John Grey
Verbrannte Erde Ronco Band Nr. 110/03
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 sti...
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John Grey
Verbrannte Erde Ronco Band Nr. 110/03
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Elternlos, elf Jahre alt, aufgenommen bei den Padres, bis ein blutiger Indianerkrieg ausbricht und seine Welt verändert. Clay Wilkins – Freund und Spielgefährte Roncos, mimt gern den Stärkeren und steckt dennoch voller Angst, als die Apachen angreifen. Pater Ambrosius – Hat Ronco in sein Herz geschlossen und sorgt für seine Erziehung. Major Bullard – Führt einen verzweifelten Abwehrkampf gegen die Apachen. Frederik LeRouche – Armeescout und Indianerkämpfer. Ronco hat Angst vor ihm – zu Recht.
Verbrannte Erde 25. September 1878 Ich verstecke mich auf dem Dachboden der Braddock-Ranch, zehn Meilen westlich von Cow Spring. Gerade sind die Soldaten weggeritten, die hinter mir her waren. Sie haben mich bis hierher verfolgt. Wieder einmal. Ich habe Glück gehabt. Draußen ist es dunkel und still. Der Rancher war vor ein paar Minuten hier und hat mir gesagt, daß ich die nächsten Tage hier oben bleiben soll. Das sei sicherer. Er hat recht. Er ist ein guter Mann. Ich bin nicht allein. Gott sei Dank. Lobo ist bei mir. Er liegt lang ausgestreckt auf einer Bettstelle unter der Dachschräge. Die Dachkammer, in der wir uns befinden, wird von außen durch eine Tapetentür dekoriert. Lobo schläft. Ich kann nicht schlafen. Darum habe ich das Schulheft wieder hervorgeholt. Es ist ein neues. Das erste ist schon voll. Ich habe die Petroleumlampe, die an der Decke hängt, heruntergenommen und neben mich auf den Tisch gestellt. So habe ich Licht zum Schreiben, und Lobo wird durch die Lampe nicht geweckt. Ich will meine Geschichte da weiterführen, wo ich vor etwa einem Monat mit dem Schreiben aufgehört habe. Ich habe bis jetzt vielleicht vieles aufgeschrieben, was für andere nicht interessant sein mag. Für mich aber ist jede Einzelheit wichtig, jede Kleinigkeit. Ich will diese Arbeit gut ausführen. Ich will nichts vergessen. Ich habe bis jetzt den Teil meiner Kindheit aufgeschrieben, der zwar abenteuerlich, aber für das Land, in dem ich aufgewachsen bin, und für die Zeit, nicht ungewöhnlich war. Wenn ich. nun weiterschreibe, werde ich zwangsläufig zu den Dingen kommen, die mein Leben damals völlig veränderten. Aber ich will der Reihe nach erzählen, um nichts auszulassen. Es war im Jahre 1857.
1.
Ich starrte auf den wackligen, zweirädrigen Handkarren, den Padre Hieronymus zog. Er war mit blauschwarzen Schlehen beladen, aus deren Saft in der Mission Medizin gebraut werden sollte. Ich trottete hinterher. Ich hatte den ganzen Nachmittag zusammen mit Padre Hieronymus Schlehen gepflückt, bis der Karren vollgewesen war. Eine stumpfsinnige Arbeit, wie mir schien. Es ging auf den Abend zu. Ich war müde. Ich hatte mir diesen Tag anders vorgestellt. Es war ein schöner Tag gewesen. Zum erstenmal in diesem Jahre hatte die Sonne richtig geschienen. Jetzt ging sie im Westen unter. Eine riesige, rote Kugel. Der Himmel hatte die Farbe einer kupfernen Kuppel. Es war der 3. Mai des Jahres 1857. Es war der Tag, an dem Padre Hieronymus starb. Er zog den Karren mit den Schlehen. Es strengte ihn an. Er hatte den mageren Oberkörper, um den das braune Mönchsgewand schlotterte, weit vorgebeugt und ging mit schleppenden Schritten. Er atmete abgehackt. Der Karren war sehr schwer. Wir hatten mehr Schlehen gefunden, als erwartet. Padre Ambrosius wollte daraus einen Schnaps brauen, der gut für den Magen sein sollte. Ich dachte nur an eines: Bald würden wir zu Hause sein. Bald würde Padre Hieronymus sterben. Ersaufen wie eine junge Katze. Ich hatte einmal dabei zugesehen, wie Jerry Ricks einen Wurf junger Katzen ersäufte. Die große graue Katze auf der Ricks-Farm brachte die Jungen in einem Winkel der Scheune zur Welt. Jerry nahm ihr die Jungen weg und warf sie in einen mit Wasser gefüllten Eimer. Ich stand dabei. Ich sah nur, wie die erste krepierte, wie dieses unförmige, kleine Knäuel von undefinierbarer Farbe die kleinen Pfoten bewegte und verzweifelt zu schwimmen versuchte, um sich zu retten. Jerry stieß es unter Wasser, bis es sich nicht mehr rührte. Da drehte ich mich um und lief davon. Das war zwei Jahre her. Als Padre Hieronymus starb, war ich auch dabei. Aber ich lief nicht davon. Wir wanderten auf den Fluß zu. Wir sprachen nicht. Padre Hieronymus hätte gar nicht die Kraft zum Sprechen gehabt. Das
Ziehen des Karrens nahm ihn zu sehr in Anspruch. So war das dünne Quietschen der Karrenräder auf den rostigen Zapfen der Achse das einzige Geräusch, das uns stetig begleitete. Der Abendhimmel spiegelte sich im Fluß. Der Pease River war etwas breiter als gewöhnlich. Die Wellen schwappten über die Uferböschungen. Die Schmelzwasser aus den Bergen, die im Frühjahr zu Tal geflutet waren, brachten das Flußbett noch immer zum Überlaufen. Rechts und links vom Strom stand das Gras auf den Weiden schon wieder hoch. Die Blüten der zahllosen Sträucher an den Ufern leuchteten in allen Farben – Salbei, Mesquite, Creosot und viele andere. Die schmale Brücke tauchte vor uns auf. Jetzt war es nicht mehr weit zur Mission. Eine Meile nur. Ich verspürte plötzlich Hunger. Vielleicht hatte Padre Elfego Apfelkuchen gebacken. Die Karrenräder rumpelten über die ausgetretenen Bohlen der Brücke, die sich im Laufe der Jahre an den Rändern hochgebogen hatten. Sie knarrten, und die Stützbalken ächzten unter unseren Schritten. Die Brücke mußte erneuert werden. Die Farmer hatten es auf einer Versammlung in der Scheune der Longley-Farm im Frühjahr besprochen. Dann war es vergessen worden. Inzwischen hatte eine weitere Überschwemmung das Land heimgesucht, und die Brücke stand noch immer. Aber niemand kümmerte sich um sie. Unter den von Wasser und Sonne ausgelaugten Planken gurgelte der Strom. Ich dachte, daß es vielleicht gut wäre, über das Geländer ins Wasser zu spucken und mir dabei etwas zu wünschen. Wenn man von der kleinen Brücke ins Wasser spuckte und sich etwas wünschte, ging es in Erfüllung. Das wußten wir im Pease River Valley alle. Einmal hatte Jay Kingsley dem alten Bender, der ihn beim Äpfelklauen erwischt hatte, die Pest an den Hals gewünscht. Am nächsten Tag war eine Kuh auf der Bender-Farm krepiert, und in derselben Woche hatte sich Sam Bender den rechten Fuß gebrochen. Ich überlegte, was ich mir wünschen sollte. Da blieb Padre Hieronymus stehen. Ich nahm an, daß er Atem schöpfen wollte. Aber er drehte sich zur Seite, daß ich sein Gesicht sehen konnte. Er preßte beide Fäuste an
die Brust und beugte sich ein Stück vor. Sein Gesicht verzerrte sich und färbte sich dunkel. Seine Lippen zitterten und hatten auf einmal einen bläulichen Schimmer. Seine Augen glänzten fiebrig. Da wußte ich Bescheid. Wir standen mitten auf der Brücke, und Padre Hieronymus erlitt einen seiner Hustenanfälle. Er kriegte diese Anfälle zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten. Immer aber, wenn er sich überanstrengte. Ich hatte es schon oft erlebt. Es war eine böse Sache. Ich hatte auf einmal ein flaues Gefühl im Magen. Ich fühlte mich verdammt hilflos. Ich stand da, mager, schmalschultrig, die Hände tief in den Taschen meiner geflickten Hose, einen Schritt hinter dem Karren mit den Schlehen, den Padre Hieronymus losgelassen hatte. Er war nach vorn gekippt. Das Deichselende lag auf den Brückenbohlen. Ein paar Schlehen waren aus dem Wagen gefallen. Ich sah, wie der Padre litt. Ganz langsam krümmte er sich zusammen. Ohne einen Laut von sich zu geben. Er schwankte plötzlich. Sein magerer Körper wurde wie von einer unsichtbaren Faust geschüttelt. Dann stieg der Husten aus seiner Kehle auf. Quälend, gepreßt, rasselnd. Der Padre wand sich in Krämpfen. Er hustete ohne Unterlaß. Er konnte nicht einmal Luft holen. Ich dachte, sein Kopf würde platzen. Sein Husten klang unnatürlich laut in der Stille des Abends und seltsam dumpf und hohl. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Schmerz preßte ihn zusammen wie einen leeren Kartoffelsack. Auf einmal sah ich Blut auf seinen Lippen. Es waren erst nur ein paar Flecke, dann rann ein dünner roter Faden zum linken Kinnwinkel hinunter. Mit den Ärmeln seines braunen Gewandes wischte er es ab. Und plötzlich war der Anfall vorbei. Schweiß rann in dichten Bahnen über das eingefallene Gesicht von Padre Hieronymus. Er war bleich und rang nach Luft. Er zitterte am ganzen Körper. Langsam nur bekamen seine Wangen wieder etwas Farbe. Ich stand noch immer still dabei. Das Entsetzen steckte mir in den Knochen. Ich sah, wie Padre Hieronymus sich langsam nach vorn beugte und sich schwer auf das Brückengeländer stützte. Keuchend
lehnte er sich an die wetterzerfressenen Balken. Es knackte. Eisig durchfuhr mich der Schreck. »Padre Hieronymus!« rief ich. Da brach das Geländer. Einfach so. Der Padre verlor das Gleichgewicht. Er war zu schwach, um sich halten zu können. Er ruderte mit den Armen durch die Luft. Ich sprang an dem Karren vorbei, warf mich nach vorn und kriegte noch einen Zipfel des braunen Gewandes zu fassen. Aber ich war nicht stark genug. Ich konnte ihn nicht halten. Ich schrie auf. Tränen traten in meine Augen, als Padre Hieronymus kopfüber in den reißenden Fluß stürzte. Er ging unter. Auf der Stelle. Er tauchte wieder auf. Sein Gesicht war schrecklich verzerrt. Er hatte Angst. Angst … Ich hatte auch Angst. Wahnsinnige Angst. Er wollte rufen. Wasser drang in seinen Mund. Eine Welle schwappte über seinen Kopf und riß die kleine braune Kappe fort, die die Mönche zu tragen pflegten. Ich wußte, daß er nicht schwimmen konnte. Aber er ruderte wie verrückt mit beiden Armen. Er wurde von der starken Strömung gepackt. Sie hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen einen der Brückenpfeiler. Er prallte mit der rechten Seite dagegen. Es krachte. Ich hörte es ganz deutlich. Ich hielt mir die Ohren zu. Ich beugte mich vor und sah, daß sein Kopf an der rechten Seite aufgeschlagen war und blutete. Er versuchte sich an dem schenkelstarken Holzpfeiler festzuklammern. Er schrie nicht. Er unternahm auch gar nicht den Versuch, zu rufen. Er kämpfte verbissen. Ich warf mich flach auf die Brückenbohlen und reckte meine Arme aus. Ich war wie von Sinnen. Wellen, die gegen die Brückenpfeiler klatschten, spritzten mir ins Gesicht. Ich merkte es nicht. Ich glaube, Padre Hieronymus versuchte, meine Arme zu greifen. Aber er schaffte es nicht. Statt dessen riß der Strom ihn plötzlich los und schwemmte ihn fort.
Er sackte nach unten weg, tauchte aber wieder auf. Er wollte nicht sterben. Ich sah, wie er verzweifelt um sein Leben rang. Er verschwand unter der Brücke und tauchte auf der anderen Seite wieder auf, wo er weiter flußabwärts mitgerissen wurde. Ich sprang auf, lief über die Brücke und rannte neben dem Padre am Ufer her. Er versuchte noch immer, mit den Armen irgendwie zu paddeln und dabei ans Ufer zu gelangen. Aber der Fluß war tief an dieser Stelle, die Ufer steil und die Strömung stark. Seine Bewegungen wurden schwächer. Er tauchte immer öfter unter und immer seltener auf. Er trieb schnell ab. Ich weinte jetzt und schrie seinen Namen. Schließlich drehte ich mich um und rannte zurück. Ich lief wie noch nie in meinem Leben und stolperte oft. Ich fiel hin und schlug mir das rechte Knie auf. Aber ich blieb nicht stehen. Ich lief. Atemlos. Die Mission tauchte vor mir auf. Lange Schatten reckten sich mir entgegen. Kein Mensch war auf dem Hof. Hinter den Fenstern brannten Lichter. Ich hetzte durch die Dämmerung, stürmte über den Hof und riß die Tür des Hauses auf, in dem Padre Emanuel sein Arbeitszimmer hatte. Er saß noch an seinem Schreibtisch und hob erstaunt den Kopf, als ich hereinpolterte. Ich brachte kein klares Wort heraus. Doch irgendwie mußte er mich verstanden haben. Er stand auf und lief an mir vorbei. Ich folgte ihm. Als ich auf den Hof stürzte, eilten Padre Frastus und Padre Tenebro zum Stall. Sie zogen einen Eselskarren heraus. Ich lief hinter ihnen her und wollte mitfahren. Sie wollten das nicht. Ich hörte, wie Padre Emanuel hinter mir rief. Und Padre Tenebro winkte heftig ab. Aber ich hielt nicht an. Da stoppten sie kurz, ließen mich aufsteigen und fuhren weiter. Wir rollten an der Brücke vorbei. Der Karren mit den Schlehen stand einsam in der Dämmerung. Wir fuhren dicht am Fluß entlang. Padre Hieronymus war nirgends zu sehen. Ich fühlte mich ganz elend und weinte die ganze Zeit still vor mich hin. Wir fuhren, so schnell wir konnten, und suchten das ganze Ufer
ab. Wir rollten an der ehemaligen Wilkins-Farm vorbei. Aber erst eine knappe Meile weiter fanden wir Padre Hieronymus. Es war am Wald, da, wo die Biber einen kleinen Damm gebaut hatten, an dem sich die wilde Strömung des Pease River brach. Das Wasser schimmerte rotgolden. Es hatte den Glanz des Sonnenuntergangs eingefangen und trug den Schleier der heraufziehenden Nacht bereits in sich. Hier lag Padre Hieronymus im Wasser. Bewegungslos. Mit dem Gesicht nach unten. Die Wellen bauschten sein braunes Gewand. Ich sprang vom Wagen und wollte hinlaufen. Padre Frastus stand plötzlich hinter mir, hielt mich fest und schrie mich an. Es war das erste Mal, daß er das tat. Erschrocken blieb ich stehen. Da gingen die Padres an mir vorbei. Sie wateten in den Fluß und zogen Padre Hieronymus aus dem Wasser. Er war tot. Sein Gesicht schimmerte bläulich und wirkte aufgedunsen. Er war ertrunken. Sie unternahmen trotzdem Wiederbelebungsversuche, umsonst natürlich. Warum handelt man in solch einer Situation so? So sinnlos. Ich wünschte jetzt, ich wäre nicht mitgefahren. Als sie Padre Hieronymus auf die Ladefläche des Wagens legten und sich um ihn herum auf dem Holz Pfützen bildeten, wandte ich mich ab. Es kostete mich Überwindung, wieder auf den Wagen zu steigen. Während der Rückfahrt blickte ich starr nach vorn. Padre Hieronymus war immer still und gut gewesen, bescheiden und erfüllt von einer echten Demut. Er hatte nie ein lautes Wort gesprochen. Er hatte nie geklagt, nie gejammert. Er hatte still gelitten. Er hatte sich an seinem Leben gefreut, trotz seiner schlimmen Krankheit, die ihn von Jahr zu Jahr mehr ausgezehrt hatte. Dabei war es ihm hundserbärmlich gegangen. Er hatte vor Schmerzen häufig nicht aufrecht gehen können. Ab und zu hatte ich ihn nachts husten gehört. Seine Kammer lag nicht weit von der meinen. Manchmal war ich aufgewacht, hatte gelauscht und gehört, wie er sich quälte. Aber er war damit stets allein fertig geworden. Er hatte
nie jemanden um Hilfe gerufen. Er hatte niemandem zur Last fallen wollen. Jetzt war er tot. Ersoffen wie eine junge Katze. Es war zum Heulen. Und ich heulte. Padre Frastus legte mir die Rechte auf die schmalen Schultern. Ich merkte es nicht. Wir erreichten die Mission. Es war schon dunkel. Die Mönche warteten auf uns. Sie hielten Fackeln und Petroleumlaternen in den Händen. Ich schaute nicht zu, wie Padre Hieronymus abgeladen und in der Kapelle aufgebahrt wurde. Ich lief in meine Kammer und warf mich aufs Bett. In der Kapelle wurde die Glocke geläutet. Ich kann meinen Gefühlszustand schlecht beschreiben. Ich fühlte mich innerlich zerrissen. Am nächsten Tag hatten wir ein neues Grab in der Mission. Es waren nun schon fünf. Sie lagen alle im Schatten des Turms der Kapelle. Ich haßte Gräber. Sie waren für mich Zeichen verlorener Hoffnung, Zeichen einer Endgültigkeit, der man hilfslos ausgeliefert war.
2. Ich ging nach der Beerdigung zur Danton-Farm. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Damit fing das Unheil an. Als ich auf den Hof lief, hörte ich die Stimme von Clay Wilkins, meinem Freund. Aus einer weit geöffneten Stalluke flogen in regelmäßigen Abständen Mistfladen. Ich sah immer nur kurz die Zinken einer Gabel auftauchen, die dann wieder im Innern verschwand. Von daher ertönte die Stimme. Clay sang »Streets of Laredo«. Nicht schön, aber laut. Ich ging zur Stalluke, blieb vor dem angehäuften Mist stehen und rief Clays Namen. Das Singen verstummte. Statt der Mistgabel erschien ein verschwitztes Gesicht. Eine unbezähmbare Haartolle hing in die pickelige Stirn. Clay Wilkins.
Er grinste breit, als er mich erkannte, und kroch durch die Luke nach draußen. »Was ist los?« fragte er. »Du siehst aus wie Maismehl mit Pisse.« Er stand vor mir. Sein Oberkörper war nackt. Er war nicht ganz so mager wie ich. Er war ein Jahr älter und bekam an Schultern und Armen kräftige Muskeln, auf die er sehr stolz war. Er zog sein viel zu weites Hemd über. »Padre Hieronymus ist tot«, sagte ich. »Oh.« Sein Grinsen verschwand. »Verteufelte Sache.« Er steckte die Hände in die Taschen seiner verwaschenen, zu kurzen Hose. »Wenn man es bedenkt – er war ja immer krank.« »Er ist ertrunken«, sagte ich. »Das verdammte Brückengeländer …« Seltsamerweise verstand er sofort. »Er ist durch das Geländer gebrochen?« Ich nickte. »Die verdammte Brücke sollte schon seit Monaten repariert werden«, sagte er. »Jetzt ist es auch egal«, sagte ich. »Jetzt ist Padre Hieronymus tot, und von einem neuen Geländer wird er auch nicht wieder lebendig.« Clay war klug genug, zu schweigen. Ich hätte schon wieder losheulen können. Wir schlenderten hinunter zu der großen, breiten Brücke über den Pease River, die Clays Vater noch gebaut hatte, kurz bevor er ermordet worden war. Ein Stück weiter westlich sahen wir Bob Danton bei der Arbeit. Er war Clays Schwager und hatte nach dem Tod von Clays Eltern die Farm übernommen. »Bob zieht Bewässerungsgräben«, sagte Clay. »Das Land ist fruchtbar«, sagte ich. »Wozu Bewässerungsgräben?« »Wir werden den besten und größten Mais der Gegend haben«, sagte Clay. »Bob wird ein paar Windräder aufstellen, die das Wasser in die Gräben pumpen.« Ich schluckte meinen Kummer hinunter. Die Sache interessierte mich. Bisher hatte es kein Farmer für notwendig gehalten, Bewässerungsgräben anzulegen und Windräder aufzustellen.
Bob Danton stand bis zu den Knien im kalten Wasser. Er hatte die Hosenbeine hochgekrempelt. Ich sah, daß seine Knie vor Kälte bläulich schimmerten. Er hielt einen breiten Spaten in den Fäusten und stach damit handbreite Schollen von den Rändern des Grabenansatzes. Der Graben hatte bereits eine Länge von knapp zehn Yards und war etwa zwei Fuß breit. Eine dünne Erdschicht trennte ihn noch vom Pease River. Aber die Wellen des Flusses schwappten immer wieder über den schwachen Damm und hatten den Graben mit einer schmutziggrauen Schlammbrühe gefüllt. »Padre Hieronymus ist tot«, sagte Clay. Ich schluckte. »Er ist ertrunken«, sagte Clay. »Er ist durch das Geländer der kleinen Brücke gebrochen.« Ich schluckte abermals, sagte aber nichts. Bob schaute mich an. Er hatte kein besonders intelligentes Gesicht. Er gehörte wohl auch nicht zu den Klügsten dieser Erde. Aber er schien zu ahnen, was ich empfand. Vielleicht sah er es mir auch an. Er stieg aus dem Graben, steckte den Spaten in den Boden und krempelte die Hosenbeine wieder hinunter. Dann schlüpfte er in die hochschäftigen Stiefel, die neben dem Graben standen. Er stopfte die Hosenbeine hinein. »Bist du mit dem Ausmisten fertig?« fragte er. »Fast.« Clay senkte den Kopf. »Du kannst später weitermachen. Ihr könnt mir helfen.« Bob ging mit keinem Wort auf die Todesnachricht ein. Aber als er an mir vorbeischritt, legte er seine schwielige Rechte auf meine Schulter. Ich verstand, was er damit ausdrücken wollte. Wir gingen hinter Bob her. Im Gras unterhalb des Hügels, auf dem die Farmgebäude standen, lagen die Stangen und Balken für zwei Turmgerüste, an denen sich bald die Windräder drehen sollten. Wir trugen die Einzelteile der Gerüste zum Graben hinüber. Bob hatte bereits abgesteckt, wo der erste Turm stehen sollte. Er hatte kleine Pflöcke so in den Boden gesteckt, daß sie ein Quadrat von zweieinhalb mal zweieinhalb Yards bildeten. Dünne Schnüre, die er von Pflock zu Pflock gespannt hatte, verdeutlichten das noch. Er hatte innerhalb dieses Quadrats die Grasschollen abgehoben. »Habt ihr eigentlich noch Schule?« fragte Bob.
»Morgen wieder«, sagte ich. Clay nickte lustlos. »Noch dreimal in der Woche, bis zum Ende dieses Monats. Im vorigen Jahr war um diese Zeit schon Schluß. Aber seit der Richter da ist …« Der Richter! Nachdem die Texas Ranger 1854 bei uns im Pease River Valley in dem prächtigen Herrenhaus des ehemaligen Colonels Stephens ein mexikanisches Spionagenest ausgehoben hatten, hatte sich viel verändert. Ein paar Monate später war ein würdiger, weißhaariger Mann gekommen. Er hatte das Haus von Colonel Stephens erworben, der – nachdem er zum Tode verurteilt und zu lebenslanger Haft begnadigt worden war – nun im Staatsgefängnis Fort Worth schmachtete. Er hieß Abraham Collins und war einst Richter in Houston gewesen. Jetzt lebte er im Ruhestand. Er hatte eine Frau, die in seinem Alter war. Sie trug stets riesige Hüte mit allerhand Federn und künstlichem Gemüse darauf. Sie war sehr zierlich und hatte das Gesicht einer freundlichen Spitzmaus. Richter Collins dagegen war ein Mann, der Autorität verbreitete. Er hatte sich sofort am öffentlichen Leben im Pease River Valley beteiligt und eine ungeheure Energie entwickelt. Einmal im Monat hielt er auf seinem Hof Gerichtstag ab, wenn es etwas zu verhandeln gab. Außerdem war er auf den löblichen Gedanken verfallen, sich um die Missionsschule zu bemühen. Er hatte die Padres davon überzeugt, daß nicht nur Lesen und Schreiben zum Leben gehörten. Ein ordentlicher Geschichtsunterricht, so meinte er, bilde erst den richtigen Menschen. Die Padres hatten sein Angebot angenommen. Seitdem versuchte Richter Collins einmal wöchentlich, uns zu richtigen Menschen zu erziehen. Er hatte auch dafür gesorgt, daß die Schulzeit nicht bereits im April, sondern erst Ende Mai unterbrochen wurde. »Der Richter ist ein kluger Mann«, sagte Bob. »Wenn er es so für richtig hält.« Ein Wagen näherte sich. Ein leichter Farmwagen mit kleiner Ladefläche. Pete Longley saß auf dem Bock, der älteste Sohn der Longley-Sippe. Der Wagen hielt unweit des Flußufers. Pete Longley blieb auf dem
Bock sitzen. Er beugte sich vor, nahm den Hut ab und kratzte sich auf dem Kopf. »Hallo«, sagte er. »Du kannst gleich absteigen und helfen«, sagte Bob. Pete Longley grinste. Er zog ein Ledersäckchen aus der Tasche, holte Tabak heraus und dünnes, weißes Papier und drehte sich eine Zigarette. »Ich fahre morgen nach Mulberry«, sagte er. »Soll ich dir was mitbringen?« »Bist du deshalb gekommen?« »Ja.« »Nett von dir.« Bob Danton trat an den Wagen, stützte die rechte Faust mit dem Peitschenhalter seitlich vom Bock und ließ sich von Pete Longley eine Zigarette geben. »Salz könnte ich brauchen«, sagte Bob. »Kaffee und Zucker auch und etwas Tabak.« »Ist das alles?« »Denke schon.« »Ich werd's besorgen.« Pete Longley schaute auf den Bewässerungsgraben. »Meinst du, daß sich das lohnt?« »Sicher.« »Der Boden ist gut«, sagte Pete Longley. »Er ist fett und fruchtbar. Du vergeudest Zeit. Die Felder müssen nicht extra bewässert werden.« »Wir werden sehen.« Pete Longley nahm die Zügel wieder hoch. Er schaute uns an. Clay und ich standen neben dem zerlegten Turmgerüst. »Ihr beiden solltet in nächster Zeit etwas aufpassen und nicht zu weit von den Häusern weggehen, wenn ihr allein seid«, sagte er. Wir schwiegen. Pete Longley nahm die Zigarette aus dem Mund. Er stülpte seinen Hut wieder auf. »Es sind wieder Indianer aufgetaucht«, sagte er. »Indianer?« sagte Clay. »Indianer gibt's doch gar nicht mehr.« »Seit hundert Jahren nicht mehr«, sagte ich. Pete grinste. »Seit hundert Jahren? Schön wär's.« Er wandte sich an Bob. »Weiter südlich sollen sie eine Farm angegriffen haben,
habe ich gehört. Es sieht nicht gut aus. Apachen.« Er nickte. »Im Norden sollen die Comanchen viel Unheil anrichten.« Er warf uns noch einen Blick zu. »Also gebt auf euch acht.« Dann schnalzte er mit der Zunge. Das Gespannpferd trabte an. Der Wagen rollte nach Osten davon und verschwand hinter dem Hügel, auf dem die Farm stand. Bob Danton rauchte seine Zigarette zu Ende. Danach kehrte er zu uns zurück, und wir arbeiteten weiter. »Indianer«, sagte Clay. »So ein Unsinn.« »Kein Unsinn«, sagte Bob. »Ihr geht nicht mehr allein in den Wald und auch sonst nirgendwohin. Verstanden?« Wir nickten. Bob Danton krempelte die Hosenbeine wieder auf, zog die Stiefel aus und stieg in den Graben. Wir holten eine Schiebkarre von der Farm und fuhren den Lehm ab, den er ausschachtete. Es war sehr heiß. Wir schwitzten bald. Aber die Arbeit bereitete Spaß. Damals konnte noch keiner von uns ahnen, daß bald Krieg im Land herrschen würde. Wir schoben die vollen Schiebkarren zum Fuß des Farmhügels. Bob Danton kam ein gutes Stück voran. Nach etwa einer Stunde war der schmale Graben schon fast dreizehn Yards lang. Wir ruhten einen Moment aus. Clay schöpfte Wasser aus dem Fluß und trank es aus der hohlen Hand. Da sah ich Rauch im Südosten. Ich sprang auf und streckte die Rechte aus. Eine kräftige schwarze Wolke stieg in den sonnigen, blauen Himmel, vier bis fünf Meilen entfernt. »Die Harrison-Farm«, sagte Clay. »Was kann da los sein?« Bob Danton sprang mit einem Satz aus dem Graben. Er schlüpfte in seine Stiefel und lief an uns vorbei zur Farm. Wir folgten ihm. Inzwischen verstärkte sich die Rauchsäule. Als wir den Hof erreichten, führte Bob Danton bereits ein Pferd aus dem Stall. Er hielt sein Sharps-Gewehr in der Linken und schwang sich auf den ungesattelten Rücken des Tieres. »Ihr bleibt hier!« rief er uns zu. Dann war er auch schon auf und davon.
»Komm«, sagte Clay. Er rannte in den Stall. Ich war immer hinter ihm. Clay holte das zweite Pferd aus der Box. Er führte es zu einem flachen Einspänner. Ich half ihm beim Einschirren, ohne ein Wort zu sagen. Ich dachte genausowenig wie er daran, Bobs Anweisung zu befolgen. Wir stiegen auf den Bock. Clay nahm die Zügel. Ich knallte mit der Peitsche. Wir fuhren durch das breite Stalltor auf den Hof hinaus. Lizzy, Bobs Frau, Clays Schwester, stand an der Tür des Farmhauses. Sie hielt eine blaue Leinenschürze in der Hand. »Was ist denn los?« rief sie. Ich zeigte mit dem Peitschenstiel in die Richtung des Rauches. Dann rollten wir schon den Hügel hinunter. Das Pferd trabte immer schneller. Wir hörten Lizzy hinter uns rufen. Aber wir hielten nicht an. Wir schwenkten auf den schmalen Karrenweg ein, der von der Farm zur Overlandstraße führte, die das Tal von Norden nach Süden durchschnitt. Der Rauch vor uns wurde immer dichter. Er nahm die Form eines riesigen, schwarzen Pilzes an. Ich richtete mich in voller Fahrt auf und spähte nach vorn. Bob Danton war nirgends mehr zu sehen. Ich wunderte mich darüber. Ein Seitenblick zeigte mir, daß Clay das gleiche dachte. Ich setzte mich wieder und hielt mich fest, denn der Wagen schlingerte plötzlich. Das rechte Vorderrad war durch ein tiefes Schlagloch gefahren. »Hoffentlich ist Bob nichts passiert«, sagte Clay. Seine Stimme klang leise. Ich schaute ihn wieder an und bemerkte den feuchten Glanz in seinen Augen. Er sagte nichts mehr, schaute nur starr geradeaus und hielt die Zügel in seinen Händen. Wir schluckten den Staub, der unter den Hufen des Pferdes aufwirbelte und schwiegen beide. Wind kam plötzlich auf. Er zerteilte den Rauchpilz vor uns. Die steile, grauschwarze Säule senkte sich nach Norden. Die Sonne stand ein gutes Stück westlich vom Zenit. Es war vielleicht vier Uhr am Nachmittag. Ich fragte mich, warum es so still war im Land. Den Rauch mußten alle gesehen haben. Da tauchte vor uns auf dem Weg ein umgestürzter Wagen auf. Es
war ein leichter Farmwagen. Er lag auf der Seite. Das Gespannpferd war daneben niedergestürzt. Die rechte Deichsel war abgebrochen, die linke hatte sich in den Leib des Pferdes gebohrt. Ein breitrandiger, speckiger Hut hing auf der hochkant stehenden Bocklehne. Es war Pete Longleys Wagen. Ich sprang auf und kurbelte an der Bremse. Clay stemmte sich in die Zügel. Das Pferd wieherte und schnaubte grell. Es wich ein Stück vom Weg ab. Quietschend preßten sich die Bremsbacken auf die Vorderräder. Fast wären wir auf das gestürzte Gefährt aufgeprallt. Nur knapp einen halben Yard entfernt rollten wir vorbei und blieben dann stehen. Die Flanken des Pferdes zitterten. Ich sprang vom Bock. Clay blieb sitzen. Er hatte die Zügel im Schoß liegen und den Kopf gesenkt. Er weinte lautlos. Ich lief zu dem umgestürzten Wagen. Das Pferd war tot. Fette Schmeißfliegen wimmelten über der häßlichen Wunde im Leib und hatten sich auf die weitaufgerissenen Augen gesetzt. Ringsherum war der Boden von Pferdehufen zertrampelt. Neben dem Wagen entdeckte ich Pete Longley. Er lag auf dem Rücken. Arme und Beine hatte er von sich gestreckt. Er war fast nackt. Sein Körper war von gefiederten Pfeilen gespickt. Es mußten etwa zwanzig oder dreißig sein. Er sah aus wie ein großer bunter Igel. Sein ganzer Körper war voller Blut. Kein Fleckchen weiße Haut war mehr zu erkennen. Ich erkannte sein Gesicht kaum wieder. In den Augen spiegelte sich der Himmel. Mund und Nase waren blutverkrustet. Auf seinem Kopf war ein handtellergroßer runder Fleck. Ihm war auch der Skalp genommen worden. Mein Magen hob sich. Ich drehte mich schnell um. Ich schmeckte Magensäure im Mund. Mir wurde schwindlig. Ich tappte um das tote Pferd herum, ging zum Wagen zurück und stieg wieder auf den Bock. »Fahr weiter«, sagte ich. Clay hob die Zügel. Das Pferd trabte an. »Wenn Bob was passiert ist«, sagte Clay. Seine Stimme zitterte. Dann schwieg er wieder.
»Pete Longley ist tot«, sagte ich. Er reagierte nicht. Der Wagen gewann rasch wieder an Tempo. Der Fahrtwind peitschte uns ins Gesicht. Ich schmeckte Staub zwischen meinen Zähnen. Nach fast einer halben Stunde tauchte vor uns eine Farm auf – die Trümmer einer Farm. Die Rauchsäule war dünner geworden. Das Feuer war schon fast niedergebrannt. Schwarzverkohlte Balken ragten wie drohende Finger in den Himmel. Von der Scheune standen nur noch die Grundmauern. Das Dach des Wohnhauses war eingestürzt, ebenso ein Teil des Westflügels. Wir sahen einige menschliche Körper auf dem Hof liegen, über den der Wind die Rauchschwaden blies. Abseits stand ein sattelloses Pferd mit hängenden Zügeln. Bob Dantons Pferd. Clay biß sich in die Unterlippe. Er weinte wieder still. Ich nahm ihm die Zügel aus den Händen und hielt den Wagen am Hofrand an. Glühende Ascheteilchen wehten uns entgegen. Der scharfe Brandgeruch reizte unsere Schleimhäute. Ich hustete. Wir stiegen ab. Im Wohnhaus kippte ein großer Balken um. Der Krach ließ uns zusammenzucken. Eine Wolke von Staub, Ruß und Asche wirbelte auf. Über der runden steinernen Brunnenfassung, in der Mitte des Hofes, lag der halbnackte Körper eines toten Indianers. »Ronco! Clay!« Der Ruf ertönte von der Scheunenruine her. Wir fuhren herum. Da stand Bob Danton an einer Ecke, mit rußgeschwärztem Gesicht, in den Händen seine Sharps. Clay schluchzte laut auf. Er rannte an mir vorbei und stolperte in Bobs Arme. »Ihr seid verrückt«, sagte Bob. »Wie konntet ihr herkommen?« Ich blickte in seine Augen. Ich sah Angst darin. »Sie sind noch in der Nähe«, sagte er. Wir fragten nicht, wen er meinte. »Wir haben Pete Longley gefunden«, sagte ich. Bob lief an uns vorbei zu den Menschen, die auf dem Hof lagen
und sich nicht rührten. Es waren Mrs. Harrison und Jess, der älteste Sohn. Abseits davon lagen Lilly und Mr. Harrison. Hermann, der jüngste Sohn der Harrisons, war nirgends zu sehen. Bob kniete bei Mr. Harrison nieder. Er schaute uns an und schien meine Gedanken zu erraten. »Sie haben ihn mitgenommen«, sagte er. Seine Stimme klang brüchig. »Ich habe gesehen, wie sie Hermann weggeschleppt haben. Er lebte …« Bob beugte sich über Mr. Harrison. Er legte seine Sharps auf den Boden, schob beide Arme unter den Körper des Farmers, hob ihn auf und trug ihn zum Wagen. Es war kein Lebenszeichen bei Mr. Harrison festzustellen. Aber Bob sagte, daß er lebe. Er legte ihn auf die Ladefläche des Wagens. »Schnell!« sagte er immer wieder. »Nur schnell weg von hier.« Ich hob den Sharps-Karabiner auf trug ihn hinter Bob her. »Zur Mission«, sagte Bob. »Wir müssen zur Mission mit ihm.« Wir kletterten auf den Wagen, während Bob sein Pferd bestieg. Ich übernahm die Zügel. Clay hockte sich neben Mr. Harrison und hielt ihn fest, damit er nicht vom Wagen rutschen konnte. Hinter uns rauchten noch immer die Trümmer der Farm. Ich lenkte den Wagen vom Hof und steuerte ihn nach Norden, auf den Fluß zu. Hätten wir Zeit gehabt, wäre Clay und mir sicher schlecht geworden. Aber uns blieb keine Zeit dazu. Wir mußten handeln, als wenn wir erwachsen wären. Als wir den Fahrweg zur Mission erreichten, sahen wir die Indianer. Dreihundert Yards westlich von uns tauchten sie auf einem Hügel auf. Einer hielt eine Lanze in der Faust, an dessen Spitze ein gut ein Yard langer Zopf aus Menschenhaaren befestigt war. Darin steckten Adlerfedern. Indianer – die gibt's doch gar nicht mehr! Seit hundert Jahren nicht mehr … Gott, was waren wir für Idioten! »Schneller!« schrie Bob, als er die Indianer sah. Er riß sich den Hut vom Kopf, beugte sich vor und schlug mit dem Hut auf unser Gespannpferd ein. »Fahrt um Himmels willen schneller.« Die Indianer sprengten über den Hügel. Sie jagten in breiter Front
auf den Fahrweg zu. Sie wollten uns den Weg abschneiden. Bob schlug wie ein Verrückter auf sein Pferd ein, und ich hielt mit einer Hand die Zügel und schwenkte mit der anderen die Peitsche. Die Indianer rückten näher. Es waren Apachen. Sie saßen wie angewachsen in den flachen Woilachs auf den Rücken ihrer gescheckten Ponys.
3. Wir schafften es, an den Apachen vorbeizukommen, bevor sie den Weg erreichten. Schüsse krachten jetzt. Ein- oder zweimal spürte ich den Luftzug einer Kugel. Ein paarmal machte es dumpf »plopp«, wenn Geschosse sich in die Seitenbracken des Wagens bohrten. Plopp, plopp – Holz splitterte. Die Indianer schwenkten hinter uns auf den Fahrweg ein. Die Jagd ging weiter. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Bob seine Sharps hochnahm, sich umdrehte und abdrückte. Ich hörte Clay hinter mir triumphierend schreien, daß ein Apache aus dem Sattel gestürzt sei. Ich hatte keine Zeit, darauf zu achten. Ich mußte zusehen, den dahinrasenden Wagen unter Kontrolle zu halten. Ich hörte das Donnern der Hufe hinter uns. Die Apachen näherten sich. Ich hatte Angst, wahnsinnige Angst. Ich mußte immerzu an Pete Longley denken, wie sie ihn zugerichtet hatten. Ich hörte Clay schreien. Da holte ich mit der Peitsche aus und schlug dem Gespannpferd den dünnen Riemen genau zwischen die Ohren. Es machte einen Satz nach vorn, der mich fast vom Bock schleuderte. Dann schoß es davon wie eine Rakete. Ich konnte die Zügel kaum noch halten. Durch die aufwirbelnden Staubschleier sah ich plötzlich seitlich von uns zwei Reiter auftauchen – Weiße. Sie schossen. Wenig später erblickte ich die weißen Adobegebäude der Mission vor mir. * Schaumflocken hingen vor den Nüstern der Pferde. Ich taumelte, als
ich auf dem Missionshof vom Bock stieg. Das Tor der Mission fiel zu. Ich sah noch in der Ferne die Apachen davonjagen. Es war vorbei. Padre Ambrosius stand vor mir. Groß, breit, dick und so herrlich beruhigend. Ich lehnte mich an ihn. Er hielt mich fest. Ich sah, wie Padre Tenebro zusammen mit Bob Danton Kane Harrison vom Bock hob. Der Farmer war noch immer bewußtlos und wurde ins Gästehaus getragen. Cyril Ricks und Frank Stoddard waren auch da. Sie waren die beiden Reiter gewesen, die seitlich von uns aufgetaucht waren und mit ihren Schüssen die Apachen vertrieben hatten. Auch sie hatte der Rauch der brennenden Harrison-Farm angelockt. Wir gingen ins Haus. Bob redete. Er redete ohne Unterlaß. Schnell und viel und durcheinander. Er war nervös. Er erzählte von Pete Longleys Besuch und was er über die Indianer gesagt hatte. Frank Stoddard sog an seiner Maiskolbenpfeife, obwohl sie kalt war. »Unten im Süden gibt es ein paar Kerle, die den Rothäuten Gewehre und Pulver verkaufen«, sagte er. »Ein Trader hat mir's erzählt.« »Die Apachen sind seit Monaten wieder auf dem Kriegspfad«, erklärte Cyril Ricks. »Es ist ein Wunder, daß wir nicht schon früher von ihnen gehört haben.« »Was wird mit Pete Longleys Leiche?« fragte Bob Danton. »Wir müssen sie bergen«, sagte Frank Stoddard. »Sonst fressen ihn die Krähen.« Sonst fressen ihn die Krähen … Ich schauderte. »Jemand muß die Armee benachrichtigen«, sagte Cyril Ricks. Er hatte nicht zugehört und stand am Fenster. Er starrte nach draußen. Als er sich eine Zigarette drehte, zitterten seine Hände. »Morgen ist Schule«, sagte Bob Danton. »Und die Apachen reiten wieder.« »Es ist zu spät, um den Unterricht abzublasen«, sagte Padre Frastus. »Es wird schon gut gehen«, meinte Frank Stoddard. Er sog noch immer an seiner kalten Maiskolbenpfeife.
Bob Danton trank den Brandy, den Padre Frastus allen gebracht hatte, mit einem Schluck aus. Clay sagte: »Wir müssen zu Lizzy.« Da wurde Bob wieder blaß. Er nickte hastig. »Lizzy – und das Kind!« Er eilte zur Tür, nachdem er sich flüchtig verabschiedet hatte. Clay folgte ihm. Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß Lizzy im Vorjahr Mutter geworden war. Sie hatte einen kräftigen Jungen zur Welt gebracht. Sie hatte ihn John genannt, nach John Wilkins, ihrem und Clays Vater, den Comancheros umgebracht hatten. Ich schaute aus dem Fenster. Draußen bestieg Clay den Bock des Wagens, und Bob schwang sich auf sein Pferd. Sie verließen die Mission. »Wir können dann ja wohl nichts mehr tun«, sagte Cyril Ricks. Er hatte seine Zigarette zu Ende geraucht. »Verteufelte Sache.« »Reiten wir noch, um Petes Leiche zu holen?« fragte Frank Stoddard. »Jetzt doch nicht.« Cyril Ricks schüttelte den Kopf. »Morgen, wenn wir ein paar mehr sind.« Er grinste etwas schief. »Meinen Skalp kriegen die Rothäute nicht.« Die Tür ging auf. Padre Ambrosius trat ein. »Kane Harrison wird durchkommen«, sagte er. »Aber seine Frau und seine Kinder sind tot, und Hermann ist von den Apachen verschleppt worden«, sagte Frank Stoddard. »Er hat immer so an Hermann gehangen. Jetzt ist der Junge bei den Apachen. Ihr wißt, was das bedeutet. In spätestens zwei Jahren reitet Hermann Harrison hier als weiße Rothaut herum, versteht seine Muttersprache nicht mehr und schneidet seinem eigenen Vater den Skalp ab, wenn es sein muß.« »Kane wird nicht aufgeben«, sagte Cyril Ricks. »Nicht Kane. Der beißt sich immer durch. Vielleicht holt er sich seinen Hermann zurück.« »So was haben schon ein paar versucht«, sagte Frank Stoddard. »Es ist selten einer zurückgekehrt.« Sie gingen. Ich schaute ihnen nach. Als sie vom Hof ritten, hatten sie ihre Gewehre quer vor sich im Sattel liegen.
Die Ebene lag leer und friedlich vor den Reitern. Im Süden buckelte sich eine Hügelkette. Ein schwacher Windhauch bewegte die Spitzen des kniehohen Grases. Es war kein Rauch mehr zu sehen. Da, wo der Himmel die Erde zu berühren schien, weit im Westen, hatte sich ein dunkler Strich gebildet, der sich rasch verbreiterte. Die Sonne stand tief und hatte die Farbe einer überreifen Orange. Die Schatten wurden länger. Vom Turm läutete nun die Glocke. Padre Emanuel trat neben mich. Er war ein schweigsamer Mann, der häufig spröde und in sich gekehrt wirkte. Ich habe jedoch nie wieder einen Priester getroffen, der besser, eindringlicher und wortgewaltiger predigen konnte als er. Wenn er auf der Kanzel stand, blühte er auf. Ich schaute zu ihm auf. Sein Gesicht war wie immer ernst und nachdenklich. »Warum tun sie das?« fragte ich. »Die Apachen.« »Sie haben Angst«, sagte er. »Aber sie haben gemordet«, erwiderte ich. »Sie haben Pete Longley so viele Pfeile in den Bauch geschossen, daß er aussah wie ein Igel.« »Sie haben Angst, verjagt zu werden«, sagte Padre Emanuel. »Sie haben Angst, ihre Heimat zu verlieren. Das Land hier hat einmal ihnen gehört. Sie sind hier aufgewachsen. Für sie ist es noch immer ihr Land. Die Farmer nehmen es ihnen weg, und eines Tages ist vielleicht gar kein Platz mehr für die Indianer.« »Aber …« Ich wollte widersprechen. »Sie sind auch Menschen«, sagte Padre Emanuel. »Sie haben ein Recht darauf, zu leben.« Dann ging er. * Am nächsten Tag war Schule. Die halbe Klasse fehlte. Ein paar der Jungen trugen Waffen. Kleine Pocket-Colts, Kaliber 31, mit kurzen Läufen. Am Vormittag ritten mehrere Longley-Söhne auf den Missionshof. An ihrer Spitze ritt Big Halsey Longley, der Stammvater der Sippe.
Wir verrenkten uns im Klassenzimmer fast die Hälse, um aus dem Fenster schauen zu können. Die Longleys sprachen mit den Padres und ritten weiter. Sie waren unterwegs, um die Leiche Pete Longleys zu bergen. Der Unterricht schleppte sich an diesem Vormittag träge hin. Wir waren alle nervös. Wir konnten die Tragweite der Ereignisse nicht abschätzen. Aber wir spürten, daß eine bedrohliche Situation für uns alle eingetreten war. Mit Mühe brachten wir die erste Stunde mit Padre Ambrosius hinter uns. In der zweiten Stunde war Geschichtsunterricht angesetzt. Wir hofften alle heimlich, daß Richter Collins nicht erscheinen würde. Aber er ließ sich durch einen Indianerüberfall nicht davon abhalten, aus uns richtige Menschen machen zu wollen. Der schwarze Landauer rollte auf den Hof, als die erste Stunde zu Ende ging. Richter Collins stieg aus, schwerfällig und behäbig. Er hatte einen beträchtlichen Bauch, was seiner Erscheinung im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht verlieh. Als er die Klasse betrat, erhoben wir uns von den Plätzen. Abraham Collins – das geschichtliche Sendungsbewußtsein quoll ihm aus sämtlichen Knopflöchern. Er schnaufte wie ein Walroß. Er blickte befriedigt über unsere Köpfe, nickte und nahm den Zylinder ab. Wir blieben stehen. Er hängte den Zylinder an den Haken neben der Tür und schritt würdevoll zum Pult. »Setzt euch«, sagte er. Wir setzten uns. Richter Collins legte die Hände auf dem Rücken übereinander und lächelte gütig. Er trug einen abgeschabten Gehrock, der sicher einmal schwarz gewesen war. Mittlerweile hatte er einen grünlichen Farbton, als hätte er Grünspan angesetzt. Sicher hatte Richter Collins seit Jahren nur immer diesen einen Gehrock getragen. Denn er war sehr geizig. Das war überall bekannt. Er trug ausgebeulte Hosen und Schuhe mit schiefgetretenen Absätzen. Der Gehrock strömte einen unangenehmen Duft aus. Richter Collins trug ihn auch im Sommer, und er schwitzte viel. Der Schweiß sammelte sich in der Wattierung des Rocks. Daher stank Richter Collins.
Wir nannten ihn heimlich »den Skunk«. Heute roch er nach Kartoffelsalat, und sein Gehrock glänzte etwas mehr als sonst. Da wußten wir Bescheid. Der Rock war wieder einmal mit Essig gebürstet worden. Das sollte die Farbe des Anzugs auffrischen, und er sollte danach wie neu aussehen. Aber er sah eben nur so aus, als sei er mit Essig gebürstet worden. »Über was haben wir in der letzten Stunde gesprochen, ihr Kinder?« fragte er. Er nannte uns immer so: ihr Kinder. All Fizzard, der rothaarige, arrogante Widerling, den niemand leiden konnte, erhob sich. »Von den Unabhängigkeitskriegen, Sir.« »Richtig.« Richter Collins wippte auf den Absätzen. Zwischen seinen Augen bildete sich eine steile Falte. Seine Stimme hatte einen andachtsvollen Klang, als er sagte: »Und heute werden wir über den Mann sprechen, ohne den unsere Unabhängigkeit nie erkämpft worden wäre, über George Washington.« Seine Stimme bebte jetzt: »Der Vater unseres Landes.« Er drehte sich um, zupfte seine Pappmannschetten aus den Jackenärmeln und stellte sie säuberlich nebeneinander auf das Pult. Dann ging er an die Wandtafel, griff nach der Kreide und schrieb schwungvoll: George Washington. Er zog den Stuhl hinter dem Pult ein Stück zurück. Dann ließ er sich nieder und öffnete die Schublade. Auf diesen Moment hatten wir alle gespannt gewartet. Ein graugrünes Etwas hüpfte mit mächtigem Satz aus der Schublade. Mit einem noch mächtigeren Satz sprang Richter Collins auf die Beine. Der Stuhl krachte um. Er wich bis an die Tafel zurück und starrte aus geweiteten Augen auf den großen Ochsenfrosch, der auf dem Pult saß und ihn anglotzte. Wir lachten. Wütend warf er den Kopf hoch. »Ruhe!« schrie er. »Undankbare Bande.« Er stelzte in einem Bogen um den Schreibtisch und zerrte Jerry Ricks aus seiner Bank. »Bring dieses Tier hinaus«, sagte er. Jerry Ricks ging gehorsam zum Pult, nahm den Frosch und marschierte hinaus. Wir schwiegen alle. »Wer war das?« fragte Richter Collins. »Ich warne euch!«
Das beeindruckte uns keineswegs. Wir dachten gar nicht daran, ihm zu sagen, daß Jay Kingsley den Frosch mitgebracht und rasch nach der ersten Stunde in das Pult praktiziert hatte, um die trockene Geschichtsstunde zu beleben. »Ich frage mich, weshalb ich mich der Mühe unterziehe, jede Woche hierherzukommen«, sagte Richter Collins. »Bei euch ist aller Schweiß umsonst. Aus euch werden niemals anständige Menschen werden.« Sein Gesicht war rot angelaufen. Wir senkten zerknirscht die Köpfe. Jerry Ricks trat wieder ein. Richter Collins bewegte sich in gerechter Empörung zwischen den Bankreihen auf und ab. »Ich frage noch einmal: Wer hat dieses Tier in das Pult gesetzt?« Wir schwiegen noch immer. Er schaute uns böse an. Wie ein Rachegott. »Das«, rief er klagend, »ist aus Amerika geworden! So sehen also die Nachfahren George Washingtons aus. Wohin soll das nur führen?« Wir hätten es nie für möglich gehalten, daß ein Frosch eine ganze Nation ins Wanken bringen konnte. »Seid ihr es überhaupt wert, daß man euch von den großen Taten eurer Väter und Großväter berichtet?« Wir waren es nicht. Aber Richter Collins kam nicht mehr dazu, uns das zu erklären. Draußen ritten mehrere Farmer auf den Missionshof. Die Tür des Klassenraums wurde kurz darauf geöffnet. Sam Bender trat ein. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er zu Richter Collins. »Aber wir halten es für richtig, die Kinder nach Hause zu holen.« Richter Collins ging auf Sam Bender zu. »Was ist passiert?« »Die Latham-Farm ist überfallen worden«, sagte Sam Bender. Ray Latham, der in der Bank hinter mir saß, sprang auf. Er war zwölf Jahre alt. Sam Bender schaute ihn betreten an. »Sei ganz ruhig, Junge«, sagte er. Seine Stimme klang rauh. »Dein Vater lebt. Euer Haus steht noch.« Der große, stiernackige Mann stockte und senkte den Kopf. Wir waren alle ganz still. »Deine Mutter«, sagte Sam Bender leise. »Sie ist – tot …«
Ray Latham, dessen ältester Bruder Geoff vor ein paar Jahren von Comancheros ermordet worden war, schluchzte auf. Tränen schossen aus seinen Augen. Er sank auf seinen Stuhl zurück. Wir hörten ihn weinen. Richter Collins streifte schweigend seine Pappmanschetten wieder über. Er sagte kein Wort mehr.
4. Zwei Stunden später schlich ich mich aus der Mission. Ich lief zur Danton-Farm. Es wimmelte von bewaffneten Männern, als ich ankam. Die Farmer hatten sich nach dem Apachenüberfall auf die Latham-Farm hier versammelt. Zum ersten Male sah ich, daß sich einige Revolvergurte umgeschnallt hatten. Ich begriff wohl auch, daß das alles kein Spiel mehr war. Ich erinnerte mich an die Zeit, als Comancheros das Land verunsichert hatten. Diesmal schien es schlimmer zu sein. Ich fand Clay hinter dem Stall. Er hockte am Boden und hielt ein altes Küchenmesser in der Linken. In der Rechten hatte er einen Stein. Er versuchte, die Messerklinge daran zu wetzen. »Wir werden uns alle bewaffnen müssen«, sagte er, als er mich sah. »Ich habe ein Messer«, sagte ich. Ich holte das Taschenmesser heraus, das mir Padre Ambrosius einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. »Spielzeug«, sagte Clay verächtlich. »Wir brauchen richtige Messer oder Colts.« »In der Mission gibt es keine Colts«, sagte ich. »Nicht mal Gewehre.« Clay erhob sich. Er hielt das Messer hoch und tastete prüfend mit der Daumenkuppe über die Klinge. »Du wirst dich schneiden«, sagte ich. Ich steckte mein Taschenmesser wieder ein. »Schneiden?« Clays Gesicht verzog sich. »Für wie blöd hältst du mich?« »Was willst du mit dem Messer?« »Na, was schon? Wenn ein Apache auftaucht, wirst du es schon
sehen.« »Der schießt dir einen Pfeil in die Brust, bevor du Piep sagen kannst«, erklärte ich. »Mit deinem Messer kannst du gar nichts ausrichten.« Clay antwortete nicht. Er steckte sich das Messer schräg in den Hosengurt. »Vielleicht gibt Bob mir einen Colt«, sagte er. »Nie«, sagte ich. »Wir werden ja sehen.« Wir gingen um den Stall herum. Auf dem Hof standen die Pferde der Farmer, gesattelt und mit hängenden Zügeln. Die Männer hielten sich in der Scheune auf. Sie hatten hier gegessen. Lizzy hatte eine Menge Arbeit gehabt. Als wir am offenen Küchenfenster vorbeigingen, hörten wir Little John, das Baby, schreien. »Der Kleine wird immer kiebiger«, sagte Clay. »Gestern hat er Lizzy seinen Brei ins Gesicht gespuckt.« »Ich mag auch keinen Brei«, sagte ich. »Warum nicht?« Clay grinste. »Ich bin doch kein Baby«, erwiderte ich. Er sah mich, noch immer grinsend, an. »Na, so was«, sagte er. »Wenn man dich sieht, könnte man das glauben.« Ich ließ meine Rechte vorschnellen. Ich packte ihn am Hemd. Aber er riß sich los und rannte lachend zum Scheunentor. Ich folgte ihm. Ich lachte jetzt auch. In der Scheune saßen die Farmer auf den Strohballen und Futterkisten. Sie hielten Kaffeebecher in den Händen. Die Longleys fehlten. Kein Wunder. Chet Atkins redete. Er hatte sich vor zwei Jahren nahe am Wald angesiedelt. Er hatte drei Söhne und drei Töchter. Die Kinder mußten mitarbeiten, sobald sie laufen konnten. Nur die beiden jüngsten Söhne durften die Missionsschule besuchen. Der älteste mußte zu Hause bleiben, und Mädchen brauchten keine Schule, meinte Atkins. Nirgends wurde mehr geschuftet als auf der Atkins-Farm. Atkins war aus England gekommen. Er hatte in einem Kohlebergwerk gearbeitet. Das sah man ihm an. Er war klein, krumm, aber unheimlich kräftig. Kohlenstaub hatte sich in seine Haut gefressen. In England, so hatte er einmal erzählt, hatten er und
seine Familie oft gehungert. Hier im Pease River Valley aßen sie dreimal in der Woche Fleisch und konnten sich jedes Jahr neue Schuhe aus festem Leder leisten. Atkins hatte sich geschworen, niemals wieder arm zu sein. Er sagte: »Gestern ist Fred Cooper losgeritten, um die Armee zu benachrichtigen. Es wird noch mindestens drei Tage dauern, bis die Soldaten hier sein können. In der Zwischenzeit kann eine Menge passieren. Wir müssen uns einig werden, wie wir uns schützen.« »Sollen wir unsere Farmen verlassen und eine Farm in eine Festung umbauen, in der wir uns verschanzen?« sagte Frank Stoddard. »Solange ich ein Gewehr halten kann, verlasse ich mein Land nicht«, sagte Chet Atkins. »Wir werden uns nicht von ein paar rothäutigen Stinktieren verjagen lassen.« »Ich habe keine Lust, umgebracht zu werden«, sagte Frank Stoddard. »Ich möchte auch nicht, daß meine Frau und mein Sohn umgebracht werden. Wenn die Apachen mein Haus niederbrennen, möchte ich nicht drin sein. Häuser kann man wieder aufbauen. Wer aber einmal tot ist, ist tot.« Die anderen nickten. »Bis jetzt sind erst zwei Farmen überfallen worden«, sagte Rand O'Connor. »Es sieht so aus, als sei hier nur eine kleine Apachenhorde am Werk. Warum sollen wir uns verrückt machen lassen? Wir sind jetzt alle auf die Überfälle vorbereitet. Wenn wir uns nicht überrumpeln lassen, können wir uns sehr gut in den eigenen Häusern verteidigen. Nach allem, was Jeff Latham gesagt hat, waren es nicht mehr als etwa zwanzig Krieger, die über seine Farm hergefallen sind. Hätte er sich nicht überraschen lassen, wäre nicht mal seiner Frau etwas passiert. Ich bin dafür, daß wir in unseren Häusern bleiben, in den nächsten Tagen keine Feldarbeiten durchführen und abwarten, wie sich die Sache entwickelt.« »Das meine ich auch«, erklärte Chet Atkins. Sie meinten es alle. Als abgestimmt wurde, hoben bis auf Frank Stoddard alle die Hand. Und dann beschlossen sie, daß außer der Armee, in die keiner großes Vertrauen setzte, die Texas Ranger benachrichtigt werden sollten. Aber es war ein weiter Weg bis zur
nächsten Ranger-Garnison. Keiner wollte hinreiten und vielleicht über eine Woche von zu Hause wegbleiben. Nicht jetzt, da die Apachen umherstreiften. In zwei Tagen fuhr eine Postkutsche nach Süden. Alle waren der Meinung, daß der Kutscher die Nachricht mitnehmen konnte. Ich muß an dieser Stelle wieder unterbrechen. Ich habe in meinem Bericht ein paar Jahre übersprungen. So habe ich vergessen, zu erwähnen, daß im Winter 1856 eine Poststation bei uns eingerichtet worden war. Mehrere Farmer hatten sich bei der Butterfield Overland Company beworben, die Station führen zu dürfen. Drew Bolton hatte das Rennen gemacht. Er war heute nicht da. Er beteiligte sich überhaupt so gut wie gar nicht am Gemeinschaftsleben. Seine Farm lag im Osten, am äußersten Rand des Tales. Er erschien auch nur selten zum Gottesdienst in der Mission, nur Weihnachten und Ostern. Die Postkutsche fuhr einmal im Monat vorbei. In der Zwischenzeit bewirtschaftete Bolton seine Farm und hatte die Aufgabe, sich um die Pferde der Company zu kümmern, denn die Kutsche wechselte die Gespanne, wenn sie bei Bolton hielt. Die Farmer brachen auf. Bob Danton schirrte den Wagen an. Er war beauftragt worden, zu Bolton zu fahren. Er wollte bei dieser Gelegenheit Munition kaufen. Drew Bolton hatte, nachdem er die Poststation übernommen hatte, einen Handel mit Waffen und Munition angefangen. Clay und ich wollten mit. Bob schaute uns an und überlegte. Er hätte ablehnen müssen. Anscheinend aber war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, so ganz allein unterwegs sein zu müssen. Wir waren Kinder. Von uns konnte er keine Hilfe erwarten, wenn etwas passierte. Im Gegenteil. Er hatte dann die Verantwortung für uns. »Es ist doch jetzt alles ruhig«, sagte Clay. »Die Padres reißen mir den Kopf ab, wenn ich dich mitnehme«, sagte Bob zu mir, ohne Clays Worte zu beachten. »Sie erfahren es doch gar nicht«, meinte ich. »Am Abend sind wir wieder zurück.« Ich war noch nie auf der Poststation gewesen. Ich war neugierig.
Die Indianer kümmerten mich nicht. Bob seufzte. Er schnitt ein unglückliches Gesicht. »Steigt auf«, sagte er. »Es soll ja doch nur eine kleine Apachenbande sein.« Wir kletterten auf den Wagen. Bob ging ins Haus. Er kehrte mit seiner Sharps zurück und hatte sich den Navy Colt umgeschnallt, den vor Jahren John Wilkins gekauft hatte. Als wir losfuhren, lag das Land friedlich und still vor uns. Es war ein schönes Land. Ein Stückchen Paradies. Aber überall konnte der Tod lauern. Wir fuhren an der Stelle vorbei, wo Pete Longley umgekommen war. Der Wagen, das Pferd und die Leiche Pete Longleys waren nicht mehr da. Nur die Spuren der unbeschlagenen Indianerpferde waren noch zu sehen. Bald bog Bob vom Weg ab. Wir fuhren schnurgerade nach Osten. Es war heiß. Die Sonne stand noch immer hoch im Mittag. Ich war froh, daß ich meinen breitrandigen Strohhut von der Mission mitgenommen hatte. »Es war falsch, daß ich euch mitgenommen habe«, sagte Bob plötzlich. Er hatte die ganze Zeit schweigend auf dem Bock gesessen und vor sich hingebrütet. Er drehte sich nicht zu uns um, während er sprach. Clay und ich lagen auf der Ladefläche des Wagens und ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen. »Ich bin ein Idiot«, sagte er. »Ich bin zu gutmütig. Es kann wer weiß was passieren.« »Dann hättest du auch nicht fahren dürfen«, sagte Clay. »Das ist etwas anderes.« Bob lehnte sich auf dem Bock zurück und schwieg wieder. Auch wir sagten nichts. Wir spürten, wie ernst Bob es meinte. Zum ersten Male begannen auch wir, über alles nachzudenken. Als wir Bob darum gebeten hatten, mitfahren zu dürfen, war es uns lediglich darum gegangen, eine kleine Abwechslung zu erleben. Die Farm hatte uns das trügerische Gefühl von Sicherheit gegeben. Bob konnte es nicht anders gegangen sein. Sonst hätte er wohl nicht nachgegeben. Hier draußen im Land aber sah das anders aus. Hier waren die Nähe der Wildnis und die Nähe der Gefahr deutlicher zu spüren. Wir
waren leichtsinnig gewesen. Das wurde uns jetzt bewußt. Wir hätten es besser wissen müssen. Erst gestern hatten wir die Opfer eines Indianerangriffs gesehen und wären selbst fast zu Opfern geworden. »Bis jetzt sind nur zwei Farmen angegriffen worden«, sagte Clay. »Auf den Straßen war Ruhe.« Bob sagte nichts darauf. Ich fühlte, daß Clay nur gesprochen hatte, um sich selbst zu beruhigen. Ich wünschte mir plötzlich, ich wäre nicht mitgefahren. Ich richtete mich auf und spähte nach vorn. Das Land war flach und leer. Nichts konnte passieren, gar nichts. Es gab keine unmittelbare Gefahr. Ich redete mir das ein. Aber ich war nervös, genau wie Clay und Bob.
5. Die Station lag an einem Nebenarm des Pease River. Die breite Überlandstraße aus dem Panhandle führte unweit daran vorbei. Es gab für die Postkutschen eine Wegabzweigung, die einen großen Bogen schlug, der direkt über den Stationshof und wieder zurück zur Überlandstraße führte. Wabernd lag die Hitze über dem Land. Es herrschte fast völlige Windstille. Keine Wolke stand am Himmel. Staub hing wie ein dünner Schleier in der Luft. Man war gezwungen, ihn einzuatmen, wenn man nicht die Luft anhalten und ersticken wollte. Auf dem Stationshof stiegen wir ab. Eigentlich war »BoltonsStation« eine stinknormale Farm. Es gab ein großes Wohnhaus und mehrere Nebengebäude. Aber seit Drew Bolton die Poststation führte, hatte er einen zweiten Stall für die Pferde der Butterfield Company gebaut und sein Wohnhaus vergrößert, so daß er jetzt einen Aufenthaltsraum darin hatte und fünf oder sechs Gästezimmer. Drew Bolton war Junggeselle. Er bewirtschaftete Farm und Station zusammen mit zwei Knechten. Der eine dieser Männer arbeitete an einem Korralgatter, als wir abstiegen. Er hatte ein langläufiges Gewehr neben sich stehen. Als er uns sah, ließ er den Hammer sinken und näherte sich. Er musterte uns mit großen Augen.
»Hallo«, sagte Bob und tippte an die Hutkrempe. »Ist der Boß drinnen?« Der Mann nickte. »Kommt ihr nicht aus der Ecke, wo die Mission liegt?« fragte er. »Ja.« Bob ging zum Haupthaus. Wir folgten ihm. Der Mann blickte uns schweigend nach. Wir traten ein. Der Aufenthaltsraum war unbesetzt. Es herrschte ein Halbdunkel und es war angenehm kühl. Uns fiel auf, daß neben den Fenstern Gewehre an der Wand lehnten. Durch eine Seitentür betrat ein etwa fünfzigjähriger Mann den Raum. Ich hatte Drew Bolton bisher nur zweimal gesehen. Er war zu Weihnachten und Ostern zur Messe in die Mission gekommen. Er schaute uns genauso verwundert an wie der Mann auf dem Hof. »Tag Drew«, sagte Bob. »Hat es unterwegs keine Schwierigkeiten gegeben?« fragte Bolton. Er war einen Kopf größer als Bob und sehr hager. Er hatte ein faltenzerfurchtes, lederhäutiges Gesicht mit einer großen Geiernase. Wasserhelle Augen lagen in tiefen Höhlen. Seine Schultern hingen etwas nach vorn. Weißes Haar quoll ihm strähnig über den Kragen. Er hatte einen kleinen Colt mit einem Seitenhammer im Hosengurt stecken. Breite Hosenträger preßten das verwaschene Leinenhemd in seine knochigen Schultern. »Es war alles ruhig.« Bolton schaute uns an. »Tag, Clay«, sagte er. Er blickte auf mich. »Wer ist der Junge?« »Das ist Ronco, von der Mission.« Bolton nickte. »Habt ihr nichts davon gehört, daß die Apachen auf dem Kriegspfad sind?« »Deswegen sind wir ja hier«, sagte Bob. »Wir wollten dich bitten, daß du dem nächsten Kutscher eine Nachricht für die Ranger mitgibst. Bei uns sind zwei Farmen überfallen worden.« Bolton schwieg. Er blickte erst Bob an, dann Clay und mich und dann wieder Bob. »Du kommst hierher, mit zwei Kindern, obwohl du weißt, daß die Apachen wieder reiten?« Boltons Stimme hob sich. »Es war ein Fehler«, erwiderte Bob. »Ich weiß. Ich habe es mir
unterwegs auch gesagt. Aber die Straßen waren bis jetzt sicher, und …« »Die Straßen sind sicher? Sag das noch mal. Hör mal zu, mein Junge.« Bob schrumpfte fast unter Boltons Blick zusammen. »Wir sind in dieser Woche bereits zweimal angegriffen worden«, sagte Bolton. »Hinten am Haus stecken noch ein paar Pfeile. Die Kutsche fährt nicht mehr. Ein Postreiter war hier und hat mir Nachricht gegeben. Das ganze Land ist in Aufruhr, und du fährst seelenruhig mit zwei Kindern durch die Gegend.« »Das ganze Land?« Bob wurde blaß. »Ich wußte doch nicht, wie schlimm es ist. Keiner bei uns wußte es. Wir dachten an eine kleine Kriegerbande …« »Ihr scheint in einer anderen Welt zu leben.« Drew Bolton ging zu der langen Theke im Aufenthaltsraum. Er stellte zwei Gläser darauf und schenkte rötlich schimmernden Whisky aus Kentucky ein. »Ihr habt wirklich keine Ahnung.« Bolton leerte sein Glas mit einem Schluck und schenkte sich gleich noch einmal ein. Bob nippte nur ein wenig an seinem Whisky. »Seit ein paar Monaten werden Waffen ins Indianergebiet geschmuggelt«, sagte Bolton. »Die Kutscher habes es erzählt. Ein Ranger war hier und hat mir ein Loch in den Bauch gefragt. Er wollte wissen, was für Reiter hier aufkreuzen und so weiter. Wahrscheinlich waren die Händler mal hier. Ich kenne sie jedenfalls nicht. Schon vor zwei Monaten ist mit einem neuen Aufstand gerechnet worden.« Er trank wieder. »Kleine Kriegerbande!« Er lachte. Es war kein schönes Lachen. »Wahrscheinlich steckt das ganze Land voller Rothäute. In den letzten Wochen sind die Forts verstärkt worden. Die Armee ist in Alarmbereitschaft.« »Bei uns war es bis gestern völlig ruhig«, sagte Bob. »Wir haben von nichts etwas gemerkt. Gestern wurde eine Farm niedergebrannt, und heute Vormittag war ein zweiter Angriff. Aber an einen richtigen Indianerkrieg …« »… habt ihr nicht gedacht«, beendete Bolton den Satz. »Ihr lebt wirklich in einem Paradies.« Er deutete auf die Waffen neben den Fenstern. »Seit dem ersten Angriff vor sechs Tagen bin ich immer gut vorbereitet. Noch einen Whisky?«
»Nein.« Bob schüttelte den Kopf. Clay und ich standen neben ihm und wagten nicht, den Mund aufzutun. »Die Ranger sind längst benachrichtigt«, sagte Bolton. »Ich nehme an, daß sie in den nächsten Tagen hier erscheinen werden. Ich werde ihnen sagen, daß die Apachen jetzt auch unten im Tal aufgetaucht sind. Die Armee weiß über alles auch längst Bescheid.« Er nahm wieder einen Schluck. »Hör zu, Bob.« Er beugte sich vor. »Nimm die beiden Bengels und sieh zu, daß du nach Hause kommst.« Bob nickte. »Sicher, Drew«, sagte er. »Du hast recht. Ich war ein Idiot.« »Ein Blödmann bist du«, sagte Bolton. »Haut ab, ihr drei.« Wir verließen das Haus und bestiegen draußen den Wagen. Der zweite Knecht stand jetzt auch auf dem Hof. Er schaute uns nach, als wir davonfuhren. Bob trieb das Pferd zu größerem Tempo an. Wir sprachen kein Wort. Wir rollten zurück ins Pease River Vally. Uns klangen die Worte Drew Boltons in den Ohren. * Als wir die Station hinter einem Hügel zurückgelassen hatten, sahen wir sie. Die Apachen ritten vom Fluß herauf. Es gab eine Furt hier. Weißgekrönte Gischt spritzte unter den Hufen der gescheckten Ponys auf. Es waren etwa vierzig Krieger. Vielleicht auch mehr. Clay sah sie als erster. Er schrie auf. Bob richtete sich auf dem Bock auf. Er riß die Zügel zurück. Das Gespannpferd wieherte grell und wich vom Weg ab. Dann stand der Wagen. Wir hörten das dumpfe Hämmern der Hufe. Bob riß die Peitsche aus der Halterung und schlug wie verrückt auf das Pferd ein. Er schrie. Das Pferd setzte sich in Bewegung. Der Wagen drehte sich. Er kippte fast um, als das rechte Vorderrad über die Böschung des Weges rutschte. Wir jagten zur Station zurück. In rasendem Tempo rollten wir dahin. Clay und ich lagen flach auf dem Wagen und klammerten uns fest. Ich verfluchte unsere Idee, Bob zu begleiten. Clay ging es wohl
nicht anders. Wir fuhren den Hügel hoch. Da waren die Indianer keine hundert Yards mehr von uns entfernt. Die beiden Stallknechte Boltons standen noch auf dem Hof, als wir heranrasten. Einer lief auf das Haupthaus zu. Der andere hob seine Sharps. Wir erreichten den Hof, als die Indianer über den Hügel sprengten. Der Knecht begann sofort zu schießen. Der zweite Mann stürmte aus dem Haus, Bolton hinter ihm. Clay und ich rutschten vom Wagen. Drew Bolten schrie uns an, wir sollten ins Haus verschwinden. Wir hasteten ins Haus. Die Männer schafften den Wagen in den Stall. Clay und ich standen am Fenster des Aufenthaltsraums. Ich hatte ganz weiche Knie. Ich dachte an die Padres in der Mission. Sie würden auf mich warten. Vielleicht für immer … Clay nagte auf seiner Unterlippe. Ich warf einen Blick auf das Gewehr, das neben uns an der Wand lehnte, wagte aber nicht, es anzufassen. Auf dem Hof krachten jetzt Schüsse. Geduckt liefen die Männer auf das Haus zu. Bob stürmte als erster in den Aufenthaltsraum. Die beiden Pferdeknechte folgten ihm. Als letzter kam Bolton. Er warf die Tür zu und verrammelte sie mit zwei dicken Balken. »Hinlegen, ihr beiden!« schrie Bob. Wir ließen uns sofort fallen. Über mir zerplatzte eine Fensterscheibe. Glasscherben rieselten auf meinen Rücken. Ein Geschoß bohrte sich in die gegenüberliegende Wand. Dann begannen im Raum die Gewehre zu donnern. Graue, stinkende Pulverschwaden breiteten sich aus. Von draußen ging ein Kugelhagel auf das Haus nieder. Clay und ich lagen flach am Boden. Ich hatte seltsamerweise keine Angst. Obwohl ich draußen die gellenden Kriegsschreie der Indianer hörte. Bob, Drew Bolton und seine Männer hockten mit pulvergeschwärzten, verzerrten Gesichtern an den Fenstern und feuerten. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte. Irgendwann jedenfalls
war der erste Angriff plötzlich vorbei. Drew Bolton sprang auf, lief zur Theke und kehrte mit einer ganzen Kiste mit Papierpatronen und Schachteln mit Zündhütchen zurück. Er schaffte auch Pulverflaschen und Ledersäckchen mit runden Bleikugeln für die Revolver heran. Er schaute uns an. »Wißt ihr, wie man mit einer Waffe umgeht?« Clay war weiß wie eine Wand. Ich nickte stumm. Da sagte Clay: »Ronco hat schon mal einen erschossen.« Ich zuckte zusammen wie unter einem Fußtritt. Bolton musterte mich. Ich hielt seinem Blick stand. Innerlich verfluchte ich Clay. »Um so besser«, sagte Bolton. »Ihr werdet die Revolver laden. Könnt ihr das?« »Ja, Sir«, sagte ich. »In Ordnung.« Bolton wandte sich an Bob. »Diesmal wird es schlimm, mein Lieber. Es sind mehr Krieger, als bei den ersten beiden Malen. Und diesmal haben sie alle Gewehre.« »Wir waren schon hinter dem Hügel, als sie den Fluß durchfurteten«, sagte Bob. »Eine kleine Kriegerbande, nicht wahr?« höhnte Bolton. Bob schwieg. »Ich glaube euch ja, daß ihr das gedacht habt.« Bolton entkorkte eine Flasche Whisky und ließ sie herumgehen. »Dennoch wäre das Grund genug gewesen, zu Hause zu bleiben. Und dann …« Er schaute zu uns hinüber und schwieg. »Sie kommen wieder«, sagte einer der Pferdeknechte. Ich hob den Kopf und schaute aus dem Fenster. Da sah ich die Apachen auch. In einer weit auseinandergezogenen Linie fegten sie heran. Sie lagen flach auf den Pferdehälsen. Einige hatten sich aus dem Sattel gleiten lassen und hingen an den Flanken der Tiere. Sie galoppierten durch das kniehohe Gras. Ihre nackten Oberkörper klänzten kupfern in der Sonne, die schräg über dem Haus stand. Sie hatten sich mit Fett eingerieben und Farben in die Gesichter geschmiert. Ich sah auch ein paar reglose Körper im Gras liegen. Aber das waren nicht viele. »Erst schießen, wenn ich es sage«, hörte ich Drew Bolton rufen. Ich sah Schweißperlen in den Gesichtern der Männer. Clay hockte zusammengeduckt neben mir. Er hielt eine Pulverflasche in den
Händen. Die Indianer begannen zu schießen. Ich zog den Kopf ein. Großkalibrige Geschosse fraßen sich in die Außenwand des Hauses. Als die Krieger keine fünfzig Yards mehr entfernt waren, schrie Bolton: »Feuer!« Die Sharps-Büchsen krachten. Boltons Knechte eilten Minuten später zur Westseite des Hauses. Auch von hier griffen die Apachen jetzt an. Ich konnte sie sehen, obwohl ich am Boden kniete und zusammen mit Clay die leergeschossenen Colts auflud. Sie waren den Fenstern so nahe, daß ich ihre breitflächigen Gesichter erkennen konnte, ihre schulterlangen, blauschwarzen, fettigen Haare, die von breiten Tüchern gehalten wurden, die sie sich um die Stirn gewunden hatten. Ihre Muskeln traten an Schultern und Armen wie dicke Stränge unter der Haut hervor. Die meisten hielten Gewehre oder auch Revolver in den Fäusten. Ein paar schleuderten Tomahawks. Ich sah, wie Drew Bolton einen Indianer aus dem Sattel schoß. Der Mann schien direkt durch ein Fenster hereinzustarren. Die Kugel hob ihn ein Stück an. Er ließ sein Gewehr fallen und streckte beide Arme aus. Dann fiel er und verschwand aus meinem Blickfeld. Ein Tomahawk durchbrach ein Fenster, raste dicht an Bob vorbei und blieb in einem Tisch stecken. Als ich mich nach Clay umwandte, sah ich, daß er weinte. * Der Pulverdampf war kaum noch zu ertragen. Er legte sich ätzend auf die Schleimhäute. Ich hustete. Mein Hals brannte. Ich hätte gern etwas getrunken. Die Apachen waren noch immer auf dem Hof. Sie ließen sich nicht mehr vertreiben. Einige hatten ihre Pferde verlassen und hinter den Stallgebäuden und der Scheune Deckung genommen. Keiner der Männer im Aufenthaltsraum der Station sprach. Ihre Gesichter waren hart geworden, maskenhaft und starr. Keiner von ihnen hatte Angst. Da war ich ganz sicher. In solchen Augenblicken hat man keine Angst. Man hat keine Zeit dazu. Man kann an gar
nichts denken, schon gar nicht ans Sterben. Der Kampf tobte seit fast einer Stunde. Die Schlösser der Gewehre versagten. Die Männer schossen mit ihren Colts. Zum Schutz für mich und Clay hatten Bob und Bolton mehrere Tisch umgekippt. Dahinter hockten wir und luden die Revolver. Wir füllten Pulver in die Kammern, setzten Verdämmungsstopfen und Kugeln darauf und steckten Zündhütchen auf die Pistons. Einer der Pferdeknechte Boltons wurde plötzlich hochgerissen. Er drehte sich einmal um sich selbst. Sein Gesicht war leer und ausdruckslos. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er stürzte neben Clay und mir zu Boden. Ich drehte ihn auf den Rücken und schaute ihm ins Gesicht. Zwei gebrochene Augen starrten mich an. Ich drehte mich rasch wieder um. Da flog krachend eine Hintertür auf und prallte an die Wand. Mit einem Satz stand ein untersetzter, breitschultriger Krieger im Raum und riß seinen Tomahawk hoch. Er hatte rote und gelbe Striche im Gesicht, sein Antlitz glich mit den Streifen einer häßlichen Fratze. Bob hockte keine drei Yards vor ihm. Clay schrie. Ich handelte wie mechanisch. Ich richtete mich auf und drückte den Colt ab, den ich gerade geladen hatte. Es war ein Navy Colt, Kaliber 36. Ich umfaßte den Griff mit beiden Händen. Ich fühlte gar nichts dabei, als ich schoß. Ein leichtes Stechen durchzuckte meine Handgelenke. Der Indianer blieb wie angewurzelt stehen und krümmte sich zusammen. Auf seiner Brust war plötzlich ein kleines Loch, aus dem Blut strömte. Stöhnend richtete sich der Krieger wieder auf. Bob kauerte wie gelähmt am Boden und starrte auf den hocherhobenen Tomahawk. Ich schoß noch einmal. Ich war elf Jahre alt und tötete meinen zweiten Mann. Ich tat es, als wäre es die selbstverständlichste Sache auf der Welt. Beim ersten Mal hatte ich mich noch überwinden müssen, um den Abzug durchzuziehen. Diesmal ging es ganz glatt und leicht. Ich hatte nicht die geringsten Bedenken. Die Kugel traf den Indianer in den Kopf. Er hatte plötzlich kein Gesicht mehr und kippte nach hinten um wie eine Holzpuppe.
Drew Bolton sprang auf, setzte über den Toten hinweg und griff nach dem Riegel der Hintertür. Ein zweiter Krieger tauchte hier auf. Er warf sich vom Pferd herab auf die Schwelle. Bolton ließ sich fallen, packte den Tomahawk des Toten und schlug mit aller Kraft zu. Er spaltete dem Indianer den Schädel bis zum Rumpf. Er stieß die Leiche nach draußen und knallte die Tür zu. Als er sich umdrehte, sah ich, daß Bolton aus einer klaffenden Stirnwunde blutete. Er trat auf mich zu, riß mir den Revolver aus der Hand und schaute mich nur kurz an. Ich glaubte, ein Lächeln zu sehen. Dann hockte er schon wieder am Fenster und feuerte.
6. Es dauerte bis zum Abend. Die Apachen hatten sich auf dem Hof festgesetzt. Sie warteten auf die Nacht. Wir wußten alle, daß sie dann angreifen würden. Im Schutz der Dunkelheit würden Sie auf das Dach steigen. Sie würden eindringen. Das Haus anzünden konnten sie nicht. Drew Bolton erzählte uns, daß sie bei den ersten Angriffen vor wenigen Tagen mit Brandpfeilen geschossen hätten. Aber die Balken des Hauses waren mit Kupfervitriol gestrichen. Das Holz brannte nicht. Die Sonne berührte die Hügel im Westen. Ein paar kleine Wolken kreuzten wie weiße Schiffchen den Horizont. Noch immer krachten Schüsse. Auf dem Hof lagen mindestens zehn tote Indianer. Drei erschossene Ponys lagen unweit vom Korral. Ein paar Tiere mit leeren Sätteln standen abseits. Seltsamerweise waren wir nicht müde. Unsere Nerven waren zu angespannt. Aber mir schmerzten die Arme vom Laden der Waffen. Ich bin sicher, Clay erging es nicht anders. Unsere Augen waren rot entzündet. Der Pulverdampf brannte darin. Als jetzt draußen ein leichter Wind aufkam, der von den Hügeln herunterstrich und durch die zerschossenen Fenster hereinwehte, war das eine Wohltat für uns. Da hörten wir zwischen den Schüssen plötzlich Hufschlag. Leise erst, dann immer stärker. Die Männer hörten auf zu schießen. Wir lauschten.
Draußen trieb der Wind Pulverschwaden über die Leichen weg. Ich entdeckte zum ersten Mal Verzweiflung in Bobs Augen. Hufschlag … Weitere Indianer? Wir würden diese Nacht nicht überstehen. Ich las das in Bobs Blicken und hatte auf einmal einen dumpfen Druck im Magen. Da aber lösten sich in der Abenddämmerung schemenhafte Gestalten aus dem Schatten der Stallgebäude. Sie huschten über den Hof zu den reiterlosen Pferden. »Sie fliehen«, sagte der Pferdeknecht. »Verdammt, was ist los?« Die Indianer saßen auf einmal wieder in den Sätteln und sprengten davon. Im selben Moment tauchten Reiter auf dem Hügel zwischen dem Fluß und der Station auf. Ein blecherner Ton hallte durch den Abend. Regimentsfähnchen flatterten im Wind. Drew Bolton sprang auf und ließ sein Gewehr fallen. Er stieß einen jauchzenden Schrei aus. Kavallerie sprengte über den Hügel. Zwei, drei Kompanien. Die Truppe teilte sich. Die meisten Soldaten nahmen die Verfolgung auf. Der Rest ritt zur Station. Drew Bolton eilte zur Tür und warf die Riegel zu Boden. Wir erhoben uns. Bob und der Pferdeknecht fielen sich lachend in die Arme. Ich schaute Clay an. Er war stumm. Ich sagte auch nichts. Ich fühlte mich hundsmiserabel. Ich wußte selbst nicht, warum. Es lag nicht daran, daß ich wieder einen Menschen getötet hatte. Bestimmt nicht. * Die Kavallerie stammte aus Camp Griffin. Sie stand unter Führung eines Majors. Er hieß Bullard. Er stiefelte auf dem Hof herum und betrachtete die Spuren des Kampfes. Dann sagte er, es sei ein Wunder, daß es nur einen Toten bei uns gegeben habe. Wenig später kehrten die Soldaten zurück, die die Apachen verfolgt hatten. Sie hatten die Indianer nicht mehr eingeholt. Im rötlichen Glanz der untergehenden Sonne blinkten die langen Kavalleriesäbel. Die Soldaten ritten in lockerer Formation. Sie trugen breitrandige Hüte, an deren Krone gekreuzte Säbel steckten, und
gelbe Stulpenhandschuhe. Drew Bolton nahm in seiner Küche den Ofen wieder in Betrieb, während der tote Pferdeknecht hinausgetragen wurde. Die Soldaten schafften Ordnung in der Station. Dann brachte Bolton den Kaffee, den er frisch gebrüht hatte. Er war schwarz wie die Hölle. Ein Löffel konnte darin stehen. Ich hatte Kaffee nie gemocht – bis zu diesem Tag. Ich trank drei oder vier Tassen ohne Zucker. Danach fühlte ich mich besser. Drew Bolton erstattete dem Major Bericht. Ab und zu schaltete Bob sich ein. Major Bullard stellte ein paar Fragen über die Angriffe bei uns im Pease-River-Tal. Bob sagte ihm, was er wußte. Dann wurde gegessen. Rührei mit Speck und Schinken. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Auf dem Hof brannten Laternen und Fackeln. Eine Postenkette umschloß die Station. Wir fühlten uns sicher wie in Abrahams Schoß. In der Nacht noch brachen wir auf. Der Major ließ eine Kompanie auf der Bolton-Station zurück. Begleitet von zwei Kompanien Kavallerie rollten Bob, Clay und ich heimwärts. Es war eine schwüle Nacht. Wir hatten Vollmond. Wie eine silberne Scheibe stand der Mond am Himmel. Der Weg war gut zu erkennen. * Unterwegs schliefen Clay und ich hinten auf dem Wagen ein. Es muß zwei Stunden nach Mitternacht gewesen sein, als wir die Mission erreichten. Hier brannten noch Lichter. Ein paar der Padres waren wach. Sie hatten mich gesucht und auf der Danton-Farm erfahren, daß ich mit Bob und Clay zu Boltons Station gefahren war. Die Aufregung war groß. Clay und ich kriegten kaum etwas davon mit. Wir waren einfach nur müde. Ich aß und trank nichts mehr. Ich ließ mich willig von Padre Ambrosius ins Bett bringen. Ich sah noch, daß Clay und Bob weiterfuhren, um nach Hause zu gelangen. Die Soldaten schlugen ihr Camp in dieser Nacht vor der Mission auf. Am nächsten Morgen machte mir niemand Vorwürfe. Die Padres
waren so freundlich wie immer. Das war vielleicht schlimmer, als wenn sie mir den Marsch geblasen hätten. Ich wagte am Morgen erst nicht, jemanden anzuschauen und hatte ein unbestimmtes Schuldgefühl. Ich wußte, daß die Padres sich um mich gesorgt hatten. Es bedrückte mich. Das hatten sie nicht verdient. Ich fühlte mich irgendwie undankbar und rücksichtslos. Aber diese lobenswerte Selbstbesinnung hielt nicht lange vor. Dafür geschah an diesem Vormittag viel zu viel Interessantes. Noch vor dem Frühstück traten die beiden Kavalleriekompanien vor der Mission zum Flaggenappell an. Trompetensignale ertönten. Major Bullard nahm die Parade ab. Danach wurden Patrouillen zusammengestellt, die in alle Himmelsrichtungen davonritten. Es wurde eine große Aktivität entfaltet. Ein Armeearzt begleitete die Truppe. Zusammen mit den Padres richtete er das Gästehaus zu einem Lazarett her. Die Lage war ernst, es wurde mit harten Kämpfen gerechnet, mit Verletzten und Toten. Die Soldaten nahmen das Angebot Padre Emanuels, ihr Camp für die Dauer der Operationen hier aufzuschlagen, an. Noch am Vormittag wurde damit begonnen, die Mauer, die die Missionsgebäude umschloß, zu verstärken. Ein Stück oberhalb des Flusses, keine hundert Yards von der Mission entfernt, gab es eine Sandbank. Ich beobachtete junge Rekruten, die unter dem Kommando eines schnauzbärtigen Sergeants einfache Leinensäcke mit Sand füllten und sie an der Missionsmauer stapelten. Im Turm der Kapelle, gleich neben dem Glockenstuhl, wurde ein Wachtposten aufgestellt, der durch das Turmfenster weit über das Land blicken konnte. Da die Pferde der beiden Kompanien und des kleinen Trosses, insgesamt erheblich über hundertzwanzig Tiere, nicht alle in der Mission unterzubringen waren, wurden die Sandsackbarrieren erweitert. Der Troß war als Nachhut im Morgengrauen eingetroffen. Er führte eine kleine Kanone auf einer Lafette mit sich. Sie wurde neben dem Tor aufgestellt. Nach und nach verwandelte sich die Mission in eine kleine Festung.
Überall wimmelte es von Soldaten. Sie saßen sogar in der Missionsküche, wohin Major Bullard sie abkommandiert hatte, um Padre Elfego beim Kartoffelschälen zu helfen. Ich durfte die Mission nicht verlassen. Ich wollte es nach den Erlebnissen vom Vortage auch gar nicht. Zur Sicherheit wurde ich jedoch bewacht. Ich merkte es erst kaum. Später fiel mir auf, daß überall, wo ich auch hinging, stets ein Padre in der Nähe war, der auf mich achtete. Als es Mittag wurde, kehrte die erste Patrouille zurück. Sie hatte fünf Meilen westlich von der Mission Indianerspuren gefunden. Die Spuren deuteten darauf hin, daß sich im Westen des Farmgebiets eine größere Indianerstreitmacht zusammenzog. Das sagte der junge Lieutenant, der die Patrouille angeführt hatte. Nach dem Essen schickte Major Bullard Kuriere zu sämtlichen Farmen im PeaseRiver-Tal, um die Nachricht weiterzugeben. Es wurde ernst. Wenn mir das nicht schon bei dem Angriff auf die Poststation bewußt geworden wäre, jetzt spätestens hätte ich es gemerkt. Das war keine übergroße Vorsicht. Das hatte nichts mit den Abenteuern zu tun, die Clay und ich immer erleben wollten. Das war blutiger Ernst. Ich hatte gestern einen Mann getötet, einen Indianer, einen Menschen. Die Soldaten sagten, Indianer seien keine Menschen. Ich hörte sie reden, während sie beim Essen zusammensaßen. Ich hörte es im Hof der Mission und auch außerhalb der Missionsmauern. Es waren einige dabei, die schon viele Indianer getötet hatten. Ich sah zwei Soldaten, die sich die eingetrockneten Brustwarzen getöteter Indianersquaws an die Hutbänder genäht hatten. Sie waren stolz darauf. Ich ekelte mich davor und schlug um die beiden einen großen Bogen. Andere trugen Skalpzöpfe bei sich. Die meisten Soldaten aber waren junge Männer, die die Uniform noch nicht lange trugen. Menschen! Padre Emanuel hatte gesagt, Indianer seien Menschen. Padre Emanuel hatte sicher recht. Wer sich die Körperteile von Toten an seine Kleidung nähte, hatte nicht das Recht, darüber zu urteilen, wer ein Mensch ist und wer nicht.
* Ich erwachte in der Nacht. Ich wußte nicht, wie spät es war. Es war stockfinster in meinem Zimmer. Draußen hörte ich ein grelles Trompetensignal. Sattelzeug knarrte. Harte Stiefeltritte waren auf dem Hof zu hören, Sand knirschte, Pferde schnaubten. Ich glaubte, zu träumen. Ich wälzte mich herum und zog die Decke über meinen Kopf. Aber ich war wach. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Die hektischen Geräusche blieben. Von Sekunde zu Sekunde wurde ich neugieriger. Ich streifte die Decke zur Seite, richtete mich auf, schwang die Beine aus dem Bett und setzte die Füße auf die kalten Dielen. Mir war kalt. Ich ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Auf dem Hof glühten Fackeln, Männer liefen hin und her, Pferde wurden gesattelt. Ich hörte gedämpfte Stimmen Befehle rufen. Geräuschlos öffnete ich das Fenster. Da ritten bereits dreißig Soldaten aus der Mission. Ich sah, daß im Gästehaus Licht anging. Hinter den hellerleuchteten Fenstern konnte ich Padre Ambrosius, Padre Tenebro, den Armeearzt und einige Sanitäter erkennen. Eine undefinierbare Unruhe erfaßte mich. Irgend etwas war passiert, mußte passiert sein. Aber was? Ich war kein bißchen müde mehr. Ich ging zu meinem Bett zurück. Auf dem Stuhl daneben lagen meine Kleider. Ich überlegte nicht lange, zog mein Nachthemd aus, ging zur Kommode neben der Tür und steckte den Kopf in die Wasserschüssel. Dann kleidete ich mich an. Ich zündete jedoch keine Kerze an. Es sollte niemand wissen, daß ich wach und angezogen war. Ich ging wieder zum Fenster und zog eine Hälfte des Vorhangs zurück. Vorsichtig öffnete ich den Fensterflügel. Soweit ich sehen konnte, waren alle Soldaten wach. Sie hielten sich am Tor und an der Mauer auf. Die Padres waren anscheinend alle im Gästehaus. Ich sah auch Licht in der Küche. Kurz entschlossen zog ich einen Stuhl heran, stieg darauf, kletterte aufs Fensterbrett und sprang nach draußen. Niemand hatte etwas bemerkt. Ich drückte mich sofort in den
Schlagschatten des Hauses. Ein Meldereiter hastete vorüber. Er sah mich nicht. Ich umrundete das Gebäude und lief zum hinteren Teil der Umfassungsmauer. Da sah ich das Feuer in der Nacht. Ein Haus brannte. Aber die Nacht war zu dunkel, so konnte ich nicht genau bestimmen, welche Farm es war. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich weiß nicht, wie lange ich hier stand. Ich schreckte plötzlich auf. Eine Stimme sagte hinter mir: »Ronco? Was tust du denn hier?« Ich drehte mich um. Padre Frastus stand vor mir. »Ich bin wachgeworden«, sagte ich. Er nickte nur und schien sich gar nicht zu wundern. »Wenn du schon mal wach bist … Komm mit in die Küche.« Ich hoffte, daß er mir etwas über das Feuer sagen würde. Aber er schwieg. Ich trottete hinter ihm her. Wir betraten die Küche, wo ich erstaunt gemustert wurde. Padre Elfego brachte mir ein Glas Milch. Ich trank mit kleinen Schlucken, obwohl ich gar keinen Durst hatte. Ich war viel zu aufgeregt. Major Bullard befand sich ebenfalls in der Küche. Er stand neben dem großen Herd und hielt eine Tasse Kaffee in der Rechten. Er wirkte übernächtigt. Es wurde viel gesprochen. Einige Offiziere kamen und gingen wieder. Ich erfuhr, daß die Soldaten und die Padres selbst noch nicht wußten, welche Farm es war, die brannte. Der Feuerschein hatte sie alarmiert. Alle fürchteten, daß die Soldaten zu spät erschienen. Wir saßen bis zum frühen Morgen in der Küche. Ich wurde seltsamerweise nicht müde. Im Morgengrauen kehrten die Soldaten zurück. Sie brachten die O'Connors mit. Rand O'Connor war verletzt. Schulterschuß. Carl, sein ältester Sohn, war tot. Mrs. O'Connor und Fitz, ein schwächlicher Junge in meinem Alter, weinten. Die Soldaten hatten drei Mann verloren und vier Verwundete. Die Apachen hatten fliehen können. Aber sie hatten eine deutliche Spur hinterlassen. Einer von Bullards Adjutanten meinte, man müsse die Verfolgung aufnehmen. Major Bullard lehnte das nach einigem Bedenken ab, da die Apachen inzwischen zuviel Vorsprung gewonnen hätten und die
Armee nur in eine Falle reiten würde. Ich bemerkte, daß einige junge Offiziere unzufrieden wurden. Als ich zum Gästehaus hinüberging, um wenigstens einen Blick durch ein Fenster zu werfen, um sehen zu können, was mit den O'Connors und den Soldaten geschah, hörte ich einen jungen Lieutenant Major Bullard einen alten Trottel nennen, der sich wegen ein paar stinkenden Rothäuten in die Hose mache. Ich konnte durch die Fenster des Gästehauses nichts sehen. Die Vorhänge waren zugezogen. Aber ich hörte die Verwundeten stöhnen. Einer schrie ganz laut. Da drehte ich mich um und rannte rasch zum Tor. Gerade ging die Sonne auf. In diesem Moment entdeckten wir das zweite Feuer. Und während der Posten auf dem Turm sein Signal blies, stieg an einer weiteren Stelle im Land eine grauschwarze Rauchwolke in den blaßblauen Morgenhimmel. * »Es geht los«, sagte ein Soldat neben mir. Seine Stimme Klang rauh. Es war ein Corporal. Jung und doch alt. Sicher noch keine fünfundzwanzig Jahre, aber sein Gesicht war das Gesicht eines Fünfzigjährigen, Er hatte schon viel erlebt, ohne Zweifel. Mannschaften sprangen auf und liefen zu ihren Pferden. Sie nahmen ihre Gewehre mit, die sie in Pyramiden auf dem Hof der Mission zusammengestellt hatten. Sie schwangen sich in die Sättel. Major Bullard stürmte aus dem Haus, in dem Padre Emanuel sein Arbeitszimmer hatte. Er schnallte im Laufen seinen Waffengurt um. Er gab rasch ein paar Befehle, dann rückte eine Kompanie aus, die sich außerhalb des Camps teilte und den Feuern zustrebte. Minuten später waren die Reiter im Land verschwunden. Fast gleichzeitig blies der Posten im Turm wieder ein Signal. Ich schaute mich um. Ein Wagen rumpelte auf die Mission zu. Ein alter Planwagen mit verblichener, löchriger Plane. An der Seite des Wagens hingen Käfige, in denen aufgeregt gackernde Hühner steckten. Es waren die Dantons. Clay saß neben Bob Danton auf dem Bock.
Das Tor wurde geöffnet. Der Wagen rollte in die Mission. Padre Frastus kam heran. Bob nahm seinen Hut ab und stieg vom Wagen. »Können wir hierbleiben, Padre?« fragte er. »Clay, Lizzy, Little John und ich?« »Stellt euren Wagen hinter die Kapelle.« Padre Frastus lächelte. »Hier seid ihr in Sicherheit.« »Wir haben die Feuer gesehen«, sagte Bob. »Ich hielt es für besser, vorerst die Farm zu verlassen. Danke, Padre.« Er stieg wieder auf den Bock und lenkte den Wagen hinter die Kapelle. Ich lief daneben her. Unter der Plane hörte ich Little John plärren. Lizzy sang leise und versuchte ihn zu beruhigen. Mit wenig Erfolg. Clay stieg ab. Er wirkte etwas verlegen. »Bob meinte, daß wir nicht mehr sicher sind«, sagte er. »Ich wäre geblieben.« »Hast du von gestern noch nicht die Schnauze voll?« fragte ich wütend. Ich hatte es manchmal satt, wenn Clay versuchte, mir gegenüber anzugeben, nur weil er ein Jahr älter war. Er winkte ab. »Was war das schon!« »Ich hab gesehen, wie du geheult hast«, sagte ich. Das war hart. Aber ich war heute nicht in der Stimmung, um Clays Überheblichkeit hinzunehmen. »Du hast vor lauter Angst fast in die Hose geschissen.« Er blickte mich schweigend an. Ich aber sprach weiter: »Die Farm der O'Connors ist in der Nacht abgebrannt. Die Apachen haben Carl getötet. Mr. O'Connor ist verletzt, und Mrs. O'Connor und Fitz sind mit den Nerven völlig 'runter. Die Soldaten, die in der Nacht zur Farm geritten sind, hatten einen Zusammenstoß mit den Apachen. Es hat drei Tote gegeben.« Ich drehte mich um und ging weg. Ich war vielleicht etwas heftig gewesen. Aber ich fühlte Zorn auf Clay. Er war ein netter Kerl. Ich mochte ihn gern. Er war mein Freund, und wir hielten immer fest zusammen, wenn es darauf ankam. Aber er war in vielfacher Hinsicht ein Feigling. Solange er jedoch in Sicherheit war, prahlte er und spielte sich mir gegenüber
auf. Ich hörte seine Stimme hinter mir. »Ronco!« Ich ging weiter. Er lief mir nach und stand gleich darauf neben mir. »Hör zu«, sagte er. »Schnapp doch nicht gleich ein. Es war nicht so gemeint. Ich – ich bin ein Idiot.« »Ja«, sagte ich. »Das bist du. Sei froh, daß Bob mit euch hergefahren ist. Hier sind die Soldaten, und wenn die Apachen angreifen, werden sie uns verteidigen. Ich habe Angst. Und ich schäme mich nicht, das zu sagen.« »Ich habe auch Angst«, sagte Clay. Seine Stimme klang leise. Er hatte wieder auf normal geschaltet. Ich grinste ihn schief an. »Solange die Soldaten hier sind, wird es schon gutgehen.« Er nickte. * Eine Stunde später tauchte der erste Armeetrupp auf. Er brachte die Fizzards. Der rothaarige, hochnäsige All, der Streber, hatte einen abgebrochenen Pfeil in der linken Schulter stecken. Er schrie wie am Spieß. Wir hörten ihn schon von weitem. Sein Vater war auf ein Deckenlager auf der Ladefläche eines Wagens gebettet worden. Er hatte zwei Kugeln in der Brust und war ohne Bewußtsein. Mrs. Fizzard, eine Frau, die fast so groß und kräftig war wie ein Mann, die ein »Schandmaul« hatte, wie die Leute zu sagen pflegten, und von der All wahrscheinlich seine Unverschämtheit geerbt hatte, hockte in sich zusammengesunken auf dem Bock des Wagens, den linken Arm um All gelegt. Sie war kaum wiederzuerkennen. Eine halbe Stunde verging, dann kehrte der zweite Trupp zurück. Mit ihm kamen die Cushtons, wenn man bei drei Toten vom Kommen und Gehen sprechen will. Es lebte nur noch der zwanzigjährige Bill Cushton. Seine Eltern und Geschwister waren tot. Sie lagen unter Decken auf einem Farmwagen. Die Kavalleristen hatten keine Berührung mit Apachen gehabt. Sie waren diesmal zu spät gekommen. Wir hörten All Fizzard im Gästehaus brüllen. Die Pfeilspitze war
durchgestoßen worden, weil sie Widerhaken hatte und nicht herausgezogen werden konnte. Seltsamerweise befiel uns keine Schadenfreude. Diesmal tat der aufgeblasene All uns leid. Mehrere Wagen rollten nun auf die Mission zu. Richter Collins und seine Frau nebst Gesinde trafen ein. Sie hatten ihr feines Haus auf dem Hill's Point verlassen. Der Richter spielte sich gleich mächtig auf. Er sprach mit Major Bullard, bot seine Hilfe an und erzählte von seinen legendären Erfolgen als Captain im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg. Der Major schien davon nicht so sehr beeindruckt. Er kümmerte sich nicht lange um Richter Collins. Statt dessen schickte er Kavallerie aus, um die Farmer des Tales zu evakuieren.
7. Am Nachmittag tauchten in der Nähe der Mission Indianer auf. Sie spähten herüber. Es waren nicht mehr als zehn oder fünfzehn Krieger. Sie hielten Gewehre in den Händen, nagelneue SharpsGewehre. Sie palaverten heftig miteinander. Wir erkannten es an den Armbewegungen. Ein paar Männer gaben Schüsse ab, die die Krieger jedoch nicht gefährdeten. Nach knapp fünf Minuten verschwanden sie wieder. Dann blieb es ruhig bis zum Abend. Spät in der Nacht weckten mich Schüsse auf. Ich war nicht allein in meiner Kammer. Ich hatte Padre Emanuel darum gebeten, daß Clay bei mir schlafen durfte. So brauchte er sich nicht mit Bob, Lizzy und Little John in dem engen, alten Planwagen, mit dem seine Eltern aus Illinois hergetrailt waren, zusammenzuquetschen. Ich richtete mich auf. Clay neben mir wälzte sich herum und stöhnte verschlafen. Wieder krachten Schüsse, weit entfernt zwar, aber doch nah genug, daß deutlich zu unterscheiden war, ob Revolver oder Gewehre abgefeuert wurden. Clay stieß einen Grunzlaut aus. Er griff im Halbschlaf nach der Decke, die durch mein Aufrichten verrutscht war und zerrte sie sich über den Kopf. Ich stand auf.
In meinem Kopf war ein bleiernes Gefühl, genauso in meinen Beinen. Ich hörte weitere Detonationen. Ich hatte den Eindruck, daß die Geräusche allmählich lauter wurden. Als ich aus dem Fenster schaute und den Stand des Mondes sah, wußte ich, daß es bereits zwei oder drei Stunden nach Mitternacht war. In spätestens einer Stunde würde der Morgen grauen. Ich sah ein paar Fackeln auf dem Hof. Soldaten standen an der Mauer und hinter den Sandsackbarrieren. Sie hielten ihre Gewehre in den Fäusten. Irgendwo draußen vor der Mission krachten Schüsse durch die Nacht. Ich drehte mich um. Clay schlief weiter. Ich kleidete mich an, ohne ihn zu wecken. Seit gestern nachmittag besaß ich einen Revolver, einen kurzläufigen Pocket Colt. Er hatte neben dem Wagen der Fizzards im Gras gelegen. Ich wußte, daß es Alls Waffe war. Er hatte sie während des letzten Unterrichts in der Missionsschule getragen. Er mußte sie verloren haben, als man ihn ins Gästehaus getragen hatte, um seine Wunde zu versorgen. Ich hatte ihn nicht zurückgegeben. Ich dachte gar nicht daran. All konnte jetzt doch nichts damit anfangen. Ich dagegen fühlte mich wohl mit ihr. Ich wußte, daß ich damit umgehen konnte – und damit umgehen würde. Ich steckte den kleinen Revolver unter das Hemd in den Hosenbund. Diesmal kletterte ich nicht aus dem Fenster, sondern benutzte die Tür. Auf dem Gang draußen war niemand. Die Kammern der Padres waren leer. Ich ging durch den Aufenthaltsraum, der leergeräumt worden war, um notfalls auch noch als Lazarett zu dienen, und verließ das Haus. Heftiges Gewehrfeuer hallte mir entgegen. Ich hörte, wie sich Major Bullard mit seinem Adjutanten stritt. Bullard wollte die Kavallerie nicht ausrücken lassen. Er befürchtete, in der Dunkelheit in eine Falle zu laufen. Der Adjutant war anderer Meinung. Schließlich verbot ihm Major Bullard den Mund und ließ ihn stehen. Auf mich achtete niemand. Ich mischte mich zwischen die Soldaten an der Mauer. Ich sah schemenhaft einen langen Zug aus der Nacht auftauchen, Wagen, große und kleine, Studebakerschoner und flache
Frachtwagen. Die Farmer des Tales kamen. Rechts und links ritten Soldaten. In einiger Entfernung davon entdeckte ich auch Indianer. Sie begleiteten den Treck und nahmen in ständig unter Feuer. Mündungsblitze zuckten. Genaues war nicht zu erkennen. Es war zu dunkel. Die Krieger schwenkten plötzlich ab und strebten den Hügeln zu. Der Treck rollte auf das Tor der Mission zu. Die Torflügel wurden aufgerissen. In voller Fahrt rasten die hochbeladenen Wagen auf den Hof. Der Missionshof füllte sich rasch. Etwa zwanzig Wagen rollten durch das Tor. Ihnen folgten die Soldaten. Als die Torflügel zugeworfen wurden, flammten auf den Hügeln rings um die Mission kleine Feuer auf. Wenig später begannen Trommeln zu dröhnen, dumpf und monoton. Es war das erste Mal, daß ich so etwas miterlebte. Ich war verwirrt. Ich tastete nach dem Griff des Pocket Colts unter meinem Hemd. Doch was half mir die Waffe jetzt? Auf dem Hof herrschte ein heilloses Durcheinander. Babies schrien, Kinder weinten, Männer fluchten. Die Frauen waren noch am ruhigsten. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die Wagen alle ihren Platz gefunden hatten, bis die Pferde im Stall der Mission standen, bis die Verletzten in das Gästehaus gebracht worden waren, wo der Armeearzt, die Sanitäter und die Padres im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten, um alle zu versorgen, die Hilfe brauchten. Ich hörte, was die Soldaten des Begleitkommandos erzählten. Die Apachen hatten den Treck zum erstenmal vor einer Stunde angegriffen. Der Angriff war abgeschlagen worden. Von da an hatten die Indianer den Zug begleitet und waren immer wieder kurze Attacken geritten. Ich schaute mir die Farmer an. Ich kannte sie alle. Vor allem natürlich die Kinder. Sie sahen mich nicht. Sie hatten mit sich selbst zu tun. Sie sahen bleich und übernächtigt aus. Ich sah Jerry Ricks, der ganz apathisch unter dem Planwagen seiner Eltern hockte. Ich sah Jay Kingsley und all die anderen. Ich fragte mich, ob mit mir irgend etwas nicht in Ordnung war, weil die Ereignisse die anderen
alle so sehr mitnahmen, während ich im Gegensatz dazu verhältnismäßig ruhig war. Ich kehrte zur Mauer zurück. In diesem Moment raste ein glühender Punkt durch die Nacht. Er zog einen weiten Bogen durch die Luft und schoß auf die Mission zu. Ein Brandpfeil. Sekundenbruchteile später steckte er im Dach eines Schuppens. Sofort waren Soldaten zur Stelle, die die Flammen löschten. Weitere Brandpfeile waren bereits unterwegs. Sie richteten nicht viel Schaden an. Aber sie zermürbten, einige der Leute wurden nervös. Und dazu das monotone Gehämmer der Felltrommeln. Aus dem Brunnen der Mission wurde nun Wasser geschöpft. Sämtliche Gefäße, die greifbar waren, wurden mit Wasser gefüllt und neben den leicht brennbaren Gebäuden aufgestellt. Als diese Arbeit getan war, stiegen bereits graue Schwaden aus den Flußniederungen und verdrängten die schwarze Finsternis der Nacht. Die Luft wurde klamm. Es stieg feucht und kalt vom Fluß herauf. Ochsenfrösche quakten, ein paar Vogelstimmen waren zu hören. Der Nebel verdichtete sich. Es war wie in einer Waschküche. Der graue Dunst nahm uns die Sicht. Die Feuer der Apachen waren nur noch kleine, rote Punkte, die so weit weg erschienen wie die Sterne am Himmel. Der dumpfe Trommelklang ging im Nebel fast unter. Er klang nur noch leise zu uns herüber. Viele Frauen und Kinder, auch einige Männer, waren auf den Wagenböcken eingeschlafen. Die Soldaten hielten sich nur krampfhaft wach. Sie hatten die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sie fröstelten. Sie hatten sich Satteldecken um die Schultern geschlungen und Tabakkrümel in die Augen gerieben, um wachzubleiben. Aus dem Gästehaus klangen immer noch die Schreie der Verletzten. Es war ein höllischer Morgen. Ich fror auch. Müde war ich nicht. Ich hockte neben den Soldaten an der Mauer. Niemand jagte mich weg. Es sprach überhaupt keiner.
Ab und zu zündete sich einer eine Zigarette an. Ich spürte instinktiv, daß etwas bevorstand, und daß die Soldaten das auch wußten. Manche mochten an den Tod denken. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Dann wurde ein heller Streifen in den Schwaden sichtbar. Er verbreiterte sich, wurde kräftiger. Der erste Sonnenstrahl brach sich auf den Fensterscheiben der Mission, spiegelte sich in den Tautröpfchen, die an den Dachkanten hingen wie an einer Schnur aufgereihte, bunte Glasperlen. Der Posten im Turm wurde abgelöst. Ein Soldat ging vorüber und betrat die Kapelle. Eine schwere große Hand legte sich plötzlich auf meine Schulter. Ich schaute auf. Ich blickte in das Gesicht eines Sergeants. Er war unrasiert. Seine Augen hatten rote Ränder. »Geh jetzt, Junge«, sagte er zu mir. »Du kannst nicht hierbleiben.« Ich nickte stumm. Ich erhob mich und ging zu dem Gebäude hinüber, wo ich meine Kammer hatte, in der Clay noch immer den Schlaf des Gerechten schlief. Als ich gerade drei oder vier Schritte gegangen war, hörte ich einen dumpfen Laut hinter mir. Ich drehte mich um. Der Sergeant stand noch immer an derselben Stelle. Aus großen runden Augen starrte er angestrengt auf einen Apachenpfeil, dessen gefiederter Schaft aus seiner Brust ragte. Die Soldaten rechts und links sprangen auf die Beine und hoben ihre Gewehre. Da kippte der Sergeant langsam nach vorn. Er umklammerte im Fallen mit der rechten Hand den Pfeilschaft. Er stürzte. Der Pfeil bohrte sich nun völlig durch den Körper. Die Spitze ragte aus dem Rücken unterhalb des linken Lungenflügels heraus, als der Sergeant am Boden lag. Das gefiederte Ende war abgebrochen. Ich drehte mich um und begann zu laufen. Hinter mir peitschten Schüsse auf. Als ich das Gebäude erreichte, in dem meine Kammer lag, schaute ich mich um. Ich sah schemenhafte Gestalten aus den sich lichtenden Nebelschwaden auftauchen. Apachen. Sie griffen zu Fuß an. Eine Vorhut zumindest. Sie brauchten keine Pferde, um zu kämpfen. Zu Fuß waren sie genauso
gut, wenn nicht noch gefährlicher. Sie hielten Messer, Tomahawks und Revolver in den Fäusten. Einige hatten bereits die halbhohe Mauer überstiegen und auch die Sandsackbarrieren überwunden. Sie fielen über die Soldaten her, die sich erbittert verteidigten. Das dumpfe Trommeln war nach dem Aufbrüllen der ersten Schüsse verstummt. Jetzt wurde nur noch gekämpft. Der Lärm weckte die Farmer, die Männer, die Frauen und die Kinder. Ich hörte Mütter nach ihren Söhnen und Töchtern schreien. Ich sah Männer mit ihren alten Gewehren zu den Mauern der Mission laufen, um mitzukämpfen. Immer mehr Indianer tauchten vor der Mauer auf. Sie verwickelten die Soldaten in ein heftiges Handgemenge. Von Tomahawk-Hieben und Messerstichen getroffen sanken junge Rekruten zu Boden. Gewehr- und Revolverkugeln warfen die Apachen von der Mauer herunter. Kaum einer sprach ein Wort dabei, kaum einer schrie. Auch die Verletzten nicht. Es war ein stummes, verbissenes Ringen. Ich konnte mich kaum von dem Anblick losreißen. Doch ich zwang mich dazu. Ich wußte, daß ich in Gefahr war, solange ich auf dem Hof stand. Ich drehte mich um und lief ins Haus. Auf dem Gang begegnete mir Clay. Sein Gesicht war bleich. In seinen Augen spiegelte sich Furcht. »Was ist los?« stammelte er. »Warum hast du mich nicht geweckt?« »Ein Apachenangriff«, sagte ich. Ich zerrte ihn am Nachthemd in meine Kammer zurück. Er begann sich hier anzukleiden. Ich eilte zum Fenster. Draußen auf dem Hof wurde das Gewehrfeuer stärker. Ich zog die Vorhänge zur Seite. Ich sah, daß die Soldaten die Apachen über die Mauer zurückgejagt hatten. Zusammen mit den Farmern schossen sie jetzt auf die zurückweichenden Angreifer. Drei tote Apachen lagen im Hof, einer auf dem Mauersims. Sein nackter Rücken war blutüberströmt. Ich zog den Revolver unter dem Hemd hervor. Es war eine instinktive Bewegung, die mir gar nicht bewußt wurde. Clay trat neben mich.
»Du hast einen Revolver?« Ich schaute ihn an, überrascht, senkte meinen Blick und starrte einen Moment schweigend auf die kleine, dunkel brünierte Waffe. »Gefunden«, sagte ich. »Ich habe ihn gefunden.« »Es ist gut, daß wir eine Waffe haben«, sagte Clay. In seinen Augen glitzerte es. »Ich«, sagte ich. »Ich habe sie.« Ich steckte den Colt wieder weg. * Im Osten stieg die Sonne aus dem Fluß. Ein orangefarbener Ball, dessen Strahlen den Frühdunst zerfetzten. Nebelbänke lösten sich auf oder zerflatterten im Wind, der über den Fluß strich. Die Feuer auf den Hügeln waren erloschen. Der Klang der Trommeln war verhallt. Über die Ebene jagten die Apachen heran. Sie bildeten eine weit auseinandergezogene Phalanx. Es waren sicher hundert Krieger, eher mehr. Staub wirbelte unter den Hufen der Ponys auf. Der Boden erzitterte. Durch die sich zögernd erwärmende Luft des jungen Tages gellten die kollernden, schrillen Kriegsschreie. Die Familien der Farmer flüchteten in die Gebäude der Mission, auch in die Kapelle. Soldaten und Farmer knieten Schulter an Schulter hinter der Missionsmauer und den Sandsackwällen und feuerten auf die heranstürmenden Indianer. Die erste Salve fegte mehrere Sättel leer, riß jedoch keine nennenswerten Lücken in die Reihe der Krieger. Dann erwiderten die Apachen das Feuer. Schmutziggrauer Pulverdampf stieg auf, wurde vom Wind über die Ebene getragen, breitete sich aus und hing bald wie eine zähe Gewitterwolke düster und drohend über dem Schlachtplatz. Major Bullard stand am Tor. Er hielt seinen Säbel in der Rechten und gab damit seinen Soldaten Zeichen, wie ein Dirigent seinem Orchester, da seine Stimme im Gefechtslärm unterging. Als die Apachen auf knapp dreißig Yards heran waren, donnerte die Kanone.
Zwei Männer mit starken Balken stemmten sich hinter das Geschütz, um den Rückstoß abzufangen. Die Neunzig-Pfund-Kugel schlug zwischen den Indianern ein und riß ein tiefes Loch in den Rasen. Mehrere Pferde stürzten und warfen ihre Reiter ab. Ich sah, daß einige Soldaten von Pfeilen und Geschossen getroffen wurden und zusammenbrachen. Sie wanden sich schreiend vor Schmerzen im Staub. Sanitäter liefen aus dem Gästehaus, hoben die Verletzten auf und trugen sie weg. Es dauerte fast eine halbe Stunde, dann flutete die erste Angriffswelle zurück hinter die Hügel. Tote Pferde und tote Krieger blieben auf der Ebene zurück. Ihre Körper verschwanden im hohen Gras. Wo sich noch etwas bewegte, veranstalteten die Soldaten Zielschießen, um sicher zu gehen, daß keiner etwa nur verwundet war und am Leben blieb. Ich senkte den Kopf, um nicht dabei zuschauen zu müssen. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Clay stand neben mir und stierte, bleich wie eine Kalkwand, nach draußen. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und biß sich, ohne es selbst zu merken, immer wieder in den linken Daumen. »Clay!« Ich sprach ihn an. »Clay, Mensch, hör doch!« Er hörte nicht. Ich faßte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. Da wandte er den Kopf. Er schien aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Er schaute mich an und zitterte am ganzen Körper. »Geh weg vom Fenster«, sagte ich. »Ist Bob – ist er da draußen an der Mauer?« fragte er. »Ich denke schon.« »Ob ihm – was passiert ist?« »Bestimmt nicht«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung und wußte nicht wo Bob stand. Wahrscheinlich außerhalb unseres Blickfeldes. »Und Lizzy und Little John …« »Du hast doch gesehen, daß die Frauen und Kinder in die Kapelle gelaufen sind«, sagte ich. »Weißt du nicht, wie dick die Mauern der Kapelle sind?« Er schwieg. Langsam ging er zum Bett und setzte sich auf die Kante. »So ein beschissener Krieg«, sagte er. »Was haben wir den Rothäuten getan.«
Ich erinnerte mich an Padre Emanuels Worte. »Wir haben ihnen das Land weggenommen«, sagte ich. »Und dann denk mal an die Skalpjäger.« »Wir haben nie Skalps genommen und Prämien dafür kassiert«, sagte Clay. »Als wir herkamen, waren keine Indianer am Fluß, wo die Farm heute steht. Wir haben niemanden weggejagt.« »Bolton von der Station hat gesagt, daß weiße Händler ihnen Waffen und Brandy geliefert haben«, sagte ich. Clay schwieg. Ich schaute aus dem Fenster. Hinter der Hügelkuppe stiegen jetzt dicke, schwarze Rauchwolken auf. Sie stiegen in kurzen Abständen nacheinander auf und wurden in höheren Luftschichten vom Wind zerfetzt. Rauchsignale. Ich war ganz sicher. Draußen auf dem Hof schienen die Soldaten der gleichen Meinung zu sein. Ich öffnete das Fenster und hörte, wie sie redeten. Niemand konnte die Rauchsignale deuten. Aber alle vermuteten, daß die Apachen Verstärkung herbeiriefen. Es sah nicht gut aus. Die Luft war voller Pulverdampf. Ich schmeckte es gleich, als ich den Kopf aus dem Fenster steckte. Mehrere Rekruten liefen aus der Küche. Sie trugen einen riesigen Topf mit dampfendem Kaffee zwischen sich. Padre Elfego folgte ihnen mit einfachen Bechern. Sofort scharten sich Soldaten und Farmer um den Topf. Ich hatte auch Durst. Ich schaute zu den Hügeln hinüber. Dort standen, außer Schußweite, mehrere Krieger und beobachteten die Mission. Sie standen da wie Holzfiguren, steif und regungslos. Im Moment schien keine Gefahr zu drohen. »Hast du Durst?« fragte ich Clay. »Durst?« er wirkte verstört. »Nein – ja …« Er nickte. Ich ging hinaus und lief über den Hof. Padre Elfego war bereits wieder unterwegs zur Küche. Ich holte ihn an der Küchentür ein. Er schaute mich aus traurigen Augen an. »Du bist hier draußen? Junge, sieh zu, daß du wieder ins Haus kommst.«
»Clay und ich haben Durst«, sagte ich. »Durst?« Er lächelte über seine roten Wangen. »Natürlich. Alle haben Durst. Komm mit.« In der Küche füllte er eine kleine Kanne mit Milch für Clay und mich. »Es sieht schlimm aus, nicht wahr?« sagte ich. Er gab mir die Kanne. »In der Kapelle wird gebetet«, erwiderte er. »Wir werden es schon schaffen.« »Ich habe die Rauchsignale gesehen«, sagte ich. »Ich glaube – ich habe Angst, Padre Elfego.« Er strich mir über den Kopf. »Ich auch«, sagte er. »Aber das ist unwichtig. Nicht Angst zu haben, ist dumm.« »Werden wir sterben müssen?« »In der Kapelle beten sie«, sagte er, als hätte er meine Frage nicht verstanden. »Ich bete auch.« Er drehte sich um und ging zu seinem großen Herd. Er wandte noch einmal den Kopf. »Du sollst doch erst noch leben, Ronco.«, sagte er. »Du darfst noch nicht ans Sterben denken. Wie kommst du nur darauf?« »Glaubst du, daß das Beten hilft?« fragte ich. »Beten hilft immer«, erklärte Padre Elfego. »Geh zurück zu Clay. Bleibt im Haus. Die Soldaten werden uns schon beschützen.« Ich ging. Ich trug die Kanne mit der Milch vorsichtig, um nichts zu verschütten. Aus den Käfigen, in denen die Farmer ihre Hühner mitgebracht hatten, hallte ein Heidenlärm. Ein Farmer hatte auch zwei Ziegen und ein Schwein in einem Bretterverschlag mitgebracht. Die meisten Männer nutzten die Kampfpause, um die Tiere zu füttern.
8. Gerade als ich am Fenster meiner Kammer vorbeiging, begann der zweite Angriff. Ich blieb wie angewurzelt stehen, als rund fünfzig Reiter auf den Hügeln auftauchten und schreiend auf die Mission zuritten. Ich fühlte auf einmal einen harten Schlag gegen meinen Körper und ein scharfes Stechen in den Handgelenken. Dann fiel ich hin. Ich
war so erschrocken, daß ich liegenblieb, bis ich die Nässe an meinen Beinen bemerkte. Mit der Rechten hielt ich noch immer krampfhaft den Henkel der Kanne umklammert. Aber die Kanne war kaputt. Die Milch war mir über die Hosenbeine gelaufen und versickerte nun im Staub. Ein Querschläger mußte die Kanne getroffen haben. Ich war dem Tod noch nie so nahe gewesen. Ich ließ den Kannenrest fallen, wälzte mich herum und kroch auf allen vieren dicht an die Hausmauer. Hier robbte ich weiter, um die Tür zu erreichen. Als dicht vor mir eine Kugel in die Hausmauer einschlug und mir eine Handvoll winzige Gesteinssplitter ins Gesicht schleuderte, blieb ich liegen. Seltsamerweise hatte ich in diesem Moment gar keine Angst mehr. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Es erschien mir vernünftiger, liegenzubleiben. Ich preßte mich fest an den Boden. Das wilde Kriegsgeheul der Apachen, das dumpfe Donnern der Pferdehufe und das pausenlose Krachen der Gewehre dröhnte wie ein Inferno in meinen Ohren. Die Indianer fegten heran, ohne sich durch die Salven der Soldaten und Farmer beirren zu lassen. Sie schossen ihre Gewehre und ihre Pfeile ab. Als sie kaum noch dreißig Yards von der Vorderfront der Mission entfernt waren, ertönte ein Alarmsignal. Auch an der Westseite waren Indianer gesichtet worden. Ich hielt den Moment für günstig, richtete mich auf und rannte zur Tür. Meine Beine waren schwer wie Blei. Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Gerade, als ich die Hausecke erreichte, galoppierten drei, vier Krieger tollkühn direkt auf das Tor der Missionsmauer zu. Zwei stürzten, von Geschossen zersiebt, aus den Sätteln. Die beiden anderen setzten mit gewaltigen Sprüngen über das Tor hinweg in den Innenhof. Sie ritten mehrere Soldaten nieder. Dann wurden die Pferde von Kugeln getroffen und überschlugen sich. Einer der Krieger wurde durch die Luft geschleudert und schlug keine vier Yards entfernt von mir am Boden auf. Betäubt kam er auf die Beine. Ich handelte instinktiv. Ich wußte selbst nicht genau, was ich tat.
Meine Rechte fuhr unter das Hemd. Ich spürte das kühle Holz des Revolvergriffes und riß die Waffe heraus. Einen Herzschlag lang zögerte ich. Ich fühlte mich schlecht. Schwindel sprangen mich an. Der kleine Revolver schien zentnerschwer zu sein. Der Indianer hielt seinen Tomahawk in der Hand und schleuderte ihn im selben Moment, als ich abdrückte. Die Kugel traf ihn in die linke Seite und warf ihn zu Boden. Er kniete zusammengekrümmt im Staub. Sein Tomahawk hatte niemanden verletzt. Ein Soldat war von der flachen Klingenseite getroffen worden. Stöhnend richtete der Apache sich auf. Er war überdurchschnittlich groß. Sein Oberkörper war sehnig und hager. Er taumelte. Aus der Wunde an der Hüfte quoll das Blut in dickem Strahl, obwohl er die linke Hand darauf gepreßt hatte, und rann an seinem Bein hinunter. Schüsse krachten. Schwere Springfield-Geschosse erschütterten seinen Körper und trieben ihn mehrere Schritte weit, bevor der Anprall ihn niederstürzen ließ. Er krallte die Finger in den Sand und starb. Ich warf mich herum, hetzte zur Tür und sprang ins Haus. Im halbdunklen Flur lehnte ich mich schwer atmend an die Wand. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich hatte das Gefühl, einen Eisenring um den Hals liegen zu haben, der sich rasch zusammenzog. Ich hatte getötet. Schon wieder getötet. Es wurde gekämpft, gekämpft und gestorben. Ich hatte getan, was alle taten. Ich hatte mich gewehrt. Ich hatte wahrscheinlich einem Soldaten das Leben gerettet, vielleicht auch mehreren. Aber ich war ein Kind. Ich tötete wie ein Mann. Ich fühlte mich miserabel. Ich steckte den Revolver mit einer eckigen Bewegung unter das Hemd. Langsam ging ich zu meiner Kammer. Clay saß noch immer auf der Bettkante. Er schaute mir aus müden Augen entgegen. Er schien die Schüsse auf dem Hof nicht zu hören. »Ich habe die Milch vergossen«, sagte ich. Ich ging zum Fenster. Als ich davorstand, zersplitterte eine Kugel die Scheibe. Ich ließ
mich einfach fallen. Ein paar Glassplitter trafen mein Gesicht. Ein dünner Blutfaden rann über meine Stirn. Der Fensterflügel wurde herumgerissen und knallte an die Wand. Der Rest der Scheibe brach heraus und zerklirrte am Boden. Die Kugel war hinter mir in die Wand über der Kommode eingeschlagen. Adobelehm bröckelte ab. Ich richtete mich langsam wieder auf. Ich sah, daß die Indianer wieder zurückgeschlagen wurden. Diesmal waren die Verluste unter den Soldaten jedoch erheblich größer, aber auch mehr tote Indianer blieben zurück als beim erstenmal. Als die untersetzten Krieger auf ihren gescheckten Ponys über die Hügel zurückfluteten, befahl Major Bullard eine Kompanie in die Sättel. Das, Tor wurde geöffnet. Die Reiter preschten hinaus und folgten den Apachen. * Die Sonne stand bereits hoch. Die langen, schwach gekrümmten Klingen der Kavalleriesäbel blitzten wie pures Silber. Flirrende Hitze lag auf dem Land. Pulverdampfwolken schwebten über die Ebene. Der Missionshof war von den Schreien der Verwundeten erfüllt. Sie lagen überall, nicht nur an der Mauer. Diesmal waren auch Frauen und Kinder unter den Verletzten. Sie hatten die Feuerpause genutzt, um auf dem Hof etwas zu essen oder zu trinken. Der erneute Angriff der Apachen hatte sie überrascht. Rostrote Flecke übersäten den Hof. Süßlicher Blutgestank, vermischt mit intensivem Schweißgeruch, breitete sich in der Hitze aus. Fliegen schwirrten zwischen den Gebäuden und ließen sich nicht vertreiben. Außer den Padres kümmerte sich niemand um die Verletzten. Die Soldaten standen an der Mauer und schauten hinaus auf die Ebene, wo die Kavallerie die Apachen einholte und sich ein heftiger Kampf entwickelte. Revolver krachten dumpf und belfernd. Wenig später stürzten Soldaten und Indianer ineinanderverkrallt aus den Sätteln.
Kavalleriesäbel bohrten sich in dunkelhäutige Körper, Tomahawks spalteten die Schädel von jungen Soldaten. Der grüne Rasen der Ebene färbte sich rot. Immer mehr wurde das Gefecht zu einem Kampf Mann gegen Mann. Nur noch wenige Sättel waren besetzt. Der Kampf wurde am Boden entschieden. Es war ein entsetzliches Gemetzel. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Es erschien mir wie eine Ewigkeit. Aber es waren wohl nicht mehr als zehn Minuten. Dann flohen die Indianer. Sie rissen sich aus der Verkeilung mit den Soldaten los und stürmten zu Fuß die Hügel hinauf. Die Soldaten folgten. Einige sprangen wieder auf ihre Pferde. Sie hieben aus den Sätteln herab mit ihren Säbeln auf die Apachen ein. Ich beobachtete einen Apachen, dem fast der rechte Arm abgetrennt wurde. Ein anderer wurde enthauptet. Dann erreichten auch die Krieger wieder ihre Pferde. Sie schwangen sich in die Deckensättel und sprengten davon. Die Kavallerie nahm die Verfolgung auf. Auf dem Kampfplatz lagen etwa dreißig Menschen, Soldaten und Indianer. Viele davon lebten noch. Sie krochen mit letzter Kraft durch das hohe Gras oder schrien laut und klagend um Hilfe. Major Bullard ließ weitere zehn Mann ausrücken. Sie nahmen einen Wagen mit. Wenig später sah ich die Soldaten zwischen den im Gras liegenden Indianern umhergeben. Ab und zu hob einer seinen Revolver und schoß noch ein-, oder zweimal. Danach wurde es ganz still. Der Wind trieb die Pulverschwaden von den Hügeln herunter. Kurz nachdem die Toten und Verletzten geborgen worden waren, kehrten die Überlebenden der ersten Kompanie zurück. Auch sie waren teilweise verletzt. Ihre Uniformen waren zerrissen und blutbesudelt. Genauso die Felle ihrer Pferde – Indianerblut. Die Klingen ihrer Säbel glänzten nicht mehr. Sie waren matt, stumpf und fleckig. Ein junger Corporal schwenkte mehrere Indianerskalps. Von den Hautfetzen tropfte noch Blut. Er grinste. Ich wollte mich vom Fenster abwenden. Doch ich brachte es nicht fertig. Die Farmer hatten sich im Hof zusammengeschart, die Männer,
die Frauen und auch die Kinder. Sie jubelten den Soldaten zu, als sie durch das Tor ritten. Ein paar Frauen waren dabei, die die blutüberströmten Männer küßten. Ich sah auch Bob Danton. Er schwang seine Sharps über dem Kopf und lachte und jubelte wie die anderen. Ich drehte mich zu Clay um. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Die Indianer sind weg. Sie sind geschlagen.« Er schaute mich ungläubig an. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn mit. Gemeinsam gingen wir auf den Hof. Hier hielt Major Bullard gerade eine Ansprache. Ich habe die genauen Worte vergessen. Aber ich weiß noch, daß er allen dankte. Besonders den Farmern, die so tapfer an der Seite der Soldaten mitgekämpft hatten. Noch sei dieser Krieg nicht beendet, sagte er. Daher sei es erforderlich, daß die Familien noch ein paar Tage in der Mission blieben. In der Zwischenzeit werde wahrscheinlich Verstärkung anrücken. Die Indianer würden dann niedergekämpft und aus dem Farmgebiet vertrieben werden. Alle schrien »Hurra!« und klatschten Beifall. Sie ließen die glorreiche US-Armee hochleben, fielen sich gegenseitig in die Arme und tanzten auf dem Hof herum. Ich sah irgendwo in dem Durcheinander Lizzy, die Little John, in Decken gewickelt, auf dem Arm hielt. Clay eilte zu ihr hin. Ich ging ins Haus zurück und in meine Kammer. Ich schloß das Fenster, setzte mich aufs Bett und starrte schweigend vor mich hin. Ich dachte an die Toten und an die, die ich getötet hatte. Ich holte den Revolver unter meinem Hemd hervor und betrachtete ihn lange. Schließlich bückte ich mich und warf die Waffe unter das Bett. Sie rutschte über die Dielen und prallte an die Wand. Dort blieb sie liegen. Ich richtete mich wieder auf und ging zum Fenster. Draußen drängten sich Farmer und Soldaten vor der Tür des Gästehauses, um zu erfahren, wie es den Verwundeten ging. Als Padre Emanuel wenig später zum Gebet rief, strömten alle in die Kapelle. Ich blieb in meiner Kammer. Als später die Glocke läutete, lag ich lang ausgestreckt auf meinem Lager.
Ich lag noch immer da, als Clay hereintrat, um mich zum Essen zu holen. Es war zwar schon ein bißchen spät für eine Mittagsmahlzeit, aber wir hatten ja alle an diesem Tag noch nichts gehabt. »He, was ist los?« fragte Clay. Er blieb an der Tür stehen. Er sah aus, als sei nichts geschehen. Noch vor ein paar Stunden hatte er wie ein Häufchen Elend hier gehockt und war vor Angst fast vergangen. Jetzt grinste er wieder. Seine Augen funkelten, und sein überheblicher Gesichtsausdruck war auch wieder da. Es war alles wieder in Ordnung. »Nichts«, sagte ich. »Nichts ist los.« »Komm zum Essen«, sagte er. »Junge, ich sag dir, die Kavallerie hat die Rothäute zusammengehauen.« »Ich hab's gesehen«, sagte ich. »Während du hier auf dem Bett gehockt hast.« Sein Grinsen verschwand für ein paar Sekunden. »Vielleicht können wir schon in zwei oder drei Tagen zurück auf die Farm«, sagte er. »Wie schön für euch.« Ich erhob mich. »Wo hast du den Revolver?« Er blickte mich verschwörerisch an. »All Fizzard sucht danach. Er ist schon wieder auf den Beinen und gibt mit seinem Verband an der Schulter an, daß er bestimmt bald zerplatzt.« »Was für einen Revolver?« sagte ich. Ich ging zur Kommode und beugte mich über die Waschschüssel. Ich betrachtete mein Spiegelbild im Wasser und schaute in ein schmales, bleiches Knabengesicht mit etwas zu großen, blauen Augen und einer Zahnlücke oben links. Mein strohblondes Haar hing mir teilweise über die Ohren. Ich glaubte, in meinem Gesicht einen Ausdruck von Verlorenheit zu entdecken. Ich war nicht zufrieden mit mir. Clay musterte mich eigenartig, als ich zur Tür ging. »Du bist krank«, stellte er fest. »Sag mir, wo der Revolver ist.« »Ich habe keinen Revolver«, sagte ich. »Du spinnst ja.« Er lief mir nach, als ich an ihm vorbei ging und den Gang hinunter zur Haustür schritt.
»Was ist bloß los mit dir, Mensch?« Ich blieb an der Haustür stehen und starrte zu den Hügeln hinüber. Was konnte Clay eigentlich dafür, daß ich mir vorwarf, getötet zu haben? Ich wandte den Kopf. »Es ist nichts«, sagte ich. »Schon gut.« Er grinste wieder. »Ich dachte schon, du seist durchgedreht.« Wir gingen nebeneinander zur Missionsküche. Es war heiß. Noch immer hing der Pulvergestank in der Luft. Auch den Blut- und Schweißgeruch hatte der leichte Wind von den Hügeln noch nicht vertreiben können. »Wo ist denn nun der Revolver?« fragte Clay. »Ich habe ihn weggeworfen«, sagte ich. »Weggeworfen? Sag mal, bist du noch zu retten?« »Hör endlich auf davon«, sagte ich schwach. »Verdammt noch mal, ich will von diesem verfluchten Revolver nichts mehr hören, verstehst du?« Da schwieg er.
9. In der Nacht sahen wir überall im Land große Feuer lodern. Die Apachen fielen über die leerstehenden Farmen her und brannten alles nieder. Große, starke Männer weinten wie kleine Kinder. Zähe Pionierfrauen zerbrachen in dieser Nacht, als sie erleben mußten, wie die Arbeit von Jahren in Flammen aufging. Auch Felder wurden abgebrannt. Es war gespenstisch. Wir sahen den Feuerschein, der riesige, rote Löcher in die schwarze Nacht glühte. Wir wußten, was dort brannte, aber wir wußten nie genau, welches Anwesen es gerade war, das vernichtet wurde. Es war eine höllische Nacht. Kaum jemand schlief, manche beteten. Lange nach Mitternacht erst kehrte Ruhe ein. Die Feuer im Land verglühten. Am nächsten Morgen ritt Frederic LeRouche in die Mission. Wir Kinder strömten am Tor zusammen, um ihn zu sehen. Er saß auf einem gescheckten Indianerpony mit sehr langer Mähne. Seine Satteldecke bestand aus Indianerskalps.
Er war ein hünenhafter Mann von über sechs Fuß Größe, in dessen Gegenwart alles andere klein wirkte. Er war so breit wie der Schrank in meiner Kammer. Die Muskeln an seinen Schultern, Oberarmen und Oberschenkeln sprengten fast seine Kleidung. Er trug Wildleder, weich gegerbt, das Hemd umhüllte seinen Oberkörper fast wie eine zweite Haut. An den Nähten befanden sich lange Fransen. An seinem Sattel hing eine metallverstärkte Halfter, aus dem der Griff eines Whitneyville Walker Colts ragte. An seinem Gürtel hatte der Reiter links ein Bowiemesser mit mindestens zehn Zoll langer Klinge hängen, rechts steckte ein Tomahawk. In einem Scabbard am Sattel steckte eine doppelläufige Fawkens Rifle. Frederic LeRouche – Armeescout in Camp Griffin, eine legendäre Figur. Von ihm sprach das ganze Land, wenn Indianerunruhen ausbrachen und die Armee eingreifen mußte. Frederic LeRouche war stets dabei. Sein Bart war schwarz wie die Nacht und hing ihm bis auf die Brust. Sein Haar quoll in fettigen Strähnen unter der Waschbärfellmütze hervor und fiel auf die mächtigen Schultern. Er war Franko-Kanadier. Er sprach vier Indianerdialekte, so wurde gesagt, und konnte besser Spuren lesen als ein Apache oder Comanche. Glaubte man, was über ihn sonst noch erzählt wurde, hatte er allein ganze Indianerstämme ausgerottet. Er war Major Bullard zugeteilt worden. Er brachte die Nachricht mit, daß zwei weitere Kompanien bei Boltons Station eingetroffen seien. Auf seinem Weg hierher hatte er keinen einzigen Apachen gesehen. Die Nachricht löste Jubel aus. LeRouche nahm das gnädig hin. Er ließ sich bereitwillig bestaunen. Er war es anscheinend so gewöhnt. Er sprach ein seltsames Englisch mit einem leichten französischen Akzent. Major Bullard schickte sofort einen Kurier nach Boltons Station, um eine Kompanie herzubeordern. Die beiden anderen Kompanien sollten das Pease-River-Tal in weitem Bogen bis zur äußersten Westflanke, bis hin zum Llano Estacado umrunden. Dort wollte Major Bullard sich mit ihnen treffen. Am Nachmittag verließ auch Frederic LeRouche wieder die Mission, um einen Erkundungsritt zu unternehmen.
Er kehrte gegen Abend zurück. Ich saß gerade allein in der Küche bei Padre Elfego. Clay war bei Bob und Lizzy und Little John. Ich probierte die noch heißen Sauerteigbiskuits von Padre Elfego, als Frederic LeRouche eintrat. Er füllte fast den ganzen Türrahmen aus. Ich schaute hoch, als er grüßte. Seine Stimme klang dumpf wie das Grollen eines Donners. Er setzte sich zu mir an den Tisch und bat Padre Elfego um etwas zu essen. Ich betrachtete ihn aufmerksam. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich kaute langsam auf meinem Biskuit. Er zog seinen Tomahawk aus dem Gürtel, da er ihn beim Sitzen störte, und legte ihn einfach auf den Tisch. Padre Elfego brachte ihm einen Kaffee. LeRouche nippte an dem heißen Getränk. Er lehnte sich zurück. Als die Blicke – aus seinen dunklen Augen auf mich trafen, schrumpfte ich zusammen. »Gehörst du zu den Farmern draußen?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf und kriegte kein Wort heraus. »Das ist Ronco«, sagte Padre Elfego. »Er gehört zu uns, in die Mission.« »Hast du denn keine Eltern?« »Nein, Sir«, sagte ich. Da lachte er. »Sir?« sagte er. »Mon dieu. Es ist lange her, daß man mich mal so genannt hat. Wo sind deine Eltern, Ronco?« »Tot«, sagte ich. »Sie gehörten zu einem Treck, im 48er Jahr«, erklärte Padre Elfego. »Er wurde unterwegs überfallen. Ronco war das einzige lebende Wesen, das wir noch fanden. Wir haben ihn mitgenommen.« »War es dort, wo das Kreuz steht? Knapp fünfzehn Meilen von hier?« fragte LeRouche. »Ich habe das Kreuz gesehen. War es dort, und war es dieser Treck?« »Der war es.« Padre Elfego warf ein riesiges Steak in die Pfanne. LeRouche nickte nachdenklich. »Die Eltern waren unter den Toten?« »Das wissen wir nicht.« Padre Elfego wurde ungeduldig. Ich merkte, daß er nicht darüber reden wollte. Nicht in meiner Gegenwart. Mir machte es nichts aus. Ich hatte gelernt, ohne Eltern
zu leben. »Ich erinnere mich. Oui, ich erinnere mich genau. Ich habe damals schon hier gelebt, als Fallensteller.« LeRouche trank den Kaffee mit großen Schlucken. »Ich hatte Kontakt zu Indianern. Es sind einige Frauen und Kinder dieses Trecks damals am Leben geblieben. Die Apachen haben sie mitgenommen. Sie haben die Kinder zu Kriegern gemacht und die Frauen zu Squaws.« Padre Elfego horchte auf. Ich auch. Vielleicht wußte der Mann etwas über meine Vergangenheit, über meine Herkunft. »Haben Sie die Gefangenen gesehen, Mr. LeRouche?« »Oui, Padre, natürlich. Ich sah einige Frauen. Sie mußten schuften wie Tiere. Manche Stämme behandeln weiße Frauen gut, andere benutzen sie nur als Lasttiere. Destinee – Schicksal. Die Kinder werden immer zu Kriegern erzogen.« »Zeig ihm dein Medaillon, Ronco«, sagte Padre Elfego. Ich hörte eine schwache Erregung in seiner Stimme. Ich griff unter mein Hemd und zog das silberne Medaillon heraus. Ich trug es stets bei mir, an einer Kette um den Hals. »Das könnte seine Mutter sein, Mr. LeRouche«, sagte Padre Elfego. Er trat an den Tisch. Ich reichte dem Scout das Medaillon. LeRouche schaute auf das zierliche Frauenbild. Er betrachtete es lange und schüttelte den Kopf. »Wo denken Sie hin, Padre? Es ist alles lange her. Ich kann mich nicht an die Gesichter erinnern. Und selbst wenn: Wenn eine Frau auch nur eine Woche bei den Indianern zugebracht hat, erkennen ihre Angehörigen sie kaum noch wieder.« Er gab mir das Medaillon zurück. »Aber wenn diese Frau nicht unter den Toten des Trecks war, und wenn sie wirklich seine Mutter ist, Padre, dann wird sie wohl verschleppt worden sein.« »Dann – dann könnte sie noch leben?« »Möglich ist alles. Mein Steak brennt an, Padre.« LeRouche trank seinen Kaffeebecher leer. »Ich habe nicht viele weiße Frauen gesehen, die bei Indianern alt geworden sind. Sie gehen mit der Zeit kaputt. Sie sind nicht hart genug. Apachensquaws sind hart, härter als manche Männer.« Padre Elfego nahm das Steak aus der Pfanne, legte es auf einen
Teller und brachte es zum Tisch. Er stellte den Teller vor Frederic LeRouche hin und legte frisches weißes Brot dazu. »Bohnengemüse ist nicht mehr da«, sagte Padre Elfego. »Kartoffeln auch nicht.« »Ich habe schon schlechter gegessen.« LeRouche grinste. »Hauptsache, das Steak ist gut.« »Läßt sich heute noch feststellen, ob von den verschleppten Frauen von damals noch eine lebt.« »Kaum.« LeRouche schob sich riesige Fleischbrocken in den Mund und sagte, während er kaute: »Eine entführte Weiße ist nach zwei oder drei Jahren nicht mehr von einer Indianerin zu unterscheiden. Sie hat den größten Teil ihrer Sprache verlernt und fühlt sich auch als Indianerin. Sie wird sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, wieder zu Weißen zurückzukehren.« »Also gibt es keine Hoffnung?« »Keine Hoffnung. Je regrette que – ich bedauere.« Padre Elfego wandte sich wieder seinem Herd zu. Ich aß meinen Biskuit auf. Während LeRouche sich eine Zigarette drehte und sich nach dem Essen zurücklehnte, ging ich hinaus. Die Schatten waren lang. Auf dem Missionshof brannte ein Feuer. An diesem Abend sollte gefeiert werden. Ich hatte keine Ahnung, warum. Ich fand nicht, daß es einen Grund dazu gab. Der Indianerkrieg war noch nicht beendet, und viele Menschen waren gestorben. Sollte das gefeiert werden? Sogar die Longleys beteiligten sich, obwohl Pete Longley der erste Tote in diesem Krieg bei uns im Pease River Valley gewesen war. Sie packten ihre Instrumente aus. Ich ging davon. Clay stürzte auf mich zu. »Heute abend geht's rund«, sagte er. Sein Gesicht glühte. »LeRouche ist wieder da.« »Ich habe die ganze Zeit mit ihm in der Küche gesessen«, sagte ich. »Du hast …« Ihm blieb fast die Spucke weg. »Mensch, und das sagst du erst jetzt? Was hat er gesagt?« »Was soll er groß gesagt haben? Er hat gesagt, daß er Hunger hat. Und Padre Elfego hat ihm ein Steak gebraten.«
»Ich werde auch mal Armeescout«, sagte Clay. Er blickte verträumt in unendlich weite Fernen. »Ich werde einmal genauso wie Frederic LeRouche. Was hat er noch gesagt?« »Dieses und jenes«, sagte ich. »Nichts Besonderes.« »Nichts Besonderes? Frederic LeRouche ist an sich schon etwas Besonderes. All sucht sich übrigens dumm und dämlich nach seinem Colt.« »Laß ihn suchen«, sagte ich. Ich schaute ihn hart an. »Wenn du etwas verrätst, sind wie geschiedene Leute.« »Ich schweige wie ein Grab.« »Schwör's«, sagte ich. »Ich schwöre.« Er hob feierlich die rechte Hand. »Wir sind Freunde«, sagte er. »Freunde verraten sich nicht. All ist ein Großmaul und ein Schwachkopf. Von mir aus kann er suchen, bis er schwarz geworden ist.« Ich war beruhigt. Auf Clays Schwüre hatte ich mich bis jetzt immer verlassen können. »Die Soldaten erzählen, du hättest einen Indianer damit umgelegt«, sagte Clay. »Du mußt nicht alles glauben«, sagte ich. »Ich lege niemanden um. Ich bin kein Killer.« »In Boltons Station hast du auch einen erwischt«, sagte Clay. »Sonst wäre Bob heute tot«, erwiderte ich. »Fällt dir nichts Besseres ein? Mußt du unbedingt darüber reden?« Wir standen jetzt unweit vom Grab von Padre Hieronymus. »Ich möchte wissen, was du hast?« Clay musterte mich aufmerksam. »Du bist seit gestern so – so anders.« »Das bildest du dir ein«, sagte ich. »Ich finde nur nichts dabei, sich über den Tod von anderen zu freuen, auch wenn es Indianer sind.« Clay schwieg eine Weile. Ich starrte auf das einfache Holzkreuz am Kopfende des Grabes. Padre Hieronymus' Name war in den Querbalken gebrannt worden, sein Geburts- und sein Sterbetag. Er war nur zweiundvierzig Jahre alt geworden. »Kommst du auch zu der Feier?« fragte Clay plötzlich. »Was gibt es zu feiern?« fragte ich.
»Na, den Sieg«, sagte er. »Daß wir die Apachen geschlagen haben.« »Den Sieg, ach so.« Ich nickte. »Wenn die Padres erlauben, daß ich dabei sein darf, komme ich. Bei dem Krach, den es geben wird, kann ja doch kein normaler Mensch schlafen.« »Du kannst einem den ganzen Spaß verderben«, sagte Clay. Er drehte sich um und lief davon. Ich sah, daß er zu dem alten Planwagen ging, wo Lizzy auf der Deichsel hockte, Little John im Arm, und dem Baby die Flasche gab.
10. Die Longleys spielten »Home, sweet home«, »I come from Alabama«, »Green grow the lilacs« und viele andere Lieder. Die Farmer und ihre Frauen tanzten. Ein Schwein war geschlachtet worden und drehte sich am Spieß über dem Feuer. Padre Ambrosius hatte ein Faß seines selbstgekelterten Weines gespendet, hielt sich aber, genau wie die anderen Padres, von der Feier fern. Ich aß nichts und trank auch nichts. Ich fühlte mich nicht wohl in dem ausgelassenen Treiben, zu dem sogar die Verwundeten aus dem Gästehaus getragen worden waren. Auch die Soldaten feierten mit. Major Bullard tanzte den ganzen Abend. Ich stahl mich davon und wollte weiter nichts, als Ruhe haben. Ich versuchte, Verständnis für die Farmer aufzubringen. Aber vielleicht war das einfach zu viel für mich. Ich war erst elf. Entsprechend war mein Urteilsvermögen. Ich ging zum Nordende des Missionshofes. Hier war es dunkel. Der Feuerschein reichte nicht so weit. Ich blieb an der Mauer stehen und schaute zum Fluß hinunter. Träge schleppten sich die Wasser des Pease River durch ihr Bett. Die Musik war mir noch immer zu laut. Das Stimmengewirr der vielen Menschen hallte zu mir herüber. Ich verließ den Missionshof durch die breite Öffnung in der rückwärtigen Mauer. Es war noch verboten, die Einfriedigung bei Dunkelheit allein zu verlassen. Daran dachte ich im Moment nicht.
Ich ging vorbei an den Sandsackbarrieren. Hier und da steckten noch Apachenpfeile. Am Fluß blieb ich stehen. Ich hörte die Geräusche des Festes nur noch leise. Unter mir gluckste das unten schwarze Wasser. Ich schob die Hände tief in die Hosentaschen und schlenderte langsam am Ufer entlang. Es war kühl hier am Fluß. Ich fröstelte etwas. Aber ich fühlte, daß mir besser wurde. * »Na, Ronco?« Die Stimme ließ mich zusammenfahren. Eine riesige Faust schien für Sekunden meinen Magen zuammenzupressen. Ich stand wie gelähmt da. Langsam drehte ich mich nach dem ersten Schreck um. Er saß auf einem großen Stein, hinter hohem Creosot, vom Wind geschützt. Er rauchte. Das glühende Ende der Zigarette schaute mich wie ein drohendes Feuerauge an. Frederic LeRouche. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Meine Beklemmung ließ nach. Eine gewisse Unsicherheit aber blieb. Ich fühlte mich auf einmal so sehr allein und hilflos. Die tanzenden und singenden Farmer waren so nah, kaum hundert Yards entfernt und doch so weit weg. »Gefällt dir das Fest auch nicht?« fragte der Mann. Er nahm die Zigarette aus dem Mund. Ich konnte sein Gesicht kaum erkennen. Es war so dunkel zwischen dem Gebüsch, und der schwarze, struppige Bart war in der Finsternis fast eine perfekte Tarnmaske. »Es ist so laut«, sagte ich. Meine Stimme klang belegt. »Der Padre hat mir noch viel von dir erzählt«, sagte LeRouche. »Es gibt nicht viel über mich zu erzählen«, sagte ich. Ich fühlte mich in der Nähe des Scouts unbehaglich. Ich wußte selbst nicht warum. Ich hatte das Gefühl, daß er wie eine Raubkatze auf dem Sprung saß und mich lauernd betrachtete. »Es war doch eine Menge«, sagte LeRouche. Er ließ die Zigarette zu Boden fallen und zertrat die Glut mit dem Stiefelabsatz. »Ich mag den Fluß«, sagte er versonnen. »Ich mag die weiten
Ebenen, die Steppe. Die Siedler, die das alles zerstören, die Furchen ziehen und mit Pflügen in der Erde herumwühlen, mag ich nicht.« Er wandte mir wieder den Kopf zu. »Du bist wirklich eine Waise«, sagte er. Ich wußte nicht, ob das eine Frage war oder eine Feststellung. »Keine Eltern, keine sonstigen Angehörigen. Du hast nicht mal einen richtigen Namen.« Ich wandte mich halb um. »Ich glaube, ich gehe besser wieder, bevor die Padres mich vermissen«, sagte ich. »Ich bin auch müde.« »Dich würde niemand suchen«, sagte LeRouche freundlich. »Du hast niemanden, außer den Padres. Und die sind nicht mit dir verwandt.« Ich verstand ihn nicht. Ich fühlte nur eine leichte Furcht in mir aufsteigen. Ich drehte mich um und ging. »Bleib hier«, hörte ich die Stimme des Scouts hinter mir. »Du kommst nicht weit, wenn du türmst.« Ich wollte schneller gehen. Da hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um. Frederic LeRouche war groß wie ein Turm. Er folgte mir mit weitausgreifenden Schritten. Ich wollte davonlaufen. Da sah ich seine rechte Faust heranfliegen. Sein Mund war geöffnet. Er lachte leise. Seine kräftigen Zähne blitzten wie Perlen in der Dunkelheit. Es sah gespenstisch aus. Ich hatte keine Zeit mehr, mich zu fürchten. Ein Fausthieb traf mich an der Stirn. Ich hatte das Gefühl, der Kopf würde mir von den Schultern gerissen. Ich kippte rücklings um. Ich versuchte, zu schreien. Ein Schatten fiel auf mich. Ein zweiter Schlag traf mich. Ich fühlte gar nichts mehr. * Als ich zu mir kam, hatte ich Kopfschmerzen. Mir war übel. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Die Welt um mich herum schwankte. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, daß ich auf einem Pferderücken saß. Es war noch immer Nacht.
Ich wollte mich bewegen. Es ging nicht. Meine Hände waren an das Sattelhorn gefesselt. Ich war gefangen. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich saß vor Frederic LeRouche im Sattel. Der Scout sprach kein Wort. Wir ritten im raschen Trab durch flaches Land. Am Himmel glitzerten ein paar Sterne. Die Schmerzen in meinem Kopf verflüchtigten sich nach und nach. Der kühle Reitwind, der mein Gesicht umstrich, tat mir gut. Wir waren weit weg von der Mission. Soviel erkannte ich. Wir waren noch im Pease-River-Tal. Die Gegend kam mir bekannt vor. Aber der Schlag auf den Kopf war doch sehr hart gewesen, und dann war es dunkel, und mir saß der Schock noch in den Gliedern. Eine Farm tauchte vor uns auf. Scheune und Stall waren niedergebrannt. Das Haupthaus stand seltsamerweise noch. Der scharfe Geruch von kalter Asche wehte uns entgegen, als wir auf den Hof ritten. LeRouche ließ sein Pferd an der Tränke saufen. Er stieg nicht erst ab. Ich schaute mich um. Ich wußte auf einmal, wo wir uns befanden. Mehrere Leichen lagen im Staub des Hofes. Die Krähen waren vor uns hiergewesen und hatten sich sattgefressen. Trotzdem erkannte ich das Gesicht eines untersetzten, kräftigen Mannes. Ein dunkelhäutiges, faltiges Gesicht, das im Tode schrecklich verzerrt war. Chet Atkins. Wir waren auf der Atkins-Farm. Chet Atkins war der einzige Siedler gewesen, der sich geweigert hatte, dem Aufruf von Major Bullard Folge zu leisten. Er hatte sich nicht mit seiner Familie in die Mission in Sicherheit gebracht. Er war auf seiner Farm geblieben. Jetzt würde ihn niemand mehr hier wegholen. Er würde für immer hierbleiben. Die Atkins waren hart gestorben. Obwohl die Krähen von der Familie nicht allzuviel übriggelassen hatten, konnte ich doch sehen, daß Chet Atkins gefoltert worden war. Auf seinem Leib war ein Feuer angezündet worden. Seinem ältesten Sohn und seiner Frau hatten die Apachen die Haut in Streifen geschnitten.
Frederic LeRouche ließ dieser Anblick völlig kalt. Er trieb sein Pferd wieder an, nachdem es gesoffen hatte. Ich wandte vorsichtig den Kopf. Sofort durchzuckte mich ein heftiger Schmerz. Aber ich sagte: »Was wollen Sie von mir, Sir? Wo bringen Sie mich hin?« »Das wirst du schon sehen.« Seine Stimme klang schroff. »Ich – ich schreie«, sagte ich. Da lachte er. Und er sagte: »Schrei doch, Söhnchen. Schrei dir die Lunge aus dem Leib. Hier ist niemand, der dich hört. Die Farmer sitzen alle in der Mission und feiern. Außer uns beiden ist niemand hier im offenen Land.« »Die Padres werden mich vermissen«, sagte ich. »Sie werden mich suchen.« »Vermissen werden sie dich. Sicher.« LeRouche grinste noch immer. »Aber suchen werden sie dich nicht. Du hast keine Eltern. Du hast keine Verwandten. Du bist ein Niemandskind. Dich wird keiner suchen. Niemand wird sich darum bemühen, dich zurückzuholen.« »Zurückzuholen?« Ich schaute wieder nach vorn. »Von wo?« Eine kalte Hand schien nach meiner Kehle zu greifen. »Halts Maul«, sagte LeRouche. Dann schwieg er. Ich befolgte seinen Befehl. Ich befürchtete, er könnte mich mißhandeln. Und daß es keinen Sinn hatte, zu schreien, sah ich auch ein. Die Ungewißheit nagte in mir wie ein Tier und quälte mich. Ich hatte all das schon einmal erlebt. Als Comancheros Clay, seine Mutter und mich verschleppt hatten. Daran erinnerte ich mich jetzt. Diesmal aber erschien mir alles viel schlimmer zu sein. Wir ritten weiter durch die Nacht, stundenlang. Die Furcht hielt mich wach. Irgendwann aber übermannte mich die Müdigkeit doch. Ich sackte nach vorn auf den Pferdehals. Lange schlief ich nicht. Als ich wieder erwachte, graute der Morgen. Ein leichter Wind schob graue Nebelbänke vor sich her, die sich nur zögernd auflösten. Wir hatten das Farmgebiet längst verlassen. Ich hatte meine Orientierung verloren. Die Vegetation ringsum war schwächer geworden, die Landschaft karger. Ich war sicher, daß wir uns einem
Wüstenstreifen näherten. Plötzlich tauchten in einer langgestreckten Bodenfalte Zelte vor uns auf. Leichte Tipis aus Decken und Häuten. Gescheckte Ponys weideten in Seilkorrals, ein paar struppige Hunde streunten durch das Lager. Der Gestank von ranzigem Fett wehte uns entgegen. Von weitem schon sah ich Indianersquaws vor den Zelten sitzen. Ein paar nackte Kinder spielten abseits. Frederic LeRouche lenkte das Pferd in gerader Linie auf das Camp zu. Ich begann nun zu ahnen, was mir bevorstand. Trotzdem konnte ich es nicht glauben. Frederic LeRouche war schließlich Scout der Armee. Wie wenig das bedeutete. »Apachen«, sagte ich leise. Ich wandte den Kopf. »Dort vorn sind Apachen.« »Gut beobachtet.« Er grinste hämisch. Ich bemerkte den harten, unbarmherzigen Glanz in seinen Augen. »Dort wollen wir hin, Söhnchen. Paß nur gut auf. Das ist dein neues Zuhause. Bald bist du einer von ihnen. Ich werde dich an sie verkaufen. Sie werden mir eine Menge für dich zahlen.« Ich fühlte mich auf einmal hohl und leer wie eine aufgeblasene Gummipuppe. In meinen Ohren rauschte das Blut. Ich hörte und sah nichts mehr. Die Worte LeRouches ballten sich in meinem Kopf zu einem Feuer zusammen, das mich innerlich auszuglühen schien. Ich weinte nicht und schrie auch nicht. Ich tat gar nichts, was meine Verzweiflung offen gezeigt hätte. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt. Ich saß in der Falle und war verloren. Es war aus. »Die Apachen haben viele Krieger in den Kämpfen verloren«, hörte ich Frederic LeRouche wie aus unendlich weiter Ferne sagen. »Sie brauchen Blutauffrischung. Sie zahlen mit purem Gold für kleine Weiße, aus denen man brauchbare Indianer machen kann. Das ist ein Teil ihrer Rache an der weißen Rasse. Du wirst ein perfekter Indianer werden, Söhnchen, ein besserer Apache als alle echten.«
11. Ich blieb auf dem Pferd sitzen. Kunststück, ich konnte ja gar nicht
absteigen. LeRouche hatte meine Fesseln, die mich ans Sattelhorn banden, nicht gelöst. Die Indianerkinder waren zusammengeströmt, standen um mich herum und bestaunten mich. Ein paar der größeren Jungen traten vor und spuckten mich an. Das Pferd mit mir stand mitten im Lager, unweit eines großen Zeltes, in dem Frederic LeRouche verschwunden war. Jetzt wurde ich verkauft. Wie ein Sack Mehl, wie eine Schachtel Patronen, wie ein schwarzer Skalve. Ich verstand kein Wort von dem, was um mich herum gesprochen wurde. Ich wußte nur, daß von mir gesprochen wurde. Den wilden Gesten und den Gesichtern nach zu urteilen, hielt ich es für möglich, daß die Apachen sich gerade über meine Hinrichtung unterhielten und darüber, wie ich danach für ein voluminöses Mittagsmahl schmackhaft zubereitet werden könnte. Die Zeit verstrich endlos langsam. Die Sonne stieg immer höher. Mir wurde heiß, meine Kehle brannte. Ich hatte keinen Schutz gegen die Sonne. Inzwischen hatte sich das halbe Dorf um mich versammelt. Mir wurde immer flauer zumute. Vor meinen Augen tauchten immer wieder die Gesichter der alten Freunde auf, derjenigen, die mich aufgezogen hatten, denen ich es verdankte, zu leben. Padre Emanuel, Padre Ambrosius, Padre Frastus, Padre Elfego, Padre Tenebro, und die vielen anderen. Ich sah Clays Gesicht vor mir, das Gesicht von Richter Collins und sogar die Visage des frechen All Fizzard. Ein Karussel von Gesichtern wirbelte vor meinen Augen herum. Tränen drängten hinaus. Ich konnte sie mit Mühe unterdrücken. Ich nahm mir vor, keine Schwäche zu zeigen. Ich wußte immerhin so viel von Indianern, daß sie den Schwachen verachteten. Es verging eine kleine Ewigkeit. Der Schweiß rann mir in dichten Bächen über das Gesicht. In meiner Kehle brannte der Durst. Ich sagte nichts, sondern blieb ruhig im Sattel sitzen. Plötzlich bewegte sich die bestickte Decke vor dem Zelteingang. Dann kroch LeRouche wieder heraus. Ihm folgte ein Indianer, der dem Scout nur bis zur Schulter reichte. Er war sehr breitschultrig. Die Muskeln an seinem Körper waren stark ausgeprägt. Er trug nur
Mokassins und einen Lendenschurz. Eine Waffe entdeckte ich nicht bei ihm. LeRouche zeigte auf mich und wechselte mit dem Apachen ein paar Worte in einer gutturalen Sprache, die ich nicht verstand. Der Indianer schien ein Häuptling zu sein. Zumindest war er der Anführer der kleinen Horde, die in der Bodenfalte ihr Camp aufgeschlagen hatte. Er stieß einen kurzen Befehl aus. Ein Krieger trat auf mich zu und zog sein Messer. Er zerschnitt meine Fesseln. Ich mußte absteigen. Der Häuptling betrachtete mich eingehend. Er winkte mich heran. Er betastete meine Schultern, Arme und Beine. Er ging um mich herum. Er schien nicht sonderlich begeistert zu sein. LeRouche redete die ganze Zeit auf ihn ein. Schließlich hatte das Palaver ein Ende. Der Häuptling winkte nach einem hageren Krieger, der einen Lederbeutel herbeibrachte. Der Häuptling entnahm dem Beutel drei Goldnuggets, die so groß waren wie eine Daumenkuppe. LeRouche schien zufrieden zu sein. Er steckte das Gold ein und verabschiedete sich. Er ging zu seinem Pferd, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er stieg auf, zog sein Tier herum und ritt davon. Ich starrte ihm fassungslos nach. Ich begriff, daß ich verkauft worden war, daß ich nun nicht mehr mir selbst gehörte, sondern den Indianern. Das dachten sie zumindest. Ich dachte anders darüber. Ich drehte mich um und lief hinter LeRouche her. Im ersten Moment waren alle so überrascht, daß niemand versuchte, mir zu folgen. Die Frauen begannen, wild durcheinander zu schnattern. Ich stürmte aus der Bodenfalte. Ich rannte wie noch nie in meinem Leben. Ich schrie LeRouches Namen. Ich rief, er sollte mich mitnehmen … * Natürlich holten sie mich ein. Ich gelangte keine hundert Yards weit. Ein großer Krieger packte mich von hinten an den Schultern. Er hob mich hoch. Er lachte. Die anderen, die mir gefolgt waren, lachten
auch. Ich preßte die Lippen zusammen und ballte die Hände. Ich hätte heulen können vor Wut. Aber ich weinte nicht. Ich blickte starr ins Leere. Sie trugen mich ins Camp zurück. Die nackten, braunhäutigen Kinder tanzten lachend neben mir her. Ich wurde zum Häuptling gebracht. Er sagte ein paar Worte zu mir. Ich verstand überhaupt nichts. Dem Ton nach zu schließen, war er wütend. Er redete mit dem Krieger, der mich eingefangen hatte. Der Mann begann daraufhin, mir meine Kleider vom Leib zu reißen. Ich wollte mich dagegen wehren, hatte aber keine Chance. Es dauerte keine zwei Minuten, da stand ich splitternackt vor dem Häuptling. Sie ließen mir nur das Medaillon. Mir wurden die Hände gefesselt und ich wurde in ein Zelt am Rande des Camps gebracht. Als ich dann endlich allein war, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Jetzt brach ich in Tränen aus. Sie rannen mir heiß über die Wangen. Ich kauerte mich in dem dunklen Zelt zusammen. Ich fühlte mich verdammt allein, so verdammt hilflos und verlassen. O Gott, es war ein höllisches, ein schlimmes Gefühl. Ich konnte fast nicht mehr denken. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Ich weiß nicht, wie lange ich so dahockte. Irgendwann versiegten meine Tränen. Irgendwann wurde ich ruhiger. Ich dachte daran, daß ich in der Mission vermißt werden würde. Ich dachte auch an die Worte von Frederic LeRouche: Mich würde niemand finden. Ich mußte von jetzt an allein mit meinem Leben fertig werden. Ich legte mich auf die Seite, auf den nackten Boden. Ich fühlte, wie der große Schock allmählich wich. Wieder einmal wurde mir klar, was ich schon lange gewußt hatte: Ich war härter als meine Altersgenossen aus dem Tal am Pease River. Ich war zäher. Ich wußte nicht, woran es lag. Vielleicht daran, daß ich ohne Eltern aufgewachsen war, obwohl die Padres alles getan hatten, um Vaterund Mutterstelle an mir zu vertreten. Fest stand, ich konnte töten, wenn es sein mußte. Ich, ein Elfjähriger. Ich war nicht leicht einzuschüchtern. Ich blieb ruhig und kaltblütig, wenn Gefahr drohte. In diesem Moment, obwohl in Gefangenschaft der Apachen, hatte ich nicht die geringste Furcht mehr. Das war vorbei. Ich war nur
unsicher darüber, was mit mir geschehen würde. Ich schloß die Augen und versuchte, mein Schicksal hinzunehmen. Als sich die Decke am Zelteingang bewegte, öffnete ich die Augen wieder. Eine Indianerin kroch herein. Sie war untersetzt und hatte breite Schultern wie ein Mann. Sie hatte gewaltige Brüste, die ihr bis fast auf den Bauch hingen. Ich konnte es deutlich sehen. Ihr einfaches, formloses Wildlederkleid war bis zum Bauchnabel offen. Sie hatte sich das lange Haar zu Zöpfen geflochten, die bis fast zu ihren Hüften reichten. Sie sprach kein Wort und löste meine Fesseln. Sie hatte ein Paar Mokassins und einen Lendenschurz mitgebracht. Ich mußte beides anziehen. Wenigstens war ich nicht mehr nackt. Die Mokassins waren überraschend bequem. Das Leder war angenehm weich und schmiegte sich an die Haut. Die Squaw hatte eine Tonschüssel dabei, die mit einem Brei gefüllt war, der eine seltsame braungrüne Farbe hatte. Ich ekelte mich davor. Ich wollte nichts essen. Aber in den schwieligen Händen der Frau steckte eine unheimliche Kraft. Sie packte mich und preßte mich stumm auf den Boden. Dann hielt sie mir die Schüssel hin. Ich verstand erst nicht ganz, was sie meinte. Sie machte ein paar Zeichen mit den Händen. Da begriff ich. Ich sollte mit den Fingern essen. Ich steckte vorsichtig meinen rechten Zeigefinger in den Brei und leckte ihn ab. Wider Erwarten schmeckte das Gericht nicht schlecht. Da langte ich etwas kräftiger zu. Ich schmeckte Fleischbrocken in einem Brei aus Kräutern und Pemikan. Hätte ich geahnt, daß es sich um Pferde- und Hundefleisch handelte, hätte ich vermutlich keinen Bissen hinunterbekommen. So aber war mein Hunger geweckt. Ich aß fast die ganze Schüssel leer. Als ich sie wegstellte, wischte ich meine fettige, beschmierte Hand am Lendenschurz ab. Die Indianerin schüttelte den Kopf. Sie machte wieder Zeichen und strich an den bloßen Unterarmen entlang. Ich verstand sie nicht. Später lernte ich, daß die Apachen nach dem Essen ihre fettigen Hände an ihrem Körper abwischten. Das fettete die Haut gut ein, und sie wurde widerstandsfähiger gegen die
stechende Wüstensonne. Die Indianerin stellte die Schüssel beiseite. Sie nahm die Lederriemen wieder auf, mit denen ich gefesselt gewesen war. Ich versteckte meine Arme rasch hinter dem Rücken. Ich wollte nicht mehr gefesselt werden. Aber die Frau packte mich an der linken Schulter. Ihr Griff war so fest, daß ich fast aufschrie. Sie drehte mich rasch um, packte nach meinen Handgelenken, und im Nu war ich wieder gefesselt. Wortlos, wie sie erschienen war, verließ sie das Zelt. Ich war wieder allein. Ich wurde zu meiner eigenen Verwunderung in Ruhe gelassen. Ich hatte damit gerechnet, von den Indianerkindern schikaniert zu werden. Ich streckte mich auf dem Boden aus, was ganz gut möglich war, da die Squaw mir die Hände vor dem Leib gefesselt hatte. Ich fragte mich, was die Apachen mit mir anstellen würden. Ich dachte auch an Flucht. In einer solchen Situation denkt man viel Verrücktes. Später habe ich das öfters erlebt. Ach heute geht es mir manchmal noch so. Ich dachte an Flucht, und ich schmiedete die wildesten Pläne, um es zu schaffen. Ich wälzte mich nach einiger Zeit herum und kroch auf den Knien zum Zelteingang. Als ich die Decke mit dem Kopf etwas zur Seite schob, blendete mich die grelle Sonne. Ich schloß rasch die Augen. Mein Zelt wurde nicht bewacht. Ich hatte jedoch keine Chance, jetzt zu verschwinden. Ich zog mich wieder ins Zelt zurück. Gegen Abend erschien die Squaw. Sie brachte mir eine Schüssel mit Fleischbrocken, die in einer würzigen Soße schwammen. Dazu erhielt ich einen Maisfladen, der über offenem Feuer gebacken worden war. Es schmeckte gut. Ich aß alles auf. Dabei dachte ich immer noch an Flucht. Ich sagte mir, daß ich bei Kräften sein mußte, darum aß ich alles. Wahrscheinlich hätte ich gekotzt, wenn ich gewußt hätte, daß mir diesmal eine wirklich gut zubereitete Klapperschlange serviert worden war. Die Apachen hatten andere Eßgewohnheiten, die teilweise auch aus der Not heraus entwickelt worden waren, da sie gezwungen waren, meistens in der Wüste zu leben, die nicht viele
Ernährungsmöglichkeiten bot. Nach dem Essen wurde ich wieder gefesselt. Die Squaw ließ mich allein. Durch einen schmalen Riß in der Zeltwand sah ich, daß es draußen dunkel wurde.
12. Als ich floh, war es fast Mitternacht. Wenn ich es recht bedenke, heute, war es fast zu leicht. Damals war ich anderer Meinung. Ich hatte die Knoten meiner Fesseln mit den Zähnen gelöst. Nachdem ich dann auch die Riemen an meinen Füßen entfernt hatte, war ich frei. Ich kroch zum Ausgang und wollte die Decke beiseite schieben. Die Decke aber saß fest. Ich konnte sie nicht wegziehen. Ich versuchte es ein paarmal. Dann mußte ich aufgeben. Der Ausgang war mittels Lederschnüren von außen verschlossen worden. Ich saß fest. Fast hätte ich losgeheult. Wenn es mir in dieser Nacht nicht gelang, zu fliehen, würde es mir nie gelingen. Die Apachen würden am nächsten Morgen sehen, daß ich mich von den Fesseln befreit hatte. Sie würden mich dann sicher sorgfältiger fesseln. Sie würden vielleicht eine Wache vor das Zelt stellen. Dann war eine Flucht völlig unmöglich. Ich lauschte nach draußen. Es war alles still. Ich tastete die Zeltwände ab, um einen größeren Riß zu finden, der sich leicht und geräuschlos verbreitern ließ. Ich fand nichts. Ich wollte schon fast aufgeben. Da fiel mir etwas ein. Ich begann mit beiden Händen ein Loch in den Boden zu wühlen. Es war eine Sauarbeit, bei der ich mir die Fingerkuppen aufriß. Ich grub unter der Zeltwand einen schmalen Tunnel hindurch. Dann versuchte ich, unter die Wand zu fassen, die aus einer Büffelhaut bestand. Ich wollte sie hochschieben. Es gelang nicht. Ich grub weiter, fieberhaft. Bald schwitzte ich. Ich wühlte wie ein Verrückter. Trotzdem kam ich nur langsam voran. Der Boden war hart. Ich war fast der Verzweiflung nahe, bis ich auf die Idee verfiel, die Zeltstangen abzutasten. Es herrschte völlige Dunkelheit im Zelt.
Aber ich fühlte plötzlich dünne Lederriemen unter meinen Fingern. Da wußte ich es. Mit diesen Riemen war die Büffelhaut befestigt. Wenn ich die Riemen aufknüpfte, löste sich die Büffelhaut. Ich löste die Riemen. Eine Minute später war ich frei. Die Zeltwand ließ sich ganz leicht ein Stück hochschieben. Ich robbte ins Freie, richtete mich halb auf und schaute mich um. Am Himmel stand eine schmale Mondsichel. Ein paar Sterne glitzerten. Ich konnte das Lager gut überblicken. Ich entdeckte zum Glück früh genug am Pferdekorral die Wache. Ich ließ mich rasch fallen und kroch auf allen vieren aus dem Camp. Es dauerte eine Zeit. Ich fühlte danach keinen Knochen mehr. Aber das war unwichtig in diesem Moment. Ich robbte aus der Bodenfalte. Als ich ein paar dichte Sträucher zwischen mir und dem Lager wußte, erhob ich mich und begann zu laufen. Ich drehte mich nach jedem zweiten Schritt um. Aber ich hatte ein unverschämtes Glück. Meine Flucht war nicht entdeckt worden. Ich bewegte mich leichtfüßig. Ich war frei! Frei! Ich fror nicht einmal, obwohl ich nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Die Nacht war kühl. Ich rannte dahin. Ich fühlte mich wie eine Antilope. Es war ein herrliches Gefühl. Ich weiß nicht, wie lange ich so dahinlief. Dann erst fiel mir ein, daß ich ja nicht wußte, in welche Richtung ich zu laufen hatte, um zurück nach Hause zu gelangen. Es war Nacht. Ich kannte das Land nicht. Womöglich lief ich im Kreis. Ich blieb stehen. Das Apachenlager war nicht mehr zu sehen. Ich hatte mindestens eine Meile, vielleicht auch zwei, zurückgelegt. Etwas ratlos schaute ich mich um. Das Land sah überall gleich aus. Mutlosigkeit überfiel mich. Aber ich konnte ja auch nicht stehenbleiben. So lief ich schließlich weiter, einfach so. Ich hoffte, irgendwann irgendwo auf Menschen zu stoßen. Es war eine kleine Hoffnung, aber immerhin eine Hoffnung. Schon bald fühlte ich brennenden Durst in meiner Kehle. Ich versuchte, ihn zu unterdrücken. Es gelang mir nicht. Er wurde immer
stärker, je weiter ich lief. Es war quälend. Kopfschmerz setzte ein, hämmernd und dumpf. Ich lief dennoch weiter. Irgendwann in dieser Nacht, als vor meinen Augen schon grellfarbene Punkte tanzten und ich heftige Seitenstiche verspürte, stieß ich auf einen kleinen Tümpel. Das Wasserloch diente offenbar den Tieren der Gegend als Tränke. Aber was war ich im Moment? War ich nicht auch ein Tier, ein gehetztes Wild? Ich warf mich vor dem Loch auf den Bauch. Ich schnappte nach Luft wie ein Fisch. Ich tauchte mein Gesicht ins Wasser und trank. Es schmeckte lehmig und knirschte zwischen meinen Zähnen. Trotzdem trank ich eine ganze Menge. Ich blieb neben dem Wasserloch liegen, bis die Seitenstiche geschwunden waren und mein Atem ruhiger ging. Dann richtete ich mich wieder auf. Ich war noch immer allein. Im silbernen Sternenlicht konnte ich die Ebene gut überblicken. Ich wurde nicht verfolgt. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Nach und nach lernte ich, wie ich laufen mußte, um Kraft zu sparen. Ich lief von da an in Intervallen, mal ging ich im Schritt, mal rannte ich, mal trottete ich in raschem Tempo. Ich gelangte gut voran. Zumindest glaubte ich das. Als der neue Tag anbrach, konnte ich mich vor Müdigkeit und Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. Ich taumelte, meine Augen schmerzten. Ich hatte Blei in den Gliedern. Im Schatten einer Gruppe Pecan-Bäumen sank ich nieder. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, daß ich vielleicht verfolgt würde. Schließlich hatte der Häuptling drei große Goldstücke für mich gegeben. In diesem Moment dachte ich an gar nichts. Kaum lag ich im Gras, da schlief ich auch schon ein. Die Sonne weckte mich. Sie stach mir unbarmherzig ins Gesicht. Ich wälzte mich herum. Aber da waren auch noch Geräusche, die mich aufschreckten – Hufschlag, Männerstimmen. Schatten fielen auf mich. Der Schock durchfuhr mich wie ein Eisguß. Ich richtete den
Oberkörper auf und öffnete die Augen. * Vier Reiter standen vor mir, große Männer, staubbedeckt. Genauso ihre Pferde. Sie trugen blaue Uniformen mit gelben Halstüchern. Sie hockten übernächtigt in den schweren McClellan-Sätteln. Soldaten, eine Patrouille. Ich war gerettet. Ich sprang auf. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aussah. Mein ganzer nackter Oberkörper und meine Beine waren dreckverschmiert und zerschrammt. Mein Gesicht sah nicht viel besser aus. Zudem hatten mich die Erschöpfungen der Flucht gezeichnet. Stumm stand ich vor den Soldaten. Geschafft, dachte ich immer wieder. Ich habe es geschafft. »Bist du ein Apache oder ein Weißer, Kleiner?« fragte einer der Soldaten plötzlich. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Baumstamm, in dessen Schatten ich geschlafen hatte. »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Ich gehöre zu der Mission am Pease River. Ich – ich bin verschleppt worden …« Dann erzählte ich ihnen alles. Sie stiegen ab, umringten mich und hörten mir zu. Sie unterbrachen mich mit keinem Wort. Der eine war ein junger Lieutenant, dessen Gesicht immer ernster wurde. Ich schaute in die Augen der Soldaten. Ich sah, daß sie mir glaubten. Frederic LeRouche, der berühmte Armee-Scout, war ein Verräter. Er war ein verkappter Indianerhändler. Er konspirierte mit dem Feind. Er verdiente an diesem Indianerkrieg. Auf schmutzige Weise, aber nicht schlecht. Als ich endlich verstummte, nahm der Lieutenant mich an der Hand und führte mich zu seinem Pferd. Er hob mich hinauf und setzte mich vor den Sattel. »Wir nehmen dich mit und bringen dich nach Hause zurück«, sagte er. »Es ist ein wahres Wunder, daß du fliehen konntest.«
Dann redete er mit den anderen, während wir losritten. Ich hörte, daß ein bulliger Corporal den Verdacht äußerte, der Häuptling, der mich gekauft hätte, sei Coyotero gewesen, Führer einer Mimbreno-Gruppe, ein enger Vertrauter von Mangos Coloradas. Die anderen stimmten zu. Mir sagte der Name nichts. Er war mir auch verdammt egal. Ich war wieder frei und in Sicherheit. Das war für mich die Hauptsache. Der Lieutenant sagte: »Es ist ja klar, daß ein Mann seine Finger mit im Spiel hatte, der genau wußte, was bei uns vorging, der über unsere Pläne immer schon im voraus unterrichtet war. Wir haben uns ziemlich dämlich angestellt, daß wir nicht gleich auf LeRouche gekommen sind. Der Kerl hat mir nie gefallen.« »LeRouche hat eine Menge Freunde«, sagte der Corporal, der für diesen Rang eigentlich viel zu alt war. Es war einer von denen, die im Laufe ihres Soldatenlebens schon fast alle Ränge durchlaufen hatten und öfter degradiert und befördert worden war, als andere Männer ihrer Wäsche wechselten. »Die werden ihm jetzt gar nichts nutzen«, sagte der Lieutenant. »Jetzt ist er erledigt. Dieses Schwein. Ich möchte wetten, er hat auch bei den Waffengeschäften mitgemischt und gut daran verdient, daß Hunderte von Menschen umgekommen sind.« »Er wird alles abstreiten«, sagte der Corporal. »Er wird sagen, daß der Junge sich alles ausgedacht habe. Wie alt bist du, Ronco?« »Elf«, sagte ich. »Da hörst du es«, sagte der Corporal. »LeRouche wird sagen, daß dieser Junge nicht ernst zu nehmen sei.« »Sieh ihn dir doch an«, sagte der Lieutenant. »Er trägt einen Lendenschurz und Mokassins. Er war bei den Apachen. LeRouche wird es nicht schaffen, allen Leuten einzureden, daß der Junge freiwillig zu den Rothäuten gegangen sei.« Der Corporal schwieg jetzt. Die beiden anderen Soldaten sagten ebenfalls nichts. Mir war das alles egal. Für mich war nur eins wichtig: Wir befanden uns auf dem Heimweg. Was mit Frederic LeRouche passieren sollte, kümmerte mich nicht. Von mir aus sollte man ihn aufhängen, erschießen, vierteilen, verbrennen. Der Kerl war für mich
gestorben. Ich wollte nur nach Hause, in meine Kammer, zurück zu den Padres, zu meinen Freunden, sogar zurück zu Richter Collins in die Missionsschule. Zurück zu George Washington, dem »Vater unseres Landes«. Der Pferdetrott ließ mich wieder müde werden. Das sanfte Schaukeln auf dem Pferderücken war einschläfernd. Mein Kopf sank nach vorn. Ich sackte auf den Pferdehals. Der Lieutenant hielt mich fest, weckte mich aber nicht. So schlief ich wieder ein. Es wurde Mittag. Ich erwachte und fühlte mich besser. Die Sonne stand hoch. Es war warm. Ich befürchtete, einen Sonnenbrand zu kriegen. Ich sagte es dem Lieutenant. Er hängte mir eine Satteldecke um die Schultern. Ich schwitzte zwar darunter sehr, aber mein Oberkörper war vor den stechenden Sonnenstrahlen geschützt. Als die Sonne den Zenit erreichte und die Hitze am stärksten war, rasteten wir im Schatten einer Gruppe hoher Quaderfelsen, die wie die vergessenen Bauklötzer eines Riesen im Land lagen, mitten in der Steppe. Die Soldaten teilten ihre Rationen mit mir. Trockenfleisch, hartes Maisschrotbrot, Wasser aus der Feldflasche, Zwieback und getrocknete Früchte. Der Corporal stieg auf einen der Quaderfelsen und spähte über das Land. Er konnte nichts entdecken. Entweder wurde ich nicht verfolgt, oder die Apachen hatten nur zwei oder drei Krieger hinter mir hergeschickt, die die Fährte der Soldaten gefunden und sich gesagt hatten, daß es besser für sie sei, umzukehren. Die Soldaten glaubten auch, daß keine Gefahr mehr bestand. Das lockerte ihre Stimmung. Als wir nach dem Essen aufbrachen, ritten wir langsamer, um die Pferde zu schonen. Es wurde Abend. Wir waren einen anderen Weg geritten, als Frederic LeRouche ihn genommen hatte, als er mit mir hergeritten war. Die Patrouille hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Sie hatte bestimmte Punkte im Land anzusteuern und nach Indianerspuren zu suchen. Die Soldaten erfüllten ihre Aufgabe. Als es dunkel wurde, rasteten wir am Fuße eines stark mit Gestrüpp bewachsenen Hügels. Wir schlugen hier unser Nachtlager auf.
Es wurde ein kleines Feuer angefacht und Kaffee gekocht. Der Lieutenant hatte eine Dose Bohnen bei sich. Der Inhalt wurde ebenfalls gewärmt und in gleiche Portionen geteilt. Es war nicht viel, aber stellte doch eine Abwechslung in der eintönigen Marschverpflegung der Soldaten dar. Nach dem Essen fragte mich der Lieutenant, wie die Apachenangriffe bei uns im Pease-River-Tal verlaufen wären. »Erst wurden ein paar Farmen niedergebrannt«, sagte ich. »Nachdem dann Major Bullard mit seinen Leuten erschien, zogen die Farmer alle in die Mission. Wir wurden ein paar Mal angegriffen, konnten uns aber halten.« »Viele Tote und Verwundete?« Der Lieutenant beugte sich vor. Er zog einen brennenden Reiser aus der Glut des Feuers und zündete daran seine Zigarette an. Er lehnte sich zurück gegen seinen Sattel, der hinter ihm im Gras lag. »Eine ganze Menge«, sagte ich. »Gezählt habe ich nicht, aber es werden an die dreißig Verwundete gewesen sein. Tote …« Ich zuckte mit den Schultern. Ich zog mir die Satteldecke jetzt fester um den Oberkörper und rückte ein Stück näher ans Feuer. Es wurde nun doch kühl, und ich fror. »Wir sind erst vor ein paar Tagen in Boltons Station eingetroffen«, sagte der Corporal. »Wir kommen aus Camp Griffin. Unsere Kompanie befindet sich auf dem Marsch nach Süden. Wir sollen das Tal am Pease River umrunden.« »In der Mission wurde davon gesprochen«, sagte ich. »Verstehst du etwas von Landkarten, Ronco?« fragte der Lieutenant plötzlich. »In der Missionsschule gab es ein paar Landkarten«, sagte ich. »Aber viel haben wir darüber noch, nicht gelernt.« Der Lieutenant langte hinter sich, zog seine Satteltaschen heran und holte eine Armeekarte heraus. Er faltete sie auseinander und hockte sich neben mich. Ich starrte verständnislos auf das Gewirr von kurvenreichen Linien, geraden Strichen, Punkten und Kreuzen. Der Lieutenant deutete mit dem Zeigefinger auf einen Punkt mitten auf der Landkarte. »Hier ungefähr sind wir.« Sein Finger fuhr an einer unsichtbaren
Linie entlang. »Und hier haben wir dich gefunden. Glaubt du, daß du uns zeigen kannst, wo etwa das Lager der Apachen war, die dich gekauft haben?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung ich geflohen bin«, erwiderte ich. »Ich bin gegen Mitternacht ausgebrochen. Dann bin ich bis zum Morgen ohne Unterbrechung gelaufen.« »Das Lager war in wüstenartigem Gebiet?« fragte der Lieutenant. Ich nickte. »Dann mußt du von hier gekommen sein.« Wieder zog sein Finger eine unsichtbare Linie. »Du kannst höchstens drei bis vier Meilen zurückgelegt haben.« Er zog einen Bleistift aus seiner Uniformbluse und malte einen Kreis auf die Karte. »Wir werden das Camp schon finden«, sagte er, »wenn es überhaupt noch da ist. Gab es Wasser, wo die Apachen ihr Lager hatten?« »Ich glaube ja«, sagte ich. »Bevor ich in das Zelt gesperrt wurde, habe ich ein Loch am Nordende des Camps gesehen. Ich glaube, das war ein Wasserloch.« »Davon gibt es in dieser Gegend nicht sehr viele«, sagte der Corporal. »Ich glaube, dann weiß ich, wo das Camp ist.« »Wenn es Coyoteros Lager ist, wird der ein dummes Gesicht ziehen, wenn wir ihn hochnehmen«, sagte einer der beiden jungen Privates, die den Lieutenant und den Corporal begleiteten. »Vielleicht läßt er mit sich handeln«, sagte der Lieutenant. Er hatte sich wieder auf seinen Platz gesetzt und blickte nachdenklich ins Feuer. »Coyotero soll ein schlauer Fuchs sein. Wenn wir ihm ein gutes Angebot unterbreiten, nennt er uns vielleicht die Händler, die die Waffen ins Apachengebiet geliefert haben, und verrät uns vielleicht LeRouches Kumpane.« »Mit Apachen schließt man keine Geschäfte«, sagte der junge Soldat. »Apachen bringt man um. Nur ein toter Apache ist ein guter Apache.« »Sie müssen noch eine Menge lernen, Private Jones«, sagte der Lieutenant. »Wir müssen weiterdenken. Die Apachen haben diesen
Krieg nicht allein aus eigenem Antrieb angefangen. Es sitzen irgendwo in diesem Land Leute, die daran verdienen, daß wir uns die Ärsche wundreiten und uns erschießen und skalpieren lassen. Wenn wir die Waffenhändler nicht erwischen, ist es in ein paar Monaten schon wieder soweit, und die Apachen graben abermals das Kriebsbeil aus. Wenn wir das Land sichern wollen, müssen wir mehr tun, als ein paar Apachen abknallen. Wir müssen auch die Aasgeier erwischen, Leute wie Frederic LeRouche. Nur dann können wir eines Tages Ruhe haben.« Ich glaube, ich verstand damals schon, was er meinte. Als der Corporal sich erhob und die Nachtwachen einteilte, rollte ich mich noch fester in meine Decke und legte mich dicht ans Feuer, das nun langsam niederbrannte. Ich hörte die Soldaten reden. Der Lieutenant rauchte seine Zigarette zu Ende. Wenig später streckten auch sie sich zum Schlafen aus. Ich hörte noch eine Weile die Bewegungen des Postens, der langsam auf und ab schritt. Dann schlief ich ein. Die Nacht verlief störungsfrei und ruhig. Noch vor Sonnenaufgang frühstückten wir und brachen das Lager ab. Ich stieg wieder zu dem Lieutenant aufs Pferd. Wir rechneten damit, am Nachmittag die Mission zu erreichen. Ich begann mein Abenteuer bei den Apachen zu vergessen und dachte daran, daß ich zu einem guten Teil selbst daran Schuld war. Frederic LeRouche hatte es durch meinen Leichtsinn verdammt leicht gehabt. Ich hätte die Einfriedung der Mission nie verlassen dürfen. Ich schwor mir, in Zukunft auf die Anweisungen der Padres zu hören und sie nie wieder zu mißachten. An diesem Morgen hatte ich meine Stunde der Selbstbesinnung. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß ich ein schlechter Mensch war – mit elf Jahren. Mir graute davor, älter zu werden. Zu was für einem Monstrum mochte ich mich entwickeln? Ich hatte die Güte und Fürsorge der Padres gar nicht verdient. Gott sei Dank hielt solcher Katzenjammer nie lange bei mir an. Als es Mittag wurde, verflogen meine reuevollen und bußfertigen Gedanken rasch wieder. Die Nähe der Mission erfüllte mich mit einem Hochgefühl. Ich war wieder zu Hause – fast. Jetzt konnte
nichts mehr passieren. Alle Schrecken waren vorüber. Ich malte mir bereits die Bewunderung aus, die ich von nun an genießen würde. Ich würde der einzige Junge im Pease-River-Tal sein, der einmal für einige Stunden in einem Indianercamp zugebracht hatte, der aus dem Wigwam eines Apachendorfes geflohen war. Ich fühlte mich prächtig. Den Lendenschurz und die Mokassins würde ich überall herumzeigen. Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Am liebsten wäre ich abgestiegen und den Rest des Weges zu Fuß gelaufen, um wieder das Gras des heimatlichen Tales unter den Füßen zu spüren. Wir erreichten den Fluß. In knapp einer Meile lag die AtkinsFarm. Der Pease River floß an dieser Stelle in einem weiten Bogen. Wir hielten an und stiegen ab. Im Schatten hoher Sträucher schlugen wir unser Lager auf, um noch einmal zu rasten, bevor wir zur Mission weiterritten. Der junge Private Jones führte die Pferde in den Fluß zur Tränke. Ich kauerte mich mit dem Rücken an einen Baumstamm und schaute dabei zu, wie der Corporal mit seinem Feldspaten einige Grasschollen ausstach und abhob. Er bereitete die Feuerstelle vor. Der junge Jones kehrte in diesem Moment mit den Pferden vom Fluß zurück. Er blinzelte grinsend in die Sonne. Er hatte seine blaue Uniformbluse am Kragen geöffnet. Sein braunes Haar hing ihm etwas zu tief in die Stirn. Er hatte ein unbekümmertes Gesicht mit ein paar Sommersprossen. Irgendwie erinnerte er mich an Clay. »Ich wette, in der Mission gibt es endlich wieder ein richtiges Essen«, sagte er. »Steaks mit Gemüse und gerösteten Kartoffeln und vielleicht ein Stück Kuchen hinterher.« Der Corporal nickte grinsend. Der Lieutenant drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. In diesem Moment blieb Private Jones plötzlich stehen. Seine Augen wurden ganz groß, sie quollen fast aus den Höhlen wie zwei Glaskugeln. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Er schwankte und ließ die Zügel Pferde los. In seiner Brust steckte ein Messer, der lederumwickelte Griff ragte heraus. Die Uniformbluse färbte sich langsam dunkel. Der junge Soldat tastete unsicher nach dem Messer. Er
verkrampfte die Hände vor der Brust und sackte auf die Knie nieder. »Lieutenant …« sagte er. Seine Stimme klang dünn und schwach. »Was – was ist denn … Helfen Sie …« Er fiel nach vorn aufs Gesicht. Ich blieb wie gelähmt sitzen. Die Soldaten sprangen auf. Da brachen Männer aus dem Dickicht, in dessen Schatten wir saßen. Untersetzte Männer mit einer Haut wie aus Kupfer – Apachen. Der lederhäutige Corporal konnte seinen Colt ziehen und einen Krieger erschießen. Dann waren die Indianer auch schon über den Kavalleristen und rissen sie nieder. Ich erkannte den Häuptling, der mich gekauft hatte. Meine Erstarrung löste sich. Ich sprang auf und begann zu rennen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ein Dröhnen und Rauschen erfüllte meine Ohren. Ich hatte mich so sicher gefühlt, so verdammt sicher. Was war ich für ein Dummkopf. Ich hörte hinter mir die Schreie der Soldaten. Das trieb mich noch an. Ich stürmte am Fluß entlang. Jeden Moment erwartete ich den Einschlag einer Kugel, eines Pfeils in meinem Rücken. Aber nichts geschah. Ich drehte mich um, ohne anzuhalten. Da sah ich einen Reiter hinter mir. Ein hagerer Apache verfolgte mich. Ich rannte noch schneller. Aber ich hatte keine Chance. Das Pony des Apachen war schneller als ich. Es hatte keinen Sinn mehr. Ich war verloren. Diesmal war es wirklich aus. Aber ich wollte nicht aufgeben. Ich dachte gar nicht daran. Ich wollte kämpfen und lieber sterben, als zurück zu den Apachen gehen. Ich hörte den Hufschlag des Verfolgers schon deutlich hinter mir. Da warf ich mich kurzerhand in den Fluß. Ich machte einen gewaltigen Satz und streckte beide Arme aus. Ich überschlug mich fast in der Luft, als ich die Böschung hinunterfiel, die an dieser Stelle knapp drei Yards hoch war. Seitlich stürzte ich ins Wasser. Ich prallte hart auf der Wasserfläche auf und ging sofort unter. Ich ruderte mit Armen und Beinen, stieg wieder an die Oberfläche und schwamm gegen die reißende Strömung an, um zum anderen Ufer zu gelangen. Wenn ich es schaffte, war ich
gerettet. Es gab keine Furt hier in der Nähe. Über den Fluß konnten mir die Apachen nicht zu Pferde folgen. Ich schwamm um mein Leben. Die Strömung schwemmte mich mit. Ich kam kaum gegen sie an. Meine Arme und Schultern schmerzten bereits. Als ich einmal den Kopf wandte, sah ich, daß der Apache, der mich verfolgte, von seinem Pony aus direkt ins Wasser hechtete. Mit kräftigen Schwimmstößen folgte er mir. Ich schrie auf vor Verzweiflung und schluckte Wasser. Mir wurde schwindlich. Meine Arm- und Beinbewegungen wurden immer schwächer. Ich war sicher, ertrinken zu müssen. Aber selbst das war mir jetzt egal. Da spürte ich plötzlich Sand unter meinen Füßen. Noch zwei, drei Schwimmstöße, und ich konnte stehen. Taumelnd watete ich durch das Wasser an Land. Ich brach am Ufer vor Schwäche zusammen. Mein Brustkorb schien platzen zu wollen. Ich rang nach Atem. Aber ich kämpfte mich wieder auf die Beine. Als ich mich in Bewegung setzte, waren meine Füße bleischwer. Ich drehte mich um und sah, daß der Apache ebenfalls fast das Ufer erreicht hatte. Wilde Wut zuckte in mir auf. Ich blieb stehen und ballte die Hände. Ein paar blanke Kiesel, mehr als faustgroß, lagen im seichten Uferwasser. Ich bückte mich und hob einen auf. Als der Apache Grund unter den Füßen hatte und sich aufrichtete, schleuderte ich den Stein. Ich traf den Krieger an den Kopf. Der kippte um wie ein Brett und ging im Wasser unter. Die Strömung riß ihn mit. Ich wartete nicht, sondern drehte mich um und begann wieder zu laufen. Aber ich kam nur langsam voran. Ich war zu erschöpft und fühlte wieder heftige Stiche in der Seite. Ich weiß nicht, wie lange ich so lief. Irgendwann hörte ich das schwere Atmen eines Mannes hinter mir und drehte mich um. Der Apache stürmte heran. Sein Körper glänzte vor Nässe. An seiner Stirn klaffte eine große Platzwunde. Seine rechte Gesichtshälfte war blutüberströmt. Aber er war genauso hartnäckig wie ich. Und er hatte mehr Reserven. Er war in der Wildnis aufgewachsen und konnte
noch mehr ertragen. Ich bückte mich abermals nach einem Stein. Diesmal aber war er klüger. Er wich dem Wurf geschickt aus. Eine halbe Minute später hatte er mich. * Der Schlag mit der flachen Seite des Tomahawks hatte mich betäubt. Mein Kopf brummte, als ich erwachte. Ich konnte nicht sofort wieder klar sehen. Ich war an Händen und Füßen gefesselt und lag im Schatten der Sträucher, wo ich mich mit den Soldaten niedergelassen hatte, um zu rasten, bevor die Indianer erschienen waren. Sie mußten auf uns gewartet haben. Wahrscheinlich hatten sie die Spur verfolgt und in der Nacht einen Bogen um unser Camp geschlagen, um uns in Sicherheit zu wiegen. Wenn das ihr Plan gewesen war, dann war er ihnen gründlich gelungen. Wir waren darauf hereingefallen. Ich konnte mir deswegen nichts vorwerfen. Damals hatte ich von solchen Dingen noch keine Ahnung. Aber der junge Lieutenant hatte leichtsinnig gehandelt und der erfahrene Corporal auch. Sie hatten sich täuschen lassen. Ich bewegte vorsichtig den Kopf. Ein Stück abseits sah ich den Krieger am Flußufer sitzen, der mich eingefangen hatte. Er kühlte seine Stirnwunde mit einem feuchten Tuch. Das Blut hatte er sich abgewaschen. Nur wenige Schritte entfernt von mir saß der Häuptling, von dem die Soldaten angenommen hatten, daß er Coyotero hieß. Er hieß wirklich so, aber das erfuhr ich erst viel später. Nebem dem Häuptling aber sah ich den Lieutenant. Er war völlig nackt. Die Apachen hatten ihn an kleinen Pflöcken, die sie in den Boden gerammt hatten, aufgespannt wie eine feuchte Haut, die man zum Trocknen in die Sonne legt. Er konnte kein Glied rühren. Der Häuptling beobachtete ruhig, wie seine Krieger auf dem Leib des Lieutenants Reisig aufschichteten. Ich sah rasende Angst in den Augen des jungen Offiziers. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne, so
groß war seine Furcht. Der Häuptling hatte entdeckt, daß ich wieder bei Besinnung war. Er schaute mich offen an. Ich sah keinen Zorn in seinen Augen. Ich glaubte vielmehr, Freundlichkeit und sogar eine gewisse Hochachtung darin zu entdecken. »Kleiner Junge geflohen«, sagte er. Sein Englisch war schlecht, aber ich konnte es verstehen. Ich war überrascht, daß er es überhaupt konnte. »Sehr geschickt, sehr gut«, sagte er. »Sehr tapfer. Kleiner Junge kämpfen.« Er grinste breit und zeigte auf den Krieger, dem ich den Stein an den Kopf geworfen hatte. »Gut kämpfen«, sagte er. »Werden großer Krieger, später, wenn größer, wenn älter.« Ich schüttelte den Kopf. Er ignorierte es. »Du gehörst zu uns«, sagte er. »Du jetzt noch Weißer, bald Apache. Großer Krieger.« Er grinste wieder. »Nicht mehr weglaufen. Sonst dich töten.« Er richtete sich auf und ging davon. Ich wußte jetzt Bescheid. Es gab kein Entrinnen mehr. Ich würde bei den Apachen bleiben. Ich würde bei ihnen aufwachsen. Daß ich geflohen war, erkannten sie als Tapferkeit an. Wenn ich es noch einmal versuchte, würden sie mich töten. In diesem Moment wurde das Reisig auf dem Leib des Lieutenants angezündet. Ich wandte rasch den Kopf ab. Da schaute ich direkt in das Gesicht des lederhäutigen Corporals. Er hing unweit von mir an einem Baum. Er war an den Füßen aufgehängt worden. Sein Kopf hing nach unten, unter seinem Kopf wurde nun ebenfalls ein Feuer angefacht. Verzweifelt krümmte er sich zusammen, versuchte, den Körper von den Flammen wegzuschwingen. Es gelang ihm nicht. Ein Stück abseits von ihm lag der zweite junge Private. Er war schon tot. Er hatte es leicht gehabt. Er war im Handgemenge mit einem Tomahawk erschlagen worden. Ich hörte jetzt den Lieutenant schreien. Ich hätte mir gern die Ohren zugehalten. Aber das ging nicht. So konnte ich nur die Augen schließen, um nicht sehen zu müssen, was um mich herum geschah. Die Apachen hatten jedoch nicht die Absicht, bis zum Tod ihrer
Opfer zu bleiben. Sie führten die Pferde aus dem Gebüsch, wo sie auf uns gewartet hatten. Ich wurde hochgehoben, zu einem Tier geschleppt und auf dem Rücken festgebunden. Dann stiegen auch die anderen Krieger in die Sättel. Wenig später ritten wir flußabwärts. Es waren etwa zwanzig Krieger, und ich war mitten unter ihnen. Ich hörte noch lange das Brüllen der beiden Soldaten, die bei lebendigem Leibe verbrannten. Ich hatte es noch immer im Ohr, auch als wir längst viel zu weit von dem Platz entfernt waren und nichts mehr davon hören konnten. Nach fast einer Stunde ritten wir in großer Entfernung an der Mission vorbei. Ich sah die weißen Adobegebäude, den Glockenturm und die Kapelle jenseits des Flusses liegen. Ich schluckte. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen. Ich wollte nicht hinsehen. Ich wollte nicht weinen. Ich begann mich in mein Schicksal zu fügen. Es gab kein Zurück mehr zur Mission, zu den alten Freunden. Das Schicksal wollte es anders. Ich würde als Indianer aufwachsen und ein weißer Apache werden. Wie schon viele andere vor mir. Das war meine Zukunft. Alles andere war Vergangenheit und vorbei, endgültig. Ich kann meine Gefühle von damals heute nicht mehr beschreiben. Ich begriff dunkel, daß ein neuer Lebensabschnitt für mich begonnen hatte und ich gut daran tat, mich nicht an Vergangenes zu hängen, um nicht zu zerbrechen. Ich mußte die Dinge so nehmen, wie sie nun einmal waren und wußte nur, daß ich überleben wollte. Dazu mußte ich mit dem, was nun auf mich zukam, fertigwerden. Meine einzige Chance war, mich durchzubeißen, ohne über die Vergangenheit zu weinen. Nur dann konnte ich es schaffen. Ich ritt mit den Apachen und begann einer der ihren zu werden. * Ich bin müde. Mir tut die Hand vom vielen Schreiben weh. Ich muß aufhören. Dabei ist es noch so viel, was ich zu berichten habe. Lobo ist aufgewacht. Er hat die Laterne wieder an die Decke gehängt. Ich werde mich jetzt hinlegen und ein paar Stunden
schlafen. Lobo wird inzwischen wachen. Hier oben in der Dachkammer fühle ich mich sicher. Nicht nur, weil Lobo hier ist. Jerome Braddock, der Mann, der uns beide zu seinem Schutz angeheuert hat, ist ein Mann, auf den Verlaß ist. Er würde mich nie verraten. Solange ich hier auf der Ranch bin, kann mir nichts passieren. Aber ewig kann ich hier nicht bleiben. Der Rancher bezahlt uns nicht fürs Nichtstun. Seine Feinde sind auch unsere Feinde. Sie warten draußen irgendwo im Land. Wenn ich das Haus verlasse, wird ihre Jagd auf mich wieder beginnen. Lobo ist bei mir, und das ist gut. Aber wir sind nur zu zweit, Feinde habe ich viele, zu viele. Noch habe ich Ruhe. Doch schon in den nächsten Tagen, das weiß ich ganz sicher, ist es damit vorbei. Dann muß ich wieder kämpfen. Wie lange noch, wie oft?
ENDE
Vorschau Henry Beeson, der Farmer, hatte keine Chancen, als die beiden Killer auf seinem Hof erschienen und ihn des Viehdiebstahls bezichtigten. Er war unbewaffnet. Der schmutzige Job, dem die beiden Killer nachgingen, war so ungefährlich wie die Jagd auf Kaninchen. Die Kaninchen waren die Farmer. Henry Beeson wurde brutal zusammengeschlagen, und Cal Beeson, der Sohn, der dem Vater helfen wollte, erhielt eine Kugel ins Bein, einfach so. Fünf Minuten später baumelte Henry Beeson an einem Strick unter einem Cottonwoodast. Der Weidekrieg begann … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 111 dieser großen deutschen WesternSerie:
Mordbrenner