Steven Linakis
Verdammte Deserteure Roman
Rütten + Loening Verlag in der Scherz Gruppe Bern München Wien
Einzig ber...
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Steven Linakis
Verdammte Deserteure Roman
Rütten + Loening Verlag in der Scherz Gruppe Bern München Wien
Einzig berechtigte Übertragung aus dem Amerikanischen von Robert Wirth Titel des Originals : «In The Spring The War Ended» scanned by Doc Gonzo Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt Schutzumschlag von Freitag-Schaer, Zürich Erste Auflage 1968 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1965 by Steven Linakis Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag Bern und München
Erster Teil
Erstes Kapitel Damals, im Frühling, war der Krieg vorbei. In der Rue du Maréchal Foch hängte kurz nach Mittag eine Frau die belgische Fahne über ihr bißchen Balkon. Sie winkte mir zu, und ich winkte zurück. Ich wußte noch nicht, daß der Krieg vorbei war. Ich hatte nur davon munkeln gehört. Es war ein selten schöner Tag, und die Straße lag ganz ruhig da. Als ich auf meine Bude gehen wollte, hörte ich sie schon alle in der Küche. Sie waren aufgekratzt und platzten vor lauter Glück. «La guerre est finie!» schrie Mama. «Echt?» «C'est fini, fini, fini!» schrie sie und fiel mir um den Hals. Papachen küßte mich hübsch feucht auf beide Backen; er roch nach Tabak. Voller Glück schüttelte er seine kleinen Fäuste, Al dagegen saß bloß da und trank seinen Kaffee am Küchentisch. «Hör mal», sagte ich zu ihm, «is der Krieg wirklich vorbei?» «Ja.» «Ich glaubs nich.» «Er ist wirklich ratzekahl aus.» «Na, vielleicht wirds jetzt gar nich so schlimm.» «Seid doch froh», sagte Mama. 3
«Schön wärs», sagte ich. Nie zuvor hatte ich Mama so lachen sehen. Während mir Papachen noch erzählte, daß er für diese großartige, diese wunderbare Gelegenheit eine Flasche Armagnac aufgehoben habe, brachte Louise die staubige Flasche schon rein. Saubere Gläser klapperten auf dem Tablett. Mama goß ein. Louise, die mich nie besonders gemocht hatte, kreischte und hopste im Zimmer rum und umarmte und küßte mich. Dann legte Mama den Finger auf die Lippen: «Pst! Pst!» und wir hörten höchst offiziell von Radio Brüssel, daß die deutsche Armee bedingungslos kapituliert hatte. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Al wollte sich kein Glas nehmen und dachte nicht daran, mit uns zu saufen. «Mein Gott», sagte ich, «Bill und Mac sollten hier sein. Die sind doch bei Monty, nich?» «Jetzt schnappen sie uns bestimmt», sagte Al. «Na, komm, sei kein Scheißer.» «Dir machts nix aus», sagte er. «Die MP schnappt dich, und gleich biste wieder draußen. Bei mir isses anders. Ich kam nie durch den Draht. Ich hab jedesmal die Hosen voll, wenn ich nen Schneekopp seh.» «Na, hier siehste keinen», sagte ich. Er war wirklich ein Scheißer. Ich kippte ein paar Armagnacs, und Papachen goß sich einen über das Kinn und tanzte um die eigene Achse. Al aber saß bloß da und war wirklich kein Anblick zum Lachen, und darum ging ich auf die leere Straße raus. Jetzt hingen schon mehr belgische Fahnen von den Balkons. Ich ging auf den 4
Boulevard, und der war auch ruhig, bis auf einen schweren, flachnasigen RAF-Laster, der mit belgischen Soldaten beladen war. Die Belgier brüllten und schwenkten lange, blaue Weinflaschen, und einer wedelte mit dem Union Jack. Der Fahrer streckte den Kopf raus. Die Mütze saß ihm quer wie bei Napoleon auf der Birne. Ein Mädchen hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und küßte ihn. Sie waren alle besoffen. «He, Ami!» sagte der Fahrer. «He!» «Die Scheißnachrichten gehört?» «Einfach toll, was?» sagte ich. «Komm mit, Kumpel», sagte er, und ein hübsches Mädchen winkte auch vom Laster und kreischte: «Ello, Jimmy!» Ich kletterte also über die Ladeplanke. Das Mädchen hielt den Union Jack senkrecht in die Höhe, ihr Kleid hob sich ein wenig, und ich sah auf ihre tadellosen Beine. Sie salutierte wie ein Junge, Brust raus, Kinn hoch. «Vive l'Amérique», sagte sie. «Vivent les Belges», sagte ich, «Scheiß Amerika.» Ein dicker Belgier küßte mich auf beide Backen, und ich mußte aus seiner Flasche trinken. Das andere Mädchen war hübscher, das sah ich jetzt. Ich ging zu ihr hin, und sie nahm meinen Arm und sagte: «Jimmy, oho», und ich sagte: «Selber oho» und legte meinen Arm um sie. Der Laster fuhr mit einem Ruck an. Ich hielt mich am Obergestell fest. Der Boulevard lag völlig ruhig da. Es sah aus wie nach einer Evakuierung, bis wir zum Gare du 5
Nord kamen und auf den weiten Place Rogier einbogen. Der Laster stoppte, weil es nicht mehr weiterging. Eine riesige Menge stand da wie eine Mauer. Wir knallten drauf wie bei einer Explosion. Ich half den beiden Mädchen runter. Die Belgier bewarfen uns mit Konfetti und schleuderten schreiend ihre Hüte hoch. So was hatte ich noch nie gesehen. Nichts sonst rührte sich, Autos und Straßenbahnen waren leer, sie standen nur da und die Menge um sie herum. Überall waren Fahnen. Ein junger Belgier saß auf der Spitze eines Laternenpfahls und verstreute Konfetti. Die beiden Mädchen hingen an meinen Armen. Dann war auf einmal die mit dem Union Jack verschwunden. Die andere blieb da und küßte mich und setzte sich meine Mütze auf. Sie fühlte sich rund, weich und warm an. Ich war schon ganz nett beduselt. Vier Fallschirmjäger von der ersten Luftlandedivision schlossen sich uns an. Sie waren ziemlich angesäuselt, und als wir an einem Konfettikarren vorbeikamen, langte sich einer von ihnen eine Handvoll raus. Die stämmige Konfettifrau schlug ihm mit ihren großen Händen auf den Hinterkopf, als er sich duckte. «Voleur!» schrie sie. Ich warf ihr eine Hundertfrancnote hin, und sofort hellte ihr Gesicht sich auf. «Merci, Monsieur le Sergeant», sagte sie. «Sie will dir für Bastogne danke schön sagen», sagte ich zu dem Fallschirmjäger. «Merci», sagte sie, aber weil die Menge einen Höllenlärm 6
vollführte, hatte mich der Fallschirmknabe nicht gehört. Er warf Konfetti auf die anderen drei und stopfte das Zeug dann einem Mädchen in den Ausschnitt. Sie kreischte. Wir landeten in einem überfüllten Café am Place Adolphe-Max. Es war so groß wie ein Bahnhof und vollgestopft bis an die Bar, lauter Fröileins und Soldaten und alles durcheinander. Mein Mädchen begann auf einmal jeden zu küssen, und ich griff nach meiner Mütze. Verliebt hielt sie jedes Gesicht mit beiden Händen fest und verteilte ihre Küsse und schlug dabei mit den Beinen nach hinten aus. Ein Hürchen mit zerzausten roten Haaren hängte sich bei mir ein und preßte ihre Schenkel gegen mich. Ich zeigte auf den riesigen Fallschirmjäger, der mit uns gekommen war. «Guck dir den an», sagte ich, «der kanns.» «Der?» «Oui.» «Kleine Schwester, versteh mich?» «Der kanns mit jeder.» Die Nutte nahm dem Soldaten die Mütze ab, und er musterte sie. Sie setzte sie auf, tief über ein Auge, und stemmte die Hände in die Hüften. «Klappe zu und laden», sagte ich. «He?» sagte einer. «In Hawaii», sagte ich zu dem großen Kumpel, «heißt das, daß sie dir gehört.» Ich kippte einen Cognac und bestellte noch einen. Die Barmixer waren in Trab und kümmerten sich nicht drum, 7
ob die Theke sauber war oder nicht. Der große Soldat ging die Treppe zum Balkon hoch und dann die andere, die zu den Zimmern führte. Die Nutte hatte sich mit beiden Armen an ihn gehängt. Nach einer Weile fragte einer: «Wo is denn der verdammte Tommy?» «Der mächtig große Kerl?» fragte ich. «Ja.» «Der treibts mit dem Rotschopf.» «Zum Teufel, warum sagt ers nich?» «Biste vielleicht seine Mutter?» «He», sagte ein anderer besoffener Soldat und klopfte mir auf die Schulter, «bist in Ordnung, Chef.» Ungefähr vier Cognacs später glotzte die rothaarige Nutte von der Balkontreppe runter. Dann wandte sie den Kopf ruckartig ab, und weg war sie. Der mächtige Kumpel tauchte wieder auf, das Käppi verkehrt auf dem Schädel. Er war ganz erstarrt und sagte lange nichts. Ich genehmigte mir noch zwei Cognacs. «Das war 'n Stück», sagte ich. «Ja.» «Sah übel aus.» «Hundeluder!» «Wasn los?» «Weißte, was die von mir gewollt hat?» «Was hatse von dir gewollt?» fragte jemand. «Weißte, was der Bankert, das Hundeluder, die rothaarige Hure von mir gewollt hat?» «Nee», sagte ich. «Was hatse denn von dir gewollt?» 8
«Das Hundeluder hat gewollt, ich soll mich auf se legen.» «Is das wahr?» «Ja.» «Haste das gehört?» fragte ich den Soldaten, der über der Theke lehnte. Das Kinn hatte er auf der Brust, die Augen waren geschlossen. Jetzt machte er sie auf und ächzte: «Ha?» «Bockmist», sagte ich. «Kannste dir das vorstellen», sagte der große Soldat, «ich mein, könnt ihr mich sehen, wie ich so ne rote Hure breitquetsch?» «Nee, geht nich.» «Wo nimmt die den Hintern her, so was von mir zu wollen?» «Ich kanns mir nich vorstellen», sagte ich. «Sie muß verrückt gewesen sein.» «Ewige Liebe, was?» «Das wirds sein.» Gerade da kam das Mädchen vom Laster zurück. Sie küßte jeden im Vorbeigehen. Sie war jetzt vollkommen besoffen. Als sie bei mir ankam, strahlte sie übers ganze Gesicht. «Ah», sagte sie. «Oho», sagte ich. «Is das dein Mädchen», fragte einer von den Soldaten. Er blickte auf ihre Hüften. «Sie is meine Frau», sagte ich. Der Soldat zog seine Seemannsmütze über ein Auge. 9
Das Mädchen wollte ihm einen Kuß verpassen. «Du bleibst bei Papa», erklärte ich. «Wo gehen wir hin, Chéri?» «Auf deine Bude.» «Oh, Jimmy», sagte sie enttäuscht. Ich nahm ihren Arm. Draußen war alles in Bewegung, die Stimmen und die Geräusche und die Menschen glitten wild durcheinander, und ich war blau, total blau. Eine leere Tram stand am Place Adolphe-Max und die Menge drumherum. Junge Belgier waren auf das Dach gestiegen, andere plärrten eine Warnung wegen der Oberleitung in die Gegend, einer bimmelte mit der Glocke. Jeder war verrückt geworden. Dann sah ich das Corso. Suzy war wahrscheinlich mit den Fliegern unten. Ihr verdankte ich das einzige angenehme Gefühl, das ich je im Leben gehabt hatte, aber es war vollkommen zwecklos, an sie zu denken. «Du traurig», sagte das Mädchen. «Meinste?» «Wegen Amerika?» «Nee. Was machste da?» Sie wühlte in ihrer offenen Tasche. «Mein Schlüssel, Jimmy», sagte sie. «Zum Teufel mit dem Schlüssel», sagte ich. «Wir brechen die Tür auf.» Die Rue Neuve war auch gerammelt voll, und wir liefen über einen anderen Boulevard und zum Bahnhof. «Hier gibts kein Taxi», sagte ich, «so kommen wir nie nach Schaerbeek.» Ich kam mir sehr erhaben über all das Gedränge vor. 10
«Bude hier», sagte sie. «Ich nicht leben in Schaerbeek. In der Nähe von Rue de Brabant. Wir machen Liebe. Aber schnell, schnell! Gehn wir, O. K.?» «Teufel noch mal», sagte ich. Hinter dem Bahnhof lagen die Straßen verlassen da. Als wir bei ihrer Wohnung angekommen waren, stiegen wir die Treppe hoch. Sie ging voran, und ich hatte beide Hände auf ihren großen Hintern gelegt. «Chéri, du blau», sagte sie. «Nee, mau! Jeder is mau, wenn er blau is.» «Mach leise.» «Ein richtiger Schwabbelpudding», sagte ich, und ihr Hintern bebte. Auf dem Treppenabsatz wühlte sie noch immer in ihrer großen Tasche. Schließlich fand sie den Schlüssel. «Voilà!» Ich folgte ihr in die Wohnung. Es waren nicht viele Möbel da, aber eine Menge weißer Spitzendeckchen auf einer großen Kommode. Auf dem Nachtkästchen am Bett stand das Foto eines Mannes. «Mein mari», sagte sie. «Compris?» «Klar, Ehemann.» «Gefangener bei Boche.» «Scheißboche.» «Oui. Du Italiener?» «Nee, Grieche.» «Ah, Grieche. Aber du bei amerikanischer Armee?» «Ja, die sind nicht wählerisch.» Sie lächelte und sagte: «Wie heißen du?» «Nicholas. Und du?» 11
«Minette», sagte sie. «Mögen du Minette? Du nicht mögen, ich heiß mich anders.» «Wie heißte denn richtig?» «Marie. Ulkig, nich?» «Schöner Name.» «Danach wir gehen spazieren, ja?» «Klar.» Sie ging ins Badezimmer und ließ die Tür offen. «Mach schnell», sagte sie. Sie hatte ihre Hände im Nacken. «Mach schnell, was denn?» «Mach schnell, ausziehen. Wir uns eilen müssen.» Ich konnte meine Hose nicht runterkriegen. Ich hatte meine Stiefel noch an. Mit Müh und Not brachte ich sie von den Füßen. Schließlich schmiß ich alles auf einen Haufen, pflanzte meine Socken obendrauf und wollte sie aufrecht stehen lassen. Aber meine Socken fielen immer wieder um. Dann kam sie mit nacktem Hintern rein, und es wabbelte überall. Alles an ihr sah größer aus als in den Kleidern. Mit beiden Händen hielt sie die Zipfel eines Handtuchs fest und wedelte es durch die Luft. Dabei summte sie eine Marschmelodie, die deutsch klang, und wiegte den Kopf im Takt. Dann breitete sie das Handtuch auf dem Bett aus und legte sich drauf, spreizte die Beine und winkte mir zu. Ich stand da und guckte bloß und stemmte die Hände in die Seiten. Ich kam mir komisch vor, als ich mich auf das Bett kniete. Sie sagte: «Oh, kleiner Bruder is Soldat, machen Habtacht», und klopfte dem kleinen Bruder auf den Kopf. Noch immer summte sie das deutsche Lied, und ihr Kopf 12
pendelte von einer Seite zur anderen. «Jimmy», schrie sie, «oh, du tun mir weh!» und wackelte mit dem Kopf hin und her. «Wirste wohl ruhig sein», sagte ich. «Willste endlich aufhören mit dem Kopfwackeln?» «Was du mögen?» «Was mögen?» «Mögen du alles?» «Muß ich dir für alles blechen?» «Klar, Chéri, aber heut nacht … non.» «Sicher?» «Viel sicher. Du denken, ich lügen?» «Denk, du bist ne Jungfrau; tu so, als wärste ne Jungfrau. Verdammt noch mal, rühr schon deinen Arsch.» «Ich werden schreien.» «Rühr dich.» «Ich werden schreien ganz laut.» «Das is schön.» «Ich werden dich kratzen, ich werden dich beißen.» «Ohne das gehts auch.» «Mach schnell, mach schnell, Chéri!» Sie wand sich. Ich spürte überhaupt nichts. Ich war blau, und alles wollte verschwimmen. Dann bewegte die Nutte ihren Hintern, schnell und erregt, und ihre Hände gruben sich in meinen Rücken, und sie biß mich in die Schulter und stöhnte: «Jimmy, Jimmy, Jimmy!» Ich langte zum Nachtkästchen und kippte das Foto ihres Mannes pietätvoll nach unten. Sie hielt sich jetzt dran, und ich hielt mit, ein Schwitzen ohne Ende. Ich spürte es erst 13
warm, dann heiß, dann siedend bis in die Zehennägel schießen, und dann flutete es genauso wieder nach oben zurück, würgend und glühend heiß. Plötzlich war ich todmüde. In meinem Kopf drehte sich alles. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und wollte mich küssen. Ich stieß sie weg und setzte mich auf, um den Schwindelanfall zu überwinden. «Dir nich gut sein, Jimmy?» «Doch, doch.» «Wohin du gehen?» «Raus.» «Du bleiben, Jimmy.» «Ich heiß nich Jimmy.» «Bei mir bleiben.» «Du warst es doch, die rumflanieren wollte. Mach schon, mach dich fertig, Tempo! Na, jetzt kannste rumflanieren, der Krieg is vorbei, und ich bin am Hund.» «Bei mir bleiben, bitte!» «Ich geh raus.» Später saßen wir in einem Café, und sie war ruhig. Ich kippte meinen Cognac, und sie trank Pernod. Ich kam mir scheußlich einsam vor. Der Cognac war schlecht. Es war eins von den Cafés, in denen der Ober den Betrunkenen schlechten Cognac einschenkt, weil er meint, sie würden den Unterschied nicht merken. Es war dunkel und schummerig. Als Marie aufs Örtchen ging, zahlte ich und verließ das Lokal ohne sie. Die Straße war jetzt ruhig und dunkel; weither vom Boulevard drang Lärm. Das Ende des Krieges hatte nichts 14
verändert. Ich steuerte auf die Menge zu, und dann war ich mitten drin und wurde den Boulevard langgestoßen. Ich wollte betrunken bleiben, aber der Nebel war weg. Ich kam am Corso vorbei und sah, daß alle Terrassentische reingeholt worden waren. Das Corso war überfüllt. Ich widerstand dem Drang, beherrschte mich und ging nicht rein. Suzy mußte drin sein. Es war besser, jemand wie Marie zu haben, jemand, dem man weh tun und ihn nachher verlassen konnte, bei dem man nichts empfand und den man dann vergaß. Ich ging in ein Café gegenüber dem Corso. Es war gerammelt voll von Nachhuttruppen. Sie machten mehr Spektakel als alle, die einmal an der Front gekämpft hatten. Ich ging wieder raus und in Richtung Place Adolphe-Max. Ein MP-Jeep steckte in der Menge auf dem Place du Brouckers fest. Ein Schneekoppoffizier stand auf dem Sitz und winkte in die Menge. Die Menge wollte nicht weichen. Ein Haufen Leute marschierte vorbei und brüllte: «Vive le roi! Vive le roi! Vive le roi!» Auch Kinder waren darunter. Andere Belgier spuckten sie an und ließen Flüche auf den König vom Stapel. Die Menge trieb in eine Richtung, und auf einmal war ich allein in einer dunklen, fremden Straße. Mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf trottete ich dahin. Ein Licht blitzte weiß vor mir auf, stieg hoch und ergoß sich über die schwarzen Dächer der stufenförmig gebauten Häuser. Dann war es wieder dunkel. Ich ging zum Bahnhof zurück. 15
Zweites Kapitel Ich lief den größten Teil des Weges zu meiner Bude zu Fuß, bis ich schließlich eine Tram erwischte; sie schien die einzige Tram zu sein, die fuhr. Außer mir saßen nur noch zwei drin. Als ich bei Mama ankam, waren alle ausgeflogen. Ich haute mich in meine Klappe, aber ich konnte nicht schlafen. Gegen drei Uhr früh hörte ich Bill Johnson Lärm schlagen, und ich ging in sein Zimmer. Eine Hure mit dicken Lippen und starken Augenbrauen war dabei, ihn zu beruhigen. Sie sagte, daß Monsieur William mit Soldatt Krieg mache. Bill hatte sich eine Flasche Cognac umgebunden und lag auf dem Bett, die Flasche im Arm. Er fing an zu schnarchen, ich mußte ihn ausziehen. Die Schickse zuckte mit den Achseln und schwafelte irgendwas vor sich hin; dann fragte sie mich, für was eigentlich der Krieg gut sei, wenn man nicht mal mehr Liebe machen könne. «Glotz mich nich an», sagte ich, «ich mach kein Krieg.» «Du nich?» fragte sie, und als ich sagte: «Ich? Nee!», da kapierte sie, was das für eine tieftraurige Geschichte war. Sie verzog den Mund und zeigte ihre schlechten Zähne: «Du Deserteur, wie Kumpel?» «Teufel noch mal, nee!» «Schon gutt. Ich kennen viel Deserteur.» «Glaub ich auf Anhieb», sagte ich. Keiner, der Bill Johnson in seinem jetzigen Zustand als Säufer und Deserteur kannte, hätte mir abgenommen, daß 16
er in den Staaten mal eine Schule für Infanterieoffiziere mitgemacht hat. Wenn er auch oft davon erzählte, braucht doch keiner zu denken, daß ich ihm so ohne weiteres die Geschichte abkaufte, denn Deserteure lügen genauso viel wie Huren. Aber vor einigen Wochen hatten wir Toby getroffen, der war Sergeant gewesen und von Bills früherer Truppe. Toby schob jetzt ganz regulär bei einer Etappeneinheit eine ruhige Nummer, nachdem es ihn und Bill in den Ardennen erwischt hatte. Ich fragte ihn, ob der ganze Scheibenhonig von Johnson und seiner Offiziersakademie okay sei. Toby sagte, das sei kein Scheibenhonig. Er kannte Johnson seit der Zeit, als beide zur Armee gehörten – lange vor Pearl noch. Es kam nun raus, daß Johnson nur ein paar Tage gefehlt hatten, um ein richtiges Wundertier zu werden, als ihn mal Stammoffiziere erwischten, wie er bis obenhin voll war; sie degradierten ihn, schifften ihn aber nicht zur Division ein, sondern schickten ihn zu einem miesen Ambulanzbataillon. Johnson war der einzige von meinen Bekannten, der enttäuscht war, weil er nicht zur Infanterie zurückdurfte. Als er dann einen Ambulanzwagen an der Front fuhr, sah er nur Verbandstellen und Feldlazarette. Er mußte brüllende Verwundete und solche, die verreckten und schon starr wurden, herumkutschieren, bis ihm zum Kotzen war. Er wurde ein triefäugiger Säufer, und so schaffte er es grade. Ihm schwante noch nichts von dem Dreck an der Front. Ihm dämmerte noch nicht mal, daß dort bloß eine Leichenfabrik war, wo es keine Rolle spielte, 17
wieviel Kugeln man intus hatte. Man konnte umgelegt werden, auch wenn man mutig seine Hosen hochzog und davonlief. Johnson, der Idiot, desertierte zweimal, um bei seiner alten Flintenbande mitzumachen, nachdem er rausgekriegt hatte, wo sie lag. Er bekam beidemal was ab, bevor er noch aus seiner innig geliebten Knarre hatte losballern können. Einen Deutschen sah er nicht mal. Seinen Rücken zierten Schrapnellnarben, die purpurrot leuchteten, nicht gerade schön, dafür wulstig und lang wie ein Männerdaumen, in Sekundenschnelle hatte ihm ein Mörser den Arsch aufgerissen, aber das war für Johnson bloß ein kleiner Spaß. Als er damals in den Ardennen zusammen mit Toby verwundet wurde, schrie man bei der Armee Zeter und Mordio und wollte ihn vor ein Kriegsgericht schleppen, bis ihn einer in den Stars and Stripes schier in den Himmel hob; er galt als eine Art verrückte Nuß, und das paßte der Armee wieder in den Kram. Später wurde er in ein Lazarett nach Paris verfrachtet; sein Arsch sah damals aus wie ein Ballon mit Pusteln und war doppelt so groß als vorher. Er machte einen Mordsklamauk damit, daß er seinen Hintern als Denkmal eines großen Kriegsversehrten im Schaufenster ausstellen wolle. In Paris – es muß während seiner Genesung gewesen sein – wollte er einer der Schwestern mit Gewalt auf die Pelle rücken. Es war das ungefähr das zweite- oder drittemal, daß man ihm mit dem Kriegsgericht drohte, diesmal wegen versuchter Notzucht. Er hätte leicht zwanzig Jahre Leavenworth abkriegen können. Übrigens 18
hatte es dieselbe Krankenschwester auf alle Offiziere und auf alle Ärzte, die Offiziere waren, abgesehen, wie Johnson hörte. Johnson war eben nur ein hundsgemeiner Soldat, und da war für das Luder nichts drin. Am selben Nachmittag, an dem man ihm ein Gerichtsverfahren wegen Notzucht in Aussicht gestellt hatte, erschien ein Oberst im Krankenhaus und verteilte Verwundetenabzeichen. Er hielt eine kurze und völlig idiotische Rede über die Opfer, die sie gebracht hätten. Am Abend noch verließ Bill das Krankenhaus. Er zockelte zum Place Pigalle, wo er seinen Orden einer Hure verehrte, die ihn unter das Kopfkissen schob, nachdem sie sich erkundigt hatte, wieviel das Ding wert sei. Als er zurückkam, wurde er als Deserteur verhaftet. Sie banden ihn einfach an seiner Pritsche fest, weil das Krankenhausgefängnis überfüllt war. Anstatt ihn dann wegen Desertion oder versuchter Notzucht zu verurteilen, schoben sie ihn in ein Vorratsdepot ab. Er mußte also in Versorgungszügen einen Wachtposten markieren. Die Armee hätte ihn zur Infanterie abgeschoben, wenn er es nicht selbst vorgeschlagen hätte. Johnson war gerade als Wächter im Zug von Antwerpen, als der in Brüssel ankam. Er sprang mit zwei Paketen voll Damenkleidung von der UNRRA ab und verschepperte sie auf dem Schwarzmarkt, während er bei einer tollen Hure hauste, die ein Café samt Hotel beim Schaerbeek-Bahnhof betrieb. Nachdem Mac ihn dort getroffen hatte, nahm er mich mit ins Café. Anfangs hielt ich nicht viel von Johnson, 19
denn Säufer waren mir immer verdächtig. Es dauerte nicht lange, da vertrieben Bill und Mac Champagner auf dem großen belgischen Schwarzmarkt. Al wollte nichts mit dem Champagnerschmuggel Lille–Brüssel zu tun haben. Ich dachte mir dasselbe wie Al, daß es nämlich zu gefährlich sei, ohne Passierschein mit einem Wagen über die Grenze zu wollen. Mac, der es mehrmals geschafft hatte, sagte, daß die Zöllner nichts anderes täten als grüßen; man könne einen Elefanten über die Grenze bringen. Vielleicht – dafür gab es aber ein Dutzend Kontrollen und Schneeköppe zwischen Lille und Brüssel. Ich hatte den beiden einen großen Laster aus einem bewachten Depot am Stadtrand organisiert. Als sie die Fahrt hinter sich hatten, gab mir Mac fünftausend für die Karre. Ich tat mich ein bißchen um und verschepperte den Laster per Monsieur Lefevre für hunderttausend an ein paar Belgier. Das ist mehr als zweitausend Dollars. Monsieur Lefevre, der wie ein Schauspieler schwafelte, vertraute mir an, daß sein Freund an mehreren Lastern interessiert sei. «Wie viele?» «Acht.» Das bewachte Depot war kein Problem, aber ich war noch nicht genug rumgekommen, um die anderen aufzugabeln. Jedenfalls war Brüssel vollgestopft mit USTruppen und natürlich auch mit Lastern. Ich ahnte bloß nicht, was Lefevres Freund mit so vielen Lastern anfangen wollte, aber das wichtigste war schließlich, sich das Geld unter den Nagel zu reißen. Man mußte was zu beißen 20
haben. Jetzt soll aber bloß keiner denken, daß ich oder die anderen sich über Nacht so entwickelt haben. Zugegeben, Bill paßte sich dem Gang der Dinge ziemlich leicht an. Jeder Belgier war ja offenbar in den Schwarzmarkt oder irgendeine andere Gaunerei verwickelt. Die Belgier handelten nur patriotisch, als sie die Deutschen reinlegten. Jetzt waren die fort, und dafür gab es Anglais et Américains, die man beklauen konnte. Amerika war ja so ein reiches Land! Bill wurde also, wie wir alle, ein Dieb und Schmuggler und mischte eifrig auf dem Schwarzmarkt mit. Nicht jeder, der sich davongemacht hatte, war wie Bill. Niemand hätte sagen können, warum Al abgehauen war. Er hatte seine Kugeln im Korpus, und es zerrte ihm bereits am Nerv, mal durchs Zimmer zu gehen; er trug auch genauso viel Klimbim an der Heldenbrust wie Audie Murphy. Der einzige Grund, warum er die Ehrenmedaille nicht hatte, war der, daß er das Band nicht kaufen konnte. Dabei hätte man das auf dem Schwarzmarkt leicht kriegen können. Mac erzählte mir, daß Al sich davongemacht hatte, als er nach der Falaise-Gap-Geschichte zum Ersatz gekommen war und die umgestürzten Laster und daneben die blutigen, stinkenden Leichen gesehen hatte. Bevor er noch bei seiner Einheit ankam, machte sich Al aus dem Staub, und zwar in Richtung Paris, weil er gehört hatte, es sei gerade eingesackt worden. Al konnte es nie vergessen, daß man ihn als Befreier von Paris empfangen hatte. Am Tage der Befreiung sah Al haufenweise französische Gören, die 21
sich mit französischen Soldaten neben den Panzern, auf den Lastern und Jeeps rumdrückten. Bald darauf wimmelte es in Paris von Schneeköppen, und Al, dem einer erzählt hatte, Brüssel sei für Deserteure ein ruhigeres Pflaster, setzte sich Richtung Norden ab. Seitdem war Al in Brüssel geblieben und nie von der MP kassiert worden. Ich hatte keinen Dunst, wie er es anstellte, daß er nie kassiert wurde, aber er steckte seine Nase damals selten raus, und dann nur, wenn es sein mußte. Dabei kam er immer schwer ins Schwitzen. Mac war zwar ein kleiner Kerl, aber ein toller Bursche, mit einer runden Visage und Knopfaugen wie ein Kind, aber er war in Ordnung. Er hatte dazu noch zwei runde, purpurne Grübchen, wo ihn die Deutschen durch den Mund geschossen hatten. Er war einer von den Kindsköpfen, die freiwillig ausgezogen waren, um die Welt zu retten, ohne sie überhaupt zu kennen. Zur Stunde H war er im Dog-Red-Viertel der Omaha und kämpfte genau zehn Minuten lang, bis ihn die Deutschen durch die Backen schossen und einige Zähne dran glauben mußten. Nachdem man ihn auf ein Sanitätsschiff gebracht hatte, meinten die Ärzte, sein Kiefer sei in Ordnung, und flickten ihm ein paar falsche Zähne ein. Es überraschte ihn höllisch, als sie ihn mit dem Schiff zum zweitenmal nach Frankreich schickten. Anstatt brav an die Front zu eilen, machte er sich in Richtung Paris davon, dann nach Liège und später nach Brüssel. Mac wollte jetzt ein bißchen was von der Welt kennenlernen, anstatt sie zu retten. Er hatte ein Mädchen, 22
das Madeleine hieß. Er führte sich ihr gegenüber aber verdammt blöd auf und kaufte ihr einfach viel zuviel. Er versuchte nicht mal, ihr den Schlüpfer auszuziehen, denn er glaubte, sie sei noch Jungfrau. Während der ganzen Zeit strich Mademoiselle Madeleine dabei um einen Etappenleutnant rum. Die Belgier nannten ihn übrigens «Petit Mac», und sonst war er in Ordnung. Mac und Al waren auf die Flugplätze vor Schaerbeek scharf. Als ich aus dem Gefängnis in Deutschland zurückkam, erzählten sie mir, sie machten prächtige Geschäfte mit Fallschirmseide, die sie auf dem Schwarzmarkt verkauften. Die angrenzenden Flugplätze hießen bei den Engländern B 56 und B 58. Mit einem geklauten Jeep fuhren wir zu jedem amerikanischen Flugzeug auf dem Flugplatz und griffen uns Fallschirme, Leinensäcke und überhaupt alles, was nicht niet- und nagelfest war. Ich wußte nicht, woher Al die Papiere hatte, um auf den Flugplatz zu kommen. Erst später kriegte ich raus, was für uns so prima war. Weil die Engländer die Amis nicht leiden konnten, stellten sie nie Wachtposten um die Flugzeuge auf. Wir hätten die Motoren mitnehmen können, wenn wir gewollt hätten. Todsicher hätte man aber keine britische Lancaster klauen können. Hinterher sausten wir zu Montys Café und versteckten die Fallschirme in seiner Garage oder im Keller. Wenn wir ohne Pinke waren, pumpte uns Monty so lange, wie wir Fallschirme im Keller hatten. Bevor ich das letztemal geschnappt wurde, drückte ich 23
mich immer im Corso rum. Das Corso lag um die Ecke neben dem MP-Hauptquartier am Place Rogier. Ich hatte Grund genug, soviel zu riskieren. Suzy war so ein tolles Mädchen, daß es mich einen Dreck scherte, ob die ganze verdammte MP hinter mir herhetzte. Ich sah sie zum erstenmal im Winter. Ich war damals mehr im Loch als draußen. Entweder marschierte ich offiziell raus, oder ich brach aus und ging schnurstracks zum Corso zurück, obwohl ich wußte, daß mir die Armee leicht den Prozeß machen und mich nach Le Mans abservieren konnte, und dann good-bye Nicky. Dort hatten sie mir den Arsch aufgerissen und dazu noch ein Scheißhaus voll Zeit verpaßt. Suzy war eine blonde Belgierin. Jeder Kerl, auch der Kommandierende General, war hinter ihr her. Wenn die Armee mich mal erschoß oder hängte oder mit lebenslänglich abschob, dann war es immer noch besser, wenn ich was hatte, was den ganzen Aufwand lohnte. Sie war so was. Sie ging mit mir ins Bett, als sie gespannt hatte, daß ich ein Deserteur war. Sie hielt zu mir, und ich wurde ihre große Liebe, wenn ich das auch nicht verstand. Ich denk mir, weil ich ein Mensch war, der noch verlorener war als sie. Außerdem brauchten die anderen nie was außer ihrer katzenhaften Zärtlichkeit, und auf solche Männer konnte sie verzichten. Ich hopste also in die Gefängnisse rein und wieder raus, gerade so wie beim Jo-Jo. Ich hatte keine Chance, in dieser Hölle mit ihr zu leben oder irgendwas dran zu ändern. Ich nicht, aber die Schneeköppe, die konnten alles ändern. 24
Letztesmal nagelten sie mich bei einer lausigen Jeepkontrolle am Chez Georges beim Schaerbeek-Bahnhof fest, dort sah man die Bastarde sonst selten. Gelegentlich hatte ich mir den Paß von einem Oberleutnant zugelegt. Nicht, um damit Eindruck zu schinden! Meiner Schickse mußte ich keinen Eindruck machen. Was ich von Offizieren hielt, das konnte man mir vom Dach ablesen, aber wenn man sich kaltlächelnd ausweist, gehen die Schneeköppe vorbei und vermeiden sogar das Grüßen. Als ich bei Chez Georges geschnappt wurde, war ich Oberleutnant, und ich wußte, daß mich einer reingeritten hatte. Später sagte mir Georges, daß es der Belgier war, dem ich ein bißchen Karbon verscheppert hatte. Ich hatte ihn bloß ein bißchen gedrückt, und er wurde nervös und rief die Schneeköppe. Ich glaube, die Sache, die mich und die Armee endgültig auseinanderbrachte, war die im Hürtgenwald. Ich war von unserem eigenen Mörser getroffen worden. Unser Leutnant wurde geblendet, und meine Beine verätzte der Phosphor. Es war am selben Tag, als wir die deutsche Ardennenoffensive zurückgeschlagen hatten. Die Division hatte siebzig Prozent Verluste in drei Wochen. Unsere Kompanie war auf sieben Mann geschrumpft. Ich lag sechs Monate an der Front, und im Hürtgenwald lief alles verkehrt. Sie lagen alle tot im zersplitterten Wald, in dem die 8,8-Geschosse wie riesige Baumsägen die Bäume kippten. Da konnte man die Infanterie wie nix verduften sehen; ganze Kompanien gingen stiften. Sie schrien sich die Köpfe heiß: «Der Krieg ist Scheiße, Scheiße ist der 25
lausige Krieg!» Keiner hat sie aufgehalten. Ich kam ins Hauptlazarett nach Liège. Bevor mich die Ärzte gesund und kampffähig schrieben, versuchte ich die Brandwunden an meinen Beinen zu infizieren. Trotz dem vielen Dreck, den ich dazu verwendete, schaffte ich es nicht. Ein Bursche namens Tony und ich – er war nicht aus meiner Kompanie, er hatte ein Schrapnell erwischt, und der Eiter rann aus seinen Wunden –, wir kamen beide in ein Rückführlager zur Front. Als man uns auf die Laster lud, die uns zum Regiment bringen sollten, sagte Tony: «Die sind total verrückt! Zum Teufel mit der Scheiße!» Da sagte ich: «Wart mal, ich komm mit.» Und das war der Anfang von der ganzen Sache. Wenn man erst mal ein Deserteur ist, spannt man, daß einen die Armee vor ein Kriegsgericht stellen und dann in das Loire Disciplinary Training Center in Le Mans bringen kann. Dort bleibt einem nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie einer oder auch zwei gehängt werden, und das jeden Samstagmorgen. Der Hunger hockt einem bei der halben Ration, die's gibt, immer im Genick. Man sucht in den Abfalleimern hinter dem Casino nach Essensresten. Die Schleifer treten einem in den Arsch von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Sie hetzen einen, wenn man in voller Feldausrüstung ist, oder sie lassen dicke Säcke stemmen. Bei den halben Rationen fällt man dabei platt auf die Schnauze. Die Schleifer verpassen sofort Einzelhaft, wegen Befehlsverweigerung. Man wird nackt in die Einzelzelle gestoßen, ein acht Fuß tiefes Loch, das mit Stacheldraht verschlossen ist. Die Gefangenen krepieren 26
mit Vorliebe an Lungenentzündung. Die Armee hatte im letzten Winter damit angefangen, Soldaten zu erschießen. Ein Bursche namens Slovik von der 28sten war wegen Desertion hingerichtet worden. Er hatte sich, zusammen mit einem Kumpel, verdrückt. Dem Kumpel aber passierte nichts. Die Division behandelte ihn wie einen Streuner und schickte ihn an die Front zurück. Ich wußte nicht, ob Slovik bloß einen Tag oder schon einige Monate desertiert war. Jeder, der vor ein Kriegsgericht kam, wurde erschossen oder gehängt oder bekam lebenslänglich oder fünfzig Jahre. Manchmal auch bloß zwanzig oder dreißig. Keiner wußte, ob er noch als Soldat aus Le Mans rauskam oder ob er in Sing-Sing landete. Keiner wußte überhaupt was. Die Armee konnte jeden vor ein Exekutionskommando stellen, doch wenn einer desertierte, dachte er natürlich nicht daran. Die Kerle, die aus der Verhörbaracke in Paris ausgebrochen waren, hatten Slovik in Handschellen gesehen. Das ganze Lametta war von seinem Offiziersmantel weggerissen, und der Schulterriemen hing runter. Vier Schneeköppe schleppten ihn aus der Verhörbaracke raus und rein in eine Waffenfuhre. Sie ließen ihn dann vor einem französischen Schloß von einem Exekutionskommando aus seinem Regiment niederknallen. Damals im Januar gefangene GIs wurden scharenweise durch die Verhörbaracke geschleust. Wer mal aus dem Schlamassel raus war, wollte sich nicht von der Armee an 27
die Wand stellen lassen. Ein paar Tage später zettelten ein paar solcher Burschen eine richtige Straßenschlacht an. Sie rannten aus der Pariser Metro auf die Straßen und legten einige MPs um. Die Armee statuierte natürlich ein Exempel, aber sie vergaß die möglichen Folgen. Jetzt ging nämlich ein richtiger Kleinkrieg hinter der Front los. Als Deserteur hatte ich genug Gesellschaft. Brüssel war überlaufen, und Städte wie Seraing bestanden nur noch aus Deserteuren. Deserteure stürmten Seraing, und die Schneeköppe hatten Schiß, dort reinzugehen. Liège war auch so ein großer Treffpunkt, ebenso Eupen und Verviers. Das war aber bloß Belgien. Die DeserteurMetropole war Paris, wo sich dem Hörensagen nach fünfzehntausend Deserteure rumtrieben – von den Engländern und Kanadiern oder gar den Deutschen und Italienern ganz zu schweigen. Wahrscheinlich klingen fünfzehntausend nicht gerade furchtbar großartig, und wahrscheinlich war auch nicht viel los. Bloß haben manche Leute die verrückte Vorstellung, daß Millionen Helden gekämpft haben, oder gar, daß Eisenhower gekämpft hat. Eisenhower – der kämpfte nur am grünen Tisch. Es gab schon Millionen Soldaten, aber alle hinter uns. Sie unterstützten den Nachschub und stolzierten herum wie Soldaten, aber sie waren keine. Das Deserteurproblem sah aber noch viel schlimmer aus, wenn man einen Dunst von der Kriegsmethode hatte. Wenn fünfzehntausend Mann in einer Infanteriedivision waren, dann standen weniger als sechstausend an der Front, und dabei gab es ungefähr fünfunddreißig Infanteriedivisionen. 28
Die Deserteure kamen meistens aus der kämpfenden Truppe, und das heißt also, daß ein Fünftel oder gar ein Viertel von denen an der Front abgehauen war. Drittes Kapitel Als der Krieg in Europa aus war, änderte sich für uns nichts. Ich machte also die nächsten drei Wochen weiter, bis ich wieder mal geschnappt wurde. Ich wollte mir einen Paß organisieren, denn so was konnte man leicht bekommen. Man erzählte bloß einem Schreiber den alten Bockmist, daß man eben erst angekommen war, seinen Paß verloren hatte und nicht ohne in die Stadt reingehen wollte. Diesmal kam ich aber an den falschen. Er war Korporal und sah mich gleich komisch an und sagte, ich solle warten. Er schloß das Schiebefenster. Den ganzen Tag hatte es schon genieselt, und abends fiel ein leichter Sprühregen. Ich stand in dem Bogengang, der Regen wurde zu Nebel. Ich hatte schon ein mieses Gefühl, noch bevor er nach hinten ging. Dann sah ich ihn mit einem Mordskerl von Schneekopp rauskommen; ein käsiges Gesicht hatte der und ein Schulterband über dem Regenmantel und einen weißen Helm. Das braune Schulterband war schwarz gesäumt. Mir wurde kalt. Ich wollte verduften, aber der Schneekopp kam schon zur Tür raus. «Halt!» Ich blieb stehen. «Du hast vom Korporal nen Paß gewollt?» 29
«Stimmt, das is er», sagte der Korporal. «Sekunde», sagte ich, «ich hab dem Idioten gesagt, daß ich ihn verloren hab.» «Selber Idiot», sagte der Korporal. «Laß mich mit ihm reden», sagte der Schneekopp, «zeig mal deine Erkennungsmarke. » Ich holte sie unter meinem Hemd raus. Der Schneekopp richtete seine Lampe drauf, dann sah er mich scharf an: «Sag mal deine Nummer!» Ich las sie gerade so ab, wie ich es mit meiner eigenen gemacht hätte. «Ich kann dir sagen, das is ein Deserteur», sagte der Korporal. «Wir haben hier keinen Sergeant Grange.» «Das is lächerlich», sagte ich. Der Schneekopp beobachtete mich, als ich die Erkennungsmarke unter mein Hemd steckte. «Diese Burschen klauen einem die Augen ausm Kopf», sagte der Korporal, «es sind einfach schon zuviel Räubereien vorgekommen.» «Bankraub?» fragte ich. «Laß gut sein», sagte der Schneekopp, «Schluß mit dem Affentheater.» «Soll ichs Hauptquartier anrufen?» fragte der Korporal. «Kennste die Nummer?» «Ich muß die Nummer ja kennen, bei den Typen, die hier rumlaufen.» Im Amtszimmer wählte der Korporal die Nummer des Hauptquartiers. Ich konnte ihn durchs Fenster sehen. Er war wohl beglückt, dort anrufen zu können. Der 30
Schneekopp stand neben mir und sah zu. «Ich nehm an, ich steh unter Arrest», sagte ich. «Das kannste schon annehmen.» «Wie ists denn, ich muß mal pinkeln.» «Du bleibst hier.» «Ich muß aber wirklich.» «Na gut, aber mach keinen Blödsinn.» Er ging hinter mir her durch den dunklen, offenen Schulhof. Der Lokus hatte kein Licht. Ich konnte eben noch das Pissoir erkennen. Der Schneekopp stand unter der offenen Tür im Regen. Ich holte die große Smith-andWesson unter meiner Amijacke raus. Die Pistole in der Hand, kam ich raus. Den Lauf hielt ich von ihm weg, als ich sie ihm übergab. Er stand im Dunkeln, aber ich sah, wie er zurückwich. «Halt das mal», sagte ich. «Du verrückter Hund!» «Biste erschrocken?» Er nahm das Ding. Dann packte er mich am Arm und gab mir nen Stoß. «Ich hab dir doch gesagt, du sollst keinen Blödsinn machen.» «Vorsicht, ich könnt ausreißen.» «Halts Maul!» Bei den Arkaden warteten wir auf die MP, die der Korporal im Hauptquartier angerufen hatte. Der Korporal war im Dienstraum. Er saß am Pult beim Schiebefenster. Als er mich sah, drehte er sich weg. Der Schneekopp beobachtete mich. Eine Hand drückte er flach gegen das Schulterband. Nebelschwaden hingen herum und wehten 31
unter die Arkaden, und sein Regenmantel glänzte grün. Wir warteten, bis endlich der Jeep, unter dessen Windschutzscheibe mit großen Buchstaben MILITARY POLICE stand, rangefahren kam. Es waren zwei MPs drin. Der eine, der ausstieg, war sehr groß, trug eine Brille und hatte eine lässige Art zu gehen. «Ich kenn dieses Schwein», sagte er. «Hihi», machte ich. Der Rammel von Schneekopp packte den Gürtel unter meiner Jacke und gab mir einen Stoß. «Der is gerissen», sagte er. «Er sagt, er hätt einen Paß gehabt und sei im Klub gewesen und hätt ihn verloren.» «Hat das schon mal hingehauen?» fragte der mit der Brille. «Klar», sagte ich. «Na, dann probier jetzt mal was», sagte der erste. Ich glaubte fast, er würde über sich selbst stolpern, bis er sein Schießeisen aus dem Schulterband bekam und schußbereit hatte. Dann stieß er mich hinten in den Jeep hinein und hielt den Revolver gegen mein Ohr. Er war nicht gespannt. «Mach keine Dummheiten», sagte ich. «Halts Maul!» Beim Hauptquartier drüben am Place Rogier wimmelte es von Schneeköppen. Keiner beachtete mich. Irgendwo hinten leerten sie meinen Tascheninhalt auf ein Pult. Ein gutaussehender Sergeant mit schwarzglänzendem Haar verhörte mich. Der Schneekopp zeigte dem Sergeant die Smith-and-Wesson; er hielt sie flach auf der Hand. «Die hatte er», sagte er. 32
Der Sergeant grinste: «Willst du Bäume ausreißen?» «Nee.» «Wir haben den da schon ziemlich oft aufgegriffen», sagte der mit der Brille. «Ausgerissen?» fragte der Sergeant; er grinste wieder. «Von wo?» «Er verwechselt mich», sagte ich. «Einmal griffen wir ihn mit einem Italiener auf, ein andermal gab er als Leutnant an.» «Sie täuschen sich», sagte ich. «Was ist los», sagte der Sergeant und grinste noch immer. «Willst du jetzt nicht mehr Leutnant sein?» Ich sagte nichts. «Glaubst du, du kannst dich ums Loch rumreden?» fragte der Sergeant. «Es gibt dort keinen Exerzierplatz mehr. Wir sind euch Kerlen auf die Schliche gekommen. Bist du aus der Verhörbaracke ausgebrochen?» «Er und der italienische Deserteur verschepperten Kohle an die Deutschen», sagte der mit der Brille. «Die Deutschen brauchten die für nen Radiosender.» «Der quatscht vielleicht nen Bockmist», sagte ich. «Die Deutschen brauchten sie für ihre V1» «Brauchten was?» fragte der Sergeant. «Die Kohle, Sergeant. Und sie verkauften die Kohle an die Deutschen.» Der Sergeant lächelte. Er hielt meine Erkennungsmarke in der Hand. «Nathan Grange ist eine Fälschung.» «Das is mein Name.» «Namensfälschung ist soviel wie Desertion, Kumpel.» 33
Ich sagte nichts. «Bringt ihn in die Zelle», sagte der Sergeant. Ich wurde in Handschellen ins Kittchen gebracht. Ein Polizist öffnete das schwere Tor. Wir kamen rein, und der Polizist setzte sich auf den Holzstuhl. Er nahm seine Zeitung zur Hand. Das Gefängnis war wie der Korridor eines schmutzigen Museums, ein riesiges, hohltönendes Gewölbe. In der Zelle wurden mir die Handschellen wieder abgenommen, auch mein Gürtel und die Schnürsenkel. Es waren noch fünf andere GIs in der Zelle. Drei versuchten auf dem harten Brett zu schlafen, das so lang war wie die Zelle und zum Gang hin abfiel. Die meisten europäischen Gefängnisse sehen so aus. Das Licht brannte Tag und Nacht. Man konnte die Nutten hören, wenn sie von Polizisten reingebracht wurden. Eine schlug Krach und kreischte. Jede Stunde, sogar jede Viertelstunde, schlug die große Glocke im Kirchturm beim Grand' Place. Morgens standen wir in Reih und Glied draußen im Korridor vor der Zelle. Die Belgier musterten uns mißtrauisch. Es war jeden Morgen dasselbe. Nach jeder Mahlzeit bekamen wir eine Zigarette. Das Essen wurde durch ein Fenster in der Tür reingeschoben. Die Löffel, Gabeln und Teller waren aus Pappe. Eine Unmenge Namen und Nummern waren an die Wand gekritzelt. Wie immer stand auch KILROY WAS HERE – 12. Dezember 1946 34
da, dazu die Zeichnung von Kilroy, eine Nase, die über einen Zaun ragt, zwei Hände, die den Zaun halten, runde, traurige Augen, und zwei Haarsträhnen auf einem Eierkopf. Drei Tage später wurden wir mit einem bewachten Transport weggebracht. Zuerst kamen wir in ein Untersuchungsgefängnis, draußen bei Waterloo. Als sie dort genug von uns hatten, verluden uns die Kapos auf zwei große, offene Laster, so riesig wie Überlandtransporter, die gerammelt voll waren. Wir mußten die Fahrt im Stehen machen. Eine ganze Jeepladung von Schneeköppen mit schweren Revolvern, Maschinenpistolen und Thompsons folgte uns. Wir kamen am späten Nachmittag am Orly vorbei. Über die Bäume hinweg konnte man den Eiffelturm erkennen; blau und blaß stand er gegen den Horizont. Als wir nach Paris reinkamen, wurden die Straßen breiter, mit vielen Bäumen rechts und links. Die Leute winkten. Ein paar von uns winkten zurück. Es sah verdammt komisch aus. Dann war auf einmal die rote Ziegelmauer der Pariser Verhörbaracke da. Auf der Tafel am Gitter stand CASERNE MORTIER. Im großen Innenhof stiegen wir ab und marschierten in einer langen Prozession quer durch. Dann händigte man uns wundernette gelbe Leinenhüte aus und eine maronenfarbene Kluft. Man kam sich wie ein Clown vor. Der dritte Stock sah aus wie ein überfüllter Schlafsaal. Wir hatten nichts zu tun und brachten die Zeit damit rum, aus dem Fenster zu gaffen. Man konnte den Eiffelturm 35
sehen, die hübschen Straßen und die Kamine auf den Dachfirsten. Eines Sonntags kam ein Mädchen und sprach von der Straße aus zu einem vom dritten Stock rauf. Ein Gendarm mit wehendem Mantel brüllte ihr zu, sie solle verschwinden. Nach einiger Zeit kam sie wieder. Der Gendarm plärrte ihr zum zweitenmal zu: «Verdufte!», und alle fingen an zu buhen. Der Gendarm würdigte uns keines Blicks. Ich konnte sehen, daß das Mädchen heulte. Dann, an einem Samstag, gab es eine Hinrichtung auf dem Parkplatz, auf einem fahrbaren Gerüst. Wir hatten gesehen, wie die MPs den Burschen über den Hof auf den Parkplatz schleppten, aber das Gerüst sahen wir nicht. Jeder war still. Wir hörten einen klappernden Schlag, das muß wohl das Fallbeil gewesen sein. Gerade in dem Moment fuhr ein schwarzes Auto auf dem Boulevard vorbei und hupte ein paar Fußgänger an. Als die wachhabenden Offiziere vom Parkplatz marschierten, schrie ein Häftling: «Ihr seid ein Scheißhaufen von Scheißkerlen!» Die MP-Offiziere machten einen Höllenlärm, und der befehlshabende Major drohte, den ganzen dritten Stock in Einzelhaft zu nehmen. Den ganzen Tag über bekamen wir kein Fressen. Ich hatte höllisches Kopfweh. Wir waren alle schlecht gelaunt. Einer der Gefangenen muß den Wachen den Schreier verpfiffen haben, denn in derselben Nacht, so um elf, kamen zwei Kapos zu seinem Schlafbrett, rissen die Decken weg, legten ihm Handschellen an und stießen ihn mit sich fort. Am nächsten Tag gabs zwar wieder Essen, aber jeder war wie ausgewechselt. Noch mehr als früher 36
hörte man freche Reden. Sogar die beiden Burschen mit der Gelbsucht, die mit mir vom Brüsseler Gefängnis gekommen waren, dachten an Flucht. Sie waren richtig krank, und mir war schleierhaft, warum sie nicht im Lazarett lagen – ich nehm an, weil dort alles von Tripperkranken überfüllt war. So krank die beiden Knaben mit ihrer Gelbsucht auch waren, sprachen sie doch davon, zu türmen. Wasser auf die Mühle war noch, was der Bursche erzählte, der von Le Mans ausgebrochen und von den MPs wieder geschnappt worden war. «Habt ihr nie was von Einzelhaft gehört?» fragte er. «Nee», sagte einer. «Das is 'n schöner Ort», sagte er, «das is 'n Ort, wo man Sonnenbäder nehmen kann. Kein Baum, kein Schatten, bloß ein tiefes Loch, und da hockste arschnackt drin.» «Du bist ja plemplem», sagte ein anderer. «Nee, ich nich! Bin ich vielleicht plemplem?» «Ich weiß nich», sagte ich. «Er ist plemplem», sagte der andere, der es nicht glauben wollte. «Das is doch unmenschlich.» Das gab auch der zweite, der von Le Mans geflohen war, zu: «Das stimmt. Genau so ists.» «Siehste», sagte der erste und war zufrieden. «Wie lang muß man denn da drin bleiben?» fragte der Zweifler. Er war ganz schön erschrocken. «Vielleicht drei, vielleicht fünf», sagte der erste. «Tage?» 37
«Meinste Jahre?» «Fünf», sagte der zweite. «Es is nich so übel», sagte der erste. «Vielleicht bißchen kühl in der Nacht, aber man gewöhnt sich dran.» «Armleuchter», sagte der zweite. Jetzt fingen die zwei von Le Mans miteinander eine Unterhaltung an; der Zweifler war Luft für sie. Noch lange danach war der ganz durcheinander und sagte kein Wort. Plötzlich fragte er mich: «Hör mal, das kann doch nich wahr sein, oder?» «Sicher isses wahr», sagte ich. Diesmal wollte ich rauskommen, ohne meine Muskeln zu strapazieren, nur mein Hirn. Ein Häftling hatte mir erzählt, wie man die Sanitäter bescheißen kann, wie man ihnen vormacht, daß man Blut pißt. Vielleicht kam ich dann in ein richtiges Lazarett. Alles aber, was die Sanitäter unternahmen, war eine Urinprobe, und das war das letzte, was ich von meinem Leiden hörte. Eines Nachmittags, als ich auf meinem Feldbett döste, las ein Wachtposten Namen von einer Liste ab, darunter auch Grange, und sagte: «Wer aufgerufen worden ist, wird in fünfzehn Minuten abtransportiert.» Wir waren in Reih und Glied im Hof angetreten. Wir standen lange Zeit in der Sonne. Dann wurden wir auf große Sechsachser verfrachtet. Zwei Schneeköppe saßen an jeder Ecke der Ladeplanke. Wir hockten auf den Holzsitzen. Endlich fuhren wir aus dem Hof. Ich sah die schattigen Bäume längs der Straße. Es war, verdammt noch mal, wirklich eine feine Stadt. Ich erinnerte mich, 38
daß ich während der Kämpfe im August gerade sieben Kilometer südlich vorbeigekommen war. Das war also das einzige Mal, daß ich Paris sah. Viertes Kapitel Wir befanden uns außerhalb von Paris auf einer staubigen, schmalen Straße. Manchmal wurde sie von riesigen Bäumen überschattet. Dann war es kalt. Ich sah Wegweiser längs der Straße und wußte, wohin wir fuhren. Es war dunkel, als wir in Deutschland ankamen. Die Häftlinge schliefen auf den Holzsitzen, als wir in dem Zuchthaus am Stadtrand von Nürnberg eintrafen. Flutlichter schienen grell durch die Nebelschwaden. Die Wachen standen stramm, als wir runterkletterten und uns in Zweierreihen aufstellten. Dann marschierten wir rein. Es war gegen drei Uhr morgen; die üblichen Morgengeräusche waren zu hören. Die Luft war frisch und kühl. Die Zellen waren im Dachgeschoß. Die Schlafkojen hatte man längs der Wand aufgereiht, wie in einem Krankenhaussaal. Die Wachen zählten uns, als wir in den Hof marschierten; dann kamen sie an unseren Betten vorbei, um die Köpfe noch mal abzuzählen. Nach dem Löschen der Lampen weckte mich ein plötzlicher Lichtstrahl; sie zählten schon wieder. Nach dem Wecken stellten wir uns im Hof auf. Es war noch dunkel, aber die Sonne ging bald auf. Das Frühstück inhalierten wir in einer feuchten Kantine; danach schickten sie uns wieder in den 39
Hof. Ich sah Vögel in langgestreckten Zügen vorbeifliegen; am Himmel wechselten helle und dunkle Streifen. Eine hohe Steinmauer mit Stacheldraht drauf umgab den ganzen Hof. Von der Kantine aus konnte man besonders gesicherte Zellen sehen, alle Fenster mit Eisenstäben verrammelt. Wir traten zum Drill im Hof an. Ein langer Neger, einer der Häftlinge, war der Schleifer. Der Neger war ein richtiger Affe. Er konnte halbwegs singen, und wir mußten in einem Affenrhythmus hopsen: Ich ging mal mit nem GI-Luder, Jetzt krieg ich Hiebe, 'n ganzes Fuder. Hopsa tralala, Hops noch mal! Rums, zwei, drei, vier, Rums, zwei, drei, vier. Am Ersten schickt ich heim die Lohnung, Die Jody nahm 'ne neue Wohnung. Hopsa tralala, Hops noch mal! Rums, zwei, drei, vier, Rums, zwei, drei, vier. Dann wurd ich gleich ganz dürr und mager, Die Jody hat viel Fett auf Lager. 40
Hopsa tralala, Hops noch mal! Rums, zwei, drei, vier, Rums, zwei, drei, vier. Verreck ich dann im Kugelregen, Schickt heim 's Gedärm mit meinem Segen. Hopsa tralala, Hops noch mal! Rums, zwei, drei, vier, Rums, zwei, drei, vier. Wie Roboter mußten wir rechtsum, linksum, zurück marsch, und der breitschultrige, laut plärrende, langbeinige Neger drillte uns gemeiner als die in West Point. Es gibt einfach nichts auf der Welt, was einem solchen Affendrill gleichkommt, und wenn einer meint, man würde auf einem Paradeplatz zuviel marschieren, dann ist das noch gemütlich gegen das hier. Schneller und immer schneller ließ er uns hopsen, und zwei Stunden gingen vorbei wie nichts. Danach hockten wir im Schatten auf der Treppe und glotzten in den Hof. So saß ich da, als ein Wachtposten vorbeikam und seinen Gummiknüppel schwenkte. «Grange?» fragte er. Ich hörte mit dem Grübeln auf und knurrte: «Ja!» «Geh zum Arzt.» «Was?» 41
«Marsch, los», sagte er. Ich ging mit ihm ins Lazarett, wo mir ein kleiner Arzt mit Brille sagte, er habe von der Pariser Verhörbaracke einen medizinischen Befund erhalten, ich uriniere Blut. Der Arzt fragte mich: «Haben Sie Schmerzen?» «Ich weiß nich», sagte ich. Ich versuchte, recht blöd dreinzuschauen. Der Arzt maß meine Temperatur. Er gab mir eine Flasche zum Harnlassen, und ich stellte mich hinter einen weißen Wandschirm. Aus meiner Tasche nahm ich eine zerbrochene Rasierklinge, schnitt mir in den Finger, quetschte ihn aus und ließ das Blut in den warmen Urin im Fläschchen tropfen. Der Wachtposten war fort, und ich saß auf einem weißen Stuhl und wartete. Der Arzt blickte verdutzt drein und fragte, seit wann das so sei. «Ich weiß nich», sagte ich. «War es seit Paris?» Ich sagte nichts. «In Paris war es also nicht?» «Ich kann mich nich erinnern.» Er schaute mich lange Zeit an. «Sie werden schon gesund.» Am Nachmittag kam derselbe Wachtposten wieder vorbei. Ich saß mit anderen Häftlingen auf den Steinstufen. Der Soldat stand jetzt mit einem Fuß auf der Treppe oben, seinen Gummiknüppel hielt er über die Knie und starrte mich bloß an. Plötzlich sagte er: «Verdammt noch mal, was willste eigentlich mit diesem läppischen Psychobockmist, diesem 42
Blutpinkeltheater?» «Hör mal, ich … ich weiß nich. Es is bloß, weil mir der Kopf furchtbar weh tut.» «Natürlich, und dein Rücken tut dir auch weh. Is doch so, nich?» «Ja.» «Klar is das so. Hör mal, dir wird noch viel mehr weh tun! Du bist nich der erste, der in die Abteilung acht will, und du bist nich der letzte. Aber sieh dir doch mal die Zellen dort an, das is das Letzte, Mensch! Dort darfste nich in den Hof, und du kannst nich mal rausglotzen. Ein Tag nach dem andern geht vorbei, und du siehst nix als nen Eimer zum Reinscheißen und Reinpissen. Du kommst so weit, daß du froh wärst, wenn du nen Baum sehen tätst. Aber du siehst nix, gar nix! Du wirst garantiert wünschen, daß dus nie mit dieser Masche probiert hättst. Ich garantier dir, daß der Kommandant genug Wut hat, daß er dich in Einzelhaft steckt. Sag dann bloß nich, daß ich dich nich gewarnt hätt.» Der Posten ging weg. Ein Häftling grinste. Er setzte sich neben mich. «Übertreib nich», sagte er. Ich sagte nichts. «Mach nich auf die blöde Tour», sagte er, «die werden merken, daß du simulierst. Wenn einer Gedächtnisschwund hat, dann will er rausfinden, wer er is. Denk an Ronald Colman, Harvest hieß er oder so.» Ich sagte nichts. «Das kannste bestimmt. Hammy, der war nich blöd, der war gerissen, aber er konnte sich an nix erinnern. Er hatte 43
ne Hemmung. Das is der Krieg, und ein bißchen Religion is mit drin. Machs auf die Tour. Du willst wissen, wer du bist. Du willst über deine Familie was wissen. Du willst, daß sie dir helfen. Flick hin und wieder mal ein, daß du dich nich erinnern kannst. Laß die Religion arbeiten. ‹Du sollst nicht töten.› Den ganzen Mist halt. So liegste richtig.» Seit langer Zeit wußte ich über Gefängnisse und die Leute in Gefängnissen zu viel, um so blöd zu sein, irgendeinem zu sagen, was ich vorhatte. Man sitzt zu schnell in der Falle. «Du hast wirklich ne kalte Schnauze», sagte er, «ich wollt, ich hätt deine Nerven, dann würd ich die Masche selber probieren.» «Glaubste wirklich, daß sie mir helfen können», sagte ich, «glaubste wirklich, daß ich rausfinden kann, wer ich bin?» Er grinste. «Das is schon besser, viel besser.» Am nächsten Morgen ging ich unter Bewachung zum 35sten Etappenlazarett. Dort ließ ich eine weitere Harnuntersuchung über mich ergehen. Mein Finger tat weh vom vielen Reinschneiden. Der Assistent brauchte nur einen kleinen Teil der Flüssigkeit für ein langes, enges Röhrchen, das an einem runden Apparat mit anderen Röhrchen aufgehängt wurde. Der Apparat drehte sich schnell. Später, im Saal, zog ich Pyjama und Bademantel an. Der Wachtposten saß neben meinem Bett und las in einer Zeitschrift. Er hatte seinen Helm abgelegt, während ich auf die Tür und die Fenster starrte. Ein Patient stand 44
neben meinem Bett. «Brennen die Phosphorwunden?» fragte er. Er hatte meine Beine gesehen. «Weg da, Jack», sagte der Soldat, «niemand spricht mit dem Häftling.» Der Patient hatte seine Pyjamajacke ausgezogen und ein Handtuch über die Schulter gehängt. «Armleuchter», sagte er zu dem Posten, und als er sich wegdrehte, sah ich, daß sein Rücken mit langen Schrapnellwunden überzogen war, dicken, blasigen, purpurnen Striemen. Quer über jede Wunde liefen mehrere lange und dünne Narben von Nähten, wie Raupenbeine. Eine Schwester kam rein, und wir mußten ihr folgen. In dem kleinen Büro stand der Doktor und unterhielt sich mit zwei Männern. Er unterbrach das Gespräch, als ich mit dem Wachtposten reinkam. Ich wußte gleich, wer die beiden Kerle waren. Einer stand am Fenster, und der andere saß hinter dem Schreibtisch auf einem Drehstuhl und drehte sich von einer Seite zur andern. Beide trugen Uniformen ohne Rangabzeichen. Ich mußte mich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch setzen. Der Doktor und der Wachtposten gingen raus. Die Sonne schien grell durch das Fenster. Ich kniff die Augen zusammen. Der eine, der stand, ließ den Rolladen etwas runter, der Raum verdunkelte sich. «Ist es so besser», fragte er. «Ja.» «Jetzt erzähl mal deine Geschichte», sagte er. «Seid ihr von meiner Einheit?» «Was ist denn deine Einheit?» «Ich weiß nich.» 45
«Kannst du dich an gar nichts erinnern?» «Wer sind Sie? Kennen Sie mich? Wollen Sie mir helfen?» «Wir wollens versuchen. Wir möchten ein paar Fragen stellen.» «Wer sind Sie?» «CID», sagte er. Ich gab verdammt acht, mich nicht zu verraten. «CID?» «Criminal Investigation Division», sagte der andere im Drehstuhl. «Ich möcht wissen, ob ich ne Familie hab, ich muß doch ne Familie haben.» «Sind Sie verheiratet?» fragte der eine, der stand. «Ich glaub nich.» «Wie wollen Sie das wissen?» «Ich fühl nich, daß ich verheiratet bin. Ich muß irgendwo Vater und Mutter haben. Ich kann mich aber nicht erinnern. Ich kann nich. Ich kann einfach nich. Ich habs versucht, aber ich kann nich. Dabei möcht ich so gern.» «Bleiben Sie nur ruhig», sagte der Kerl, der stand. «Ich kann mich einfach nich erinnern.» «Ist Nathan Grange Ihr richtiger Name?» «Nee.» «Nein?» «Ich glaub nich, daß ers is.» «Verdammt noch mal, du siehst auch nicht so aus wie ein Nathan Grange», sagte der Bursche im Drehstuhl. 46
«Warst du im Krieg?» fragte der andere. «Nee.» «Weißt du nicht, daß der Krieg vorbei ist?» «Ich glaub, ich habe nen Menschen umgebracht», sagte ich. Ich sah, wie sie aufhorchten. Der Kerl im Stuhl hörte sogar auf sich zu drehen. «Wann? Wo war das? In einer Bierkneipe oder in einem Café? Wo war das?» «Ein Deutscher, ja, es war ein Deutscher, und er hat auf uns geschossen, und er war hinter einem Baum versteckt. Wir wollten irgendwas beobachten, und er fing an zu schießen.» Ich hörte auf. Ich fing echt zu schwitzen an. Ich war bei der Wahrheit angekommen, denn ich konnte mich genau an den Deutschen erinnern; er saß mit dem Rücken gegen den Baum gelehnt, die Mauser auf dem Schoß, so müde, daß er nicht einmal die Hände heben konnte. «Ich kann mich an nix mehr erinnern», sagte ich; ich wollte mich wirklich an nichts erinnern. «Glaubst du, daß es passiert ist, als du auf Patrouille warst?» «Ich weiß nich. Kann mich nich erinnern. Will mich nich erinnern», sagte ich und spürte, wie mir der Schweiß übers Gesicht lief. Ich sah, wie sie einen Blick wechselten. Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Sie sagten lange nichts. «Es wird schon wieder werden», sagte schließlich der eine, der stand, und nickte dem anderen CID-Mann zu. Der stand auf, um den Wachtposten zu holen. Als ich wieder im Krankensaal war, setzte ich mich aufs 47
Bett und starrte aus dem Fenster. Der Wachtposten hatte einige Zeitschriften durchgeblättert. «Wie stehts mit ner Partie Casino?» fragte er. «Nee.» Die Krankenschwester kam in den Saal. «Die zwei Herren möchten Sie gern sprechen», sagte sie zum Wachtposten. «Ohne den Häftling?» «Ja.» «Ich kann den Häftling aber nich allein lassen, Schwester.» «Er ist nicht mehr Häftling. Er ist jetzt Patient.» Der Wachtposten stand auf. «Was is denn verdammt noch mal passiert?» fragte er. Ich sagte nichts. Die Krankenschwester wartete an der Tür auf ihn. Der Wachtposten war ziemlich unsicher, er folgte ihr, drehte sich aber immer wieder zu mir um, als er rausging. Bald drauf kam der Doktor zu meinem Bett rüber. Er schnitt ein ziemlich trübsinniges Gesicht und hatte einen dicken Bauch. Er musterte mich und drückte dann ganz fest erst auf die rechte dann auf die linke Niere. Ich rührte mich nicht. «Wo spürst du was, wenn ich drücke? Da?» «Ja.» «Du spürst hier was?» «Ja, hier.» «In Ordnung», sagte er und ließ meine Pyjamajacke fallen. Man verarztete mich dann mit Penicillin. Jeder im 48
Lazarett bekam, wie ich gehört hatte, entweder Aspirin oder Penicillin. Jeder in meinem Saal schien Penicillin zu bekommen, alle vier Stunden. Die Nachtschwester zog die Decke weg und jagte einem die Nadel in den Arm. Sie war geübt und stieß sie wie einen Speer rein. Man spürte es bis auf die Knochen und fiel dann wieder in Schlaf. Früh am Morgen wurde ich in einem Krankenwagen in das 116te General Hospital in Nürnberg gebracht. Der Fahrer hatte meine Papiere in einem großen braunen Umschlag bei sich. Wir fuhren auf einer holprigen und dreckigen Straße, bis wir die blaßgelben Gebäude erblickten und die Mauer um das riesige Krankenhaus. Ein Hauptgebäude war von einer Bombe getroffen worden. Rußgeschwärzte Mauern ragten in die Luft. Wir fuhren durchs Hauptportal am größeren Gebäude vorbei und auf ein anderes zu, das kleiner war als die übrigen und von ihnen abgesondert stand. Alle Fenster waren vergittert. «Sie sperren dich nich ein», sagte der Fahrer. «Die Hunde, die tuns schon nich.» «Es is bloß ein Krankensaal», sagte er, «du bist so frei wie jeder andere auch.» «Ich bins gradesowenig.» Fünftes Kapitel Durch einen dunklen Säulengang kamen wir in einen warmen, sonnigen Raum. Wir warteten auf die Krankenschwester. Ein Krankenpfleger kam grinsend herein. 49
«Wo is die Schwester?» fragte der Fahrer. «Beim Ficken», sagte der Krankenpfleger zu ihm, und dann zu mir: «Sie sehn gut aus.» «Wieso gut?» «Sind Sie verrückt?» «Seh ich aus wie 'n Verrückter?» «Sie sehn gut aus. Es wird Ihnen hier gefallen. Ich bin ein bißchen verrückt. Es erwischt jeden.» «Ich geh», sagte der Fahrer. «Bleiben Sie doch.» «Nee, ich hau ab.» Der Fahrer ließ den Umschlag da. Der Krankenpfleger grinste wieder. «Der ist nervös», sagte er. «Sie sehen nicht nervös aus.» «Vielleicht seh ich nich so aus.» «Haben Sie keinen Mantel?» «Nur die Kluft, die sie mir gegeben haben.» Er langte nach dem Briefumschlag auf dem Schreibtisch. Der war versiegelt. Er grinste weiter – ein dreckiges Grinsen. Seine Augen glänzten feucht. Nur Haut und Knochen war der Kerl. «Sind Sie gefährlich?» fragte er. «Ich glaub nich.» «Oh», sagte er enttäuscht. «Was macht ihr, wenn man gefährlich is?» «Vielerlei», sagte er; sein Gesicht hellte sich auf, und seine Augen weiteten sich. «Müssen wir auf die Schwester warten?» «Unterhalten Sie sich nicht gern mit mir?» «Oh, doch.» 50
«Na also», sagte er und war wieder enttäuscht. Ich folgte ihm in den Krankensaal. Alle Patienten glotzten mich an. Sie schienen nicht besonders verrückt zu sein. Die meisten saßen in ihren Betten. Sie trugen alle Pyjamas und blaue Cordmäntel. Ich bekam das leere Bett in der Ecke. Der Krankenwärter legte Pyjama und Bademantel bereit. Der Bursche im Bett neben mir sah sympathischer aus als der Pfleger. Den Rücken hatte er gegen die Eisenstäbe des Bettes gestützt und die Knie angezogen. Ein Magazin lag aufgeschlagen auf seinen Beinen, aber er beobachtete den Krankenpfleger, als er rausging. «Wie gefällt dir Chester?» fragte er. «Der Pfleger?» «Er is 'n richtiger Hundskerl.» Der Bursche schien in Ordnung zu sein, aber ich kam mir verdammt komisch vor. Ich war noch nie in einer Klapsmühle gewesen. Ich zog meine Kluft aus, faltete sie sorgfältig und schob sie unters Kopfkissen. Ich blätterte ein paar alte Zeitschriften durch. Es war ein Bild vom grinsenden Eisenhower drin, aber einer war mit dem Bleistift durch sein Gesicht gefahren und hatte das Papier zerrissen. In einer anderen Illustrierten sah man ein Bild von einem toten Soldaten, der mit dem Gesicht zur Erde auf einer kleinen Brücke lag. Die Uniform klebte ihm naß am Leib, eine Hand baumelte im Wasser. Infanterie überquerte die Brücke und trampelte über ihn weg. Wir blieben zum Essen im Saal; Chester brachte Tabletts auf einem großen Wagen rein. Wir aßen auf den tragbaren 51
Bettischen. Ich bemerkte, wie der eine Kerl, der gar nicht besonders verrückt aussah, mir vom anderen Ende des Saales aus zugrinste. Als er fertig war, kam er rüber, aber jetzt sah ich ein komisches Funkeln in seinen Augen. «Ich bin Charlie Shay», sagte er. «Haste Angst?» «Klar.» «Das mußte auch haben. Du mußt nämlich vorsichtig sein.» «Klar.» «Ich seh, daß dus bist. Du mußt immer aufpassen. Ich bin Charlie Shay.» «Ja.» «Mein Name is Charlie Shay.» «Hi.» «Nimm dich vor dem ekligen Doktor in acht, der is 'n Schleicher.» «Klar.» «Ich hoff, es macht dir nix aus, wenn ich mit dir red», sagte er. Ich dachte an Chester, der vor einer Stunde dasselbe gesagt hatte. Nach einer gewissen Zeit erwischte es einen eben. «Nee», sagte ich, «ich habs gern.» «Paß bloß auf ihn auf.» «Auf wen?» «Auf den Doktor. Laß ihn nich an dich rankriechen. Paß auch auf Thompson auf.» Charlie blickte um sich, und ich sah einen großen Kerl am anderen Ende des Saales im Bett sitzen. «Wohin glotzte, du schäbiger Bankert?» sagte der Kerl. 52
«Das is Thompson», sagte Shay. «Das is er. Den bring ich um.» «Wozu denn, verdammt?» «Sieh mich nich so an, du dürrer Hurensohn», sagte Thompson. «Sieh mich nich so an.» Thompson war wirklich ein riesiger Kerl, mit einem runden, flächigen Gesicht und kahlgeschorenem Schädel. «Schon recht», sagte ich zu ihm. «Er erzählt mir grad was über den Doktor.» «Vielleicht hörste jetzt bald mit der Glotzerei auf!» «Ich werd ihn umbringen», sagte Shay leise. «Vergiß es», sagte ich. «Ich kann nich, ich kanns nich vergessen. Du weißt es nich.» «Was hältste davon, wenn wir in den Tagesraum gehen?» fragte ich Shay. «Ihr habt doch nen Tagesraum?» «Ich werd dich rumführen.» «Das is prima.» «Du mußt dir saublöd vorkommen, so am ersten Tag.» «Ich bin mir schon blöder vorgekommen.» Als wir die Treppe runtergekrabbelt waren, packte er meinen Arm. «Was is los?» «Nix.» Draußen hielt er sich wieder an mir fest. Er beobachtete jeden der vorbeigehenden Patienten und blieb oft stehen. Manchmal packte er so fest zu, daß ich seine Nägel im Arm spürte. Er hatte Angst vor jedem. Wir gingen in eins von den hohen Gebäuden. 53
Ein Mädchen vom Roten Kreuz saß hinter einem Schreibtisch. Sie sah uns nicht an. Wir tranken Coca und hockten so rum. Shay beobachtete sie. Sie trug eine hellblaue Uniform und eine weiße Bluse. Der Kragen war am Hals offen. Ein Arzt kam rein, und sie lächelte, während sie mit ihm sprach. Drinnen konnte man Pingpongbälle hüpfen hören. «Was meinste zu nem Spiel?» fragte ich Shay. Er bockte. «Ich will nich hier bleiben.» «Gut», sagte ich und stand auf. Wir überquerten das Grundstück bis zu den Steinmauern. Man konnte die obere Kante erreichen; wir sprangen rauf und sahen auf die Straße. Unter den Bäumen standen schwarze Baracken, und eine Frau hängte Wäsche auf. «Hat man die da ausgebombt?» fragte ich. Shay sagte nichts, sondern stieß mit dem Absatz gegen die Mauer und schaute die Straße runter. «Haste ein Mädchen, Charlie?» Er hörte auf zu stoßen. Ein Jeep fuhr die Straße lang und wirbelte eine Staubwolke hinter sich auf. Ein Fröilein saß auf dem Rücksitz mit einem farbigen GI, und ein großer Neger chauffierte. «Verdammte Neger», sagte Charlie. Er trat plötzlich fester gegen die Mauer. «Komm», sagte ich. «Gehn wir mal zum Krankensaal.» «Nee.» Ich ließ ihn sitzen, und als ich in den Saal zurückkam, fragte Thompson: «Wo haste den verdammten Vollidioten 54
gelassen?» «Draußen», sagte ich. Der Kerl im Bett neben mir sagte: «Ich hab deine Kluft unter die Matratze gesteckt.» «Warum?» «Willste, daß Chester sie in die Finger kriegt?» «Kaum.» «Shay mag dich, stimmts?» «Was fehlt ihm?» «Paranoia.» «Du siehst gesund aus. Was sollste denn haben?» «Das is ne lange Geschichte. Mein Name is Bob Goodman. Wie heißt du?» «Nick Leonidas», sagte ich, besann mich aber und sagte: «In Wirklichkeit heiß ich anders, aber jeder nennt mich so.» Er sah mich ganz komisch an. Ich versuchte zu grinsen. «Du bockst.» «Klar», sagte ich, «du auch.» «Ich werd dir was sagen. Nee, lassen wir's.» «Was willste mir sagen?» «Lassen wir's», sagte er. Nachts wurde mir klar, was er mir hatte sagen wollen. Mein Betttuch war zu kurz. Als ich unter die stramm gefaltete Decke schlüpfte, konnte ich die Beine nur halb ausstrecken. Jemand begann zu kichern, und ich warf die Decke zurück. «Verdammter kindischer Blödsinn», sagte ich. «Gefällts dir nich, Grünschnabel?» sagte Thompson. Er 55
stand auf. Vier andere erhoben sich mit ihm. Goodman setzte sich in seinem Bett auf. Seine Augen flackerten. «Nimms leicht», sagte er. «Sag lieber diesen Idioten, daß sie's leichtnehmen sollen», sagte ich. Ich war schon aus dem Bett. «Hört euch bloß den Grünschnabel an», sagte Thompson. «Willste, daß man dir deine Birne überreicht, Grünschnabel?» Gerade in diesem Augenblick kam die Schwester rein. Sie war blond und dick wie eine Tonne. Ihr steifes Häubchen stand senkrecht hoch. «Was ist hier los?» sagte sie. «Thompson, du gehst sofort ins Bett zurück.» Thompson sah auf ihre Beine. «Soll ich ins Bett gehn?» fragte er. Ich sah sie ganz starr werden. «Das Licht wird in fünfzehn Minuten gelöscht. Ich will, daß ihr alle ins Bett geht», sagte sie. «Klar, ins Bett», sagte Thompson und grinste ihre Beine an. Sie ging raus. Ich machte mein Bett. Da kam Thompson ran, mit offener Pyjamajacke, überall behaart, seine Stiefel waren offen und klapperten, seine Hände hingen runter. Dann stand er über mich gebeugt. Ich blieb lange unbeweglich. Ich hatte Angst. Ich wurstelte weiter am Bett rum. Thompson ging zum Angriff über. «Na, Grünschnabel, wo sind wir stehngeblieben?» «Laß mich in Ruh, ich mach grade mein Bett. Ich stör dich nich.» «Mich störste sehr, Grünschnabel.» 56
«Mach schon», sagte ich, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihn gegen das Schienbein zu treten; ich trat hart zu, wie gegen eine Mauer. Thompson hatte das nicht erwartet und stieß ein höllisches Gebrüll aus. Ich hatte ihm ordentlich eins verpaßt, und er versuchte nun, nach seinem Schienbein zu langen. Er beugte sich vornüber, und ich versetzte ihm einen Genickschlag hinter die Ohren. Dann hielt ich seinen Hinterkopf mit beiden Händen fest, zog die Knie hoch, genau zweimal, und seine Nase platzte wie eine überreife Tomate. Ich wollte seine Haare fassen, aber er hatte keine Haare, und meine Hände glitten von den harten Stoppelborsten seines Schädels ab. Mit beiden Händen packte ich noch mal seinen Hinterkopf und zog mein Knie hoch. Dann ließ ich ihn los, und er fiel um. Ich fing an, ihn hinter die Ohren zu treten. Goodman versuchte mich festzuhalten, aber ich stieß ihn weg. Thompson war vollkommen k. o., und ich wollte ihn nun glatt erledigen. Da sah ich die anderen vier um mich rumstehen, und einer steuerte auf mich zu. Ich ergriff den nächsten Stuhl. «Na los», sagte ich, «er is aus Eisen. Überleg dirs gut.» Er setzte sich. Die anderen setzten sich auch. Ich zitterte. Goodman nahm meinen Arm. «Is gut», sagte er, «stell den Stuhl hin und mach nich noch mehr Unfug.» Ich stand da und starrte sie an. Ich atmete schwer, dann sah ich auf Thompson. Ich setzte den Stuhl ab. «Helft mit, ihn ins Bett bringen.» Thompson war schwer. Ich nahm seinen Kopf hoch und 57
packte ihn unter den Armen, aber Goodman, der ihn an den Beinen hatte, konnte ihn nicht hochkriegen. Ich sagte zu einem von seinen Kumpels: «Komm schon her, mach dich nützlich.» Zu dritt brachten wir Thompson ins Bett. Sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere. Einer nahm ein Handtuch und wischte ihm Gesicht und Mund ab. Beulen bildeten sich, und sein Gesicht sah ziemlich übel aus. Auf dem Handtuch waren blutige, braune Stellen. Einer hörte den Pfleger kommen und rief: «Achtung!» Der Kumpel warf das Handtuch unters Bett, nahm eine Zeitschrift, schlug sie auf und setzte sich vor Thompson auf die Pritsche. Der Pfleger verteilte Schlaftabletten. Ich beobachtete ihn, bis er wieder rausging. Unten war nichts mehr zu hören. «Jesses, wo haste das gelernt?» fragte Goodman. Ich sagte nichts. «Jesses, noch nie hab ich einen gesehn, der so schnell reagiert hat. Ich tät an deiner Stelle keine 8,8 nehmen.» Ich sah ihn an. «Die Pillen hier», erklärte er, «die gelbglasierten Schlaftabletten, das sind die 8,8 und die roten, das sind die Knallbonbons.» Ich saß nun auf meinem Bett. «Der ist restlos durchgedreht», sagte Goodman, «nimm sie nich, er würgt dich sonst im Bett ab.» Thompson wälzte sich ein paarmal hin und her. Als er dann zu schnell aufstand, mußte er sich wieder hinlegen. Er tupfte seine Nase mit einem Taschentuch ab und preßte 58
es drauf. Dann drehte er sich zur Wand. Shay schlich zu meinem Bett. Er blickte sich um und sagte: «Hier.» Ich fühlte ein Seitenmesser in einer Scheide. Ich steckte es unter meinen Pyjama. «Ich brauch mich jetzt nich mehr drum zu kümmern», sagte er. Ich sah ihn an. «Ich brauch mich jetzt nicht mehr drum zu kümmern, ihn abzumurksen.» «Prima, das freut mich», sagte ich. Nachdem Shay weg war, steckte ich das Messer unter mein Kopfkissen. Goodman schob sein Kopfkissen hoch unter den Kopf und tat so, als ob er Zeitung lese. «Wahrscheinlich isses gut, daß du Thompson versohlt hast», sagte er. «Sieht so aus.» Aber die Sache mit Thompson war noch nicht ganz zu Ende. Nachdem das Licht aus war und fast alle schliefen, hörte ich, wie einer sich ganz leise vom Bett erhob, und dann ein Geräusch, als ob jemand mit dem Fuß an eine Schuhschnalle stoßen würde. Ich fuhr im Bett hoch. Ich konnte nicht viel sehen, der Saal dunkel, nur ein Schimmer Mondlicht hinter den vergitterten Fenstern. Ich wollte eben auf der entgegengesetzten Seite aus dem Bett schlüpfen und zog grad das Seitenmesser aus der Scheide, als Thompson wie ein großer, schlagartig gefällter Baum auf mir landete und mich an der Gurgel packte. «Ich bring dich um», zischte er, 59
«ich bring dich um.» Er drückte mir den Hals ziemlich fest zu. Dabei streckte er seinen Arm aus, um mehr Kraft in der Hand zu haben. Da hielt ich ihm das bloße Messer unter das Kinn. Sein Kopf fuhr hoch, und sein Körper bäumte sich auf. Ich wälzte mich unter ihm raus, und er verzog sich eilig, aber ich kam ums Bett herum. «Is schon gut», sagte er, «ich will nich gegen ein Messer kämpfen.» Ich stand nun zitternd und er groß und dunkel da, in meiner Kehle war ein Gefühl, als könnte ich nicht mehr schlucken. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Bett. Ich spürte immer noch die Finger an meiner Kehle. Ich saß eine Weile aufrecht, hielt meinen Hals und hätte ihn am liebsten umgebracht, weil er meiner Gurgel so zugesetzt hatte. Am nächsten Morgen wollte Thompson nicht, daß einer ihn ansah. Er lag in seinem Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Chester kam mit den Frühstückstabletts auf dem Wagen. Er deichselte die Karre um die Betten und verteilte die Tabletts. Auf jedem Eßtablett klebte ein Schild mit dem Namen des Patienten. Chester sah Thompsons Gesicht und kicherte. «Na, einer hat dich schließlich doch untergekriegt», sagte er. «Hau ab», sagte Thompson. Später erfuhr es die Krankenschwester, dann der Doktor. Er kam mit ziemlich schnellen Schritten in den Saal. Das war das erstemal, daß ich den Doktor sah. Er war Captain und Psychiater. Er sah zuerst Thompson an, dann 60
uns. Man konnte genau sehen, daß er nach Quetschungen an unseren Händen suchte. Dann verlangte er von Thompson eine Erklärung. «Ich habs halt sattgekriegt», sagte Thompson. «Warum gehn Sie nich weg?» «Was haben Sie sattgekriegt?» «Lassen Sie mich allein.» «Kommen Sie in mein Büro runter.» «Nee.» Der Doktor stand verdutzt da. «Warum lassen Sie mich nich allein?» «Natürlich will ich Sie in Ruhe lassen.» «Ich habs eben mal sattgekriegt.» «Haben Sie sich Ihr Gesicht selbst so zugerichtet?» «Ich hab meine Visage satt.» «Wie ist das passiert?» «Ich bin hingefallen.» Nachdem der Doktor gegangen war, kam ehester kichernd die Treppe rauf. «Die werden gewaltig auf dich aufpassen», sagte ehester zu Thompson. «Als nächstes ist dann Einzelhaft fällig.» Am selben Morgen noch gewann ich alle Freunde Thompsons für mich. Die vier, die versucht hatten, sich auf mich zu stürzen, waren nun meine Kumpels. Das gefiel mir nicht besonders gut. Irgendwie kam das blöde Geschwätz auf die Fröileins, und einer sagte: «Wolln wir uns nich drauflegen?» «Wo drauflegen?» fragte ich. «Auf die Barackenweiber.» 61
«Ich mach nich mit», sagte Goodman. Der eine Bursche sagte, daß der Name des Fröileins Gertie sei und daß sie wie ein Kaninchen ficke. Nötig habe man bloß Tschokolat oder Sigarett. Ich sagte, ich hätte überhaupt keine Zigaretten, und der Kumpel sagte, er wolle mir eine Packung geben. Also gingen wir los, als Goodman hinter uns hergerannt kam und rief: «Ich hab mirs anders überlegt.» Wir marschierten in unseren Pyjamas und Bademänteln über die Felder, dann hockten wir auf der Mauer, und dann kam das Fröilein aus der Baracke. Der erste Kerl sprang von der Mauer, überquerte die Straße und ging in die Hütte rein. Nach einiger Zeit kam er raus, und der nächste sprang runter und überquerte die Straße. Noch ein Bursche und Charlie Shay kamen zu mir rüber und setzten sich auf die Mauer. So hockten wir alle da und warteten. Sechstes Kapitel Hinter der langen Baumreihe an der Straße und bei den Baracken begann das platte Land. Ich wunderte mich, wie weit es zur Stadt war. Zwei Patienten kamen die Straße lang. Einer hatte den Arm in Gips, der andere den Fuß, und er ging an einer Krücke. Unten an seinem Gipsfuß hing so was wie ein Steigbügel. Er stelzte mit steifen, ruckartigen Bewegungen. «Wie schaffts Gertie heut?» fragte er Goodman. «Wir sind die letzten in der Schlange», sagte Goodman. Sie gingen auf der Straße weiter. Goodman sah ihnen 62
nach. «Die sind vom Gelbfiebersaal», sagte er. «Weißte, was der Gelbfiebersaal is?» «Klar.» «Der mit dem Fuß wird nie wieder richtig werden. Blöd, wenn sich einer selbst angeschossen hat, damit er von der Front wegkommt.» «Wie hats der andere mit seiner Hand geschafft?» «Weiß ich nich. Er hat sich selbst angeschossen, das is alles.» «Ich hab viele solche gekannt.» «Er sagt, es war ein Unfall. Der andere sagt auch, es war ein Unfall.» Der zweite Kerl kam aus der Baracke. Als Goodman von der Mauer sprang, rutschte Shay auch runter und machte sich zum Krankensaal auf. Shays Kopf wackelte beim Gehen. «Er hat richtig Schiß vor Mädchen, nich?» «Sieht so aus», sagte ich. Er sah Goodman nach, der in die elende Baracke ging. «Gerties Alter is in Rußland gefallen», sagte er. «Sie is richtig nett. Als Mensch, mein ich. Es macht doch nen ziemlich lausigen Eindruck, wenn mans für Zigaretten tut.» «Du kümmerst dich um ne Menge Leute.» «Du nich?» «Nee. Bringt nix ein.» Als ich Goodman wieder sah, sprang ich runter. Das Fröilein stand vor der Baracke, winkte ab, schüttelte den Kopf und sagte: «Nix, nix!» 63
«Fini?» sagte ich. «Sie is kaputt», sagte Goodman, «fünf andere waren vor uns da, und jetzt is sie kaputt.» «Man muß aufstehen, eh einem die Sonne den Arsch kitzelt», sagte ich. «Tu nich so, als hättste Vogelmist im Hirn. Komm, ich kenn ne Kneipe.» «So können wir doch nich gehn.» «Wir sind verwundete Veteranen.» «Quatsch!» «Haste Geld?» «Nix, nix», sagte ich. Die anderen saßen noch immer auf der Mauer. Wir überquerten die Straße und gingen dem Weg nach, der durch ein Feld hinter den Baracken führte. Die Sonne brannte heiß, und man konnte noch den Tau riechen. Ein Deutscher kam uns entgegen; er trug eine Afrikakorpsmütze. Als er an uns vorbeiging, spuckte er aus. Goodman wollte ihm nachgehen. «Er tät dich auffressen», sagte ich. «Ich bring den Hurensohn um!» «Sie hängen dich dafür am Arsch auf, Mensch.» «Wieso denn?» «Die Jagdsaison is vorbei, mein Lieber. Jetzt hängt die Armee dich.» «Scheißer», sagte Goodman, «die Armee tät dich nie hängen, wenn du einen Deutschen umgelegt hast.» «Klar», sagte ich. «Tus trotzdem nich.» Das kleine bayerische Bierlokal lag gleich am Weg unter 64
den Bäumen. Ein alter Mann saß an einem Tisch. Er sah von uns weg. Er paffte aus einer langen, gebogenen Pfeife mit einem phantastischen Pfeifenkopf. Die Theke war aus glattem braunen Holz. Große blauweiße Steinkrüge standen in dem Regal dahinter. Die Kellnerin war ein vollbusiges Mädchen mit einem fröhlichen Gesicht. Wir tranken das Bier aus den Steinkrügen. Das Bier war dünn und schmeckte fad. Als der alte Mann gegangen war, rief Goodman das Mädchen. «Bitte?» «Fickste?» Das Mädchen kicherte: «Nix.» «Fickste nich?» «Nix, nix.» Das Mädchen kicherte wieder und hielt die Hand vor den Mund. «Ich kann dir einfach nix zum Drauflegen beschaffen», sagte Goodman zu mir und dann zu dem Mädchen: «Rauchste Sigarett?» «Bitte?» «Sigarett! Rauchste Sigarett?» «Ja, ja.» «Wie stehts mit ner White Owl Sigarr?» «Sigarr?» «Willste ne hübsche weiße Sigarr?» «Ich nix rauch Sigarr.» «So kannste das nich machen», sagte ich. «Bring uns noch zwei Bier.» Das Mädchen zapfte zwei Bier ab und füllte die 65
Steinkrüge. Als sie die Krüge vor uns hingestellt hatte und weggehen wollte, rief Goodman sie wieder. «Bitte?» «Weißte, wo mein Freund und ich ficken können?» «Viel Fröilein.» «Wo?» Das Mädchen zuckte die Achseln und ging weg. Am nächsten Tag gingen wir ins Nürnberger Stadion, um Jack Benny und Ingrid Bergman zu sehen. Wir wurden auf dieselbe Sorte von Laster verfrachtet, die mich vom Brüsseler Gefängnis zur Pariser Verhörbaracke gebracht hatte. Alle Patienten des Krankenhauses, die Rekonvaleszenten waren oder sich in ambulanter Behandlung befanden, wurden auf die großen Laster geladen. Wohin man in der Stadt auch sah, alles war von den Bomben zerstört. Staub wirbelte auf, als wir unter der brennenden Sonne dahinfuhren. Der Schutt lag hochaufgetürmt, dicht bis an die Straße, und Drähte hingen runter. An den Kreuzungen hatte man eine Menge Verkehrszeichen aufgepflanzt. Auf der anderen Seite des Platzes sah man die riesigen Mauern der SS-Kaserne. Eine Wache stand unter einem Arkadenbogen im Schatten. Dann hatten wir die Stadt hinter uns und sahen die weißen Steine des Nürnberger Stadions unter den Bäumen. Das Stadion war mit Soldaten vollgestopft. Sie hockten auf der Wiese. Weil wir Lazarettinsassen waren, saßen wir auf Stühlen, ganz nah der Kapelle. Gemurmel, Pfiffe und 66
Applaus schwollen an, als Jack Benny rauskam und das Mikrofon nahm. «Hei», sagte er. Noch mehr Applaus und Pfiffe. «Hier also verzapfte Adolf seine Reden», sagte Benny. «Jeder spuckt mal aus.» Benny zog seine Krawatte aus und schmiß sie unter die Soldaten. Sie flatterte zu denen, die vorn am Podium saßen. Die GIs grapschten danach. Als die Bergman rauskam, hopste Benny immer noch so kindisch rum. Später spielte sie eine Szene aus Jeanne d'Arc. Ihr Haar war lang und lohfarben, und sie sah größer, heller und viel schöner aus als in den Filmen. Niemand hätte es gestört, wenn sie Wiegenlieder gesungen hätte. Sie hatte wirklich zuckrige Brüste. Im Krieg kriegte ein gewöhnlicher GI niemals eine solche Vorstellung zu sehen wie die mit Benny oder der Bergman. So was gabs nur für die Truppen, die mit der Front vorne nichts zu tun hatten. Als Bing Crosby mal in Frankreich war, wunderte er sich, daß die Soldaten an der Front sauber rasiert und so verdammt moralisch waren. Wir waren damals nicht gut rasiert, und um Moral riß sich auch keiner. Dafür war die Moral beim Oberkommando sehr gut. Die Burschen versteckten sich in einem Schloß, vierhundert Kilometer hinter der Front. Ihre Moral war wirklich sehr fein. Bing Crosby hat Eisenhower bestimmt gut unterhalten. Wir hatten übrigens auch eine gute Unterhaltung. Zwischen den Granatensalven ließen näm67
lich die Deutschen ihre Lautsprecher quasseln. Sie wollten, daß wir rüberkommen und eine Tasse Kaffee mit ihnen trinken sollten: «Kriecht aus euren Löchern raus! Warum sinnlos sterben?» Dann spielten sie noch bessere Musik als unsere Sender. Auch ihre Scheißflugblätter hatten was zu bieten. Wenn man sie gegen das Licht hielt, sah man einen Neger, der einem weißen Mädchen auf die Pelle rückt, oder einen Ami, der eine Engländerin herzerrt, und gleich daneben hängt ein toter Tommy im Stacheldraht. Siebtes Kapitel Ich war schon eine Woche im Lazarett, ehe ich zum Psychiater mußte. Er war freundlich, aber kurz angebunden. Während der Unterhaltung machte er ein Gesicht, als ob er irgendeinen Dreck von sich stoßen wolle. Außer dem einen Mal, als er raufgekommen war, um nach Thompson zu sehen, hatte ich ihn im Krankensaal überhaupt nie zu Gesicht bekommen. Auch die Krankenschwester machte sich rar. Die Krankenpfleger waren offenbar die einzigen, die den Krankensaal in Schuß hielten. Ich hatte einen Mordsbammel davor, mich für wirklich krank zu halten. Für Leute wie Shay war das Klima hier nicht besonders gut. Mit Thompson hatte ich keine Schwierigkeiten mehr. Ich war in die Stadt gegangen, vorbei an der großen SSKaserne, wo die Armee Tausende von Verschleppten einquartiert hatte. Ich hatte damals was mit einer jungen 68
Griechin, die im dritten Monat schwanger war, von einem Polen. Sie wußte nicht, was mit ihm passiert war. Ich hätte gern was für sie getan, aber es war alles hoffnungslos. Die Verschleppten sollten bald die Kaserne verlassen. Mir war es schleierhaft, was die Deutschen mit einem so jungen Mädchen hatten anfangen wollen. Ich ging ein Stück zu Fuß zurück und hielt dann ein Auto an. Ich trug meine Kluft; Schlafanzug und Bademantel hatte ich versteckt. Als ich zurückkam, stellte ich fest, daß die Wachen mein Bett nach dem Messer durchsucht hatten. Ich fragte den Pfleger Chester danach, aber er wollte nichts sagen. Dann erzählte mir Goodman, daß Thompson dem Doktor alles verpetzt hatte. Thompson sah ganz zufrieden aus. Als Chester draußen war, sagte ich: «Thompson, ich tät dir am liebsten die Birne abschneiden.» «Du wirst keinem was abschneiden», sagte er. Ich wartete darauf, daß die Wachtposten noch am selben Nachmittag kommen würden, um mich zu durchsuchen. Ich klammerte mich an das Messer. Es war das einzige Mittel, um Thompson davon abzuhalten, mir in der Nacht ein Bettuch überzuziehen und mich zusammenzuschlagen. In der Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Ich verspürte dasselbe Gefühl wie an der Front. In der Dunkelheit tappte einer in Richtung Latrine. Ich versuchte, Thompson in seinem Bett zu erkennen, aber ich konnte nichts sehen. Mir war zumute wie beim Warten auf einen großen deutschen Angriff oder wie beim Geheul 69
ihrer Stukas. Gleich gings wieder los – auf zur letzten Patrouille gegen die Deutschen. Dieses Gefühl hatte mich geweckt. Mein Herz schlug wie eine Trommel. Ich wollte nicht dran denken, aber da hockte wieder der Deutsche, mit dem Rücken gegen den Baum und die Mauser auf den Knien, und er lehnte sterbend da, mit Löchern in der Brust. Ich hatte geglaubt, darüber weg zu sein, aber als ich mich jetzt richtig an die Patrouille erinnerte, stieg das furchtbare Gefühl wieder hoch. Ich versuchte an das einzige Angenehme, das ich erlebt hatte, zu denken. Ich dachte an Brüssel und an Suzy – vor allem an Suzy. Ich würde sie nie wiedersehn, wenn ich einmal auf dem Weg nach Hause war. Das konnte bald einmal sein, denn den Doktor hatte ich richtig reingelegt. Schließlich ist es nicht ungewöhnlich, wenn ein Mann nicht mehr richtig im Kopf ist, vor allem nicht, wenn er an der Front war. Bloß nicht mehr zurück in den Hürtgenwald! Unsereins ist da nur ein Dreck. Eines Tages wird Eisenhower bestimmt sehr stolz auf die Gräber sein. Er hält den Stock am Griff, und unsereins klebt unten dran. Was weiß Eisenhower schon vom Krieg? Er kennt Generalstabskarten und Kriegsschauplätze, und er kann Gräber zählen – ja, er wird verdammt stolz drauf sein! Der Hürtgenwald, so hatte uns das Oberkommando verkündet, sei bei einem Angriff ganz ungefährlich, aber die Deutschen erwarteten unseren Ausfall und machten prächtiges Hackfleisch aus uns. Keiner wurde feierlich in 70
ein Laken gehüllt und in ein drei Fuß langes Loch gesenkt. Was sind Kugeln schon wert, wenn man selbst so idiotisch davon durchlöchert wird? Jetzt war ich wieder glücklich bei den Deutschen und an der Front angekommen, und ich schwitzte. Ich setzte mich auf und rauchte, aber das nützte nichts. Ich wollte Licht sehen, drum ging ich auf den Lokus und rauchte. Ich zitterte. Ich umklammerte den Wasserhahn und drehte ihn auf und drehte ihn wieder zu und starrte auf das klare Wasser. Da wußte ich plötzlich, daß ich gar nicht versuchen wollte, mit dem vorgetäuschten Gedächtnisschwund durchzukommen. Ich wollte mit der verdammten Armee überhaupt nichts mehr zu tun haben. Ich würde mich nach Brüssel aufmachen. Vielleicht konnte ich wieder was mit Suzy anfangen. Ich wollte mein Hirn gebrauchen, um hier rauszukommen, aber das Wasser war schuld, daß ich den Faden verlor. Ich war auf einmal wieder in Lichfield. Es war damals in der Etappe, zwei Monate vor der Invasion, und man hatte mich zum 10ten Depot in Lichfield gesteckt, nachdem ich in Reading im Lazarett gelegen hatte. Vorher hatte ich schon genug über Lichfield gehört. Wenn man dort einmal aus der Reihe tanzte, blühte einem sofort das Erschossenwerden. Beim Appell las der Depotkommandant, ein säbelbeiniger Oberst, mit Behagen Kriegsgerichtsurteile vor. Wir standen in Reih und Glied auf dem Übungsplatz. Meistens kriegte irgendein armer Kerl dreißig Jahre ab und 71
unehrenhaften Ausschluß aus der Armee, weil er einem mickrigen Leutnant die Meinung geflüstert hatte. Dort beim 10ten vergaß man den Feind vollkommen. Der Depotkommandant hatte zwar noch nie einen Deutschen gesehen, aber wie alle hohen Offiziere wurde er für sein Heldentum mit Orden behängt. Wir dagegen waren nur Dreck. Der Oberst, wie er so steif in seiner läppisch dekorierten Autorität dastand, die ihm der Kongreß verliehen hatte, sah aus wie ein kurzbeiniger Gockel mit Hängebauch. Er und die Armee hielten uns für nicht tapfer genug, drum mußte man uns Schiß einjagen. Als wir das erstemal zur Kantine marschierten, sahen wir, was die Gefängnischargen mit einem Neger hinter dem Stacheldraht anfingen. Der Neger hatte Schuhe und Hosen vollgepinkelt, und ein kleiner, fetter Feldwebel prügelte mit seinem Gummiknüppel auf ihn ein, während ein anderer Feldwebel eine geladene 45er auf den Neger richtete und ihn mit Füßen trat. Das waren die Feldwebel Lee und Willis. So spielten sie Krieg. Lee und Willis stammten übrigens aus Harlan County, Kentucky. In dieser lieblichen Armee ging auch die Geschichte um, daß ein früherer Berufssoldat, jetzt Feldwebel, in Windsor Castle auf Governor's Island in die Zellen rannte und sich einen Spaß daraus machte, den Insassen die Scheiße aus den Gedärmen zu treten. Oder man vernahm was von Music Hill in Afrika, wo die GIs nackt, mit ausgebreiteten Armen, in die glühende afrikanische Sonne gestellt wurden. Oder von den Vogelkäfigen im Delta bei Marseille oder von den Verbesserungen der Vogelkäfige in 72
Würzburg oder von den umgedrehten Flugzeugmatten mit Metallstacheln, auf denen man lag, um warm zu bleiben während der kalten Nacht, und dann die reizende Geschichte von dem Neger, der jeden anpinkelte, der aus Alabama kam. Nach einer Weile war es dem Neger allerdings egal, woher einer kam; er wollte sich einfach für den ganzen Dreck rächen, den sie auf ihn abgeladen hatten. Dazu kamen noch die Geschichten von den Schofield-Baracken in Pearl oder von Fort Meade in Pisa und noch von vielen anderen Orten. Ich kannte nur ein paar davon, aber das reichte mir. Also war Lichfield gar nicht einmalig. Es krempelte mich trotzdem um, als ich sah, wie man den Neger verdrosch. Es gab keinen in Lichfield, der nichts gewußt hätte von dem Scheißdreck, von den Schlägen und den Morden, denen die GIs ausgeliefert waren. Nachdem ich an dem blutüberströmten Neger vorbei in die Kantine gelatscht war, konnte ich nichts runterbringen und sagte zu einem Kumpel, dems auch nicht anders ging: «Was is das bloß für ne dreckige Armee?» «Lieste nich in der Zeitung», sagte er, «das is doch die beste Armee der Welt?» Für zwei englische Pfund konnte man in Lichfield einen Paß kaufen, der bis zum Wecken brauchbar war, falls der Kumpel, dem der Paß gehörte, nicht in die Stadt gehen wollte. Ich kaufte von einem GI namens Leonard einen Paß. In einem Lokal in der Stadt traf ich eine englische Nutte. Ich war schon ziemlich benebelt von Schnaps und 73
sang: «Roll me over, Yankee soldier.» Es stellte sich raus, daß sie Luftschutzwart war. Es war nicht besonders viel los mit ihr, sie war ziemlich knochig und vielleicht zweimal so alt wie ich, aber sie wußte einen Platz, wo wir hingehen konnten. Die ganze Zeit erzählte sie mir von ihrem Alten, der in Burma kämpfte. Ein jüdischer GI kam mit seinem Mädchen daher. Er war ein großer Kerl mit Hängeschultern und breiten Hüften und einem breiten Gesicht und einer Brille auf der Nase. Sein Mädchen war hübsch und hatte braune Locken. Sie kicherte die ganze Zeit. Der weibliche Luftschutzwart führte uns in einen Unterstand, der eigentlich ein Flakbunker war. Sandsäcke lagen hoch aufgetürmt herum, und es gab eine Hütte aus Wellblech mit einem runden Dach. Ich konnte zwar nicht kapieren, warum der Flakbunker verschlossen gehalten wurde, aber jedenfalls hatte der weibliche Luftschutzwart die Schlüssel. Drinnen stellten wir ein paar Bänke zusammen und legten meinen Mantel drauf. Sie legte sich auch hin und roch nach Fisch. Nachher, als wir eine Zigarette rauchten und sie mich Liebling nannte, kam der GI rüber. «Wo is dein Mädchen?» fragte ich ihn. «Sie will sich nich ausziehn», sagte er. «Wie gehts bei dir?» «Prima.» «Jesses, ich hab dir die ganze Zeit zugehört. Ich werd noch glatt ohne was abziehen.» «Jesses is nich koscher», sagte ich. 74
«Tätste mir dein Mädchen zum Probieren lassen?» «Witzbold!» «Es macht mich noch verrückt.» «Du armer Liebling, du», sagte mein Luftschutzwart. Sie saß ganz eng neben mir auf der Bank. Ich konnte ihre Umrisse im Schein der Zigarettenglut erkennen. «Ich hoff, es macht dir nix aus», sagte er. «Du armer Kerl», sagte sie, und ihr Gesicht glänzte rot. «Machts dir was aus, Liebling?» «Nee», sagte ich, «jeder soll sein Spaß haben.» «Komm her, Schatz!» Ich saß auf einer Bank am anderen Ende der Hütte. Ich dachte drüber nach, was das Mädchen empfunden hatte, als ich auf meinen Luftschutzwart kletterte. Jetzt war ihr Freund dran. Die Frau schnaufte. Der GI machte ein Getöse wie ein Walroß, das in heißes Wasser kommt. Sie war bestimmt nicht aus der Übung, wenn ihr Alter aus Burma zurückkam. Na ja, jeder mußte sich ranhalten. Komisch war bloß, daß das Mädchen von dem GI mich auf die Backe küßte, ehe sie und die Luftschutzwartin im Dunkel verschwanden. Ich zog den GI auf. «Wirste nich beichten müssen und dem Rabbi erklären, daß du Schweinefleisch gegessen hast?» «Sag das nich», sagte er. «Habt ihr die Beichte wie die Katholiken?» Er sagte nichts. «Vielleicht kannste sie bekehren und koscher machen.» «Hör zu, mach ich vielleicht nen Witz über deine 75
Religion?» «Wer hat denn heutzutag noch so was?» «Ich verspotte keinen wegen seiner Religion! So was is wirklich eklig.» Jetzt wollte er nichts mehr von mir wissen. Er hatte genug. Er war eben empfindlich. Er machte sich fort, und ich ging allein im Dunkeln weiter. Ich hatte genug Zeit, um bis zum Wecken zurückzukommen. Es war gegen fünf. Da traf mich ein Strahl aus einer Taschenlampe. Ich blinzelte ins Licht. Es waren zwei Schneeköppe und ein MP-Leutnant. «Laß mal sehen, Mann», sagte der Leutnant. Ich zeigte ihm Leonards Paß, aber dann fragte er mich nach meiner Hundemarke. Ich hatte bloß meine eigene. Die Schneeköppe waren glücklich, als sie mich in den Fond ihrer Fuhre hieven konnten. In dem Wagen saßen schon vier Soldaten, die von der MP aufgelesen worden waren, und ein anderer, der auf dem Boden lag. Einer sagte, wir sollten nicht auf den armen Kerl treten; er sei bei einem Streit zusammengeschlagen und aus dem Lokal geschmissen worden. Bei der Dunkelheit konnte ich keinen von ihnen genau erkennen. Als wir im Gefängnis ankamen, half ich den Burschen tragen. In der Dienststube sah ich, daß sein Kopf mit Blut verschmiert war und er eine Beule auf der Stirn hatte, so groß wie ein Berg; sein Gesicht war aufgeschrammt, als hätte ihm jemand reingetreten. Es war ein Gemeiner von der Ersten, mit einer Ladung Lametta vorndran, Silber und Purpur, Sterne und Kreuze. Ich hatte 76
gehört, wie es der Ersten bei Kasserine ergangen war. Es schien mir verdammt schäbig, einen armen Hund wie ihn ins Gefängnis zu stecken. Ein Schneekopp sagte, es sei jetzt zu spät, um uns in den Gefängnisarbeitsdienst einzureihen, aber Lee und Willis würden uns am nächsten Morgen prima einkleiden. Dann lotsten die Wachtposten uns zum Wachhaus. Die Gefangenen schliefen alle. Wir baten den Wachtposten um Decken. Er sagte, wir sollten unsere Socken benützen. So schliefen wir auf dem bloßen Boden. Die Fenster waren zerbrochen, und es war ganz schön kalt. Ich war eben erst, die Hände fest zwischen die Schenkel geklemmt, eingeschlafen, als der erste Pfiff ertönte. Vor dem Lokus war ein Mordsgedränge. Alle hatten auf dem Fußboden in ihrer Arbeitskluft ohne Decken geschlafen. Ein junger Bursche kam zu uns. Er schien außer Atem. «Hört mal», sagte er aufgeregt, «wenn der Los-marsch-marsch-Pfiff kommt, dann dürft ihr nicht bloß rennen, sondern ihr müßt losrasen, sonst pflanzen sie euch Beulen auf die Birne!» «Wer will denn so was machen?» fragte der Soldat von der Ersten. Er hielt seinen Kopf. Der Häftling sah uns an. «Wer schlägt?» fragte der GI nochmals. «Paß auf, Kumpel», sagte der Häftling, «ich kanns dich ja rausfinden lassen.» «Sie werden dich durchwalken», sagte ich, «ich hab gesehen, wie sie nen Neger vermöbelt haben.» «Mein Kopf, ich glaub, der möcht gleich zerspringen.» 77
«Vergiß dein Kopf, oder du wirst bald kein mehr haben», sagte der Häftling. Da ertönte schon der zweite Pfiff. Alle Gefangenen rannten wie die Feuerwehrmänner nach Schlauch und Leiter. Ich rannte mit ihnen. Der von der Ersten war nicht mitzukriegen. Ich wollte ihm helfen, aber er setzte sich platt auf den Boden. Ich stellte mich also mit den anderen im Hof in Reih und Glied auf. Wir standen in geschlossener Formation, zu Denkmälern erstarrt. Lee und Willis musterten uns und klatschten die Gummiknüppel gegen ihre Handflächen. Eigentlich wollte ich was von dem von der Ersten sagen, aber als ich die Knüppel sah, hielt ich das Maul und stand steif und stramm wie die anderen da. Willis, ein massiger Klotz, stierte wichtigtuerisch in die Gegend. Breitbeinig stand er da und klatschte den Gummiknüppel gegen die Handfläche. Da stolperte der von der Ersten raus. Willis' Knüppel begann schneller zu schnalzen. Lee setzte ein überlegenes Grinsen auf. Er machte sich zum Tanz fertig. «Ah, sieh mal einer an», sagte Lee. Der von der Ersten kam jetzt bei der Reihe an. Er war noch völlig k.o. «Hat dich einer geschlagen?» fragte Lee. «Ich glaub, ja.» «Haste zurückgeschlagen?» «Dazu hab ich keine Gelegenheit gehabt.» «Die haben dich ganz ordentlich vermöbelt.» Man sah, daß es dem von der Ersten unangenehm war. Seine Augen blickten glasig. Willis schlug mit dem 78
Knüppel noch schneller gegen die Handfläche. «Komm her, Freundchen», sagte er zu ihm. «Haste den Pfiff gehört?» «Sergeant, mir ist wirklich komisch.» «Ihm wird gleich noch komischer sein», sagte Lee. «Du sagst Sir zu mir, wennde mit mir sprichst, Kerl!» «Ja, Sir.» «Und stehst stramm!» Lee grinste, berührte die Bluse des Burschen mit dem Knüppel, gerade an der Stelle, wo das Herz sitzt, und zog ihn quer über die Rippen. «Warum hastes denen nich gezeigt, wo dich verdroschen haben?» fragte Lee, «warens Tommies?» «Ja, Sir.» «Na gut», sagte Lee, «hättste ihnen sagen sollen, wofür die Silbersterne sind. Die hätten Schiß gekriegt. Ja, die hätten Schiß vor dir gehabt, vor dem großen tapferen Helden. Na, isses nich so, Willis?» Sergeant Willis sagte nichts. Sein Gummiknüppel bearbeitete seine Handfläche schneller und schneller. «Wofür haste diesen Silberstern gekriegt?» fragte Lee. «Bei Gela.» «Aber was haste getan?» Der Soldat sagte nichts. «Auch ein Purpurherz», sagte Lee, «na sag, is das nich ein großer, tapferer Held, Willis?» «Ein großer, tapferer Bockmist.» «Hör mal, Sergeant», sagte der Soldat, «das is kein Bockmist. Ich hab Ausweispapiere.» 79
«Hab ich nich gesagt, Bürschchen, du sollst Sir zu mir sagen?» «Ja, Sir.» «Na, Sergeant Willis», sagte Lee, «das is schließlich und endlich nich schön. Werd nich gleich so grob mit dem Jungen da. Denk an die Deutschen, die der Kerl umgelegt hat. Haste denn nich Schiß vor ihm?» «Er isn beschissener Lügner», sagte Willis. «Beschissen, das bin ich», sagte der Soldat. «Na gut», sagte Lee, «hör auf den Jungen. Bloß weil du so 'n Held bist, brauchste nich gegen Sergeant Willis eklig sein. Vielleicht hat der Sergeant recht, und du bist gar nich berechtigt, die Tapferkeitsmedaille zu tragen.» «Er hat sich den Bockmist gekauft.» «Ich hab sie ganz richtig bekommen», sagte der Soldat. Er öffnete seine Jacke und sein Hemd und entblößte seine Brust. Genau über seinem Herzen war ein schmales, aufgewölbtes, purpurnes Einschießloch. Dann drehte er sich um und hielt die Jacke und das Hemd hoch. Man konnte sehen, wo die Kugel weiter unten an seinem Rücken wieder rausgekommen war. Die Narbe war riesig und purpurn. «Na, schön isses nich», sagte Lee. Die Augen des Soldaten waren klar geworden. Jetzt war er wütend. Den Schmerz in seinem Schädel hatte er vergessen. «Verdammt noch mal, was hast du gekauft?» fragte er Willis. «Nimm dein Hemd hoch», sagte Willis und schwenkte 80
seinen Knüppel. Der Soldat starrte ihn an. «Hörste nich, Junge? Nimm dein Hemd hoch!» «Mach schon», sagte Lee, «zeigs ihm. Mach, was er dir sagt.» Ich sah, wie auch er sich straffte. «Zieh dein Hemd hoch», sagte Willis. «Zieh dein Hemd hoch, Junge, laß mal sehn.» Der Soldat muß gemerkt haben, was nun kam. Er hob sein Hemd hoch. Ich sah, wie er zurückwich, noch ehe ihn der Knüppel berührte. Der Gummiknüppel traf ihn genau da, wo ihn die Deutschen fast umgebracht hatten. Er schrie auf, und es ging einfach nicht anders, ich schrie mit ihm. Willis schlug ihn quer über den Kopf, mit aller Gewalt, und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. «Ihr lausigen Hurensöhne, ihr lausigen, verfickten Hurensöhne!» Lee grinste und wollte grade über den Soldaten herfallen. Er hielt ein, drehte sich nach mir um und kam knüppelschwingend auf mich zu. Ich knallte ihm eine in die Fresse, der Knüppel fuhr über meinen Rücken, aber es war dieser Hund von Willis, den ich mir noch schnappen wollte. Er holte schon mit dem Knüppel aus und wollte meinen Kopf treffen, aber ich wich aus und versuchte, ihn ins Gekröse zu treten. Dabei trafen mich beide mit ihren Knüppeln auf Schultern und Arme. Ein weißer Blitz explodierte in meinem Kopf, aber ich ging nicht k. o. Noch mehr Wachtposten rannten auf mich zu. Alles, was ich wollte, war, einen von ihnen umzubringen, aber 81
irgendeiner packte mich an den Beinen und riß mich um, ein anderer setzte sich auf mich und schlug zu; ich biß den Bankert in den Arm, und er schrie auf. Dann hielten sie alle meine Arme und Beine fest und schlugen immer noch zu, und ich war wie eine Sprungfeder und wich aus, wenn einer über mich herfiel, und dann war ich völlig k. o. und tauchte in eine Schwärze, die ohne jedes Geräusch dahinfloß. Ich wurde für vierzehn Tage zu Einzelhaft bei Brot und Wasser verdonnert. Einer nannte das Pisse und faules Holz. Die Einzelhaft bestand aus dichter Schwärze, und in der Hundefalle, die eine Tür sein sollte, waren kleine Bohrlöcher. Hinter den Löchern konnte man grelles Licht sehen. Jeden Morgen kam Lee runter, öffnete die Hundeklappe und goß einen Eimer Wasser rein. Das sollte mich hübsch und sauber erhalten, aus sanitären Gründen. Das Wasser traf mich wie ein Schock. Einige Backenzähne hatten sie mir ausgeschlagen, und mein Kopf war voller Beulen. Nach vierzehn Tagen wurde ich rausgelassen. Ich fühlte mich benebelt und schwach in den Knochen; die Stellen, wo ich durchweicht im Wasser gelegen hatte, waren weiß und ohne Haut. «Ich wett, daßde hungrig bist», sagte Lee. Willis beobachtete mich, zwei Wachen hielten mich aufrecht. «Ich kann dich den Gefängnisdreck nich mehr essen lassen», sagte er, «du brauchst gute, nahrhafte Sachen. Isses nich so, Willis?» Ich bekam wirklich gutes, nahrhaftes Essen, ein fettes Hühnerbein, Bratkartoffeln und Fruchtsalat, alles 82
zusammen in ein Eßgeschirr geschüttet. Lee und Willis sahen mir beim Essen zu. Mein Magen drehte sich um. «Pisse und faules Holz halten nich so gut vor, nich, du Schweinigel?» sagte Lee und lachte dazu. «Er wird krank werden», sagte ein Wachtposten. Ich war schon richtig krank. Drüben im Gefängnis wurde ich noch viel kränker. Einer hielt meinen Kopf fest. Ich sah Lee, der grinsend über mir stand mit einer Halbliterflasche und sagte, er hätte eine wirklich gute Medizin. Ich drehte meinen Mund weg. Willis zwang mich, den Mund zu öffnen, und Lee schüttete die ganze Flasche Rizinusöl rein. Drauf stieß mich einer von ihnen in den Magen. Mir kam alles hoch. «Jetzt sieh nur die Bescherung, die du angerichtet hast», sagte Lee. «Das wirste aufwischen, Junge», sagte Willis, «das wirste jetzt sofort aufwischen, hörste?» Lee holte einen Eimer voll Seifenlauge. Ich wankte raus. Da traf mich der Wasserschwall und schwemmte weiße Lachen über den Boden. Manchmal stellten sie einen mit der Nase und den Zehen an die Wand oder mit der Nase allein an die Wand; dann mußte man lange auf der Stelle treten. Oder sie ließen uns zwei Stunden lang strammstehen, während sie nur rundherumliefen und warteten, bis man einen Muskel bewegte. Oder sie ließen uns die Arme ausstrecken, bis sie taub wurden und man meinte, man trüge einen Schrank. Oder sie hetzten uns lange um den Garten rum und schlugen auf die Beinmuskeln, wenn man sich nicht 83
schnell genug bewegte. Oder sie stellten fest, man sei schmutzig; dann schrubbten sie mit GI-Seife und einer harten Waschbürste und rissen dabei die halbe Haut mit. Mit all diesen Veranstaltungen wollten sie bessere Soldaten aus uns machen, die ihr Vaterland achten und lieben. Nie hab ich den Soldaten von der Ersten wiedergesehen. Ich weiß nicht, was mit ihm geschah. Ich kam vor ein Sonderkriegsgericht. Man legte mir nahe, ich solle mich doch gleich im Sinn von Artikel 61 des Kriegsrechts schuldig bekennen. Sonst könnte ich wegen unrechtmäßiger Benutzung eines fremden Ausweises bestraft werden. Das konnte ohne weiteres bedeuten, daß ich auf Grund des Artikels 58 wegen Desertion verurteilt wurde, weil ich einen anderen Namen benutzt hatte. Fünf Offiziere saßen hinter einem langen Tisch, und in der Ecke hing eine alte amerikanische Fahne. Die Verhandlung dauerte zwei Minuten. Ich wurde zu sechs Monaten Schwerarbeit verurteilt, mit Verlust von zwei Dritteln meiner Löhnung. Dann wurde das Urteil ohne eine Erklärung aufgehoben. Ich mußte sofort in den Wehrdienst zurück. Mit einer neuen Ausgabe der alten Kluft kam ich in der Kaserne an. Viele Gerüchte, daß die Invasion bald beginne, schwirrten damals durch die Luft; drum säuberten sie schnell das Depot. In weniger als einer Woche war ich bei der Division, und kurz danach befanden wir uns in einem ordnungsgemäßen Zustand, diesmal von Tommies bewacht und verpflegt, die uns das Essen nicht ins Gesicht schmissen. Das überraschte uns. 84
Wir wurden mit zwei französischen Hundertfrancnoten, mit Handgranaten, Munition und einem Schwimmgürtel ausgerüstet. Wir kamen Dienstag, den 6. Juni, in Frankreich an. Wir waren die erste kämpfende Truppe, die von der Omaha aus um 6 Uhr 25 das Land betrat. Am Waffenstillstandstag hielt Churchill in Paris eine Rede und erzählte den Franzosen, wie tapfer die Alliierten in ihrem Kampf gegen die Unmenschlichkeit gewesen seien. Eisenhower hatte die Invasion einen Kreuzzug genannt. Achtes Kapitel Nachdem die beiden Wachen mich und mein Bett durchsucht hatten, tauchte der Krankenwärter Chester auf. Ich hatte das Messer Goodman zugesteckt. Chester sagte, ich kriege Schwierigkeiten, wenn sie es finden würden. «Is das wahr?» fragte ich. «Du wirst auch nich gern in Haft sein.» Ich lag auf dem Bett und blätterte in einer Illustrierten. «Wir fangen morgen an, dich mit Sodium Pentothai zu behandeln», sagte ehester. «Was is das denn, verdammt noch mal?» «Wahrheitsserum. » «Es bringt dich zum Reden», sagte Goodman. «Du spuckst dann alles aus», sagte ehester. Es freute ihn. «Manchmal sind Übelkeit und vorübergehender Gedächtnisschwund die Folgen.» «Klingt saublöd», sagte ich. 85
«Richtig», sagte ehester glücklich. «Es könnt dein Gedächtnis sogar vollkommen blockieren.» «Was hat er überhaupt?» fragte Goodman. «Gedächtnisschwund und hysterische Anwandlungen», sagte Chester. «Er is hysterisch?» Chester verließ den Saal, und Goodman sagte: «Willst es zurückhaben?» «Wart ein bißchen.» Ich sah zu Thompson rüber. Er lag im Bett und wartete noch immer auf seine Chance. «Hör zu», sagte Goodman, «das Wahrheitsserum wirkt nich immer. Shay hats bekommen. Es ist nur zum Probieren.» «Das wär doch verdammt blöd, wenn ich mich hinterher wirklich nich erinnern könnt!» «Das is nur ne Zeitlang. Wohin gehste?» Ich stand auf. Ich wußte, was ich tun mußte. «Zu Gertie», sagte ich. Ich verließ den Saal, holte meine Kluft aus dem Lokus, wo ich sie versteckt hatte, ging die Treppe runter und fand das Büro leer. Beim Rausgehen sah ich zum Saal der Verrückten zurück; ich sah, wie weit er vom übrigen Teil des Krankenhauses entfernt lag und daß die Fenster vergittert waren. Das gab mir den Rest. Ich kletterte auf die Mauer, sprang auf der anderen Seite runter, überquerte die Straße und folgte dem Pfad quer durch die Felder. Die Sonne brannte heiß. Ich kam auf einen Acker, das hohe Getreide wogte. Ich zog den Pyjama 86
aus und die Kluft an. Es war ein langer Weg bis Brüssel. Ich lag lange Zeit im Getreide und schaute den vorüberziehenden Wolken zu. Zwei Mädchen kamen vorbei und sahen mich im Feld. Als ich mit ihnen reden wollte, gingen sie weg. Ich stand auf und begann meine Reise. In einem Jeep wurde ich bis nach Nürnberg mitgenommen und stieg dort auf einem großen Platz aus. Er war auf allen vier Seiten von schwerbestückten Fahrzeugen umgeben; staubige Zeltplanen bedeckten die offenen Rücksitze. Es war trocken und heiß, der Himmel blendend hell. Als ich den Platz langging, sah ich im Schatten parkende Wagen. Ein Kino gab es dort mit einer offenen Eingangstür. Das Türglas war zerbrochen. Ich sah einen GI auf einem Wagen sitzen, eine Hand hing aus dem offenen Führersitz raus. Als ich vorbeikam, sagte er: «Heiß, nich?» «Und wie!» «Schiebste Wache?» «So was Ähnliches. Ich bewach die Laster.» «Lausig, nich? Wer zum Teufel soll denn schon nen Zweieinhalbtonner klauen?» «Man weiß das bei manchen Leuten nich genau», sagte ich. Ich blickte um mich. Viele Wagen parkten da, alle leer und nahe am Haus im Schatten der Bäume. «Was zum Teufel kann denn einer mit so einem Ding anfangen?» fragte der Kerl wieder. «Man kanns doch nich verstecken. Ich tät gern den Film sehen.» «Kenn ihn schon», sagte ich. Ich merkte, daß er drauf 87
und dran gewesen war, mich was zu fragen. «Du könntst Schwierigkeiten kriegen, wenn ich für dich Wache schieb», sagte ich. «Solang einer aufpaßt, was soll ich da Schwierigkeiten kriegen?» «Naja, ich bin direkt hinter dir. Ich könnte ihn bewachen.» «Im Ernst?» «Klar, warum nich?» Er sprang vom Wagen und war schon zum Kino unterwegs. «Ich weiß es zu schätzen», sagte er. Er sah nicht einmal mehr zurück. Ich kletterte auf den Vordersitz, ehe er noch die Tür öffnete, und griff nach dem Karabiner. Er hing in einer Metallhülle neben dem offenen Türrahmen. Ich drehte an den Metallverschlüssen, nahm das Magazin raus und prüfte es. Es war geladen und fühlte sich heiß an. Ich sicherte wieder und legte den Karabiner auf den Sitz neben mir. Es kam niemand aus dem Kino. Sie lachten drinnen. Ich ließ den Wagen an und fuhr weg. Eine Stunde später war ich auf der Autobahn, und der Himmel begann sich zu verändern; er wurde schwer, dunkel und silbern. Jeden Augenblick würde es losregnen. Jedes Ding stand scharf umrissen, aber dunkel da. Tiefe Wälder erstreckten sich zu beiden Seiten der Autobahn. Sie führte gradeaus und stieg hin und wieder einen Hügel rauf und dann wieder runter, aber immer gradeaus: zwei neue Straßen und ein Streifen aus klumpiger Erde dazwischen. Dann kam ich in die Regenschwaden, die wie dunkle 88
Schatten über der Fahrbahn hingen. Man konnte sie immer schon kommen sehen, während man selbst noch in der Sonne fuhr. Es regnete in den offenen Führersitz, aber nach einer Stunde hörte es auf. Schwarze Wolken jagten schnell dahin, und hinter ihnen zogen silberne Streifen. Ich war weit und breit mit meinem Laster allein. Ich fuhr von der Autobahn runter und ratterte durch Städte. Ich befand mich mitten in einem Konvoi von großen Lastern. Im Rückspiegel sah ich, daß einer links an mich ranfuhr, und beim Überholen schwenkte er zu nahe rüber und erfaßte meine vordere Stoßstange; er drückte mich beiseite, und ich kam ins Schleudern, das Steuerrad entglitt meinen Händen, und ich rammte einen Meilenstein in dem Moment, als ich auf die Bremsen trat. Ich sprang ab, sah schwarzes Öl rausrinnen, und der Meilenstein sank unter dem Ölbehälter weg. Der Konvoi war fast vorbei, als ein Jeep mit einem dicken Leutnant kam. Er wollte aus der nächsten Stadt Hilfe holen, aber da ich befürchtete, daß auch Schneeköppe mit den Helfern kommen könnten, sagte ich, ich würde es schon selbst schaffen. Der Leutnant fuhr davon, ich stieg wieder ein, und die Karre sprang mit einem Ruck von dem Stein weg. Alles war in Ordnung. Vorne lag eine große Ölache, als ich wendete, aber die Karre ging prächtig, bis sie nach einer Stunde zu bocken anfing und stehenblieb. Bei einer Versorgungswerkstatt kriegte ich neues Öl und wartete, bis der Motor abgekühlt war. Ich hatte noch einen langen Weg vor mir bis zum Rhein. Der Laster startete tadellos, und ich fuhr in Richtung Nordwest durch eine 89
zerbombte Stadt nach der anderen. In allen diesen Städten sah ich mit Grünspan überzogene Standbilder Bismarcks. Einmal waren Teile von Bismarcks Kopf zerstört, und Drähte hingen an ihm runter. Nur noch zerbombte Städte und viel Schutt, hochgetürmt und staubüberdeckt, Drähte, die in den schmalen Straßen hingen, und überall die gleichen Schilder auf Stangen, die in alle Richtungen wiesen. Auf dem Land draußen war es anders. Dort sah es aus, als ob nie Krieg gewesen sei. Plötzlich tanzte in der nur von Mond und Scheinwerferlicht erhellten Nacht etwas Gelbrotes vor mir her und beleuchtete den Führersitz. Ich kapierte gleich, was los war, stoppte sofort, ergriff den kleinen Feuerlöscher, der am Fußboden des Beifahrersitzes festgemacht war, sprang raus und rannte um den Motorblock, der in Flammen stand. Ich rutschte aus, und Schotter schnitt mir in Knie und Hände. Ich war eigentlich überrascht, wie schnell der Feuerlöscher das Feuer erledigte. Dann saß ich im Führerhaus und sprach liebevoll auf meinen Laster ein. Er antwortete, aber eine Stunde später antwortete dafür ich nicht mehr, sondern schlief am Steuerrad ein. Ich stieß sanft irgendwo an und wischte grade noch an einem Gebäude vorbei; das weckte mich auf. Ich mußte anhalten. Es war Morgen, als ich aufwachte. Ich war völlig steif. Ich sprang runter und streckte mich und tanzte ein wenig rum, um das Blut wieder in Bewegung zu bringen. Die Felder waren noch neblig und voll Tau, doch die Sonne schien bereits warm, und der Tau 90
verging, bis ich nach Bonn kam. Auf dem Weg zur Pontonbrücke über den Rhein staute sich der Verkehr. Dort mußte wohl ein MP-Wachtposten sein. Ich fuhr aus der Kolonne raus und hielt an einem Ordonnanzposten. Dem Sergeant in der Werkstätte erzählte ich, daß ich gegen einen Meilenstein gefahren war und der Wagen Feuer gefangen hatte. Er befahl einem Mechaniker, den Wagen mal nachzusehen. In der Zwischenzeit brachte mir der Sergeant Kaffee. Er interessierte sich ungemein für die belgischen Mädchen, als ich ihm erzählte, daß ich in Antwerpen stationiert sei, aber ich sagte, ich machte mir mehr Gedanken, ob ich auch hinkäme, nicht bloß wegen des Ölschadens an meinem Laster, sondern vor allem, weil ich zu einem Konvoi gehört hätte, und ohne eigene Fahrerlaubnis würde mich die MP bestimmt anhalten, und ich müßte ihnen eine Menge Erklärungen abgeben. Er sagte, er würde das schon in Ordnung bringen, und zog einen Block mit unbeschriebenen Fahrerlaubnisscheinen raus, und ich las von der Motorhaube die Nummer ab und gab ihm auch das Nummernschild von der Stoßstange. Der Sergeant unterschrieb dann mit dem Namen eines Offiziers. Nachdem wir in die Kantine gegangen waren, wo wir was Richtiges gegessen und einen Kaffee getrunken hatten, kam der Mechaniker zur Tür rein, wischte seine Hände an einem rauhen Lappen ab und sagte, der Wagen würde jetzt bestimmt bis Antwerpen durchhalten. Ich bedankte mich bei ihm und kletterte in den Führersitz. Der Sergeant kam noch zur Tür und sagte, ich solle ein belgisches Flittchen 91
für ihn bearbeiten. Der Verkehr rollte über die Brücke. Der Laster rumpelte über die hölzernen Planken und drückte die Pontons tiefer ins Wasser. Der Rhein war grün und breit und floß schnell. Auf der anderen Seite sah ich schon den MP-Posten. Er trieb den Verkehr schwungvoll an. Ich war auf dem besten Weg nach Brüssel. Neuntes Kapitel Kurz vor Brüssel – es war schon finster – fuhr ich den Laster von der Straße runter und hielt bei einem Restaurant. Das Restaurant war leer, im Speiseraum herrschte Dunkelheit, die Stühle standen auf den Tischen. Nur die Bar war erleuchtet. Der Barkeeper las in einer Zeitung, die vor ihm auf der Theke lag; die Ellbogen hatte er verschränkt. Er nahm die Brille ab und legte sie auf die Zeitung. «Ich hätt bloß gern das Klo benutzt, zum Waschen», sagte ich. «Wie spät is es?» «Acht, Monsieur. Ich hab gedacht, es käm ein ganzer Haufen.» Nachdem ich auf dem Klo war, fragte der Barkeeper: «Hätten Sie gern nen guten Drink?» «Danke, hab kein Geld. Ich bin bloß auf der Durchfahrt.» «Ich hab gedacht, es kämen viele Soldaten. Sie haben nen großen Laster, nich?» «Ja, ich seh schon, daß Sie recht geschäftstüchtig sind.» 92
«Das is jeder hier. Is doch Saison!» «Ich bin nich mehr an die Beleuchtung draußen gewöhnt. Is komisch, daß der Krieg vorbei is.» Er hatte seine Brille wieder aufgesetzt und las mit verschränkten Armen auf der Theke. «Bon soir», sagte ich. Der Barkeeper antwortete nicht. Draußen glänzten Sterne. Über den schwarzen Bäumen konnte ich schwache blaue Lichter erkennen. Kein anderes Auto war unterwegs. Die blauen Lichter kamen schnell und lautlos näher und breiteten sich hoch über den Bäumen aus. Sie ließen mich an Bombenangriffe denken. Zuerst hatte ich wirklich geglaubt, es wären Bomben, aber es waren nur die Straßenbahnleitungen, die Funken sprühten, wenn die Tram durch Brüssel fuhr. Ich brauste in Richtung Stadt, überquerte den Place General Meiser, fuhr die Chaussée de Louvain lang in Richtung Boulevard Bischoffsheim und dann in die Stadt rein. Mit einem Auge hielt ich ständig nach MPPatrouillen Ausschau, vermied den Gare du Nord und wendete an der Porte de Schaerbeek. Es war schön hier in der Stadt. In Schaerbeek parkte ich vor Montys Café. Belgier tanzten drin; sie waren blau und machten Krach, hauptsächlich Schaffner vom Schaerbeekbahnhof mit ihren Familien. Sie tanzten hopsend und schwerfällig und fühlten sich offensichtlich wohl. Einige hatten sogar die Kinder mit am Tisch. Rudy spielte lächelnd auf dem Podium Klavier. Der Akkordeonspieler hatte die Augen geschlossen und schwenkte das riesige, glänzende, 93
schwarzweiße Akkordeon vor der Brust hin und her, die ledernen Tragriemen waren so dick wie ein vollgefüllter Feldsack. Monty kippte fast aus den Pantoffeln, als er mich sah, und vergaß dabei sein ganzes Englisch. Er grinste und zeigte seine großen weißen Zähne, als wir uns über der Bar die Hand schüttelten. Ich blickte in sein großes, glückliches Pferdegesicht. «Mon dieu! Nicholas!» rief er aufgeregt. «Anna, sieh doch mal!» rief er, zur Küche gewandt. «Wann bist du angekommen?» «Grade jetzt», antwortete ich. «Wo sind die andern?» «Die waren grade noch hier. Die werden froh sein!» «Alles ça va?» «Natürlich. Anna!» Seine Frau kam aus der Küche und trug ein Tablett mit Essen. Sie stellte das Tablett auf der Theke ab und wischte sich die Hände an der Schürze. Als sie mich umarmte, hörte ich, wie mir einer in Englisch zurief: «Wie es gehen?» Ich sah zu Rudy rüber, der lächelnd weiterspielte, ohne auf die Tasten zu blicken. «Ganz gut», rief ich. «Alles in Ordnung?» «Na klar!» «Komm nachher mal rüber.» «Gern», sagte ich und dann zu Anna: «Er kommt mit dem Englisch immer besser klar.» «Mit Dialekt américain, meinst du wohl.» Sie nahm das Tablett wieder auf, brachte es zu einem 94
Tisch und kam sofort zurück. Rudy sah noch immer vom Podium rüber. «Gesehen deine Kumpel», sagte er. «Oui», sagte Anna, «William und Alfred, die waren grade hier. Du warst lang weg.» «Stimmt.» «In Allemagne!» «Nürnberg.» «Anna», sagte Monty glücklich, «gib Nicholas Cognac.» Ich sah ihn an. Er stand immer noch hinter der Bar und ganz nah bei den Flaschen. «Cognac machen dich stark», sagte er. «Nich jetzt.» «Auf mich!» «Na gut.» Anna ging hinter die Bar und goß einen Cognac ein. Sie legte einen runden Bierdeckel unter das Glas. Dann beobachtete sie, wie ich's runterkippte. Sie hatte Mausezähne und war arg dünn, aber sie war eine Frau mit großem Herzen, und ich hatte sie alle beide gern. Nur war Monty ein bißchen eifersüchtig, und plötzlich erinnerte ich mich an eine lustige Geschichte, die Bill mir von Monty erzählt hatte. Er hatte nämlich einen Pariser, nachdem er ihn benutzt hatte, ausgewaschen und mit einer Klammer auf die Leine gehängt, ihn gepudert und wieder aufgerollt. Er war wirklich äußerst sparsam, denn die Pariser waren damals auch rationiert. «Anna», sagte Monty, «mach un bon bifteck für Nicholas. Du mußt sein affamé.» «Ich hab kein Geld», sagte ich. 95
«Hab ich nach Geld gefragt? Du zahlst eben später.» «Ich tät wohl besser den Laster erstmal in eine Garage rüberbringen.» «Später, Nicholas. Erst wird gegessen. Damit du wieder zu Kraft kommst.» Ich saß an einem Tisch und schaute auf die tanzenden Paare. Monty und seine Frau saßen dabei und sahen mir beim Essen zu. «Du hast viel Gewicht verloren, Nicholas», sagte Anna. «Hat er nicht viel abgenommen?» Monty saß mit aufgestützten Ellbogen und mit vorgebeugtem Kopf da. «War es schlimm?» fragte er. «Gar nich.» «Na, la guerre ist aus. Bald kannst du nach Hause.» «Nich so, wie du meinst.» Er dämpfte seine Stimme und rückte näher. «Im Ernst, wie gehts dir denn?» «Wie solls schon gehn?» «Was mit den Behörden los?» Ich antwortete ihm nicht. «Is es erledigt?» «Nee.» Später gab mir Monty den Schlüssel, und ich fuhr den Laster in seine Garage. Das war nur ein offener Hof mit einer schweren Holztüre. Ich schloß das Tor und verriegelte es. Ins Café zurückgekehrt, gab ich Anna den Schlüssel. Monty tanzte mit irgend jemand. Anna berührte meine Hand, die auf der Theke lag, drückte was rein und blickte dann weg. Es war eine Hundertfrancnote. Ich 96
steckte sie ein und sagte: «Merci.» Dann ging ich rüber ins Novelty. Ich sah weder Bill noch sonst einen. Nur viele Belgier, die jünger waren als die bei Monty, tanzten im Ballsaal. Ich fragte den Barkeeper, ob er William oder die anderen gesehen habe. Er sagte, er habe sie diesen Abend noch nicht gesehen. Ich ging zur nächsten Ecke und blickte in das Café mit den Fenstern ringsrum und den Stühlen und Tischen längs der Fenster. Es war vollbesetzt, die Musiker spielten in weißen Sakkos auf dem großen Podium. Ich sah aber keinen von den Kumpels. An der Ecke wartete ich auf eine Straßenbahn. Endlich rasselte eine daher, hellerleuchtet und ziemlich wuchtig für die enge Straße. Ich winkte und stieg ein. Die ganze Zeit über hatte ich geglaubt, ich müßte mich nach der Rückkehr anders fühlen. Ich nehm an, ich hatte so was wie ein Nach-Hause-Kommen erwartet. Drüben, am Place Maréchal Foch klopfte ich bei Mama, und Louise öffnete die Tür. Sie trat bloß einen Schritt zurück und hielt immer noch die Türklinke fest. «Freuste dich nich, mich wieder zu sehn?» «Warst du in Deutschland?» «Ja. Wo sind die andern?» «Die sind ausgegangen.» In der Küche trank Mama ihren Kaffee am Tisch. Die Katze saß auf ihrem Schoß, und sie kraulte ihr den Rücken. «Na», sagte sie gelassen, «ich seh, dir gefällts hier.» «Ja.» «Ists dir gut gegangen?» Sie kraulte die Katze unter dem Kinn und lachte die ganze Zeit über das Vieh, und die 97
Katze streckte ihren Hals und rieb ihn an ihrer Hand. «Prima», sagte ich. «Warst du in Deutschland?» «Ja.» «War die Reise angenehm?» «Ne prächtige Reise!» Die Katze sprang von ihrem Schoß, machte einen Buckel und rieb ihn am Stuhlbein. Mama nahm ihre Kaffeetasse. «Kann ich auf mein Zimmer gehn?» «Louise, führ Monsieur Nicholas auf sein Zimmer, in das gegenüber dem Foyer, gleich neben seinem alten.» «Das is aber ein sehr kleines Zimmer.» «Du bist fortgewesen.» «Wieviel kostet die Bude?» «Dasselbe, cent francs.» «Ich zahl, sobald ich die andern getroffen hab. Okay?» «Natürlich, wir sind alte Freunde.» Ein desertierter kanadischer Korporal hatte mein altes Zimmer. Louise zeigte mir den Raum, der nebenan lag. Er war sehr eng. Ich machte die Tür zu und legte mich aufs Bett. Das Licht drehte ich nicht an. Die Straßenlaternen draußen waren hell genug. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos ließen Schatten über die Wände gleiten. Ich hörte das Akkordeon aus dem Cheval Blanc gleich über der Straße. Alle Augenblicke lachte das Mädchen im Zimmer des Kanadiers. Schließlich zog ich meine Kleider aus und ging wirklich ins Bett. Gerade war ich eingeschlafen, als das Licht angedreht 98
wurde. Es waren Bill Johnson und Al, die mich angrinsten. «Na, küß schon meinen heimwehkranken Arsch», sagte Bill. «Mach das Licht aus!» Ich vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. «Klar, Baby, klar!» Zehntes Kapitel Am nächsten Morgen lag ich noch im Bett, als Bill mir eine Tasse Kaffee brachte. Ich stützte mich auf den Ellbogen. «Bequem wie zu Haus, Baby», sagte er. «Was heißt schon zu Haus?» «Ich hab gemeint, du seist schon längst in Leavenworth.» «Danke.» «Biste ausgebrochen?» «Ich bin rausspaziert.» Ich blickte ihn an, wie er so vor meinem Bett stand, und trank den Kaffee aus. Die Tasse und die Untertasse stellte ich auf den Boden. Bill war ziemlich groß. Sein gutgeschnittenes, kantiges Schwedengesicht war vom Saufen häßlich geworden. Seine Augen waren rot unterlaufen, und seine Hände zitterten. Ich schlüpfte gemächlich in meine Militärstiefel. «Ich hab was Besseres als diese schäbige Kluft.» In seinem Zimmer zeigte er mir einen Schrank voll Uniformen, die er vom Flugplatz hatte. Die meisten waren Offiziersuniformen. Eine war die eines Generalmajors vom 99
Oberkommando. «Heiliger Bimbam, biste verrückt!» sagte ich. «Du hetzst uns die ganze Armee auf den Hals!» «Hab doch nich geahnt, daß sie von nem General is! Es war dunkel.» Ich probierte die Generalsjacke an. Ich blickte in den langen Spiegel an der Wand – verbeulte Hosen, kein Hemd, unrasiert, barfuß und die piekfeine Jacke mit vier Reihen Lametta. «Siehst hübsch aus, Baby», meinte Bill. Ich salutierte vor meinem Spiegelbild. Bill nahm einen Schuhkarton raus, der vollgepfropft war mit Pässen und Führerscheinen. Er hatte sogar den dreieckigen Gummistempel vom Henry Hudson, dem Klub, wo ich geschnappt worden war. Bill erzählte mir, daß er einen belgischen Drucker rumgekriegt hatte, ihm dazu noch einen gebrauchten Führerschein und einen Paß nachzumachen. Der Drucker hatte auch den Gummistempel produziert. Die Vorlagen waren genauso gut wie die von einer Druckerei der Regierung. Ich probierte Uniform und Stiefel eines Fallschirmjägers an. Die Bluse hatte den Adler der 101ten auf dem rechten Ärmel und den Mist von Chanor Base auf dem linken. Es war die Uniform eines Stabssergeanten, und sie paßte ganz genau, mit zwei Reihen von Auszeichnungen, mit dem Luftlandeklimbim und dem Infanterieabzeichen. Ich rasierte mich, zog mich an und sah schon wie ein richtiger Soldat aus. Louise wartete am Treppenabsatz auf mich. Sie wollte 100
rauskriegen, ob ich bestimmt zahlte. Mama und ich waren ja so alte Freunde, so prima Freunde! Bill bezahlte Louise, und sie steckte die Hundertfrancnote in ihre Schürzentasche. In der nächsten Straße kletterten wir in Bills geklauten Jeep. Wir fuhren zu Monty und inhalierten was. In der Nacht parkten wir in der breiten Avenue Louise im Schatten der Bäume. Bill schaltete die Scheinwerfer aus, ließ aber den Motor laufen. Ich ging rüber zur Schneiderei. Das Geschäft war geschlossen und dunkel. Dann erschien ein Licht. Die Türklingel schrillte immer noch, als die untersetzte Frau die Tür öffnete. «Mein lieber Junge», sagte sie, «allez, komm rein!» «Attendre», sagte ich. Bill stellte den Motor ab, während ich hinter ihm nach den verpackten Fallschirmen langte. Ich nahm zwei und Bill die anderen. Die Frau beobachtete uns, als wir sie auf den Ladentisch legten. Sie nahm ihre Brille ab und putzte sie an der Schürze. Zuerst hatte sie gelächelt, aber als sie ihre Brille wieder aufsetzte, blickte sie auf die Fallschirme und legte dann den Zeigefinger auf die Lippen. «Ich brauch nicht so viel Fallschirmstoff», sagte sie. «Seide», sagte Bill. «Prima Seide! Viele Blusen Sie machen für Damen, viele Kleid.» «Oui, zuviel!» Ich fing an, sie wieder einzupacken. Sie streckte eine Hand aus; den Zeigefinger der anderen hatte sie immer noch nachdenklich auf den Lippen. «Attendez. Hm … Fünftausend.» 101
«Jeder?» fragte ich. «Sechs, aber das reicht.» «Non, Madame, acht.» Bill sah mich an. «Sechstausendfünfhundert», sagte sie. «Absolument non. Acht.» Sie war jetzt aufgeregt. Ich hatte sie alle wieder auf den Arm genommen. «Attendez, attendez. Mm… sieben», und sie hielt sieben Finger hoch, «sieben, mein letztes Wort.» «Non, non», sagte ich. «Siebentausendfünfhundert, ja?» Ich sah Bill an, und er zuckte mit den Schultern. «Bon», sagte ich. Sie zahlte, und wir gingen raus. Bill sagte: «Ich hätt für sechstausendfünfhundert abgeschlossen.» «Kein Wunder, daß die Preise runtergegangen sind! Ich hab immer acht und neun ohne Theater gekriegt. Wie schlecht isses geworden?» «Frag nich», sagte er, «auf alle Fälle haben wir den Markt übersättigt.» «Hör zu, ich muß Geld machen. Wie wärs, wenn wirs mit dem Flugplatz probierten?» Er sagte nichts. Wir parkten zwei Blocks entfernt vom Place Maréchal Foch. Bill hob die Motorhaube auf, nahm den Zylinder raus, band das Steuerrad am Rahmen fest und sicherte es mit einem schweren Vorhängeschloß. Er erklärte, daß ihm drei Jeeps geklaut worden waren. Er wollte kein Risiko 102
eingehen. Dabei war bloß einer von den Schneeköppen abgeschleppt worden. Offenbar gabs Leute, die geklaute Jeeps klauten. Bei Mama händigte Bill mir drei Tausender aus und sagte, er hätte sowieso das viele Geld nicht bekommen, wenn ich nicht mit zu der Couturière gegangen wäre. Die drei Fallschirme waren alles gewesen, was ihm geblieben war. Die Lage auf den Flugplätzen war verflucht lausig geworden. Man sah jetzt überall Schneeköppe auf den Straßen zu den Flugplätzen. Hin und wieder stellte die MP Wachtposten am Stadtrand auf, und sie überprüfte jeden, der rein und raus kam. Ich war verdammt froh, daß ich es mit dem Laster geschafft hatte. Schmuggel mit Champagner oder Cognac war ganz unmöglich geworden. Manche Deserteure machten noch einen guten Schnitt mit Uhrenschmuggel aus der Schweiz. Sie kriegten die Uhren von einem Kontaktmann in Frankreich und schafften sie dann über die Grenze nach Belgien. Aber das war auch nicht mehr so leicht. Al stieg aus dem Flugplatzgeschäft aus, und auch Mac hatte genug davon. Sie lebten von dem, was sie hatten, aber das würde wohl nicht lange reichen. Ein paar Nächte später erzählte ich Bill, daß ich einen Weg auf den Flughafen B 56 wüßte, nämlich durch ein Dorf, an das die Schneeköppe nie denken würden. «Baby, ich mach mit», sagte er. «Also los», sagte ich. Wir fuhren durch das Dorf. Die kleinen Häuser klebten aneinander und sahen alle gleich aus, wie eine einzige 103
graue Wand. Die schwarzen Fensterläden waren feucht und glänzten im Scheinwerferlicht. Auf der holprigen Straße stand eine Katze mit aufgestelltem Schwanz; ein Auge leuchtete grün, das andere weiß. Kurz hinter dem Dorf führte die Straße auf den Flugplatz. In roter und weißer Schrift stand dort auf einem Schild: DANGER AIRCRAPT CROSSING Ich schaltete die Scheinwerfer aus. Auf der Rollbahn fuhr der Jeep leise. Vor uns, abseits der Rollbahn, konnte man die Silhouette einer C 47 sehen. Das Verwaltungsgebäude und der Kontrollturm waren weit weg. Wir fuhren ran. Bill stand Wache, und ich stieg ins Flugzeug. Ich reichte Bill die Fallschirme runter, dann hielt ich plötzlich ein. «Augenblick mal», sagte ich. Ich stand unter der offenen Tür und lauschte. Bill schaute ringsum. «Hörste was?» fragte ich. «Bloß den Wind.» «Das is nich der Wind!» Man konnte weit über das Feld bis zu den Lichtern des Kontrollturms sehen; dunkle Flugzeughallen und eine Baumreihe waren zu erkennen. Aber das Feld lag stockfinster da, und jeder konnte dort stehen, ohne gesehen zu werden. Ich spürte irgendwas. «Mensch, haun wir ab», sagte Bill. 104
«Gib mir die Maschinenpistole», sagte ich, «da is was in der Flugzeugkanzel. » «Komm, machen wir weg.» «Die schnappen uns auf jeden Fall, wenn sie hier sind. Gib mir die Pistole.» Er gab sie mir, und kaum war ich wieder reingeklettert und hatte die Pistole unter das Vorhängeschloß an der Kabinentür gesetzt, um sie gewaltsam zu öffnen, als ich sprechen hörte. Mich überlief es kalt. Da sagte Bill: «Leutnant!» «Ja?» sagte ich. «Könnten Sie nen Moment rauskommen, Sir», sagte er ziemlich ruhig. «Was is?» Ich trat zum Eingang und blickte runter. Da sah ich ihn, einen Engländer mit einer geschulterten Enfield. Er hatte keine Kampfjacke an und keine Mütze auf. Seine Hemdsärmel waren aufgerollt bis zum Oberarm, und er trug große Maschinengewehrgurte. «Is das Ihre Maschine?» fragte er. «Ja», sagte ich. «Sie müssen mit zur Kommandostelle kommen.» «Ich hab dem Zivilisten da schon gesagt», sagte Bill, «daß das unser Schiff is, Leutnant.» Ich trug eine Luftwaffenuniform, und der Engländer konnte nicht wissen, wer zum Teufel ich war. «Unsere Papiere sind in Ordnung», sagte ich. «Dann gibts bestimmt keine Schwierigkeiten», sagte er. «Kommen Sie nur mit.» 105
«Wir werden rüberfahren», sagte Bill. Ich kam runter. «Ich werde fahren, Kendricks», sagte ich zu Bill. «Setz dich zu mir her, Kumpel», wandte sich Bill an den Engländer, «außen hin.» Wir fuhren auf die Rollbahn. Wir waren jetzt in der Mitte des Feldes, auf halbem Weg zum Verwaltungsgebäude, und der Engländer saß ganz außen und sah geradeaus. Er hielt seine Enfield fest und hatte den Fuß auf dem Rahmenbau des Jeeps. Bill saß in der Mitte, und ich spürte, wie er mich anstieß. «Wir biegen hier ein», sagte der Tommy. «Nee, das tun wir nich, Junge», sagte Bill in einem Londoner Dialekt, der noch besser war als der von dem Tommy. «Wir fahren gradeaus.» Er hielt dabei seine große Automatik genau auf die Brust des Engländers, packte dessen Flinte und schmiß sie auf den Rücksitz. Der Tommy blieb ganz steif, und seine Augen weiteten sich. «In Ordnung, Leutnant», sagte Bill, «wir halten hier an, Sir. Von hier aus wird der Junge nen Fußmarsch machen. Is es so recht, Junge?» «Erschreck den armen Bastard nich so», sagte ich. Der Tommy war völlig starr. «Mach, daß du rauskommst», sagte Bill. Der Tommy stieg aus. «Wiedersehn, Chef», sagte Bill und dann zu mir: «Also los, wollen sehen, daß wir hier wegkommen.» Wir fuhren schnell. Ich fuhr von der Rollbahn runter 106
und in die schmale Dorfstraße rein, das Gaspedal immer durchgedrückt. Wir holperten dahin, Pfützen spritzten, dieselbe verdammte Katze lief wieder über den Weg, und dann waren wir auf der Straße nach Schaerbeek. Bill schmiß die Enfield raus. Bei Mama trug ich die Fallschirme rauf, während Bill den Jeep parkte. Wir besaßen jetzt also sechs Fallschirme, und ich hatte noch einen Sechstonner. Am nächsten Tag trabte ich zu Monsieur Lefevre, der das Theater am Place Adolphe-Max betrieb. Ein Portier hieß mich im Vorraum warten. Monsieur Lefevre war ein kleiner, feingliedriger Mann mit einem winzigen Schnurrbart. Er hatte eine furchtbar affektierte Sprechweise, wie einer, der was Heißes im Mund hat. Wie viele Belgier sprach er mit einem englischen Akzent. Ich fragte ihn unverblümt, ob sein Freund noch einmal einen Laster wie den letzten haben wolle. Der Vorraum war vollgestopft mit Soldaten. Er blinzelte nervös und meinte, es sei wohl das beste, wenn wir über diese Sache in seinem Büro sprechen würden. In seinem Büro hingen überall an den Wänden glänzende Fotos von Filmstars. Er telefonierte, aber an der Art, wie er antwortete, merkte ich, daß sein Freund, der vor ein paar Monaten acht Laster gewollt hatte, nun nicht mehr besonders interessiert war. Monsieur Lefevre legte auf und zuckte mit den Achseln. «Es tut mir schrecklich leid», sagte er, «es scheint im Augenblick kein großes Interesse an Lastwagen zu bestehen.» Er sagte noch, er wolle sich der Sache annehmen und mich sofort 107
benachrichtigen, wenn er einen positiven Bescheid bekommen habe. «Ich werde mich bemühen.» Am gleichen Nachmittag fragte ich Monty, ob er jemand kenne, der an einem Laster interessiert sei. Ich wollte ihn einfach irgendwie losschlagen. «Combien?» fragte Monty, und ich sagte ihm, ich würde ihn für fünfzigtausend belgische Francs verscheppern. Er hob die Schultern. «Das ist nicht billig.» «Komm mir nicht damit; das is die Hälfte von dem, was ich früher für nen Laster gekriegt hab.» Wir standen an der Theke, und ich merkte, wie Bill mich anstieß. «Schau dir das an», sagte er. In einer dunklen Ecke saß der kleine Jacques, Montys Schwager. Beide Ellbogen hatte er auf die Bar gestützt und hielt den Kopf gesenkt. Ohne Mütze sah er viel älter aus. Als er zu uns rübersah, bemerkte ich, daß seine Augen blau umrandet und geschwollen und fast geschlossen waren. Seine Nase war dick und glänzte, und an seinem Mund klebte Blut. «Verdammt noch eins, wer hat das getan?» fragte ich. «Eure Schneeköppe haben das getan», sagte Monty. Jacques war ein lustiger Kerl, der ein bißchen auf dem Schwarzmarkt mit den GIs handelte. Er war zusammen mit ein paar von ihnen von den Schneeköppen aufgegriffen worden. Ähnlich wie Monsieur Lefevre, der sich das Gehabe eines Engländers zugelegt hatte, imitierte Jacques die Amerikaner, und zwar so drollig wie eine lebende Karikatur. Seine Lieblingsrolle war le gangster américain, und sein Superstar im Film war John Garfield. 108
Er sagte gewöhnlich usler zu uns, und hin und wieder wischte sein Belgisch mit rein, wenn er sprach. Sein bester Lehrer war Rudy, der Klavierspieler, dessen amerikanischer Slang weit und breit nicht zu schlagen war. Rudy schätzte ihn aber nicht besonders. Bill mochte Jacques gern. Mehr noch als die anderen träumte Jacques davon, nach Amerika zu gehen. Allerdings, nachdem ihn jetzt die amerikanische MP durchgewalkt hatte, wollte er wohl nicht mehr nach Amerika. Der MP, der Jacques verbleut hatte, hieß Kelly, und ich hörte nicht zum erstenmal von diesem Kelly aus dem MPHauptquartier am Place Rogier. Bill war ziemlich wütend. Er hatte versucht, Jacques einen Cognac einzuflößen, aber Jacques schüttelte bloß den Kopf und starrte wieder auf die Tischplatte. «Ich hab ihm gesagt, er soll zum amerikanischen Konsulat gehen», sagte Bill, «damit sie dem Kelly den Arsch verbleuen.» «Nen Dreck werden sie», sagte ich. «Américains und Allemands, die sind alle gleich», sagte Monty. «Ja, und is das vielleicht nich nett?» sagte ich. «Kümmer dich um den Laster, Monty.» «Ich probiers mal. Wohin du gehen?» «Raus», sagte Bill. «Du nicht essen?» «Nee.» 109
Am nächsten Tag hatte Monty einen Kunden. Er wollte aber bloß fünfundzwanzigtausend Francs für den Laster blechen. Ich konnte leicht erraten, wieviel Monty für sich absahnen wollte. «Na gut», sagte ich. «Wir wolln uns mal unterhalten.» «Oh non, Nicholas», sagte er schnell, «das ist nicht nötig. Dein Freund Monty, der arrangiert alles.» «Also gut.» Monty strahlte. «Cognac?» «Warum nich? Wie stehts mit dir, Bill?» «Ja», sagte Bill. Später, auf der Straße draußen, gingen wir an einem hohen Bretterzaun vorbei. ES LEBE DER KÖNIG war mit riesigen Buchstaben draufgeschmiert, doch einer hatte LEBE ausgestrichen und mit roter Farbe SCHEISSE drübergemalt. «Die Farbe paßt», sagte ich. «Mir fällts wieder ein», sagte Bill. «Isses die Nacht der Kommunisten oder die Nacht der Royalisten?» «Die der Royalisten», sagte Bill. Elftes Kapitel Im Palace in Schaerbeek war Montag, Mittwoch und Samstag Tanz. Die Dienstage waren für die Kommunisten reserviert, die Donnerstage für die Royalisten. Immer, wenn Tanz war, saß ein einzelner Gendarm auf einer Holzkiste gegenüber der langen Arkade. Bei den 110
politischen Versammlungen waren gewöhnlich Dutzende von Gendarmen da. Bill zog trotzdem die Versammlungen den Tanzabenden vor. Er hatte Keilereien gern. Er schwafelte prokommunistisch bei den Royalisten und proroyalistisch bei den Kommunisten. Kommunistische und royalistische Mädchen sahen völlig gleich aus. Sie wollten ihn alle bekehren, und er hatte immer Erfolg und ging mit vielen von ihnen ins Bett. Den Männern gegenüber zeigte er einen solchen Ehrgeiz nicht. Bei denen gabs nichts zu gewinnen, und außerdem waren sie in ihren politischen Gesinnungen viel zu hitzig. Die Polizisten hatten jedenfalls alle Hände voll zu tun. Georgette war eine wilde Royalistin und ihrem König treu ergeben. Die ganze Nacht beobachtete ich sie, wie sie heftig gestikulierte und Flugblätter unter die Menge verteilte. Ich sah nicht viel Sinn drin, proroyalistische Flugblätter an Royalisten zu verteilen. Als sie überzeugt war, daß sie mich für die königliche Familie gewonnen hatte, erlaubte sie mir, sie um die Taille zu fassen, als wir an der vollbesetzten Bar standen und ein Bier tranken. Sie war aber schon wieder wirr im Kopf und hielt Reden. Bill ging mit einer zuckrigen Royalistin weg. Er nahm den Jeep, während ich Georgette in den großen Laster nahm. Ich fuhr mit ihr in einen einsamen Teil der Stadt, der von V 1 zerstört worden war und gerade wieder aufgebaut wurde. Sie erlaubte mir bloß ein paar Küßchen in Ehren. Ich fing an, mich zu ärgern. Sie faselte von der Absicht der Partei, den König wieder auf den Thron zu setzen. Sie schwafelte voll Feuer von Leopold. Ihre Augen 111
glänzten, ich erinnerte mich an den bemalten Bretterzaun und sagte: «Scheiße der König!» Sie erschrak, ihre Augen öffneten sich weit. Mit einer Hand hielt sie mir den Mund zu, während sie mich mit dem anderen Arm umschlang. «Bitte», sagte sie, «so sollst du nicht sprechen.» «Hör mal, was is jetzt los?» Alles, was rauskam, war ein bißchen Spielerei mit den Händen. Dann fing sie plötzlich an zu kreischen und sagte, sie sei eine Jungfrau und könne so was nicht tun. Ich sagte: «Bockmist!» und fuhr sie nach Haus. Al erzählte mir von einem Mädchen, die so geil sei, daß sie ohne Schlüpfer rumlaufe. Sie kam samt ihrer Schwester zu Monty rein. Ihre Schwester war viel hübscher, aber Al erklärte, die würde sich nicht ausziehen. So nahm ich also das geile Mädchen mit in den Laster. Sie sah blöd aus, mit glattem, strohblondem Haar, geschnitten wie bei einem kleinen Holländerjungen. Außerhalb der Stadt fuhr ich den Laster von der Straße runter. Alles, was ich tun mußte, war, ihre Schulter zu berühren und die andere Hand auf ihr Knie zu legen. Sie fiel sofort schlaff um und spreizte die Beine. Sie trug wirklich keinen Schlüpfer. Es war mir aber doch zu komisch, dort auf dem Führersitz, drum nahm ich sie mit nach hinten. Der Boden aus Stahlplatten war für mich sehr hart, aber ihr schien das überhaupt nichts auszumachen. Sie war eine wahre Künstlerin in ihrem Fach. 112
Am nächsten Nachmittag machten wirs hinter einem Erdhügel. Plötzlich merkte ich, daß uns jemand zusah. Über meine Schulter sah ich drei Tommies auf dem Hügel stehen. Sie drehten sich lachend weg. «Was ist los, Chéri?» fragte sie. «Die Anglais.» «Die gehen schon. Mach, los, los!» «Ich bring dich nach Haus.» «Morgen treffen wir uns wieder? Bringst du deinen Freund mit, ja?» «Warum nich? Zwei sind besser als einer.» Am nächsten Tag kamen für Bill unangenehme Sekunden. Ich saß im Wagen und sah auf einmal einen englischen Laster ranfahren. Ich ging zur Wiese, um das Pärchen zu warnen. Bill hatte seine Hose ausgezogen. Die Beine des Mädchens umklammerten ihn, und sie sahen ziemlich drollig aus. «He, Bill, paß auf!» «Verschwind hier!» «Die werden dich sehn.» «Verdammt noch mal, hau ab!» Der Laster fuhr weiter. Bill zog seine Hose hoch. «Was is los mit dir?» fragte er. Er war richtig sauer. «Haste den Laster nicht gesehn?» «Was fürn Laster? Ich weiß gar nich, warum du soviel Wind machst.» Das Mädchen war überhaupt nicht sauer. Ihre Schwester war gerade das Gegenteil. Al hatte recht gehabt. Sie war viel hübscher und intelligenter. Ich probierte dieselbe 113
Masche bei ihr und nahm sie in meinem Laster mit zum selben Ort. Sie ließ sich küssen, aber als ich sie anfaßte, gab sie mir eine saftige Ohrfeige und stieß mich weg. Sie ließ mich nicht mehr rankommen und kreuzte die Arme fest über der Brust. Auf dem ganzen Weg saß sie von mir weggerückt in der Ecke. Ich brachte sie nach Haus und ging ins Novelty. Drinnen stand Yvette wie ein Holzklotz an der Theke, und Bill saß bei einem belgischen Paar. Ich kannte sie nicht. Der Mann hatte eine Hasenscharte und saß mit verschränkten Armen am Tisch. Die Frau hielt Bills Arm und tätschelte seine Hand. Sie hatte breite, gefärbte Augenbrauen und ein knalliges Make-up wie eine Nutte. Ihre Hände waren rauh und rot. «So kannste nich mit mir reden, altes Luder», sagte Bill gerade. «Wer kann das nich?» fragte ich; der Mann sah mich an. «Die da», sagte Bill und wies auf Yvette an der Bar. «Komm, Darling», sagte die Frau, «wir dansen. Mögen du dansen?» Bill sah so aus, als ob ihm gar nichts gefiele. Sein Gesicht war rot und die Augen trüb. «Das is ihr Mann», sagte er. «Is das nich 'n Draufgänger? Ich weiß wirklich nich, warum er so rumhängt.» Bill und die Frau gingen aufs Tanzparkett. Sie schien ihn aufrecht zu halten. Yvette, der das Nachtlokal gehörte, war Bills Freundin oder vielmehr eine seiner Freundinnen. Ehe ich Bill kennengelernt hatte, versuchte ich sie rumzukriegen, aber 114
sogar als falscher Leutnant machte ich keinen Eindruck. Dagegen hatte Bill ein beachtliches Talent, Frauen ins Bett zu kriegen, Frauen, bei denen ich nie Erfolg hatte; vielleicht weil er in betrunkenem Zustand so unflätig war oder weil sie das Gefühl hatten, ihn bemuttern zu müssen, weil er ein Trinker war. Bill hatte viele Mütter. Bill stolperte beim Tanzen. Der Mann am Tisch sah nicht zu ihnen hin. «Mögen Sie Brüssel gern, Monsieur?» fragte er. Er verstreute die Zigarettenasche auf dem Tisch. «Ich mags gern.» «Sind Sie auch auf dem Flugplatz stationiert?» «Ja.» «Ich kann mich nicht erinnern, Sie früher schon mal gesehen zu haben. Kommen Sie öfter ins Novelty?» «Hören Sie mal, Sie wollen doch ganz was anderes.» Er lachte affektiert. «Man muß sich über irgendwas unterhalten», sagte er. Ich blickte zu Yvette hin. Sie war dick und schwarz, und ihr Kleid glänzte speckig. Sie beobachtete Bill und die Frau im Spiegel hinter der Theke. Die Kapelle hörte zu spielen auf, und ich erhob mich. «Wo willste hin?» fragte Bill heiser. «Nirgends», sagte ich. Ich berührte Yvettes Ellbogen. Durch den Spiegel waren ihre Augen auf mich gerichtet. Es lag Kaffeehauszärtlichkeit in ihnen. «Kaufste mir einen Drink?» fragte ich sie. Sie sagte nichts. «Warum is hier jeder so wild?» fragte ich. 115
«Das Schwein da schläft mit allen. Wie ne Hündin schläft sie mit allen. Das da is ihr Mann. Er erlaubt das, kannste dir das vorstellen?» «Die treibts aber toll.» «Allerdings! Viel zu toll! Ein Hengst war für die richtig. Verstehst du?» «Klar. Ein Schwein.» «Komm, gehn wir promenieren!» «Kannste denn weg?» «Ich bin der Chef.» «Der Barkeeper wird dich aber schön beklauen.» «Allez, allez», sagte sie bloß. Yvette war nicht besonders gut im Bett. Sie war nur mit halbem Herzen bei der Sache. Ungefähr um vier entschloß sie sich zum Abmarsch. Sie ging die Treppe vor meinem Zimmer runter, die Schuhe in der Hand. Erst im Flur unten zog sie sich an. Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann ging ich wieder ins Bett. Ich war grade eingeschlafen, als ich eine Frau schreien hörte. Das rüttelte mich wach. Ich stürzte in die Vorhalle und hörte noch einen Schrei aus Bills Zimmer. Ich erwartete die Frau mit den breiten Augenbrauen, als ich die Tür aufstieß. Es war Georgette, die Royalistin, die Jungfrau sein wollte. Jetzt sah sie allerdings nicht mehr wie eine Jungfrau aus. Bill lag ausgestreckt auf dem Bett, und Georgette saß auf seiner Brust und hielt ihn mit den Knien umschlungen. Sie war nackt und schrie und fluchte und schlug ihm mit 116
den Handballen ins Gesicht, daß ihr Haar bloß so flog. Ich riß sie weg. Sie wollte auf mich losgehen. Ich verpaßte ihr eins auf den Mund und stieß sie aufs Bett. Dann ergriff ich ihre Handgelenke und zog sie wieder hoch. «Jetzt langts», sagte ich, «du wirst noch das ganze Haus aufwecken. Wie zum Teufel biste überhaupt hierher gekommen?» Sie zitterte und schluchzte jetzt und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. «He, du», sagte ich und packte ihre Schultern. «Ich red mit dir.» Sie schleuderte meine Hand weg. Bill hatte sich inzwischen erholt; er stand, nur mit Shorts und Socken bekleidet, da. Etwas Blut rann aus seinem Mundwinkel. Ich nahm ihre Kleidungsstücke. Zusammengerollt legte ich sie ihr auf den Schoß, die Schuhe oben drauf. «Du gehst jetzt heim», sagte ich. Sie brauchte eine Weile, aber endlich war sie angezogen und verschwand, immer noch heulend. «Scheiße der König», rief ich ihr nach. Dann erzählte mir Bill, daß er mit der Frau mit den breiten Brauen Streit bekommen hatte. Sie hieß Yvonne. Er konnte sich noch entsinnen, mit Georgette in der Bar gesprochen zu haben, und er hatte sich gewundert, daß Yvette und ich weggegangen waren, während Georgette ihn fragte, ob Monsieur William sie noch von seinem guten Freund Nicholas im Palace her kenne. Er war immer noch besoffen und konnte sich danach an nichts mehr erinnern, außer daran, daß Georgette 117
plötzlich splitternackt war. Alles wurde nun verrückt. Gerade, als sie wild wurde und was von ihm wollte, schlief er ein. Kein Wunder, daß sie ihn umbringen wollte. Eine komische Jungfrau. Am nächsten Morgen hörte ich ein Klopfen an meiner Tür. Ich erwartete, daß es Mama war und einen Höllenspektakel wegen des nächtlichen Geschreis anfangen würde. Statt dessen stand das Kanadiermädchen vor der Tür. Sie hatte ein enges, kurzes Kleid an und sah so prächtig aus wie ein Power-Modell. Sie glich aufs Haar einer Corsonutte, wenn sie sich bewegte. In der Hand hielt sie eine Zigarette, die nicht brannte; sie fragte, ob ich Feuer habe. «Dein Freund wird ärgerlich werden», sagte ich. Sie zuckte die Achseln: «Er ist mit Petit Mac weggegangen.» Sie sah mich unverwandt an. «Hast du Feuer?» «Natürlich.» Ich ging zum Kleiderstuhl, und sie kam rein und schloß die Tür. Ich hielt ein. «Willste wirklich Feuer?» «Natürlich.» Ich zündete ihre Zigarette an. Ich sagte nichts. Sie saß auf meinem Bett und blickte im Zimmer rum. Dann fragte sie, was letzte Nacht passiert sei; ein Mädchen hätte so geschrien. «Hastes gehört?» «Klar, jeder hats gehört.» «Es is 'n Wunder, daß die Gendarmen nich reingekom118
en sind.» «Angst vor Gendarmen?» «Nich vor Gendarmen.» Ich setzte mich neben sie aufs Bett. Sie sah ruhig im Zimmer rum, sehr selbstsicher. «Du lebst wie Petit Mac und Alfred, ja?» «Ja.» «Ich mag William nicht. Er ist dauernd besoffen. Nicht fein. Du bist sehr fein.» «Hör zu, ich bin ziemlich fertig.» «Comment?» «Ich bin fertig. Für eine Nacht wars genug.» «Ja?» fragte sie langsam, «jetzt ist Morgen.» «Klar.» «Du kommst zum Corso?» «Zu viele Flieger.» «Ich seh dich viel mit Suzy.» Ich sagte nichts. «Suzy sehr schönes Mädchen.» Ich sagte nichts. «Sie sagen, du ihr Mann.» «Hör zu, reden wir über was andres.» «Du liebst sie, ja?» «Du liebst den Kanadier?» Sie zuckte die Achseln. «Oh, ich mag ihn. Du kennst die Corsomädchen. Jeden Tag neuen Mann.» «Das is wohl bei allen Mädchen so.» «Ja», sagte sie langsam. Ihr Mund wurde schmal. Sie lehnte sich rüber und küßte mich. 119
Ich wollte sie nicht aus dem Bett werfen. Sie war ein komisches Stück. Ich dachte dran, wie lange Bill versucht hatte, es bei ihr zu schaffen. Er hatte es über einen Monat versucht, wie ich gehört hatte. Ich scherte mich nie weiter um sie. Sie brauchte wohl keinen, den sie bemuttern konnte. Als sie gegangen war, trank ich eine Tasse Kaffee in der Küche. Mama war draußen im Garten. Eine Mauer, ganz mit Weinlaub bewachsen, umgab den Garten. Man konnte Mama durch die Scheibe der Küchentür sehen. Am selben Morgen holte ich die fünfundzwanzigtausend für den Laster bei Monty ab. Ich hatte solche Frauen nicht gern, bei denen alles so leicht ging wie das Cognactrinken. Man vergaß sie nachher sofort, und auch die Frau dachte nicht mehr an einen. Vielleicht war das vernünftig. Trotzdem konnte ich das Gefühl für Suzy nicht loswerden. Ich beschloß, am Abend zum Corso zu gehen, verdammt noch mal. Ich stellte mir selbst einen Paß aus und nahm meine 45er mit. Zwölftes Kapitel Die Linie 84 der Straßenbahn drehte ihre Schleife auf dem weiten Place Rogier. Ich sah die grünen Lampen des MPHauptquartiers wie einen Lichterkranz flammen. Die Tram hielt an der Ecke des Place Adolphe-Max. Ich wartete bis zur zweiten Haltestelle und lief dann zum Corso zurück. An den Terrassentischen saß nur ein Wachtmann bei 120
einem Mädchen. Die Tische im Lokal drinnen und auf dem Balkon waren leer. Kellner in weißen Jacken waren eifrig dabei, saubere Decken aufzulegen. Das Garderobenmädchen lehnte mit aufgestützten Ellbogen auf dem Garderobentisch. Ich gab ihr meine Mütze. «Na, is ja lang her», sagte sie. «Is Suzy hier?» «Später sie kommen.» Fast alle Mädchen sahen mich an. Sie saßen an dem großen Tisch bei der Theke. Einige kannten mich, die anderen schätzten mich mit Geschäftsblicken ein. Sie sahen hübsch aus, aber auch hart, wenn sie einen einschätzten. An der Bar kippte ich einen Cognac, und eine Brünette kam rüber. Sie preßte ihre Oberschenkel an meine Beine und strich ihr Haar mit der Hand zurück. «Allo, Stabssergeant, kaufen Yetta einen Drink?» «Ich trink nich.» «Lümmel», sagte sie und ging weg. Als ich das leere Glas absetzte, fragte der Barkeeper: «Noch einen?» «Sie denken aber auch immer an den Umsatz», sagte ich. Dann fragte ich ihn, um welche Zeit Suzy gewöhnlich auftauche. «Sie meinen Juliette», sagte er. «Suzy, une très belle blonde, eine Freundin von Queenie.» «Das is sie.» «Sie heißt jetzt Juliette?» «Oui, Juliette Brasseur.» «Woher wissen Sie das?» 121
«Die belgische Polizei, Monsieur. Sie fragen oft nach Ausweispapieren. Dann nehmen sie einen kleinen Drink, verstehen?» Die Brünette war immer noch verärgert und erzählte das einer gelangweilt stierenden Nutte, die mit dem Salzstreuer spielte. Die Mädchen hatten alle enge, kurze Kleider an. Ich zahlte dem Barkeeper. «Komm später wieder», sagte ich und holte meine Mütze. «So früh Sie wieder gehen, Sergeant?» fragte das Garderobenmädchen. «Is noch zu früh.» «Nachher werden Sie sein zu spät dran. Suzy hat viele Freunde.» «Ich weiß», sagte ich. Der Boulevard war voller Soldaten. Ich sah MP-Streifen, aber ich scherte mich wenig um sie. Man konnte sie einen ganzen Häuserblock weit sehen; ihre weißen Helme leuchteten in der Menge. Später hing ich in einem Café rum. Ich war gut gelaunt und dachte an Suzy. Die konnte einen wirklich gut gelaunt machen. Sie war den anderen haushoch überlegen, auch wenn sie jetzt Juliette hieß. Es war wohl besser, ich ging nach Schaerbeek zurück, wo ich hingehörte. Ich würde es bei ihr wohl nie schaffen. Man solls bloß probieren, wenn man sichs zutraut. Das Corso war jetzt vollbesetzt. Ich sah sie an einem Tisch an der Tanzfläche mit einem Major vom Bodenpersonal sitzen. Man mußte Suzy mal sehen, und schon wurde 122
einem leicht und wohl. Sie war ein verdammt hübsches Mädchen. Das rotblonde Haar hatte sie lose aufgesteckt à la Kaiserin Josephine. Die Augen waren hellblau, die Nase klein, der Mund voll wie bei einem Kind, das immer leise lächelt – und dann der lange Nacken! Man konnte ihre Figur am Tisch nicht sehen; erst wenn sie stand oder ging, sah man alle Rundungen. Wenn sie ging, wiegte sie so hin und her, daß es einen einfach um den Verstand brachte. Sie hatte aber noch mehr als ein zuckriges Gesicht und eine gute Figur. Sie konnte einen so munter machen, daß man sich wie ein Rüde fühlte, während sie läufig war. Es war immer viel mehr los, als man zu hoffen wagte. Keiner von denen, die hinter ihr herliefen, merkte aber, daß sie eine großartige Frau war, die sich über manches Gedanken machte. Sie befand sich im Lichtschein der Tanzfläche, und ich stand im Dunkel der Bar. Ich schaute über die Gruppe der Offiziere, und als ich sie bei dem Major mittleren Alters sitzen sah, verließ mich allmählich alle Hochstimmung. Dann erblickte ich zwei Schneeköppe. Einer stieß den anderen an, und beide kamen zur Bar rüber. «He, Sarge», sagte der eine, «kann ich Ihren Ausweis sehn?» «Gern», sagte ich. Der andere stand an der Treppe und hielt seinen Gummiknüppel wie ein Mixgerät. Ich fischte den gefälschten Paß aus meiner Jacke und überreichte ihn dem Kerl. Ein besoffener Fliegerleutnant wandte sich um. «Was gibts», fragte er. 123
«Nichts, Sir», sagte der Schneekopp. Er gab mir den Paß zurück. «Was is mit dem Soldaten hier los?» «Nichts, Sir.» «Warum belästigen Sie ihn?» «Sieht so aus, als ob Sie hier keine Freunde haben», sagte ich zu dem Schneekopp. «Es is fürchterlich», sagte er grinsend. Als der Schneekopp gegangen war, rief ich einen Jungen mit einer Pagenmütze. «Du kennst la très belle blonde, Suzy?» Der Flieger berührte meinen Arm. «He, Kumpel, kennste Suzy?» «Klar.» «Wie ich Suzy kenn?» «Was zum Teufel soll das heißen? Isses 'n Schlager?» «Monsieur Sergeant», sagte der Page. «Suzy ist occupée mit einem Major.» «Weiß ich.» «Schick ihr 'n Briefchen, Kumpel», sagte der Flieger, «ich tu das immer.» Ich bat den Pagen, einen Zettel zu überbringen, aber er schüttelte en Kopf. Ich gab ihm einen Hundertfrancschein von meinem Wechselgeld, und er gab mir eine Unterlage und einen Bleistift. Ich kritzelte drauf, daß ich an der Bar warte. Ich faltete das Papierchen und reichte es dem Knaben. Er grüßte, den Zeigefinger an seiner Mütze. «Ich wett, du wirst abblitzen», sagte der Flieger. Er saß auf einem Barhocker und hatte die Ellbogen auf 124
der Bar. Er drehte sich weg, als er Suzy aus der Menge der Offiziere kommen sah. Suzy war aufgeregt. Ihre Augen glänzten, als sie meinen Arm nahm, dann küßte sie mich. «Du kommen zurück, Chéri?» «Klar.» Ich bemerkte eine Veränderung in ihren Augen, als sie den Flieger sah. «Allez, wir gehn, Chéri.» «Wirds beste sein.» Als ich mein Wechselgeld einsteckte, kam der Major und ergriff ihren Arm. Er war stinkwütend. «Hör mal, heißt das bei dir Nasepudern?» «Das ist mein Verlobter, Major.» «Geh zurück an den Tisch.» «Non.» «Los jetzt!» «He, Major, nicht so stürmisch», sagte ich. Da fing plötzlich der Flieger an zu spektakeln. «Mit wem, zum Teufel, sprechen Sie?» sagte er zu dem Major. Der Major ignorierte uns, seine Augen wurden schmal, und sein Gesicht rötete sich. Er hielt ihren Arm fest. «Sie geht mit mir, Major», sagte ich. «Sie sollen zum Teufel gehn!» «Das is doch ein lausiger Hurensohn!» sagte der Flieger. «Ich geh mit meinem Verlobten», sagte Suzy. «Geh zum Teufel!» «Ich mag ihn lieber als dich.» «Du Hurensohn», sagte der Flieger, «laß sie in Ruh!» «Halts Maul, Leutnant», sagte der Major, «oder ich werd 125
euch beide vors Kriegsgericht bringen wegen Befehlsverweigerung.» «Meinste?» Der Flieger stand auf. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, wie groß er war, weil er bisher zusammengesunken an der Theke gehockt hatte. Der Major wurde blaß. Er ließ Suzys Arm los und verschwand. Der Leutnant lachte nur und tätschelte Suzys Kopf. «Danke, Leutnant.» «Kein Süßholz, Kumpel. Du verschwindest am besten mit ihr, eh unsre Freunde mitn weißen Helmen zurückkommen.» «Hast recht.» «Allons», sagte Suzy. Draußen war es dunkel, und ein anhaltender Nieselregen rann vom Himmel. Wir standen unter der niederen Markise über der Terrasse. Sie hielt meinen Arm umfaßt. «Der Flieger hat mir ne Menge Ärger erspart», sagte ich, «is er in dich verschossen?» Sie zuckte die Achseln. «Er ist sehr nett, le lieutenant.» «Er is in dich verschossen.» «Ich weiß», sagte sie. Wir beschlossen, ins Parisiana zu gehen, aber anstatt ein Taxi zu nehmen, wollte Suzy laufen. Wir gingen im Regen über den Place Adolphe-Max. 126
Der Portier des Parisiana stand draußen mit einem großen schwarzen Regenschirm. Wir gingen die Treppe runter, vorbei an einem riesigen Foto aus Life, auf dem das Lokal abgebildet war. Auf dem Foto war das Parisiana ganz rauchig und schummerig und voll von Nutten und Offizieren. Die Wirklichkeit kam dem Foto ziemlich nahe. Der Geschäftsführer, in einem schwarzen Smoking, geleitete uns zu einer Nische in der Wand. Es war ziemlich dunkel in der Nische. Suzy faßte unter dem Tisch nach mir. «Der kleine Bruder schläft, Chéri», sagte sie. «Ich vermiß dich.» «Ihn oder mich?» «Beide.» «Du hast doch genug von der Sorte!» «Sie haben dich in prison gesteckt?» «Wohin denn sonst? Komm, laß ihn schlafen!» «Später wir werden tun viel. Später du wirst mir viel erzählen. Sag mir, wie sehr du Suzy vermißt hast. So wie ich dich vermißt hab. Ich bleib vom Corso weg, wenn du willst.» «Du wirst nie von dort wegbleiben. Wie gehts dem General?» «Das du nicht gern hast.» «Haste ihn gesehn?» «Oh, ich gesehen. Aber le général nur spricht. Er ist zu alt für Liebe.» «Die andern sinds nich.» «Chéri, das machen dich unglücklich?» «Hat er schon drei Sterne?» 127
«Non, wir wollen sprechen nicht über le général.» «Haste recht. Er redet selber genug, lauter dreckiges Zeug.» Ich kippte einen Cognac. Ich rief wieder nach dem Ober, aber er hörte nicht. «He, Ober», sagte ich laut, «kommen Sie her.» Der Ober verbeugte sich: «Monsieur?» «Gieß beiden nach.» «Ich habe noch nicht ausgetrunken», sagte sie. Ich sah stur vor mich hin. Ich hielt eine Zigarette in der Hand, sie nahm ein Streichholz und gab mir Feuer. «Du böse mit Suzy?» «Nee.» Ich war blöd, wegen so was wild zu werden. Man konnte ja doch nichts ändern. Die Kälte wich aus mir. Ich legte meinen Arm um sie, und sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Queenie kam mit einem Sergeant vom Technischen Dienst an unseren Tisch. Er hieß Harry und war ein überheblicher Esel. Die Kapelle seiner Einheit hatte im Parisiana gespielt. Jetzt spielte eine belgische Kapelle. Ich wunderte mich, wie eine GI-Band die Erlaubnis bekommen hatte, in einem Brüsseler Nachtlokal zu spielen. «Ich dachte, ihr sollt die Soldaten unterhalten», sagte ich zu Harry. «Pfeif doch auf die Soldaten», sagte Harry. Queenie sagte, daß Harry das hübsche Chanson und den hübschen Jitterbug, den heißen Jazzjitterbug, gespielt 128
habe. Harry sagte, er müsse noch den Manager sprechen. «Oh, mein Rücken tut mir weh, wenn er Jitterbug spielt», sagte Queenie, als Harry fort war. «Scheißkerl», sagte Suzy, «ich mag ihn nicht.» Queenie, ein dunkles Mädchen mit langen Haaren, die lose an der einen Seite ihres hübschen Gesichts runterhingen, erzählte uns, daß sie mit einem amerikanischen Leutnant in Brügge gewesen und erst diesen Abend zurückgekommen war und daß der Leutnant bald nach Amerika zurückgehen würde und es sich herausgestellt habe, daß er schon verheiratet sei. Er war großzügig und nett, wenn er auch recht ausgiebig in Liebe machte. Wie komisch er bloß Englisch sprach! Sie wollte wissen, wo Kentucky liege. «Magst du Harry?» fragte mich Queenie. «Klar.» «Er ist fein, non?» «Scheißkerl», sagte Suzy. Der Kellner fragte Queenie nach ihren Wünschen. «Champagner», sagte sie schnell. Ich war überzeugt, daß Suzy sie unterm Tisch gegen das Schienbein trat. Jedenfalls bestellte sie dann doch Cognac und schaute ganz verwirrt auf Suzy, als Harry wiederkam. «Sag, Mac», sagte er, «was hältste davon, wenn wir die dummen Hühner mit auf Henriettas Bude nehmen?» «Wir wollen sie erst fragen.» «Wir gehn zu Henrietta, Harry?» fragte Queenie. «Mann, wir werden ein schlechtes Doppel blasen!» «Du meinst wohl bloß dein Horn», sagte ich. 129
«Du bist schon im Bild, Mann. Mach nur, was diese geilen Katzen machen.» «Queenie mag das.» «Hör zu, ich muß noch ein Stück spielen. Dann wollen wir mit den Mädchen schlafen.» «Natürlich, Harry», sagte Queenie. Harrys Band spielte viel besser als die belgische, wenn ich das auch ungern zugab. Nach dem Stück schien Harry zu warten, bis ich die Rechnung bezahlt hatte, dann erst kam er zurück. Er gab mächtig an und behandelte Queenie gleichgültig. Sein Haar war lang wie eine Schauspielermähne. Ich wunderte mich, wie er damit bloß durchkam. Er blickte immerfort auf seine manikürten Fingernägel und trug einen auffallenden Ring, eine Schlange, die sich um den Finger wand. Ich hatte ziemlich genug von ihm und sagte, wir sollten abhauen. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Portier rief ein kleines Taxi. Queenie saß auf Harrys Schoß, Suzy auf meinem. Der Fahrer auf dem Vordersitz sah fragend nach hinten. «Einundfünfzig, Rue le Président», erklärte Suzy. Das Taxi fuhr den Boulevard du Jardin Botanique lang. Ich blickte in den Garten hinter der niedrigen Mauer, der naß und dunkel dalag. Boulevardlichter leuchteten ins Taxi rein. Von der Avenue de la Toison d'Or bog das Taxi in die Avenue Louise. Der Chauffeur hatte natürlich den weiteren Weg genommen. Wir hielten in der Rue le Président, am Ende der Avenue Louise. Harry suchte in seiner Jacke, während die Mädchen ausstiegen, und sagte: «Ich finde nix.» Ich sagte, 130
das mache gar nichts, und zahlte den Fahrer. Queenie läutete. Eine kleine Frau mit Brille und Schürze öffnete die Tür. Sie stierte auf ihre Füße, als wir ins Foyer traten, wo eine große, dunkelhaarige und gutaussehende Frau uns begrüßte: «Guten Abend, die Herrschaften!» Ein betrunkener Captain und eine Nutte gingen die Treppe rauf. Der kleine Aufenthaltsraum hatte eine Bar. Ich sah den Belgier an, der auf der Couch saß. Sein Kopfhaar war ganz abgeschoren worden. Er hatte nicht viel an sich, bloß lauter Knochen. Seine Backenknochen standen raus, seine Augen waren riesig, rund und wäßrig; schmutzig wirkende Stoppeln standen von seinem Schädel ab. Er sah aus wie eine ulkige Eule ohne Federn. «Is das dein Alter?» fragte Harry die Frau. «Ja, mein Mann Jean. Er ist erst vor kurzem aus Deutschland zurückgekommen, wo ihr Amerikaner ihn befreit habt.» «Ich bin euch sehr dankbar», sagte der Mann lächelnd. Er hatte ziemlich schlechte Zähne, viele fehlten. «Mann, du hasts hinter dir», sagte Harry. «Die Boches sind dreckige Schweine», sagte die Frau. «Bitte, Sir», sagte der Mann zu Harry, «möchten Sie was Besonderes?» «Ich mach immer mit.» «Und Sie, Monsieur?» fragte er mich. «Klar.» «Eine prima Flasche Cognac vielleicht? Ganz prima!» «Non», sagte Suzy. Der Mann, der Jean hieß, schaute sie an. 131
«Möchten Sie vielleicht eine Flasche mit auf Ihr Zimmer nehmen?» fragte er und wandte sich diesmal direkt an mich. «Non», sagte Suzy. Der Mann lächelte jetzt nicht mehr, seine Augen sahen wäßrig aus. «Was is mitm Zimmer», fragte Harry. «Wir brauchen auch eins», sagte Suzy. «Haben Sie es denn so eilig?» fragte der Mann. «Ja», sagte Suzy, «wir habens eilig.» «Es ist doch noch genug Zeit!» «Für Sie ne Menge, aber nicht für meinen Fallschirmjäger.» Ich bezahlte bei der Frau, bei Henrietta. Harry, der noch immer seine Kleider durchsuchte, ließ ich zurück. Wir gingen die Treppe rauf, und als Henrietta uns das Zimmer gezeigt hatte, schlug Suzy die Tür zu. «Lausige Leute. Henrietta war früher eine Corsonutte wie ich. Jetzt sie spielt die Gräfin. Scheiße! Komm, wir ficken!» «Jesses», sagte ich und fing an zu lachen. «Was ist ficken? Jeder Soldat, jeder Offizier, sogar le général sagt es.» «Die meinen schon das Richtige.» «Ficken, das bedeutet Liebe machen, non? Faire l'amour, non?» «Das is was andres.» «Ich wasch meine kleine Schwester. Eure Sprache ist dreckig.» Im Badezimmer ließ sie Wasser ins Bidet. Ich zog die 132
Jacke aus und hing sie über die Stuhllehne. Dann prüfte ich die 45er und legte sie auf den Kaminsims. Mir war schwach. Der Abfluß gurgelte, und dann kam sie. Jesses, nackt sah sie aus wie Venus höchstpersönlich; ihr gelbrotes Haar hing runter bis auf die geschwungenen Hüften. Ich blickte auf die langen weißen Beine, auf die Brüste, die aufrecht standen, mit großen Brustwarzen. Jesses, sie konnte einen toten Mann aufwecken! «Allons», sagte sie; ihre Stimme klang verändert. Sie küßte mich, und ich zog sie aufs Bett. Am nächsten Morgen nahmen wir eine Tram nach Molenbeek und spazierten dann am Zivilgefängnis vorbei, wo Kollaborateure festgehalten wurden. Ein belgischer Soldat in einer schlechtsitzenden englischen Uniform stand Wache am großen Tor, eine Enfield hing über seine Schulter. Wir überquerten die bucklige kleine Brücke über dem Kanal. In der Rue des Osiers wartete ich im Café an der Ecke, während sie auf ihre Bude ging, um sich umzuziehen. Ich trank einen Kaffee von vorgestern mit öligen Flecken drauf. Als sie ins Café zurückkam, wurde ich bei ihrem bloßen Anblick wieder erregt. «Wohin gehn wir, Chéri?» fragte Suzy. «Gehn wir dahin, wo du wohnst?» «Vielleicht isses besser, wenn wir da wegbleiben.» «Du Angst wegen Suzy? Wir gehn, ja?» «Na gut», sagte ich. Am Boulevard warteten wir, bis die Tram angezockelt 133
kam. Der Schaffner hielt uns die Münztasche hin, aber ich mußte nur für Suzy bezahlen. «Soldaten zahlen nichts», sagte der Schaffner. Am Place Rogier stiegen einige Arbeiter ein; die Tram schlingerte, als sie um die Ecke in die Rue Brabant einbog. Mama mochte Suzy vom ersten Augenblick an und sagte mir später, daß sie eine außerordentliche Frau sei und ich großes Glück gehabt habe, eine so scharmante und rassige Beauté zu finden. Bill sagte nicht viel. Aber ich wußte, was er dachte, bei der Art, wie er sie anblickte. Während Mama und sie sich näherkamen, flüsterte Bill: «Baby, wie haste so was geangelt?» «Mein griechischer Scharm.» «Dein griechischer Dingsbums, meinste wohl! Jesses, is die schön! Wie schläft sie?» «Gut.» «Ich mein, wie stehts mit dem –?» «Hör auf damit!» «Na, na, das tun doch alle.» Suzy hielt ihre Brieftasche auf und zeigte Mama ein Foto von ihrem Jungen. Sie hatte den Jungen von einem Engländer, aber der Engländer war auf dem Rückzug bei Dünkirchen gefallen. Ich hatte den Jungen nie gesehen. Eines war uns gemeinsam: Sie hatte ungefähr vier Wochen im Amigo verbracht, nachdem die Gestapo sie mit einem Belgier verhaftet hatte, der ihr Liebhaber war. Er wurde gefaßt, als er Schreibmaschinen aus einem deutschen Verwaltungsgebäude klaute. Ich stell mir vor, die Deutschen nannten den Kasten nicht Amigo, sondern 134
Kamerad. Ich nahm ihr die Geschichte von dem belgischen Liebhaber nie so ganz ab. Er saß immer noch in einem belgischen Gefängnis, was nicht sehr wahrscheinlich war, wenn man ihn wegen eines Diebstahls bei den Deutschen verurteilt hatte. Ich glaubte, daß er überhaupt kein Belgier, sondern ein Deutscher war und sich wahrscheinlich in einem Kriegsgefangenenlager befand. Ich schätzte auch, daß der Tommy und der Belgier ein und derselbe waren. Es könnte sogar ein deutscher Deserteur gewesen sein. Nachdem ich wieder was mit ihr angefangen hatte, mied Suzy das Corso. Sie hatte die ganze US-Armee aufgegeben. Ich sah sie untertags meistens und nachts immer. Dann, eines Abends bei Monty, sagte sie mir, daß sie mit Queenie für einige Tage nach Blankenberge gehe, und ob ich zu Suzy käme. Suzy wohne im Hotel Corso. «Das is leicht zu behalten», sagte ich. «Du kommst, Chéri, klar?» «Klar, komm ich.» Sie fuhr Samstag weg. Am Sonntag fuhren Bill und ich nach Blankenberge. Wir stellten uns selber einige falsche Befehle auf einem geliehenen Vervielfältigungsapparat aus; Bill beförderte sich zum technischen Sergeanten und ernannte sich zu meinem Fahrer, während ich ein Fallschirmmajor in phantastischen Hosen wurde, der früher zum 101ten gehört hatte, aber jetzt zum Bodenpersonal versetzt worden war. Sogar einen eleganten Spazierstock besaß ich. 135
Dreizehntes Kapitel Wir kamen am Nachmittag in Blankenberge an. Die Sonne brannte heiß auf den weißen Platz; der Platz war gerammelt voll von englischen Lastern, die reihenweise parkten. Wir fuhren in eine enge Straße, wo es keinen Schatten gab. Alles war überfüllt und voll Lärm von den vielen Geschäften und den Terrassencafés mit den weißen Korbstühlen um die Tische. Belgier bummelten auf den Bürgersteigen dahin; die Frauen trugen Strohhüte, Shorts und Sandalen; die Männer stelzten in Cordhosen und offenen Hemden herum und präsentierten ihren geröteten Hals; die Kinder spielten mit Luftballons. Der Himmel über uns war kühl und klar und leuchtend. Man konnte das Meer spüren, obwohl man es noch nicht sah wegen der hohen Steintreppen, die zur Promenade führten. Wir suchten das Corso. Ein freundlicher Gendarm grüßte und fragte, ob er uns helfen könne. «Hotel Corso», sagte ich. «Das ist nicht schwierig, meine Herren. Sie gehen gradeaus, ja, dorthin! Sehen Sie es? An der nächsten Ecke, das ist es, da links. Ein sehr schönes Hotel, meine Herren!» «Danke», sagte ich. «Ich hoffe, Sie verbringen eine angenehme Zeit in Blankenberge.» «Klar.» Er salutierte wieder, und ich fand es reichlich komisch, von einem Polizisten gegrüßt zu werden. Das Corso war nicht vornehm, nur ein mickriges Hotel 136
mit einem Café untendrin. Die meisten Hotels an der Küste waren so, sogar die, die sich Ritz titulierten. Drinnen sahen wir einen Belgier in einem hohen Korbstuhl sitzen; er hatte die Schuhe ausgezogen und trank Bier. «Was für eine Sorte Engländer seid ihr?» fragte er uns französisch, worauf Bill englisch antwortete: «Wir sind keine Engländer, wir sind Chinesen.» «Bitte?» «Sind Sie der Besitzer?» fragte ich. «Parlez français, s'il vous plaît.» «Parlez chinois.» «Hör auf, Bill», sagte ich, und dann zu dem Belgier: «Sind Sie le patron von la maison!» «Kein Zimmer, Soldatt.» Er trank einen Schluck Bier aus dem hohen Glas und schaute auf meine Hose. «Mademoiselle Brasseur», sagte ich, «sie ist hier gemeldet.» «Bitte?» «Mademoiselle Brasseur hier?» «Non.» «Juliette Brasseur, eine wunderschöne Blondine, sehr schick», machte ich ihm klar, aber ich sah keine Wirkung und wiederholte es also französisch und beschrieb sie, während er grinste und auf französisch sagte: «An so ein Mädchen würde ich mich erinnern, Monsieur.» «Sie haben sie also nicht gesehen?» «Non, leider.» «Wissen Sie's genau?» 137
«Natürlich! Vielleicht ist die Hübsche im Buckingham.» «Nee», sagte ich. «Meine Frau hat sie vielleicht gesehn.» «Würden Sie sie bitte fragen?» «Will mal nachsehn.» Der Korbstuhl quietschte, als er aufstand. Er schlurfte mit den nackten Füßen wie mit Pantoffeln in die nach rückwärts gelegenen Räume. Wir warteten. «Non», sagte er, als er wiederkam. «Haben Sie ihr sie beschrieben?» «Ich würde Ärger mit meiner Frau kriegen, wenn ich das täte. Sie ist arg jalouse.» Er trank sein Bier aus und stellte das Glas auf den Tisch. Die ganze Zeit über starrte er auf die rosa Litzen meiner Offiziershose. «Sie haben elegante Hose. Anglais?» fragte er. «Parachutiste américain», sagte ich. «Er is Major in der chinesischen Armee», machte ihm Bill englisch weis. «Sprechen Sie langsam», sagte der Wirt. «Halts Maul, Bill.» «Er is Major von vierzehn Regimentern bei den chinesischen Fallschirmjägern.» «Was sagt er?» fragte der Wirt. «Er redet Quatsch. Sie könnten mir nen großen Gefallen tun, Monsieur.» «Natürlich.» «Wenn sie kommt, dann richten Sie ihr aus, ich sei heut abend um zehn hier.» 138
«Wir sind extra aufgekreuzt, um allen belgischen Gören den Bauch zu quetschen», sagte Bill. «Ah, ja», sagte der Wirt, der nicht kapierte, was Bill quasselte, «Belgien dankt Ihnen!» «Mensch, schieb ab, Bill», sagte ich, dann zum Wirt: «Sie vergessen's doch nicht?» «Ah, non, Monsieur!» Draußen setzte ich die dunkle Fliegerbrille auf. Ich kam mir ganz schön dämlich vor. «So, Suzy heißt Juliette.» «Hör auf!» «Ich versuch bloß, dich aufzumuntern. Wirst sie schon treffen, bloß keine Angst! Weiß sie, daß du getürmt bist?» «Ich kenn sie länger als du.» «Ob sie's weiß?» «Klar weiß sie's.» «Sie sieht phantastisch aus! Ich wollt, ich hätt mein Angelhaken in so nem Mädchen drin. Biste in sie verschossen?» «Das is ja das Blöde!» Wir kamen auf die Promenade. Zuerst hörte ich das Meer rauschen, dann sah ich es. Ich hatte es seit der Invasion nicht mehr gesehen. Eine Menschenmasse schob sich den breiten Weg lang. Wir stiefelten an einem hübschen Strandcafé mit einer schönen Terrasse vorbei. An den Tischen standen Sonnenschirme. Drinnen waren runde Tischchen aufgestellt, und lange Kristallkandelaber hingen ganz niedrig darüber. Dicke Teppiche lagen auf dem Boden. Das Café war leer, nur eine Nutte saß drin. 139
Der Kellner bugsierte uns an einen Tisch, der neben dem ihren stand. Sie hatte ihr Schminkzeug vor sich und malte die Lippen an. Sie blickte über ihre Puderdose hinweg und schäkerte mit den Augen. Bill sagte: «Hallo, Baby», und schon saß sie bei uns. Ich fragte den Kellner: «Haben Sie Zimmer?» «Ja, Monsieur, sehr schöne Zimmer. Sie werden verschiedene Zimmer haben wollen?» Er sah Bill an. «Bestell ein Zimmer», sagte ich zu Bill und stand auf. «Wohin gehen Sie?» «Raus.» «Wann seh ich Sie wieder, Major?» «Weiß nich. Könnt so um zehn sein. Wenn nich, treff ich dich morgen.» Die Nutte hatte ihre Hand auf die Lehne meines Stuhles gelegt, aber jetzt glitt sie zu Bill rüber. Solche Sachen ändern sich schnell in einem Café. Ich ging die Promenade lang; ich kam mir leer und ausgehöhlt vor. Ich schien der einzige Amerikaner zu sein. Man sah viele Engländer und ein paar Kanadier. Ich blickte über das Meer hin. Die Sonne schwebte tief über dem Wasser, so daß es flimmerte – wie ein heller Spiegel im Licht. Ein paar Stunden später war die Sonne im Meer versunken. Der Himmel strahlte purpurrot. Das Wasser lag nun viel glatter da, und ohne das Funkeln fiel es viel leichter, hinauszublicken. Ich setzte mich auf eine Bank. Die Lichter auf der Promenade gingen an. 140
Endlich sah ich sie, wie sie mit einem großen Belgier daherkam, der ganz nach Schieber aussah. Er trug eine Kamerakassette an einem langen Riemen über der Schulter. «He, Suzy», rief ich. Sie hielt an und winkte. Sie waren nahe am Geländer. Der Belgier war wirklich ein riesiger Kerl. Sie sagte irgendwas zu ihm, und er drehte sich um und blickte auf das Meer raus. Als sie auf mich zukam, stand ich nicht auf. «Major?» sagte sie. «Is doch egal.» «Du böse mit Suzy?» «Setz dich.» «Non, Chéri, ich können nicht.» «Er kann warten, setz dich.» Sie trug Shorts und eine Bluse und war rot von der Sonne. Ihr Gesicht sah straff und glänzend aus, und ihr Lippenrot war verblaßt. Der Belgier hatte sich nicht umgedreht. «In einer Stunde Suzy kommen», sagte sie. «Setz dich erst mal.» «Non, in einer Stunde.» «Das is lang.» «Du kennen Hotel Buckingham?» «Fang das nich wieder an.» «Du sehen Passage, du gehen sechzig Meter so», sagte sie und zeigte die Promenade runter. «Am Hotel Corso vorbei.» «Sag ihm, er soll abdampfen, und setz dich her.» 141
«Später kommen ich.» «Klar.» «Nicht böse sein, Chéri!» «Geh, mir isses egal, ob du kommst oder nich.» «Du gehen Hotel Buckingham, à gauche zu Buckingham, compris?» Sie kramte in ihrer Tasche und gab mir einen Schlüssel. «Tiens», sagte sie, «ich geben Schlüssel. Eine Stunde, und ich kommen.» Ich sah den tiefen Einschnitt zwischen ihren Brüsten, als sie sich rüberbeugte und mich küßte. Dann ging sie. Sie hängte sich bei dem großen Belgier ein und winkte mir zurück. Der Belgier sah gradeaus. Ich nehme an, er konnte es verschmerzen. Es war alles so nett. Ich konnte es auch prima ertragen. Das Buckingham war nur ein paar Häuser vom Corso entfernt. Ich zeigte dem Portier den Schlüssel. Er schüttelte den Kopf. «Das ist nicht unser Schlüssel, Monsieur.» «Man hat mir aber gesagt, er sei vom Buckingham.» «Haben Sie es im Corso versucht?» «Hab ich», sagte ich. Eine Stunde später, als ich grade zur Promenade zurückging, kam Suzy die Treppe runter. «Nick, Chéri», rief sie und winkte. «Hier is dein Schlüssel», sagte ich. «Wo gehst du hin?» «Buckingham. » «Mon Dieu, non! A gauche. Ich sagen, à gauche! Ich 142
zeigen dir gleich.» Es war eine kleine Budike wie alle anderen in der Straße, und ich war direkt dran vorbeigegangen. Es brannte kein Licht, und ich hätte niemals hingefunden. Drinnen in der Halle war eine schummrige Beleuchtung. Eine Frau stand an der dunklen Treppe. «Ah, Madame», sagte Suzy. «Non», sagte die Frau. «Das ist mein Verlobter.» «Non.» Sie stand mit verschränkten Armen da. «In mein Haus kommen Sie nicht mit einem Soldaten.» «Er ist Offizier.» «Ich kann das nicht brauchen. Gehen Sie, bitte.» «Wir wollen bald heiraten.» «Non. Ich kann das nicht erlauben. Ich nehme den Schlüssel an mich.» «Non, Madame. Erst wenn ich meine Sachen geholt hab.» «Sie können sie jetzt mitnehmen.» «Non, ich werde sie am Morgen holen. Bonne nuit, Madame.» Draußen nahm ich ihren Arm. Sie sagte nichts und fühlte sich wohl recht lausig wegen der Sache. Wir gingen zum nächsten Haus, dem Buckingham. Der Portier lächelte mich an. «Haben Sie es gefunden?» «Es war 'n Irrtum», sagte ich. «Haben Sie ein Zimmer für die Nacht?» «Ein kleines.» «Das is fein.» 143
Er zeigte uns das Zimmer. Es war winzig und hatte nur ein einziges Bett. Er entschuldigte sich wegen des Zimmers und ging. Suzy begann sich auszuziehen. Sie starrte auf ihre Füße. «Was is los», fragte ich. «Dieses Weib!» «Warum willste dich deswegen aufregen?» «Sie ist alt und blöd.» «Geh ins Bett», sagte ich. «Was für ein Bett!» «C'est la guerre.» Am nächsten Morgen sahen wir am Ende der Promenade einen Fotografen mit einer alten Box an einem langen Riemen. Suzy wollte ein Bild haben. Der Fotograf ließ uns die Stufen halb raufgehen und so tun, als ob wir runtergingen. Er steckte seinen Kopf unter das schwarze Tuch. Es war eine Fotoplatte, und das Bild kam schön klar raus. Ich bezahlte den Fotografen, und als wir gerade die Stufen raufgingen, sahen wir Queenie mit einem Infanteriecaptain daherkommen. Der Captain sah ein bißchen vergammelt aus und war über meinen Anblick offenbar nicht begeistert. «He, Captain», sagte ich. «Hallo, Major.» «Sie sehn nich gut aus.» «Ich fühl mich ziemlich schlecht, Major. Wir haben uns die Sehenswürdigkeiten angeschaut.» «Wir sind grade auf dem Weg zur Promenade», sagte ich. «Wollen Sie mit uns kommen?» 144
«Wenns Ihnen nix ausmacht, bleib ich lieber im Schatten. Ich bleib lieber vom Meer weg.» «Was halten Sie von nem Frühstück?» «Um die Zeit ist noch nix offen.» «Wir werden schon was finden», sagte ich. Wir fanden ein Café, wo die Korbstühle gerade rausgetragen wurden. Es war kühl im Schatten. «Kann ich nen Pernod haben?» fragte Queenie den Captain. «Was zum Teufel willste jetzt?» «Pernod!» «Es ist ein bißchen früh für nen Pernod», sagte ich. «Ich will zuerst nen Pernod!» Der Kellner hatte eine lange, saubere Schürze an. Seine Augen waren noch schwer vom Schlaf, sein Haar frisch gekämmt und feucht. «Was möchten Sie, Captain?» fragte ich. «Ich weiß nich.» «Kaffee und ein paar Brötchen», sagte ich zu dem Kellner. «Haben Sie Brötchen?» «Ich werde nachsehen, Monsieur.» «Ich möcht auch Brötchen», sagte Queenie. «Du ißt auch alles», sagte der Captain. Der Kellner brachte dreimal Filterkaffee und einen Pernod. Ich sah ihm zu, wie er die grüne Flüssigkeit über den Zuckerwürfel auf dem kurzstieligen, durchlöcherten Löffel goß, der quer über dem Glas lag. Wir kriegten einen Korb voll Brötchen und Butter dazu. «Prosit», sagte Queenie und kippte den Pernod. 145
«Geh zum Teufel», sagte der Captain. «Ich mag Pernod», sagte Queenie, «is das schlimm?» «Geh zum Teufel!» Ich sah den Captain an. «Es ist bestimmt das erstemal, daß Sie das Wasser wieder sehn seit der Invasion.» «Ich mags nich sehn.» «Kann ich mir vorstellen.» «Wir kriegten eins aufs Dach, Major. Ich verlor ne Menge Soldaten.» «Nix Krieg», sagte Queenie, «ein dreckiges Geschäft, der Krieg.» «Wir wolln ihn vergessen und uns über alles freuen, was wir jetzt haben», sagte ich. «Es is bestimmt ein dreckiges Geschäft», sagte der Captain und blickte Queenie an. «Was zum Teufel wissen denn die davon?» «Na, die hattens schlimmer als das Oberkommando», meinte ich. «Diese Lumpen hätten dort sein sollen!» «Nix Krieg, bitte», sagte Queenie. «Ich kann das Wasser jetzt nich mehr ausstehen», sagte der Captain. «Ich seh noch immer das Zeugs rumschwimmen und die Leichen dazwischen.» «Ich weiß.» «Hörn wir auf damit. Verdammt blöde Masche, Kaffee zu trinken.» Die Metallzylinder des Filterkaffees waren unmittelbar über der Tasse mit Wassertropfen beschlagen – wie mit Schweißperlen. 146
«Sie müssen warten, bis das Wasser durch den Zylinder gelaufen is», sagte ich. «Es ist trotzdem blöd. Ich bin 'n Deserteur, Major. Is das nich was?» «Sind Sie wirklich Captain?» «Ja. Ich weiß nich, was die jetzt mit mir anstellen werden.» «Die werden nich viel tun», sagte ich, «Sie sind Offizier.» «Ich glaub, ich stell mich selber.» «Sie kriegen vielleicht den Silver Star.» «Ich wollt, Sie würden die MP rufen, Major.» «Tun Sies doch selber, Captain.» Wir saßen still da, nur Queenie und Suzy unterhielten sich. Nach einer Weile stand der Captain auf, und Queenie ging mit ihm weg. «Kannste das fassen», sagte ich zu Suzy, «das is ein verflixter Deserteur.» Sie zuckte mit den Achseln. «Aber er is Offizier», sagte ich. «Weißte, was die mit einem gewöhnlichen Soldaten machen, wenn sie ihn fangen? Weißte, was die mit mir machen werden?» Sonnenlicht fiel jetzt von einer Seite rein; es erfüllte die enge Straße und glänzte auf den hohen Steinstufen der Promenade, und als der Schatten verschwand, wurde es wärmer. Die Hitze stieg vom Pflaster auf, und eine frische Brise wehte vom Meer her.
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Vierzehntes Kapitel Später, am Vormittag, ließ ich Suzy im Buckingham zurück und ging ins Promenadencafé mit den Kandelabern. Ein Blick auf den Ober und das Mädchen genügte, um mir klarzumachen, daß was passiert war. «Monsieur Major», sagte der Ober. «Ihr Freund, sie haben ihn verhaftet.» «So ein komischer Typ», sagte das Mädchen. «Wer hat ihn verhaftet?» «Ich hab noch nie so 'n Kerl gesehen», sagte das Mädchen. «La police belge haben Ihren Freund verhaftet», berichtete der Kellner. «Er hat gekämpft mit Anglais. Sie nehmen ihn mit zur Gendarmeriestation. » «Können Sie mich hinbringen?» Er riß die Augen auf. «Sie wollen dorthin gehen, Monsieur?» «Natürlich. Können Sie mir den Weg zeigen?» «Ich werd Sie hinbringen», sagte er. Die Gendarmeriestation war nicht weit entfernt, aber als wir an die Tür kamen, blieb der Kellner stehen. Er wollte nicht reingehen. «Seien Sie vorsichtig, Monsieur», sagte er, und ich dankte ihm. Ein kleiner Polizist saß hinter dem Schreibtisch. Er hatte den Helm abgesetzt und schrieb; er schrieb auch weiter, während ich wartete. Ich warf den Spazierstock mit lautem Knall auf den Schreibtisch. Er fuhr hoch. «Sind Sie verrückt», sagte er. 148
«Holen Sie den Kommandanten!» Der Polizist starrte mich an, den Rücken steif an die Stuhllehne gepreßt. «Holen Sie ihn sofort», sagte ich, «Sie haben keine Befugnisse, amerikanische Soldaten zu verhaften.» «Nein?» Er stand auf. «Warten Sie hier.» In einem anderen Büro hörte ich den Polizisten mit irgend jemand reden. Ein großer Polizist kam mit dem ersten raus. Der große Kerl rauchte eine Zigarette, sein Gesicht sah blaß und streng aus. «Sie haben einen Mann von mir in Verwahrung», sagte ich. «Sie haben kein Recht, ihn zu verhaften, und ich wünsche, daß Sie ihn sofort freilassen.» Der große Polizist runzelte die Stirn. «Was hat er gesagt?» fragte er den kleinen Gendarmen. Der Kleine übersetzte. «Er will, daß der Américain freigelassen wird.» «So?» «Er ist irgendein Offizier.» «Er wünscht das?» Der große Gendarm fand das offenbar spaßig. «Ja», sagte der andere. «Sie haben keine Entscheidungsgewalt über amerikanische Soldaten, wenn sie kein Kapitalverbrechen begangen haben.» «Was sagt er jetzt?» fragte der große Polizist. «Wir haben keine Vollmacht, den Soldaten einzusperren.» «Blödsinn!» 149
«Das kann schwerwiegende Rückwirkungen von Seiten meiner Regierung nach sich ziehen», sagte ich, «außerdem kenne ich Ihren Prinzregenten. » «Er kennt den Prinzregenten», sagte der Kleine. «Was weiß er von dem?» «Er sagt, er kennt ihn.» «Ist er ein hohes Tier?» «Ich weiß nicht. Er macht einen guten Eindruck, aber er ist verrückt.» «Allerdings. Ist die Sache wichtig?» «Eine Prügelei in einem Café mit Engländern.» «Irgendein Schaden?» «Ein paar Gläser. Der Wirt will keine Schadenersatzansprüche geltend machen. Der Ami war ziemlich betrunken und hat Radau gemacht, als wir ihn verhafteten.» «Ähnlich wie der hier, nehm ich an.» «Ja.» «Wieviel Engländer waren dort?» «Ein ganzer Haufen.» «So. Mögen Sie die Engländer?» «Ich hab nicht viel drüber nachgedacht.» «Ich mag sie überhaupt nicht. Ist der Américain der, der singt?» «Nein, das ist ein Engländer.» «Mir wär es lieber, wenn er den Schreihals mitnehmen würde. In Ordnung. Lassen Sie seinen Soldaten frei.» Dann sagte er lächelnd: «Wir können nicht zulassen, daß der Prinzregent böse wird.» 150
«Wahrscheinlich kennt er gar keinen von der königlichen Familie.» «Macht nichts», sagte er und ging zurück in sein Büro. «Wir lassen Ihren Soldaten frei», sagte der Kleine englisch zu mir. «Vielen Dank, und danken Sie auch dem Kommandanten.» «Er ist nicht Kommandant.» Er nahm die Schlüssel vom Tisch und ging durch eine Tür zur Zelle. Ich hörte eine Stahltür aufrasseln, und dann wurde sie wieder zugeknallt, und raus kam Bill mit der Jacke über der Schulter. Er machte richtig Stielaugen, als er mich erblickte. «Verdammt noch mal, Kendricks», sagte ich, «noch so ein Kunststückchen wie das da, und ich laß Sie ein halbes Jahr lang im Gefängnis schmoren!» Bill zwinkerte mir zu. «Dalli, dalli», sagte ich. Ich wandte mich an den Polizisten: «Ist alles erledigt?» «Ja.» «Muß ich irgendwas unterschreiben?» «Nichts.» Draußen blieb Bill stehen, drehte sich um und strich den Kragen seiner Jacke glatt. «Geh schon», sagte ich. «Ja, Sir, Baby.» «Du dummer Hund, ich hätt dich drinlassen sollen.» «Jesses, ich hab gemeint, jetzt kommen die Schneeköppe.» 151
«Nächstesmal werden sies sein», sagte ich. Im Buckingham berichtete mir der Portier, daß die junge Dame zum Strand gegangen war. Wir fanden sie mit Queenie im Sand liegen, mit großen Strohhüten auf, und die Gesichter glänzend von Sonnenöl. Es waren auch Belgier da, die ich nicht kannte. Am Strand standen gestreifte Zelte in fröhlichen Farben wie kleine Pyramiden. Ein Belgier fragte mich, ob ich die Zeitung gelesen habe, und zeigte mir eine fette Schlagzeile. Eine Bombe, die Atombombe hieß und eine Wirkung von zwanzigtausend Tonnen TNT hatte, war auf eine japanische Stadt namens Hiroshima abgeworfen worden. Das klang verdammt märchenhaft. Es war ein heißer Augusttag, der Himmel klar und blau, und das Wasser leuchtete hell. Ein paar Tage später berichtete uns Suzy, daß gerade die Polizei im Buckingham nach uns gefragt habe. Wir wurden also auch in Blankenberge gesucht. «Komm, wir hauen ab», sagte Bill. Während Suzy im Hotel wartete, gingen wir los, um den Jeep zu holen, aber irgendeiner hatte einen vollen Kanister Benzin vom Rücksitz weggenommen, und der Benzinzeiger stand fast auf Null. Bill erinnerte sich an ein paar Kanadier, die er am ersten Tag in der Stadt getroffen hatte. Wir spurteten zu dem Café, wo sie rumlungerten. Als wir rüberliefen, sah ich einen GI mit einem Mädchen Arm in Arm auf uns zukommen. Mir wurde eiskalt. Ich erkannte ihn vom Amigo her wieder. Er warf mir nur einen Blick zu, und ich 152
erwiderte seinen Gruß. Ich stieß Bill an, als er vorbeigelatscht war. «Schau mal, ob der sich umblickt.» Bill drehte sich um. «Nein, warum soll er?» «Das is ein Schneekopp vom Amigo.» «Heiliger Strohsack!» «Geh bloß weiter.» «Hör mal, wir hauen am besten gleich ab.» «Hoffen wir, daß deine kanadischen Freunde uns mit Benzin aushelfen», sagte ich. Im Café waren ein kanadischer Captain, ein Sergeant und zwei Soldaten. Die beiden kannten Bill. Sie waren eine rauhe, aber fröhliche Gesellschaft. «Ich hätt nich gedacht, daß die belgische Polizei dich so schnell rausläßt», sagte der eine zu Bill. «Der Major hat mich rausgeholt», sagte Bill. Der Captain schaute mich argwöhnisch an. «Könnt ihr uns etwas Sprit geben?» fragte Bill. «Nee», sagte der Captain und drehte sich zur Bar. «Wir sitzen ein bißchen in der Klemme, Captain», sagte Bill. Der Captain blickte sich um und grinste diesmal. «Schwarzmarkt, Major?» fragte er. «Wieder mit den Engländern zu tun gehabt?» fragte der erste Soldat. «Von beidem was», antwortete Bill. «Wieviel Sprit brauchst du, Junge?» fragte der Captain. «Ich weiß nich, Sir. Soviel wie möglich, würd ich sagen.» «Bist du der Ami, der die Keilerei mit den Streitkräften Seiner Majestät hatte?» fragte der Captain. «Ja, Sir.» 153
«Also ein Verbündeter Kanadas. Wieviel haben wir im Wagen, Sergeant Reynolds?» «Ungefähr zehn Kanister, Captain», sagte Reynolds. «Gib ihnen zwei. Den Rest bring rüber zu – wie hieß er bloß?» «Granvalet», sagte der Sergeant. «Ich hab bald kein Geld mehr, Sergeant.» Der Sergeant trank aus und ging. Der Captain schaute mich an. «Mögen Sie Triple-Sekt, Major?» «Nich jetzt.» «Waren Sie mal in Knokke-Le Zoute?» «Wir möchten gern gehn, Captain.» «Ich fürchte, Sie müssen auf Reynolds warten, Major. Es wird nich lang dauern.» Genau in dem Augenblick sah ich einen amerikanischen Jeep auf die Plaza fahren – mit einem Fahrer in Zivil. Er trug einen großen Filzhut. Der Jeep hatte ein CID auf der Stoßstange. «Wie weit ist der Ort weg, den Sie meinten, Captain?» fragte ich schnell. «Ganz nah an der holländischen Grenze. Sind Sie in Schwierigkeiten?» «Noch nich.» «Kommen Sie mit uns.» «Wann fahren Sie?» «Sobald Reynolds zurückkommt. Wolln Sie wirklich keinen Triple-Sekt probieren? Ein prima Gesöff!» «Nee», sagte ich. Der CID-Mann mit dem Filzhut überquerte den Platz und verschwand. Der Captain hatte 154
ihn beobachtet. Gleich darauf trudelte Reynolds ein und hatte die Taschen voll Geld, das er dem Captain gab. «Hast du die zwei Kanister genommen?» fragte der Captain. «Klar, Cap.» «Wo ist Ihr Jeep, Major?» «Dort, auf dem Platz.» «Reynolds», sagte der Captain, «füll den Jeep vom Major. Siehste ihn?» «Klar.» «Für den Fall, daß dich einer in Zivil, ein verdammter Amerikaner, fragt, dann haste versehentlich den falschen aufgefüllt. Verstanden?» «Verstanden, Cap», sagte Reynolds und ging. «Verdammte Plage, die Polizei», sagte der Captain. «Ich komm sofort zurück», sagte ich. Ich ging rasch zum Buckingham. Suzy hatte schon gepackt. «Komm», sagte ich, «wir fahren nach Le Zoute oder sonstwo hin.» Nachdem wir in Le Zoute angekommen waren, gingen wir zuerst zur kanadischen Garnison. Während Bill mit den Soldaten und ihrem Sergeant wegging, nahm der Captain Suzy und mich mit in den Offiziersclub. Später spielten wir Billard, und Suzy schaute zu. Danach fuhren wir nach Knokke, um ein Hotel zu suchen. Wir wohnten in Knokke nah am Meer in einem Hotel, das einsam und hoch auf einer Sanddüne stand. Die meisten 155
Belgier dort waren Frauen und Kinder, und wir sahen nicht viel Männer. Essen gab es zwar regelmäßig, aber es schmeckte nicht besonders. Das Hotel war ein altes Gebäude und schien nach einer Seite überzuhängen; es war ganz aus Holz, ausgelaugt vom Seewind. Morgens hörten wir Minen hochgehen. Belgische Minensucher ließen sie von kleinen Booten aus in die Luft fliegen. Die Sonne blendete, so daß man sie kaum sehen konnte. Sie säuberten den Strand von Hindernissen, die wir damals in der Normandie auch vorgefunden hatten. Wenn eine Mine hochging und das Wasser steil emporschoß, erschütterte die Explosion alle Fenster des Hotels, aber niemandem schien das was auszumachen. Viel Zeit verbrachten wir im Casino, unten an der zerstörten Straße längs des Strands, die grade ausgebessert wurde. Wir aßen dort lieber als im Hotel und sahen uns abends die Show an. Der Wirt, der eine bunte Fliege vor dem Adamsapfel und eine rote Blume im Knopfloch trug, mochte uns, weil wir immer einen großen Tisch brauchten. Oft saßen die Mädchen der Show bei uns, und die französische Sängerin lieh sich meine Mütze für die letzte Nummer ihrer Vorführung, die patriotisch aufgemöbelt war. Als ich mal im Offiziersclub in Le Zoute mit dem kanadischen Captain Billard spielte, blickte Suzy zufällig aus dem Fenster und sagte: «Sieh mal!» Ich sah Bill im Jeep sitzen und große Bögen auf dem weiten Platz fahren. Er war so besoffen, daß er beinah aus dem Wagen fiel. Ich rannte raus, packte den Rahmen der 156
Windschutzscheibe und schwang mich ins Auto. Mit dem Fuß trat ich auf die Bremsen, bevor der Jeep in die Menschenmenge reinfuhr. Ich riß Bill am Hemd hoch und schlug ihm über den Mund. «Du blöder Hurenbock», sagte ich. Er holte aus, und mir tanzten Sterne vor den Augen. Ich schlug ihm in die Zähne, und er fiel aus dem Jeep. Ich kletterte über die Sitze, um ihm aufzuhelfen. Er schlug mich dafür auf die Nase. Dann begann er umherzuhopsen, und jetzt war er gar nicht mehr so blau. «Mach dich nich lächerlich», sagte ich. Die Menge sammelte sich um uns. Er traf mich mit einer gewaltigen Rechten und stieß mich in den Jeep. Er rückte mir richtig auf den Pelz, und ich mußte ihn so hart und schnell treffen, wie ich nur konnte. Ich boxte ihn über ein Kind, das mit seiner Mutter dastand. Die Frau schrie auf und schlug mit ihrer Handtasche nach mir. Ich hätte ihn jetzt am liebsten umgebracht. Ich wollte seinen Kopf durch die Windschutzscheibe stoßen, doch die Kanadier packten mich alle. «Haltet ihn», schrie einer, «er bringt ihn um!» Ich schlug die Windschutzscheibe mit seinem Kopf ein, aber dann umringten sie mich. Sie stießen mich weg, und ich stand zitternd da. Zwei Kanadier nahmen Johnson und trugen ihn weg. Seine Beine schleiften auf dem Boden. Ich schloß mich ihnen an. «Wo bringt ihr ihn hin?» «In die Kaserne, Major.» «Is er in Ordnung?» «Ich hoff, daß ers is. Sie haben ihn richtig erledigt, Sir.» 157
«Sie sind ein Schläger», sagte einer. «Gar nix bin ich», sagte ich. In der Kaserne legten wir ihn auf einen Mantel. «Zieht ihm die Kleider aus», sagte ich. «Ich möcht nich, daß er heut noch mehr Scherereien macht. Ich hab für einen Tag genug von ihm.» «Ich glaub, er hat genug von Ihnen, Major.» «Ich glaub, es langt uns beiden.» Als ich Bills Kleider zusammengewickelt in den Offiziersclub reintrug, grinste der kanadische Captain. Er und die anderen Offiziere hatten den Kampf vom Fenster aus beobachtet. «Ich hab ne tolle Wette auf Sie gewonnen», sagte er. «Was?» «Das meiste Geld war auf Ihren Sergeant gesetzt.» Als ich Bills Kleider nahm, hatte ich gehofft, es sei für heute das letztemal, daß ich ihn sah. Dem war nicht so. Noch am selben Nachmittag tauchte er im Hotel Cambridge mit seinen kanadischen Kumpels auf; er trug eine kanadische Uniform. Mit dem kanadischen Barrett, einem blauen Auge und einer geschwollenen Lippe sah Bill wirklich herrlich aus. Er war nicht mal ärgerlich. Er lachte übers ganze Gesicht und wollte wissen, ob er mich verletzt habe. Einige Tage später lernte Bill eine verschüchterte deutsche Jüdin namens Sabina kennen. Sie sah aus wie jemand, der sich sein ganzes Leben lang versteckt gehalten hat. Man konnte das richtig spüren. Ich sah ihn mit ihr auf der 158
Terrasse des Cambridge sitzen. Er hielt ihre Hand. Er blieb sogar nüchtern, und Sabina schien eine beachtliche Veränderung bei Bill bewirkt zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Er fing mit dem Saufen wieder an, als er hörte, daß der Krieg mit Japan zu Ende sei oder wenigstens bald zu Ende gehe. Fünfzehntes Kapitel Der Chef im Café Majesty hielt uns an der Tür auf. Er strahlte. «Haben Sie die Neuigkeit gehört, Messieurs?» «Was für ne Neuigkeit?» fragte ich. «Der Krieg mit Japan ist aus.» «Klar», sagte Bill. «Es ist wirklich so. Ich garantiere Ihnen, daß es so ist. Die Nachricht kam gerade im Radio.» «Scheiße, nix wie Scheiße!» sagte Bill. «Ich versteh nicht, Messieurs.» Der Chef geleitete uns zum Tisch. Er glich in vielem Monty. «Vielleicht ist la guerre aus», sagte Suzy. Dann fragte sie mich: «Was ist los, Chéri?» «Nix.» «Hast Angst?» «Ich weiß nich, ich hab ein blödes Gefühl.» «Hast le pistol?» «Ich glaub, ich hol sie.» «Wo gehste hin?» fragte Bill. 159
«Ich bin gleich zurück», sagte ich. Als ich in mein Hotelzimmer kam, nahm ich die 45er, legte eine Patrone in die Kammer, lockerte den Hahn vorsichtig, sicherte sie und steckte sie unter meinen Gürtel. Als ich ins Majesty zurückkam, hatte Bill bereits ein paar Triple-Sekt intus und fühlte sich abscheulich. «Du haben?» fragte Suzy. Bill stierte mich an; er sah wirklich eklig aus. «Wofür zum Teufel soll ein Revolver gut sein?» fragte er. «Weiß nich.» «Weißt, was sie mit uns machen werden? Wir werden das Tageslicht nie wieder sehn, wenn sie uns erwischen. Was meinste, was du dann mit der Pistole anfangen kannst?» «Losknallen.» «Du kannst sie nich aufhalten. Keiner kann das. Wir werden das Tageslicht nie wieder sehn. Is der beschissene Krieg wirklich aus?» «Oui. Es heißt im Radio, er ist aus», sagte Suzy. «Mit uns isses auch aus.» Al war am Waffenstillstandstag genauso gewesen wie jetzt Bill. Er stand auf. «Ich geh», sagte er. «Ich hätts nie tun sollen.» Ich sah ihm nach, wie er wegging. Er war ein bißchen unsicher. Auf der Promenade stand er im Sonnenlicht, ging dann rüber zu einer Bank und setzte sich mit dem Gesicht zum Meer hin. «Er machen Schwierigkeiten», sagte Suzy. «Ich weiß», sagte ich, «wir sollten, glaub ich, nich mehr 160
lang bleiben.» «Wohin gehen wir?» «Zurück nach Brüssel. Ich weiß nich, wo wir sonst noch hingehen könnten.» Ich sah den Chef an, und er strahlte. «Soll ich Ihnen heute abend einen Tisch reservieren? Es wird wegen der Feier voll werden.» «Tun Sie das, wir müssen feiern.» «Phantastisch, nicht wahr!» «Oh, ganz phantastisch! Ist es nicht phantastisch, Juliette?» Suzy schwieg. In dieser Nacht feierten wir den endgültigen Abschluß des Krieges. Das Majesty war überfüllt, aber die Leute waren ruhiger und vernünftiger als damals in Brüssel. Der Krieg in Japan war zu weit entfernt und hatte wenig Bedeutung für sie. Wir schauten einer Show, betitelt Pan und die Muse, und einem Belgier zu, der James Cagney imitierte. Bill und ich glaubten, daß er ein amerikanischer Deserteur war; wir schlossen das aus der Art, wie er seine Schuhbänder schnürte, anders als ein Belgier, eben wie ein Amerikaner. Auf alle Fälle war die Unterhaltung mit ihm interessant. Er hatte überhaupt keinen Akzent. «Pan und die Muse» war hochtrabender. Trotzdem, sehr nette Leute. Für die Vorstellung hatte Pan eine Menge Make-up aufgelegt, so daß die Augenbrauen scheußlich rauskamen. Auf dem Kopf trug er eine Silberplatte, die mit zwei leuchtenden 161
Hörnern verziert war. Die Muse war eine ätherische Blondine; sie tanzte mit vorstehenden Brüsten und rotbemalten Brustwarzen. Während der Darbietung stand Bill allein an der Bar. Er bestellte zwanzig Triple-Sekt und reihte sie alle in einer Linie auf. Dann trank er sie, einen nach dem anderen. «Noch mal zwanzig», befahl er dem Barmixer. Der Barmixer schüttelte den Kopf: «Nix», sagte er, «zehn ist genug.» Die zehn bestellten Triple-Sekt trank Bill genauso schnell. Ich wußte nicht, was ihn aufrecht hielt. Er tanzte mit allen Mädchen und kam jedem in die Quere. Dann kletterte er aufs Podium und rief in das Mikrofon rein: «Alles herhören, seid alle glücklich, der Krieg is aus!» Er kletterte runter, tanzte mit einer anderen, kam wieder jemand in die Quere. Er benahm sich wie ein Mensch auf einer Drehscheibe. Johnson übertraf Johnson. Ich hatte ihn noch nie so blau erlebt. Jeden anderen hätte das umgehauen, aber er stand noch. Dann gabs so was wie ne Explosion, und alle droschen auf ihn los. Er hatte mit einem Mädchen getanzt, das sagte: «Les Boches sind besser als les Américains.» Bill gab ihr eine auf den Mund und stieß sie gegen ein anderes Paar. Eine Menge Belgier stürmten auf ihn los, und obwohl er unsicher auf den Beinen stand, wollte er sich mit ihnen schlagen. Ich drängte mich dazwischen, indem ich alle beiseite stieß, schlug Bill aufs Maul, nahm ihn in die Zange und ging zur Tür. Ein junger Belgier, der Gewichtheber war, ging mit uns raus. 162
«Ein Kerl haben Messer. Hast du gesehen?» sagte der Belgier. «Nee.» Ich hielt Bill noch in der Zange. «Laß mich los», schrie Bill. Dann entspannte er sich. Ich ließ ihn los, und er stand schwankend da. «Warum zum Teufel hast du mich geschlagen?» fragte er. «Sie wollten alle auf dich losgehn.» «Das stimmt», sagte der Belgier, «ein Kerl haben Messer.» «Welcher Kerl?» Er wankte hin und her, hatte schwere Augenlider und eine lallende Stimme. «Komm», sagte ich, «ich bring dich heim.» «Ich übernehm ihn, Major», sagte der Belgier, «ich ziemlich starker Bursche.» «Ich danke Ihnen», sagte ich. «Kommen Sie, Monsieur Bill, ich bring Sie ins Hotel.» «Teufel noch mal, wie heißen Sie?» «Philippe», sagte der Belgier, «allez, wir gehen, okay?» «Zum Teufel mit dem schönen Belgien! Isses nich schön in Belgien?» Der Belgier war wirklich stark. Er legte Bills Arm über seine Schulter, einen Arm um Bills Taille und trug ihn beinah. Ich beobachtete sie, wie sie unter den Lichtern der Promenade dahingingen. Ich ging wieder rein. Alle tanzten. Es sah so aus, als wäre nichts geschehen. «Es tut mir leid», sagte ich zum Chef. 163
«Das war zu erwarten, Monsieur. Ihr Sergeant trinkt zuviel.» «Ich tät mich gern bei dem Mädchen entschuldigen.» «Das werde natürlich ich tun. Der Sergeant hat viel mitgemacht und ist jetzt glücklich, daß der Krieg vorbei ist. Das ist verständlich.» «Sagen Sie doch dem Mädchen, daß es mir außerordentlich leid tut.» «Natürlich, Monsieur.» Philippe berichtete später, daß er Monsieur Bills Kleider versteckt habe. Der Krieg war wirklich zu Ende. Sechzehntes Kapitel Der erste Schuß weckte mich. Ich war schon aus der Klappe und schlüpfte in meine Hose, als ich die anderen zwei hörte. Suzy saß aufrecht im Bett. Die Schüsse waren aus dem Majesty gekommen. «Du packst am besten gleich», sagte ich. «Glaubst du, daß Bill geschossen hat?» «Wer sonst? Du packst am besten schnell. Er hat vielleicht jemand umgebracht.» Ich zog mich hastig an. Ich war noch immer beim Zuknöpfen, als ich schon auf die Promenade lief. Es war jetzt neblig, und einige der Promenadenlaternen waren zerbrochen. Nirgends mehr Licht, außer im Majesty. Ich erwartete, jemand tot daliegen zu sehen, aber nichts war geschehen. Nur der Barmixer und Bill standen an der Bar. Der Mixer war kalkweiß und hielt beide Hände steif 164
auf der Theke. Bill war vornübergesunken. «Prima», sagte ich, «auf wen haste geschossen?» Sein Kopf schnellte hoch. Er lachte wie ein Vollidiot. «Wa-as?» «Auf wen du geschossen hast?» «Biste verrückt?» Sein Kopf hing schon wieder nach vorne. Der Barmixer beobachtete Bill ängstlich. Er getraute sich nicht zu sprechen. Ich riß Bills Jacke auf und nahm die 45er aus dem Gürtel. Ich holte die Kammer raus, entsicherte zweimal, und die Patronen fielen klappernd auf den Boden. Ich roch es. Sie war wirklich abgefeuert worden. Ich steckte sie ein und sammelte die Patronen auf. «Ich hab von deinem Blödsinn genug», sagte ich, «du gehörst der Polizei überlassen.» Aber er schlief schon. Er hatte die Arme auf die Bar gestützt und seinen Kopf drauf gebettet. So schlief er im Stehen. «Is einer verletzt worden?» fragte ich den Mixer. «Nein.» «Hat einer die Polizei gerufen?» «Nein, ich glaub nicht.» «Auf wen hat er geschossen?» Der Mixer wollte nicht recht mit der Sprache raus. «Er schläft», sagte ich, «er ist total weg.» «Ich hab grade zugemacht. Es waren noch zwei Herren da. Ihr Freund war draußen, ich denk, auf der Bank dort. Er schoß auf die beiden Herren, als sie rauskamen.» «Hat er einen getroffen?» «Nein, zum Glück nicht. Sie sind davongerannt.» 165
«Sonst war keiner da?» «Nur die beiden Herren, Sir. Sie waren gar nicht in den Trubel von vorhin verwickelt. Es war eine lange Nacht, und ich wollte schnell heim. Die Herren waren auf einen Drink reingekommen. Sie wußten nichts von dem Ärger mit Ihrem Freund. Es war sehr dumm.» «Es wär noch viel dümmer gewesen, wenn er sie getroffen hätt.» «Ja. Hätten Sie gern einen Drink, Sir?» «Nee.» «Ich glaub, ich trink was, ich brauch es jetzt.» «Klar.» «Das war aufregend. Die Herren haben nur über Pferde geredet. Sie wußten von nichts.» Er schenkte sich einen Cognac ein und kippte ihn runter. «Es waren ganz ruhige Herren. Sie haben mich aufgefordert, mit ihnen zu trinken. Ich trink nie während der Arbeit. Jetzt brauch ich was.» «Das glaub ich.» «Ihr Freund hat auf sie geschossen, als sie rauskamen. Ich wußte nicht, was passiert war. Er kam einfach rein mit der großen Pistole. Aber zuerst hab ich gehört, wie die Herren rannten. Dann kam Ihr Freund rein. Er sagt: Wo ist der mit dem Messer? Ein Messer, Herr? sag ich, ich kenn keinen mit einem Messer. Ich such den mit dem Messer, sagt er. Ich sag, es ist keiner hier, ich schließ grade. Wo is er? Sie sehn, daß keiner hier ist. Sie kennen mich doch, nicht wahr? Ich hab Ihnen vorhin Drinks serviert. Er sagt, ich sei in Ordnung. Dann geb ich ihm einen Drink. 166
Ich bin sehr erschrocken. Dann sind Sie reingekommen.» «Wollen Sie die Polizei rufen?» fragte ich. «Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben, ich möcht heimgehn.» «Klar. Eigentlich müßt ich sagen, daß es mir leid tut, aber das klingt ein bißchen blöd.» «Ihr Freund hat keinen verletzt; das ist die Hauptsache.» «Er is 'n richtiges Problem», sagte ich, nahm eine Hundertfrancnote und legte sie auf die Bar. Mit Bill ging ich nicht so sanft um. Ich packte ihn am Kragen und ohrfeigte ihn, um ihn aufzuwecken. Er zwinkerte mit den Augen, und sein Mund öffnete sich. «Komm schon, du Idiot!» «Wa-as?» Ich faßte ihn um die Taille und legte seinen Arm um meine Schulter. Er hing an mir wie ein Sack voll Kohlen. «Gute Nacht, Sir», rief der Barkeeper mir nach. Ich war überrascht, Sabina in Bills Zimmer vorzufinden. Ich ließ ihn aufs Bett plumpsen. «Hat er dich hierhergebracht?» fragte ich sie. «Was ist los?» «Wo hat er seine Klamotten hergekriegt? Ich hab ihn von nem Burschen nach Hause bringen und die Klamotten wegnehmen lassen, damit er nix anstellen kann.» «Er hat gesagt, ich soll sie holen. Er muß Sie sehen, hat er gesagt, es sei furchtbar wichtig. Was ist los?» «Und du hast die Klamotten geholt, die der Kerl versteckt gehabt hat?» «Ja. Was ist los?» 167
«Nich viel. Er hat bloß versucht, einen umzubringen, das is alles.» «Mein Gott!» «Wir müssen wegmachen, verstehste?» «Wohin Sie wollen?» «Nach Brüssel, was sonst!» «Sie können bleiben in meine Bude.» «Und ihn mitbringen?» «Polizei werden bestimmt kommen am Morgen. Kommen immer am Morgen. Ich kenn mich aus.» «Das hab ich mir gedacht.» «Ich werden nur eine Minute wegbleiben. Können Sie halten beim Cambridge?» «Wir sind schon fertig.» «Ich haben auch gepackt», sagte sie, «alte Gewohnheit. Lange Zeit haben ich gelebt so.» Wir schleppten alles in den Jeep, ließen Bill auf den Rücksitz fallen, und Sabina setzte sich neben ihn. Es war kalt. Ich gab Suzy eine Militärjacke zum Überziehen. Sabina brauchte im Cambridge tatsächlich nicht lang. Auf dem ganzen Weg nach Brüssel hatten wir Nebel. Er wogte über die Straße und war bloß weg, wenn die Straße abfiel. Ein englischer Laster, schwarz und hoch wie ein Haus, zockelte uns auf der verkehrten Seite entgegen. Ich wich aus und fluchte vor mich hin, als wir vorbeifuhren. Das üble Gefühl kroch wieder in mir hoch, und diesmal ließ es sich nicht einfach abschütteln.
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Siebzehntes Kapitel In Brüssel wohnten wir in Sabinas Bude. Ein Paar hatte die Wohnung bezogen, während Sabina am Meer war. Die Frau spielte Akkordeon, und Henri, ihr Mann, klimperte in den Cafés auf dem Klavier. In der zweiten Nacht, die wir dort waren, holten uns die Schneeköppe den Jeep weg. Ich war ans Fenster getreten, als ich die Bremsen quietschen hörte. Ich zog den Vorhang weg und blickte runter, fuhr aber gleich wieder zurück. Der MP-Jeep parkte neben unserem. Ein Schneekopp zog die Haube weg, ein anderer setzte sich hinter das Steuerrad. Henri hatte im Wohnzimmer mit seinem Klavierspiel aufgehört. «Mach weiter», sagte ich. «Ist es Polizei?» fragte Sabina. «Ja. Mach weiter.» «Spielen, Henri», sagte Sabina. «Was soll ich spielen?» «Spielen!» Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie zitterte. «Sie holen grade den Jeep weg», sagte ich. «Jetzt fahren sie weg.» «Schau noch mal, ob sie wegfahren», sagte Bill. «Ja, sie fahren weg.» «Hol mir nen Drink, Liebling, ja!» sagte Bill. Henri spielte danach nicht besonders gut. Bill betrank sich. Als ich ein bißchen eingenickt war, weckte mich Suzy mit einem Schrei auf: «Bill hat mich geschlagen! Bill hat 169
mich geschlagen!» Umgeworfene Möbel und zersplitterte Gläser lagen umher. Sabina versuchte schreiend ihr Gesicht zu schützen, während Bill sie an den Haaren riß. Ich ging zu ihm hin, schlug ihn zu Boden und sperrte ihn ins Schlafzimmer. Noch eine Weile rüttelte er fluchend am Türknauf, dann war er ruhig. Suzy hatte ihren Arm um Sabina geschlungen. Sabina war richtig hysterisch. Sie hielt die Hände vors Gesicht. Als sie die Hände endlich wegnahm, sah sie rot und verheult aus, und die Haare hingen aufgelöst runter. Sie würde wohl ein blaues Auge kriegen. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigte. Ich konnte nichts für sie tun und haute mich in die Kiste. Ich hoffte bloß, daß keiner die Polizei gerufen hatte. Sabina gab am nächsten Morgen nicht viel von sich; sie sagte bloß, ihr wäre lieber, wenn wir weggingen. Ihr Auge war schwarz und verschwollen. Johnson tat alles furchtbar leid; er wußte nicht, was über ihn gekommen war. Es war ihm unverständlich, daß er eine Frau geschlagen hatte. Als wir fort waren, fiel Bill plötzlich ein, daß er die Schuhschachtel mit den Führerscheinen und Pässen in ihrer Wohnung vergessen hatte. Ich hatte Suzy zur Tram gebracht. Sie sagte, sie wolle mich abends treffen, und tat, als ob Bill Luft sei. Wir waren zu Mama gesaust, und ich hätte ihn am liebsten verprügelt, als er zu mir sagte: «Wir gehn nochmals zurück, nich?» Ich sagte nichts. «He, Nick, meinste nich, daß wir nochmals 170
zurückgehn?» «Ihrs andere Auge auch blau schlagen, was?» «Wir brauchen die Pässe.» «Hör zu, warum biste nich mal verschütt gegangen?» «Ich geh zurück und probier, ob ich sie krieg.» Ich wartete an der Ecke auf ihn. Er kam bald zurück, ohne Schachtel. «Sie wollte nich aufmachen», sagte er. «Ich hab ihr gesagt, es tut mir leid. Wir brauchen einfach die Pässe.» Wir nahmen die Tram zum Place Maréchal Foch. Louise öffnete nicht gleich. Als sie uns dann sah, schlug sie uns die Tür vor der Nase zu. Wir gingen über die Straße zum Cheval Blanc. Der Wirt beschwor uns aufgeregt, vor den Schneeköppen auf der Hut zu sein. «Rasch, ganz rasch, sie kommen mit les petits jeeps, aber alle Amis abhauen, bevor MP kommen, und ihr auch besser abhauen.» Er sprudelte das alles raus und flehte uns an, schnell zu verduften. Ich rief Mama von einer Telefonzelle aus an. Sie zeigte sich ziemlich aufgeregt und schrie bloß in die Leitung: «Bleibt weg! Bleibt um Gottes willen alle weg! Noch nie hab ich die Polizei im Haus gehabt!» Und schon hatte sie aufgehängt. Ich rief daraufhin Monty an, und der sagte, oui, Petit Mac und Alfred seien da, aber die Polizei sei viel gefährlich. Als wir bei Monty eintrudelten, saßen die Burschen alle hinten und starrten schlotternd auf die Tür. «Was is los?» fragte Bill. «Was soll schon los sein?» sagte Mac, «du hast uns ganz 171
schön in die Patsche geritten. Die Schneeköppe sind wegen dir in ganz Schaerbeek rumgesaust. Hab ich dir nich gesagt, du sollst den Quatsch sein lassen? Jetzt is die Stadt heißer als ne 30er Browning. Sie haben auch bei Mama gefilzt, aber wir waren schon weg, als sie gekommen sind. Du hättst sie sehen sollen!» «Wer hat ihnen denn Mamas Adresse verpfiffen?» fragte ich. «Woher soll ich das wissen!» «Wie stehts denn mit Monty und dem Novelty?» «Die wären schon hier, wenn sie was wüßten.» «Na, was sollen wir jetzt machen?» «Weiß ich nich.» Alle hatten sie furchtbar Schiß, hockten am Tisch und starrten auf die Straße. Der kanadische Deserteur probierte es mal mit Grinsen. Macs Mund klappte auf und zu, und sein Gesicht verzog sich zu tollen Grimassen. Der dürre Al zeigte seine zwei Vorderzähne wie ein Frettchen und führte sich überhaupt wie ein Frettchen auf. «Nick», sagte Mac, «du wirst saublöd dastehn, wenn sie dich in der Majorsuniform schnappen.» «Meinste?» sagte ich, «die werden einfach an mir vorbeigehn.» «Die überprüfen auch Offiziere.» Dann sagte er zu Bill: «Hast uns da was Sauberes beschert!» «Halts Maul!» «Hast doch die Klamotten von dem General genommen, nich? Den Tommy haste auch angegriffen, nich?» «Hör mal, das geht mich allein was an», knurrte Bill. 172
«Nee, mein Lieber, es geht uns allen an den Kragen! So nen Radau kann bloß einer vom Oberkommando machen. Ich hab dir doch geraten, brings zurück, aber du hastes nich gemacht.» «Mac hat recht», sagte ich, «ich hab mich bloß gewundert, daß sie so lang gewartet haben.» Mac und die übrigen wohnten in einem Bumslokal in der Nähe vom Schaerbeek-Bahnhof. Weil die Schneeköppe jetzt auch die Ausweise der Offiziere überprüften, zog ich die Offiziersuniform aus, ließ nur das US drauf und lief als CID-Mann rum. Später, auf dem Boulevard, fuhr eine Jeepkontrolle direkt an mir vorbei. Der Schneekopp hinten drin, der mit der Funkantenne, nickte mir sogar zu. Die Patrouille war ziemlich langsam vorbeigefahren. Ich hatte das Gefühl, daß die Schneeköppe zurückkämen. Ich ging vom Boulevard runter, in eine Seitenstraße. Ein ungutes Gefühl konnte ich einfach nicht loswerden. Als CID-Mann durchzukommen, das sah recht erfolgversprechend aus, aber wir brauchten dazu einen Jeep und Führerscheine. Am Nachmittag trabte ich mit Bill zu Sabina. Sie kam nicht an die Tür. Eine Frau steckte anderswo den Kopf raus und sagte, Sabina sei vor einer Stunde samt Gepäck fortgegangen. Ich fragte nach dem Pärchen, das auch dort gewohnt hatte. Sie waren ebenfalls abgehauen. «Ich hab aber ein paar wichtige Papiere drinnen», erklärte ich der Frau, «ich muß rein.» «Rufen Sie den Pförtner.» 173
Ein kanadischer Korporal kam an ihr vorbei in die Halle. «Was is los, Yank?» «Saftsack», sagte Bill. «Wir haben wichtige Papiere in der Wohnung von meiner Freundin, und das Luder is irgendwohin abgehauen, und wir müssen in einer Stunde in der Kaserne sein. Die werden uns gar nich erst anhören, und wir werden in ein verdammtes Schlamassel kommen, wenn wir die Papiere nicht kriegen.» «Schlagt die Tür ein», sagte der Kanadier. «Das können wir nich tun.» «Rufen Sie den Pförtner», sagte die Frau. «Es ist leichter, wenn man die Tür einschlägt», sagte der Kanadier. «Hör mal», sagte ich, «wir holen doch lieber den Pförtner.» Bill holte den Pförtner, und der sagte, er hätte keinen Schlüssel. Bill fing mit Pidginenglisch an: «Wir reinmüssen. Wichtiges Papier. Viel wichtig. Geheim. Compris!» «Wir wollen das ganz legal machen», sagte der Kanadier. «Ruf die Polizei, und dann brechen wir die Tür auf.» Jemand holte einen Gendarm her. Er sah klein und furchtsam aus. Er zuckte nur mit den Achseln, als der Kanadier vorschlug, die Tür aufzubrechen. «Isses in Ordnung?» fragte ich den Gendarm. «Es is sehr wichtig», sagte der Kanadier. Der Gendarm zuckte wieder mit den Achseln, und der Kanadier packte den Türgriff und lehnte sich dagegen. «Komm, Yank», sagte er. 174
Wir gingen beide zur Tür, aber sie war groß und stabil und wollte nicht nachgeben. Dann faßte Bill zu, und wir alle schmissen uns fest dagegen; meine Schulter tat so weh, als ob ich gegen eine Mauer stieße. «Alle zusammen jetzt», kommandierte der Kanadier. Diesmal ging der Rahmen in die Brüche. Wir traten ein. Der Raum roch muffig und war dämmerig. Sonnenlicht fiel an den Seiten der geschlossenen Vorhänge rein. Bill fand die Schuhschachtel im Schlafzimmer. Als wir rauskamen, sah der Gendarm noch ängstlicher und verlegener aus. Wir dankten ihm und machten uns aus dem Staub. Draußen sagte Bill: «Na, Baby, ich glaub, dorthin können wir nich wieder gehn.» «Ich mag das Hotel am Bahnhof nich», sagte ich. «Wir lassen uns bei Yvonne nieder.» Die Nacht blieben wir in Yvonnes Wohnung. Sie lebte bei ihrer Mutter, Madame George. Madame George war riesig groß und stelzte mit einem dicken, knotigen Stock herum. Sie behauptete, sie sei beim belgischen Untergrund gewesen und die Deutschen hätten sie angeschossen. Zur Zeit sah man nicht mehr so viele Patrouillen. Hin und wieder drehte ein Jeep mit Schneeköppen am Bahnhof Schaerbeek die Runde, oder er fuhr die Straße am Café Novelty lang. Am sichersten war, ihre Route zu meiden. Allerdings mußte ich allmählich dran denken, ein bißchen Geld aufzutreiben. Meine fünfundzwanzig Mille vom Laster und von den Fallschirmen hatte ich am Meer fast 175
aufgebraucht. Mac kam auf die Idee, nach Beauvechain, dem großen amerikanischen Flugplatz, zu fahren. Madame George schlug vor, die Fallschirme in ihrem Keller zu verbergen. Wir brauchten bloß einen großen Laster. Eines Nachmittags kam Bill mit einer Armeeambulanz daher. Es war ein Einsatzwagen, der verdammt schnell aussah, und nicht so eine gewöhnliche, eckige Kiste. Die Ausrüstung war komplett. Ich hatte keinen Dunst, wie er ihn gegrapscht hatte, und er wollte nichts verraten. Er sagte: «Is egal, was ich tu. Ich fahr nach Beauvechain, und das muß reichen.» Beauvechain war ein großer Flugplatz. Am Tor stand nur ein kleiner Belgier, der kein Englisch lesen konnte, als wir ihm den Führerschein zeigten. Im Regen und in der Dunkelheit wußte ich nicht, wie viele C 47 wir passierten, aber es war mindestens eine ganze Staffel. Bill und ich waren die einzigen, die diese Gelegenheit nutzten. Al wollte nicht aus dem Ambulanzwagen rauskommen, und Mac jammerte die ganze Zeit: «Beeilt euch, beeilt euch doch!» Der Kanadier half wenigstens mit, die Fallschirme aus den Flugzeugen zu tragen. Schließlich war der Wagen vollgestopft. Kein einziger ging mehr rein. Zuletzt warfen wir noch zwei Klamottenpakete und zwei Kameras obendrauf. Als wir vom Flugplatz runter waren, wurden die Burschen lebendig. Sie schwatzten davon, wie sie das Geld ausgeben wollten und daß wir fast eine Million für die Fallschirme kriegen würden. Dann schwärmten sie von 176
Paris. Bill schaute mich an, während ich fuhr, doch wir sprachen kein Wort. Wir entluden den Wagen bei Madame George und brachten das Zeug in den Keller, während Yvonnes Mann mit einer Taschenlampe leuchtete. Bill stand mürrisch da. Als wir fertig waren, gingen wir zu Monty. Bill wollte nicht einmal ein Bier, und ich sagte: «Baby, du bist krank.» «Klar, ich bin krank. Nick, laß uns einpacken!» «Du bist verrückt.» «Baby, mir langts.» «Hör mal, willste für ne kleine Ewigkeit ins Loch? Weißte nich, daß sie dir fünfzig Jahre aufbrummen, bloß weil du ein Deserteur bist? Weißte nich über Le Mans Bescheid? Weißte nich, was sie dir dort antun? Du vergißt am besten deine ganze Schnapsidee.» «Hör mal, verstehste denn nich?» sagte er. «Ich hab dran gedacht, dich und die andren Kerle zu verraten und das Zeug für mich zu behalten.» «Das is aber komisch», sagte ich. «Was zum Teufel is dran komisch?» «Ich hab das auch gedacht, aber du warst im Weg.» Ein paar Nächte später überquerten wir gerade den Place Liszt, als ich jemand schreien hörte. Ich duckte mich hinter ein Auto und griff nach der Star-Automatic. Bill glotzte nur. Da kamen sie über den weiten Platz gelaufen und brüllten: «Halt! Halt!» Im Dunkeln konnte ich sie nicht erkennen. Ein Kerl 177
rannte, und zwei jagten ihn. Sie waren alle in Zivil. Dann, unter einer Straßenlaterne, sah ich, daß die zwei Männer Pistolen hatten. Über den Platz näherten sich die Lichter eines Autos und eines Jeeps; der Jeep war mit englischen MPs beladen. «Hände hoch! Hände hoch!» schrie einer, und der Bursche hob die Hände ganz hoch. Er stand steif wie eine ulkige Primaballerina, fast auf den Zehen, während sie ihn hin- und herstießen, als sie seine Taschen durchsuchten. Unter der Tür des Café Léon standen der belgische Kriminalinspektor und der Akkordeonspieler. Der Inspektor grinste. Der Akkordeonspieler rauchte eine Zigarette. Der Kripoknabe fragte mich: «Was ist, Nicholas?» «Ein paar Tommies», sagte ich. Wir stellten uns an die Bar, und Bill fragte: «Wer is der Kerl mit dem großen Hut?» «Ein belgischer Inspektor», sagte ich. «Is in Ordnung.» Scheinwerferstrahlen liefen über das Fenster hin, als die Engländer wegfuhren. Der Akkordeonspieler kam grinsend rein. Der Kripoknabe ging hinter ihm und schloß die Tür. Er blickte ernst auf mich. Er war groß und langbeinig; sein großer Hut machte sein Gesicht noch länger. Er setzte sich auf den Barhocker neben mir. Bill schaute weg. «Ein bißchen Aufregung, Nicholas?» fragte er. «Ich hab gemeint, es wären die Schneeköppe.» «Wie gehts? Ist lang her.» «Seit dem Winter.» 178
«Anthony?» «Anthony gibts nich mehr.» «Tot?» «Er hat dreißig Jahre gekriegt. Was halten Sie von nem Drink, Inspektor?» «Warum nicht?» Bill starrte noch immer beiseite. Der Kripoknabe erklärte Léon, was geschehen war und daß die Engländer einen Deserteur aufgegriffen hätten. Wir genehmigten uns einen Drink und gingen dann. Draußen sagte Bill: «Jesses, du hast vielleicht Freunde!» «Er tut dir nix, solang du den Belgiern nix tust.» «Wer is Anthony?» «Ich hab dir von Tony erzählt.» «Du hast mir nich gesagt, daß er dreißig Jahre gekriegt hat.» «Das wirst du auch kriegen, wenn du dich stellst. Genieß doch die Freiheit noch ein bißchen. Erwischen werden sie dich sowieso.» «Wie lang war er weg, als sie ihn geschnappt haben?» «Ungefähr nen Monat.» «Und sie haben ihm dreißig Jahre verpaßt?» «Klar.» «Hör mal, Baby, hör mal gut zu. Wir packen sofort ein.» «Red kein Quatsch!» «Schau mal, ich hab gesehn, wie du nach dem Revolver gegriffen hast.» «Bloß aus Instinkt.» «Ich bin ein Schwein, wenn ich besoffen bin, aber du 179
tust, als wärs das normale, so zu leben. Pack ein, Nick.» «Noch nich, mein Lieber.» «Nick, mir is das verdammt ernst. Die Sache wird langsam Wahnsinn. Wir stecken bis über die Ohren drin. Ich denk dran, was ich hätt anrichten können, als ich auf die Belgier geschossen hab. Oder wie ich Sabina geschlagen hab, und dabei hab ich im ganzen Leben nicht mal ne Nutte geschlagen. Nick, wir müssen aufstecken!» «Gut, dann gibste eben auf!» Bill lief plötzlich schneller. «He, wo gehste hin?» «Vielleicht schnappen sie mich.» «Bill, du bist verrückt.» «Ich steig aus. Wiedersehn, Baby.» «He, wart doch!» «Nee», sagte er. «Ich hoff, du kommst durch. Ich hoff, einer wirds schaffen. Wir schaffens nich.» «Komm her, Bill.» Er war mir schon ein Stück voraus und rannte einer Tram nach. Ich blieb stehen und sah ihm nach, wie er verschwand. Er stieg in die Straßenbahn ein und blickte nicht mehr zurück. Dann war ich allein. Die nächste Tram kam, und ich stieg ein. In der Nähe des Place Maréchal Foch, wo die Tram eine Kehre fuhr, sah ich das Café, das der Kurve gegenüber lag – ein Café mit breiter Front, mit Korbstühlen und Sesseln draußen unter der Markise, alles hell erleuchtet wie ein Karussell. Mit seinen leeren Tischen sah es allerdings wie ein stillstehendes Karussell aus. Bill saß allein am Fenster. 180
Dann bog die Tram um die Ecke. Achtzehntes Kapitel Bei Monty war der übliche Samstagabendrummel. Ich stand an der Bar und sprach mit Anna, als Al reinkam. Er hatte sein Frettchengrinsen auf, doch ich wußte gleich, daß was passiert war. «Was is los?» sagte ich. «Warum versteckste dich nich irgendwo?» Er setzte sich nieder. «Dein Freund hat sich ausm Staub gemacht.» «Bill?» «Er hat sogar den Ambulanzwagen mitgenommen. Sagte, daß er nach Waismes oder sonstwo ginge. Wollte sein altes Mädchen sehen und sich dann selbst stellen. Verrückt!» Ich fühlte mich lausig. Zwei Stunden später sah ich ein Taxi draußen halten. Suzy kam wippend und lachend herein. Nachdem Al gegangen war, erzählte ich ihr, daß Bill auf und davon war und wir ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würden. Sie sagte, das sei besser so; er sei eine Last gewesen. Wir gingen zu Madame George. Yvonne war mit zwei Tommies da, und ich sagte ihr, daß Bill abgehauen sei. Sie wirkte nicht besonders betrübt. Ihr Mann saß allein in der Küche. Die Tommies taten ganz freundlich. Später gingen sie mit Yvonne ins Schlafzimmer, und sie müssen sich ziemlich komisch vorgekommen sein. Ihr Mann saß noch 181
immer in der Küche. Die nächsten Tage regnete es. Eines Abends ging ich in die Stadt und sah zwei Offiziere vor einem Café mit einem Portier aus einem Jeep aussteigen. Ich stieg ein. Der Portier schrie mir nach, als ich davonfuhr. Ich brachte den Jeep in Montys Garage und dachte über die Fallschirme nach. Bill war jetzt fort. Wir hatten die Chance genutzt und nicht diese Idioten. Vielleicht kam ich als Belgier nie durch, aber ich konnte mal versuchen, wie es als Ausländer ging. Man konnte einen Ausweis kaufen. Viele machten das. Aber dann mußte ich mir auch über die belgische Kripo Gedanken machen. Früher oder später mußte ich sowieso mit ihr rechnen. Na gut, Suzy wußte einen Ort, wo wir bleiben und uns verstecken konnten. Zuerst mußte ich die Fallschirme loswerden und dann Mac, Al und den Kanadier abhängen. Von einer Ecke am Place Liszt aus sah man das große, häßliche Verwaltungsgebäude der belgischen Polizei. Es glich einer Festung. Das Café Etoile lag gegenüber. Mit dem Wirt vertat ich nicht viel Zeit. Ich teilte ihm mit, ich hätte viele Fallschirme und er mache ein gutes Geschäft, da ich sie nicht teuer verkaufen wolle. «Wieviel Fallschirme?» fragte er. «Ungefähr hundertsechzig», sagte ich. «Fallschirme?» «Oui, hundertsechzig Fallschirme.» Er stieß einen Pfiff aus; ich sagte ihm, daß ich sie schnell 182
verkaufen wolle und es sich auch für ihn lohnen solle, denn er habe mir schon früher viel abgekauft. «Ja», sagte er, «fünf oder sechs.» «Hören Sie mal, ich verscheppere die ganze Ladung billig, aber nur die ganze Ladung.» «Ja, ich versteh; ich muß jemand anrufen.» «Rufen Sie an.» «Später.» «Hören Sie mal, es gibt kein später. Ich muß wissen, ob wir ins Geschäft kommen.» «Moment», sagte er. Ich trank einen Kaffee an der Bar; er rief an, kam zurück und grinste. «Wir können das Geschäft machen.» «Gut», sagte ich, und wir schüttelten uns die Hände. In der Nacht erzählte mir Suzy von dem Haus am Flugplatz, wo wir bleiben konnten. Wir fuhren im Regen dahin. Die Frau zeigte mir ein großes Zimmer. Es hatte ein Fenster und verblichene, schmutzige Blumenmustertapeten. Vom Fenster aus sah ich eine Reihe nasser, dunkler Bäume an der schmutzigen Straße und die gepflügten Felder dahinter und noch eine Reihe Bäume und dann den Flugplatz. Die Frau erklärte mir, daß die Tür nicht besonders gut schließe, seit die Gestapo mal eingedrungen sei. Sie schaute aus dem Fenster und sagte: «Es ist ein trüber Tag, nicht wahr?» «Ja», sagte ich, und wir würden es sie wissen lassen, wenn wir sie brauchten. Wir saßen dann in einem Café. Ein Gendarm ging vorbei; 183
er hatte das Kinn gesenkt und den regennassen Umhang fest um sich gezogen. «Ich glaub, ich verwandle mich doch lieber wieder in einen GI», sagte ich zu Suzy. «Ich hab nicht gewußt, daß Zivilklamotten soviel kosten.» «Was?» «Zivilklamotten», erklärte ich, «ich hab gemeint, du wüßtest das.» «Alles auf dem Schwarzmarkt, Chéri. Wieviel kostet ein Anzug?» « Vierzehntausend. » «Und Schuhe?» «Fünftausend wenigstens. Das ist mehr als hundert Dollars für Zivilschuhe. Ich bin fast pleite. Bis ich die Fallschirme verscheppert hab, werd ich nix kaufen können.» «Vielleicht besser, wenn ich zum Corso gehen.» Ich sagte nichts. «Also, ich gehen, ich mögen das Corso.» «Das ist ja herrlich», sagte ich. «Chéri, nachher ich kommen. Ich treffen dich bei Henrietta.» «Klar, warum nich?» «Du kommen bestimmt?» «Hör mal, wie wirste den Flieger oder mit wem du sonst zusammen bist, los?» «Wenn ich fertig, so wie früher.» «Das is gut. Ich war ne kurze Abwechslung, nich? Vielleicht triffste auch den General. Vielleicht kann er 184
mich wegbringen, nich? Vielleicht läßt er dich auch die Schlinge um mein Hals legen.» «Sollen Suzy le général bitten?» «Jesses!» «Nick sollen nicht böse sein mit Suzy.» Ich sagte nichts und dachte daran, wie es früher gewesen war. «Chéri!» «Sei still.» Sie sagte nichts mehr. Der Kellner merkte, was bei uns los war, und er störte uns nicht. Er stand mit dem Rücken zu uns und sprach mit dem Barkeeper. «Du kannst gehn», sagte ich zu ihr. Sie sah mich an. «Warum gehste denn nich?» sagte ich. «Ist alles gut?» «Klar.» «Du kommen Corso, non?» «Du wirst mich dort nich wollen.» «Aber du kommen zu Henrietta, ja?» «Ja.» «Bon», sagte sie, «nur für kurze Zeit.» «Klar.» Sie küßte mich, dann sah ich ihr nach, wie sie wegging. Später schlenderte ich im Regen durch den Parc Josephat.
185
Neunzehntes Kapitel Ich wußte, daß die Schneeköppe heute abend um neun kommen würden, weil ich das MP-Hauptquartier angerufen hatte. Ich hatte gesagt, ich sei auf dem Flugplatz stationiert und einige Deserteure lungerten beim Café Cheval Blanc rum. Sie sagten, sie würden die Zivilstreife schicken. Ich kriegte Mac und den Kanadier schließlich so weit, mit mir ins Cheval Blanc zu gehen. Al sagte, er würde Louise treffen. Ich konnte ihn einfach nicht dazu bringen, rüberzugehen. Ich mußte mich also später um ihn kümmern. Eigentlich brauchte man sich wegen ihm nicht viel Sorgen zu machen. Ich hatte Mac weisgemacht, wir würden den Belgier, der uns einige Fallschirme abkaufen wollte, um acht treffen. Ich schaute auf die Uhr an der Wand. Es war kurz nach acht. «Biste sicher, daß er acht gesagt hat?» fragte Mac. «Ich habs dir doch gesagt.» «Du linst ständig zur Tür.» «Darf ich nich?» «Warum linste ständig zur Tür?» «Ich geh ihn holen», sagte ich. «Gut.» «Wartet ihr so lange?» «Klar.» Wir saßen um den Tisch. Ich sah zur Tür und wieder auf die große Uhr. Da überfiel mich ein blödes Gefühl. Ich 186
fühlte die Schneeköppe. Ich stand auf. «Hört mal», sagte ich zu den beiden, «ich glaub, wir verschwinden hier lieber.» «Was is los?» «Ich hab ein blödes Gefühl», sagte ich. «Du auch, Kamerad?» fragte der Kanadier. «Wenn das nich ein Haufen Kacke is!» sagte Mac. Wir stelzten aus dem Cheval Blanc raus. Im gleichen Augenblick kam ein Jeep voll Schneeköppe um die Ecke. Sie hielten an und machten die Scheinwerfer aus. Mir wurde kalt. «Jesses», sagte Mac. Ihre Scheinwerfer blendeten wieder auf; zum Laufen war es zu spät, zur Ecke zu weit. Die Zivilstreife trug Überseemützen, es waren alles Unteroffiziere außer dem Fahrer, der hatte einen Schneekopphelm auf. Ein großer Unteroffizier lachte und sagte: «In Ordnung, Burschen.» «Hände hoch!» rief ein anderer. Wir hielten sie hoch, alle, bis auf den Kanadier. Der ging weiter, auf die Ecke zu. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Mac war ziemlich nervös. «Was is los», sagte er, «wir haben nix getan.» «Wer sagt, daß ihr was getan habt?» sagte der grinsende Unteroffizier. Er war groß und hatte einen dicken Bauch und dicke Lippen und sah aus wie ein Jude. «Wir haben Pässe», sagte Mac. «Sicher habt ihr welche», sagte der Jude lachend. 187
Die drei Unteroffiziere und der Fahrer hatten alle 45er in ihren Schulterhalftern. Zwei waren vorn um den Jeep rumgekommen, der andere hinten rum. Er trug eine GIStahlrahmenbrille, das Straßenlicht brach sich darin. Der Fahrer hockte stumm hinterm Lenkrad. «Lassen Sie mal sehen», sagte der Unteroffizier mit der Brille. «Klar», sagte Mac. «Was soll das?» sagte ich zu Mac. «Kerl, du hältst die Klappe», sagte der große Unteroffizier mit dem knochigen Gesicht – ein richtiger Querschläger. «Hören Sie, ich hab ihn», sagte Mac. «Wir sind in Ordnung, wir haben nix getan.» «Halt deine große Klappe, Kerl», sagte der Querschläger. Er sprach wie Lee und Willis. «Zeigen Sie her», sagte Brillenschlange. Mac nahm seinen gefälschten Paß aus der Jacke, seine Hand zitterte. Brillenschlange schaute ihn mit einer Taschenlampe an und gab ihn dann dem großen Juden. Der Jude grinste die ganze Zeit über. «Sie sind ganz gut», sagte er. «Wir sind auf dem B 56 stationiert», sagte Mac. «Ehrlich.» «Klar.» «Sie können bei meiner Einheit fragen.» «Müssen wir das?» «Wir haben nix getan.» «Na, wer sagt, daß ihr was getan habt?» 188
«Ihr Kerls müßt uns dauernd ärgern», sagte Mac und richtete sich auf. Der Jude grinste ihn an, aber die Brillengläser sahen mich an. «Was ist mit deinem Paß?» sagte er. «Warum, zum Teufel?» «Gut», sagte er, «steigt in den Jeep.» «Hast du gehört, Junge?» sagte Querschläger. «Verdammt noch mal, wie ihr uns immer belästigt», wimmerte Mac. «Ihr habt kein Recht, uns mitzunehmen, wenn wir nix getan haben.» «Vorwärts», schrie Querschläger. Wir stiegen in den Jeep, und sie drängten sich hinter uns. Meine Hand hatte in die Tasche des Regenmantels gegriffen, aber sie waren zu nahe, als daß ich die StarAutomatic hätte rausholen können. Brillenschlange sagte: «Wir wollen sie erst mal durchsuchen.» «Raus», befahl Querschläger. Wir kletterten raus. «Gegen die Wand!» Wir drehten uns um. «Du», rief Querschläger zu mir rüber, «rühr dich ja nich!» «Niemand rennt weg», sagte ich. «Keine Widerrede, verstanden!» «Um Himmels willen», sagte ich. Es war wie bei Lee und Willis, dieselbe Fresse, und ich fragte: «Was fehlt dir?» «Halts Maul, verstehste!» «Na, nimms nich tragisch.» «Halts Maul, Früchtchen, ich hau dir sonst eins über 189
den Schädel.» «Nimms nich tragisch.» «Hörste nich, Kerl? Nimm die Hände hoch! Sofort, Junge, sofort!» Er kam auf mich zu, grade wie Willis mit dem Hundegesicht. Ich schwang die Automatic, traf Querschläger schwer über den Mund, holte nochmals aus, in Richtung auf seinen Kopf, und schlug hart zu. Er ging zu Boden. Sie fingerten jetzt alle nach ihren Waffen. Ich lud schnell nach, aber die Automatic war schon geladen. Eine Patrone fiel klirrend auf das Pflaster. Der Fahrer wurde steif. Dann nahm er die Hände hoch. Der große Jude hielt seine auch in die Höhe, bloß der Schneekopp mit der Brille duckte sich hinter den Jeep. Als ich hörte, daß er Patronen in die 45er schob, griff ich mir den Juden und drehte ihn rum. Ich packte ihn am Kragen und hielt den Revolver von ihm weg. «Komm dort raus», rief ich Brillenschlange zu, «den Juden erwischts sonst.» Er steckte den Kopf hinter dem Jeep raus und duckte sich wieder; seine Brille glänzte im Licht. «Ich schieß los, also raus.» «Gut», sagte er, «schieß nich, ich komm.» Er stand auf. Querschläger lag neben dem Reifen, sein Nacken sah aus wie ein geknickter Ast, und sein Kopf blutete. Der Fahrer hielt bewegungslos die Arme empor. Mac stierte um sich. Brillenschlange hob die Hände hoch. «Wo is deine Waffe?» «Vor meinen Füßen», sagte er. «Ich hab sie 190
liegenlassen.» «Prima, vorwärts. Halt die Hände unten. Keine Mätzchen. Komm hier rüber zu deinem sauberen Freund. Du auch», sagte ich zum Fahrer. Ich ging rückwärts. Sie standen jetzt alle vor mir wie Salzsäulen. Mac wollte fortlaufen. «Mac», rief ich. Er blieb im Licht der Scheinwerfer stehen. «Hol ihre Waffen.» «Nein», sagte er. Er stand nur zwinkernd da. «Du holst sie augenblicklich.» Mac ging hinter den Schneekopp. Er lehnte sich rüber und hielt dann vorsichtig die Waffe nach unten. Er sah aus wie jemand, der einer Nutte unter die Röcke langt. «Leg die Waffen an den Vorderreifen», sagte ich. Als er alle 45er hatte, stopfte ich sie in die Taschen meines Regenmantels und beobachtete dabei dauernd meine Umgebung. Die drei Schneeköppe hatten sich nicht gerührt. Mac ging die Straße rauf. «Mac», rief ich. Er ging weiter. Ich ließ die drei Schneeköppe sich zur Wand drehen. Ihre Arme hingen lose runter. Ich stieß Querschläger vom Jeep weg. Sein Kopf fiel aufs Pflaster. Niemand war aus dem Café gekommen. Kein Mensch war auf der Straße. «He», sagte ich, «Fahrer!» Er drehte den Kopf. «Du fährst.» Ich kam um den Jeep rum und beobachtete ihn scharf. Er stieg vorsichtig ein. Mac war jetzt fort. 191
«Los», sagte ich. Die zwei standen noch immer unter der Straßenlampe. Querschläger lag ausgestreckt auf dem Pflaster. Der Fahrer beschleunigte das Tempo und ging scharf in die Kurve. «Probiers nich mit Verduften», sagte ich. Wir rasten die dunkle Straße rauf. Vor uns hoben sich die hohen Straßenbahnlinien auf dem Boulevard ab. Er ging vom Gas weg. «Fahr auf dem Boulevard links rüber», sagte ich. «Das is zur Stadt rein.» «Tu, was ich dir sag.» Er nahm die nächste Kurve gemächlicher. Der Boulevard lag leer und dunkel da. Das Gesicht des Fahrers glänzte gelblich im Innenlicht des Jeeps. Er blickte stur gradeaus. «Hör zu», sagte er, «hältste die Waffe in Bereitschaft?» «Sie is gesichert.» «Das is fein.» «Was zum Teufel is fein dran?» «Ich weiß, was es heißt, erschossen zu werden.» «Du hättst keine Chance.» «Willste heim? Ich mein, denkste nich an deine Familie?» «Fahr zu! Ich werd dich nich abknallen.» «Wie weit soll ich fahren?» «Wohin ich dir sag.» «Hör mal, ich weiß wies is. Ich war doch auch so ein Kumpel wie du. Ich hab mein Teil in Bulgarien abgekriegt. Ich war froh, als ich raus war. Vielleicht wär ich sonst an 192
deiner Stelle. Das is eben der Krieg.» «Hör bloß auf.» «Ich weiß, wie du dir vorkommst.» «Da weißte viel.» «Hör mal, wie weit soll ich noch fahren?» «Bis wir da sind.» «Das is der Weg zum Hauptquartier.» «Weiß ich.» «Am besten is, du verschwindst noch heut nacht aus der Stadt. Das ganze Bataillon wird hinter dir her sein.» «Is mir doch scheißegal, wer hinter mir her is! Kannst dem Querschläger ausrichten, das war für Lichfield gewesen. Sag mal, was hat unsereins bekommen? Ne RotKreuz-Göre, die Zeitungen austeilt? Oder Papier zum Heimschreiben! Quatsch! Ich weiß bloß, daß die verdammte Armee aus Kerlen wie Lee und Willis besteht und aus dem beschissenen Etappenoberst. Wenn die mir mal übern Weg laufen, knall ich sie ab. Erzähl ihnen, was du willst. Ich scheiß drauf, wer hinter mir her is!» Vor uns lag der Place Liszt. «Stopp hier», sagte ich. Der Jeep hielt mitten auf dem Platz an, der völlig dunkel war. Ich stieg aus. Der Schneekopp glotzte. «Iß nen Pfannkuchen auf meine Rechnung», rief ich, «und steck das Purpurherz nem General an den Hintern.» Er rührte sich nicht. «Fahr heim», sagte ich. «Ich werd ihnen sagen, daß ich dich woanders abgesetzt hab.» 193
«Nen Dreck wirste! Fahr heim und glotz nich so!» «Viel Glück, Mann. Wirst es brauchen.» Der Jeep fuhr an, in Richtung Bahnhof und Hauptquartier. Ich rannte los. Ich lief über den Platz und drehte mich um. Der Schneekopp fuhr brav davon. Seine Scheinwerfer strahlten die Häuser auf beiden Seiten hell an. Die Rücklichter glühten rot im Dunkel, wurden kleiner und verschwanden ganz. Ich rannte am Café Léon vorbei in die Seitenstraße, wo ich den Jeep abgestellt hatte. Er war weg. Ich rannte zurück zum Léon. Als ich die Tür aufmachte, überschüttete mich das Akkordeon mit plötzlichem Lärm wie ein Wasserschwall. «Du bist wirklich 'n Prachtkerl, Nicholas», sagte der Kripoknabe. «Hör zu», sagte ich zu Léon, «haste den Jeep gesehen?» «Ich hab heut viele Jeeps gesehen.» «Den um die Ecke. Ich hab ihn dort geparkt.» «Deine süßen MPs haben ihn mitgenommen», sagte der Kripoknabe. Dann grinste er. «War es deiner, Nicholas?» «Schnell, Léon, gib mir nen Schluck.» «Ein wirklicher Prachtkerl», wiederholte der Kripomensch. «Du hast Taschen wie der heilige Nicholas. Findste nich auch, Léon?» Léon zuckte mit den Schultern. Er schnitt ein schiefes Gesicht. Der Kripoknabe hockte an der Theke und fixierte 194
unablässig grinsend meine ausgebeulten Manteltaschen. «Das geht nen Belgier nix an», sagte ich. «Léon, was meinste, was er in den Taschen rumträgt?» «Durchsuch mich doch», sagte ich, und dann zu Léon: «Ein bißchen Tempo mit dem Drink!» «Du bist entschieden zu nervös», sagte der Kripoknabe. «Findste nich auch, Léon?» «Er hatte ne Auseinandersetzung», sagte der. Er schob mir das volle Glas hin. Der Kripoknabe schielte auf meine Hand, als ich es nahm. «Ich brauch ein Taxi», sagte ich. «Kann ich von hier aus eins haben?» «Wird zu lang dauern», sagte der Kripoknabe. Er schaute auf seine Hände runter. «Wird zu lang dauern, bis es da ist.» «Dann hau ich gleich ab», sagte ich. «Wär besser», nickte der Kripomensch. Ich bezahlte den Drink und lief zur Tür. «Gute Nacht, Nicholas», rief er mir nach. Ich drehte mich nicht um. Ich ging die dunkle Straße rauf, weg vom Boulevard, rein in die Dunkelheit. Als ich weit genug war, begann ich zu laufen. Die Straße war still, meine Schritte hallten. Zwanzigstes Kapitel Ich fand ein Taxi und nannte Henriettas Adresse. Sie saß mit ihrem Mann im Wohnzimmer, spielte Karten und trank Kaffee. Keins von beiden machte den Mund auf, und 195
ich auch nicht. In meinem Zimmer holte ich das Klamottenpaket vom Klo und legte die vier großen 45er aufs Bett. Ich steckte drei in das Paket zurück, die Star-Automatic und eine 45er dagegen unters Kopfkissen. Draußen fuhr ein Auto vorbei, die Reifen klatschten in Pfützen. Ich trat ans Fenster und schob unmerklich den Vorhang weg. Das Auto fuhr weiter. Ich legte mich hin, aber es nützte nichts. Also stand ich auf. Ich wickelte die CID-Uniform mit den USBuchstaben aus dem Paket und machte das Licht aus. Dann legte ich mich wieder hin und starrte zur Decke. Den Stuck hatte ich noch nie bemerkt. Lange lag ich so. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich die Augen schloß. Ich fuhr hoch. Das Licht brannte. Suzy war gerade reingekommen. Sie stand da und lächelte. «Du geträumt?» fragte sie. Ich fuhr mir übers Gesicht. Unter dem Kissen spürte ich die beiden Automatics. «Was ist, Chéri?» Mein Kragen war naßgeschwitzt. «Wie spät is es?» «Nach drei. Was ist los?» «Ich sitz schwer in der Tinte. Ich muß raus aus der Stadt.» Sie setzte sich aufs Bett. «Mit Henrietta stimmt was nich. Sie hat mich so blöd angeschaut», sagte ich. Sie zuckte mit den Achseln. «Warum müssen du weg, 196
Chéri?» «Ich sag dir doch, ich sitz in der Tinte!» «Mit MP?» «Dicke Tinte.» «Vielleicht kommst du mit zu Nora.» «Ein privée maison?» «Maison privée, oui. Nicht weit. Viele Corsomädchen dort.» «Wie sicher is es?» «Besser als hier, Chéri. Was ist los mit Henrietta?» «Ich weiß nich. Nur so'n komisches Gefühl. Vielleicht probier ichs fürn paar Tage mal bei Nora.» «Ganz dicke Tinte?» «Ja», sagte ich, «ganz dick! Ich weiß selber nich, wie's dazu kam.» Am nächsten Morgen gingen wir los. Suzys Absätze klapperten in der stillen Straße. Die Avenue Louise war leer, keine Autos, keine Trams. Es war wie am Sonntag. Kleine Wagen parkten unter den Bäumen am Randstein. Die ersten Blätter lagen naß und glänzend auf der Straße. Drüben in der Rue Jordan stand das maison privée groß wie ein Hospital. Eine Frau mit grobem Gesicht öffnete. Drinnen war ziemlicher Lärm. Suzy fiel der dicken Frau wie einer Schwester um den Hals. Wir gingen zur Küche. Ich konnte die Mädchen oben hören. Es klang wie in einem Internat. Zwei Nutten standen in der Küchentür. Sie kicherten, als sie mich erblickten. «Was wollt ihr?» fragte die Frau, die uns reingeführt 197
hatte. «Kaffee», sagte eine. «Bin grade dabei.» Sie rührten sich nicht vom Fleck. «Wir reden über Geschäfte», sagte die Frau. Ich kannte die beiden vom Corso her. Eine sah aus wie Betty Boop. Die andere zwinkerte mir zu. Sie war blond und zuckrig. Endlich gingen sie. Die Frau schaute ihnen nach und schnitt eine Grimasse. Wir saßen um den Küchentisch. «Ihre Mädchen sind ja sehr fröhlich», sagte ich englisch. «Es sind nicht meine Mädchen.» «Schläft noch jemand?» «Die Kunden sind weg.» Die Frau hatte ein großes, schwabbliges Gesicht, aber sie war nett, und mir gefiel die Art, wie sie lachte. «Wie heißen Sie?» fragte sie. «Nick.» «Schau her, Nick. Der Kaffee ist fertig.» «Mir is nich nach Kaffee.» «Ich heiße Nora», sagte sie. «Ich tät mich lieber in mein Zimmer verdrücken.» «Kein Muckefuck?» «Er ist zu müde», erklärte Suzy auf französisch. «Mein Mann hat viel hinter sich.» Die ganze nächste Woche regnete es. Ich verließ nicht ein einziges Mal das Haus. Jedesmal, wenn es läutete, ging ich ans Fenster. 198
Eines Nachmittags rief ich bei Monty an. Er tat überrascht. Er glaubte, ich sei im Gefängnis. «Sie haben jeden verhaftet», sagte er. «Mac und Alfred haben sie im Hôtel d'Angleterre geschnappt. Die schnappen jeden. Wo steckst du?» «Weit weg. Waren die Jeepnudeln auch bei dir?» «Non, mein Lieber, non!» «Hat Jacques dir das von Al und Mac erzählt?» «Non, andere. Wie gehts William?» «Ich hab dir doch schon gesagt, William is fort.» «Aha.» «Frag mal deinen Schwager Jacques, ob sie bei Madame George auch waren.» «Gut, mach ich. Rufst du später wieder an?» «Ja.» «Paß auf dich auf, Nicholas.» «Frag mal.» «Oui.» Ich hatte noch einen Fallschirm und die beiden Kameras. Eine konnte ich loswerden, aber mit der zweiten und dem Fallschirm hatte ich kein Glück. Ich rief den Wirt im Café Etoile an und sagte ihm, ich wüßte bis abends Bescheid wegen der Fallschirme, aber ich brauchte einen großen Wagen. Er versprach, mir einen zu besorgen. Suzy kam, als ich grade gehen wollte. Sie hatte die Waschbärjacke an. Das Fell roch naß. «Wohin gehen du?» «Nach Schaerbeek.» «Bist du verrückt?» 199
«Ich brauch Geld. Ich muß nach den Fallschirmen bei Madame George sehen.» «Ich kommen mit!» «Das is kein Spaziergang.» «Ich kommen aber mit, Chéri.» Wir nahmen ein Taxi und fuhren an Madame Georges Wohnung vorbei und einmal um den Block rum. Nichts rührte sich. Die Straße war leer. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Tür lag dunkel im schwachen gelben Laternenlicht. Wir gingen auf sie zu, während das Taxi wegfuhr. Die Reifen sangen auf dem nassen Asphalt. Die Tür war zu. Ich läutete bei der Concierge. Die Frau sperrte auf. Sie war ganz aufgelöst. «Grade war die Polizei hier», sagte sie französisch zu Suzy. «Sag ihm, daß die Polizei grade hier war.» «Ich hab verstanden», sagte ich. «Sie verstehen? Dann verschwinden Sie!» «Ja, gleich. Welche Polizei!» «Belgische Kripo.» Sie hielt die Tür fest und schaute unruhig die Straße rauf und runter. «Warum waren sie da?» fragte Suzy. «Meinen Sie, ich hab sie gefragt? Die haben mich ausgequetscht.» «Was is mit Madame George?» fragte ich. «Ach, die ist abgehauen. Die ist verduftet mit den anderen, schon vor zwei Tagen. Die kamen mit Laster und 200
haben die Fallschirme mitgenommen.» Da hast dus, mein Lieber! Bist ganz hübsch reingelegt worden! Genau wie du die anderen reinlegen wolltest. Sie brauchten das Zeug nur aufzuladen. Jetzt ist es zappenduster. Kein Geld, keine Papiere, keine Zivilklamotten, wie soll man ihnen da entgehen? Der Ast ist ab. «Weiß die Polizei von den Fallschirmen?» fragte ich die Concierge. «Sie wissen alles.» «Was ist denn hier los?» fragte jemand im dunklen Flur. «Wer ist da?» Der Mann der Concierge erschien in Hemd und Pantoffeln. «Ah, Nicholas», sagte er, «hast dus gehört?» Darauf wandte er sich an seine Frau: «Hast du ihnen von den Amerikanern erzählt?» «Welchen Amerikanern?» fragte ich. «Zwei; sie kamen mit der belgischen Polizei. Sie trugen Zivil, aber ich sah gleich, daß es Amerikaner waren. Sie fragten nach einem amerikanischen Soldaten, aber ich sagte, ich wüßte nichts.» «Das geht uns doch nichts an», sagte seine Frau. «Bitte Madame», sagte sie zu Suzy, «sagen Sie ihm, daß wir nicht in die Sache verwickelt werden möchten. Wir sind arme Leute.» «Nicholas ist in Ordnung», sagte der Mann. «Gehn wir», sagte ich. «Ich hab Sie nicht gesehen», sagte der Mann. «Ich hab keinen gesehen.» 201
Seine Frau schloß eilig die Tür. Suzy packte meine Hand: «Dalli, dalli!» Wir rannten los. Die Straßen lagen im Dunkel. Wir liefen rüber zum Boulevard und sahen eine hellerleuchtete Tram kommen. Suzy winkte. Wir stiegen ein, und während der ganzen Fahrt zur Avenue Galilée zitterte ich. Dort stiegen wir aus. Der Botanische Garten lag schwarz hinter der Mauer, Nebelschwaden wogten um die Bäume. Wir standen hinter den Steinsäulen am Eingang. «Der Wirt erwartet mich heut abend mit hundertsechzig Fallschirmen. Er weiß noch nicht, daß ich nur noch einen einzigen hab.» «Wer haben es Polizei verpfiffen?» «Woher soll ich das wissen?» «Später kommen ich zu Nora.» «Geh doch heut abend nicht zum Corso», sagte ich. Dann duckte ich mich hinter eine Säule. Ein Auto näherte sich. Aber es war nur ein belgisches mit langen Flaschen, wie Sauerstoffbehälter, auf dem Dach. Ich hielt die Pistole unter meinem Regenmantel fest umklammert. Suzy nahm meinen Arm. «Ruhig sein, Chéri», sagte sie. «Du gehst nich, nee?» «Ich kommen nachher. Kriegen ich einen Kuß?» «Nee.» «Dann holen ich mir einen», sagte sie, aber da merkte sie, wie abweisend ich dastand. «Sehen du was, Chéri?» fragte sie. Ich schaute die Straße runter. «Nix zu sehen.» 202
«Ich treffen le général heut abend.» «Ich weiß, du triffst heut le général», sagte ich, preßte sie fest an mich und küßte sie, aber als ich daran dachte, was sie vorhatte, stieß ich sie weg. «Ich hab gemeint, ich kanns überwinden. Vielleicht kannste auch ohne diesen Idioten auskommen. Wieviel zahlt er dir?» Sie sagte nichts. «Geh schon», sagte ich. «Sieh zu, daß er nen Herzschlag kriegt. So krepieren die immer. Hau ab!» Sie blickte zu Boden und ging. Ich sah ihr nach. Die Tram kam, und Suzy wartete an der Haltestelle. Sie hatte ihre Waschbärjacke an. Sie sah trotzdem gut aus. Ich blickte ihr nach, bis sie in die Tram stieg. Der Wagen fuhr langsam an und rasselte davon. Einundzwanzigstes Kapitel Bei Nora wickelte ich den Fallschirm in das Paket und nahm die Tram zum Café Etoile. Der Wirt stand steif hinter der Theke. Mir gefiel das gar nicht. «Was is los?» fragte ich. «Nix.» «Was heißt nix?» Seine Augen waren unruhig. Ich hatte das Gefühl, daß in ihm was vorging. Er sah auf den Platz hinaus. «Du verdammter Scheißkerl», sagte ich. Ich warf das Paket hin und ging zur Tür mit der Aufschrift WC. Das WC war draußen. Es war mit einer Mauer umgeben. Es gab nur einen Weg raus. An der Mauer entlang verlief eine 203
Pinkelrinne. Das Wasser lief fortwährend über das rissige Schwarz. Das Klo befand sich am Ende dieser langen Mauer. Die Tür war aus ungehobelten Brettern. Ich stieg auf die Rinne, konnte aber die Mauerkrone nicht erreichen. Es war zu hoch. Ich lief ins Café zurück, schnappte das Paket und rannte aus der Tür. Der Wirt stand noch immer hinter der Theke. Draußen war kein Mensch zu sehen. Auf dem runden Platz liefen alle Straßen zusammen wie die Speichen eines Rades. In dem riesigen Verwaltungsgebäude gegenüber brannten ein paar Lichter. Ich rannte zur nächsten Ecke. Da hörte ich einen Jeep. Der Scheinwerfer fiel aus einer Seitenstraße auf den Platz. Ein zweiter und ein dritter Jeep folgten. Ich konnte ihre Helme erkennen, zuerst grau, dann weiß. Im Nu waren sie da. Schon streiften die Räder am Randstein. Es ist sinnlos, nach der Pistole zu greifen, wenn eine Thompson auf einen gerichtet ist. Der Schneekopp war mit der Thompson im Anschlag halb von seinem Sitz aufgestanden und feixte. «Hallo, Nick», rief er. Jemand hatte mich verpfiffen. Wahrscheinlich Al oder Mac oder auch der Wirt. Nun fuchtelte der Funker mit seiner 45er rum, und der Fahrer langte nach seinem Schulterriemen. Ich hielt meine Hände so hoch, wie ich nur konnte. Noch zwei Jeeps spuckten ihre Ladung aus. In dem einen saßen CID-Leute. Die Schneeköppe kamen aufgescheucht daher, wie blutjunge Burschen an der Front, und auf mich zu. Ich kannte diese schießfreudigen Visagen. Ich hätte bloß zu niesen brauchen, sie hätten mich vor Aufregung umgelegt. Ich rührte mich nicht. Ich 204
reckte meine Arme bis zum Polarstern. Die CID-Knaben waren abgebrühter. Grinsend schoben und stießen sie mich vor sich her. Einer legte mir Handschellen an, ein anderer filzte mich. Er klopfte mich gründlich ab. Sie fanden die 45er und die Star. «Ausgezeichnet», sagte der Blonde, der mich durchsucht hatte. Er lachte dreckig. «Hat er nich an alles gedacht? Beide waren geladen.» «Er hätt geschossen», sagte ein anderer mit einem knochigen Gesicht. «Ich wollt, er hätts getan.» «Hast wohl Steine im Hirn?» fragte einer hinter mir. «Ich wollt, er hätts getan», sagte der blonde CID-Mann wieder. «Hätt mir Spaß gemacht.» Der Schneekopp mit der Thompson schubste mich zum Jeep. Sie waren jetzt alle um mich rum. Ich landete auf dem Rücksitz, und ein Schneekopp setzte sich links und einer rechts neben mich. Einer drückte mir seine entsicherte 45er unters Kinn. Knochengesicht befahl dem Fahrer: «Los, ab, wir sitzen hinter dir.» Mit einem Ruck fuhren wir an. Ich saß in Fahrtrichtung. Es war noch dunkel, der Wind blies kalt und schneidend. Meine Augen tränten. «Wir haben ne nette Überraschung für dich», sagte der Schneekopp mit der Thompson. «Wart nur, du wirst schon sehen.» Ein Schneekopp hielt mich an den Beinen fest. Sie taten schrecklich besorgt um mich. 205
Vorm MP-Hauptquartier am Place Rogier gafften ein Haufen Belgier, die vom Bon Marché oder vom AdolpheMax kamen. Drinnen stießen sie mich durch eine Drehtür vor einen Schreibtisch. Aus allen Türen stürzten Schneeköppe und glotzten. Sie keilten mich förmlich ein. Durch die Menge kam jetzt der große jüdische Unteroffizier von der Zivilstreife. «Is er das?» fragte ihn der blonde CID-Mann. Der Jude schlug die Augen nieder und nickte. «Is das der Scheißkerl, den Sie geschnappt hatten und der Sergeant Brannon zusammengeschlagen hat?» «Ja, das is er.» Ein anderer CID-Mann kam näher. «Grüß dich, du Type», sagte er, «hab ich dich nich vor einer Woche mit ner Puppe innem Café in Port Namur gesehn?» Ich sagte nichts. «Antwort!» schrie der blonde CID-Knopf. «Nee», sagte ich. «He, Früchtchen, wart nur, bis dich Kelly kleinmacht! Schon mal was vom Sternenbanner gehört?» Der Schreck fuhr mir in die Knochen. Ich erinnerte mich an Montys Schwager Jacques, an die blaugeschlagenen Augen, die geschwollene Nase und den Mund voller Blut. So sah er aus, nachdem ihn Kelly bearbeitet hatte. «Hat schon mal jemand mit deiner Rübe Billard gespielt?» «Das is nur die Ouverture», grinste ein anderer. Der Jude blickte ihn traurig an. Die anderen feixten. Ich 206
konnte den großen Juden nicht verstehen. Als sie meine Taschen geleert hatten, brachten sie mich runter in den Keller. Die Treppe war schmal. Ein ganzer Schwarm polterte mit mir runter. Grünliches Licht brannte. Die Wand war mit frischem Holz getäfelt, jede der vier Zellentüren mit einem schweren hölzernen Querbalken gesichert. Es roch muffig, nach Seife und Urin. Einige Gefangene starrten durch die vergitterten Öffnungen. Eine Zellentür wurde aufgestoßen. Faustschläge von hinten bugsierten mich rein. Die ganze Zelle war aus Holz, auch die Pritsche an der Wand. Genauso war es im Amigo. Ich setzte mich auf die Pritsche. Nach einer Weile hörte ich Musikfetzen. Ein Akkordeon, das schwere Dröhnen von Bässen. Gedämpft drang es stoßweise durch die Wand. Richtig, um die Ecke herum lag das Corso. Heute abend wollte sich Suzy dort mit dem General treffen, wars nicht so? Zweiundzwanzigstes Kapitel Zweimal hatte die Wache gewechselt. Es mußte früh am Morgen sein, als ich laut meinen Namen rufen hörte. Mir wurde kalt. Es klang wie «lion» und «dose». «Liondose», schrie es. «Wo is er? Wo is das griechische Arschloch?» Sie waren zu zweit. Der Schreihals war stockbesoffen. Er war gebaut wie ein Kleiderschrank, hatte rotes Haar und ein breites, flächiges Gesicht mit weit auseinander207
stehenden, kalten Krokodilsaugen. Das konnte nur Kelly sein. Er war Stabssergeant. Der andere war ein langer CIDBursche. Mir wurde flau im Magen. «Mach auf», sagte Kelly barsch zur Wache. Der Schneekopp nahm einen großen Schlüssel vom Tisch. Kellys Augen folgten ihm zu meiner Zellentür. Als er mich am Fenster sah, ballte er die Fäuste. Er hatte Pranken wie Kohlenschaufeln. Die Wache öffnete. Dann füllte Kelly die Türöffnung aus. Der CID-Mann grinste. Meine Beine zitterten, obwohl ich gern eine bessere Figur markiert hätte. «Komm raus», sagte er. Ich rührte mich nicht. «Komm raus, du Bastard.» Er packte mich am Hemd, riß mich raus und stieß mich in einen leeren, dunklen Raum, wo sie Honigeimer aufbewahrten. Er zog mich zu sich her. Ich roch seine Fahne. «Dein Freund Al hat gesungen», sagte er. «Er hat wunderschön gesungen. Das wirste auch gleich tun.» Er holte aus. Ein weißer Blitz war vor meinen Augen. Ich knallte gegen die Wand. Er packte mich wieder. Sein Gesicht war ganz nah, er knirschte mit den Zähnen. «Weißte, was wir daheim mit Polypenmördern machen?» Er holte wieder aus. «Weißte, was wir mit denen tun? Du Schwein, weißte das?» Er schlug zu. Die Wände drehten sich. Die Lampe über der Tür schoß in den Himmel. Er zog mich hoch und nahm Maß. Ich knallte an die eine Wand, dann an alle vier. Ich wollte ausholen. Aber 208
ich kam mir wie amputiert vor. Meine Hände steckten auf dem Rücken in Handschellen. Dann lag ich am Boden, und die CID-Visage war über mir. «Al und Mac haben schon unterschrieben», sagte er. «Fehlt nur noch Tony.» Ich keuchte: «Tony?» Kelly schlug zu. «Ihr Drecksäcke», stöhnte ich. Ich wurde hochgerissen. Kelly erwischte mich am Magen. «Wo is Tony?» Ich rang nach Luft. «Ihr habt den Tommy überfallen und das Flugzeug geklaut», plärrte der CID-Kerl. «Antwort, du griechischer Bastard», schrie Kelly. Er schlug zu. «War Tony mit dir und Bill am Flughafen?» Er packte mich vorn am Hemd und warf mich gegen die Wand. Ich knallte hart dagegen und rutschte zu Boden. «Antwort, Drecksau!» Ich konnte nur stoßweise atmen. Kelly trat mit dem Fuß auf mich. Ich zog mein Knie hoch, und er kippte. Ich zerrte ihn am Bein. Ziellos drosch er auf mich ein. Dann preßte er beide Knie auf meine Schultern und schlug mir ins Gesicht. Komischerweise spürte ich kaum was, außer daß mein Kopf hin und her flog. Nach einer Weile spürte ich nichts mehr. Der CID-Mann stand über mir. «Los, steh auf! Kelly is 209
weg.» Ich versuchte hochzukommen, aber ich versank wieder in Schwärze. «Machst du deine Aussage?» Ich schüttelte den Kopf. «Tus lieber, wenn du nich noch mehr abkriegen willst.» Ich stand schwankend aufrecht und sagte nichts. «Los, ab ins Loch», sagte er. Die beiden Schneeköppe starrten mich an. Es gab nichts, was mir nicht weh tat. Meine Kluft war schmutzig und weißgefleckt von den Wänden. Die Zellentür schloß sich hinter mir, der Querbalken wurde davorgeschoben, das Schloß schnappte zu. Ich tastete mich zur Pritsche, setzte mich und lehnte den Kopf an die Holzwand. Die beiden Wachen glotzten rein. Einer sagte: «Biste o. k.?» Ich sagte nichts. «Egal, was er gemacht hat», sagte der andere, «Kelly hat kein Recht, ihn so zu schlagen.» «Wenn der Saukerl mir so käme», sagte der erste. «Mein Gott», rief ein Gefangener aus einer Zelle. «Was haste denn verbrochen?» Ich schüttelte den Kopf, doch dann brach es aus mir wie von selbst heraus: «Nix, Kumpel, gar nix», und das Blut rann warm aus meinem Mund über das Kinn runter. Nach ungefähr einer Stunde kam Kelly zurück. Er ließ sich die Zellentür aufsperren. Ich saß da und starrte ihn an. «Steh auf, Schwein.» Ich blieb sitzen. 210
«Ich hab gesagt, du sollst aufstehen!» Kellys Pranken griffen zu. Dann traf er mich unter dem Kiefer. Ich ging zu Boden. Er zog mich hoch. «Ich könnt dich umbringen vor Haß», sagte er. Als seine Augen schmal wie Krokodilsschlitze vor mir waren, spuckte ich drauflos. Er wich aus, wie vor einem Schuß. Dann schlug er zu, und ich ging erneut zu Boden; ich würgte an dem hochsteigenden Blut. Ich spuckte und schüttelte den Kopf. Meine Arme! Ich konnte meine Arme nicht nach vorn bringen. Irgendwas hielt sie. Mein Kopf lag auf der Pritsche. Ich hörte Kelly zur Wache sagen: «Gib mir deine Waffe.» «Darf ich nich, Sergeant.» «Rück deine Kanone raus.» «Sergeant, wir sind im Dienst, wir können unsere Waffen nich hergeben.» «Du Schwein, du sollst mir deine Kanone geben!» Die Wache händigte den 45er aus. Kelly wischte das Blut aus seinem Gesicht. Er entsicherte die Waffe. Mein Kopf wurde plötzlich klar. Ich wußte, daß ich Handschellen anhatte. Kelly hielt die 45er schußbereit. «Jetzt wirste laufen, Grieche!» Mit der anderen Hand schlug er zu und stieß mich aus der Zelle. «Du wirst laufen, und ich werd dich abknallen.» Die Wachen erstarrten. Kelly stieß mich in Richtung Treppe. «Lauf schon, du Hund, lauf! Ich will nich mit deinem Blut bespritzt werden. Los!» Ein Schneekopp rief: «Corporal, Corporal!» 211
«Schnauze!» schrie Kelly. «Corporal!» Der CID-Mann und zwei Schneekoppoffiziere kamen die Treppe runtergestürzt. Ein Schneekopp sprang vor mich hin, und der CID-Mann griff nach der 45er. Kelly gab sie widerstandslos her. Sein Gesicht verlor jeden Ausdruck. Er sah aus wie Bill, wenn er betrunken war. Dann kam der Leutnant vom Dienst runter. Als er mich sah, zuckte es in seinen Augen. «Handschellen abnehmen», befahl er. Kelly ging mit dem CID-Mann die Treppen hoch. Ich rieb meine Gelenke. Sie waren aufgerissen, voller roter Striemen. Ich hatte Angst, mein Gesicht zu berühren. «Bringt den Mann in seine Zelle», befahl der Leutnant. Als ich drin war, redete der Schneekopp mit ihm. Die Offiziere standen rum, die Hände in den Hüften. Ich sah sie durchs Fenster. Dann gingen sie. Eine der Wachen reichte mir ein Handtuch durch. «Hier», sagte er, «wisch dir's Gesicht ab.» Ich war mit dem Handtuch vor dem Mund eingeschlafen. Das Blut war eingetrocknet, und das Handtuch klebte fest. Mein Kopf wollte auseinanderspringen. Die Rippen schienen sich nach innen zu bohren. Mein Gesicht war völlig aus den Fugen. Das eine Auge war zugeschwollen. Trockene Blutkrusten krachten, als ich die Kiefer bewegte. Das Licht war heller als sonst. Ich wußte nicht, wie spät es war, bis es Frühstück gab. Ich brachte nur den Kaffee runter, der dabei kalt wurde. Ich konnte die Kiefer nicht 212
bewegen. Eine Stunde später kamen sie alle runter. Es klang auf der Kellertreppe wie eine ganze Kompanie. Ein Haufen Schneeköppe drängten sich im Keller. Einige, die nicht mehr reinkonnten, waren auf der Treppe stehengeblieben. Ganz vorn ein kleiner Captain mittleren Alters. Er hatte die ganze Brust voller Lametta, noch vom ersten Weltkrieg. «Gut», schnarrte er, «sehn wir ihn uns mal an.» Ein kleiner Dünner riß die Zellentür auf. «Raus», keifte er. Ich kam raus. Sie starrten mich alle an. Der Captain zeigte mit dem Finger auf mich. «Schaut ihn euch gut an!» Mir war alles egal. Einige Schneeköppe wichen meinem Blick aus. «Wenn ihr ihn draußen antrefft», sagte der Captain, «habt ihr Befehl, ihn zu erschießen.» Der kleine Dünne brüllte: «Steh stramm, wenn dich ein Offizier anspricht!» Erst nach einer Weile merkte ich, daß ich gemeint war. Langsam nahm ich Haltung an. «Mach schon, du Bastard», schrie der Dünne. «Und für so was», fing der Captain wieder an, «ist mein Sohn gefallen.» Ich starrte ihn an. «Bei welcher Waffengattung gewesen?» schnauzte er. «Infanterie», sagte ich. «Sag Sir, wenn du mit einem Offizier redest», schrie der Kleine. «Sir», fügte ich hinzu. 213
«So, so, bei der Infanterie», sagte der Captain. «Jawohl, Captain.» «Wo eingesetzt?» «In Frankreich und Deutschland, Sir.» «An der Front gewesen?» «In der Normandie und in Deutschland.» «Wann warst du in Frankreich?» «Am Tag X, Sir, zur Stunde H.» «Lügner!» «Nein, Sir, ich lüg nich.» «Du unverschämter Dreckskerl», schrie der Dünne. «Einsperren», schrie der Captain. Am Nachmittag kam Kelly mit einigen Unteroffizieren runter, aber sie glotzten nur durchs Zellenfenster. Ich saß auf der Pritsche. «Willste mich wieder durchwalken?» sagte ich. «Denk lieber über dein Auge nach», sagte Kelly. Die anderen waren still. «Kommt ihr euch nen Affen anschaun?» fragte ich. «Ich hab nich immer so ausgesehn. Vorher war auch kein Pferd auf mir rumgetrampelt.» Ein Unteroffizier schüttelte den Kopf. Dann verzogen sie sich. Ein Schneekopp kam ans Fenster. «Mach dir nix draus», sagte er. «Werds versuchen.» In den nächsten Tagen kamen vor allem Offiziere runter, um mich anzugaffen, drei oder vier auf einmal. Jedesmal grüßte ich sie: «Kommt ihr in den Affenstall?» Sie 214
glotzten bloß. Nach einer Woche wurde ich ins Brüsseler Armeegefängnis verladen. Als erstes meldete ich mich krank. Der Doktor, ein Captain, machte große Augen, als ich ihm erzählte, was passiert war. Ich half mir mit dem alten Trick, schnitt mich in den Finger und drückte das Blut in das Uringlas. Der Armeearzt war Jude. «Die benehmen sich genauso wie die Nazis», sagte er grimmig, «genauso wie die Nazis.» Noch am selben Nachmittag wurde ich mit einem Munitionstransport ins Hospital verfrachtet. Es regnete. Die ganze Zeit über dachte ich dran, Kelly umzubringen. Dreiundzwanzigstes Kapitel Auf den paar Metern vom Auto zum Sankt-AntoniusHospital wurden wir pitschnaß. Zwei Schneeköppe mit Thompsons brachten uns die Treppe rauf. Als die Wache die Gittertür zuschlug, übergoß den ganzen Saal plötzlich ein purpurfarbenes Licht. Der Donner rollte gegen die vergitterten Fenster. Ein Patient schrie auf. Er schmiß sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und zitterte am ganzen Leib. Neben ihm hatte ein anderer sein Bein hoch in einem Flaschenzug. Er las den Jank. Auf der anderen Seite spielten zwei in Cordmänteln Dame. Der in der Mitte schrie weiter. Vom anderen Ende des Saals warf jemand ein Kissen nach ihm. «Halt die Schnauze», rief er. Der Patient verkrallte sich wimmernd mit gekrümmtem 215
Rücken ins Bett. «Tut ihr nix dagegen?» fragte ich den Pfleger. «Was denn? Der spinnt doch!» «Er spinnt keineswegs», sagte einer im Bett neben mir. Er saß aufrecht mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich. Er beobachtete gleichfalls den armen Kerl. «Was weißt du denn schon?» Der Pfleger führte den Gefangenen, der mit mir gekommen war, zu seinem Bett. Einer sagte: «Kümmre dich nicht drum. Das is bloß das Gewitter. So lange plärrt er gewöhnlich. Wahrscheinlich is er in seiner Jugend falsch behandelt worden und hat was gegen Kanonen.» Das kam von der anderen Seite. Er war offenbar ein Intellektueller und so blond, daß er kahl aussah. Hellblaue Augen blinzelten mich über eine Brille an. Ein dicker Wälzer lag aufgeschlagen auf seiner Brust. «Was weißt du denn schon vom Krieg?» sagte der erste. «Nicht viel.» «Er liest», sagte ich. «Ich heiße Walter Ellsworth Hughes», sagte der mit dem Buch. «Er is Professor», bemerkte der erste. Dann zu ihm: «Du warst ein kleiner beschissener Quartiermeister, du blöder Hund. Was verstehst du schon vom Krieg?» «Ich lese.» Der Professor zuckte mit den Schultern. Ich fühlte mich unbehaglich. Der Kerl vorn schrie noch immer. Ich begann meine nassen Kleider auszuziehen. «Ich heiße Johnny», sagte der erste. «Einer hat dich 216
vermöbelt, was?» Ich sagte nichts. Hughes schaute hoch. «Der Kerl da hinter mir heißt Harry», sagte Johnny, «der da, der pennt.» «Ich penn nich», sagte Harry. Er stierte zur Decke. Sie sahen wie Brüder aus. Beide waren knochig und hatten kurze schwarze Haare. Der Pfleger legte einen Pyjama, einen Cordbademantel und ein paar zusammengefaltete Handtücher und Decken auf die Matratze. Ich rieb mich trocken und vermied es, mein Gesicht zu berühren. Es blitzte wieder. Vor den schmalen, vergitterten Fenstern schwankten Baumwipfel. Träge folgte der Donner. Der Kerl hielt sich jetzt die Ohren zu. «Hat einen Tag im Hürtgenwald mitgemacht», sagte Johnny. «Weißte Bescheid?» «Ein einziger Tag an der Front hat ihn völlig kaputtgemacht. Er lief von der 4ten weg. Warste auch im Hürtgenwald?» «Ja.» «Ich auch.» «Wer war nich dabei», sagte Harry. «Eisenhower zum Beispiel», sagte Johnny, dann zu mir: «Bist du von der 28ten?» «Nee.» «Verwundet?» «Ja.» «Uns hats auch erwischt», sagte Johnny. «Seid ihr Brüder?» 217
«Nein. Sehn wir so aus?» «Ja.» «Wir sind ja alle Brüder», sagte Harry tiefsinnig. Noch einmal Blitz und Donner. Ich sagte: «Tönt wie die 88er, nich?» «Bloß nich drandenken», sagte Johnny. «Ich habs vergessen. Sie haben mir ein nettes Andenken verpaßt.» Ich sagte nichts. Ich dachte an den Hürtgenwald. «Das ist ne Bude, was?» sagte Johnny. «Für Syphilis, Idioten und TB.» «Er hat selber Syphilis», sagte Harry. «Großartiges Gefühl, nich?» «Halt doch die Klappe», sagte Harry. «Schon mal Schanker gesehn?» fragte mich Johnny. «Nee.» «Das schönste von allem. Mir gings noch nie so gut. Es is nich ansteckend. Glaubste? In der frischen Luft halten sich die Keime nich lange. In jeder Hinsicht prima, weißte.» «Und was is daran so prima?» fragte ich. «Kein Gefängnis.» «Kümmre dich lieber um den mit TB», sagte Harry. «Das is wahr», sagte Johnny. «Siehste den mit der Maske?» Unten im Raum hatte einer eine Sauerstoffmaske auf. Er saß im Bett. «Das is er», sagte Harry. «Wer hat dich so verschönert?» fragte mich Johnny. «Ein Schneekopp.» 218
«Und warum?» «Das is ne lange Geschichte.» «Ich hab Zeit», sagte Harry. «Ich hab fünfzig Jahre Zeit.» «Das stimmt», sagte Johnny. «Er fünfzig und ich dreißig. Vielleicht haste mehr Glück.» «Der auch nich», sagte Harry. «Niemand hat hier Glück.» «Doch, der Professor.» Dann fragte er mich: «Deserteur aus Liège?» «Aus Brüssel.» «Du hast doch Glück. Kriegst höchstens zwanzig oder dreißig Jahre. Alles, was sie bei denen von Liège kennen, ist lebenslänglich oder Strang. Ich kenn einen, der kriegt zweimal lebenslänglich und noch vierzig Jahre dazu.» «Der lebt zum Glück auch nur einmal», sagte Harry, dann zu mir: «Schon mal ausgebrochen?» «Klar.» «Haste 'n Mädchen?» «Klar.» «Ich auch.» Harry lachte auf und umarmte sein Kopfkissen. Dann stierte er lange zur Decke. «Sie is schon eine, mein Mädchen. Ich hab sie halbtot geknutscht.» «Vielleicht kenn ich den Schneekopp, der dich bearbeitet hat», sagte Johnny. «Wie heißt er?» «Kelly.» «Kenn ich doch nich.» «Haste nie probiert, ne Meldung zu machen?» fragte Hughes und sah mich über seine Brillengläser an. Ich hielt den Mund. 219
«Haste nie probiert, nen Brief rauszuschmuggeln?» fragte er weiter. «Das geht doch.» «Ich hab die Nase voll», sagte ich. «Der Professor hats fertiggebracht», erklärte Johnny. Solange das Gewitter dauerte, schrie der Kerl vorn. Er wollte einfach nicht aufhören. Ich baute mein Bett und legte mich hin. Ich dachte nach. Über den Krieg und über Kelly. Irgendwie kam ich wieder auf den Deutschen und fuhr im Bett hoch. Johnny rief rüber: «Was is los?» «Gar nix.» Ich war schweißgebadet. Der Pfleger kam grade rein und gab mir ein Zeichen. Ich hatte ihn schon mit dem Doktor draußen an der Gittertür gesehen. Der Doktor, ein Captain, war klein, trug eine Hornbrille und hatte einen dicken kleinen Schnurrbart. Er tat furchtbar eilig. «Los, zum Doktor», kommandierte der Pfleger. «Du bist der erste.» Das Büro lag am anderen Ende des Hofes. Der Doktor stand hinter dem Schreibtisch und blätterte Papiere durch. Dann hielt er zwei gelbe Karteikarten hoch. Auf der einen stand mein Name, das Gefängnis und unter Diagnose in großen Buchstaben: BLUT IM HARN. «Wer von beiden sind Sie?» fragte er. Ich tippte auf eine Karte. Er blickte mich prüfend an. «Hatten Sie eine Rauferei?» «Keine Rauferei, Doktor. Ich kam bloß in Manschetten, und dann hat mich ein Schneekopp vermöbelt.» «Wie bitte?» «Ich wollte sagen, ich wurde von einem MP-Soldaten 220
geschlagen, während ich Handschellen trug.» Er tat, als hätte er nicht recht verstanden. «Was ist bei meiner Harnanalyse rausgekommen?» fragte ich. Er machte ein großes Fragezeichen hinter die Diagnose. «Wir werden ja sehen, wie krank Sie wirklich sind. Rufen Sie den nächsten.» «Sie wollen mich nich untersuchen?» «Wollen Sie bitte den nächsten rufen?» Der Pfleger gab ein Zeichen. Als ich wieder im Bett war, grinste Johnny. «Is er dir auch so sympathisch?» «Er will seine kostbare Zeit nich an uns verschwenden», sagte Harry. Das Gitter am Fenster war mit einem Stahlrahmen festgeschraubt. Ein Löffel ist eigentlich kein Schraubenzieher, aber er war das einzige, was ich auftreiben konnte. Ich prüfte die Verschraubung. Ich spürte, wie alle hersahen. Später, als ich auf meinem Bett lag, kam Hughes rüber, den Daumen zwischen den Buchseiten. «Würd ich dir nich raten», sagte er lächelnd. «Was geht dich das an?» «Du bist unvorsichtig», sagte er. «Wenn du schon einen Ausbruch planst, so tu es weniger offen. Dich hört der ganze Saal.» Hughes setzte sich ans Fußende. «Hast du was dagegen?» 221
«Sei schon still.» «Wir sind bloß drei Stockwerke hoch. Mit ein paar zusammengebundenen Bettüchern könntest dus schaffen. Aber wie willst du durchs Gitter?» «Verdammt noch eins, sprich leiser.» «Tu ich doch», sagte er. Als Johnny zu uns hersah, hob er seine Stimme. «Du hast schon einen ausgefallenen Namen.» «Woher kennste ihn?» fragte ich. «Steht doch hier.» «Professor», sagte Johnny, «erzähl ihm was über das Buch, das du liest.» «Les Misérables», sagte Hughes. «Alles französisch», sagte Johnny. «Der Eierkopf kann Französisch, Deutsch und was weiß ich alles.» «Leonidas ist ein anspruchsvoller Name», sagte Hughes. «Weißt du, wer Leonidas in Sparta war?» «War damals nich mit dabei», sagte ich, aber es überraschte mich, daß er meinen Namen richtig aussprach. Es war das erstemal seit langer Zeit. Sonst wurde er immer verschandelt. «Soll ich dich allein lassen?» fragte er. «Bleib nur.» «Du bist mit den Nerven runter, was? Sag mal, spielst du Dame? Das ist alles, was sie hier haben. Ich finde es entsetzlich langweilig. Spielen wir trotzdem ne Partie?» «Hab keine Lust.» «Ich geh jetzt.» «Is gut.» 222
«He», sagte Johnny, «is der Professor nich schlau?» «Er spinnt nich», sagte Harry. «Stimmt», nickte Johnny. «Erzähl ihm doch, wie du die fünf Jahre bekommen hast», sagte Harry. «Lieber nich», sagte Hughes. «Unser Freund aus Sparta hat seine eigenen Sorgen. Ich nehm an, du bist Spartaner, oder?» «Verdammt, wenn ichs bloß wüßt», sagte ich. «Erzähl ihm doch, wie dich die Nutte verpfiffen und der Oberst geschnappt hat», sagte Harry. «Ich glaub, ich les lieber», sagte Hughes. Er legte sich wieder hin und rückte an seiner Brille. Johnny grinste. «Is das nix», sagte er. «Kannste dir vorstellen, daß du fünf Jahre bekommst, und alles nur deswegen? Kannste dir das bei dieser Scheißarmee vorstellen?» Ich sah zu Walter Ellsworth Hughes rüber. Er las und war weit weg von uns. Vierundzwanzigstes Kapitel Die folgenden Nächte hindurch versuchte ich die rostigen Schrauben in dem Stahlrahmen am Fenster mit dem Suppenlöffel zu lösen. Ein paar kriegte ich locker und eine raus, aber im übrigen bloß verkratzte und zerschundene Hände. In einer Nacht sprang das Nervenbündel im Bett hoch und schrie. Ich hätte beinahe den Löffel fallen lassen. Die 223
ganze Zeit hatte ich angestrengt gehorcht und war auf alles gefaßt. Aber als dieser Kerl losschrie, fuhr ich zusammen wie bei einem Schuß. Ich hatte mich noch immer nicht dran gewöhnt. Jedesmal sauste ich ins Bett, obwohl niemals jemand hereinkam. Ein paar Leute drehten sich schnaufend um, einer fluchte, das war alles. Bis es von vorn losging. Tagsüber schlief ich, sooft es ging, und Johnny sagte gewöhnlich: «Lieber Himmel, du nutzst das Bett aus. Kein Wunder, daß du 'n Deserteur bist. Du schläfst zu gern.» Eines Nachmittags, als Johnny sich hingehauen hatte und Harry mit seinem Kopfkissen an der Seite ins Leere stierte, kam Hughes rüber. «Schau dir bloß mal deine Hand an.» Ich ballte sie zur Faust. «Hab dich am Fenster rumturnen sehen», fuhr er fort. «Das ist dumm von dir. Selbst wenn du die Stäbe rauskriegst, fällst du runter und brichst dir das Genick. Willst du das unbedingt?» «Das verstehst du nich, Hughes.» «Und alles wegen diesem Militärpolizisten, der dich geschlagen hat?» «Hör auf, davon verstehst du nix.» «Sag mal, hab ich dir schon von meiner Verhandlung vorm Kriegsgericht erzählt?» «Nein.» «Gar nicht neugierig auf die Geschichte mit dem Nutscheln?» «Johnny hat so was gemurmelt.» 224
«Soll ich dirs mal ganz erzählen?» «Schieß los.» «Schon mal Mädchen gehabt, die genutschelt haben?» «Ne ganze Menge.» «Ich glaub nicht, daß es ungewöhnlich ist.» «Wenigstens nicht auf dieser Seite des Ozeans.» «Nun, ich versteh die Schwäche der Chinesen dafür. Schon gehört, daß im Mittelalter eine Frau, die so pervers war, auf dem Scheiterhaufen landete? Und weißt du auch wo? In Frankreich. Toll, was? Dann müßten heute zehn Millionen Französinnen – auf eine Million mehr oder weniger kommts nicht an – als Hexen verbrannt werden. Na ja, dann wäre das Übervölkerungsproblem gelöst. In unserem guten alten puritanischen Amerika tut mans im allgemeinen vor dem Geschlechtsverkehr – in Frankreich hinterher. Das ist der große Unterschied.» «Schon gut, du wandelndes Lexikon.» «Das steht kaum drin.» «Denk ich auch. Wo hast dus dann gelernt?» «Ich hatte lange Zeit dazu. Schwierig wirds dann, wenn man es im Büro seines Oberst tut. Hat Johnny dir das auch erzählt?» «Den Teil nich.» «Nun, ich benutzte nicht nur sein Büro, sondern auch seinen Stuhl und seine Puppe. Stell dir vor: ich im Sessel, sie kniet vor mir, sie nutschelt, wie man so sagt, und der Oberst kommt rein! Lustig, was?» «Nich so lustig, wenn man fünf Jahre dafür kriegt.» «Besten Dank.» 225
«Warste Quartiermeister?» «Nein, beim Transport. Ich war in Antwerpen stationiert und Dienstmädchen meines geliebten Oberst. Ich hatte es bis oben, wie man so sagt. Jeder hielt mich für bekloppt. Ich hätte eben besser aufpassen sollen. Aber mir stand es bis obenhin, dem Herrn das Bad zu richten, Essen zu kochen, sein Kammerdiener, Schuhputzer und Versorgungssergeant zu sein, sein Pimpf und Mädchen für alles; kurz, nur für seinen dicken Hintern zu leben.» «Hör zu, Hughes. Du hast nich fünf Jahre fürs Nutscheln bekommen. Wahrscheinlich hast du gemeutert.» «Mag sein, daß du recht hast. Ich habs auch schon vermutet. Du hast dein Verfahren noch vor dir, nicht wahr?» «Sieht so aus.» «Man kann es kaum ein ordentliches Verfahren nennen. Meines dauerte eine knappe Stunde. Sah ganz so aus, als ob der Vorsitzende ein Freund vom Oberst gewesen sei.» «Und dann wunderst du dich, daß sie dich verknackt haben? Aber wenn es die Puppe auch mit dem Oberst so getrieben hat –» «Du meinst, sie –» «Natürlich.» «Aber das ist Vermutung geblieben, nicht bewiesen worden. Ich konnte nicht beweisen, daß sie seine Freundin war, noch weniger, daß sie mit ihm dasselbe machte. Auf jeden Fall erlaubt die Armee so was nicht. Das ist Perversion.» 226
«Diese Scheißer.» «Ja, Pfadfinder, Kaugummisoldaten.» «Auf alle Fälle biste aus der glorreichen Armee entlassen.» «Aber nicht um Leavenworth herumgekommen. Nun ja, ich bin eben unheilbar pervers. Die höhere Instanz bestätigte das Urteil. Du siehst in mir einen gefährlichen Verbrecher, der Gast des Bundesgefängnisses in Leavenworth, Kansas, sein wird. Aber es gibt da einen Punkt, mit dem die Armee nicht gerechnet hat. Es wird ihnen schon noch ein Streich gespielt.» «Von wem?» «Reden wir wieder von dir.» «Was meinste mit dem Streich?» «Einfach das, Leonidas. Wir steigen beide aus. Aber du gehst den einen Weg und ich den anderen.» «Du tätst nie ausbrechen.» «Nein», sagte er und dann nichts mehr. Was immer er gemeint haben mochte, er behielt es für sich. Er freute sich wie ein Kind über mein Gesicht. Hughes konnte wie ein Wasserfall reden, über Gott und die Welt. Er erzählte einem zum Beispiel, daß George Washington ein scharfer Hund gewesen sei, oder redete stundenlang über Madame Pompadour und ihren Schlafzimmerumgang mit Ludwig XV., perverse Tricks, von denen wir nie im Leben gehört hatten. Und Johnny pflegte zu sagen: «Was wir hier alles dazulernen …» Oder über das Geschlechtsleben der Fliegen. Immer hatte man 227
das Gefühl, daß es ihn eigentlich gar nicht interessierte. Er schien sich über sich selbst lustig zu machen und etwas beweisen zu wollen. Offenbar hatte er es bewiesen und sich damit fünf Jahre in Leavenworth eingehandelt. Ich glaub nicht, daß er einen Dachschaden hatte. Er war nur irgendwie seltsam. Aber unter Leuten, bei denen jedes zweite Wort «ficken» und «scheißen» war, konnte er nichts werden. In der US-Army war kein Platz für Walter Ellsworth Hughes. Eines Nachmittags kam einer von der Latrine zurück und rief: «Das verdammte Klo ist kaputt. Verfluchter Dreck!» Hughes grinste: «Der IG wird in einer Stunde eine Inspektion abhalten. Scheußlich, wenn wir ohne Badezimmer dasitzen würden. Wie unhygienisch!» Ich schaute ihn an. «Woher weißte das?» «Von der Wache, zufällig. Heute abend macht der Pfleger dir einen Einlauf. Du brauchst garantiert ein Klo.» «Wo gibts noch eins?» «Unten, im zweiten Stock, wo keine Gitter mehr sind. Heute nacht wirst du ganz schön rennen müssen.» «Hast dus kaputtgemacht?» «Ich bin doch kein Klempner. Nebenbei, hast du bemerkt, wie aufmerksam der Pfleger ist? Erinnerst du dich an den Neger, der heute nachmittag eingeliefert worden ist? Seine Kluft liegt säuberlich gefaltet noch unter dem Bett. Ist doch nett von ihm, oder?» Ich schaute rüber. Wirklich, unter dem Bett lag eine Armeekluft. 228
«Wahrscheinlich kommt er direkt aus einem MPGefängnis», sagte Hughes. «Is auch kein P drauf?» «Nein. In der Nacht gehts am besten, nicht?» Die Inspektion war gründlich. Eine Gruppe von Feldärzten zog von Bett zu Bett. Bettlägerige mußten im Liegen Habtachtstellung einnehmen, der Rest stand am Fußende der Betten. Der IG, ein Oberst, sprach mit jedem und war verdammt höflich. Also war was passiert. Eine Schwester hinter ihm machte Notizen. Dann standen sie vor Hughes. Hughes machte Männchen und meldete stramm: «Die Latrine ist nicht in Ordnung, Sir.» «Wie lange schon, Soldat?» fragte der IG. «Grade passiert, Sir.» Der IG wandte sich an die Schwester, die eifrig pinselte. Lange blieben sie am Bett des TB-Patienten stehen. Kaum waren sie fort, marschierten zwei Pfleger mit einer Bahre rein und trugen den TB-Mann raus. Johnny rief dem Pfleger zu: «Was soll der ganze Mist, hilft ja doch nix.» «Frag deinen Freund Hughes», sagte der Pfleger. «Der Spinner hat eine Beschwerde beim Armeeüberwachungsausschuß in Washington eingereicht, daß hier ansteckende Kranke rumliegen.» «Isses die Möglichkeit», sagte ich. «Für Gefangene haben wir nur einen Saal, Mac.» «Und was is mit meiner Syphilis?» regte sich Johnny auf. «Ich bin doch auch ansteckend. Haste das auch gemeldet?» 229
Hughes grinste vor sich hin und sagte nichts. Von jetzt an marschierten wir einzeln zum Klo. Als ich dran war, schnaufte der fette Wachtposten schon wie ein Walroß. «Ihr seid wie verzogene kleine Kinder», sagte er wütend und watschelte wie ein Pinguin hinter mir her. Im ersten Stock war sein Schreibtisch, und im Stockwerk drunter lief der Flur direkt auf die Ärztezimmer zu. Am Ende des Ganges war eine Feuertür. Ich prägte mir alles genau ein. Wasser plätscherte ununterbrochen in die Becken. Der Pinguin blieb an der offenen Tür stehen. Ich schaute durchs Fenster. Es regnete. «Versuch nich zu hüpfen», schnaufte er. «Du hängst an der Leine. Unten wartet zarter Stacheldraht auf deine Knochen.» Er patschte auf seine 45er: «Ich hab ja auch hier so 'n Spielzeug. Erstens tätst du dir die Knochen brechen, und zweitens tät ich dir eins auf die Breitseite brennen. Meine Güte, brauchst du aber lang! Komm endlich runter vom Topf.» «Muß doch ein Vergnügen für dich sein, hier zu warten.» Als ich wieder im Bett lag, sagte der Pfleger zu mir: «Morgen bist du dran.» «Womit?» fragte ich. «Behandlung meiner Niere oder Prügel?» Aber er stand schon bei Hughes: «Sag mal, wie hast du diesen verdammten Brief hier rausgeschafft?» «Hab ich doch gar nicht.» 230
«Nee, du hast ihn nach Washington geflötet.» «Reg dich nicht auf. Du kannst einen Offizier der Vereinigten Staaten nicht erpressen. Sie sind über jeden Vorwurf erhaben.» «Kann man von dir kaum behaupten.» «Er tut wieder mal heimlich, der Professor», sagte Johnny. Eine Stunde später kam der Pfleger mit einem Glas voll glänzendem Zeugs rein. «Was isn das für ne Brühe?» fragte ich. «Rizinusöl, Mac. Später kriegst du noch 'n Klistier. Du mußt schön sauber sein für die Untersuchung morgen.» Hughes grinste. Ich wartete, bis sich das Stahlgitter wieder hinter ihm geschlossen hatte. «Hör mal», sagte ich dann zu Hughes, «warum tuste das alles?» «Ich hab Spaß dran.» «Du weißt doch, nur einer von uns hat ne Chance.» «Stimmt. Übrigens hat der Neger Schanker. Aber es besteht keine Ansteckungsgefahr mehr. Er hat seine Kluft 'n paar Stunden lang nicht getragen. Er ist allerdings größer als du.» Ich sah zu ihm rüber. Er war groß und knochig und todtraurig. Niemand sprach mit ihm. «Zu vorgerückter Stunde», sagte Hughes, «wird es am leichtesten sein. Du wirst schnell sein müssen. Die Wache weiß, daß du einen Einlauf hinter dir hast. Wenn du Gewalt anwenden mußt, trifft es hoffentlich das fette Ekel.» 231
«Sag bloß, Hughes, warum tuste das? Und nich mal für dich?» «Nun, ich seh es ungern, wenn du aus dem Fenster fällst. Wahrscheinlich hast du auch was dagegen. Trotzdem glaub ich, daß du so was wie einen Selbstzerstörungstrieb hast.» «Red kein Mist.» «Ich möchte sogar so weit gehen und behaupten, daß du ganz schön die Schnauze voll hast, wie man so sagt. Ich weiß nicht warum, aber ich vermute, daß du dich im Grunde am liebsten umbringen würdest.» «Das is doch Phantasie.» «Vielleicht.» «Das stammt doch nicht von dir.» «Doch, mein Lieber. Ich hab dich lange beobachtet.» «Du kennst mich erst seit 'n paar Tagen.» «Stimmt. Aber ich kenn dich trotzdem. Ich hoff, es macht dir nichts aus. Übrigens siehst du wieder ganz manierlich aus und wirst keine kleinen Kinder mehr erschrecken. Ich war dir mal ähnlich. Jetzt nicht mehr. Du wirst immer wieder davonlaufen, du mußt einfach.» «Hör mit dem Stuß auf. Wann haste dir das alles ausgedacht?» «Ist mir so eingefallen.» «Ja, aber weshalb?» «Hast dus nicht bemerkt? Nein, das hast du nicht.» «Was bemerkt?» «Diese Flecken da. Ich hab eine Blutkrankheit, die sich durch eine Veränderung der Milz und des Knochenmarks 232
bemerkbar macht, Leukämie genannt. Keiner von diesen studierten Idioten ist draufgekommen. Ich werd in etwa sechs Monaten tot sein.» Ich starrte ihn an. «Hier jedoch», grinste Hughes, «in drei Monaten. Ich werde leider das Zuchthaus in den Staaten nie zu sehen bekommen.» Ich brachte kein Wort heraus. «Sie tun, was sie können. Aber was können sie hier schon tun? Ich denk nur ungern dran.» «Und man läßt dich immer noch hier», sagte ich. «Nun, schließlich bin ich unheilbar pervers. Und wer weiß, ob ich sonst so interessante Leute kennengelernt hätte.» «Ja, wir sind unheimlich interessant.» «Ich sollte mich jetzt verabschieden.» Walter Ellsworth Hughes nahm die Brille ab, rieb seine Augen mit Daumen und Zeigefinger, nahm das Buch von der Brust, schloß es und legte es neben sich. Dann sagte er was Komisches zu mir: «Auf Wiedersehen also, Leonidas. Dir wollte ich schon immer mal begegnen.» Als es dunkel geworden war, schlich ich zu dem Neger rüber und nahm seine Kluft. Sie stank nicht schlecht. Ich zog den Schlafanzug drüber, stülpte den Kragen nach innen und rollte die Hosenbeine unter dem Schlafanzug ein paarmal hoch. Jetzt hatte ich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Pinguin. Die Wache ließ mich allein zum Klo gehen. Der Kerl 233
hatte die Füße auf dem Tisch und las den Topper. Erst als ich die Holztür aufgemacht hatte und vor der Gittertür stand, bemerkte er mich und blickte gelangweilt hoch. Mechanisch schloß er das Gitter auf und blieb gähnend daneben stehen. «Tut mir leid», sagte ich, «aber es is dringend.» «Weck möglichst niemand auf.» Auf dem ersten Treppenabsatz fragte ich ihn: «Was is das für 'n Buch?» «Umwerfend», erklärte er. «Der Kerl wohnt im sechsten Stock, direkt unter dem Dach, und die Dame ruft die Polypen, weil ein Ungeheuer durchs Fenster reinpeilt. Die Polypen halten sie für ne Nutte.» «Ich machs kurz», versprach ich. «Nimm dir nur Zeit», sagte er. Er setzte sich an den Tisch, und ich ging allein die Treppe runter. Ich schaute mich um. Er saß friedlich da und las. Im Klo zog ich den Schlafanzug aus. Die Ärztezimmer lagen im Dunkel. Ich erinnerte mich genau an den Weg. Ich war jetzt nahe am Hauptposten. Ich stieß gegen einen Eimer, dann fühlte ich die Tür und tastete nach der Klinke. Sie ging auf. Draußen war Nebel. Ich stieg die Feuerleiter runter. Die Stangen, die den Stacheldraht hielten, schienen aus dem Nebel herauszuwachsen. Darüber hingen gelbleuchtende Scheinwerfer. Ich wollte schon durch den Draht steigen, als ich sah, daß das Tor offen war. Ein Jeep war ganz in der Nähe abgestellt. Der Schlüssel steckte, das Steuerrad war nicht angekettet. Ich wendete 234
und fuhr auf die Aschenbahn. Alle Wege führten wahrscheinlich zum Haupttor. Ich versuchte, hinter den Wachen rauszukommen. Ich stieß auf einen kurzen Weg, der aber in einem Acker endete. Ich wendete. Vorn am Haupttor kam die Wache langsam aus ihrer Bude und ging gleich wieder rein. Langsam fuhr ich auf das Tor zu. Da bemerkte ich, daß der Weg draußen plötzlich nach links ging. Ich trat auf das Gaspedal und machte mich auf alles gefaßt, aber der Wachtposten fragte nur: «He, wie spät isses?» «Gegen vier.» «Verflucht», sagte er. Das war alles. Auf der Straße wollte ich beschleunigen, aber der Nebel war zu dicht. Ich konnte kaum die Straße erkennen. Ich fuhr langsamer und steckte den Kopf immer wieder raus. Nach einer Weile stellte ich fest, daß ich falsch gefahren war. Ich wendete und hielt an. Auf dem Rücksitz lagen ein Mantel und ein großer Koffer. Wahrscheinlich Gepäck für die Staaten. Ich faltete den Mantel auseinander und suchte nach einer Schußwaffe. Ich fühlte was Hartes, Vertrautes. Es war eine deutsche Schmeißer, allerdings ohne Munition. Als ich weiter rumwühlte, zog ich ein breites deutsches Leinenholster heraus, gefüllt mit drei vollen Munitionskammern, wie bei einer Thompson. Ich lud die Schmeißer, spannte den Hahn und sicherte.
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Fünfundzwanzigstes Kapitel Am frühen Morgen kam ich am Gare du Nord vorbei. Die große Uhr am Bahnhof zeigte sieben. Arbeitermassen drängten sich in die Trams. Ich fühlte immer wieder nach der Schmeißer unter dem Regenmantel. Das MPHauptquartier an der anderen Seite des Platzes war zu und so still wie ein Café um diese Zeit. Die großen Fensterscheiben glänzten in der Sonne. Die Oberleitung der Tramlinie führte hier gradewegs nach Molenbeek. Die Straßen waren eng und leer. Ich rollte über die schmale Kanalbrücke und kam auf die Rue des Osiers. Gegenüber von Suzys Wohnung stellte ich die Karre ab. Die beiden Eingangstüren waren groß wie Stalltüren. Ich prüfte, ob die Luft rein war, und versteckte die Schmeißer sorgfältig unter dem Regenmantel. Eine der Türen zum Hof ließ ich offen. Bevor ich klopfte, sah ich mich nochmals nach dem Jeep um. Ein kleiner Belgier mit Mütze und einem dicken Schnurrbart kam an die Tür. Ich sagte ihm, daß ich Juliette sprechen wolle. «Juliette nicht hier», sagte er. Ich hörte Suzy: «Wer ist da, Papa?» Ihr Papa sah mich feindselig an. Da kam sie an die Tür. In der Wohnung hörte ich ein Kind und eine Frau sprechen. «Tja», sagte ich. Ich fühlte mich beschissen. Suzy kam auf den Treppenabsatz raus und zog die Tür hinter sich zu. Sie trug eines ihrer enganliegenden Corsokleider. Ich sah die Spalte zwischen ihren Brüsten. 236
Das Haar hatte sie nachlässig hochgesteckt, eine lange Strähne hing im Nacken runter. «Du bist eben heimgekommen, was?» «Nicht hier sprechen», sagte sie. Die Steintreppe ging auf den dunklen, muffigen Hof runter. An der Tür sah sie den Jeep in der Sonne. «Ich komm direkt von den Schneeköppen zu dir.» Suzy schwieg. «Sag doch, du freust dich – oder sonstwas», sagte ich. «Du haben Jeep genommen? Du partirl» «Ich partir, ja.» Ich küßte sie. Sie ließ die Arme herabhängen. Sie roch nach Cognac. Ich ließ sie los, und sie starrte auf das Paket mit dem Regenmantel und der Schmeißer. «Warum du kommen zurück?» fragte sie. «Warum, ja, was meinste?» Ich drehte mich um und wollte gehen. Sie nahm meinen Arm. «Chéri, wohin gehen du?» «Weiß nich.» «Du Dummkopf. Du partir aus Gefängnis, zu sehen Suzy?» «Du weißt eben nich, was in so nem Gefängnis los is.» «Du lieben Suzy so sehr?» «Nee», sagte ich. Da stand ich in meiner schönen, verschwitzten, stinkenden, mit verkrustetem Eiter bedeckten Kluft. «Gehen du zu Nora?» «Wahrscheinlich. » «Ich komme dorthin. Ein bißchen schlafen ich. Dann 237
kommen ich.» «Ja, du hast schwer gearbeitet.» «Auf bald, Schatz. A deux heures kommen ich.» Sie lächelte jetzt. Dann wisperte sie: «Auf bald, mon amour.» Sie gab mir einen Kuß und verschwand. Draußen starrte ich lange auf den Jeep, auf die weißen Lettern der Aufschrift «Kaplan» am Rahmen der Windschutzscheibe. Eine Frau schüttete einen Eimer Wasser in die schmutzige Rinne. Das Wasser dampfte. Sie fegte es mit einem Besen weg. Ich ließ den Jeep an und fuhr am MP-Hauptquartier vorbei. Diesmal ertappte ich mich bei dem heißen Wunsch, alle Fenster mit der Schmeißer einzuschießen. In Noras Küche waren die Nutten neugierig auf den Koffer. Eine Blondine setzte sich auf meinen Schoß und fuhr mir durch die Haare. Eine andere probierte an den Schlössern. «Laß die Finger davon», sagte ich. «Was is drin, Nicholas?» «Geht dich nix an.» «Was isses denn?» «Laß sein. Tät dir gar nich gefallen.» Ich wußte inzwischen, was drin war. Es war zum Wegschmeißen, ein Weinkelch und andere Sachen, die ein Priester im Feld braucht. Und so was in einem Bordell! Die Nutten waren so wild drauf wie Pandora auf ihre Büchse. Nora jagte sie endlich raus. Ich erwähnte, daß ich den Wagen weiter oben in der 238
Straße geparkt hätte. Sie wußte eine Garage nicht weit weg, in der Rue de Joinckers. Auch sie schielte immer wieder auf den Koffer. «Frag nich», sagte ich. Später sagte Nora englisch: «Ach ja, ein kleiner komischer Belgier hat sich nach dir erkundigt.» «Hier?» «Kennst du einen gewissen Jacques?» «Isses ein kleiner mitm komischen Gesicht, so zappelig?» «Ja, ein ulkiger Vogel.» «Wie hat er rausgekriegt, daß ich hier war?» «Kennst du ihn?» «Klar, er is der Schwager von Monty. Wann is er hier gewesen?» «Grad als du weg warst.» «Wie hat er die Adresse rausgekriegt?» «Vielleicht steckt 'n Mädchen dahinter. Ja, so isses wahrscheinlich.» «Und was wollt er?» «Irgendwas mit Geschäften.» «Naja, kann nich viel sein. Werd ihn anrufen.» Ich brachte den Jeep in die Garage. Dann rief ich Monty an. Er hatte mich schon abgeschrieben und fragte nach Bill und den anderen, als wenn ich sie gesehen hätte. Ich fragte ihn, was Jacques wolle. «Wart 'n Moment», sagte Monty. Jacques kam selber ans Telefon. «Bist dus, alter Junge?» «Ich hab gehört, daß du in einem gewissen maison privée warst und nach mir gefragt hast.» «Ich hab was für dich.» 239
«Haste einem die Adresse gegeben?» «Würd ich nie tun. Nicht mal Monty kennt sie.» «Is auch besser so.» «Keine Angst, ich bin dein Mann. Hör zu, alter Junge, so ein großer Kerl vom marché-noir hat dich gesucht. Kennste einen Albert Groonberg?» «Ja.» «Er hat in ganz Schaerbeek nach dir gesucht. Meinte, es sei wichtig. Du kannst ihn im Café Universal anrufen. Weißte, wo das is?» «Klar. Und du hältst den Mund, ja?» «Mach dir keine Sorgen!» «Jacques, ich bin dir sehr verbunden.» Warum hatte sich bloß Al Groonberg die Mühe gemacht, nach mir rumzuschnüffeln? Ich hatte nur ungern mit diesem Typ zu tun. Bisher war nichts Gutes dabei rausgekommen. Er war einer von den üppigen Tweedmänteltypen auf der Terrasse des Café Universal am Place du Brouckere. Sein Hauptgeschäft bestand darin, holländische Gulden für belgische Francs zu verkaufen. Zwar konnte man seine Gulden in jeder Militärwechselstube loswerden, solange man Scheine hatte. Aber der Schwarzmarktkurs war so günstig, daß man sein Geld mit ein bißchen Talent verdoppeln konnte. Das Risiko trug man selber. Al hielt sich völlig raus. Einmal sah ich ihn im Universal mit einem Oberst vom Flugplatz. Al erzählte später, der Oberst habe grade holländische Gulden im Wert von tausend Dollar gekauft. Wenn er sie zu einer Militärwechselstube brachte, würde 240
er tausend Dollar gewinnen. Auf dem Schwarzmarkt verdiente er so nebenbei dreitausend pro Woche. Ich wollte nicht anrufen, aber als Suzy bis fünf nicht kam, fing ich an, mich zu ärgern, und kam wie von selbst auf das Thema Kelly. Schließlich rief ich an, aber im Universal sagte mir einer, er sei erst zwischen fünf und sechs da. Um sieben telefonierte ich wieder und erwischte ihn. Zuerst tat er, als habe er noch nie von mir gehört, obwohl der blöde Hund in ganz Schaerbeek nach mir gesucht hatte. «Ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich an Sie, die beiden Amerikaner. Der andere, der William, der ständig so 'n bißchen – wie soll ich sagen?» «– besoffen war.» «Ja, richtig. Wie gehts Ihnen?» «Machs kurz, Al. Ich hab gehört, du hast mich gesucht.» «Ja, hab ich, können Sie nich rüberkommen? Ich hab was für Sie.» «Al, ich kann nich rüberkommen.» «Irgendwas faul?» «Ja.» «Ich versteh. Schwierigkeiten mit den lieben Freunden.» «Mit deinen Freunden, Al, wenn du was Günstiges hast, wo man schnell was verdienen kann, bin ich dir dankbar. Ich brauch Geld zum Abhauen.» «Kommen Sie doch in meine Wohnung! Wo sind Sie jetzt?» «Nich weit von Louise.» «Avenue Louise? Ausgezeichnet. Ich wohn ganz in der Nähe.» Er nannte mir die Adresse. «Kommen Sie morgen 241
früh.» «Wie isses mit heute abend?» «Ja, das ist günstiger für Sie. Sagen wir gegen neun?» «Gut.» Ich rasierte mich, warf mich in die Uniform eines Fliegermajors und steckte zwei 45er ein. In der Avenue Louise sah ich einen Schneekoppjeep auf Patrouille. Ich wartete in einem Hausgang, bis er vorbei war. Dann rollte noch einer langsam in dieselbe Richtung. Drei Kreuzungen weiter oben sah ich sie nebeneinander herfahren. Ich hielt mich im Schatten der Bäume. In der Rue le Magistrat brannte nur eine Straßenlaterne. Der Wind fegte nasse Blätter von den Bäumen. In Als Wohnung hörte ich Stimmen. Ich klopfte an. Al war ein einziges Grinsen. «Major», sagte er, «wirklich, Sie haben sich verbessert.» «Wer is noch drin?» «Alles Freunde. Ich werd sie vorstellen.» Zwei grüne GIs und ein paar Belgier saßen im Wohnzimmer. Die beiden GIs sahen aus, als würden sie jeden Moment in die Hosen machen. Ich zog Al am Arm. «Da drüben kann ich nich reden, Al.» «Stimmt was nich?» «Nee, es stimmt was nich.» «Gut, gehn wir in die Küche», sagte er. In der Küche fragte ich ihn: «Was sind das für zwei Bubis?» 242
«Die Amerikaner? Die gehören zum selben Verein wie Sie.» «Sehen auch ganz so aus. Die machen Gesichter, als täten sie Zwillinge kriegen.» «Ich hab ihnen noch nichts von Ihnen erzählen können. Sie haben ne schlimme Zeit im Gefängnis hinter sich und brachtens fertig, auszurücken. Wirklich alle Achtung.» «Das sind doch Kinder, Al.» «Aber nett. Und ich kann mich unbedingt auf sie verlassen.» «Al, schick sie nach Hause. Die gehören doch in den Kindergarten.» «Die wissen, woraufs ankommt.» «Na schön. Kommen wir zur Sache.» «Ich muß Sie zunächst warnen. Es is nicht ungefährlich. Sie sind, wie ich seh, interessiert.» «Hab ich schon gesagt.» «Gut. Wenn ein Belgier zur Bank geht, wohin geht er dann? Ich mein keine richtige Bank.» «Ich weiß, Al. Du meinst den Schwarzmarkt.» «Genau. Wissen Sie, wo der größte ist?» «Im Universal.» «Nee, ein ganz unschuldiges kleines Café. Heißt Café d'Or. Is doch 'n passender Name, nich? So um den 2. November – genau weiß ichs noch nicht – werden dort mehr als zehn Millionen belgische Francs sein. Können Sie ausrechnen, wieviel das in Dollars ist?» «Bei diesen Beträgen hab ich Schwierigkeiten.» «Nun, sind Sie immer noch interessiert?» 243
«Machen die grünen Jungs mit?» «Die beiden Amerikaner? Ja, natürlich.» «Diese Gören?» «Mit einem dritten Mann, das werden Sie sein. Ich würd nich lange überlegen. Die Leute aus dem Café haben mit den Deutschen kollaboriert.» «Du mußt ja deinen Schwanz nich reinstecken, Al. Daß diese Kindsköpfe dabei sind, das macht mich nervös.» «Keine Angst. Die haben Erfahrung.» «Red keinen Stuß, Al. Ich bin schon länger von der Armee weg, als die drin sind.» «Aber ich kann Ihnen versichern, die sind in Ordnung.» «Es is doch 'n Raubüberfall, oder nich, Al?» «Könnte man sagen. Sie glauben doch nich, so ne Menge Geld läßt sich ohne Kanone verdienen. Oder?» «Das is 'n Ding, Al.» «Vielleicht darf ich Sie an einen kleinen Vorfall erinnern. Ich hab gehört, was Sie mit den vier MPs angefangen haben. Sie haben Talent.» «Talent?» «Aber sicher. Genau die Nerven, die man dazu braucht. Reichen zehn Mille Francs als Vorschuß?» «Mach keine Witze. Ich brauch pekuniäre Rückendeckung. Es is noch ne Weile bis dahin. Und es kann mir vierzig Jahre Leavenworth einbringen. Oder mehr.» «Also gut, fünfundzwanzig.» «Fünfzig.» «Zuviel. Absolut unmöglich.» 244
«Al, wenn ich das Talent hab, wovon Sie sprechen, dann bezahlen Sie fünfzig, oder ich hau auf der Stelle ab.» «Also gut.» «Ich nehms gleich mit.» «Geht nich, bin grade knapp!» «Wann warst du jemals knapp?» «Ich werds Ihnen in die Wohnung bringen lassen. In einem versiegelten Umschlag. Niemand wird erfahren, was er enthält. Reden Sie von Papieren.» «Gut. Aber etwas brauch ich gleich, fürs nackte Leben.» Er gab mir eine Mille und tat, als ob ich ihn bis aufs Hemd ausziehen würde. Im Wohnzimmer machte tatsächlich einer von diesen Bubis fast in die Hosen, bis Al mich vorstellte. Seine Frau bot mir einen Cognac an. Ich lehnte ab und sah mir die beiden an. Einer nannte sich Richie. Sein Haar war schwarz gefärbt und zeigte an den Wurzeln einen rötlichen Schimmer. Er war erst neunzehn, sah aber älter aus. Der andere hieß Beck und war genau achtzehn. Er trug ein breites, freches Grinsen zur Schau, redete ziemlichen Stuß und sah so aus, als wäre er bloß Richie zuliebe abgehauen. In der Armee hatten sie nur ein kurzes Gastspiel gegeben. Die meiste Zeit hatten sie gesessen. Sie waren grade aus dem Brüsseler Armeegefängnis ausgerückt, unterm Stacheldraht durchgekrochen. Und Al nannte das Erfahrung! Am nächsten Morgen tanzte Beck mit dem Umschlag bei Nora an. Er fing gleich an zu quatschen. Richie läge mit Als Frau im Bett. Höchst wichtig berichtete er: «Sie spielen 245
neunundsechzig dabei.» Mich interessierte nur das Kuvert. Im WC riß ich es hastig auf. Das Geld stimmte, neunundvierzig Mille. Blöd von Al, daß er glaubte, ich würde bei so ner riskanten Sache mitmachen. Als ich vom Klo zurückkam, fragte Beck: «Was soll denn das geheimnisvolle Getue?» «'n paar Papiere, die ich brauche», sagte ich. «Was für Dinger?» «Geht dich nix an», sagte ich. «Geh doch nich gleich so auf. Die Leute ham alle keine Nerven mehr.» «Schon gut. Hör mal, ich organisier jetzt ne Nutte für dich.» «Das mach ich alleine.» «Wie du meinst.» Er tat beleidigt, aber später wurde er wieder lustig und wollte wissen, wie viele von den Mädchen bei Nora ich schon gehabt hätte. Als ich sagte, keine, sperrte er Mund und Nase auf: «Sind Sie krank oder fehlt Ihnen was?» «Jetzt wirste mal eine kennenlernen.» «Nee, das mach ich selber. Was sagen Sie dazu, daß Richie und Als Frau neunundsechzig spielen?» «Was is das?» «Tun Sie doch nich so, als ob Sie das nich wüßten! Wenn man sich verkehrt dazu hinlegt.» «Wozu hinlegt?» «Nu hörnse aber auf!» «Erzähl mir lieber, wies im Gefängnis war.» «Ja, das war 'n Ding.» 246
«Und ihr wollt wieder 'n Ding drehen?» «Ham Sie schon mal eins gedreht?» «Nee», sagte ich, «und ihr auch nich.» «Al hat aber so was erzählt. Sie wärn 'n ganz toller Hecht, ne richtige Respektsperson. Die MP hätte Scheißangst vor Ihnen. Ham Sie wirklich viere umgehauen?» «Nee, es lag ein bißchen anders.» «Richie meint, Sie sollten ihn mal zum Café rüberfahren. Sie ham doch 'n Jeep.» «Zu was für 'm Café?» «Zu dem Dings, von dem Al gesprochen hat.» «Und ich soll ihn hinfahren?» «Ja, er is drüben bei Als alter Dame. Wir solln ihn dort abholen.» «Ich soll diesen blöden Hund chauffieren?» «Ja doch, warum nich?» «Erstens isses heller Tag draußen und 'n Haufen Schneeköppe unterwegs, die würden beim bloßen Anblick meiner Person losknallen. Also fahr ich ihn nirgendwo hin. Zweitens gehn wir nur einmal zum d'Or, und zwar dann, wenn wir zuschlagen. So, jetzt geh ich.» «Ich geh mit.» «Bleib hier.» «Mensch, ich bin ungefährlich.» «Weiß ich. Bleib trotzdem ne Minute hier.» Ich ging auf den Flur. Ein paar Nutten kreischten in ihren Zimmern. Eine fragte ich: «Wo is die, die aussieht wie Betty Boop?» 247
Betty Boop kicherte, als ich ihr sagte, ich hätte ne richtige Jungfrau für sie. Wir gingen in mein Zimmer. Sie sah ihn bloß scharf an, und schon bekam Beck rote Ohren. Sie fuhr ihm mit den Händen übers Gesicht und über sein Igelhaar. Becks Ohren wurden tomatenrot. Er gab Laute von sich, als würde er geschlachtet, als sie ihn fachgemäß anfaßte. «Macht mir das Bett nich dreckig», sagte ich beim Rausgehen. In der Küche trank ich eine Tasse Kaffee, und die blonde Nutte ließ sich wieder auf meinen Schoß nieder. Ihr Hintern wackelte. Sie schien keinen Schlüpfer anzuhaben. Nora rief ihr zu, sie solle mich in Ruhe lassen, worauf sie die Hüften schwenkte und abzog. «Du wirsts nich für möglich halten», sagte ich zu Nora, «aber da oben wird grade jemand entjungfert.» Dann sprach ich davon, daß ich mich nach Antwerpen absetzen wolle, und sie gab mir eine Adresse. Ja, es war zweifellos das vernünftigste, nach Antwerpen zu gehen. Aber an jenem Abend war ich alles andere als vernünftig. Sechsundzwanzigstes Kapitel Wann hatte es wieder angefangen? Im Gefängniskrankensaal? Als der arme Kerl bei dem Gewitter so schrie? Ich mußte wieder an das letzte Gefecht im Hürtgenwald denken, nachdem die Deutschen uns fertiggemacht hatten. Leutnant Miller hatte genauso geschrien. Damals, nachdem wir weggelaufen waren und die großen Tannen 248
alle zerfetzt und zersplittert als weiße Stümpfe rumstanden. Die deutschen Panzer krochen auf uns zu, und der ganze Wald hinter uns flog gelb und rot in die Luft, und alles stank nach Pulver und Leichen. Wir waren schon bis zur Lichtung gekommen, als es uns wieder erwischte, nur waren es diesmal nicht die Krautfresser, sondern unsere eigenen. In einem dichten Teppich kamen die Dinger runter und verspritzten weißen, zischenden Phosphor. Es traf mich wie heißes Eisen. Miller schrie auf, und dann schrien wir beide um die Wette. Miller versuchte auf die Knie zu kommen, ich rollte mich in den Dreck. Miller schrie. Dann hörte der Segen auf. Erst jetzt hörte man ihn richtig. Alles an ihm qualmte. Sein Gesicht war voller Blasen, und er schrie unaufhörlich. Ich versuchte ihn in den Schlamm zu stoßen, aber er schlug wie wild um sich. Er lief auf den Knien und versuchte immer wieder hochzukommen. Er schrie minutenlang. Niemals mehr habe ich einen Menschen so schreien hören. Ich kniete auf ihm, um ihm die Morphiumspritze zu geben. Ich versuchte es mit seiner, aber meine Hände flatterten. Der Schmerz riß mich in Stücke, und ich zerbrach die Nadel. Dann nahm ich meine. Ich spritzte die ganze Ampulle, aber es half nichts. Ich schrie nach Sanitätern. Weit und breit keiner von den Fritzen zu sehen. Ein Infanterietrupp nahm uns mit nach hinten. Die ganze Zeit über schrie Leutnant Miller, daß sie ihn erschießen sollten. Er stank wie ein verbrannter 249
Gummireifen. Sein Gesicht war voll schwarzer Blasen. Mehrere Ärzte waren nötig, um ihn festzuhalten und seine Kleider runterzuschneiden. Ein Arzt fragte mich: «Sind Sie verletzt?» Ich wußte es nicht. «Packt ihn schon aus», sagte ein anderer, «er schnappt sonst über.» «Alles mit dir in Ordnung?» fragte noch einer. Ich sagte, ich wisse es nicht. Ich lag auf dem Boden. Jemand riß Patronengürtel und Mantel weg und schnitt Feldjacke und Hosen auf. «Sieh dir das an», sagte der erste. «Wie 'n paar Tausend Zigarettenlöcher, bis auf die Unterwäsche. Es is kein Sauerstoff mehr rangekommen. » Zwei Ärzte arbeiteten an mir rum. Ein dritter glotzte. Leutnant Miller lag auf dem Boden, und alle übrigen Ärzte standen um ihn rum. Er ruderte mit den Armen, kurze schreckliche Laute kamen aus ihm raus. An den Wänden ringsum saßen still ein paar Verwundete. Andere lagen in Decken gewickelt auf dem Boden. Alle hatten WIA-Karten vorm Bauch. Ihre Gesichter waren quittengelb. Ein Arzt drückte meine Hände gegen meine Brust, ein anderer fummelte mit einer großen Pinzette an meinen Beinen rum. «Glück gehabt», sagte der mit der Pinzette. «Wirklich Glück gehabt», bestätigte der andere. «Mehr als der Leutnant.» «Gut, daß er sich im Dreck gewälzt hat, deswegen kam kein Sauerstoff mehr ran. Gar nicht schlecht.» Dann zu mir: «Das wird schnell heilen.» 250
Mit der Pinzette hielt er etwas silbrig Glänzendes hoch, das dampfte, sobald Luft rankam. Er ließ es auf den Boden fallen, und es fraß sich qualmend ins Holz. «Schaut her», sagte der Arzt und hielt noch ein Stückchen hoch, «das Zeugs braucht Sauerstoff.» Der andere nickte fortwährend und glotzte interessiert. Ja, es war schon sehr spaßig. Im Oktober waren wir das erstemal im Hürtgenwald. Es war so dunkel und regnerisch, daß wir uns gegenseitig an den Patronengürteln festhalten mußten. Die Feldflaschen klapperten rhythmisch. Wir marschierten in zwei Reihen und traten in die Fußstapfen der Vordermänner. Wir trotteten an einem Schützengraben vorbei. Ich fragte einen vom 28sten, das wir ablösten: «In welcher Richtung liegt die Front?» Er packte mich an den Schultern und drehte mich um. «Da.» Gegenüber der Siegfriedlinie bezogen wir Stellung. Der deutsche Bunker sah aus wie der Boulder-Staudamm. Er lag der Straße gegenüber, auf der wir in der Nacht vorher raufgekommen waren. Acht Tage regnete es. Acht Tage hatte man ein MG vor der Nase. Acht Tage lagen wir in Löchern. Wir schaufelten unsere Kacke raus und pißten in die Helme. Ein Loch, in dem man kaum grade stehen konnte. Jederzeit konnte ein stürzender Baum drauffallen. Später waren alle Bäume zerfetzt. Man konnte die Bastarde in ihrer Sauerkrautsprache reden hören und Holz fällen hinter ihrem Staudamm. Wenn sie riefen, Feuer einstellen, um Tote und Verwundete zu bergen, wenn sie mit weißer 251
Flagge und all dem Mist rauskamen, grade dann konnte ich mich kaum zurückhalten. Und dieser eine Deutsche, an den ich immer wieder denken mußte: Er hatte die Verbindung zwischen der Abteilung und unserer Kompanie unterbrochen und saß da und wartete auf uns. Er hatte Sergeant Price am Hals gepackt und erwürgt. Und nun saß er da, und alles, was er sagte, war: «Kameraden.» Er lächelte. Er war am Sterben. In seiner Brust war ein Einschuß neben dem anderen. Er war noch ein Kind. Er mußte einen von uns umbringen, klar. Jetzt saß er da, mit seiner Mauser über den Knien, den Kopf an den Baum gelehnt, die Beine mit den viel zu großen Stiefeln von sich gestreckt. Er konnte nicht einmal mehr «Hände hoch» sagen. Er war am Sterben. Ich stieß die anderen beiseite, riß die BAR rum und war wie verrückt. Er blickte auf die Mündung, sein Gesicht blieb unverändert, er lächelte. Ich drückte ab. Den Deutschen riß es halb in die Höhe. Ich hörte nicht auf, bis das Magazin leer war. Ich konnte nicht eher aufhören. Na gut, ich hatte es mit dem Krautfresser ausgemacht, nach der Sache mit Lee und Willis. Aber ich machte es in Wirklichkeit mit keinem aus, mit keinem außer mir. Und mit Kelly würde ich abrechnen. Ein Schwein wie den umzubringen, das war der einzige Sinn des Krieges. An diesem Abend fing ich bei Nora mit ein paar Gläsern Cognac an und war erst ein bißchen beduselt. Nora fragte, was los sei. Ich erzählte ihr, ich würde schlafen gehn. In 252
meinem Zimmer dachte ich weiter darüber nach. Ich war nah dran, durchzudrehen. Ich holte die Schmeißer vom Klo und steckte zwei Magazine ein, wickelte sie in den Regenmantel und ging rüber zur Garage. Ich nahm den Jeep und fuhr in die Stadt. Zweimal kam ich am Hauptquartier vorbei. Am Place Rogier parkte ich. Ich kurvte den Jeep zwischen zwei englische Laster, direkt gegenüber vom Hauptquartier. Schneeköppe flitzten raus und rein, aber Kelly war nicht dabei. In der nächsten Nacht wartete ich an derselben Stelle. Es war noch beschissener. Ich hatte vor, so lange zu warten, bis Kelly rauskam, und wollte ihn in einer dunklen Straße stellen. Ich wartete so lange, daß mir zum Schluß alles egal war. Es fing an zu regnen. Ich stieg aus und ging zu einer Telefonzelle rüber. «Hauptquartier», meldete sich ein Schneekopp. «Sergeant Kelly», sagte ich. «Ja, Sarge.» «Hier is nich Kelly, ich möcht ihn sprechen.» «Wer is dort?» «Sergeant Price. Und mit wem sprech ich?» «Williams, Sarge.» «Is er da?» «Warten Sie 'n Moment, Sarge.» Ich hörte ihn mit jemand reden. Er nahm den Hörer wieder auf und sagte: «Kelly is nich da. Gehörn Sie zu seinen Leuten?» «Nee.» 253
«Dann werdn Sie noch mal anrufen müssen, Sarge.» «Hören Sie, Mann, ich bin extra aus Antwerpen runter. Wenn Kelly erfährt, daß ich angerufen hab, und Sie ihm nix davon gepfiffen ham, wird er Sie in den Hintern treten.» «Klein' Moment», sagte er. Er sprach wieder mit jemand, und dann: «Café Globe. Kelly is immer dort, wenn er ausgeht.» «Wo is das?» Er nannte mir die Straße. «Schön' Dank.» Ich hängte ein. Das Globe war nicht schwer zu finden. Ich stellte den Jeep gegenüber ab, stieg aus und wartete. Es regnete noch immer. Ein englischer Laster rumpelte vorbei. Der Regen blitzte weiß auf im Scheinwerferlicht, mein Regenmantel glänzte. Ich schüttelte ihn ab und verbarg sorgfältig die Schmeißer drunter. Im Globe drängten sich die Soldaten an der Bar. Einige tanzten engumschlungen mit Nutten. Wenn die Tür aufflog, drangen Musikfetzen bis zu mir rüber. Der Wirt stand mit einer Zigarre hinter der Bar. Sein runder Kopf saß direkt auf den Schultern. Er rieb sich verstohlen die Hände, die Kasse schien sich zu füllen. Nach Stunden leerte sich das Café. Der Wirt sah mich an der Tür. Ich trug eine Überjacke, den Kragen hochgeschlagen, darunter die Fliegeruniform. Den grünglänzenden Regenmantel hatte ich fest über die Schmeißer gewickelt. Die Kapelle kippte ein Bier. Der Pianist verdrückte ein Sandwich und hatte die Beine hochgelegt. Die Beleuchtung 254
war schummerig rotblau. Ein paar Soldaten saßen mit Nutten an den Tischen. Mein Blut stockte plötzlich, als ich einen großen, rothaarigen Bullen mit seiner Nutte sah. Er lag fast auf ihr am Tisch. Er fummelte an ihrem Rock rum. «Kelly?» rief ich. Die Nutte bekam einen Schreck und zog ihr Kleid runter. Der Kerl war leider nicht Kelly. Er starrte mich mit glasigen Augen an. «Tut mir leid», sagte ich. «War ne Verwechslung.» Er wollte wieder rumfummeln, aber der Nutte war der Appetit vergangen. Sie saß bolzengrade da. Der Wirt schielte unruhig rüber. Ich ging an die Bar. «Ich suche nach so nem großen Bullen mit roten Haaren.» «Sie möchten Drink?» «Er heißt Kelly, ham Sie ihn heute gesehn?» «Gut, gut, ich geben Drink.» «Hamse ihn gesehn?» «Soldat? Viele Soldaten. Ich geben Drink. Pas machen Ärger, non?» Der Wirt winkte einen Kellner. Der Kellner zog langsam ab. «Er ruft doch nich etwa die MP?» sagte ich. «Gib mir nen Drink, und ich verdufte.» «Ça va, Hector», rief er dem Ober nach. Der blieb zögernd stehen. «Is schon gut, Hector», sagte ich. Der Wirt gab mir einen Cognac. Seine Hand zitterte ein bißchen. Er fixierte mich die ganze Zeit. Ich kippte den Cognac runter und langte nach Kleingeld. 255
«Is gut, kein Bezahlung», sagte er mürrisch. Ein paar Kellner standen abwartend mit bösen Gesichtern rum. Sie trugen schwarze Jacken und lange weiße Schürzen drüber. Ich machte, daß ich rauskam. Der Regen klatschte in den offenen Jeep. Am AdolpheMax und am Place Rogier liefen lauter glänzende, schwarze Regenschirme durch die Gegend und kämpften gegen Wind und Regen. Auf einmal sah ich Kelly an der Häuserfront entlanglaufen. Er war größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte die Schultern hochgezogen und trabte, daß das Wasser unter seinen Stiefeln hochspritzte. Vor mir war ein unübersehbares Verkehrsgewühl. Ich versuchte, den Jeep rechtsran zu bringen. Hinter mir hupte es wild, als ich einen Wagen abdrängte. Ich kurbelte am Lenkrad und versuchte dabei, den Regenmantel von der Schmeißer runterzukriegen, aber es ging nicht, ich brauchte beide Hände am Steuer. Kelly stand schon im Eingang zum Hauptquartier und schlug seine Mütze gegen das Knie. Die Räder stießen hart gegen den Bordstein. Kelly lief jetzt auf die Drehtür weiter hinten zu. Ich sprang aus dem Sitz und rempelte durch einen Haufen Belgier mit Schirmen. Der Schneekopp hinter dem Tisch an der Tür sprang auf. «He, Idiot, mach die Tür zu», brüllte er. Ich stand mit dem Rücken zur Menge draußen. Grade in dem Augenblick kamen zwei Schneeköppe an mir vorbei, der eine hielt einen kleinen betrunkenen GI am Kragen. Ein Haufen Schneeköppe lief hinten rum, einige 256
mit Akten in der Hand. Ich hielt die Schmeißer im Anschlag und schleuderte den Regenmantel weg. Der Schneekopp am Pult schrie auf, als ich sie hochriß. Kelly flog rum und duckte sich. Er erreichte die Treppe zum Keller, als ich abdrückte. Eine Garbe von Schüssen jagte in den Türrahmen, das Holz splitterte. Ein paar Schneeköppe standen starr vor Schreck, andere suchten Deckung, als ich die Maschinenpistole rumschwang. Ich sicherte den am Schreibtisch ab. Er hatte schon nach seiner 45er gelangt, der Riemen war aufgegangen. Als er die kurzläufige, blauglänzende Schmeißer auf seinen Bauch gerichtet sah, sank seine Hand runter. Die 45er schwang wie ein Pendel an dem weißen Lederriemen, als er die Hände in die Luft streckte. Von den beiden Schneeköppen, die mit dem GI angetanzt waren, stand einer erstarrt, die Arme steif nach unten. Er trug die Tapferkeitsmedaille und schien zu schielen. Der andere hatte den Kopf eingezogen wie ein verdroschener Pudel. Der angeheiterte GI hatte sich auf den Boden geworfen und die Hände im Genick verschränkt. Ich tat einen Schritt zu dem Schneekopp mit der Tapferkeitsmedaille. Ich drehte ihn mit dem Gesicht ins Zimmer und stieß die Mündung ein paarmal gegen seine Birne. «Mach keine Faxen», sagte ich. Ich drehte seinen Arm nach oben. Drinnen schrien alle durcheinander. Ein paar grapschten nach ihren 45ern. 257
Aber ich hatte einen Schneekopp als Schild vor mir. Ein Haufen Belgier drängte an die hohen Glasfenster, aber die, die mich mit der Maschinenpistole gesehen hatten, liefen kreischend fort, und so kamen sie sich gegenseitig mit ihren Schirmen ins Gehege. Langsam bewegte ich mich rückwärts und zerrte den Schneekopp mit, so daß ich kein Ziel bot. Dann gab ich ihm einen Stoß. Er knallte, alle viere von sich gestreckt, aufs Pflaster. Ich riß die Schmeißer hoch und feuerte eine Salve ab, die über den hohen Fenstern einschlug. Ich feuerte noch einmal, bis das ganze Magazin leer war. Dann sprang ich in den Jeep. Belgier liefen hysterisch schreiend über den Platz wie bei einer Revolution. Schwarze Schirme tanzten auf dem Boden rum. Die gelbroten Trams klingelten wie verrückt.
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Zweiter Teil
Siebenundzwanzigstes Kapitel Als ich zurückkam, roch Nora gleich den Braten. Sie goß mir einen tüchtigen Schluck Cognac in ein Wasserglas. Ich kippte noch zwei runter. Wir saßen am Küchentisch. Lange Zeit sagte ich nichts. «Wo sind die andern?» fragte ich endlich. «Deine Kumpel? Einen heben.» «An der Bar?» «Oui.» «Denen gehts besser als mir. Haste schon mal mit nem toten Mann gesprochen?» «Trink noch einen, Nicholas.» «Ich mein einen Toten, der noch rumläuft. Ich bin ne Leiche auf Urlaub.» «Ich hab doch Freunde in Antwerpen, bei denen kannst du bleiben; verstehst du, wenn ich en français red?» «Ich hab ne Schweinerei im Krieg gemacht», sagte ich. Sie schob mir die Flasche hin und schwieg. «Is ne Gemeinheit, jetzt damit rauszurücken, nich?» «Non.» «Isses aber. Der Krieg ist lang vorbei. Manche Leute haben überhaupt nix davon mitgekriegt. Und manche, wie Al, der Belgier, haben ne Menge Geld rausgeschlagen. Ich weiß nich, warum ich erst jetzt draufkomm und nich 259
damals schon. Haste sie rumflitzen sehen? Wie die Schmeißfliegen! Ich hab nich mitgemacht. Die Leute, die ich gern hatte, liegen unter der Erde. Mausetot sind sie, und diese Schweinehunde leben. Es is alles verkehrt rum. Völlig idiotisch, jetzt damit anzufangen.» «Trink was, Nicholas.» «Ich geh in die Falle. Kann wahrscheinlich doch kein Auge zumachen. Ich seh dauernd diesen Sauerkrautfresser vor mir. Hab ich dir schon mal von dem erzählt? Weiß nich mehr. Hör schön zu. Wär besser, wenn ich die Schnauze halten tät. Ich hab ne Schweinerei hinter mir. Na, lassen wir das! Nur nich davon reden. Du bist wirklich in Ordnung. Ich glaub, der Krieg hat uns alle zu netten Schweinehunden gemacht. Früher hab ich geglaubt, ich könnt das aushalten, diesen ganzen Dreck. Und heut? Heut abend hab ich ganz hübsch in den Dreck gelangt. Die werden mich einfach umlegen. Die werden die Stadt umkrempeln, bis sie mich haben, und dann knallts. Ich bin ne Leiche auf Urlaub. Is ja egal.» Ich kippte noch einen runter und hatte schon ganz schön einen sitzen. Ich wußte, daß es mich erwischt hatte. Ich stierte in das Glas und goß den Rest runter. «Das Zeug hab ich nich nötig. Hab es nie gebraucht. Ich komm sonst ins Quatschen. Erzähl mir von den deutschen Krautfressern, als sie hier waren. Schieß man los!» «Geh jetzt schlafen!» «Is immer so, wenn man die Schnauze voll hat, soll man schlafen gehn: Es ist Zeit, meine Herren! Aber ich kann nich. Was macht man in so nem Fall? Is noch ne Nutte 260
einsam?» «Non.» «Alle haben nen Beruf. Alle arbeiten irgendwas. Weißte, daß meine sagt, es is bloß wie Zähneputzen mit nem andern? Nix anderes! Gut, wenn die Kunden weg sind, schick eine zu mir. Oder drei, vier, macht nix. Wo is die Blonde, die mir dauernd aufm Schoß rumrutscht? Was is mit dir? Na, laß man! Trink noch einen auf mich.» Wir tranken zusammen, und in der Flasche tanzte das Zeugs hin und her. Ich hielt den Mund. Komischerweise dachte ich gar nich mehr an vorhin, sondern an den Hürtgenwald und an all das Drum und Dran. Lange Zeit lag ich schon auf dem Bett, als die Tür aufging. Suzy stand im Türrahmen, und ihre Waschbärjacke sah lang und schwer aus. «Komm schon rein», sagte ich. «Sie erzählen mir im Corso», sagte sie, «sie erzählen mir, du geschossen auf MP.» «Glaubs nich.» «Die MPs wie verrückt dich suchen.» «Na gut, mach die Tür trotzdem zu. Kein Licht.» Sie kam im Dunkeln. Ich hörte sie atmen. Sie setzte sich ein Stück weit weg auf einen Stuhl. «Warum kommste nich her?» fragte ich. «Ich hab nen kleinen sitzen. Das sollte dich doch nich stören.» Sie sagte nichts. Ich horchte auf ihr Atmen. Ich fischte mir eine Zigarette im Dunkeln, und als das Streichholz aufflammte, sah ich sie sitzen. 261
«Zieh doch endlich dein Karnickel aus und sitz nich so rum.» «Ist nicht wichtig, Chéri.» Das Zündholz ging aus, und wir saßen wieder im Dunkeln. «Was soll das heißen?» «Ich bleib bei dir, toujours, Chéri.» «Das is fein», sagte ich, «komm jetzt ins Bett, mach schon.» Am nächsten Morgen schlief sie noch. Ihr Haar hing aufgelöst aufs Kopfkissen. Ich hatte schon gepackt und brachte meinen Kram in die Küche. «Hör mal», sagte ich zu Nora, «ich hol erst den Jeep und nehm das Zeug später mit.» «Suzy gekommen heute nacht?» «Ja.» «Weiß sie, daß du nach Antwerpen gehst?» «Nee. Gib ihr keine Adresse.» «Du gehst schon?» «Ich muß. Noch ein Tag in Brüssel, und es is aus.» «Trink noch einen Kaffee mit mir.» «Keine Zeit mehr. Ich geh jetzt.» Achtundzwanzigstes Kapitel Ich schlug mich durch Seitenstraßen zur Rue de Joinckers. Gerade als ich die Garageneinfahrt passierte, sah ich den Wirt mit drei Schneeköppen um den Jeep rumstehen. Der Kerl entdeckte mich und stieß einen Schneekopp an. Mein 262
Herz machte einen Sprung. Ich schlug einen Haken nach links und rannte zur Ausfahrt. Ein Mechaniker in blauer Arbeitskluft und schwarzer Mütze fuhrwerkte an einem Auto rum. Im Moment, als ich das Büro betrat, sah ich einen Schneekopp draußen am Fenster vorbeiflitzen. Er spurtete zur Ecke. Da stürzte der Wirt rein. «Ah, M'sieur», sagte er. Dann grapschte er nach mir und schrie französisch: «Haltet ihn, haltet ihn!» Der Mechaniker rannte los. «Polizei! Polizei!» Ich ließ den Wirt quer durch sein Büro segeln. Draußen stand der Schneekopp noch an der Ecke, den Revolver schußbereit. Ich raste direkt auf ihn zu. Er sprang zur Seite und rief: «Halt!» Als ich schon losknallte, hob er erst sein Schießeisen. Er ging hinter einem Auto in Deckung. Sein Helm rollte auf die Straße. Im Zickzack hetzte ich rüber auf die andere Seite und duckte mich hinter die parkenden Wagen. Der Schneekopp feuerte zwei Schuß ab; durch die leere Straße rollte es wie Donner. Er rannte direkt auf mich los. Ich stand auf, hielt die Pistole mit gestrecktem Arm und zielte. Die 45er schlug wie gewohnt zurück. Der Schneekopp langte nach seinem Gesicht. Ein Streifschuß hatte ihn erwischt. Auf der Avenue Louise hatten Trams und Autos Rotlicht. Ich keuchte auf einen hochrädrigen, hinten offenen Laster zu. Atemlos zog ich mich hoch, schwang mich rauf und duckte mich. Die Ampel hatte noch nicht geschaltet. Der Schneekopp erreichte die Ecke. Er hielt die Pistole im Anschlag und zog das weiße Brustband hinten nach. 263
Den Helm hatte er liegenlassen. Jemand zeigte auf den Laster. Der zweite Schneekopp keuchte an die Ecke, der erste rannte auf den Laster los. Der zweite glotzte und reckte seinen fetten Seehundschädel hoch, die 45er im Anschlag. Mit seinen weißen Gamaschen sah er aus wie ein Pferd mit Fesselwickeln. Der dritte machte mir Sorge; er hatte das Magazin noch voll. Ich konnte ihn nirgendwo sehen. Aber da kam er schon. Neben mir stand die vollbesetzte Tram. Der eine Schneekopp war grade hinter einem schwarzen Renault verschwunden. Jetzt oder nie! Der fette Schneekopp schob sich auch ran. Ich hopste wie ein Stehaufmännchen, gab zwei Schüsse ab, so dicht, daß ich glaubte, ihn getroffen zu haben. Er verschwand hinter einem Auto. In dem Moment, als er in Deckung ging, sprang ich über die Planke und lief auf die Menschentraube auf der offenen Plattform zu. Der Schneekopp feuerte in die Menge. Ich warf mich mitten unter sie. Eine Frau griff schreiend an ihre Stirn: Streifschuß über dem rechten Auge. Ich drehte mich um, so weit ich konnte, und schoß auf den Schneekopp. Jetzt wollte ich ihn umbringen. Belgier kreischten durcheinander. Die Frau fiel ohnmächtig um. Ich boxte mich zum Fahrer durch. Die Leute wichen angstvoll und schreiend zurück. Ich drückte dem Fahrer die Pistole ins Genick. «Fahr los! Continuez! Du hältst erst dann, wenn ichs sag!» Der Fahrer, ein schmächtiger Belgier in blauer Uniform mit der idiotischen Mütze, drehte sich um, er war 264
kreideweiß. Als das Licht wechselte, schossen wir los und fegten die Avenue de la Toison d'Or runter. Der Wagen rüttelte und schüttelte; wild klingelnd jagten wir an den Haltestellen vorbei. Er hielt nicht mal mehr an den Ampeln. Ein Schutzmann ruderte wie wahnsinnig mit den Armen, als wir vorbeidonnerten. Die Klingel schrillte ununterbrochen. Der Schneekopp, der auf den zweiten Wagen aufgesprungen war, konnte nicht durchkommen. Ich überlegte fieberhaft. Da fiel mir was ein, als ich die weite Porte de Namur sah. Hier konnte ich ihn loswerden. «Arrêt ici», befahl ich dem Fahrer. Er zog gehorsam die Bremse. Alles fiel übereinander. Ich sprang ab, die Pistole in der Tasche. Der Schneekopp mußte mir durch das riesige weite Tor folgen. Ich hatte es nicht so weit und großartig in Erinnerung. Sonnenlicht glänzte auf den Statuen. Ich rannte in den Schatten auf die andere Seite. Auf halbem Weg drehte ich mich um. Ich sah den Schneekopp nicht, aber ich konnte ihn förmlich riechen. Hinter dem Tor waren die Straßen eng und schattig. Ich begann im Schritt zu gehen, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ein kleines belgisches Auto parkte am Randstein. Der Fahrer trug eine Chauffeurmütze. Er sah mich groß an, als ich die Tür aufmachte. «Ich muß dringend zum Bahnhof», sagte ich, «können Sie mich fahren?» Er zuckte die Schultern. «Ich nicht verstehen.» 265
Ich wiederholte es französisch. Er zuckte wieder mit den Schultern, paffte an seiner Zigarette und sah stur auf die Straße. Ich stieg ein. «Ich werd bezahlen.» «Mein Boß wird was dagegen haben.» «Ich zahl gut.» «Es geht nich», sagte er und wandte sich ab. Ich dachte an meine Pistole, stieg aber aus. «Arschloch», sagte ich. Er starrte angelegentlich weg und rauchte. Weiter unten sah ich eine amerikanische Fahne raushängen. Ein Jeep parkte vor der Tür. Es war das Kriegsgräberamt. Netter Ort zum Sterben, dachte ich. Am Tisch vorn hockte ein Sergeant. Er spritzte hoch und holte einen Leutnant, als ich ihm gesagt hatte, daß ich den Mittagszug noch erreichen müsse. «Wilson», rief der Leutnant. «Ja, Sir.» «Bring den Major zum Südbahnhof. Der Major hat nur noch zehn Minuten Zeit.» Wilson war Corporal und trug eine Brille. «Wir schaffens schon noch, Sir», sagte er. Dann machte er das Lenkrad von der Kette los und startete wie ein Rennfahrer. «Langsam», rief ich, «nich so schnell.» «Ich dachte, der Major hat es eilig, Sir.» «Die MP würde uns bloß stoppen.» «Ja, Sir», sagte der Corporal. Am Tor und dann auf der Avenue Marnix sah ich mindestens zehn Schneekoppjeeps; sie kamen aus den 266
verschiedensten Richtungen. Der Schneekopp mußte das Hauptquartier angerufen haben. «Sie fahren falsch», sagte ich zu dem Corporal. «Das is der kürzeste Weg zum Südbahnhof, Sir.» «Biegen Sie links ab.» «Ich fürcht, der Herr Major kennt sich in Brüssel nich aus.» «Ich kenn mich genau aus. Bieg hier ab.» «Ja, Sir.» «Wieder nach links vorn an der nächsten Ecke.» «Der nächsten?» «Ja, red nich soviel.» «Es is nich ganz richtig, Sir.» «Hör zu, Wilson, ich kenn den Weg genau. Hab lang dazu gebraucht.» «Ich versteh, Sir. Die belgischen Mädchen können fürchterlich kostspielig sein.» Als wir in die Avenue Fonsny einbogen, glänzte die Kuppel des Gare du Midi im vollen Sonnenlicht. Schon als der Wagen abbremste, sprang ich raus. Im Bahnhof war fürchterliches Gedränge. Ein Lautsprecher quakte. Auf allen Gleisen standen Züge. Ich hastete zum Fahrkartenschalter. Der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. Ich schaute mich in der Halle um. Überall roch ich Schneeköppe. Hinter den Bahnsteigen glitzerten die Schienen in der Sonne. Beide Seiten des Gleiskörpers waren steil und hoch wie Klippen und oben von einem Zaun abgeschlossen. Dorthin gings nicht. Sie hätten einen spielend abgeknallt. 267
Man wäre nie rausgekommen. Am Seiteneingang des Bahnhofs hielt jaulend eine Tram. Kurzentschlossen griff ich nach der Messingstange auf der Plattform und zog mich rauf. Als wir langsam am Bahnhof vorüberrumpelten, sah ich haufenweise Schneekoppjeeps ranfahren, noch mehr als am Tor. Es sah aus wie eine ganze Kompanie. Nun wußte ich, von wo der Schneekopp angerufen hatte. Er war mir bis zur Porte de Namur gefolgt. Der dritte an der Garage mußte gefunkt haben. Da rückten sie jetzt an mit Thompsons und Maschinenpistolen. Ein Jeep streifte fast die Tram, aber die glotzten alle zum Bahnhof rüber. Sie hüpften raus, noch ehe die Wagen zum Stehen kamen, und rannten im Laufschritt auf die Glastüren zu. Ein Jeep wendete mit quietschenden Reifen vor der Tram mitten in der Menschenmenge. Ein Belgier drohte fluchend mit der Faust. Die Tram rumpelte quer über den Platz, die Schneeköppe hätten mich jetzt sehen müssen. Ich konnte nicht mal in Deckung gehen. Endlich waren wir am Bahnhof vorbei und bogen in eine Seitenstraße ab. Sie lag im tiefen Schatten, und schlagartig war alles ruhig. Der Schaffner schüttelte noch mal seine Büchse: «Soldaten zahlen auch.» «Was?» «Sie jetzt müssen zahlen, Soldaten keine freie Fahrt mehr.»
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Neunundzwanzigstes Kapitel Endstation auf freiem Feld. An der Straße wies ein vergessenes gelbes Wehrmachtszeichen nach Mons. Der Fahrer stieg aus, der Schaffner kam auf die Plattform und sah mich groß an. «Wo wollen Sie hin?» «Ich weiß nich», sagte ich. «Hier ist Ende, Endstation.» «Ja, das is das Ende», sagte ich. Der Schaffner stiefelte mit dem Fahrer rüber in das einzige Gebäude weit und breit, ein Café. Ich blickte aufs freie Feld. Krähen strichen niedrig drüber hin. Erst nach einer ganzen Weile stieg ich aus. In der Ferne sah ich eine weiße Staubwolke aufsteigen. Beim Näherkommen erkannte ich einen Militärlaster. Ich winkte ihm. Hinter der staubigen Windschutzscheibe zeichnete sich das weißverstaubte Gesicht eines Negers mit einer Fliegerschutzbrille ab. Der Laster hielt. «Ja, Sir Major?» sagte der Neger. «Wohin geht der Auftrag?» «Nach Mons, Sir.» «Da will ich grade hin», sagte ich. In Mons brach die Dämmerung herein. Der Platz mit dem Kopfsteinpflaster war leer. Das Laub kam mit den Windstößen runter. Ich setzte mich auf eine Bank. Alles war geschlossen. Die französische Grenze war nicht mehr weit. Ein Belgier klapperte in Holzschuhen vorbei. Eine 269
Stunde später nahm mich ein Munitionstransporter mit. Der Fahrer erzählte mir, daß ich in Ath Grenzpapiere kriegen könne. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Vor dem Tor stieg ich aus. Die Wache kam aus ihrer Bude. Die vertrauten weißen Schulterriemen, eine 45er und ein weißer Helm wie bei den Schneeköppen, aber auf dem Helm die Buchstaben SP. Er salutierte. «Ruf den Offizier vom Dienst», sagte ich kurz. Der SP telefonierte herum. Das Depot war mit Stacheldraht umgeben wie ein Gefängnis. In regelmäßigen Abständen brannten Scheinwerfer. Irgendwelche Klamotten waren hoch und dunkel unter geteertem Tuch aufgestapelt. Der Offizier vom Dienst, ein langer Leutnant, stapfte aus dem Dunkel. Ich erzählte ihm, ich hätte Pech gehabt und sei mit meinem Jeep an einen Baum geknallt. Mein Fahrer sei in Mons beim Wagen geblieben. Der Leutnant freute sich, mir helfen zu können. Auf einer kleinen Anhöhe lagen hellerleuchtete Baracken. Der Leutnant erinnerte sich an die Vorschrift und wechselte von meiner rechten auf die linke Seite. Ich wurde gebeten, mich einzutragen. Ich schrieb: Major Nathan Grange, A. F. 9, 442. Fighter Squadron, 48. Fighter Group. Man führte mich in das Zimmer eines Leutnants, der grade Urlaub hatte, und versorgte mich mit Handtuch und Seife. Dann ließ man mich diskret allein. Ich verriegelte die Tür und durchsuchte hastig das Zimmer. Ein paar Uniformen mit Pionierabzeichen hingen im Spind. Ich fand weiter eine Flasche Sekt, eine Stange 270
Zigaretten und eine schöne, silberbeschlagene deutsche Luger. Ein Handbuch über Geschlechtskrankheiten lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Die Stellen, wo was über Tripper stand, waren rot unterstrichen. Ich steckte noch eine Schachtel mit Neun-Millimeter-Patronen ein. Dann ging ich zurück zu dem Leutnant. Er nahm mich mit ins Offizierskasino. Es lag ebenfalls in einer Baracke und sah aus wie ein gewöhnlicher Tagesraum. Ein Oberleutnant und ein älterer Captain saßen einsam an der kleinen Bar. Beide hatten einen sitzen und drückten wortreich ihr Bedauern drüber aus, daß mein Flugzeug kaputt sei. «Doch nich das Flugzeug vom Major, der Jeep!» wies sie der Offizier vom Dienst zurecht. «Wir sind auch ganz schön kaputt», maulte der Captain. «Und das ohne Flugzeug», ergänzte der Leutnant. «Sein Fahrer is vor Mons gegen nen Baum geknallt», erklärte mein Leutnant. «Sie ham ne kleine Stärkung verdient, Major», sagte der Captain. «Jim is zwar ein lausiger Barkeeper. Wir werden unsere eigene Bar aufmachen.» «Ich hoff, Sie haben den Baum richtig zusammengefahrn», sagte der Oberleutnant. «Möcht wissen, warum er das getan hat.» «Was getan?» fragte ich. «Hudson, unser Barmixer, is abgehauen.» «Meine Herren, ich hab Ihnen schon gesagt», sagte der Offizier vom Dienst, «Corporal Hudson hat Urlaub.» «Wen redste hier mit Herren an?» fragte der Captain. 271
«Na, ich muß gehen», sagte der Leutnant und stand auf. Der Oberleutnant ging um die Bar rum. «Wollen Sie ne Stärkung, Leutnant Hart?» Er verbeugte sich vor dem leeren Stuhl. «Mein Gott, is der blöd», sagte der Captain. Er hatte den Kopf schwer aufgestützt. «Und das muß ich mir nun anhörn», lallte er. «Das macht er andauernd. Er hat nen ganz schönen Knacks, seit Hudson weg is.» «Sind Sie der Barkeeper?» fragte ich den Leutnant. «Ja, Sir.» «Jetzt is er selber Hudson», sagte der Captain. «Er is übergeschnappt.» «Wer is übergeschnappt?» fragte Leutnant Hart. «Wir beide», sagte der Captain. «Und der Major auch. Er kann nich mal 'n Jeep richtig landen.» Leutnant Hart kippte ein Glas runter. Er verschüttete etwas davon auf die Theke, wischte mit der Hand drüber und leckte seine Finger ab. «Oho», sagte er, «wie ich seh, haben Sie das DSC, Sir.» «Für Klosettreinigen.» «General Pershing hat auch eins», sagte der Captain. «Wofür hat ers gekriegt?» fragte der Leutnant. «Dafür, daß er seinen Totschläger benutzt hat.» «Das is 'n QM-Depot hier, nich?» fragte ich. «Stimmt», sagte der Captain. «Sie könnens haben.» «Haben Sie volle Stärke?» fragte ich weiter. «Nee, gar keine Stärke», sagte der Captain. «Es is doch 'n QM.» «Ne Räuberhöhle, meinste», sagte der Leutnant. 272
«Haben Sie den Stacheldraht und die Scheinwerfer gesehn, Major?» fragte der Captain. «Ja.» «Alles dafür, damit ehrliche Leute draußenbleiben», sagte der Captain. «Wir sind die ehrlichsten», sagte der Leutnant. «Wir sind so ehrlich, daß es zum Himmel stinkt. Ehrlichkeit bringt bloß ins Armenhaus. Ich kann mir nich vorstellen, daß Sie 'n Mustang verkaufen können, Major.» «Halt die Schnauze», sagte der Captain. Der Leutnant konnte kaum noch gradaus gucken. «Sie müssen entschuldigen, Major», sagte der Captain. «Wir haben ein langweiliges Leben hinter uns bei der Armee. Keine DSCs, keine Abstürze, nix davon.» «Ja, ja», sagte Leutnant Hart, «'n sehr glückliches Leben. Sie sollten die Kohlen haben, die wir haben.» «Halts Maul!» schrie der Captain jetzt, aber der Leutnant hatte den Kopf abgewandt und blickte dem großen, fetten Offizier entgegen, der grade reinkam. «Ach, die alte Knochensäge», lallte er, «he, Doktor.» Ich nahm einen Schluck und vergaß, runterzuschlucken. Der Doktor, ein Captain, war eben der, der mich früher dreimal gegen Krätze behandelt hatte. Das war damals in Brüssel. Er erkannte mich nicht wieder. Ich war schließlich ein Major der Luftwaffe, kein gemeiner Soldat mehr. Also traf er mich zum erstenmal. Ich trank das Glas aus und schüttelte ihm die Hand. «Captain Solomon», sagte der Captain, «und dies is Major – Sie sagten Grange?» 273
«Genau.» «Freut mich, Sie kennenzulernen, Major.» «Guten Tag, Captain.» «Ah», machte der Arzt. «Was soll das?» fragte der Leutnant. «Endlich mal ein Gentleman», sagte der Doktor. «Hat dieser Dreckhaufen hier Sie bereits angesteckt, Major Grange?» «Auf 'ne gewisse Art schon», sagte ich. «Ja?» «Ich glaub, daß mir die Leute hier noch dies oder jenes beibringen können. Obwohl ich schon jede Menge gelernt hab. Aber man lernt eben nie aus.» Draußen war alles ruhig. Ich lauschte angestrengt. Nichts. Im Zimmer des Leutnants auf Urlaub hievte ich den Seesack zum Fenster raus. Draußen nahm ich ihn auf und schleppte ihn zu dem einzigen Jeep rüber, der keine Bezeichnung hatte. Der Anlasser heulte auf. Die Mühle wollte nicht anspringen. Grade in dem Moment brummte ein Jeep zum Tor rein. Eine SP-Patrouille! Die Scheinwerfer blendeten mich. Ein SP leuchtete mir mit einem Scheinwerfer ins Gesicht. Mich überlief es kalt. «Was is hier los?» fragte er. Ich schirmte das Licht mit der Hand ab. «Machen Sie die verdammte Funzel aus!» «Tut mir leid, Sir.» Er knipste die Lampe aus. «Der blöde Karren hier will nich anspringen», sagte ich. Ich versuchte es noch mal. 274
«Die Batterie is leer, Sir. Meinen Sie, Sir, wenn wir Sie anschieben –» «Mit Ihrem Jeep?» «Ja, das müßt gehen.» «Hoffen wirs.» Wir schoben die Mühle von der Mauer weg. Der SPJeep wendete, Ich klemmte mich hinters Steuer, und der Jeep kam hinten ran. Auf der abschüssigen Straße stellte ich die Zündung ein. Er ruckte beim Anspringen und begann dann zu spucken. Ich gab Gas und winkte ihnen, sie sollten wegbleiben. Am Tor stand die Wache vor dem Häuschen und schwenkte eine Blendlaterne. Ich hielt an, das Lenkrad umklammert. «Is in Ordnung, Harry», rief ein SP aus dem Jeep. Die Wache ging zurück in die Bude. «Wir müssen Sie eintragen, Sir», sagte der erste SP. Er war rangekommen. «Selbstverständlich», sagte ich. Ich langte nach meiner 45er. Der SP latschte in die Bude und kam mit einer Schreibtafel wieder raus. Er schrieb die Nummer auf der Motorhaube ab. «In Ordnung, Sir», sagte er und grüßte. Ich ließ die Pistole wieder in die Tasche gleiten, grüßte zurück und rollte raus. Erst nach einem guten Kilometer dachte ich dran, die Scheibenwischer anzustellen. Die ganze Zeit spuckte der Motor und war nahe dran auszusetzen. Die Scheinwerfer waren ziemlich dunkel, hellten aber auf, wenn ich Gas gab. Ich dachte an Brüssel und wie sie da wohl hinter mir her 275
waren. Eigentlich sollte ich nach Frankreich verduften oder vielleicht in das Château in der Nähe von Anthée. Große schwarze Krähen zogen ihre Kreise über den Feldern. In der Abendsonne glänzten ihre Flügel silbern. An der Kreuzung bog ich ab. Das Château lag als winziger weißer Fleck im Tal. Die Straße wand sich bergab. Jetzt ging die Sonne unter und färbte die Bäume rot. Das Château sah verlassen aus. Ich fuhr den Jeep rechts ran und fühlte mich plötzlich hundemüde. Ich war die ganze Nacht durchgefahren, erst im Regen und dann im Nebel. In Soignies und später in dem Café in Charleroi zweifelte ich noch, ob ich zum Château oder über die Grenze fahren sollte. Ein Schneekoppjeep rollte am Café vorbei, und ich machte, daß ich weiterkam. In Dinant legte ich wieder eine Pause ein, ging auf dem Kai lang und grübelte. Der Fluß strömte ruhig und schimmerte in der Sonne. Ein Pappschild hing an dem Portal des Château. Darauf stand, daß König Leopold zurückkommen würde und die Kommunisten nach Moskau abhauen sollten. Ein kleiner Mann in ärmlicher Jacke, Knickerbockern und Wickelgamaschen stand ängstlich blinzelnd am Eingang. «Monsieur?» «Madame la Comtesse, bitte.» Statt dessen kam die Gräfin zur Tür. Sie trug noch immer die gleiche hochaufgebaute Frisur, die ihr Pferdegesicht noch länger erscheinen ließ. Ihre Finger 276
waren lang und dünn. «Major Nelson.» Ich verbeugte mich leicht. Sie blickte mich fragend an. «Erinnern Sie sich noch? Im letzten Winter waren mein Fahrer und ich einige Tage hier. Ich war damals noch Leutnant.» «Ach ja», sagte sie, schien sich aber nicht zu erinnern. «Mein Fahrer hieß Tony.» «Ah, oui, der hübsche Italiener», sagte sie erfreut. «Ja, Tony. Wissen Sie noch?» «Ja, ja, natürlich. Kommen Sie herein, bitte. Es ist lange her. Sie müssen mir erzählen.» Sie ergriff meine Hand und führte mich ins Foyer. «Sie bleiben natürlich eine Weile», sagte sie. «Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen, Gräfin.» «Das tun Sie gar nicht, Major. Ich freue mich. Können Sie ein paar Tage bleiben? Sind Sie auf dem Weg nach Paris?» «Ich weiß noch nicht recht.» «Ich hoffe, Sie haben lange genug Urlaub.» Dann zu dem kleinen Mann, der im Foyer stand: «Maurice, bringen Sie das Gepäck des Majors ins Gästezimmer.» Maurice tippte an seine Mütze. Später, im Wohnzimmer, fragte die Gräfin nach Allemagne. Dann redete sie über den König und die Kommunisten. Während sie sprach, dachte ich an den Grenzübertritt. Der Tee wurde uns von einem wohlproportionierten, 277
hübschen Mädchen namens Maria serviert, das mich dauernd ansah. Ich dachte so nebenbei dran, mit ihr ins Bett zu gehen. Aber nach einer Weile machte sich die Wärme in dem Zimmer bemerkbar, und ich fing an zu dösen. Ich schlief in dem bequemen, hohen Sessel ein. Als ich erwachte, lächelte die Gräfin. «Pardon mille fois, comtesse», sagte ich und rieb mir die Augen. «Tut mir furchtbar leid.» «Das ist verständlich, Major», nickte die Gräfin. «Sie haben eine lange Fahrt hinter sich.» Dann zu dem Mädchen: «Maria, richten Sie das Bett für den Major.» Dreißigstes Kapitel Der Jeep weckte mich. Vom Fenster aus sah ich ihn in der Sonne den Weg zum Château runterkommen. Drei Schneeköppe hockten vorne, drei belgische Polizisten und ein Zivilist hinten. Ich fischte mir meine Klamotten, die Luger und die 45er und stürzte in Unterhosen die Treppe runter. Maria wollte grade rauf. Sie trat zur Seite. Ihr Gesicht veränderte sich nicht. «Ich bin nich hier», sagte ich. «Sie haben mich nich gesehn. Pas dire rien!» Sie nickte kurz und ging völlig unbeeindruckt rauf. Ich stürzte einen Stock tiefer in eine leere Zimmerflucht. Die Tür ließ ich einen Spalt offen, so daß ich die Halle überblicken konnte. Unten hörte ich fragen: «Où est la 278
comtesse?» Dann Stimmengewirr. Sie kamen die Treppe rauf und steuerten auf mein Zimmer los. Jetzt waren sie über mir. Der Boden knarrte, obwohl sie versuchten, leise zu gehen. Dann ein Poltern, jemand begann zu rennen. Ich stand starr. Durch den Spalt sah ich eine blaue MP-Armbinde und dann einen Belgier. Sie gingen raus. Ich trat vorsichtig ans Fenster. Ihr Jeep stand direkt neben meinem. Ein Schneekopp lehnte sein Schießeisen an den Kotflügel. Als der Sergeant und der belgische Zivilist rauskamen, machte er Männchen. Die beiden hüpften in den Jeep, der wie eine Rakete startete. Von oben hörte ich die anderen runterpoltern. Sie kamen direkt auf mich zu. Ich hielt beide 45er schußbereit. Der Schneekopp hatte die Hände in der Tasche, hinter ihm trotteten zwei Gendarmen. Das Mädchen führte sie gradewegs auf mein Zimmer zu. Ich war zu allem entschlossen. Maria riß die Tür auf und sah mir voll ins Gesicht. «Personne ici», sagte sie eiskalt und machte die Tür zu. Darauf liefen sie runter. Ich war fix und fertig. Undeutliches Stimmengewirr, dann war alles ruhig. Ich blickte wieder aus dem Fenster. Der andere Schneekopp war verschwunden, wahrscheinlich im anderen Flügel. Vielleicht konnte ich den Wald erreichen, ehe sie zurückkamen. 279
Ich zog mich blitzschnell an und schaute noch mal, ob die Luft rein war. Dann rannte ich in mein Zimmer rauf, schnappte den Seesack und schlich wieder runter. Kein Mensch war zu sehen. Die Stimmen draußen kamen deutlich von der anderen Seite. Ich wollte eben in Richtung Wald davon, als jemand rief: «Moment bitte, Sir.» Ich riß mich zusammen. Langsam drehte ich mich um. Ein Schneekopp kam auf mich zu. Es war noch ein grüner Junge, er grüßte zackig. «Was gibts?» fragte ich. «Entschuldigung, Sir. Aber wir haben ein paar Fragen zu Ihrer Person.» «Na, dann raus damit.» «Jawohl, Sir.» «Sind Sie allein?» «Nein, Sir, da drüben sind noch ein paar Leute.» «Solln wir reingehen?» «Wenn es Ihnen nix ausmacht, Sir.» Im Wohnzimmer ließ ich mich in den hohen Sessel fallen. Der Schneekopp postierte sich vor dem Kamin, die Gendarmen an die Wand. Sie beobachteten mich scharf. Sie trugen keine Schußwaffen, nur kurze Gummiknüppel. Dann kam der Sergeant rein, hinter ihm der Belgier in Zivil, der zynisch grinste. «Schon durchsucht?» fragte der Sergeant. Der Schneekopp am Kamin wollte was sagen, aber schon stürzte der Sergeant auf mich los. Ich sprang vom 280
Sessel auf. «Festhalten!» schrie der Sergeant. Ich sprang einen Schritt zur Seite und zog die 45er. Der Sergeant streckte die Hände vor, als wollte er einen Ball auffangen. Der andere Schneekopp langte nach seinem Halfter. Ich zielte direkt auf seine Visage. Als er eine Patrone springen sah, erstarrte er. Alle erstarrten. Der Kerl in Zivil wollte zur Tür raus. Auch er blieb stehen. «Hoch die Pfoten!» brüllte ich. «Hände hoch!» Alle hoben langsam die Hände. Ich kommandierte sie mit den Gesichtern zur Wand und ließ sie die Handflächen an die Wand drücken, die Beine gegrätscht. Der Sergeant wandte ein wenig den Kopf: «Mensch, du bist doch von der Infanterie.» «Halts Maul.» Ich trat ihm auf den Fuß und nahm die 45er aus dem Halfter. Er glotzte brav auf die Wand und zog den Hals ein. Seinem Nebenmann nahm ich gleichfalls die Waffe ab. Als ich den Belgier durchsuchte, fühlte ich, wie er zitterte. Er stank nach Pferden. «Es fehlt noch einer.» Ich stieß dem Sergeant die 45er in die Rippen. «Wo is er?» «Keine Angst.» «Wo is er?» «Draußen beim Jeep.» «Das stimmt», sagte der Belgier. «Du hältst die Schnauze.» «Wir tun, was du willst», sagte der Sergeant. «Ich hab keine Lust, einen Mann zu verlieren.» 281
«Paßt gut auf. Wir gehn jetzt zusammen raus. Wenn ich befehle, Arme runter, dann gehorcht ihr sofort. Wenn einer abhauen will, schieß ich den nächsten übern Haufen.» Sie warteten. «Ihr auch compris?» fragte ich die Gendarmen. «Je comprends», sagte der in Zivil. «Du bist nich gefragt, sie sollen mir selber antworten.» Der eine Gendarm übersetzte dem anderen. Dann sagte der erste französisch: «Wir verstehen, wir machen mit.» Sie schlichen vor mir her wie eine Herde Schafe. Wir kamen an die Tür. «In Ordnung, Sergeant», sagte ich, «nimm die Pfoten runter. Mach die Tür auf, langsam, denk dran, was ich gesagt hab.» Jetzt konnte ich den Schneekopp draußen am Jeep sehen. Er unterhielt sich mit der Gräfin. «Ruf ihn her», sagte ich. «He, Bello!» «Los, Sergeant, lauter!» «He, Bello!» «Ja?» Bello schaute hoch und trabte an. Er stand jetzt mitten auf der Treppe. «Alles in Ordnung?» «Klar», nickte ich, «bleib dort stehn.» «Tu, was er befiehlt», rief der Sergeant, «er schießt sofort.» Bello blieb stehen. «Komm rauf», rief ich. 282
«Jawohl, Sir.» «Ich bin kein Sir», sagte ich. «Gehör nich zu den Scheißoffizieren. Komm her!» Langsam kam er rauf und drehte sich um, wie ich befahl. Ich öffnete das Pistolenfutteral. Es war so neu und eng, daß ich reißen mußte, um die Waffe rauszukriegen. Bello grinste. «Um Himmels willen», sagte ich. «Was wolltste denn mit dem Ding?» Bello grinste noch immer. «Los, schnapp dir den Seesack an der Tür dort. Langsam jetzt. So, jetzt gehn wir raus.» Die Gräfin stand in der Sonne und drehte sich zu uns um. Sie lächelte und schien nicht ganz zu begreifen, was vor sich ging. Die Automatik hatte ich in der Tasche. Sie trabten alle langsam in einer Reihe vor mir her. «Du fährst meinen Jeep», sagte ich zu dem Sergeant. «Du, Bello, holst den Verteiler aus deinem raus.» «Wo is der?» «Er weiß es nich», sagte der Sergeant fassungslos. «Ich werd ihn holen.» «Du nich, der da.» «Los, mach schon», befahl der Sergeant dem Schneekopp. «Tu was er sagt.» Der Schneekopp hob die Haube hoch. Er tat alles in Zeitlupe und fixierte mich scharf. Langsam kam er wieder her und gab mir den Verteiler. Ich sagte zu Bello: «Wirf den Seesack hinten in meinen Jeep. Sergeant, wir fahren.» «Was ist denn los?» fragte die Gräfin. Ihr Lächeln war 283
erstarrt. Der belgische Zivilist, der ihr am nächsten stand, wandte seinen Kopf leicht, behielt mich aber im Auge. Er flüsterte ihr hastig etwas zu. Sie lächelte sogar. Der Sergeant hockte schon hinterm Steuer. Er blickte stur gradaus, als ich mich neben ihn setzte. «Bello», rief ich, «nächstesmal wachst du dein Halfter aber besser!» «Bonne chance», rief die Gräfin. «Viel Glück.» «Tut mir wirklich leid, Gräfin», sagte ich. Dann zum Sergeant: «Ab die Kiste!» «Bonne chance», rief die Gräfin noch mal. Die anderen standen noch immer unbeweglich in einer Reihe. Die Straße stieg steil an. Der Sergeant umklammerte das Lenkrad, daß die Knöchel weiß wurden. Das Château blieb hinter uns zurück. «Sie wolln zur Grenze, nehm ich an?» fragte der Sergeant. «Ich werds dir in die Landkarte reinmalen. Los, fahr zu.» Nach einer Weile sagte ich: «Wer hat mich verpfiffen?» Er schwieg. «Na, raus damit, wer hat euch die Geschichte aufgetischt?» «Sie wissen doch, ich darfs nich sagen.» «Wie du willst, mir machts nix aus, wenn du mich bis nach China fährst.» Der Motor spuckte, ein paar Fehlzündungen knallten, er wollte aussetzen. Der Sergeant gab Gas, und die Maschine fing sich wieder. «Was fehlt ihm denn?» fragte er. 284
«Woher soll ich das wissen?» «Sie werdens nich schaffen. Er wird Sie im Stich lassen.» «Besten Dank.» «Er klingt hundsmiserabel.» «Das liegt an dir», sagte ich. Krähen fielen ins Feld ein, groß wie Habichte. Ich sah ihnen zu. «Bis hierher», sagte ich, «fahr rechts ran.» Ich ließ ihn aussteigen. Ich sagte ihm, ich würde die Pistolen an der nächsten Abzweigung ins Gras werfen. «An der Hecke», fragte er. «Ja, richtig. Renn aber nich hin, eh ich weg bin. Vielleicht kannste dem Hauptquartier weismachen, daß ich schon fort war. Vielleicht auch nich. Wiedersehn, Sergeant.» An der Hecke drehte ich mich um. Er stand noch an der Straßenböschung. Ich nahm jede Pistole einzeln vor und holte die Schießbolzen raus. Keine war geladen. Die hatten wohl ihre Ausbildung vergessen. Ich warf die Pistolen und die Bolzen getrennt über die Hecke. Der Sergeant stand noch immer an derselben Stelle, als ich abbog. Dann verschwand er aus meinem Blickfeld. Sonnenlicht glänzte auf den Wiesen, dann fiel ein schwerer, langer Schatten drüber. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke. Von der Grenze sah ich zuerst den Schlagbaum. Zwei Grenzer kamen aus der weißgestrichenen Baracke. Ihre Uniformen waren hellbraun, und sie trugen hohe, 285
glänzende Militärmützen wie die Landgendarmen. Einer hob den Balken, den anderen winkte ich ran. «Wie komm ich schnellstens nach Paris?» «Ist weit bis dahin.» «Dieser Straße nach?» «Tout droit», sagte er und machte die entsprechende Handbewegung. «Soll ich über Givet und dann weiter südlich?» Der andere Posten kam näher. «Ich sprech ein bißchen besser Englisch. Wohin möchten Sie fahren?» «Nach Paris, vielleicht nach Cannes.» «Nach Cannes?» «Ja.» «Das liegt aber verdammt weit unten.» Er sah mich schärfer an. «Wie komm ich nach Cannes?» «Fragen Sie besser auf der französischen Seite», sagte er freundlich, doch ich hatte die unwillkürliche Veränderung in seinen Augen schon bemerkt. «Ich halt mich immer südlich, ja?» «Ja, richtig, südlich.» Der andere lachte: «Jeep malade», sagte er. «Beaucoup malade», nickte ich. Ich behielt den anderen Posten im Auge. Er ging zurück zur Baracke. Bestimmt hatte er Verdacht geschöpft und telefonierte jetzt. Sie würden mich also in Paris erwarten, vielleicht auch in Cannes. Auf der französischen Seite fuhr ich durch, die Posten tippten nur an ihre Mützen. 286
Die Schneeköppe vermuteten jetzt mit ziemlicher Sicherheit, daß ich nach dem Vorfall im Château so weit wie möglich nach Süden fahren wollte. Nie kämen sie auf den Gedanken, daß ich bloß mal raus aus Belgien und gleich wieder reinfahren würde. Nach einer halben Stunde hängte ich mich ans Ende eines Militärkonvois und überquerte die Grenze in Gegenrichtung, ohne daß ein Hahn nach mir krähte. Ich schwenkte auf die Straße nach Namur ein. Am Stadtrand auf der Chaussée de Dinant, wo die Tramschienen an lauter zerbombten Häusern längs der Maas vorbeiführten, bockte der Jeep so, daß ich anhielt. Ein belgischer Mechaniker sah ihn sich an. «Läßt sich schon machen, aber die Batterie is im Eimer.» Ich sagte ihm, ich würde eine besorgen. Mit der Tram fuhr ich in die Stadt. Vorher verwandelte ich mich in einen Pionier. Mit der dunklen Fliegerbrille sah ich genauso aus wie all die anderen Idioten. Einunddreißigstes Kapitel Namur war überlaufen mit Truppen vom dritten Versorgungsdepot, die auf dem Heimweg waren. Ich mietete ein Zimmer im Hôtel de Ville, das auf den Bahnhofsplatz rausging. Es war schon dunkel, die Lichter vom Platz fielen rein. Im Café unten ging es hoch her. Akkordeon und Schlagzeug. Dann hörte ich Geschrei und ging ans Fenster. Das ganze Café stand um zwei raufende GIs herum. Da tauchte auch schon ein Schneekoppjeep 287
auf. Einer der GIs lief davon, der andere lag blutverschmiert am Boden. Die Schneeköppe packten ihn am Kragen und verluden ihn. Ich erstarrte. Gleich mußten sie ins Café kommen. Aber der Jeep fuhr ab. Die Menge strömte wieder rein, der Lärm ging drinnen weiter. Während der Schlägerei hatte nicht mal die Kapelle pausiert. Am nächsten Morgen saßen bloß zwei Nutten im Café. Eine puderte sich grade. Ich bestellte beim Wirt an der Bar einen Kaffee. «Sie nicht schlafen mit Mademoiselle letzte Nacht», sagte er. «War müde.» «Besser für Sie, wenn Mademoiselle haben.» Der Wirt war klein und hatte eine Glatze. Sein Hemd hatte keinen Kragen. «Was war heute nacht los?» fragte ich. «Ich hab die MPs einen schnappen sehn.» Er zuckte die Schultern. «Sie haben gerauft. Immer raufen wegen nix. Ein bißchen crazy avec la guerre. Diese Nacht Sie schlafen mit Mademoiselle. Besser schlafen hier als in Kaserne, non?» «Ja, viel besser.» «Wenn ich sagen MP, Offizier schlafen mit Dame, kein Ärger. Besser für Sie.» «Vielleicht bin ich heut nacht nich so müde.» «Ach, Sie junger Bursche.» Ich schwieg. Er blickte sich um. «Hier nie Ärger mit la police américaine», sagte er. «In anderen Hotels kommen Polizei. Aber nie hier zu Louie. 288
Ich sehen Sie kommen, und ich denken, vielleicht er is malade. Keine Sorgen bei Louie. Wenn etwas brauchen, kommen Sie zu mir. Sprechen Sie Französisch?» «Ein bißchen.» «Bißchen beaucoup, hm? Was für ein Mädchen möchten Sie?» «Hat die MP gestern abend nach mir gefragt?» «Wenn sie fragen, ich sagen, Offizier schlafen mit Dame. Viele officiers américains schlafen mit Dame. Nie MP stören Offizier. Ärger mit der MP, non?» «Ein bißchen», sagte ich wieder und fühlte mich unbehaglich. Die beiden «Damen» beobachteten mich. Sie saßen ganz grade. Eine kam rüber und hängte sich bei mir ein. «Laß das, is noch zu früh», sagte ich. Am Abend kam ich durch eine Straße, in der ein Café am andern lag. Ich stand grade vor einem überfüllten Lokal, als ich Bremsen quietschen hörte. Ich wußte, wer so bremste, ehe ich sie noch sah. Zwei Schneeköppe glotzten mich an. «Na, was gibts?» fragte ich. «Gar nix, Sir», grinste der Fahrer. «Aber wenn Sie da reingehn, kriegen Sie Ärger.» «Ein Pulverfaß», nickte der andere. «Blut fließt eimerweise. Die mögen nämlich keine Offiziere.» «Wo isses denn besser?» fragte ich. «Da unten im Paradies», sagte der Fahrer. Ein GI und zwei Mädchen kamen aus dem Café raus. Er 289
war betrunken, die beiden stützten ihn. Sie gingen die Straße runter. Die Nutten kicherten. Die ganze Zeit über folgten die Schneeköppe ihnen mit den Augen. «Besten Dank für den Tip», sagte ich. «Nich der Rede wert, Sir», sagte der Fahrer. Als sie weg waren, zog ich meine Hand aus der Tasche. Der Griff der 45er war warm und feucht. Vor dem Paradies stand ein runtergekommener Portier. Er riß die Tür auf und tippte an seine schäbige Mütze. Der Lärm von drinnen traf mich wie ein Schlag. Von der umlagerten Bar her segelte ein blondes Mädchen auf mich zu. Später tanzten wir, soweit das auf der vollen Tanzfläche möglich war. Die ganze Zeit machte sie eifrig ziemlich eindeutige Bewegungen. «Hast du Lust, Leutnant?» «Umsonst?» «Nix umsonst.» «Hab ichs nich gewußt!» «Wieviel zahlst du?» «Gar nix.» «Bis später, Leutnant.» Sie wackelte ab. An der Bar hatten mich ein Major und ein Arzt im Rang eines Captain beobachtet. Der Captain grinste vage. «Ziemlich kurzlebige Romanze», meinte der Major. «War sie zu teuer?» «Soweit sind wir gar nich gekommen.» «Von mir hat sie zweitausend gewollt», sagte der Major. «Ich muß wohl besser aussehn», sagte der Captain. «Von mir wollte sie bloß tausend.» 290
«Der Dienstgrad is entscheidend», sagte ich. «Darf ich mich vorstellen? Mein Name is Jim MacAllister», sagte der Major. «Und das is Doktor Cohn.» «Jerry», nickte der Captain. Wir schüttelten uns die Hände. Der Major war blond und untersetzt. Der Doktor, ein Captain, war größer, hatte aber eine komisch gedrückte, scheue Art. Ich stellte mich als Alexander Bello vor. Der Major vermutete, daß ich in Sonderauftrag hier sei. Ich gab zu verstehen, daß er recht vermute. Cohn schaute die ganze Zeit den Mädchen nach. Später hatten wir viere bei uns, die nicht auf Bezahlung aus waren. Vier waren natürlich ein Problem. Das überzählige Mädchen schlug vor, noch einen vierten Mann zu suchen. Captain Cohn stimmte auf seine scheue Art zu. Nach einer Woche war ich mit MacAllister und Cohn überall rumgekommen. Schneeköppe ignorierten Offiziere, aber das ungute Gefühl wurde ich nicht los. Hin und wieder gingen wir in den Offiziersclub oder in ein Kino, das mit Soldaten überfüllt war. Ein Film war besonders gelungen, über die Kämpfe in Burma, mit Errol Flynn. Die Soldaten wollten sich kranklachen, wie Flynn mit gepflegtem Schnurrbärtchen im Busch rumtappte. So eine Figur konnte eigentlich nur ein Schwert zücken. Natürlich war der Film todernst gemeint, aber er war an der Hollywoodfront entstanden. Mädchen gab es auch genug, und allein ins Bett zu gehen war unmöglich. Die Leute hätten einen für malade gehalten. 291
Das dritte Versorgungsdepot, eine großzügige Anlage, war von einer Mauer umgeben. Die Offiziersquartiere waren die vergammeltsten, die ich je gesehen hatte. Eines Nachmittags kam ich mit MacAllister auf die lausige Geschichte zu sprechen, bei der ein Offizier einem GI befiehlt, ihm sein Loch zu graben. Major MacAllister meinte, das sei doch völlig in Ordnung, und ich sagte, daß es das verdammt noch mal nicht sei. Ich erzählte ihm, wie damals im Wald von Belleau ein Soldat stundenlang ein Loch für den Kompaniechef buddelte, wie die Nacht kam und der Soldat für sich keinen Unterschlupf gegraben hatte. Am nächsten Morgen, nachdem uns Stukas beschossen hatten, fanden wir nur noch Teile von ihm. Ein Captain, einer von West Point übrigens, stimmte mir zu, was mich wunderte, da ich ihn für ein idiotisches Rindvieh gehalten hatte. MacAllister fand das alles vollkommen verständlich, weil ich im tiefsten Herzen noch immer gemeiner Soldat sei. Kommandeure sollten sich nicht mit Lappalien abgeben. «Klar, das is nur was für Hohlköpfe», knurrte ich. «Nich gleich so böse werden», sagte MacAllister begütigend. «Hören Sie, Major, es geht ums Überleben. Die erste Sorge eines Offiziers gilt der Sicherheit seiner Truppen, das wurde mir eingebleut.» «Das is idealistisch und dumm», sagte MacAllister. «Da bin ich anderer Meinung.» «Ich stimm Bello zu», sagte der von West Point. «Es gibt ne Moral, ich mein die Wirkung, die die Sache auf die 292
Leute hat.» «Aha, darum sind Sie nich mehr als Captain geworden», grinste MacAllister. «Hört zu, ihr zwei Hübschen. Ich bin in Nordafrika gewesen, dann rauf nach Italien; ich hab die Invasion in Frankreich mitgemacht. Aber nich mal da hab ich mich als kleiner George Washington gefühlt. Hab immer meine eigene Haut in Sicherheit gebracht. Hätt ich mich auch um die anderen gekümmert, wie Sies von einem Offizier verlangen, wär ich nie durchgekommen. Ich wär schon lange begraben. Ich war heilfroh, aus der Infanterie raus und zum Stab zu kommen. Ich mach da keinem was vor. Es war hinten verdammt viel sicherer als in der vordersten Linie. Ich hatte die Schnauze voll von Kampflinien.» «Versteh schon, aber der Soldat tät noch leben, wenn er nich das Loch hätt graben müssen», sagte ich. «Wie gehts dem Kompaniechef?» «Glänzend. Er kam auch nach hinten. Und dann bekam er sogar den Silver Star, nach der Überquerung der Ruhr. Man hat mir gesagt, er sei gute zwei Meilen vom Fluß entfernt gewesen, als seine Kompanie übersetzte.» «Hört doch mit dem Scheißkrieg auf», sagte einer. «Wie denkst du drüber, Jerry?» fragte ich Captain Cohn. «Laßt mich dabei aus dem Spiel», sagte er, «meine Spezialität is der menschliche Körper.» «Weißte, Bello», meinte MacAllister noch mal, «was dein Fehler is? Du hast nich aufgehört, wie 'n gemeiner Soldat zu denken. Wenn der Krieg weitergegangen wär, hättste dich auch geändert.» 293
«Zum Teufel mit eurem Krieg», sagte einer. «Ich stimme zu», sagte Cohn. «Wärs nich Zeit fürs Paradies?» «Kriegste den Schlund nich voll?» fragte ich. Captain Cohn lag auf seinem Bett. Er zog sich das Bettuch übers Gesicht; seine Mütze hatte er noch auf. «Mach schon, Jerry», maulte MacAllister. «Ich spendier nen Drink.» Cohn hielt das Bettlaken feierlich vom Gesicht weg und deklamierte: «Alkohol hat verheerende Wirkung auf den menschlichen Körper, wenn in zu großen Mengen genossen …» Dann verschwand er wieder unter dem Laken. «Los, raus!» «Nee, danke», murmelte Cohn unter dem Bettuch. «Ich will meinen Kadaver lieber aufsparen für das, was vor mir oder unter mir liegt.» «Na, dann gehn wir zwei, Bello», sagte MacAllister resigniert. Das Café im Hôtel de Ville war vollgestopft mit Soldaten. Wir saßen an einem Tisch an der Spiegelwand. «Der blöde Kellner is grade an uns vorbeigelatscht», sagte Mac-Allister. «Hat viel zu tun.» «Ich hol uns was.» MacAllister boxte sich zur Bar. Ich sah, wie ein GI ihn anmeckerte. Der GI sprang zurück und langte in seine Tasche. MacAllister wurde bleich und wich erschrocken zurück. 294
«Was war los?» fragte ich ihn. «Ach, laß mal.» Er war noch immer blaß und zitterte. Ich stand auf. «He, Louie, wie wärs mit zwei Cognacs für uns?» «Ein Moment», rief der Wirt rüber. «Nach uns, Jack», zischte der GI. «Redste mit mir?» «Ja, mit dir, Jack. Und du setzt dich besser gleich hin zu deinem Freund, dem Major.» Dieser GI war ein ungewöhnlicher Typ. Er sah mexikanisch oder indianisch aus mit seinen breiten Backenknochen, den kohlschwarzen, schräggeschnittenen Augen und dem Haar, das schwarz glänzend war wie eine Krähe. Seine Fingernägel waren lang wie bei einer Nutte. Ganz ruhig langte er wieder in seine Tasche. «Laß ihn in Ruhe, er hat ein Messer», schrie MacAllister. In dem Augenblick segelten zwei Schneeköppe rein. Major Mac-Allister sprang auf, sein Gesicht wurde puterrot. «Sofort festnehmen!» schrie er und deutete auf den GI. Die Schneeköppe glotzten. «Ich sagte verhaften! Er hat Leutnant Bello und mich mit nem Messer bedroht!» Der GI wich zurück, als die Schneeköppe auf ihn losgingen. Ein Schneekopp zog seinen Knüppel. «Schon gut, schon gut», murmelte der GI. Ein Schneekopp packte seinen Arm, drehte ihn auf den Rücken und begann ihn zu durchsuchen. Er zog ein Messer raus. 295
Alles war zur Seite gewichen. Ich überlegte krampfhaft, wie man hier heil rauskommen könnte, aber da kam schon ein Schneekopp zu uns rüber. Der Major war jetzt sehr mutig und erklärte wütend, was geschehen war. «Haben Sie den Vorfall beobachtet, Leutnant?» fragte mich der Schneekopp. «Ja, natürlich», brüllte MacAllister. «Hab ich Ihnen doch schon gesagt. Der Leutnant wurde doch auch bedroht!» «Hat er wirklich das Messer gezogen und Sie bedroht, Sir?» «Verbessern Sie mich nich», schnaubte MacAllister. «Tu ich gar nich, Sir.» «Wir wollen mit Captain Mooney selber sprechen.» «Wer is Captain Mooney?» fragte ich MacAllister. «Dem werd ichs zeigen», sagte er. «Wer is Captain Mooney?» «Guter Freund von mir.» «Ein MP?» «Dem werd ichs … Ja, ein MP.» «Woher kennste den denn?» «Bello, red nich soviel. Sei froh, daß die MPs grade vorbeikamen.» «Hör, Major, die brauchen nur deine Aussage.» «Red nich, Leutnant.» «Jawohl, Sir», sagte ich. Die Schneeköppe trabten ein Stück vor uns. Im Hauptquartier brauchte man uns nur nach der AGO-Karte zu fragen. Mir wurde plötzlich sehr heiß. «Major», ich stieß ihn in die Seite, «der Kerl da hat 296
Strafe verdient.» «Da haste verdammt recht.» «Aber denk doch an die Umstände. Was uns das Zeit kostet!» «Warum denn?» «Na, denk doch an den Prozeß! Man kann nich bloß ne Aussage machen, man muß später auch erscheinen! Kann uns drei Monate oder länger kosten.» «Ach was, du spinnst.» «Glaub mir doch, Major. Unter Umständen hängen wir in dieser Stadt länger als sechs Monate rum und warten auf das Verfahren. Beleidigung eines Offiziers kommt vor ein Gericht, und das verlangt unsere Anwesenheit.» «Na, schön», sagte MacAllister. Wir hatten die Tür des Hauptquartiers erreicht. Der Schneekoppleutnant brachte die Anklage vor. Major MacAllister unterbrach ihn. «Wir haben uns entschieden, nich auf Bestrafung zu drängen. Leutnant Bello und ich beschlossen das auf dem Weg hierher. Würd der Armee keinen Dienst erweisen, wenn er grade jetzt ins Loch kam. Er steht wie wir alle vor der Heimreise und war vielleicht drum 'n bißchen aufgeregt.» «Na ja», sagte der Schneekoppleutnant und legte seinen Bleistift nieder. «Ich mein, dann können wir verduften», sagte ich. «Der Kerl soll erst mal seinen Rausch ausschlafen und dann nach Hause gehn.» «So ähnlich wirds wohl gehn», sagte der Leutnant langsam. Er sah mich komisch an, ich fror bis ins Mark 297
meiner Knochen. Aber erst, als ich meinen Steckbrief sah, dachte ich, ich müßte tot umfallen. Er hing über allen anderen an der Tafel. In großen roten Buchstaben stand drauf: ACHTUNG GESUCHT TOT ODER LEBENDIG
Pvt. Nicholas Leonidas (Foto nicht vorhanden) wegen: Mord, Freiheitsberaubung, bewaffneten Widerstands, schweren Diebstahls, Ausbruchs und Desertion Personenbeschreibung : Größe: 180 cm Gewicht: 82 kg Haarfarbe: schwarz Augen : braun Hautfarbe: dunkel Besondere Kennzeichen: Brandnarben an beiden Beinen Nationalität: Amerikaner Rasse: weiß Achtung: Der Gesuchte ist schwer bewaffnet und äußerst gefährlich. Macht von Schußwaffen Gebrauch. Äußerste Vorsicht geboten. Auskünfte über seinen Aufenthalt sofort an: COMMANDING OFFICER
PROVOST GENERAL'S OFFICE 298
HEAD QUARTERS, EUROPEAN THEATER APO 513 (Einzelheiten auf Seite 2, 3, 4 und 5). Zweiunddreißigstes Kapitel Unter der offenen Tür zum Nebenzimmer stand plötzlich ein molliger MP-Captain. Er hatte ein rosiges, etwas aufgedunsenes Gesicht. Das Mundstück seiner Pfeife rieb er gedankenverloren an den Zähnen. «Was is los?» fragte er. Der MP-Leutnant nickte zu dem Steckbrief hin. «Meine Güte, Captain», sagte MacAllister. «Da haben Sie aber nen Kerl hier!» «Na ja», sagte der MP-Captain. «Was führt Sie zu mir, Major?» «Ach, 'n kleiner Streit mit nem GI. Is schon erledigt.» «Gabs Ärger?» «So was is ärgerlich.» MacAllister deutete mit dem Daumen auf das Plakat. «Liest sich wie ne Speisekarte.» «Das is noch nich der ganze Braten», sagte der MPCaptain. «Wie stehts im Paradies, Major?» «Ach, immer ganz nett, wir vermissen Sie», sagte MacAllister, aber schon wieder klebte er am Steckbrief. «Hat er das wirklich alles verbrochen?» fragte er. «Noch mehr meinetwegen», gähnte der Captain. «Kann mich mal.» «Das is Leutnant Alexander Bello, der will auch nach 299
Hause», stellte mich MacAllister vor. «Gestatten, Mooney, Leutnant.» «Freut mich, Sie kennenzulernen, Captain.» «Ganz meinerseits. Mit MacAllister werden Sie Ihren Spaß haben», sagte Mooney und schüttelte mir die Hand. «Hatten Sie Ärger?» «Nix Besonderes», sagte ich. «Ein gewisser Garcia zog gegen Major MacAllister und Leutnant Bello sein Messer», informierte der Leutnant den Captain. Sein Gesicht blieb unbeweglich. «Eigentlich hat ers noch gar nich gezogen», sagte ich. «Ich werd ihm den Arsch polieren», schnaufte Mooney … «Wo is er?» «Inhaftiert», sagte der Leutnant. «Die beiden Herren wollen aber keine Klage einreichen.» «Hat doch keinen Sinn, nich?» sagte MacAllister. «Warum soll man den Kerl so kurz vor der Heimreise vors Gericht bringen? Also Schwamm drüber. Das is doch 'n anderer Kerl!» «Was für 'n Kerl?» «Na, der da!» MacAllister deutete mit dem Kopf auf den Steckbrief. «Den wollen Sie erwischen?» «Klar werden wir den kriegen. Is mir aber eigentlich scheißegal. Hol der Satan den ganzen Krempel, das macht mich kaputt!» «Ach, reden Sie doch nich!» «Sie wissen noch nich mal die Hälfte. Die Gefängnisse sind überfüllt. Jede Nacht Aufregung, Raufereien.» «Na und?» 300
«Mein Magen. Immer Schmerzen. Verdammt, dieser ganze Krempel. Davon bekommen Sie ja nix mit. Ich habs nich gern, wenn ein GI Ärger macht. Man sollte sie alle aufhängen. Den da besonders. Drei von uns hat er mit ner Thompson umgelegt. Vor zwei Wochen ungefähr tanzten hier die Puppen. Es hieß, er sei in Namur. Alles mit Thompsons, Gewehren, Dolchen und Zahnstochern unterwegs. Aber da hättste genausogut nach ner Nadel im Heuhaufen stöbern können.» «Ich vermute, ihr habt ihn verfehlt», grinste MacAllister. «Ja.» Captain Mooney klopfte wieder gedankenverloren mit dem Pfeifenmundstück gegen die Zähne. «Wo is er jetzt?» fragte ich. «In Marseille», erwiderte Mooney, «ich bin verdammt froh drüber. Is nich gut Kirschenessen mit dem. Obwohl ich nich glaub, daß alles stimmt. Aber die drei MPs hat er aufm Gewissen.» Ich fragte: «Wo war das?» «In Gent. Er war ausm Hospital ausgebrochen. In Brüssel machen die MPs in die Hose, wenn sie nur seinen Namen hören. Überall soll er aufgetaucht sein. Stimmt natürlich hinten und vorn nich. Aber für die Sache in Gent sollte man ihn aufhängen und vierteilen. Ich kann zwar verstehen, wenn einer abhaut, oder vielleicht doch nich. Ich täts gern begreifen. Aber wenn sie sich an unsern Jungs vergreifen, kenn ich keinen Spaß. Wir haben mal so nen Fall gehabt. Der hat einen wirklich netten Kerl umgelegt. Saudumm von ihm. War nich mal 'n Deserteur, nur besoffen. Zog ne deutsche P38 und legt ihn um. Ich hab 301
ihm ganz schön den Arsch poliert, kann ich euch sagen. Das scheußliche dran is, daß es unsere Jungs und nich Deutsche sind.» «Was hat er denn gekriegt?» fragte Major MacAllister. «Was denkste denn? Erhängt haben sie ihn. Dem Leonidas wirds auch so gehn. Ich spreche wirklich nich gern drüber, macht mich alles magenkrank. Ich darf mich nich aufregen, krieg sonst noch 'n Geschwür. Mensch, ich bin froh, wenn die alle drüben sind. Für Sie is der Krieg vorbei, für mich nich. Wenn ich schon so nen Steckbrief seh, wird mir schlecht. Darf ich Ihnen was anbieten? Hab einen unwahrscheinlichen Armagnac da, mindestens fünfundzwanzig Jährchen alt. Tut einem gut, brauch ich ab und zu. Aber nee, ich darf nich. Verdammt, mein Magen!» Später, auf dem Ledersofa in der Ecke, bot er uns ein Glas von seinem sagenhaften Armagnac an. Obwohl er rühmte, wie gut der sei, half er offensichtlich wenig, seinen großen Kummer zu vergessen. So nebenbei bemerkte er, er wisse nich, warum ihn die Armee für einen guten Offizier halte. «Sind doch alles noch Kinder! Und, du lieber Gott, die Straflager sind zum Bersten voll. Wimmeln wie die Ameisen dort drin. Sehn Sie sich das mal an.» Der Captain stemmte einen dicken Wälzer hoch. «Das is nich etwa 'n Telefonbuch, da stehn die Namen von fünfzigtausend Deserteuren drin – lauter offizielle. Hätten Sie nich gedacht, was?» Major MacAllister blätterte respektvoll drin herum. Dann gab er es mir. 302
«Sehn Sie die Sternchen hinter jedem Namen?» fragte Captain Mooney. «Jedes steht für einen Monat Desertion. Und da sind zwanzig und mehr manchmal. Die einfachen Fälle mit einer Woche oder so, die stehn hier gar nich drin. Und auch nich die, die sich angeschossen haben, um von der Front wegzukommen, auch nich die angeblich Kampfmüden und die angeblich Verrückten. Nur die Deserteure. Wenn einer mal ganz schnell ne komplette Infanteriedivision aufstellen will, braucht er nur die Deserteure um den Place Pigalle aufzulesen, er braucht nich mal ganz Paris dazu. Is doch toll, was? Man fragt sich, wie wir den Krieg überhaupt haben gewinnen können.» Er nahm einen Schluck. «Die Armee hat solche Leute wie Leonidas falsch behandelt. Sollte man nich sagen, weiß ich. Aber fünfzigtausend Deserteure, alle mit Scheißangst, erwischt zu werden, das is doch 'n Problem. Grade jetzt sinds nich so viele, ne ganze Menge haben wir geschnappt, aber wie viele laufen noch frei rum? Und das wird noch jahrelang so gehn! Das beste, was ich je gehört hab, is die Geschichte von dem runden kleinen Frosch in Paris, der ein Café hatte. Trug ne Baskenmütze und so, die Zigarette klebt an der Unterlippe. Könn Sie sich den vorstellen? Nur war er kein Franzose.» «Ein GI?» fragte MacAllister. «Nee, ausm Ersten Weltkrieg.» «Was?» «Verrückt, nich? Die Nudel war ausm ersten Krieg. Im Juli 1918 setzte er sich bei Château Thierry ab. Er machte 'n Café auf, hatte Familie, quakte wie 'n Franzose. 303
Vermutlich hat er sich mal bei irgendwelchen GIs verschwätzt. Seine Freunde schrieben alle möglichen Bittschriften, aber er kam trotzdem in Untersuchungshaft. Stellen Sie sich vor: der war siebenundzwanzig Jahre Deserteur. Sie konnten ihm nich viel tun, wahrscheinlich verjährt das Ganze. Die Sache macht mir Spaß. Stellt euch vor, wie lange der arme Hund Angst haben mußte! Wissen Sie, was er nach den siebenundzwanzig Jahren gesagt hat, als sie ihn endlich schnappten? Ich bin froh, daß es vorbei is! Und das nach siebenundzwanzig Jahren! Er hatte sein Café sogar während der deutschen Besatzungszeit. Is doch umwerfend, was? 'n paar dieser Typen sind zwei- und dreimal ausgekratzt. Der auf dem Steckbrief angeblich zwölfmal. Hört sich an wie 'n Märchen, aber hier stehts schwarz auf weiß. Sie kennen wahrscheinlich das Gefängnis der 7. Armee in Deutschland nich von innen. Das is 'n richtiges Verließ mit Wall und Graben und Zellen unter der Erde. Und dieser Leonidas is angeblich dort raus. Nich nur er allein, sondern noch ne andre üble Type namens Baron, insgesamt vierzehn Mann. Dabei hätten sie beinahe drei Wachen umgelegt. Wie sind die bloß da rausgekommen? Schon bei den Nazis war der Bau 'n Gefängnis. Nie ist dort jemand rausgekommen. Und die 7. Armee hatte dreimal soviel Wachen stehn wie die Deutschen. Aber diese Type klettert über die Mauer, schwimmt durch 'n Graben und rennt über ne Lichtung, während die Wachen mit Maschinengewehren ballern. Sie knallten zwei Mann ab. Was ich nich versteh, is, wie er aus der Zelle und über die Mauer is. Er hat doch 'n Seil 304
gebraucht, oder? Und wie hat er das gekriegt? Jeder Gefangene wird doch gefilzt. Außerdem mußte er die Zellentür aufkriegen und den Wärter überwältigen. Sie mußten an der Wachstube vorbei! Ich glaub, die ganze Geschichte is 'n Märchen. Ich bezweifle nich, daß er ein paarmal ausgerückt is. Aber bei Gott nich zwölfmal und nich bei der 7. Armee. Und doch stehts hier! Trinken Sie doch leer, meine Herren.» Der Captain füllte jedem noch mal nach. Er grinste. «Er is kaltblütig bis dorthinaus. Fast täglich erhalten wir Hinweise, daß er hier und da aufgetaucht is. Viele Leute glauben dran, ich nich. Ich glaub längst nich alles. Mal soll er in Wien aufgetaucht sein und mal in Reims. Oder gleichzeitig hier und dort. Bis jetzt wars immer nur 'n Schatten. Er verarscht die ganze Armee!» «War er wirklich in Namur?» fragte MacAllister. «Glaub ich nich. Das war auch wieder so ne Sache, um uns in Trab zu halten. Verstehn Sie mich nich falsch, natürlich isser gefährlich. Es is mehr als ne Vermutung, daß er die Streife umgelegt hat. Aber alles wurde wild, als dieser Leonidas mitten ins Brüsseler MP-Hauptquartier reinmarschierte und seelenruhig mit ner Maschinenpistole den Laden hochgehn ließ. Diese Geschichte schießt doch 'n Vogel ab! Ohne Grund, nur einfach so zum Spaß! Is ohne Zweifel das Verrückteste, was ich je gehört hab. Wer weiß, ob er jetzt in Marseille is, wer weiß! Ich hoff, es stimmt. Ich hoff auch, sie kriegen ihn bald. Neunzig Tage Urlaub solls geben. Is doch 'n Anreiz, nich? Und wir haben den Salat. Wir müssen solche Typen fangen. Und 305
dann brechen sie wieder aus. Beim erstenmal sind sie nich so schlimm. Beim zweitenmal werden sie doppelt gefährlich. Beim drittenmal – na, da muß man sich klarmachen, daß mans mit nem Verzweifelten zu tun hat, der alles auf eine Karte setzt. Und deshalb muß man ihn abknallen. Der ganze Krempel steht mir bis hier. Manchmal denk ich, es is doch ein Scheißkrieg.» Dreiunddreißigstes Kapitel Ich war wie betäubt. Jetzt wußte ich es also. Ich hatte nicht nur die Brüsseler Schneeköppe auf dem Hals, sondern jeden gottverdammten Schneekopp in Europa. Der Captain stand auf. «Trinken wir einen drauf, Leutnant.» «Nee, vielen Dank», sagte ich. «Wir verziehn uns jetzt», wehrte MacAlIister ab. Der Captain bat uns, noch mal vorbeizuschauen. «Nur ungern in diesen trauten Gemächern», sagte MacAlIister. «Wann, glauben Sie, finden Sie 'n Platz auf dem Schiff?» «Wer soll das wissen? Das kann bei den Rindviechern vom Depot von einem Tag auf den andern gehn.» «Na ja, dann wartet noch 'n bißchen», sagte Captain Mooney. Wir verabschiedeten uns. Ich wünschte mich so weit wie möglich fort. Wie ich das durchhielt, war mir schleierhaft. «Na, was halten Sie von Captain Mooney?» fragte MacAlIister. 306
Ich sagte nichts. «He, Bello, biste weggetreten?» «Ich denk an das, was er gesagt hat.» «Was hältste von Mooney?» «Undurchsichtig. » «Wieso?» «Weil er nich weiß, auf welche Seite er soll.» «Er wollte erst nich so richtig raus mit der Sprache. Was glaubste, stimmt mit seinem Magen nich?» «Woher soll ich das wissen?» «Reg dich nich gleich auf!» «Tu ich gar nich, Major.» «Is es wegen dem Kerl, hinter dem sie so her sind?» «Nee.» «Regt mich auch überhaupt nich auf. Sie werden ihn fangen und aufhängen. Na und? Geht uns doch nix an.» Im Café vom Hôtel de Ville saßen wir am Fenster. Ich war noch immer benommen. Sie würden mich abknallen oder aufhängen, das war alles. Was konnte mich noch davon abhalten, nach Brüssel zu gehen? Was war das noch für ein Unterschied? Mir war unwohl bei dem Geschäft mit Al, dem Belgier, und den beiden grünen Jungs, aber was blieb mir anderes übrig? Ich hatte eigentlich überhaupt keine Wahl. Ich schwindelte MacAlIister vor, ich müßte ne Nutte in der Chaussee de Dinant besuchen. Ich nahm eine Tram und fuhr zur Garage. Der belgische Mechaniker fragte mich nach la batterie, ich bräuchte sehr 307
notwendig eine nouvelle batterie, diese Batterie kaputt. Ich lungerte in einem kleinen Café rum und sah auf die Meuse. Sobald es dunkel war, haute ich mich in den Jeep. Er sprang an. Ich fuhr nach Brüssel. Bei Nora waren Offiziere an der kleinen Bar. Nora nahm mich beiseite und fragte, ob ich schon le journal gelesen habe. Die Sache beim Château stand auf der ersten Seite vom Le Soir. Ich nahm die Zeitung mit auf mein Zimmer. Der Bericht war völlig entstellt. Ein Soldat, wahrscheinlich ein Amerikaner, hätte sich als Major ausgegeben und sieben Mann bedroht. Auch eine Gräfin wäre bedroht und mißhandelt worden. Suzy kam spät nachts zu mir, nach ihrem letzten Kunden. Sie erzählte mir, ihr Kunde sei völlig blau und schlafe jetzt. Sie hatte Blumen in der Hand. Sie habe sich Sorgen um mich gemacht. Am frühen Morgen ging sie. Ich rief Al, den Belgier, an. Er wußte über alles Bescheid. Die beiden grünen Jungs waren auch eine Weile weggewesen. Brüssel war für die armen Seelen meiner Bruderschaft unbewohnbar geworden. Viele wurden festgenommen. Die belgische Kripo entwickelte große Aktivität. Auch seine Geschäfte im Universal waren eine Zeitlang schlechtgegangen. Aber jetzt gabs wieder mehr Luft, und Richard und Beck waren grade wieder aus Lüttich zurückgekommen. Ich ärgerte mich halbtot, daß er mir das alles am Telefon erzählte. «Hör doch mal», sagte ich. «Ich kann mich hier nich blicken lassen. Das weißte doch. Ich brauch 'nen 308
Personalausweis.» «Geht in Ordnung. Ich kenn nen Fotografen. Du könntest als étranger grec auftreten.» «Wie lang dauerts damit?» «Erst müssen wir das d'Or vorbereiten.» «Gehts nich früher?» «Nee, dauert schon seine Zeit.» Beim Fotografen zog ich die Jacke eines Belgiers und eine gepunktete Krawatte an. Einige Tage später traf mich Al mit den beiden Knaben, und wir fuhren in die Stadt zum Café d'Or. Ich parkte den Jeep auf dem Grande Place. Glocken läuteten. Al stieg als erster aus. «Ihr wißt, was ihr zu tun habt», sagte er. «Hast uns schon tausendmal gesagt», erwiderte ich. «Bitte keinen erschießen.» «Geh nach Hause, Al.» «Viel Glück.» «Denn man los», meinte Richie. Richie war ziemlich ruhig, Beck saß kerzengrade, die Knie gegen meinen Sitz gestemmt. Er hielt sich an der Lehne fest. Er grinste fortwährend. Al stand noch da, als wir abfuhren. «Viel Glück», rief er uns nach. Aus dem Schatten der engen Straße kamen wir auf den Boulevard Anspach. Wir überquerten die Rue van Artevelde, und ich parkte vor dem winzigen Café. Dunkle Vorhänge verdeckten die Fenster halb. Ich griff nach dem 309
Trenchcoat und der Fliegermütze unter meinem Sitz. «Wär doch 'n Ding, wenn inzwischen der Mantel geklaut würde», grinste Beck. Ich knöpfte meine Jacke zu und setzte die Mütze auf. «Gehn wir», sagte Richie. «Wer paßt auf 'n Jeep auf?» fragte ich. «Wär 'n verdammtes Ding, wenn so 'n Belgier Mantel und Mütze klauen tät», wiederholte Beck. «Einer sollte beim Jeep bleiben», sagte ich. «Wer?» «Du vielleicht?» fragte Richie frech. «Nee, Beck.» «Also los. Bringen wirs hinter uns.» «Gut. Ich geh erst rein.» «Wie ausgemacht.» «Wär doch 'n Ding, wenn wir sie drinnen ausnehmen und sie uns draußen», grinste Beck. Sie blickten rechts und links die Straße runter. Das Café war voll. Belgier aßen zu Abend. Ein gutaussehender, großer Belgier mit einer hübschen Frau am ersten Tisch fiel mir sofort auf. Er saß dort, genau wie Al es beschrieben hatte. Ein kleiner Ober kam ran. Er blickte zur Küche, wo das Geld lag. «Monsieur?» fragte der Ober. Er war offenbar Deutscher. «Le cabinet, s'il vous plaît.» Er deutete nach hinten. Beck und Richie waren noch draußen und glotzten durch die Vorhänge. Im WC stellte ich fest, daß es von hier keinen Weg nach 310
draußen gab. Als ich wieder reinkam, überflog ich noch mal den Raum, sah, wie sie futterten, sich dezent unterhielten. Gedämpfter Lärm drang aus der Küche. Der große Belgier saß weiterhin am ersten Tisch mit seinem hübschen Mädchen. In diesem Moment rissen Richie und Beck die Tür auf, stürzten grölend rein, und Richie fuchtelte mit seinen Pistolen. Alles sprang auf und schrie durcheinander. Eine Frau schlug mit der Tasche nach den beiden. Ein Engländer war grade reingekommen und stand interessiert in der Tür. Noch zwei Belgier kamen rein, machten aber gleich kehrt und riefen nach der Polizei. Tische wurden umgestoßen. Teller klirrten zu Boden, und die Frau schwang noch immer ihre Tasche. Sie versuchte jetzt, auf einen Stuhl zu klettern. Die beiden Idioten brüllten: «Das is 'n Überfall!» Ich ging an ihnen und dem Tommy vorbei, ging einfach nach draußen. Belgier kamen angerannt. Ich stieg in den Jeep, aber er wollte nicht anspringen. Ich versuchte es ein paarmal, er rührte sich nicht. Eine Tram hielt ein paar Meter weiter. Ich war seitlich von der Tram und vorn und hinten von parkenden Autos eingeklemmt. Ich langte nach dem zusammengerollten Trenchcoat und der Mütze unter dem Sitz und rannte los. Einen Block weiter duckte ich mich in den dunklen Arkaden. Der Mantel hing verkehrt nach unten. Lose Patronen klirrten aus der Tasche wie Kleingeld. Grade als ich mich schnell gebückt hatte, kamen ein Mann und eine Frau auf mich zugerannt: «Polizei! Polizei!» Ich stand unter einer hellen Straßenlampe. Es war 311
die Frau, die im Café die Tasche geschwungen hatte, und der deutsche Kellner, den ich nach dem WC gefragt hatte. Jetzt schien er außer sich: «Hilfe, Hilfe!» Mir war heiß. Die Frau packte mich am Arm. «Monsieur, Monsieur! Helfen Sie mir, Monsieur! Man hat uns überfallen.» «Tut mir furchtbar leid», sagte ich lahm. «Bitte, Sie müssen!» «Ich kann aber nich.» Sie wandte sich hilfesuchend um. Dann rannten sie weiter. Ein untersetzter Mann hatte uns beobachtet. Er gönnte mir einen geringschätzigen Blick: «Warum helfen Sie nich?» «Ich muß meinen Zug noch kriegen.» Der Mann wandte sich ab. Ich rannte weg, weg von all dem Geschrei. Bei Nora wartete Suzy in ihrer Waschbärjacke auf mich. «Ich Angst», sagte sie. «Ich viel Angst. Ganz schnell ich haben gehört, und ganz schnell ich kommen zu dir.» «Ich muß sofort zurück nach Namur.» «Ich gehen mit.» «Geht nich.» «Sagen mir wohin. Ein, zwei Tage, ich kommen.» Später rief sie ein Taxi, aber sie wollte mich nicht weglassen, sehr viel Angst jetzt. Ich küßte sie, riß mich von ihr los und stieg ein. Sie stand mit Nora an der Tür. Das Taxi fuhr an. Suzy lief ein paar Schritte mit, blieb dann stehen. Ich hatte mein ganzes Zeugs und die Schmeißer im 312
Seesack. Als das Taxi vor dem Gare du Luxembourg ankam, sah ich zwei Schneeköppe. Ich ließ den Taxifahrer ein Stück vorfahren. Die Schneeköppe gingen drüben vorbei. Der Wartesaal war leer. Ich brauchte auf den Zug nach Namur nicht lange zu warten. Vierunddreißigstes Kapitel Zwei Tage später schickte ich Suzy aus Namur ein Telegramm. Durchs Fenster des Cafés im Hôtel de Ville konnte ich die große Bahnhofsuhr sehen. Hin und wieder pfiff ein Zug. «Mensch, wo biste denn mit deinen Gedanken?» fragte MacAllister. «Na, doch bei seiner Hübschen», grinste Cohn. «Was soll an der Besonderes dran sein? Gibt doch 'n Haufen Nutten hier.» «Ich bin nich so 'n Hurenbock wie du, Major», sagte ich. «Wozu sitzen wir hier eigentlich rum?» «Was sollen wir sonst tun?» fragte Cohn. Die Gitter am Bahnhof öffneten sich. Die Menge quoll ins Freie. Mitten in dem Gewühl tauchten Suzy und Queenie auf. «Mensch, isse das, die mit der Brünetten?» fragte MacAllister. Ich stand auf. «Ja.» «Hör mal», sagte Cohn zu MacAllister, «wir hauen uns um die Brünette.» «Macht sie mit?» 313
«Glaub schon, hab sie nich gefragt», sagte ich. «Eine Schau», sagte MacAllister. Ich sah Suzy, und dieses unbeschreibliche Gefühl von Ruhe und Leichtigkeit war wieder da. Sie trug ihr langes Haar offen; kupferrot schimmerte es in der Sonne. Sie hatte Brüsseler Schick, und es gab niemanden wie sie in ganz Namur oder sonstwo. Sie blieben jetzt stehen und suchten nach dem Ville. Queenie, flott, dunkelhaarig, mit dem rassigen italienischen Gesicht, sah mich zuerst und winkte. Ich ging auf sie zu. Suzy gab mir einen flüchtigen Kuß. Sie sah aus, als hätte sie Kummer. «Alles ça val» fragte sie. «Klar, ça va. Da drüben sind noch zwei Offiziere. Für die heiß ich Alexander Bello. Denk dran, nich vergessen: Alex! Dich werd ich als Juliette vorstellen.» «Chérie, hörst du zu?» fragte Suzy ihre Freundin. «Ja.» «Wahrscheinlich müssen wir dich auch umtaufen, Queenie», sagte ich. «Is mir gleich.» «Du kannst übrigens alle beide haben.» «Ich kann nich.» «Queenie malade», erklärte Suzy. «Ja, verdammich, bin krank», sagte Queenie. «Nie krank vorher.» «Tripper», nickte Suzy. «Pech.» «Oui, Pech», nickte Queenie. «Na, red doch mal mit ihnen.» 314
«Wozu?» «Und denkt dran», sagte ich. «Ich heiß Alex, Alexander Bello, und Suzy Juliette.» «Und ich bin Queenie, ganz einfach Queenie. Nett, hm? Und außerdem bin ich krank. Pech gehabt.» MacAllister und Cohn standen am Fenster. MacAllister hielt mit seinem schönsten Grinsen die Tür auf. Es sah so aus, als wären sie sich einig geworden. «Willkommen in Namur, meine Damen», sagte er. Am Tisch stellte ich sie vor, und Suzy sagte Mademoiselle Drossart zu Queenie. Der Kellner kam. «Was trinken die Damen?» fragte MacAllister. «Soll ich 'n Pernod bestellen?» fragte Queenie. «Warum nich?» meinte MacAllister. «Ich weiß nich.» «Sie können doch haben, was Sie wollen, Lady.» «Also gut. Ich nehm 'n Pernod.» «Trinken Sie, wonach Ihnen das Herz steht, Mademoiselle Drossart», salbaderte MacAllister. «Pernod», sagte Queenie zum Ober, dann zu MacAllister: «Mein Name nich Drossart.» «Nein?» «No«. Mademoiselle Juliette machen Spaß. Sie mögen Spaß?» «Kommt drauf an. Wie heißen Sie denn richtig?» «Queenie. Gefällt Ihnen?» «Ja, gefällt mir.» «Oui, gefällt.» Später wollte Louie den Damen die Zimmer zeigen. 315
Queenie sagte zu Suzy: «Geh du. Ich bleib beim Major.» Wir blieben eine Zeitlang in Suzys Zimmer. Es war wie beim erstenmal. Seit ich sie über den Platz kommen gesehen hatte, schien die Sonne wieder. Als wir die Treppen runtergingen, glänzten ihre Augen. MacAllister war fort. Captain Cohn redete in seiner schüchternen Art auf Queenie ein und hielt Händchen. «Was is mit dem Major los?» fragte ich ihn. «Ich sagen, daß ich krank bin», sagte Queenie. «Macht doch nix», sagte Captain Cohn schüchtern. Ein Kloß saß ihm im Hals, er schluckte. Er verschlang sie mit den Augen, ihr rundes Hinterteil auf dem Stuhl, die übereinandergeschlagenen Beine, die hohen Stöckel, das silbrigglänzende, enge Kleid. Später, als die Mädchen nicht da waren, sagte ich zu Cohn: «Captain, sie hat was erwischt.» «Och, macht doch nix.» «Und du willst Arzt sein?» «Hat sie was dagegen eingenommen?» «Sulphurtabletten wahrscheinlich. Aber wer weiß, Belgier kriegen kein Penicillin. Nich mal aufm Schwarzmarkt. Und wenn, isses mit Wasser gepanscht.» «Du lieber Himmel! Verbiet ihr das bloß.» «Meinst dus ernst mit ihr?» «Vielleicht kann ich ihr helfen. Werd ihr ne Spritze geben und mir auch gleich.» «Is das erstemal, daß einer mit so ner Spritze ins Bett steigt.» 316
Später gingen wir alle ins Paradies. Die Nutten glotzten die ganze Zeit zu uns rüber. Suzy war fröhlich – bis zu dem Augenblick, als sie auf die Toilette ging. Als sie wiederkam, war ihr Gesicht weiß. Kaum hatte Queenie gefragt: «Was fehlt dir denn, Chérie?», sprang sie auf und rannte raus. Ich lief ihr nach. Sie lief mitten auf der Straße. Als ich sie einholte, wandte sie sich im Laufen um und keucht atemlos: «Du gemeiner Kerl!» Sie schwang ihre Tasche und traf mich im Gesicht. Ich taumelte. Sie lief davon. Ich holte sie wieder ein, zog sie am Arm herum und schlug ihr hart auf den Mund. Sie hob wieder ihre Tasche und zischte: «Du gemeiner Kerl!» Ich wehrte den Schlag ab. «Was is denn mit dir los?» Unter einer Laterne war ein Soldat mit seinem Mädchen stehengeblieben. Ich versuchte sie am Arm festzuhalten. Sie stieß mich mit dem Ellbogen von sich. «Was is denn los um Himmels willen? Du wirst noch Schneeköppe anlocken.» Sie blieb stehen. «Du schlafen mit anderen, du gemeiner Kerl! Mädchen es mir sagen.» «Was für Mädchen?» «Das Mädchen es mir sagen.» «Und du glaubst das alles?» «Ich kommen dich sehen, bei dir zu sein, und du schlafen mit andere Mädchen, viele andere Mädchen.» «Und was tust du?» «Ist Geschäft. Glaubst du, ich mögen Geschäft? Suzy nie mögen. Und ich kommen, bei dir zu sein!» 317
Sie fing wieder an zu laufen. Ich holte sie ein. Sie weinte. «Lieber Himmel, komm schon. Die Mädchen sind bloß eifersüchtig - haben sie dir den ganzen Stuß auf der Toilette erzählt?» Sie wandte das Gesicht ab. «Hör doch endlich auf! Ich weiß doch, du bist mehr wert als zehn andere. Keine kann dir das Wasser reichen. Du bist hübsch, und das macht sie eifersüchtig.» Sie lief wieder, aber langsamer. «Komm doch», bat ich. «Wir gehn hier rein.» Es war ein kleines, spärlich beleuchtetes Café. Sie weinte lautlos, das Gesicht abgewandt. Dann bedeckte sie es mit beiden Händen. Ich nahm sie behutsam vom Gesicht. Ich fühlte mich beschissen und noch beschissener, weil ich sie geschlagen hatte. Es war wirklich so : Sie hatte mehr Herz als zehn andere zusammen, und dieses Herz war so groß wie Jonas' Walfisch. Nach einer Weile beruhigte sie sich wieder. Wir gingen schlafen. Am Morgen gingen wir gemeinsam ins Hotel runter. Ihre Augen glänzten. Alles war in Ordnung. Da sah ich sie. Drei GIs hockten am Fenster. Sie schauten hoch, und Suzy sagte: «Ah, je les connais», und das war mehr als bloß kennen. Das «Geschäft» blieb ihr auf den Fersen. Meine gute Laune war verflogen. Da hockten sie und warteten auf Suzy. Ein geckenhafter Sergeant, ein T 5 und ein idiotischer Pfc. Suzy erklärte, daß sie keineswegs mit allen schlafe. Nur mit dem Sergeant. «Er haben viel Geld. Sie machen viel Schwarzhandel. Sergeant schrecklich, aber 318
geben viel Geld für bißchen Schauen und Küssen.» «Und bißchen Ficken», fügte ich hinzu. Sie zuckte die Achseln. «Ist Geschäft, non?» Ich sagte nichts. «Ich gehen, bevor er fâché.» «Ja, daß er bloß nich bös wird.» «All right, ich gehen, Chéri?» «Ich bin nich dein Schwengel», sagte ich. Sie ging eilig zu den dreien rüber. Ich zahlte und verschwand. Die Luft draußen war kühl und schmeckte sauber. Die Sonne glänzte, aber ich fühlte mich beschissen. Ich lief durch die halbe Stadt, aber es half wenig. Eine Stunde später, nachdem ich auf mein Zimmer im Ville gegangen war, tauchte Suzy auf. «Wie lange bleiben sie?» fragte ich. «Zwei, drei Tage.» «Du meinst, solange du hier bist.» «Böse mit Suzy?» «Überhaupt nich.» «Ich bleiben bei dir. Später treffen ich Sergeant.» «Heut abend?» «Sergeant ce soir, oui.» «Also bin ich morgen wieder dran. Wirste dich nich überarbeiten? Laß mich allein.» «Ich bleiben, Chéri.» «Tu, was du willst», sagte ich. Abends im Café sah ich sie mit dem Sergeant rauf gehen. Die beiden anderen beobachteten mich. Ich fühlte mich dreckig wie nie zuvor und trank mehr, als ich vertragen 319
konnte. Ich fing an, mit Louie zu quatschen und gab einen Haufen Gemeinheiten von mir. Louie hatte den Griff der 45er unter meinem Gürtel rausragen sehen und wurde nervös und zapplig. Unter der Schürze fummelte er an seinem Schießeisen rum. «Was soll der Blödsinn?» fragte ich ihn. «Du sagen, du Sergeant und Mademoiselle Juliette umbringen.» «Red nich so blöd.» «Du haben gesagt!» «Hör mal, Louie, ich mag dich, aber steck das Ding weg. Niemand erschießt hier wen.» «Kein Cognac mehr, ça va?» «Klar, ça va. Werd bloß nich nervös und ruf die MP.» «Fini cognac für dich.» «Steck das Ding weg. Ich bin nich so blöd. Hunde, die bellen, beißen nich.» «Noch ein Cognac, dann c'est tout.» Allmählich füllte sich das Café. Ich knöpfte meine Jacke zu. Der GI am Tisch glotzte dauernd rüber. Es war so ein dünner, kleiner Kerl mit traurigen Augen, technischer Sergeant. Sein Mädchen hockte neben ihm. Alles schaute mich jetzt an. Irgendwie kam mir der kleine GI bekannt vor. Aber es war was faul mit ihm. Die Uniform war brandneu, ohne Rang oder sonstwas. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihm schon mal begegnet war. Ich gab Louie einen Wink. 320
«Louie, schau nich gleich hin. Siehste den Typ da drüben?» «Oui», sagte Louie und tat, als blicke er nicht hin. «Kennste den?» «Non. Gehen dir jetzt besser?» «Ja, viel besser», sagte ich. Ich ging schlafen, und alles fing sich an zu drehen. Ich steckte meinen Kopf in die Kissen. Dann machte ich das Licht wieder an, die Dunkelheit tat mir nicht gut. Das letzte, woran ich dachte, war der Deutsche im Hürtgenwald. Irgendwann übergab ich mich. Am nächsten Morgen roch es sauer; ich hatte neben das Bett gekotzt. Ich machte sauber, so gut es ging, und riß das Fenster auf. Mein Schädel wollte zerspringen. Als Suzy reinkam, wollte ich grade gehen. «Zeit für die Morgenschicht?» fragte ich. «Oder isses schon die Nachmittagsschicht?» «Du malade, Chéri?» «Nich die Bohne.» «Du haben –» und sie machte das Kotzen nach. «Ich riechen.» «Hübsch, nich?» «Wohin du gehen?» «Was essen.» «Schau, Chéri, was Sergeant Suzy hat gegeben.» Sie hielt ungefähr zehn Tausender in der Hand wie Spielkarten. Dann fing sie wieder davon an, wie schwierig es sei, den Sergeant nicht merken zu lassen, wohin sie gehe, wo er doch so beaucoup Geld habe. 321
«Is verständlich», sagte ich. «Leg dich hin. Ich komm bald wieder. Du mußt schrecklich müd sein. Du arbeitest ein bißchen viel, nich?» Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, wurde mir wieder schwarz vor Augen. Mein Schädel brummte. Unten kippte ich schnell ein Bier, und gleich wars besser. Der schmächtige Typ kam an die Bar. Er sah so aus, als wollte er mit mir reden. Ich ging aber, ehe er den Mund aufmachte. Fünfunddreißigstes Kapitel Nach dem hellen Sonnenlicht draußen war das Café im Hôtel de Ville stockduster. Ich war stundenlang rumgerannt auf der Suche nach MacAllister und Cohn, bis ich endlich rausgekriegt hatte, daß beide von einer Stunde auf die andere zum Schiff Richtung Heimat abgedampft waren. Ein angesäuselter GI schlief mit dem Kopf auf dem Tisch, ein Arm hing runter. Einen Tisch weiter hockte der kleine schmalbrüstige GI mit den traurigen Augen vor einem Kaffee. Er stand gleich auf und kam zu mir an die Bar. «Wie lange willste das noch mitmachen?» fragte er. Louie sah mich bedeutungsvoll an, ich bestellte einen Cognac. «Isses nich zu früh für so was?» meinte der Kleine traurig. «Frag mal den da.» Ich nickte zu dem Betrunkenen hin. «Der is schon seit acht Uhr morgens weg.» 322
«Du wartest wohl schon lange, was? Was gibts? Schieß los.» «Entsinnste dich wirklich nich mehr?» «An wen?» «An mich.» Wir setzten uns an einen Tisch. Jetzt fiels mir ein: diese Type hieß Jack Plunket und war mit mir im Gefängnis von Verviers gewesen, wo sie einem ne Glatze schnitten. Er sah verdammt anders aus als früher. Er erzählte, er habe zwanzig Jahre und unehrenhafte Entlassung gekriegt wegen drei Wochen Desertion. «Ich war nich an der Loire», sagte er, «hab keinen Schuß gehört. Und jetzt, wo ich keine Kugeln mehr abbekommen konnte, hielten sie mich für 'n Soldaten. Acht Monate hab ich hinter mir. Ich sag dir, das war wie acht Jahre. Und jetzt geh ich in die Heimat und krieg Lorbeern.» «Das war 'n Ding», sagte ich, «Verviers. Erinnerste dich noch an den großen Dürren?» «Klar, dein besonderer Freund T. T., dieser dürre Knacker mit seinen ewigen Witzen. Mit dem warste doch ein Herz und eine Seele. Du hast nie sehr viel geredet.» «Ich hab das alles schnell vergessen.» «Haben sie dich nie festgenagelt?» «Paarmal, aber ich wollt nich bleiben.» «Weißte, daß T. T. tot is?» «Ich kenn keinen T. T.» «Ich mein Tony, so hieß er doch. Er ist tot. Sie haben ihn erschossen. Weißte das nich?» Ich sagte nichts. 323
«Er is zweimal ausgerückt. Beim drittenmal kriegten sie ihn am Draht.» «Das kann nich Tony gewesen sein. Der war zu fein für so was. Ich hab doch immer versucht, ihn mitzunehmen. Er wollt nich.» «Na schön», sagte er. «Wieviel hat er bekommen?» «Und er war doch dein Kumpel!» «Also wieviel hat er gekriegt?» «Dreißig.» «Und was haben die Arschlöcher mit ihm gemacht?» «Du regst dich zu sehr auf», sagte er. «Wie heißt der hinter der Theke?» «Louie.» Er rief den Wirt. Louie stellte mein Glas auf das Metalltablett und zwei volle vor uns hin. Ich kippte alles auf einmal runter. Plunket schob seins rüber, und ich leerte auch das. «Hab mich gut mit ihm verstanden», sagte ich. «Er hat immer den Clown gemimt. Aber später hat er sich sehr verändert. Wir wurden zusammen nach Liège versetzt. Dann sind wir beide abgehauen. Du hast ihn lustig gefunden. Aber ich entsinn mich, er war so lustig, daß schier jeder kalte Füße bekam. Wie haben sie ihn denn schließlich gekriegt?» «Ich hätt nich davon anfangen solln.» «Laß gut sein.» «Ich weiß, dir gehts nahe.» «Schon gut. Was haben sie mit ihm gemacht?» 324
«Reden wir nich davon.» «Jetzt mach schon, los!» «Wie du willst. Also, es ging ihm wie uns allen, er hatte meistens die Hosen voll. Dann warf ihn irgend so ein Arschkriecher ins Loch für etwas, was er gar nicht getan hatte. Das machte ihn sauer. Kennste wahrscheinlich nich, diese Kriecher, die bei Randy oder Blake hinten reinkrochen, obwohl sie Häftlinge wie alle waren? Die Lagerleitung schickte sie vor, wenn der Inspekteur kam, damit er sehen konnte, wie wunderbar alles war. Tony kam in den Käfig. Nach so was versuchte jeder abzuhauen. Sie machten jeden fertig. Wir hatten ständig Hunger. Immer wieder brach einer aus, wir bezogen regelmäßig alle vierzehn Tage Prügel, und die Schleimkriecher saßen dabei und rauchten. Als sie Tony das erstemal schnappten, kriegte er drei Tage Dunkelhaft und vierzehn Tage Einzelhaft. Das zweitemal gaben sie ihm fünf und einundzwanzig. Das drittemal – also da erwischten sie ihn mit den Scheinwerfern, grade hinter dem Draht. War ne Kleinigkeit bei der Helle. Alle Wachen auf den Türmen an der Seite zogen ihre Brownings und trainierten Zielschießen. Sie schossen noch, als er schon am Boden lag. Dann schleiften sie ihn wie beim Stierkampf weg. Am nächsten Tag mußten wir alle antreten, und so ein Sauhund sagte: So wirds allen gehen, die aussteigen wolln!» «Weiter.» «Sie ließen ihn mehrere Tage lang liegen. Bis er stank.» 325
«Weiter.» «Dann räumten sie ihn weg. In Washington war wohl irgendein hohes Tier gestorben, und die Fahnen kamen auf Halbmast.» Lange Zeit sagte ich nichts. Plunket meinte, er wolle mich Leutnant nennen und alles vergessen, was mit einem gewissen Nick zusammenhing. Ich sagte, mir wärs gleich. Später wechselten wir ein paar französische Francs in belgische. Dann trafen wir Plunkets Bruder, Sergeant auf Urlaub aus Deutschland. Er sah aus wie sein Zwillingsbruder, nur hatte er etwas Fleisch an den Rippen. Er stellte uns ein Mädchen aus Liège mit Namen Denise vor. Wahrscheinlich hatte Jack ihm von mir erzählt. Später flüsterte mir Jack rasch zu, daß sein Bruder morgen wieder nach Deutschland fahre und mich mitnehmen könne. Wir saßen im Café vom Ville. «Woher haste die Idee?» fragte ich Jack. «Von meinem Bruder. Er is in Ordnung, er kann dir helfen.» «Niemand kann mir helfen, verstehste?» «Er kann dich als Leutnant Harry Smith oder Jones oder so was unterbringen.» «Was is mit seinen Offizieren auf der Liste?» «Habs dir doch schon erklärt. Er stellt sie auf. Da kann doch ne kleine Verwechslung vorkommen. Er is sein eigner Vorgesetzter.» «Keine Offiziere?» «Nee, nur er.» 326
«Ich weiß nich.» «Is ne größere Chance, als du jetzt hast.» «Zuviel Polizei in Deutschland. Zuviel Schneeköppe und CIC und die verdammten CID.» «Die haben doch genug damit zu tun, die Deutschen in Schach zu halten.» «Denkste! Weißte eigentlich, wie die hinter mir her sind? Die werden sich nich lang mit Vorreden aufhalten. Die knallen mich sofort ab.» «Um so mehr tät ich's versuchen. Ich jedenfalls.» «Du tätest gar nix.» «Red doch mal mit ihm. Du hast dich bis jetzt so durchgemogelt. Irgendwie kannste dich auch über die Grenze mogeln. Wenn du erst mal bei der Truppe bist, kannste dich nach Hause mogeln.» Später entschloß ich mich, den Versuch zu riskieren. Plunket kam mit seinem Bruder, aber in Gegenwart des Mädchens wollte ich nicht reden. Nach dem Essen sagte ich zu seinem Bruder: «Können wir reden?» «Denise», sagte der Sergeant, «geh schon mal rauf, ja? Ich hab was mit dem Leutnant zu besprechen.» Denise verschwand treppauf. «Ich glaub, der Leutnant fährt morgen mit», sagte Jack zu seinem Bruder. «Ja?» «Wann fahren Sie?» fragte ich. «Gegen sieben.» «Gut. Und wie stehts mit der Liste und der Reise übern Teich?» 327
«Is doch ganz einfach. Sie sind Leutnant, nich? Außerdem, woher soll ich wissen, ob die Papiere, die Sie mir gezeigt haben, echt sind oder nich? Kein Gemeiner is so frech, 'n Offizier auszufragen. Stimmts nich? Und bei der Truppe sind Sie ganz auf sich gestellt. Ich weiß von nix. So weits mich angeht, stimmt alles mit Ihnen.» «Wann fahren Sie in die Staaten?» «In zwei Wochen ungefähr. Jedenfalls nich viel später.» «Und wie wollen Sie mich da mitnehmen?» «Ganz einfach. Wir tun Sie zur Abteilung, die mit der Verschiffung zu tun hat.» «Gut. Aber wie komm ich zu einem Ausschiffungsbefehl?» «Ebenso einfach. Im Hafen sag ich bloß, daß der Leutnant, also Sie, auf der Liste vergessen worden is. Die sind doch jetzt so in Druck, daß sie nich zweimal fragen, glauben Sie mir.» «Was is mit den Truppen, die Sie ablösen?» «Keine Ahnung. Die meisten sind sowieso fort.» «Aber nich alle?» «Nee.» «Ich weiß nich.» «Jeder will doch nach Hause, das is ihr einziger Gedanke.» «Nich bei allen.» «Ach, die denken doch an nix andres. Wenn Sie daherkommen und sagen, Sie sind Eisenhower, kein Arsch würd sich drum kümmern. Die wollen bloß nach Hause.» «Mann, Sie vergessen, ich werd steckbrieflich verfolgt, 328
das sollten Sie wissen.» «Ich? Ich weiß gar nix. Alles, was ich weiß, is, daß Sie ein ordentlicher Offizier sind und ich von Ihnen Befehle entgegennehmen muß. Ich hab die Papiere gesehn und in Ordnung befunden.» «Klingt alles verdammt einfach.» «Na, jetzt liegts bei Ihnen.» «Und warum wollen Sie das alles tun? Sie können sich da ganz schön in den Dreck setzen.» «Ich doch nich. Ich weiß von nix. Sie bescheißen mich, das is alles. Auf alle Fälle kann ich nich mit ansehn, wie ich schon zu Jack gesagt hab, daß einem von seinen Freunden das passiert, was ihm in Le Mans passiert is.» «Wie heißen Sie überhaupt?» «Plunket, einfach Plunket», grinste der Sergeant. «Alvin», sprang Jack bei, «is das nich 'n blöder Name?» «Gut», sagte ich. «Sie fahrn doch abends?» «Klar.» «Sagen wir zehn vor sieben am Gare?» «Wo?» «Am Bahnhof. Wir treffen uns drin.» «Dann kommen Sie also mit?» «Bleibt mir nix andres übrig. Was soll ich sonst tun?» Ich sah mich um. Suzys drei Freunde saßen an einem Tisch beim Fenster. Der Sergeant hatte die Ellbogen auf dem Tisch und guckte mich giftig an. «Was is mit dem los?» fragte Jack. «Er glotzt dauernd her.» «Is mir egal», sagte ich. 329
Als Jack und sein Bruder fort waren, ging ich in Suzys Zimmer rauf. Ihr kleiner Koffer lag gepackt auf dem Bett. «Ich gehen nach Brüssel, Chéri.» «Jetzt?» «In einer Stunde.» «Du hast mir nix davon gesagt.» Ich sagte nichts weiter und schaute ihr eine Weile zu. «Ich dachte, du würdst bleiben», sagte ich dann. «Aber so isses auch gut. Ich geh auch weg.» «Du partir de Namur? Kommen zurück nach Brüssel?» «Nein, nich nach Brüssel. Ich verfracht mich nach Deutschland. Vielleicht komm ich so nach Hause. Komm her. Setz dich aufs Bett.» Sie setzte sich brav hin und fuhr sich mit den Händen hinter die Ohren und hob die Haare hoch. Ich sah ihr zu, vielleicht zum letztenmal, sah ihren Körper, die weichen Rundungen, das lange Haar, ihr Kindergesicht mit dem großen vollen Mund. Ich küßte sie. Ich fror innerlich. «Was is los, Chéri?» «Is ne verdammte Sache», sagte ich. «Wann kommen du von Deutschland zurück?» «Hab ich dir schon gesagt. Überhaupt nich. Ich versuch nach Hause zu kommen. Glaub übrigens nich, daß ich durchkomm.» «Dann du vergessen Suzy.» «Nee», sagte ich. «Wenn ichs schaff, werd ich dich rüberholen. Vielleicht über Kanada.» Es war noch keine Stunde, vielleicht nicht mal eine halbe 330
vergangen. Sie sagte, sie müsse fort. «Ich bleib oben», sagte ich. «Möcht sie nich sehn unten.» «Chéri, du kommen zurück zu Suzy?» Ich schwieg. «Von Deutschland du kommen zurück, ja?» Sie küßte mich und fing an zu heulen. «Ich jetzt gehen, Chéri.» «Scheußlich, so 'n Abschied, nich?» «Ich gehen jetzt», sagte sie und tupfte sich mit den Fingerspitzen die Tränen weg. Sie stand mit einem Ruck auf und ging raus. Die Tür ließ sie offen. Ich blieb allein in dem winzigen, häßlichen Zimmer. Ich hatte es noch nie mit Bewußtsein gesehen. Sie ging die Treppen runter. Ich blieb so sitzen. Unten hörte ich sie lachen und sprechen wie immer. Als ich aufsprang und runterrannte, waren sie grade alle zur Tür raus. Suzy, Queenie und die drei Mistböcke gingen über den Platz. Sie kamen in die Sonne, gingen weiter Richtung Bahnhof, dann in den Schatten und verschwanden in der Halle. «Doller Abschied, was?» sagte ich zu Louie. «Ich mixen dir was Gutes», sagte er. «Habs nötig.» Sechsunddreißigstes Kapitel Um sieben wartete Sergeant Plunket mit seiner Hübschen vorm Fahrkartenschalter. Wir stiegen in ein leeres Abteil. Der Zug ruckte an und rollte aus der Halle. Es paßte mir gar nicht, daß wir in Liège Station machten. Es war 331
beschlossen worden, dort zu übernachten und am Morgen nach Deutschland weiterzufahren. Liège war noch immer überlaufen von Deserteuren und Schneeköppen. Denise bestellte ein Doppelzimmer, für mich ein Einzelzimmer. Ich hatte mich grade aufs Bett gehauen, als Plunket in die Stadt wollte. Ich war dagegen, gab aber nach. Denise kannte sich aus und führte uns in ein Café am Ende derselben Straße. Es war leer bis auf zwei Nutten uns gegenüber. Beide trugen goldglänzende Mäntel. Eine sah arabisch aus, mit großen melancholischen Augen und dicken sinnlichen Lippen. Die andere war jünger und sicher Belgierin. Ich wollte die jüngere rüberholen. Auch der Wirt wollte sie dazu bewegen. Sie war wohl noch nicht lange im Beruf und mochte ihn offenbar gar nicht. Die Mandeläugige dagegen wollte gleich mit. «Nimm doch die Schwarze», sagte Plunket. «Bei der kannste landen.» Plötzlich kam ein Schneekopp rein, auf seiner Mütze das MP und die 45er im Gürtel. Mir gefror das Blut in den Adern. Er quatschte den Wirt hinter der Bar an und stützte sich mit einem Arm auf. Einmal schaute er zu uns rüber. Ebenso plötzlich verschwand er wieder. «Menschenskind, bist du nervös», sagte ich zu Plunket. «Mal gut, daß ers nich gesehen hat.» «Mensch, haun wir ab», stotterte er. «Du wärst vielleicht 'n lausiger Deserteur.» Ich winkte der belgischen Nutte. «Komm her, ich zahl dir 'n Drink.» Die orientalische Schöne grinste breit und erhob sich. 332
«Du nich, deine Freundin.» «Haben Angst», erwiderte sie. Die andere schaute verlegen weg. «Komm doch rüber», rief ich noch mal. «Ich haben keine Angst», sagte die Schwarze. «Kann ich mir denken.» Der Wirt feixte. Plunket rief ihn ran. Er war klein, hatte eine Glatze. «Wir gehn noch nich. Bitte bringen Sie den Damen was zu trinken.» Der Wirt probierte es noch mal bei der jüngeren. Sie wandte sich angewidert zur Seite. Die Araberin wollte den Arm um ihre Schulter legen, aber sie schüttelte sie ab. Der Wirt ging hinter die Bar und warf ihr einen giftigen Blick zu. Die bleibt nicht dabei, dachte ich. Vielleicht die letzte Nacht. Der Wirt brachte die Drinks in winzigen Gläsern. Beide nahmen pflichtbewußt einen Schluck. Gefärbtes Wasser wahrscheinlich. Der Wirt schimpfte dezent auf sie ein. Sie bockte. Der Wirt lächelte dünn, verbeugte sich ein wenig und sagte französisch: «Sie will nicht.» «Is schon gut. Wer war der Sergeant eben? Kennen Sie ihn?» «Ja, gut. Er ist Polizist und sucht nach zwei Soldaten, die mit Pistolen auf MP geschossen haben.» «Was meint er?» fragte Plunket aufgeregt. Ich übersetzte. «Ne Knallerei?» Plunket riß die Augen auf. «Wann war das?» fragte ich den Wirt. 333
«Wie sagen Sie noch: morgen?» «Gestern», lachte ich. «Oui, gestern, zwei junge Burschen. Die schossen mit Pistolen auf MP.» Er räumte den Aschenbecher fort und brachte vom nächsten Tisch einen sauberen her, den er mit dem Handtuch abwischte. «Tut mir leid wegen dem Mädchen, Janice. Nettes Ding. Sehr nett.» Er lächelte verlegen. «Sicher is sie nett», sagte ich. «Sehr nett. Möchten Sie?» «Garantieren Sie dafür?» «Ganz sicher.» «'n andermal», sagte ich. Plunket schaute unruhig zur Tür. Als der Wirt weg war, sagte ich: «Der Schneekopp is längst weg.» «War er allein?» «Nee.» «Woher weißte das?» «Ich weiß es einfach. Hab dann gewöhnlich so 'n blödes Gefühl. Aber ich zeigs nich. Du wärst 'n schlechter Ausreißer.» «Gehn wir irgendwohin, wo Leute sind.» «Warum haste bloß so 'n Schiß?» «Im Escale Bleue viele Leute», sagte Denise. «Viele Mädchen im Escale Bleue.» «Na los», sagte Plunket. «Warum?» «Ich mag das Lokal nich.» Plunket zahlte. Der Wirt lächelte uns zu: «Gute Nacht, 334
meine Dame, meine Herren.» Die orientalische Schöne folgte uns mit den Augen. Das Escale Bleue lag bloß ein paar Häuser weiter. Man mußte einen Aufzug zum obersten Stockwerk nehmen. Das ganze übrige Haus war eine Sauna oder so was. Oben war es laut und voll. Eine Kapelle löste die andere ab, offenbar wurde man ununterbrochen in Schwung gehalten. Wir hatten uns grade an einen Ecktisch gesetzt, als ich einen weißbehelmten Bullen auf das Podium steigen sah. Da war sie wieder, die Mütze mit MP drauf, der weiße Schulterriemen. Das ganze Lokal war plötzlich voller Schneeköppe. Die Kapelle brach mißtönend ab, Die Soldaten auf der Tanzfläche trabten brav an ihre Tische. Ich zählte sechs Schneeköppe, darunter den Sergeant, den wir schon gesehen hatten. Ich hatte so was geahnt, und nun war ich mitten reingetappt. Typen verteilten sich auf alle Tische, überall zückte man Ausweise. Plunkets Augen fielen fast aus dem Kopf. Er war richtig blaß geworden. Ich zischte: «Ruhig bleiben, ganz ruhig.» Wir hatten noch nicht bestellt. Der Ober stand neben uns. Ich war noch im Mantel. Die Schneeköppe spritzten von einem Tisch zum andern. Es herrschte eine sonderbare Stille wie vor einem Angriff. Der Kerl von vorhin kam auf uns zu. «Ausweise bitte», sagte er zu Plunket. Plunket war vollkommen durcheinander und reichte 335
ihm seinen Paß. Der Schneekopp stutzte, als er ihn ansah. Jetzt wußte ich, warum der Hund mich nach Deutschland mitnehmen wollte. Plunket war selber abgehauen. Dieser verdammte Scheißkerl mißbrauchte mich, und ich hatte den ganzen Schwindel geglaubt. Die ganze Sache hatte gleich einen windigen Eindruck gemacht, aber ich hatte ihm geglaubt, ich Rindvieh. Bei seiner Truppe hätte mich dieses Schwein wahrscheinlich verpetzt, aber mit einem Offizier wäre er leichter zurückgekommen. «Sie haben drei Tage überzogen», sagte der Schneekopp stirnrunzelnd. «Ich weiß, Sergeant. Ich bin schon auf dem Rückweg.» «Das Ding gilt für Namur, nich für Liège.» «Gleich morgen früh fahr ich zurück.» «Aha, Sie sind schon dabei, was?» «Fragen Sie doch den Leutnant.» Der Schneekopp zeigte seine gelbe Karte. «CID», sagte er. «Bitte Ihren Ausweis, Leutnant.» Ich erhob mich vom Stuhl und kramte ärgerlich in meiner Manteltasche, «'n Moment bitte, Sergeant.» Ich zog den Mantel aus. Seine Augen verfolgten meine Linke, während ich mit der Rechten in die Manteltasche langte. Ich entsicherte die 45er. Dann hielt ich sie ihm vor den Latz. Er griff danach, ich wich zurück, ein Stuhl fiel um. Aber der Kerl war schon über mir. Instinktiv drückte ich ab. Nichts geschah. Die Waffe ging nicht los, und er grapschte wieder danach. Ich landete eine Grade auf seinem Kinn. Denise 336
und Plunket sprangen kreischend hoch. Der Kerl hatte beide Hände an der 45er. Er versuchte sie hochzudrücken. Ich erwischte ihn mit dem Ellbogen, sein Kopf hüpfte wie ein Ball, er blutete aus dem Mund, ließ aber nicht los. Ich rannte ihm den Unterarm in die Seite. Die Schneeköppe stürzten auf mich los. Ich sah in eine Pistolenmündung. Alles schrak zurück und schrie. Der Sergeant klammerte sich mit irren Augen an meiner 45er fest. Ein Schneekopp versuchte zum Schuß zu kommen. Ein anderer packte mich von hinten. Er tippte mir auf den Kopf, wie man auf einen Nagel zielt, ehe man losschlägt. Dann schlug er zu : Flammender Schmerz. Ich fand mich auf allen vieren wieder. Meine 45er lag zwei Meter weiter. Ein zweiter Schlag traf mich am Ohr. Mir wurde schwarz vor Augen, ich sah wie durch wehende Schleier. Ich schüttelte mich, kam auf die Knie hoch. Sie standen im Kreis um mich rum. Dann schnappte mich der Bulle an den Rockaufschlägen. Er holte aus und landete das stärkste Ding, das ich je schlucken mußte. Ich knallte gegen die Wand und glitt zu Boden. Eine 45er stieß an meine Nase. Der Bulle zog mich hoch, und der Kleine fuchtelte mit der 45er. «Siehste das?» Der Bulle holte aus. Ich flog über einen Tisch und nahm ihn mit. Dann waren plötzlich alle über mir, und der Zwerg mit der 45er brüllte: «Siehste das?» Tische und Stühle lagen am Boden. Die Menge klebte in einer Ecke und schrie. Plunket und sein Mädchen waren offenbar verduftet. Ich hob die Arme hoch, Schläge von allen Seiten. Das Arschloch mit der 45er baute sich vor mir 337
auf: «Siehste das? Ein Mucks, und ich knall dich ab!» Der Bulle holte wieder aus. Jemand schrie: «Du hast wohl zuviel Wildwestfilme gesehn, was?» Ich ging zu Boden und wurde wieder hochgerissen. Ich fühlte nichts mehr. Ich merkte bloß, daß ich stand. Man prügelte mich zum Lift. Dann merkte ich was im Magen. Wir fuhren abwärts. Füße um mich rum. Ich war am Boden und konnte mich nicht erinnern, wie ich dahin gekommen war. Ich trug Handschellen und wußte nicht, seit wann. Der Sergeant boxte mich den ganzen Weg zum Hauptquartier in die Rippen. Auf der regennassen Straße glotzten Belgier mit erschrockenen Augen. Ich wurde eine Treppe raufgestoßen. Schneeköppe in Scharen drehten sich her und glotzten. Der Bulle machte Männchen vor einem Leutnant, der hinter seinem Tisch stand wie ein General. «Ein Mann gegen alle?» Der Leutnant schüttelte den Kopf. «Unglaublich.» Einer untersuchte meine Luger und rief: «He! Die is ja losgegangen!! Der Sergeant drehte sich um und kam mit dem Bullen rüber. «Wahrscheinlich hat sie nich gezündet.» Der Kleine stürzte auf mich los. «Du dreckiges Arschloch!» Er drosch wahllos auf mich ein wie ein Mädchen. Ich deckte mein Gesicht mit den Ellbogen ab, und er trommelte auf meinen Armen rum. 338
«Aufhören!» schrie der Leutnant. «Verdammt noch mal, der Mann hat genug abgekriegt.» Aber der Kerl schlug weiter, bis ein paar Schneeköppe ihn wegrissen. «Ich werds ihm schon noch zeigen», keuchte er. «Bringen Sie den Mann auf die Krankenstation», befahl der Leutnant. «Den da, Sir?» fragte ein Schneekopp; ein anderer sagte beleidigt: «Los, voran!» Drei Schneeköppe brachten mich zur Notaufnahme. Ich fiel auf einen weißgestrichenen Stuhl. Wir mußten warten. Jeder Knochen tat mir weh. Die drei Schneeköppe standen dicht um mich rum. Endlich kam ein Arzt. «Leg dich auf den Tisch hier», sagte er. «Haste gehört?» Ein Schneekopp zog mich hoch. Der Tisch war hart und weiß. Mir war wie auf einem Schiffsdeck. Ich sah im großen, silbrigen Spiegel über mir mein blutverschmiertes Gesicht. Die Scheinwerfer dahinter beleuchteten mich, und ich spürte die Hitze der Lampen. Ich schloß die Augen. Der Arzt tupfte mir vorsichtig mit Gaze das Gesicht ab. Es roch intensiv nach Seife und Alkohol. Als ich die Augen aufschlug, sah mich eine Schwester fragend an. Der Arzt stand über mich gebeugt. Er deckte meine Augen ab und rasierte eine Augenbraue weg. Die kleinen Stiche beim Nähen taten fürchterlich weh, mehr als die Schläge. Ich hielt die Augen geschlossen, und er nähte an einem Auge und drunter und in den Mundwinkeln. Es dauerte eine Ewigkeit. Die Lampen gingen aus. «Gut», sagte der Arzt. 339
«Langsam aufstehn. Wird 'n bißchen ziehn.» Ich setzte mich auf und fühlte eine neue Schwäche, alles verschwamm. «Er muß ne Weile sitzen», sagte der Arzt. «Ich will nich», sagte ich und stand auf. Ich hatte Angst, daß mir die Schneeköppe Beine machten. «Na los», sagte einer. «Gehn wir.» Die Zellen lagen im obersten Stockwerk. Die ganze Anlage sah aus wie ein großer Käfig. Ein Wachtposten saß am Schreibtisch hinter der Gittertür. Ein Schneekopp gab mir Bettzeug, und dann saß ich an die Wand gelehnt in dem Affenstall. Augen starrten mich an, ringsum lauter Augen. Dann wurde ich ohnmächtig. Ein Gefangener spritzte mir Wasser aus einer Tasse ins Gesicht, ein anderer zog mich an den Ohren. Ich trank ein paar Schluck und fühlte mich besser. «Dich haben sie ja schön zugerichtet», sagte der, der mich an den Ohren gezogen hatte. Mein Gesicht war ein einziger Klumpen, das eine Auge völlig zu, das andere kriegte ich auch kaum noch auf. Ich spürte dicke Pflaster. Es dauerte eine Weile, bis ich sagen konnte: «Wie hoch sind wir hier?» «Ungefähr drei Stockwerk oder – nee, vier.» «Sieht nach Dachgeschoß aus.» «Willste abhaun?» «Was sonst?» Der Kerl schüttelte den Kopf. Er hatte einen langen Schnurrbart wie ein alter Kavallerist. Ich sagte: «Na, was is denn?» 340
«So, wie du aussiehst, willste türmen? Wart doch lieber 'n paar Tage.» «Ich kann nich.» Er setzte sich neben mich, mit dem Rücken zur Wand. «Wieso biste denn hier? Mord?» Ich sagte nichts. «Ich muß wieder nach Seraing», sagte er nach einer Weile. «Vielleicht schaffen wirs. Ich weiß 'n gutes Versteck.» Die Type hieß Jess und war Fallschirmjäger bei der 82sten. Jess wollte auch nicht bleiben. Ich dachte im Moment an was anderes, an Suzy; das half mir übers Schlimmste weg. Die Wachen brachten immer fünf von uns zusammen runter zum Frühstück in die Schneekoppkantine. Wir saßen an einem Ecktisch, abseits von den Schneeköppen. Sie glotzten dauernd rüber. Ich sah den Bullen wieder und den, der im Escale Bleue auf mich losgegangen war. «Wie heißt der Bulle und der daneben?» fragte ich Jess leise. «Sind das die beiden, die dich vermöbelt haben?» «Wie heißen sie?» «Der Bulle heißt Meyer, der andere, glaub ich, Leach.» Meyer grinste rüber. «Wie fühlste dich?» Ich sagte nichts. «Wie fühlste dich?» wiederholte er. «Kannste dir ja vorstellen.» Am Nachmittag verhörten mich zwei CIDs und ein Captain von den Schneeköppen. Sie wußten noch immer 341
nicht, wer ich war. Ich sagte nichts weiter, als daß ich John Smith hieße, sonst kein Wort. Der eine CID war brutal und versuchte es auf die grobe Tour, der andere machte auf kameradschaftlich. Als Gefangener mußte man sich immer rechtzeitig auf irgendeine Seite schlagen, der Trick wirkte immer, aber nur einmal und nie wieder. Bei mir zog nichts mehr. Als ich wieder zurück war, nahm Jess mich beiseite und weihte mich in sein Geheimnis ein. Er hatte angefangen, ein Loch durch die Mauer zu buddeln. Im nächsten Raum konnten einen die Wachen nicht sehen. Ich schaute durch. Jess hatte es mit einem Suppenlöffel gekratzt. Man konnte grade den Kopf durchstecken. Ich sah einen tiefer gelegenen Raum, vielleicht neun Meter lang und hoch und eng wie ein Liftschacht, das komischste Zimmer, das ich je gesehen hatte. Zwei Feldbetten standen drin. Wir konnten Laken zusammenbinden, mußten aber zwei Stockwerke tiefer an den Schneeköppen vorbei. Vielleicht hatte uns jemand verpfiffen, denn Meyer, Leach und ein Leutnant kamen plötzlich rauf und direkt zu Jess und mir. Wir saßen auf dem Boden, gegen die Wand gelehnt. «Aufstehn», zischte Leach. Wir erhoben uns langsam. Meyer grinste mit knallrotem Kopf. «Wolltet ihr 'n Ausflug machen?» fragte er. «Wolltste mitkommen?» fragte ich. «Seid ihr verrückt?» 342
Wir sahen uns schon in Einzelhaft, aber es geschah überhaupt nichts. Ein paar Tage später stürzte die Wachablösung aufgeregt rein. «Heiliger Strohsack», brüllte er. «Wißt ihr, wen wir erwischt haben? Wißt ihr überhaupt, wer der Kerl is?» Als der andere Wachtposten fragte: «Welcher?» sagte er: «Der da!» Er stierte mich an, dann deutete er auf mich: «Das is Leonidas!» «Wer?» «Der hier!» «Du spinnst.» «Nee, er isses, tatsächlich!» Später kam Meyer rauf und brachte mich nach nebenan. Er jagte alle andern raus. «Wir wissens genau», sagte er breit. «Sie kommen dich von Brüssel holen.» Ich sagte nichts. «Du wollst Jimmy wirklich abknalln, nich?» «Wer ist denn Jimmy?» «Sergeant Leach. Haste dem CID irgendwas gesagt?» «Ich dachte, du wärst CID.» «Haste ne Aussage gemacht?» Ich schwieg wieder. «Ich glaub, wir hatten in der Nacht alle heiße Köppe, 'n paar von euch haben uns die Nacht davor beschossen. Drum waren wir im Escale Bleue. War dein Pech, mit 343
Denise rumzulaufen. Die is immer in der Nähe von Deserteuren. Was is mit dem Kerl, der bei ihr war?» «Was fragste mich da? Müßteste doch wissen. Is abgehauen. Er war nur 'n paar Tage unerlaubt weg und hat mich ausnutzen wollen. Verdammtes Ding, nich?» «Er war also gar nich lang desertiert?» «So gut wie gar nich. Aber mich hat er reingelegt. Macht mir immer wieder Spaß.» Er gab mir eine Zigarette, dann die ganze Packung, ich sollte sie behalten. «Ich tät auf niemand schießen», sagte ich. «Tätste auch nich können, selbst wenn du wolltest. Die Wachen werden übrigens verdoppelt. Außerdem muß ich dir die Dinger hier anlegen. Tut mir leid.» Er baumelte mit ein Paar Handschellen. «Hände vor.» «Scheiße», sagte ich. «Heut nacht kommen die Brüsseler», sagte er. «Ne ganze Kompanie. Jetzt is der Ofen aus.» In der Nacht wurde ich prompt geweckt. Ungefähr ein Dutzend Brüsseler Schneeköppe kamen hochgestampft. Der Häuptling zog die Offiziersmütze raus, die ich getragen hatte. «Hier», sagte er, «die passende Kopfbedeckung für den großen Mann.» Die Pflaster auf meinem Gesicht waren schmutzig, ich war unrasiert und saudreckig. Er drückte sie mir verkehrtrum auf die Birne. Unten wurde meine Überführung vorbereitet. Ein Leutnant zog meine Habseligkeiten aus einem Umschlag und legte sie auf den Schreibtisch. Der Boß aus Brüssel 344
nahm alles in die Hand und steckte es wieder rein. Dann packte er mich am Arm: «Komm, großer Mann.» Noch mehr Schneeköppe aus Brüssel warteten in der Halle und der Rest draußen auf der Straße mit zwei Lastern, einem Munitionstransporter und einem Jeep. Es war tatsächlich eine ganze Kompanie. Im Dunkeln leuchteten die weißen Helme und Gürtel. Die meisten trugen Thompsons. Auch ein paar Gummiknüppel sah ich. Im Munitionstransporter setzte man mich auf den Boden. Ein Schneekopp zog meine Beine lang, und ein anderer schnallte sie am Boden fest. Meine Hände steckten schon in Handschellen auf dem Rücken. Schneeköppe hockten eng auf der Holzbank. Dann rollten wir an. Der Häuptling saß gleich neben mir. Auf dem ganzen Weg unterhielt er mich damit, wie gern er mich umbringen würde. Hin und wieder sah ich Wegweiser vorbeihuschen. Waterloo stand drauf. Siebenunddreißigstes Kapitel Als ich aus dem Wagen kletterte, lagen die gleißenden Scheinwerfer, die Wachttürme und Stacheldrahtzäune vom Brüsseler Gefängnis schon hinter mir. Ein Schneekopp nahm mir die Fußfessel ab. Wir gingen den Hügel rauf; ich war von zwei MPs flankiert. Die anderen blieben zurück. Wir steuerten auf die flache, weißgestrichene Baracke des Kommandanten zu. Ein hoher weißer Flaggenmast stand davor, umgeben von weißangestrichenen Feldsteinen. Die Wachen saßen drin 345
auf Bänken an der Wand entlang. Die Tür zum Zimmer des Kommandanten stand auf. Er redete, hinter dem Schreibtisch stehend, auf einen Sergeant ein. Es war ein kleiner, dunkelhaariger Oberleutnant, der Sergeant war gut einen Kopf größer. «Bringt den Kerl rein.» Dann, als er die Papiere flüchtig durchgesehen und geprüft hatte, sagte er zum Sergeant: «An die Wand stellen lassen!» Ich wurde mit dem Gesicht zur Wand gestoßen. Meine Nase knallte an eine vorstehende Kante und fing an zu bluten. Der Sergeant stieß meine Füße näher an die Wand und stützte mich hinten am Kopf. Das Blut lief mir in den Mund. Als die Brüsseler Schneeköppe fort waren, gab der Oberleutnant seine lieblichen Befehle. Ich sollte in Dunkelhaft kommen, aber nicht das allein; die Wache würde obendrein jede Viertelstunde Tag und Nacht hindurch mit dem Gummiknüppel an die Zellentür schlagen. Darauf hätte ich mich mit Namen, Rang und Feldnummer zu melden. Nicht etwa im Flüsterton, sondern mit voller Lautstärke. Und wenn ichs nicht täte, würde die Wache schießen, nicht ein- oder zweimal, sondern das ganze Magazin würde sie reinballern. Man würde dann behaupten, ich hätte fliehen wollen, und später natürlich rausfinden, daß es leider ein bedauerlicher Irrtum war. Zum Schluß erkundigte er sich, ob das Gästezimmer in Ordnung sei. «Jawohl, Sir», schnurrte der Sergeant ab. «Schafft mir das Schwein aus den Augen.» 346
Draußen nahmen mich die Wachen in die Mitte, und der Sergeant führte mich an den Handschellen. Er zog meine Arme hinten hoch und drückte mir den Gummiknüppel ins Genick. Ich ging komisch nach vorn gebeugt. «Isses nich immer wieder wunderbar bei der Armee», sagte ich. Ich erhielt einen leichten Schlag in den Nacken. «Schnauze», kommandierte der Sergeant. «Ich möchte gelegentlich Luft kriegen», sagte ich. Ich spuckte Blut, lange, faserige Streifen. Der nächste Schlag war härter, mein Arm wurde noch ein Stückchen höher gedreht. Ich fiel hin, das Knie schleifte am Boden. Man hievte mich hoch. Ein Wachtposten leckte sich die Lippen. Ich grinste. Dem Sergeant flog was ins Auge. Er packte mich am Arm, und wir gingen weiter. Die Einzelzellen sahen aus wie Hühnerställe und standen auf schweren Stelzen. Bei den unbesetzten waren die Türen mit zwei Pfosten hochgestemmt. Ich wurde gleich zur ersten gebracht. Ich mußte den Kopf einziehen beim Reingehen. Die Luft war stickig. Als ich mich umdrehte, um mich zu setzen, fiel die Tür zu. Ich hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde und das Schloß zuschnappte. Die Schritte der Wache kamen knirschend näher. Durch ein Loch in der Tür konnte ich rausschauen. Der finstere Stall war grade so groß, daß man stehen und liegen konnte. Durch die Planken unten fiel an einer Stelle etwas Licht rein, und ich entdeckte ein paar Grasbüschel. 347
Da schlug die Wache mit dem Gummiknüppel an die Tür. Ich kam mir vor wie im Innern einer Trommel. «Mach schon, Früchtchen», kam es von draußen. «Laß hören, laut und deutlich.» Ich sagte nichts. Es donnerte wieder. «Mach das Maul auf!» «Leck mich am Arsch», sagte ich. Ich lehnte mich vorsichtig an, meine Hände, noch immer in Handschellen, hinderten mich dabei. «Nun schieß doch schon», sagte ich. Mir war kalt, ich zitterte. Man setzte mich auf Wasser und Brot. Es war so erbärmlich kalt, daß mir die Tasse die Lippen aufriß; das Aluminium klebte wie trockenes Eis. Ließ man das Wasser stehen, so fror es. Zu jeder Tasse kriegte ich zwei Scheiben Brot. Ich trug noch immer Handschellen, aber jetzt vorn. Durch das Guckloch in der Tür konnte ich die Küche gegenüber sehen. In der ersten Zeit hatte ich ständig Hunger und verschlang mit den Augen, was drüben rausgetragen wurde. Alle Gefangenen trugen ein schönes weißes P auf dem Rücken. Ein paarmal sah ich Mac rauskommen. Ich erfuhr, daß er Koch war. Ständig roch es nach Essen, nach Seife und Abwaschwasser. In den ersten zehn Tagen hatte ich bloß eine Jacke, keine Decke. Ich war vollkommen steifgefroren und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Früh im Dezember fiel der erste Schnee und wehte durch die Spalten rein. Im Winter hieß die Einzelzelle ganz 348
richtig Eisschrank. Im Sommer war sie der Schwitzkasten. Ich kam mir tatsächlich wie in einer Tiefkühltruhe vor. Ich kam nur dann raus, wenn mich der Wachtposten zur Latrine brachte, die bei der letzten Zelle lag. Der Wachtposten hatte einen Schal über dem Mund und trug eine Wollmütze unter dem Helm. Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen. Sein Gesicht war rot, und seine Hände wurden blau, als er die Lederhandschuhe ausgezogen hatte, um fluchend den klammen Finger am Drücker zu halten. Seine Augen tränten in der Kälte. Der Rand des Klos war so kalt, daß man wahrscheinlich drauf festgefroren wäre. Ich unterhielt mich immer mit den Wachen. Durch das Loch sagte ich zu ihnen so was wie: «He, du Vollidiot, möchtste nich lieber im warmen Bett mit 'ner netten Nutte liegen, statt mich anzuglotzen und alles abzufrieren?» Dann donnerten sie gegen die Tür und brüllten. Manche hatten an der Schinderei richtig ihren Spaß. Ich schlief nicht besonders gut. Die Schläge gegen die Tür waren wie ein Schock, wie eine riesige dröhnende Trommel im Kopf. Ich pflegte mich mit Schneewittchen und die sieben Zwerge zu melden oder mit ähnlichem Stuß. «Wer verdammich biste heute?» fragte dann der Wachtposten und trommelte lauter. «Der beschissene Eisenhower, wer sonst», rief ich dann. Oder ich empfahl ihnen höflich, mich am Arsch zu lecken. Ein Wachtposten zerbrach fast den Knüppel an der Tür und plärrte: «Ich bring dich um! Ich bring dich um!» «Tus doch, Rindvieh, Tust mir bloß nen Gefallen 349
damit.» Ich machte ihn vollkommen fertig. Er heulte fast, als er dem Corporal Meldung machte, ich sei verrückt geworden. «Verrückt geworden?» sagte der Corporal. «Is der doch schon lang.» Ein anderer, den ich den Roten nannte, war einer der wenigen, die nicht an die Tür schlugen. Nur wenn der Corporal oder der Sergeant rumschnüffelten, tat ers, aber er gab mir vorher Bescheid. Einmal fragte er mich, ob es wahr sei, ob ich wirklich alles getan habe, was so über mich rumging. «Klar», sagte ich. «Wirklich?» «Klar. Möchtste 'n Autogramm?» Er fragte weiter, ob ich an der Front gewesen sei. «Siehst so aus», sagte er. «Hab mich auch ganz schön mit Panzern rumgeschlagen.» «Das is aber nett.» «Was soll nett dran sein?» «Weiß nich, is ja auch egal.» «Hör mal. Hab gehört, in Washington ist was losgewesen, weil sie so viele aufgehängt haben. Ich glaub, es kommt 'n Gesetz, daß mit dem Hängen Sense is. Hast Schwein.» Einmal glotzte der Doktor durch die offengehaltene Tür. Als er reinkam, murmelte er was von Menschenwürde. Er hörte mich ab. Das Hörrohr war eiskalt, als er mirs unters Hemd steckte. Er schüttelte den Kopf. «Da stimmt was 350
nich mit Ihrem Fuß», sagte er. «Schon gewußt?» Und ich sagte: «Nee, is mir neu.» Meine Füße waren schwer wie Blei. Er kam mit dicken Wollsocken, einem Mantel und einer Decke zurück. «Wenns nich mehr geht, 0800 anrufen.» «Die lassen mich doch nich.» «Doch, doch.» Als er weg war, sagte der Rote: «Der Doktor hat beim Kommandant Krach geschlagen, nach dem, was ich gehört hab. Du hast einen auf deiner Seite.» «Is doch bloß 'n Doktor.» «Ja», nickte Red und trampelte auf der Stelle. «Himmel, is das kalt.» Er blickte hoch. «Scheint noch 'ne Ladung runterzukommen.» «Ich spür nix mehr.» «Himmel, wann werden sie dich endlich hier rauslassen?» Nach zwei Wochen wurde ich auf A-Ration gesetzt und aß in der Küche, wo ich ein wenig auftauen konnte. Aber nachher wars um so schlimmer. Mac häufte mir die Teller voll und konnte manchmal Zigaretten auftreiben. Ein paar Wachen, darunter auch der Rote, ließen mich rauchen und schauten weg, wenn ich die Hosen runterließ. Ich wickelte Zigaretten und Streichhölzer in Toilettenpapier und steckte mir die Ladung in den Hintern. Am Tor klopften der Corporal und der Sergeant mich kurz ab, aber das war eine Stelle, wo sie garantiert nicht nachschauten. Dann verhörten mich die Brüsseler CIDs. Als ich den Hügel zur Kommandantur raufging, waren meine Glieder 351
steif, das Blut wie gefroren. Ich ging langsam Schritt für Schritt. Im Büro wurde ich auf einen Stuhl gebeten. Ich stierte auf einen Punkt an der Wand. Sie gaben mir ein paar Püffe, die nicht besonders weh taten. Ich glotzte weiter auf meinen Punkt und gab stur nichts weiter als Name, Rang und Feldnummer an. Sie brüllten, sie hätten Beweise und Zeugen, daß ich drei Schneeköppe in Gent auf dem Gewissen hätte. Sie wollten Dinge von mir wissen, von denen ich nie gehört hatte. Wenn ich das alles verbrochen haben sollte, hätte ich nie schlafen dürfen und mich verdreifachen müssen. In regelmäßigen Abständen brüllten sie, sie hätten Beweise, und ich sollte endlich ein Geständnis ablegen. Ich blieb bei Namen, Rang und Nummer. Drei Tage machte der CID das mit. Sie verlangten von einem, daß man an seiner eignen Hinrichtung mitarbeitete. Sie würden mich in dem Loch sitzen lassen, bis die Hölle eingefroren war. Ich wiederholte stur Namen, Rang, Feldnummer. Danach hörten sie auf, von Gent zu reden. Sie wußten genau Bescheid über das Ding im d'Or. Beck und Richie waren noch in derselben Nacht geschnappt worden. Jetzt wollten sie mich zum Hauptschuldigen machen. Ich war neugierig, warum sie nichts mehr von den Morden hören wollten. Als ich wieder in meinem Loch hockte, fragte ich den Roten: «He, Roter, was Neues von den drei Schneeköppen aus Gent gehört? Ob sie wohl endlich den Richtigen gefunden haben?» 352
«Sie wissen, daß dus nich warst.» «Wer dann?» «Weiß auch nich. Hab bloß so was läuten hören.» «Ob sie den Kerl schnappen?» «Wer weiß?» Am nächsten Tag wurde ich wieder in die Kommandantur geschleift Diesmal waren der Kommandant des Bataillons, ein Oberstleutnant namens Ryan, ein Captain Strickland von den Schneeköppen und die CID-Leute von gestern da. Ein Idiot fragte den Oberstleutnant, ob er mich zum Verhör mitnehmen könne. Kelly würde sich liebend gern wieder mal mit mir unterhalten. Ich blickte auf den Fleck an der Wand. «Is wohl angenehm, sich so den Arsch abzufrieren? Wirste von Wasser und Brot satt?» Ich hielt den Mund. «Er kriegt schon was Beßres», sagte der erste. Die Offiziere glotzten geistvoll. «Wie wärs, wenn wir ihn wieder draufsetzen, Oberstleutnant?» «Nee», sagte der Oberstleutnant breit. «Wir wissen was von deiner kleinen Hure. Heißt Brasseur, nich?» Ich sagte nichts. «Die Belgier kümmern sich nich besonders um ihre Leute, die in Verbrechen verwickelt sind», sagte der Captain. «Weshalb wir sie in verdammt unangenehme Situationen bringen können», fügte der erste CID-Mann grinsend hinzu. 353
«Und das ungefähr fünf Jahre lang», nickte der zweite. Ich sagte nichts. «Wir sind zwar an der Hure nicht persönlich interessiert», sagte der Oberstleutnant. «Aber wenn du nich bald das Maul aufmachst, wandert sie ins Gefängnis.» Ich besah mir genau meinen Fleck an der Wand. «Was sollen wir mit dir machen?» fragte der Oberstleutnant. «Is mir egal.» «Schön», sagte er. «Dann wird sie auch dran glauben müssen. Denk noch mal drüber nach.» Danach zogen sie ab. Ich sah sie nie wieder. Wahrscheinlich hätten sie mich noch lange in dem Loch gelassen, aber der Rote verriet mir, daß der Doktor gedroht hatte, er werde diese unmenschliche Inhaftierung – so ähnlich drückte er sich aus – vor den Inspekteur bringen. Als man mich rausließ, fragte ich den Wachtposten, wieviel Tage ich gesessen hatte. Demnach mußte es um Weihnachten rum sein. Der Wachtposten grinste: «Ja, fröhliche Weihnachten» und stapfte im Kreis. Mehr als dreißig Tage war ich in Einzelhaft gewesen. Dann bekam ich Sicherheitsstufe eins; ich kam in eine Art Bunker aus schweren Bohlen, mit Stahlgittern vor den Fenstern. Rundrum lief ein Stacheldrahtzaun. Das hieß also drei Reihen Stacheldraht noch zusätzlich zur stark gesicherten Zelle. Direkt gegenüber stand ein Wachturm mit extra hellem Flutlicht. Eine Wache lief rund um 354
meinen Palast. Drinnen hockten immer zwei auf Stühlen um den Ofen. Aber ich hatte nichts von der Wärme. Durch die winzige Luke in der Tür konnte ich sie sitzen sehen, die Helme auf dem Boden. Manchmal schenkten sie einem Zigaretten oder Kippen. Nicht alle waren Unmenschen. In jeder Zelle saßen zwei, nur ich war allein. Hin und wieder, wenn ein hoher Offizier glotzen kam, schrien die Wachen «Habtacht» und hopsten rum. Meiner Zelle galt das größte Interesse. Sie glotzten stumm und verzogen sich wieder. Einmal kam ein Drei-Sterne-General vom Oberkommando. Er hatte ein gutmütiges rotes Gesicht. Er sah mich lang an. Bis ich sagte: «Wie gehts, General?» Seine Begleitung blickte nervös und ärgerlich. Als sie weg waren, kam der Wachtposten an die Tür. Ich lag auf der Pritsche. «Kennste den General?» fragte er. «Na klar. Wir haben schon zusammen getafelt», sagte ich. «Nich doch!» «Aber ja. Is 'n alter Freund von mir. Einmal haben wir lang über taktische Probleme diskutiert.» «Ach nee.» «Aber ja.» «Wie haste abgeschnitten dabei?» «Sehr gut. Ich versteh mehr davon als er. Er hatte noch nie von Schlieffen gehört. Ich mußte ihm außerdem sagen, daß der Hürtgenwald nie so geheißen hat. Wenigstens im Oberkommando hätte man doch den richtigen Namen 355
wissen müssen, aber die bringen alles durcheinander. Das is nämlich der Stadtwald, nich der Hürtgen. Außerdem haben sie den Angriff ganz falsch aufgebaut. Und es war so einfach gewesen. Wir gingen auseinander wie dicke Freunde.» «War das, als du Oberst warst?» Er gab mir eine Zigarette. «Nimm schon.» Er gab mir die ganze Schachtel. Sah so aus, als hätte ich sie verdient. Der Krieg war schon halb vergessen. Ich war inzwischen Gesprächsthema Nummer eins geworden. Nun war noch eine Geschichte dazugekommen, noch was zum Erzählen. Ich hatte den Eindruck, ich müßte mal selbst einen bescheidenen Beitrag leisten. Jeden Tag durften wir eine Stunde raus. Wir warfen Ball. Ein anderer aus dem Bunker wollte beweisen, daß ich nicht so schlimm war, wie sie mich machten, oder daß er genauso ein Hund war. Er fing an das Maul aufzureißen. Als ich nichts unternahm, wurde er frecher. Ich ignorierte ihn, das reizte ihn erst recht. Er drehte noch mehr auf. Als wir einmal in Zweierreihe zu den Zellen zurücktrabten, fing er wieder mit dem Quatsch an. Die beiden Wachen schauten grade nicht her, und ohne den Kerl anzuschauen, gab ich ihm eins mit der Handkante gegen den Adamsapfel. Er fing an zu würgen und wurde blaß. Er langte nach seinem Hals. Ein Wachtposten kam ran. «Was is los?» brüllte er. «Ich glaub, ihm is was im Hals steckengeblieben», sagte ich. «Vielleicht ne Fischgräte.» 356
«Wieso ne Fischgräte?» fragte er entgeistert. «Er versucht grade sie rauszuspucken.» «Stimmt», nickte ein Häftling, der Leo hieß, «ich habs genau gesehn.» «Ab zum Doktor», schnauzte der Wachtposten. Der Kerl schluckte noch immer und hielt sich am Hals fest. Es kam ziemlich drollig raus: «Ich brauch 'n DokDoktor nich.» «Immer hübsch aufpassen, was du in den Mund steckst», sagte ich. «Alles in Ordnung?» fragte der Wachtposten. «Rein ins Loch!» Von meiner Zelle aus konnte ich rüber zu Leo schauen, der gleichfalls an seiner Luke stand. Die anderen unterhielten sich. Einer erzählte von Lichfield und wie sie ihn dort rangekriegt hatten, und über einen, dem, wie er wußte, der Beinmuskel weggeschossen worden war. Sergeant Willis hatte ihm befohlen, gefälligst schneller zu gehen, und als der Mann nicht konnte, hatte Willis ihm mit dem Gewehrkolben über das Bein geschlagen. Ich sagte zu Leo, das komme mir bekannt vor. Leo grinste. Dann erzählte er, er wäre im Brüsseler Gefängnis gewesen, als Kelly mich zusammengeschlagen hatte. «Ich mach dir 'n Zeugen», sagte er. «Du wärst so einer», sagte ich. «Ich brauch so einen wie Sergeant Willis. Das is 'n guter Zeuge.» «Willste nich, daß ichs Maul aufmach?» «Kannste doch nich», sagte ich. «Ich werds denen schon zeigen. Möcht ich zu gern. Du 357
kommst sicher vor 'n Kriegsgericht, und ich mach für dich 'n Zeugen.» «Sie geben dir höchstens eins aufn Kopp und noch 'n paar Jährchen dazu.» «Ich scheiß drauf», knirschte Leo. «Du bist schwer in Ordnung, Leo», sagte ich. «Aber es würd nix helfen.» Alle waren hierher gekommen, auch Mac und Al. Aber Al hatte ich noch nie gesehn und Mac nur damals in der Küche. In dem Bunker wurde uns das Essen gebracht. Niemand kannte Bill Johnson. Nach Tony brauchte ich nicht mehr zu fragen. Richie und Beck waren übrigens auch hier. Richie wollte nicht mit mir reden und warf böse Blicke um sich. Ich fragte Beck, wies denn damals mit Betty Boop gewesen sei. «Fein», sagte er. «Mensch, die Mädchen, das is schon was, findste nich?» Beck war mit einem gewissen Jonny Gore zusammen, einem ziemlich Stillen. Gore und Beck versuchten ein paar Tage später zusammen auszurücken, was wirklich blöd war. Beck war sicher nicht von selber draufgekommen. Irgendeiner brachte ihn immer in Schwierigkeiten. Die beiden starteten ihren Versuch, als sie am Morgen zur Untersuchung gingen. An dem Tag lag der Schnee ziemlich hoch. Kurz vor dem Draht blieben beide dann liegen, rotgetränkt mitten im Weiß.
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Achtunddreißigstes Kapitel Einen Tag nach dieser Schießübung brachten mich sechs Wachen in Handschellen in den Tagesraum. In brandneuen Klamotten wurde ich mit fünf Schneeköppen, die grade frei hatten, in eine Reihe gestellt. Belgier kamen und identifizierten zwei davon. Die Wachen rissen Witze, als sie mich zum Kommandanten brachten. Meine Handschellen wurden an eine Stuhllehne angeschlossen. Ein Leutnant hockte hinter dem Schreibtisch. Er war blond und machte ein saures Gesicht. «Was is mit Ihren Beinen?» fragte er. «Es sind die Füße», antwortete ich. «Wahrscheinlich vom Schützengraben. Ich hab den Doktor schon gesprochen.» «Ich bin Ihr Anwalt», sagte er. «Ich heiß John Evers, Leutnant.» Sieh da, ein Schneekopp sollte mich verteidigen. Ich fragte ihn, ob er zum 707ten gehörte. «Nee, Gent.» Ach, noch besser. Er kam von der gleichen Einheit wie die drei erschossenen Schneeköppe. Ich sprach ihn daraufhin an, und er sagte: «Der Fall betrifft Sie nicht.» «Glaub ich kaum. Wann is Termin, Leutnant?» «Bald.» «Würd ich gern genauer wissen.» «Steht noch nich endgültig fest. Sie werdens früh genug erfahren. Der Staatsanwalt erhebt nur in drei Punkten Anklage. Sie haben verdammtes Schwein.» 359
«Drei bloß?» Er zeigte mir die Anklageschrift. Nur drei Punkte? Es war zum Piepen. Wegen Desertion erhoben sie nur Klage für die Zeit, als ich aus dem Sankt-Antonius-Hospital geflüchtet war, bis zur Festnahme in Liège. Die anderen zwei Punkte betrafen meine Flucht aus dem SanktAntonius-Hospital und den räuberischen Überfall aufs d'Or. Ich kapierte überhaupt nichts. Ich sah zum Fenster raus. Schnee hing im Fensterkreuz, glitzernd im Sonnenlicht. «Is doch verrückt.» Ich mußte grinsen. «Ich wär froh an Ihrer Stelle. Sie haben Schwein.» «Aber warum bloß?» «Ne Menge Gründe. Ich vermute, vor allem darum, weil die Zeugen schon in den Staaten sind. Auch ohne sie müßte der Staatsanwalt ne Parade von Zeugen auffahren, das würd lang dauern. So spart die Regierung Zeit und Geld. Ich mach mir keine Sorgen wegen der Desertion und der Flucht, aber wegen dem Raub werden sie Sie in die Pfanne hauen.» «Wie lange?» «Ich schätz zehn Jahre. Was is so lustig dran?» «Ich denk grade an die Zeit, wo man zehn Jahre für eine Woche unerlaubtes Fernbleiben kriegte.» «Hören Sie, Leondis, das ist ne verdammt ernste Sache.» «Ich heiße übrigens Leonidas, Leutnant. Sie sollten wenigstens den Namen genau kennen.» «Die Sache ist verdammt ernst. Die hauen Sie in die Pfanne, Mann.» 360
«Für etwas, was ich nich getan hab.» «Ich glaub nich, daß es so furchtbar lustig ist.» «Nee, isses auch nich.» Also, die Geier würden mich nicht fressen. Es gab doch mindestens fünfzig Anklagepunkte gegen mich, und weitere hundert hatten sie erfunden. Auch ohne einen Schuldspruch wegen Kidnappen hätte ich zum Tode verurteilt werden können; es gab doch wenigstens zwei Punkte, die so schwer wogen. Zum Beispiel, weil ich den Knülch gezwungen hatte, mich vom Cheval Blanc wegzufahren, und dann, als ich beim Château den Sergeant als Chauffeur genommen hatte. Und nun? Lumpige sechs Wochen Desertion: Dabei war ich doch mindestens zehnmal so lang weg, die Haftzeit dazugerechnet. Nur eine Flucht: Dabei war ich doch so oft abgehauen. Und das war nicht mal eine Flucht gewesen; ich war einfach rausspaziert. Und der Raub: Da war ich nun völlig unschuldig! Also gut. Ich war im d'Or, ich wollte blindlings rauben, und warum hab ichs eigentlich nicht getan, wo mich doch jeder Schneekopp in Europa wegen Mord suchte? Warum wollten sie mich deswegen nicht rankriegen? Das hatte ich ja ebensowenig getan. Nun, die Sache mit dem d'Or lag eben anders. Dort war ich immerhin tatsächlich gewesen. Aber die bloße Anwesenheit und der Gedanke an Raub und ein tatsächlich geschehener Raub, das war doch zweierlei, oder? Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte ich als Verteidiger einen Schneekopp aus Gent, der außerdem das allererstemal Verteidiger spielte. 361
Menschenskind! Als ich wieder in der Zelle war, kamen der Rote und noch einer an die Luke. «Wen haste als Verteidiger gekriegt?» fragte der Rote. «Hab den Namen vergessen», sagte ich.« Jedenfalls is er Schneekopp und in Gent stationiert.» «Ein Leutnant? Mit ner Visage, als beiße er in ne Zitrone?» «Ja, das könnt er sein.» «Himmel, das is Evers.» «Is er doof?» «Na, der is ganz in Ordnung.» «Genauer.» «Ach, lassen wir das.» «War er hinter mir her, weil er gemeint hat, ich hätt die Schneeköppe umgelegt?» «Er is von der gleichen Einheit.» «Weiß ich. War er wirklich hinter mir her?» «Na, jeder war das mehr oder weniger. Vielleicht kann er jetzt was für dich tun, weil er weiß, daß du nich dahintersteckst.» «Vielleicht geht das über seine Kräfte.» «Vielleicht will ers auch nich», sagte der andere. «Na, der Grieche hat jedenfalls genug Sorgen», meinte der Rote tiefsinnig. «Wie die beiden Idioten, die abhauen wollten.» Der andere ging wieder zum Ofen. Der Rote sah zu ihm hin. «Murph is in Ordnung, er versteht bloß nix.» «Du etwa?» 362
«Klar.» «Er spricht doch von Gore und Beck, oder?» «Na, nimms nich krumm», sagte der Rote. «Er is 'n kleiner Spinner, aber ganz in Ordnung.» «Klar. Wie gehts den beiden?» «Liegen im Krankenhaus.» «Ich weiß. Wie gehts dem Kleinen? Weißte was Neues?» «Ganz gut, er hat was an den Beinen abbekommen.» «Und Gore? Er blutete stark.» «Kriegte sechs Einschüsse ab.» «So möcht Murph mich sehen.» Der Rote schwieg. «Wars 'n Karabiner?» fragte ich. «Ja, ich weiß, das war dumm. Aber was konnte der Posten schon tun? Sie wollten ausrücken.» «Ich wett, er wird befördert.» «Er kriegt zwei Wochen Urlaub.» Ich sah zu Murph rüber. «He, Murph», rief ich, «möchtste nich auch mal? Zum Beispiel mich abknallen, wenn ich zum Zaun lauf? So wie Beck und Gore?» Murph guckte beleidigt her. «Wenn ich abhau», sagte ich, «siehste mich nich wieder. Und dem Schwein, der sie angeschossen hat, kannste sagen, er kommt besser nich wieder hierher.» «Was haste vor?» fragte Murph. «Sagst dus ihm?» «Red schon», sagte Murph beunruhigt. «Du kommst doch wieder in dein Loch.» «Laß sein, Nick», grinste der Rote. «Komm jetzt.» 363
«Das Schwein hätte die beiden anrufen sollen. Sie waren noch nich mal am Stacheldraht, da hatte er schon ein Magazin leergefeuert. Die Patrouille vorm Tor hätte sie so oder so erwischt. Sie lagen schon am Boden, da feuerte das Schwein immer noch.» «Woher weißte das?» fragte der Rote. «So was hört man.» «Na, komm jetzt.» «Is doch genau das, was du auch möchtest, nich, Murph?» fragte ich. «Nur weiter», knirschte Murph. «Du kommst doch wieder ins Loch.» «Laß ihn in Ruhe», besänftigte ihn der Rote. «Sag ihm, er soll aufhören!» «Er hat nich ganz unrecht.» «Scheiß drauf», sagte Murph. «Nun laß doch», sagte der Rote zu mir, «Murph is 'n Querschläger, aber kein Schweinehund. Er meints nich ernst, er is ganz in Ordnung. Ich sags dir wie unsereinem. Laß nur, reg dich nich auf.» «Und wenn du dich aufn Kopf stellst, er tuts nich», sagte Murph. «Schon gut, laß sein», sagte der Rote. Nach einer langen Weile fügte er hinzu: «Nun, auf jeden Fall gehts Beck ganz gut. Gore wird auch wieder werden. Lieber Gott, sie bluteten scheußlich. Es lief nur so raus. Hab nie zuvor so was gesehn.» «Was haste dir denn gedacht mit deiner Knarre?» sagte ich. 364
«Weiß nich. Wahrscheinlich gar nix. Wann is deine Verhandlung?» «Bald.» «Von mir aus kannste dir von der ganzen Armee am Arsch lecken lassen», sagte Murph, «meinetwegen auch von diesen Zeitungsfritzen, aber nich von mir, Freundchen.» «Wovon spricht er?» fragte ich. «Wenn ich das wüßte», sagte der Rote. «Weißt du doch», sagte Murph. «Mach dir nich in die Hosen», sagte ich zu ihm. «Von mir aus kannste dir von jedem am Arsch lecken lassen, aber nich von mir.» «Kann mich hier jeder anscheißen, wie er will?» fragte ich den Roten. «Sieht so aus», grinste der. «Erzähl ihm doch von den Zeitungsfritzen», keifte Murph. «Vielleicht kann ers für sein Tagebuch brauchen.» «Na ja, es gibt da so ein Gerücht von dem Korrespondenten von ner großen Zeitung», sagte der Rote zögernd. Dann zu Murph: «Es war nur einer, der Gartenzwerg.» «Was für 'n Korrespondent?» fragte ich. «Weiß auch nich genau», sagte der Rote. «Nur soviel: man glaubt, er sei einer der ganz Großen von einem der großen Blätter.» «So, so.» «Und er hat gehört, daß du in ganz Europa aus der Armee Vollidioten machst.» 365
«Vollidioten aus der Armee?» fragte Murph. «Der is gut.» «Na, is sicher was dran», sagte der Rote. «Deshalb die sanfte Tour bei der Anklage. Das is die Wahrheit, Nick. Sieht so aus, als wollt er hier nachforschen, denn dieser Kerl hat natürlich auch nur Gerüchte gehört. Er fing an rumzuschnüffeln und fiel dem Oberkommando in Paris ganz schön aufn Wecker, hab ich gehört. Die hohen Tiere dort wurden nervös und riefen schnell Chanor Base an. Ziemlich blöd.» «Wann haste das gehört?» «Frag mich, wann. Aber eins is sicher: der Kommandant hat strikten Befehl gegeben, keiner Menschenseele zu verraten, wo du steckst. Wer Nachforschungen anstellen will über dich, is sofort einem Offizier oder dem Kommandant selber zu melden. Wir sollen von dir nix wissen. Wir haben nie von dir gehört. Deshalb redet jeder bloß von dir. Warum hat bloß die Armee vor einem Zeitungsfritzen Schiß? Was meinst du, Murph?» «Mit wieviel Punkten haben sie dich angeklagt?» fragte Murph. «Hundertfünfzig. » Ein paar Tage später erzählte ich Evers, meinem Verteidiger, von dem Gerücht. Er sah mich griesgrämig an, gleich drauf gab er sich zugeknöpft. «Woher haben Sie denn das?» fragte er giftig. «Klingt verdammt lächerlich.» «Hm, in jedem Gerücht steckt gewöhnlich 'n Körnchen Wahrheit, Leutnant.» 366
«Keiner will Sie mundtot machen.» «Das sag ich auch nich.» «Keiner versucht, Sie zum Schweigen zu bringen. Die Armee verhandelt gegen Sie, nicht Sie gegen die Armee.» «Vielleicht eben doch.» «Offenbar zulang in Einzelhaft», sagte er kopfschüttelnd. «Die Verhandlung findet am 14. statt.» «Aha.» «Werden Sie in den Zeugenstand gehn?» «Wohl kaum. Ich werd nich vor denen heulen.» «Wie Sie wollen», sagte er. «Bis zur Verhandlung.» Damit war er aus der Tür und rief nach der Wache. Als ich zurückkam, sagte der Rote gleich: «Hab gehört, du kommst am 14. Februar ran.» «Hm, richtig gehört», sagte ich, «weißte noch mehr über den Zeitungsfritzen?» «Bloß, daß sie alles absichern, damit niemand an dich rankommt.» «Und wie?» «Besser, ich halt den Mund.» «Du hast mir sonst auch alles erzählt.» «Aber das is 'n Ding. Wenn sie dich zur Verhandlung bringen, isses besser, ich halt die Schnauze.» Ungefähr eine Stunde später, während ich ihn die ganze Zeit damit gelöchert hatte, meinte der Rote: «Nee. Ich habs aus sicherer Quelle. Habs direkt erfahrn. Auch das mit den Zeitungsfritzen. Aber das beste is doch der Zirkus, den sie veranstalten, wenn sie dich zur Verhandlung bringen.» «Was für 'n Zirkus?» 367
«Ne ganze Kompanie deiner Freunde aus Brüssel wird dich beehren.» «Quatsch.» «Sie sind weniger um dich als vielmehr wegen den Zeitungsfritzen besorgt.» «Klingt alles nach Stuß. Zuerst haste gesagt, es is ein Zeitungsfritze. Wer hat dich jetzt hochgenommen, Roter?» «Na, du wirst schon sehen.» «Mensch, mit so ner Menge Schneeköppe erregen sie doch erst recht Aufsehen! Wenn sies wirklich geheimhalten wollen, täten sie mich nich mit ner ganzen Kompanie zur Verhandlung bringen. Is doch klar, oder?» «Vielleicht wissen die Kerle schon was, die sind ja auf Draht.» «Meinste?» «Vielleicht.» «Schau, du hast erst von einem geredet.» «Sicher, es fing mit einem an. Nun is 'n ganzes Rudel draus geworden. Wie gesagt, is ne Menge Lärm in Washington im Senat und Kongreß wegen all der Scheiße, die vorgefallen is, wegen dem Erhängen. Und jetzt mit dir erst! Du hast dich von der ganzen Armee am Arsch lecken lassen. Sie würden am liebsten vergessen, daß du je existiert hast.» «Aber das meiste war erfunden.» «Na, wenn schon. Nimm an, die Fritzen wissen Bescheid, und wie du sagst, es zieht nur die Aufmerksamkeit auf dein Verfahren. Hast du denn mal gehört, daß die Armee was getan hat, das viel Sinn hat?» 368
«Nee, das stimmt», sagte ich. «Na, jedenfalls werden ne Menge Schneeköppe um dich sein, daß man dich gar nich sehn wird.» «Wers glaubt, wird selig.» «Du wirst sehn.» «Aber doch nich ne ganze Kompanie.» «Laß mal, wirst es erleben.» Am Morgen meiner Verhandlung schloß der Rote meine Zellentür auf, und Murph hielt seine 45er pflichtschuldig im Anschlag. Ich stand von der Pritsche auf. «Roter, ich behaupt noch immer, daß du spinnst.» «Sie stehn schon draußen.» «Ich seh niemand», sagte Leo. «Ich seh sie nich, Nick.» «Kannste auch gar nich.» «Sag dus, Murph», grinste der Rote. «Hab ich ihm was aufgebunden?» «Aber keine ganze Kompanie.» «Schon gut», sagte der Rote. Er kam rein und gab mir eine säuerlich riechende Kluft. Ich zog mich an und blinzelte zu Murph mit seiner 45er. Zum Roten sagte ich: «Sag deinem Freund, er soll sich mit dem Ding da vorsehn.» «He, Nick», schrie Leo. «Ich seh ne Abteilung Schneeköppe durchs Tor kommen. Ein paar Offiziere sind auch dabei. Alle mit Thompsons!» «Aber es is keine Kompanie», sagte ich. «'n Trupp, aber alle mit Thompsons.» «Red schon, Murph», sagte der Rote, «hab ich dem 369
Griechen was aufgebunden?» Er lachte. Ich glaubte ihm jetzt. «Ich hab dirs doch gleich gesagt», freute er sich, «alles zur Sicherheit. Sie haben auch die Straße beim Fischer-Bau abgeriegelt, das Gelände drumrum und jedes Stockwerk einzeln. Kein Unbefugter, kein Armeeangehöriger darf ohne besonderen Ausweis rein, nich mal Eisenhower.» «Da sind sie», rief Leo. Der Rote wünschte mir viel Glück und ein paar aus den Zellen auch. Einer schrie: «Gibs ihnen, Nick.» Dann war auf einen Schlag alles ruhig. Ein pockennarbiger Leutnant kam rein mit seinem Trupp. Die Schneeköppe hatten ihre Thompsons im Anschlag. Draußen war es kalt. Die Schneeköppe flankierten mich. Viele Augen verfolgten mich; ein paar standen am Stacheldraht. Der Himmel war hell und weit. Ich hatte ihn ne ganze Weile nicht gesehn. Da, bei den weißen Baracken, standen drei Züge Schneeköppe aus Brüssel in Formation. Laster säumten die Fahrbahn. Ein paar Offiziere drehten sich nach mir um. Der Doktor rauchte vor seiner Baracke Pfeife. Ein Kollege stand bei ihm und guckte rüber. Wachen drehten ihre Köpfe nach mir. Man hörte die Fahne im Eiswind an den Mast schlagen. Der pockennarbige Leutnant sah verdammt nervös aus. Sein Gesicht war rot vor Kälte und die tiefen Pockennarben purpurn. Ich mußte in einen Munitionstransporter und mich drin auf den Boden setzen. Die Stahlplanken waren kalt wie Eis. Ein Schneekopp legte mir eiserne Fußfesseln an. Ein anderer 370
schloß meine Hände unter den angezogenen Knien in Handschellen. Die Schneeköppe nahmen Platz, die Kompanie löste ihre Formation auf und bestieg die Fahrzeuge. In der Stadt fuhren wir durch die Avenue Louise. Die Bäume standen da ohne Laub, schwarz und reglos und mit Eis überzogen. Als wir bei Nora vorbeifuhren, fiel mir ne Menge ein. Vorbei gings an der Porte de Namur, eine kleine Strecke die Chaussée d'Ixelles rauf, dann links, und dann hielten wir vor dem Fischer-Bau mit seinen Glastüren. Zwei Laster blockierten die Straße oben und unter. Schneeköppe vertrieben Zivilisten von der Straße. Ein doppelter Kordon von Schneeköppen stand von unserem Wagen bis zum Eingang des Gebäudes. Überall Thompsons und Gummiknüppel. Meine Wagenbesatzung flankierte mich. Neununddreißigstes Kapitel Grade weil ich schon ne Menge über Kriegsgerichte gehört hatte, erwartete ich großen militärischen Zirkus. Aber komischerweise saßen nur fünf Offiziere hinter einem langen Tisch. Drei waren Oberleutnant, einer ein mittelalterlicher Major mit einem Kneifer, dann noch ein Oberstleutnant mit grauem Haar und freundlichem Gesicht. Der saß in der Mitte. Leutnant Evers war auch da. An der Wand hing ein Riesenfoto von Truman, in der Ecke die Stars and Stripes. Dem langen Tisch gegenüber war der Zeugenstand, ein großer Stuhl auf einem Podest. 371
Zwei Schneeköppe nahmen Evers und mich hinter dem kleinen Pult in die Mitte, die Thompsons im Anschlag. Zwei standen steif an der Tür. Komischerweise unterhielten sie sich zerstreut über alles mögliche, und kein Mensch schien an die Verhandlung zu denken. Der Staatsanwalt war ziemlich klein und hatte ein schmales Gesicht mit einer Adlernase. Wenn er den Mund verzog, ragte sie noch gewaltiger vor. Der Vorsitzende machte ein bescheidenes Witzchen über die starrenden Waffen. Er hoffe, daß die Geschworenen sicher durchkämen, um ihre Funktion ausüben zu können. Und dabei sah er nur die im Gerichtssaal. Der Staatsanwalt flüsterte ihm mit gewaltig ragender Nase was zu. «Ach ja», sagte der Vorsitzende, «wir können eigentlich anfangen.» Der Staatsanwalt leierte eine endlose Einleitung runter, drunter auch, ob ich ein Protokoll über die Verhandlung wolle; als ich nicht laut genug antwortete, bat er mich, es zu wiederholen. Dann fuhr er fort, wer klage, wer die Ermittlungen geleitet habe, wer das Verfahren angestrengt habe, wer vom Hohen Gericht anwesend war, wer abwesend. Das Hohe Gericht wurde vereidigt. Er hatte wohl alles schon tausendmal gesagt und hörte sich nicht mal selber zu. Ich blickte zum Fenster raus. Evers stieß mich an. Der Staatsanwalt war fertig geworden. Evers flüsterte mir zu, ich solle mich in jedem Punkt nicht schuldig bekennen. Ich stand auf, der Staatsanwalt fragte: «Wie bekennen 372
Sie, der Angeklagte Private Nicholas Leonidas, sich zu Folgendem? Zu Punkt eins?» «Nicht schuldig.» «Zu Punkt zwei?» «Nicht schuldig.» «Zu Punkt drei?» «Nicht schuldig.» Evers stand auf und sagte: «Der Angeklagte möchte sich ausdrücklich in jedem Punkt als nicht schuldig bekennen.» Dann verlas der Staatsanwalt meinen Morgenreport aus dem Lazarett, der irgendeinen hochtrabenden Namen bekam. Er wurde am Tisch rumgereicht. Sie sahen das Papier wie eine Mordwaffe an. Darauf ging der Staatsanwalt die ersten zwei Anklagen wegen Desertion und Flucht schneller durch als den ganzen Einleitungsmist. Der erste Zeuge der Anklage war Mac. Er saß klein und mit weitaufgerissenen Augen im Zeugenstand. Er sah mich nicht an. Ich fühlte nichts, als ich ihn so mickerig dasitzen sah, obgleich er aussagte, ich wäre lang Deserteur gewesen. Ich hatte den Wunsch, daß möglichst bald alles rum wäre. Zum erstenmal hörte ich Macs richtigen Namen, er hieß Thomas McMahon. Der zweite Zeuge war der Wachtposten, dem ich im Hospital davongelaufen war. Er war völlig aufgelöst und versprach sich dauernd. Nach jedem Zeugen fragte der Staatsanwalt Evers: «Will die Verteidigung den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen?» Evers sagte stereotyp: «Die Verteidigung verzichtet.» Für die letzte Anklage, den Überfall aufs d'Or, wurden 373
drei Zeugen zur Sache vernommen. Einer war der schwerreiche Belgier und die beiden anderen zwei deutsche Kellner. Einen davon hatte ich nie zuvor gesehen. Der andere war der, den ich nach der Toilette gefragt hatte und der mich zwei Minuten später, als ich unter der Laterne stand und er und die Frau um Hilfe riefen, nicht erkannt hatte. Aber mehr als drei Monate später erkannte er mich anscheinend wieder. Wahrscheinlich war ich nicht der einzige, der spürte, daß er log mit seiner zurechtgemachten Geschichte, daß ein schwarzhaariger Soldat reingekommen war und nach dem Waschraum gefragt hatte. Dann seien noch drei mit Revolvern nachgekommen. Es sah jetzt so aus, als habe ich, der ich weder die Pistole gezogen noch den Belgier überhaupt berührt hatte, zu den drei Soldaten gehört. Die hätten dann den Belgier geschlagen und seine Brieftasche geraubt. Da wir insgesamt nur drei waren, hatten sie vermutlich großzügig den Hasenfuß von Engländer mitgezählt. Jetzt war er Amerikaner geworden und hatte einen Revolver gezogen. Evers kannte die ganze Geschichte, eine der wenigen, die ich ihm erzählt hatte. Er konnte doch nicht die Verhandlung vorübergehen lassen, ohne die Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. Eine Verhandlung muß doch wenigstens ein bißchen nach Verhandlung aussehen. Wie ich befürchtet hatte, gab er sich zuvorkommend und scheißfreundlich. Als er durch den Dolmetscher fragte, ob ich der erste Amerikaner gewesen sei, der ins Café gekommen war, lautete die Antwort: «Nein.» «Können Sie den Soldaten beschreiben, der zuerst nach 374
dem Waschraum gefragt hat?» wollte Evers wissen. «Er war ziemlich groß. Schwarzhaarig.» «So groß wie der Angeklagte?» «Größer.» «Ist dieser Soldat anwesend?» «Nein, er is nich hier.» Was nicht ins Protokoll kam, war die Sache mit der Dolmetscherin. Sie war Belgierin, hieß drolligerweise Nelson und sah aus wie eine Damenringkämpferin. Sie trug Jackett und Hemd mit Krawatte und das Haar in einem straffen Knoten. Ihre Züge waren hart, ihr Mund riesig. Jede Frage des Staatsanwalts, des Gerichts oder von Evers mußte sie übersetzen. Manchmal dauerte es eine Ewigkeit, ehe eine einfache Frage in Englisch zurückkam. Die Fragen mußten oft wiederholt werden. Der Staatsanwalt fragte zum Beispiel: «Wollen Sie sich bitte im Saal umsehen, ob – es muß nicht der Fall sein! – irgendein Anwesender einer der vier bewaffneten Soldaten war, die ins Lokal kamen und Ihr Geld mitnahmen? Am oder um den 2. November herum?» Die Dolmetscherin machte sich die Sache einfacher: «Le soldat am Tisch mit dem Offizier da, ist das nich der, der Ihr Geld damals im Café mitgenommen hat?» Da nur der englische Teil der Vernehmung vom Gerichtsschreiber aufgezeichnet wurde, konnte das Protokoll nie zeigen, wie sehr sie den Zeugen auf diese Weise beeinflußte. Dabei war sie vereidigt. Ich schrieb auf Evers' Block: «Kann die Hexe denn kein Französisch?» Evers zuckte nicht mal mit der Wimper. 375
Der erste Zeuge war der Belgier. Er sah anders aus als im d'Or: größer, glatter, großes Gesicht und große Hände. Er hatte dieselbe Aalglätte der Neureichen wie Al, der Belgier, und all diese Schwarzmarkttypen, die man im Café Universal traf. Der zweite Zeuge war der mir unbekannte deutsche Kellner. Er schwitzte fürchterlich im Zeugenstand. Andauernd fuhr er sich mit einem Taschentuch übers Gesicht. Schon bei der Identifikation mußte der Staatsanwalt ein paarmal fragen. Der Deutsche zögerte. «Ich glaub schon, daß ers is.» Evers war überhaupt nicht scharf während des Kreuzverhörs. Als der Kellner nervös wurde, ließ Evers ihm Zeit, sich wieder zu fangen. Ich hatte das Gefühl, der Deutsche wartete förmlich auf einen, der ihn härter anpackte. Er war wahrscheinlich ein Typ, der die Wahrheit sagen mußte, selbst wenn er vorher gelogen hatte. Als Evers schließlich fragte: «Wenn Sie diesen Soldaten auf der Straße treffen würden, könnten Sie dann immer noch behaupten, es ist der aus dem Café?», hörte er unvermittelt auf, sich das Gesicht zu wischen. «Den da?» «Ja.» «Nein, könnt ich nich.» Der dritte war der, den ich nach le cabinet gefragt hatte. Der war wie der Felsen von Gibraltar. Er kümmerte sich einen Dreck drum, wie hart man ihm zusetzte. Er war stur wie ein Kanaldeckel. Evers sprang gut mit ihm um, aber ich vermute, er wußte sowieso, daß er den nicht 376
erschüttern konnte. «Können Sie eindeutig behaupten, daß dieser Soldat einer von den Soldaten ist, die in jener Nacht im Café waren?» fragte er. «Ja, klar.» «Hat Ihnen jemand erzählt, daß dies der Mann ist, der in jener Nacht im Café war?» «Nein, niemand.» «Danke, das ist alles.» Als Evers mit dem Deutschen fertig war, fragte der Staatsanwalt: «Wenn Sie auf die Frage des Verteidigers antworten, daß er im Café war, meinen Sie damit den Angeklagten?» «Ja, es ist bestimmt der, ja.» Als das vorbei war, fragte Evers schnell: «Wollen Sie als Zeuge auftreten?» «Wozu, ich war der einzige, der die Wahrheit sagt.» Und dann war es vorbei. Ich hatte abgelehnt, den Zeugenstand zu betreten. Es kam noch abschließendes Blabla von Evers und dem Staatsanwalt. Die Verhandlung war beendet. Minuten später war ich von wenigstens zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder blablabla für schuldig befunden worden. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück, und wieder ein paar Minuten später wurde ich von wenigstens drei Viertel der anwesenden Mitglieder blablabla verurteilt. Ich bekam zwölf Jahre. Ich weiß nicht, warum grade zwölf, aber es waren zwölf, keins mehr, keins weniger. Die Verhandlung hatte um halb zehn begonnen, und 377
um elf brachte mich die Kompanie ins Gefängnis zurück. Nun, daß ich bloß zwölf Jahre kriegte, war nicht der Grund, daß es jetzt endgültig aus für mich war. Ich beschloß einfach aufzugeben. Ich hatte mein Teil. Ich weiß nicht, ich kanns nicht ausdrücken. Tony hatte dreißig Jahre bekommen, was ich auch bekommen hätte, und zum Schluß hatten sie ihn umgebracht. Ich kriegte zwölf Jahre ein Jahr später. Begeh einen Mord, und sie geben dir zwanzig. Ein GI bringt drei Belgier um. Er kriegt zehn. Alles in Ordnung. Manchmal hängen sie dich. Hau für eine Woche ab, und du kriegst lebenslänglich. Kann auch sein, sie knallen dich ab. Wenn ich die drei Schneeköppe in Gent umgelegt hätte, wären mir vielleicht gewaltige sechs Monate zugestanden. Was soll man bloß dazu sagen? Nun, ich hatte Schwein gehabt, das war alles. Vierzigstes Kapitel Der Winter und der Frühling gingen vorüber. Vom stahlvergitterten Fenster aus konnte ich einen Bauern in seinem Obstgarten sehen. Er holte die Kacke eimerweise aus der Gefängnislatrine, um damit zu düngen. Wenn der Wind richtig stand, roch der Garten so lieblich wie eine riesige Latrine. Im Frühling wurde alles grün, und ich sah die Blüten aufgehen. Hinter dem Obstgarten lagen Berge; man konnte über sie hinwegsehn und sah höhere, weit weg. Am Sonntag spielten die Belgier Fußball, sie trugen 378
rote Hemden und weiße Hosen, oder eine Woche gelb und die andere blau. Die in Rot waren jeden Sonntag da, und ich wartete immer gespannt auf sie. Manchmal trug der Wind ihre Stimmen her, dünn und weit weg. Mädchen mit hellen Schirmen standen am Rand des Spielfelds. Für sie war der Krieg lang vorbei. Eines Sonntags regnete es, und ich wartete vergeblich auf sie. Später regnete es oft. Manchmal kam der belgische Bauer im Regen raus, mit einem glänzenden gelben Umhang, und werkelte rum. Er mußte immer werkeln, und ich mußte ihn immer beobachten. Ich horchte auf den Regen. Wenn es regnete, war wieder Krieg. Ich wollte mich nicht dran erinnern, und angenehmer war es, an einen anderen Krieg zu denken. Napoleon muß sich da ganz schön abgestrampelt haben. Die Hügel waren wie geschaffen für Kanonen. Ich sah Männer fluchend schieben, die Räder der Kanone drehen sich immer tiefer in den Schlamm, sie kippen. War 'n Ding, sie da hochzukriegen. Ich wunderte mich, wie ich auf Napoleon kam. Dann erinnerte ich mich, daß mir Hughes davon erzählt hatte, wie sich hier die Schlacht abgespielt hatte. Ich wußte nicht genau, ob sie dort geschlagen worden war, aber mir kams vor, als sei ich dabeigewesen. Nun war Hughes wahrscheinlich tot. Eins wußte ich genau: Das war Waterloo für uns alle. Hier endeten wir alle. Manchmal dachte ich an Suzy. Wahrscheinlich würde sie einen Flieger heiraten. Alle Mädchen vom Corso taten das. Die Nutten sind angeblich die besten Frauen. 379
Wahrscheinlich hat eine von ihnen das Gerücht in die Welt gesetzt. Es dauerte Monate, ehe ich von ihr hörte. Kommandant war inzwischen ein anderer. Später erfuhr ich, daß der erste meine Briefe an sie zurückbehalten hatte. Warum ich ihr nicht schreibe, wollte sie wissen, sie sei so malade, malade mit dem Herz. Viele Tage verbringe sie im Bett. Sie nicht schreiben gut anglais. Ich lieben dich, Chéri. Du kommen zurück zu Suzy? Ich legte den Brief beiseite und fühlte mich beschissen. Es war seidenes Briefpapier. Ich legte ihn auf die Pritsche und schaute den Abdruck ihrer Lippen an, den sie unten draufgemacht hatte. Ich antwortete nicht. Noch ein Brief kam, ich beantwortete auch den nicht. Ich besser jetzt, schrieb sie. Ich gehen mit Freundin auf Promenade. Nicht mehr Corso. Ich haben aufgehört damit. Ich wollen, daß du zurückkommen. Diesmal hatte sie ihren Lippenstift auf drei Stellen abgedrückt. Es war Sommer, als der Rote damit ankam, daß ich verlegt würde. Es sah so aus, als würden sie langsam einige Lager dichtmachen und mich zunächst vor der Reise in die Staaten nach Würzburg verpflanzen. «Erzähl ihm vom Gefangenenschiff, Murph», grinste der Rote. «Haste mich schon mal auf einem gesehn?» fragte Murph erbost. «Erzähl ihm von der Meuterei.» «Hat einen ulkigen Namen», lenkte Murph ab. «Le Petit 380
Enfant. Weißte, was das heißt?» «Klar», sagte ich. Die anderen hörten zu. Ich sah Leo. «Na, es is ein Freiheitsschiff», erklärte der Rote. «Das is auch so 'n Ding – Freiheit», sagte Murph. «Na, jedenfalls», sagte der Rote, «dort wird man wie ne Sardine verladen. Mitten aufm Teich, hat Murph erzählt, haben die armen Teufel versucht, das Schiff zu übernehmen. ‹Meuterei an Bord› hat der Kapitän gefunkt. Ich wette, da war ganz schön was los.» «Verdammt wahr», sagte Murph. «Und dann?» fragte ich. «War allerhand los, Freundchen», sagte Murph. «Zuerst stießen sie draußen auf hoher See mit der Marine zusammen, ein paar Zerstörer. Dann mit der Küstenwache. Und dann alle am Pier: Küstenwache, Stadtpolizei, Soldaten, Gott weiß, wer noch alles.» «In New York?» «Kommste von dort?» fragte Murph. «Ja.» «Is 'n Ding, so nach Hause zu kommen, nich?» Am nächsten Morgen gings ab. Meine ganzen Habseligkeiten bestanden aus dem Urteil und einem Packen Briefe. Die Männer in den Zellen winkten stumm, als mich zwei weitere Wachen rausbrachten. Ich schaute mich nicht mehr um. Die zwei Wachen gingen hinten, Murph und der Rote neben mir. «Du hast doch keinen Dienst heut?» sagte ich zum Roten. 381
«Nee», sagte er, «ich bring dich nur 'n Stück.» Ein paar Leute standen am Stacheldraht. «'n paar faule Äpfel drunter», sagte Murph. «Einer auf tot oder lebendig.» «Is doch alles der gleiche Mist», sagte ich. «Schau dir Nick an. War er so schlecht, wie sie ihn gemacht haben?» «Nee, gar nie.» «Was soll das?» fragte ich. Am Tor standen neben einem Transporter erwartungsvoll die Schneeköppe aus Brüssel. «Werden gesucht wegen Entführung», sagte der Rote. «Wahrscheinlich 'n Jeep gestohlen», sagte ich. «Ballert nich gleich auf sie los, vielleicht verhelft ihr denen dann zu nem Mord.» «Verrückt, nich», grinste Murph. Wir waren jetzt am Tor. Ganz hinten stand Mac. Seit der Verhandlung hatte ich ihn nicht mehr gesehn. Er hielt sich am Drahtzaun fest und ließ den Kopf hängen. So ein Gauner. Er sah mich an, bis ich lachte. «Kopf hoch», rief ich. Er grinste breit. «Ärger dich nich, Nick. Wir sehn uns wieder.» «Das is ja das Blöde. Dorthin kommen wir alle.» Der Rote und Murph kamen mit raus. Das übliche folgte: Rauf auf den Transporter, Handschellen. Der Rote und Murph gingen den Hügel rauf zur Kommandantur. Der Rote drehte sich mal um. Sie hatten beide die Hände in den Taschen. Der Häuptling von den Schneeköppen aus Brüssel ließ mich zur Abwechslung auf der Holzbank 382
sitzen. «Was is los, Sergeant?» fragte ich. «Is der Boden nich mehr gut genug?» Er sagte nichts. Ich blickte auf die blöde Fahnenstange auf dem Hügel mit den weißgestrichenen Baracken drumrum. Als wir losfuhren, ging Mac ein Stück den Zaun lang. Rauch stieg aus dem Kantinenschornstein. Keiner auf dem Laster sprach ein Wort. Wir fuhren durch das große Tor und dann die Senke runter. Das letzte, was ich sah, war ein schmutzigbrauner Wachturm, dann versperrte das Grün die Sicht. Eine Staubfahne wirbelte lang hinter uns. Dann sah ich ganz nahe die Hügel, auf die ich so lange gestarrt hatte. «Ich wett, ihr blöden Böcke wißt nich, daß Napoleon hier gekämpft hat», sagte ich. «Napoleon?» fragte einer. Der Häuptling saß mir gegenüber. Er sagte auch jetzt nichts. Nach einer ganzen Weile machte er den Mund auf: «Zigarette?» «Warum nich.» Keiner sagte mehr was. Ich schaute auf die Hügel, die ich nie wiedersehen würde. Dann kamen wir nach Brüssel rein, die Avenue Louise rauf, wo es feucht nach Bäumen roch und das Sonnenlicht auf den Blättern funkelte. Hierher würde ich nie mehr kommen, das spürte ich. Ich wußte immer, wenn es so weit war. Hier war alles fini. Wir kamen am Toison vorbei, dem großen Café. Bloß Belgier saßen auf der Terrasse. 383
Himmel, ich ertappte mich beim Gedanken an Suzy. Sie bloß noch mal sehn! «Entsinnste dich, Nick, wie wir dich hier gejagt haben?» fragte ein Schneekopp. «Klar, ganz gut», sagte ich. «So ein Idiot von euch ballerte in ne Tram.» «Hier sitzt der Idiot», sagte der Schneekopp und zeigte auf einen, der wegblickte. Damals hätte ich ihn umbringen wollen, und jetzt konnte ich mich nicht mal an ihn erinnern. «Er hat ne Nutte angeschossen», sagte der eine. «Ruhe!» befahl der Häuptling. «Wo komm ich jetzt hin?» fragte ich. «Geht dich nix an», schnauzte einer. «Polizeizentrale», sagte der Häuptling. «Und dann?» «Weiß nich. Wir liefern dich dort ab.» «Komm bloß nich zurück», sagte einer. Und dann sah ich Suzy, und ihr Haar glänzte in der Sonne. Sie ging mit einer hübschen Dunkelhaarigen die Straße lang. Ich stand auf. Sie war ungefähr einen Häuserblock entfernt und kam uns entgegen. Ein MP packte mich am Arm. Sie dachten alle, ich wollte türmen. «Setz dich!» brüllte der Schneekopp, der mich festhielt. «Dort is mein Mädchen!» Ich zog mich mit beiden Händen hoch. Ich zitterte. Der Schneekopp zerrte an meinem Arm. «Komm schon, Kleiner, Platz, Platz!» Der Wagen fuhr langsam. Wir hielten. 384
«Er schaut doch bloß nach seiner Biene», sagte ein anderer. «Laß ihn doch.» «Ei, ei, das sind ja Püppchen!» «Suzy!» schrie ich, ganz außer mir. Wir hielten immer noch. Sie kam näher, redete mit dem Mädchen. Sie sah prächtig aus. Man vergißt so was schnell. Man vergißt, wie schön sie wirklich sind. Alle Erinnerung war nichts dagegen, gar nichts. «Suzy! Suzy!» «Schrei dir die Lunge raus, Grieche», sagte der Schneekopp, «das is alles, was du noch tun kannst.» Er ließ meinen Arm los. Der Häuptling aber zitterte richtiggehend; er hielt mich an beiden Armen fest umklammert. «Ach, laß ihn linsen, Sergeant», sagte einer, «soll er sich die Lunge rausschrein!» Sie ging im Schatten großer Bäume dahin. Sie lächelte. Sie hatte mich nicht gehört. «Suzy!» Der Häuptling drehte sich um und blickte auch raus. «Welche isses denn?» fragte er. «Spielt doch keine Rolle, Sergeant», sagte der Schneekopp, «sind beide richtige Püppchen.» «Na, welche?» «Suzy!» «Die Blonde?» «Suzy», äffte mich einer nach. «He, Baby, Püppchen!» plärrte ein anderer. Einer pfiff. «Juhuuu!» rief einer und pfiff auf beiden Fingern. Dann pfiffen plötzlich alle und grölten. Der Sergeant schrie: 385
«Aufhörn, aufhörn!» «Suzy! Hier, hier, Suzy!» Sie blieb stehen und schaute her. Sie lächelte und winkte amüsiert zurück. Sie winkte allen. Die Dunkle winkte ebenfalls. «Suzy! Suzy!» Ich schrie lauter als sie alle, der Hals tat mir weh. Der Transporter fuhr mit einem Ruck an. Der Sergeant packte mich am Arm. Sie riefen alle durcheinander, pfiffen, schrien, und sie hatte mich nicht gesehn. Sie winkte immer noch, und das andere Mädchen auch. Sie winkte allen, und sie riefen ihr zu, und ich schrie, als wolle ich zerplatzen. Dann sahen wir sie kleiner werden und noch immer winken. «Suzy! Suzy! Suzy!» Der Sergeant zog mich runter.
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