhnte. Sie senkte sich bereits. Wenn sie unterging, und wir nicht weit genug entfernt waren, konnte uns der Strudel mit in die Tiefe reißen.
Deshalb war ich froh, als ich die Bootsleine mit dem Dolch kappen konnte. Suko schwang sich bereits über den Rand und lag flach im Boot, als ich die Riemen packte. Dann mußte ich pullen. Suko unterstützte mich dabei. Wir faßten jeder einen Riemen und schafften sogar den Gleichklang. Wieviel Zeit verstrichen war, wußte ich nicht. In der Dunkelheit hinter uns nahm der Himmel eine glutrote Färbung an. Gleichzeitig stand über der Stelle, wo die Dschunke endgültig auseinandergebrochen war, ein Feuerball, als hätte ihn jemand auf eine düstere Leinwand gemalt. Innerhalb des Feuers blitzte es auf, dann fiel alles in sich zusammen, und das schwarze Wasser verschlang die Dschunke wie das Maul eines Riesenfisches die Beute. Ein gewaltiger Sog entstand, der immer weitere Kreise zog. Suko und ich ruderten wie die Weltmeister, trotzdem konnten wir dem Sog nicht völlig entwischen. Er packte uns, hob uns an, schleuderte uns herum, eine Welle schlug über uns zusammen, wir mußten schöpfen, rudern, schöpfen und wurden vom Licht eines Scheinwerfers geblendet, der über die Wasserfläche strich und zu einem Boot der Küstenwache gehörte, daß zusammen mit anderen die Bucht anlief. Suzie hatte Wort gehalten. Suko lehnte sich zurück, bleich, zitternd. »Und wo ist Shao?« fragte er krächzend. »Wahrscheinlich dort, wo sie noch hingehört. Im Reich der Sonnenkönigin Amaterasu. ..« »Ja, ja«, sagte Suko und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. Es machte ihm nichts aus, daß er weinte und ich ihm dabei zusah. Auch Geisterjäger sind keine Maschinen... *** Am nächsten Abend. Mit der Hongkonger Polizei hatten wir geredet, ich hatte auch mit London gesprochen und den Erfolg unserer Aktion gemeldet. Sir James erkundigte sich nach Sukos Zustand, da wollte ich nicht viel sagen. Er verstand es und erkundigte sich nur, wann wir wieder in England eintreffen würden. Den genauen Flugplan hatte ich nicht im Kopf, deshalb konnte ich ihm keine Zeit angeben. Zudem mußte ich mich noch bei jemand für seine tatkräftige Mithilfe bedanken. Es war Suzie, mit der ich in einem wirklich vorzüglichen Restaurant kantonesisch essen ging. Suko war im Hotel geblieben, er wollte allein sein, was er allerdings nicht war, wie ich später erfuhr.
Mitten in der Nacht erhielt er Besuch, und der blieb bis zum frühen Mittag. Auch wenn Shao und Suko durch ein widriges Schicksal noch getrennt leben mußten, bei einem Wiedersehen wurde es doppelt so schön. Zudem hoffte ich, daß Suko die Wahrheit über seinen Vater und den damit verbundenen Schock so schnell wie möglich überwinden würde...
ENDE