Seewölfe 214 1
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Seewölfe 214 1
Kelly Kevin 1.
Schüsse peitschten. Musketenfeuer, das sich an den Klippen brach und als hallendes Echo über das Wasser der Bucht rollte. Aber zwischen den Feuerstellen und halb zerstörten Pfahlhütten am Strand wurde nicht gekämpft. Es waren Signalschüsse, die das Lager weckten und die sechs Schiffe alarmierten, die in der Bucht vor Anker lagen. Zwei Dutzend braunhäutiger Gestalten, die eben noch zusammengerollt im Sand gelegen hatten, schreckten aus dem Schlaf. Von den Felsen der Landzunge her stürmte der Steuermann des Flaggschiffs mit fuchtelnden Armen über den Strand. In der Rechten schwang er die schwere Muskete, die er abgefeuert hatte. Seine Stimme überschlug sich. „Surraj!“ schrie er in seiner Heimatsprache. „Der verdammte Bastard ist geflohen!“ Die Männer — Malaien, Inder und Mischlinge – sahen sich erschrocken an. Sie hätten keinen Grund gehabt, die Flucht des Gefangenen zu bedauern, sie waren nicht freiwillig monatelang hinter ihm hergejagt. Die Brandmale an ihren Schultern zeichneten sie als Sklaven, und die Peitschennarben auf ihren Rücken verrieten, daß sie unter der Knute ihres Besitzers ein hartes Los hatten. Aber in ihren Gesichtern spiegelte sich blankes Entsetzen. Sie wußten, was ihnen blühte, wenn der Gefangene wirklich entwischt war. Der Mogul von Annampar würde schäumen vor Wut, und er würde seinen Zorn erbarmungslos an jenen auslassen, die sich nicht wehren konnten. Schon wurde auf dem Flaggschiff der Tiger-Flotte ein Beiboot abgefiert. Ein Monstrum von Beiboot, das jedem echten Seemann nur galliges Gelächter entlockt hätte. Es war ungewöhnlich flach und breit gebaut, verschnörkelt und mit Zierrat überladen, und trug als Prunkstück einen schatten spendenden Baldachin, unter dem ein reich verziertes Lederkissen den Thron ersetzte.
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Im Augenblick wirkte das Fahrzeug zudem noch ausgesprochen hecklastig. Denn Abu Bashri, der selbsternannte „Mogul“ der kleinen Insel Annampar in der Banda-See, wog gut und gern seine zwei Zentner — die Juwelen und das riesige, kostbare Krummschwert nicht mitgerechnet. Die Schiffe, die in der Bucht dümpelten, standen dem Beiboot-Monstrum nicht nach. Schwimmende Paläste waren es, reich geschmückt mit springenden Tigern als Galionsfiguren, Tigerköpfen mit aufgerissenen Rachen auf den jetzt geborgenen Segeln, Pagodendächern über den Aufbauten, Baldachinen, roten und goldenen Seiden-Draperien, prächtigem Beiwerk in jeder Form. Der Sturm hatte sie gezaust und die ganze Herrlichkeit ziemlich durcheinander gewirbelt. Aber dieser Sturm, vor dem sie sich in die geschützte Bucht an der australischen Küste verholen wollten, hatte sie auch der „Candia“ in den Weg geblasen, dem Schiff Erland Surrajs, das jetzt als Wrack zwischen den Felsen hing. Surraj war trotz des Wetters ausgelaufen, um seine Kinder zu suchen: Yabu und Yessa, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, mit ihrem Fischerboot vor dem Sturm in die Bucht zurückzukehren. Mit dem zehnjährigen Jungen, dem achtjährigen Mädchen und ein paar entflohenen Sklaven hatte sich Surraj hier angesiedelt, weit weg von Annampar, wo die Kinder ein freudloses Dasein im goldenen Käfig erwartet hätte. Aber Abu Bashri, der größenwahnsinnige Mogul, wollte seine Enkel zurückhaben, seinen einzigen Erben und die kleine „Prinzessin“. Er glaubte Surrajs verzweifelten Beteuerungen nicht, er weigerte sich, draußen auf See nach den Kindern zu suchen. Seiner Meinung nach waren Yabu und Yessa mit Surrajs Sklaven-Freunden zu irgendeinem Schlupfwinkel im Landinneren geflohen. Aber nicht einmal die Peitsche konnte den Kapitän der „Candia“ davon abbringen, immer wieder das gleiche zu sagen — und jetzt war auch er geflohen.
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Der fette Abu Bashri knirschte erbittert mit den Zähnen. Die Stricke, mit denen seine Leute den Gefangenen an einen Felsblock auf der Landzunge gefesselt hatten, konnte auch ein Erland Surraj nicht aus eigener Kraft zerreißen. Er mußte befreit worden sein. Und es bedurfte keiner langen Überlegung, um zu wissen, wer ihn befreit hatte. Die Engländer! Diese verdammten Seewölfe, die es gewagt hatten, den Herrn der Tiger-Flotte, den Mogul von Annampar, schlicht wie einen Papiertiger zu behandeln. Daß die Männer der „Isabella VIII.“ zudem die beiden Kinder aus der kochenden See gerettet und an Bord genommen hatten, konnte Abu Bashri nicht wissen. Aber seine Wut erreichte auch so jenes Maß. bei dem seine Leute anfingen, um ihr Leben zu zittern. Schon hatte er drei, vier Männer in die Klippen hinaufgescheucht, um nach einem fremden Schiff Ausschau zu halten. Eine weitere Gruppe schickte er auf das Plateau, wo vielleicht Spuren zurückgeblieben waren. Dem Steuermann war klar, daß sie dort eigentlich Wachtposten hätten aufstellen müssen. Das gehörte zwar nicht zu seinen Aufgaben, doch er wußte aus Erfahrung, wie leicht es möglich war, daß es nachträglich zu seiner Aufgabe gemacht wurde, damit Abu Bashri einen Sündenbock hatte. Wutschnaubend stampfte der fette Mogul durch den Sand bis zu dem Felsblock, an dem nur die Reste der Stricke und die Blutspuren von Surrajs zerschundenem Rücken verblieben waren. Zwei, drei Sekunden lang starrte Abu Bashri den leeren Platz an. Seine kleinen, fast zwischen Fettwülsten verborgenen Augen glitzerten wie Kohlenstücke. Die fleischigen Nasenflügel vibrierten, die olivfarbene Haut des Gesichts nahm allmählich die Farbe einer reifen Tomate an. Als er herumfuhr, hatte sich der Steuermann wohlweislich ein Stück zurückgezogen. Abu Bashri holte Luft, um Bej Kinoshan anzubrüllen, seinen kleinen, hageren
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Vertrauten mit den schwarzen Knopfaugen und der Habichtsnase. Doch auch an dem zog das Gewitter vorbei, weil im selben Moment zwei von den Männern aus den Klippen abenterten. Atemlos meldeten sie, daß sie im Nordwesten eine Galeone gesichtet hätten, die Anstalten zeige, das Kap zu runden. Eine Galeone mit überlangen Masten und auffällig flachen Aufbauten. „Die Engländer!“ zischte Bej Kinoshan, und damit gelang es ihm, die Wut seines Herrn und Meisters von sich abzulenken. Abu Bashri atmete tief durch. „Wir gehen ankerauf!“ fauchte er. „Wir werden sie in Fetzen schießen und dafür sorgen, daß die Fische zu fressen haben. Und Surraj, dieser räudige Hund, wird noch den Tag verfluchen, an dem er geboren wurde.“ * An Bord der „Isabella“ waren die Signalschüsse gehört worden. Philip Hasard Killigrew, von Freund und Feind respektvoll Seewolf genannt, schickte Luke Morgan in den Ausguck und ließ gefechtsklar machen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die der guten alten Gewohnheit entsprach, auch auf Überraschungen vorbereitet zu sein. Niemand glaubte ernstlich, daß es ein Gefecht geben würde. Die „Isabella“ war schneller und wendiger als Abu Bashris schwimmenden Paläste und konnte der „Tiger-Flotte“, wie die Crew den seltsamen Verband nannte, mit Leichtigkeit davonsegeln. Der Seewolf sah plastisch vor sich, wie der fette, selbstherrliche Mogul mit seinem Turban und den Prachtgewändern jetzt vor Wut tobte. Schon die erste Begegnung mit diesem größenwahnsinnigen Narren war alles andere als erfreulich verlaufen. Abu Bashri suchte seine Enkelkinder und deren angeblichen Entführer, einen Eurasier namens Erland Surraj. Der Mogul war überzeugt davon, daß die Engländer den Gesuchten irgendwo an der australischen
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Küste begegnet sein mußten. Die Wahrheit wollte er nicht glauben. Er hatte es mit Bestechungen versucht, dann mit massiven Drohungen, aber da war er bei den Seewölfen gerade an die richtigen geraten. Sie hatten ihm die Zähne gezeigt, ihn ausmanövriert und ihm klargemacht, daß zumindest sein prachtvolles Flaggschiff als Treibholz enden würde, wenn er einen einzigen Schuß abgeben ließ. Die Karavelle, die er als Verfolger hinter der englischen Galeone herjagte, mußte sich mit zerfetztem Bugspriet zurückziehen. Damit, so glaubten die Seewölfe, hatte es sich dann, doch das war ein Irrtum gewesen. Mitten im Sturm fischten sie zwei Kinder aus der kochenden See: Yabu und Yessa, in denen sie unschwer die Enkel des fetten Moguls erkannten. Von den Kindern erfuhren sie, daß Erland Surraj ihr Vater war, daß er sie durchaus nicht entführt, sondern zu sich genommen hatte, um nach dem Tod ihrer Mutter für sie zu sorgen. In einer kleinen Bucht an der australischen Küste hatten sie zusammen mit einer Gruppe entflohener Sklaven eine Siedlung gegründet. Die Kinder waren dort glücklich gewesen, sie liebten ihren Vater abgöttisch - und für die Seewölfe war klar, daß sie die beiden zu ihm zurückbringen mußten. Aber in der Bucht ankerte inzwischen die Tiger-Flotte. Abu Bashri hatte den Eurasien gefangen genommen und schien entschlossen, ihn zollweise umzubringen. Für die Crew der „Isabella“ gab es auch diesmal kein Zögern. Nicht einer der Männer war bereit, tatenlos zuzusehen, wie ein Wehrloser zu Tode gefoltert wurde. Deshalb hatten sie im Schutz der Dunkelheit einen Stoßtrupp auf dem Landweg zu der Bucht geschickt, und inzwischen befand sich Erland Surraj an Bord der „Isabella“. Yabu und Yessa hatten ihn stürmisch begrüßt. Jetzt hockten die beiden mit Hasard und Philip zusammen, den zehnjährigen Zwillingssöhnen des Seewolfs. Die Unterhaltung wurde teils auf Türkisch,
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teils auf Spanisch geführt. Yabu und Yessa wirkten immer noch ein wenig besorgt, denn sie konnten sich denken, daß ihr Vater einiges ausgestanden hatte. Aber sie wußten, daß er nicht schwer verletzt war und noch auf den Beinen stehen konnte, und das genügte ihnen vorerst. Die „Isabella“ rauschte mit raumem Wind unter Vollzeug nach Nordwesten. Ed Carberry, der Profos, tobte auf der Kuhl herum, fluchte und trieb die Männer an. Achteraus über der Kimm waren noch nicht einmal Mastspitzen zu sehen, also konnte der Seewolf das Achterdeck getrost für eine Weile verlassen. In der Kombüse war der Kutscher, Koch und Feldscher an Bord, mit Blackys Hilfe dabei, Erland Surrajs mißhandelten Rücken zu verarzten. Der Eurasier kauerte auf einer umgedrehten Pütz: ein großer, braunhäutiger Mann, sehnig und muskulös, nur mit einer einfachen Hose aus weichem Ziegenleder bekleidet. Struppiges Haar und ein dichter, schon ergrauender Bart umgaben ein noch junges Gesicht. in dem die dunklen malaiischen Züge mit den wasserhellen Augen einen seltsamen Kontrast bildeten. Die gleichen hellen Augen und die gleichen kräftig gezeichneten dunklen Gesichter hatten auch Yabu und Yessa. Niemand, der sie zusammen mit dem Eurasier gesehen hatte, konnte daran zweifeln, daß Erland Surraj wirklich ihr Vater war. Als sich das Schott öffnete, wollte er aufstehen, aber Hasard winkte ab, und der Kutscher hielt seinen Patienten energisch am Arm fest. Surraj lächelte matt. Er mußte heftige Schmerzen haben, aber er beherrschte sich eisern. „Ich möchte Ihnen noch einmal danken, Kapitän Killigrew“, sagte er in akzentfreiem Spanisch. „Sie haben meinen Kindern das Leben gerettet und mir ebenfalls.“ „Wir haben nur getan, was selbstverständliche Menschenpflicht war, Kapitän Surraj.“
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In dem harten Gesicht des Eurasiers zuckte es. Wahrscheinlich dachte er an sein Schiff, an die „Candia“, die als zerschossenes Wrack auf den Klippen lag. „Sie haben mehr getan“, sagte er ruhig. „Kein anderer hätte es gewagt, Abu Bashris Flotte zu trotzen.“ Der Seewolf zuckte mit den Schultern. „Wir haben etwas gegen großmäulige Halunken, die sich auf Schwächere stürzen und sich einbilden, die ganze Welt müsse nach ihrer Pfeife tanzen“, erklärte er ruhig. „Und dieser Mogul von Annampar ist einer der großmäuligsten Halunken, die mir je begegnet sind.“ „Mogul?“ Erland Surraj verzog verächtlich die Mundwinkel. „Er ist so wenig Mogul, wie ich der Große Chan bin. Abu Bashri ist nichts weiter als ein raffgieriger Pirat, der sich auf einer Insel eingenistet, die Eingeborenen versklavt und sich mit einem Phantasie-Titel geschmückt hat. Jetzt beherrscht er dort wirklich ' ein kleines Königreich, schon seit vielen Jahren. Seine Halunkenbande hält zu ihm, weil er ihnen reiche Beute und ein Leben in Saus und Braus verschafft. Die Sklaven, die er zusammengeraubt hat, müssen schuften wie Tiere. Und er selbst — er hat wohl irgendwann den Verstand verloren — ist endgültig größenwahnsinnig geworden. Er hält sich inzwischen wirklich für den Mogul von Annampar. Und wehe dem, der es wagt, ihm etwa nicht die nötige Ehrerbietung zu zeigen.“ Erland Surraj hatte sich in Hitze geredet. Seine Kiefermuskeln spielten, die hellen Augen funkelten vor Zorn. Hasard war überzeugt davon, daß der Mann die Wahrheit sagte. Jedes Wort paßte genau zu dem Bild, das auch er selbst von dem fetten Abu Bashri gewonnen hatte. „Und dieser Bursche ist tatsächlich der Großvater der beiden Kinder?“ fragte der Seewolf gedehnt. Das Funkeln in Erland Surrajs Augen erlosch. Sekundenlang ging sein Blick ins Leere, als hänge er düsteren Erinnerungen nach. „Ja“, sagte er leise. „Abu Bashri ist Yabus und Yessas Großvater ...“
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Und dann, langsam und stockend zuerst, begann er zu erzählen. Die Geschichte seines Lebens. Die Geschichte eines abenteuerlichen Schicksals, wie es nur ein Mann erleben konnte, der auf den sieben Meeren zu Hause war. * Seefahrer und Abenteurer waren Erland Surrajs Vorfahren: Chinesen und Malaien, Spanier und Skandinavier, denen er den nordischen Vornamen und die hellen Augen verdankte. Seinen Vater hatte es aus dem fernen Osten über die alte Seidenstraße in die Levante verschlagen. Seine Mutter, Tochter eines Norwegers und einer Spanierin, war auf dem Schiff ihres Vaters barbareskischen Seeräubern in die Hände gefallen und als Sklavin verkauft worden. Das gleiche Schicksal, das auch Shamal Surraj erlitt, das sie einander begegnen ließ - und das sie zusammenschmiedete. Sie konnten fliehen. Gemeinsam schlugen sie sich quer durch das Maghreb und die Levante. Irgendwie überlebten sie, und am Ende besaß Surraj sogar ein eigenes Schiff - eine lange, abenteuerliche Geschichte, die er seinem Sohn später oft erzählte. Erland Surraj wurde auf hoher See im Sturm geboren. Das Schiff war seine Wiege, und auf See wuchs er auf, nachdem seine Mutter vor der afrikanischen Küste am Fieber gestorben war. Schwimmen lernte er, noch ehe er laufen konnte. In den ersten Jahren seines Lebens sah er die halbe Welt, und als er zehn war und das Schiff , seines Vaters im Sturm kenterte, segelte er ganz allein zehn Tage lang in einem winzigen Boot bis zur Küste. Gefangenschaft, Sklaverei, neue Gefangenschaft - es gab wenig, was das Schicksal ihm erspart hatte. Von der Pressgang einer chinesischen Dschunke geschanghait, gelangte er bis in das Reich des Großen Chan. Vierzehn war er, als er seinen zweiten Schiffbruch erlebte. Diesmal wurde er von
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einer spanischen Galeone aufgefischt. Erland Surraj sah das Mittelmeer wieder, an das er sich nicht mehr bewußt erinnerte. Er lernte die Neue Welt kennen - und er lernte den Haß gegen jene selbstherrlichen Eroberer, die fremde Völker wie Tiere behandelten und rücksichtslos ausplünderten. Fünf Jahre lang lebte er unter Araukanern an der Westküste des neuen Kontinents. Mit zweiundzwanzig Jahren geriet er unter einen wilden Piratenhaufen, der die südamerikanische Küste heimsuchte. Ein paar Jahre später hatte er wieder ein eigenes Schiff, eine Karavelle, die er „Candia“ nannte - nach jener Insel im Mittelmeer, von der sein Vater ihm soviel erzählt hatte. Mit seiner bunt zusammengewürfelten Crew überquerte er den Pazifischen Ozean, segelte ins Chinesische Meer und später weiter nach Süden, trieb Handel, raufte sich mit Spaniern und Portugiesen herum und wurde im ständigen Kampf um seine Freiheit allmählich zu Stahl geschmiedet. Bis ihn dann eines Tages ein Wind ans Gestade einer kleinen Insel verschlug, die Annampar hieß. Und dort begegnete ihm sein Schicksal. Nicht Abu Bashri, der selbsternannte Mogul. Der gefiel ihm ungefähr so gut wie Sturm, Skorbut und Pest an Bord zusammengenommen. Erland Surraj war entschlossen gewesen, so schnell wie möglich die Anker zu lichten und das obskure Königreich mit seinem größenwahnsinnigen Herrscher achteraus zu lassen. Aber bevor das geschah, traf er Abu Bashris Tochter, die schöne Rhana, und von dieser Sekunde an war es um ihn geschehen. Abu Bashri hätte jedem den Kopf eingeschlagen, der den Gedanken laut werden ließ, er könnte seine Prinzessin, seinen vergötterten Liebling diesem hergelaufenen Abenteurer zur Frau geben. Aber die schöne Rhana hatte ihren eigenen Kopf. Und sie wußte ihn durchzusetzen, denn der allmächtige Mogul von Annampar war Wachs in ihren zarten
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Händen. Zwei- oder dreimal versuchte er, „Unfälle“ zu arrangieren, denen Surraj zum Opfer fallen sollte. Beim drittenmal wurde er schwer verletzt. Rhana erkrankte daraufhin, und der Leibarzt des Moguls, mit Gewalt in die Sklaverei des Inselkönigreichs verschleppt, gönnte sich seine kleine private Rache, indem er Abu Bashri davon überzeugte, die Prinzessin werde die Trennung von dem eurasischen Abenteurer nicht überleben. Der Mogul gab zähneknirschend nach. Dem äußeren Schein nach fand er sich mit dem unerwünschten Schwiegersohn ab. Sein Haß jedoch blieb ungebrochen. Das änderte, sich auch nicht, als Yabu geboren wurde, der ersehnte männliche Erbe, und zwei Jahre später die kleine Yessa. Um Rhanas willen bemühte sich Erland Surraj um ein friedliches Zusammenleben, doch er konnte nicht aus seiner Haut. Seine bloße Existenz genügte, um Unruhe zu stiften. Er haßte die Sklaverei, er behandelte seine Diener wie Menschen und schützte die Eingeborenen vor Übergriffen, so gut er konnte. Vor allem hielt er die Hand über seine beiden Kinder, die er zu vernünftigen Menschen erzog und denen er mehr beibrachte, als sich in prächtigen Gewändern von allen Seiten bedienen zu lassen. Glückliche Jahre vergingen, trotz des unversöhnlichen Hasses, mit dem Rhanas Vater den unerwünschten Schwiegersohn verfolgte. In seinem Haus war er sicher und konnte das Leben führen, das er wollte. Nur einmal versuchte Abu Bashri, einen gedungenen Mörder zu schicken. Der Mann tauchte nie wieder auf. Denn die Sklaven, die das Glück hatten, als Surrajs persönliches Eigentum zu gelten, waren bereit, sich für ihn in Stücke hacken zu lassen. Oder, je nachdem, auch jemand anderen in Stücke zu hacken, wenn sie den Verdacht hatten, daß er ihrem Herrn übel wollte. Es ging gut, solange Rhana lebte. Für Surraj war ihr Tod ein schwerer Schlag, denn er hatte sie über alles geliebt. Und er wußte genau, daß Abu Bashri jetzt
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die Stunde der Abrechnung gekommen sah. Allein hätte sich Erland Surraj ohne Schwierigkeiten retten können. Aber er dachte nicht daran, seine Kinder einem wahnsinnigen Tyrannen zu überlassen. Mit Yabu und Yessa und einer kleinen Gruppe von Sklaven floh er auf der alten „Candia“. Aber so weit er auch floh, der selbsternannte Mogul von Annampar blieb ihm auf den Fersen. Surraj hätte er vielleicht ziehen lassen, nicht aber die Kinder, die er als sein Eigentum betrachtete, als die Erben seiner angemaßten Herrschaft. Mit der TigerFlotte jagte er die „Candia“ kreuz und quer über den pazifischen Ozean. Keine Insel war zu einsam, kein Versteck entlegen genug. Erland Surraj gelangte nicht zur Ruhe. Wie ein Verdammter der Meere mußte er von Ort zu Ort fliehen und immer wieder im Stich lassen, was er aufgebaut hatte. Selbst hier, in der Einsamkeit der australischen Küste, hatte Abu Bashri ihn aufgespürt. Und diesmal war es der Tiger-Flotte endgültig gelungen, die „Candia“ zu zerstören. Surraj war den schwimmenden Palästen des Moguls genau vor die Rohre gelaufen, als er im Sturm aus der Bucht segelte, um das verschollene Boot mit Yabu und Yessa zu suchen. Als die „Candia“ auf die Klippen geschleudert wurde und die Männer verzweifelt versuchten, sich ans Gestade zu retten, war Surraj geblieben, um seinen Freunden den Rücken freizuhalten. Dann hatte er sich Abu Bashri gestellt. Ihm blieb keine Wahl. Er wußte, was ihn erwartete, wenn er seinem Todfeind lebendig in die Hände fiel. Er nahm es auf sich, weil er wußte, daß nur Abu Bashri die beiden Kinder jetzt noch retten konnte und daß ihm jemand sagen mußte, was geschehen war. Ein vergebliches Opfer. Der Mogul glaubte seinem Gefangenen kein Wort. Für ihn stand fest, daß Yabu und Yessa zusammen mit den Sklaven in irgendein Versteck geflohen waren. Nichts konnte ihn davon abbringen, und um
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herauszufinden, was er für die Wahrheit hielt, war ihm kein Mittel zu grausam. Erland Surraj sah keine Hoffnung mehr für Yabu und Yessa. Er glaubte sich am Ende seines Lebens angelangt und hatte nur noch einen langsamen, qualvollen Tod vor Augen. Aber das Schicksal wollte es anders. * Mit einem tiefen Atemzug strich sich der Eurasier das Haar aus der Stirn. Sein Blick schien von weit her zurückzukehren. Er schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise die schmerzlichen Erinnerungen verscheuchen. „Den Rest der Geschichte kennen Sie“, sagte er leise. „Es erscheint mir wie ein Wunder. Ich kann es immer noch nicht ganz glauben.“ Der Seewolf nickte nur. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst geworden. Denn auch in ihm hatte die Geschichte des Eurasiers Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an Gwen, seine Frau, die ertrunken war, an die Jahre, in denen er hatte glauben müssen, daß seine Söhne nicht mehr lebten. Erland Surraj wußte von alldem nichts. Aber er verstand sich darauf, in menschlichen Gesichtern zu lesen. Und was er in den harten, wettergebräunten Zügen dieses schwarzhaarigen Riesen mit den eisblauen Augen las, das ließ ihn begreifen, daß er hier auf einen Mann getroffen war, wie man ihm auf allen sieben Meeren vielleicht nur einmal begegnete. An keinen anderen Mann hätte der Eurasier in dieser Situation noch eine zusätzliche Bitte gerichtet. Jetzt tat er es, denn er spürte, daß er sich nicht davor zu scheuen brauchte. „Meine Freunde sind ins Landinnere geflohen“, sagte er. „Sie haben sooft für mich gekämpft. Ich möchte sie nicht im Stich lassen.“ Hasard nickte nur. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wohin sie sich gewandt haben könnten?“
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„Ich weiß es. Wir konnten schon oft nur mit knapper Not entkommen. Deshalb haben wir für den Fall, daß wir getrennt würden, einen Treffpunkt vereinbart. Eine kleine Bucht nördlich des Kaps. Aber es ist ein weiter Weg, und die Eingeborenen dort werden Fremde vielleicht als Feinde betrachten.“ „Können Sie mir die Bucht auf der Karte zeigen?“ „Selbstverständlich.“ Surraj stockte. „Würden Sie mich dort absetzen? Und Yabu und Yessa an Bord behalten, bis ich festgestellt habe, daß keine Gefahr besteht?“ Hasard lächelte leicht. Er fing einen Blick des Kutschers auf, doch er wäre ohnehin nicht auf den Gedanken gekommen, den verletzten, geschwächten Eurasier bei dem Unternehmen allein zu lassen. „Wir werden ein Landkommando absetzen“, sagte er ruhig. „Ich nehme an, daß einige Ihrer Freunde die Hilfe des Feldschers und sicher alle etwas Ruhe brauchen. Danach sehen wir dann weiter.“ 2. Sandheide und kurzes, hartes Gras wucherten zwischen den kahlen Felsen. Die Sonne stieg rasch höher und brannte auf das weite Land. Im Norden zeichneten sich schroffe Berg- kämme ab, deren Flanken mit niedrigem Gestrüpp bedeckt waren, das an die Macchie-Dickichte des Mittelmeerraums erinnerte. Den Männern, die sich stolpernd und erschöpft nach Westen bewegten, erschien dieses trockene, öde Land immer noch fremd. Sie stammten aus Gegenden üppiger, wuchernder Vegetation, feuchter Hitze, einer überquellenden Natur, die Reichtum und Unbequemlichkeit, Nahrung und Gefahr im gleichen Überfluß bot. An der Küste dieses seltsamen Kontinents würden sie sich nie zu Hause fühlen. Aber sie wären Erland Surraj auch gefolgt, wenn er beschlossen hätte, sich mitten in der siebenten Hölle anzusiedeln. Shaiba, der drahtige Malaie, starrte mit zusammengekniffenen Augen zum Rand
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des Plateaus hinüber, wo man das Meer zwar nicht sehen, aber seine Weite ahnen konnte. „Noch zwei Stunden“, murmelte er in seiner Heimatsprache. „Wasser!“ stöhnte jemand. „Wasser ...“ Shaiba wandte sich um. Sein Blick traf einen noch jungen Burschen, dessen Hosenbein blutdurchtränkt war. Zwei Männer stützten ihn, aber die Wunde hatte ihn geschwächt, weißer Schorf bedeckte seine Lippen. „In der Bucht gibt es Wasser, Marrad“, sagte der Malaie ruhig. „Halte aus! Wir schaffen es.“ Der Junge biß die Zähne zusammen und versuchte, gegen Schmerz und Schwäche zu kämpfen. Ein kleinerer, schlanker Mann, dessen leicht geschlitzte Augen chinesisches Blut verrieten, griff nach der Wasserflasche an seinem Gürtel. Bei der eiligen Flucht war niemandem Zeit geblieben, die Flaschen für den Marsch über Land zu füllen, und der Halbchinese hatte so wenig getrunken wie die anderen. Jetzt lächelte er. „Ein paar Tropfen Wein müßten noch drin sein“, meinte er. „Komm, Marrad!“ Vorsichtig flößte er dem Verwundeten den letzten Schluck Flüssigkeit ein. Die anderen warteten. Niemand murrte. Und niemand verfiel auf den Gedanken, der kleine Mann habe das kostbare Naß für sich selbst aufbewahren wollen. Die Monate der Flucht und des Kampfes hatten sie zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengeschmiedet. Die Brandmale auf ihren Schultern und die Peitschenstriemen auf ihren Rücken erinnerten sie an ihre Vergangenheit als wehrlose, gedemütigte Sklaven. Jetzt waren sie freie Männer, und die Wunden und Narben, die sie sich in der Verteidigung dieser Freiheit zugezogen hatten, trugen sie wie Ehrenzeichen. „Weiter“, murmelte Shaiba. Etwas schneller als zuvor setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Sieben Männer. Zwölf waren sie auf der „Candia“ gewesen. Sie wußten nicht, wie viele von den anderen es geschafft hatten zu fliehen. Sie wußten nur, daß Erland
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Surraj an Bord geblieben war, um ihre Flucht zu decken und sich Abu Bashri zu ergeben, damit er ihn dazu bringen konnte, die See nach Yabu und Yessa abzusuchen. Ob der Eurasier noch lebte, mochte der Himmel wissen. Aber auf jeden Fall würden sie ihren Kapitän nicht im Stich lassen, sondern versuchen, ihn zu befreien. Sie hätten es sofort versucht, doch schließlich mußten sie einsehen, daß es besser war, zunächst zu dem Treffpunkt zu marschieren, wo sie die anderen wieder zu treffen hofften. Denn wenn sie gegen Abu Bashris erdrückende Übermacht etwas ausrichten wollten, brauchten sie jede Hand. Der Befreiungsplan war ohnehin ein verzweifeltes Unternehmen. Sie hatten kaum eine wirkliche Chance, das wußte jeder von ihnen. Aber sie würden es versuchen - und wenn es das letzte war, was sie in ihrem Leben taten. Nach einer weiteren Stunde Marsch stolperte der hagere Said über einen Stein, stürzte und griff mit einem unterdrückten Schrei nach seinem Knöchel. Sein Gesicht war bleich, als er wieder aufstand. Schweiß stand auf seiner Stirn. Aber er hinkte sofort weiter und lehnte es verbissen ab, sich von den anderen stützen zu lassen, die nicht weniger erschöpft waren als er selbst. „Die Klippe“, sagte Shaiba heiser. „Ich sehe sie! Dort!“ Jemand stöhnte erleichtert auf. Vor ihnen, verschwimmend in den flimmernden Hitzeschleiern, ragte eine schroffe Klippe in den Himmel, die wie das Horn eines Büffels geformt war. „Wasserbüffel-Klippe“ - so hatten sie diese Landmarke auch getauft, als sie die Bucht, die sie dann zum Treffpunkt bestimmten, zum erstenmal besuchten. Unmittelbar hinter dem Felsen fiel das Gelände steil ab. Dort im Schatten der Klippe entsprang auch die Quelle, floß in Kaskaden über Steinplatten und ergoß sich als kleiner Wasserfall in ein natürliches Süßwasserbecken. Sonst war das Gelände der Bucht schroff und unwirtlich und hatte
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keine Möglichkeit geboten, sich anzusiedeln. Einen Augenblick blieben die Männer stehen. „He!“ sagte Said durch die Zähne. „Da drüben im Gebüsch hat sich etwas bewegt.“ „Die anderen!“ stieß jemand hervor. „Ja! Ja, sie müssen es sein ...“ Schon wollten sie die Arme hochreißen, rufen, winken — da stieß Lee, der Halbchinese mit den scharfen Augen, einen unterdrückten Zischlaut aus. „Vorsicht! Eingeborene!“ „Aber ...“ Es war der junge Marrad, der mit schwacher Stimme einen Einwand erheben wollte. Er gelangte nicht dazu. Der Rest seiner Worte ertrank in gellendem, tremolierendem Geschrei, das jäh aufbrandete und die Luft erzittern ließ. Von einer Sekunde zur anderen wurde es im Gebüsch lebendig. Nackte, bemalte Gestalten schnellten hoch, mit Speeren, Keulen und Bumerangs bewaffnet. Eine Woge braunhäutiger Leiber schien über den Kamm einer kleinen Erhebung zu quellen, und die Männer, die ihrem Ziel schon so' nahe waren, wußten sofort, daß sie nicht mehr fliehen konnten. Shaiba riß mit einem wilden Ruck den Krummsäbel aus dem Gürtel. „ Candia!“ brüllte er. Jenen Namen, der sie alle einte, der ein Symbol von Hoffnung und Freiheit war und der deshalb ihr Schlachtruf geworden war. Auch die anderen griffen zu den wenigen Waffen, die ihnen geblieben waren. Sie kämpften auf verlorenem Posten, doch sie würden ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen. * Die Sonne strahlte vom makellos blauen Himmel, als die „Isabella“ den Treffpunkt erreichte — eine tief eingeschnittene Bucht.
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Steile Felsen säumten sie, es gab keinen Strand, nur die geröllbesäte Brandungsplatte, über die weiße Gischtzungen leckten. Der Seewolf stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und schwenkte mit dem Spektiv die Küste ab. Neben ihm kniff Erland Surraj die hellen Augen zusammen und spähte ebenfalls hinüber. „Es ist guter Ankergrund“, sagte er. „Deshalb haben wir sie ausgewählt.“ Hasard nickte. Der Wind wehte immer noch von Süden, die Galeone lief mit Backstagbrise über Steuerbordbug an der Küste entlang. Auf der Kuhl standen Yabu, Yessa und die Zwillinge und sahen zu Sir John hinauf. Der karmesinrote Ara-Papagei schaukelte auf einer Webleine und gab spanische Flüche von sich, denen die beiden kleinen Eurasier hingerissen lauschten. Erland Surraj lächelte. Er war auf den Beinen, seit der Kutscher seinen Rücken verbunden und der Profos ein passendes Hemd aus einer Backskiste herausgerückt hatte. Auf dem Achterkastell beobachteten Ben Brighton, Big Old Shane und die beiden O'Flynns den schlanken, sehnigen Mann. Selbst Old Donegal mit seinem Holzbein und den beiden Krücken, dieser Bursche aus Granit und Eisen, den so leicht nichts beeindruckte, zeigte einen Ausdruck bei ihm höchst seltener Bewunderung. „Abfallen“, befahl Hasard. „Wir gehen mit dem Heck durch den Wind und liegen die Bucht an. Herum mit dem Kahn!“ „Hopp-hopp, ihr müden Säcke!“ schnauzte Ed Carberry auf der Kuhl und hängte gleich noch ein paar wüste Drohungen an. Pete Ballie legte Ruder. Der Papagei flatterte mit empörtem Gekrächze auf, als die Galeone auf den neuen Bug ging. Marssegel, Großsegel und Blinde wurden geborgen, unter Fock und Besan glitt die „Isabella“ mit halbem Wind in die Einfahrt der Bucht. Wenig später schwojte sie mit aufgegeiten Segeln sacht um die Ankertrosse. Bill konnte aus dem Großmars nur einen Teil des Plateaus überblicken und meldete
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Felsen und Gestrüpp. Nichts rührte sich. Nur das Rauschen der Brandung und das nie verstummende Ächzen in der Takelage der „Isabella“ störten die Stille. Und natürlich Edwin Carberrys donnerndes Organ, das verkündete, er werde den „verdammten Kerlen“, die das „verdammte Beiboot“ auch schon mal schneller abgefiert hätten, gleich die Haut in Streifen von ihren „verdammten Affenärschen“ abziehen. Minuten später trieben kräftige Riemenschläge das Boot über das blaue Wasser. Hasard hatte die Pinne übernommen und beobachtete aufmerksam die Steilküste. Gefährliche Untiefen gab es nicht, wie Erland Surraj versichert hatte. Der Eurasier saß in gespannter Haltung auf der achteren Ducht. Die Kletterei durch die Klippen würde kein Vergnügen für ihn werden, aber er wurde gebraucht, da er der einzige war, der sich mit den ehemaligen Sklaven verständigen konnte. Nur einer von ihnen, Shaiba, sprach etwas Spanisch. Möglich, daß es ausgereicht hätte. Aber ob die Männer nach allem, was hinter ihnen lag, eine Gruppe von Fremden überhaupt an sich heran lassen würden, war mehr als fraglich. Der Seewolf hielt es auf jeden Fall für besser, Surraj dabeizuhaben. Ed Carberry und Ferris Tucker, Stenmark und Smoky, Matt Davies und Dan O'Flynn bedienten die Riemen. Donegal Daniel Junior mit seinen Falkenaugen wollte Hasard in den Klippen der südlichen Landzunge als Ausguck postieren, da sie immer noch damit rechnen mußten, von der Tiger-Flotte verfolgt zu werden. Wenn sich die Mastspitzen der schwimmenden Paläste über der Kimm zeigten, würde ein Signalschuß das Landkommando alarmieren. Und dann, davon waren sämtliche Seewölfe bis zum letzten Mann überzeugt, ging es dem fetten Abu Bashri gewaltig an den Kragen seiner Prunkgewänder. Philip Hasard Killigrew dachte nicht daran, mit sich Katz und Maus spielen zu lassen.
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Er ahnte, daß er den schwimmenden Palästen des selbsternannten Moguls nicht zum letztenmal begegnet war. Er würde diesen Kampf nicht suchen, aber er würde ihm auch nicht ausweichen, das stand so fest wie der Tower im guten alten London. Gemeinsam wuchteten sie das Boot auf die Brandungsplatte, wo es bis zum Einsetzen der Flut völlig sicher lag. Dan O'Flynn, mit dem Kieker bewaffnet, turnte sofort über das herumliegende Geröll auf die Klippe zu, die im Süden der Bucht ins Meer vorsprang. Erland Surraj hatte ihm den Aufstieg beschrieben, den er nehmen mußte, und der Eurasier kannte auch den günstigsten Weg zum Plateau hinauf. Eine Kletterei, die immer noch schwierig genug war. Matt Davies hatte es am einfachsten: mit dem Stahlhaken, der ihm die rechte Hand ersetzte, fand er auch in Felsspalten Halt, die selbst für die Fingerspitzen zu schmal waren. Er kletterte voran und belegte am Rand des Plateaus ein Tau um einen Felsblock — eine Sicherheitsmaßnahme, auf der Hasard vor allem Erland Surrajs wegen bestanden hatte. Der Eurasier ließ zwar kaum ein Zeichen von Schwäche erkennen, aber es war unnötig, daß er sich jetzt schon verausgabte. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, als er sich über den Rand des Plateaus schwang. Die Männer blickten sich um. Rechts von ihnen erhob sich eine schroffe, wie ein Büffelhorn geformte Klippe, die als Landmarke diente. Das Gelände dahinter war von hier aus noch nicht zu überblicken. Aber wenn man die Klippe erklomm, konnte man vermutlich weit über das Plateau sehen — und marschierende Männer würden sich entweder durch Bewegung im Gebüsch oder durch eine Staubwolke verraten. Oder auch nicht, dachte der Seewolf, während er auf den schroffen Felsen zusteuerte. Wenn die Burschen im Lauf der Zeit einiges von Erland Surraj gelernt hatten, bewegten sie sich vermutlich vorsichtig
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wie Schlangen durch das Gelände. Es sei denn, sie verließen sich darauf, daß die Tiger-Flotte auf hoher See nach dem Boot von Yabu und Yessa suchte. Denn daß der fette Mogul nicht einmal einen Versuch in dieser Richtung unternommen hatte, zeugte von einer Verbohrtheit, mit der ein halbwegs vernünftiger Mensch schwerlich rechnen konnte. Zwei Minuten später erwiesen sich alle diese Überlegungen als gegenstandslos. Die Männer hatten den Fuß der Klippe erreicht. Hasard wollte den Eurasier nach einer Aufstiegsmöglichkeit fragen. Aber vorher warf der Seewolf noch einen prüfenden Blick in die Runde, und dabei entdeckte er tatsächlich eine Staubwolke. Es war keine lange Staubfahne, wie sie von marschierenden Männern hinter sich hergezogen wurde, eher ein dünner, unregelmäßiger Dunstwirbel. Jenseits einer kleinen Erhebung flimmerte er in der Luft, und jetzt, als der auflandige Wind sekundenlang etwas abflaute, waren auch die vielstimmigen, tremolierenden Schreie zu hören. Erland Surraj zuckte zusammen. „Eingeborene!“ stieß er hervor. „Sie greifen jemanden an.“ „Und auf was warten wir dann noch?“ grollte Ed Carberry mit einem begierigen Blick. „Darauf, daß du deine müden Knochen in Bewegung setzt. Profos“, sagte Ferris Tucker trocken. Dabei griff der rothaarige Schiffszimmermann bereits nach dem Stiel seiner unvermeidlichen Axt. Matt Davies, der mit einem Sprung neben ihm war, warf einen kurzen, prüfenden Blick auf seinen scharfgeschliffenen Haken, und Stenmark und Smoky schnappten sich ihre Entermesser. Erland Surraj zog den handlichen zweischneidigen Kurzsäbel, der aus der Waffenkammer der „Isabella“ stammte. Das Gesicht des Eurasiers glich einer harten Maske. Er bewegte sich genauso schnell wie die anderen, turnte über Felsblöcke und wich struppigen Inseln von Sandheide aus. Der Seewolf hatte die
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Spitze. Knapp vor der Anhöhe hob er warnend die Hand, und so leise wie möglich huschten die Männer über das ansteigende Gelände zu dem lang gezogenen Kamm hinauf. Eine weit geschwungene Mulde dehnte sich dahinter. Waffen klirrten, das tremolierende Geheul ließ die Luft zittern. Und noch etwas anderes mischte sich hinein. Ein wilder, peitschender Schrei, der die Seewölfe unwillkürlich an ihren eigenen Schlachtruf erinnerte. „Candia!“ erklang es. „Can-di-a! Can-di-a ...“ Dazu schwangen sechs oder sieben braunhäutige, wütende Männer Entermesser und Säbel, benutzten leergeschossene Musketen als Keulen, kämpften mit dem Rücken zu ein paar Felsen und schafften es bravourös, sich die Übermacht vom Leib zu halten. Aber sie schafften es eindeutig nur, weil die Eingeborenen sie lebend haben wollten, sonst wären die Angegriffenen längst von den Speeren ihrer Gegner durchbohrt worden. Lange konnte sich das tapfere Grüppchen sicher nicht mehr halten. Mindestens zwei von den Männern waren verletzt, die anderen sahen ziemlich erschöpft aus. Aber sie wehrten sich immer noch so wirkungsvoll, daß die Eingeborenen vollauf beschäftigt waren und nicht merkten, was sich in ihrem Rücken zusammenbraute. Ed Carberry holte tief Luft. Auf sie mit Gebrüll, sagte sein Blick. Hasard schüttelte den Kopf. Er hatte blitzartig überlegt. Der Pulk braunhäutiger, bemalter Wilder dort unten war immer noch eine gewaltige Übermacht. Und wenn sie in die Zange genommen wurden, sprach die Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie ihre Absicht aufgaben, unversehrte Gefangene zu machen. Der Seewolf zog die sächsische Reiterpistole aus dem Gürtel. Neben ihm hatte auch Erland Surraj Luft geholt, um etwas zu sagen, jetzt schwieg er mit funkelnden Augen. Er kannte die Eingeborenen in diesem Teil Australiens
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und hatte zweifellos genau das vorschlagen wollen, was Hasard bereits in die Tat umsetzte. Ein Schuß in die Luft. Rollend brach sich das Echo zwischen den Felsen. Die Eingeborenen zuckten zusammen, als pfiffen Peitschenschnüre über ihren Köpfen. Der wilde An- griff stockte. Blindlings warf sich ein Teil der Wilden herum, und Schreie gellten, als die bemalten Krieger die neuen Gegner entdeckten. „Hinlegen!“ rief der Seewolf scharf. Links und rechts von ihm ließen sich die Männer fallen. Genau im richtigen Augenblick. Denn die Eingeborenen reagierten so, wie es Hasard erwartet hatte: sie schleuderten in wilder Wut ihre Speere — ein ganzer Schauer schwerer Waffen. Wirkungslos sauste er über die Männer weg, die tödlichen Spitzen prallten gegen Stein oder bohrten sich in den sandigen Boden. Drüben an den Felsen versuchten Surrajs Leute vergeblich, Einzelheiten zu erkennen. Sie waren nicht weniger verwirrt als die Eingeborenen, doch das änderte sich schlagartig. „Candia!“ schrie der Eurasier mit einer Stimme, der man anhörte, daß sie schon so manchen Sturm übertönt hatte. „Candia!“ tönte es zurück. „Arwenack!“ donnerten Ed Carberry, Ferris Tucker und die anderen im Chor und dann gab es kein Halten mehr. Jählings sahen sich die Eingeborenen in die Zange genommen. Zwar waren es nur sieben Mann, die über den flach abfallenden Hang stürmten, doch die griffen auf eine Art an, als hätten sie eine mittlere Armee hinter sich. Schon der Anblick von Ferris Tuckers mächtiger Axt genügte, um die Wilden schreiend auseinanderstieben zu lassen. Matt Davies mit seiner Hakenprothese gemahnte sie an einen schrecklichen Dämon aus ihrer Geisterwelt. Der Hüne mit dem zernarbten Amboßkinn schwang die Spake, als wolle er seine Gegner niedermähen wie der Schnitter die Halme. Der braunhaarige Bulle und der lange,
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muskulöse Blondschopf mit ihren Entermessern sahen ebenfalls zum Fürchten aus, genau wie der Eurasier mit dem blitzenden Kurzsäbel, und dieser schlanke schwarzhaarige Riese, der sich fast lässig bewegte, geschmeidig wie ein Panther - der hatte einen Ausdruck in den eisblauen Augen, vor dem man auch mit einer Keule in der Faust und einer Übermacht im Rücken besser Reißaus nahm. Zu allem verließen nun auch noch Surrajs Leute ihre Verteidigungsposition und gingen zum Angriff über. Ihre ganze Wut, die neu erwachte Hoffnung, der wilde Triumph beim Anblick ihres Kapitäns, den sie in den Fängen Abu Bashris geglaubt hatten - das alles steckte in ihrem wilden Ausfall. Sie bildeten einen Keil, eine wirbelnde, klingenbewehrte Einheit, die tief in die Front der Gegner eindrang. Zu beiden Seiten wichen die Wilden aus. Die Hauptstreitmacht wurde geteilt und zugleich, aus der Gegenrichtung hart bedrängt. Nach wie vor hatten sie die Übermacht, kämpften verbissen und wollten dieser kleinen, im Grunde klar unterlegenen Gruppe nicht weichen. Für Minuten stand die Sache auf Messers Schneide, doch da kam der Zufall den Seewölfen und den Männern der „Candia“ zu Hilfe. Ein Musketenschuß krachte. Dann noch einer und ein dritter .. . Signalschüsse, in den klaren blauen Himmel gerichtet. Die Schützen waren nicht zu sehen, doch zumindest Erland Surraj wußte, daß es sich nur um den versprengten Rest seiner Crew handeln konnte. Sie hatten den Kampflärm gehört und zumindest ungefähr die richtigen Schlüsse gezogen, auch wenn sie natürlich nichts davon wissen konnten, daß ihre Freunde inzwischen Verstärkung erhalten hatten. Jedenfalls schossen sie in die Luft, um Verwirrung zu stiften, die Angreifer zu entnerven - und das gelang ihnen sogar ausgezeichnet.
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Das entfernte Musketenfeuer war für die Eingeborenen der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ein vielstimmiger Schrei brandete auf, dann wandten sich die ersten bemalten Krieger zur Flucht. Die Hauptstreitmacht folgte ihrem Beispiel und riß wie eine Woge die wenigen mit, die nicht so schnell der Mut verließ. Nach allen Richtungen spritzten die bemalten Krieger auseinander und rannten wie von tausend Teufeln gehetzt. Binnen Minuten waren sie so spurlos verschwunden, als seien sie nur ein Spuk gewesen. Der Seewolf blieb stehen und spähte wachsam in die Runde. Doch keiner der Angreifer war mehr zu sehen. Der wirbelnde Staub verriet, daß sie immer noch rannten. Dafür näherten sich eilige Schritte aus der Richtung, aus der soeben die Schüsse gefallen waren. Vier, fünf Männer jagten heran, erreichten den Rand der Senke und blieben stehen wie vom Donner gerührt. Erst als ihnen Erland Surraj etwas in einer fremden Sprache zurief, entspannte sich ihre Haltung. Triumphgeschrei erklang, als sie weiterliefen. Auch die Gruppe. die eben noch so bravourös gegen die Eingeborenen gekämpft hatte, setzte sich in Bewegung. Im Nu war Erland Surraj eingekreist, erregte Stimmen riefen durcheinander und verstummten erst, als Shaiba, der in langen Monaten zu Surrajs persönlichem Freund geworden war, den Eurasier überschwänglich umarmte. Surraj konnte nicht verhindern, daß er schmerzlich zusammenzuckte. Der Malaie sah ihn an und preßte die Lippen zusammen. Ein jähes, eisiges Schweigen entstand. Zorn glomm in den Augen der Männer, und es war nicht schwer zu erraten, daß dieser Zorn dem fetten Abu Bashri galt. Von dem kurzen Bericht, den Erland Surraj gab, verstanden die Seewölfe kein Wort. Aber sie spürten die Blicke der Männer und konnten sich ungefähr vorstellen, was der Eurasier erzählte. Als die Namen Yabu und Yessa fielen, erhob sich ein
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Jubelschrei, der sicher noch an Bord der „Isabella“ zu hören war. Und dann trat Shaiba, der sehnige Malaie mit dem kräftigen braunen Gesicht und den tiefschwarzen Augen, auf Hasard zu und legte in einer seltsam anmutenden zeremoniellen Gebärde die Hand an die Stirn. „Wir dir danken“, sagte er in holprigem, gutturalem Spanisch. „Du retten Kapitän und Kinder. Wenn du uns brauchst - wir kämpfen für dich ...“ Es waren schlichte Worte. Aber die Seewölfe spürten, daß sie ein Versprechen besiegelten, das diese Männer auch um den Preis ihres Lebens nicht mehr brechen würden. * Der sogenannte Mogul von Annampar thronte unter einem flatternden Baldachin auf dem Achterkastell seines Viermasters. Bej Kinoshan, sein habichtsnasiger Vertrauter, stand stramm wie eine Schildwache neben ihm. Der Steuermann, inzwischen zum schlichten Rudergänger degradiert, hielt strichscharfen Kurs, obwohl sein Rücken von Peitschenhieben schmerzte. Er hatte sich nichts anderes zuschulden kommen lassen, als daß er wachsam genug gewesen war, Erland Surrajs Flucht als erster zu bemerken. Aber damit war er gleichzeitig zum Überbringer der Unglücksnachricht geworden, an dem Abu Bashri mangels eines geeigneteren Opfers seine Wut ausgelassen hatte. Die Sklaven hatten ebenfalls nichts zu lachen gehabt, und unter ihren demütig gesenkten Lidern glomm der Haß wie ein verzehrendes Feuer. Nur Abu Bashris hartgesottenes Piratengesindel blieb ungerührt wie immer. Dieser Horde von Galgenvögeln war es gleichgültig, was irgendjemandem zustieß, solange es nicht sie selbst traf. Sie teilten weder Abu Bashris Haß noch seine Machtgier oder den besessenen Wunsch, eine Dynastie zu begründen und einen „Kronprinzen“ heranwachsen zu sehen. Sie
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kämpften nur um ihres eigenen Vorteils willen für den selbsternannten Mogul. Aus dem gleichen Grund kuschten sie vor seinen Launen, und an der „Isabella“ interessierte sie nichts anderes als die Beute, die sich vielleicht im Bauch der Galeone verbarg. Die sechs Schiffe der Tiger-Flotte segelten immer noch mit vollen Segeln an der Küste entlang. Aber der fette Abu Bashri hatte es aufgegeben, die Engländer noch einholen zu wollen. Er wußte genau, daß die „Isabella“ seinen schwimmenden Palästen an Schnelligkeit haushoch überlegen war. Auf diese Weise würde er nicht an sein Ziel gelangen, das war dem dicken Mogul inzwischen klar geworden. Auf dem Thronsitz unter dem prächtigen Baldachin grübelte er über andere Möglichkeiten nach, mampfte dabei ausdauernd kandierte Früchte und beobachtete die Sklaven, die unter der unbarmherzigen Peitsche der Antreiber immer noch damit beschäftigt waren, die sturmgezauste und völlig überflüssige Pracht des Flaggschiffs wieder in ihren alten Zustand zu bringen. Abu Bashri hatte trotz seines Größenwahns einen erstaunlich scharfen Verstand. Er hatte sogar eine gewisse Menschenkenntnis und wußte die Reaktionen eines aufrechten, anständigen Kerls durchaus einzuschätzen, auch wenn er meilenweit davon entfernt war, sie zu begreifen. Und Erland Surraj kannte er, wie man nur einen Todfeind kennt. Die herausragende Eigenschaft des Eurasiers war nach Abu Bashris Ansicht Dummheit. Die Dummheit eines Menschen, der nicht fähig war, seinen Vorteil auf Kosten anderer zu suchen, der die Schwachen schonte oder sogar schützte, statt sie hemmungslos auszubeuten — und der seinen Hals für so lächerliche, nebulöse Begriffe wie Ehre und Menschlichkeit riskierte. Erland Surraj würde diese elende, nichtsnutzige Sklavenbande, zu deren Freund und Beschützer er sich
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herabgewürdigt hatte, nicht im Stich lassen. Und der Hund von einem Engländer, der es gewagt hatte, ihm, dem Mogul von Annampar, Trotz zu bieten, sah ganz so aus, als sei er aus dem gleichen Holz geschnitzt. Außerdem nahm Abu Bashri immer noch an, daß sich Yabu und Yessa bei Surrajs Sklaven-Freunden aufhielten. Hatte dieser Bastard von einem englischen Kapitän nicht ebenfalls zwei Kinder an Bord gehabt, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, also wohl seine eigene Brut waren? Aus alldem zog der fette Mogul einen Schluß, der der Wahrheit gefährlich nahe geriet. „Sie werden zurücksegeln“, murmelte er. „Zurück in die Bucht.“ „Ehrwürdiger Mogul?“ zweifelte Bej Kinoshan mit hochgezogenen Brauen. „Sie werden zurück in die Bucht zur Siedlung des Sklavenpacks segeln“, wiederholte Abu Bashri ungeduldig. „Die Engländer?“ „Wer sonst? Oder meinst du, sie haben ihre Haut riskiert, um Surraj zum Borddienst zu pressen, ehrwürdiger Bej?“ Die Anrede war purer Hohn. Der kleine, hagere Mann mit der Habichtsnase reagierte nicht darauf, weil er viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt war. Der fette Mogul hatte recht, entschied er. Wenn es den Engländern darum gegangen wäre, einen Mann zu schanghaien, hätten sie dazu einen der Sklaven genommen, aber nicht einen Kerl, der gerade noch bewiesen hatte, daß er auch mit der Peitsche nicht klein zu kriegen war. „Sie werden zurück in die Bucht segeln, ehrwürdiger Mogul“, bestätigte der Bej. „Und wir? Verholen wir uns in eine andere Bucht und legen uns auf die Lauer?“ „Genau“, sagte Abu Bashri im Tonfall satter Zufriedenheit. „Wir werden abwarten und herausfinden, was unsere Feinde vorhaben. Dann werden wir zuschlagen.“
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„Aber die Engländer dürften einen Bogen segeln, um dir auszuweichen, ehrwürdiger Mogul“, gab Bej Kinoshan zu bedenken. Abu Bashri kniff die Augen zusammen. Sekundenlang überlegte er, dann verzog er die fleischigen Lippen zu einem bösen Grinsen. „Ein paar Mann werden sich mit der Pinasse in der offenen See auf die Lauer legen“, entschied er. „Sie werden die Galeone früher entdecken, als der Ausguck der Engländer sie sichten kann. Diese räudigen Hunde werden uns nicht entgehen.“ Dabei streifte sein Blick über die in Kiellinie gestaffelte Flotte, über die Tigerköpfe mit den aufgerissenen Rachen, die auf den Segeln prangten, und sein verfetteter Körper bebte unter einem unhörbaren; triumphierenden Kichern. 3. Dan O'Flynn blieb auf seinem luftigen Ausguck in den Klippen. An Bord der „Isabella“ wurde es fast ein wenig feierlich, als Erland Surraj unter den Augen der versammelten Crew dem Seewolf seine Männer vorstellte — freie Männer, die zu kämpfen verstanden und treu wie Gold waren, wie er betonte. Shaiba, der Malaie, war der einzige, der die spanischen Worte verstand. In seinen dunklen Augen brannte ein tiefes, fast schmerzhaftes Feuer. Mehr als alles andere war es dieser Blick, der Hasard begreifen ließ, was es für diese Menschen bedeutete, daß der Eurasier sie aus den Ketten einer grausamen, unwürdigen Sklaverei befreit hatte. Der Kutscher kriegte eine Menge zu tun, denn fast jeder der Fremden hatte irgendwelche Schrammen und Blessuren davongetragen. Salzwasser und Salbe wurden reichlich verwendet, eine kräftige Portion Rum diente dazu, auch den inneren Menschen zu kurieren. Für diejenigen, die als Moslems aus religiösen Gründen keinen Alkohol trinken durften, mixte der Kutscher ein höchst geheimnisvolles Gebräu, das ähnlich kräftigend wie der
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Rum wirkte, aber hinreichend scheußlich, also nach Medizin schmeckte. Einzig ein junger Inder namens Marrad war schwerer verletzt. Die Wunde an seinem Bein hatte sich entzündet, er fieberte, und der Kutscher ließ ihn ins Logis bringen, um sich eingehend um ihn zu kümmern. Unterdessen standen der Seewolf, Ben Brighton, Big Old Shane, Ed Carberry und Old O'Flynn mit Erland Surraj und dem schweigsamen Shaiba auf dem Achterkastell. Hasard hatte schon seit geraumer Zeit überlegt, wie es jetzt weitergehen sollte. Für ihn war es selbstverständlich, daß er die neuen Freunde nicht ihrem Schicksal überlassen würde, und seinen Männern sah er an, daß sie genauso dachten. Die unbekannte Größe in diesem Spiel war Abu Bashri. Was würde er tun? Weiter die Küste absuchen? Die „Isabellas“ verfolgen? Endlich aufgeben? Erland Surraj mußte sich die gleichen Fragen gestellt haben. Seine buschigen Brauen zogen sich zusammen. „Wir haben Sie in Gefahr gebracht, Kapitän Killigrew“, sagte er leise. „Abu Bashris Haß ist unversöhnlich. Er wird alles tun, um die ,Isabella` aufzuspüren.“ Hasards Augen wurden schmal. „Nicht die schlechteste Lösung. Für uns wären diese Papiertiger kein Problem, da sie viel zu schwerfällig sind, um uns einzuholen, und uns wohl kaum bis in die Neue Welt verfolgen würden. Sie dagegen hätten Ihre Ruhe und könnten Ihre Siedlung wieder aufbauen. Aber ich bezweifle, daß es so einfach ist. Geht es diesem größenwahnsinnigen Narren nicht vor allem um die Kinder?“ „Ja“, erwiderte der Eurasier. „Und vermutet er sie nicht irgendwo im Landesinneren?“ Erland Surraj lächelte fein. „Australien ist groß und voller Gefahren, Kapitän Killigrew. Ich bin sicher, daß sich Abu Bashri nicht tiefer ins Land wagt. Er wird sich an mich hat- ten, und mich vermutet er auf Ihrem Schiff.“ Sein Gesicht wurde unvermittelt ernst, und in den wasserhellen Augen stand unverhüllte Sorge. „Er ist
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gefährlich. Unterschätzen Sie ihn nicht! Ich würde mir nie verzeihen, wenn der ,Isabella` unseretwegen etwas geschähe.“ „Ha!“ sagte Ed Carberry. Und in diesem einen, nur gemurmelten Wort lag alles, was der eiserne Profos dachte. Dieser Kinderschreck von einem nachgemachten Mogul sollte nur aufkreuzen. Den würden sie schon auf die richtige Größe zurechtstutzen, und die richtige Größe war in diesem Fall höchstens die einer halb verhungerten Bilgenratte. Er, Edwin Carberry, freute sich jedenfalls jetzt schon darauf, den Papiertigern die Haut in Streifen von gewissen Körperteilen zu ziehen. Hasard unterdrückte ein Lächeln. „Die ,Isabella` ist aus ziemlich hartem Holz gebaut“, sagte er ruhig. „An der wird sich auch ein Abu Bashri die Zähne ausbeißen. Wollen Sie mit Ihren Leuten an Bord bleiben, Kapitän Surraj? Unser Kurs wird sicher irgendwann an einen Platz führen, der Ihnen gefällt. Und wenn Sie die Gelegenheit suchen, ein Schiff zu kapern es vergeht selten viel Zeit, ohne daß wir auf unsere speziellen spanischen Freunde stoßen.“ „Meine Großmutter war Spanierin“, sagte Surraj mit einem leisen Lächeln. „Genau wie meine Mutter.“ Hasard erwiderte das Lächeln. „Das hindert mich nicht daran, das Land als meine Heimat zu betrachten, in dem ich aufgewachsen bin, und diejenigen zu rupfen, die die wenigsten Hemmungen haben, wenn es gilt, die Völker der Neuen Welt auszuplündern.“ „Sie sind sehr großzügig, Kapitän Killigrew. Ich danke Ihnen für Ihr Angebot. Aber ich möchte nicht schon wieder fliehen. Wir haben die Siedlung in der Bucht im Schweiße unseres Angesichts aufgebaut, mit unseren eigenen Händen. Wir können dort leben, und wir werden dort leben.“ Hasard hob die Brauen. „Sie glauben, daß Abu Bashri Sie dort nicht mehr suchen wird?“ „Bestimmt nicht. Und wenn doch, dann hat die Vorsehung es wohl bestimmt, daß diese
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Sache zwischen Abu Bashri und mir bis zum Ende ausgefochten werden muß. Meine Freunde sind bereit, zu kämpfen. Und Yabu und Yessa wird auf keinen Fall etwas geschehen.“ Hasard nickte. Er wußte, daß nichts den Eurasier von seiner Entscheidung abbringen würde. Davon abgesehen glaubte auch der Seewolf, daß die Bucht der letzte Ort war, an dem der selbsternannte Mogul noch einmal nach seinem Opfer suchen würde. „Wir werden ein wenig nachhelfen“, sagte Hasard ruhig. „Wir segeln im Bogen zu der Bucht und kehren im Bogen zurück. Falls die sogenannten Tiger uns dann sichten, werden sie Sie immer noch als unseren Gast an Bord vermuten.“ „Kapitän ...“ Surraj verstummte abrupt. Er wußte, daß die Galeone mit diesem Manöver ganz bewußt die drohende Gefahr auf sich zog. Aber auch er begriff, daß der andere eine Entscheidung getroffen hatte, von der ihn niemand mehr abbringen würde. Daß sie Abu Bashri unterschätzten, konnten sie in diesem Augenblick noch nicht ahnen. * Die prächtig ausgeschmückte Pinasse kreuzte etwas flügellahm gen Süden. Sie hatte es ja auch nicht eilig. Shamal Ravi, einer der engeren Vertrauten des selbsternannten Moguls, leitete das Unternehmen. Der schlanke, fast zierliche Inder mit dem undurchdringlichen Gesicht war ein guter Seemann, ein geschickter Taktiker und ein Anhänger des in seiner Heimat viel zitierten Sprichworts, daß es keine Schande sei, einem Elefanten auszuweichen. Gegen die mit acht Mann besetzte Pinasse war die „Isabella“ ein Elefant. Oder nein, der Vergleich erschien Shamal Ravi bei näherer Betrachtung doch nicht ganz passend. Die ranke Galeone mit den überlangen Masten und der flachen Linienführung hatte, genau besehen, viel mehr Ähnlichkeit mit einem reißenden
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Tiger als das Flaggschiff Abu Bashris. Ravi grinste vor sich hin. Denn als er den Vergleich weiterspann, erinnerte ihn der dicke Mogul verblüffend lebhaft an einen indischen Maharadscha, der mit großem Troß und natürlich auf einem Elefanten reitend auf Tigerjagd ging. Bei so einer Jagd hatte der Maharadscha alle Vorteile auf seiner Seite. Aber gelegentlich geschah es eben doch, daß der Tiger den Maharadscha verspeiste. Ravis Grinsen vertiefte sich. Dann wurde ihm bewußt, daß dieses Grinsen ziemlich unpassend war. Da hatte er den Vergleich nämlich unwillkürlich auf sich selbst und die Pinasse ausgedehnt. Und er kam nicht umhin, sich in der ziemlich heiklen Rolle der angepflockten Ziege zu sehen - des Köders für den Tiger. Ein leiser Schauer des Unbehagens rieselte von seinem Nacken her das Rückgrat hinunter. Unsinn, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Bevor der Ausguck der „Isabella“ das winzige Boot in der Weite sichten konnte, mußten sie die Galeone dreimal gesehen haben. Ravi ließ einen flüchtigen Blick über seine Männer gleiten und stellte fest, daß jeder, der nicht mit den Segelmanövern beschäftigt war, aufpaßte wie ein Schießhund. Tigerjagden gab es nicht nur in Indien. Vielleicht dachten auch die anderen in diesen Minuten an die angepflockte Ziege. Den Maharadscha erwischte der Tiger nämlich nur höchst selten. Die Ziege wesentlich öfter. Ravi versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Er sah zu, wie der Mann im Bug wieder das Spektiv an die Augen hob. Langsam und sorgfältig schwenkte er die Kimm ab, dann zuckte er jäh zusammen. „Mastspitzen!“ meldete er erregt. Ravi turnte nach vorn und nahm dem anderen das Spektiv aus der Hand. Sekunden später hatte auch er die Mastspitzen entdeckt. Die „Isabella“! Sie lag hoch am Wind auf Südostkurs. Und da ihr Ziel wohl kaum der südliche Polarkreis war, bestand kaum ein
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Zweifel daran, daß sie tatsächlich im Bogen zu der Bucht zurücksegeln wollte, in der Surrajs Siedlung lag. Oder doch nicht? Erland Surraj kannte sicher viele Schlupfwinkel an der Küste. Und Abu Bashri würde sich nicht mit Vermutungen zufrieden geben. Ravi beschloß, daß es auf jeden Fall besser war, sich zu überzeugen. „Abfallen“, befahl er. „Wir gehen auf Parallelkurs und halten Fühlung, bis wir das Ziel der verdammten Hunde kennen.“ * „Land ho! Backbord voraus!“ Es war Dan O'Flynns Stimme, die aus dem Großmars erklang. Der blondhaarige Mann gehörte seit langem zur Schiffsführung und nahm im allgemeinen navigatorische Aufgaben wahr. Aber es gab immer noch Situationen, in denen seine unglaublich scharfen Augen im Ausguck gebraucht wurden. Dies war ein solcher Fall. Die „Isabella“ hatte sich knapp außer Sichtweite der Küste gehalten. Sobald sie die Mastspitzen der Tiger-Flotte gesichtet hätten, wären die Seewölfe noch weiter nach Süden ausgewichen. Damit das sinnvoll war, mußten sie natürlich sicher sein, daß sie den Gegner erspähten, bevor der sie ebenfalls entdeckte. Und dafür boten eben nur Dan O'Flynns Falkenaugen eine verläßliche Garantie. Jetzt hatte Dan die vorspringende Landzunge im Westen der Bucht entdeckt, die ihr Ziel war. „Abfallen“, befahl Hasard. „Backbord Ruder, Pete!“ Pete Ballie legte Ruder, die Galeone schwang nach Backbord herum. Mit raumem Wind konnte sie die Bucht anliegen. Knapp vor der Einfahrt ließ der Seewolf backbrassen, die Segel bergen und den Anker ausbringen. Es konnte nichts schaden, auch auf böse Überraschungen vorbereitet zu sein. In einem solchen Fall wollte sich Hasard nicht gezwungen sehen, sich erst mühselig gegen den auflandigen Wind aus der Bucht freikreuzen zu müssen.
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Erland Surrajs Augen leuchteten, obwohl die teilweise zerstörten Hütten nicht eben einen erhebenden Anblick boten. Auf der Kuhl standen Yabu und Yessa stumm am Schanzkleid und starrten zu den Klippen hinüber. Sie hatten gehört, was geschehen war, aber jetzt traf es sie doch, das Wrack der „Candia“ mit eigenen Augen zu sehen. Surrajs Leute knirschten mit den Zähnen und schnitten grimmige Gesichter. Auch der junge Marrad war wieder an Deck erschienen. Er hinkte noch, sah ziemlich blaß aus, doch er war aus einem harten Holz geschnitzt und nicht so leicht kleinzukriegen. Hasard lächelte, als er den tatendurstigen Blick seines Schiffszimmermanns auffing. „Wir werden uns die Sache mal ansehen, Ferris“, beantwortete er die unausgesprochene Frage. „Aye, aye, Sir!“ Der rothaarige Riese strahlte. „Ich wette, diese Papiertiger haben nichts so gründlich kaputtgekriegt, daß wir es nicht wieder in Ordnung bringen können.“ Der Ansicht war der Seewolf auch. Zwei Beiboote wurden abgefiert. Surraj und seine Leute, die vier Kinder und ein Teil der „Isabella“-Crew pullten an Land. Abu Bashris Halunken hatten wie die Berserker gewütet. Die Männer der „Candia“ preßten die Lippen zusammen, und Yabu und Yessa, die sich an ihren Vater drängten, mußten sichtlich gegen die Tränen kämpfen. „Alles halb so wild“, brummte Ferris Tucker. In ein paar Minuten hatte er sich die Schäden angesehen. Knapp und präzise rasselte er herunter, was er brauchte. Drei Mann pullten zurück, um die Sachen von der „Isabella“ zu holen. Dann konnten Erland Surraj und seine Leute nur noch staunen. Sie verstanden zuzupacken, und sie waren bestimmt nicht ungeschickt. Aber wie dieser rothaarige Riese die Sache anfaßte, wie er organisierte, Zug in die ganze Angelegenheit brachte und so nebenbei noch ein halbes Dutzend Verbesserungen vorschlug — das war
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schon ein Fall für sich und konnte einem glatt die Sprache verschlagen. Hasard lächelte, als er Erland Surrajs Blick spürte. Der Eurasier fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ich weiß nicht, wie wir Ihnen jemals für all das danken sollen“, sagte er bewegt. „Das brauchen Sie nicht“, sagte der Seewolf trocken. „Es ist uns ein Vergnügen.“ Und damit hatte er recht, das war nicht einfach so dahingesagt. Anständigen, aufrechten Menschen zu helfen, einem Widerling wie diesem fetten Abu Bashri ein Schnippchen zu schlagen — die Gesichter der Seewölfe verrieten, daß ihnen so etwas wirklich ein Vergnügen war. Auch Erland Surraj spürte das. Er fuhr leicht zusammen, als der kleine Yabu ihn am Ärmel zupfte. „Wir wollen aufs Plateau hinauf“, sagte der Junge eifrig. „Wir möchten Philip und Hasard die kleine Ziege zeigen, die wir aufgezogen haben, und unser Geheimversteck und ...“ „Tut das“, sagte Surraj lächelnd. „Philip und Hasard sind nämlich unsere Freunde“, setzte Yabu hinzu. Der Eurasier nickte. Er atmete tief. „Ja“, sagte er leise. „Sie sind eure Freunde. Und es ist gut, solche Freunde zu haben ...“ 4. „Abfallen!“ zischte Shamal Ravi. Die Pinasse schwang nach Backbord herum und legte sich vor den Wind. Der schlanke Inder stand hoch aufgerichtet im Bug, hatte das Spektiv ans Auge gesetzt und spähte nach Osten. Deutlich sah er die Mastspitzen der „Isabella“ über der Kimm. Die Galeone änderte den Kurs und lief mit raumem Wind auf die Bucht zu, in der gestern noch die Tiger-Flotte geankert hatte. Ravi zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Bis zu diesem Augenblick war er nicht sicher gewesen, ob sie sich nicht doch gewaltig irrten. Jetzt flog ein triumphierender Ausdruck über sein Gesicht. Abu Bashri hatte recht behalten.
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Er mochte größenwahnsinnig, fett und feige sein, aber er hatte einen scharfen Verstand und handelte mit teuflischer Schlauheit. Ravi beobachtete die „Isabella“, bis er sicher war, daß die Galeone vor der Einfahrt der Bucht ankerte. Pech, dachte er. Abu Bashri wäre es sicher lieber gewesen, seine Gegner in der Falle zu haben und genauso zusammenschießen zu können wie vorher die „Candia“. Wobei Shamal Ravi allerdings nicht ganz sicher war, ob das so einfach geklappt hätte. Diese Engländer benahmen sich für seinen Geschmack zu selbstsicher. Sie zeigten keinerlei Furcht. Dabei war ihnen die Tiger-Flotte haushoch überlegen. Sie hätten eigentlich sofort ihr Heil in der Flucht suchen müssen. Aber offenbar dachten sie nicht daran — ein Verhalten, das Ravi mit gelindem Unbehagen erfüllte. Er wußte nicht, wieso, er sah keine konkrete Gefahr, aber er kam nicht. von dem Eindruck los, daß die Engländer noch einen Trumpf im Ärmel hatten. Aber das war Abu Bashris Problem. Ravi ließ das Spektiv sinken und schob es wieder zusammen. Die Pinasse luvte an und ging auf Westkurs. Mit halbem Wind lief sie gute Fahrt, und es dauerte nicht lange, bis die Bucht auftauchte, in die sich die Tiger-Flotte verholt hatte. Wie es weiterging, war klar. Erland Surraj fühlte sich sicher. Er würde seine Sklaven-Freunde und die beiden Kinder aus dem Versteck holen und darangehen, die Siedlung wieder aufzubauen. Abu Bashri brauchte nur noch die Taktik zu entwerfen, die ihn am leichtesten an seine Ziele brachte. Ziele, die darin bestanden, die Kinder zurückzuholen, Surraj zu bestrafen und — eine Selbstverständlichkeit nach allem, was geschehen war — die „Isabella“ zu vernichten. Keins von diesen Zielen bot im Grunde besondere Schwierigkeiten. Aber aus einem ihm selbst unbegreiflichen Grunde gelang es Shamal Ravi dennoch
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nicht, das nagende Unbehagen loszuwerden. Blacky und Bill waren in die Klippen geentert. * Nur so, weil Vorsicht nun mal besser war als Sorglosigkeit. Jetzt hockten sie auf einem Felsen und ließen sich von der Sonne wärmen: Blacky kaute gedankenverloren an einem Grashalm. Bill sah den Kindern zu, die hinter den zähen, struppigen Ziegen herjagten. Yabu und Yessa waren sichtlich stolz auf diesen Ort, den sie als ihr Zuhause betrachteten. Philip und Hasard kommentierten auf türkisch, was ihnen vorgeführt wurde. Die vier verstanden sich prächtig. Aber das war ja auch kein Wunder: Yabu und Yessa hatten ein ähnlich abenteuerliches Leben hinter sich wie die Zwillinge, waren genauso zäh und gewitzt und genauso begabt darin, kräftiges Seemannsgarn zu spinnen. Bill spürte eine jähe Woge von Zorn auf den selbsternannten Mogul, der dies alles zerstören wollte — sofern er es nicht ohnehin schon getan hatte. Was für ein Leben hätte Yabu und Yessa wohl bei diesem fetten alten Widerling erwartet? Sicher ein noch schlimmeres, als es die Zwillinge damals bei Kaliban, dem Zauberer, gehabt hatten, denn das war wenigstens nicht langweilig gewesen. Bill dachte an seinen eigenen Vater, der nach ihrer gemeinsamen Flucht von einem spanischen Schiff auf Jamaica gestorben war, an das Glück, das es für ihn selbst bedeutet hatte, damals, in der dunkelsten Stunde seines Lebens, den Seewölfen zu begegnen. „He!“ unterbrach Blackys Stimme seine Gedanken. Der breitschultrige schwarzhaarige Mann hatte sich ruckartig aufgerichtet. Er kniff die Augen zusammen und griff unwillkürlich nach dem Entermesser an seinem Gürtel. Bill folgte seiner Blickrichtung — und zuckte erschrocken zusammen.
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Eingeborene! Ein Dutzend nackter, bemalter Gestalten, die über einen flachen, grasbewachsenen Hang eilten. Die Kinder! schoß es Bill durch den Kopf. Heftig sprang er auf, die Faust ebenfalls am Griff des Entermessers. Doch dann sah er, daß Yabu und Yessa den Wilden unbefangen zuwinkten. Sie schienen sie zu kennen. Bill sah jetzt auch, daß die braunhäutigen Männer keine Waffen schwangen, Frauen und Halbwüchsige bei sich hatten und durchaus keinen kriegerischen Eindruck erweckten. Blacky zog die Unterlippe zwischen die Zähne, nahm die Hand von der Waffe und kratzte sich am Kopf. „Vorsicht ist die Mutter der heilen Rumbuddel“, wiederholte er das, was er vorhin schon einmal gesagt hatte, als sie in die Klippen geentert waren. „Alarmiere besser den Seewolf!“ Bill nickte nur. Rasch glitt er zum Rand des Plateaus und winkte heftig, um sich bemerkbar zu machen. Unterdessen marschierte Blacky auf die Gruppe der Eingeborenen zu. Da er allein war, würden sie das wohl kaum als Angriff mißverstehen. Ob sie sich davon beeindrucken lassen würden, falls sie Übles vorhatten, stand zwar nicht fest, aber Blacky traute sich durchaus zu, sie im Notfall solange aufzuhalten, bis Verstärkung anrückte. Die Eingeborenen blieben stehen. Philip und Hasard ebenfalls: sie kannten sich mit solchen Situationen inzwischen aus und wußten, was ihnen blühte, wenn sie zu vorwitzig waren. Yabu und Yessa redeten gestenreich auf sie ein, vermutlich, um ihnen zu erklären, daß es keinerlei Gefahr gäbe. Blacky stand wie ein Baum dazwischen, starrte zu den Wilden hinüber und signalisierte ihnen mit Blicken, daß sie vorerst nur über seine Leiche weiter vorrücken konnten. Ein paar Minuten später entspannte sich die Situation.
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Philip Hasard Killigrew, Erland Surraj, Shaiba und ein paar von den Seewölfen enterten die Klippen hoch. Der Eurasier verstand die Sprache der Wilden gut genug, um sich mit ihnen zu unterhalten, und das Begrüßungszeremoniell verlief ausgesprochen herzlich. Erland Surraj und die Seinen hatten mit den Eingeborenen dieses Küstenabschnitts von Anfang an friedlich zusammengelebt. Surraj war ein Mann, der die Eigenarten fremder Völker respektierte, vielleicht, weil er selbst das Erbe so vieler verschiedener Rassen in sich trug. Und die Wilden respektierten auch ihn. Man pflegte lose Kontakte, trieb gelegentlich Tauschhandel miteinander, und jetzt waren die Eingeborenen erschienen, um sich nach dem Verbleib der „Candia“ und der Bedeutung des „großen Donners“ zu erkundigen, nämlich der Kanonade, die Surrajs Karavelle in ein Wrack verwandelt hatte. Das Palaver endete mit dem Entschluß, die allseitige Freundschaft durch ein Fest zu besiegeln. Der Seewolf zögerte. Seine innere Stimme raunte ihm eine leise Warnung zu. Aber er konnte nichts anderes annehmen, als daß die Tiger-Flotte die „Isabella“ immer noch auf der Flucht vermutete und ihr nachjagte, und deshalb fand er keinen vernünftigen Grund, das Angebot abzulehnen. Die Pfahlhütten der Ansiedlung würden bis zum Abend wieder stehen. Um ankerauf zu gehen, war es am nächsten Morgen immer noch früh genug. Dann würden sich die Seewölfe im Rücken ihrer Gegner befinden — und umso leichter die Pläne des fetten Abu Bashri durchkreuzen oder in die falsche Richtung lenken können. Genauso sah auch Erland Surraj die Lage. Er wirkte gelöst, entspannt, glücklich — und ahnte nicht, daß sich das tödliche Netz schon wieder um ihn zusammenzog. *
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Abu Bashri thronte immer noch auf dem Kissen unter dem prachtvollen Baldachin und mampfte immer noch kandierte Früchte. Seine dunklen Augen kniffen sich gespannt zusammen, als die Pinasse durch die Einfahrt der Bucht glitt und längsseits ging. Ein paar Minuten später stand Shamal Ravi vor ihm und vollführte die übliche ehrerbietige Verbeugung. In knappen Worten berichtete er, was er beobachtet hatte. Der dicke Mogul hörte zu und wechselte triumphierende Blicke mit seinem Vertrauten Bej Kinoshan. Der kleine Mann mit der Habichtsnase schien sich jedoch nur sehr zögernd in den nötigen Tatendrang hineinzusteigern. Während Abu Bashris Augen bereits in Vorfreude funkelten, massierte Bej Kinoshan sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Wir sollten dem äußeren Schein nicht allzu sehr vertrauen, ehrwürdiger Mogul“, meinte er. „Nicht?“ fragte Abu Bashri etwas verblüfft. „Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, ehrwürdiger Mogul. Ich schlage vor, zunächst einen Späher über Land zu schicken, um die genaue Lage zu erkunden.“ Der Vorschlag fand Abu Bashris Zustimmung. Dem Späher, den er auswählte, blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Der Mann hieß Marut: ein kleiner, glutäugiger Bengale, der auf die Ehre, die ihm da zuteil wurde, lieber verzichtet hätte. Schicksalsergeben kreuzte er die Arme vor der Brust und verneigte sich. „Du darfst dich vor allem nicht er-wischen lassen“, mahnte der Mogul. „Ich werde dir erzählen, was sie sonst mit dir tun.“ Er schilderte es ausführlich und in den blutrünstigsten Farben. Marut wurde immer blasser. Nicht etwa, weil er Erland Surraj solche Greueltaten zutraute, sondern weil er ahnte, daß die Schilderung ungefähr dem entsprach, was ihm von Abu Bashri blühte, falls er versagte.
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Marut pullte mit einem Dinghi an Land. Vom Versteck der Tiger-Flotte aus nahm der Marsch über Land nur knapp zwei Stunden in Anspruch. Als er sich Surrajs Bucht näherte, konnte der Späher Stimmen hören und den Widerschein eines Feuers sehen - beides noch sehr schwach und weit entfernt. Zehn Minuten später schloß er aus den Anzeichen, daß in der Bucht ein Fest im Gange sein mußte. In diesem Fall, überlegte Marut, hatten seine Gegner mit Sicherheit Wachtposten auf das Plateau geschickt. Der Bengale blieb stehen, benagte seine Unterlippe und dachte nach. Er gelangte zu dem Ergebnis, daß es nur zwei verschiedene Möglichkeiten gab, seinen Gegnern in die Hände zu fallen. Entweder er versuchte es über das Plateau, dann würden ihn die Wachtposten erwischen. Oder er kletterte weiter unten an den Klippen entlang, dann mußte ihn der Ausguck der „Isabella“ entdecken. Beides erschien Marut völlig unvermeidlich, denn er beging nicht den Fehler, die anderen zu unterschätzen. Blieb also noch die Möglichkeit, unverrichteter Dinge wieder umzukehren und das war gleichbedeutend mit Selbstmord. Und wenn er sich einfach auf Erland Surrajs Seite schlug? Einen Moment erschien Marut dieser Ausweg sehr verlockend. Surraj würde ihn aufnehmen, keine Rache üben und ihn sogar schützen. Aber dann dachte er daran, was mit ihm geschehen würde, falls Surrajs Grüppchen, also auch er, Marut, doch noch Abu. Bashri in die Hände fiel. Die Vorstellung war so geartet, daß der Späher Mühe hatte, nicht mit den Zähnen zu klappern. Irgendetwas mußte er tun. Irgendetwas, wiederholte er in Gedanken und dabei kam ihm die Erleuchtung. Selbst wenn er sich heldenhaft bis in die Bucht schlich, die anderen belauschte und jede Einzelheit ihrer Pläne erfuhr, mußte er anschließend noch zwei Stunden zurückmarschieren. In diesen zwei Stunden konnten sich Surraj und die Engländer
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dreimal wieder anders entschließen. Er, Marut, brauchte lediglich eine schlüssige Geschichte zu erfinden. Natürlich mußte er behaupten, daß er sie der Unterhaltung der ehemaligen Sklaven entnommen hatte, da er selbst weder englisch noch spanisch sprach. Damit erhöhte sich zugleich auch die Wahrscheinlichkeit von Fehlern, mit denen Abu Bashri rechnen mußte. Marut lächelte erleichtert. Er beschloß zu behaupten, ein großes Besäufnis beobachtet und erlauscht zu haben, daß die englische Galeone am nächsten Morgen ankerauf gehen und auf ihrem ursprünglichen Kurs weitersegeln wolle. Daß zumindest letzteres genau der Wahrheit entsprach, konnte er nicht ahnen, aber er wäre höchst erfreut gewesen, wenn er es gewußt hätte. 5. Im hellen, harten Licht der Morgensonne erinnerte das Meer an aufgewühltes Quecksilber. Der Himmel leuchtete in einem klaren Blau wie Seide - keine Spur von dem metallischen Schimmer, der manchmal schon bei Sonnenschein und strahlender Wolkenlosigkeit den drohenden Wetterumschlag ahnen ließ. Vor dem Ausgang der Bucht dümpelte die „Isabella“ friedlich an der Ankertrosse. Blacky und Stenmark hatten die Jakobsleiter abgefiert. Die Pinasse der „Candia“ - ungefähr das einzige Stück, das auf dem Wrack heil geblieben war - schor längsseits, und der schweigsame Malaie Shaiba belegte die Vorleine. Der Seewolf enterte auf die Kuhl hinunter, um die Besucher zu begrüßen. Das Fest am Abend hatte nicht lange gedauert und war auch nicht in ein Besäufnis ausgeartet. Die Männer der „Isabella“ wußten genau, wieviel sie vertragen konnten. Das hinderte sie zwar nicht daran, bisweilen das Doppelte oder Dreifache in sich hineinzuschütten, doch das taten sie nur, wenn sie mal so richtig den Hund von der Kette lassen wollten.
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Und den ließen sie nicht von der Kette, wenn die Aussicht bestand, einem fetten Halunken wie Abu Bashri zu zeigen, woher der Wind in der Hölle wehte. Erland Surraj lächelte, als er sich über das Schanzkleid schwang. „Sie haben viel für uns getan, Kapitän Killigrew“, sagte er ernst. „Wenn Sie je wieder in diese Gegend kommen, werden Sie hier Freunde finden.“ „Das gleiche gilt für den Fall, daß es Sie in die Karibik verschlagen sollte, Kapitän Surraj. Wir wünschen Ihnen Glück.“ Die beiden Männer reichten sich schweigend die Hand. Zwischen den Kindern fiel der Abschied etwas weniger feierlich, dafür aber recht geheimnistuerisch aus. Yabu und Yessa hatten ein paar von ihren Schätzen mitgebracht: Dinge, deren Wert und Nutzeffekt Erwachsene nie so recht einsehen können. Die Zwillinge besaßen natürlich ebenfalls Schätze in dieser Art. Sie nutzten die letzte Gelegenheit zu einem regen Tauschhandel, der. offensichtlich zur allseitigen Zufriedenheit ausfiel. Yabu und Yessa verließen das Schiff als stolze Besitzer eines Rentierhorns, einer echten Eisbärenkralle und eines kaputten Irokesen-Calumets. Philip und Hasard nannten dafür einen echten Bumerang ihr eigen und einen angeblich - echten Schrumpfkopf, der allerdings mehr wie irgendeine Sorte von getrocknetem Knollengemüse aussah. Aber es konnte ja immerhin ein echter Schrumpfkopf sein, dachten die Zwillinge und winkten sehr zufrieden dem ablegenden Boot nach, das über die Bucht zum Strand glitt. Die „Isabella“ ging ankerauf, segelte sich frei und lag ein paar Minuten später wieder mit halbem Wind parallel zur Küste. Das Meer dehnte sich blau und nur mäßig bewegt bis zur Kimm. Stenmark war in den Großmars geentert und suchte mit dem Spektiv die See ab. Auf der Kuhl heizte der Profos den Männern ein, stieß finstere Drohungen aus - und alles wäre in schönster Ordnung gewesen ohne jene
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verborgene, aber deutlich spürbare Spannung. Gefechtsklar war die Galeone nicht: es ging schon aus Sicherheitsgründen nicht, daß Lunten herumlagen oder gefüllte Pulverpfannen in der Sonne schmorten. Aber Al Conroy, der Stückmeister, strich wie ein unruhiger Geist um seine Kanonen herum und überprüfte dieses und jenes. Alle Mann waren an Deck, Kugeln, Kettenkugeln, Wischer und sonstiges Zubehör- lagen bereit, und wenn es nötig sein sollte, würde sich die „Isabella“ schneller in eine feuerspuckende Festung verwandeln, als irgendein Gegner es vermuten konnte. Der Seewolf stand am SteuerbordSchanzkleid des Achterkastells und beobachtete die Küste. Er traute dem Frieden nicht. Die leise Warnung seines Instinkts, der er gestern abend keine Beachtung geschenkt hatte, war verstärkt zurückgekehrt. Oder lag das vielleicht daran, daß Old O'Flynn, der sich ne- ben ihm auf seine Krücken lehnte, ein so finsteres Gesicht schnitt und offensichtlich düsteren Gedanken nachhing? „Du siehst aus, als wäre dir ein Wassermann begegnet, Donegal“, bemerkte Ben Brighton prompt. Der Alte schnaufte erbittert. Er liebte es gar nicht, mit dem aufgezogen zu werden, was die anderen seine „Spökenkiekereien“ nannten. Schließlich war er nicht abergläubisch - na, nicht besonders und nicht mehr als die anderen, das behauptete er jedenfalls. Aber was drohendes Unheil betraf, dafür hatte er ein Gefühl. Und davon ließ er sich auch nicht abbringen - Punktum! „Ihr werdet schon sehen“, brummte er vor sich hin. „Was werden wir sehen, Donegal?“ Es war der Seewolf, der das fragte. Donegal Daniel senior warf ihm einen schiefen Blick zu. Wollte er etwa wieder mal andeuten, daß die „Spökenkiekereien“, die Leute verrückt machten? Die taten sowieso besser daran, ab und zu auf die Weisheit des Alters zu hören, wie Old O'Flynn fand.
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„Die Sache gefällt mir nicht“, erklärte er störrisch. „Mir auch nicht“, sagte Hasard trocken. „Und was genau gefällt dir daran nicht?“ „Der Fettwanst von einem Mogul gefällt mir nicht. Und dieser Surraj ist ein leichtsinniger junger Hüpfer. Der fühlt sich in seinem Schlupfwinkel viel zu sicher. Und er scheint glatt zu vergessen, daß er nur noch ein Wrack hat und seine Kanonen Schrott sind.“ Hasard runzelte die Stirn. Hatte Surraj diesen Punkt wirklich vergessen? Es stimmte, die Männer in der Bucht waren so gut wie wehrlos, wenn sie von einer Übermacht angegriffen wurden. Ihre Sicherheit hing allein davon ab, ob sie die Lage richtig beurteilt hatten und Abu Bashri die Siedlung tatsächlich in Ruhe lassen würde. „Ein leichtsinniger junger Hüpfer“, wiederholte der alte O'Flynn. „Wir hätten ihm wenigstens ein paar chinesische Raketen dalassen sollen. Damit könnte er notfalls dem fetten Mogul gewaltiges Feuer unter dem Hintern machen und ...“ Er verstummte abrupt. Der Seewolf starrte ihn an. Mit einem Blick, den der Alte beim besten Willen nicht enträtseln konnte. „Was ist denn jetzt kaputt?“ erkundigte er sich bissig. Hasard verdrehte die Augen und seufzte. „Mann, Donegal“, sagte er. „Das wäre die beste Idee gewesen, die du je gehabt hättest. Das hätte dir, zum Henker noch mal, auch früher einfallen können.“ * Auch der feiste Mogul von Annampur spürte Unruhe, eine Unruhe, die ihm neu war. Bisher hatte er sich stets nur mit einer Übermacht auf Gegner gestürzt, die von vornherein keine Chance hatten. Auch der Ausgang seiner Auseinandersetzungen mit Erland Surraj war nie zweifelhaft gewesen. Der Eurasier hatte es ein paarmal geschafft, ihm mit viel Glück und Geschick in letzter Sekunde zu entwischen,
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wenn er, Abu Bashri, sich seines Opfers schon sicher glaubte, aber der Mogul war mit seiner Flotte während dieser langen Jagd nie ernsthaft in Gefahr geraten. Auch jetzt war er nicht ernsthaft in Gefahr. Der Gedanke wäre geradezu lächerlich gewesen. Und doch gelang es ihm nicht, jene innere Unruhe abzuschütteln. Diese verdammte englische Galeone setzte ihm zu. Mit der war nicht so leicht fertig zu werden, das hatte er gesehen. Übermacht hin oder her — die Engländer waren Gegner, die man besser nicht unterschätzte. Abu Bashri war nahe daran, senkrecht von seinem Thronsitz hochzufahren, als er seinen Späher an Land entdeckte. Marut schrie etwas und schwenkte die Arme, bevor er in das kleine Boot ging. Minuten später schor das Dingi längsseits. Der drahtige Bengale enterte an Bord des Flaggschiffs. vollführte die übliche zeremonielle Verbeugung und begann zu berichten. Er war sehr vorsichtig und versäumte nicht, ausführlich die Bedenken zu schildern, die ihm aufgestiegen waren, bevor er sich dann, angeblich, doch entschloß, auf Schleichwegen in die Hörweite der Gegner vorzudringen. Indem er so seine eigene Feigheit zugab, erreichte er, daß Abu Bashri nicht an seinen Worten zweifelte. Die „Isabella“ wolle am frühen Morgen, also jetzt, ankerauf gehen, behauptete er. Eine Behauptung, die den Tatsachen entsprach, aber das war reiner Zufall. „Und die Kinder?“ fragte Abu Bashri scharf. „Yabu und Yessa? Die Sklaven?“ Der Späher hatte natürlich auch über diesen Punkt nachgedacht. Seiner Meinung nach war es am wahrscheinlichsten, daß die Kinder und die entflohenen Sklaven ebenfalls an dem Fest teilgenommen hatten. Falls dem nicht so war, konnte Abu Bashri ja immer noch annehmen, daß sie anschließend wieder in ein Versteck im Landesinneren gebracht worden waren. Also behauptete Marut, er: habe sowohl die Kinder als auch die ExSklaven gesehen und gehört, und der selbsternannte Mogul verfiel nicht auf den
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Gedanken, daß dieser ganze Bericht reine Phantasie sein könnte. Mit einer wedelnden Handbewegung wurde der Späher entlassen. Marut war froh, den Augen des Herrschers entrinnen zu können. Abu Bashri brütete eine Weile schweigend vor sich hin. Schließlich hob er ruckartig den dicken Kopf und faßte seinen Vertrauten ins Auge. „Was schlägst du vor, Bej Kinoshan?“ wollte er wissen. Der kleine Mann mit der Habichtsnase nagte an der Unterlippe. „Wir sind stark“, meinte er schließlich. „Wenn wir es geschickt anfangen, können wir das eine tun und brauchen das andere nicht zu lassen. Wir lauern dem englischen Schiff auf und schicken es auf Tiefe — und gleichzeitig nehmen wir Surraj und seine Leute wieder gefangen.“ Der Mogul nickte bedächtig. „Und letzteres von der Landseite her“, fügte er hinzu. „Damit wird dieser Hund Surraj nämlich nicht rechnen, oder?“ „Richtig, ehrwürdiger Mogul. Wir schicken einen starken Kampftrupp über Land, der endgültig mit Surraj aufräumt, und die englische Galeone versenken wir, sobald sie diese Bucht passiert hat.“ Der Mogul nickte nur. Seine schwarzen, fast zwischen Fettwülsten verborgenen Augen funkelten triumphierend. In Gedanken genoß er bereits den doppelten Sieg. Die Vorstellung, daß alles ganz anders kommen könne, war für seine Begriffe viel zu unwahrscheinlich, als daß er sie auch nur in Erwägung gezogen hätte. * Die „Isabella“ segelte mit halbem Wind an der Küste entlang auf das Kap zu. Nach Meinung des Seewolfs mußte sich die Tiger-Flotte irgendwo vor ihnen befinden. Jede Wahrscheinlichkeit sprach dafür, aber Philip Hasard Killigrew verließ sich nicht gern auf bloße Wahrscheinlichkeit, und bisher war er immer gut damit gefahren.
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Deshalb hatte er Stenmark im Großmars auch diesmal Anweisung gegeben, die Küste und die See im Süden genauso sorgfältig zu beobachten wie die westliche Kimm. Das tat der große flachshaarige Schwede denn auch — und deshalb entdeckte er die Tiger-Flotte in ihrer Bucht, noch bevor die schwimmenden Paläste ausliefen und die Verfolgung aufnahmen. Eine Verfolgungsjagd hatten sie allerdings eigentlich nicht im Sinn gehabt. Sie unterschätzten die „Isabella“. Als sie aus der Bucht stießen wie der Habicht auf seine Beute, waren sie überzeugt davon, daß sie die englische Galeone sofort stellen könnten. Der Seewolf hätte sich durchaus, nicht gescheut, den Kampf aufzunehmen mit den chinesischen Raketen an Bord war die „Isabella“ in der Lage, auch mit einer Übermacht fertig zu werden. Aber Hasard ging es vor allem darum, den selbsternannten Mogul von Erland Surraj und seinen Leuten abzulenken. Deshalb rauschte die „Isabella“ mit vollem Preß weiter. Sie konnte sogar etwas abfallen, da die Küste hier in der Nähe des Kaps nach Norden zurückwich. Die feindlichen Schiffe, die sich erst mühsam gegen den Südwind freikreuzen mußten, gerieten jedenfalls hoffnungslos ins Hintertreffen. Vier Galeonen und eine Karavelle zählte der Seewolf. Das Flaggschiff der Tiger-Flotte fehlte kein Wunder, da Hasard den fetten Mogul für einen Typ hielt, der die alte Weisheit beherzigte, daß man immer noch am besten mit eines anderen Mannes Hintern durchs Feuer reiten konnte. Trotz seiner unbezweifelbaren Übermacht zog es Abu Bashri vor, nicht die eigene Haut zu riskieren. Was bedeutete, daß ihm die „Isabella“ einigen Respekt abgenötigt hatte. Genug jedenfalls, um ihm zu sagen, daß in der Nähe dieses Schiffs Gefahr im Verzug war und daß man sich besser von ihm fernhielt. Die „Isabella“ rauschte wie ein zorniger Schwan nach Westnordwest. Raumschots lief sie ab - schneller, als ihre Gegner es auch nur geträumt hatten. Die
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schwimmenden Paläste des Moguls waren abgefallen und versuchten mit jedem Fetzen Tuch, den Anschluß zu halten. Wahrscheinlich hatten die Schiffsführer höllische Angst vor ihrem Herrn und Meister und wagten nicht, ihre Niederlage einzugestehen. Aber das sollten sie ja auch gar nicht. Der Seewolf war entschlossen, im richtigen Moment das Tempo zu drosseln und einen Ruderschaden vorzutäuschen, um die Verfolger zum Angriff zu verführen. Einfach achteraus lassen durfte er sie nicht, denn alles sprach dafür, daß der Mogul die Schachzüge seiner Gegner durchschaut hatte und entschlossen war, auch weiter in der Nähe zu bleiben. Und es gab nur einen Weg, einen Kerl wie diesen Abu Bashri zu stoppen: Man mußte ihm eine Niederlage beibringen, von der er sich so schnell nicht wieder erholte. „Fier weg Fock und Großsegel!“ befahl Hasard knapp. Und mit einem matten Lächeln: „Wir wollen sie doch nicht hindern, wenn sie so versessen darauf sind, sich die Bärte zu versengen.“ Nein, das wollten sie nicht. Der Profos grinste so breit, daß er sich fast die Ohrläppchen abbiß. Sein mächtiger Brustkasten wölbte sich, als er tief Luft holte. Dann fluchte er los, brüllte mit Donnerstimme, zitierte ausgiebig seinen Lieblingsspruch von den Hautstreifen und den Affen-Kehrseiten - und das alles ausnahmsweise nur, damit die „Isabella“ etwas an Geschwindigkeit verlor und die Verfolger aufsegeln konnten. Daß diese Verfolger vom Größenwahn befallen waren und es nur noch nicht wußten, daran zweifelte ohne hin niemand an Bord. Der dicke Mogul kannte eben die chinesischen Brandsätze nicht. Damit hatte die „Isabella“ schon so mancher Übermacht getrotzt. Die Seewölfe setzten diese, Waffe nur selten ein, schon weil sie ihnen nicht unbegrenzt zur Verfügung stand und sie zudem nicht gern mit Kanonen auf Möwen schossen. Aber es
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gab Fälle, bei denen vernünftigerweise keine andere Wahl blieb. Dies war ein solcher Fall. Die Männer der Tiger-Flotte, die jetzt rasch aufsegelten und sich offenbar schon als sichere Sieger fühlten, würden die Überraschung ihres Lebens erfahren. 6. Das Flaggschiff des Moguls lag immer noch in der Bucht, in die sich die Flotte zuvor verholt hatte. Eine einzelne Galeone zu versenken, das war nach Abu Bashris Meinung eine Kleinigkeit. Obwohl da immer noch diese leise Unruhe an ihm nagte, das verdammte Gefühl, daß er sich die Sache vielleicht doch zu einfach vorstellte. Deshalb auch war er mit seinem Viermaster in der Bucht zurückgeblieben. Unter normalen Umständen hätte er den doppelten Triumph der Vernichtung der „Isabella“ und seiner Rache an Erland Surraj ganz bestimmt persönlich ausgekostet. In diesem besonderen Fall zog er es vor, zumindest den Triumph über die englische Galeone lieber aus der Ferne mitzuerleben. Er ahnte nichts Gutes - und diese Ahnung stimmte ihn vorsichtig, obwohl er nicht die geringste vernünftige Erklärung dafür hatte. Gut zwei Dutzend seiner Leute waren inzwischen an Land gegangen. Eine Übermacht, der Erland Surrajs Grüppchen nichts entgegenzusetzen hatte. Vor allem, da Surraj sicher nicht mit einem Angriff von der Landseite rechnete. Abu Bashris schwarze, tiefliegende Augen funkelten. Der Haß auf den Eurasier ließ ihn mit den Zähnen knirschen. Der Kerl würde langsam sterben, ganz langsam. Er würde kämpfen um sein schäbiges Leben und doch von Anfang wissen, daß er nicht gewinnen konnte. Abu Bashri wußte auch schon, wie er es anstellen würde, seinen Widersacher vom Leben zum Tode zu befördern. Er malte sich die Situation in lebhaften Farben aus, während er auf seinem Lederkissen thronte und wartete.
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Angespannt lauschte er in die Stille - doch er konnte noch keinen Kanonendonner vernehmen. Hieß das vielleicht, daß es seine Flotte nicht schaffte, diesen verdammten Engländer einzuholen? Unmöglich, dachte Abu Bashri entschieden. Niemand konnte ihm entgehen! Auch diese arroganten Engländer nicht! Der selbsternannte Mogul preßte die Lippen zusammen und kämpfte gegen seine Zweifel. Er wußte, er hätte den Gefechtslärm hören müssen, wenn alles nach Plan verlief. Aber nach wie vor schlug nur das gleichmäßige Rauschen der Brandung an sein Ohr. Hieß das vielleicht, daß doch etwas schief gegangen war? Unsinn, sagte sich Abu Bashri. Bei einer solchen Übermacht konnte nichts schief gehen. Wahrscheinlich hatte es einfach nur etwas länger als erwartet gedauert, den Fluchtversuch zu vereiteln, den die „Isabella“ zweifellos unternahm. Abu Bashri atmete tief durch. Bald würde er den Kanonendonner des Gefechts über die See rollen hören. Die „Isabella“ war seine sichere Beute. Daran, daß es seinen Leuten gelingen würde, Erland Surraj zu schnappen und ihm die Kinder zurückzubringen, bestand ebenfalls kein Zweifel mehr. Ein Lächeln flog über Abu Bashris feistes Gesicht, ein triumphierendes Lächeln. Daß er sich in verschiedenen Dingen gewaltig täuschte, konnte er noch nicht ahnen. * Erland Surraj kämpfte gegen die leise Unruhe an, die auch er empfand, da er den gleichen ausgeprägten Instinkt hatte wie der Seewolf. Die Vernunft sagte ihm, daß es unsinnig war, jetzt noch mit einem Angriff zu rechnen. Wenn überhaupt, würde sich Abu Bashri mit seiner Tiger-Flotte irgendwo im Westen auf die „Isabella“ stürzen. Das hatte der Seewolf ja auch gewußt, damit hatte er eiskalt gerechnet.
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Erland Surraj dachte an die geheimnisvolle Waffe der Engländer, an das angeblich unlöschbare chinesische Feuer. Bei jedem anderen hätte er den Bericht über diese Waffe schlicht für eine Legende gehalten. Aber Philip Hasard Killigrew war nicht der Mann, der Legenden verbreitete. Außerdem wäre das in diesem Fall auch höchst gefährlich gewesen, da sich Abu Bashri bestimmt nicht davon abschrecken lassen würde. Also ging auch Surraj davon aus, daß es mit jener Wunderwaffe seine Richtigkeit hatte. Die Hütten seiner Siedlung standen wieder, genau wie die Trockengerüste und alles andere. Yabu und Yessa trieben sich auf dem Plateau bei ihren. Ziegen herum. Sie hatten sich hier eingelebt und betrachteten die Bucht inzwischen als ihre Heimat. Die ehemaligen Sklaven waren ihre Familie, die friedlichen Eingeborenen ihre Nachbarn, und sie wünschten sich nichts anderes. Würden sie diesmal bleiben können? Hatte das Zwischenspiel mit der „Isabella“ den. Mogul tatsächlich von der Fährte abgebracht? Würde er weitersegeln, die australische Küste absuchen und sein Opfer hinter sich zurücklassen? Erland Surraj hätte es gern geglaubt. Aber er kannte. seinen Gegner zu genau, und deshalb rechnete er mit dem Schlimmsten. Er ahnte, daß er keine Chance hatte, das Verhängnis abzuwenden. Er konnte nur versuchen, sich so gut wie möglich darauf vorzubereiten. Er stellte Posten auf - oben auf dem Plateau und außerdem auf den Felsen der Landzunge. Viel nutzen würden sie ihm nicht, das wußte er. Einem Angriff der Tiger-Flotte, war er nicht gewachsen, also blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, daß das Täuschungsmanöver der „Isabella“ klappen würde. Vergebliche Hoffnung! Surraj hatte gerade die Musketen überprüfen lassen, die sie für die Jagd bräuchten, als der Alarmschrei vom Plateau erklang. Ein erstickter, abgehackter Schrei. Der Eurasier wußte sofort, daß die
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Wachen dort, überrannt worden waren und er wußte auch, daß sie hier unten gegen ein starkes Landkommando keine Chance hatten. Zwei Minuten später war in der Bucht die Hölle los. Surrajs Leute nahmen mit dem Mut der Verzweiflung den Kampf auf. Keiner war unter ihnen, der nicht lieber gestorben wäre, als wieder der grausamen .Herrschaft Abu Bashris ausgeliefert zu sein. Auf dem Plateau blieben zwei Tote zurück. Surraj und die ehemaligen Sklaven schossen auf die Männer, die durch die Klippen kletterten, aber sie konnten die Angreifer nicht daran hindern, in die Bucht einzufallen, und sie mußten vorsichtig sein, weil irgendwo dort oben auch die beiden Kinder steckten. Vom Rand des Plateaus her nahmen einige von Abu Bashris Leuten ihre Opfer unter Musketenfeuer. Den Männern blieb nichts anderes übrig, als sich in die Deckung der Hütten oder einzelner Felsen zu werfen. Dort hielt das gezielte Sperrfeuer sie fest und hinderte sie daran, auch nur die Köpfe zu heben. Erland Surrajs Fäuste umklammerten die Muskete. Er dachte an Yabu und Yessa, denen der Kampflärm nicht entgangen sein konnte. Würden sie ihre Chance ergreifen, wegzulaufen und sich zu verstecken? Es gab Höhlen dort oben, Schlupfwinkel, die auch bei einer größeren Suchaktion nicht so leicht zu entdecken waren. Aber er ahnte, daß es die Kinder nicht lange in einem Versteck aushalten würden. Sie mußten Angst haben, sie würden nachsehen wollen, was mit ihrem Vater passiert war... Steine polterten. Surraj biß die Zähne zusammen, schnellte blitzartig hoch und feuerte auf die Männer, die den Fuß der Klippen erreicht hatten. Er traf, hörte einen gellenden Schrei und sah dabei aus den Augenwinkeln, daß sich zwei, drei seiner Männer ebenfalls mit dem Mut der Verzweiflung aufgerichtet hatten. Einer von ihnen sackte lautlos hinter dem Stein zusammen, den er als Deckung benutzt hatte. Die beiden anderen schossen
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ihre Musketen ab, doch es blieb ihnen keine Zeit mehr, die Waffen nachzuladen. Mehr als ein Dutzend Männer stürmten quer über den Strand auf sie zu, Säbel, Entermesser und Krummschwerter schwingend. Surraj sprang auf und riß mit einem wilden Ruck seinen Degen aus der Scheide. Noch einmal wollte er Abu Bashri nicht lebend in die Hände fallen. Aber die Männer des Moguls hatten strikte Anweisung, das Opfer nicht zu töten. Um sie daran zu hindern, ihren Auftrag weisungsgemäß zu erfüllen, hätte sich Surraj schon in die eigene Klinge stürzen müssen. Später sagte er sich, daß das vielleicht besser für ihn gewesen wäre, aber er war zu sehr Kämpfer, um diesen Ausweg zu wählen. Verbissen schlug er um sich. Auch die ehemaligen Sklaven wehrten sich wie rasend, doch sie hatten keine Chance gegen die Übermacht. Zwei wurden niedergeschlagen, und schließlich war es nur noch Erland Surraj, der mit dem Rücken an einer der Pfahlhütten gegen ein halbes Dutzend Angreifer gleichzeitig kämpfte. Sie hätten ihn leicht überwältigen können, doch sie wollten ihn nicht verletzen. Jeder einzelne von ihnen fürchtete nichts so sehr wie die Gefahr, das Opfer vielleicht versehentlich zu töten und Abu Bashri um seine Rache zu bringen. Sie waren vorsichtig, griffen kaum ernsthaft an und hielten ihren Gegner an seinem Platz fest, während ihre Kumpane die bewußtlosen Sklaven fesselten. Surraj rann der Schweiß über das Gesicht. Er wußte, daß er keine Chance hatte, daß sich der Rest von Abu Bashris Leuten gar nicht mehr in den Kampf einzumischen brauchte und er irgendwann aus reiner Ermüdung einen Fehler begehen würde. Seine Muskeln spannten sich. Vielleicht blieb ihm eine Chance, wenn er durchbrach und das Boot zu erreichen versuchte. Er holte tief Atem - und im selben Augenblick hörte er vom Plateau her einen gellenden Schrei - den Schrei einer Kinderstimme!
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Yabu und Yessa! Erland Surraj riß erschrocken den Kopf hoch. Sekundenlang achtete er nicht auf seine Gegner - und diese Sekunden genügten einem von ihnen, um ihm mit einem Hieb der flachen Klinge den Degen aus der Hand zu schlagen. Jetzt stürzten sie sich mit nackten Fäusten auf ihn. Ganz kurz glaubte Surraj, am Rand des Plateaus eine kleine Gestalt zu sehen, die im rohen Griff eines Mannes zappelte. Der Eurasier fuhr herum. Der Gedanke an seine Kinder fachte Wut und Bitterkeit in ihm zu einem lodernden Feuer an. Er kämpfte wie rasend, aber er schaffte es nicht, durch die Mauer seiner Gegner zu brechen. Ein Tritt warf ihn gegen die Hütte zurück. Fäuste trafen ihn, gnadenlose Hiebe, in denen die ganze Erbitterung darüber lag, daß er so lange Widerstand geleistet hatte. Blutrote Schleier wogten vor seinen Augen. Die Umgebung verschwamm, und er hatte das Gefühl, kopfüber in einem schwarzen Schacht zu versinken. Das letzte, was er bewußt wahrnahm, waren die rauhen Hanfstricke, die sich schmerzhaft um seine Gelenke zusammenschnürten. * „Heiß auf Großsegel und Marssegel!“ erklang gelassen die Stimme des Seewolfs. Das Tuch, das sie vorher geborgen. hatten, um ihre Fahrt zu vermindern, entfaltete sich wieder. Abu Bashris schwimmende Paläste hatten aufgeholt. Jetzt galt es zu manövrieren, jetzt brauchte die „Isabella“ wieder ihre volle Schnelligkeit. Hasard stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und warf einen kurzen Blick zu seinen Söhnen hinüber, die sich über das Schanzkleid beugten und neugierig zu der rasch aufsegelnden Flotte hinüberspähten. Bei einem Gefecht, wenn Breitseiten hagelten und Einschläge krachten, waren sie hier oben nicht gefährdeter als im Vorschiff oder in irgendeiner Kammer. Und wie sie sich zu verhalten hatten, wenn ein Gegner auf Musketenschußweite heran
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war oder das gehackte Blei von Drehbassenladungen über Deck fegte, das wußten sie inzwischen. Aus schmalen Augen beobachtete der Seewolf, wie das Flaggschiff der TigerFlotte - eine dickbäuchige Galeone - höher an den Wind ging, um der „Isabella“ die günstige Luvposition abzunehmen. Auf der Kuhl stemmte Ed Carberry die mächtigen Fäuste in die Seiten und wartete auf die Anweisung, die die Absicht der Gegner durchkreuzen würde. Hasard lächelte hart. Nein, von diesen schwerfälligen schwimmenden Palästen würden sie sich bestimmt nicht nach Lee abdrängen lassen. „Klar zur Wende!“ befahl er. „Etwas höher heran, Pete, und dann herum mit dem Kahn.“ „Klar zur Wende!“. dröhnte die Donnerstimme des Profos'. „Hopphopp, ihr lahmen Säcke! Wollt ihr wohl brassen, oder muß ich euch erst ein bißchen am Kinn kraulen, was, wie?“ Das Manöver klappte fast schneller, als Edwin Carberry fluchen konnte. Die „Isabella“ luvte an, ging über Stag und legte sich auf Gegenkurs. Längst waren alle Kanonen bemannt und schußbereit. Die Culverinen mit den überlangen Rohren hatten eine wesentlich größere Reichweite als die Bewaffnung des Gegners. Noch konnten Abu Bashris Leute das allerdings nicht sehen, da die Stückpforten geschlossen waren. Der Kapitän der Karavelle, dem bei dem Versuch, die „Isabella“ zu verfolgen, der Bugspriet weggeschossen worden war, hätte es seinen Kumpanen eigentlich erzählen können, aber das Verhalten der Burschen ließ nicht darauf schließen, daß er es wirklich getan hatte. Auch die vier restlichen Schiffe luvten jetzt an. In keilförmiger Formation liefen sie Südwestkurs — einen Kurs, den die „Isabella“, die inzwischen hoch am Wind lag, gleich kreuzen würde. Die Luvposition würde ihr auf jeden Fall bleiben. Sie war schnell, viel zu schnell für ihre Gegner,
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auch wenn die das im Moment noch nicht einsehen wollten. „Stückpforten hoch“, befahl Hasard. „Kanonen ausrennen. Die erste Breitseite setzen wir ihnen vor den Bug. Ob sie die Warnung beherzigen, ist dann ihre Sache.“ „Aye, aye, Sir. Hoch mit den Stückpforten!“ Rasselnd öffneten sich die Stückpforten, und die „Isabella“ zeigte ihre beachtlichen Zähne. Auf den Schiffen des Gegners waren die Kanonen bereits seit Minuten ausgerannt. Der Seewolf hätte geschworen, daß Abu Bashris Leute keine Warnung verstehen würden. Im Grunde konnten sie es gar nicht, dazu verließen sie sich zu sehr auf ihre Übermacht: Die Tatsache, daß sich ihnen eine einzelne Galeone zum Kampf stellte, obwohl sie hätte fliehen können, stimmte sie nicht etwa nachdenklich — diese Tatsache deuteten sie offenbar als schlichte Dummheit. Knapp außerhalb der Schußweite des Gegners schor die „Isabella“ am Bug des Führschiffs vorbei. „Backbordkanonen Feuer!“ befahl Hasard knapp. In der nächsten Sekunde entlud sich brüllend die Breitseite. Pulverdampf stieg auf, Kugeln klatschten ins Wasser, gischtend spritzte eine Reihe von Fontänen auf — eine keilförmig versetzte Reihe. Ausgezeichnet gezielt, stellte Hasard fest. Fast jedem der feindlichen Schiffe war die Kugel unmittelbar vor den Bug gesetzt worden. Eigentlich mußten den Burschen jetzt über die Reichweite der „Isabella“ die Augen aufgehen. Eigentlich! Aber die Kerle schienen Balken vor den Köpfen zu haben. Sie erlagen dem Trugschluß, daß auch sie selbst schon Treffer anbringen könnten. Befehle wurden gebrüllt, und auf den schwimmenden Palästen begannen die Bugdrehbassen zu hämmern. Vergeudete Munition. Der ganze Segen klatschte wirkungslos ins Wasser. Außerdem segelte die „Isabella“
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längst im Luvbereich der Tiger-Flotte. Hasard ließ abfallen, um an der Galeone vorbeilaufen zu können, die die Flanke der Formation bildete. Bis dahin waren die Backbordkanonen schon wieder nachgeladen und schußfertig. Wie schwarze, böse Augen starrten die Rohrmündungen des Gegners aus den Stückpforten. Der Kapitän auf dem Achterkastell hatte den Schutz seines prachtvollen Baldachins verlassen, beugte sich weit vor und starrte zur „Isabella“ hinüber. Die Seewölfe warteten völlig gelassen ab. Erst als sie genau auf gleicher Höhe mit der prunkvollen Galeone lagen, hob Hasard knapp die Hand. „Feuer!“ Der gleiche Befehl mußte in dieser Sekunde auch auf dem anderen Schiff gefallen sein. Nur daß sich der Turbanträger auf dem Achterkastell dabei in der Entfernung verschätzte. Er wollte nicht einsehen, daß die Culverinen der „Isabella“ weiter schossen als seine eigenen. Um zu treffen, hätte er herandrehen müssen. Das versäumte er — und so vollzog sich für ihn binnen Minuten das Verhängnis. Mit einem infernalischen Donnern, das die Luft zittern ließ und in den Ohren dröhnte, entluden sich beide Breitseiten gleichzeitig. Die Kugeln des Tiger-Schiffs schlugen knapp neben der Bordwand der „Isabella“ ins Wasser. Eine schien sogar noch ein bißchen an der Außenbeplankung zu kratzen, bevor sie versank. Die feindliche Galeone dagegen erbebte wie von einer unsichtbaren Gigantenfaust getroffen. Holz barst und splitterte — und genau in der Wasserlinie des schwimmenden Palastes klafften acht sauber gestanzte Löcher. Die „Isabella“ ging wieder an den Wind und setzte zu einer fast gemächlichen Wende an. Auf der leck geschossenen Galeone erhob sich wildes Gebrüll. Das Schiff sackte so schnell über den Bug weg, daß es die Männer nicht einmal mehr schafften, ihre Boote abzufieren. Schreiend und kopflos
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sprangen sie ins Wasser und schwammen auf die Karavelle zu, die ihnen am nächsten war, und für Minuten schien keiner von Abu Bashris Leuten mehr fähig, eine klare Entscheidung zu treffen. Die „Isabella“ hatte ihre Wende vollendet und rauschte mit achterlichem Wind von neuem auf die Tiger-Flotte zu. Schon verschwanden auch die letzten Mastspitzen der sinkenden Galeone. Kühl beobachtete der Seewolf den Kapitän der Karavelle, der mit den Armen fuchtelte und zu den anderen Schiffen hinübersignalisierte. Hasards Blick glitt über die Bronzegestelle, mit denen die chinesischen Raketen abgefeuert wurden. Zwei davon standen auf der Kuhl bereit, um ihre tödliche Munition auf die Reise zu schicken. Aber wenn es Abu Bashris Piratengesindel nicht sehr schnell gelang, sich auf den Gegner einzustellen, würde es nicht einmal nötig sein, die Brandsätze zu benutzen. Jetzt endlich schien das auch der Kapitän auf dem Flaggschiff der Tiger-Flotte zu begreifen. Hasard verstand die Befehle nicht, die der Bursche brüllte, aber er sah die Wirkung. Zwei der Schiffe luvten noch etwas stärker an und segelten in Kiellinie nach Südwest. Die dritte Galeone und die Karavelle gingen über Stag, liefen im spitzen Winkel von den anderen ab und formierten sich ebenfalls in Kiellinie. Die Absicht war klar. Sie wollten die „Isabella“ in die Zange nehmen und sie zwingen, ihre Breitseiten auf die vordersten Angreifer abzufeuern. Die beiden folgenden Schiffe würden dann schneller heran sein, als die Seewölfe ihre Geschütze wieder aufladen konnten, und die englische Galeone in Fetzen schießen - das war es jedenfalls, was sie sich vorstellten. Aber so weit kam es nicht. Hasard ließ etwas anluven, damit die Männer an den Bronzegestellen freies Schußfeld hatten. Die Formation der Gegner erinnerte jetzt ungefähr an einen offenen Trichter. Sie mußten einen Kreuzschlag segeln, um überhaupt an ihr Opfer zu gelangen - Zeit genug für Smoky
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und Al Conroy, ihre Ziele in aller Ruhe anzuvisieren. „Feuer!“ befahl der Seewolf. Ein scharfes Zischen ertönte. Fauchend und funkensprühend lösten sich die kleinen Raketen von den Abschußgestellen, zogen eine leuchtende Spur durch die Luft - und Hasard nickte zufrieden, weil er sah, daß beide Geschosse genau im Ziel liegen würden. Die Raketen reichten weiter als die Kanonen, weiter sogar als die Culverinen der „Isabella“ und trafen auch genauer. Die Männer auf den Schiffen des Gegners stierten den funkensprühenden, jaulenden Dingern verständnislos entgegen. Für ihre Begriffe war die Entfernung für jede Art von Schuß zu groß. Hätten sie gehandelt, statt in die Luft zu stieren, wäre es ihnen vielleicht noch gelungen, mit einem blitzartigen Abfallmanöver auszuweichen. Aber sie erkannten die Gefahr erst, als es zu spät war. Die Raketen fuhren in die Takelage der beiden Galeonen und zerplatzten. Feurige Kugeln flogen nach allen Seiten, trafen Segel und Aufbauten oder fielen auf die Decksplanken. Dort, wo sie landeten, _ entstanden binnen Sekunden Brandnester, die sich rasend schnell ausbreiteten. Flammenzungen leckten über die Segel, hüllten Masten und Rahen ein - und jetzt erst brandete ein vielstimmiger Schreckensschrei auf. Der Seewolf wußte, daß die beiden Galeonen nicht mehr zu retten waren. Selbst ein normaler Brand wäre auf diesen schwimmenden Palästen mit ihrem Wust von überflüssigem Zierat nur schwer zu bekämpfen gewesen. Das chinesische Feuer ließ sich überhaupt nicht löschen. Abu Bashris Männer wußten das nicht, aber sie begriffen es sehr schnell, als sie wie besessen begannen, Wasser zu pützen und in die Flammen zu gießen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Die beiden folgenden Schiffe waren eilig abgefallen, weil die brennenden Galeonen abrupt an Fahrt verloren und als Brander auf die anderen zu zutreiben drohten. Die liefen rasch nach beiden Seiten ab, luvten
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dann wieder an und zögerten. Niemand schien recht zu wissen, was er tun sollte, und die Karavelle lief sogar aus dem Ruder, weil ihre gesamte Besatzung damit beschäftigt war, aus aufgerissenen Augen zu den brennenden Schiffen hinüberzustarren. Dort herrschte das, was der Seemann schlicht als Zustand zu bezeichnen pflegte. Verzweifelt versuchten die Männer, das sich immer weiter ausbreitende Feuer zu löschen. Es ging nicht. Unter einem Guß Wasser fiel es zwar in sich zusammen, flammte jedoch sofort von neuem auf. Unaufhaltsam fraß es sich durch die Decksplanken, tiefer und tiefer. Jetzt endlich sahen die beiden Crews die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen ein und jetzt begriffen sie auch die neue, tödliche Gefahr: daß es nur noch Minuten dauern würde, bis der Brand die Pulverkammern erreichte. Die ersten Männer sprangen in Panik über Bord. Ein paar Besonnene schafften es noch, Boote abzufieren, mit denen sie schneller waren als die Schwimmer. Wie wahnsinnig pullten sie davon, nur fort von dem schwimmenden Unheil. Die „Isabella“ war wieder an den Wind gegangen. Die Karavelle und die dritte Galeone, deren Kapitäne die Gefahr jetzt ebenfalls erkannten, setzten sich unter Vollzeug ab, ohne sich um die schwimmenden oder pullenden Männer zu kümmern. Sekundenlang waren nur das Prasseln der Flammen und das verzweifelte Geschrei zu hören, dann rollte das Krachen einer gewaltigen Detonation über die See. Eine der Galeonen platzte auseinander und schleuderte einen Feuerregen in den Himmel. Dumpf kehrte das Echo von der Küste zurück - und noch in den Nachhall hinein krachte die zweite Explosion. Geblendet kniff der Seewolf die Augen zusammen. Eine halbe Sekunde stand ein glühender Ball über dem Wasser, breitete sich aus und tauchte Himmel und Meer in blutroten Widerschein, während die brennenden Trümmer der ersten Galeone
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schon wieder herunterprasselten. Die See schien zu kochen. Dampf waberte wie Nebel und nahm die Sicht, minutenlang hielt der feurige Regen an, ein paar kleinere Trümmer wurden sogar bis in die Nähe der „Isabella“ geschleudert. „Arwenack!“ schrie Blacky triumphierend und riß die Arme hoch. Andere Stimmen fielen ein, und dann dröhnte der Schlachtruf der Seewölfe über das Wasser, daß ihren Gegnern nur so die Ohren klangen. „Ar-we-nack! Ar-we-nack ...“ Es war, als sei es dieser donnernde Schlachtruf gewesen, der Abu Bashris Männern endgültig den Nerv raubte. Die unversehrte Galeone floh unter Vollzeug nach Osten, wo irgendwo der Mogul mit dem Flaggschiff wartete. Die Karavelle, die nach Westen abgefallen war, halste und ging ebenfalls auf Gegenkurs. Rücksichtslos lief sie mitten durch die Trümmer, ohne sich um die treibenden Menschen zu kümmern, und rammte dabei noch beinahe eine Pinasse, deren Besatzung sich immerhin bemühte, Überlebende aufzufischen. Drei, vier Männern gelang es, sich an der außenbords hängenden. Jakobsleiter der Karavelle festzuklammern. Zwei andere wurden an Bord gehievt, weil ein paar von ihren Kameraden ihnen geistesgegenwärtig eine Rettungsleine zugeworfen hatten. Allen anderen blieb nichts anderes übrig, als auf die Pinasse und das zweite Boot zu zu schwimmen, die jetzt schon überfüllt waren, und sich an die Bordwände zu klammern, wenn sie keinen Platz mehr fanden. Auch die Männer in den Booten wandten sich in höchster Eile nach Osten. Die Lust auf eine Fortsetzung des Kampfes war ihnen ganz sicher vergangen. Mit einem Verband von fünf Schiffen hatten sie sich auf einen einzelnen Gegner gestürzt. Jetzt waren von diesen fünf Schiffen nur noch zwei übrig, die einzelne Galeone hatte nicht einmal eine Schramme empfangen. Durch welches höllische Zauberkunststück die verheerenden Brände
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entstanden waren, konnten Abu Bashris Leute immer noch nicht begreifen. Der Seewolf blickte den Flüchtenden nach. Er fragte sich, ob er ihnen nachsetzen und die Niederlage für die Tiger-Flotte noch vernichtender gestalten sollte. Aber es widersprach seiner Art, sich auf jemanden zu stürzen, der den Kampf aufgeben wollte, und im nächsten Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. „Achtern treibt noch ein Mann im Wasser“, meldete Bill, der jüngste Mann an Bord, aus dem Großmars. „Er klammert sich an ein Schott und scheint schwer verletzt zu sein.“ Hasard zögerte nicht. Ein hilflos im Wasser treibender Verletzter war für ihn kein Gegner mehr, sondern ein Mensch in Not, dem sie ihren Beistand nicht versagen konnten. So hatten sie es immer gehalten, und von dieser Regel würden sie auch diesmal nicht abgehen. „Abfallen und Beiboot aussetzen“, ordnete Hasard an. „Ed, Ferris, Dan, Smoky - seht zu, daß ihr den Burschen an Bord kriegt.“ 7. Erland Surraj erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit, als das Flaggschiff des Moguls vor der Bucht auftauchte. Signalschüsse mußten es herbeigerufen haben. Jetzt wurden Boote abgefiert, um das Landkommando und die Gefangenen aufzunehmen. Surraj fragte sich, wo die anderen Schiffe des Verbandes sein mochten. Auf der Jagd nach der „Isabella“, begriff er im nächsten Moment. Abu Bashri hatte nach zwei Seiten gleichzeitig zugeschlagen. Er mußte genau vorausgeahnt haben, was seine Gegner tun würden, denn sonst hätte er sich nicht auf die Lauer gelegt und so geduldig auf seine Stunde gewartet. Surrajs Kehle wurde trocken, als er sich nach Yabu und Yessa umsah. Er kannte sie und wer sicher, daß sie sich wie kleine Wildkatzen gegen Abu Bashris Männer gewehrt hatten. Jetzt hockten sie auf einem Stein nebeneinander und starrten ins Leere: apathisch, stumm, mit
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unnatürlich glänzenden Augen. Der Anführer des Landkommandos mußte ihnen irgendeine Droge eingeflößt haben. Es gab genug solcher Gifte, die beruhigten, den Willen lähmten oder jenen seltsamen Zustand innerer Abwesenheit erzeugten. Surraj biß sich auf die Lippen. Die Kinder erkannten ihn im Augenblick nicht einmal. Aber das war ja im Grunde gut so. Sie würden sich nicht auflehnen und nicht den Zorn des Moguls herausfordern - und sie würden auch nicht miterleben, wie Abu Bashri an ihm, Surraj, Rache nahm. Mechanisch begann er, an seinen Handfesseln zu zerren, aber die dicken, zähen Hanfstricke ließen sich weder lockern noch zerreißen. Erland Surrajs Blick glitt in die Runde. Acht von seinen Leuten hatten den verzweifelten Kampf überlebt und kauerten mit gesenkten Köpfen im Sand, ebenfalls gefesselt. Shaiba, der Malaie, warf ihm einen Blick zu. Einen erschöpften, hilflosen Blick voller Resignation. Seine Zukunft und die der anderen, überlegte Surraj, sah vielleicht noch düsterer als seine eigene aus. Auf ihn wartete der Tod, ein häßlicher Tod wahrscheinlich. Aber vor seinen Freunden lagen Jahre grausamer, demütigender Sklaverei, und das war schlimmer. Oder würde Abu Bashri auch ihn, Surraj, zum Sklaven erniedrigen? Der Gedanke durchfuhr ihn wie ein Stich, dann schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Vielleicht wäre diese Form der Rache für Abu Bashri befriedigender gewesen als alles andere, aber er würde es nicht tun, schon wegen Yabu und Yessa nicht, die er zu seinen Erben machen wollte und auf seine besessene, krankhafte Art vielleicht sogar liebte. Surraj straffte den Rücken, als brutale Fäuste seine Arme packten und ihn hochzerrten. Grob wurde er in eins der Boote gestoßen, das sofort ablegte. Ein Blick zurück zeigte ihm, daß es seinen Kameraden nicht anders erging. Nur die beiden Kinder wurden von Abu Bashris
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Männern rücksichtsvoll, fast ehrerbietig behandelt. So, wie sie auch ihn behandelt hatten, als er noch Rhanas Mann gewesen war, von der sie wußten, daß sie bei ihrem despotischen Vater alles erreichen konnte, was sie wollte. Surraj preßte die Lippen zusammen und versuchte sich zu wappnen. Schon konnte er die feiste Gestalt des Moguls unter dem Baldachin auf dem Achterkastell erkennen. Abu Bashris fettes Gesicht leuchtete selbst aus der Entfernung vor Zufriedenheit. Surraj spürte einen Schauer der Furcht, aber er nahm sich zusammen. Da er mit den gefesselten Händen nicht an der Jakobsleiter aufentern konnte, wurde er einfach mit einem Haken hochgehievt. Wehrlos mußte er die entwürdigende Prozedur über sich ergehen lassen und konnte auch nicht verhindern, daß zwei von seinen Gegnern ihn über die Kuhl schleppten, vor dem Niedergang zum Achterkastell auf die Planken warfen und ihm einen Fuß ins Genick setzten wie einem erlegten Tiger. Erst Abu Bashris ungeduldige Handbewegung brachte sie dazu, ihn wieder hochzuzerren. Nicht etwa, weil der selbsternannte Mogul plötzlich Großmut und Ritterlichkeit in sich entdeckt hätte, das war dem Eurasier nur zu klar. Abu Bashri wollte nicht, daß Yabu und Yessa sahen, wie er ihren Vater behandelte. Er würde schlicht aus dem Leben der Kinder verschwinden. Über sein Ende würden sie nur Lügen hören — und vielleicht waren sie jung genug, um zu vergessen, sich anzupassen und dem Leben, das sie im Palast des Moguls erwartete, die besten Seiten abzugewinnen. Ihre Gesichter wirkten immer noch völlig abwesend, als sie durch das Schott ins Achterschiff geführt wurden. Surraj atmete auf. Er war froh, daß Yabu und Yessa von den nächsten Ereignissen nichts sehen würden. Stolz hob er den Kopf und starrte seinem Widersacher furchtlos in die Augen. Abu Bashris feiste Lippen verzerrten sich zu einem teuflisch triumphierenden Lächeln.
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„Bringt ihn hierher“, befahl er. „Fesselt ihn an die Schmuckbalustrade! Bej Kinoshan, wir gehen an den Wind und kreuzen nach Süden.“ Der kleine Mann mit der Habichtsnase gab sofort die entsprechenden Befehle. Minuten später lag das Flaggschiff hoch am Wind und segelte auf die offene See hinaus. Erland Surraj war den Niedergang hinaufgezerrt und an die Schmuckbalustrade des Achterkastells gefesselt worden. Abu Bashri wollte offenbar sein Gesicht sehen und ihn genau beobachten können. Der Eurasier ahnte auch, daß ihm der Anblick irgendeiner grausamen _Strafaktion bevorstand. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus, aber in dem braunen, harten Gesicht zuckte kein Muskel. Während der schwimmende Palast unverwandt nach Süden kreuzte, ließ Abu Bashri die wieder eingefangenen Sklaven vorführen. Das Bordgericht, das er abhielt, war nicht mehr als eine teuflische, niederträchtige Farce, da das Urteil schon vorher feststand. Die Sklaven hatten sich ihrem „rechtmäßigen Besitzer“, wie der Mogul es ausdrückte, durch die Flucht entzogen. In dem Inselkönigreich Annampar gab es dafür eigentlich nur eine Strafe: die sofortige Hinrichtung. Die Sklaven hatten sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie würdigten den selbsternannten Mogul nicht einmal einer Antwort, sie sahen dem Tod gefaßt entgegen, aber Surraj ahnte, daß Abu Bashri etwas anderes mit ihnen vorhatte. Durch doppelte Schufterei sollten sie ihre „Schulden“ abarbeiten, verkündigte er. Außerdem verurteilte er jeden zu zwanzig Hieben mit der neunschwänzigen Katze, und diesen Teil des Urteils ließ er sofort vollstrecken. Erland Surraj mußte es hilflos mit ansehen. Die ganze Zeit über spürte er Abu Bashris Blick, der in seinem Gesicht gierig nach Zeichen von Wut, Verzweiflung und Angst forschte. Aber die Züge des Eurasiers blieben starr und unbewegt wie eine steinerne Maske. Auch die Haltung der
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Männer, die ausgepeitscht wurden, konnte Abu Bashris Rachsucht nicht wirklich zufriedenstellen. Diese Männer waren keine Sklaven mehr, die widerspruchslos schufteten und vor ihren Aufsehern zitterten. Sie hatten die Freiheit kennengelernt. Sie verstanden zu kämpfen - und sie waren fähig, die grausame Prozedur stumm und mit eiserner Beherrschung zu ertragen. Einer nach dem anderen wurde wieder losgebunden, unter Deck gebracht und in die Vorpiek gesperrt. Immer noch segelte die Galeone nach Süden. Längst war die Küstenlinie hinter der Kimm verschwunden. Erland Surraj begriff nicht, was sein Gegner vorhatte, doch er sollte es sehr schnell erfahren. Abu Bashri war neben ihn getreten, die Augen zu schmalen, funkelnden Schlitzen zusammengekniffen. „Du bist ein dreckiger Bastard, Surraj“, sagte er mit einem hämischen Lächeln. „Aber du warst immerhin einmal Rhanas Mann, du bist der Vater meines Erben. Deshalb will ich Gnade walten lassen und dir eine Chance geben.“ Surraj spuckte aus. „Auf die Gnade eines größenwahnsinnigen Lumpen verzichte ich“, sagte er kalt. Abu Bashris Nasenflügel vibrierten. Fast sah es so aus, als wolle er sich mit bloßen Fäusten auf den wehrlosen Gefangenen stürzen. Der Haß schüttelte seinen feisten Körper, aber er riß sich zusammen und grinste noch niederträchtiger. „Du erhältst ein Boot“, sagte er, die Worte genießerisch dehnend. „Ein Boot und zwei Riemen. Leider ist es ziemlich alt und beschädigt und nimmt Wasser, aber dafür werden wir dir eine Segeltuchpütz mitgeben. Vielleicht schaffst du es, Surraj. Du wirst dich eben anstrengen müssen. Ohne Wasser; Proviant und Sonnenschutz wird es sicher ziemlich mühsam, aber daran kann ich leider nichts ändern.“ Erland Surraj antwortete nicht. Nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde war in seinen Augen ein Hoffnungsschimmer aufgeflammt. Er
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wußte, daß er die Küste aus dieser Entfernung nicht mehr schwimmend erreichen konnte. Daß es unmöglich sein würde, das Boot über Wasser zu halten, war ihm schon jetzt klar, dazu brauchte er keinen Blick auf das Fahrzeug zu werfen. Abu Bashri dachte nicht im Traum daran, seinem Opfer wirklich eine Chance zu geben. Falls in seiner Haltung tatsächlich ein winziger Rest von Menschlichkeit verborgen lag, dann galt er Yabu und Yessa. Vielleicht dachte er an die Fragen, die die Kinder einmal stellen würden, vielleicht wollte er Zeugen dafür haben, daß er ihren Vater nicht umgebracht, sondern in der Nähe der Küste ausgesetzt hatte. Aber vor allem ging es ihm darum, daß er, Erland Surraj, nicht zu schnell starb, daß er vergeblich um sein Leben kämpfte und Stunden der Hoffnungslosigkeit und Todesangst durchlitt. Vielleicht würde es so kommen. Aber Abu Bashri würde wenig Genuß von seiner Rache haben, er würde das Opfer nicht schon vorher zittern sehen. Erland Surraj preßte die Lippen zusammen und blickte aufs Meer hinaus. Er fühlte keine Angst. Ein Tod im Kampf oder das nasse Grab in der See — mit dieser Möglichkeit hatte er gelebt, damit hatte ein Mann wie er immer rechnen müssen, Das war ein Schicksal, das er hinnehmen konnte, und er wußte, dass es leichter zu ertragen war als ein Tod in der Gefangenschaft, ein Tod, gegen den er nicht einmal hätte kämpfen können. Kalt und unbewegt starrte er seinem Widersacher ins Gesicht. Abu Bashris triumphierendes Grinsen erlosch. Wieder flammte Wut in seinen Augen. Mit einer ungeduldigen Handbewegung gab er Bej Kinoshan ein Zeichen, und der kleine Mann mit der Habichtsnase befahl, das Boot abfieren zu lassen. Eine winzige Nußschale. Man brauchte nicht genauer hinzusehen, um den verrotteten Zustand des Holzes zu erkennen. Risse klafften in der Außenbeplankung, vermutlich gab es auch
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ein größeres Leck. Daß die Riemen nicht weniger morsch waren als das Boot, konnte sich Erland Surraj lebhaft vorstellen. Einer der Männer trat hinter ihn und schnitt die Stricke durch, die ihn an die Schmuckbalustrade fesselten. Seine Hände waren immer noch auf dem Rücken zusammengeschnürt. Er atmete tief durch und straffte sich. Ohne den fetten Abu Bashri noch eines Blickes zu würdigen, stieg er den Niedergang zur Kuhl hinunter und trat mit festen Schritten ans Schanzkleid, wo eine Jakobsleiter ausgebracht worden war. Ein halbes Dutzend schußbereiter Musketen zielte auf ihn, als auch die Fesseln an seinen Gelenken durchgeschnitten wurden. Er schüttelte die Stricke ab. Ein einziges Mal sah er kurz zum Achterkastell zurück, wo Abu Bashri unter seinem Baldachin thronte — offenbar nur halb zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Schweigend schwang sich Erland Surraj über das Schanzkleid und enterte ab. Zwischen den Duchten des Bootes schwappte schon jetzt etwas Wasser. Zwei verrottete Riemen lagen darin, außerdem eine uralte, vergammelte Segeltuchpütz. Da die Galeone immer noch etwas Fahrt lief und das Boot mitgeschleppt wurde, hatte Surraj Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ruhig warf er die Vorleine los, und Sekunden später tanzte die winzige Nußschale in der Hecksee des schwimmenden Palastes. Die Riemen knirschten, als Surraj sie in die Dollen schob. Zumindest der an der Backbordseite würde brechen, sobald er zu kräftig durchgeholt wurde. Der Eurasier begann behutsam zu pullen und beobachtete das eindringende Wasser, doch er tat das alles nur mechanisch, da er wußte, daß sein Widersacher ganz sicher jede noch so winzige Chance ausgeschlossen hatte, dem Verhängnis zu entgehen. Dennoch empfand er Erleichterung, als er die Galeone davonsegeln sah. Er war allein mit der See. Trotz seiner hoffnungslosen Lage hatte er das Gefühl,
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als sei ein schweres Gewicht von seinen Schultern genommen worden. * „Hool weg! Hoool weg!“ Ed Carberrys Donnerstimme tönte über das Wasser. Das Beiboot der „Isabella“ hielt auf den Mann zu, der sich verzweifelt und offenbar am Ende seiner Kräfte an ein halb zerfetztes Schott klammerte. Deutlich war sein klatschnasser Turban zu sehen, das Hemd mit den weiten Ärmeln, aber auch das Blut, das aus einer Wunde an seiner Brust rann und im Wasser blaßrosa wirkte. Smoky und Ferris Tucker pullten, Dan O'Flynn hatte die Pinne übernommen. Der Profos hielt einen Bootshaken in seiner schwieligen Faust, um den treibenden Verletzten notfalls blitzschnell heranziehen zu können. Denn daß die Sache verdammt knapp und kitzlig werden konnte, war ihnen nur zu klar. Bei dem Gefecht hatte es Tote und Verletzte gegeben. Blut war geflossen — und vor der australischen Küste trieben sich jene gefährlichsten aller Räuber der Meere herum: Menschenhaie. Bis zu dreizehn Yards lang wurden diese Biester. Freßgierig waren sie wie alle Haie; aber angriffslustiger, selbst wenn sie nicht gereizt oder herausgefordert oder vom Blutgeruch angelockt wurden. Daß sie bisweilen sogar kleinere Boote angriffen, hielten viele Leute für eine Legende. Aber das waren meist Menschen, die nicht viel praktische Erfahrung mit den Räubern der Meere hatten, denn die Abdrücke gewaltiger Gebisse auf treibenden Planken, die der eine oder andere der Seewölfe schon gesehen hatte, redeten eine andere Sprache. Daß sich bis jetzt noch keine von den unheilvollen Dreiecksflossen gezeigt hatte, grenzte an ein Wunder. Aber es blieb nicht lange so. Dan O'Flynn ließ den Blick über die leicht bewegte Wasserfläche gleiten — und zuckte zusammen. „Hai Backbord voraus!“ stieß er durch die Zähne.
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„Himmel Arsch !” fluchte Smoky los. „Und jetzt rutscht der Mistkerl auch noch ab — da!“ Der Verletzte konnte nichts dafür, er hatte das Bewußtsein verloren. Schlaff trieb er an Steuerbord. „Schneller, ihr Himmelhunde!“ brüllte der Profos. Noch einmal holten Ferris Tucker und Smoky die Riemen durch, dann hatten sie den Mann mitsamt dem zerfetzten Schott in Lee. Der schlanke, bläulich gefärbte Körper des Hais glitt wie das leibhaftige Verhängnis durch das Wasser. Jetzt schwenkte er nach Westen und vollführte einen eleganten Bogen, um das Hindernis zu umgehen, das sich zwischen ihn und seine sichere Beute geschoben hatte. Ed Carberry fluchte wild, beugte sich zur Seite und schlug den Bootshaken in die Kleidung des treibenden Mannes. Rücksicht nehmen konnte er nicht mehr. Ob ein bißchen Haut und Fleisch in Fetzen ging, spielte unter diesen Umständen keine Rolle. Mit einem Ruck zog der Profos den Bewußtlosen heran. Ferris Tucker und Smoky hatten die Riemen eingeholt, packten zu, und ihren kräftigen Fäusten gelang es, den Mann buchstäblich im letzten Augenblick zu bergen. Der Hai schoß heran. Der spitze Kopf mit dem aufgerissenen Rachen hob sich aus dem Wasser, sekundenlang war die schneeweiße Unterseite des Körpers zu sehen, weswegen das Biest bisweilen auch Weißer Hai genannt wurde. Weit öffnete sich der schreckliche Rachen, schnappte wieder zu — und das treibende Schott zersplitterte unter den nadelscharfen Zähnen. Dan O'Flynn packte den RadschloßDrehling, den er in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Die See schien zu kochen, als der Hai wütend mit der Schwanzflosse peitschte und seinen schlanken Leib herumschnellte. Der rothaarige Schiffszimmermann hatte seine mächtige Axt aus dem Gürtel gerissen, Smoky den Steuerbordriemen aus
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der Dolle gelöst. Gespannt beobachteten sie die Bestie, die das Boot umkreiste. Würde sie davonziehen oder... „Scheiße“, murmelte Smoky. Dan O'Flynn sparte sich den Kommentar und richtete sich mit angespanntem Gesicht von der achteren Ducht auf. Keiner der Männer ließ einen Blick von dem Hai. Sie sahen nicht, daß auf der „Isabella“ in fliegender Hast ein zweites Boot abgefiert wurde, um ihnen zu Hilfe zu eilen, und es war ohnehin zweifelhaft, ob diese Hilfe noch rechtzeitig erfolgt wäre. Der Menschenhai griff an. Das Blut hatte ihn in Raserei versetzt, er tauchte weg und schoß pfeilschnell wieder hoch, querab an Steuerbord. Dan O'Flynn reagierte blitzartig. Mit einem langen Schritt quetschte er sich an Smoky vorbei, überkletterte die Ducht und kauerte sich auf die Planken. Daß er halb auf dem Bewußtlosen kniete, konnte er nicht ändern. Es ging um Sekunden. Wenn die Bestie das Boot umwarf, waren sie verloren. Dan O'Flynn wartete, konzentrierte sich und vergaß das Atmen, als der mächtige Schädel des Hais die Wasserfläche durchstieß. Weit klafften die Kiefer mit den mörderischen Zahnreihen auseinander, bereit, sich im nächsten Moment in die Bordwand des Bootes zu schlagen. Dan feuerte. Krachend entlud sich der Drehling, einmal, zweimal, dreimal, immer wieder. Diese Waffe hatte den Vorteil einer schnellen Schußfolge, da nicht jedesmal erst nachgeladen werden mußte. Das schwere Ding bäumte sich in Dans Fäusten auf, doch er hielt es eisern in der Richtung und jagte sämtliche Geschosse in den aufgerissenen Rachen des Hais. Schnappend schlossen sich die mächtigen Kiefer. Die Männer glaubten schon, Holz bersten zu hören und die Erschütterung zu spüren, doch die mörderischen Zähne verfehlten den Dollbord um Haaresbreite. Ferris Tucker schwang die Axt, Smoky hieb und stieß mit dem Riemen zu, damit das Boot freikam.
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Die Bestie bäumte und wand sich im Todeskampf und verwandelte das Wasser in einen kochenden, blutigen Wirbel. Ein gewaltiger Schlag traf das Boot, ließ es in seinen Verbänden erzittern und wie einen Korken unter einem Wasserfall auf den Wellen tanzen. Aber es schlug nicht um. Ed Carberry brüllte Befehle, ein paar kräftige Riemenschläge stabilisierten das Fahrzeug, und dann pullten die Männer es eilig aus der Gefahrenzone heraus. Der Menschenhai drehte sich im Wasser. In einer Wolke von Blut leuchtete die weiße Unterseite seines Körpers. Sekunden vergingen, Sekunden trügerischer Ruhe, dann tauchten auch aus einer anderen Richtung schwarze Dreiecksflossen auf – weitere Haie, die sich auf ihren toten Artgenossen stürzten. Das Meer wurde zum brodelnden Hexenkessel. Wütend balgten sich die Bestien um die Beute. Es würde eine Weile dauern, bis sie den Kadaver mit ihren nadelscharfen Zähnen zerrissen und verschlungen hatten. Zeit genug für die Seewölfe, die „Isabella“ zu erreichen, wo das zweite Boot schon wieder hochgehievt wurde. Sie hatten Glück gehabt, eine Menge Glück. Aber der Schrecken saß ihnen noch in den Knochen. * Das Flaggschiff der Tiger-Flotte lief mit raumem Wind Nordwestkurs. In einer Kammer im Achterkastell schliefen Yabu und Yessa unter der Wirkung der berauschenden Droge einen unnatürlichen, bleischweren Schlaf. Die überlebenden Sklaven waren in der Vorpiek zusammengepfercht, einem finsteren Loch, dem Vorhof zur Hölle. Shaiba, der Malaie, hielt die Augen geschlossen und lauschte auf das Klatschen der Brecher gegen die Bordwand. Er hatte keine Hoffnung mehr. Aber noch wollte er am Leben bleiben. Am Leben bleiben, um auf seine Stunde zu warten, um auf die eine winzige Chance zu lauern, die es ihm vielleicht erlauben würde, nahe genug an
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Abu Bashri heranzukommen, um ihn zu erwürgen. Der fette Mogul thronte unter dem farbenprächtigen Baldachin auf dem Achterkastell. Seine Augen funkelten zufrieden. Der wichtigste Teil seiner Rache war erfüllt. Er hatte die Kinder, und Erland Surraj würde elend krepieren. Jetzt noch die „Isabella“! Diese arroganten Engländer, die es gewagt hatten, ihm zu trotzen und seine Schiffe zu bedrohen, statt vor ihm zu kuschen und sich so bescheiden und demütig zu benehmen, wie es ihnen zustand. Abu Bashri nahm an, daß die englische Galeone inzwischen längst auf dem Meeresgrund lag und die Haie sich um die Überreste der Crew balgten. Aber er hielt es auch für möglich, daß seine Schiffe eine gewisse Zeit gebraucht hatten, um diesen schnellen, scharfen Segler einzuholen. Abu Bashri hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, daß er vielleicht noch rechtzeitig erscheinen würde, um zuzusehen, wie die „Isabella“ in Fetzen geschossen wurde. Spannung beherrschte die Haltung seines plumpen, verfetteten Körpers. Immer wieder griff er in die goldene Schale, die einer seiner Leibsklaven ihm hinhielt, stopfte sich kandierte Früchte in den Mund, kaute und mampfte. Sein Vertrauter Bej Kinoshan stand an der Schmuckbalustrade und spähte nach vorn und nahm ab und zu das Spektiv an die Augen. Er fuhr leicht zusammen, als der Ausguck im Großmars Mastspitzen über der Kimm meldete. Die Mastspitzen von zwei, nicht von fünf Schiffen. Abu Bashri zuckte mit den feisten Schultern. Der Rest der Flotte mochte etwas zurückhängen und hatte vielleicht sogar den einen oder anderen Schaden davongetragen. Aber nach zehn Minuten war immer noch nicht mehr zu sehen als eine Galeone und die Karavelle, und der dicke Mogul runzelte beunruhigt die Stirn.
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Bej Kinoshan enterte ein Stück in die Besanwanten, um besser sehen zu können. Trotz des Spektivs erspähte er jedoch nichts anderes als das, was der Ausguck gemeldet hatte: zwei Schiffe. Die Karavelle und eine der Galeonen – deutlich zu erkennen wegen der prächtigen Tigerköpfe auf den Segeln. Sie rückten rasch näher und segelten mit vollem Preß. Obwohl sie unbeschädigt wirkten, wurde Bej Kinoshan den Eindruck nicht los, daß sie vor etwas flüchteten, wie von tausend Teufeln gehetzt. Konnte es sein, daß sie allein übrig geblieben waren? Nein, dachte Bej Kinoshan. Unmöglich! Aber das Bild vor seinen Augen änderte sich nicht, und er hatte das Gefühl, als balle sich in seinem Magen allmählich ein harter, schmerzhafter Klumpen zusammen. * Immer noch flitzten die unheilvollen schwarzen Dreiecksflossen über das Wasser, als das Beiboot der „Isabella“ an der Jakobsleiter längsseits schor. Der Verletzte war bewußtlos, rührte sich nicht mehr und schien auch nicht mehr zu atmen. Edwin Carberry, dieser Hüne von einem Kerl, zögerte nicht lange, sondern hievte den Mann kurzerhand hoch und klemmte ihn sich einfach unter den Arm, während er an den hölzernen Sprossen aufenterte. Big Old Shane und der Seewolf nahmen ihn am Schanzkleid wahr. Vorsichtig wurde der Bursche auf die Planken der Kuhl gebettet. Sein Gesicht unter dem verrutschten Turban war fahlweiß, in seiner Brust klaffte eine Wunde, aus der unaufhörlich Blut sickerte. Er war halb ertrunken und hatte eine Menge Meerwasser geschluckt. Für die Verletzung wäre es wahrscheinlich besser gewesen, ihn nicht zu bewegen, doch dann hätte er überhaupt keine Überlebenschance gehabt. Hasard wechselte nur einen kurzen Blick mit dem Kutscher.
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Der zuckte hilflos mit den Schultern. Der Seewolf zog die Unterlippe zwischen die Zähne, beugte sich vor und drehte den Bewußtlosen behutsam auf den Bauch. Wesentlich weniger behutsam, weil es nicht anders ging, preßte er ihm die Handballen auf den Rücken, drückte zu, pumpte rhythmisch — und nach drei, vier von diesen Bewegungen regte sich der Mann, zuckte mit den Armen und begann, krampfhaft zu husten und zu würgen. Ein Schwall Wasser brach aus seiner Kehle. Der Kutscher hatte ihm inzwischen das Hemd über der Brust aufgeschnitten, zupfte den nassen, durchgebluteten Stoff auseinander und sah nach der Wunde. Eine tiefe Fleischwunde, die vermutlich bei der Explosion der brennenden Galeonen von einem herumfliegenden Trümmerstück gerissen worden war. Sie würde heilen, wenn es gelang, die Blutung zu stillen, doch sie war nicht die einzige Verletzung, die der Mann davongetragen hatte. Dumpf stöhnte er auf, als die Finger des Feldschers vorsichtig seine Rippengegend abtasteten. Der Kutscher hob ratlos den Kopf und biß sich auf die Lippen. „Gebrochen“, murmelte er. „Und ich glaube, da sind auch noch Organe verletzt. Er verblutet innerlich, fürchte ich.“ Hasard nickte nur. Auch er und die anderen konnten mit einem einzigen Blick sehen, daß der Verletzte nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Das eingesunkene Gesicht verriet es, die fahle Blässe der Haut, die flache, unregelmäßige Atmung. Seine Lider öffneten sich, aber seine Augen wirkten glanzlos und abwesend und gingen durch alles hindurch. Unruhig zuckten die Lippen und formten ein paar Worte in einer fremden Sprache. Hasard warf den Zwillingen einen Blick zu. Blaß und erschrocken standen die beiden da und hielten sich an den Händen. Auf die unausgesprochene Frage schüttelten sie die Köpfe. Nein, auch sie verstanden diese Sprache nicht, es war kein Türkisch.
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„Können Sie mich hören?“ versuchte es der Seewolf auf Spanisch. Ein schneller, erschrockener Atemzug. Die Hände des Mannes bewegten sich, tasteten haltsuchend umher. Für ein paar Sekunden schien sich der Blick der dunklen, wie erloschen wirkenden Augen noch einmal ein wenig zu klären. Mühsam formten seine Lippen ein paar spanische Worte. „Gracia ...“, flüsterte er. „Gnade ... No matar! Gracia, por favor ...“ „Tranquilo ...“ Der Seewolf versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. Hatte der Verletzte ihn überhaupt als den Kapitän der Galeone erkannt, bei der sie sich eine so bittere Niederlage geholt hatten? Fast zweifelte Hasard daran, doch die nächsten Worte bewiesen das Gegenteil. „Nicht — meine Schuld“, flüsterte der Sterbende. „Gezwungen worden — Abu Bashri — Teufel ...“ „Was hat er vor?“ fragte Hasard eindringlich. Es widerstrebte ihm, den Schwerverletzten zu bedrängen, doch die Sorge um Erland Surraj ließ ihm keine Wahl. „Was plant Abu Bashri? Warum hat er sich nicht an dem Gefecht beteiligt?“ Der Sterbende stöhnte. Sekundenlang sah es so aus, als sei es vorbei und er werde die Antwort mit auf die lange Reise nehmen. Doch dann bewegte er noch einmal mit äußerster Mühe die Lippen. „Surraj - Abu Bashri weiß, wo er ist - die Bucht - ein Landkommando - sie werden gefangen genommen, alle…“ Die Stimme versiegte. Noch einmal lief ein Zucken durch den Körper des Verletzten, dann lag er still. Tief auf dem Grund seiner Pupillen schien etwas wie Glas zu zerbrechen. Hasard richtete sich langsam auf und führ sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ein Landkommando, klang es in ihm nach. Abu Bashri wußte, daß sich Erland Surraj wieder in der Bucht befand. Einem starken Landkommando konnte es nicht schwer gefallen sein, den Eurasier und seine Freunde zu überrumpeln. Das hieß
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wahrscheinlich, daß sie sich inzwischen als Gefangene auf dem Viermaster des Moguls befanden. Hasard atmete tief durch. Für ihn stand fest, daß sie Erland Surraj auf keinen Fall in den Fängen des widerlichen Moguls lassen würden, und die Gesichter seiner Männer verrieten, daß sie genauso dachten. „Klar zum Wenden“, befahl der Seewolf knapp. „Wir werden auf Gegenkurs gehen und zurücksegeln.“ 8. Abu Bashri hustete, würgte, rang keuchend nach Luft und lief puterrot an, weil er sich an einer kandierten Dattel verschluckt hatte. Der Schock war dafür verantwortlich. Ein Schock, der ihn völlig unvorbereitet getroffen hatte, als die Karavelle auf Rufweite herangedreht war. Nur wenige knappe Worte waren es gewesen, die herüberklangen, aber dem dicken Mogul schienen sie wie die Trompeten von Jericho in den Ohren zu dröhnen. „Bej Kinoshan“, brachte er heraus. Der kleine Mann mit der Habichtsnase verstand die Aufforderung und hastete zum Steuerbordschanzkleid, um sich einen genauen Bericht geben zu lassen. Als er zurückkehrte, war er grünlich um die Nasenspitze. Kein Wunder, denn die Informationen, die er an seinen Herrn und Meister weitergab, wirkten wahrhaft niederschmetternd. Drei Schiffe versenkt! Zwei davon mit einer unheimlichen Waffe, einem unlöschbaren Feuer, das wie Schwarze Magie anmutete und nach einhelliger Meinung aller Augenzeugen nur aus der Hölle stammen konnte. Und die „Isabella“, dieses leibhaftige Geisterschiff, das ganz bestimmt von einem schwarzen Dämon geführt wurde diese „Isabella“ hatte nicht einmal einen Kratzer davongetragen. Abu Bashri begriff es nicht. Er konnte, er wollte es nicht glauben. Und dann, als er allmählich einsah, daß er es
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glauben mußte, da schien etwas Kaltes nach ihm zu greifen wie ein tödlicher Eishauch. Angst packte ihn. Ein kaltes, gestaltloses Grauen, die jähe Gewißheit, daß auch ihn das Verhängnis treffen, daß es ihn einholen und vernichten würde. Er kämpfte dagegen an. Unsinn! Unsinn! wiederholte er immer wieder in Gedanken. Die Kerle, die von unlöschbarem Höllenfeuer faselten, wollten damit nur ihr eigenes jämmerliches Versagen entschuldigen, sich reinwaschen und... Das war es! Das Geschwätz und Gewinsel von feigen, nichtswürdigen Narren, die es nicht fertig gebracht hatten, mit einer haushohen Übermacht eine einzige lächerliche Galeone zu versenken. „Bej Kinoshan!“ zischte er. „Wir gehen auf Westkurs. Erkläre diesen feigen, jämmerlichen Hunden, daß wir die englische Galeone verfolgen und versenken und daß ich jeden eigenhändig den Haien zum Fraß vorwerfe, der auch nur versucht, sich meinem Befehl zu widersetzen.“ Bej Kinoshan beeilte sich, der Anweisung zu gehorchen. Ein paar Minuten später segelten die drei restlichen Schiffe der Tiger-Flotte wieder mit halbem Wind nach Westen. Der fette Mogul thronte reglos unter dem Baldachin. Sein Kiefer mahlte, obwohl er diesmal sogar die kandierten Früchte vergessen hatte. Tief in ihm nagte immer noch die kalte, unerklärliche Angst, die er sich nicht eingestehen wollte. * „Mastspitzen genau voraus!“ Bills Stimme schallte aus dem Großmars. Der Seewolf runzelte die Stirn. Er hatte nicht so schnell mit dieser Begegnung gerechnet und im Gegenteil geglaubt, daß sie die Überreste der Tiger-Flotte erst nach einer längeren Verfolgungsjagd erwischen würden. Dann erinnerte er sich daran, wie
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maßlos ihm Größenwahn und Selbstherrlichkeit des fetten Moguls bei der ersten Begegnung erschienen waren. Dieser Kerl vergaß. nichts und kannte offenbar keine Vernunft, die seinen Haß im Zaum gehalten und ihm zur Vorsicht geraten hätte. Wahrscheinlich war es ihm inzwischen gelungen, Erland Surraj, die Kinder und die ehemaligen Sklaven gefangen zu nehmen - und jetzt wollte er auch noch seine Rache an der „Isabella“. Die Berichte seiner Leute über das chinesische Feuer schienen ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Oder aber er glaubte sie nicht. Gut möglich, denn er war der Typ, dem die Wahrheit nicht in den Kopf ging, wenn sie ihm nicht in den Kram paßte. Jedenfalls segelten die drei Tiger-Schiffe unter Vollzeug ihren Widersachern entgegen, wurden rasch größer und ließen sich bereits deutlich erkennen. Auf der „Isabella“ bestand immer noch volle Gefechtsbereitschaft. Die Männer hatten den Toten der See übergeben, jetzt verharrten sie mit grimmigen Gesichtern auf ihren Stationen. Vor den drei schwimmenden Palästen, die da heranrauschten, fürchteten sie sich nicht - no, Sir. Das Maß war voll. Diesem verdammten Mogul wollten sie jetzt endgültig zeigen, woher der Wind wehte. Auch Hasard hätte den Kampf gegen den schäbigen Rest der Tiger-Flotte ohne weiteres aufgenommen. Dieses Piratengesindel da drüben hatte nicht mehr das Kaliber, es ernsthaft mit der „Isabella“ aufzunehmen, Übermacht hin oder her. Aber es gab einen anderen Punkt, der dem Seewolf Sorgen bereitete. Ben Brighton, der neben ihm an der Schmuckbalustrade stand, hegte offenbar ganz ähnliche Gedanken. „Ziemlich heikel, die Sache“, meinte der Bootsmann und Erste Offizier nachdenklich. „Dieser Fettwanst dürfte inzwischen Surraj, die Kinder und die Sklaven an Bord haben, oder?“ „Wahrscheinlich.“ Hasard runzelte die Stirn. „Und wie ich den Kerl einschätze, dürften sich zumindest Surraj und seine
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Freunde in einem Zustand befinden, in dem sie sich nicht mehr selbst helfen können. Das heißt also, daß es äußerst riskant wäre, den Viermaster in Brand zu schießen oder zu Treibholz zu verarbeiten.“ Ben Brighton rieb sich das Kinn. Seine stets ruhige, bedächtige Art wirkte manchmal fast aufreizend, vor allem in kritischen Situationen. „Siehst du irgendeine Möglichkeit, dem Burschen die Pistole auf die Brust zu setzen?“ fragte er. „Besser eine Drehbasse vor den Bauch“, sagte Hasard gallig. Dann wurde er ernst, weil auch er wußte, daß Bens Frage auf den einzigen gangbaren Weg hinauslief. „Du hast recht. Aber bei diesem größenwahnsinnigen Narren heißt das, daß wir zu verdammt harten Mitteln greifen müssen. Der gelangt erst zur Einsicht, wenn wir ihm eine Demonstration liefern, die ihm durch Mark und Bein und sämtliche Abgründe seiner schwarzen Seele geht.“ Der Bootsmann nickte gelassen. „Also ein Brandsatz auf eins der Schiffe“, zog er das Fazit. „Am besten auf die Karavelle, weil wir die aus der Luvposition angehen können.“ „Richtig. Wenn das noch nicht reicht, setzen wir dem Viermaster je einen Feuerwerkskörper vor Bug und Heck. Dazu brauchen wir nicht unsere kostbaren Brandsätze zu verschwenden.“ Genauso geschah es. Die „Isabella“ luvte an und ging hart an den Wind. Ihre Gegner taten das ebenfalls, doch auch diesmal erwies sich, daß die ranke Galeone mit den überlangen Masten wesentlich schneller und wendiger war und sich nicht ausmanövrieren ließ. Dann, als die Entfernung noch viel zu groß für eine Breitseite war, löste sich eine fauchende, funkensprühende Rakete von der Kuhl der „Isabella“, zog zischend ihre Bahn durch die Luft und traf mit tödlicher Präzision die Karavelle. Das Ergebnis war verheerend. Die Männer, die die Wirkung dieser Brandsätze schon kannten, hätten
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eigentlich sofort mit fliegenden Fahnen von Bord gehen müssen. Aber entweder wagten sie das unter Abu Bashris Augen nicht, oder das, was sie beim Untergang der beiden brennenden Galeonen gesehen hatten, war ihnen so unfaßbar erschienen, daß sie es immer noch nicht glauben konnten. Jedenfalls versuchten sie verzweifelt, das Feuer zu löschen, und taten alles, was in ihrer Macht stand – mit dem Ergebnis, daß sich der Brand in Windeseile über das gesamte Schiff ausbreitete. Erst als die beiden anderen Segler abfielen, um sich in Sicherheit zu bringen, gingen die Männer der Karavelle in fiebernder Hast in die Boote. Sie schafften es. Alle, wie der Seewolf feststellte. Zwar kenterte jedes einzelne Boot, als die Pulvervorräte des brennenden Schiffs in die Luft flogen, aber es gab keine Toten. Die moralische Wirkung allerdings fiel genauso aus, wie sie berechnet war. Abu Bashris Viermaster und die dreimastige Galeone legten sich platt vor den Wind und jagten nordwärts, als wollten sie einen mächtigen Krater in die Küste bohren. Hasard kümmerte sich zunächst nicht darum. Er brachte es nicht über sich, die Crew der Karavelle ihrem Schicksal zu überlassen — zumal die entnervten Männer, soweit sie ihre Boote wieder aufrichten konnten, wie vom Leibhaftigen gejagt davonpullten, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Auf der „Isabella“ wurde die große Pinasse abgefiert, an der sich auch ein Menschenhai die Zähne ausbeißen würde. Fünf verängstigte Turbanträger fischten die Seewölfe aus dem Wasser. Die beiden Schiffe einzuholen erwies sich für die ranke, schnelle „Isabella“ als Kleinigkeit. Zwei chinesische Feuerwerksraketen wurden auf die Reise geschickt. Die waren zwar völlig harmlos in der Wirkung, aber optisch unterschieden sie sich kaum von den mörderischen Brandsätzen. Eine Rakete zerplatzte über der Hecksee des Viermasters, die zweite landete vor seinem
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Bug. Abu Bashri konnte nichts anderes annehmen, als daß der nächste Treffer seinen schwimmenden Palast in . einen Feuerball verwandeln würde. Und damit fiel der Größenwahn des fetten Moguls wie eine platzende Seifenblase in sich zusammen. Er drehte bei und strich die Flagge. Die Dreimastgaleone folgte seinem Beispiel. Auch der Seewolf ließ backbrassen und stoppte die „Isabella“. Inzwischen wußte er bereits, daß einer der Gefangenen Türkisch sprach. Die Zwillinge spielten Dolmetscher und übersetzten die Bedingungen, die Hasard diktierte. Sie waren einfach genug: Er wollte Erland Surraj, die Kinder und die ehemaligen Sklaven. Er setzte auch gleich noch hinzu, daß der Mogul besser daran tue, sich schleunigst auf seine Insel zurückzuziehen, da in Zukunft auch dem Eurasier das unlöschbare Höllenfeuer zur Verfügung stehen würde. Der Mann, der Türkisch sprach, wurde grau im Gesicht. Er begann vor Schrecken zu schlottern, gestikulierte und stieß eine Flut von Beschwörungen und Beteuerungen hervor. Die Stimme des kleinen Philip bebte vor Zorn und Empörung, als er die Worte übersetzte. Erland Surraj befand sich nicht mehr an Bord des Viermasters. Er trieb in einer winzigen, lecken Nußschale irgendwo im Meer — und er hatte nicht die geringste Chance, lebend die Küste zu erreichen. Wenn sie ihn nicht fanden! Rechtzeitig fanden! Der Seewolf preßte die Lippen zusammen — entschlossen, alles zu versuchen. Die Männer von der Karavelle berichteten auch noch, daß nur acht von den entflohenen Sklaven den Kampf in der Bucht überlebt hätten. Minuten später pullten die Gefangenen in ihrem eigenen Boot zu dem beigedrehten Viermaster hinüber. Hasards Gesicht war steinern, als er ihnen nachsah. Er hatte gute Lust, den
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schwimmenden Palast zu entern und Abu Bashri seine Gemeinheiten persönlich heimzuzahlen. Doch das wäre in dieser Lage nur Zeitvergeudung gewesen. Wieder vergingen ein paar Minuten, dann erschienen Gestalten am Schanzkleid des Viermasters. Nacheinander enterten sie in das Boot, das an der Jakobsleiter vertäut war. Acht Männer, Erland Surrajs Gefährten. Und zum Schluß zwei kleine Gestalten, die sich eigentümlich langsam und schläfrig bewegten, obwohl sie unverletzt schienen: Yabu und Yessa. Das Boot hatte sich kaum von der Jakobsleiter gelöst, als die beiden schwimmenden Paläste auch schon Segel setzten und nach Norden abliefen, als säßen ihnen alle Geister der Hölle im Nacken. * Vor Erland Surrajs Augen tanzten feurige rote Schleier. Seine Arme schmerzten, sein Rücken, seine Muskeln - jede Stelle seines Körpers. Längst war ihm zumute, als schöpfe er flüssiges Blei aus dem Boot statt Wasser. Jede Bewegung wurde zur Qual. Er schwankte vor Erschöpfung und wußte, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er endgültig zusammenbrach. Längst hatte er aufgehört zu pullen. Seine einzige, verschwindend geringe Chance bestand darin, unermüdlich gegen das eindringende Wasser zu kämpfen und zu hoffen, daß ihn Wind und Strömung auf die Küste zudrücken würden. Das ging langsam, unendlich langsam. Zuerst, als er sah, daß er es mit großer Anstrengung so gerade eben schaffen konnte, das Boot vor dem Sinken zu bewahren, hatte er für eine Weile tatsächlich Hoffnung gefaßt. Aber dann wurde ihm immer klarer, daß es eine trügerische Hoffnung war, aus der Verzweiflung geboren. Jetzt war- er am Ende. Das Wasser im Boot stieg unaufhaltsam, und nur blinder, kreatürlicher Lebenswille trieb den
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Eurasier dazu, sich überhaupt noch zu bewegen. Blutrote Schleier schienen ihn einzuhüllen. Er sah die Umgebung nur noch verschwommen. Dann, als vor ihm plötzlich ein dunkler Punkt erschien und zu einem Schemen wurde, der die Umrisse eines Schiffes annahm, glaubte er zu träumen. Eine Halluzination! Ein Wunschbild, das ihm sein gemartertes Hirn vorgaukelte. Es konnte nicht die „Isabella“ sein. Und es war nicht möglich, daß Yabu und Yessa am Schanzkleid standen, Shaiba, Marrad und all die anderen... Erland Surrajs Gedanken verwirrten sich. Die Segeltuchpütz entglitt seinen zitternden Fingern, mit einem erstickten Laut brach er nach vorn über der Ducht zusammen. Daß ihn wenig später kräftige Fäuste aus dem absaufenden Boot in die Sicherheit der Pinasse zerrten, nahm er nicht mehr bewußt wahr. *
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Die „Isabella“ ankerte schon wieder in der Bucht mit den Pfahlhütten, als Erland Surraj zum erstenmal mit klarem Kopf aus seinen Fieberphantasien erwachte. Yabu und Yessa saßen an seiner Koje. Der Kutscher rief Shaiba herbei, der sich wie die anderen ehemaligen Sklaven fast schon wieder erholt hatte. Erland Surraj war ein harter Mann, aber er schämte sich der Tränen nicht, die jetzt in seinen Augen standen. In seiner Erinnerung klafften ein paar Lücken. Wie seine Rettung - und die der anderen erfolgt war, mußte ihm der Seewolf erst erklären. Und Surraj brauchte lange, um wirklich zu glauben, daß von Abu Bashris stolzer Tiger-Flotte nur noch zwei Schiffe übrig geblieben waren. Zwei Schiffe, die es garantiert nicht wagen würden, noch einmal anzugreifen. Denn als die „Isabella“ später ankerauf ging, blieben in der Bucht ein Bronzegestell und ein kleiner Vorrat von Brandsätzen zurück. Erland Surraj und die Seinen würden in Zukunft in der Lage sein, sich gegen jeden Angreifer zu verteidigen…
ENDE