Hans Palmtag Mark Goepel Helmut Heidler Urodynamik 2., vollständig überarbeitete Auflage
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Hans Palmtag Mark Goepel Helmut Heidler Urodynamik 2., vollständig überarbeitete Auflage
Hans Palmtag Mark Goepel Helmut Heidler
Urodynamik 2., vollständig überarbeitete Auflage
Mit 209 Abbildungen
123
Prof. Dr. med. H. Palmtag Urologische Abteilung Städtisches Krankenhaus Arthur-Gruber-Str. 70 71065 Sindelfingen
Prof. Dr. med. M. Goepel Klinik für Urologie, Kinderurologie u. Urolog. Onkologie Klinikum Niederberg Robert-Koch-Str. 2 42549 Velbert
Prim. Univ.-Doz. Dr. med. H. Heidler Urologische Klinik Allgemeines Krankenhaus Krankenhausstr. 9 A-4020 Linz
ISBN 978-3-540-72505-3 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2004, 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Planung: Dr. med. Lars Rüttinger, Heidelberg Projektmanagement: Ina Conrad, Heidelberg Einbandgestaltung: deblik Berlin SPIN: 11975977 Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier
2111 – 5 4 3 2 1 0
Vorwort Mit der 2. Auflage kommt der Arbeitskreis Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau einer erfreulich großen Nachfrage des gemeinschaftlich erstellten Buches »Urodynamik« nach. In dieser 2. Auflage haben dankenswerter Weise wieder alle Mitglieder dieses Arbeitskreises mitgearbeitet und alle Kapitel überarbeitet. In einer gemeinsamen internen Abstimmung wurden sowohl die Nomenklatur, als auch neue Daten mit aufgenommen. Zusätzlich wurden international standardisierte und validierte Fragebögen im Anhang abgedruckt. Es ist dem Verlag zu danken, dass in dieser 2. Auflage neue Abbildungen in Farbe mit aufgenommen werden konnten, außerdem eine nochmalige Qualitätsverbesserung dieser Abbildungen erreicht werden konnte. Unverändert bleibt zu wünschen, dass dieses Buch »Urodynamik« weiter Standardwerk in der urologischen Diagnostik bleibt und einen Beitrag dazu leistet, das Verständnis pathophysiologischer Zusammenhänge für Funktionsstörungen am unteren Harntrakt zu verbessern. Urodynamik stellt heute keine Subspezialität in der Urologie mehr dar, sondern ist fester elementarer Bestandteil der urologischen Routinediagnostik in Klinik und Praxis. Für die erneute Mitarbeit aller Arbeitskreismitglieder dürfen sich die Herausgeber bedanken. Ganz besonders gilt dieser Dank aber auch dem Springer Verlag für die unverändert stets gute Kooperation und für die Bereitschaft, in dieser 2. Auflage weitere Qualitätsverbesserungen mit aufzunehmen. Für den Arbeitskreis Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau Die Herausgeber H. Palmtag, Sindelfingen, M. Goepel, Velbert, H. Heidler, Linz
VII
Inhaltsverzeichnis 4.1.2
I
4.1.5 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2
Symptome des unteren Harntraktes (lower urinary tract symptoms, LUTS) . . . . . . . . . . . . 36 Klinische Hinweise auf eine Dysfunktion des unteren Harntraktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Urodynamischer Befund und Beobachtungen während der urodynamischen Untersuchung . . . . 37 Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Klassifikation der Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . 39 Blasen- und Sphinkterfunktionsstörungen . . . . . . . 39 Neue Klassifikation der Harninkontinenz . . . . . . . . . 41 Pathophysiologie der Funktionsstörungen . . . . . . . 42 Speicherstörungen der Harnblase. . . . . . . . . . . . . . . . 42 Entleerungsstörungen der Harnblase . . . . . . . . . . . . 46
5
Urodynamik der oberen Harnwege . . . . . . . . . 51
Grundlagen 4.1.3
1
Geschichte der Urodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 1.2 1.3 1.4
M. Goepel, B. Schönberger Blasendruckmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Uroflowmetrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Urodynamische Kombinationsuntersuchung . . . . . . 7 Harnröhrendruckprofil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2
Anatomie, Physiologie und Innervation des Harntraktes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2
P.M. Braun, K.-P. Jünemann Anatomie des unteren Harntraktes . . . . . . . . . . . . . . . 12 Neuroanatomie (Steuerung und Innervation) . . . . 12 Zentrale Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Periphere Innervation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Neurophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Harnspeicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Harnentleerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3
Pharmakologie des Harntraktes . . . . . . . . . . . . 17
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15 3.16 3.17 3.18
4
4.1 4.1.1
C. Hampel, J.W. Thüroff Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Cholinerge Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Adrenerge Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Dopaminerge Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Serotoninerge (5HT) Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Purinerge Rezeptoren (P2X, P2Y). . . . . . . . . . . . . . . . . 24 GABAerge Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Pharmakologie der Glutaminsäure . . . . . . . . . . . . . . . 24 Pharmakologie von Glycin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Peptiderge Rezeptoren (Opioide, VIP, Substanz P) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Pharmakologie von Stickstoffmonoxid (NO) . . . . . . 26 Pharmakologie der Prostaglandine . . . . . . . . . . . . . . 26 Ionenkanäle (Ca, K) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Toxine als Therapieoptionen (Capsaicin, RTX, Clostridium botulinum Toxin Typ A) . . . . . . . . . . . . . . 27 Muskelrelaxanzien (Vinpocetin, Dicyclomin). . . . . . 28 Östrogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Pharmakologie des antidiuretischen Hormons (ADH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Funktionsstörungen des unteren Harntraktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 H. Heidler, S. Schumacher Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4.1.4
S. Alloussi, C. Hampel Anatomie und Physiologie des oberen Harntraktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Urodynamik des oberen Harntraktes . . . . . . . . . . . . . 53 Pharmakologische Beeinflussung des oberen Harntraktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
5.1 5.2 5.3
II 6
6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5
Urodynamische Untersuchung Grundlagen urodynamischer Messmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 W. Schäfer Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Physikalische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Physikalische Eigenschaften des Drucks . . . . . . . . . . 62 Praktische Probleme bei der Druckmessung. . . . . . . .62 Nullwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Referenzhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Externe und Mikrotiptransducer . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Detrusordruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Grundlagen der Signalkontrolle beim Druck. . . . . . 63 Technische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Grundausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Erweiterte Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Darstellung der Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Dokumentation und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Urodynamische Messverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Grundlagen der Uroflowmeterie . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Füllungszystometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Kombinierte Druckflussstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Urodynamische Messung des Harnröhrenverschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 EMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
VIII
Inhaltsverzeichnis
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2 7.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 7.5.1 7.5.2 7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3 7.6.4
8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4 8.4.1 8.4.2 8.5 8.6 8.7
Anamnese und Basisuntersuchungen . . . . . . . 69 K.U. Laval, H. Palmtag Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Gynäkologische Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Operationsanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Neurologische Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Medikamentenanamnese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Miktionskalender, Miktionsprotokoll, Miktionstagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Vaginale Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Hustentest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Urinuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Uringewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Urinbefundung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Neurourologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Mentaler Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Motorische Funktionsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Sensible Funktionsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Untersuchung der Reflexaktivität der sakralen Segmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Uroflowmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Schönberger, S. Bross Definition, Parameter, Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Technische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Überlaufprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Luftverdrängungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Gravimetrisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Rotationsdynamisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Tauchstabprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Durchführung der Uroflowmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Räumliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Untersuchungsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Interpretation der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Normale Harnflussraten und Harnflusskurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Pathologische Harnflussraten und Harnflusskurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Reproduzierbarkeit der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . 90 Homeuroflowmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Uroflowmetrie als Kombinationsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
9
Zystometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
9.1 9.2 9.3 9.4
P.M. Braun, K.-P. Jünemann Messgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Füllungsphase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Normalbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Entleerungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
10
Urethradruckprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
10.1 10.2 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.5 10.5.1 10.5.2 10.6 10.6.1 10.6.2 10.7 10.7.1
H. Heidler Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .100 Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .100 Untersuchungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .100 Messprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 Ruheprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 Stressprofil (Belastungsprofil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 Normalbefunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 Ruheprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 Stressprofil (Belastungsprofil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 Drucktransmission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 Passive Drucktransmission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 Aktive Drucktransmission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 Urethradruckprofil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103
11
Messung des Leak Point Pressure . . . . . . . . . . 107
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
K. Höfner Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .108 Detrusor leak point pressure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .108 Valsalva leak point pressure. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .108 Cough leak point . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .108 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .109
12
Druckflussmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
12.1 12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.4 12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4
K. Höfner Grundlagen und Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . .114 Druckflussanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .115 Mechanische Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .115 Funktionelle Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .117 Kontraktilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 Ein-Punkt-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 Zwei-Punkt-Verfahren (lineare PURR) . . . . . . . . . . . .118 Multiple-Punkte-Verfahren (PURR) . . . . . . . . . . . . . .118 Nomogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 ICS-Nomogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118 Abrams-Griffiths-Number . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 Schäfer-Nomogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 CHESS-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119
13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5
Videourodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 S. Alloussi, C. Hampel Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .122 Das Prinzip der videourodynamischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .122 Verfahren der Videourodynamik . . . . . . . . . . . . . . . .123 Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 Nachteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123
IX Inhaltsverzeichnis
14
Langzeiturodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
14.1 14.2 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.4
P. M. Braun, K.-P. Jünemann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 Druckmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 Aufzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .129 Instruktionen für den Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . .129 Literaturauswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130
15
Neurophysiologische Untersuchungen . . . . 131
15.1 15.2 15.3 15.4 15.4.1 15.4.2 15.5 15.6 15.7 15.8
16
G. Kiss, H. Madersbacher Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .132 Beckenbodenelektromyographie . . . . . . . . . . . . . . .132 Evozierte Potentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .133 Bulbokavernosusreflex (BCR), Analreflex (AR) . . . .136 Methodik der BCR-Latenzzeitmessung . . . . . . . . . .136 Methodik der AR-Latenzzeitmessung . . . . . . . . . . .136 Pudenduslatenzzeit (Pudendusneurographie) . . .136 Motorisch evozierte Potentiale des N. pudendus (P-MEP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .136 Algorithmen zur klinischen Anwendung . . . . . . . .136 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137
Indikation zur urodynamischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
16.7
B. Schönberger, K. Höfner Indikation zur Uroflowmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 Home-Uroflowmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 Uroflow-EMG-Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 Indikation zur Zystometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 Füllungszystometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 Druckflussstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 Indikation zur Videourodynamik . . . . . . . . . . . . . . . .141 Indikation zur EMG im Rahmen einer Zystometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .142 Indikation zur Urethradruckprofilmessung . . . . . .142 Indikation zur Messung des leak point pressure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .142 Detrusor leak point pressure (LPP) . . . . . . . . . . . . . .142 Valsalva leak point pressure, Cough leak point pressure (VLPP, CLPP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .142 Indikation zur Langzeiturodynamik . . . . . . . . . . . . .143
17
Bildgebende Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . 145
16.1 16.1.1 16.1.2 16.2 16.2.1 16.2.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.6.1 16.6.2
17.1 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5 17.2
M. Goepel, H. Heidler Röntgenuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .146 Ausscheidungsurogramm (AUG) . . . . . . . . . . . . . . . .146 Zystogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147 Miktionszysturethrographie (MCU) . . . . . . . . . . . . . .149 Urethrogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .150 Videogestützte Untersuchung des unteren Harntraktes (Videourodynamik) . . . . . . . . . . . . . . . . .151 Sonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.3 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
III 18 18.1 18.1.1 18.1.2 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.3 18.3.1 18.3.2 18.3.3 18.3.4 18.3.5
19 19.1 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.4
20
20.1 20.1.1
Niere, Harnleiter, Retroperitoneum . . . . . . . . . . . . . .151 Blase und Blasenhals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .152 Prostata und Samenblasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .153 Introitus und Perineum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .154 Schnittbildverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 CT des Abdomens und Beckens. . . . . . . . . . . . . . . . .155 MRT des Abdomens und Beckens . . . . . . . . . . . . . . .155 MRT des Beckenbodens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 MRT des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .157
Spezielle Urodynamik Spezielle Urodynamik der Frau . . . . . . . . . . . . 161 H. Palmtag, H. Heidler Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .162 Prolapsklassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .162 Beckenbodenmuskelstärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 Speicherstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 Sensitivitätsstörung (Hypersensitivität). . . . . . . . . .164 Detrusorbedingte Speicherstörung . . . . . . . . . . . . .164 Auslassbedingte Speicherstörungen . . . . . . . . . . . .164 Mischinkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .165 Entleerungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .165 Ungestörte Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .166 Sensitivitätsstörung – Hyposensitivität (sekundäre Megazystis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .166 Detrusorbedingte Entleerungsstörungen . . . . . . .167 Auslassbedingte Entleerungsstörungen . . . . . . . . .170 Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173
Spezielle Urodynamik des Mannes . . . . . . . . 175 V. Grünewald, K. Höfner Spezielle Aspekte der Blasenfunktionsstörung beim Mann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .176 Speicherstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177 Blasenhypersensitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177 Detrusorbedingte Speicherstörungen . . . . . . . . . . .178 Auslassbedingte Speicherstörungen . . . . . . . . . . . .180 Entleerungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 Blasenhyposensitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .180 Detrusorhypokontraktilität – akontraktiler Detrusor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .181 Blasenauslassobstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .183 Klinischer Wert der urodynamischen Diagnostik beim Mann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .189
Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 D. Schultz-Lampel, M. Goepel, B. Schönberger Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .194 Enuresis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .194
X
Inhaltsverzeichnis
20.1.2 20.2 20.2.1 20.2.2 20.3 20.3.1 20.3.2 20.3.3 20.4 20.5
Kindliche Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .194 Ätiologie und Pathophysiologie. . . . . . . . . . . . . . . . .194 Enuresis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .194 Kindliche Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .195 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 Basisdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 Weiterführende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .199 Häufigste urodynamische Befunde. . . . . . . . . . . . . .206 Wertigkeit der Urodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .209 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .209
23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4 23.3.5 23.4 23.5 23.5.1 23.5.2 23.5.3
Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .243 Studium der Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 Miktionstagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 Urodynamische Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . .244 Pathologische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246 Problematische Indikationsstellungen . . . . . . . . . .246 Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246 Entleerungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .247
21
Spezielle Urodynamik beim alten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
24
Begutachtung von Blasenfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
21.1 21.2 21.2.1 21.3 21.4 21.5 21.5.1 21.6
22
22.1 22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.2 22.2.1 22.2.2 22.2.3
23 23.1 23.2 23.3
D. Schultz-Lampel, H. Madersbacher Altersbedingte Veränderungen der Blasenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .212 Abklärung der Harninkontinenz beim älteren Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .212 Basisdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213 Indikationen zur Urodynamik beim alten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213 Durchführung der Urodynamik beim alten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .214 Typische urodynamische Befunde beim alten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .214 Detrusorhyperaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .219
Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 H. Madersbacher, M. Stöhrer, B. Schönberger, J. Pannek Allgemeiner Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .222 Diagnostik vor einer urodynamischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .222 Urodynamische Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . .222 Klinische Wertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .226 Ergänzende Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .226 Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .226 Spezieller Teil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227 Urodynamik bei suprapontinen Läsionen . . . . . . 227 Urodynamik bei spinalen suprasakralen Läsionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .230 Urodynamik bei subsakralen und peripheren Läsionen unter besonderer Berücksichtigung der Myelomeningozele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .233
Urodynamik bei Blasenersatz. . . . . . . . . . . . . . 241 M. Hohenfellner Urodynamische Anforderungen an Harnableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .242 Indikationen zur urodynamischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .243 Ergänzende diagnostische Maßnahmen . . . . . . . .243
24.3
M. Stöhrer, H. Palmtag, J. Pannek Unterschiede bei der Auftragserteilung . . . . . . . . .252 Gesetzliche Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . .252 Sonstige Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .252 Einteilung und Folgen von Blasenfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .253 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .253
A1 A2 A3
Urodynamische Normbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .258 Fragebögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .259 Verzeichnis der Synonyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .265
24.1 24.1.1 24.1.2 24.2
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
XI
Mitarbeiterverzeichnis Prof. Dr. med. S. Alloussi
Prof. Dr. med. M. Hohenfellner
Prof. Dr. med. D. Schultz-Lampel
Urologische Abteilung Krankenhaus Neunkirchen Brunnenstr. 20 66538 Neunkirchen
Urologische Universitätsklinik Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 110 69120 Heidelberg
PD Dr. med. P.M. Braun
Prof. Dr. med. K.-P Jünemann
Kontinenz-Zentrum Klinik für Urologie Klinikum der Stadt VillingenSchwenningen Röntgenstr. 20 78054 Villingen-Schwenningen
Klinik für Urologie Universitätsklinikum Kiel Arnold-Heller-Str. 7 24105 Kiel
Klinik für Urologie Universitätsklinikum Kiel Arnold-Heller-Str. 7 24105 Kiel
PD Dr. med. S. Bross
Dr. med. G. Kiss
Urologische Klinik Klinikum Darmstadt Grafenstr. 9 64283 Darmstadt
Neurourologische Ambulanz Universitätsklinik lnnsbruck Anichstr.35 A-6020 lnnsbruck
Prof. Dr. med. M. Goepel
Dr. med. K.-U. Laval
Klinik für Urologie, Kinderurologie u. Urolog. Onkologie Klinikum Niederberg Robert-Koch-Str. 2 42549 Velbert
Münsterstr. 353 40470 Düsseldorf
PD Dr. med. V. Grünewald Urologische Praxis in Bothfeld Sutelstr. 54A 30695 Hannover
PD Dr. med. C. Hampel Urologische Klinik u. Poliklinik Johannes-Gutenberg- Universität Langenbeckstr. 1 55131 Mainz
Prim. Univ.-Doz. Dr. med. H. Heidler Urologische Klinik Allgemeines Krankenhaus Krankenhausstr. 9 A-4020 Linz
Prof. Dr. med. K. Höfner Urologische Klinik Evangelisches Krankenhaus Oberhausen Virchowstr. 20 46047 Oberhausen
Prof. Dr. med. S. Schumacher Dept. of Urology Zayed Military Hospital PO-Box 35644 Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate
Prof. Dr. med. M. Stöhrer Urologische Klinik BG-Unfallklinik Prof. Küntscher-Str. 8 82418 Murnau
Prof. Dr. med. J.W. Thüroff Prof. Dr. med. H. Madersbacher Neurourologische Ambulanz Universitätsklinik lnnsbruck Anichstr.35 A-6020 lnnsbruck
Prof. Dr. med. H. Palmtag Urologische Abteilung Städtisches Krankenhaus Arthur-Gruber-Str. 70 71065 Sindelfingen
Prof. Dr. med. J. Pannek Chefarzt Neuro-Urologie Schweizer Paraplegiker-Zentrum CH-6207 Nottwil
Prof. W. Schäfer DI Continence Research Unit University of Pittsburgh Medical School 3459 5th Avenue Pittsburg, PA 15213 USA
Prof. Dr. med. B. Schönberger † Klinik für Urologie Universitätsklinikum Charité, Berlin
Urologische Klinik und Poliklinik Johannes-Gutenberg-Universität Langenbeckstr. 1 55131 Mainz
I
I
Grundlagen
1
Geschichte der Urodynamik
2
Anatomie, Physiologie und Innervation des Harntraktes – 11
3
Pharmakologie des Harntraktes – 17
4
Funktionsstörungen des unteren Harntraktes – 35
5
Urodynamik der oberen Harnwege – 51
– 3
1
Geschichte der Urodynamik M. Goepel, B. Schönberger †
1.1
Blasendruckmessung – 4
1.2
Uroflowmetrie
1.3
Urodynamische Kombinationsuntersuchung
1.4
Harnröhrendruckprofil Literatur
– 9
– 6
– 8
– 7
4
1
Teil I · Grundlagen
Schon im Altertum war bekannt, dass die Funktion der Harnblase vom Nervensystem beeinflusst wird. Das älteste bekannte Dokument ist wahrscheinlich der Edwin Smith-Papyrus [16], der aus der Zeit zwischen 1500 und 1300 v. Chr. stammt und darüber berichtet, dass die Paralyse der Blase nach einem spinalen Trauma auftritt. Galen (131–199 v. Chr.) zeigte durch Tierexperimente, dass der Schweregrad einer Rückenmarksverletzung nicht nur eine Lähmung der unteren Extremitäten, sondern auch den Verlust der Blasenfunktion nach sich zieht [9]. Er beschrieb außerdem die Existenz eines Blasenmuskels oder des Schließmuskels, war aber der Meinung, dass die Kontraktionen der Bauchmuskeln die wichtigste Rolle bei der Miktion spielen. Die Theorie von Galen beeinflusste das medizinische Denken in dieser Hinsicht über Jahrhunderte. Auch der Physiologe Albrecht von Haller (1780–1877; [14]); teilte Galens Beurteilung der Miktion, obwohl er die Beobachtung hinzufügte, dass die Kontraktion der Abdominalmuskulatur durch eine Kontraktion des Zwerchfells eingeleitet wurde. G. Valentin (1810–1883), der als Professor für Physiologie in Bern arbeitete, hing ebenfalls der Theorie von Galen an, kam aber zu dem Schluss, dass neben der Bauchmuskulatur auch der Detrusormuskel einen wichtigen Anteil am Miktionsvorgang hat [23]. Er vermutete, dass der quergestreifte Schließmuskel willkürlich entspannt werden könne und dass eine Kontraktion der Abdominalmuskulatur bei der Miktion nur dann notwendig sei, wenn eine Obstruktion oder ein Prostataadenom vorhanden sei. Daneben beschrieb Valentin verschiedene Gründe für eine Harninkontinenz wie z. B. die Sphinkterschwäche und ebenso die Schwangerschaft: Der vergrößerte Uterus nimmt den gesamten Raum in der Beckenhöhle ein und dieser Druck, der durch Husten noch erhöht wird, ist die Ursache für Urinverlust.
1.1
Blasendruckmessung
Heidenhein aus Breslau (1837–1897) war der Erste, der an Versuchstieren den intravesikalen Druck beurteilbar machte. Er schloss daraus, dass Harnkontinenz abhängig ist vom Tonus des Schließmuskels, und dass dieser wiederum durch spinale Nervenzentren kontrolliert wird [16]. Etwa zur selben Zeit entdeckte Julius Budje (1811-1888) in Greifswald die Existenz autonomer Kontraktionen der Blase und vermutete, dass Sakralnerven die einzigen motorischen Nerven mit Verbindung zur Harnblase seien [4]. Goltz entdeckte 1874 in Halle den lumbosakralen Reflex der Miktion [13]. Er beschrieb, dass die Miktion durch die Stimulation sakraler Dermatome oder durch erhöhten Druck auf die suprapubische Region ausgelöst werden kann.
Kopressow führte im Rahmen einer Doktorarbeit 1870 in St. Petersburg die Theorie ein, dass das Miktionszentrum zwischen L5 und L6 lokalisiert sei [16]. Bis zu diesem Zeitpunkt stammte das gesamte Wissen über die Blasenfunktion aus Tierexperimenten. Schatz (1841–1920) publizierte 1872 die Ergebnisse der ersten zystomanometrischen Blasendruckmessung beim Menschen. Nach seinen Erkenntnissen lag der Blasendruck während der Miktion im Bereich von 8 cm Wassersäule. Auf der Grundlage der Vorarbeiten von Schatz führte P. Dubois in Bern systematische Untersuchungen an Lebenden unter bestimmten Stressbedingungen und in unterschiedlicher Körperhaltung durch. Gleichzeitig nahm er auch Rektaldruckmessungen vor. Er beschrieb bei bestimmten Kranken unwillkürliche Detrusorkontraktionen mit Harnverlust, die er bei sich selbst nicht nachweisen konnte [8]. Der Durchbruch in der Untersuchung der Blasenfunktion ergab sich nach der Publikation von Mosso und Pellacani von 1881 [19]. Die Autoren beschrieben erstmals ein Zystometer, mit dem es gelang, intravesikale Druckschwankungen auf einem Rauchglaszylinderplethysmographen aufzuzeichnen. Sie entdeckten, dass der Blasenmuskeltonus sich an steigende Urinvolumina anpassen konnte, ohne dass der intravesikale Druck anstieg. Daneben gelang die Unterscheidung zwischen dem Anstieg des Bauchmuskeldruckes und des intravesikalen Druckes. Sie stellten außerdem fest, dass eine Blasenkontraktion nicht automatisch eine Relaxation des Sphinkterapparates nach sich zog. Fritz Born [16] führte die genannte Untersuchungstechnik in der Schweiz für Patienten mit Prostataadenom und Harnröhrenstriktur als klinische Untersuchungsmethode ein. Der große Förderer der klinischen Anwendung der Zystomanometrie war allerdings Felix Guyon in Paris. Dank seines Einflusses wurden zwischen 1882 und 1892 mehr als zehn Doktorarbeiten über die Physiologie der Harnblase in Paris publiziert. 1882 war Desnos [16] der Erste, der Quecksilber statt Wasser in seinem Manometer benutzte. Gustav Trouve [16] beschrieb 1893 die Benutzung eines Instrumentes, welches er »Contractometre vesical« nannte. Hier wurde ein Katheter mit einer Elektrode mit der Blasenwand in Kontakt gebracht. Daran wurde eine kalibrierte Säule angeschlossen, die den Untersucher in die Lage versetzte, die Stärke einer Blasenkontraktion abzulesen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Zystometrie nur noch selten genutzt. Eine größere Arbeit stammt von Frankl-Hochwart und Zuckerkandl (1899) über die nervösen Erkrankungen der Blase. Sie stützten sich auch auf zystometrische Untersuchungen (⊡ Abb. 1.1). Erst nach dem 1. Weltkrieg kam es erneut zu einer Reihe von Untersuchungen, nachdem tausende junger Soldaten an Querschnittlähmung mit nachfolgenden Miktionsproblemen litten.
5 Kapitel 1 · Geschichte der Urodynamik
⊡ Abb. 1.1. Versuchsanordnung zur Messung des Intravesikaldruckes mittels eines Wassermanometers. (Nach Frankl-Hochwart u. Zuckerkandl 1899)
1927 entwickelte Rose in St. Louis ein Quecksilbermanometer, mit dem eine kontinuierliche Messung des Blasendruckes während einer kontinuierlichen Blasenfüllung mit Wasser möglich war. Mit diesem Instrument war Rose in der Lage, Messkurven aufzuzeichnen, die denen der heutigen elektronischen Zystomanometrie sehr ähnlich waren. Um 1940 entwickelte Lewis [18] ein Zystometer, das wahrscheinlich das populärste und am meisten benutzte Zystometer der ganzen Welt war. Dieses Modell hatte den Vorteil ersetzbarer und sterilisierbarer peripherer Teile und war daneben preiswert und sehr kompakt. Später entwickelte sich dann das Luftzystometer, das die Möglichkeit eröffnete, die Blase in wenigen Minuten mit Luft zu füllen. Es war auch bei Kindern einsetzbar. Diese Gaszystometrie wurde primär von Gleason und Kollegen gefördert und bis 1977 regelmäßig eingesetzt [11]. Nach einer Reihe von Luftembolisationen wurde anstatt Luft CO2-Gas eingesetzt. Im Rahmen dieser CO2-Gaszystometrie wurden empfindlichere und kompaktere elektronische Geräte entwickelt. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurden zystometrische Untersuchungen vorgenommen, die den Einfluss von Pharmaka auf die Blasenfunktion untersuchten [21]. Das klinische Interesse an derartigen Studien erwachte aber erst in den 50er-Jahren (⊡ Abb. 1.2, ⊡ Abb. 1.3, ⊡ Abb. 1.4 [2]). In den 60er-Jahren erfolgte die Entwicklung verschiedener englumiger und mehrlumiger Messkatheter, so dass verschiedene Parameter gleichzeitig
⊡ Abb. 1.2. Einfaches Zystometer. (Nach Bauer 1951)
1
6
Teil I · Grundlagen
1
⊡ Abb. 1.3. Schema der Apparatur zur Zystometrie von Povlsen (1951) unter Verwendung eines Quecksilbermanometers und eines einfachen Aufzeichnungsgerätes
⊡ Abb. 1.5. Uroflowmeter nach dem Waageprinzip mit angeschlossenem Kympgraphen. (Drake [7])
⊡ Abb. 1.4. Zystometrogramm einer Normalblase vor (gestrichelte Linie) und nach (durchgezogene Linie) Strychnin (Invocan 2 ml täglich, 1 Amp. s.c.)
registriert werden konnten. Kurze Zeit später wurden dann die aus der kardiovaskulären Chirurgie bekannten Mikrotransducer für die Zystomanometrie adaptiert.
1.2
Uroflowmetrie
Die ersten Anstrengungen zur Messung der Harnstrahlgeschwindigkeit und -kraft stammen vermutlich aus dem Altertum: Hier existieren Darstellungen zweier kleiner Jungen, die Kraft und Weite ihres Harnstrahles vergleichen. Im Mittelalter beschrieb der Theologe Albertus Magnus eine Untersuchung zur Prüfung der Jungfernschaft. Hierbei wurde postuliert, dass Jungfrauen einen höheren Harnstrahl als verheiratete Frauen produzieren könnten. 1988 wurde festgestellt, dass der von Albertus Magnus beschriebene Test bei den Ureinwohnern der Humahuaca-Region im Norden Argentiniens immer noch angewendet wird.
Im Jahr 1902 wurde das erste primitive Uroflowmeter von Havelock Ellis beschrieben [16], einem Pionier der Urophysiologie. Die erste wissenschaftliche Urinflowmessung ist aber wahrscheinlich von Rehfisch 1897 durchgeführt worden [20]. Dabei interessierte ihn nur der Miktionsbeginn, nicht aber der mittlere oder maximale Uroflowwert. Andere, exakte Messungen des Harnflusses wurden durchgeführt von Schwartz und Brenner [22]. Die erste direkte Flowuntersuchung wurde von Drake 1948 durchgeführt (⊡ Abb. 1.5). Er sammelte und wog den entleerten Urin in einem Messgefäß [7]. Drake ist um diese Zeit auch die Kreation des Begriffes Uroflowmeter zuzuschreiben. J.J. Kaufmann verbesserte dieses Instrument im Jahre 1957 und zeigte, dass die mittlere Miktionsgeschwindigkeit etwa bei 20 ml/s lag. Eine weitere Modifikation wurde von B. von Garrelts 1956 beschrieben [10]. Er führte einen Gewichtsumformer zur Aufzeichnung der entleerten Miktionsmenge in die Untersuchung ein. Auch das Luftverdrängungsprinzip wurde wieder eingesetzt (⊡ Abb. 1.6 [1]). Weitere Modifikationen dieses Prinzips wurden bei Whitacker und Johnson 1966 [25] und bei Glaeson, Bottacini und Bryne beim ersten internationalen Symposium für Urodynamik in Aachen 1971 beschrieben [12].
7 Kapitel 1 · Geschichte der Urodynamik
⊡ Abb. 1.6. Uroflowmeter nach dem Luftverdrängungsprinzip. (Nach Bressel et al. 1968)
1.3
Urodynamische Kombinationsuntersuchung
Die erste vollständig dokumentierte urodynamische Untersuchung der Beziehung von Blasendruck und Urinfluss war von Rehfisch 1897 publiziert worden (⊡ Abb. 1.1, [20]). Er entwickelte eine Methode, den Blasendruck und den Harnfluss simultan zu registrieren. Wie schon oben bemerkt, nutzte er seine Versuchsanordnung aber noch nicht im heutigen Sinne aus. Die Arbeit wurde in Virchows Archiv für Pathologie, Anatomie und Physiologie unter dem Titel »Über den Mechanismus des Harnblasenverschlusses und der Harnentleerung« publiziert (⊡ Abb. 1.7). Die modernen Konzepte der Urodynamik entwickelten sich in den frühen 50er-Jahren. In dieser Zeit begann Frank Hinmann, die Form, Größe und Position der Harnblase während der Füllung und Enteerung als eine Funktion der Zeit aufzuzeichnen. Dabei benutzte er einen schnellen automatischen Röntgenkassettenwechsler. Später wurde diese Untersuchung mittels Röntgenfilm durchgeführt. Weitere Verbesserungen dieser Technik erfolgten durch die Bildverstärkertechnik sowie die Videotransmission der Bilder und die Einführung des Videobandes (⊡ Abb. 1.8). In den frühen 60er-Jahren konnte G. Enhorning [8a] in Schweden als Erster simultane Druckkurven für die Füllungs- und Entleerungsphase gleichzeitig in der Blase, in der Harnröhre und im Rektum durchführen. Der sich aus dieser Arbeit entwickelnde Kontakt und die spätere Zusammenarbeit zwischen Enhorning und Hinman an der Universität von Kalifornien führte zur Entwicklung der heutigen urodynamischen Untersuchung, wobei zunächst von Hydrodynamik des Harntraktes, später dann von Urodynamik gesprochen wurde. Die Elektromyographie wurde ebenfalls als Untersuchungstechnik in die urodynamische Untersuchung eingeführt. Bradley und andere versuchten auf diese Weise, die Sphinkterfunktion
⊡ Abb. 1.7. Versuchsanordnung von Rehfisch (1897). Zweikanalmessung unter Verwendung eines Blutdruckmanometers, eines Harnflussregistriergerätes (Luftverdrängungsprinzip) und eines GAD-Volumenschreibers (Aeroplethysmograph)
und mögliche Dysfunktionen bei der Blasenfüllung und -entleerung genauer zu beurteilen [3]. Das Jahr 1968 ist ein wichtiges Datum in der Geschichte der Urodynamik, denn in diesem Jahr fand der 1. Internationale Workshop über die Hydrodynamik der Miktion statt. Im gleichen
1
8
Teil I · Grundlagen
1
⊡ Abb. 1.8. Schema einer Mehrkanalmessung
Jahr tagte die Nephrourologische Arbeitsgemeinschaft in Homburg an der Saar und diskutierte aktuelle Probleme der neurogenen Blasenstörungen mit internationalen Experten [1]. Im Juli 1971 wurde dann das 1. Internationale Symposium für Urodynamik unter der Leitung von W. Lutzeyer und W. Gregoir in Aachen durchgeführt. Eine weitere Entwicklung in der Urodynamik umfasst die Langzeiturodynamik und die Telemetrie. Die ersten Experimente in dieser Richtung wurden 1962 von Gleason durchgeführt. Er platzierte einen Messkatheter für die Aussendung von Radiosignalen mit einem Mikrotransducer in der Blase, aber die Ergebnisse konnten nicht recht interpretiert werden, da die intravesikal platzierte Aufzeichnungskapsel mit einem Durchmesser von 3×1 cm wie ein Blasenstein wirkte und starke Blasenkontraktionen auslöste. Ein Jahr später konnten Warrell, Watson und Shelley [24] die ersten interpretierbaren Ergebnisse telemetrischer urodynamischer Untersuchungen erzielen. Die aktuellste Entwicklung der urodynamischen Untersuchungstechnik ist die Aufzeichnung evozierter Potenziale. Somatosensorisch evozierte Potenziale wurden etwa um 1947 von Dawson in die Untersuchungstechnik eingeführt [5]. 1981 beschrieben Gersterberg und Mitarbeiter als Erste zerebral evozierte Potenziale, die durch
sensible Harnröhrennerven vermittelt wurden, und 1982 somatosensorisch evozierte Potenziale für den N. pudendus, die Harnröhre und die Blasenwand.
1.4
Harnröhrendruckprofil
Dennis-Brown und Robertson führten 1933 einen koaxialen Katheter in die Blase ein, wobei der innere Katheter in der Blase verblieb, während der äußere Katheter während der Messung zurückgezogen wurde und an verschiedenen Stellen den Druck in der Harnröhre maß [6]. Simons benutzte bereits 1936 ein Mikrozystometer, um diese Untersuchung durchzuführen [16]. Diese Methode blieb bis in die 50er-Jahre unverändert. Zu dieser Zeit konnte Karlson [15] Mikrotransducer und elektronisch empfindliche Sonden zur simultanen Messung von Blasen- und Harnröhrendruck in die Untersuchungstechnik einführen. Bei all diesen Untersuchungen, die der Messung des Sphinkterdruckes dienen sollten, wurden flüssigkeitsgefüllte Ballonsysteme in die Harnröhre eingeführt. Auf diesem Wege konnte Langworthy bereits 1940 nachweisen, dass die Harnröhre mehr als nur eine passive Rolle bei der Miktion spielen müsste [17]. Er führte das
9 Kapitel 1 · Geschichte der Urodynamik
Literatur
⊡ Abb. 1.9. Schema einer Harnröhrendruckprofilometrie. (Nach Brown und Wickham)
Konzept des urethralen Widerstandes in die theoretischen Überlegungen ein und versuchte diesen auch messbar zu machen. Er schloss aus seinen Untersuchungen, dass ein wesentlicher Teil des urethralen Widerstandes im mechanischen Druck der perinealen Muskulatur zu suchen sei. Enhorning [8a] war einer der Pioniere in der Erforschung der Belastungsinkontinenz von Frauen. Dieses Phänomen untersuchte er mit Hilfe eines Doppelballonkatheters. Die Ergebnisse dieser Studien wurden Anfang der 60er-Jahre publiziert. Brown und Wickham maßen 1969 den urethralen Druck, der notwendig ist, um einen konstanten Fluss durch die Urethra aufrecht zu erhalten, und nannten diese Untersuchung Perfusionsharnröhrendruckmessung (⊡ Abb. 1.9). Harrison und Constabel waren die Ersten, die 1970 einen mechanischen Rückzugsapparat für den Harnröhrendruckprofilkatheter benutzten. Gleason verband diese Untersuchungseinheit mit einer Pumpe, die einen konstanten Fluss über die gesamte Länge der Harnröhre bei der Perfusionsprofilometrie sicherstellte. Im Jahr 1977 wurde der Begriff urethraler Verschlussdruck von der Internationalen Gesellschaft für Kontinenz offiziell als urodynamischer Fachbegriff anerkannt. Die weitere Entwicklung der urodynamischen Untersuchungstechnik in den letzten 20 Jahren ist vor allem gekennzeichnet von einer Weiterentwicklung der technischen Ausrüstung und der Aufzeichnungsgeräte, die mit Beginn des Computerzeitalters sämtlich digitalisiert wurden. Ob sich dadurch die Untersuchungsqualität wesentlich verbessert hat, ist bis heute nicht entschieden. Die primäre Datenerfassung durch externe Transducer oder Mikrotipkatheter ist jedenfalls seit Ende der 60er-Jahre bis heute unverändert geblieben.
1. Allert ML, Bressel M, Sökeland J (1969) Neurogene Blasenstörungen – Aktuelle Probleme. Thieme, Stuttgart 2. Bauer K (1952) Zur pharmakologischen Beeinflußung des Blasentonus. Urol (Sonderheft) 2: 245-249 3. Bradley WE, Scott FB, Timm GW (1974) Sphincter electromyography, Urol Clin North Am 1: 68 4. Budje J (1864) Über den Einfluß des Nervensystems auf die Bewegung der Blase. Z Rat Med 21: 1-174 5. Dawson GD (1947) Cerebral responses to electrical stimulation of the peripheral nerve in man. J Neurol Neurosurg Psychiatry 10: 134 6. Dennis-Brown D, Robertson EG (1933) On the physiology of micturiti-on. Brain 56: 149 7. Drake WM (1948) Uroflowmeter: Aid to the study of the lower urinary tract. J Urol 59: 650 8. Dubois P (1876) Über den Druck in der Harnblase. Dtsch Arch Klin Med 17 148-163 8a. Enhorning G (1961) Simultaneous recording of intravesical and intraurethral pressure. Acta Chir Scan [Suppl] 276: 9 9. Galen C (1968) On the usefulness of the parts of the body. (translated by MT May.) Cornell Univ Press, Ithaka 10. Garrelts B von (1956) Analysis of micturition. Acta Chir Scan 112: 326 11. Gleason DM, Bottacini M, Byrne J (1971) Measurement of urethral resis- tance. 1. International Symposium on Urodynamics, Aachen, abstracts, pp 51-52 12. Gleason DM, Bottacini MR, Reilly RJ (1977) Comparison of cystometro-grams and urethral profiles with gas and water media. Urology 9: 155 13. Goltz F (1874) Über die Funktion des Lendenmarkes des Hundes. Pflügers Arch Gesamte Physiol Menschen Tiere 8: 460 14. Haller A von (1778) Elementa physiologiae, vol VII, Lausanne 15. Karlson S (1953) Experimental studies on functioning of the female urinary bladder and urethra. Acta Obstet Gynecol Scand 32: 285 16. Küss R, Gregoir W (1988) Histoire illustrée de l’Urologie. Roger Dacosta, Paris 17. Langworthy OR, Drew JE, Vesa SA (1940) Urethral resistance in relation to vesical activity. J Urol 43: 123 18. Lewis LG (1943) Treatment of the neurogenic bladder after acute spi-nal injury. Surg Clin North Am 23: 1505 19. Mosso A, Pellacini P (1881) Sulle funzioni della vesica. Arch Ital Biol 12: 3-45 20. Rehfisch E (1897) Über den Mechanismus des Harnblasenverschlusses und der Harnentleerung. Virchows Arch 150: 111 21. Schwarz O (1918) Zur Pharmakotherapie der Miktionsstörungen. Arch Klin Chir 110: 286 22. Schwarz O, Brenner A (1921) Untersuchungen über die Physiologie und Pathologie der Blasenfunktion. Z Urol Chir 8: 32 23. Valentin G (1847) Lehrbuch der Physiologie, vol 10. Braunschweig, S 462 24. Warrell DW, Watson BW, Shelley T (1963) Intravesical pressure measure-ment in women during movement during a radio pill and air probe. J Obstet Gynecol Br Commw 70: 959 25. Whitaker J, Johnson GS (1966) Estimation of urinary outflow resistance in children: Simultaneous measurement of bladder pressure, flow rate and exit pressure. Investig Urol 3: 379
1
2
Anatomie, Physiologie und Innervation des Harntraktes P.M. Braun, K.-P. Jünemann
2.1
Anatomie des unteren Harntraktes – 12
2.2
Neuroanatomie (Steuerung und Innervation) – 12
2.2.1 2.2.2
Zentrale Steuerung – 12 Periphere Innervation – 14
2.3
Neurophysiologie
2.3.1 2.3.2
Harnspeicherung – 14 Harnentleerung – 15
Literatur
– 16
– 14
12
Teil I · Grundlagen
2.1
2
Anatomie des unteren Harntraktes
Morphologisch aus unterschiedlichen Geweben aufgebaut, wirken Blase und Urethra als funktionelle Einheit zusammen und erfüllen die Aufgaben der Harnspeicherung und Harnentleerung. Die Harnblasenmuskulatur (Detrusor vesicae) setzt sich aus drei muskulären Schichten zusammen (einer inneren und äußeren Längsschicht sowie einer mittleren Zirkulärschicht), die bei Kontraktion eine konzentrische Verkleinerung des Blasenlumens bewirken. Im Bereich des Blasenhalses geht die Blasenmuskulatur in das dreieckförmig angelegte Trigonum vesicae über, das die laterokranial mündenden Harnleiter aufnimmt. Das ebenfalls aus glatten Muskelzellen aufgebaute Trigonum verjüngt sich zum Blasenhals hin und mündet in die proximale Harnröhre. An dieser Stelle geht der dreischichtige muskuläre Aufbau verloren und wird von einer – beim Mann zirkulär angeordneten, bei der Frau längs gerichteten – glattmuskulären Schicht der proximalen Harnröhre ersetzt, die als Blasenhals bezeichnet wird (⊡ Abb. 2.1). Im weiteren Verlauf der Urethra, weiter distal auf dem Niveau des Beckenbodens gelegen, findet sich der für die Kontinenz relevante Harnröhrensphinkter, der sich aus der intramuralen Harnröhrenmuskulatur, der quergestreiften Beckenbodenmuskulatur (Mm. transversi perinei profundus und superficialis und M. levator ani und dem aus glatten und quergestreiften Muskelfasern aufgebauten, W-förmigen Sphincter urethrae zusammensetzt. Die Muskelfasertypen des Harnröhrenschließmuskels erfüllen unterschiedliche Aufgaben: Durch einen Dauertonus sog. Slow-twitch-Fasern wird die Kontinenz in Ruhe aufrechterhalten. Durch die additive schnelle
⊡ Abb. 2.1. Anatomie des männlichen und weiblichen unteren Harntrakts. Beim Mann wird der Blasenhals von zirkulär angeordneten Muskelfasern gebildet; bei der Frau ist diese Muskelschicht längs der Urethra angeordnet. 1 Detrusor 2 Trigonum 3 Blasenhals 4 Prostatakapsel 5 M. levator ani 6 M. transversus perinei 7 M. bulbocavernosus 8 glattmuskulärer Harnröhrenanteil [1]
Kontraktion sog. Fast-twitch-Fasern wird die Kontinenz unter Belastung (Stress durch Hustenstoß, Niesen usw.) gewährleistet. Neben der rein funktionellen Integrität der genannten Muskelgruppen ist die korrekte topographische Lage der Urethra im kleinen Becken wesentlich.
2.2
Neuroanatomie (Steuerung und Innervation)
2.2.1 Zentrale Steuerung
Die Steuerung von Harnspeicherung und Harnentleerung wird durch zwei übergeordnete Zentren kontrolliert: durch das in der Großhirnrinde (Lobus frontalis und Corpus callosum) gelegene motorische zerebrokortikale Zentrum, das für die willkürliche Detrusorsteuerung verantwortlich ist und in direkter Verbindung mit dem Thalamus steht (⊡ Abb. 2.2); Vom pontinen Miktionszentrum zieht das motorische Neuron entlang der Seitenstränge des Rückenmarks, und zwar im Tractus reticulospinalis, zu dem sakralen Miktionszentrum (S2–S4). Dort wird der zerebral kontrollierte Befehl einer koordinierten Blasenkontraktion und Sphinkterrelaxation umgesetzt und über viszero- und somatomotorische Nervenfasern weitergeleitet. Über die afferenten Leitungsbahnen der Hinterstränge des Rückenmarks sowie über die nicht umgeschalteten Bahnen des Tractus spinothalamicus gelangen sowohl die exterozeptiven (Schmerz, Temperatur, Berührung) als auch die propriozeptiven (Dehnungs-, Kontraktionszu-
13 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Innervation des Harntraktes
stand) Reize der intramuskulären und mukösen Rezeptoren der Blasenwand zum Thalamus und informieren über Blasenfüllungsgefühl und Harndrang (⊡ Abb. 2.3). Darüber hinaus stehen einzelne sensorische Bahnen in direktem Kontakt mit dem Kleinhirn und den Basalganglien. Der mit der motorischen Großhirnrinde in direktem axonalen Kontakt stehende Thalamus initiiert den Detrusorreflex, der im pontinen Miktionszentrum weiter
a
c
moduliert wird, bevor die Impulse an das sakrale Miktionszentrum weitergeleitet werden. Der Kortex ist für die hemmenden Einflüsse verantwortlich. Informationen über die quergestreifte Beckenbodenmuskulatur und den Harnröhrensphinkter steigen in den Hintersträngen des Rückenmarks zum Hirnstamm und Kleinhirn auf bzw. werden bereits auf sakraler Ebene umgeschaltet. Der Hirnstamm leitet diese Informationen
⊡ Abb. 2.2. a Sympathische und parasympathische Innervation von Detrusor und Blasenhals. b Sympathische und somatische Innervation von Blasenhals und Sphinkter. c Dem übergeordnet ist das pontine Miktionszentrum. 1 glattmuskuläre Blasenwand 2 glattmuskulärer Blasenhals 3 glattmuskulärer Harnröhrensphinkteranteil 4 M. Levator ani (quergestreift) 5 M. transversus perineus (quergestreift) 6 M. bulbocavernosus (quergestreift)
b
Urothelium PGs+
ATP+
ACh+
NO -
Basal membrane
IC
VIP-
Lamina propria
PACAP -
Muscularis mucosae IC Detrusor A delta fiber
IC = interstitial cells
C -fiber C -fiber K-E Andersson, 2005
⊡ Abb. 2.3. Rezeptortypen und Transmitter am unteren Harntrakt
2
14
2
Teil I · Grundlagen
über Axone an den Thalamus weiter, der mit der Area pudendalis kommuniziert, von wo aus efferente, motorische Nervenfasern durch die innere Kapsel, die Hirnstammregion und über die Seitenstränge des Rückenmarks zu den Vorderhörnern des Sakralmarkes (S2–S4) gelangen. Eine suprasakrale Unterbrechung der übergeordneten pontinen Signale führt zum Fehlverhalten im sakralen Miktionszentrum; Harnspeicherung und Harnentleerung sind nicht mehr koordiniert regulierbar. Dieses streng hierarchische Kontroll- und Steuerungssystem von Speicherung und Entleerung erklärt auch, dass ein Kleinkind, bei dem die zentralen Nervenbahnen erst ausreifen müssen und das durch die Erziehung erst konditioniert wird, unkontrolliert einnässt. Es erklärt ebenfalls, weshalb ein querschnittgelähmter Patient durch Rückenmarksverletzung oberhalb des sakralen Miktionszentrums (suprasakrale Läsion) aufgrund der fehlenden willkürlichen Steuerung inkontinent wird.
2.2.2 Periphere Innervation
Die periphere Innervation des unteren Harntrakts läuft sowohl über viszerale als auch über somatische Nervenfasern. Dabei führt das dem sakralen Miktionszentrum entspringende pelvine Nervengeflecht (Plexus pelvicus) parasympathische Fasern, während die sympathische Innervation über die Nn. hypogastrici erfolgt, die dem thorakalen Grenzstrang aus Th10–L2 entstammen. Die somatischen Leitungsbahnen verlaufen sowohl über den N. pudendus aus den Segmenten S2-S4 als auch separaten somatomotorischen Fasern aus S2 und S3 über den pelvinen Nervenplexus zum Zielorgan (⊡ Abb. 2.2).
Parasympathisch Die präganglionären parasympathischen Nervenfasern entspringen dem sakralen Miktionszentrum und werden im Plexus pelvicus bzw. erst in der Blasenwand auf postganglionäre cholinerge Neurone umgeschaltet (⊡ Abb. 2.2a). Detrusorkontraktion und Detrusortonus sind parasympathisch kontrollierte Funktionszustände.
Sympathisch Die vom thorakalen Grenzstrang entspringenden sympathischen Nervenfasern gelangen über den N. hypogastricus an ihre beiden Angriffspunkte des unteren Harntrakts: die Blasenwand, die Blasenhalsregion und die proximale Harnröhre. Über betaadrenerge Rezeptoren in der Blasenwand wird eine Hemmung der Detrusoraktivität erreicht, selektive alphaadrenerge Rezeptoren stimulieren den Blasenhals, wodurch bei zunehmender Blasenfüllung einerseits eine Ruhigstellung des Detrusors, andererseits eine zuneh-
mende Tonisierung des Blasenhalses und der proximalen Urethra als Teil des Kontinenzmechanismus erreicht wird. Die sog. non-adrenergen non-cholinergen Neurotransmitter (NANC) wie beispielsweise VIP (vasoaktives intestinales Polypeptid), NPY (Neuropeptid Y) oder Substanz P als Überträgerstoffe sind für die Beeinflussung von Blasenkontraktion und -relaxation von Bedeutung. Analog zu anderen glattmuskulären Organen (z. B. Corpora cavernosa des Penis) wird Stickoxid (NO; bzw. NOSNO-Synthese), als relaxierendes Agens an der Muskelzelle des Detrusors, eine Schlüsselfunktion an der Harnblase zugesprochen.
Somatisch Beckenbodenmuskulatur und Harnröhrensphinkter werden ebenfalls aus den Sakralsegmenten S2–S4 innerviert. Neben separaten somatomotorischen Fasern aus S2 und S3, die zum M. levator ani ziehen, wird die übrige Beckenbodenmuskulatur einschließlich des M. transversus perineus über den N. pudendus innerviert (Abb. 2.2).
2.3
Neurophysiologie
Komplexität und neurale Eigenständigkeit des unteren Harntrakts bieten ein weites Spektrum vielfältiger Fehlfunktionen und Schädigungsmöglichkeiten dieses neuromuskulären Systems, die zu unterschiedlichsten Formen von Blasenspeicher- und Entleerungsstörungen führen können.
2.3.1 Harnspeicherung
Mit zunehmender Blasenfüllung tritt eine Dehnung der Blasenwandmuskulatur (Detrusor vesicae) ein, die den volumenbedingten Druckanstieg kompensiert und den intravesikalen Druck bis zum Erreichen der maximalen Blasenfüllungskapazität geringfügig bis maximal 15 cm H2O ansteigen lässt. Die Dehnbarkeit der Harnblase ist direkt abhängig von der Wandspannung des Detrusors (intravesikaler Druck) in Abhängigkeit vom Füllungsvolumen und wird als errechneter Detrusorkoeffizient (Compliance; C=n V/n p) angegeben. Dieser Vorgang vollzieht sich nahezu wahrnehmungsfrei, da die durch die vermehrte Dehnung aktivierten afferenten Signale bereits intraspinal oder zerebral unterdrückt werden. Ab einem Füllungsvolumen von etwa 150–250 ml wird ein erstes Harndranggefühl registriert, das mit Erreichen der Blasenkapazität zwischen 350 und 450 ml als starker Harndrang wahrgenommen wird. Über das zentral gelegene pontine Miktionszentrum kann durch willkürliche Hemmung des Miktionsreflexes die Detrusor-
15 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Innervation des Harntraktes
⊡ Abb. 2.4. Normale Speicher- und Entleerungsphase. Pves = intravesikaler Durck, Pura = intraurethraler Druck, EMG = Beckenboden, S = Sensibilität, 1. HD = 1. Harndrang, 1. MV = 1. Miktionsversuch, 2. MV = 2. Miktionsversuch, Stopp = willkürliche Miktionsunterbrechung – Halteversuch (Aus Jünemann [1])
⊡ Tab. 2.1. Normalbefunde der Speicherphase (Anhaltswerte Erwachsener) Compliance (C)
(>25 ml/cm H2O)
Erster Harndrang (1. HD)
=150-250 ml
Zystometrische Blasenkapazität
=350-550 ml
Funktionelle Blasenkapazität
Zystometrische Blasenkapazität minus Restharn
Detrusoraktivität
Keine oder geringgradiger Druckanstieg
Beckenboden-EMG
Aktivität mit zunehmender Blasenfüllung ansteigend
Harnröhrenverschlussdruck (pura)
Intravesikaler Druck (pves)
kontraktion so lang unterdrückt werden, bis die äußeren Umstände eine Blasenentleerung zulassen (⊡ Tab. 2.1). Während der gesamten Speicherphase bleibt der Blasenhals verschlossen, die Muskelaktivität des Sphinkters nimmt kontinuierlich zu (⊡ Abb. 2.4). Sowohl willkürliche als auch unwillkürliche intraabdominelle oder intravesikale Druckerhöhungen werden reflektorisch mit einer Aktivitätszunahme der Sphinktermuskulatur beantwortet und über den konsekutiven intraurethralen Druckanstieg kompensiert. Der Harnröhrenverschlussdruck liegt bei intaktem System stets über dem intravesikalen Druck und gewährleistet die Kontinenz unter Ruhe- sowie unter Belastungsbedingungen (beispielsweise beim Husten, Niesen).
2.3.2 Harnentleerung
Im Gegensatz zur Blasenfüllung (Harnspeicherung) ist die Harnentleerung (Miktion) ein aktiver, willkürlich eingeleiteter Vorgang. Die zerebralen, inhibitorischen Impulse auf das pontine Miktionszentrum werden reduziert, wodurch der Miktionsreflex ausgelöst wird. Eingeleitet wird die Miktion durch die Relaxation der quergestreiften Harnröhren- und Beckenbodenmuskulatur, die zu einer mit trichterförmiger Öffnung des Blasenhalses und einem konsekutiven Abfall des Harnröhrenverschlussdrucks führt. Die simultane Detrusorkontraktion bewirkt einen intravesikalen Druckanstieg, der den Strömungswiderstand in der Harnröhre (Blasenauslasswiderstand) übersteigt und eine ungestörte Entleerung der Harnblase ermöglicht. Der reine Detrusorkontraktionsdruck (Miktionsdruck – Rektaldruck) liegt bei ungestörten Abflussverhältnissen bei ca. 40 cm H2O (weiblich) und bei ca. 50 cm H2O (männlich; ⊡ Tab. 2.2). Am Ende der Miktion kontrahieren Harnröhrensphinkter- und Beckenbodenmuskulatur, die Detrusorkontraktion endet und der Blasenauslass wird in seinen Ausgangszustand angehoben und verschlossen. Das ungestörte synerge Zusammenspiel aus urethraler Relaxation und Detrusorkontraktion resultiert in einer restharnfreien Blasenentleerung. Die willkürliche Unterbrechung der Miktion durch Kontraktion der quergestreiften Sphinktermuskulatur bedingt messtechnisch eine initiale intravesikale Druckerhöhung mit nachfolgendem Druck-
2
16
Teil I · Grundlagen
⊡ Tab. 2.2. Normalbefunde der Entleerungsphase (Anhaltswerte Erwachsener)
2
Detrusorkontraktionsdruck (pdet)
Mann: 50 cm H2O Frau: 40 cm H2O
maximaler Harnfluss (Qmax) (Miktionsvolumen: 150 ml)
Mann: 20–30 ml/s Frau: 20–35 ml/s
Beckenboden-EMG
Aktivität abfallend
abfall aufgrund der reflektorischen Aufhebung der Detrusorkontraktion. Im Säuglingsalter ist die zentrale Kontrolle des Miktionsreflexes noch nicht ausgereift, die Miktion erfolgt ausschließlich über eine unwillkürliche Reflexentleerung. Das Kind erlernt in der Regel bis zum Schulkindalter (6 Jahre) eine willkürlich kontrollierte und koordinierte Miktion.
Literatur 1.
Jünemann KP (1992) In: Alken P, Walz PH (Hrsg) Urologie. VCH, Weinheim
3
Pharmakologie des Harntraktes C. Hampel, J.W. Thüroff
3.1
Einleitung
– 18
3.2
Cholinerge Rezeptoren
– 19
3.3
Adrenerge Rezeptoren
– 20
3.4
Dopaminerge Rezeptoren
3.5
Serotoninerge (5HT) Rezeptoren
3.6
Purinerge Rezeptoren (P2X, P2Y) – 24
3.7
GABAerge Rezeptoren
3.8
Pharmakologie der Glutaminsäure – 24
3.9
Pharmakologie von Glycin – 26
– 23 – 23
– 24
3.10 Peptiderge Rezeptoren (Opioide, VIP, Substanz P) – 26 3.11 Pharmakologie von Stickstoffmonoxid (NO) – 26 3.12 Pharmakologie der Prostaglandine – 26 3.13 Ionenkanäle (Ca, K) – 26 3.14 Toxine als Therapieoptionen (Capsaicin, RTX, Clostridium botulinum Toxin Typ A) – 27 3.15 Muskelrelaxanzien (Vinpocetin, Dicyclomin)
– 28
3.16 Östrogene – 29 3.17 Pharmakologie des antidiuretischen Hormons (ADH) – 29 3.18 Zusammenfassung Literatur
– 32
– 30
18
Teil I · Grundlagen
3.1
3
Einleitung
Die Darstellung der Pharmakologie des Harntraktes im Rahmen einer Abhandlung über Urodynamik hat mehrere Gründe. So gelingt die Interpretation urodynamischer Kurven nur mit dem Wissen um physiologische Funktionsabläufe und mögliche Krankheitsursachen. Diese sind nur z. T. anatomisch, häufig aber auch neurologisch, zellularmetabolisch oder rezeptorvermittelt bedingt. Darüber hinaus hat die Pharmakologie bei urodynamischen Spezialuntersuchungen wie z. B. dem Carbachol-Test bereits Einzug in die Funktionsdiagnostik gehalten. Schließlich ist die Behandlung der drangassoziierten Blasenfunktionsstörung bis heute eine pharmakologische Domäne geblieben und ein Blick auf zukünftige pharmakologische Entwicklungen eröffnet auch für die Belastungsinkontinenz hoffnungsvolle Perspektiven. Prinzipielle Angriffspunkte einer spezifischen Pharmakotherapie sind die Rezeptoren humoraler (in erster Linie Sexualhormone, aber auch ADH) sowie zentralund periphernervöser Regelkreise der Blasenfunktion. Dabei muss nicht nur zwischen sympathischen, parasympathischen und somatischen Afferenzen bzw. Efferenzen unterschieden werden. Den unterschiedlichen Nerventypen werden überdies noch unterschiedliche Neurotransmitter (Noradrenalin, Azetylcholin, GABA, Serotonin, Dopamin, ATP, Substanz P, NO etc.) mit nochmals subtypisierten bzw. subspezialisierten Rezeptoren zugeordnet (⊡ Tab. 3.1). Beinahe jeder bekannte Rezeptor war oder ist auf der Suche nach pharmakologisch verwertbaren Agonisten und Antagonisten Gegenstand intensiver Forschung. Als Ergebnis gehören z. B. Anticholinergika und Alphaadrenozeptorantagonisten heute zum festen pharmakologischen Repertoire des Urologen. Weitere pharmakologische Ansätze der Blasenfunktionsbeeinflussung sind Ionenkanäle (K+, Ca2+) und Stoffwechselkaskaden (z. B. Neurotransmitter- und Second-messenger-Metabolismus). Substanzen, die mit dieser Zielsetzung entwickelt wurden, wirken in der Regel über die Modifikation der Verfügbarkeit verschiedener physiologischer Mediatoren. Beispiele für nichtrezeptorvermittelt wirkende Pharmaka sind indirekte Para-
sympathomimetika, trizyklische Antidepressiva, Alphareduktaseinhibitoren, Phosphodiesteraseinhibitoren und Kalziumkanalblocker. Die Auswirkungen der einzelnen Nervensysteme und Hormonregulationen auf die Blasenfunktion ergeben sich aus den physiologischen Anforderungen an eine geordnete Speicher- und Entleerungsphase. In der Speicherphase bleibt der M. detrusor vesicae möglichst lange relaxiert und der Blasenhals und der Sphinkter geschlossen, was bei einer normalen Blasencompliance den intravesikalen Druck über eine weite Volumenspanne (funktionelle Kapazität) niedrig hält. Erst in der Entleerungsphase kontrahiert der Detrusor vesicae bei gleichzeitiger Relaxation von glattmuskulärem Blasenhals und quergesteiftem Sphinkter. In der Folge übersteigt der Intravesikaldruck den Auslasswiderstand und der Harnfluss setzt bis zur physiologischerweise restharnfreien Blasenentleerung ein. Der parasympathische Plexus pelvicus beeinflusst die Blasenfunktion über exzitatorische (purinerge und cholinerge) Impulse auf den Detrusor vesicae und inhibitorische (stickoxidvermittelte) Impulse auf die Harnröhre. Vom sympathischen N. hypogastricus sind adrenerge Stimuli des Blasenhalses und der Urethra sowie hemmende Einflüsse auf die parasympathischen Ganglien und den M. detrusor vesicae selbst bekannt. Zielorgan des somatischen N. pudendus ist der quergestreifte Harnröhrensphinkter. Sensible Afferenzen von der Blase zum ZNS sind entscheidend für die Einleitung des Miktionsreflexes und werden über myelinisierte (schnelle) Ad- und nicht myelinisierte (langsame) C-Fasern des Plexus pelvicus zum Sakralmark geleitet. Afferente Nerven übermitteln Impulse von Druck-, Volumen- und Schmerzrezeptoren vom Urothel und der Musculatur. Insbesondere innerhalb des Urothels reagieren die Nervenendigungen auf urothelial freigesetzte Neurotransmitter wie Stickoxid (NO), ATP oder Prostaglandine. Während Ad-Fasern vornehmlich Impulse von Dehnungsrezeptoren weiterleiten und damit für die Vermittlung eines Blasenfüllungsgefühls verantwortlich sind, scheinen C-Fasern – obwohl normalerweise mit Mechanorezeptoren verkoppelt – auch toxische Reize weiterzuleiten und die Schmerzwahrnehmung zu vermitteln.
⊡ Tab. 3.1. Neurotransmitter und Rezeptoren der drei den Harntrakt innervierenden Nervensysteme Nervensystem
Spinalsegmente
Neurotransmitter
Rezeptoren
Sympathisch (N. hypogastricus)
L1-L3
Acetylcholin (präganglionär) Noradrenalin (postganglionär)
Nikotinische Rezeptoren, α1a, α1b, α1d, β2, β3
Parasympathisch (N. pelvicus)
S2-S4
Acetylcholin ATP
Muskarinische Rezeptoren (M2, M3), P2X, P2Y
Somatisch (N. pudendus)
S2-S4
Acetylcholin
Nikotinische Rezeptoren
19 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
Zwar ist die Basis der Blasenspeicher- und -entleerungsfunktion der spinale Reflexbogen aus afferenten Blasenfüllungsreizen und efferenten vegetativen und somatischen Impulsen, jedoch unterliegt dieser Reflexbogen mannigfaltigen Modulationen durch übergeordnete Zentren des ZNS. Das im Hirnstamm lokalisierte pontine Miktionszentrum wirkt vorwiegend inhibitorisch auf den Miktionsreflex, wird aber seinerseits von höheren Zentren des Zwischenhirns und des Kortex beeinflusst. Erst das Zusammenspiel sämtlicher zentraler Steuerungsregionen ermöglicht die willkürliche Miktionskontrolle. Bei den zentralen Steuerungsprozessen der Blasenfunktion spielen eine Reihe von Neurotransmittern eine Rolle, die nach ihrem inhibitorischen oder exzitatorischen Hauptcharakter unterteilt werden können (⊡ Tab. 3.2).
⊡ Tab. 3.2. Inhibitorische und exzitatorische zentralnervöse Neurotransmitter Zentrale Neurotransmitter Inhibitorische
Exzitatorische
Noradrenalin
5-Hydroxytryptamin (Serotonin)
Glutaminsäure
Opioide
Substanz P
Gammaaminobuttersäure (GABA)
ATP
Glycin
Dopamin
Dopamin
Acetylcholin
3.2
Cholinerge Rezeptoren
Antagonisten muskarinischer Azetylcholinrezeptoren sind die am häufigsten verordneten Substanzen zur Behandlung des hyperaktiven Detrusor vesicae. Sie wirken über eine postsynaptische Rezeptorblockade. Muskarinische Rezeptoren gehören wie auch die Adrenozeptoren zur Gruppe der G-Protein-gekoppelten Zellmembranrezeptoren (⊡ Abb. 3.1). Bisher wurden fünf verschiedene Subtypen (M1–M5) identifiziert, deren mRNS-Transkripte von fünf verschiedenen Genen codiert sind. Alle fünf Isoformen sind nicht nur molekularbiologisch, sondern auch pharmakologisch distinkt. Während die Signalpropagation bei den Isoformen M1, M3, und M5 über die membranständige Phospholipase C zur Freisetzung der intrazellulären Second messenger Diacylglycerin und Inositoltriphosphat sowie zur Mobilisierung intrazellulären Kalziums führt, inhibiert die Aktivierung der Subtypen M2 und M4 die zytoplasmatische Adenylatcyclase mit konsekutiver Verknappung des cAMP-Angebotes. Über eine zusätzliche Hemmung ATP-abhängiger Kaliumkanäle durch Diacylglycerin-vermittelte Aktivierung der Proteinkinase C wird bei Muskarinrezeptoren ebenfalls spekuliert [1]. Auf menschlichen Detrusorzellen wurden Muskarinrezeptoren vom Typ M2 (80%) und M3 (20%) nachgewiesen, von denen aber nur die M3-Isoformen für die Kontraktion des M. detrusor vesicae unmittelbar verantwortlich sind. Die Aufgabe der M2-Subtypen könnte in einer Verstärkung der M3-induzierten Kontraktion des Detrusor vesicae über die Hemmung inhibitorischer beta-
Extrazellulär
Doppelmembran
G-Protein
Intrazellulär
⊡ Abb. 3.1. Schematische Darstellung der Sekundärstruktur eines G-Protein-gekoppelten Rezeptors mit sieben transmembranösen Domänen und je drei intra- und extrazellulären Schleifen. Der Neurotransmitter bindet zwischen dem N-terminalen extrazellulären Ende und der ersten extrazellulären Schleife (Baldwin [4]). Beim M3-Muskarinrezeptor (M3)
Glattmuskuläre Kontraktion
bewirkt die Acetylcholinbindung (ACh) eine G-Protein-vermittelte Aktivierung der Pospholipase C (PLC) mit konsekutiver Freisetzung der Second-messenger Diacylglycerin (DAG) und Inositoltriphosphat (IP3) und Mobilisierung intrazellulärer Kalziumdepots des sarkoplasmatischen Retikulums, was zur glattmuskulären Kontraktion führt (Harriss et al. [13])
3
20
3
Teil I · Grundlagen
adrenerger Impulse (Adenylatcyclaseinhibition), Kaliumkanalblockade (s. o.) oder Aktivierung unspezifischer Kationenkanäle bestehen [14]. Präsynaptische Muskarinrezeptoren auf den cholinergen terminalen Nervenenden stimulieren (M1) oder inhibieren (M2/M4) die Freisetzung von Acetylcholin. Wahrscheinlich erfolgt die Aktivierung der M2/M4-Rezeptoren im Sinne eines Autofeedbackmechanismus durch kurzanhaltende niederfrequente Nervenaktivität wie sie während der Speicherphase der Blase zu beobachten ist. Dadurch wird eine vorzeitige Blasenkontraktion verhindert. Hochfrequente langanhaltende Nervenaktivität wie bei der eingeleiteten Miktion führt vermutlich zur Aktivierung der präsynaptischen M1Rezeptoren, wodurch die Expulsivkraft der Kontraktion unterstützt wird [29]. Im ZNS modulieren muskarinische Acetylcholinrezeptoren die nikotinische Impulspropagation. Pharmakologisch werden muskarinische Rezeptoren direkt und indirekt, agonistisch und antagonistisch beeinflusst. Direkte Rezeptoragonisten (Carbachol, Bethanechol) kommen bei der Therapie der hypokontraktilen Blase zum Einsatz (Carbacholtest). Alternativ zu direkten Parasympathomimetika können auch indirekte Parasympathomimetika angewandt werden, welche über eine Hemmung der Cholinesterase zu einer perpetuiert hohen Acetylcholinkonzentration im synaptischen Spalt führen. Distigminbromid ist die im deutschen Sprachraum meistgenutzte Substanz dieser Klasse (⊡ Abb. 3.2). Klassische unspezifische direkte Rezeptorantagonisten wie Atropin werden zur Behandlung der hyperaktiven Blase wegen ihrer hohen Nebenwirkungsrate (vor allem Mundtrockenheit, Akkommodationsstörungen und Obstipation) nicht mehr eingesetzt, seit neue Substanzen, insbesondere in retardierter pharmakologischer Formulierung, bei äquivalenter Potenz mit einem deutlich günstigeren Nebenwirkungsprofil aufwarten. Tolterodin scheint in diesem Zusammenhang eine Blasenselektivität aufzuweisen. Die Affinität zu muskarinischen Blasenrezeptoren ist ähnlich wie bei Oxybutynin, jedoch zeigt Tolterodin im Vergleich zu Oxybutynin eine achtfach niedrigere Affinität zu M3-Rezeptoren der Meerschweinchenspeicheldrüse [15]. Obwohl Trospiumchlorid keine Rezeptorsubspezifität aufweist, kann es aufgrund seiner quarternären Aminstruktur die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren. Es zeigt sich außerdem bei äquipotenter Inhibition der Blasenhyperaktivität bezüglich zentralnervöser Nebenwirkungen (Konzentrationsschwäche, Müdigkeit, EEG-Veränderungen) den tertiären Aminen Oxybutynin und Tolterodin überlegen [9]. In jüngster Zeit sind in der Hoffnung auf eine weitere Minimierung der Nebenwirkungen M3-selektive Muskarinrezeptorantagonisten (z. B. Darifenacin, Solifenacin) entwickelt worden. (⊡ Abb. 3.3 [9]).
⊡ Abb. 3.2. Direkte Parasympathomimetika (die Muskarinrezeptoragonisten Carbachol und Betanechol) und indirekte Parasympathomimetika (Cholinesteraseinhibitor Distigmin)
Schließlich ist die Verabreichungsform anticholinerger Medikamente für die auftretenden Nebenwirkungen von Bedeutung. Die bei systemisch-oraler Darreichung auftretenden Nebenwirkungen können durch »slow-release«-Formulierungen reduziert werden und kommen bei lokal-intravesikaler Administration wegen der geringen urothelialen Resorptionsleistung trotz gleicher Effektivität bei der Hyperaktivitätstherapie praktisch nicht vor. Eine weitere Applikationsform ist die transdermale Anwendung der Substanzen. Die nicht unerhebliche Einschränkung der Patienten durch die regelmäßige Notwendigkeit der Blasenkatheterisierung und Medikamenteninstillation versucht man durch intravesikal platzierte Depots mit verzögerter kontinuierlicher Substanzfreisetzung zu umgehen [9].
3.3
Adrenerge Rezeptoren
Von den vielfältigen molekularbiologisch und pharmakologisch zu differenzierenden Adrenozeptorsubtypen findet man im menschlichen Harntrakt vorwiegend α1-, α2- und β3-Rezeptoren. β2- und β3-Adrenorezeptoren (AR) wirken relaxierend auf den Detrusor vesicae, während α1-AR am Blasenhals konstringierenden Einfluss ausüben. Aus diesem Grund kommt unter physiologischen Bedingungen der sympathischen Blaseninnervation eine miktionsinhibitorische und speicherungsfördernde Funktion zu. Sympatholytika wirken mithin miktionsunterstützend, während Sympathomimetika eine Verbesserung der Speicherfähigkeit bewirken. Während in den letzten Jahren vor allem verschiedene α1-Adrenozeptorantagonisten bei der Behandlung obstruktiver Miktionsbeschwerden Verwendung finden, hat Midodrin als einziges α1-Sympathomimetikum eine gewisse klinische Bedeutung in der Behandlung der Belastungsinkontinenz erlangt.
21 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
RezeptorAffinität
Nebenwirkungen
M 2 =M3
++++
CH2 CH3
M 2 <M3
+++
COOH CH OH HO CH COOH
M 2 =M3
++
M 2 =M 3
++
O N CH3
CH C O
Atropin
HO CH2
O
CH2 O CH2
C C
Oxybutynin
OH
OH H3C H H3C
CH3 CH3
N
CH3
Tolterodine
+
Cl
-
+ N
Trospiumchlorid
CH3
C C CH2 N
HO O O
H 2 NOC
Darifenacin
O
N
O
Alpha- und Betaadrenozeptoren gehören zur Gruppe der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Die ähnliche Struktur dieser Klasse von Membranrezeptoren bedingt vergleichbare Signaltransduktionsmechanismen. So bewirkt auch der aktivierte α1-AR wie der muskarinische M3-Rezeptor eine Freisetzung von Diacylglycerin und Inositoltrisphosphat mit konsekutiver Liberierung von Kalzium aus dem endoplasmatischen Retikulum und letztendlich glattmuskulärer Kontraktion. Der Second messenger des aktivierten β2/3-Adrenozeptors ist cAMP (wie beim M2-Muskarinrezeptor), das durch G-Proteinvermittelte Aktivierung der Adenylatcyclase entsteht (im Gegensatz zum M2-Muskarinrezeptor) und über eine Phosphorylierung der Myosinleichtkettenkinase und Inhibition der Myosinkinase schließlich die Relaxation der glatten Detrusorzelle bewirkt. Molekularbiologisch lassen sich drei α1-Adrenozeptorklone (α1, α1b und α1d) differenzieren. Diese drei Rezeptorsubtypen treten in unterschiedlicher relativer Verteilung in verschiedenen Organsystemen auf (⊡ Tab. 3.3). Selbst innerhalb des Harntraktes existie-
M 2 <<M 3
+
⊡ Abb. 3.3. Beispiele bekannter muskarinischer Anticholinergika unterschiedlicher Subspezifität und mit unterschiedlichem Nebenwirkungsprofil
⊡ Tab. 3.3. Relative Subtypenverteilung der α1-Adrenozeptoren in verschiedenen Geweben. (Aus Schwinn [27]) Gewebe
Relatives Subtypenverhältnis
Blase
α1d>α1a, kein α1a
Prostata
α1a>α1dd>α1b
Nebenniere
α1a>α1b>α1d
Leber
α1a>α1b>α1d
Milz
α1b>α1a, α1d
Niere
α1b>α1a, α1d
Aorta
α1d>α1b> α1a
Vena cava
α1a>α1b>α1d
Hoden
α1d>α1b, kein α1a
Kleinhirn
α1a>α1b>α1d
Großhirn
α1a>α1d>α1b
3
22
Teil I · Grundlagen
⊡ Tab. 3.4. Affinität verschiedener α1-Antagonisten gegenüber α1a-, α1b- und α1d-Adrenozeptoren (pKi: negativer Logarithmus der halbmaximalen Bindungskonzentration in mmol/l) Substanz
3
⊡ Abb. 3.4. Regional unterschiedliche prädominante α1-AR-Subtypen im unteren Harntrakt (Schwinn [27])
ren regionale Unterschiede im prädominanten Rezeptorklon (⊡ Abb. 3.4). Insbesondere für die Prostata mit ihrem teils drüsigen teils glattmuskulären Aufbau ist die adrenerge Rezeptorverteilung für das Verständnis ihrer Pathophysiologie essentiell. Die von einer Prostatahyperplasie hervorgerufene Blasenauslassobstruktion setzt sich physikalisch aus zwei verschiedenen Komponenten zusammen, einer dynamischen muskulären und einer statischen fibroglandulären. Dieser Umstand ist einer der Gründe für den fehlenden Zusammenhang zwischen Prostatagröße und Obstruktionsgrad und hat insbesondere bei der medikamentösen Therapie der benignen Prostatahyperplasie (BPH) zu unterschiedlichen Behandlungsansätzen geführt. Der statischen Obstruktionskomponente wird mit dem Einsatz von Hemmstoffen der Androgenstoffwechsels (5-Alphareduktaseinhibitoren wie Finasterid) begegnet, was zu einer Wachstumshemmung und mittelfristigen Reduktion des obstruktionsrelevanten Drüsenvolumens führt [6]. Demgegenüber versucht man die dynamische Kompo-
pKi α1a
α1b
α1d
Alfuzosin
8,42
8,93
8,58
Tamsulosin
10,5
9,2
10,0
RS 17053
8,6
7,3
7,1
BMY 7378
6,6
7,2
9,4
nente durch organspezifische Relaxation der sympathisch innervierten intraprostatischen Leiomyozyten mittels möglichst α1a-spezifischer Alphaadrenozeptorantagonisten (z. B. Tamsulosin; (⊡ Tab. 3.4) zu reduzieren. Beide Therapiestrategien sind erwiesenermaßen wirksam, wobei der raschere Wirkungseintritt und das günstigere Nebenwirkungsprofil den Einsatz von Alphablockern favorisieren [6]. Bei der Bekämpfung irritativer BPH-Symptome sind ausschließlich α1a-subspezifische Alphablocker wie RS 17053 dem Tamsulosin mit seiner Subspezifität für α1a- und α1d-AR jedoch unterlegen, da obstruktionsbedingte Blasenirritationen offenbar mit einer gesteigerten α1d-adrenergen Detrusorempfindlichkeit zu erklären sind [18]. Untersuchungen an alternden Ratten haben überdies eine Verschiebung der relativen Subtypenverteilung der α1-AR hin zum gegenüber Noradrenalin hochaffinenen α1d-Klon gezeigt [8], woraus sich mögliche Therapieansätze für die im Alter zunehmende Dranginkontinenz der Frau ergeben – insbesondere bei Therapieversagern mit Anticholinergika. Da die blutdrucksenkende Wirkung von Alphablockern in erster Linie über den vaskulär häufig vorkommenden α1b-Rezeptorsubtyp vermittelt wird, weisen α1a/ d-subspezifische Antagonisten günstige Nebenwirkungsprofile mit vernachlässigbaren Raten von Schwindel, Übelkeit und Hypotonie auf. Im ZNS können Alpharezeptoren sowohl exzitatorische als auch inhibitorische Wirkungen auf den Harntrakt entfalten. So konnte bei spontan hypertensiven Ratten mit Blasenhyperaktivität durch intrathekale Injektion des α1-Antagonisten Doxazosin eine Inhibition der Detrusorkontraktionen erreicht werden [8]. Auf der anderen Seite wird der zentralnervösen Noradrenalinwiederaufnahmehemmung (die Noradrenalinwiederaufnahme in die präsynaptischen Nervenenden ist der zentrale Mechanismus zur Neurotransmitterinaktivierung) des neuartigen Wirkstoffes Duloxetin eine entscheidende Bedeutung bei der Kräftigung des Urethralsphinkters zur Bekämpfung einer Be-
23 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
lastungsinkontinenz beigemessen. Dieses Medikament, das zusätzlich die Serotoninwiederaufnahme im ZNS hemmt und darin den trizyklischen Antidepressiva ähnelt, ist für die Indikation Belastungsinkontinenz zugelassen [22].
3.4
Dopaminerge Rezeptoren
Die fünf molekularbiologisch zu unterscheidenden Varianten des Dopaminrezeptors (D1–D5) lassen sich pharmakologisch in D1-ähnliche (D1, D5) und D2-ähnliche Rezeptoren (D2, D3, D4) einteilen. Im ZNS haben dopaminerge Neurone sowohl inhibitorische als auch exzitatorische Wirkungen auf den Miktionsreflex. So führt die Aktivierung dopaminerger Nerven in der Substantia nigra anästhesierter Katzen über D1-Rezeptoren zu einer Hemmung von Reflexblasenkontraktionen. D2-Rezeptorstimulation (z. B. mit Bromocryptin) kann den Miktionsreflex bei Ratten, Katzen und Affen fördern [8]. Die miktionsreflexmodulierende Wirkung des dopaminergen Systems scheint jedoch mit zunehmender Wachheit und Vigilanz eines Individuums abzunehmen, wie enttäuschende Versuche mit dem D1-Agonisten SKF 38393 bei wachen Ratten zeigten, in denen keine Inhibition von Reflexblasenkontraktionen zu erreichen war [28]. Insgesamt befindet sich die Pharmakologie der Dopaminrezeptoren in Bezug auf die Therapie urologischer Probleme (insbesondere Blasenhyperaktivität bei Patienten mit Schüttellähmung) noch im Experimentalstadium. Neuentwicklungen auf diesem Gebiet sollten jedoch aufmerksam verfolgt werden.
3.5
Serotoninerge (5HT) Rezeptoren
Serotonin (5-Hydroxy-Tryptamin) gehört zu den exzitatorischen zentralnervösen Neurotransmittern und interagiert mit einer Vielzahl von pharmakologisch wie molekularbiologisch diskrepanten 5HT-Rezeptorklonen.
Bis heute wurden sieben verschiedene Rezeptorfamilien mit weiterer Subklassifizierung in Abhängigkeit von ihrer Affinität gegenüber bestimmten Serotoninagonisten und -antagonisten sowie von ihrer Genstruktur identifiziert. Die größte 5HT-Rezeptorfamilie stellt mit fünf Mitgliedern die 5HT1-Kategorie dar (5HT1A, 5HT1B, 5HT1D, 5HT1E, 5HT1F). Auch diese Rezeptoren sind G-Proteingekoppelte transmembranöse Proteinkomplexe, von denen der 5HT1A-Rezeptor bislang am intensivsten erforscht wurde. Die intrathekale Verabreichung des 5HT1A-Agonisten 8-OH-DPAT vermag in normalen und spinalisierten Ratten die Blasenaktivität zu steigern, nicht aber in Ratten, deren nozizeptive C-Faser-Afferenzen durch intravesikale Capsaicinbehandlung geschädigt wurden. Demgegenüber lassen sich Reflexblasenkontraktionen durch die i.v.-Gabe des 5HT1A-Antagonisten WAY-100635 wirksam inhibieren (⊡ Abb. 3.5 [30]). Erfolgen zentralnervöse serotonerge Stimuli über 5HT2- oder 5HT3-Rezeptoren, so ist eine verbesserte Urinspeicherung und Kontinenz durch verstärkte Sphinkterreflexe zu beobachten. Da die Substanzen bei oraler oder intravenöser Gabe auf dem Weg zu ihrem Wirkungsort die Blut-Hirn-Schranke überqueren müssen, kommen nur elektrisch neutrale 5HT1A-Antagonisten als potentielle Therapeutika in Frage. Das gilt allerdings nicht für die peripheren postsynaptischen 5HT2- und präsynaptischen 5HT4-Rezeptoren. Postsynaptische 5HT2-Rezeptoren induzieren Blasenkontraktionen, während die präsynaptische 5HT4-Rezeptoraktivierung zur verstärkten Azetylcholinfreisetzung führt. 5HT4-Agonisten wie Metoclopramid oder Cisaprid induzieren beim gesunden Menschen eine Blasenhyperaktivität und reduzieren den Restharn bei Patienten mit diabetischer Zystopathie (Detrusorhypokontraktilität; [8]). Damit eröffnen sich interessante neue Therapieansätze zur Behandlung der hypokontraktilen Blasen, wobei jedoch die nicht unerheblichen Nebenwirkungen der derzeit verfügbaren Präparate einen klinischen Einsatz von direkten Serotoninagonisten verhindert hatten. Auf indirektem Wege greifen
⊡ Abb. 3.5. Inhibition von Reflexblasenkontraktionen anästhesierter Ratten durch den 5HT1A-Antagonisten WAY-100635 (Testa et al. [30])
3
24
3
Teil I · Grundlagen
jedoch die trizyklischen Antidepressiva (z. B. Imipramin) schon heute erfolgreich in den Serotoninhaushalt ein. Durch zentrale 5HT-Wiederaufnahmehemmung (auch bei serotonergen Synapsen ist die Wiederaufnahme in die präsynaptischen Nervenenden der wesentliche Inaktivierungsmechanismus) inhibiert Imipramin Detrusorhyperaktivitäten (über 5HT2- oder 5HT3-Rezeptoraktivierung), wirkt aber gleichzeitig auch sedierend und antihistaminisch, was sein Einsatzgebiet oft limitiert. Peripher entfaltet Imipramin anticholinerge und alphaadrenerge Wirkungen, was insbesondere die Speicherfähigkeit der Blase verbessert und zum gelegentlichen Einsatz der Substanz auch bei Belastungsinkontinenz und kindlicher Enuresis führt [9]. Zur besseren Einschätzung der Nebenwirkungen sollten trizyklische Antidepressiva bei urologischer Indikation einschleichend dosiert werden.
3.6
Purinerge Rezeptoren (P2X, P2Y)
Die Ursache nichtcholinerger, nichtadrenerger Blasenkontraktionen, wie sie nach parasympathischer Stimulation in Anwesenheit von Atropin auftreten, liegt in einer direkten Interaktion von ATP mit purinergen Detrusorrezeptoren. Diese ATP-gesteuerten purinergen Rezeptoren zerfallen in zwei Klassen (die Ionenkanalfamilie der P2XRezeptoren und die G-Protein-gekoppelte Rezeptorfamilie der P2Y-Rezeptoren) mit bislang sieben (P2X) bzw. acht (P2Y) identifizierten Subtypen (⊡ Abb. 3.6). Die purinerge kontraktile Wirkung am Detrusor erfolgt biphasisch: schnell einsetzend, aber von kurzer Dauer (vermittelt über die ATP-gesteuerten P2X-Kationenkanalrezeptoren) und verzögert einsetzend, aber prolongiert (vermittelt über die UTP-gesteuerten G-Protein-gekoppelten P2Y-Rezeptoren). Neben einer direkten kontraktionsfördernden Wirkung an den Detrusorzellen haben P2X-Rezeptoren auch noch andere Aufgaben im Harntrakt. Aus Versuchen mit P2X-Knock-out-Mäusen, bei denen die afferente Nervenaktivität nach Blasendehnung gegenüber normalen Kontrolltieren signifikant reduziert war, ist eine Beteiligung der P2X-Rezeptoren am mechanosensorischen Regelkreis der Blase zu vermuten [7]. Diese Vermutung wird durch die Beobachtung gestützt, dass ATP von mechanisch gedehntem Urothel freigesetzt wird und P2X-Rezeptoren immunhistochemisch im suburothelialen Plexus afferenter Nerven nachgewiesen wurden [8]. Inhibitorische purinerge Wirkungen auf die Blasenfunktionen sind ebenfalls bekannt, aber nicht ATP/UTP, sondern adenosinvermittelt. Adenosin als potentielles Abbauprodukt der ATP-Metabolisierung interagiert im Sinne einer Rückkopplung mit einer weiteren G-Pro-
tein-gekoppelten Rezeptorfamilie – den in parasympathischen Ganglien vorhandenen P1-Adenosinrezeptoren. Interagiert ATP anstelle von UTP mit P2Y-Rezeptoren, so bewirkt es anders als UTP keine glattmuskuläre Kontraktilitätssteigerung, sondern eine -hemmung [8]. Ob P2X-Antagonisten wie Suramin oder PPADS bei der Therapie der hyperaktiven Blase jemals klinische Bedeutung erlangen werden, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch nicht abzusehen. Es erscheint aber angesichts der nicht nur im Harntrakt sondern ubiquitär vorhandenen purinergen Rezeptoren mit ihren vielfältigen Funktionen äußerst schwierig, die erwartungsgemäß pluriformen und schwerwiegenden Nebenwirkungen einer P2X- oder P2Y-Blockade durch die Entwicklung organspezifischer P2X-Antagonisten auf ein mit konventionellen Anticholinergika vergleichbares Niveau zu senken.
3.7
GABAerge Rezeptoren
Gammaaminobuttersäure (GABA) ist einer der wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter des ZNS. Sie interagiert spinal wie supraspinal mit GABAA- und GABAB-Rezeptoren. Injiziert man Muscimol, einen GABAA-Agonisten, in das pontine Miktionszentrum dezerebrierter Katzen, so lässt sich damit die Reflexblasenaktivität wirksam unterdrücken. Gleichzeitig steigt der Volumenschwellenwert für die Miktionstriggerung. Die intrathekale Gabe von GABAA- und GABAB-Agonisten steigert die Blasenkapazität auf Kosten der Blasenentleerungseffizienz bei Ratten und Katzen [3]. Der GABAB-Agonist Baclofen wird aus diesem Grund zur Behandlung von Sphinkterhyperaktivität bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie Enzephalomyelitis disseminata eingesetzt [2]. Da Baclofen eine relaxierende Wirkung an der quergestreiften Skelettmuskulatur entfaltet, wird es in einschleichender Dosierung zur Therapie der Sphinkterdetrusordyskoordination angewandt.
3.8
Pharmakologie der Glutaminsäure
Als exzitativer zentraler Neurotransmitter spielt Glutaminsäure eine Rolle bei der Kontrolle der Blasenfunktion auf spinaler, supraspinaler und zerebraler Ebene. Sie ist an der Verarbeitung afferenter Blasenimpulse im Rückenmark, an der interneuronalen Verschaltung parasympathischer präganglionärer Neurone, an der Impulspropagation vom pontinen Miktionszentrum zum sakralen parasympatischen Nukleus und schließlich an der Ausbildung von Miktionsreflexbögen im Großhirn beteiligt. Die neuronalen Glutaminsäurerezeptoren werden in
25 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
⊡ Abb. 3.6. Schematische Darstellung des ligandengesteuerten Kationenkanalrezeptors P2X und seines G-Protein-gekoppelten Pendants P2Y mit purinergen Agonisten (links unten) und Antagonisten (rechts unten). (Ralevic u. Burnstock [23])
3
26
3
Teil I · Grundlagen
N-Methyl-D-Aspartat (NMDA) und α-Amino-3-hydroxy5-methyl-4-isoxazolpropionsäure (AMPA) unterteilt, von denen insbesondere die AMPA-Rezeptoren für die Miktionskontrolle essentiell sind [17]. NMDA-Rezeptoren sind demgegenüber bei der Ausbildung von postapoplektischer Blasenhyperaktivität von Bedeutung. Der NMDA-Antagonist MK-801 ist in der Lage, bei prophylaktischer Verabreichung die Blasenhyperaktivität im Gefolge eines Apoplexes zu verhindern und eine bereits vorhandene Postapoplexhyperaktivität transient zu reduzieren [34].
3.9
Pharmakologie von Glycin
Glycin interagiert als weiterer inhibitorischer Neurotransmitter auf spinaler Ebene mit strychninsensitiven Rezeptoren parasympathischer präganglionärer Neurone. Es wird oftmals zusammen mit GABA ausgeschüttet und ist an der Inhibition efferenter Motoneurone des Sphinkters externus im Rahmen der Miktion beteiligt [8].
3.10
Peptiderge Rezeptoren (Opioide, VIP, Substanz P)
Enkephalinrezeptoren (µ und δ) finden sich im pontinen Miktionszentrum, dem sakralen parasympathischen Nukleus und dem spinalen motorischen Nukleus des Urethralsphinkters. Enkephaline wirken inhibitorisch auf die Miktionsreflexe und können z. B. mit Naloxon antagonisiert werden. So führt die Naloxoninjektion in das pontine Miktionszentrum zu einer Verstärkung des Miktionsreflexes [11]. Vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP), Substanz P und CGRP (calcitonin gene related peptide) sind Beispiele für Neuropeptide afferenter Blasennerven. Die afferenten Neurone sind oft capsaicinsensitive C-Fasern und schütten die Neuropeptide (Tachykinine) als Antwort auf exogene Noxen zur Unterstützung inflammatorischer Reaktionen in die Blase aus. Die Tachykinine wirken als Neurotransmitter in afferenten spinalen Synapsen, über NK1-Rezeptoren auf Blutgefäßen vasodilatativ, sowie über NK2-Rezeptoren auf den Detrusorzellen kontraktionsfördernd und inflammatorisch. Substanz P führt über die Stimulation urothelialer Rezeptoren zur NO-Freisetzung. NK1-Antagonisten (z. B. RP 67580) konnten im Tierexperiment die Blasenkapazität effektiv steigern, NK2-Antagonisten (z. B. SR 48965) waren allerdings ineffektiv. Wurde eine Blasenhyperaktivität durch eine chemische Zystitis oder intravesikale Gabe von Capsaicin erzeugt, konnten sowohl NK1- als auch NK2-Antagonisten diese wirksam unterdrücken. Klinische Relevanz hat indes noch keiner der NK-Antagonisten erreicht [8].
3.11
Pharmakologie von Stickstoffmonoxid (NO)
Die Stimulation afferenter Blasennerven durch Capsaicin führt zur Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) und zur Genexpression der für den Urogenitaltrakt wichtigsten Stickoxidsynthase nNOS in den spinalen Hinterwurzelganglien. Eine durch intravesikale Irritation hervorgerufene Blasenhyperaktivität kann durch die intrathekale Gabe von NOS-Inhibitoren inhibiert werden, was für eine Stimulierung des Miktionsreflexes durch NO auf spinaler Ebene spricht. Die NO-Freisetzung in den Harntrakt kann durch die Bestimmung der Nitritspiegel im Urin abgeschätzt werden und scheint bei Patienten mit interstitieller Zystitis (IC) reduziert zu sein. In einer Studie wurde IC-Patienten die NO-Vorstufe L-Arginin zur Induktion der NO-Synthese oral verabreicht (⊡ Abb. 3.7), woraufhin es zu einer Beschwerdereduktion kam [33]. Auch bei Patienten mit cyclophosphamidinduzierter hämorrhagischer Zystitis konnte die Blasenhyperaktivität durch intravesikale Gabe eines NO-Donators reduziert werden [20].
3.12
Pharmakologie der Prostaglandine
Prostaglandine entstehen bei der Arachidonsäureverstoffwechselung durch die Cyclooxigenase (⊡ Abb. 3.8), ein Enzym, von dem zwei Isoenzyme existieren (COX-1 und COX-2). Während COX-1 kontinuierlicher Prostaglandine für physiologische Zellvorgänge liefert, wird COX-2 speziell durch Entzündungen stimuliert. Spezifische COX-2-Inhibitoren sind daher weniger nebenwirkungsbehaftet, da z. B. die gastrale Produktion ulkusprotektiver Prostaglandine COX-1-vermittelt ist und folglich nicht inhibiert wird. NS-398, ein COX-2-Inhibitor, zeigte im Tierversuch eine effektive Hemmung cyclophosphamidinduzierter Blasenhyperaktivität. Auch bei nicht entzündlich bedingter Blasenhyperaktivität kann ein unspezifischer COX-Inhibitor wie Dexketoprofen im Gegensatz zu NS-398 eine Reduktion der Miktionsfrequenz und Steigerung des miktionstriggernden Blasenvolumenschwellenwerts bewirken, was für eine Beteiligung COX-1-produzierter Prostaglandine an der normalen Miktionskontrolle spricht [8].
3.13
Ionenkanäle (Ca, K)
Spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle tragen zur glattmuskulären Kontraktion bei, indem sie durch einen Kalziumeinstrom von extrazellulär die Freisetzung von intrazellulären Kalziumspeichern des sarkoplasmatischen Retikulums induzieren. Die Inhibition dieser potential-
27 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
abhängigen Ca2+-Kanäle durch Antagonisten vom Nifedipintyp sollten theoretisch zu einer Reduktion der Blasenkontraktilität führen und somit einen Ansatzpunkt zur Therapie der idiopathischen Detrusorhyperaktivität darstellen. Über eine Kontraktionshemmung von Blasenstreifen im Organbad hinaus haben Kalziumkanalblocker
aber bis heute keinen urologischen In-vivo-Wirksamkeitsnachweis erbringen können und sind auch wegen ihrer starken kardialen Nebenwirkungen (der Kalziumkanalblocker Terodilin musste wegen seiner Torsade-depointes-Arrhythmogenität vom Markt genommen werden) in Verruf geraten [9]. Da die für die Einleitung der glattmuskulären Kontraktion entscheidenden zellmembranständigen Kalziumkanäle spannungsabhängig sind (s. o.), führt eine Hyperpolarisation der Zellmembran zu einer effektiven Stabilisierung der Muskelzelle mit konsekutiver Kontraktionshemmung. kaliumkanalöffnende Substanzen wie Cromakalim, Pinacidil oder ZD6169 unterdrücken spontane Aktionspotentiale und Kontraktionen von glatten Muskelzellen zuverlässig, sind aber nicht organspezifisch. Daher wird der tierexperimentelle Erfolg dieser Substanzen bei der Therapie einer Detrusorhyperaktivität von den schwerwiegenden kardialen Nebenwirkungen (Hypotonie) relativiert [2]. Ein klinischer Einsatz von Kaliumkanalöffnern ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht.
3.14
⊡ Abb. 3.7. Stickstoffmonoxid(NO)synthese aus L-Arginin, NADPH und Sauerstoff, katalysiert von der Stickoxidsynthase (NO-Synthase)
Toxine als Therapieoptionen (Capsaicin, RTX, Clostridium botulinum Toxin Typ A)
Vanilloidrezeptoren (VR1 und VR2) stellen eine spezielle Klasse von Nozizeptoren an unmyelinisierten sensorischen C-Fasern dar und sind bei Stimulation für die Perzeption von Wärme bzw. Schmerz verantwortlich.
⊡ Abb. 3.8. Prostaglandinsynthese aus Arachidonsäure unter katalytischer Mitwirkung der Cyclooxigenase
3
28
3
Teil I · Grundlagen
Rezeptoragonisten wie Capsaicin (ein Vanilloid aus Chilipfefferschoten) oder Resiniferatoxin (eine Substanz aus dem Kaktus Euphorbia resinifera) bewirken über eine initiale Überstimulation eine Desensibilisierung bzw. Schädigung der afferenten C-Fasern (ohne Beeinträchtigung der mechanosensorischen myelinisierten Aδ-Fasern; ⊡ Abb. 3.9). Dabei ist Resiniferatoxin (RTX) 1000-mal potenter als Capsaicin, hat aber weniger stark ausgeprägte initialexzitatorische Effekte. Während eine intravesikale Capsaicinbehandlung zur Blasendesensibilisierung bei therapierefraktärer Drangsymptomatik oder Pelvic-pain-Syndrom nur in Narkose durchgeführt werden kann, ist die RTX-Instillation in der Regel ambulant und ohne Anästhesie möglich (50–100 nmol RTX in 50 ml 10%igem Ethanol). Außer den möglichen initialen brennenden Missempfindungen sind keine Nebenwirkungen einer Capsaicin- bzw. RTX-Behandlung beschrieben. Die Dauer der Blasendesensibilisierung hängt von der Neuroplastizität der Blase ab, beträgt aber in der Regel mindestens 3 Monate [5]. Clostridium botulinum-Toxin A entstammt dem Bakterium Clostridium botulinum und inhibiert die Acetylcholinfreisetzung aus den präsynaptischen Nervenendigungen. Durch die irreversible Schädigung der Neurovesikel ist eine wirkungsvolle Blockade cholinerger Nerven auch noch lange nach der Inaktivierung des Neurotoxins gewährleistet. Kompensatorisch kommt es in den auf eine Botulinumbehandlung folgenden Monaten zu einer Neuaussprossung der Axone mit Reinnervation des Erfolgsorgans, weshalb die Behandlung gegebenenfalls wiederholt werden muss. Die plastische Chirurgie bedient sich seit längerem des Botulinumtoxins zur Faltenglättung durch subkutane Injektion in die Gesichtsmuskulatur. Urologische Einsatzgebiete des ausschließlich lokal einzusetzenden Toxins (cave: systemische Nebenwirkungen bis hin zur Atemdepression
⊡ Abb. 3.9. Schematische Darstellung der Sekundärstruktur des VR1-Vanilloidrezeptors mit den pharmakologischen Agonisten Capsaicin und Resiniferatoxin und dem Wirkungsmechanismus der Blasendesensibilisierung durch C-Faser-Schädigung
nach akzidentieller i.v.-Injektion) sind die Sphinkterdetrusordyskoordination (transurethrale Botulinuminjektion in den Sphinkter; [12]) und Blasenhyperaktivität mit Inkontinenz bei kleinkapazitären Blasen paraplegischer Patienten (flächendeckende Injektion von 20–30 Botulinumdepots in den Detrusor [25, 26]). Auch bei Patienten mit therapierefraktärer Dranginkontinenz und kleiner funktioneller Blasenkapazität ist die intravesikale Botulinuminjektion in Erwägung zu ziehen.
3.15
Muskelrelaxanzien ( Vinpocetin, Dicyclomin)
Wie die indirekten Parasympathomimetika und die COXInhibitoren gehören auch die direkten Muskelrelaxanzien wie Vinpocetin und Dicyclomin zu den nicht rezeptorvermittelten Pharmaka. Vinpocetin ist ein Phosphodiesterase(PDE)inhibitor, welcher das in der Blase prädominante Isoenzym I hemmt. Es wirkt nach dem gleichen Prinzip wie Sildenafil (PDE-V-spezifisch) oder Papaverin (PDE-unspezifisch) über eine Hemmung der intrazellulären Second-messenger-Degradierung. Der dadurch intrazellulär akkumulierende Botenstoff ist Cyclo-GMP, welches mithilfe der NO-aktivierten Guanylatcyclase aus GTP synthetisiert wird und über eine Proteinkinasenaktivierung zu einer glattmuskulären Relaxation führt. In klinischen Studien konnte die Wirksamkeit von Vinpocetin bei der Therapie idiopatischer Detrusorhyperaktivität nachgewiesen werden [31, 32]. Da Vinpocetin jedoch ursprünglich zur Verbesserung der zerebralen Durchblutung und Konzentrationssteigerung in wesentlich niedrigerer Dosis (5 mg) als zur Bekämpfung der Blasenhyperaktivität nötig vermarktet wurde, ist die empfohlene Tagesdosis von 3×20 mg nur über die Einnahme von 3×4 Tabl. à 5 mg möglich, was
29 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
zu nicht unerheblichen Complianceproblemen bei den Patienten führen kann. Dicyclomin ist ein im deutschen Sprachraum wenig gebräuchliches Muskelrelaxans, welches seine Wirkung zu gleichen Teilen aus einer atropinartigen Muskarinrezeptorantagonisierung und einer Hemmung bradykininund histamininduzierter Muskelkontraktionen bezieht. Da seine anticholinerge Partialwirkung nur ein Achtel der Atropinwirkung beträgt, liegt das Indikationsgebiet für Dicyclomin eher bei der leichtgradigen Drangsymptomatik [9].
3.16
Östrogene
Der Urogenitaltrakt postmenopausaler Frauen ist von der Gonadeninsuffizienz in vielfältiger Weise betroffen. Die Symptome reichen von der Belastungsinkontinenz über die Drangsymptomatik und rezidivierende Harnwegsinfekte bis hin zur Dyspareunie. Lokale Perfusionsminderung mit konsekutiver Atrophie des Vaginal- und Übergangsepithels und der subepithelialen Bindegewebsschichten sind die Ursachen dieser Urogenitalsymptome und Folge einer Östrogendefizienz [10]. Östrogene entfalten die meisten ihrer Wirkungen über einen nukleären Steroidhormonrezeptor (ER). Zwei Isoformen (ERα und ERβ) mit unterschiedlichen Genen und unterschiedlichem Verteilungsmuster in den verschiedenen Geweben sind bekannt [19]. Wie alle Steroidhormonrezeptoren wirken auch die ER als ligandenaktivierte Transkriptionsfaktoren. Anders als z. B. die Glukokortikoidrezeptoren pendeln die ER nicht zwischen Zellmembran und Kern, sondern sind ausschließlich im Nukleus lokalisiert. Die Bindung eines Östrogenmoleküls führt zu einer Konformationsänderung und Dimerformation des ER, woraufhin dieses Rezeptordimer an eine spezifischen Promotorsequenz (estrogen response element, ERE) eines Zielgens ankoppelt. In der Folge werden weitere Transkriptionsfaktoren rekrutiert, der Transkriptionsinitiierungskomplex gebildet und das östrogenregulierte Gen transkribiert. Entscheidend für die Interaktion mit den übrigen Transkriptionsfaktoren sind zwei Proteindomänen (Aktivierungsfunktionen AF1 und AF2), welche bei der Bindung eines reinen Antiöstrogens die Formation eines Transkriptionsinitiierungskomplexes verhindern und eine Genexpression unterbinden [21]. Östrogenrezeptoren finden sich aufgrund der gemeinsamen embryologischen Abkunft im gesamten Urogentialtrakt: Vagina, Urethra, Periurethral- und Beckenbodenmuskulatur, Ligamenta und Trigonum vesicae. Die ER-Dichte der Harnröhre entspricht der der Scheide, und auch die Zytologie ist vergleichbar. Insbesondere die Submukosa mit dem suburothelialen Gefäßplexus
der Harnröhre bilden durch ihren koadaptiven passiven Kisseneffekt eine wesentliche Unterstützung des aktiven Sphinkterverschlussdruckes und führen oft im östrogendefizienten, atrophen Zustand zum Auftreten einer Belastungsinkontinenz. Darüber hinaus scheinen Östrogene die alphaadrenerge Empfindlichkeit des Blasenhalses und der Urethra zu steigern, was im Fall eines Östrogenmangels ebenfalls eine Belastungsinkontinenz hervorrufen könnte. Schließlich senken Östrogene den mechanosensorischen Schwellenwert des Blasentrigonums, so dass die funktionelle Blasenkapazität erhöht und ein vorzeitiger Miktionsreflex verhindert wird. Dieser Mechanismus ist die wahrscheinliche Ursache der Koinzidenz von Östrogendefizit und irritativer Drangsymptomatik, wie sie in der Postmenopause und mit fortschreitendem Alter in zunehmendem Maße zu beobachten ist. Die Östrogensubstitution verbessert die urogenitale Durchblutung nachweislich und kann die verschiedenen Atrophieerscheinungen mildern oder gar umkehren [10]. Bei einer geplanten Östrogensubstitution nach Verifizierung eines lokalen Defizites (z. B. durch Bestimmung des karyopyknotischen Indexes im Urethralabstrich oder – einfacher – mit der Vaginal-pH-Metrie) ist der lokalen Therapie der Vorzug vor einer systemischen Verabreichung zu geben, da eine systemische Therapie aufgrund eines hormonsensitiven Mammakarzinoms kontraindiziert oder aufgrund prädestinierender Faktoren für eine tiefe Beinvenenthrombose (Rauchen, Adipositas) unerwünscht sein könnte. Auch bei einer bereits initiierten systemischen Östrogensubstitution kann eine zusätzliche lokale Östrogenisierung (bei persistierend nachweisbarem urogenitalen Defizit) sinnvoll sein. Im Hinblick auf ein ER-positives Mammakarzinom in der Vorgeschichte der Patientin sollte das bei topischer Applikation systemisch praktisch nicht nachweisbare Östriol Anwendung finden. Vaginal eingelegte Tabletten werden von vielen Frauen als angenehmer als Vaginalsalben empfunden.
3.17
Pharmakologie des antidiuretischen Hormons (ADH)
ADH (antidiuretisches Hormon, Vasopressin) und sein pharmakologisches Pendant Desmopressin nehmen eine Sonderstellung in diesem pharmakologischen Abriss ein, da sie nicht am unteren, sondern am oberen Harntrakt wirken. Da Desmopressin in der Behandlung der Altersnykturie und kindlichen Enuresis nocturna (die zumindest teilweise auf einen ungenügenden abendlichen ADH-Anstieg zurückgeführt werden kann) weite urologische Verbreitung gefunden hat, soll das über die vermehrte Wasserrückresorption in den medullären Sammelrohren der Niere wirkende Medikament dennoch vorgestellt werden
3
30
Teil I · Grundlagen
3 ⊡ Abb. 3.10. Chemische Struktur von Vasopressin und seinem pharmakologischen Agonisten Desmopressin, zwei Proteohormone, welche in den medullären Sammelrohren der Niere eine Wasserrückresorption aus dem Primärharn bewirken
(⊡ Abb. 3.10) Das ursprünglich zur Therapie des Diabetes insipidus inaugurierte Proteohormon ist ein agonistisches Analogon des hypothalamisch-neurohypophysären ADH und liegt pharmakologisch als Nasenspray und Tablette vor. Obwohl mit der abendlichen Verabreichung von Desmopressin nicht immer eine ursächliche Therapie der Nykturie oder Enuresis betrieben wird (die Rückfallraten enuretischer Kinder nach Absetzen des Desmopressins sind hoch) und die bei unsachgemäßer Handhabung und Akkumulation drohende Wasserintoxikation durch regelmäßige Serumelektrolytkontrollen ausgeschlossen werden muss, rechtfertigen die überzeugenden Behandlungserfolge den Einsatz des Medikamentes [16, 24]. Eine abendliche Trinkmengenrestriktion ist bei der Desmo-
pressintherapie eine obligate, die nachmittägliche Diuretikaeinnahme eine optional-synergistische flankierende Maßnahme.
3.18
Zusammenfassung
Zusammenfassend und anwendungsorientiert kann man die diversen Substanzgruppen mit ihren verschiedenen Wirkungsmechanismen auch nach ihren Einsatzindikationen und der urodynamischen Beschreibung der Miktionsstörungen subsummieren und auflisten (die Liste will Beispiele für Wirkprinzipien und Therapieansätze geben und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit):
Substanzen zur Behandlung der Belastungsinkontinenz Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Midodrin
α1-AR-Agonist
3×5 mg
cave: Hypertonie
Duloxetin
Serotonin- und NoradrenalinWiederaufnahme-Inhibitor
2×20 mg
Erprobung
Östriol
Pluripotenter Transkriptionsinitiator
1×1 mg vaginal
Verbesserung der pelvinen Durchblutung mit gesteigerter urethraler Koadaptation (Kisseneffekt), keine systemischen Nebenwirkungen
Substanzen zur Behandlung der Drangsymptomatik Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Oxybutynin
M2/3-Anticholinergikum
2–3×5 mg
Tertiäres Amin, retardierte Form hat weniger Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, Obstipation, Konzentrationsstörungen)
Trospiumchlorid
M2/3-Anticholinergikum
2×20 mg
Quarternäres Amin, keine ZNS-Nebenwirkung
▼
31 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Propiverin
M2/3-Anticholinergikum
2–3×15 mg
Tertiäres Amin
Tolterodin
M2/3-Anticholinergikum
2×2 mg
Tertiäres Amin, partielle Uroselektivität
Darifenacin
M3-Anticholinergikum
1×10 mg
Subtypenselektives Präparat
Solifenacin
M3-Anticholinergikum
1x7.5×15 mg
Subtypenselektives Präparat
Dicyclomin
Muskelrelaxanz
2×20 mg
Anticholinerge Partialwirkung
Vinpocetin
Phosphodiesterase-I-Inhibitor
3×20 mg
Ungünstige galenische Formulierung, ursprünglich zur zerebralen Durchblutungsförderung zugelassen
Imipramin
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
2×10-50 mg
Tricyclisches Antidepressivum mit anticholinerger und α-adrenerger peripherer Partialwirkung, einschleichende Dosierung
Terodilin
Kalziumkanalblocker
2×25 mg
Wegen Arrhythmogenität vom Markt genommen, starke Nebenwirkungen
Pinacidil
Kaliumkanalöffner
variabel
Starke Nebenwirkungen (Ödeme, Schwindel)
Östriol
Pluripotenter Transkriptionsinitiator
1×1 mg vaginal
Verbesserung der pelvinen Durchblutung und Senkung der Mechanosensibilität des Trigonums, keine systemischen Nebenwirkungen, auch bei Mammakarzinompatientinnen einsetzbar
Dexketoprofen
Unspezifischer COX-Inhibitor
variabel
Antiinflammatorisch, muskelrelaxierend
Resiniferatoxin
Vanilloidrezeptoragonist
1×50–100 nmol
Kakteenextrakt zur intravesikalen Instillation, nicht in Narkose nötig
Botulinumtoxin
Acetylcholinfreisetzungsinhibitor
20–30×10 IE
Flächendeckende Injektionen in den Detrusor, konsekutive Blasenlähmung möglich, cave: i.v.Gabe!
Substanzen zur Behandlung bei Blasenhypokontraktilität Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Carbachol
Direktes Parasympathomimetikum (Rezeptoragonist)
2×2 mg
Cave: Übelkeit und Erbrechen. Eine messbare Steigerung der Kontraktilität konnte nicht nachgewiesen werden
Distigmin
indirektes Parasympathomimetikum (Cholinesterase-Inhibitor)
2×5 mg
Cave: Übelkeit und Erbrechen. Einemessbare Steigerung der Kontraktilität konnte nicht nachgewiesen werden
Substanzen zur Behandlung der subvesikalen Obstruktion Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Finasterid
5-α-Reduktasehemmer
1×5 mg
Cave: Gynäkomastie und Potenzstörungen, reduziert das Prostatavolumen
Tamsulosin
α1a/d-AR-Antagonist
1×0,4 mg
Senkt den Auslasswiderstand und reduziert Drang
Alfuzosin
Unspezifischer α1-AR-Antagonist
2×5 mg
Senkt den Auslasswiderstand und reduziert Drang, cave: Hypotonie (systemische NW)
Phenoxybenzamin
α-AR-Antagonist
2-3×5-20 mg
Senkt den Auslasswiderstand und erleichtert die Miktion über Bauchpresse
3
32
Teil I · Grundlagen
Substanzen zur Behandlung der Detrusorsphinkterdyskoordination und -dyssynergie Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Baclofen
GABAB-Agonist
3×5–25 mg
Einschleichende Dosierung, häufig Schläfrigkeit, Ataxie und Schwindel
Tizanidin
α2-AR-Agonist im ZNS
3×2–10 mg
NW wie bei Baclofen, jedoch häufiger Mundtrockenheit Äquivalenzdosis Baclofen:Tizanidin wie 3:1
Dantrolen
Hydantoin-Derivat
1–4×25 mg
Hemmt die Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum, cave: Tranquilantienverstärkung, Leberschäden
Tetrazepam
GABAA-Agonist (ω-Rezeptorbindungsstelle)
5–50 mg
Wirkt wie alle Benzodiazepine nicht ohne GABA (indirekte Wirkungsverstärkung)
Botulinumtoxin A
Acetylcholinfreisetzungsinhibitor
2–3×10 IE
Injektionen in den Sphinkter externus, cave: i.v.-Gabe!
3
Substanzen zur Behandlung der nächtlichen Polyurie bzw. Enuresis Substanz
Wirkstoffgruppe
Dosis
Kommentar
Desmopressin
ADH-Analogon
1×0,2 mg z.N. (Tbl.)
Tabletten oder Nasenspray, abendliche Trinkmengenrestriktion, Elektrolytkontrollen
Imipramin
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
2×10–50 mg
Trizyklisches Antidepressivum mit anticholinerger und alphaadrenerger peripherer Partialwirkung, einschleichende Dosierung, Anwendungen bei Kindern umstritten, Todesfälle beschrieben!
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33 Kapitel 3 · Pharmakologie des Harntraktes
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3
4
Funktionsstörungen des unteren Harntraktes H. Heidler, S. Schumacher
4.1
Terminologie
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
Einführung – 36 Symptome des unteren Harntraktes (lower urinary tract symptoms, LUTS) – 36 Klinische Hinweise auf eine Dysfunktion des unteren Harntraktes – 37 Urodynamischer Befund und Beobachtungen während der urodynamischen Untersuchung – 37 Diagnosen – 39
4.1.5
– 36
4.2
Klassifikation der Funktionsstörungen – 39
4.2.1 4.2.2
Blasen- und Sphinkterfunktionsstörungen – 39 Neue Klassifikation der Harninkontinenz – 41
4.3
Pathophysiologie der Funktionsstörungen
4.3.1 4.3.2
Speicherstörungen der Harnblase – 42 Entleerungsstörungen der Harnblase – 46
Literatur
– 48
– 42
36
Teil I · Grundlagen
4.1
Terminologie
4.1.1 Einführung
4
Die International Continence Society (ICS) hat die Terminologie der Funktion des unteren Harntraktes neu standardisiert [2]. Die neuen Definitionen sind für die Patienten aller Altersklassen gültig. Ziel der neuen Terminologie ist es, eine bessere Kompatibilität internationaler Klassifikationen und Publikationen zu ermöglichen und Untersuchungsergebnisse vergleichbar zu machen. Der Arbeitskreis Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau hat diese Standardisierung kritisch evaluiert und die neue Terminologie zur Beurteilung von Blasen- und Sphinkterfunktionsstörungen in vielen Bereichen übernommen. Abweichungen von den Empfehlungen der ICS werden in den folgenden Kapiteln gesondert gekennzeichnet.
4.1.2 Symptome des unteren Harntraktes
(lower urinary tract symptoms, LUTS) Symptome sind subjektive Zeichen einer Krankheit oder einer Veränderung des Gesundheitszustandes, die vom Patienten, der Pflege oder den Angehörigen empfunden werden und Veranlassung geben, professionelle medizinische Hilfe zu suchen. Diese Symptome werden spontan oder auf Befragen mitgeteilt (Anamnese), ergeben jedoch keine definitive Diagnose.
▬ Weitere Sonderformen der Harninkontinenz: Kicherinkontinenz (Giggle-Inkontinenz), Inkontinenz während des Geschlechtsverkehrs ▬ Komplizierte Harninkontinenz: Harninkontinenz vergesellschaftet mit rezidivierenden Harnwegsinfekten, Hämaturie, Schmerzen im kleinen Becken, Miktionsbeschwerden, Beckenchirurgie, Bestrahlung, Verdacht auf Fisteln, signifikantem Restharn, ausgeprägtem Genitalprolaps, Verdacht auf Harntraktanomalie und Rezidivinkontinenz ▬ Blasensensitivität: Unterscheidung zwischen normaler, gesteigerter, fehlender und indirekter Blasensensitivität
Entleerungssymptome Entleerungssymptome werden während der Entleerungsphase der Blase empfunden: ▬ schwacher Harnstrahl ▬ unterbrochener Harnstrahl ▬ Startschwierigkeiten ▬ Miktion mit assistierter Bauchpresse ▬ terminales Nachtröpfeln
Symptome nach Blasenentleerung Symptome nach Blasenentleerung sind: ▬ Restharngefühl ▬ postmiktionelles Harnnachträufeln: im Falle eines unfreiwilligen Harnverlustes unmittelbar nach Beendigung der Miktion, normalerweise nach Verlassen der Toilette bzw. nach Aufstehen von der Klomuschel
Speichersymptome Speichersymptome werden während der Speicherphase der Blase empfunden: ▬ Pollakisurie ▬ Nykturie: charakterisiert durch Unterbrechung des nächtlichen Schlafes zur Blasenentleerung ▬ Imperativer Harndrang: plötzliches Auftreten eines starken Harndrangs, der nur schwer beherrscht werden kann ▬ Harninkontinenz: jeglicher unfreiwilliger Harnverlust ▬ Belastungsinkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust aufgrund von körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen ▬ Dranginkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust in Zusammenhang mit imperativem Harndrang ▬ Mischinkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust in Zusammenhang mit imperativem Harndrang und auch mit körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen ▬ Enuresis: unfreiwilliger Harnverlust, der während des Schlafes auftritt ▬ Kontinuierliche Harninkontinenz: kontinuierlicher Harnverlust
Chronisches Schmerzsyndrom des kleinen Beckens Hierbei handelt es sich um das Zusammentreffen von persistierenden oder intermittierenden Episoden von Schmerzen im kleinen Becken, deren pathophysiologischer Ursprung oftmals nicht geklärt werden kann. Infektionen oder andere pathologische Ursachen liegen nicht vor. Die Schmerzen sind häufig mit Symptomen des unteren Harntrakts sowie mit sexuellen, gynäkologischen oder Stuhlfunktionsstörungen vergesellschaftet. ▬ Blasen-Schmerzsyndrom: Suprapubischer Schmerz in Abhängigkeit von der Blasenfüllung, zusammen mit anderen Symptomen wie erhöhte Miktionsfrequenz tags und nachts in Abwesenheit von Infekten oder anderen Pathologien (anstelle des Terminus Interstitielle Cystitis) ▬ Prostata-Schmerzsyndrom: Unbehagen oder Schmerz in der Beckenregion mit negativen Untersuchungsergebnissen insbesondere des Prostatasekretes in Kombination mit Symptomen des unteren Harntrakts
37 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
4.1.3 Klinische Hinweise auf eine Dysfunktion
des unteren Harntraktes
tome und der klinischen Untersuchung nicht in eine der oben angeführten Kategorien eingeordnet werden kann
Messinstrumente Folgende Messinstrumente stehen zur Verfügung: ▬ Miktionskalender: Aufzeichnung der Miktionszeiten über zumindest 24 Stunden ▬ Miktionsprotokoll: Aufzeichnung der Miktionszeiten sowie der Miktionsvolumina über zumindest 24 Stunden ▬ Miktionstagebuch: Aufzeichnung der Miktionszeiten, der Miktionsvolumina, der Inkontinenzepisoden, der Verwendung von Vorlagen sowie weitere Informationen wie Flüssigkeitsaufnahme, Ausmaß des imperativen Harndranges und Ausmaß der Harninkontinenz Aus Miktionsprotokoll und Miktionstagebuch können Aussagen getroffen werden über: ▬ Miktionsfrequenz tagsüber ▬ Nykturie ▬ Miktionsfrequenz in 24 Stunden ▬ Polyurie: definiert als 24 Stunden Harnproduktion von mehr als 2,8 l (Referenzwert für eine Person mit 70 kg Körpergewicht, die somit über 40 ml/kg Körpergewicht in 24 Stunden produziert) ▬ Nächtliches Harnvolumen: totales Harnvolumen zwischen dem Zubettgehen und dem Aufstehen ▬ Nächtliche Polyurie liegt vor, wenn ein erhöhter Anteil der 24-Stunden-Harnproduktion nachts besteht. Die normale nächtliche Harnproduktion ändert sich mit dem Alter, sie beträgt etwa 20% bei jungen Erwachsenen und 33% bei den über 65-Jährigen von der 24-Stunden-Harnproduktion ▬ Maximales Miktionsvolumen ist das größte Harnvolumen, das durch eine einmalige Miktion entleert wurde. Das bei Kindern zu erwartende Miktionsvolumen errechnet sich aus der Formel: Alter in Jahren × 30, gegebenenfalls (Alter in Jahren + 2) × 30
Klinische Untersuchung ▬ Harninkontinenz: beobachteter Harnverlust während der klinischen Untersuchung aus der Harnröhre oder extraurethral ▬ Belastungsinkontinenz: Beobachtung von unfreiwilligem Harnverlust aus der Harnröhre simultan mit körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen (Hustentest) ▬ Extraurethrale Inkontinenz: Beobachtung von Harnverlust unter Umgehung der Harnröhre ▬ Inkontinenz unklarer Ätiologie: Beobachtung von unfreiwilligem Harnverlust, der auf Basis der Symp-
Vaginale Untersuchung Ein Prolaps der Beckenorgane ist definiert als das Tiefertreten von einem oder mehreren anatomischen Abschnitten (vordere Scheidenwand, hintere Scheidenwand, Apex der Scheide oder des Scheidenstumpfes). Der Prolaps kann in vier Schweregrade unterteilt werden: ▬ Grad 1: Tiefertreten der Beckenorgane bis zum Hymenalsaum ▬ Grad 2–4: Prolaps der Beckenorgane außerhalb des Hymenalsaums Mit Hilfe von drei Punkten (A, B und C) kann der Untersucher eine objektiv nachvollziehbare Beschreibung des Prolaps der Beckenorgane liefern.
Untersuchung der Beckenbodenmuskelfunktion Sie kann qualitativ definiert werden durch die rektale Untersuchung in Ruhe und unter aktiver Kontraktion als stark, schwach oder fehlend. Eine weitere Bewertungsskala stellt die Oxford-Klassifikation 1–5 dar ( Kap. 18).
4.1.4 Urodynamischer Befund und
Beobachtungen während der urodynamischen Untersuchung Urodynamische Untersuchungstechniken ▬ Konventionelle urodynamische Untersuchung versteht sich mit artifizieller Füllung der Blase. Bei der artifiziellen Füllung der Blase erfolgt die Füllung über einen Katheter mit bestimmter Flüssigkeit und bestimmter Füllungsgeschwindigkeit ▬ Langzeiturodynamik ist definiert als funktioneller Test des unteren Harntrakts, wobei eine natürliche Blasenfüllung erfolgt und den Aktivitäten des täglichen Lebens nachgegangen wird. Natürliche Blasenfüllung bedeutet, dass die Blase durch die Harnproduktion gefüllt wird
Füllungszystometrie Dabei wird die Druck-Volumen-Beziehung der Blase während der Füllphase gemessen und die Blasensensitivität beurteilt.
Geschwindigkeit der Blasenfüllung ▬ Physiologische Füllgeschwindigkeit ist definiert als jene Füllgeschwindigkeit, die geringer ist als die Formel: Körpergewicht in kg/4, ausgedrückt als ml/min
4
38
Teil I · Grundlagen
▬ Nicht physiologische Füllungsgeschwindigkeit ist definiert als Füllgeschwindigkeit, die größer ist als die physiologische.
Blasensensitivität während der Füllungszystometrie
4
▬ Erster Harndrang: entspricht jenem Gefühl während der Füllungszystometrie, das den Patienten veranlassen würde, bei der nächsten Gelegenheit die Blase zu entleeren. Die Miktion kann jedoch wenn nötig hinausgezögert werden. ▬ Starker Harndrang: entspricht dem Blasengefühl während der Füllungszystometrie, bei dem ein ständiges Verlangen besteht, die Blase zu entleeren, jedoch keine Angst vor Harnverlust vorliegt. ▬ Gesteigerte Blasensensitivität bedeutet während der Füllungszystometrie, dass der erste Harndrang bereits bei niedrigem Blasenvolumen kontinuierlich besteht (kleiner als 100 ml Blasenvolumen). ▬ Verminderte Blasensensitivität bedeutet Auftreten des ersten Harndranges erst bei bereits großer Blasenfüllung (über 300 ml). ▬ Fehlende Blasensensitivität ▬ Indirektes Füllungsgefühl: Während der Füllungszystometrie können andere Empfindungen als der Harndrang wie z. B. Völlegefühl im Unterbauch oder vegetative Symptome eine gefüllte Blase anzeigen. ▬ Blasenschmerzen ▬ Imperativer Harndrang als Hinweis auf eine pathologische Situation infolge des schwer zu beherrschenden Dranges
Detrusorfunktion während der Füllungsphase ▬ Detrusorhyperaktivität: unwillkürliche Detrusorkontraktionen während der Füllungsphase, die spontan oder auf Provokation auftreten. Zwei Muster von Detrusorhyperaktivität können unterschieden werden: – Phasische Detrusorhyperaktivität ist durch eine charakteristische Wellenform gekennzeichnet und gegebenenfalls von Harnverlust begleitet – Terminale Detrusorhyperaktivität entspricht einer einzelnen unwillkürlichen Detrusorkontraktion bei Erreichen der zystometrischen Kapazität, die nicht unterdrückt werden kann und zur nichtverhinderbaren Miktion führt ▬ Detrusorhyperaktivität mit Inkontinenz bedeutet Harnverlust aufgrund von unwillkürlichen Detrusorkontraktionen Detrusorhyperaktivität soll nach Möglichkeit nach der zugrunde liegenden Ursache unterteilt werden in:
▬ Neurogene Detrusorhyperaktivität (anstelle der Detrusorhyperreflexie) ▬ Nichtneurogene Detrusorhyperaktivität (idiopathische) anstelle des bisherigen Begriffes der Detrusorinstabilität ▬ Blasencompliance beschreibt die Relation zwischen Volumenänderung der Blase und Änderung des Detrusordruckes. Hier wird eine niedrige Compliance (<20) von einer normalen Compliance unterschieden. Phasische Detrusorhyperaktivität darf in die Complianceberechnung nicht einbezogen werden ▬ Zystometrische Kapazität ist das Blasenvolumen am Ende der Füllungszystometrie und setzt sich zusammen aus dem Miktionsvolumen und jeglicher Restharnmenge ▬ Maximale Blasenkapazität unter Anästhesie ist das Volumen, bis zu dem die Blase unter tiefer allgemeiner oder spinaler Anästhesie gefüllt werden kann. Sie ermöglicht die Erfassung struktureller Veränderungen der Blasenwand
Harnröhrenfunktion während der Füllungszystometrie ▬ Normaler Harnröhrenverschlussmechanismus ▬ Inkompetenter Harnröhrenverschlussmechanismus ▬ Harnröhrenrelaxierung mit Inkontinenz (früher: instabile Urethra): Harnverlust aufgrund einer unwillkürlichen Harnröhrenrelaxation in Abwesenheit von intraabdomineller Druckerhöhung und Detrusorhyperaktivität ▬ Urodynamisch nachweisbare Belastungsinkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust bei intraabdomineller Druckerhöhung in Abwesenheit von Detrusorkontraktionen während der Füllungszystometrie
Urodynamische Untersuchung der Harnröhrenfunktion ▬ Drucktransmission ist die intraurethrale Drucksteigerung bei körperlicher Belastung als Prozentsatz der simultanen intravesikalen Drucksteigerung. Auf diese Weise wird in der proximalen Harnröhre die passive und im mittleren Harnröhrendrittel die aktive Drucktransmission berechnet ▬ Leak Point Pressure (Cough Leak Point oder Valsalva Leak Point-Pressure) entspricht dem intravesikalen oder intraabdominellen Druck, bei dem Harnverlust aufgrund der intraabdominellen Druckerhöhung auftritt. Diese intraabdominelle Druckerhöhung kann entweder durch Husten oder durch Pressen ausgelöst werden ▬ Detrusor Leak Point Pressure ist definiert als der niedrigste Detrusordruck, aus dem in Abwesenheit von Detrusorkontraktionen oder erhöhtem intraab-
39 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
dominellen Druck Harnverlust resultiert. Dieser Messparameter hat vorrangig bei der neurogenen Blasenfunktionsstörung Bedeutung
Eine solche lautet z. B. chronische Harnretention, ggf. mit Harninkontinenz (früher Überlaufinkontinenz).
4.2
Klassifikation der Funktionsstörungen
Druckflussmessung (Entleerungszystometrie) Dabei wird die Beziehung zwischen Druck in der Blase und Harnfluss während der Blasenentleerung gemessen.
Detrusorfunktion während der Miktion ▬ Normale Detrusorfunktion ▬ Abnormale Detrusorkontraktilität kann unterteilt werden in: – Detrusorhyperkontraktilität: entspricht einer Hochdrucksituation in der Blase, die während der Miktion durch den Detrusor erreicht wird, gegebenenfalls mit einer prolongierten Kontraktion kombiniert – Detrusorhypokontraktilität: Detrusorkontraktion mit reduzierter Druckamplitude bzw. Dauer; dies führt zur verlängerten Blasenentleerung bzw. zu Restharn – Detrusorakontraktilität bedeutet das Unvermögen des Detrusors, sich zu kontrahieren. Kann unter Untersuchungsbedingungen während einer Zystometrie keine Spontanmiktion ausgelöst werden, kann nicht automatisch von einer Detrusorakontraktilität gesprochen werden.
Harnröhrenfunktion während der Miktion ▬ Blasenauslassobstruktion ist die generelle Bezeichnung für eine Obstruktion während der Miktion und ist charakterisiert durch einen erhöhten Detrusordruck und einen reduzierten Harnfluss ▬ Detrusorsphinkterdysfunktion ist charakterisiert durch einen nicht relaxierenden oder sich intermittierend kontrahierenden quergestreiften Sphinkter während der Miktion bei neurologisch unauffälligen Individuen ▬ Detrusorsphinkterdyssynergie beschreibt eine Detrusorkontraktion in Kombination mit unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Sphinktermuskulatur mit meist reduzierter Flowrate bei neurologischen Ursachen. Auch hier kann entweder eine intermittierende oder permanente Kontraktion der Sphinktermuskulatur festgestellt werden
Klassifikationen unterschiedlicher Funktionsstörungen des unteren Harntraktes dienen dazu, eine möglichst exakte Definition der jeweiligen Störung zu geben, und eine mögliche Therapie der individuellen Situation anzupassen.
4.2.1 Blasen- und Sphinkterfunktionsstörungen
Blasen- und Sphinkterfunktionsstörungen können Symptome neurologischer oder urologischer Erkrankungen sein, wobei die Möglichkeiten der Klassifikation je nach Fragestellung symptomatisch, neurologisch oder funktionell-urodynamisch ausgerichtet sein können. Besonders zur neurourologischen Klassifikation neurogener Blasenfunktionsstörungen dient die Einteilungen nach Bors und Comarr (1971) [4]. Grundlage dieser neurologisch ausgerichteten Klassifikation ist die anatomische Lokalisation der neurologischen Schädigung (infranukleär/supranukleär), die Qualifikation (sensorisch/motorisch) und die Quantifikation (komplett/inkomplett). Zusätzliches Kriterium ist die Effektivität der Blasenentleerung (balanciert/unbalanciert), wobei zwischen restharnfreier bzw. restharnarmer Miktion und Restharnmengen größer 10–20% differenziert wird (⊡ Tab. 4.1).
⊡ Tab. 4.1. Klassifikation der neurogenen Blasendysfunktion (Nach Bors u. Comarr [4]) Läsion des sensorischen Neurons:
Inkomplett, balanciert Komplett, unbalanciert
Läsion des motorischen Neurons:
Balanciert Unbalanciert
Läsion des sensomotorischen Neurons: Oberes motorisches Neuron
Komplett – inkomplett
Unteres motorisches Neuron
Balanciert – unbalanciert
Gemischte Läsion:
4.1.5 Diagnosen Definitive Diagnosen ergeben sich erst aus der Erfassung der Symptome (Anamnese), der klinischen Untersuchung und der urodynamischen Untersuchung bzw. der Feststellung anderer Pathologien wie Harnwegsinfekt oder Prostatahyperplasie.
Oberes somatomotorisches Neuron – unteres viszeromotorisches Neuron Unteres somatomotorisches Neuron – oberes viszeromotorisches Neuron Normales somatomotorisches Neuron – unteres viszeromotorisches Neuron
4
40
4
Teil I · Grundlagen
Die große Anzahl unterschiedlicher Kategorien in der Klassifikation von Bors und Comarr wird in der neurotopographischen Klassifikation von Hald und Bradley (1982) [7] wesentlich vereinfacht: ▬ Supraspinale Läsion ▬ Suprasakrale Läsion ▬ Infrasakrale Läsion ▬ Periphere autonome Läsion ▬ Muskuläre Läsion Die Klassifikation nach Gibbon (1976) [6] beschränkt sich ebenfalls auf die anatomische Lokalisation der Schädigung sowie die Qualität der neurologischen Ausfälle: ▬ Suprasakrale Läsion ▬ Sakrale Läsion ▬ Motorisch, sensorisch oder sensomotorisch ▬ Gemischte Läsion Ein weiteres Kriterium in der Beurteilung neurogener Blasenfunktionsstörungen basiert auf dem von Bradley entwickelten Konzept der vier unterschiedlichen Funktionskreise der Blasenfunktion. Sie beinhalten eine über die Anatomie hinausgehende physiologische Betrachtungsweise der Blasenfunktion, was in der Interpretation der einzelnen, teils sehr komplexen Störungen hilfreich sein kann [5]. Klassifikationen, die auf urodynamischen Befunden basieren, erhöhen die Genauigkeit neurourologischer Klassifikationssysteme. Lapides unterteilt in seiner neurologisch-funktionellen Klassifikation fünf Typen neurogener Blasenfunktionsstörungen, die aufgrund von Symptomätiologie, urodynamischen und klinischen Parametern charakterisiert werden und ätiologisch definierten neurologischen Läsionstypen zugeordnet sind [10]: ▬ Sensorisch neurogene Blase ▬ Ungehemmte neurogene Blase ▬ Motorisch-paralytische Blase ▬ Neurogene Reflexblase ▬ Autonome neurogene Blase Das funktionell-urodynamische Klassifikationssystem nach Krane und Siroky beschreibt ausschließlich die Funktionsstörung des unteren Harntraktes mit Hilfe einer detaillierten urodynamischen Abklärung, bei der auf die Beurteilung der Miktionsphase ebenso verzichtet wird wie auf die Berücksichtigung der Symptome. Hierbei wird der jeweiligen Funktionsstörung des Detrusors eine korrespondierende Sphinkterfunktionsstörung zugeordnet [9]: Detrusorareflexie ▬ Koordinierte Sphinkteren ▬ Nicht relaxierender quergestreifter Sphinkter ▬ Denervierter quergestreifter Sphinkter ▬ Nicht relaxierender glatter Sphinkter
Detrusorhyperreflexie ▬ Koordinierte Sphinkteren ▬ Dyssynergie des quergestreiften Sphinkters ▬ Dyssynergie des glatten Sphinkters Die urodynamische Einteilung der Blasensphinkterreaktion nach Madersbacher differenziert jeweils zwischen einem spastischen und schlaffen Detrusor sowie Sphinkter. Hieraus resultieren vier Reaktionstypen, von denen sich individuelle Therapiekonzepte ableiten lassen [11]. Funktionell orientierte Klassifikationen, die auf der Beurteilung von Speicher- und Entleerungsverhalten des unteren Harntraktes basieren, sind populär. Die Klassifikation nach Wein (1998) [19] unterscheidet in Störungen der Speicher- und Entleerungsphase aufgrund von Blasen- oder Blasenauslassproblemen. Die International Continence Society (ICS) beschreibt ebenfalls ein funktionell orientiertes Klassifikationssystem, das nach pathophysiologischen Kriterien jeweils getrennt Sensibilität und Motorik von Detrusor und Urethra nach Normal-, Über- und Unterfunktion einteilt [1, 3]:
Speicherphase
Miktionsphase
Blasenfunktion Detrusoraktivität Normal/stabil Hyperaktiv: instabil Hyperreflexiv
Normal Hypoaktiv Akontraktil
Blasensensitivität Normal Erhöht/hypersensitiv Reduziert/hyposensitiv Fehlend Blasenkapazität Normal Hoch Niedrig Compliance Normal Hoch Niedrig Urethrale Funktion Normal Inkompetent
Normal Obstruktiv: Hyperaktiv Mechanisch
Eine nach pathophysiologisch-urodynamischen Kriterien ausgerichtete Klassifikation unterscheidet Störungen der Blasenspeicherung von denen der Blasenentleerung. Differenziert wird hierbei nach Beteiligung von Detrusor und
41 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
Blasenauslass unabhängig davon, ob es sich um eine neurogene oder nicht neurogene Störung handelt [8, 15, 16]. Im klinischen Alltag hat sich zur Beurteilung urodynamischer Befunde vor dem Hintergrund pathophysiologischer Kriterien die universelle Klassifikation von Thüroff bewährt, obwohl sie bei komplexen neurogenen Läsionen in ihrer Anwendbarkeit eingeschränkt ist, da sich oftmals keine klare Grenze zwischen den einzelnen Störungen erkennen lässt. Aufgrund der neuen Terminologie der International Continence Society (ICS) [2] wurde es erforderlich, diese Klassifikation zu modifizieren, um Funktionsstörungen des unteren Harntraktes hinreichend genau beschreiben zu können. Der Arbeitskreis Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau legt dabei auch weiterhin pathophysiologisch-urodynamische Kriterien zugrunde, die der Tatsache Rechnung tragen, dass sich eine Störung der Speicher- oder Entleerungsfunktion in unterschiedlicher Symptomatik äußert und urodynamisch zu differenzieren sein sollte (⊡ Tab. 4.2).
4.2.2 Neue Klassifikation der Harninkontinenz
Die Harninkontinenz wird aufgrund der Empfehlungen der ICS [2] nach symptomatischen und klinischen Kriterien sowie urodynamischen Gesichtspunkten in unterschiedliche Kategorien unterteilt. Unter Berücksichtigung der neuen Terminologie der ICS ergeben sich folgende Typen der Harninkontinenz:
Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz) Die Belastungsinkontinenz hat als Symptom den Harnverlust während körperlicher Anstrengung, ohne Harndrang zu verspüren. Der korrelierende klinische Befund ist der Harnverlust aus der Harnröhre synchron zu physischer An-
strengung. Durch die urodynamische Untersuchung wird sichergestellt, dass Belastungsinkontinenz Harnverlust bei erhöhtem Abdominaldruck in Abwesenheit jeglicher Detrusorkontraktionen bedeutet. Führen die Hustenstöße während der Füllungszystometrie zum synchronen Harnverlust (positiver Hustentest während der Füllungszystometrie), spricht man von einer urodynamischen Belastungsinkontinenz.
Dranginkontinenz Das Symptom der Dranginkontinenz wird durch unwillkürlichen Harnverlust charakterisiert, der von imperativem Harndrang begleitet ist oder diesem folgt. Dabei kann es zum Verlust kleiner Urinportionen zwischen den einzelnen Miktionen oder zur kompletten Blasenentleerung kommen. Das Syndrom der überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) beinhaltet Pollakisurie, Nykturie und Harndrang und kann mit Harninkontinenz einhergehen. Bei der urodynamischen Untersuchung sind verfrühter erster Harndrang, imperativer Harndrang und Detrusorhyperaktivität charakteristische Befunde. Die Detrusorhyperaktivität ist durch spontane oder provozierte unwillkürliche Detrusorkontraktionen während der Füllphase gekennzeichnet. Dabei wird die phasische von der terminalen Detrusorhyperaktivität unterschieden, wobei Letztere meist zu einer nicht unterdrückbaren Miktion führt. Kommt es aufgrund der Detrusorhyperaktivität zum Urinverlust, wird diese Form als Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz bezeichnet. Die durch die urodynamische Untersuchung nachgewiesene Detrusorhyperaktivität kann je nach Ursache in eine neurogene oder nichtneurogene (idiopathische) Detrusorhyperaktivität unterteilt werden. Der nichtneurogenen Detrusorhyperaktivität liegt keine definierte Ursache zugrunde. Hierdurch soll der alte Begriff Detrusorinstabilität ersetzt werden. Der bei
⊡ Tab. 4.2. Vom AK Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau modifizierte pathophysiologische Klassifikation von Blasenund Sphinkterfunktionsstörungen (Nach Thüroff mit neuer ICS-Terminologie 2002) Speicherstörung Detrusorfunktion Detrusorhyperaktivität Neurogen Nichtneurogen (idiopathisch) Compliance erniedrigt Harnröhrenfunktion Insuffizienter Harnröhrenverschlussmechanismus Hypotone Urethra Hyporeaktivität der Sphinktermuskulatur Harnröhrenrelaxierung (unwillkürlich)
Sensitivität Hypersensitivität der Blase a
= Nicht im Konsens mit der ICS
Entleerungsstörung Detrusorhypokontraktilität/ Detrusorakontraktilität Myogen Neurogen Psychogen Blasenauslassobstruktion Mechanisch Funktionell Detrusorblasenhalsdyskoordinationa Detrusorsphinkterdyskoordinationa (nichtrelaxierende Sphinkterobstruktion) Detrusorsphinkterdyssynergie (neurogen)a Hyposensitivität/Asensitivität der Blase
4
42
4
Teil I · Grundlagen
dieser Form auftretende Urinverlust wird als nichtneu-
Harninkontinez bei Harnröhrenrelaxierung
rogene Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz
Diese Form der Harninkontinenz wird neuerdings von der ICS als Harnverlust definiert, der durch Harnröhrenrelaxierung während der Füllphase ohne Anstieg des Abdominaldrucks oder Nachweis einer Detrusorhyperaktivität auftritt. Dieser Begriff ersetzt den alten Begriff der instabilen Harnröhre. Eine derartige Befundkonstellation stellt eine sehr seltene Situation dar und bedarf weiterer wissenschaftlicher Abklärung.
bezeichnet. Eine Sonderform dieser Gruppe stellen situationsabhängige Ereignisse des Urinverlustes dar, die z. B. während des Geschlechtsverkehrs auftreten oder als »GiggleInkontinenz« bekannt sind. Die symptomatische Dranginkontinenz, bei der die urologische Diagnostik konkrete Ursachen wie chronischen Harnwegsinfekt, infravesikale Obstruktion, Blasenstein, Blasentumor etc. ergibt, bedarf der gezielten Behandlung dieser Ursachen und stellt daher keine Form der Dranginkontinenz dar.
Nichtkategorisierbare Harninkontinenz Hierunter wird der unwillkürlich beobachtete Harnverlust verstanden, der keiner der Kategorien auf der Basis Symptomatik und klinische Zeichen zuzuordnen ist.
Mischharninkontinenz Bei dieser Form handelt es sich um einen unwillkürlichen Urinverlust, der einerseits mit imperativen Harndrang und andererseits mit körperlicher Belastung, Niesen oder Husten assoziiert ist.
Enuresis
Neurogene Detrusohyperaktivität mit Harninkontinenz
4.3
Bei der urodynamisch verifizierten neurogenen Detrusorhyperaktivität (s. o.) findet sich immer ein neurologisches Korrelat. Der hierbei auftretende Harnverlust wird als neurogene Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz bezeichnet und soll den alten Begriff der Reflexinkontinenz ersetzen.
Funktionsstörungen des unteren Harntraktes lassen sich nach pathophysiologisch-urodynamischen Kriterien in Speicher- und Entleerungsstörungen unterscheiden (s. o.). Differenziert wird hierbei jeweils nach Störungen von Detrusor und Blasenauslass [8, 15, 16].
Diese Definition ist rein symptomatisch und beschreibt die Blasenentleerung während des Schlafs (ausschließlich Belastungs- und Dranginkontinenz).
Pathophysiologie der Funktionsstörungen
4.3.1 Speicherstörungen der Harnblase
Chronische Harnretention mit Harninkontinenz Die chronische Harnretention beschreibt einen Zustand, der durch eine nicht schmerzhafte Blase mit reichlich Restharn charakterisiert ist. Patienten mit dieser Problematik können inkontinent sein. Der auftretende Harnverlust wird dann als chronische Harnretention mit Harninkontinenz bezeichnet und ersetzt den früheren Begriff der Überlaufinkontinenz.
Extraurethrale Harninkontinenz Das Symptom des kontinuierlichen Harnverlustes weist auf diese Form der Harninkontinenz hin. Klinisch versteht man unter der extraurethralen Harninkontinenz den objektivierbaren Urinverlust, der nicht aus der Urethra, sondern aus anderen Öffnungen kommt.
Sonderformen Aufgrund der neuen Definitionen der ICS ergeben sich zusätzliche Sonderformen der Harninkontinenz, die nicht in die aufgeführten Kategorien einzuordnen sind.
Das Kardinalsymptom der Speicherstörung ist die Harninkontinenz. Harninkontinenz bedeutet unfreiwilliger Urinverlust, der objektiv nachweisbar ist. Speicherstörungen der Harnblase umfassen neurogene und nichtneurogene (idiopathische) Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz sowie Inkontinenz bei insuffizientem Harnröhrenverschlussmechanismus aufgrund einer verminderten Drucktransmission (aktiv-passiv), einer hypotonen Urethra, einer Hyporeaktivität der Sphinktermuskulatur oder einer unwillkürlichen Harnröhrenrelaxierung.
Blasenhypersensitivität Die Blasenhypersensitivität basiert auf einer vermehrten Anflutung sensorischer Reize (verstärkte Afferentierung) bzw. einer erniedrigten Reizschwelle der Blase. Typischerweise kommt es dabei zu keiner gleichzeitigen Detrusorhyperaktivität. Folge ist das Symptom einer gesteigerten Blasenempfindung, die urodynamische Folge ist ein verfrühter erster Harndrang und eine verminderte
43 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
zystometrische Blasenkapazität, woraus eine Pollakisurie resultiert [17]. Eine tags und nachts gleich stark ausgeprägte Symptomatik deutet auf eine somatische Ursache hin. Hier kommen neben entzündlichen Blasenerkrankungen auch eine interstitielle Zystitis oder Radiozystitis sowie ein Carcinoma in situ in Betracht. Speziell beim postmenopausalen Östrogenmangel kann es durch Schleimhautatrophie zur Hypersensitivität der Harnröhrenschleimhaut kommen. Eine überwiegende Tagessymptomatik kann auf eine psychogene Ätiologie hinweisen [18].
100
Rektum cm H2O
50 0
100 Blase cm H2O 50 0 100 Detrusor cm H2O
Detrusorhyperaktivität Die durch die urodynamische Untersuchung nachgewiesene Detrusorhyperaktivität kann je nach Ursache in eine neurogene oder nichtneurogene (idiopathische) Detrusorhyperaktivität unterteilt werden. Der nichtneurogenen Detrusorhyperaktivität liegt keine definierte Ursache zugrunde. Pathophysiologisch kommt es zur Detrusorhyperaktivität, wenn ein Missverhältnis zwischen Stärke der afferenten Impulse und der zentralen Hemmung des Miktionsreflexes besteht. Drei Formen können unterschieden werden: ▬ Ein Defizit der zentral nervösen Hemmung auf den Miktionsreflex kann bei neurologischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems bzw. bei jeder Form der Hirnleistungsstörung entstehen und zu einer neurogenen Detrusorhyperaktivität führen. Während bei der zerebral enthemmten Blase die Schädigung hemmender suprapontiner Kerne der Blasenkontrolle hierfür verantwortlich ist, kommt es bei der suprasakralen Rückenmarksläsion zur Ausbildung pathologischer segmentaler spinaler Reflexbögen infolge der Unterbrechung hemmender suprasegmentaler spinaler Bahnen. ▬ Eine gesteigerte Erregbarkeit des Detrusor kann zu einer nicht neurogenen Detrusorhyperaktivität führen und kann durch anatomische oder funktionelle Veränderungen im Detrusor selbst verursacht werden. ▬ Vermehrte afferente Impulse können durch Reizzustände an Blase und Harnröhre ohne erkennbare Pathologien zu einem Missverhältnis von stimulierenden und hemmenden Impulsen und somit zur Detrusorhyperaktivität führen (⊡ Abb. 4.1).
Insuffizienter Harnröhrenverschlussmechanismus Für die Speicherfunktion der Harnblase ist der Verschlussmechanismus der Harnröhre von primärer Bedeutung. Es gilt allgemein als akzeptiert, dass als Grundlage der Harnkontinenz eine intakte quergestreifte Muskulatur des Beckenbodens, eine ungestörte Innervation und ein funktionstüchtiger Bandapparat anzusehen sind.
50 0 50
Flow ml/s
25 0 900 600
Volumen ml
300 0 EMG
1. Harndrang 70 ml
imperativer Harndrang 220 ml
⊡ Abb. 4.1. Urodynamik bei Detrusorhyperaktivität
Diese anatomischen Strukturen weisen eine spezielle Wirkung am Blasenhals und der proximalen Urethra sowie an der Muskulatur von quergestreiftem Sphinkter und periurethralem Gewebe auf. Letztlich ist die Kontinenz durch das Zusammenspiel dieser einzelnen anatomischen Strukturen gewährleistet, wobei dieses funktionelle Zusammenspiel in funktionelle Komponenten des Harnröhrenverschlussmechanismus gegliedert werden kann. Die Komponenten des Harnröhrenverschlusses sind: ▬ Harnröhrentonus ▬ Drucktransmission auf Blasenhals und proximale Urethra (passive Drucktransmission) ▬ Kontraktion der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur (aktive Drucktransmission) Ursachen eines insuffizienten Harnröhrenverschlussmechanismus resultieren aus Defekten der drei geschilderten Komponenten, wobei einzelne Defekte oder eine Kombination hierfür verantwortlich sein können. Generell kann
4
44
Teil I · Grundlagen
zwischen mechanischen und funktionellen Ursachen unterschieden werden.
Mechanische Ursachen
4
Ein defekter Aufhängeapparat von Blasenhals, Harnröhre und Vagina führt zu einer Situsveränderung durch Hypermobilität der Urethra, wodurch sich die passive Drucktransmission reduziert und eine Belastungsinkontinenz die Folge sein kann. Dieser Defekt kann lediglich den bindegewebigen Aufhängeapparat der Harnröhre am Schambein oder den der Vagina betreffen und zum vertikalen Deszensus mit und ohne Blasenhalsinsuffizienz führen. Er kann sich aber auch auf weitere Bereiche des kleinen Beckens erstrecken, woraus dann meist ein rotatorischer Deszensus entsteht. Hierbei spielen die konstitutionellen Bindegewebsverhältnisse eine maßgebliche Rolle.
150 Urethra cm H2O
Funktionelle Ursachen Die funktionellen Ursachen der Belastungsinkontinenz müssen einerseits nach den intrinsischen Qualitäten der Harnröhre und andererseits nach der Leistung der Sphinkter-Beckenboden-Muskulatur differenziert werden. ▬ Hypotone Harnröhre: Die Harnröhrenhypotonie ist durch einen verminderten Harnröhrenverschlussdruck in Ruhe charakterisiert. Hierbei kann zwischen einer wandstarren oder einer funktionell schlaffen Harnröhre differenziert werden. Bei einer funktionell schlaffen Harnröhre besteht häufig ein Defizit an alphaadrenerger Stimulation über das sympathische Nervensystem, entweder konstitutionell bedingt oder verursacht durch Operationen im kleinen Becken wie z. B. die vordere Kolporrhaphie. Besonders bei neurologischen Erkrankungen ist diese Störung als
150 Urethra cm H2O
75
75
0
0
-75
-75
150 Blase cm H2O
150 Blase cm H2O
75
75
0
0
-75
-75
150
Urethraverschlußdruck cm H2O
150
75
75
0
0
-75
-75
Urethralänge cm
Urethralänge cm
a
0
Urethraverschlußdruck cm H2O
1
2
3
4
b
0
1
2
3
4
⊡ Abb. 4.2. Urethradruckprofil bei Belastungsinkontinenz infolge hypotoner Urethra. a Ruhedruckprofil mit hypotoner Urethra. b Stressdruckprofil mit guter Drucktransmission beim Husten aber mit negativem Druckgradienten
4
45 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
Ursache einer Belastungsinkontinenz hinreichend bekannt. Bei der Harnröhrenhypotonie aufgrund einer wandstarren Veränderung der Harnröhre können Traumata im Becken, Bestrahlung des kleinen Beckens mit ausgedehnter Fibrosierung, Tumorchirurgie im kleinen Becken sowie mehrfach durchgeführte Otisurethrotomien Ursache sein. Insbesondere in Kombination mit anderen Ursachen der Belastungsinkontinenz stellt diese Form einen für eine erfolgreiche Therapie erschwerenden Faktor dar (⊡ Abb. 4.2). ▬ Hyporeaktivität der Sphinktermuskulatur: Bei der Hyporeaktivität der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur kommt es unter körperlicher Belastung oder Husten, Niesen, Lachen etc. zu einer verminderten reflektorischen Kontraktionsleistung dieser muskulären Komponenten. Daraus resul-
150 Urethra cm H2O
tiert eine verminderte aktive Drucktransmission auf die Harnröhre mit einem verminderten intraurethralen Druckaufbau. Die Ursache für diese Störung kann in einer Inaktivitätsatrophie liegen, wobei es die Patientinnen verlernt haben, bei diversen Belastungen des täglichen Lebens adäquate Beckenbodenkontraktionen durchzuführen. Diesen Patientinnen sind die entsprechenden Muskelgruppen in ihrem Bewusstsein nicht mehr präsent. Weitere Ursachen können in einer Läsion der Beckenbodenmuskulatur selbst oder des N. pudendus liegen. Bei Letzterer kann es nach geburtstraumatischen Schädigungen zu einer abgeschwächten bzw. verzögerten Reizübermittlung kommen, die mit einer reduzierten Reflexantwort einhergeht (⊡ Abb. 4.3). ▬ Unwillkürliche Harnröhrenrelaxierung: Bei der Harnröhrenrelaxierung handelt es sich um eine Funk-
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75
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⊡ Abb. 4.3. Urethradruckprofil bei Belastungsinkontinenz infolge Hyporeaktivität der Sphinktermuskulatur. a Ruhedruckprofil mit normalem Urethraverschlussdruck. b Stressdruckprofil mit reduzierter Drucktransmission im mittleren Harnröhrendrittel beim Husten und mit negativem Druckgradienten
46
Teil I · Grundlagen
tionsstörung, deren Pathophysiologie bisher nur ungenügend geklärt ist. Klinisch kommt es während der Füllphase der Harnblase durch Relaxierung der Urethra zum Urinverlust, der weder durch eine Detrusorhyperaktivität noch durch einen erhöhten intraabdominellen Druck zu erklären ist. Ein derartiger Befund stellt eine sehr seltene Situation dar und bedarf weiterer wissenschaftlicher Abklärung.
4
Einteilung in Kategorien Kategorien nach Stamey Der klinische Schweregrad einer Belastungsinkontinenz wird anamnestisch nach Stamey in drei Kategorien unterteilt [14]: ▬ Grad 1: Harnverlust bei Husten, Niesen, Pressen und schweren Heben ▬ Grad 2: Harnverlust beim Gehen, Bewegen, Aufstehen ▬ Grad 3: Harnverlust auch im Liegen
Kategorien nach McGuire In der Kombination aus urodynamischen und morphologischen Parametern unterscheidet McGuire drei verschiedene Typen der Harninkontinenz [12], die allerdings aufgrund messtechnischer Schwierigkeiten nicht vom AK Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau empfohlen werden: ▬ Typ 1: Proximaler Harnröhrenverschlussdruck: >10 cm H2O, Harninkontinenz bei geringem Deszensus (geringe Hypermobilität der Urethra) ▬ Typ 2: Proximaler Harnröhrenverschlussdruck: >10 cm H2O, Harninkontinenz bei starkem Deszensus (ausgeprägte Hypermobilität der Urethra) ▬ Typ 3: Proximaler Harnröhrenverschlussdruck: >10 cm H2O, Harninkontinenz auch ohne Deszensus bei funktionslos offenem Blasenhals (hypotone Harnröhre/Blasenhalsinsuffizienz).
ICS-Kriterien Die Menge des Harnverlustes wird nach ICS-Kriterien durch den Vorlagentest (Pad-Test) nach Hahn und Fall objektiviert und in vier Kategorien eingeteilt: ▬ Grad 1: Harnverlust bis 2 ml, ▬ Grad 2: Harnverlust 2–10 ml, ▬ Grad 3: Harnverlust 10–50 ml, ▬ Grad 4: Harnverlust über 50 ml. 4.3.2 Entleerungsstörungen der Harnblase
Eine gestörte Blasenentleerung ist entweder durch eine gestörte Detrusorfunktion oder durch eine mechanische bzw. funktionelle Obstruktion bedigt.
Hyposensitivität und Asensitivität der Harnblase Bei der hyposensitiven Blase kommt es aufgrund einer sensorischen Läsion im Rahmen einer peripheren Neuropathie oder Läsionen der Spinalnerven, Hinterwurzeln bzw. Spinalganglien oder Hinterstrangbahnen unabhängig von der motorischen Innervation zum Nachlassen von Blasenfüllungsgefühl und Harndrang. Solange noch Harndrang verspürt wird, kann die Miktion willkürlich gesteuert werden. Bei der asensitiven Blase fehlt jede Form der Wahrnehmung des Füllungszustandes der Harnblase. Die reduzierte bzw. fehlende Wahrnehmung der sensorischen Signale des Füllungszustandes führt zwangsläufig zur Verlängerung der Miktionsintervalle und zur Vergrößerung der Blasenkapazität. Im weiteren Krankheitsverlauf kann es schließlich zur Restharnbildung aufgrund einer myogenen Dekompensation oder progredienten neurologischen Erkrankung mit zusätzlicher Läsion der viszeromotorischen Efferenzen kommen (s. u. Detrusorhypokontraktilität/ akontraktiler Detrusor). Eine Ursache dieses Krankheitsbildes ist die periphere Polyneuropathie, z. B. bei Diabetes mellitus, Alkoholismus, Urämie oder Vergiftungen mit Schwermetallen. Eine entzündliche Ätiologie kann bei einer Infektion mit Herpes zoster aufgrund einer segmentalen hämorrhagisch-nekrotisierenden Ganglionitis im Bereich des sakralen Miktionszentrums oder im Quarternärstadium einer Lues mit Tabes dorsalis und progressiver Paralyse bei progredienter entzündlicher Degeneration von Hinterwurzeln und Hintersträngen des Rückenmarks vorliegen. Dem Guillain-Barré-Syndrom kommt ebenfalls ätiologisch eine gewisse Bedeutung zu, da es hierbei aufgrund einer idiopathischen Polyneuritis im Endoneurium zur Läsion von Vorder- aber auch Hinterwurzeln kommen kann.
Detrusorhypokontraktilität, Detrusorakontraktilität Die Detrusorhypokontraktilität ist durch eine unzureichende Stärke bzw. Dauer der Detrusorkontraktion während der Miktion gekennzeichnet, die zu einer unvollständigen Blasenentleerung führt. Es resultiert Restharnbildung bis hin zur chronischen Harnretention mit Harninkontinenz, wobei das Füllungsvolumen die maximale Blasenkapazität übertrifft. Bei der Detrusorakontraktilität kann keine Detrusorkontraktion ausgelöst werden und die Miktion erfolgt nur durch den Einsatz der Bauchpresse. Der fehlende Nachweis einer Detrusorkontraktion unter Messbedingungen beweist alleine allerdings keine Detrusorakontraktilität. Der Detrusorhypoaktivität liegen myogene, neurogene oder psychogene Ursachen zugrunde.
47 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
Bei den myogenen Formen kommt es durch glattmuskuläre Degeneration und Schädigung des Muskelzellverbandes zu einer Störung der myogenen Erregungsübertragung, was z. B. Folge einer infravesikalen Obstruktion sein kann. Den neurogenen Formen liegt eine Schädigung der parasympathischen motorischen Innervation im Sinne einer Läsion des unteren motorischen Neurons zugrunde. Die motorischen Efferenzen können hierbei auf Höhe der peripheren Nerven, der Vorderwurzeln oder Spinalnerven (Kaudasyndrom) oder des sakralen Miktionszentrums (Konussyndrom) betroffen sein. Ursächlich für Kaudakonusveränderungen sind daher sämtliche Läsionen oder Erkrankungen des sakralen Rückenmarks, der Spinalnerven oder der peripheren autonomen Nerven, in denen motorische Efferenzen der Harnblase geleitet werden. Prototypen dieser Erkrankung sind Querschnittsläsionen im Bereich der thorakolumbalen Wirbelsäule oder ein lumbaler medianer Diskusprolaps, wobei auch degenerative, vaskuläre, tumoröse oder entzündliche Erkrankungen des Spinalmarks derartige Veränderungen in diesem Bereich auslösen können. Besonders Virusinfektionen wie Herpes zoster oder Borreliose können Ursache einer neurogenen Detrusorhypoaktivität sein. Die ausgedehnte Chirurgie im kleinen Becken z. B. bei abdominosakraler Rektumamputation oder radikalen gynäkologischen Eingriffen (Wertheim-Meigs-Operation) kann ebenfalls zu neurogenen Läsionen mit Schädigung des Plexus pelvicus führen, woraus eine Detrusorhypoaktivität resultieren kann. Der dorsoventrale Verlauf des autonomen Nervengeflechts im Bindegewebe des Beckens vom Sakrum entlang des Rektums und des Uterus zur Blase erklärt dieses Risiko. Postpartale Blasenentleerungsstörungen aufgrund von Druck- oder Dehnungsbelastung des Plexus pelvicus haben bei einer reversiblen Neuropraxie in der Regel eine gute Prognose. Zur genauen Differenzierung dieser teils komplexen Störungen ist eine videourodynamische Diagnostik zwingend erforderlich (⊡ Abb. 4.4).
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EMG
willkürliche Miktionseinleitung durch Bauchpresse
⊡ Abb. 4.4. Urodynamik bei Detrusorakontraktilität
Mechanische Obstruktionen Mechanische infravesikale Obstruktionen können als
Störungen der Blasenauslassfunktion Bei einer Störung der Blasenauslassfunktion liegt eine pathologische Harnröhrenfunktion während der Miktion vor. Die resultierende Obstruktion kann dabei entweder funktionell durch eine neuromuskulär bedingte hyperaktive Harnröhrenfunktion oder mechanisch durch eine ungenügende Harnröhrenöffnung bei anatomischen Abnormalitäten bedingt sein [2]. Die Obstruktion ist dabei durch einen erhöhten Detrusordruck und einen reduzierten Harnfluss gekennzeichnet, was urodynamisch in einer pathologischen Druckflussmessung Ausdruck findet.
starre oder elastische Einengungen des Harnröhrenlumens imponieren. Die starre Einengung der Harnröhre bedingt eine konstriktive Obstruktion, deren Prototyp eine Harnröhrenstriktur ist [13]. Die elastische Einengung bedingt eine kompressive Obstruktion, wie sie z. B. bei einer benignen Prostatavergrößerung vorkommt (⊡ Abb. 4.5).
Funktionelle Obstruktionen Funktionelle infravesikale Obstruktionen können im
Bereich des Blasenhalses oder des quergestreiften urethralen Sphinkters auftreten, wobei sie mit und ohne neurologisches Korrelat einhergehen können.
4
48
Teil I · Grundlagen
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Flow ml/s
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EMG
EMG
willkürliche Miktionseinleitung
⊡ Abb. 4.5. Druck-Fluss-Messung bei mechanischer infravesikaler Obstruktion
▬ Detrusor-Blasenhals-Dyskoordination: Der sehr seltene Befund einer Detrusor-Blasenhals-Dyskoordination kommt in der Regel ohne eine neurologische Grunderkrankung vor. Hierbei fehlt die trichterförmige Öffnung des Blasenhalses während der Miktion. Die Dyskoordination tritt zwischen Detrusor und sympathisch innerviertem Blasenauslass auf, weswegen diese Form auch als autonome Dyssynergie bezeichnet wurde. Urodynamisch resultiert in der Druckflussmessung bei relaxiertem Beckenboden ein für den Miktionsdruck abgeschwächter Harnstrahl. ▬ Detrusorsphinkterdyssynergie: Diese funktionelle infravesikale Obstruktion des quergestreiften urethralen Sphinkters entsteht auf dem Boden einer neurologischen Grunderkrankung oder einer Läsion des suprasakralen Rückenmarks, die die Bahnen von Blasen- und Sphinkterkontrolle betreffen. Es resultiert eine Entkopplung des sakralen Miktionszentrums vom pontinen Koordinationszentrum für Detrusor und Sphinkter. Die Fehlsteuerung tritt primär zwischen Detrusor und somatisch innerviertem Beckenboden auf, weswegen diese Form auch als somatische Dyssynergie bezeichnet wurde. Urodynamisch zeigt
willkürliche Miktionseinleitung
⊡ Abb. 4.6. Druck-Fluss-Messung bei Detrusorsphinkterdyssynergie
sich simultan zur Detrusorkontraktion eine unwillkürliche Kontraktion der urethralen bzw. periurethralen quergestreiften Muskulatur mit entsprechender Aktivitätssteigerung im Beckenboden-EMG. Die proximale Urethra imponiert radiologisch zwiebelförmig dilatiert (⊡ Abb. 4.6).
▬ Detrusorsphinkterdyskoordination (nichtrelaxierende Sphinkterobstruktion): Diese funktionelle Veränderung entspricht klinisch und urodynamisch der zuvor beschriebenen Dyssynergie zwischen Detrusor und Sphinkter, wobei sich kein neurologisches Korrelat als Ursache nachweisen lässt. Diese Veränderung kommt auch im Kindesalter vor und entspricht dem alten Begriff der dysfunktionellen Miktion.
Literatur 1. Abrams P, Blaivas JG, Stanton SL, Anderson JT (1990) The standardization of terminology of lower urinary tract function recommended by the International Continence Society. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 1: 45 2. Abrams P, Cardozo L, Fall M et al. (2002) The standardisation of terminology of lower urinary tract function: Report from the
49 Kapitel 4 · Funktionsstörungen des unteren Harntraktes
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4
5
Urodynamik der oberen Harnwege S. Alloussi, C. Hampel
5.1
Anatomie und Physiologie des oberen Harntraktes – 52
5.2
Urodynamik des oberen Harntraktes – 53
5.3
Pharmakologische Beeinflussung des oberen Harntraktes – 57 Literatur
– 58
52
Teil I · Grundlagen
5.1
5
Anatomie und Physiologie des oberen Harntraktes
Die oberen Harnwege umfassen Nierenkelche, Nierenbecken und Harnleiter. Der renal produzierte Harn wird im Nierenbecken gesammelt und über den Harnleiter in die Harnblase transportiert. Dort wird er gespeichert und bei einem bestimmten Volumen willkürlich entleert. Nierenkelche und Nierenbecken bilden ein Hohlsystem unterschiedlicher Form und Weite (durchschnittliches Nierenbeckenvolumen: 4–10 ml), dessen Wand aus Übergangsepithel (Urothel), glatter Muskulatur und adventitiellem Bindegewebe besteht. Es werden hauptsächlich zwei Extremtypen der Nierenkelchmorphologie unterschieden: der ampulläre und der dendritische Typ. Auch Übergangsformen können vorkommen. Das lockere Bindegewebe um das Nierenbecken und den Harnleiter besteht zu unterschiedlichen Anteilen aus Fettgewebe und elastischem Gewebe und ermöglicht bei unterschiedlicher Füllung eine Anpassung an die Umgebung. Die urotheliale Auskleidung des Hohlsystems verhindert die Resorption von Substanzen aus dem Harn und erlaubt je nach Bedarf schnelle, unterschiedliche Dehnungszustände des Hohlsystems. Man unterscheidet beim Urothel basale und intermittierende Zellen von den Deckzellen, die von basal nach superfiziell an Größe und Differenzierung zunehmen. Die Muskulatur bildet ein Geflecht aus longitudinal und zirkulär angeordneten Muskelzellbündeln. Sie sind an drei Wandstellen sphinkterartig verdickt: ▬ im Fornix jedes Kelches nahe der Papillenbasis als Sphincter fornicis ▬ am Übergang des kleinen Kelches in den großen Kelch als Sphincter calicis ▬ am Übergang des Nierenbeckens in den Harnleiter als Sphincter pelvicis Durch peristaltische Muskelbewegung wird der Harn in Schüben in das Nierenbecken befördert. Von dort gelangt der Harn mit schneller Bewegung in den Harnleiter. Die Füllung und Entleerung des Nierenbeckens kann röntgenologisch mit Hilfe von Kontrastmittel dargestellt werden (i.v.-Pyelogramm, Magnetresonanzurographie, retrograde Ureteropyelographie, Kontrastmittel über perkutane Nephrostomie). Die arterielle und venöse Versorgung des Nierenbeckens erfolgt über Äste der A. und V. renalis. Die Innervation des Nierenbeckens erfolgt parasympathisch und sympathisch aus dem Plexus renalis in der Nierenbeckenwand. Sensible Fasern stammen aus den sympathischen Nn. splanchnici. Der Ureter dient dem Harntransport aus dem Nierenbecken in die Harnblase und bildet entwicklungsgeschichtlich eine Einheit mit dem Nierenbecken. Er verläuft
als muskulärer Tubus von 3–6 mm Durchmesser und etwa 28–30 cm Länge nach dem Abgang vom Nierenbecken dorsal hinter den Blutgefäßen entlang des Musculus psoas abwärts, wobei er die Iliakalgefäße im mittleren Drittel kreuzt und nach dem dorsalen Eintritt in das kleine Becken von hinten zum Blasenfundus zieht. Beim Mann unterkreuzt der Harnleiter vor dem Eintritt in die Blase den Ductus deferens. Bei der Frau verläuft der Ureter zur Fossa ovarica, biegt in die Plica lata uteri um und gelangt nach Unterkreuzung der A. uterina seitlich am Scheidengewölbe vorbei zur Harnblase. Im Trigonum der Harnblase treten beide Harnleiter im Abstand von 3–5 cm in die Blasenwand ein und münden nach etwa 2 cm langem transmuralen Verlauf als Ostium in die Harnblase. Der transmurale Ureteranteil wird bei zunehmender Blasenfüllung mit konsekutivem Anstieg der Wandspannung komprimiert und wirkt dadurch einem Reflux entgegen. Die Harnleiterwand ist in Analogie zum Nierenbecken dreischichtig aufgebaut (Schleimhaut, Muskulatur und adventitielles Bindegewebe). Die längs verlaufenden Schleimhautfalten verleihen dem Lumen des Harnleiters im Querschnitt ein sternförmiges Aussehen. Die Muskulatur der Harnleiterwand besteht aus spiralförmig angeordneten glatten Muskelzügen mit unterschiedlicher Verlaufsrichtung und wechselndem Steigungswinkel und wird in zwei Lagen unterteilt – eine innere Längs- und eine äußere Ringmuskelschicht. Mit dem Eintritt des Harnleiters in die Blase schwinden die zirkulären Muskelfaserbündel des Ureters, während sich die longitudinalen Bündel bis zur Schleimhaut der Harnblase fortsetzen. Das adventitielle Bindegewebe des Harnleiters enthält in wechselnden Anteilen Fettgewebe, führt zahlreiche Gefäße und bildet eine geschlossene Bindegewebsscheide um den Harnleiter (Waldeyer-Scheide). Die Blutversorgung des Harnleiters erfolgt hauptsächlich über Rr. ureterici aus der A. renalis. Im Abdominalbereich können Äste aus der A. testicularis bzw. A. ovarica die Blutversorgung des Harnleiters übernehmen. Venöse Abflüsse münden in die entsprechenden Venen. Das lymphatische System des Harnleiters transportiert Gewebswasser zu den Nodi lymphatici lumbales an der Aorta abdominalis. Die nervale Versorgung des Harnleiters soll parasympathisch und sympathisch sein. Diese Fasern stammen aus dem Plexus uretericus und dem Plexus renalis sowie dem Plexus aorticus abdominalis. Die sensiblen Fasern des Harnleiters verlaufen in den Nn. splanchnici zum Rückenmark. Im Verlauf des Harnleiters können drei anatomische Ureterengen unterschieden werden, welche ein potentielles Passagehindernis für Harnleiterkonkremente darstellen. Die erste physiologische Enge liegt am pyeloureteralen Übergang, die zweite an der Kreuzungsstelle mit den Iliakalgefäßen und die dritte und hochgradigste im Bereich des transmuralen Blasendurchtritts.
53 Kapitel 5 · Urodynamik der oberen Harnwege
Aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen können zahlreiche Variabilitäten des Harnleiters vorkommen, die auf partielle oder totale Verdoppelung der Ureterknospen zurückzuführen sind. Zum Beispiel führt eine frühzeitige aber inkomplette Teilung der Ureterknospe zu einem gespaltenen Ureter (Ureter fissus) mit einem einzelnen Ostium, wohingegen im Fall eines echten doppelten Ureters (Ureter duplex) die beiden Harnleiter getrennt in die Blase einmünden (zwei Ostien). Ektope Harnleiter können in unterschiedliche Genitalorgane münden (bei dem Mann z. B. in Samenblase, Ductus ejaculatorius oder Ductus deferens, bei der Frau in Harnröhre, Scheide oder Uterus). Eine angeborene Erweiterung des gesamten Harnleiters mit Verdickung der Wand und zahlreichen Schlängelungen wird als Megaureter bezeichnet. Die Funktion des Nierenbeckens ist die Sammlung und Überleitung der kontinuierlich angefallenen Urinmengen in den Harnleiter. Diese Aufgabe erfordert die Organisation von rhythmischer Peristaltik der glatten Muskulatur der Nierenbeckenwand. Sie wird durch spontane Erregungsbildung der glatten Muskulatur hervorgerufen [5, 19]. Im Bereich der Nierenkelche sollen spezialisierte Muskelzellen vorhanden sein, welche die Schrittmacherfunktion für die Erregungsbildung übernehmen. Beim Menschen erfolgt 5 bis 7 mal pro Minute eine Muskeldepolarisation mit konsekutiver peristaltischer Welle. Die Erregung verläuft vom Kelch über das Nierenbecken bis zum Ureterabgang und setzt sich entlang des Harnleiters mit entsprechender Peristaltik fort [11]. Eine Modulation der Nierenbecken- und Harnleiterfunktion durch das autonome Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus) wird angenommen [3, 5, 16]. Demzufolge sollen alphaadrenerge Substanzen zu einer Erhöhung der Peristaltikfrequenz von Nierenbecken und Harnleiter führen. Vermutlich wirken betaadrenerge Substanzen inhibitorisch auf die Nierenbecken- und Harnleiterkontraktion [3, 5, 12]. Gleichwohl ist die Wirkung von cholinergen Substanzen auf das System aus Nierenbeckenkelch und Harnleiter nicht restlos aufgeklärt. Hannappel und Mitarbeiter schrieben 1982 [5] Azetylcholin eine aktivierende Wirkung auf die Kontraktion von Nierenbecken und Harnleiter zu, während Hertle 1986 [6, 7] und Weiss 1986 [19] diese Wirkung am oberen Harntrakt nicht nachvollziehen konnten. Neue Erkenntnisse über die Physiologie und Pathophysiologie des Harntransportes im oberen Harntrakt könnten dazu beitragen, moderne Behandlungskonzepte zu entwickeln.
5.2
Urodynamik des oberen Harntraktes
Die Entwicklung von Untersuchungsmethoden, welche den Kontraktionsablauf und Urintransport in Nierenbecken und Harnleiter sowie Messungen intraluminärer Drücke und Volumina im Nierenhohlsystem erlaubten,
führten zur intensiven Erforschung urodynamischer Aspekte des oberen Harntraktes, obwohl solche Untersuchungen aufgrund der Verfügbarkeit alternativer moderner Untersuchungsmethoden heute kritisch überdacht werden sollten. Bis heute wurden zahlreiche unterschiedliche Methoden zur Beurteilung der Harnwegsmotorik angewandt. Diese wurden mit klinischen Beobachtungen des oberen Harntraktes (intraoperative Befunde, röntgenologische Untersuchungen) kombiniert [2, 15]. Kiil gelang es 1957, die dynamische Funktion des oberen Harntraktes durch die Entwicklung der retrograden transvesikalen Ureterometrie zu untersuchen [9]. Sie ermöglichte eine Elektromanometrie über einen transurethral gelegten Ureterkatheter. Prinzipiell relativiert sich allerdings die Übertragbarkeit solcher Messergebnisse auf die normale Ureterfunktion durch den Messkatheter als systemimmanenten Störfaktor, da die Ureterperistaltik durch den endoluminalen Fremdkörper zwangsläufig unphysiologisch beeinflusst wird. Lutzeyer 1969 und Melchior 1980 entwickelten die Ureterometrie mittels simultaner intraureteraler Strömungsmessungen durch Thermoelemente [10, 13]. Hierfür waren zwei Ureterkatheter mit getrennten Sensoren – für Druck und Strömung – erforderlich, was ebenfalls eine erhebliche lokale Irritation des Hohlraumsystems mit unphysiologischen Zuständen hervorrief. Untersuchungen zu Kontraktionsabläufen und Urintransport des oberen Harntraktes lassen sich am besten am nicht gestauten Harntrakt durchführen. Eine Abflussstörung wie sie bei einem Harnleiterstein vorliegt, führt zu einem Druckanstieg im Nierenbecken proximal der Harnwegsobstruktion [8]. Bei komplettem Verschluss des Harnleiters kann es sogar zum völligen Verschwinden der Kontraktionswellen des Nierenbeckens und Ureters kommen [16]. Bei dem 1973 erstmals beschriebenen WhitakerTest werden entweder perkutan oder operativ transrenal Nephrostomiekatheter in das Nierenbeckensystem vorgeschoben, das dann kontinuierlich perfundiert wird (⊡ Abb. 5.1). Der intrapelvine Druck konnte in Abhängigkeit von der Perfusionsgeschwindigkeit kontinuierlich registriert werden. Als Normalwert wurde der komplette und unbehinderte Abfluss bei einem Volumendurchsatz von 10 ml pro Minute deklariert. Um eine Ureterperfusion von 10 ml/min aufrechtzuerhalten, müsste jede renale Einheit 14,4 l pro Tag ausscheiden, was einer unphysiologischen Menge entspricht und zu Zweifeln an der klinischen Relevanz des Whitaker-Tests geführt hat. Weiterhin widersprechen die unphysiologische Lagerung sowie weitere Untersuchungsbedingungen (monoluminaler Zugangsweg) einer hinreichend exakten quantitativen Messung. Somit war eine Einteilung der oberen
5
54
Teil I · Grundlagen
5
⊡ Abb. 5.1. Versuchsaufbau nach Whitaker [20]
⊡ Abb. 5.2. Klassifikation der oberen Harnabflussstörung nach Emmet 1964
Harnabflussstörung nicht möglich, gleichwohl diente der methodische Ansatz im Sinne einer qualitativen Messmethode in vielen Abteilungen im klinischen Alltag zur Beurteilung von Abflussverhältnissen nach Beseitigung einer Obstruktion vor Entfernung des Nephrostomiekatheters. Die bisherige von Emmet 1964 eingeführte Einteilung der oberen Harnabflussstörung nach urographisch-morphologischen Kriterien (⊡ Abb. 5.2) erlaubt ebenfalls nur eine qualitative Beurteilung des Harnabflusses. Hierbei
sind insbesondere Anlagevarianten mit ampullärem Nierenbecken, Kelchektasien oder relative Harnabflussstörungen nach zuvor chronischer Harnstauung mit konsekutiver Nierenbeckenkelchektasie schwierig zu beurteilen. Oftmals entscheiden die persönliche Interpretation des Geschehens und die Erfahrung des Operateurs über die Notwendigkeit einer Intervention. Die Entwicklung der perkutanen Punktionstechnik auch in Lokalanästhesie zur Entlastung gestauter Nieren erleichterte die Untersuchung von Harnabflussstörungen
55 Kapitel 5 · Urodynamik der oberen Harnwege
⊡ Abb. 5.3. Video-pelvimetrisches Setting mit doppelläufiger Nephrostomie beim Nullabgleich, Städt. Klinikum Neunkirchen gGmbH
⊡ Abb. 5.5. Freier Harnabfluss unter allen VFüll (Stadium 0)
⊡ Abb. 5.4. Schematische Darstellung der kombinierten Röntgen-VideoPelvimetrie: R = Röntgenröhre; BV = Bildverstärker; UD = kombiniertes urodynmaisches Untersuchungsgerät; PC = Computer; M = Monitor mit simultanem Röntgen-Video-Pelvimetriebild und den entsprechenden urodynamischen Parametern
des oberen Harntraktes. Unter zu Hilfenahme einer doppelläufigen Nephrostomie ist es im Vergleich zum monoluminalem Zugangsweg heute möglich den Perfusionsdruck durch Teilung in Perfusionskanal und Messkanal zu eliminieren. Im derzeitigen Setting erfolgt die Untersuchung im Sitzen (⊡ Abb. 5.3) und kann durch röntgenkombinierte Pelvimetrie (⊡ Abb. 5.4) sowohl urodynamische Parameter unter standardisierten Füllungsgeschwindigkeiten als auch morphologische Parameter (Abflussverhalten, Ureter/Nierenbecken/Nierenbeckenkelchektasie) sowie morphologisch-dynamische Parameter (Nierenbecken/ Ureterkontraktion) gleichzeitig erfassen. Durch diesen Messansatz konnte ein Ruhedruck im Nierenbecken von 15–25 cm H2O bestimmt werden. Während einer abdominellen Belastung (z. B. Husten) kommt es zum Druckanstieg durch Transmission im Nierenbecken.
Unter einer Füllungsgeschwindigkeit von VFüll = 2 ml/ min (entsprechen 2,8 l/Tag) kommt es bei gesunden Probanden zu keinem Druckanstieg im Nierenbecken, ebenso bei Steigerung der VFüll. Ein gesundes, im Abfluss ungestörtes Nierenbecken, gelingt es eine hohe Volumenbelastung zu verarbeiten (⊡ Abb. 5.5). Die hierbei röntgenologisch morphologisch und dynamisch unter Durchleuchtung zu beobachtende peristaltische Welle beginnend im Nierenbecken beweist den aktiven Harntransport aus dem Nierenbecken in den Ureter. Dies erfolgt durch isotone Kontraktion. Eine Steigerung des anfallenden Volumens wird durch Frequenzsteigerung der Peristaltik und durch ein höheres Bolusvolumen kompensiert (⊡ Abb. 5.6). Im Falle dekompensierender Harnabflussstörungen können darüber hinaus morphologische und dynamischeVeränderungen registriert werden (⊡ Abb. 5.7, ⊡ Abb. 5.8 u. ⊡ Tab. 5.1). Durch die Druck-Fluss-Untersuchung des oberen Harntraktes mit Kontrastmittel ist eine Unterscheidung zwischen kompensierter und dekompensierter Harnabflussstörung möglich. Die bisherige Untersuchungstechnik beschränkte sich aufgrund der klinischen Notwendigkeit auf das Nierenbecken als Messplatz. Weiterführende Untersuchungen mit Platzierung des Messkatheters im proximalen und mittleren Ureter lassen jedoch ein vollständig anderes Verhalten des Ureters im Vergleich zum Nierenbecken erwarten. Hierbei zeigt sich im Ureter im Gegensatz zum Nierenbecken eine isometrische Kontraktion mit deutlicher Druckschwankung entsprechend der peristaltischen Welle. Der Versuchsaufbau ist jedoch derzeit durch die Irritation der Ureterwand durch den Messkatheter noch unphysiologisch beeinflusst.
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Teil I · Grundlagen
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V : 5ml/min Füll
V : 10ml/min Füll
⊡ Abb. 5.6. Kompensierte Harnabflussstörung (Stadium 1)
VFüll : 2ml/min Pain Point Pressure ⊡ Abb. 5.7. Stadium 2 Dekompensation
VFüll : 5ml/min
VFüll : 10ml/min
57 Kapitel 5 · Urodynamik der oberen Harnwege
Pain Point Pressure
V : 2ml/min Füll
⊡ Abb. 5.8. Stadium 3 Occlusion
⊡ Tab. 5.1. Neue Klassifikation der oberen Harnabflussstörung nach Video-pelvimetrischen Kriterien Pintrapelvin
NBKS-Morphologie
PPP
Stadium 0 (⊡ Abb. 5.5): Normalbefund
Konstant unabhängig von VFüll 2/5/10/20
Keine Ektasie Kontraktionen ↑ Bolusvolumen ↑
Nicht erreicht
Stadium 1 (⊡ Abb. 5.6): Kompensation
Anstieg abhängig von VFüll 2/5/10/20
Mittelgradige NBKS-Ektasie Kontraktionen ↑↑ Bolusvolumen ↑↑
Nicht erreicht bei VFüll 2/5/10
Stadium 2 (⊡ Abb. 5.7): Dekompensation
Anstieg abhängig von VFüll 2/5/10/20
Massive Ektasie Kontraktionen ↓
Erreicht bei ÄP=15cmH2O (VFüll 5/10)
Stadium 3 (⊡ Abb. 5.8): Occlusion
Anstieg unabhängig von VFüll 2/5/10/20
Massive Ektasie Frustrane Kontraktionen mit Richtungsumkehr
Erreicht bei ÄP=15cmH2O
VFüll 2/5/10/20 ml = Füllungsgeschwindigkeiten 2,5,10,20 ml/min; NBKS = Nierenbeckenkelchsystem, Pintrapelvin = Druckintrapelvin; PPP = Pain Point Pressure; ↑ = Zunahme; ↓ = Abnahme
5.3
Pharmakologische Beeinflussung des oberen Harntraktes
Zahlreiche Substanzen haben eine direkte oder indirekte Wirkung auf die Funktion des oberen Harntraktes. Die Wirkung dieser Pharmaka ist bislang nur unbefriedigend dargestellt [5, 7]. Der Einfluss alpha- und betaadrenerger Substanzen wurde in vitro und in vivo untersucht [1, 12, 5, 7], wobei allerdings diskrepante Beeinflussungen der Peristal-
tik zwischen in-vitro- und in-vivo-Experimenten festgestellt wurden. Bei cholinergen Substanzen und deren Blockern existieren ähnlich widersprüchliche pharmakourodynamische Untersuchungen. So sind in manchen Arbeiten für gleiche Substanzen sowohl aktivierende als auch hemmende Wirkungen auf die Peristaltik des oberen Harntraktes beschrieben worden [2, 12, 16, 17, 18]. Sie dokumentieren eindrucksvoll die Schwierigkeiten in der Erforschung der pharmakologischen Beeinflussbarkeit der glatten Muskulatur des oberen Harntraktes.
5
58
Teil I · Grundlagen
Literatur
5
1. Boatman DL, Lewin ML, Culp DA, Flocks RH (1967) Pharmacologic evaluation of ureteral smooth muscle: A technique of monitoring ureteral peristalsis. Invest Urol 4, 509 2. Boyarsky S, Labay P, Gerber C (1966) Prostaglandin inhibition of ureteral peristalsis. Invest Urol 4,9 3. Golenhofen K (1978) Die myogene Basis der glattmuskulären Motorik. Klin Wochenschr 56, 211 4. Golenhofen K, Hannappel J (1978a) A tonic component in the motility of the upper urinary tract (renal pelvis-ureter). Experientia 34, 64 5. Hannappel J (1982) Motorik des Harntraktes: Physiologische Grundlagen und Pharmakologie. Habilitationsschrift d. Med. Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen 6. Hertle L, Nawrath H (1986a) Wirkungen von Pharmaka am oberen Harntrakt des Menschen. Urologe A 25, 252 7. Hertle L (1986b) Wirkungen und Mechanismen von Pharmaka am oberen ableitenden Harntrakt, Versuche an isolierten Präparaten des Menschen. Habilitationsschrift Med. Fakultät der Ruhr Universität Bochum 8. Holmlund D, Sjödin JG (1978) Treatment of ureteral colic with intravenous indomethacin. J Urol 120, 676 9. Kiil F (1957) The function of the ureter and renal pelvis. Oslo university press, Oslo 10. Lutzeyer W, Melchior H (1969) Aus der Grundlagenforschung: UroRheographie. Urologe 4, 208 11. Lutzeyer W, Hannappel J (1982) Physiologie des Harnleiters. In: Hohenfellner R, Zingg EJ (Hrsg) Urologie für Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart New York, S 40 12. Melchior H (1971) Pharmakologische Beeinflussung der Ureterdynamik. 10. Tg. Südwestdt. Ges. Urol., 1969 13. Melchior H (1980) Urodynamische Untersuchungsmethoden. In: Fortbildung für urologische Berufe. Ditzen Verlag, Bremerhaven, S 174 14. Melchior H, Terhorst B, Kettner A (1971) Die medikamentöse Behandlung des Harnsteinleidens. Urol Int 26, 367 15. Narath PA (1951) The renal pelvis and ureter. Grune and Stratton, New York 16. Rutishauser G (1970) Druck und Dynamik in den oberen Harnwegen. Fortschritte der Urologie und Nephrologie. Dietrich Steinkopff, Darmstadt 17. Schlicht L (1952) Zur Beeinflussung der Motilität isolierter Ureteren durch einige Pharmaka. Verh d Dt Ges f Urol 234 18. Schulmann CC (1978) Etude histochimique et ultrastructurelle de l’innervation de l’uretere. These presentée en vue de l’obtention du grade d’Agrege de l’einseignement Superieur. Universite Libre de Bruxelles 19. Weiss RM (1986) Physiology and pharmacology of the renal pelvis and ureter. In: Walsh P, Gittes R, Perlmutter A, Stamey T (eds) Campbell´s Urology. W.B. Saunders, Philadelphia London Toronto 20. Whitaker RH (1973) Methods of assessing obstruction in dilated ureters. Br J Urol 45: 15
II
II
Urodynamische Untersuchung
6
Grundlagen urodynamischer Messmethoden
7
Anamnese und Basisuntersuchungen – 69
8
Uroflowmetrie
9
Zystometrie
10
Urethradruckprofil
11
Messung des Leak Point Pressure – 107
12
Druckflussmessung
13
Videourodynamik
14
Langzeiturodynamik
15
Neurophysiologische Untersuchungen
16
Indikation zur urodynamischen Untersuchung – 139
17
Bildgebende Untersuchungen
– 61
– 81
– 95 – 99
– 113 – 121 – 127
– 145
– 131
6
Grundlagen urodynamischer Messmethoden W. Schäfer
6.1
Zielsetzung
– 62
6.2
Physikalische Grundlagen
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7
Physikalische Eigenschaften des Drucks – 62 Praktische Probleme bei der Druckmessung – 62 Nullwert – 62 Referenzhöhe – 62 Externe und Mikrotiptransducer – 63 Detrusordruck – 63 Grundlagen der Signalkontrolle beim Druck – 63
6.3
Technische Voraussetzungen
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4
Grundausstattung – 63 Erweiterte Ausstattung – 64 Darstellung der Signale – 64 Dokumentation und Ausdruck – 64
6.4
Urodynamische Messverfahren
6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5
Grundlagen der Uroflowmeterie – 64 Füllungszystometrie – 65 Kombinierte Druckflussstudien – 66 Urodynamische Messung des Harnröhrenverschlusses EMG – 68
Literatur
– 68
– 62
– 63
– 64
– 67
62
Teil II · Urodynamische Untersuchung
6.1
6
Zielsetzung
Das Ziel der klinischen Urodynamik ist es, Symptome unter Messbedingungen zu reproduzieren, um diese zu objektivieren, deren Ursache zu identifizieren und die zugrunde liegenden Funktionsstörungen des Harntraktes zu quantifizieren. Diese grundlegende Definition ist bei allen Schritten der Planung, Durchführung und Auswertung urodynamischer Messungen konsequent zu berücksichtigen. Urodynamik ist somit ein besonderer Teil der urologischen Funktionsdiagnostik und kann nicht isoliert von anderen urologischen Untersuchungsverfahren gesehen werden. Durch eine gründliche Untersuchung und Anamnese muss vor Beginn jeder Messung die spezifisch urodynamische Fragestellung eingegrenzt und das geeignete Messverfahren ausgewählt werden. Die Urodynamik wird heute vor allem zur Untersuchung der Speicher- und Entleerungsfunktion des unteren Harntraktes benutzt, seltener der Transportfunktion des oberen Harntraktes. Eine direkte Messung relevanter physiologischer Funktionsparameter (Zielparameter) wie z. B. Kontraktionskraft des Detrusors oder Blasenauslasswiderstand ist nicht möglich. In der klinischen Urodynamik sind ausschließlich Volumen, Druck und deren zeitliche Änderung, quantitative bzw. elektromyographische Signale qualitativ erfassbar (Messparameter). Aus diesen Messparametern können mithilfe von Funktionsmodellen sekundär die pathophysiologisch relevanten Zielparameter abgeleitet werden. Die urodynamische Messung kann durch bildgebende Verfahren ergänzt werden (Videourodynamik). Die Urodynamik ist kein automatisierbarer Untersuchungsvorgang, sondern eine interaktive Untersuchungstechnik. In einem Gespräch mit dem Patienten sollte festgestellt werden, ob die Symptome des Patienten auch wirklich reproduziert werden konnten. Sie erfordert eine kontinuierliche Überwachung der Qualität der Messsignale und der Reaktionen des Patienten, sowie eine unmittelbare Bewertung der Ergebnisse. Die Urodynamik erfordert eine besondere theoretische Ausbildung und praktische Erfahrung mit Geräten und Messverfahren, der Plausibilitätsund Qualitätskontrolle der Messsignale und die detaillierte Kenntnis der Funktionsmodelle zur Auswertung.
6.2
Physikalische Grundlagen
6.2.1 Physikalische Eigenschaften des Drucks
Gemäß internationaler Standardisierung ist der Druck in der SI-Einheit Pascal [Pa]=N/m2 anzugeben. Gemäß der Standardisierungsempfehlung der International Continence Society (ICS) ist aber in der klinischen Urodyna-
mik als Maßeinheit die Gewichtskraft einer Wassersäule (cm H2O) zulässig und üblich. Die Umrechnung in die vorgeschriebenen SI-Einheit ist (genau 0,98) näherungsweise: 1 Kilopascal (kPa) = 10 cm H2O [7]. 6.2.2 Praktische Probleme bei der Druckmessung
Druckmessungen in der Urodynamik erfassen den Druck in sehr unterschiedlicher Umgebung: in einem mit Flüssigkeit gefüllten Raum wie der Blase oder in der geschlossenen Harnröhre in Interaktion mit Gewebe. Diese Unterschiede sind sowohl für die Messtechnik als auch für die Signalkontrolle und Auswertung von erheblicher Bedeutung. Notwendiger Messbereich ist 0–250 cm H2O mit einer Auflösung von mindestens 2 cm H2O. Empfohlen wird eine Darstellung der Messkurve im Maßstab von 2 oder höchstens 4 cm H2O pro mm für die Amplitude. Auf diese Weise ist eine optische Auflösung von 2 cm H2O möglich – für die Zeitachse in der Füllungsphase 5 s/mm, während der Miktion 1 oder 2 s/mm; beim Urethradruckprofil 1 mm Harnröhrenlänge pro mm.
6.2.3 Nullwert
Während einer urodynamischen Messung wird der Druck nicht als absoluter Wert, sondern als Überdruck gegenüber dem Umgebungsdruck (atmosphärischer Druck) gemessen, d. h. der atmosphärische Druck ist der Nullwert in der Urodynamik. Es ist eine häufig zu findende Praxis, dass der Anfangsdruck im Körper nach Platzieren und Verbinden der Katheter als Nullwert gesetzt wird. Diese scheinbare Vereinfachung führt jedoch zu Druckwerten, die weder von Patient zu Patient noch von verschiedenen Kliniken vergleichbar sind. Der mögliche Fehler durch einen solchen falschen Nullwert kann Werte von über 50 cm H2O erreichen. 6.2.4 Referenzhöhe
In einem mit Flüssigkeit gefüllten Raum kann ein Druck nur in Bezug auf eine bestimmte Höhe (Referenzhöhe) angegeben werden, da sich der hydrostatische Druck mit der Wassersäule über der Messstelle ändert (eben deshalb ist die Maßeinheit für den Druck in cm Wassersäule!). In der Urodynamik ist der Standard für diese Referenzhöhe – und damit für die Position des Druckaufnehmers – die Oberkante der Symphyse. Nur bei gleichem Nullwert und bei gleicher Referenzhöhe können Messwerte von pves und pabd miteinander verglichen werden und nur dann kann eine Druckdifferenz wie der Detrusordruck pdet berechnet werden.
63 Kapitel 6 · Grundlagen urodynamischer Messmethoden
6.2.5 Externe und Mikrotiptransducer
Die Grundregeln der Druckmessung sind mit externen Druckaufnehmern einfach einzuhalten und können jederzeit während der Messung kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert werden. Wenn Mikrotiptransducer (MTC) benutzt werden, bei denen der miniaturisierte Druckaufnehmer auf dem Messkathetern direkt montiert ist, gelten selbstverständlich die gleichen physikalischen Grundregeln und physiologischen Randbedingungen. Wenn sich allerdings der Transducer im Körper befindet, ist die Einhaltung von Nullwert und Referenzhöhe schwierig bzw. unmöglich zu kontrollieren und zu korrigieren, da die Position des Transducers nur radiologisch bestimmt werden kann. Um vergleichbare Werte zu messen ist es nötig, den gemessenen Druck um die relative Höhenabweichung vom Symphysenniveau zu korrigieren [9]. Zusätzliche Probleme können sich dann ergeben, wenn die Messoberfläche des Transducers direkt mit Gewebe in Kontakt kommt, wie z. B. in der Urethra. Das abgeleitete Signal entsteht dann in der Interaktion zwischen Wand und Transducer und ist kein Drucksignal im Sinne der urodynamischen Definition. Die ICS definiert ausdrücklich den Urethradruck als einen Flüssigkeitsdruck in der Urethra, d. h. als ein Skalar, der keine Richtung hat bzw. keine Richtungsunterschiede aufweist [4]. In der Praxis werden jedoch Richtungsunterschiede insbesondere bei der Benutzung von MTCs gemessen und häufig werden diese direktionalen Druckunterschiede sogar patho-physiologisch bzw. anatomisch interpretiert. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein perfektes Artefakt, d. h. diese richtungsabhängigen Drücke werden nur durch den Katheter in der Urethra erzeugt, sowohl durch Biegung des Katheters als auch durch sein Gewicht. Während unter statischen Bedingungen diese Richtungsunterschiede zumindest theoretisch erkannt und korrigiert werden können, ist dies bei den sogenannten Stressdruckmessungen unmöglich. Damit sind genaue Druckwerte mit MTCs unter Stress nicht messbar und die Interpretation solcher »Messwerte« ist fraglich. Weitere Details werden im Zusammenhang mit den einzelnen klinischen Messverfahren diskutiert ( ICS-Standards unter www.icsoffice.org: »documents, standardisation reports«).
6.2.6 Detrusordruck
Die Pathophysiologie des Detrusors kann am besten durch den Druckanteil erfasst werden, der durch passive Dehnung oder aktive Kontraktion der Blasenwand entsteht, dem sog. Detrusordruck pdet. Diese Differenz zwischen pves - pabd = pdet
ist ein geeignetes Maß für den Detrusordruck. Der abdominelle Druck steht hier als Maß für den perivesikalen
Druck, der nur invasiv und aufwendig direkt messbar ist, z. B. durch Punktion. Bei sinnvoller Interpretation hat sich jedoch der Druck im Rektum als brauchbares Maß für den perivesikalen Druck erwiesen. Ähnlich gute Ergebnisse für den perivesikalen Druck können auch im oberen Drittel der Vagina erzielt werden. Eine Subtraktion von zwei Drücken ist nur dann möglich, wenn beide Signale den gleichen Nullwert haben und zur gleichen Referenzhöhe gemessen werden.
6.2.7 Grundlagen der Signalkontrolle beim
Druck Eine Plausibilitäts- und Qualitätskontrolle der Drucksignale hat im Rahmen ihrer Definition zu erfolgen [9]. Da alle Drücke als Überdrücke gegenüber dem Umgebungsdruck gemessen werden, können in der Urodynamik grundsätzlich keine negativen Drücke auftreten. Bei pves und pabd können typische Merkmale beschrieben und zur Qualitätskontrolle benutzt werden: Ruhedruckwerte, Feinstruktur, passive und aktive Druckänderung in typischer Form. Typische statische Ruhewerte für pves und pabd sind in gleichem Maße abhängig von der Lage und Position des Patienten, und zwar: ▬ liegend 5–20 cm H2O ▬ sitzend 15–40 cm H2O ▬ stehend 30–50 cm H2O Der Ruhewert für pdet ist immer nahe Null, üblicherweise 0–5 cm H2O, nur in seltenen Fällen größer als 5 cm H2O bis 10 cm H2O, jedoch nie negativ [3]. Die dynamische Qualität der Drucksignale kann durch Hustenstöße überprüft werden. Deshalb wird empfohlen zur eindeutigen Dokumentation der Qualität der Drucksignale in regelmäßigen Zeitabständen einen Hustentest durchzuführen, z. B. in der Füllungsphase mindestens alle 50–100 ml sowie unmittelbar vor und nach der Miktion. Neben diesen deutlich sichtbaren Veränderungen haben urodynamische Drucksignale eine Feinstruktur, die in beiden registrierten Kanälen gleich sein muss. Diese Feinstruktur ist abhängig von Bewegungen des Patienten, von Atmung und anderen Einflüssen [9].
6.3
Technische Voraussetzungen
6.3.1 Grundausstattung
Die urodynamische Fragestellung bestimmt Art und Umfang der urodynamischen Messungen (messtechnischer Aufwand, angestrebte Genauigkeit, Invasivität etc.). Für
6
64
6
Teil II · Urodynamische Untersuchung
die klinische Urodynamik ist folgende Grundausstattung zu fordern: ▬ Die gemeinsame Messung und sichere Speicherung von mindestens zwei gemessenen Druckkanälen und der Errechnung und Darstellung des Detrusordrucks als Druckdifferenz sowie einem Volumen- bzw. Flowkanal ▬ Eine Messgenauigkeit von ±1 cm H2O bei Druck und ±5% bei Flow und Volumen ▬ Eine Kalibrierung aller Messsignale muss möglich sein. Hierzu gehört beim Druck die Einstellung und Überprüfung des atmosphärischen Drucks als Nullwert und der korrekten Amplitude mit einer Wassersäule ▬ Eine Positionierung der Druckaufnehmer auf Referenzhöhe muss möglich sein ▬ Der Uroflowaufnehmer wie auch die Förderpumpe sollten über den entsprechenden Volumenwert überprüf- und kalibrierbar sein Über Verstärker und Filter werden die elektrischen Signale weiterverarbeitet und in analoger oder digitaler Form dargestellt (Bildschirm, Drucker, Schreiber) und dokumentiert (Hardcopy, Plattenspeicher). Bei digitalen Systemen sollte die Digitalisierungsfrequenz ≥10 Hz (Urethradruckprofil ≥16 Hz) betragen.
6.3.2 Erweiterte Ausstattung
Die Ergänzung durch einen EMG-Kanal kann für bestimmte Fragestellungen und bei sorgfältiger Nutzung sinnvoll sein. Zusätzlich sollte eine Rollenpumpe zur definierten Füllung der Blase (etwa 10-50 ml/min) verwendet werden, die auch zur Perfusion der Urethra bei Ableitung des Urethradruckprofils mit externen Druckwandlern einsetzbar sein sollte (etwa 2-5 ml/min). Für die Profilometrie der Urethra ist ein Rückzuggerät erforderlich.
6.3.3 Darstellung der Signale
Eine wirksame Plausibilitäts- und Qualitätskontrolle braucht als Voraussetzung eine unmittelbare und deutliche Darstellung der Signale während der Untersuchung. Die Skalierung von Amplituden und Zeitachse und die Benennung der Kanäle sollte dem ICS-Standard entsprechen [9]. Eine unmittelbare Dokumentation von Kommentaren zu den Messsignalen muss möglich sein. Auch eine kontinuierliche Qualitätskontrolle und gegebenenfalls eine Intervention, d. h. Unterbrechung und Fortsetzung der Messung, müssen jederzeit während der Messung möglich sein.
6.3.4 Dokumentation und Ausdruck
Alle urodynamischen Messungen sind in Form von Kurven über der Zeit mit Kommentaren und Erläuterungen zu dokumentieren, so dass auch eine retrospektive Beurteilung der Kurven durch Dritte möglich ist. Für die Kurvenaufzeichnung sollte ein sinnvoller Maßstab gewählt werden, so dass relevante Größen ohne aufwendige Umrechnung abgelesen bzw. ausgemessen werden können ( Kap. 3).
6.4
Urodynamische Messverfahren
Die eindeutige Erfassung von Beobachtungen und Symptomen durch den Patienten selbst über mindestens zwei Tage ist eine wertvolle Informationsquelle. In dem Miktionskalender wird der Zeitpunkt jeder Miktion erfasst. In einem Miktionsprotokoll werden zusätzlich die einzelnen Miktionsvolumina erfasst. Somit erhält man einen guten Überblick über Blasenkapazität, Miktionsfrequenz und Diurese tags und nachts, wenn der Patient auch seine Schlafzeit dokumentiert. Im Miktionstagebuch werden zusätzlich Symptome wie z. B. imperativer Harndrang unterschiedlicher Stärke, Inkontinenzereignisse, die Benutzung von Einlagen und andere für den Patienten spezifische Beobachtungen und Symptome aufgezeichnet. Geräte zur ambulanten Uroflowmetrie können eine solche Aufzeichnung optimieren.
6.4.1 Grundlagen der Uroflowmeterie
Die Uroflowmetrie misst die Flussrate des externen Harnstrahles als Volumen pro Zeiteinheit in Milliliter pro Sekunde (ml/s). Die heute üblichen Flowmeter erfassen nicht das Volumen, sondern die Masse pro Zeiteinheit. Das häufigste Messprinzip ist eine Waage, die das Gewicht des gesammelten Urins als Funktion der Zeit misst. Daraus wird der Flow als Volumenänderung pro Zeiteinheit errechnet. Bei diesem Messprinzip ist die Volumenmessung oft sehr genau (etwa ±1%), aber der errechnete Flow ist weniger genau. Bei dem Messprinzip der rotierenden Scheibe wird primär der Massenfluss erfasst und daraus das Miktionsvolumen errechnet. Hier ist das Miktionsvolumen weniger genau. Beide Verfahren sind vom spezifischen Gewicht des Urins abhängig. Durch unterschiedliche Urinkonzentration und Beimischung von Röntgenkontrastmittel sind Schwankungen in der Größenordnung von 10% im spezifischen Gewicht möglich, was sich unmittelbar auf die Messung auswirkt. Des Weiteren gibt es praktisch keine technischen Vorschriften zur Genauigkeit von Uroflow-
65 Kapitel 6 · Grundlagen urodynamischer Messmethoden
metern und von den meisten Herstellern nur unzureichende Angaben. Die Empfehlungen des ICS Technical Report [7] können als Anhalt benutzt werden: ▬ Messbereich 0–50 ml/s für den Flow ▬ 0–1000 ml für das Volumen ▬ Maximalen Zeitkonstanten von 0,75 s ▬ Messgenauigkeit von ±5% bezogen auf den Messbereich Aus diesen technischen Grundlagen kann abgeleitet werden, dass es grundsätzlich nicht sinnvoll ist, einen Uroflowwert genauer als auf einen vollen Milliliter abzulesen und anzugeben. Die tatsächliche Messgenauigkeit liegt sogar noch darunter.
Allgemeines Die Uroflowmetrie ist ein einfaches und nicht invasives Untersuchungsverfahren. Es sollte als Standardverfahren zur Objektivierung aller Störungen der Speicher- und Entleerungsfunktion der Blase eingesetzt werden. Eine sonografische Bestimmung des Restharnvolumens ist eine sinnvolle und notwendige Ergänzung der Uroflowmetrie. Die Uroflowmetriekurve kann durch verschiedene Messgrößen quantifiziert werden [7].
Bei niedrigem Blasenfüllungsvolumen, insbesondere im Bereich bis ca. 150 ml, ist der Flow stark abhängig vom Blasenfüllungsvolumen. Deshalb ist die Angabe eines maximalen Flowwertes nur zusammen mit dem Miktionsvolumen und dem Restharnvolumen sinnvoll [9]. Für die Dokumentation der Ergebnisse des Uroflowmeters sind folgende Empfehlungen gemacht worden: ▬ Maximale (geglättete) Urin-Fluss-Rate sollte zur nächsten ganzen Zahl gerundet werden (z. B. von 10,25 ml/s auf 10,0 ml/s) ▬ Entleertes Volumen und Restharnvolumen sollten zu den nächsten 10 ml gerundet werden (z. B. 342 ml auf 340 ml) ▬ Die maximale Flowrate sollte zusammen mit entleertem Volumen und Restharnvolumen dokumentiert werden, indem das Standardformat gewählt wird: Miktion: maximale Flow- Rate/Entleertes Volumen/ Restharnvolumen ▬ Wenn Daten nicht vorhanden sind, sollte ein »Platzhalter« in Form eines Bindestriches benutzt werden, wie z. B. bei Miktion: -/340/- (nur Harnvolumen ist bekannt) oder Miktion10/-/90 (Nur das entleerte Volumen fehlt)
6.4.2 Füllungszystometrie
Allgemeines Messprobleme Die Probleme in der Messung, in der Messgenauigkeit wie auch in der Information, die aus der Flowkurve abgeleitet werden kann, sind für die freie Uroflowmetrie oder die kombinierte Druckflussmessung sehr unterschiedlich. Die genaue Ablesung von Flowwerten und die Beurteilung des Kurvenmusters bedürfen einer sinnvollen Skalierung. Im Hinblick auf die begrenzte technische Genauigkeit der Uroflowmeter ist es nicht sinnvoll, Werte mit einer Auflösung von genauer als 1 ml/s für den freien Flow und von genauer als 10 ml für das Volumen abzulesen. Für die Darstellung der Flowkurve sind als Maßstab 1 ml/s pro mm in der Amplitude und 1 oder 2 s pro mm auf der Zeitachse zu wählen. Da die Form der Kurve durch die Kinetik der Detrusorkontraktionen (glatte Muskulatur) bestimmt wird, ist eine normale Druckkurve eine glatte Kurve ohne rasche Veränderungen der Amplitude. Deswegen muss jede automatisierte Auswertung durch Inspektion der Kurve durch den Untersucher verifiziert werden. Besonders stufenförmige Änderungen und »scharfe« Spitzen (Spikes) weisen auf Artefakte hin. Deswegen sollten keine Spitzenwerte abgelesen werden, die weniger als zwei Sekunden andauern. Es wird empfohlen, den Kurvenverlauf entsprechend zu glätten und dies auf der Messkurve darzustellen.
Die Füllungszystometrie ist eine urodynamische Untersuchungstechnik des Verhaltens der Blase während der Füllungsphase und erfasst Sensorik, Motorik und Dehnbarkeit des Detrusors als Funktion des Volumens.
Durchführung Die Art der Durchführung und Dokumentation richtet sich nach der urodynamischen Fragestellung. So sind z. B. bei Abklärung eines overactive bladder syndroms (OAB) und Verdacht auf eine Detrusrohyperaktivität andere Zielparameter zu beachten als bei Abklärung einer Blasenauslassobstruktion. Während im ersten Fall gegebenenfalls Provokationstest und Füllung bis zur maximalen Blasenkapazität erforderlich sind, ist im zweiten Fall zur Erzielung einer möglichst normalen Miktion eine übermäßige Füllung der Blase zu vermeiden.
Füllungsmedium Da die Zystometrie Teil einer Gesamtuntersuchung der Funktion des unteren Harntraktes ist, kann sinnvollerweise nur mit Flüssigkeit gefüllt werden, um anschließend eine Miktion messen zu können. Es müssen sowohl die Füllungsgeschwindigkeit, das Medium und die Temperatur dokumentiert werden, da sie das Messergebnis beeinflussen können. Empfehlenswert ist
6
66
6
Teil II · Urodynamische Untersuchung
eine physiologische Kochsalzlösung mit Temperaturen zwischen Raumtemperatur und Körpertemperatur. Die Füllgeschwindigkeit soll dem Krankheitsbild angepasst werden. Gemäß der neuen Terminologie der ICS wird zwischen physiologischer Füllung und schneller Füllung unterschieden. Hierbei wird sich der Grenze für die maximale physiologische Füllung angenähert mit der Formel: Körpergewicht in kg dividiert durch 4 ergibt die Füllungsrate in ml/min, für einen Erwachsenen also etwa 20 ml/min. Die Katheterauswahl ist von Fragestellung und Patient abhängig. In den meisten Fällen sind doppellumige Katheter von 6–8 Charr sinnvoll. Ein suprapubischer Zugang ist nur in Ausnahmefällen indiziert. Um den abdominellen Druck pabd zu messen, wird ein rektaler Ballonkatheter empfohlen. Obwohl es viele Methoden für eine erfolgreiche Aufzeichnung des abdominellen Druckes gibt, beschafft ein schlaffer, luftfreier Ballon in der rektalen Ampulle ein brauchbares Signal für pdet, wenn pves synchron gemessen wurde. (pdet = pves - pabd).
Interpretation Spontane Kontraktionen Ein vorübergehender – phasischer – Druckanstieg (Druckwelle) in pdet weist auf eine Detrusorkontraktion hin. Eine Detrusorkontraktion ist nur dann sicher nachgewiesen, wenn der intravesikale Druck sich in typischer Weise verändert, also phasisch mit langsamem An- und Abstieg ohne jede Änderung im abdominellen Druck.
Permanente Druckerhöhung Permanente Druckerhöhungen während der Füllung werden durch die Compliance erfasst und quantifiziert. Die Compliance ist ein Maß für die Dehnbarkeit des Detrusors definiert als Volumenzunahme in ml bezogen auf den Detrusordruckanstieg (cm H2O). Die Bestimmung der Compliance erfordert große Sorgfalt. Die angebotenen Computerprogramme zur automatisierten Berechnung der Compliance sind in den meisten Fällen irreführend und bedürfen immer der Verifikation durch Inspektion der Kurven [1].
▬ erstes Gefühl der Blasenfüllung ▬ erster Harndrang ▬ starker Harndrang als anhaltender Wunsch zur Miktion ohne Angst des Urin zu verlieren Eine verstärkte Blasensensitivität wird definiert wenn das Gefühl der Blasenfüllung oder des ersten Harndranges und/oder des starken Harndranges bei geringem Füllungsvolumen auftritt und anhält. Eine reduzierte Blasensensitivität wird als reduzierte Sensitivität während der gesamten Füllungszeit definiert und dementsprechend wird als ‚fehlende Sensitivität’ definiert, wenn der Patient die Blasenfüllung zu keinem Zeitpunkt der Füllung fühlt. Als unspezifische Blasensensitivität gilt, wenn das Gefühl der Blasenfüllung untypisch ist, wenn zum Beispiel ein unbestimmtes Gefühl im Abdomen oder vegetatvie Symptome mit der Blasenfüllung einhergehen. Als Dranggefühl »urgency« wird der überfallmäßige, nicht unterdrückbare Drang zur Miktion bezeichnet. Während der Messung sollte darüber hinaus jede Form von transientem Harndrang oder Schmerzen, die mit Detrusorkontraktion oder anderen Reaktionen des Patienten verbunden sind (ggf. Erweiterung der Messung mit Urethraverschlussdruck oder Beckenboden-EMG), sowie jede Form von Inkontinenz dokumentiert werden.
6.4.3 Kombinierte Druckflussstudien
Allgemeines Die urodynamische Untersuchungstechnik der kombinierten Druckflussmessung zielt auf die objektive Bestimmung der Blasenauslassfunktion und der Detrusorkontraktionsleistung [2]. Neben dem Uroflow ist der Detrusordruck der entscheidende Messparameter, d. h. es müssen intravesikaler und abdomineller Druck so gemessen werden, dass eine zuverlässige Bestimmung des Detrusordrucks möglich ist. Die Indikation zur kombinierten Druckflussmessung sollte mit einem Miktionstagebuch und mehreren freien Uroflows mit Restharnbestimmung abgesichert werden. Entsprechend sind die Zystometrieparameter zu wählen.
Sensitivität Die Sensitivität ist kein Messparameter, sondern kann sich nur auf die subjektive Beschreibung des Patienten stützen. Die standardisierte Abfrage und sorgfältige Dokumentation der Sensitivität ist von entscheidender Bedeutung für die pathophysiologische Interpretation und klinische Wertung der mechanischen Parameter Motorik und Dehnbarkeit. Eine normale Blasensensitivität wird nach ICS Kriterien [1] durch folgende Punkte beschrieben
Durchführung Die Katheterauswahl richtet sich nach Patient und Krankheitsbild. Während bei einer engen Harnröhre (Kleinkinder, Jungen unter 12 Jahren, Striktur) eine suprapubische Druckmessung notwendig sein kann, sollte üblicherweise mit einem transurethralen Katheter (6–8 Charr) gemessen werden. Der Katheter muss so fixiert sein, dass während der Miktion weder der Katheter herausfallen kann, noch der
67 Kapitel 6 · Grundlagen urodynamischer Messmethoden
Harnstrahl beeinträchtigt wird. Die Methode der Wahl für den abdominellen Druck ist ein spezieller Ballonkatheter von 9 Charr. Üblicherweise wird der abdominelle Druck rektal gemessen, er kann aber bei der Frau auch vaginal gemessen werden. Der Ballon bei diesen Kathetern dient nur zur sicheren Übertragung des Umgebungsdrucks in Rektum oder Vagina auf den Messkanal. Einer der häufigsten Messfehler entsteht dadurch, dass der Ballon vollständig aufgefüllt wird, so dass durch die Füllung selbst ein Druck im Ballon entsteht. Dies ist ein grundlegender Fehler, der auf jeden Fall vermieden werden muss. Der Ballon muss schlaff sein ohne eigenen Füllungsdruck und es wird deshalb eine Auffüllung nur bis ca. 20% des drucklosen Füllungsvolumens empfohlen. Es gibt die Möglichkeit, den Ballon zu perforieren oder zu schlitzen, um eine artifiziellem Ballondruck zu vermeiden. Die ist jedoch bei korrekter Durchführung unnötig. Der abdominelle Druck kann auch entsprechend dem Urethradruck mit einem offenen Katheter unter Perfusion gemessen werden. Es ist jedoch darauf zu achten, nicht zu viel Flüssigkeit in das Rektum zu perfundieren, da dies unerwünschte Reaktionen auslösen kann. Ein rektaler schlaff gefüllter luftfreier Ballonkatheter ist für den abdominellen Druck oft praktikabler. Wenig geeignet sind MTCs aus den vorher dargelegten Gründen. Wenn die Standards berücksichtigt werden gelten folgende Grenzen der initialen Ruhewerte für pves und pabd: ▬ Rückenlage 5–20 mmHg ▬ Sitzend 15–40 mmHg ▬ Stehend 30–50 mmHg Normalerweise sind beide aufgezeichneten Werte fast identisch, so dass der initiale pdet Null, oder nahe Null ist, 0–6 cm H2O in 80% der Fälle und in wenigen Fällen bis zu 10 cmH2O Der Messaufbau sollte für den Patienten ausreichend komfortabel sein und eine übliche Miktionshaltung ermöglichen, d. h. in der Regel sitzend oder stehend. Es muss darauf geachtet werden, dass der Harnstrahl möglichst direkt und ohne unnötige Veränderungen in das Flowmeter gelangt. Falls Trichter oder andere Auffangsysteme benutzt werden, muss der Zeitverzug zwischen Meatus und Flowmeter durch entsprechende Simulation ermittelt werden. Insbesondere bei den häufig sehr flachen Auffangschalen an Röntgentischen kann die minimale Verzögerung zwischen Druck und Flow von etwa 1 s erheblich überschritten werden [2, 7, 9]. Wenn die Messung nicht in Übereinstimmung mit den Vorbefunden wie z. B. freien Uroflows eindeutig einen Normalbefund oder einen eindeutig pathologischen Befund zeigt und wenn der Patient nicht ausdrücklich bestätigt, dass es sich um eine »typische Miktion« gehandelt hat, ist die Messung zu wiederholen.
6.4.4 Urodynamische Messung des
Harnröhrenverschlusses Urethradruckprofil Die Information des statischen Verschlussdrucks ist nur von beschränkter klinischer Bedeutung, so dass die Messgenauigkeit als sekundär angesehen werden kann. Zwar korreliert der maximale Verschlussdruck (MUCP) mit dem Schweregrad der Inkontinenz und ein sehr niedriger Druck (MUCP <20 cm H2O) ist eine ungünstige Voraussetzung für eine operative Korrektur, es ist jedoch bekannt, dass Patientinnen auch nach erfolgreicher Inkontinenzoperation keine nachweisbare signifikante Erhöhung des Verschlussdrucks zeigen. Dies zeigt, dass zwar der Urethraverschlussdruck ein Maß für die funktionelle Reserve des Verschlussmechanismus darstellt, aber offensichtlich andere Faktoren wie die abdominelle Druckerhöhung, die mechanische Belastung und die Verformung von Beckenboden und Blasenverschlusssystem für das Auftreten einer Belastungsinkontinenz entscheidend sind und durch die üblichen Operationsverfahren erfolgreich korrigiert werden können [9]. Wegen des mangelnden Informationsgehaltes der statischen Druckmessung in der Urethra werden auch Messungen unter Stressbedingungen versucht in der Hoffnung, so sinnvollere Werte zu ermitteln. Bei dynamischen Messungen (z. B. unter Husten) treten jedoch erhebliche Messprobleme auf und es gibt zahlreiche Artefakte, die oft schwer zu erkennen und nicht sinnvoll korrigierbar sind. Diese Artfakte sind von zahlreichen Details der angewandten Technik abhängig. Zwar kann eine standardisierte Katheterpositionierung diese Messfehler vergleichbar machen, aber nicht eliminieren. Perfusionsverfahren und die Messung mit Ballons können die Richtungsabhängigkeit des Drucksignals reduzieren, aber ebenfalls nicht eliminieren. Gemeinsam ist allen Verfahren das Problem, dass es unmöglich ist, bei Husten sicherzustellen, dass der Messort in der Urethra völlig konstant bleibt. Es werden in der Literatur Verschiebungen der Messstelle bis 8 mm angegeben [6, 10]. Die zu erwartenden und insbesondere bei jeder Form von Urethramobilität unvermeidbaren Verschiebungen beim Husten können zu einer artifiziellen Druckminderung in der proximalen und entsprechenden Druckerhöhung in der mittleren bis distalen Urethra führen. In der Gesamteinschätzung des Urethradruckprofils ist festzustellen, dass viele Aspekte dieser Technik in Bezug auf ihre tatsächliche biomechanische und pathopysiologische Bedeutung und ihre klinische Relevanz sehr kritisch gesehen werden müssen. Insbesondere viele Aspekte der pathophysiologischen Interpretationen des Stressprofils sind mit großer Vorsicht zu werten, von der Differenzierung in aktive und passive Drucktransmission bis zur definitiv unsinnigen Richtungsabhängigkeit des Urethraverschlussdrucks.
6
68
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Leak Point Pressure
6
Das Konzept der Messung des intravesikalen bzw. abdominalen Drucks und der Berechnung des Detrusordrucks, bei dem ein Harnverlust unter provokativen Manövern beobachtet wird, ist unter der Bezeichnung des Leak Point Pressures (LPP) bekannt geworden. Dies ist eine Reaktion auf die zahlreichen Probleme der intraurethralen Druckmessung. Aufgrund der überwiegend benutzten MTC-Messungen ohne klare Nullwerte und Referenzhöhe ist die Genauigkeit der publizierten Messwerte unklar. Die heutigen Berichte über Genauigkeit und Zuverlässigkeit der LPP-Werte [5] lassen einen weitgehenden Mangel an Standardisierung erkennen. Grundsätzlich gilt entsprechend dem simplifizierenden aber trotzdem realistischen Konzept, dass Inkontinenz auftritt, wenn der intravesikale Druck den maximale intraurethralen Druck übersteigt. Daraus folgt, dass der gemessene LPP mit dem entsprechenden maximalen Urethraverschlussdruck bei korrekter Messung identisch sein sollte. Die beachtlichen Unterschiede belegen die Messschwierigkeiten für beide Druckwerte.
6.4.5 EMG
Bei urodynamischen Untersuchungen kann die zusätzliche Ableitung eines elektromyographischen Signals weitere Informationen liefern. Die Ableitung eines perinealen Oberflächen-EMGs kann wichtige Hinweise auf Beckenboden- und Sphinkteraktivität geben, die insbesondere bei Kindern mit dyssynergem Miktionsverhalten wichtige Hinweise geben können. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um eine qualitative Ableitungsform handelt, bei der üblicherweise ein integriertes Summenpotential dargestellt wird. Es ist eine häufige Beobachtung, dass die EMGSignale nicht oder nur wenig mit den Informationen aus den Druckwerten übereinstimmen. In solchen Fällen sollte den Druckwerten gefolgt werden, da sie wesentlich zuverlässiger gemessen werden können. Die Indikation für eine invasive EMG-Ableitung mit Nadelelektroden bedarf insbesondere bei Patienten mit normaler Sensorik einer sehr sorgfältigen Indikationsstellung und stellt besondere Anforderungen an die Ausrüstung und an die Erfahrung des Untersuchers bei der Beurteilung der Signale.
Literatur 1. Abrams P, Cardozo L, Fall M, Griffiths D, Rosier P, Ulmsten U, van Kerrebroeck P, Victor A, Wein A (2002) The standardisation of terminology in lower urinary tract function. Neurourol Urodyn 21: 167-178
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7
Anamnese und Basisuntersuchungen K.U. Laval, H. Palmtag
7.1
Anamnese
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4
Gynäkologische Anamnese – 70 Operationsanamnese – 70 Neurologische Anamnese – 71 Medikamentenanamnese – 71
– 70
7.2
Fragebögen
7.3
Miktionskalender, Miktionsprotokoll, Miktionstagebuch
– 72
7.4
Körperliche Untersuchung
7.4.1 7.4.2
Vaginale Untersuchung – 75 Hustentest – 75
7.5
Urinuntersuchung
7.5.1 7.5.2
Uringewinnung – 76 Urinbefundung – 76
– 74
– 76
7.6
Neurourologische Untersuchung
7.6.1 7.6.2 7.6.3 7.6.4
Mentaler Status – 77 Motorische Funktionsprüfung – 77 Sensible Funktionsprüfung – 78 Untersuchung der Reflexaktivität der sakralen Segmente
Literatur
– 79
– 73
– 77
– 78
70
Teil II · Urodynamische Untersuchung
7.1
7
Anamnese
Bei der Anamneseerhebung spielt die Fragestellung eine besondere Rolle, zumal dann, wenn der Patient nicht wegen einer offenkundigen Blasenfunktionsstörung, sondern wegen eines assoziierten Problems den Arzt aufsucht. Die Fragestellung sollte darauf ausgerichtet sein, an den aktuellen Beschwerden des Patienten anzuknüpfen und den Patienten dann zur speziellen Blasenfunktionsanamnese zu führen. Besonders Patienten, die sich nicht wegen des Problems Harninkontinenz an den Arzt wenden, werden der direkten Frage nach einer Inkontinenz ausweichen oder sie gar weit von sich weisen. Die durch den Arzt erfragte Krankengeschichte ist der Grundstein für die Diagnostik. Allerdings ist die Aussagekraft der erhobenen Daten durch die individuelle Fragestellung eingeschränkt, zumal wenn sich die Anamneseerhebung in einem eher ungezwungenen Gespräch entwickelt. Es empfiehlt sich daher, die Anamnese entlang eines Schemas oder einer Liste zu erfragen, so dass eine Reproduzierbarkeit bezogen auf den Arzt und den Patienten gegeben ist. Man wird zunächst nach der Miktionsfrequenz während des Tages und der Nachtruhe sowie nach Schmerzen und Brennen vor, während, gegen Ende und nach der Miktion fragen. Die terminale Strangurie ist typisch für Kolpitis oder Prostatitis. Aber auch nach Missempfindungen bei gefüllter Blase sollte gefragt werden. Vegetative Zeichen wie Schwitzen, Gänsehaut und Schwindel bei voller Blase können bereits Hinweise auf neurologische Störungen der Blasenfunktion geben. Nach gelegentlichem Restharngefühl, Verzögerung beim Miktionsbeginn und Unterbrechungen während der Miktion ist ebenso zu fragen wie nach möglichen Ursachen, mit denen der Patient die Miktionsstörung in Zusammenhang bringt wie z. B. vorausgegangene Unterkühlung, übermäßiger Alkoholgenuss, verstärkte sexuelle Aktivität oder Medikamentenumstellung, vorausgegangene ärztliche Maßnahmen und Operationen sowie Unfälle. Vermehrter Nikotingenuss und Übergewicht scheinen mit einem höheren Inkontinenzrisiko verbunden zu sein, so dass hiernach gefragt werden sollte. Des Weiteren ist nach gelegentlichem unwillkürlichem Urinabgang sowie dessen Häufigkeit und Ausmaß zu fragen. Es schließen sich die Fragen nach dem Beginn der Harninkontinenz an, ob ein spezielles Ereignis, eine Operation oder Ähnliches in einem zeitlichen Zusammenhang stehen. Da man für die Planung weiterer Untersuchungen oder zur Initiierung eines ersten Behandlungsversuches wissen sollte, ob es sich eher um ein Blasen - oder ein Verschlussproblem handelt, werden Informationen über die Situationen zu erfragen sein, in denen Inkontinenzepisoden auftreten. Diese Situationen können etwa körperliche Belastung und Erhöhung des Intraabdominaldrucks wie Husten, Lachen, Niesen, Sport, Heben schwerer Gegen-
stände, Geschlechtsverkehr oder aber Kontakt mit kaltem Wasser, Kälteexposition, Aufregung und psychische Belastung sein. Inkontinenzepisoden können schließlich auch ohne jeden Anlass bzw. während des Schlafens auftreten. Auch ist es wichtig zu wissen, ob Vorzeichen für eine drohende Inkontinenzepisode bemerkt werden, z. B. ein plötzlicher oder imperativer Harndrang. Wie gebieterisch ist der Harndrang? Muss der Patient sofort eine Toilette aufsuchen, erreicht er sie womöglich manches Mal nicht mehr, ohne vorher Urin verloren zu haben, oder kann er den Gang zur Toilette noch etwas aufschieben? Kann er den Harndrang z. B. durch Beckenbodenkneifen unterdrücken und kann er den Harnstrahl willkürlich unterbrechen? Die Frage nach der Anzahl der benutzten Vorlagen oder Binden und danach, ob die Vorlagen nur zur Sicherheit benutzt werden oder aber feucht nach unwillkürlichem Urinabgang gewechselt werden, ob der männliche Patient ein Urinal trägt, ob er dieses ständig oder nur während der Nacht oder bei längeren Unternehmungen wie z. B. Autofahrten benötigt, wenn Toiletten nicht verfügbar sind, gibt Informationen über das Ausmaß der Inkontinenz und die objektive Behandlungsbedürftigkeit. Fragen nach einer etwaigen Einschränkung der Lebensqualität weichen viele Patienten im Gespräch aus. Darüber hinaus wird die subjektive Äußerung vom Untersucher leicht missinterpretiert, so dass die Fragen nach der Lebensqualität eher in einem entsprechenden Fragebogen zu erfassen sind.
7.1.1 Gynäkologische Anamnese
Zur gynäkologischen Anamnese wird die Anzahl der Schwangerschaften und Geburten sowie Komplikationen während der Entbindungen wie z. B. Dammrisse und die Anwendung von Instrumenten bei der vaginalen Entbindung wie Zange oder Saugglocke erfragt. Auch aus der Größe bzw. Gewicht der Kinder bei der Geburt können Rückschlüsse auf Geburtstraumen gezogen werden. Ebenso ist nach Hormonsubstitution, Zyklusstörungen und dem Beginn der Wechseljahre bzw. der Menopause zu fragen.
7.1.2 Operationsanamnese
Vorangegangene Operationen in der Beckenregion können die Blasenfunktion beeinflussen. Gelegentlich wird eine Hysterektomie mit vorderer vaginaler Rekonstruktion als Beginn einer Harninkontinenz angegeben. Sie kann auch mit dem Beginn einer Blasenentleerungsstörung in Zusammenhang gebracht werden. Gelegentlich tritt nach Operationen im kleinen Becken, speziell nach transvaginalem Vorgehen, auch eine extraurethrale Harninkontinenz über eine Blasen- oder Harnleiter-Scheiden-Fistel auf. Nach radikalen Tumoroperationen
71 Kapitel 7 · Anamnese und Basisuntersuchungen
an Uterus oder Rektum kann die Radikalität der Tumorexzision zu Lasten der Blaseninnervation gehen und zu einer teilweisen oder vollständigen Denervation der Harnblase mit mangelnder Sensibilität, großen Restharnmengen und der Notwendigkeit zum Katheterismus führen. Ebenso ist nach Hochvoltbestrahlungen von Tumoren der Beckenorgane zu fragen. Diese begünstigen in den Folgejahrzehnten einen Kapazitätsverlust der Harnblase, die Entstehung von pathologischen Gefäßen mit chronischer Blutungsneigung und Tumoren der Harnblase. Die begleitenden urologischen Beschwerden wie Abschwächung des Harnstrahles, ob die Miktion kontinuierlich abläuft oder stotternd, sowie das Aussehen des Urins sind wichtige Informationen. Ebenso ist die Frage nach Operationen der Prostata und der Harnblase für den Urologen selbstverständlich.
und eine Abnahme der Detrusorkontraktilität stehen allgemein im Vordergrund. Ebenso finden sich allerdings auch Fälle mit Detrusorhyperaktivität mit Inkontinenz. Aber auch Polyneuropathien anderer Genese können Ursache von Blasenfunktionsstörungen sein. Infektionen der Spinalganglien durch neurotrope Viren wie z. B. Herpes Zoster können mit Blasenfunktionsstörungen einhergehen, wenn sie die entsprechenden Segmente befallen. Es stellt sich dann schon kurz vor dem Aufblühen der Herpesbläschen eine Blasenlähmung ein, die sich meist erst 6 bis 12 Monate nach dem Exanthem wieder zurückbildet.
7.1.4 Medikamentenanamnese
Viele (93,6%) der über 60-jährigen inkontinenten Personen sind multimorbid: 7.1.3 Neurologische Anamnese
Auch nach neurologischen Erkrankungen soll grob orientierend gefragt werden, da im Rahmen von Nervenkrankheiten Blasenfunktionsstörungen auftreten können. Hirnatrophische Prozesse wie Morbus Alzheimer führen zum Untergang hemmender zentraler Regelkreise und zum Verlust der Miktionskontrolle. Blasenfunktionsstörungen im Rahmen eines Apoplexes hängen mit der Lokalisation des Insultes zusammen. Bei Morbus Parkinson verliert das Großhirn den hemmenden Einfluss auf efferente Impulse. Die Harnblase wird hyperaktiv. Auch die orthostatische Hypotonie [20] kann als erstes neurologisches Symptom eine Harninkontinenz auftreten. Verletzungen der Wirbelsäule und degenerative Bandscheibenveränderungen, Entzündungen des Rückenmarkes im Rahmen von Infektionskrankheiten (Masern, Rickettsiose, etc.), und angiodysplastische Prozesse beeinflussen ebenfalls die Blasenfunktion. Sie werden im Kap. 22 ausführlich besprochen. Die Multiple Sklerose geht bei 50-80% der Patienten mit Blasenfunktionsstörungen einher. Bei 9% tritt die Blasenfunktionsstörung als Erstmanifestation auf. Eine Detrusorhyperaktivität ist häufiger als eine Akontraktilität. Die Situation der Blaseninnervation kann sich während des Krankheitsverlaufes in Abhängigkeit von den Krankheitsschüben ändern. Die Tabes dorsalis gehört zu den metaluischen Manifestationen. Das erste klinische Anzeichen ist meist irreversible Blasenfunktionsstörungen mit Detrusorareflexie und großen Restharnmengen. Diabetische Neuropathien treten bei 20–40% der Diabetiker etwa 7 bis 10 Jahre nach der Erstmanifestation auf. Gelegentlich führt auch die Abklärung neurologischer Symptome zur Diabetesdiagnose. Sensorische Störungen
⊡ Tab. 7.1. Übersicht der Wirkung von Pharmaka auf den Harntrakt Wirkstoffgruppe
Wirkung auf den Harntrakt
Anticholinergika
Detrusorrelaxation, Verwirrtheit, Obstipation
Antidepressiva
Anticholinerge Wirkung, Sedierung
Antiepileptika
Senkung des Auslasswiderstands
Antihistaminika
Anticholinerge Wirkung, Sedierung
Antiemetika
Anticholinerge Wirkung
ACE-Hemmer
Senkung des Auslasswiderstands
α-Adrenergika/ Clonidin
Erhöhung des Auslasswiderstands
α-Rezeptorenblocker
Blasenhalsrelaxation, Belastungsinkontinenz
β2-Adrenergika
Detrusorrelaxation
β-Blocker
Erhöhung der Detrusorkontraktilität
Cholinergika
Erhöhung der Detrusorkontraktilität
Disopyramid
Harnverhaltung
Diuretika
Polyurie, Harndrang
Kalziumantagonisten
Detrusorrelaxation
Myotonolytika
Senkung des Auslasswiderstands
Narkotika/Morphine
Harnverhaltung, Sedierung, Verwirrtheit
Neuroleptika
Anticholinerge Wirkung
Ophthalmika
s. Clonidin, Cholinergika, Alphaadrenergika
Parkinsonmittel
Anticholinerge Wirkung, Harnverhaltung
Prostaglandinantagonisten (F2 α)
Erhöhung der Detrusorkontaktilität
Prostaglandinantagonisten
Detrusorrelaxation
Psychopharmaka
Anticholinerge Wirkung, Harnverhaltung
Sedativa
Harnverhaltung
Vincristin [17]
Harnverhaltung
7
72
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Etwa 43% der Personen leiden an 4 bis 6 weiteren Erkrankungen und 28% dieser Personen sogar an mehr als 6 Erkrankungen [10]. Diese Erkrankungen werden in der Regel behandelt. Zahlreiche dieser Medikamente, die chronisch Kranke als Dauermedikation zu sich nehmen müssen, beeinflussen die Blasenfunktion (⊡ Tab. 7.1).
7.2
7
Fragebögen
Fragebögen sollen das Bestehen und den Schweregrad von Symptomen im Bereich des unteren Harntraktes erfassen und deren Einfluss auf die Lebensqualität dokumentieren. Fragebögen versuchen also, subjektive Empfindungen objektiv messbar zu machen. Einzelne derzeit validierte Fragebögen werden im Anhang angeführt. Die Entwicklung und Ausarbeitung von Fragebögen ist komplex: Um sicher zu sein, dass ein Fragebogen die vorgegebenen Daten zuverlässig erfasst und misst, sowie geeignet ist für die Anwendung unter Untersuchungs- und Forschungsbedingungen, muss dies mit Hilfe von Studien und deren Auswertungen belegt werden. Dabei sind Präzision und Genauigkeit der einzelnen Maßeinheiten sowie die psychometrischen Eigenschaften einschließlich Validität, Zuverlässigkeit und Empfindlichkeit besonders wichtig. Dann können Erhebungen durch einen Fragebogen durchaus den Stellenwert einer klinischen Untersuchung erlangen [9]. Zur klinischen Anwendung muss ein Fragebogen umfassend, aber kurz und verständlich abgefasst sein. Die Fragen müssen selbsterklärend sein, so dass sie vom Patienten selbständig beantwortet werden können. Darüber hinaus sollen Veränderungen der Patientensituation, z. B. als Folge einer Behandlung, mit Hilfe des Fragebogens erkannt werden können. Im angloamerikanischen Raum wurde eine Anzahl validierter Fragebögen sowohl zur Bewertung von Symptomen des unteren Harntraktes als auch speziell zur Bewertung von Harninkontinenzbeschwerden entwickelt. Lediglich zwei Fragebögen liegen bisher in validierter deutscher Übersetzung vor: der I-PSS (Internationaler Prostata-Symptom-Score) und der King’s Health Questionnaire ( Anhang). Der I-PSS umfasst sieben Symptomfragen und eine Frage zur Lebensqualität. Der I-PSS wird von der World Health Organisation of International Consultation on BPH als internationaler Maßstab für die Symptome des unteren Harntraktes empfohlen [8]. Der I-PSS umfasst drei Fragen zur Erfassung irritativer Symptome: ▬ gehäuftes Wasserlassen ▬ imperativer Harndrang ▬ Nykturie
sowie vier Fragen zu obstruktiven Symptomen: ▬ Harnstottern ▬ schwacher Harnstrahl ▬ Restharngefühl ▬ initiales Pressen Es werden sechs Kategorien zwischen »niemals« und »fast immer«, bei der Nykturie zwischen »niemals« und »fünf und mehr« unterschieden. Die Punkte werden gleichgewichtig addiert. Eine Punktzahl von 0–7 beschreibt eine milde, eine Punktzahl von 8–19 eine moderate und eine Punktzahl von 20–35 eine schwere Symptomatik. Zur Beantwortung der Frage nach der Lebensqualität stehen sieben Abstufungen zwischen »ausgezeichnet« und »sehr schlecht« zur Verfügung. Der ICIQ-SF [23] wird in den Leitlinien der EAU zur Erfassung des Schweregrades einer Harninkontinenz empfohlen. Er umfasst 4 Fragen, 3 Fragen sind mit einer Bewertung versehen: ▬ Wie oft verlieren Sie unwillkürlich Urin? ▬ Wir möchten wissen, wieviel Urin Sie glauben zu verlieren. Wieviel Urin verlieren Sie gewöhnlich? ▬ Wie sehr beeinträchtigt der unwillkürliche Urinverlust Ihr tägliches Leben? ▬ Wann verlieren Sie Urin? Der King’s Health Questionnaire wurde im King’s College Hospital, London entwickelt und untersucht die Lebensqualität inkontinenter Frauen mehrdimensional [12]. Der Fragebogen wird zunehmend auch in klinisch-pharmakologischen Untersuchungen als variabler Zielparameter eingesetzt [17]. Der Fragebogen ist nicht zur Differenzierung zwischen Drang- und Belastungsinkontinenzinkontinenz geeignet. Der Fragebogen gliedert sich in drei Abschnitte: ▬ Erster Abschnitt: zwei Fragen zur allgemeinen Gesundheit ▬ Zweiter Abschnitt: insgesamt 19 Fragen zu 7 Teilaspekten: Einschränkung der Alltagsaktivitäten, körperliche und soziale Einschränkung, Beeinträchtigung der persönlichen Beziehungen, Auswirkung auf die Stimmungslage und Beeinträchtigung der Nachtruhe wird in einer 4-Punkte-Skala bewertet: – überhaupt nicht – ein wenig – mäßig (oft) – sehr (immer) ▬ Dritter Abschnitt: Elf Fragen nach der Belastung werden durch die Harninkontinenz in einer 3-PunkteSkala bewertet. Hierbei wird im Einzelnen nach den Auswirkungen der Drang- und der Belastungsinkontinenz, Inkontinenz beim Geschlechtsverkehr, Blasenschmerzen, Harnwegsinfekten und erschwertem Wasserlassen gefragt. Die Bewertung der Fragen ist
73 Kapitel 7 · Anamnese und Basisuntersuchungen
in einem gleichgewerteten Score von 0–100 zusammengefasst, wobei die Lebensqualität mit steigender Punktzahl abnimmt Der King’s Health Questionnaire kann allerdings auf vier Fragen reduziert werden, ohne dass die Aussagekraft wesentlich beeinflusst wird: ▬ In welchem Ausmaß beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Sie bei der Erledigung Ihrer Aufgaben im Haushalt? ▬ Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihre berufliche Arbeit oder Ihre Aktivitäten außerhalb des Hauses? ▬ Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihren Schlaf? ▬ Fühlen Sie sich wegen Ihres Blasenproblems erschöpft oder müde? Ein weiterer häufiger benutzter validierter Fragenkatalog zur Lebensqualität ist der Incontinence Quality of Life Questionnaire (IQOL). Die Fragen gewichten die psychische Belastung der Patientin durch die Harninkontinenz mehr als der King’s Health Questionnaire [16]. Als validierter Fragebogen zur Differenzierung von Belastungs- und Dranginkontinenz bzw. zur Gewichtung von Belastungs- und Drangkomponente bei der Mischinkontinenz wird der Stress/Urge Incontinence Questionnaire (S/UIQ) vorgeschlagen [15] Es werden lediglich 2 Fragen gestellt: ▬ Wie oft kam es bei Ihnen in den letzten 7 Tagen beim Husten, Niesen, Lachen, Laufen, Sport treiben oder Heben zu einem unwillkürlichen Abgang von Urin in Ihre Kleidung, Unterwäsche oder Vorlage? ▬ Wie oft kam es bei Ihnen in den letzten sieben Tagen zu einem unwillkürlichen Abgang von Urin in Ihre Kleidung, Unterwäsche oder Vorlage, weil Sie plötzlich einen so starken Harndrang verspürten, dass Sie die Toilette nicht mehr rechtzeitig erreichen konnten? Insbesondere im Rahmen von pharmakologischen Studien zur Zulassung von Medikamenten wird zunehmend der modified mini-mental state Questionnaire(3MS) eingesetzt [2]. Der 3MS ist ein validierter Fragebogen zur Erfassung von Störungen der kognitiven Fähigkeiten, was speziell bei älteren Patienten von großer Bedeutung ist. Liquorgängige Medikamente, insbesondere Anticholinergika, haben gezeigt, dass sie reversible kognitive Störungen verursachen und somit den Patienten negativ beeinflussen können, so dass dies möglichst schon vor der Zulassung bekannt sein sollte.
7.3
Miktionskalender, Miktionsprotokoll, Miktionstagebuch
Das Protokollieren der Miktionen erlaubt, die anamnestisch erhobenen Angaben des Patienten in Bezug auf
Miktionsfrequenz, Nykturie und Inkontinenzepisoden zu präzisieren und zu verifizieren. Die International Continence Society [11] definiert entsprechend der Ausführlichkeit der erhobenen Informationen drei Formen von Miktionskalendern: ▬ Auf einem Miktionskalender werden vom Patienten oder von betreuenden Personen die Zeitpunkte aller Miktionen am Tag und während der Nachtruhe über einen Zeitraum von mehreren Tagen aufgezeichnet. Vorgedruckte Zeitrasterpläne können dem Patienten die Arbeit erleichtern ▬ In einem Miktionsprotokoll wird das Volumen jeder Miktion gemessen und aufgeschrieben ▬ In einem Miktionstagebuch werden neben den einzelnen Miktionen und den jeweiligen Volumina auch die Trinkmengen und von der Blase ausgehende Symptome wie imperativer Harndrang und Inkontinenzepisoden aufgezeichnet. Darüber hinaus können zusätzliche Daten wie körperliche Anstrengung und sportliche Betätigung, das Gewicht der benutzten Vorlagen vor und nach Gebrauch aufgezeichnet werden und zusammen mit einem Medikamenteneinnahmeprotokoll wichtige Informationen geben Das Führen eines Miktionstagebuches erfordert vom Patienten ein erhebliches und ungewohntes Maß an Mitarbeit. Werden die Aussagekraft der eingetragenen Daten und der Bedeutung der Befunde für die Therapieplanung und gegebenenfalls auch für die Planung weiterführender Untersuchungen erklärt, kann das Eigeninteresse des Patienten geweckt und das Verantwortungsbewusstsein für die korrekte Durchführung erhöht werden. Zur Erleichterung der Mitarbeit und zur Erhöhung der Messgenauigkeit sollte dem Patienten ein kalibrierter Messbecher mitgegeben werden und das Ablesen der einzelnen Miktionsmengen von Mitarbeitern mit dem Patienten geübt werden. Ein Tagebuch, in dem 2 bis 3 Tage exakt protokolliert werden, ergibt genügend aussagekräftige Informationen. Es empfiehlt sich, die Messung an Tagen durchzuführen, an denen sich der Patient vorwiegend in häuslicher Umgebung aufhält. Das Führen eines Miktionstagebuches bringt eine sonst unbeachtete Körperfunktion in das Bewusstsein des Patienten. Er lernt die Situationen zu erkennen, in denen Harninkontinenz auftritt. Durch das Realisieren solcher Situationen kann der Patient versuchen, das Problem zu entschärfen. Die aufgezeichneten Miktionsdaten geben bei Miktionsprotokoll und Miktionstagebuch eine detaillierte Information über die Miktionsfrequenz, die einzelnen Volumina und die Gesamtausscheidung über 24 Stunden. Auf diese Weise kann zum Beispiel eine Pollakisurie (8 und mehr Miktionen) von einer Polyurie (mehr als 2800 ml Urinausscheidung) unterschieden werden. Während die Pollakisurie auf ein abzuklärendes Kapazitätsproblem der Harnblase
7
74
7
Teil II · Urodynamische Untersuchung
hinweist, deutet eine Polyurie auf Krankheiten außerhalb des unteren Harntraktes hin. Es muss dann an einen Verlust der Konzentrationsfähigkeit im Rahmen einer Niereninsuffizienz, an osmolare Störungen wie z. B. ein schlecht eingestellter oder erstmals auffällig werdender Diabetes mellitus oder an einen Mangel an antidiuretischem Hormon gedacht werden. Fällt eine nur auf die Nacht begrenzte Polyurie auf, eventuell begleitet von seltenen Toilettengängen in den Vormittagsstunden, liegt ein hydrostatisches Problem nahe, eventuell eine larvierte Herzinsuffizienz. Dies muss ebenfalls internistisch abgeklärt und behandelt werden. In den Beinen können bis zu einem Liter Flüssigkeit eingelagert werden, ohne dass Ödeme erkennbar sind. Weist das Tagebuch neben kleinen Miktionsvolumina, eventuell zu bestimmten Tageszeiten, auch große Volumina nach, sollte an situationsbedingte psychische Belastungen gedacht und dies mit dem Patienten im Gespräch erarbeitet werden. Das Miktionstagebuch definiert die Ausgangslage vor einem Behandlungsbeginn und stellt gerade beim alten, pflegebedürftigen Patienten eine der wenigen, zumutbaren Untersuchungen dar. Es ist, wenn es exakt geführt wird, ein sehr valider Parameter für die Beurteilung eines Therapieerfolges. Es ist aber auch eine unverzichtbare Screeninguntersuchung bei der Planung komplexer, invasiver, urodynamischer Untersuchungen.
7.4
Körperliche Untersuchung
Die körperliche Untersuchung beginnt bereits mit der Beobachtung des Patienten beim Betreten des Sprechzimmers oder des Untersuchungsraumes. Die Beweglichkeit bzw. etwaige Bewegungseinschränkungen beim Gehen, Setzen und Erheben aus der sitzenden Position sind zu beurteilen. Auch beim Entkleiden zur Untersuchung sollte der Arzt einen Blick auf die Fertigkeiten des Patienten werfen. Durch das Erkennen von Problemen bei diesen Tätigkeiten können Rückschlüsse auf die Geschicklichkeit beim Toilettengang gezogen werden. Ein Patient, der sich unter großer körperlicher Anstrengung und unter erheblicher Anspannung der Bauchmuskulatur erhebt, sich mühsam zur Toilette bewegt und mit Schwierigkeiten nur langsam entkleiden kann, bedarf in erster Linie pflegerischer Assistenz und eines Toilettentrainings bzw. einer Anleitung zur Miktion. Die Untersuchung des Abdomens findet in Rückenlage statt und beginnt mit der Inspektion der Haut, wobei diese auch nach Narben abzusuchen ist. Die Harnblase ist nur bei erheblicher Füllung bereits bei der Inspektion als sanft vorgewölbter Tumor zwischen Symphyse und Nabel zu erkennen. Die Nieren bzw. Nierenlager werden am besten bimanuell untersucht, wobei man die Nieren von ventral
und dorsal zwischen die Hände nimmt und sich die Niere zur Palpation nach ventral anhebt. Die Schmerzhaftigkeit wird durch eine ruckartige Bewegung mit der dorsal positionierten Hand geprüft. Alsdann drückt man mit dieser dorsalen Hand nach medial auf den Rand des M. psoas und M. quadratus lumborum, um Rückenschmerzen differentialdiagnostisch einer verspannten Rückenstreckmuskulatur oder dem Nierenlager zuordnen zu können. Hiernach palpiert man in Verlaufsrichtung der Harnleiter und wird auch die Druckschmerzhaftigkeit des McBurney-Punktes und weiter kaudal der Region der weiblichen Adnexe prüfen. Die Harnblase liegt hinter der Symphyse und ist in leerem Zustand weder palpier- noch perkutierbar. Erst bei einer Füllung von mehr als ca. 200 ml hebt sich das Blasendach so über den Symphysenrand, dass die Blase perkutierbar wird. Um die Harnblase auch tasten zu können, muss der M. detrusor vesicae angespannt oder die Blase prall gefüllt sein. Wurde der Patient vor der Untersuchung aufgefordert, eine Urinprobe für die Laboruntersuchung abzugeben, und sollte er dabei auch die Blase entleeren, so kann bei der körperlichen Untersuchung zugleich auch eine sonographische Restharnkontrolle erfolgen. Die Untersuchung ist auf Grund der Begleitumstände nicht in jedem Falle reproduzierbar und aussagekräftig, so dass es sich empfiehlt, die Untersuchung gegebenenfalls zu wiederholen. Es existieren keine zuverlässigen Normwerte, aber eine Restharnmenge von unter 50 ml wird als normal und eine Restharnmenge über 200 ml in jedem Falle als pathologisch angesehen [19]. Die Nieren können in Rücken- oder Halbseitenlage sonographisch untersucht werden. In Halbseitenlage trifft der Ultraschall das Organ bei longitudinaler Projektion im Sektionsschnitt, die Sicht auf das Organ wird durch Darmgasüberlagerung nicht gestört, da die Untersuchungsebene hinter dem Kolon verläuft. Es empfiehlt sich, den Arm der zu untersuchenden Seite über den Kopf legen zu lassen, da so der Thorax angehoben und die Interkostalräume breiter geöffnet werden. Stabilität erhält der Patient, indem er das Bein der zu untersuchenden Seite streckt und das darunter liegende Bein anzieht. Die Untersuchung der Genitalorgane des Mannes erfolgt ebenfalls in Rückenlage. Die Glans ist nach Retrahieren der Vorhaut ebenso wie der Meatus urethrae auf Entzündungszeichen zu untersuchen. Eine Meatusstenose muss ausgeschlossen werden. Bei der Palpation des Penisschaftes sollte der untersuchende Finger die auf der Ventralseite gelegene Harnröhre vom Perineum aus mit etwas Druck abfahren, um Fremdkörper bzw. Steine zu tasten oder auch entzündliches Material zur Laboruntersuchung herauszudrücken. Die rektale Untersuchung kann in Knie-EllenbogenLage oder in Steinschnittlage, in nach vorn übergebeugter Position im Stehen oder im Rahmen der klinischen Untersuchung in Seitenlage durchgeführt werden. Der
75 Kapitel 7 · Anamnese und Basisuntersuchungen
entkleidete Rücken sollte zunächst auf Narben, Hämangiome, hyperpigmentierte oder umschrieben behaarte Areale, Hautvertiefungen und subkutane Lipome im Verlauf der lumbo-, sakro-, kokzygealen Wirbelsäule als Hinweis auf eine okkulte spinale Dysrhaphie inspiziert werden. Vor der digitalen Penetration muss der Anus auf Hämorrhoidalknoten und Fissuren untersucht werden. Nach Einführen des Fingers ist der Analtonus in Relaxation und Anspannung zu beurteilen und das Rektum zunächst nach Resistenzen auszutasten. Die Prostata wird auf ihre Größe, Oberfläche und Konsistenz, ihre Abgrenzbarkeit gegenüber der Umgebung, das Vorhandensein des Sulkus zwischen den Seitenlappen und die Druckempfindlichkeit hin untersucht. Je nach Indikation kann bei dieser Untersuchung eine Massage der Prostata zur Gewinnung von Exprimat zur mikroskopischen und mikrobiellen Untersuchung durchgeführt werden. Die transrektale Ultraschalluntersuchung (TRUS) kann bei Bedarf in der Seitenlage zur Größenbestimmung und Abgrenzbarkeit der Prostata direkt im Anschluss an die rektale Untersuchung vorgenommen werden. Hierzu wird ein mit ca. 5 ml Sonographiegel gefülltes Kondom über den Schallkopf gestreift und fixiert. Die Spitze des so vorbereiteten Schallkopfes wird mit Sonographiegel versehen, das sowohl der Ankopplung als auch als Gleitmittel beim Einführen dient. Die zonale Anatomie der Prostata ist gut darstellbar, eine Gewebedifferenzierung im Sinne einer Karzinomdiagnostik bleibt aber der histologischen Untersuchung vorbehalten.
7.4.1 Vaginale Untersuchung
Die vaginale Untersuchung der Frau muss in Steinschnittlage erfolgen. Bei der Inspektion des äußeren Genitales ist auf Hautläsionen, Irritationen und Entzündungszeichen, am Meatus urethrae auf Karunkel und eine mögliche Vernarbung oder Stenose zu achten. Bei der Betrachtung der Scheide ist auf eine Rötung der Schleimhaut, Schleimabsonderungen und Urin zu achten. Urin in der Scheide erweckt den Verdacht auf eine urogenitale Fistel, einen ektop mündenden Harnleiter oder eine Hypospadie. Darüber hinaus ist auf die Beschaffenheit der hormonabhängigen Schleimhaut und die quer angeordneten Rugae der Vaginalwand als Hinweis auf eine gute Östrogenisierung zu achten. Der Säuregrad des Scheidensekretes sollte einen niedrigeren Wert als pH 4,5 haben und kann leicht mit Indikatorpapier verifiziert werden. Ferner muss auf eine bestehende Zystozele, eine Rektozele oder einen zervikalen Deszensus geachtet werden. Um das Ausmaß des Deszensus besser beurteilen zu können, wird die Patientin aufgefordert, kräftig zu pressen. Im Stehen und bei wiederholtem Pressen tritt der Befund
ausgeprägter hervor. Eine gut fixierte Vaginalwand kreuzt nicht die longitudinale Achse des Scheidenkanals. Im Falle einer mangelhaften Fixation bzw. einer Hypermobilität des Blasenhalses sinkt dieser nach kaudal ab, wobei die Rugae der vorderen Scheidenwand verstreichen. Bei einer mangelhaften Fixation der rektovaginalen Faszie fällt das Rektum (Rektozele) oder der Dünndarm (Enterozele) vor. Zur Standardisierung des Prolapses der weiblichen Beckenorgane hat die International Continence Society (ICS) eine Terminologie der Beckenbodendysfunktion vorgeschlagen [7]. Hierzu wurde eine lagespezifische, quantitative Beschreibung des Stützapparates entworfen, die auf drei Messgrößen beruht: der anterior-posterioren Länge des Scheideneinganges, der Länge des Dammes und der maximalen Länge des Scheidenkanals. Auf die spezielle Stadieneinteilung wird in Kap. 18 eingegangen. Das ICS-System kann aber keine spezifischen Defekte der Stützmechanismen im Becken oder Ursachen für topographische Veränderungen identifizieren oder die für eine dauerhafte Korrektur erforderlichen operativen Schritte bestimmen [11] Zahlreiche Verfahren wie Endoskopie, bildgebende Verfahren, Fotografie, neuromuskuläre Testverfahren, aber auch ergänzende Techniken der körperlichen Untersuchung und die intraoperative Identifikation von Fasziendefekten ergänzen die chirurgische Strategie. Als eine weitere Technik der körperlichen Untersuchung ist die vaginale Palpation zu nennen. Man tastet das Perineum von vaginal her ab und beurteilt seine Konsistenz zwischen zwei Fingern. Ferner tastet man die Levatorblätter sowie den M. bulbospongiosum ab. Die Patientin wird aufgefordert den Beckenboden zusammenzukneifen, so dass die Muskelkraft beurteilt und gegebenenfalls eine Seitendifferenz festgestellt werden kann. Bei kräftigem Husten wird die Fähigkeit des Beckenbodens zur Reflexkontraktion überprüft. Insgesamt können drei Qualitäten eines Muskels unterschieden werden: ▬ Muskelstärke, definiert als die maximale Kraft und Spannung, die durch einen Muskel oder eine Muskelgruppe erzeugt werden kann ▬ Muskelschwäche, definiert als Unfähigkeit, die erwartete Kraft zu erzeugen ▬ Ermüdbarkeit, definiert als Versagen, bei andauernder oder wiederholter Kontraktion die erwartete Kraft beizubehalten
7.4.2 Hustentest
Wenn eine Harninkontinenz vermutet wird, soll in Steinschnittlage ein Hustentest durchgeführt werden: Aus guter Relaxation heraus wird die Patientin aufgefordert, sehr kräftig zu husten, während der Untersucher den Meatus urethrae auf Urinabgang hin beobachtet. Bei
7
76
7
Teil II · Urodynamische Untersuchung
nur geringen Urinmengen kann man Löschpapier zu Hilfe nehmen, um den Urinabgang besser zu erkennen. Geht Urin simultan zum Hustenstoß ab, handelt es sich vermutlich um eine Belastungsinkontinenz, geht Urin verzögert ab oder hält der Urinabgang länger an, kann eine Detrusorüberaktivität mit Dranginkontinenz vermutet werden. Der Test lässt sich am besten mit gut gefüllter Harnblase durchführen, es sollte aber kein Harndrang bestehen. Lässt sich durch Husten auch bei annähernd leerer Blase Urinabgang provozieren, spricht das für einen intrinsischen Sphinkterdefekt. Kann in Steinschnittlage kein Urinabgang provoziert werden, sollte der Test im Stehen wiederholt werden. Beim Bonney-Test wird in der Originalversion die Senkung der vorderen Scheidenwand reponiert. Durch das Anheben des Scheidendaches wird eine Patientin, bei der derHustentest positiv war, kontinent [3]. Eine ausführliche Beschreibung des Testes findet sich in Kap. 18. Wird durch das Anheben des vorderen Scheidengewölbes eine echte Zystozele reponiert, kann eine Frau, bei der zuvor der Hustentest negativ war, jetzt inkontinent werden. Die Mobilität der Urethra und des Blasenhalses lässt sich mit einem Watteträger demonstrieren, den man angefeuchtet in die Harnröhre bis zum Blasenhals einführt. Bei Husten und Pressen bewegt sich dann das Holzende des Watteträgers nach vorne und oben, wenn die Fixation des Blasenhalses mangelhaft ist. Zugleich kann auch die Kraft und die Ausdauer des Beckenbodens untersucht werden. Bei Zusammenkneifen des M. levator bewegt sich das Holzende nach dorsal und unten. Das Ausweichen des Watteträgers wird auf einem Winkelmesser abgelesen. Leidet die Patientin trotz eines kräftigen und ausdauernden Levatormuskels an Harninkontinenz, kann das Trainig der Fast-twitch-Fasern die Kontinenz bessern. Auch bei der Frau sollte eine abschließende rektale Untersuchung zum Ausschluss eines Rektumkarzinoms, im Falle von chronischer Obstipation oder bei Vorliegen einer Rektozele auch zur Feststellung von Kotballen in der Rektozele durchgeführt werden. Eine solche kotgefüllte Rektozele kann die in der vorderen Scheidenwand verlaufende Harnröhre komprimieren und hierdurch auch eine Blasenentleerungsstörung verursachen. Wird die rektale Untersuchung in Steinschnittlage durchgeführt, kann eine orientierende neurologische Untersuchung eingeschlossen werden. Hierauf wird in Kap. 7.6 ausführlich eingegangen.
7.5
Urinuntersuchung
Die Untersuchung des Urins liefert für die Erkennung und Abklärung von Krankheiten, die für Blasenfunktionsstörungen verantwortlich sein können, unerlässliche Befunde.
7.5.1 Uringewinnung
Unrinuntersuchungen sollten mit frisch gelassenem Harn durchgeführt werden. Zur Untersuchung kann der Urin als Mittelstrahlurin, durch Einmalkatheterismus oder durch suprapubische Punktion der Harnblase gewonnen werden. Zur Gewinnung von Mittelstrahlurin muss der Mann die Vorhaut retrahieren und die Frau die Schamlippen spreizen. Nur der Normalbefund ist bei der Frau aussagekräftig, bei Vorliegen eines pathologischen Urinbefundes sollte der Urin wegen der Möglichkeit der Verunreinigung aus dem Vulvabereich durch Einmalkatheterismus entnommen werden. Zur Uringewinnung bei Säuglingen und Kleinkindern kann ein Einmalklebebeutel verwandt werden, der nach Säubern der Genitalregion faltenfrei auf die gespannte Haut der Perigenitalregion geklebt wird. Zur bakteriologischen Weiterverarbeitung sollte bei diesem Vorgehen nur Urin verwandt werden, der vor weniger als 30 min gelassen wurde. Bei Katheterträgern kann der Urin aus einem Auffangbeutel zur Bearbeitung nur dann verwendet werden, wenn der Beutel frisch angelegt wurde und der Urin nicht älter als 2–4 h ist. Ansonsten ist der Dauerkatheter abzuklemmen, damit der Harn dann aus der Blase frisch abgelassen werden kann. Die suprapubische Blasenpunktion zur Harngewinnung wird beim Erwachsenen nur selten und eher beim Säugling und Kleinkind vorgenommen. Die Blase muss gefüllt sein. Dies kontrolliert man am zuverlässigsten sonographisch. Eine Behandlung mit Marcumar oder Thrombozytenaggregationshemmern stellt ebenso wie ein Blasentumor eine Kontraindikation für die Punktion dar. Zur Uringewinnung bei Säuglingen reicht eine Nadel der Größe No 12, bei Kindern und normalgewichtigen Erwachsenen eine 10 cm lange Nadel No 1. Nach Desinfektion der Bauchhaut wird die Nadel beim Kind einen Querfinger, beim Erwachsenen zwei Querfinger oberhalb der Symphyse in der Medianlinie im rechten Winkel zur Bauchdecke eingestochen. Der Urin wird mit einer 10 mlEinmalspritze aspiriert.
7.5.2 Urinbefundung
Der frisch gelassene Urin ist klar, die Farbe variiert in Abhängigkeit vom Harnzeitvolumen zwischen wasserhell und bernsteinfarben. Eine Trübung des Urins kann das Ausfallen von Kalziumphosphaten, Kalziumkarbonaten oder Uraten, durch Pyurie, Hämaturie, Lipurie und Chylurie bedingt sein. Der Säuregehalt des frisch gelassenen Urins ist schwach sauer (pH 5–6). Der pH-Wert ist nahrungsabhängig. Alkalische pH-Werte werden bei Infektionen durch ureasebildende Erreger, bei renal-tubulärer Azidose und nach längerem Stehenlassen gefunden.
77 Kapitel 7 · Anamnese und Basisuntersuchungen
Für die orientierende Untersuchung des Urins auf das Vorhandensein von Eiweiß, Erythrozyten bzw. Hämoglobin, Leukozyten und Nitrit sind vorgefertigte Kombinationsteststreifen (Stix) geeignet und herkömmlichen Methoden an Einfachheit, Schnelligkeit, Sauberkeit und Wirtschaftlichkeit überlegen. Er ersetzt nicht die mikroskopische Untersuchung des Sedimentes. Der Nachweis einer Proteinurie ist vieldeutig und beweist nicht einmal eine Erkrankung der Nieren oder Harnwege. Nach körperlicher Anstrengung, bei Fieberzuständen, deren Ursache nicht im Harntrakt liegt, und bei orthostatischen Störungen im Schulkindalter ist eine Proteinurie ein bekanntes Phänomen ohne Krankheitswert. Auch bei stark alkalischem Urin (>pH 9), nach Einnahme von chininhaltigen Medikamenten und Infusionen von Polyvinylpyrrolidon zeigen Stix falsch positive Reaktionen. Ein Gehalt von mehr als 30 mg/dl ist pathologisch. Erythrozyten unterliegen in alkalischem Harn mit niedrigem spezifischem Gewicht bei Zimmertemperatur rasch der Hämolyse. Diese beginnt bereits in der Harnblase. Daher haben Stix als Nachweismethode den Vorteil, dass sie neben den intakten Erythrozyten auch freies Hämoglobin erfassen. Als pathologisch werden ca. 10 Erythrozyten/mm3 im Nativurin oder mehr als zwei Erythrozyten pro Gesichtsfeld bei 400-facher Vergrößerung im Sedimenturin angesehen. Eine Erythrozyturie ist ein vieldeutiges Symptom, das vor invasiven urodynamischen Untersuchungen weiterer urologischer Abklärung bedarf. Auch die Menge der Leukozyten im Urin ist vom Harnzeitvolumen abhängig. Eine Leukozyturie gilt als pathologisch, wenn mehr als fünf Leukozyten pro Gesichtsfeld des Sedimenturins oder 70–100 Leukozyten/ mm3 nachweisbar sind. Zwar kann auch bei einer Glomerulonephritis oder einer nicht infizierten Urolithiasis eine Leukozyturie nachgewiesen werden, aber hier steht die Erythrozyturie im Vordergrund. Für den Harnwegsinfekt ist die Leukozyturie pathognomonisch. Auf den meisten vorgefertigten Reagenzträgern ist auch ein Nachweisfeld für Nitrit aufgetragen. Zahlreiche Bakterien reduzieren Nitrat zu Nitrit, so dass die Anwesenheit dieser Bakterien bei einer positiven Reaktion auf dem Testfeld qualitativ nachgewiesen ist. Besteht auf Grund einer Erythro- oder Leukozyturie bzw. bei Nachweis von Nitrit der Verdacht auf eine Harnwegsinfektion, so muss eine weitere mikrobielle Untersuchung mit dem Ziel der Keimisolierung, Identifikation und Resistenzbestimmung erfolgen. Zur primären Anzüchtung der Bakterien aus dem Urin eignen sich vorgefertigte Eintauchnährböden oder in Petrischalen ausgegossener Blut-, CLED- oder Müller-Hinton-Agar, bzw. abhängig von der Verdachtsdiagnose Spezialnährböden in spezieller Atmosphäre.
7.6
Neurourologische Untersuchung
Eine einfache neurologische Untersuchung sollte auch für den Urologen Standard sein. Sie dient dazu, sich grob orientierend über die für den unteren Harntrakt relevante Innervation zu informieren. Die neurologische Untersuchung in Ergänzung zum urologischen Befund gliedert sich auf in einen allgemeinen neurologischen Untersuchungsbefund, u. a. mit Beurteilung des mentalen Zustandes, der Gehfähigkeit und der Handfunktion, andererseits wird dabei die motorische und die sensorische Funktion im Bereich der Segmente geprüft, die den unteren Harntrakt nerval versorgen, ergänzend wird auch eine Reflexprüfung dieser Segmente durchgeführt.
7.6.1 Mentaler Status
Die Beurteilung des mentalen Status beinhaltet im Wesentlichen eine Beobachtung der allgemeinen Reaktionsfähigkeit des Patienten. Dies schließt ein, ob er z. B. adäquat auf Fragen antwortet, ob sich seine Bewegungsabläufe und Handlungen situationsgerecht darstellen, ob eine zeitliche und räumliche Orientierung vorhanden ist. Man beurteilt die Sprache und die Denkfähigkeit. Hintergrund ist die Einbeziehung des mentalen Status in das später zu erstellende therapeutische Konzept (z. B. geistige Fähigkeit zum Erlernen des intermittierenden Selbstkatheterismus).
7.6.2 Motorische Funktionsprüfung
Zur Beurteilung der motorischen Funktion wird grob die Koordinationsfähigkeit geprüft, es werden motorische Ausfälle im Sinne einer Parese dargestellt, ein Tremor wird erfasst, der Mobilitätszustand beschrieben (Fußgänger, Rollstuhlfahrer) und die Muskelmasse beurteilt unter dem Aspekt eventueller Atrophien. Der Nervus tibialis anterior (L4/L5) und der Fußextensor (L5/S1) können durch Dorsalflexion, Plantarflexion und durch Beurteilung der Zehenextension (⊡ Abb. 7.1) getestet werden. Klagt ein Patient über eine entsprechende muskuläre Schwäche, gilt es festzuhalten, ob ▬ die muskuläre Schwäche fokal oder generalisiert ist, die muskuläre Schwäche organisch oder funktionellen Ursprungs ist ▬ die Ursache der Parese oder Lähmung auf einer Abnormität des oberen oder unteren motorischen Neurons beruht bzw. durch intrinsische muskuläre Erkrankungen hervorgerufen wird
7
78
Teil II · Urodynamische Untersuchung
unterscheiden. Ergänzend sollte auch eine Untersuchung auf Temperaturempfindung vorgenommen werden. Wichtige sensible Dermatome sind L1 (Penisschaft, Oberteil des Skrotums), L1/L2 (mittleres Skrotum, kleine Labien), L3 (Vorderteil des Knies), S1 (Fußsohle und seitliche Fläche des Fußes), S1–S3 (Beckenboden und perianale Haut) und S2–S4 (Sakralwurzeln, die einerseits den urethralen, andererseits auch den analen Sphinkter versorgen; ⊡ Abb. 7.2). Die sensible Untersuchung schließt kutane Sakralreflexe ein.
7.6.4 Untersuchung der Reflexaktivität
der sakralen Segmente Neurologische Reflexe sind jene, die bei neurologisch normalen Patienten nicht vorhanden sind. Der am besten bekannte Reflex ist der Babinski-Reflex. Kutane Reflexe sind motorische Antworten auf einen kutanen Reiz. Der hier bekannteste kutane Reflex in der Urologie ist der Bulbokavernosusreflex.
7
Bulbokavernosusreflex (S2–S4) Er ist auslösbar durch Kneifen der Glans penis bzw. der Klitoris und Prüfung der Kontraktion durch im Rektum einliegenden Finger. Das Fehlen des Bulbokavernosusreflexes kann Hinweis sein für eine Sakralnervenschädigung. Er ist nicht auslösbar bei Patienten mit einer kompletten unteren motorischen (subsakralen) Neuroläsion. ⊡ Abb. 7.1. Topographie der Rückenmarkssegmente und der Spinalnerven bezogen auf die Wirbelsäule beim Erwachsenen (aus Schiebler u. Schmidt [18])
7.6.3 Sensible Funktionsprüfung
Hier wird bestimmt, wie sich die sensiblen Empfindungen an der Haut unterhalb des Dermatoms D12 darstellen. Segmente über D12 sind aus urologischer Sicht von geringerer Relevanz. Die Gefühlsempfindung selbst prüft einerseits die Sensibilität für einen Nadelstich, andererseits auch für leichte Berührung (Wattebausch). Das Ergebnis der Untersuchung wird nach drei Stufen klassifiziert mit ▬ 0 fehlend ▬ 1 beschädigt (teilweise vorhanden oder verändert) ▬ 2 normal Bei der Prüfung des Nadelstichempfindens wird zusätzlich beurteilt, ob eine Fähigkeit besteht, spitz und stumpf zu
Kutaner Analreflex (S4–S5) Leichtes Streicheln der Mukokutanea perianal verursacht eine sichtbare oder spürbare Analsphinkterkontraktion. Manchmal genügt auch ein Hin- und Herschieben des rektal untersuchenden Fingers. Ein Fehlen des Reflexes kann bei der Frau auf einem Geburtstrauma beruhen.
Hustenreflex Der Hustenreflex ist ein spinaler Reflex der auf der Willkürinnervation der Abdominalmuskulatur über die Segmente D6–L1 beruht. Es wird bei der Rektaluntersuchung die Kontraktion des externen rektalen Sphinkters als Reflexantwort auf eine tiefe Inspiration oder auf Hustenstöße geprüft.
Willkürliche Analsphinkterkontraktion Zusätzlich wird der Analsphinkterruhetonus (gesteigert – normal – fehlend) und die Fähigkeit zur willentlichen Kontraktion des Analsphinkters geprüft.
79 Kapitel 7 · Anamnese und Basisuntersuchungen
⊡ Abb. 7.2. Schema der segmentalen Hautinnervation (aus Braun-Falco [5])
⊡ Tab. 7.2. Ergebnis der Prüfung der Reflexaktivität der Sakralsegmente (Nach Bors u. Comarr [4]) Willkürliche Analsphinkterkontraktion
Bulbokavernosusreflex
Hustenreflex
Status Rückenmark
Positiv
Positiv
Positiv
Normal
Positiv
Positiv
Positiv
Inkomplette Läsion oberes motorisches Neuron
Negativ
Positiv
Positiv
Oberes motorisches Neuron unterhalb Th12
Negativ
Positiv
Negativ
Oberes motorisches Neuron oberhalb Th6
Negativ
Negativ
Negativ
Unteres motorisches Neuron unterhalb Th12
Das Vorhandensein einer willkürlichen Analsphinkterkontraktion lässt auf eine intakte Beckenbodeninnervation schließen. Das Fehlen oder eine Schwäche der Analsphinkterkontraktion ist möglicherweise ein Indikator für eine sakrale oder periphere Läsion. Ist der Analsphinktertonus normal oder gesteigert, eine willkürliche Kontraktion jedoch nicht gegeben, so kann dies ein Hinweis für eine suprasakrale Läsion sein (⊡ Tab. 7.2).
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80
7
Teil II · Urodynamische Untersuchung
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8
Uroflowmetrie B. Schönberger †, S. Bross
8.1
Definition, Parameter, Symbole
– 82
8.2
Technische Voraussetzungen
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5
Überlaufprinzip – 83 Luftverdrängungsprinzip – 84 Gravimetrisches Prinzip – 84 Rotationsdynamisches Prinzip – 84 Tauchstabprinzip – 84
– 83
8.3
Durchführung der Uroflowmetrie – 84
8.3.1 8.3.2 8.3.3
Aufklärung – 84 Räumliche Voraussetzungen – 84 Untersuchungsposition – 85
8.4
Interpretation der Ergebnisse – 85
8.4.1 8.4.2
Normale Harnflussraten und Harnflusskurven – 85 Pathologische Harnflussraten und Harnflusskurven – 87
8.5
Reproduzierbarkeit der Ergebnisse – 90
8.6
Homeuroflowmetrie
8.7
Uroflowmetrie als Kombinationsuntersuchung Literatur
– 92
– 91 – 92
82
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Die Uroflowmetrie gilt als einfache, nichtinvasive und preiswerte Screeninguntersuchung zur Objektivierung von Blasenentleerungsstörungen. Die Beobachtung und Beschreibung des Harnstrahls entsprechend seiner Dicke, seiner Form und seiner Projektionskraft sowie des Geräusches, das der Strahl im Nachtgeschirr verursacht, haben schon unsere urologischen Vorväter als wichtig erkannt [32]. Erste Publikationen über systematische Forschungen stammen aus den 40er- und 50er-Jahren [8, 9, 22]. Technisch ausgereifte Messanordnungen mit ausreichender Genauigkeit wurden in den letzten 30 Jahren angeboten [40].
8.1
8
Definition, Parameter, Symbole
Die Uroflowmetrie misst die Menge Urin in Milliliter, die pro Sekunde ausgeschieden wird. Der Messvorgang erfolgt fortlaufend über die gesamte Miktion hinweg. Die erfassten Mengen (V) pro Zeiteinheit (t) aneinander gesetzt ergeben ein Kurvenbild – die sogenannte Uroflowkurve. Der Spitzenwert dieser Kurve wird als die maximale Harnflussrate (Qmax) bezeichnet. Die Zeit bis zum Erreichen des Spitzenflusswertes wird als Flussanstiegszeit bezeichnet
und beschreibt die Steilheit der Kurve im Anfangsteil. Im Normalfall kann man aber mit einer annähernd glockenförmigen Uroflowkurve rechnen, deren Gipfel in der Regel leicht nach links verschoben ist (⊡ Abb. 8.1a). Aus allen aufgezeichneten Volumensekundenwerten kann eine durchschnittliche Harnflussrate errechnet werden (⊡ Abb. 8.1b). Zwei weitere Parameter sind von Interesse: Flusszeit und Miktionszeit. Normalerweise kann man diese Zeiten gleichsetzen, d. h. während der gesamten Miktionszeit fließt auch Urin. Wenn der Urinfluss sistiert, ist auch die Miktion beendet. Im Falle einer intermittierenden Miktion entsteht eine unterbrochene Uroflowkurve. Somit sind die addierten Flusszeiten kürzer als die Miktionszeit, denn diese endet erst, wenn die letzte Miktionsphase wirklich abgeschlossen ist (⊡ Abb. 8.1b). Bei gleichzeitiger Erfassung des Miktionsvolumens werden die Einzelwerte pro Sekunde addiert. Bei einer intermittierenden Miktion steigt die Volumenkurve treppenförmig an. Normalerweise ist der Anstieg anfangs steiler, um dann in einen flacheren Teil überzugehen (⊡ Abb. 8.2). Die Begriffe und Symbole für die Uroflowmetrie wurden durch das Standardisierungskomitee der International Continence Society [1] festgelegt und gelten insbesondere für wissenschaftliche Publikationen (⊡ Tab. 8.1).
Flow (ml/s) Maximaler Harnfluss Miktionsvolumen
Flussanstiegszeit a
Zeit (s) Flusszeit
Flow (ml/s)
b
Miktionsdauer Zeit (s)
⊡ Abb. 8.1. Parameter für die Befundbeschreibung einer Uroflowmetrie. a normale Harnflusskurve, b intermittierende Harnflusskurve
⊡ Abb. 8.2. Harnflusskurve und Volumenkurve eines 52-jährigen Mannes, der aus einer penoskrotalen Öffnung entleert und keine Restharnbildung aufweist. Die Flusskurve ist durch den sprühenden Harnstrahl, der im Auffangtrichter z. T. an die Wände gerichtet ist, »eingebrochen«
83 Kapitel 8 · Uroflowmetrie
⊡ Tab. 8.1. Standardisierte Begriffe für die Uroflowmetrie
8.2
Deutsche Übersetzung
Internationaler Begriff
Symbol
Maßeinheit
Harnflussrate
flow rate
Q
ml/s
Harnflussrate, maximale
maximum flow rate
Qmax
ml/s
Harnflussrate, durchschnittliche
average flow rate
Qave
ml/s
Flussanstiegszeit
time to maximum flow
t
s
Miktionsvolumen
voided volume
V
ml
Miktionszeit
voiding time
t
s
Flusszeit
flow time
t
s
Technische Voraussetzungen
Während in einer Pionierphase in den 50er- und 60erJahren einfache mechanische Messapparaturen getestet wurden, sind mit dem Einzug der Mikroelektronik in die Medizintechnik komplizierte, aber genauere und weniger störanfällige Geräte auf den Markt gebracht worden. Es gibt trotzdem einige Differenzen bei der Genauigkeit und der Präzision der Flusssignale, die von der Art des Uroflowmeters und der Signalverarbeitung abhängig sind. Durch die International Continence Society sind folgende Standards festgelegt worden: ▬ für die maximale Harnflussrate ein Bereich von 0– 50 ml/s ▬ für das Miktionsvolumen ein Bereich von 0–1000 ml ▬ eine Genauigkeit von ±5% Anteil zur Gesamtskala ▬ eine maximale Zeitkonstante von 0,75 s [36] Die Kalibrierung eines Uroflowmeters ist einfach durchzuführen [35]. Mit Hilfe eines konstanten Wasserzuflusses, einer Stoppuhr und eines Messzylinders kann das Gerät auf seine Genauigkeit getestet werden. Da die meisten Flussmesser heute das Gewicht des Urins nutzen, um den Flüssigkeitszuwachs zu erfassen, hat das spezifische Gewicht natürlich einen verfälschenden Einfluss. Hochkonzentrierter Urin kann die Harnflussrate um 3%, Röntgenkontrastmittel sogar um 10% erhöhen [36]. Da die Genauigkeit eines Flussmessgerätes ohnehin einen Fehler von ±5% aufweisen darf, sollten nur volle Milliliter und keine Zehntelmilliliter angegeben werden. Die Messprinzipien für die Erfassung des Harnzeitvolumens sind aber im Wesentlichen die gleichen geblieben.
8.2.1 Überlaufprinzip
Die sehr einfachen Systeme nach dem Überlaufprinzip bestehen aus einem Auffangtrichter, an dem sich ein unten verschlossenes Rohr befindet, das mit nur einer
⊡ Abb. 8.3. »Low-cost-Uroflowmeter« (Nach Pel u. van Mastrigt [26])
kleinen Öffnung versehen ist. An der Seite dieses Rohres befinden sich übereinander Öffnungen, aus denen der Urin sichtbar im Strahl austreten kann (⊡ Abb. 8.3). Je höher der Uroflow ist, aus desto mehr Öffnungen fließt der Urin in ein durchsichtiges Gefäß. Ein solch einfaches System wurde schon in einer Publikation von Drake und Camden [9] als brauchbar angesehen. Kürzlich wurden die Testergebnisse mit dem oben beschriebenen »low cost flowmeter« publiziert [26]. Nochmals vereinfacht ist die »Streamtest Cup« [7], die nur einen festgelegten Grenzwert erfassen kann.
8
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Teil II · Urodynamische Untersuchung
8.2.2 Luftverdrängungsprinzip
Dieses Prinzips bediente sich bereits Eugen Rehfisch in seiner Studie über den Mechanismus des Harnblasenverschlusses und der Harnentleerung im Jahre 1897 ( Kap. 1). Er nutzte diese Apparatur aber nur zur Feststellung, ob der Harnfluss eingesetzt hat. Später wurde dieses Prinzip wieder aufgegriffen. Dabei wurde der Urin in ein geschlossenes Gefäß eingeleitet und die verdrängte Luft mit einem Rotameter bestimmt, ähnlich wie es in der Anästhesie bei der Volumenmessung üblich ist [25]. Kommerzielle Systeme nach diesem Prinzip sind zurzeit nicht auf dem Markt.
genutzt werden kann. In ähnlicher Weise kann die Kapazität eines Kondensators verändert werden, wenn durch ihn hindurch der Urin fließt.
8.3
Durchführung der Uroflowmetrie
Die Untersuchungsdurchführung ist denkbar einfach, da die Uroflowmeter heute weitgehend automatisiert sind. Der Untersucher versichert sich durch Befragen des Patienten, dass dieser Harndrang hat und im Augenblick der Untersuchung normalerweise zur Toilette gehen würde. Sollte der Patient dies verneinen, wird er gebeten, noch etwas zu trinken und zu warten.
8.2.3 Gravimetrisches Prinzip
8
Der über einen Trichter in einen Messzylinder eingeleitete Urin wird gewogen. Die Gewichtszunahme pro Sekunde wurde anfänglich mit mechanischen Waagen (Balken-, Federzugwaage) erfasst [9]. Die modernen Waagen arbeiten mit elektrischen Systemen, deren Daten vom Druckaufnehmer zum Druckwandler mit einer analogen bzw. digitalen Flussregistrierung geleitet werden. Die erste elektronische Waage wurde von B. von Garrelts im Jahre 1957 publiziert [25]. Heute arbeiten nach diesem Prinzip Flowmeter, die mit Dehnmessstreifen ausgerüstet sind. Somit können sie auch Urinmengen erfassen, die durch die Systeme hindurchfließen.
8.3.1 Aufklärung
Der Patient wird dann zum Uroflowmeter geschickt und aufgefordert, möglichst entspannt den Harn in das Gerät zu entleeren. Meistens empfehlen sich weitere Erklärungen über Sinn und Zweck der Untersuchung. Des Weiteren sind gewisse Verhaltensanweisungen von Vorteil: ▬ der Patient soll in die Mitte des Trichters treffen ▬ nicht an das Gerät stoßen ▬ die Blase völlig entleeren bzw. solange warten bis er glaubt, alles sei aus der Blase herausgekommen
8.3.2 Räumliche Voraussetzungen 8.2.4 Rotationsdynamisches Prinzip
Das Kernstück eines solchen Uroflowmeters ist eine rotierende Scheibe, auf die der gerichtete Harnstrahl gelenkt wird. Die auftreffende Urinmenge bremst die konstante Rotationsbewegung der Scheibe unterschiedlich stark ab. Eine elektrische Konstanthalteschaltung versucht, mit höherem Stromfluss die Bremsung auszugleichen. Dieser vermehrte Energieverbrauch ist eine Funktion der entleerten Urinmenge pro Zeiteinheit [38].
8.2.5 Tauchstabprinzip
Dieses Verfahren bedient sich der elektrischen Leitfähigkeit des elektrolythaltigen Urins. In einem Auffangzylinder befindet sich ein elektronischer Tauchstab. Dieser entspricht einem konzentrischen Rohrkondensator, der seine Kapazität linear mit der Füllhöhe des Auffanggefäßes ändert. Entsprechend der Höhe des Flüssigkeitsspiegels ändert sich die elektrische Spannung des Stromflusses [24]. Das Prinzip wurde auch in Durchflussmessgeräten genutzt. Der Harnstrahl durchfließt ein magnetisches Feld und induziert einen Strom, der für die Flussmessung
Für die Uroflowmetrie sollte ein separater und für den Patienten verschließbarer Raum zur Verfügung stehen. Es empfiehlt sich nicht, das Flussmessgerät in der Ecke eines Sprechzimmers aufzustellen, denn die meisten Menschen wünschen keine Gesellschaft beim Miktionsvorgang. Selbst wenn die Atmosphäre des Untersuchungsraumes der einer Toilette völlig gleicht, sieht sich der Patient einer besonderen Situation ausgesetzt. Ängstliche Menschen fühlen sich angesichts des Registrierungsgerätes leicht unter Erfolgsdruck gesetzt, wodurch das Untersuchungsergebnis beeinflusst werden kann. Ältere Systeme müssen von einer Begleitperson bzw. vom Patienten selbst durch Knopfdruck eingeschaltet werden. Bei Miktionsstartstörungen kann das nun laufende Gerät kontraproduktiv wirken. Hat die zu untersuchende Person gerade Wasser gelassen, weil sie eine Urinprobe abzugeben hatte oder zu lange schon im Wartezimmer sitzen musste, dann ist die Blasenfüllung so gering, dass der Harnfluss reduziert sein kann. Überlanges Warten mit voller Blase hat ebenfalls einen negativen Effekt. Es kommt zu einer Überdehnung der Blase und damit auch zu einer Reduktion der maximalen Harnflussrate und zu einer Verlängerung der Miktionszeit.
85 Kapitel 8 · Uroflowmetrie
Moderne Durchflussmessgeräte sind so ins Wandurinal oder ins Toilettenbecken integriert, dass sie schon kaum noch auffallen. Trotzdem sollte dem Untersucher klar sein, dass der Patient sich zunächst an eine derartige Situation gewöhnen muss. Besonders Kinder müssen wissen, dass das technische Gerät ihnen nichts antun kann.
8.3.3 Untersuchungsposition
Hinsichtlich der Untersuchungsposition herrscht darin Übereinstimmung, dass die Frauen im Sitzen und Männer im Stehen den Harn entleeren sollen. Für Kinder gilt, dass die Position eingenommen werden soll, die auch normalerweise bevorzugt wird. Eine ungewohnte Stellung kann das Ergebnis verfälschen. Daran ändert auch die kürzlich vorgelegte Studie einer japanischen Autorengruppe nichts, die feststellt, dass Männer in Bauchlage die besten Harnflussraten hatten [43]. Weiss et al. [42] fanden jedoch bei der Untersuchung von Männern mit Symptomen des unteren Harntrakts (LUTS) keine Flussdifferenzen zwischen stehender und sitzender Position. Wichtiger scheint vor der Auswertung der Flusskurve zu sein, nachzuprüfen, ob der Patient den Trichter des Flussmessers wirklich getroffen hat oder durch äußere Einflüsse gestört wurde.
8.4
und sollten nicht Anlass geben, von einem intermittierenden Harnfluss zu reden (⊡ Abb. 8.5). Wollte man dieses Phänomen beschreiben, sollte man von postmiktionellem Harnträufeln oder Nachtropfen sprechen. Ein diskontinuierlicher Harnfluss hat meistens mehrere, fast gleichwertige oder stetig fallende Harnflussspitzenwerte, die durch Pausen von einer oder mehreren Sekunden getrennt sind. Solche Flusskurven gelten nicht als normal. Dazu wird im nächsten Abschnitt Stellung genommen. Hier wird klar, dass die ausgedruckten Kurven visuell durch den Untersucher beurteilt werden müssen. Die automatische Bestimmung der Untersuchungsparameter kann somit leicht überprüft werden. Artefakte, die vom Computer nicht erkannt werden, können ohne visuelle Kontrolle der Kurve zu falschen Untersuchungsergebnnissen und konsekutiv zu Fehlinterpretationen führen. Der maximale Harnfluss gilt gemeinhin als normal, wenn er mehr als 20 ml/s beträgt. Diese Faustregel bedarf
Interpretation der Ergebnisse
8.4.1 Normale Harnflussraten und Harnfluss-
kurven Die normale Harnflusskurve ist glockenförmig und kann rechtsseitig etwas flacher auslaufen. Der Harnfluss nimmt kontinuierlich zu, um einen Höchstwert zu erreichen und dann wieder abzufallen (⊡ Abb. 8.4). Einzelne Tropfen – das sogenannte Nachträufeln – sind nicht ungewöhnlich
⊡ Abb. 8.5. Normale Uroflowkurve eines jungen Mannes nach Harnröhrenplastik. Miktionsvolumen <150 ml (!), Papiervorschub 1 mm/s
⊡ Abb. 8.4. Normale Harnflusskurve mit Nachträufeln bei einem 10-jährigen Jungen (Spitzenfluss oben abgeschnitten wegen falscher Maximalflowkalibrierung)
8
8
⊡ Abb. 8.6. Uroflownomogramme Liverpool für die maximale und mittlere Harnflussrate getrennt nach Geschlecht und Alter (Haylen et al. [14])
86 Teil II · Urodynamische Untersuchung
87 Kapitel 8 · Uroflowmetrie
einer Einschränkung. Deshalb wurden schon früher für unterschiedliche Altersgruppen noch als normal anzusehende Spitzenharnflussraten angegeben ( Anhang). Um aber normale maximale Flussraten zu erreichen, ist eine Harnentleerung von mindestens 150 ml erforderlich. Eine Entleerung sollte weniger als 30 s betragen. Die maximale Harnflussrate ist vom entleerten Harnvolumen, vom Alter und Geschlecht abhängig, so dass Nomogramme erstellt worden sind, mit denen man besser einen normalen Harnflusswert (Qmax oder Qave) von einem pathologischen Wert unterscheiden kann. Diese Nomogramme nehmen zwar Rücksicht auf das Alter, das Geschlecht und das Miktionsvolumen, sind aber im täglichen Gebrauch umständlich. Die Siroky-Nomogramme haben die größte Akzeptanz gefunden [37]. Neueren Datums sind die Haylens-Liverpool-Nomogramme (⊡ Abb. 8.6). Es hat auch weitere Kritik an den Nomogrammen gegeben. Kadow et al. [21] konnten nach Untersuchung von 100 asymptomatischen Männern im Alter zwischen 55–78 Jahren zeigen, dass das Siroky-Nomogramm die Mehrheit dieser Männer als krank eingeschätzt hätte, da die Normwerte für diese Altersgruppe zu hoch gewesen wären (⊡ Abb. 8.7).
Flussrate ml/s 30
25
20
15
10
5
0 200
400
600
ml Volumen
⊡ Abb. 8.7. Korrektur des Siroky-Nomogramms für asymptomatische Männer zwischen 55 und 78 Jahren (Nach Kladow et al. [21])
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Jørgensen et al. [20]: Der mittlere Qmax bei asymptomatischen älteren Männern senkte sich von 18,5 ml/s bei den 50-Jährigen bis auf 6,5 ml/s bei den 80-Jährigen. Bei normalen Harnflusswerten sollte in Anhängigkeit von der geschilderten Symptomatik auch an das Vorliegen einer »High Outflow Obstruction« gedacht werden, welche nur im Rahmen einer Druckflussmessung verifiziert werden kann. Obwohl die Uroflowmetrie normale Werte ergibt, sind in der Druckflussmessung massiv erhöhte Detrusordrucke zu sehen, so dass im weiteren klinischen Verlauf eine rasche Dekompensation möglich ist. Eine auffallend hohe maximale Harnflussrate wird als Superflow bezeichnet. Man beobachtet solche kurzen, überhohen Flusskurven bei Frauen, bei Kindern oder nach Entfernung einer subvesikalen Abflussbehinderung, ohne dass diesen Befunden ein pathologischer Wert beizumessen ist (⊡ Abb. 8.8 und ⊡ Abb. 8.9). Überhöhte maximale Harnflussraten können manchmal ein Hinweis auf eine Detrusorhyperaktivität sein.
8.4.2 Pathologische Harnflussraten und
Harnflusskurven Der Harnfluss ist das Ergebnis von Detrusoraustreibungskraft und der gleichzeitigen Senkung des Auslasswiderstandes während des Miktionsvorganges. Der Auslasswiderstand wird beeinflusst vom Kontraktionszustand bzw. der Dehnbarkeit von Blasenhals und Sphinktersystem einschließlich Beckenboden und Urethra. Damit wird klar, dass eine Reduktion der Harnflussrate sowie eine Veränderung der Harnflusskurve durch Störung einer oder mehrerer Komponenten dieses Systems hervorgerufen werden kann. Eine überstarke Detrusorleistung kann hingegen eine Erhöhung des Auslasswiderstandes so weit kompensieren, dass normale Harnflussraten registriert werden, obwohl ein mechanisches oder funktionelles Hindernis vorhanden ist. In der Literatur werden typische Flusskurven bestimmten Erkrankungen zugeordnet. Das hat meistens didaktische Gründe, um klar werden zu lassen, dass die visuelle Auswertung einer Flusskurve wichtige Informationen geben kann [3, 24]. Nach den eingangs aufgezeigten möglichen Schädigungsmustern muss man mit solchen Vereinfachungen sehr vorsichtig umgehen. Bei der Beurteilung einer Flusskurve muss dem Untersucher zunächst klar sein, mit welchem Gerät diese ermittelt und mit welcher Papiervorschubgeschwindigkeit diese aufgezeichnet und wie die Messskala kalibriert wurde. Wichtig sind dabei das entleerte Volumen und die restharnfreie Entleerung der Blase beim Messvorgang. Heute wird gefordert, dass in der Befundbeschreibung einer Uroflowmetrie auch der Restharn bestimmt wird [36].
8
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Teil II · Urodynamische Untersuchung
⊡ Abb. 8.8. Hochnormale Harnflusskurve, »Superflow« nach Beseitigung einer Harnröhrenstriktur
8
⊡ Abb. 8.9. Hochnormale Harnflusskurve, Superflow nach Meatotomie bei rezidivierender Meatusstenose eines 53jährigen Mannes. Wegen der Skalierung von 0–25 ml/s wird die Spitze der Flusskurve nach unten gesetzt.
Undulierende Flusskurve Diese Kurve ist langgestreckt und hat mehrere Gipfel mit deutlich reduzierten Spitzenflusswerten. Die Gipfel können sanft geschwungen oder steil und spitz sein. Diese Kurvenformen entstehen bei Blasenhalsobstruktionen (»bladder outlet obstruction«, BOO), aber auch bei Detrusorhypokontraktilität. Eine Unterscheidung zwischen beiden Ursachen ist allein mit Hilfe der Flusskurve nicht möglich (⊡ Abb. 8.10). In diesem Fall ist die Durchführung einer Druckflussmessung indiziert.
Plateauförmige Flusskurve Die langgestreckte deprimierte Kurve ohne wesentliche Spitzen ist typisch für eine rigide Einengung am Blasenhals oder im Bereich der Urethra.
Solche Flusskurven können sich mit einer konstant geringen maximalen Harnflussrate über 1–2 min hinstrecken (⊡ Abb. 8.11 und ⊡ Abb. 8.12).
Intermittierende Flusskurve Die intermittierende Harnflusskurve ist zunächst durch die Flusspausen gekennzeichnet. Die einzelnen Flusskurven für sich genommen sehen gelegentlich normal aus. Aber schon die dritte, vierte oder fünfte Kurve ist deutlich verkleinert, wie das bei einer zu geringen Miktionsmenge üblich ist. Für solche Kurvenformen sind zu kurze Detrusorkontraktionen verantwortlich (⊡ Abb. 8.13). Setzt der Patient zusätzlich die Bauchpresse ein, so entstehen eher fluktuierende Flusskurven (s. o.). Eine reine Miktion mit
89 Kapitel 8 · Uroflowmetrie
a
b ⊡ Abb. 8.10. Fluktuierende Harnflusskurven mit z. T. auch kompletten Flussunterbrechungen bei einem 71-jährigen Patienten mit einem 50 g schweren Adenom der Prostata. a Die Flussspitzen bis 15 ml/s können durch Bauchpresse oder durch Bulbuskavernosuskontraktionen bedingt sein (Restharn 58 ml). b Die drei Flussspitzen zwischen 50. und 60. Sekunde entsprechen einem Nachpressen (Restharn 135 ml)
⊡ Abb. 8.11. Harnflussdepression infolge bulbärer Urethrastriktur bei einem 45-jährigen Mann, Restharn 300 ml
Bauchpresse ohne Detrusorkontraktion kann aber sehr wohl intermittierende Flusskurven erzeugen. Die Reaktion des Sphinkterapparates spielt eine wesentliche Rolle bei der resultierenden Kurvenform. Eine intermittierende Flusskurve mit zahlreichen unterschiedlich hohen Gip-
feln entsteht bei dysfunktioneller Miktion infolge einer mangelnden Sphinkter- oder Beckenbodenrelaxation bzw. infolge einschießender Beckenbodenspasmen während der Blasenentleerung (Detrusorsphinkterdyskoordination, Detrusorsphinkterdyssynergie).
8
90
Teil II · Urodynamische Untersuchung
⊡ Abb. 8.12. Plateauförmige Flusskurve bei einem jungen Mann vor Harnröhrenplastik wegen einer Striktur
8
⊡ Abb. 8.13. Intermittierende Harnflusskurve bei einem Patienten mit Blasenhalssklerose ohne Restharnbildung
Reduzierte maximale Uroflowrate
8.5
Im Allgemeinen wird der Qmax als verlässlicher und einfach vergleichbarer Parameter zu prognostischen und posttherapeutischen Einschätzungen bevorzugt [5, 17]. Es konnte aber in der ICS-BPH-Studie [29] gezeigt werden, dass ein Qmax von weniger als 10 ml/s bei der Unterscheidung zwischen nichtobstruierten und obstruierten Patienten eine Spezifität von 70% und einen positiven prädiktiven Wert von 70% zugunsten einer Obstruktion aufwies. Die Sensitivität betrug nur 47%. Das bedeutete in dieser Untersuchung, dass 53% der Patienten mit einer BOO eine Flussrate von mehr als 10 ml/s aufwiesen.
Reproduzierbarkeit der Ergebnisse
Es herrscht Einigkeit darüber, stets die ausgedruckte Flusskurve selbst zur Hand zu nehmen, auszuwerten und sich nicht allein auf Computerberechnungen zu verlassen. Der Computer kann in der Regel Artefakte nicht erkennen und diese als solche nicht selbstständig eliminieren. Einzelne sehr hohe und schmale Spitzen innerhalb einer gerundeten Kurve können Ausdruck von Messartefakten sein. Unbedachtes Anstoßen an eine Miktionswaage kann solche falschen Spitzenwerte produzieren. Diese können vom Untersucher leicht erkannt und als solche
91 Kapitel 8 · Uroflowmetrie
⊡ Abb. 8.14. Uroflowkurve eines 7-jährigen Jungen mit Artefakt infolge Anstoßens an der Miktionswaage
nommen werden. Jepsen et al. [18] schlussfolgerten nach Analyse der Daten einer Prostatahyperplasiestudie, dass bei mehreren aufeinanderfolgenden Untersuchungen die Studienteilnehmer eine Flussverbesserung schon vor der Therapie hatten. Deshalb müssen bei derartigen Untersuchungen die Basiswerte besonders sorgfältig ermittelt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Interpretation von Flusskurven und maximalen Harnflussraten auch bei bekannten Miktionsvolumina schwierig sein kann, wenn keine klinischen Daten mitgeteilt werden. Die Ergebnisse unter den befragten Urologen wiesen erhebliche Differenzen auf [41]. Die Zuordnung von Flussergebnissen zu bestimmten vorgegebenen Diagnosen (Benigne Prostatahyperplasie (BPH), Striktur, Detrusorschwäche, Dyssynergie) war nur 14–59% der Urologen möglich. Das zeigt, wie vorsichtig man bei der Wertung der ermittelten Ergebnisse ohne Kenntnis der Klinik sein muss.
8.6 ⊡ Abb. 8.15. Nicht verwertbare Uroflowmetrie eines 80-jährigen Patienten mit benigner Prostatahyperplasie wegen zu geringen Miktionsvolumens (etwa 50 ml)
unbeachtet bleiben (⊡ Abb. 8.14). Neuerdings gibt es aber auch Systeme, die derartige Artefakte selbstständig eliminieren können. Im Zweifelsfall kann die Untersuchung einfach wiederholt werden. Wegen der bereits oben beschriebenen zahlreichen Einflussfaktoren (Blasenfüllung, Miktionsvolumen, Umgebungssituation und Position bei der Miktion) ist eine Wiederholung der Untersuchung immer dann angezeigt, wenn grenzwertige oder pathologische Befunde erhoben werden (⊡ Abb. 8.15). Patienten mit einer Blasenhalsobstruktion haben eine größere Variabilität der maximalen Harnflussrate als Gesunde [10]. Gerade bei dieser Patientengruppe spielt auch die Tagesform und die Tageszeit eine Rolle. Um ein repräsentatives Ergebnis zu erhalten, sollten aber ein bis zwei Wiederholungsuntersuchungen vorge-
Homeuroflowmetrie
Aufgrund der Variabilität der Flusswerte und der möglichen Stresssituation, der sich ein Patient ausgesetzt sieht, wenn er nun endlich ein Ergebnis abliefern soll, ist die Idee von der Homeuroflowmetrie aufgekommen. Blaivas schlug 1988 vor, mit Hilfe eines transportablen Uroflowmeters zu Hause serielle Harnflussmessungen vorzunehmen [4]. Das kommt der Tatsache entgegen, dass viele alte Männer behaupten, sie könnten in häuslicher Umgebung deutlich besser Wasser lassen als an dem Uroflowmeter in der Praxis. Es wurden deshalb möglichst kleine und einfach zu handhabende Geräte entwickelt und getestet z. B. Da Capo TM Homeuroflowmeter oder P-flow [19, 33]. Es gibt ein kommerziell angebotenes Uroflowsystem, das standardmäßig mit der auf Windows basierenden Analysesoftware AUDAT arbeitet und eine Auswertung am PC ermöglicht. Zwei Schwierigkeiten müssen jedoch bedacht werden: In häuslicher Umgebung wird die Blase nicht immer optimal gefüllt sein, so wie das in der Praxis verlangt wird. Darüber hinaus muss der Patient die Handhabung des
8
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Teil II · Urodynamische Untersuchung
tragbaren Uroflowmeters erlernen. In der Untersuchung von Snoke et al. [38] wurden immerhin 18% der Ergebnisse als Artefakte ausgesondert. Viele Messversuche wurden mit einem zu geringen Miktionsvolumen vorgenommen und mussten ebenfalls ausgesondert werden, so dass beim Anlegen strenger Maßstäbe nur 73% (V:100 ml) bzw. 54% (V:150 ml) der Messungen zur Auswertung gelangten. Bei einer Befragung der Patienten bezüglich ihrer Erfahrung mit der Homeuroflowmetrie antworteten die meisten Männer (80%), dass diese einfach und bequem sei [4]. Vor allem fällt die psychische Hemmung durch die »weißen Kittel« weg. Die Einschätzung des Grades der Flussreduktion bei einer Gruppe von symptomatischen Prostatikern war deshalb einfacher möglich, weil eine Vielzahl von Werten vorhanden war. Bei den Patienten mit grenzwertigen Harnflussraten benötigte man jedoch zusätzliche Untersuchungen, um die Obstruktion abschätzen und eine geeignete Therapie festlegen zu können [4]. Denn solange keine Informationen über den Detrusordruck zur Verfügung stehen, ist auch eine große Anzahl an Flusskurven oder eine Vielzahl von maximalen Flussraten von begrenzter Aussagekraft. Ein Vorteil der Homeuroflowmetrie ist jedoch die Erfassung von tageszeitlichen Schwankungen der Harnflusswerte. Bekanntermaßen sind die Werte nachts oder morgens schlechter als am Nachmittag oder am Abend. Für den klinischen Alltag, d. h. für die Abschätzung des Grades einer subvesikalen Obstruktion, ist der Aufwand der Homeuroflowmetrie im Vergleich zum Zugewinn an Informationen sicher zu hoch [38]. Bei wissenschaftlichen Fragestellungen, Therapiestudien und Langzeitbeobachtungen bestimmter Patientengruppen hat die Homeuroflowmetrie aber ihre Berechtigung.
8.7
Uroflowmetrie als Kombinationsuntersuchung
Die Uroflowmetrie kann mit der Restharnmessung, mit der simultanen Erfassung des Beckenboden-EMG und mit einer Blasendruckmessung kombiniert werden. Der Vorteil der Flow- und Restharnuntersuchung besteht darin, eine reduzierte Flusskurve oder ein reduziertes Miktionsvolumen mithilfe der Ermittlung der Blasenfüllung vor und nach der Miktion besser interpretieren zu können. Flow-EMG-Studien sind geeignet, eine dysfunktionelle Miktion zu erkennen. Normalerweise erwartet man während der Miktion eine Verminderung der elektromyographischen Beckenbodenaktivität infolge der Relaxation der quergestreiften Muskulatur. Eine Persistenz der EMG-Aktivität spricht für einen nichtrelaxierenden Beckenboden. Da diese Untersuchungen vorwiegend bei Kindern und Jugendlichen mit einem Miktionsfehlverhalten indiziert sind, werden üblicherweise Klebeelektroden
für eine Oberflächen-Massen-EMG-Ableitung verwendet. Nachteil dieser Elektroden ist jedoch ihre Anfälligkeit gegenüber einer Urinbefeuchtung. In diesem Falle bekommt man Artefakte, die eine dyskoordinierte Beckenbodenaktivität vortäuschen können. Die simultane Erfassung von Uroflowelektromyographie kann für ein Biofeedbacktraining benutzt werden. In Verbindung mit Computerspielen [23] oder dem Sichtbzw. Hörbarmachen der EMG-Signale während der Miktion kann ein normales koordiniertes Miktionsverhalten antrainiert werden [6]. Die Uroflowmetrie ist im Rahmen der Druckflussstudie, der Druckfluss-EMG-Studie oder der Videodruckflussstudie integraler Bestandteil von urodynamischen Kombinationsmessungen. Im Gegensatz zur isolierten Uroflowmetrie ist der Patient mit Messsonden und EMGAbleitungen verkabelt. Allein diese Tatsache kann die Harnflussrate negativ beeinflussen. Hinzu kommt bei der transurethralen Blasendruckmessung eine während der Harnentleerung in der Urethra liegende Sonde. Über ihren Einfluss auf die Harnflussrate wird seit Anbeginn der Druckflussstudie heftig gestritten [13]. Dennoch sollte die Möglichkeit einer messkatheterbedingten Obstruktionsverstärkung bei grenzwertigen Befunden in Betracht gezogen werden. Die Uroflowmetrie als Screeninguntersuchung ist in der Lage, Miktionsstörungen objektiv zu erfassen, mit einer Kurve sichtbar zu machen und diese grob zu klassifizieren. Eine einmalig pathologische Uroflowkurve bzw. eine reduzierte maximale Harnflussrate muss durch Zweit- bzw. Drittuntersuchungen reproduziert werden. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss der Untersucher die zahlreichen Einflussfaktoren beachten. Allein aus den pathologischen Flusswerten, die bei der Uroflowmetrie gewonnen wurden, kann keine Diagnose gestellt werden. Die Aussagekraft der Uroflowmetrie sollte durch die Kombination mit den anamestischen Angaben, einem Miktionskalender, einer Restharnbestimmung bzw. weiteren Untersuchungsverfahren verbessert werden.
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8
9
Zystometrie P.M. Braun, K.-P. Jünemann
9.1
Messgrößen
9.2
Füllungsphase
– 96
9.3
Normalbefund
– 97
9.4
Entleerungsphase Literatur
– 96
– 98
– 98
96
Teil II · Urodynamische Untersuchung
9.1
9
Messgrößen
Sowohl qualitative als auch quantitative Informationen zur Detrusorfunktion lassen sich über die Blasendruckmessung bzw. die Zystometrie gewinnen. Die Registrierung des intravesikalen Druckes (pves) unter kontinuierlicher Blasenfüllung (Füllungsphase) bzw. während der Miktion (Miktionsphase) lässt einerseits direkte Aussagen zur Blasenmotorik, zu den elastischen Eigenschaften (Dehnbarkeit) des Detrusors und zu neurophysiologischen Störformen der Blaseninnervation zu. Andererseits werden indirekt der Blasenauslasswiderstand während der Miktion sowie die extero- (Sensitivität) und propriozeptiven (Harndrang) Kenngrößen der Blasensensorik erfasst. Zur Verbesserung von Standardisierung und Reproduzierbarkeit sowie zur interindividuellen Vergleichbarkeit der Ergebnisse wurden sämtliche Messgrößen gemäß den Empfehlungen des Standardisierungskomitees der International Continence Society (ICS) bestimmt und angegeben, einschließlich der technischen Ausstattungen und der Messmethode [1, 2, 3,6]. Als standardisierte Messeinheit bei der Urodynamik wird der Druck stets in Zentimeter Wassersäule (cm H2O) angegeben und nicht in Millimeter Quecksilbersäule (mmHg). Unter Berücksichtigung der SI-Einheiten entspricht 1 cm H2O = 98,07 Pascal Entsprechend dem Funktionszustand der Blase werden in der Füllungsphase folgende detrusorspezifischen Parameter erfasst bzw. errechnet: ▬ intravesikaler Druck (pves = cm H2O) ▬ maximale Blasenkapazität, Detrusorkoeffizient (Compliance C = ml/cm H2O) ▬ Blasenfüllungssensitivität ▬ Gefühl des ersten Harndranges (1. HD = ml) Bei der Bestimmung der Blasenkapazität unterscheidet man zwischen zystometrischer und funktioneller Blasenkapazität. Die zystometrische Blasenkapazität entspricht dem Blasenfüllungsvolumen, bei dem der Patient ein nicht weiter unterdrückbares Harndranggefühl wahrnimmt. Die funktionelle Blasenkapazität errechnet sich aus der Differenz zwischen zystometrischer Kapazität und verbliebenem Restharn. Der Detrusorkoeffizient (Compliance) ist ein Maß zur Beurteilung der Blasendehnbarkeit bzw. des Muskeltonus der Blasenwand. Errechnet wird die Compliance (C = ∆V/∆p) aus dem Quotienten der Füllungsvolumenzunahme (∆V = ml) und dem korrelierenden intravesikalen Druckanstieg (∆p = cm H2O). Zwei wesentliche Punkte spielen bei der Berechung der Compliance eine wesentliche Rolle: 1. der Detrusordruck zu Beginn der Blasenfüllung mit dem korrespondierendem Blasenvolumen (in der Regel 0 ml); 2. der Detrusordruck
(und das korrespondierende Blasenvolumen) bei Erreichen der zystometrischen Blasenkapazität oder vor einer unwillkürlichen Detrusorkontraktion mit/ohne Urinverlust. Neben dem intravesikalen muss stets der Abdominalbzw. Rektaldruck (pabd = cm H2O) simultan registriert werden, da ansonsten eine Beurteilung der Detrusoreigenschaften Detrusorstabilität und Harnkontinenz nicht oder nur unzureichend möglich ist. Da zystometrische Untersuchungen meist als Kombinationsuntersuchungen ausgelegt sind, z. B. Druckflussmessungen mit oder ohne Beckenbodenelektromyographie, werden die harnflussspezifischen Messdaten miterfasst. Aus der Differenz der zystometrischen Blasenkapazität und dem Miktionsvolumen errechnet sich das Restharnvolumen. Das simultan aufgezeichnete Beckenboden-EMG gibt Aufschluss über die Wechselwirkungen zwischen Detrusor und Harnröhrensphinkter und ist ein direkter Parameter für die Beurteilung des synergen Verhaltens.
9.2
Füllungsphase
Die Blasenfüllungsgeschwindigkeit kann physiologisch oder unphysiologisch sein. Die physiologische Füllgeschwindigkeit wird berechnet nach der Formel: Körpergewicht in kg dividiert durch 4 ausgedrückt als ml/min. Als nichtphysiologische Füllgeschwindigkeit werden Füllungsraten größer als diese bezeicnet. Im Allgemeinen sollte die Füllungsgeschwindigkeit bei Routineuntersuchungen 30 ml/min nicht überschreiten, da es ansonsten zur Provokation einer Detrusorkontraktion kommen kann. Während der gesamten urodynamischen Funktionsdiagnostik muss der untersuchende Arzt zugegen sein, da einerseits wichtige Informationen wie Sensitivität, erster Harndrang usw. direkt auf der Kurve oder im Rechnerkurvenbild markiert werden müssen, andererseits eine Kurvenauswertung im Nachhinein sich als schwierig erweisen und zu Fehlinterpretationen führen kann. Während der Blasenfüllungsphase empfiehlt es sich, je nach beklagter Symptomatik Provokationstests (Husten, Aufstehen, Beklopfen der Bauchdecken, schnelle Füllung, Eiswassertest) durchzuführen, um die vermutete bzw. mögliche Fehlfunktion (Dranginkontinenz, Giggle-Inkontinenz, Belastungsinkontinenz) nachzuweisen. Dabei ist zu beachten, dass die gleichen Tests bei unterschiedlichen Füllungszuständen wiederholt werden müssen. Die Blasenfüllung wird bis zum Erreichen der zystometrischen Blasenkapazität (starkes, imperatives Harndranggefühl) fortgeführt, bevor die Entleerungsphase eingeleitet wird.
97 Kapitel 9 · Zystometrie
9.3
Normalbefund
Ausgehend von einem intravesikalen und abdominellen Ruhedruck zwischen 6 cm H2O und 15 cm H2O erfährt die Blasenwandmuskulatur mit Einsetzen der Blasenfüllung eine kontinuierliche Dehnung. Dabei wird durch die myoelastischen Eigenschaften des Detrusors der intravesikale Druck trotz zunehmender Blasenfüllung kompensiert, so dass mit Volumenzunahme der vesikale Druck nur sehr langsam ansteigt. Im Normalfall, d. h. bei unbeeinträchtigter Blasendehnbarkeit, liegt die Maßzahl für die Compliance über 25 ml/cm H2O (z. B. 100 ml Volumenzunahme / 4 cm H2O Druckänderung = 25 ml/cm H2O). Bestimmt wird der Compliancewert zwischen Füllungsbeginn und erstem Harndrang. Liegt der Blasendehnungskoeffizient unterhalb der Normgrenze von 25 ml/cm H2O, so liegt eine eingeschränkte Blasendehnbarkeit vor (z. B. neurogene Blasenstörung, Strahlenblase, irritative Prozesse, »low compliance bladder«). Werte oberhalb dieser Normgrenze werden fälschlicherweise oftmals als Zeichen einer sog. schlaffen Blase interpretiert, was nicht der Realität entspricht. Mit zunehmender Füllung (30 ml/min) geben die Patienten einen ersten Harndrang ab einem Volumen von 150 bis 200 ml an, wobei die Werte je nach Alter, Geschlecht und Untersuchungsbedingungen variieren. Dieser Wert wird markiert. Der erste Harndrang ist temporär, mit zunehmender Blasenfüllung wird ein stärkerer Harndrang angegeben, der das Erreichen der maximalen Blasenkapazität (zwischen 350 und 450 ml) signalisiert. Jede
weitere Volumenzunahme hat eine deutliche, mitunter schmerzhafte Steigerung des Harndranggefühls zur Folge und geht mit einem vermehrten Druckanstieg aufgrund der ausgeschöpften Blasendehnungskapazität einher – die Compliance sinkt. Während des gesamten Zeitraums der Blasenfüllung bleibt die Detrusoraktivität stabil und darf sich auch nicht unter Provokation (Niesen, Husten, Stehen usw.) ändern. Es hat sich gezeigt, dass auch geringe Detrusorkontraktionen klinisch relevant sein können; deshalb definiert die ICS keine maximal zulässige Amplitudenhöhe für Detrusorhyperaktivitäten [4, 5]. Ein Beispiel für eine Detrusorhyperaktivität in der Füllphase ist in ⊡ Abb. 9.1 dargestellt. Bis zum Erreichen der maximalen Blasenkapazität nimmt die Beckenbodenaktivität kontinuierlich zu, wobei zusätzlich intraabdominelle und intravesikale Druckerhöhungen, beispielsweise durch einen Hustenstoß, mit einer entsprechenden Aktivitätsvermehrung beantwortet werden (⊡ Tab. 9.1). ⊡ Tab. 9.1. Normbefunde der Zystometrie (Anhaltswerte) Maximale Blasenkapazität
350–550 ml
Erster Harndrang
150–200 ml (>60% der maximalen Blasenkapazität)
Unwillkürliche Detrusorkontraktionen
Keine
Compliance
>25 ml/cm H2O
⊡ Abb. 9.1. Urodynamische Aufzeichnung einer Füllungsphase mit Hustenstoßprovokation und Detrusorhyperativität (Pfeile)
9
98
Teil II · Urodynamische Untersuchung
9.4
9
Entleerungsphase
Die Entleerungsphase kann durch Druck-Fluss-Studien analysiert werden. Die Miktion wird willkürlich oder unwillkürlich eingeleitet. Dabei kann sowohl die Detrusorals auch die Urethralsphinkterfunktion beurteilt werden. Während der Entleerungsphase sind die wesentlichen urodynamischen Parameter Harnflussrate und Miktionsdruck. Bei der Harnflussmessung werden wie in der nicht invasiven Uroflowmetrie die Flussrate in ml/s, das Miktionsvolumen, die maximale Flussrate (Qmax) und die Miktionszeit angegeben. Hinzu kommen Angaben zu den Miktionsdrücken selbst wie z. B. Öffnungsdruck, Öffnungszeit bis zum Einsetzen des Harnflusses, Detrusordruck bei maximaler Flussrate (Pdet at Qmax) und Verschlussdruck. Anschließend erfolgt die Bestimmung des Restharns. Dies ist möglich durch Subtraktion des Miktionsvolumens vom Füllungsvolumen oder durch Messung des Restharns durch Katheterisierung (in der Regel genauer, da die Eigendiurese mitberechnet wird). Weitere Normalwerte siehe Kap. 2.
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10
Urethradruckprofil H. Heidler
10.1
Einleitung
– 100
10.2
Technik
10.3
Untersuchungsbedingungen
– 100
10.4
Messprinzipien
10.4.1 10.4.2
Ruheprofil – 101 Stressprofil (Belastungsprofil)
– 100
– 101 – 101
10.5
Normalbefunde
10.5.1 10.5.2
Ruheprofil – 101 Stressprofil (Belastungsprofil)
– 101
10.6
Drucktransmission
10.6.1 10.6.2
Passive Drucktransmission – 102 Aktive Drucktransmission – 102
10.7
Interpretation
10.7.1
Urethradruckprofil
Literatur
– 102
– 103
– 105
– 102
– 103
100
Teil II · Urodynamische Untersuchung
10.1
Einleitung
Das Harnröhrendruckprofil ermöglicht dem Untersucher in Ergänzung zur konventionellen Urodynamik, den Harnröhrenverschlussmechanismus in Ruhe und unter Belastung zu beurteilen. Dabei werden die funktionelle Harnröhrenlänge, der maximale Harnröhrenverschlussdruck und die Drucktransmission bestimmt. Der in der Harnröhre gemessene Druck hat aktive und passive Komponenten. Das Harnröhrendruckprofil stellt die einzige urodynamische Untersuchung dar, die quantitative Aussagen über den urethralen Verschlussmechanismus zulässt.
10.2
10
⊡ Abb. 10.1. Das Harnröhrendruckprofil – simultane Aufzeichnung von Blasen- und Urethradruck
Technik
Bei der Registrierung des Urethradruckprofils ist die simultane Aufzeichnung von Blasen- und Urethradruck erforderlich (⊡ Abb. 10.1). Zur kontinuierlichen Schreibung des Urethradruckprofils über die gesamte Länge der Harnröhre ist ein Gerät zum maschinellen Katheterrückzug nötig. Der konstante Rückzug, der manuell nicht realisiert werden kann, erlaubt die Koordination der Rückzugsgeschwindigkeit mit der Registriergeschwindigkeit und somit die Erfassung der funktionellen Urethralänge. Durch die Notwendigkeit der simultanen Ableitung von Urethra- und Blasendruck bei gleichzeitigem Rückzug des Katheters aus der Blase sind Spezialkatheter erforderlich, die über zwei getrennte Druckkanäle verfügen, deren Messpunkte in einem Abstand von mindestens 6 cm angebracht sein sollen. Da die funktionelle, für den Harnröhrenverschluss maßgebliche Harnröhre im Allgemeinen kürzer als 5 cm ist, verbleibt der an der Katheterspitze liegende Messpunkt während des gesamten Durchzuges durch die Urethra intravesikal. Bei der Verwendung von Mikrotipkathetern mit zwei Druckaufnehmern kann das Harnröhrendruckprofil ohne weiteren gerätetechnischen Aufwand erfolgen. Wesentlich billiger ist die Perfusionsmanometrie mit dreilumigen Kathetern. Die Perfusion der Urethra erfolgt mit handelsüblichen, möglichst pulsationsfreien Pumpen entweder über einen getrennten Perfusionskanal (dreilumiger Katheter, Methode nach Heidenreich und Beck) [6] oder über den Urethradruckkanal (zweilumiger Katheter, Methode nach Brown und Wickham) [2]. Alternativ dazu kommen mehrlumige Membrankatheter (ohne Perfusion) zur Anwendung. Diese drei beschriebenen Techniken erzielen vergleichbare Ergebnisse. Vorzugsweise sollten Füllungszystometrie, Entleerungszystometrie und Urethradruckprofil mit einem Katheter durchgeführt werden, um eine wiederholte Instrumentierung zu vermeiden. Die Messkatheter sollten nicht dicker als CH7 sein. Aus Gründen der Reproduzierbarkeit sollten immer Katheter gleichen Typs verwendet werden.
⊡ Abb. 10.2. Messparameter des Urethradruckprofils und deren Definition
Messgröße ist der intraurethrale Druck (cm H2O) sowie die funktionelle Urethralänge (mm; ⊡ Abb. 10.2). Bei gleichzeitiger Registrierung des intravesikalen Druckes ist der Urethraverschlussdruck errechenbar. Die urethrale Druckregistrierung ist bei verschiedenen Funktionszuständen der Urethra möglich (körperliche Belastung durch Husten oder Bauchpresse, willkürliche Beckenbodenkontraktionen). Die Messwerte der funktionellen Urethralänge des Urethraverschlussdruckes sowie der urethralen Druckübertragung unter Belastung lassen eine Einschätzung der Sphinkterfunktion der Urethra zu.
10.3
Untersuchungsbedingungen
Standardisierte Untersuchungsbedingungen sind Voraussetzung zur Registrierung reproduzierbarer Druckverhältnisse.
101 Kapitel 10 · Urethradruckprofil
Die Position des Patienten bei der Untersuchung kann wie bei der Zystometrie liegend, sitzend oder stehend gewählt werden, es empfiehlt sich, die gleiche Position wie bei der Füllungszystometrie beizubehalten. Im Allgemeinen sollte die sitzende Untersuchungsposition bevorzugt werden. Das Urethradruckprofil muss bei standardisierter Blasenfüllung durchgeführt werden, da die Druckwerte eine gewisse Abhängigkeit vom jeweiligen Blasenfüllungsgrad aufweisen. Es empfiehlt sich eine Blasenfüllung von 100 ml beim Erwachsenen und 50 ml beim Kind (ICS).
10.4
Messprinzipien
Zur Registrierung der urethralen Druckverhältnisse kommen in Abhängigkeit vom angewandten Messkatheter verschiedene Messprinzipien in Betracht: ▬ Bei der offenen Messung unter Perfusion muss die Perfusionsrate standardisiert sein, sie sollte zwischen 2 ml/min und 10 ml/min liegen, eine allgemein anerkannte Perfusionsrate liegt bei 5 ml/min ▬ Bei Messung über ein flüssigkeitsgefülltes, geschlossenes System mit einer Membran als Druckaufnehmer entfällt eine Perfusion ebenso wie bei der Anwendung der direkten Druckmessung über einen Mikrotiptransducerkatheter, wobei der elektrische Druckwandler direkt in den Katheter eingebaut ist. Die Messung des urethralen Druckprofils erfolgt kontinuierlich, wobei der Rückzug zur exakten Ermittlung der funktionellen Harnröhrenlänge maschinell erfolgen muss. Die Rückzugsgeschwindigkeiten sind messplatzspezifisch. Die empfohlene Geschwindigkeit beträgt 3 mm/s.
⊡ Abb. 10.3. Messtechnik des Urethrastressprofils: regelmäßige Hustenstöße während des Katheterrückzuges von mindestens 50 cm H2O Stärke
tenz des Verschlussmechanismus bei extrinsischer Druckerhöhung prüfen. Eine Urethradruckmessung mit einem in der Urethra fixierten Katheter ist sowohl in der Speicher- als auch in der Entleerungsphase möglich. Diese Untersuchungstechnik bleibt speziellen Fragestellungen vorbehalten und ist für die Routine nicht geeignet.
10.5
Normalbefunde
Die wichtigsten Parameter des Urethradruckprofiles sind: ▬ funktionelle Harnröhrenlänge ▬ maximaler Harnröhrenverschlussdruck ▬ passive und aktive Drucktransmission Als weitere, insbesondere von Gynäkologen oft gebrauchte Parameter können Transmissionsdruck, Depressionsdruck, Urethraverschlussdruck unter Stress, Depressionsquotient und Transmissionsfaktor genannt werden.
10.4.1 Ruheprofil
Der an der Rückzugseinrichtung fixierte Katheter wird unter standardisierten Bedingungen (Position des Patienten, Blasenfüllung, Temperatur, Perfusionsrate, Rückzugsgeschwindigkeit) bei entspannten Patienten und oberflächlicher Atmung durch die Urethra gezogen und registriert somit die Druckverhältnisse im Bereich der gesamten funktionellen Harnröhre in Ruhe (⊡ Abb. 10.1).
10.4.2 Stressprofil (Belastungsprofil)
Während der Schreibung des urethralen Druckprofils erhöht der Patient kurzzeitig (im Allgemeinen alle 2–3 s) durch Hustenstöße von mindestens 50 cm H2O-Stärke den intraabdominellen Druck auf Blase, Harnröhre und Beckenboden (⊡ Abb. 10.3). Damit lässt sich die Kompe-
10.5.1 Ruheprofil
Aus dem Ruheprofil lassen sich funktionelle Harnröhrenlänge und maximaler Harnröhrenverschlussdruck in Ruhe bestimmen. Die funktionelle Harnröhrenlänge entspricht dem Abschnitt der Harnröhre, in dem der intraurethrale Ruhedruck über dem intravesikalen Ruhedruck liegt. Die Länge wird bei den heutigen Messplätzen automatisiert bestimmt. Als unterer Normwert der funktionellen Harnröhrenlänge gilt bei der Frau ein Wert von 25 mm. Der maximale Urethraverschlussdruck in Ruhe errechnet sich durch Subtraktion des intravesikalen Ruhedruckes vom maximalen Urethradruck in Ruhe, was bei allen modernen Messplätzen ebenfalls automatisiert geschieht. Die Kurve des Urethraverschlussdrucks wird
10
102
Teil II · Urodynamische Untersuchung
als Differenzdruck auf einem gesonderten Registrierkanal aufgezeichnet. Der maximale Urethraverschlussdruck ist altersabhängig. Als Faustregel kann eine Normwertberechnung wie folgt gelten: Bei Frauen bis zum 50. Lebensjahr: 50 cm H2O, über 50 Jahre: 100 minus Alter (in Jahren) cm H2O. 10.5.2 Stressprofil (Belastungsprofil)
Am Stressprofil des Urethraverschlussdrucks lässt sich graphisch ablesen, in welchem Ausmaß sich eine extrinsische Druckerhöhung auf die Urethra überträgt und somit unter Belastung ein positiver Verschlussdruck aufrechterhalten werden kann. Ist unter Stressbedingungen kein positiver Verschlussdruck über die gesamte funktionelle Harnröhrenlänge mehr nachweisbar, gilt dieser Befund als Dokumentation einer Stressinkontinenz.
10.6
Drucktransmission
10.6.2 Aktive Drucktransmission
Die aktive Drucktransmission entsteht dadurch, dass es über den durch Husten, Niesen u. Ä. ausgelösten Hustenreflex zu einer reflektorischen Kontraktion der quergestreiften Beckenbodensphinktermuskulatur kommt. Diese Kontraktion führt zu einem zusätzlichen intraurethralen Druckaufbau im Bereich des mittleren Harnröhrendrittels bzw. im Bereich des maximalen Urethraverschlussdrucks. Die Ermittlung der Drucktransmissionswerte erfolgt dadurch, dass die durch Husten erzielten intraurethralen Druckzacken in Relation zu den simultanen intravesikalen Druckzacken gesetzt und in Prozentwerten ausgedrückt werden (⊡ Abb. 10.4). Führt man diese Berechnung an einem Urethrastressprofil durch, so ergeben diese Prozentzahlen das Transmissionsprofil: Am Blasenhals beginnend, fällt die Drucktransmission im proximalen Urethradrittel von 100% auf 70% ab und steigt im mittleren Urethradrittel auf 85% an, um im distalen Harnröhrendrittel wieder kontinuierlich abzufallen. Bei Stressinkontinenz sind entsprechend unterschiedlicher Ursachen differente Befunde möglich (⊡ Abb. 10.5).
Die Erfassung der Drucktransmission auf Blase und Harnröhre ergibt zusätzliche Hinweise auf die Ursachen einer Belastungsinkontinenz.
10 10.6.1 Passive Drucktransmission
Die passive Drucktransmission entsteht dadurch, dass eine intraabdominelle Druckerhöhung nicht nur auf die Blase, sondern über das perivesikale und periurethrale Gewebe auch auf die Urethra übertragen wird und zu einer intraurethralen Druckerhöhung führt. Diese Druckübertragung beträgt am Beginn der Urethra am Blasenausgang 100% der simultanen intravesikalen Druckerhöhung und nimmt im weiteren Urethraverlauf distalwärts kontinuierlich ab. Außerhalb des Beckenbodens ist sie nicht mehr nachweisbar. Voraussetzung für eine adäquate passive Drucktransmission ist ein anatomisch und funktionell intakter Beckenboden und ein normaler intraabdomineller Verlauf der Urethra.
⊡ Abb. 10.4. Berechnung der Drucktransmission: Höhe der intraurethralen Druckantwortzacke in Relation zur simultanen intravesikalen Druckantwortzacke im Verlauf der funktionellen Harnröhrenlänge (Prozentsatz entspricht Drucktransmissionsratio)
⊡ Abb. 10.5. Drucktransmissionsprofil: Drucktransmissionsratio im Verlauf der funktionellen Harnröhrenlänge
103 Kapitel 10 · Urethradruckprofil
Weitere, insbesondere von Gynäkologen verwendete Parameter und deren Definitionen sind Folgende: ▬ Der Transmissionsdruck entspricht dem Anstieg des intraurethralen Drucks unter Belastung (Amplitude der Druckzacke). ▬ Der Depressionsdruck entspricht der Abnahme des Urethraverschlussdrucks unter Stress (Differenzdruck). ▬ Der Urethraverschlussdruck unter Stress entspricht dem Harnröhrenverschlussdruck minus dem Depressionsdruck. ▬ Der Depressionsquotient ist der Quotient aus dem Depressionsdruck und dem maximalen Urethraverschlussdruck in Ruhe (stressbedingter Abfall des Harnröhrenverschlussdruckes). ▬ Der Transmissionsfaktor (Drucktransmissionsratio) entspricht der oben dargestellten Drucktransmission, wird jedoch als Mittelwert mehrerer Einzelmessungen angegeben.
10.7
Interpretation
Das Urethradruckprofil ist die Untersuchung des urethralen Verschlussmechanismus. Da das Urethradruckprofil im Ruhezustand, d. h. außerhalb der Miktion durchgeführt wird, gestattet es keinerlei Aussage über eine infravesikale Obstruktion. Der Urethraverschlussdruck kann deshalb in Ruhe hoch sein, ohne dass eine Erhöhung des infravesikalen Widerstandes bei der Miktion nachweisbar ist.
⊡ Abb. 10.6. Urethrahypotonie als Ursache einer Belastungsinkontinenz
10.7.1 Urethradruckprofil
Aus funktioneller Urethralänge und maximalem Harnröhrenverschlussdruck lassen sich Hinweise auf die Kontinenzfunktion des Urethraverschlussmechanismus in Ruhe gewinnen. Das Stressprofil (Belastungsprofil) ermöglicht qualitative und quantitative Aussagen über die Urethraverschlussmechanismen unter Belastung. Die automatisierte Erstellung des Transmissionsprofils ist möglich, jedoch häufig artefaktbelastet und deshalb nicht ungeprüft zu akzeptieren. Für die manuelle Auswertung ist es ausreichend, zur Beurteilung der passiven Drucktransmission eine Druckzacke aus dem proximalen Drittel der funktionellen Harnröhre und für die Beurteilung der aktiven Drucktransmission eine Druckzacke aus dem Bereich des mittleren Harnröhrendrittels (Bereich des maximalen Harnröhrenverschlussdruckes) auszuwerten. Als Ursachen der Belastungsinkontinenz können somit erkannt werden: ▬ Der im Ruheprofil nachgewiesene verminderte maximale Harnröhrenverschlussdruck (Harnröhrenhypotonie (⊡ Abb. 10.6), ▬ Die im Stressprofil nachgewiesene verminderte passive Drucktransmission (⊡ Abb. 10.7) und ▬ Die im Stressprofil nachgewiesene verminderte aktive Drucktransmission als Ausdruck einer verminderten reflektorischen Kontraktionsleistung der Beckenbodensphinktermuskulatur (Beckenbodenhyporeaktivität (⊡ Abb. 10.8).
10
104
Teil II · Urodynamische Untersuchung
10
⊡ Abb. 10.7. Verminderte passive Drucktransmission im proximalen Urethradrittel bei Urethrahypermobilität
Die drei genannten Ursachen bzw. Befundmuster können einzeln oder in Kombination auftreten. Schwere Formen der Belastungsinkontinenz beruhen oft auf einer Kombination von Hypotonie und verminderter Drucktransmission. Die Interpretation der übrigen oben beschriebenen Parameter (Transmissionsdruck, Depressionsdruck, Urethraverschlussdruck unter Stress, Depressionsquotient
und Transmissionsfaktor) ist schwierig und im Hinblick auf die einzelnen Stressinkontinenzursachen nur bedingt aussagekräftig. Urethraverschlussdruck unter Stress und Depressionsdruck sind als Einzelwerte schwer interpretierbar. Der Depressionsquotient kann zwar über den Schweregrad und über die Wahrscheinlichkeit einer Stressinkontinenz eine Aussage treffen, nicht aber über die möglichen Ursachen der Stressinkontinenz.
105 Kapitel 10 · Urethradruckprofil
⊡ Abb. 10.8. Verminderte aktive Drucktransmission im mittleren Urethradrittel bei Beckenbodenhyporeaktivität
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10
11
Messung des Leak Point Pressure K. Höfner
11.1
Einleitung
– 108
11.2
Detrusor leak point pressure – 108
11.3
Valsalva leak point pressure – 108
11.4
Cough leak point – 108
11.5
Methode
– 109
Literatur
– 111
108
Teil II · Urodynamische Untersuchung
11.1
Einleitung
Der Wert des intravesikalen oder abdominalen Drucks, bei dem ein Harnverlust beobachtet wird, wird als Leak point pressure (LPP) bezeichnet. Allgemein besteht Kontinenz, so lange der Urethradruck höher als der Blasendruck ist. Umgekehrt entsteht Inkontinenz, wenn der intravesikale Druck den urethralen Druck übersteigt. Dies kann einmal durch eine echte Erhöhung des Detrusordruckes im Rahmen einer Low-Compliance-Blase ohne Erhöhung des abdominellen Drucks (Detrusor leak point pressure) oder durch Erhöhung des intraabdominellen Druckes beim Pressen (Valsalva leak point pressure) oder beim Husten (Cough leak point pressure) ausgelöst werden. In letzteren Fällen führt ein erhöhter intraabdomineller Druck zum Übersteigen des intravesikalen Drucks über den der Urethra und somit zum Urinverlust.
11.2
11
Detrusor leak point pressure
Die Messung des Leak point pressure (LPP) ist ein Konzept, das schon lange bei Kindern mit Myelomeningozele verwendet wird, um den passiven urethralen Widerstand zu bestimmen und damit das Risiko zur Entwicklung eines vesikoureteralen Refluxes oder einer Stauung des oberen Harntraktes zu ermitteln [8]. In der genannten Anwendung wurde dieser Test auch als Detrusor-LPP bezeichnet, da der Urinverlust durch eine Detrusordruckerhöhung im Sinne einer Low-compliance-Blase erzeugt wird, der nicht abdominell ausgelöst ist. Die Autoren beschrieben einen Grenzwert von 40 cm H2O, über dem ein signifikant erhöhtes Risiko für Reflux (68%) und eine Dilatation des oberen Harntraktes (81%) besteht. Bereits 1992 wurde festgestellt, dass der Detrusor-LPP sehr stark von der Stärke des transurethralen Katheters abhängig ist [2].
11.3
dern vaginal gemessen wird [1]. Darüber hinaus besteht Abhängigkeit von der Blasenfüllung [3, 9] und der Art der Provokation (Valsalva oder Husten [9]). Als erhebliche Fehlerquelle erscheint die Prozedur zur Erfassung des Inkontinenzereignisses, da in allen bisher beschriebenen Methoden der Beginn des Urinverlustes durch den Untersucher registriert und manuell simultan zum Druckereignis markiert werden muss. Der Urinverlust selbst wird röntgenologisch [3, 7, 10] oder rein visuell am Meatus urethrae externus mit [13] oder ohne [1, 14, 15] Anfärbung des Urins mit Indigokarminlösung bestimmt. Eine neuere Methode ist die Nutzung eines speziellen Katheters zur Messung der »urethral conductance«: Ein spezieller am Katheter befindlicher Sensor wird am Meatus urethrae externus platziert und registriert mit der Anfeuchtung des Sensors den Urinverlust [12]. Von den meisten Autoren wird der VLPP verwendet. Die Gründe liegen offensichtlich darin, dass nur bei langsamer und kontinuierlicher Erhöhung des abdominellen Drucks eine einigermaßen sichere Zuordnung des Urinverlustes manuell möglich ist. Obwohl der Urinverlust beim Hustenstoß (d. h. kurzer und schneller Druckanstieg) als das optimale Signal zum Nachweis der Belastungsinkontinenz gelten kann, ist eine Zuordnung des Urinverlustes zu diesem sehr schnellen Signal per Hand kaum möglich. Die Untersucher, die den Leak point pressure hustensimultan ermittelten, nutzten Hustenstöße mit ansteigender Intensität und registrierten den Hustenstoß mit der geringsten Höhe, bei dem gerade Urinverlust eintrat. Auch hier erscheint eine exakte Bestimmung des LPP unmöglich [11]. Ein erster Schritt in die richtige Richtung scheint die Erfassung des Urinverlustes am Meatus urethrae externus mit einem Sensor, obwohl die Mitteilungen zur Reproduzierbarkeit und Zuverlässigkeit der Technik bisher unzureichend sind. Trotz offensichtlicher Schwierigkeiten in der Methodik und fehlender Standardisierung ist die Messung des VLPP in den USA als Standard in der Diagnostik der Inkontinenz empfohlen worden.
Valsalva leak point pressure 11.4
Seit Beginn der 90er-Jahre wird der Valsalva leak point pressure (VLPP) zur Diagnostik der Stressharninkontinenz favorisiert [5, 6, 7]. Über den qualitativen Nachweis einer Belastungsinkontinenz mit dem VLPP hinaus wurde der Test verwendet, um zwischen einer »intrinsic urethral spincter deficiency« (VLPP >60 cm H2O) und einer Hypermobilität der Urethra (VLPP <100 cm H2O) zu unterscheiden [7]. Nahezu alle Autoren beklagen die fehlende Standardisierung der Messung des LPP. Es ist nicht überraschend, dass der LPP mit der Stärke des transurethralen Katheters ansteigt [1, 2, 9] oder dieser signifikant niedriger ist, wenn der Leak Point Pressure nicht transurethral, son-
Cough leak point
Zur Lösung der genannten methodischen Probleme wurde eine eigene Methode zur Messung des LPP beim Husten (Cough leak point, CLP) entwickelt: ▬ Erfassung des LPP beim Husten (CLP) als ideales Signal zum Nachweis einer Belastungsinkontinenz (Möglichkeit zur Registrierung des VLPP bleibt erhalten) ▬ Messung des LPP ohne transurethralen Katheter, damit Verminderung der Invasivität und Wegfall der Abhängigkeit des LPP von der Katheterstärke ▬ Eliminierung der Ungenauigkeit bei der Registrierung des Urinverlustes mittels Röntgen oder durch den Untersucher durch Einführung einer drucksimulta-
109 Kapitel 11 · Messung des Leak Point Pressure
nen Erfassung des Urinverlustes mittels Uroflowmeter (Leak flow) Wegen der essenziell notwendigen simultanen Erfassung eines sehr schnellen Drucksignals mit dem Leak flow wurde eine computerunterstützte Registrierung mit automatischer Erfassung und Korrektur der unvermeidbaren Zeitverschiebung zwischen Druck- und Leak flow mittels spezieller Software entwickelt. Eine Pilotstudie bestätigte die Praktikabilität, Reproduzierbarkeit, Anwendbarkeit in der Routine und diagnostische Sicherheit in der Unterscheidung zwischen Stress-, Urge- und kombinierter Inkontinenz [4].
11.5
Methode
Die Messung des CLP erfolgt im Stehen, wobei der Patient mit gespreizten Beinen und hinreichend voller Blase über dem Trichter des Uroflowmeters steht. Im Rektum befindet sich ein Katheter zur Messung des Abdominaldrucks. Ein transurethraler Katheter zur Messung des Blasendrucks ist nicht erforderlich. In der computerunterstützten Messung werden abdomineller Druck pabd (cm H2O) und der Uroflow des Leaks (Qura, (ml/s) registriert (⊡ Abb. 11.1). In der
⊡ Abb. 11.1. Simultane Messung von Hustenstoß (pabd) und Uroflow des unwillkürlichen Urinverlustes (Qura). Die unvermeidbare zeitliche Verzögerung des Uroflow- zum Drucksignal ist erkennbar
⊡ Abb. 11.2. CLP-Messung bei Belastungsinkontinenz: Pabd Abdominaldruck, Qura Flow des unwillkürlichen Urinverlustes. Im Auswertungsmodus werden automatisiert Hustenspike (LPX), Uroflow des Urinverlustes (Leak), Beginn (Lb) und Ende (Le) des Leaks markiert. Darüber hinaus erfolgt die Darstellung eines Plots aus Abdominaldruck (y-Achse) und Uroflow des Leaks (x-Achse). Auch im Plot werden Beginn (Lb) und Ende (Le) des Leaks markiert, um die Richtung der Druckschleife für den Untersucher klarzumachen. Im Listing werden die Werte für Zeitverzögerung zwischen Druck und Fluss (P/Q-Verzögerung), maximalem Fluss des Leaks (Qmax), Druck bei maximalem Leak (Pmax), CLPP und Art des Ereignisses (SE = Stress-Event für Belastungsinkontinenz, UE = Urge-Event für Dranginkontinenz) angegeben
11
110
11
Teil II · Urodynamische Untersuchung
⊡ Abb. 11.3. CLP-Messung bei Dranginkontinenz: Die Abbildung zeigt nach dem Hustenstoß einen Urinverlust, der erst 2,2 s nach dem Hustenstoß eintritt, so dass eine durch den Hustenstoß getriggerte Detrusorkontraktion mit nachfolgendem Urinverlust anzunehmen ist. Das zweite Inkontinenzereignis geschieht ohne erkennbare Erhöhung des abdominellen Drucks – auch hier ist eine Detrusorinstabilität als Ursache für die Inkontinenz anzunehmen. Als Diagnose kommt nur eine Urge-Inkontinenz in Betracht. Als Eventtyp wird folgerichtig in beiden Fällen eine UrgeInkontinenz ausgewiesen
⊡ Abb. 11.4. CLP-Messung bei kombinierter Inkontinenz: Der erste Urinverlust entsteht hustensimultan (Verzögerungszeit 1,1 s). Bereits die ähnliche Gestalt der Signale (zweigeteilt) lässt die simultane Entstehung vermuten. Urinverlust 2 und 3 entstehen wiederum ohne jegliche Erhöhung des abdominellen Drucks, also als Urge-Komponente. Als Diagnose kann nur eine Stress-urge-Inkontinenz vorliegen
111 Kapitel 11 · Messung des Leak Point Pressure
Messung besteht durch die Automatisierung keinerlei Problem, das Flowsignal dem sehr schnell wechselnden Druck beim Hustenstoß zeitlich zuzuordnen. In der Analyse der Messwerte erfolgt die Darstellung eines Plots aus Abdominaldruck (y-Achse) und Flow des Leaks (xAchse). Werte für Cough leak point (CLP), Zeitverzögerung zwischen Druck und Fluss, Qmax des Leaks, Druck bei maximalem Leak und Art der Inkontinenz werden angegeben. Bisherige Ergebnisse zeigen, dass alle Messwerte des CLP reproduzierbar sind und durch Wegfall des transurethralen Katheters minimal invasiv erfasst werden können. Im Vergleich zum Urethradruckprofil korrelieren nur die Leakwerte (Qmax und Volumen) mit dem klinischen Inkontinenzgrad. Die Sensitivität der Methode zum Nachweis verschiedener Inkontinenzformen liegt bei 88%. Die Methode ist minimal invasiv und zeitsparend und scheint damit als Screeningverfahren zur urodynamischen Diagnostik der Inkontinenz geeignet zu sein. Eine Validierung dieser Untersuchung durch andere Zentren steht aus und ist empfehlenswert. Die ⊡ Abb. 11.2, ⊡ Abb. 11.3 und ⊡ Abb. 11.4 zeigen die Messungen bei unterschiedlichen Inkontinenztypen.
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11
12
Druckflussmessung K. Höfner
12.1
Grundlagen und Definitionen – 114
12.2
Druckflussanalyse
12.2.1 12.2.2 12.2.3
Mechanische Obstruktion – 115 Funktionelle Obstruktion – 117 Kontraktilität – 118
12.3
Interpretation
12.3.1 12.3.2 12.3.3
Ein-Punkt-Verfahren – 118 Zwei-Punkt-Verfahren (lineare PURR) – 118 Multiple-Punkte-Verfahren (PURR) – 118
12.4
Nomogramme
12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4
ICS-Nomogramm – 118 Abrams-Griffiths-Number – 119 Schäfer-Nomogramm – 119 CHESS-Klassifikation – 119
Literatur
– 115
– 118
– 118
– 120
114
Teil II · Urodynamische Untersuchung
12.1
12
Grundlagen und Definitionen
Bei der Druckflussmessung werden simultan Detrusordruck als Differenzdruck aus Blasen- minus Abdominaldruck und Harnfluss pro Zeiteinheit aufgezeichnet (⊡ Tab. 12.1). Bei Verdacht auf funktionelle Obstruktion ist es erforderlich, die Messung mit der Ableitung des Elektromyogramms aus Beckenboden, urethralen oder analen Sphinkter bzw. der röntgenologischen Darstellung von Urethra und Blase (Videourodynamik) zu kombinieren. Die herkömmliche Art der Kurvendarstellung ist die parallele Aufzeichnung von Druckwerten und Uroflow auf einer Zeitachse. Beim Mann ist für die Diagnostik der Obstruktion hauptsächlich der Detrusordruck (pdet) relevant. Aus der simultanen Darstellung von Druck und Fluss sind klassische korrespondierende Druckflusswerte ablesbar, die für die weitere Druckflussauswertung von Wichtigkeit sind. Voraussetzung für die Erfassung korrespondierender Druckflusswerte ist die Korrektur der Zeitverzögerung zwischen Druck und Fluss. Normalerweise wird der Uroflow durch die räumliche Distanz des Uroflowmeters mit einer geringen Zeitverzögerung (ca. 1 s) in Relation zum registrierten Druckwert aufgezeichnet. Um zugehörige Druckflusswerte für eine genaue Analyse der Druckflussrelation zur Verfügung zu haben, muss die Zeitverzögerung durch Verschieben des Uroflows gegen den Druck um ca. 1 s korrigiert werden. Die Notwendigkeit der manuellen Verschiebung des Flusssignals ergibt sich nur für ältere analoge Messplätze. In den heute üblichen computerisierten Geräten wird diese Signalverschiebung automatisiert durchgeführt. Bei jeder Miktion ist, abhängig vom urethralen Widerstand, ein gewisser Detrusordruck erforderlich, um
die Urethra zu öffnen (pdetopen). An diesem Punkt beginnt die Registrierung des Uroflows (⊡ Abb. 12.1). Normalerweise steigen Detrusordruck und Flow gleichzeitig an, bis der Detrusordruck bei maximalem Flow erreicht wird (pdetqmax). Der Detrusordruck fällt anschließend bei gleichzeitig sinkendem Uroflow ab, bis der Flow beendet ist und sich die Urethra wieder verschließt (pdetclos). Der minimale Miktionsdruck (pdetvoidmin) entspricht dem niedrigsten während der Miktion registrierten Detrusordruck. Er entspricht pdetopen oder pdetclos, je nachdem welcher der beiden Drücke den kleinsten Wert aufweist.
p det
pqmax popen
1
pclos
2
3
Q
⊡ Abb. 12.1. Schema einer Druckflussmessung in der Zeitachse. Bei dem Druck popen (1) öffnet sich die Urethra und der Flow beginnt. Die Miktion erreicht bei ansteigendem Uroflow und steigendem Detrusordruck den Punkt pqmax (2). Bei simultanem Abfall von Detrusordruck und Uroflow schließt sich die Urethra am Punkt pclos (3), wo auch der Flow endet
⊡ Tab. 12.1. Parameter der Druckflussmessung Parameter
Bedeutung
Einheit
Detrusoröffnungsdruck (pdetopen)
Detrusordruck bei Beginn des Flows
cm H2O
Maximaler Detrusordruck (pdetmax)
Maximal gemessener Detrusordruck bei Miktion
cm H2O
Detrusordruck bei maximalem Flow (pdetqmax)
Gemessener Detrusordruck bei Qmax
cm H2O
Detrusordruck am Ende des Flows (pdetclos)
Detrusordruck bei Flow-Ende
cm H2O
Minimaler Miktionsdruck (pdetvoidmin)
geringster Detrusordruck bei Miktion
cm H2O
Flussrate (Q)
Urinvolumen pro Zeiteinheit
ml/s
Flusszeit (t)
Zeit, während Harnfluss registriert wird
s
Miktionsdauer
Dauer der Miktion bei intermittierendem Fluss
s
Maximaler Harnfluss (Qmax)
Maximal gemessener Wert der Flussrate
ml/s
Mittlerer Harnfluss(Qave)
Miktionsvolumen dividiert durch Flusszeit
ml/s
Miktionsvolumen (V)
Gesamtvolumen der Miktion
ml
Restharn
Blasenvolumen nach Miktion
ml
115 Kapitel 12 · Druckflussmessung
Die rein visuelle Beurteilung der Relation zwischen Druck und Fluss aus der Druckflusskurve lässt nur grobe quantitative Rückschlüsse auf den bestehenden Obstruktionsgrad zu: ▬ hoher Flow, niedriger Druck (normal) ▬ niedriger Flow, hoher Druck (Obstruktion) ▬ niedriger Flow, niedriger Druck (Detrusorinsuffizienz) ▬ hoher Flow, hoher Druck (High-Flow-Obstruktion) Für die exakte Quantifizierung des Obstruktionsgrades ist die rein visuelle Beurteilung des Kurvenbildes jedoch nicht ausreichend, da nur Extremwerte interpretierbar sind. Soll zwischen unterschiedlichen Obstruktionsgraden bzw. zwischen Hypo- oder Hyperkontraktilität oder deren Kombination unterschieden werden, ist eine Druckflussanalyse erforderlich.
12.2
Druckflussanalyse
12.2.1 Mechanische Obstruktion
Voraussetzung für die genaue Diagnostik von Qualität und Quantität einer mechanischen Obstruktion ist die Darstellung von Druck und Fluss im Diagramm als Druckflussrelation oder Druckflussplot (⊡ Abb. 12.2). In dieser Darstellung korrespondierender Druckflusswerte entsteht eine Miktionsschleife, die für den unerfahrenden Anwender ungewohnt ist, da die Zeitachse verloren geht. Die charakteristischen, korrespondierenden Druckflusswerte popen, pqmax und pclos sind jedoch
p det
2 1 p open
pqmax
pclos
3 Q ⊡ Abb. 12.2. Druckflussplot als xy-Diagramm aus Uroflow und Detrusordruck. Die in ⊡ Abb. 12.1 identifizierten korrespondierenden Werte von Druck und Fluss (1) bis (3) sind erkennbar
erkennbar und zeigen die Richtung der Entwicklung der Schleife während der Miktion an (Pfeile in ⊡ Abb. 12.2). Der Druckflussplot wird auch als urethrale Widerstandsrelation (»urethral resistance relation«, URR [2]) bezeichnet, da sich Veränderungen des urethralen Widerstandes während der Miktion im Druckflussplot zeigen. Die Bildung eines Druckflussplots ist manuell kaum möglich, jedoch Standard in modernen urodynamischen Messplätzen führender Hersteller. Der Druckflussplot ist die Basis jeder weiteren Druckflussanalyse zur Quantifizierung des urethralen Widerstandes und der Detrusorkontraktilität. Für den Urologen ist bei Patienten mit BPH (benigne Prostatahyperplasie) die Bestimmung des urethralen Widerstandes und der Detrusorkontraktilität das eigentliche Ziel der Druckflussmessung. Für das Verständnis der Bestimmung des urethralen Widerstandes und der Kontraktilität des Detrusors sind folgende Tatsachen von Bedeutung: ▬ Der urethrale Gesamtwiderstand ist eine Summe aus mechanischen (z. B. BPH, Striktur, Meatusstenose) und funktionellen (Aktivität der urethralen Verschlussmuskulatur) Komponenten ▬ Während der mechanische Widerstand durch morphologische Strukturen determiniert und damit konstant ist, kann die funktionelle Komponente bedingt durch wechselnde Aktivität der urethralen Verschlussmuskulatur während der Miktion variieren ▬ Der mechanische Widerstand ist dann messbar, wenn die urethrale Verschlussmuskulatur komplett relaxiert ist, und somit der mechanische Widerstand als Restwiderstand nachweisbar wird ▬ Jegliche Erhöhung des urethralen Widerstandes während der Miktion (Zunahme der Aktivität der urethralen Verschlussmuskulatur) erzeugt eine korrespondierende Erhöhung des Druckes bei abfallendem Flow und umgekehrt wird eine Verminderung des Widerstandes im Absinken des Druckes bei ansteigendem Flow (Relaxation der urethralen Verschlussmuskulatur) angezeigt ▬ Da der mechanische Widerstand dem Restwiderstand nach voller Relaxation des Verschlusses entspricht, erreicht der Detrusordruck in Relation zum Flow (also die Miktionsschleife) seinen niedrigsten Wert Im Druckflussplot entspricht dieser Bereich der sogenannten Niedrigdruckflanke der Miktionsschleife. Um die Niedrigdruckflanke des Druckflussplots als Kriterium für die mechanische Obstruktion zu markieren, wird eine Kurve verwendet, die als passive urethrale Widerstandsrelation (»passive urethral resistance relation«, PURR) bezeichnet wird (⊡ Abb. 12.3; [8]). Die PURR entspricht einer graphischen Darstellung des mechanischen Widerstandes der Miktion. Auf der PURR als graphische Darstellung des mechanischen Widerstandes basieren mehr
12
116
Teil II · Urodynamische Untersuchung
oder weniger alle existierenden Konzepte zur urodynamischen Diagnostik bzw. Klassifikation von Obstruktion und Kontraktilität. Ausgangspunkt für die Klassifikation ist eine numerische Quantifizierung der PURR: Die PURR-Kurve ist durch einen spezifischen Fußpunkt (Schnittpunkt mit der Druckachse) und einen Kurvenanstieg definiert. Der
p det
PURR
Q
12
⊡ Abb. 12.3. Markierung der Niedrigdruckflanke durch die PURR als Graphik für den mechanischen Widerstand
p det
PURR-Fußpunkt ist für die Öffnung bzw. den Verschluss der Urethra, der Anstieg für die Urethraeigenschaften während des Urinflusses (Dehnbarkeit bzw. Elastizität) repräsentativ. Die Länge der PURR-Kurve ist ein Parameter zur Beschreibung der Detrusorkontraktilität. Bei verschiedenen Obstruktionsarten können sowohl Fußpunkt als auch Anstieg der PURR unabhängig voneinander verändert sein. Ein höherer urethraler Widerstand besteht sowohl bei Verschiebung der gesamten PURR-Kurve in einen höheren Druckbereich (ansteigender Fußpunkt, konstanter Anstieg; (⊡ Abb. 12.4a) oder einer Abnahme der Steilheit der PURR-Kurve (konstanter Fußpunkt, Abnahme des Anstiegs; (⊡ Abb. 12.4b). Bei verschiedenartigen Obstruktionen können Fußpunkt und Anstieg unabhängig voneinander verändert sein, wobei die Veränderung der globalen Lage der PURR (Fußpunktveränderung) für den Obstruktionsgrad, die Veränderung des Anstiegs für den Obstruktionstyp maßgebend sind. Bei normaler Miktion ist die Kurve steil und liegt mit dem Fußpunkt im niedrigen Druckbereich. Bei Harnröhrenstriktur ist der Fußpunkt bei normaler Miktion normal, die PURR jedoch flach: Die Urethra öffnet sich bei niedrigem Detrusordruck, während der Miktion steigt der Druck jedoch durch die Limitierung des maximalen Flows auf die Durchflusskapazität der Striktur stark an. Die obstruktive BPH besitzt einen Fußpunkt im höheren Druckbereich und ist sehr variabel im Anstiegswinkel. Man unterscheidet deshalb auch einen kompressiven (steiler Anstieg) von einem konstriktiven (flacher Anstieg) Obstruktionstyp. Die Blasenhalssklerose zeigt einen hohen Fußpunkt mit flachem Anstieg (⊡ Abb. 12.5).
p det
+R
+R
Q a
Qmax3 Qmax2 Qmax1
Q b
Qmax3
Qmax2
Qmax1
⊡ Abb. 12.4. PURR-Formen bei Zunahme des urethralen Widerstandes. a: ansteigender Fußpunkt. b: abfallende Steigung. In beiden Fällen resultiert eine Reduktion des maximalen Harnflusses (Qmax 1–3)
117 Kapitel 12 · Druckflussmessung
In modernen Messplätzen erfolgt die Darstellung des Plots und die Markierung seiner Niedrigdruckflanke mit der PURR automatisiert, so dass sich der Anwender über die Komplexität des Verfahrens keine Sorgen machen muss.
12.2.2 Funktionelle Obstruktion
Da sich in der Druckflussrelation auch Informationen über den funktionellen Widerstand (Aktivität der urethralen Muskulatur) finden, ist mit der PURR auch eine Definition des Grades der funktionellen Obstruktion möglich. Voraussetzung für den Nachweis einer mechanischen Obstruktion ist die vollständige Relaxation der urethralen
p det
Blasenhals-Sklerose BPH BPH
Striktur normal
Q ⊡ Abb. 12.5. PURR-Formen bei klassischen Miktionsstörungen
Muskulatur. In dieser Situation wird der mechanische Widerstand als Restwiderstand messbar (⊡ Abb. 12.6). Besteht eine dauernde Überaktivität der urethralen Muskulatur (Sphinkterspasmus), kommt es zu keinem Zeitpunkt der Miktion zur Relaxation, so dass die funktionelle Obstruktion als mechanische maskiert ist. Die mechanische Obstruktion ist in diesem speziellen Fall nicht morphologisch, sondern funktionell verursacht. Dieser Ausnahmefall muss für die urodynamische Messung des mechanischen Widerstandes bekannt sein und ist unabhängig vom verwendeten Konzept der Klassifikation. Die Dokumentation der funktionellen Genese des mechanischen Widerstandes ist in diesen genannten Fällen ausschließlich mit der Registrierung des Elektromyogramms aus Beckenboden, urethralem oder analem Sphinkter bzw. der röntgenologischen Darstellung der Urethra in einer Videourodynamik möglich. Ist der funktionelle urethrale Widerstand inkonstant, d.h. wechseln Kontraktion und Relaxation der urethralen Muskulatur, dann wird der minimale Restwiderstand als morphologisch definierte mechanische Obstruktion nachweisbar. Die Aktivität der urethralen Muskulatur über diesen Restwiderstand hinaus ist in der Druckflussmessung getrennt nachweisbar. In der herkömmlichen Darstellung von Druck und Fluss mit EMG in der Zeitachse sind erhöhte Aktivitäten der urethralen Muskulatur durch korrespondierenden Abfall des Flusses bei gleichzeitig ansteigendem Detrusordruck sichtbar, während eine Relaxation der Muskulatur als Wiederanstieg des Flusses und Abfall des Druckes signalisiert werden. Die genannten Abweichungen der Miktionsschleife im Druckflussplot in Richtung des höheren Druckes und niedrigeren Flusses und damit die Abweichung von der Niedrigdruckflanke, d. h. der PURR, sind in computerunterstützten Systemen kalkulierbar und kön-
p d et
R is R prost
R es Fl ow
»Restwiderstand«
⊡ Abb. 12.6. Der urethrale Widerstand R setzt sich aus zwei funktionellen Komponenten R is (urethraler Widerstand am Blasenhals) und R es (urethraler Widerstand am externen urethralen Sphinkter) und dem mechanischen Widerstand, der bei BPH dem der Prostata entspricht (R prost), zusammen. Bei der Miktion kommt es normalerweise zur vollen Relaxation der urethralen Muskulatur und die funktionellen Widerstände R is und R es sinken auf 0 ab. Der morphologisch bedingte mechanische Widerstand kann durch Relaxation nicht abgesenkt werden und ist deshalb unter Voraussetzung der vollen Relaxation der urethralen Muskulatur als Restwiderstand messbar
12
118
Teil II · Urodynamische Untersuchung
nen als zusätzliche Kurve der urethralen Aktivität in der Zeitachse parallel zu Druck und Fluss dargestellt werden. Damit wird ermöglicht, die funktionellen Komponenten des urethralen Widerstandes auch ohne EMG als dynamische urethrale Widerstandsrelation (»dynamic urethral resistance relation«, DURR) graphisch abzubilden [8]. Der Vorteil der DURR besteht darin, dass sie unabhängig von den zahlreichen EMG-Artefakten ist und darüber hinaus die Gesamtaktivität der urethralen Muskulatur und nicht nur die der quergestreiften Anteile liefert.
chanischen Widerstand mit ausreichender Genauigkeit zu beschreiben. Die Erfassung der PURR ist jedoch an die Konstruktion eines Druckflussplots und die graphische Definition zu einer Niedrigdruckflanke gebunden, was ausschließlich mit computerisierten Systemen möglich ist. Auch für ältere analoge Messplätze ohne Möglichkeit der Konstruktion eines Druckflussplots stehen Methoden zur Verfügung, die eine Klassifikation der Obstruktion gestatten. Die Vereinfachung der Analyse geschieht durch Reduktion des Druckflussplots auf einzelne Punkte, die aus der herkömmlichen Darstellung von Druck und Fluss in der Zeitachse zu ermitteln sind.
12.2.3 Kontraktilität
12
Die Höhe des gemessenen Wertes für den Detrusordruck ist kein Maß für die Kontraktilität des Detrusors. Das beste Beispiel sind Patienten mit extrem niedrigem urethralen Widerstand, bei denen sehr gute Harnflusswerte auch ohne wesentlichen Detrusordruckanstieg erzeugt werden. Bei Frauen kann es durchaus normal sein, wenn die Miktion ohne jeglichen Detrusordruckanstieg abläuft. In diesen Fällen liegt eine isotone Detrusorkontraktion vor. Fehlender Detrusordruckanstieg spricht deshalb nicht zwingend für eine Insuffizienz der Kontraktilität. In der modernen Urodynamik ist es deshalb erforderlich, neben der Quantifizierung des urethralen Widerstandes auch Informationen über die Detrusorkontraktilität zu erlangen. Dabei ist nicht nur die Erfassung der Stärke, sondern auch der Dauer der Detrusorkontraktilität von Wert. Die Länge der PURR-Kurve ist ein Maß für die Stärke der Kontraktilität. Eine stark vereinfachte, aber praktikable Methode ist deshalb die Beurteilung der Stärke der Kontraktilität aus dem Schäfer-Nomogramm, in dem die Lage des pdetqmax in den Feldern für die Detrusorkontraktilität abgelesen wird (⊡ Abb. 12.8). Eine genauere Möglichkeit bieten computerisierte urodynamische Systeme, die die Implementierung von Algorithmen zur Onlineberechnung der Kontraktilität während der Miktion gestatten mit Darstellung der Detrusorkontraktilität gegen das aktuelle Blasenvolumen [3, 7] oder parallel zur Druckflusskurve in der Zeitachse.
12.3
12.3.1 Ein-Punkt-Verfahren
Ein-Punkt-Verfahren verwenden den Detrusordruck bei maximalem Flow (pdetqmax) zur Klassifikation. Dieser Punkt wird in Nomogramme eingezeichnet (ICS-Nomogramm, Schäfer-Nomogramm) oder wird für die Definition von Zahlenwerten verwendet (z. B. Abrams-Griffiths-Number, URA).
12.3.2 Zwei-Punkt-Verfahren (lineare PURR)
Die lineare PURR verwendet die Punkte Detrusordruck bei maximalem Flow (pdetqmax) und den geringsten Miktionsdruck (pdetvoidmin). Durch Verbindung beider Punkte entsteht eine Gerade, die als lineare PURR bezeichnet wird (⊡ Abb. 12.8; [9]). Im Gegensatz zu den Ein-PunktVerfahren ist durch die mögliche Definition von Fußpunkt und Anstieg der linearen PURR eine Klassifikation von Obstruktionsgrad und -typ möglich.
12.3.3 Multiple-Punkte-Verfahren (PURR)
Die echte Markierung der Niedrigdruckflanke des Druckflussplots geschieht unter Verwendung vieler Punkte dieser Flanke computerunterstützt in modernen urodynamischen Messplätzen (⊡ Abb. 12.3). Sie ist die exakteste Analysemethode.
Interpretation
In der Druckflussmessung sind alle relevanten Informationen über den mechanischen und funktionellen Widerstand bzw. die Detrusorkontraktilität vorhanden. Zur Beurteilung des Obstruktionsgrades und der Kontraktilität dienen verschiedene Analysemethoden. Prinzipiell sind numerische Größen oder Nomogramme und deren Kombination möglich. Bei Beachtung aller Grundlagen der Hydrodynamik der Miktion ist an sich nur die PURR in der Lage, den me-
12.4
Nomogramme
12.4.1 ICS-Nomogramm
Das ICS-Standardisierungskomitee für Druckflussanalysen empfiehlt eine Modifikation des Abrams-Griffiths-Nomogramms als Standard der ICS (⊡ Abb. 12.7; [2]). Im Abrams-Griffiths-Nomogramm wurden auf der Grundlage von Druckflussmessungen an obstruktiven
12
119 Kapitel 12 · Druckflussmessung
pdet [cm H2O]
pqmax
obstruktiv
(p = 40
one Grauz Abrams/GriffithsNumber
+ 2Q)
(p = 20 nicht obstruktiv
bzw. nichtobstruktiven Probanden drei Zonen (obstruktiv – Grauzone – nichtobstruktiv) empirisch festgelegt [1]. Die Klassifikation der Obstruktion ergibt sich durch Eintragung des Detrusordruckes bei maximalem Flow (pdetqmax) in das Nomogramm.
+ 2Q)
Qmax [ml/s]
sta
Q [ml/s] 20
rm
al pqmax
sc hw ac h
12.4.2 Abrams-Griffiths-Number
O
5
12.4.3 Schäfer-Nomogramm
no
rk
15
10
Die Abrams-Griffiths-Number ist ein Druckwert (⊡ Abb. 12.7; [6]). Er wird ermittelt, indem vom Detrusordruck bei maximalem Flow (pdetqmax) eine Linie parallel zur Grenzlinie zwischen obstruktiver Zone und Grauzone auf der Druckachse gezogen wird.
⊡ Abb. 12.7. ICS-Nomogramm mit AbramsGriffiths-Number: Parallel zur Grenzlinie zwischen Obstruktion und Grauzone wird ausgehend von dem Punkt pdetqmax eine Linie auf die Druckachse gezogen. Der Schnittpunkt mit der Druckachse ergibt die Abrams-Griffiths-Number (cm H2O)
I
II III
IV
V
linPURR
VI
0 20 30 40 50
pmuo
75
100
pdet [ c m H2O]
150
⊡ Abb. 12.8. Schäfer-Nomogramm mit linearer PURR (linPURR): Die Konstruktion erfolgt durch Verbindung der Punkte pdetqmax und pdetvoidmin. Die Klassifikation des Obstruktionsgrades (0–VI) erfolgt entsprechend der Lage des Punktes pdetqmax
Das Nomogramm enthält sieben Obstruktionsgrade (0 bis VI). Auch in das Schäfer-Nomogramm wird der Druck bei maximalem Flow (pdetqmax) eingetragen (⊡ Abb. 12.8; [9]). Im Vergleich zum ICS-Nomogramm können die Felder 0 bis I als nichtobstruktiv, das Feld II als Grauzone und die Felder III bis VI als Obstruktion mit unterschiedlichen Graden bezeichnet werden. Das Schäfer-Nomogramm enthält über die Klassifikation der Obstruktion hinaus Felder zur Klassifikation der Kontraktilität des Detrusors (stark – normal – schwach).
12.4.4 CHESS-Klassifikation
CHESS ist eine zweidimensionale, getrennte Klassifikation von Fußpunkt und Anstieg der quadratischen oder linearen PURR in jeweils vier Kategorien, so dass ein 4×4 Feld entsteht (⊡ Abb. 12.9; [4, 5]).
⊡ Abb. 12.9. CHESS-Klassifikation für quadratische PURR (PURR) und lineare PURR (linPURR). Die angegebenen Grenzen für den Anstieg der linearen PURR entsprechen der ICS-Achsenorientierung (x-Achse entspricht Flow, y-Achse entspricht Detrusordruck). Bei Verwendung der Achsenorientierung des Schäfer-Nomogramms (x-Achse entspricht Detrusordruck, y-Achse entspricht Flow) sind die Werte reziprok
120
12
Teil II · Urodynamische Untersuchung
In Anlehnung an ein Schachbrett wurde der Fußpunkt mit den Buchstaben A bis D und der Anstieg mit den Zahlen 1 bis 4 klassifiziert, so dass insgesamt 16 Obstruktionsgrade definiert werden können. CHESS ist die einzige Klassifikation, die neben Obstruktionsgraden (Fußpunkt A bis D) auch Obstruktionstypen (Klassifikation des Anstiegs 1 bis 4) unterscheiden kann. Eine kompressive Obstruktion liegt vor, wenn der Anstieg mit 1 bis 2, eine konstriktive Obstruktion, wenn der Anstieg mit 3 oder 4 klassifiziert wird. Die Unterschiede der einzelnen Klassifikationen ergeben sich hauptsächlich aus ihrer Leistungsfähigkeit und der Genauigkeit der Klassifikation. Die Definition der Grenzen zwischen obstruktiv und nichtobstruktiv in den verschiedenen Konzepten ist nahezu gleich. Wird nur ein Punkt aus dem Druckflussplot verwendet, so reduziert sich die Information über die Miktion des Patienten entsprechend. Der am häufigsten verwendete Punkt pdetqmax entspricht annähernd dem Endpunkt der PURR. Das PURR-Konzept macht deutlich, dass mit dem Druck bei maximalem Fluss (pdetqmax) nur die Eigenschaften der Miktion nach Öffnung der Urethra erfasst werden. Die Erfassung des minimalen Miktionsdrucks geht verloren, so dass die Unterscheidung verschiedener Obstruktionstypen wie Harnröhrenstriktur vs. BPH oder kompressiv vs. konstriktiv nicht möglich ist. Die Entscheidung, welches Konzept zur Anwendung gelangt, ist abhängig von den gerätetechnischen Möglichkeiten und der geforderten Genauigkeit in der Definition der Obstruktion. Steht keine computerunterstützte Darstellung des Druckflussplots zur Verfügung, kann die Klassifikation natürlich nur mit der Hand aus der Erfassung einzelner Punkte der herkömmlichen Druckflusskurve erfolgen. Die Ermittlung des pdetqmax allein und die Projektion in das ICS- oder SchäferNomogramm ist zwar eine einfache, von jedem Anwender durchzuführende Methode, besitzt jedoch den Nachteil, dass nur die Obstruktion an sich und nicht deren Typ klassifizierbar ist. Ein guter Kompromiss ist die manuell aus pdetqmax und pdetvoidmin durchführbare Konstruktion der linearen PURR, die trotz aller Ungenauigkeiten die zweidimensionale Information der Miktion enthält. Die getrennte Klassifikation von Fußpunkt und Anstieg ist allerdings nur mit dem CHESS-Konzept möglich. Moderne computerunterstützte Messplätze sind problemlos in der Lage, einen Druckflussplot zu liefern und haben damit die Möglichkeit, alle Konzepte zur Klassifikation darzustellen. Es ist mittlerweile weitgehend zum Standard geworden, dass mehrere Möglichkeiten parallel vorhanden sind, so dass sich der Anwender eine ihm genehme Methode auswählen kann.
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13
Videourodynamik S. Alloussi, C. Hampel
13.1
Historische Entwicklung
13.2
Das Prinzip der videourodynamischen Untersuchung – 122
13.3
Verfahren der Videourodynamik
13.4
Indikation
13.5
Nachteile Literatur
– 123 – 123 – 126
– 122
– 123
122
Teil II · Urodynamische Untersuchung
13.1
Historische Entwicklung
Die Entwicklung der kombinierten Videourodynamik Anfang der 60er-Jahre führte zu einem großen Fortschritt in der Funktionsdiagnostik des unteren Harntraktes. Diese Technik liefert deutlich mehr Informationen über die möglichen Störungsursachen der Harnblasenfunktion als die normale urodynamische Untersuchung. Mit der Weiterentwicklung und Verbesserung der Röntgentechnik sowie der EDV-gestützten Kurvenanalyse und Bildverarbeitung konnte der Aufwand gesenkt werden.
13.2
Das Prinzip der videourodynamischen Untersuchung
Die Videourodynamik erfüllt die Maximalforderung, Morphologie und urodynamische Parameter in Einklang zu bringen. Durch Visualisierung, Registrierung und Überlagerung von den gleichzeitig erfaßten urodynamischen Daten mit den digitalen Röntgenbildern des unteren Harntraktes, können Funktionsabläufe äußerst präzise analysiert und ausgewertet werden. Die Daten werden im Computer gespeichert und sind auf diese Weise jederzeit abrufbar und können als anschauliche Dokumentation präoperativ genutzt werden. Zusätzlich ist der didaktische Gewinn bei der Lehre durch diese visuelle Methodik eindeutig. Die konventionelle urodynamische Untersuchung vereinigt Uroflowmetrie, Zystomanometrie und Ableitung des Rektumdruckes (als Maß für den Abdominaldruck), wodurch sich ein simultanes Messverfahren zur
13
⊡ Abb. 13.1. Schematische Darstellung der kombinierten Röntgenvideourodynamischen Untersuchung. R = Röntgenröhre, UD = kombiniertes urodynamisches Untersuchungsgerät, BV = Bildverstärker, PC = Computer, M = Monitor mit dem videourodynamischen Bild und den entsprechenden urodynamischen Parametern
zuverlässigen Unterscheidung der verschiedenen Formen der Harnblasenentleerungsstörungen ergibt. Werden die Beckenbodenaktivitäten mitregistriert, so kann die Aussagekraft dieser kombinierten Urodynamik weiter verbessert werden. Schließlich kann durch Kombination der verschiedenen urodynamischen Parameter (Blasendruck, Rektumdruck, Detrusordruck, Miktionsvolumen, Miktionszeit, Harnfluss, Blasenhals – und Urethraöffnungszeit, Restharnbildung, EMG) mit der radiologisch erfassten Konfiguration von Harnblase, Urethra eine Optimierung der Aussagekraft erzielt werden. Durch die exakte Evaluierung der Morphologie des unteren Harntraktes ist man in der Lage, pathologische Abläufe, z. B. funktionelle Obstruktion, halbseitige Lähmung, funktionswirksame Divertikel, vesikorenale Refluxe, Fistelbildung u. a. zu erkennen und deren Wirkung auf die Urodynamik mit exakt reproduzierbaren Parametern qualitativ und quantitativ zu erfassen. Dabei wird die Harnblase mit vorgewärmtem Kontrastmittel gefüllt. Während der Speicherphase werden intermittierend kurze Durchleuchtungsaufnahmen der Harnblase in Ruhe und nach Provokation (z. B. Hustenversuch) vorgenommen. Die Morphologie der Harnblase und Urethra, sowie die urodynamische Messgrößen werden dabei simultan auf einen Monitor projiziert und der Funktionsablauf kann auf Videoband, Diskette oder Festplatte gespeichert werden. Nur eine Gesamtschau sämtlicher Parameter während der Füllungs- und Entleerungsphase ermöglicht eine präzise urodynamische Bewertung (⊡ Abb. 13.1). Zurzeit existieren zwei apparative Prinzipien. Bei der ersten Variante kann die Morphologie der Harnblase mit den dynamischen Parametern auf einem Magnetband
123 Kapitel 13 · Videourodynamik
simultan registriert werden. Die zweite Methode ist die Integration von digitaler Bildverarbeitung, sowohl für die Röntgenbilder als auch für die urodynamischen Messkurven. Diese Methode ist zwar teurer, aber vielseitiger. Sie erleichtert die Datenverarbeitung und Analyse urodynamischer Parameter wesentlich.
13.3
Verfahren der Videourodynamik
Die videourodynamischen Geräte zeigen im Zeitalter des Computers eine hervorragende Fähigkeit zur Analyse unterschiedlicher Daten. Auch die Entwicklung digitaler Röntgenanlagen minimiert die Strahlenbelastung für die Patienten. Die Durchführung der videourodynamischen Untersuchung kann im Liegen, im Sitzen oder im Stehen erfolgen. Dies ist abhängig von der Fragestellung bzw. der Beweglichkeit von Ausrüstung bzw. Patient. Normalerweise erfolgt die Untersuchung im Sitzen, bei bestimmten Behinderungen (z. B. Querschnittslähmung) ist sie aber auch im Liegen möglich. Bei bestimmten Patienten, welche die Entleerung der Harnblase nur im Stehen einleiten können, ist die Messung auch in stehender Position möglich. Eine Änderung an der urodynamischen Apparatur ist bei der Verwendung von bestimmten Kontrastmitteln (verdünnte Kontrastmittel mit urinäquivalenter Osmolarität) nicht notwendig. Bei männlichen Patienten in liegender Position kann man den Penis mit einem Kondomurinal überziehen und den Flow über den Kondomurinalschlauch in das Uroflowmeter ableiten (Cave: verspäteter Flow auf dem Monitor).
13.4
Indikation
Die videourodynamische Untersuchung ist bei allen Patienten indiziert, bei denen mit der einfachen urodynamischen Routineuntersuchung keine sichere Diagnose gestellt werden kann, wenn eine Diskrepanz zwischen den beklagten Beschwerden und den erhobenen urologischen Befunden vorliegt. Vor allem bei neurogenen Blasenfunktionsstörungen ist die Video-Urodynamik hilfreich. Sie kann bei Patienten aller Altersstufen durchgeführt werden, bedarf allerdings einer hohen Kooperation des Patienten. Die Videourodynamik sollte nicht als Standarduntersuchung bei jeder Harnblasenfunktionsstörung eingesetzt werden. So können Refluxe in Korrelation zum intravesikalen Druck (Niederdruck-, Hochdruckreflux) beurteilt werden (⊡ Abb. 13.2). Eine pathologische Morphologie der Harnblase und Harnröhre mit Funktionswirksamkeit kann hier aufgedeckt werden (⊡ Abb. 13.3 bis ⊡ Abb. 13.6).
⊡ Abb. 13.2. Durch die Verwendung eines Röntgenkontrastmittels (z. B. Peritrast ® Infusio 31%, Dr. Franz Köhler Chemie GmbH) bei der Blasenfüllung kann bei der Videourodynamik die Konfiguration der Harnblase und Urethra zu jedem Zeitpunkt während der Füllung und Miktion beobachtet und mit den urodynamischen Messparametern korreliert werden. So sind funktionell relevante morphologische Anomalien des Harntraktes unmittelbar erkennbar, wodurch die Interpretation der urodynamischen Kurven erleichtert und die diagnostische Sicherheit der Untersuchung verbessert wird. Die Abbildung zeigt eine Harnblasenentleerungsstörung nach polytopem Bandscheibenprolaps mit konsekutiver infranucleärer Denervierung des unteren Harntraktes. Der beidseitige vesikorenale Reflux bei schlaffer Harnblase ist deutlich zu erkennen. Die Paralyse von Sphinkter internus und externus führt zu einer Niederdruck-Überlaufinkontinenz
Eine Indikation stellt die Videourodynamik bei Kindern mit Meningomyelozele dar. Hier kann die videourodynamische Untersuchung die komplexe Funktionsstörung des Harntraktes am besten erfassen. Die Videourodynamik bildet bei dieser Erkrankungsform mit polymorphem Erscheinungsbild und äußerst variablen neurologischen Störungen eine individuelle Analyse der Funktionsstörung als Grundlage einer patientenadaptierten Behandlungsstrategie (⊡ Abb. 13.5). Diese Technik liefert auch Hinweise auf Koordinationsstörungen zwischen Detrusor und Sphinkter (⊡ Abb. 13.7).
13.5
Nachteile
Mit vermehrter Röntgenanwendung steigt die Strahlenbelastung dieser Untersuchung. Die Durchleuchtungszeit muss weitgehend reduziert werden. Kinder dürfen zur Minimierung der Strahlenexposition ausschließlich mit digitalen Bildwandlern untersucht werden.
13
124
Teil II · Urodynamische Untersuchung
⊡ Abb. 13.3. Motorische Dranginkontinenz mit großer Restharnbildung. In der Videourodynamik konnte die exakte Pathologie aufgedeckt werden. Während der urodynamisch nachweisbaren Urge-Welle kommt es zu einer Detrusorkontraktion mit einer Verschiebung des Blasenvolumens in ein großes Divertikel, woraus die nur geringe Urinausscheidung und die hohe Restharnmenge resultieren.
13
⊡ Abb. 13.4. Harnblasenentleerungsstörung bei Z. n. Lich-Gregoir-Antirefluxplastik rechts mit postoperativ persistierenden Beschwerden (rezidivierende Harnwegsinfekte). Z. n. viermaliger operativer Harnröhrenerweiterung wegen einer Restharnbildung. Erst in der videourodynamischen Untersuchung zeigte sich die tatsächliche Ursache der Blasenentleerungsstörung. Die rechte Blasenwand ist partiell gelähmt (Pfeile). Zusätzlich persistiert der vesikorenale Reflux rechts (▲). Subvesikal ist keine Harnröhren- oder Blasenhalsverengung erkennbar, was sich auch in der unauffälligen maximalen Harnflussrate von 25 ml/s widerspiegelt
⊡ Abb. 13.5. Rechtsseitige Partiallähmung der Blase. Die Entleerung erfolgt ausschließlich durch halbseitige Kontraktion links (Pfeile) mit entsprechend verlängerter Miktionszeit und Restharnbildung. Eine subvesikale Obstruktion liegt erkennbar nicht vor
125 Kapitel 13 · Videourodynamik
⊡ Abb. 13.6. Patient mit Blasenentleerungsstörung und mittelgradigen Harnstauungsnieren bds., seit 4 Wochen mit Cystostomiekatheter versorgt, dennoch Harnröhrenmiktion inkomplett möglich, jetzt Harnverhaltproblematik, keine Pollakisurie, Nykturie (1- bis 2-mal), 2 Vorlagen pro Tag (anamnestisch!). Videourodynamischer Befund: vesikorenaler Reflux bds. bei geringer Füllung (rechtes Bild), Belastungsinkontinenz nur unter Durchleuchtung nachweisbar, Motorische Urgency (linkes Bild), Low-Compliance-Blase, assoziiert mit Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD), subvesicale Obstruktion (SO) (mittleres Bild)
13
126
Teil II · Urodynamische Untersuchung
⊡ Abb. 13.7. Blasenentleerungsstörung bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Die Blasenkonfiguration ist durch die chronische funktionelle Obstruktion pathologisch verändert (längliche Deformierung, Pseudodivertikel, Trabekulierung). Pathognomonisch ist die prästenotische sekundäre Erweiterung der prostatischen Harnröhre bei miktionssynchronem Sphinkter-externus-Spasmus (Pfeile)
Literatur 1.
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14
Langzeiturodynamik P. M. Braun, K.-P. Jünemann
14.1
Einleitung
– 128
14.2
Indikationen
– 128
14.3
Methode
14.3.1 14.3.2 14.3.3
Druckmessung – 128 Aufzeichnung – 129 Instruktionen für den Patienten
14.4
Literaturauswertung Literatur
– 128
– 130
– 130
– 129
128
Teil II · Urodynamische Untersuchung
14.1
Einleitung
Die Langzeiturodynamik (»ambulantory urodynamic monitoring«) hat sich als Methode zur eingehenden Untersuchung des unteren Harntrakts in der Praxis noch nicht etabliert. Aufgrund von Artefaktanfälligkeit und Missinterpretation ist der Stellenwert der Langzeiturodynamik derzeit in der Praxis noch umstritten. So steigt fälschlicherweise die Inzidenz der Detrusorhyperaktivität bei der Langzeiturodynamik aufgrund von Artefakten durch Bewegung oder Atmung [3]. Der Patient muss angehalten werden, eine ausreichende Dokumentation seiner Symptome, Katheterdislokationen oder Hardwarefehler durchzuführen, da sonst die Korrelation mit den Messkurven zu falschen Interpretationen führt [2]. Der Vorteil der Langzeiturodynamik gegenüber der konventionellen Urodynamik liegt darin, dass der Messvorgang unter einer physiologischen Harnblasenfüllung vorgenommen wird und die gewonnenen Messwerte unter der Normalität sehr ähnlichen (d. h. physiologischen) Bedingungen erhoben werden [1, 2].
14.2
14
Indikationen
Bei folgenden Indikationen ist eine Langzeiturodynamik sinnvoll: ▬ Symptome des unteren Harntrakts, die in der konventionellen urodynamischen Untersuchung weder reproduziert noch erklärt werden können, ▬ Situationen, in denen eine konventionelle Urodynamik unzweckmäßig erscheint, ▬ Neurogen bedingte Dysfunktionen des unteren Harntrakts und die ▬ Evaluation von Therapien für Dysfunktionen des unteren Harntrakts [2].
14.3
⊡ Abb. 14.1. Ambulante bzw. Langzeiturodynamikmesseinheit mit Aufzeichnungsmöglichkeit von Vesikal-, Rektal-, Urethraldruck und Beckenboden-EMG
Methode
Messsysteme zur Langzeiturodynamik bestehen in der Regel aus einer kleinen portablen Messeinheit, an die englumige Mikrotipmesskatheter (Charrière 6) zur Blasen- und Rektaldruckregistrierung angeschlossen werden. Im Einzelfall ist zusätzlich die Ableitung des Beckenboden-EMGs über Klebeelektroden möglich (⊡ Abb. 14.1). Je nach Speicherkapazität und Aufzeichnungsmodus kann über mehrere Stunden (bis zu 12 h) die Blasen- und Beckenbodenaktivität registriert werden. Separate Marker am Gerät ermöglichen die Kenntlichmachung bewusster Funktionsabläufe (z. B. Miktion). Die Datenanalyse erfolgt für gewöhnlich an einer großen urodynamischen Rechnermesseinheit bzw. einem eigens bereitstehenden Computer.
Zusätzliche Informationen, die durch Setzen von Markern während jeder Langzeiturodynamik aufgezeichnet werden sollten, betreffen die folgenden Ereignisse: ▬ willkürlicher Miktionsbeginn ▬ willkürliche Unterbrechung der Miktion ▬ Harndrangepisoden ▬ provokative Manöver ▬ Zeit und Menge der Flüssigkeitsaufnahme ▬ Zeit und Menge des Miktionsvolumens ▬ Zeit des Vorlagenwechsels ▬ Vorlagengewicht Die Langzeiturodynamik ist zwar wesentlich flexibler als die entsprechende konventionelle Urodynamik, aber aus dem gleichen Grund beinhaltet diese Messmethode das Potential von Fehlerquellen, wodurch die Signalqualität beeinträchtigt werden kann. Wenngleich alle Signale so aufgezeichnet werden sollten wie in den ICS-Empfehlungen »Good Urodynamic Practice« beschrieben, gelten für die Durchführung der Langzeiturodynamik auch eine Reihe von speziellen Maßnahmen [1], die im Folgenden beschrieben werden sollen.
14.3.1 Druckmessung
Die Verwendung von Mikrotiptransducern, die am Katheter angebracht sind, erlauben die Mobilität des Patienten während der Langzeiturodynamik.
129 Kapitel 14 · Langzeiturodynamik
In Abwesenheit einer ständigen Aufsicht sollten stringente Überprüfungen der Signalqualität in das Messprotokoll inkorporiert sein. Zu Beginn des Monitorings werden die gemessenen Druckwerte online überprüft, indem der Patient in Rückenlage, im Sitzen und im Stehen hustet und somit einen abdominalen Druck aufbaut. Der Untersucher muss sich davon überzeugen, dass die Signalqualität adäquat ist, bevor die Langzeitmessung beginnt. Vor Beendigung und in regelmäßigen Abständen während der Untersuchung müssen ähnliche Überprüfungen der Signalqualität wie z. B. durch den Hustentest durchgeführt werden. Solche Tests können retrospektiv ein nützlicher Qualitätsnachweis für die Interpretation der urodynamischen Messungen sein. Bei der Aufzeichnung des urethralen Drucks handelt es sich um eine qualitative Messung, wobei die Aufmerksamkeit eher den Druckschwankungen und weniger den absoluten Werten gilt. Die Verwendung eines Spezialkatheters zur Messung der elektrischen Leitfähigkeit ermöglicht in Verbindung mit der intravesikalen Druckaufzeichnung die Erfassung von Inkontinenzepisoden. Präzise Positionierung und sichere Fixation sind unabdingbar für eine gleichbleibende Signalqualität [2]. Besser ist die Verwendung einer speziellen Vorlage, die ebenfalls Inkontinenzepisoden registriert.
14.3.2 Aufzeichnung
Die Aufzeichnung der Miktion oder des unwillkürlichen Urinverlustes muss vom Patienten sorgfältig dokumentiert werden. Dabei soll festgelegt werden, ob die Miktion als Signal mit Hilfe der Druckmessungen bestimmt wird, ob die Messung per Betätigung eines Schaltknopfes (»marker-button«) durch den Patienten ausgelöst wird oder ob es in einem Miktionstagebuch dokumentiert wird.
14.3.3 Instruktionen für den Patienten
Der Patient muss detailliert aufgeklärt werden über die Aufzeichnung der Symptome und darüber, wie er eine potentielle Katheterdislozierung oder Störungen in der Hardware erkennen kann. Es wird empfohlen, dass die verbal mitgeteilten Empfehlungen durch schriftliche Instruktionen untermauert werden und der Patient außer der Hardware auch ein Tagebuch zur Aufzeichnung der Vorkommnisse erhält. Das Hauptziel der Urodynamik wird letztlich dadurch erreicht, dass die Testergebnisse mit den Symptomen verglichen und Artefakte und Missinterpretationen ausgeschlossen werden können (⊡ Abb. 14.2).
⊡ Abb. 14.2. Typische Aufzeichnungen, die in der ersten Hälfte mit der Aktivität »Laufen« korrelieren, im dritten Viertel »Atmung« zeigen und wieder »Laufen« im letzten Viertel. Natürlich sind die Druckkurven, die durch das Atmen erzeugt werden, auch während der Laufphasen zu erkennen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die mit Atmung korrelierenden Druckwellen von der Art des Atmens, der Art der Aktivität und von der Körperstatur des Patienten abhängig sind
14
130
Teil II · Urodynamische Untersuchung
14.4
14
Literaturauswertung
Anhand einiger Beispiele aus der Literatur wird der Vorteil der Langzeiturodynamik dargestellt. Vereecken und van Nuland [3] zeigten an einem Patientenkollektiv von 28 nichtneurogenen inkontinenten Patienten, bei denen die klassische Druckflussmessung die Patientenanamnese der klinischen Diagnose der Harninkontinenz nicht objektivieren konnte, dass die Langzeiturodynamik zur endgültigen Diagnosestellung sinnvoll eingesetzt werden kann. Bei 12 von 13 Belastungsinkontinenten wurde der unwillkürliche Urinverlust unter Hustenstoß nachgewiesen. Von den 15 verbleibenden Patientinnen mit einer Mischinkontinenz wurde in acht Fällen eine Detrusorhyperaktivität und in zwei Fällen eine unwillkürliche Harnröhrenrelaxierung gefunden. Darüber hinaus fanden die Untersucher, dass im Mittel die Miktionsdrücke um durchschnittlich 10 cm H2O höher lagen als bei klassischen Druckflussmessungen bei geringeren Miktionsvolumina. Fraglich bleibt bei dieser Arbeit allerdings, inwieweit die unwillkürlichen Detrusorkontraktionen nicht durch die Bewegung und das Gleiten des Katheters über die Blasenschleimhaut ausgelöst wurden, unterstützt allein schon durch die Bewegung, d. h. das normale aufrechte Gehen, mit einliegendem Katheter. Van Waalwijk, van Doorn und Mitarbeiter [4] konnten zeigen, dass Freiwillige, die als Kontrollgruppen für unterschiedlichste Studien fungierten und völlig asymptomatisch hinsichtlich ihrer Blasenfunktion waren, während ihrer Urodynamik unwillkürliche Blasenkontraktionen aufwiesen [4]. Fasst man die Literatur zur Langzeiturodynamik zusammen, so ist zu erwarten, dass diese auch in der Praxis in Zukunft an Stellenwert gewinnen wird, was durch eine sich immer mehr durchsetzende Standardisierung der Messtechnik, Messart und Befundinterpretation unterstützt wird [5].
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15
Neurophysiologische Untersuchungen G. Kiss, H. Madersbacher
15.1
Einleitung
– 132
15.2
Beckenbodenelektromyographie
15.3
Evozierte Potentiale
– 132
– 133
15.4
Bulbokavernosusreflex (BCR), Analreflex (AR) – 136
15.4.1 15.4.2
Methodik der BCR-Latenzzeitmessung – 136 Methodik der AR-Latenzzeitmessung – 136
15.5
Pudenduslatenzzeit (Pudendusneurographie)
15.6
Motorisch evozierte Potentiale des N. pudendus (P-MEP) – 136
15.7
Algorithmen zur klinischen Anwendung – 136
15.8
Zusammenfassung Literatur
– 137
– 137
– 136
132
Teil II · Urodynamische Untersuchung
15.1
Einleitung
Elektrophysiologische Untersuchungen ermöglichen, die Ätiologie, die Art und das Ausmaß neuromuskulärer Erkrankungen zu bestimmen. Verschiedene dieser Methoden, die in der Neurologie bereits seit langer Zeit routinemäßig zu den diagnostischen Verfahren gehören, finden seit einigen Jahren auch in der Neurourologie zunehmend Einzug. Dazu gehören nicht nur konventionelle EMG-Verfahren, sondern zum Beispiel auch die Messung und die klinische Anwendung von kortikal evozierten Potentialen. Während die vegetative Versorgung von Harnblase, Mastdarm und Genitalorganen mit den sympathischen Fasern des Plexus hypogastricus der Rückenmarksegmente Th12 bis L2 bzw. mit den parasympathischen Fasern des Plexus pelvicus der Segmente S2 bis S4 für die neurophysiologische Funktionsdiagnostik nur sehr schwer erreichbar sind, kann die somatosensorische und somatomotorische Innervation des Beckenbodens und des äußeren Genitale über die Äste des im Beckenbodenbereich wichtigsten somatischen Nerves, des N. pudendus, klinisch und elektrophysiologisch gut untersucht werden (⊡ Abb. 15.1).
15
N. pudendus (eff.) M. bulbocavernosus M. sphincter ext. ani N. pudendus (aff) N. dorsalis penis (sensibler Ast des N. pudendus)
⊡ Abb. 15.1. Topographie; Nervenbahnen, Muskeln, Reflexbögen
Zu den wichtigsten elektrophysiologischen Untersuchungen auf dem Gebiet der Neurourologie gehören folgende Untersuchungen: ▬ EMG des M. sphincter ani externus ▬ kortikale Messung der somatosensorisch evozierten Potentiale vom N. pudendus (P-SEP) ▬ Bestimmung der Latenzzeit von sakralen Reflexen ▬ Bulbokavernosusreflex (BCR) ▬ Analreflex (AR) ▬ kortikale Messung der viszerosensorisch evozierten Potentiale der Blasenschleimhaut (VUJ-EP) ▬ Bestimmung der Pudenduslatenzzeit (Pudendusneurographie) ▬ motorisch evozierte Potentiale des N. pudendus (PMEP)
15.2
Beckenbodenelektromyographie
Zur Erfassung der globalen muskulären Aktivität des Beckenbodens während einer urodynamischen Untersuchung oder bei der sog. Flow-EMG-Messung werden Oberflächenelektroden zur Ableitung von Massenaktivitäten der Beckenbodenmuskulatur verwendet. Oberflächenelektroden sind auch zur Veranschaulichung der Aktivität bestimmter Muskelgruppen im Rahmen von Biofeedback nützlich. Eine genaue Aussage über neurogene oder myogene Läsionen kann aber mit solchen Elektroden nicht getroffen werden. Zur Feststellung von neurogenen oder myogenen Läsionen muss die Elektromyographie auch im Bereich des Beckenbodens konventionell, also mit konzentrischen Nadelelektroden durchgeführt werden. Vertretend für die gesamte Beckenbodenmuskulatur erfolgt die EMG-Ableitung vom M. sphincter ani externus. Die Untersuchung kann bei Patienten mit einer Gerinnungsstörung bzw. während einer Antikoagulationstherapie nicht durchgeführt werden. Diese Methode ist imstande, akute und chronische Denervierungen bzw. Reinnervationstendenzen aufzuzeigen. Durch die Beurteilung der Reflexaktivität sind auch periphere Läsionen von zentralen leicht zu unterscheiden [11]. Wesentlich aufwändiger ist die EMG des urethralen Sphinkters. Bedeutung kommt dieser Untersuchung bei Verdacht auf das sog. Fowler-Syndrom zu – eine Erkrankung meist junger Frauen mit chronischer Harnretention in Kombination mit der Unfähigkeit, den urethralen Sphinkter während der Miktion zu entspannen. Im EMG-Befund sind komplexe repetitive Entladungen, die akustisch wie myotone Entladungen imponieren (»whalenoise«), geradezu pathognomonisch für diese Erkrankung [2]. Aktionspotentiale des M. sphincter ani externus werden mit konventionellen, konzentrischen Nadelelektroden beidseits bei 3h und 9h Steinschnittlage registriert.
133 Kapitel 15 · Neurophysiologische Untersuchungen
Die Lage der Nadeln wird akustisch überprüft. Bei der Beurteilung der Ruhe- und Willküraktivität des Muskels ist die Mitarbeit des Patienten notwendig.
15.3
Evozierte Potentiale
Kortikal evozierte Potentiale sind kortikal registrierte Antwortpotentiale auf peripher gesetzte Reize. Nach Summierung und Ausfilterung der gewonnenen Signale kann die Gesamtlatenzzeit und das Ausmaß der Durchgängigkeit der stimulierten afferenten Bahnen als Summe der peripheren und zentralen Abschnitte bestimmt werden. Standardisierte Werte für Latenz und Antwortamplitude helfen bei der Auswertung. Während demyelinisierende Schädigungen eine Verzögerung der Reizleitung verursachen, kommt es bei axonalen Läsionen zu einer Reduktion der Amplitude der Antwortpotentiale [13]. Kortikal evozierte Potentiale nach Stimulation an sensorischen Ästen des N. pudendus (P-SEP) sind weiter verbreitet und werden vor allem bei der diagnostischen Abklärung von neurogenen Sexualfunktionsstörungen eingesetzt. Das umfangreiche somatosensorische Versorgungsgebiet des N. pudendus macht diese Untersuchung aber auch bei der Abklärung von bestimmten neurogenen Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen sinnvoll. Die Reproduzierbarkeit sowie die Standardwerte kortikal evozierter Potentiale nach Elektrostimulation an der Blasenschleimhaut (VUJ-EPs) sind mittlerweile unumstritten [1]. Die Methode geriet nach anfänglichem Enthusiasmus in den 80er-Jahren etwas in Vergessenheit, wohl aufgrund ihrer Aufwändigkeit. Als Routine wird diese Untersuchung bis heute nicht betrachtet und weltweit nur in wenigen Zentren durchgeführt. Somit stehen nur wenige Arbeiten über die klinische Bedeutung dieser Untersuchungsmethode in Bezug auf Art, Ausmaß und Prognose der neurogenen Läsion der Harnblase zur Verfügung [6]. Die Stimulation der sensiblen Äste des N. pudendus erfolgt oberflächlich mit niederer Frequenz (2 Hz) mit Streifenelektroden am Penis oder mit Klippelektroden an der Klitoris (siehe auch BCR- und AR-Latenzzeitmessung). Die Blasenschleimhaut wird mit Ringelektroden an einem Foley-Ballonkatheter am vesikourethralen Übergang mit 1,5 Hz Frequenz elektrisch stimuliert (⊡ Abb. 15.2). Die kortikale Registrierung erfolgt in beiden Fällen nach dem aus der EEG bekannten 10- bis 20-Schema, 2 cm hinter Cz (Czp), mit einer Referenzstelle frontal (Fpz [3]). Die lumbale Ableitung von EPs vom N. pudendus oder von der Blasenschleimhaut zur Differenzierung von zentralen oder peripheren Läsionen ist technisch nicht einfach und ergibt in vielen Fällen keine reproduzierbaren Ergebnisse (Muskelartefakt, Knochen). Deshalb sollte im klinischen Alltag die kortikale Registrierung
⊡ Abb. 15.2. Technik der kortikal evozierten Potenziale vom VUJ
der Antwortpotentiale des N. pudendus und der Blasenschleimhaut ausreichend sein und die Ableitung von SEPs vom N. tibialis posterior etagenweise erfolgen. Die vergleichende Beurteilung von P-SEPs und VUJ-EPs kann folgendermaßen interpretiert werden: Korrelierende Ergebnisse von SEPs vom N. pudendus und von EPs von der Blasenschleimhaut findet man bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen nach lumbalen oder sakralen Läsionen der Kaudafasern. Bei Läsionen des Plexus pelvicus (z. B. nach Operationen im kleinen Becken wie Hysterektomie, Rektumamputation usw.) sind nur die viszerosensorischen Antwortpotentiale der Harnblase, bei isolierten Pudendusläsionen wie bei Schambeinfrakturen oder nach prolongierten vaginalen Geburten wiederum lediglich die SEPs vom N. pudendus beeinträchtigt. Standardwerte der mittleren Latenzzeit der P-SEPs (a) bzw. VUJ-EPs (b): ▬ (a) an P40 gemessen (in ms): 41,0 (SD±4,2) ▬ (b) an N95 gemessen (in ms): 92,5 (SD±7,1) bei gemischten Polyneuropathien: ▬ (a) an P40 gemessen (in ms): 49,2 (SD±8,8) ▬ (b) an N95 gemessen (in ms): 126,0 (SD±14,4) (⊡ Abb. 15.3–15.8 [7]).
15
134
Teil II · Urodynamische Untersuchung
⊡ Abb. 15.3. Regelrechte kortikale P-SEPs
⊡ Abb. 15.4. Verzögerte kortikale P-SEPs bei gemischter Polyneuropathie
15
⊡ Abb. 15.5. Amplitudenreduzierte kortikale P-SEPs bei inkompletter Läsion der sakralen Caudafasern
135 Kapitel 15 · Neurophysiologische Untersuchungen
⊡ Abb. 15.6. Regelrechte kortikale VUJ-Eps
⊡ Abb. 15.7. Verzögerte kortikale VUJ-Eps bei diabetischer Polyneuropathie
⊡ Abb. 15.8. Deutliche Amplitudenreduktion der VUJ-Eps bei Läsion der sakralen Caudafasern
15
136
Teil II · Urodynamische Untersuchung
15.4
Bulbokavernosusreflex (BCR), Analreflex (AR)
Die klinische bzw. elektrophysiologische Untersuchung der sog. sakralen Reflexe bietet eine grobe Orientierung bezüglich der afferenten und efferenten Bahnen des N. pudendus auf sakraler Ebene. Beide, der Bulbokavernosus- und der Analreflex, sind teils oligo-, teils polysynaptische Reflexe und laufen über Bahnen der Segmente S2–S4. Eine fehlende oder abgeschwächte Antwort weist auf eine Läsion des Plexus sacralis, der kaudalen Fasern oder des Sakralmarks hin. Eine nähere Lokalisation der Läsionsstelle kann allein mit dieser Untersuchung nicht bestimmt werden.
15.4.1 Methodik der BCR-Latenzzeitmessung
Diese Messung ist nur bei Männern anwendbar. Es wird eine bipolare Stimulation des N. dorsalis penis mit Ringelektroden vorgenommen. Die Stromstärke liegt gerade unterhalb der Schmerzgrenze, eine Antwortableitung erfolgt mit konzentrischen Nadelelektroden im M. bulbocavernosus rechts und links. Die mittlere Latenzzeit für den BCR beträgt 33,0 ms [10].
15.4.2 Methodik der AR-Latenzzeitmessung
15
Diese Messung kann sowohl bei Frauen als auch bei Männern angewandt werden. Es wird eine bipolare Stimulation der afferenten Fasern des N. pudendus am Perineum oder die gleiche Stimulationstechnik wie bei der BCR-Latenzzeitmessung vorgenommen, wobei bei Frauen der N. clitoridis mit Klippelektroden stimuliert wird. Die Ableitung der Antwort erfolgt mit konzentrischen Nadelelektroden im M. sphincter exterenus ani bilateral. Die mittlere Latenzzeit für den AR bei peniler oder klitoridaler Stimulation beträgt 33 ms [12] bis 35 ms [10]. Der Reflexbogen gilt als monosynaptisch, eine neuestens diskutierte späte Komponente des AR mit Latenzen weit über 100 ms wird als polysegmentale spinale Antwort interpretiert [9].
⊡ Abb. 15.9. St.-Mark-Elektrode
15.5
Pudenduslatenzzeit (Pudendusneurographie)
Ein genaueres Urteil über den Zustand des distalen motorischen Schenkels des N. pudendus lässt sich mit der transrektalen Elektrostimulation zur Bestimmung der Pudenduslatenz treffen. Die errechnete Latenzzeit beinhaltet allerdings nicht nur die Leitzeit des Nervs, sondern auch die Verzögerung durch die neuromuskuläre Übertragung. Verlängerte Latenzen weisen – vorausgesetzt die Technik wurde exakt durchgeführt – nicht nur auf neuropathische Veränderungen am Nerv, sondern auch auf lokale Traumata der motorischen Efferenzen des N. pudendus hin. Reizung und Signalableitung mit einer transrektalen Fingerelektrode (St.-Mark-Elektrode der Fa. Dantec, bei der der Abstand zwischen Reizelektroden und Registrierelektroden genau vorgegeben ist), wie ursprünglich von Brindley beschrieben. Die Normalwerte liegen zwischen 1,8–2,1 ms (⊡ Abb. 15.9 [10]).
15.6
Motorisch evozierte Potentiale des N. pudendus (P-MEP)
Nach Magnetstimulation (Magnetstimulationsgerät und Handspule) über dem Motokortex können motorische Antworten des M. sphincter ani externus mit konventionellen Nadelelektroden registriert und auf Latenz und Amplitude beurteilt werden. Mit dieser Methode lassen sich zentrale und periphere Leitungsstörungen der gesamten efferenten Seite bestimmen. Eine etagenweise vorgenommene Stimulation (kortikal/spinal) ermöglicht die genauere Lokalisation der Läsionsstelle. Die mittlere totale Latenzzeit der P-MEPs beträgt 23,2 ms (SD±4 ms [5]).
15.7
Algorithmen zur klinischen Anwendung
Aufgrund der Aufwändigkeit elektrophysiologischer Verfahren und der Tatsache, dass die hier vorgestellten Untersuchungen Spezialzentren vorbehalten werden müssen, sollte die Indikation in jedem Fall streng gestellt werden.
137 Kapitel 15 · Neurophysiologische Untersuchungen
Die relativ seltene Anwendung sowie mangelnde Kenntnisse über die Ausbeute der oben genannten Verfahren haben bislang keine nennenswerte Diskussion über Algorithmen zur klinischen Anwendung gefordert [8]. Elektrophysiologische Untersuchungen in der Neurologie dienen dazu, Lokalisation und Ausmaß nervaler Läsionen festzustellen. Dadurch kann auch die Ätiologie der Störung näher eingegrenzt werden. Im neurourologischen Bereich sind Ätiologie und Lokalisation der Läsion meistens bereits aus der Anamnese bekannt oder können bei der klinischen Untersuchung der Sensibilität und Motorik der sakralen Segmente (inkl. Reflexstatus) eruiert werden. Stimmt das klinisch gewonnene Zustandsbild mit den Befunden urodynamischer Untersuchungen überein, sind selten ergänzende elektrophysiologische Untersuchungen zur Sicherung der Diagnose notwendig. Informationen über das Ausmaß der Läsion können jedoch auch bei sicherer Diagnose zur Beurteilung der Prognose und zur Wahl der richtigen Therapie notwendig sein. So kann die Auswertung konventioneller SphinkterEMGs über die Schwere und eventuelle Reinnervationstendenzen bei kompletten oder inkompletten peripheren Läsionen des N. pudendus Auskunft geben. Ebenso können wiederholt abgeleitete VUJ-EPs über die Erholung der Blasenfunktion informieren. Dies geschieht anhand der Durchgängigkeit der afferenten Bahnen (sowohl bei inkompletten Kaudaläsionen als auch bei inkompletten, extraspinalen Läsionen wie z. B. nach Operationen im kleinen Becken). Auf diese Weise können die Aussichten therapeutischer Maßnahmen (z. B. intravesikale Elektrostimulation) eingeschätzt werden. Sofern die periphere Läsion intraspinal liegt, kann die Untersuchung der kortikalen VUJ-EPs durch die Messung der P-SEPs ersetzt werden [6]. Dies vereinfacht das Prozedere und macht die invasive Untersuchung überflüssig. Einen speziellen Stellenwert hat die Ableitung kortikaler VUJ-EPs in Fällen einer rein sensorischen Blasenstörung, wobei die Möglichkeit einer psychogenen Ursache in Betracht gezogen werden muss. Auch bei Begutachtungen sind somatosensorisch und viszerosensorisch evozierte Potentiale von Bedeutung. Mehrere Arbeiten zusammenfassend kann gesagt werden, dass normale kortikal evozierte Potentiale schwerwiegende Läsionen der zugrundeliegenden Bahnen ausschließen, wenn auch leichte Dysfunktionen unter Umständen unentdeckt bleiben können [4, 8]. Der Vergleich der Befunde evozierter Potentiale mit Befunden des konventionellen EMGs kann bei bizarr verlaufenden epikonalen Läsionen auf den ersten Blick widersprüchliche klinische Befunde erklären. Einen speziellen Fall stellt auch die Frage nach eventuellem Einfluss einer bestehenden Neuropathie auf die Blasen- und Beckenbodenfunktion dar. Hier kann die Latenzzeit kortikal evozierter Potentiale vom N. pudendus
Aufschluss geben. Die zusätzliche Messung der Nervenleitgeschwindigkeit des N. pudendus (Pudendusneurographie) ist meistens nicht notwendig (vgl. Werte in Kap. 15.3).
15.8
Zusammenfassung
Die Durchführung elektrophysiologischer Untersuchungen mit neurourologischer Fragestellung sollte Speziallabors überlassen werden. Besondere Bedeutung bekommen diese Untersuchungen bei inkompletten oder kompletten Läsionen des zweiten (sakralen) Motoneurons. Zu der elektrophysiologischen Basisdiagnostik bei neurogener Dysfunktion des unteren Harntraktes sollten das konventionelle EMG des M. sphincter ani externus und die kortikalen P-SEPs gehören. Mit diesen beiden Untersuchungen gewinnt man in den meisten Fällen eine gute Orientierung den Zustands der afferenten und efferenten Seite der Wurzeln S2–S4 betreffend. Obwohl diese Untersuchungen keine unmittelbare Differenzierung zwischen zentralen und peripheren Läsionen zulassen, ist diese Frage meistens auch ohne weitere Zusatzuntersuchungen beantwortbar, wenn man alle Befunde und die Anamnese zu Hilfe nimmt. Zusatzuntersuchungen wie die Bestimmung der Pudenduslatenzzeit oder die kortikalen VUJ-EPs helfen die Art und Ort der Läsion peripher weiter zu präzisieren (intraspinal/ extraspinal). Schließlich soll auch betont werden, dass die angeführten Untersuchungen nicht nur bei der Erstellung der genauen Diagnose und bei der Wahl der richtigen Therapie, sondern auch bei der Beurteilung der Prognose der vorliegenden Funktionsstörung eine unentbehrliche Rolle spielen.
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15
138
Teil II · Urodynamische Untersuchung
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15
16
Indikation zur urodynamischen Untersuchung B. Schönberger †, K. Höfner
16.1
Indikation zur Uroflowmetrie
16.1.1 16.1.2
Home-Uroflowmetrie – 140 Uroflow-EMG-Studie – 140
– 140
16.2
Indikation zur Zystometrie
16.2.1 16.2.2
Füllungszystometrie – 141 Druckflussstudie – 141
– 141
16.3
Indikation zur Videourodynamik
16.4
Indikation zur EMG im Rahmen einer Zystometrie – 142
16.5
Indikation zur Urethradruckprofilmessung
– 141
– 142
16.6
Indikation zur Messung des leak point pressure – 142
16.6.1 16.6.2
Detrusor leak point pressure (LPP) – 142 Valsalva leak point pressure, Cough leak point pressure (VLPP, CLPP)
16.7
Indikation zur Langzeiturodynamik Literatur
– 143
– 143
– 142
140
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Ziel einer urodynamischen Untersuchung muss es sein, mit möglichst wenig technischem Aufwand zu einer Diagnose zu kommen. Bei der Beantwortung der Frage, wer über die Uroflowmetrie hinaus wirklich eine invasive urodynamische Untersuchung oder eine Videourodynamik benötigt, gehen die Meinungen auseinander [11]. Ziele der urodynamischen Messverfahren sollte nach Ansicht von A. Wein [12] sein, die ▬ Erkennung der genauen Ätiologie einer Blasenfunktionsstörung ▬ Identifikation von Risikofaktoren hinsichtlich einer Schädigung des unteren und oberen Harntraktes ▬ Suche nach Faktoren mit relevantem positiven oder negativen Einfluss auf Therapieverfahren Die Indikation zur urodynamischen Untersuchung ergibt sich aber auch aus der Anamnese und der Symptomatologie der Blasenfehlfunktion. Grundsätzlich gilt ein Vorgehen nach einem Stufenprogramm, das zunächst nichtinvasive und später invasive Untersuchungen einschließt. Bei einer Reihe neurogen bedingter Blasenfunktionsstörungen gehören urodynamische Untersuchungen zum Überwachungsprogramm. Sie werden je nach Gefährdungsgrad in regelmäßigen Zeitabschnitten vorgenommen. Vor Untersuchungen, die eine Katheterisierung erforderlich machen, ist eine Urinuntersuchung (Status und Kultur) unverzichtbar. Bei einem Harnwegsinfekt ist eine urodynamische Untersuchung nicht interpretierbar und deshalb wertlos.
16.1
Sie ist indiziert bei allen Formen der Miktionsstörungen, die sich äußern als Harnstrahlabschwächung, erschwertes Wasserlassen, verlängertes Wasserlassen, intermittierende Miktion, Miktionsstartstörungen sowie Restharnbildung. Die Uroflowmetrie hat die Aufgabe, als orientierende Untersuchung, Blasenentleerungsstörungen auszuschließen. Des Weiteren wird sie zur Therapiekontrolle nach Operationen an der Harnröhre und am Blasenhals und nach medikamentöser Behandlung einer Blasenentleerungsstörung angewandt. Zahlreiche Therapiestudien bei der benignen Prostatahyperplasie beschränken sich auf die Ermittlung des IPSS und der Harnflusswerte vor und nach der Therapie. Das muss jedoch als problematisch angesehen werden, da der Einfluss auf die Blasenauslassobstruktion unklar bleibt. Ein eingeschränkter Uroflow kann nicht zwischen Obstruktion und Detrusorinsuffizienz unterscheiden. Ein normaler Uroflow schließt eine Obstruktion nicht aus (High-Flow-Obstruction). Auch die Verwendung bestimmter Grenzwerte für Qmax (<10 ml/s, 10–15 ml/ s, >15 ml/s) zur Definition der Wahrscheinlichkeit einer BOO ist limitiert. Die Sensitivität und Spezifität des Qmax für den Nachweis einer Obstruktion ist in großen Studien für einen Schwellwert von 15 ml/s mit 82% bzw. 38%, für einen Schwellwert von 10 ml/s mit 47% bzw. 70% bestimmt worden [9]. Keinesfalls sollte deshalb eine Therapieentscheidung ausschließlich aufgrund des Uroflows getroffen werden. Eine einzelne Uroflowmetrie hat eine begrenzte Aussagekraft. Deshalb sollten wiederholte Untersuchungen angestrebt werden.
Indikation zur Uroflowmetrie 16.1.1 Home-Uroflowmetrie
Die Uroflowmetrie ist eine nichtinvasive Screeninguntersuchung, die Hinweise auf obstruktive und funktionelle Entleerungsstörungen der Harnblase liefern kann.
16
Indikationen zur Uroflowmetrie ▬ Meatusstenose ▬ Dysfunktionelle Miktion beim Kind ▬ Reizblasensymptomatik ▬ Harnröhrenstriktur ▬ Blasenauslassobstruktion (BPE, Sphinktersklerose) ▬ Geplante TUR-P/Adenomektomie/ Blasenhalsinzision ▬ Postprostatektomieinkontinenz ▬ Vor Inkontinenzoperation der Frau ▬ Blasenentleerungsstörung nach Eingriffen im kleinen Becken
▬ Miktion mit Bauchpresse ▬ Therapiekontrolle bei Pharmakotherapie der BPH ▬ Therapiekontrolle nach Harnröhrenrekonstruktion und Urethrotomia interna
Bekanntermaßen gibt es tageszeitliche Uroflowschwankungen, so dass eine 24-Stunden-Messung bei diskrepanten klinischen Befunden in bestimmten Fällen indiziert und wertvoll sein kann, z. B. zur Differenzierung von irritativen und obstruktiven Symptomen bei BPH oder bei Detrusorsphinkterdyskoordination.
16.1.2 Uroflow-EMG-Studie
Die gleichzeitige Erfassung von Beckenboden-SummenEMG und Uroflowwerten kann besonders beim Kind mit dysfunktioneller Miktion und bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen von Interesse sein. Klinische Hinweise auf eine Dyskoordination von Detrusor, Beckenboden und Sphinktermuskulatur sind die sog. Stakkatomiktion und die intermittierende Miktion.
141 Kapitel 16 · Indikation zur urodynamischen Untersuchung
16.2
Indikation zur Zystometrie
16.2.1 Füllungszystometrie
Mit Hilfe der Füllungszystometrie kann die Detrusoraktivität während der Dehnung infolge von kontinuierlicher Flüssigkeitszufuhr sowie die Dehnungsfähigkeit erfasst werden.
Indikationen zur Füllungszystometrie
▬ Ausschluss einer Detrusorhyperaktivität ▬ Bestimmung der Compliance ▬ Bestimmung der maximalen zystometrischen Blasenkapazität
▬ Differenzierung zwischen Belastungs- und Dranginkontinenz
▬ Bestimmung der Blasensensitivität
Eine normal reagierende Blase kann von einer hyperaktiven Blase, einem Niederdruck- und einem Hochdruckreservoir unterschieden werden. Es sollen stets Blasen- und Abdominaldruck (Rektaldruck) gleichzeitig erfasst werden. Sie ist indiziert bei Speicherstörungen der Blase und vermuteter Einschränkung der Blasenkapazität. Sie ist aber auch zur Differenzierung einer Mischinkontinenz mit Harnverlust bei Belastung und Harnverlust mit Harndrang, bei idiopatischer Detrusorhyperaktivität, vor Operationen einer Belastungsinkontinenz und vor Operationen, die eine ausreichende Blasenkapazität voraussetzen (z. B. Implantation eines artifiziellen Sphinkters) von Wichtigkeit. In bestimmten Fällen kann die Füllungszystometrie hilfreich sein, um eine Pollakisurie oder eine Drangsymptomatik ursächlich zu klären.
16.2.2 Druckflussstudie
Die Druckflussstudie schließt sich an die Füllungszystometrie an und beinhaltet die simultane Messung von Blasendruck, Rektaldruck und Harnfluss. Sie ist indiziert bei der Differenzierung zwischen Entleerungsstörungen infolge Erhöhung des Blasenauslasswiderstandes (mechanische oder funktionelle Obstruktion) und zwischen Entleerungsstörungen infolge eines Detrusorversagens (hypo- oder akontraktiler Detrusor).
▬ Funktionelle oder mechanische Blasenauslassobstruktion (BOO) Dysfunktionelle Miktion bei Kind oder Fraua Zystozele/Divertikelbildunga Blasenstein/rezidivierende Zystitiden Differenzierung zwischen BOO und Detrusorversagen ▬ Neurogene Blasenstörung (MMC, Querschnitt) a = Mögliche Indikation zur Druckflussmessung
▬ ▬ ▬ ▬
Die wichtigsten Indikationen sind die Restharnblase, die übergroße Blasenkapazität und eine Blasenentleerung mit Unterstützung durch Bauchpresse. Des Weiteren hat die Druckflussstudie bei Therapieversagen nach operativer Behandlung einer Inkontinenz oder Obstruktion und bei der Differenzierung von obstruktiver und funktionellneurogener Komponente bei Mischformen der Entleerungsstörung eine große Bedeutung. Für die Quantifizierung des Obstruktionsgrades kann die Druckflussstudie in Verbindung mit verschiedenen Computeranalysen indiziert sein. Für die Abklärung einer »stillgelegten Blase« vor einer Nierentransplantation wird eine Zystometrie mit Druckflussstudie empfohlen [3]. Prognostische Einschätzungen müssen aber mit Vorsicht getroffen werden, da bei einsetzender Diurese eine Blase wieder eine sehr gute Kapazität bekommen kann. Die Untersuchung kann für die Behandlung von rezidivierenden Blasenentzündungen, Blasensteinbildung, Divertikelbildung oder bei der BPO hilfreich sein. Es besteht bisher kein Konsens über die Notwendigkeit des Einsatzes von Druckflussmessungen bzw. deren Analysen bei Verdacht auf mechanische Obstruktion. Beim benignen Prostatasyndrom (BPS) ist dokumentiert, dass der Grad der Auslassobstruktion nur exakt mit Hilfe von Druckflussmessungen objektivierbar ist. Die klinische Untersuchung (rektale Palpation), Endoskopie, sonographische Größenbestimmung der Prostata, Restharn und Uroflow allein korrelieren ebenso wenig mit dem Obstruktionsgrad wie die Stärke der subjektiven Symptomatik des Patienten. Vor der Durchführung einer Inkontinenzoperation und gleichzeitigem Deszensus des inneren Genitale kann eine Druckflussstudie bei eingelegtem Pessar oder einer Scheidentamponade zusätzliche Informationen liefern.
16.3
Indikationen zur Druckflussmessung ▬ Reduzierter maximaler Uroflow (<15 ml/s) ▬ Intermittierende Miktion ▬ Restharnbildung (50–100 ml) ▼
Indikation zur Videourodynamik
Die Kombination von Miktionszystourethrographie und Messung von Druck- und Flussmuster hat eine erweiterte Aussagekraft, da die bildliche Darstellung und die Messdaten während einer Untersuchung erfasst und zugeordnet werden können.
16
142
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Indikationen zur Videourodynamik ▬ Funktionelle/mechanische Blasenauslassobstruktion (BOO)a
▬ Neurogene Blasendysfunktion/Dyssynergie ▬ Dysfunktionelle Miktion und v. a. Refluxa ▬ Genitaler Deszensus und Inkontinenza a=
Mögliche Indikation zur Videourodynamik
Gerade bei der Erstuntersuchung von neurogenen Blasenfunktionsstörungen oder unklaren Obstruktionen ist die Videourodynamik von großem Wert. Sie ist indiziert bei funktionellen Obstruktionen (z. B. Detrusorsphinkterdyssynergie, Detrusorsphinkterdyskoordination, Detrusorblasenhalsdyskoordination), kann aber auch bei unklaren mechanischen Auslassobstruktionen erforderlich sein. Die dysfunktionelle Miktion bei gleichzeitig vorliegendem vesikoureteralen Reflux und das Lazy-voider-Syndrom sind ebenfalls Indikationen zur simultanen bildlichen Darstellung [4]. In Einzelfällen können die Indikationen, die für die Füllungszystometrie und die Druckflussstudie genannt worden sind, auch hier gelten. Die Videourodynamik kann einen größeren Informationsgewinn bieten als die asynchrone Durchführung der Untersuchungen.
16.4
Indikation zur EMG im Rahmen einer Zystometrie
Die Kombination einer Druckflussstudie mit einer Beckenboden-EMG-Ableitung gibt Aufschluss über einen nichtrelaxierenden bzw. einen sich während der Miktion kontrahierenden Beckenboden. Diese Zusatzuntersuchung ist indiziert für die Differenzierung zwischen mechanischer und funktioneller Obstruktion.
16.5
16
Indikation zur Urethradruckprofilmessung
Das Urethradruckprofil (UDP) misst die Urethrawandspannung, die während der Perfusion mit einer definierten Flüssigkeitsmenge auftritt (Perfusionsmethode). Bei Verwendung eines Mikrotipkatheters ist die direkte Erfassung des Urethradrucks über den Verlauf der Urethra möglich (Mikrotipmethode). Es werden damit die funktionelle Urethralänge, der maximale Urethraverschlussdruck und die Drucktransmission beim Husten erfasst. Der Mangel an einer allgemein akzeptierten Definition des Urethradrucks und der bisher fehlende Standard der Messmethodik limitiert die Anwendung dieses Verfahrens und macht eine Vergleichbarkeit der
Messwerte schwierig [6]. Das UDP ist bei Belastungsinkontinenz der Frau, vor Operationen wegen Inkontinenz oder nach fehlgeschlagenen Eingriffen zur Behebung einer Inkontinenz angewendet worden. Auch beim Mann ist die Urethradruckprofilmessung prinzipiell möglich, erfordert jedoch große Erfahrung und spezielle, nicht handelsübliche Katheter. Die Indikation zum UDP beim Mann ist auf wenige Ausnahmen beschränkt (z. B. Belastungsinkontinenz nach Prostataoperation, nach Eingriffen im kleinen Becken oder nach Unfällen, Rezidivinkontinenz nach Implantation eines artifiziellen Sphinkters) und nicht für die Routineanwendung in der Praxis geeignet. Eine alternative Messmethode ist die Perfusion der Harnröhre mit Bestimmung desjenigen Druckes, der zur Überwindung des Sphinktertonus notwendig ist [1]. Im Kindesalter hat das Urethradruckprofil keine Bedeutung erlangt, so dass keine Indikationen für die Patientengruppe genannt werden können. Die Interpretation der Untersuchungsergebnisse wird bis heute kontrovers besprochen [6].
16.6
Indikation zur Messung des leak point pressure
Der zahlenmäßig erfasste Wert des intravesikalen bzw. abdominalen Drucks, bei dem ein Harnverlust auftritt, wird als Leak Point Pressure (LPP) bezeichnet. Die Bestimmung dieses Wertes ist bei einer Belastungsinkontinenz und einer neurogenen Detrusorhyperaktivität sowie einer schlechten Dehnbarkeit der Blase indiziert.
16.6.1 Detrusor leak point pressure (LPP)
Die Messung des Detrusor Leak Point Pressures wurde für die Erfassung eines sog. Hochdruckreservoirs bei Kindern mit Myelomeningozele eingeführt. Die Inkontinenz wurde als Ausdruck einer Schutzfunktion für den oberen Harntrakt angesehen, um kritisch hohe Druckwerte in der Blase zu verhindern. Deshalb ist der Detrusordruck von Interesse, bei dem durch Ablaufen von Urin keine weitere Steigerung mehr erfolgen kann. Diese Untersuchung ist bei Verdacht auf Low-compliance-Blasen von Bedeutung und indiziert.
16.6.2 Valsalva leak point pressure, Cough leak
point pressure (VLPP, CLPP) Diese Untersuchungen dienen der Objektivierung des abdominellen oder Blasendrucks infolge Pressens (Valsalvamanöver) oder während eines Hustenstoßes (Cough
143 Kapitel 16 · Indikation zur urodynamischen Untersuchung
leak point pressure, CLPP), bei dem erstmals Urinverlust ausgelöst wird. Deshalb ist die Hauptindikation die Belastungsinkontinenz der Frau. Man hat diesen Test auch eingesetzt, um zwischen einem intrinsischen Sphinkterdefekt und einer Hypermobilität der weiblichen Urethra zu unterscheiden. Wegen der fehlenden Standardisierung der Messung und methodischen Schwierigkeiten in der subjektiven Erfassung des ersten Urinverlustes hat die Untersuchung im klinischen Alltag nur eine eingeschränkte Anwendung erfahren. Darüber hinaus fehlen suffiziente Untersuchungen zur Reproduzierbarkeit bzw. Sensitivität und Spezifität der Untersuchung. An Vereinfachungen und Verbesserungen wird gearbeitet, so dass auch die Differenzierung zwischen Belastungsinkontinenz und husteninduzierter Dranginkontinenz der Frau möglich sein könnte [5]. Dann böte sich eine neue Indikation für die Messung des CLPP.
16.7
Indikation zur Langzeiturodynamik
Die Langzeiturodynamik verfolgt zwei Ziele, die gleichermaßen als Indikation für diese Form der Untersuchung gelten können: Es soll eine möglichst physiologische Untersuchung mit einer natürlichen Blasenfüllungsgeschwindigkeit erreicht werden. Durch eine Nachahmung der Alltagsbedingungen sollen Symptome, die im urodynamischen Testlabor nicht reproduzierbar sind, erfasst und diagnostisch geklärt werden [7]. Beispielsweise ist es möglich, eine Detrusorhyperaktivität während unterschiedlicher körperlicher Aktivitäten aufzudecken und Drang- bzw. Inkontinenzepisoden bestimmten Messergebnissen zuzuordnen. Belastungsinkontinenz, die im Urodynamiklabor nicht reproduzierbar war, kann mit der Langzeiturody-
⊡ Tab. 16.1. Indikationen zu speziellen Untersuchungsverfahren Urethradruckprofil (UDP)
▬ Belastungsinkontinenz der Frau ▬ Geplante TUR-P und neurologische Erkrankung ▬ Postprostatektomieinkontinenz ▬ Rezidivinkontinenz ▬ Insuffizienz eines artifiziellen Sphinkters
Leak point pressure (LPP)
▬ Neurogene Blasenstörung beim Kind ▬ Detrusorsphinkterdyssynergie
Langzeiturodynamik
▬ Drangsymptomatik/-inkontinenz ▬ Belastungsinkontinenz der Frau
Valsalva leak point pressure/ Cough leak point pressure
▬ Belastungsinkontinenz der Frau ▬ Differenzierung nach Schweregrad
namik als solche erkannt und klassifiziert werden. Verschiedene Untersucher konnten zeigen, dass durch die Ergebnisse der Langzeiturodynamik die Therapie, insbesondere bei symptomatischen Frauen, verändert wurde [10]. Deshalb kann die Untersuchung mit dem Ziel der Therapieoptimierung indiziert sein. Da die Langzeiturodynamik zeitaufwendig und kostenintensiv ist, beschränkt sich die Indikation allgemein auf wissenschaftliche und gutachterliche Fragestellungen (⊡ Tab. 16.1).
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16
17
Bildgebende Untersuchungen M. Goepel, H. Heidler
17.1
Röntgenuntersuchungen – 146
17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5
Ausscheidungsurogramm (AUG) – 146 Zystogramm – 147 Miktionszysturethrographie (MCU) – 149 Urethrogramm – 150 Videogestützte Untersuchung des unteren Harntraktes (Videourodynamik)
17.2
Sonographie
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4
Niere, Harnleiter, Retroperitoneum – 151 Blase und Blasenhals – 152 Prostata und Samenblasen – 153 Introitus und Perineum – 154
– 151
17.3
Schnittbildverfahren
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
CT des Abdomens und Beckens – 155 MRT des Abdomens und Beckens – 155 MRT des Beckenbodens – 156 MRT des Nervensystems – 157
Literatur
– 158
– 155
– 151
146
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Bildgebende Untersuchungsverfahren haben seit langem einen großen Stellenwert in der Diagnostik von Funktionsstörungen des Harntraktes. So wurde die Urographie im Handbuch der Urologie von Alexander von Lichtenberg, erschienen im Verlag Julius Springer 1929, als retrograde Kontrastmittelfüllung des zu untersuchenden Nierenhohlsystems über einen zuvor zystoskopisch platzierten, strahlentransparenten Harnleiterkatheter beschrieben [9]. Aus den Anfängen der bildgebenden Untersuchung des Harntraktes und dem Versuch, dynamische Vorgänge und Funktionsabläufe sicht- und beurteilbar zu machen, hat sich heute eine hochtechnisierte, in vielen Fällen auf die Röntgenstrahlen bereits verzichtende bildgebende Untersuchungstechnik entwickelt. Naturgemäß ist die technische Entwicklung nicht abgeschlossen, sondern erfährt im hier beschriebenen Ausschnitt der Bildgebung des menschlichen Körpers gerade wieder einen Quantensprung, indem die Magnetresonanztomographie (MRT) zu dynamischen Untersuchungen von Funktionsabläufen des Harntraktes mit dreidimensionalen Abbildungen eingesetzt wird. Die Untersuchungstechniken werden in diesem Kapitel auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Entwicklung dargestellt. Die Besprechung, Beschreibung, Indikationsstellung und technische Durchführung erfolgt gemäß der Hauptthematik des hier vorliegenden Buches nur insoweit, als es zur Beurteilung eines urodynamisch zu untersuchenden Patienten notwendig oder integraler Bestandteil der Untersuchung selbst ist (z. B. Kap. 13). Ähnlich wie die urodynamische Untersuchung ist auch die bildgebende Diagnostik morphologischer Zusammenhänge und funktioneller Abläufe im Harntrakt immer nur ein Baustein auf dem Weg zur richtigen Diagnose und Therapie einer Funktionsstörung des Harntraktes.
17.1
17
Röntgenuntersuchungen
Bedingt durch die Entwicklung der bildgebenden Untersuchungstechnik sind retrograde Kontrastmittelfüllungen der Harnorgane die am längsten bekannten Methoden [9]. Auch heute finden verschiedene röntgengestützte Untersuchungsverfahren bei der Abklärung von Funktionsstörungen des Harntraktes Anwendung.
17.1.1 Ausscheidungsurogramm (AUG)
Das Ausscheidungsurogramm stellt auch heute noch die Standarduntersuchung des gesamten Harntraktes dar. Hauptindikation ist dabei die Prüfung der Nieren und ableitenden Harnwege auf Form, Lage, Größe und Funktion. Hauptindikation in der Urologie ist der Verdacht auf
eine tumoröse Raumforderung oder eine intra- bzw. postrenale Funktionsstörung. Im Rahmen urodynamischer Fragestellungen wird das Urogramm seltener eingesetzt. Lediglich bei der Beurteilung des oberen Harntraktes bei neurogener Harnblasendysfunktion, bei pathologischem Sonographiebefund oder bei Verdacht auf einen ektop mündenden Harnleiter als Ursache einer Harninkontinenz ist eine Indikation gegeben. Das AUG liefert Informationen zur Morphologie und Funktion der Nieren, der Harnleiter und der Blase. Durch die Kombination von Röntgenaufnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten nach Injektion des Kontrastmittels lassen sich Kenntnisse zur seitengetrennten Nierenfunktion und zum Ablauf des Harntransportes gewinnen. Aufnahmen nach Miktion geben Hinweise auf die Entleerungsfunktion der Harnblase, ein subvesikales Abflusshindernis oder eine Restharnbildung. Das AUG ist heute für die Routineuntersuchung von Funktionsstörungen des Harntraktes nur noch in Ausnahmefällen notwendig, da alle für die Urodynamik wesentlichen Informationen durch andere, in der Regel sonographische Untersuchungstechniken gewonnen werden können. Lediglich bei Abflussstörungen des oberen Harntraktes ist das Urogramm weiterhin die Untersuchungstechnik der ersten Wahl. Moderne Röntgenverfahren mit digitalisierten Arbeitsplätzen reduzieren dabei die applizierte Strahlenmenge und lassen durch Nachbearbeitung der erzielten Bilder eine bessere Beurteilung der Situation zu (⊡ Abb. 17.1, ⊡ Abb. 17.2).
Technik der Untersuchung Die Vorbereitung des zu untersuchenden Patienten umfasst die Applikation einer laxativen und einer entblähenden Medikation am Vortag sowie eine ausreichende Hydratation am Untersuchungstag. Bei Vorliegen einer mäßigen Niereninsuffizienz ist die Untersuchung nicht grundsätzlich kontraindiziert, benötigt aber eine ausreichende Hydratation des Patienten vor Gabe des Kontrastmittels und nach Ende der Untersuchung. Derzeit wird ein Kreatiningrenzwert zur Durchführung eines AUG von 2,0 mg% akzeptiert. Hinweise auf Schilddrüsenfunktionsstörungen oder eine allergische Diathese machen eine entsprechende Abklärung und Behandlung vor Durchführung eines Urogramms notwendig. Zur Therapie von allergischen Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock müssen ein entsprechendes Notfallinstrumentarium und eine Notfallmedikation bereitstehen. Die Untersuchung beginnt mit einer Nierenleeraufnahme. Anschließend erfolgt die i.v.-Applikation von 50–100 ml eines 30–38%igen, nichtionischen jodhaltigen Kontrastmittels, bei niereninsuffizienten Patienten wird der Kontrastmittelbedarf nach der Formel 2 mg/kg KG/Kreatinin im Serum berechnet. Aufnahmen
147 Kapitel 17 · Bildgebende Untersuchungen
a
b
⊡Abb. 17.1. a, b. Normales Ausscheidungsurogramm
a
b
⊡Abb. 17.2. a, b. Ausscheidungsurogramm mit Harnleiterstein obere Ileosakralfuge rechts und konsekutiver Harnstauung rechts
erfolgen üblicherweise 5 und 20 min nach Kontrastmittelgabe. Die erste Aufnahme (z. B. 24×30 cm) stellt die Niere dar, Abdomenübersichten (z. B. 34×40 cm) folgen. Speziell zur Beurteilung der Funktion des unteren Harntraktes wird eine Zielaufnahme nach Miktion durchgeführt, die eine mögliche Restharnbildung dokumentiert. Bei speziellen Fragestellungen zur Nierenfunktion kann eine Aufnahme der Nierenregion 2–3 min nach Kontrastmittelapplikation sinnvoll sein.
17.1.2 Zystogramm
Im Gegensatz zur i.v.-Kontrastmittelgabe beim Urogramm wird diese Untersuchungstechnik durch retrograde Kontrastmittelfüllung der Harnblase ausgeführt. Sie gehört ebenso wie die retrograde Ureteropyelographie zu den ältesten urologischen Röntgentechniken und liefert Informationen zur Form, Größe und Lage der Harnblase bei verschiedenen Funktions- und Fül-
17
148
Teil II · Urodynamische Untersuchung
a
b
⊡Abb. 17.3. a, b. Zystogramm im a.-p.- und schrägem Strahlengang
a
b
⊡ Abb. 17.4. Zystogramm und seitlicher Strahlengang, a in Ruhe, b bei Inkontinenz der Frau (vertikaler Deszensus)
17
lungszuständen (z. B. im Liegen und Stehen, in Ruhe und unter körperlicher Belastung durch Husten oder Bauchpresse). Aufnahmen mit unterschiedlicher Füllung vor und während der Entleerung helfen, pathologische Befunde wie Fremdkörper, Harnblasendivertikel oder tumoröse Raumforderungen zu identifizieren. Die Technik der Doppelbelichtung, vor allem im seitlichen Strahlengang, dokumentiert z. B. bei der Inkontinenz der Frau Lageveränderungen des Organs unter körperlicher Belastung (⊡ Abb. 17.3, ⊡ Abb. 17.4). Eine Markierung der Harnröhre zur Bestimmung des dorsalen Harnröhrenblasenhalswinkels β (⊡ Abb. 17.13) kann dabei differenzialtherapeutisch von Bedeutung sein.
Eine weitere Bedeutung dieser Untersuchungstechnik bei urodynamischen Fragestellungen liegt in der Beurteilung postoperativer Ergebnisse: So wird das Zystogramm zur Darstellung nach orthotopem oder heterotopem Blasenersatz, nach Blasenerweiterungsplastik oder Divertikelresektion, aber auch zur Anastomosenprüfung nach radikaler Prostatektomie eingesetzt (⊡ Abb. 17.5, ⊡ Abb. 17.6).
Technik der Untersuchung Der Patient befindet sich zunächst in liegender Position. Nach entsprechender Vorbereitung durch Einlage eines transurethralen Katheters wird bei Fragen zur Füllungs-
149 Kapitel 17 · Bildgebende Untersuchungen
⊡ Abb. 17.5. Zystogramm nach Anlage einer Ileumneoblase
a
b
⊡ Abb. 17.6. Zystogramm nach Ileumaugmentation bei neurogener Harnblasendysfunktion
c
⊡ Abb. 17.7. a–c. Miktionszysturethrogramm
und Entleerungsfunktion der Harnblase eine sitzende Position auf einem drehbaren Miktionssitz vor der Röntgendurchleuchtungseinheit eingenommen. Werden nur die morphologischen Verhältnisse des unteren Harntraktes untersucht, kann der Patient in liegender Position verbleiben. Die Untersuchung beginnt mit einer auf die Blasenregion eingeblendeten Leeraufnahme. Anschließend erfolgt die langsame Infusion von 30%igem körperwarmem Kontrastmittel über den einliegenden Katheter in die Blase, bis der Patient Harndrang angibt oder eine vollständige Blasenfüllung auf der Durchleuchtungseinheit dokumentiert werden kann. Je nach Fragestellung der Untersuchung werden Aufnahmen im a.-p.-Strahlengang, im seitlichen Strahlengang, in Ruhe und unter Valsalvamanöver vorgenommen. Dabei sollte heute ein digitalisierter Röntgenarbeitsplatz mit entsprechend reduzierten Strahlendosen zum Einsatz kommen. Wie bereits oben
erwähnt, kann zur Dokumentation von Deszensussituationen bei weiblicher Inkontinenz oder zum Ausschluss bzw. Nachweis einer vesikovaginalen Fistel ein Zystogramm in Einfach- oder Doppelbelichtung im seitlichen Strahlengang zum Einsatz kommen.
17.1.3 Miktionszysturethrographie (MCU)
Die Miktionszysturethrographie nach transurethraler oder suprapubischer Füllung der Harnblase mit Kontrastmittel stellt die zentrale Röntgenuntersuchung zur Beurteilung der Funktion des unteren Harntraktes dar (⊡ Abb. 17.7). Dabei ist die Kombination des MCU mit einer urodynamischen Untersuchung im Sinne einer Simultanaufzeichnung von vielen Autoren als Goldstandard der Funktionsdiagnostik des unteren Harntraktes angesehen worden (Videourodynamik [2]).
17
150
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Urodynamische Untersuchungen müssen in der Regel mehrfach durchgeführt werden, um reproduzierbare Ergebnisse zu liefern und die Gefahr von Systemfehlern zu minimieren [7, 21]. Dies ist für Simultanuntersuchungen schon wegen der zu applizierenden Strahlendosis kaum akzeptabel. Während für die Einzeluntersuchungen gute Daten zur Validität vorliegen [7, 21], fehlen diese Daten für die Simultanuntersuchung bis heute. Die Miktionszysturethrographie benötigt zur Vorbereitung einen transurethralen oder suprapubischen Zugang zur Harnblase, über den das auszuscheidende Kontrastmittel appliziert wird. Die Untersuchung erfolgt dann in sitzender Körperposition, bei besonderen Fragestellungen oder in Ausnahmesituationen kann sie auch im Stehen oder Liegen erfolgen. Während der Blasenfüllung wird die Form, Lage und Funktion des unteren Harntraktes durch gelegentliche Durchleuchtung beobachtet und bei Auftreten von pathologischen Befunden (z. B. vesikorenaler Reflux, Divertikel, Öffnung des Blasenhalses in der Füllungsphase) werden diese entsprechend dokumentiert. Nach Erreichen der Blasenkapazität und Beginn der Miktionsphase erfolgt die Dokumentation der Miktion mit mehreren Aufnahmen im a.-p.-, schrägen oder seitlichen Strahlengang zur Beurteilung der Blasenfunktion, des Blasenhalses, der hinteren Harnröhre und zur Dokumentation hier vorhandener pathologischer Befunde. Dabei ist die gesamte Untersuchung so zu arrangieren, dass Blasenfüllung und Blasenentleerung möglichst physiologisch ablaufen. Sowohl beim erwachsenen Patienten, insbesondere aber beim Kind können Funktionsstörungen des unteren Harntraktes nur dann nachgewiesen werden, wenn die Untersuchungstechnik der normalen unbeobachteten Miktion möglichst nahe kommt. Sowohl für das Miktionszysturethrogramm als auch für die urodynamische Untersuchung selbst gilt: Je artifizieller die Untersuchungssituation ist, umso weniger ist sie in der Lage, das wirkliche funktionell-pathologische Geschehen abzubilden. Besonders bei der Untersuchung von Kindern mit funktionellen und damit oft diskreten Störungen im Funktionsablauf des unteren Harntraktes ist es notwendig, eine quasi spielerische Untersuchungsatmosphäre herzustellen und störende Einflüsse oder Personen von der Untersuchung fernzuhalten.
17 17.1.4 Urethrogramm
Das retrograde Urethrogramm wird im Rahmen urodynamischer Fragestellungen zur radiologischen Darstellung der männlichen und weiblichen Harnröhre eingesetzt. Zielsetzung ist der Nachweis von pathologischen Veränderungen wie kurz- oder langstreckiger Harnröhren-
⊡ Abb. 17.8. Retrogrades Urethrogramm beim männlichen Patienten mit proximaler Harnröhrenstriktur
strikturen oder Harnröhrendivertikeln als Ursache von Funktionsstörungen des unteren Harntraktes. Die Durchführung des Urethrogramms ist aufgrund der luftfreien retrograden Kontrastmittelapplikation und der notwendigen Abdichtung des Meatus urethrae externus beim Mann bzw. des Meatus urethrae externus und internus bei der Frau anspruchsvoll. Für die Durchführung des retrograden Urethrogramms beim männlichen Patienten existieren eine Reihe von Applikatoren, die zum einen die Streckung der penilen Harnröhre, zum anderen die Abdichtung des Meatus urethrae externus und damit die vollständige Kontrastmittelfüllung der Harnröhre ermöglichen sollen. Bei der Kontrastmittelfüllung der weiblichen Harnröhre wird ein sogenanntes Doppelballonsystem verwendet, welches die Harnröhre zum Meatus urethrae externus abdichtet und andererseits einen Übertritt des Kontrastmittels in die Blase verhindert. So kann eine Prallfüllung der Harnröhre und damit die Darstellung etwaiger pathologischer Befunde erreicht werden (⊡ Abb. 17.8). Eine Kombination dieser Röntgenuntersuchung mit urodynamischen Messungen ist nicht möglich, es handelt sich um eine rein morphologische Untersuchung. Da die Harnröhre auch im Rahmen des oben genannten Miktionszysturethrogrammes dargestellt und beurteilt werden kann, ist das retrograde Urethrogramm im Rahmen von urodynamischen Fragestellungen eine Untersuchung zweiter Ordnung. Es sollte bei anamnestischem Hinweis auf eine Pathologie der Harnröhre der invasiven Urodynamik vorgeschaltet werden.
151 Kapitel 17 · Bildgebende Untersuchungen
17.1.5 Videogestützte Untersuchung des
unteren Harntraktes ( Videourodynamik) Die Indikationsbereiche, die Durchführung und die möglichen Ergebnisse der Kombination aus urodynamischer Untersuchung und – in der Regel digitalisiert durchgeführtem – Zystogramm und Miktionszysturethrogramm sind an anderer Stelle ( Kap. 13) ausführlich beschrieben worden. Eine Reihe von Argumenten spricht für die gemeinsame Durchführung von urodynamischer Untersuchung und Röntgendarstellung: So kann z. B. bei Auftreten eines vesikorenalen Refluxes jeweils der herrschende intravesikale Druck korreliert werden, ebenso wird der intravesikale Druck bei Öffnung des Blasenhalses vor Miktionsbeginn registriert. Diese Daten liefern zusätzliche Informationen zur Blasenfunktion bei Füllung und Entleerung. Der Untersucher hat die Möglichkeit, im Rahmen von Provokationstests z. B. im seitlichen Strahlengang das Ausmaß einer nachweisbaren Zystozele mit dem intravesikalen Druck oder dem Leak point pressure beim Valsalvamanöver oder beim Hustentest in Relation zu setzen. Es existiert jedoch bis heute keine allgemein anerkannte differenzialtherapeutische Festlegung, welche videourodynamischen Befunde welche Therapieverfahren nach sich ziehen. Trotzdem erscheint es augenscheinlich, dass gerade die Kombination aus kontinuierlicher Druckmessung und – in der Regel – diskontinuierlicher Aufzeichnung der Morphologie des unteren Harntraktes die beste Beurteilung von Störungen im Funktionsablauf möglich macht. Ein wichtiges Argument, das gegen die gemeinsame Durchführung von urodynamischer Untersuchung und MCU spricht, ist die zu applizierende Strahlendosis vor dem Hintergrund wiederholter Untersuchungen zur Validierung der erzielten
a
Ergebnisse [3, 16, 23]. Trotzdem ist die kontinuierliche Aufzeichnung der urodynamischen Daten und die sichere Korrelation dieser Daten mit verschiedenen Durchleuchtungssequenzen des unteren Harntraktes die umfassendste Möglichkeit der Befunderhebung bei Blasenfunktionsstörungen, insbesondere bei funktioneller infravesikaler Obstruktion (⊡ Abb. 17.9).
17.2
Sonographie
17.2.1 Niere, Harnleiter, Retroperitoneum
Seit die sonographische Untersuchung der Bauchorgane um 1980 in die klinische Routine eingeführt wurde, steht hier eine flexible, röntgenstrahlenunabhängige Untersuchungsmethode zur Verfügung, die eine Reihe von wichtigen Informationen auch bei urodynamischen Fragestellungen liefert. Grundsätzlich sollte jeder zur urodynamischen Evaluierung anstehende Patient zunächst sonographisch untersucht werden. Dabei ist die Beurteilung des oberen Harntraktes aus urodynamischer Sicht ähnlich aussagekräftig wie die durch das Ausscheidungsurogramm. Besonders bei Patienten mit neurogener Blasendysfunktion muss im Rahmen von Verlaufsuntersuchungen die Situation des oberen Harntraktes mitbeurteilt werden, da es durch sekundär aufgetretene Pathologien (sekundärer Reflux, unerkannt abgelaufene Pyelonephritis mit Narbenbildung o. ä.) zu im Sonogramm sichtbaren morphologischen Veränderungen der Nieren kommen kann. Die Screeninguntersuchung eines urodynamisch zu untersuchenden Patienten sollte also die sonographische
b
⊡ Abb. 17.9. Videographische Darstellung des unteren Harntraktes: a in der Füllungsphase, b während der Miktion (lateraler Strahlengang, sitzend, rotatorischer Deszensus)
17
152
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Beurteilung der Lage, Form und Größe (Längsdurchmesser, Querdurchmesser, Parenchymdicke und eventuell Ektasie) der Nieren, der Harnblase vor und nach Entleerung und der Prostata sowie eine Übersichtssonographie des Retroperitoneums beinhalten. Liegt eine Hohlsystemektasie vor, so sollten auch die Harnleiter soweit als möglich im Längs- und Querschnitt sonographisch beurteilt und diese Befunde dokumentiert werden, da sie für die Beurteilung oder als Ausgangspunkt einer therapeutischen Maßnahme am unteren Harntrakt von Bedeutung sein können (⊡ Abb. 17.10). Die Untersuchung erfolgt mit einem 3,5–5-MHz-Sektorscanner am liegenden Patienten, nachdem die Schallintensität und die Bildkontrastierung anhand der Abbildung der Leber justiert wurden. Von jedem untersuchten Organ sollten Ausdrucke zur Dokumentation angefertigt werden, die die jeweilige Stellung des Schallkopfs in Relation zum untersuchten Patienten als Piktogramm dokumentieren. Alle Messungen von Flächen oder Volumina müssen auf den Dokumentationsbildern nachvollziehbar eingezeichnet und beschriftet werden, damit die erzielten Untersuchungsergebnisse vom Untersucher unabhängig überprüf- und vergleichbar werden.
Introitus vaginae sowie vom Perineum aus ausgeführt. Diese speziellen Techniken werden später besprochen. Die suprapubische Sonographie der Harnblase und des Blasenhalses ist im Rahmen der sog. nichtinvasiven Urodynamik die ideale Ergänzung zur Uroflowmetrie. Durch die Ausmessung des Blasenvolumens vor und nach Miktion in drei Dimensionen kann über eine Näherungsformel das Blasenvolumen bzw. die Restharnmenge relativ exakt bestimmt werden (⊡ Abb. 17.11): (Länge × Breite × Tiefe) in cm/0,5 = Blasenvolumen (in ml). Daneben ermöglicht die Sonographie der Harnblase eine exakte Bestimmung der Blasenwanddicke. Dieser
17.2.2 Blase und Blasenhals
Die sonographische Untersuchung der Blase und des Blasenhalses erfolgt im Rahmen von urodynamischen Fragestellungen durch drei unterschiedliche Zugänge: Während als Screeninguntersuchung zur Bestimmung der Blasenhalsdicke oder der Restharnmenge der suprapubische Zugang einfach und ausreichend erscheint, wird im Rahmen von speziellen Fragestellungen und bei der Abklärung der weiblichen Harninkontinenz eine Sonographie von Blase, Blasenhals und Harnröhre vom
⊡ Abb. 17.11. Harnblase bei suprapubischer sonographischer Untersuchung
17
a
b
⊡ Abb. 17.10. a, b. Sonographischer Befund einer unauffälligen rechten Niere, Niere mit Hohlsystemektasie und proximalem Harnleiter
153 Kapitel 17 · Bildgebende Untersuchungen
Parameter hat sich bei Kindern mit funktionellen Entleerungsstörungen als prognostisch wirksam erwiesen [5, 8, 13]. Auch bei Erwachsenen lässt sich eine Korrelation zwischen urodynamischen Parametern und der Blasenwanddicke herstellen [14]. Ob dies in Zukunft dazu führt, dass urodynamische Untersuchungen durch nichtinvasive Diagnostik ersetzt werden können, bleibt allerdings abzuwarten (⊡ Abb. 20.2).
17.2.3 Prostata und Samenblasen
Die Untersuchung der Prostata ist eine der am häufigsten gestellten Indikationen zur Sonographie im urologischen Fachgebiet (⊡ Abb. 17.12). Primäre Zielsetzung ist die genaue Größenbestimmung der Prostata sowie die Detektion neoplastischer Läsionen. Dabei stehen dem Untersucher der suprapubisch-transvesikale Zugang zur Prostata sowie bei entsprechenden Fragestellungen die transrektale Ultraschalluntersuchung (TRUS) zur Verfügung. Im Rahmen urodynamischer Fragestellungen ist vor allem die Größenbestimmung der Drüse durch transrektale Sonographie von Bedeutung. Im Rahmen therapeutischer Interventionen durch medikamentöse Therapie, minimal invasive Maßnahmen oder operative Größenreduktion lässt die sonographische Untersuchung die morphologische Effektivität der jeweiligen Maßnahme beurteilbar erscheinen, auch wenn große multizentrische Studien eine direkte Korrelation der Drüsengröße zum Obstruktionsgrad nicht nachweisen konnten [14].
a
Die transrektale Untersuchung wird mit einem 5– 7 MHz-Schallkopf in Nahfeldtechnologie durchgeführt. Die Normalgröße der Drüse bis zum 45. Lebensjahr beträgt im Transversalschnitt 4 cm und in der anterior-posterioren Dimension ca. 3 cm. Das normale Volumen liegt im Bereich von 10–25 cm3. Zurzeit wird das von McNeil propagierte zonale anatomische Modell der Prostata angewendet [17]. Dabei ist die Prostata in eine anteriore, eine zentrale und eine periphere Zone aufgeteilt. Die anteriore Zone besteht aus fibromuskulärem Stroma und ist frei von Drüsengewebe. Es umfasst etwa ein Drittel des Gesamtvolumens der Prostata bei normalen jungen Männern. Die zentrale Drüse besteht zum einem aus azinärem Gewebe der Transitionalzone, welches auf beiden Seiten der proximalen Harnröhre oberhalb des Colliculus seminalis liegt, und aus Drüsengewebe, das die Harnröhre umfasst. Die proximale Harnröhre und der Blasenhals sind ebenso Teile der zentralen Drüse, die beim jungen Mann nur 5% des gesamten Prostatavolumens ausmacht. In diesem Bereich entsteht im späteren Lebensalter die benigne Hyperplasie. Die periphere Drüse enthält ausschließlich Drüsengewebe und umfasst etwa 70% des Prostatavolumens bei jungen Männern. Dieser Drüsenanteil besteht aus den posterioren, apikalen und lateralen Aspekten der Prostata und kann histologisch in eine zentrale und eine periphere Zone aufgeteilt werden, die sonographisch jedoch nicht zu differenzieren sind. Die für urodynamische Fragestellungen wichtige benigne Prostatahyperplasie ist eine Veränderung allein der zentralen Drüse und entsteht primär in der Transitionalzone und in geringerem Ausmaß im periurethralen
b
⊡Abb. 17.12. Transrektale Sonographie (TRUS) einer normalen Prostata im a Transversal- und b Longitudinalschnitt
17
154
17
Teil II · Urodynamische Untersuchung
Gewebe, während Karzinome in der Regel vom glandulären Gewebe ausgehen und hier zu mehr als 80% in der peripheren Drüse entstehen. Die sonographische Textur der benignen Prostatahyperplasie ist bestimmt durch ein heterogenes Mischbild mit meist hypoechogenem Parenchym. Es ist dabei oft in Form eines oder mehrerer hyperplastischer Knoten arrangiert, oftmals ist sonographisch keine interne Architektur mehr nachweisbar. Dieses sonographische Erscheinungsbild besteht im Kontrast zur meist homogenen, normalen peripheren Drüse, die keine sichtbaren Texturänderungen mit zunehmendem Alter aufweist. Die Vergrößerung des Parenchyms kann asymmetrisch sein und in einer Vorwölbung der Kontur der zentralen Drüse und der Prostata selbst resultieren. Aufgrund der großen Homogenität der hypertrophischen Veränderungen ist ein gleichzeitig vorhandenes Karzinom sonographisch nur schwer nachzuweisen [11]. Eine akute Prostatitis als Ursache einer subvesikalen Obstruktion wird sonographisch als hypodenses, abgegrenztes Areal der peripheren oder zentralen Drüse nachgewiesen [18], während eine chronische Prostatitis ein eher unspezifisches sonographisches Bild mit hypodensen und diffusen intraprostatischen Strukturen aufweist. Ein Prostataabszess kann sonographisch leicht als ein flüssigkeitsgefülltes, hypodenses Areal mit verdickter Wandstruktur nachgewiesen werden und ist so vom normalen Prostataparenchym zu differenzieren. Die sonographische Größenbestimmung der Prostata erfolgt näherungsweise, die Fehlerrate ist im Bereich von 10–20% anzusiedeln. Heute bieten die meisten Sonographiegeräte eine automatische Volumen- und Größenberechnung nach Ausmessung der Drüse in drei Dimensionen an. Die Berechnungen beruhen auf der Kalkulation eines sphärischen Ellipsoids [10]. Die Samenblasen sind im Rahmen urodynamischer Fragestellung nur selten das Ziel sonographischer Untersuchungen. Sie sind am besten im Rahmen einer transrektalen Sonographie als paarige tubuläre Strukturen oberhalb der Basis der Prostata und hinter dem Trigonum der Blase nachweisbar. Obwohl die Samenblasen sonographisch meist symmetrisch erscheinen, wird eine Größendifferenz und eine daraus resultierende Asymmetrie bei bis zu einem Drittel der gesunden Männer gefunden. Die Größe einer normalen Samenblase beträgt im Längsdurchmesser 3–3,5 cm und im Querdurchmesser 1,5–2 cm und umfasst ein Volumen von etwa 14 ml.
17.2.4 Introitus und Perineum
Die sonographische Untersuchung des Beckenbodens und der Beckenorgane stellt bei der urodynamischen Abklärung der weiblichen Harninkontinenz eine sinnvolle
und wichtige Ergänzung zur Zystometrie, zur Miktiometrie und zum Urethradruckprofil dar. Ähnlich wie in der radiologischen Diagnostik durch ein laterales Zystogramm in Ruhe und unter Belastung wird die Sonographie zur Beurteilung der Morphologie des Beckenbodens eingesetzt. Hierzu stehen neben der transrektalen Sonographie die transvaginale Sonographie, die Introitussonografie und die perineale Sonographie zur Verfügung. Eingesetzt werden lineare und Sektorscanner mit 5–7,5 MHz für die vaginale und Introitussonographie sowie Sektorscanner mit 3,5–5 MHz für die perineale Sonographie. Da international anerkannte Standardisierungen für diese Untersuchungstechniken bisher fehlen, hat die Deutsche Gesellschaft für Urogynäkologie Empfehlungen zur Methodik zur Auswertung der sonographisch erzielten Bilder des unteren Harntraktes publiziert [20]. Die Patientin soll in Steinschnittlage untersucht werden. Wenn in dieser Position bei klinisch vorhandener Belastungsinkontinenz eine Blasenhalsöffnung nicht nachgewiesen werden kann, sollte die Untersuchung bei der stehenden Patientin wiederholt werden. Die Blasenfüllung soll für Sonographien in Ruhe und unter Provokationsmanövern 300 ml betragen. Die Position des Blasenhalses soll auf die Unterkante des Schambeines bezogen werden. Gleichzeitig soll der retrovesikale Winkel β bestimmt werden. Der retrovesikale Winkel β wird gemessen, indem ein Schenkel des Winkels an die Dorsalseite der Harnröhre angelegt wird. Der zweite Schenkel wird durch das distale Drittel der Blasenhinterwand nahe dem Blasenhals gebildet. Zur Lokalisation des Blasenhalses wird von Schaer und Mitarbeitern [19] ein rechtwinkliges Koordinatensystem empfohlen, welches sich an der Lage der Symphyse als feststehender Koordinate im Becken orientiert. Dabei verläuft die x-Achse longitudinal durch die Symphyse, während die y-Achse in einem rechten Winkel an der Symphysenhinterkante eingezeichnet wird. Anhand dieser Koordinaten wird der Abstand des Orificium internum zur y-Achse (Dx) und zur xAchse (Dx) bestimmt und so die Lage der Blase und des Orificium internum definiert [19]. Neben diesen Parametern werden die Blasenhalsöffnungen sowie die Mobilität der Harnröhre und des Blasenbodens beurteilt (⊡ Abb. 17.13). Die sonographische Untersuchung des Beckenbodens ist eine inzwischen häufig eingesetzte Untersuchungstechnik zur Beurteilung bei weiblicher Inkontinenz. Sie erlaubt eine morphologische und funktionelle Beurteilung der pathophysiologischen Situation und stellt damit eine ideale Ergänzung der urodynamischen Untersuchung dar. Bernstein und Mitarbeiter empfehlen zusätzlich die Introitussonografie zur Beurteilung der Dicke des Musculus levator ani, z. B. vor und nach einem Beckenbodentraining [4].
155 Kapitel 17 · Bildgebende Untersuchungen
β Urethra
x-axis
⊡ Abb. 17.13. Quantitative Parameter für die Ultraschalluntersuchung der Frau (Blase, Harnröhre) ICI (1998) Monaco
Die sonographische Untersuchung des Beckenbodens ist aber bis heute als experimentelle Untersuchungstechnik anzusprechen, da bis auf wenige Ausnahmen Standardisierungen und Validierungen fehlen [20]. Zurzeit ist die Rolle dieser Untersuchungstechnik in der Beurteilung der weiblichen Inkontinenz und daraus abzuleitender therapeutischer Ansatzpunkte nicht vollständig geklärt und sollte deshalb Zielsetzung weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen bleiben. Insbesondere fehlen Daten über die Reproduzierbarkeit der Untersuchungsergebnisse bei gleichen und bei verschiedenen Untersuchern. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Sonographie des Beckenbodens zwar die Diagnose einer Belastungsinkontinenz alleine nicht ermöglicht, aber eine die Patientin wenig belastende, strahlenfreie Untersuchungstechnik darstellt, die als sinnvolle Ergänzung zur urodynamischen Untersuchung und eventuell in Zukunft als Ersatz für die konventionelle morphologische Diagnostik mittels Zystographie angesehen werden kann.
17.3
Schnittbildverfahren
17.3.1 CT des Abdomens und Beckens
Die Computertomographie des Abdomens – heute typischerweise in Form eines Spiral-CT durchgeführt – gibt dem Untersucher einen exzellenten Überblick über alle abdominellen und retroperitonealen Strukturen. Die Untersuchung wird nach oraler Darmkontrastierung zunächst als Nativuntersuchung durchgeführt, anschließend
wird durch eine intravenöse Kontrastmittelgabe eine weitere Differenzierung der verschiedenen intraabdominellen und retroperitonealen Strukturen erreicht. Im Rahmen urodynamischer Fragestellungen ist eine Computertomographie des Abdomens und Beckens nur selten indiziert, da beinahe alle in Zusammenhang mit der Abklärung einer Funktionsstörung des unteren Harntrakt stehenden Fragestellungen besser durch die Sonographie, das Miktionszysturethrogramm oder die Magnetresonanztomographie beantwortet werden können. Eine der wenigen Indikationen zur Computertomographie des Abdomens und Beckens besteht im Rahmen der Abklärung einer Harninkontinenz beim dringenden Verdacht auf eine Doppelnierenbildung mit ektop mündendem Harnleiter bei der Frau. Bei diesen Patientinnen ist die zum ektopen Harnleiter gehörige obere Nierenanlage einer Doppelniere oft so klein und funktionsarm, dass sie im Ausscheidungsurogramm nicht zur Darstellung kommt. Wenn auch die Sonographie in dieser Situation kein beurteilbares Ergebnis liefert, ist in einem solchen Fall zum Nachweis einer Doppelnierenanlage ein Computertomogramm indiziert [15]. Auch die Computertomographie des Beckens ist bei urodynamischen Fragestellungen zu Funktionsstörungen des unteren Harntraktes nur selten indiziert, da die im Rahmen einer Obstruktion zugrunde liegenden morphologischen Veränderungen besser und einfacher durch die transrektale Sonographie beurteilt werden können. Lediglich der Nachweis einer intrapelvinen Raumforderung als Ursache einer Blasenfunktionsstörung oder eine sonst nicht abzuklärende Dilatation des oberen Harntraktes lässt eine Computertomographie des Beckens sinnvoll erscheinen, wobei hier im Einzelfall zwischen der Computertomographie und der Magnetresonanztomographie entschieden werden muss.
17.3.2 MRT des Abdomens und Beckens
Die Magnetresonanztomographie des Abdomens und Beckens ist ähnlich wie die Computertomographie zur Untersuchung des oberen Harntraktes und unklarer Raumforderungen des unteren Harntraktes und Beckens geeignet. Dabei bietet die Magnetresonanztomographie den Vorteil der multiplanaren Abbildung der zu untersuchenden Organe und Strukturen, obwohl die Spiralcomputertomographie durch entsprechende computergestützte Rekonstruktionen inzwischen auch in der Lage ist, sagittale und transversale Längsschnitte durch die Zielregionen zu generieren. Die Magnetresonanztomographie wurde bei urodynamischen Fragestellungen ebenso wie das CT erfolgreich zur Diagnose von ektop mündenden Harnleitern eingesetzt [1].
17
156
Teil II · Urodynamische Untersuchung
17.3.3 MRT des Beckenbodens
Die Magnetresonanztomographie des Beckenbodens hat in den letzten Jahren zunehmend Anwendung gefunden, um die anatomischen Komponenten und die neuromuskuläre Integrität von Beckenboden und Schließmuskeln zu untersuchen. Hinsichtlich der technischen Anwendung bestehen unterschiedliche Ansätze: Die Anatomie des weiblichen Beckens kann zum einen durch eine Endovaginalspule, zum anderen mit Hilfe einer Körper-phased-array-Spule durchgeführt werden. Nach einer Untersuchung von Tan und Mitarbeitern [22] ist die Magnetresonanztomographie mit Hilfe einer Endovaginalspule besser in der Lage,
die Anatomie des Beckenbodens und die zonale Anatomie der Urethra abzubilden. Während die Introitussonografie zur Beurteilung dieser Fragestellung den klinischen Standard darstellt, ist die Magnetresonanztomographie der Beckenorgane bis heute als experimentelle Untersuchung mit noch nicht ausreichender Standardisierung anzusehen. Die MRT ist in der Lage, die Blase in Beziehung zu den umliegenden Organen in Ruhe und unter Belastung darzustellen. Mostwin und Mitarbeiter [12] fanden bei harninkontinenten Frauen, dass das Valsalvamanöver zu einer signifikanten Verlagerung der Beckenorgane von der sagittalen pubokokzygealen Referenzlinie führte, während gesunde Probandinnen hier nur eine minimale Veränderung aufwiesen (⊡ Abb. 17.14).
a
b
c
d
17
⊡ Abb. 17.14. Dynamische MRT des Beckenbodens (1,0 Tesla, dynamische EPI-Sequenz (safe/90°, TE90-100, 31 kHz, sagittale Schichtführung) zur Diagnostik der Beckenbodeninsuffizienz: Normalbefund (a, b) Harninkontinenz (c, d). In Ruhe a β-Winkel 144°, Blasenboden deutlich oberhalb der Scipp-Linie, unter Pressen b β-Winkel 157°, Blasenboden noch ca. 10 mm oberhalb der Scipp-Linie c unter Pressen deutlicher Deszensus vesicae unter die Scipp-Linie d unter Pressen massive Vesicocele
157 Kapitel 17 · Bildgebende Untersuchungen
Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass eine Belastungsinkontinenz lediglich ein Symptom eines lokalen oder systemischen Beckenprolapses ist, der neben Blase, Harnröhre und Vagina auch die Levatormuskulatur, die Pudendusinnervation und das umgebende Bindegewebe umfasst (⊡ Abb. 17.15). Die genaue Kenntnis der an der pathologischen Veränderung beteiligten anatomischen Strukturen soll dabei die Basis für die anzustrebende Korrekturoperation bilden. Goh und Mitarbeiter untersuchten mit gleicher Zielsetzung 25 gesunde Frauen und 25 gesunde Männer jeweils in körperlicher Ruhe und unter maximalem abdominalen Pressen [6]. Bei dieser Untersuchung entwickelten drei der asymtomatischen Frauen eine Zystozele, zwei zeigten gleichzeitig einen geringgradigen uterozervikalen Prolaps. Drei der gesunden Männer wiesen einen Deszensus des posterioren Beckenbodens von drei und mehr Zentimeter während des Valsalvamanövers auf. Eine Rektozele, Enterozele, ein Rektalprolaps oder eine perineale Hernie konnte bei keinem der untersuchten gesunden Probanden nachgewiesen werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung demonstrieren klar die weite Varianz der Beckenbodenanatomie in Ruhe und unter Belastung bei gesunden Probanden. Dies muss bei der Untersuchung von Harninkontinenten entsprechend berücksichtigt werden.
Technik Die Untersuchung erfolgt in Rückenlage mit leicht angewinkelten Beinen. Die Blasenfüllung wird entweder durch eine gute Hydratation über mindestens zwei Stunden vor Untersuchungsbeginn oder durch retrograde Füllung erreicht.
Zur statischen MRT werden sagittale und axiale T1gewichtete SE-Sequenzen zur Darstellung der Anatomie durchgeführt. Die dynamische MRT umfasst sagittale T2gewichtete GRE-Sequenzen in Ruhe und unter Pressen über 15 s. Die Auswertung orientiert sich an der für die UCG angegebenen Klassifikation von Green 1962. Bestimmt werden vor allem der retrourethrale Winkel β und der Abstand zwischen dem tiefsten Punkt der Blase und der Verbindungslinie zwischen Symphysenunterrand und Sakrokokzygealgelenk (Scipp-Linie). Normalerweise beträgt der Winkel β in Ruhe 130 Grad und der Abstand zur Scipp-Linie 15 mm. Beim Pressen tritt die Harnblase normalerweise nicht unter die Scipp-Linie. Bei inkontinenten Patienten zeigt sich neben einer Abflachung des Winkels β eine Absenkung des Blasenbodens unter die Scipp-Linie und häufig eine Trichterbildung der gesamten Urethra. Die axialen Schnitte erlauben eine Beurteilung der Stärke des Musculus levator ani. Insbesondere einseitige Atrophien sind so gut darstellbar. Zusammenfassend lässt sich zur Magnetresonanztomographie des Beckenbodens feststellen, dass diese Untersuchungstechnik eine exzellente Darstellung aller an der Kontinenzfunktion beteiligten Strukturen ermöglicht. Nur mit dieser Untersuchungstechnik gelingt es, anatomische und z. T. auch funktionelle Läsionen sicher zu identifizieren und damit einer gezielten Therapie zuzuführen. Es existieren aber bis heute keine anerkannten und validierten differenzialtherapeutischen Vorgehensweisen, die sich an den Ergebnissen der Magnetresonanztomographie des Beckens orientieren. Daher bleiben die aus der Beckenboden-MRT abzuleitenden Schlussfolgerungen für die Therapie bis auf Weiteres das Ziel wissenschaftlicher Untersuchungen.
17.3.4 MRT des Nervensystems
⊡ Abb. 17.15. Statische MRT des Beckenbodens (1,0 Tesla), FSE-Sequenz /TR 5000, TE 88, 15 kHz, axiale Schichtführung zur Diagnostik der Beckenbodeninsuffizienz. Deutlich erkennbare Asymetrie des Musculus levator ani mit Ausdünnung des rechten Schenkels
Die Magnetresonanztomographie zentraler neuronaler Strukturen ist bei urodynamischen Fragestellungen nur in Ausnahmefällen notwendig und gerechtfertigt. Liegt bei einem Patienten der dringende Verdacht auf eine okkulte neurogene Blasendysfunktion vor und kann durch konventionelle Röntgentechnik eine Spina bifida occulta oder eine Spinalagenesie nicht nachgewiesen werden, so sollte eine Magnetresonanztomographie des Spinalkanals angeschlossen werden. Dies gilt ebenso für neurologische Befundkonstellationen, die zum einen eine Blasenfunktionsstörung (z. B. im Sinne einer Überlaufinkontinenz) sowie zum anderen weitere neurologische Symptome hervorrufen, die an eine spinale Kompression z. B. durch Bandscheibenvorfall oder eine intraspinale Raumforderung denken lassen (⊡ Abb. 17.16). Therapeutisch steht dann eine orthopädisch-neurochirurgische Intervention im Vordergrund.
17
158
Teil II · Urodynamische Untersuchung
a
b
⊡ Abb. 17.16. MRT des Spinalkanals bei lumbosakralem Bandscheibenvorfall. a T2 gewichtete FSE-Sequenz (1,0 Tesla, TR 3000, TE 96, sagittale Schichtführung); b T1 gewichtete FES-Sequenz (1,0 Tesla, TR 640, TE 14, axiale Schichtführung): deutliche Höhenminderung des Zwischenwirbelraums L5/S1 mit Dorsalverlagerung von Zwischenwirbelscheibengewebe in infradiskaler Ebene nach median/paramedian links mit massiver Affekton des Duralsacks von ventral
Literatur
17
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III
III
Spezielle Urodynamik
18
Spezielle Urodynamik der Frau – 161
19
Spezielle Urodynamik des Mannes – 175
20
Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes – 193
21
Spezielle Urodynamik beim alten Menschen – 211
22
Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung – 221
23
Urodynamik bei Blasenersatz
24
Begutachtung von Blasenfunktionsstörungen
– 241 – 251
18
Spezielle Urodynamik der Frau H. Palmtag, H. Heidler
18.1
Einleitung
18.1.1 18.1.2
Prolapsklassifikation – 162 Beckenbodenmuskelstärke – 163
– 162
18.2
Speicherstörungen
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4
Sensitivitätsstörung (Hypersensitivität) – 164 Detrusorbedingte Speicherstörung – 164 Auslassbedingte Speicherstörungen – 164 Mischinkontinenz – 165
18.3
Entleerungsstörungen
18.3.1 18.3.2 18.3.3 18.3.4 18.3.5
Ungestörte Funktion – 166 Sensitivitätsstörung – Hyposensitivität (sekundäre Megazystis) Detrusorbedingte Entleerungsstörungen – 167 Auslassbedingte Entleerungsstörungen – 170 Mischformen – 173
Literatur
– 173
– 163
– 165 – 166
162
Teil III · Spezielle Urodynamik
18.1
Einleitung
Funktionsstörungen im Bereich des unteren Harntraktes der Frau unterscheiden sich deutlich von den Funktionsstörungen beim Mann. Diese Besonderheit beruht im Wesentlichen darauf, dass das kleine Becken als Funktionseinheit und strukturelle Einheit zu betrachten ist. Zusätzlich gibt es verschiedene Lebensphasen bei der Frau – Kindesalter, Fertilitätsphase, Menopausenphase – die gravierende Änderungen im kleinen Becken und insbesondere an Blase und Harnröhre auslösen. Neue Untersuchungstechniken konnten auch ganz neue Denkansätze liefern. Zu klären ist, welche Bedeutung die verschiedenen Messparameter und die unterschiedlichen bildgebenden Verfahren zur Beurteilung dieser Funktionsstörungen und der Architektur im kleinen Becken haben. Durch die zunehmende Integration des Urologen in die Behandlung des Prolapsgeschehens ist es notwendig, dass er sich mit der Anatomie, den verschiedenen Untersuchungstechniken und den Behandlungsoptionen vertraut macht. 11,1% aller chirurgischen Interventionen bei einer Frau die über 80 Jahre alt ist [14] sowie 16,3% der Hysterektomien werden durchgeführt wegen eines Prolaps. Das bedeutet, dass der Prolaps ein häufiges Problem ist, das Frauen jeder Altersstufe betreffen kann [11]. Es gibt verschiedene Klassifikationen für den Prolaps, die sich einerseits auf die anatomische Gegebenheit der Vagina beziehen und einen vorderen, einen hinteren und einen apikalen Prolaps unterscheiden. Im Wesentlichen gilt es jedoch zwischen einer Zystozele, einer Rektozele, eines Uterusprolaps bzw. einer Enterozele zu unterscheiden. Für die urodynamische Diagnostik bedeutet dies, dass diese Komponenten in das Gesamtkonzept der Diagnostik mit einbezogen werden und dass die Vaginaluntersuchung mit einer Spekulumeinstellung ebenso wie die Prüfung der Sakralreflexe, um die Beckenbodenfunktion einzuschätzen, essenzieller Bestandteil der Diagnostik sein muss.
18.1.1 Prolapsklassifikation
18
Es gibt verschiedene Klassifikationen für einen vaginalen Prolaps, die sich entweder an der anatomischen Ausdehnung orientieren (⊡ Tab. 18.1) oder an Befunden der Zystographie bzw. Miktionszystourethrographie (⊡ Abb. 18.1 [10]). Eine klinische Einstufung der Rektozele bezieht sich auf die suprasphinktäre Vorwölbung und unterscheidet verschiedene Grade der Protrusion (⊡ Tab. 18.2). Die ICS erstellte ein System zur quantitativen Beschreibung des Prolapses [4]. Es werden dort sechs Punkte um die Vagina herum definiert (zwei anteriore,
⊡ Tab. 18.1. Klassifikation des Prolapses Anatomische Kriterien I
Prolaps bis zum Hymenalsaum
II
Prolaps bis zum Introitus
III
Prolaps außerhalb des Introitus
⊡ Tab. 18.2. Klassifikation der Rektozele Anatomische Kriterien I
A: Protrusion unter Pressen, B: Protrusion erreicht den Introitus noch nicht
II
Protrusion im Introitus
III
Protrusion außerhalb des Introitus
(insuffiziente Verankerung periurethral)
(insuffizienter Verschluss urethral)
⊡ Abb. 18.1. Schematische Darstellung der röntgendiagnostisch (Zystographie, Miktions-Zysto-Urethrographie [MZU]) und urodynamisch (Uroflow und Restharn) unterscheidbaren pathomorphologischen Formen einer weiblichen Stressinkontinenz. Die schraffierte Fläche in der lateralen Zystographie soll denjenigen Anteil verdeutlichen, der gegenüber der Normalposition verändert ist und letztlich durch die Operation wieder stabilisiert werden muss. BH = Blasenhals, BB = Beckenboden, RH = Restharn, 0 bis +++ = fehlend bis stark ausgeprägt
zwei posteriore und zwei apikale) unter dem Aspekt ihrer Ausdehnung zum Hymen hin (⊡ Abb. 18.2). Obwohl die ICS-Klassifikation sehr komplex ist, ist sie validiert und zeigte in Studien, die an sechs verschiedenen Zentren in USA und Europa durchgeführt wurden, eine gute Repro-
163 Kapitel 18 · Spezielle Urodynamik der Frau
Aa (a = anterior): Aa liegt an der vorderen Vaginalwand 3 cm oberhalb des Hymenalsaums (Region des urethrovesikalen Übergangs), beim kompletten Vorfall kann er maximal +3 betragen. Ba: tiefster Punkt des oberen Anteils der vorderen Vaginalwand: bei fehlendem Deszensus ist er –3 und damit identisch mit Punkt Aa. C (= Cervix): Position der Cervixspitze in Bezug zum Hymenalsaum D (= Douglas): Position des hinteren Scheidengewölbes bzw. des Douglas in Bezug zum Hymenalsaum Ap (p = posterior): Ap liegt an der hinteren Vaginalwand 3 cm oberhalb des Hymenalsaums, beim kompletten Vorfall kann er maximal +3 betragen Bp: tiefster Punkt des oberen Anteils der hinteren Vaginalwand: bei fehlendem Deszensus ist er –3 und damit identisch mit Punkt Ap. TVL (total vaginal length): Länge der Vagina in cm pb (perineal body): Höhe des Perinealkörpers in cm (gemessen vom Anus zur hinteren Kommissur des Scheideneinganges)
⊡ Abb. 18.2. ICS-Klassifikation des Prolapses im kleinen Becken (Pelvic Organ Prolapse Quantification – POPQ 2002)
duzierbarkeit. Sie identifiziert allerdings nicht die spezifischen Defekte des kleinen Beckens als Gesamteinheit und respektiert und erklärt nicht die Mechanismen, die für die topographischen Veränderungen verantwortlich sind. Ebenso kann sie nicht das therapeutische insbesondere chirurgische Vorgehen definieren. Für die Routine in der klinischen Praxis ist es ausreichend, zumindest das Vorhandensein und das Ausmaß einer Zystozele, einer Urethrozele, eines Uterusprolapses, einer Enterozele oder einer Rektozele zu beschreiben [13].
18.1.2 Beckenbodenmuskelstärke
Die Kontinenz ist u. a. abhängig von der Integrität des Levator ani und der urethralen Sphinktermuskulatur. Deshalb ist die Beurteilung der Kontraktilität dieser Muskeln zur Einschätzung der Genese einer Harninkontinenz, insbesondere einer Belastungsinkontinenz, von Bedeutung. Folgende Definitionen sind wichtig: ▬ Muskelstärke wird definiert als die maximale Kraft, die durch einen Muskel oder eine Muskelgruppe erzeugt werden kann. Sie gibt die Stärke, die Dauer, das Aushaltevermögen und den funktionellen Zustand der Muskulatur wieder ▬ Muskelschwäche wird definiert als eine Unfähigkeit eine zu erwartende Kraft oder Kontraktion aufzubauen ▬ Ermüdung wird definiert als ein Defekt, der es unmöglich macht, eine entsprechende Kraft zur kontinuierlichen bzw. wiederholten Kontraktion aufrechtzuerhalten
Im Wesentlichen wird die Muskelkraft durch folgende Parameter erfasst: ▬ Beobachtung ▬ digitale Palpation ▬ Messung mittels Perineometer ▬ Q-Tip-Test ▬ Messung der aktiven Kontraktion mittels Harnröhrendruckprofil. Eine ergänzende Untersuchung wäre die Messung mittels EMG, die Messung des Harnröhrendruckprofils mit Bestimmung der aktiven Drucktransmission, eine Darstellung der Morphologie durch Sonografie oder durch MRI.
18.2
Speicherstörungen
Speicherstörungen der Harnblase sind neben der Sensitivitätsstörung entweder detrusorbedingt oder auslassbedingt. Bei den detrusorbedingten Speicherstörungen unterscheiden wir die Detrusorhyperaktivität mit oder ohne Inkontinenz und die kleinkapazitäre Blase. Bei den auslassbedingten Speicherstörungen der Blase kann eine Harnröhrenhypermobilität, eine hypotone Harnröhre (gegebenenfalls rigide Harnröhre) sowie eine Hyporeaktivität der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur als Ursache vorliegen. Eine weitere seltene Form der auslassbedingten Speicherstörung liegt bei der instabilen Harnröhre als mögliche Ursache einer Belastungsinkontinenz vor (unwillkürliche Harnröhrenrelaxierung; Kap. 4).
18
164
Teil III · Spezielle Urodynamik
18.2.1 Sensitivitätsstörung
18.2.3 Auslassbedingte Speicherstörungen
(Hypersensitivität) Als Folge der gesteigerten Blasenempfindung findet sich urodynamisch im Rahmen der Füllungszystometrie ein verfrühter erster Harndrang bereits bei weniger als 100 ml Blasenfüllung, des Weiteren zeigt sich meist eine verminderte zystometrische Blasenkapazität von weniger als 200 ml. Typischerweise kommt es dabei zu keiner gleichzeitigen Detrusorhyperaktivität, außerdem liegt eine normale Compliance vor. Ursächlich dafür kann zum Beispiel ein Östrogenmangel bei der Frau vorliegen.
18.2.2 Detrusorbedingte Speicherstörung
Detrusorhyperaktivität Die Detrusorhyperaktivität ist urodynamisch dadurch charakterisiert, dass während der Füllungsphase der Blase unwillkürliche Detrusorkontraktionen stattfinden, häufig begleitet von Harndranggefühl. Diese Detrusorkontraktionen sind in Hinblick auf Häufigkeit, Intensität und Dauer nicht definiert und zeigen meist einen phasischen Verlauf. Eine weitere Form der Detrusorhyperaktivität besteht darin, dass es bei Erreichen der häufig verminderten zystometrischen Blasenkapazität zur nicht verhinderbaren Blasenentleerung kommt. Wir sprechen hier von der terminalen Detrusorhyperaktivität [1, 3]. Kommt es im Rahmen der phasischen oder terminalen Detrusorhyperaktivität zum Harnverlust, sprechen wir von Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz ( Kap. 4, ⊡ Abb. 4.1). Die Füllungszystometrie erfolgt üblicherweise mit unphysiologischer Füllungsrate und mit Hustenstößen in regelmäßigen Abständen, wobei diese Maßnahmen Provokationstests entsprechen. Die Entleerungszystometrie zeigt hier keine Besonderheiten.
Kleinkapazitäre Blase (Low-compliance-Blase)
18
Die kleinkapazitäre Blase ist urodynamisch dadurch charakterisiert, dass es während der Füllphase der Blase zu einem kontinuierlichen Anstieg des intravesikalen Druckes kommt, der auf eine pathologisch erhöhte Wandspannung der Blase (Elastizitätsverlust der Harnblasenwand) zurückzuführen ist. Für die Berechnung der Compliance dürfen eventuell zusätzlich bestehende Detrusorhyperaktivitäten nicht berücksichtigt werden. Des Weiteren ist die kleinkapazitäre Blase urodynamisch durch verfrühten ersten Harndrang sowie verminderte zystometrische Blasenkapazität charakterisiert.
Die auslassbedingten Speicherstörungen beruhen vorrangig auf einem reduzierten, insuffizienten Blasenauslass- bzw. Harnröhrenwiderstand. Dieser Defekt führ zum Harnverlust unter körperlicher Belastung (Belastungsinkontinenz). Als Ursachen dafür gelten anatomische und funktionelle Störungen ( Kap. 4 [6, 7]).
Harnröhrenhypermobilität Die Harnröhrenhypermobilität stellt die Folge eines insuffizienten bindegewebigen Aufhängeapparates dar, wobei je nach Ausmaß der bindegewebigen Schwächung entweder ein vertikaler oder ein rotatorischer Deszensus resultiert [18]. In beiden Fällen führt diese anatomische Ursache der Belastungsinkontinenz zu einer verminderten Druckübertragung auf die Harnröhre bei intraabdomineller Druckerhöhung. Urodynamisch zeigt die Füllungszystometrie ein stabiles Verhalten des Detrusors. Es besteht eine unauffällige Blasensensitivität mit erstem Harndrang zwischen 100 und 200 ml sowie einer zystometrischen Blasenkapazität von zumindest 300 ml. Kommt es unter den Hustenstößen zu synchronem Harnverlust, spricht man von einer urodynamischen Belastungsinkontinenz. Die Entleerungszystometrie zeigt bei vertikalen Deszensus meist eine sturzbachartige Entleerung mit hohen Flowraten und niedrigen Detrusordrücken. Beim rotatorischen Deszensus zeigen sich nicht selten die Zeichen einer infravesikalen Obstruktion mit Miktionsdruckerhöhung und reduziertem Flow. Das Harnröhrendruckprofil in Ruhe ergibt typischerweise einen unauffälligen maximalen Harnröhrenverschlussdruck sowie eine unauffällige funktionelle Harnröhrenlänge. Das Stressprofil ergibt eine reduzierte passive Drucktransmission im Bereich der proximalen Harnröhre von weniger als 70% als Ausdruck der Beckenbodenschwäche. Die aktive Drucktransmission im Bereich des mittleren Harnröhrendrittels als Zeichen der Kontraktionsleistung der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur zeigt typischerweise keine Auffälligkeiten ( Kap. 10, ⊡ Abb. 10.7). Zusätzlich zur urodynamischen Untersuchung sind bildgebende Verfahren (Röntgen, Ultraschall) zur Qualifizierung und Quantifizierung der Beckenbodenschwäche von großem Nutzen (⊡ Abb. 18.1).
Hypotone Harnröhre Die hypotone Harnröhre stellt eine der funktionellen Ursachen der Belastungsinkontinenz dar und ist charakterisiert durch einen verminderten Harnröhrenver-
165 Kapitel 18 · Spezielle Urodynamik der Frau
schlussdruck in Ruhe von weniger als 30 cm H2O (altersabhängig) im Harnröhrendruckprofil. Hier besteht häufig ein Defizit an (-adrenerger Stimulation über den Sympathikus, entweder konstitutionell oder durch Operationen im kleinen Becken wie nach vorderer Kolporrhaphie bedingt. Als weitere Ursachen der Harnröhrenhypotonie können Beckentraumata, Bestrahlung des kleinen Beckens mit ausgedehnter Fibrosierung sowie mehrfach durchgeführte Otisurethrotomien angeführt werden, die zu einer rigiden Harnröhre führen können. Die einzige diagnostische Möglichkeit diesen Defekt nachzuweisen besteht in der Durchführung des Harnröhrendruckprofils. Die funktionelle Harnröhrenlänge ist dabei typischerweise nicht verkürzt ( Kap. 10, ⊡ Abb. 10.6).
Hyporeaktivität der Sphinkter-BeckenbodenMuskulatur Die Hyporeaktivität der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur als weitere funktionelle Ursache der Belastungsinkontinenz bedeutet, dass es unter körperlicher Belastung oder Husten, Niesen, Lachen etc. zu einer verminderten reflektorischen Kontraktionsleistung der Sphinkter-Beckenboden-Muskulatur kommt. Daraus resultiert eine verminderte aktive Drucktransmission auf die Harnröhre. Eine Hyporeaktivität der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur liegt dann vor, wenn im Stressprofil die Druckantwortzacke im mittleren Bereich der Harnröhre in ihrer Höhe weniger als 80% der Höhe der simultanen intravesikalen Druckantwortzacke beträgt. Die einzige diagnostische Möglichkeit, diesen Defekt zu objektivieren, besteht in der Durchführung des Harnröhrenstressprofils ( Kap. 10, ⊡ Abb. 10.8). Die Ursache für diesen Defekt kann in einer Inaktivitätsatrophie oder in meist ▬ geburtstraumatischen Läsionen der Beckenbodenmuskulatur selbst oder ▬ Läsionen des Nervus pudendus liegen.
Unwillkürliche Harnröhrenrelaxation (instabile Urethra) Darunter versteht man die unwillkürliche Relaxierung der Harnröhre während der Speicherphase, gefolgt von mehr oder weniger kompletter Blasenentleerung. Diese Speicherstörung ist urodynamisch dadurch charakterisiert, dass es während der Füllphase in Abwesenheit von erhöhtem intraabdominellen Druck und in Abwesenheit einer Detrusorhyperaktivität zu Harnverlust kommt. Diesem Harnverlust geht eine intraurethrale Druckabsenkung voraus, deren Pathophysiologie nur ungenügend geklärt ist.
18.2.4 Mischinkontinenz
Besonders in höherem Lebensalter nimmt die Häufigkeit der Mischharninkontinenz zu. Dabei zeigen sich sowohl anamnestisch als auch urodynamisch einerseits die Kriterien der Dranginkontinenz mit unfreiwilligem Harnverlust in Verbindung mit imperativem Harndrang und Detrusorhyperaktivität und andererseits die Kriterien der Belastungsinkontinenz mit Harnverlust bei körperlicher Anstrengung. Hier lassen sich zwei Formen unterscheiden: Bei der ersten Form handelt es sich um zwei voneinander unabhängige Krankheitsbilder, bei der zweiten Form – der sog. stressinduzierten Dranginkontinenz – tritt bei körperlicher Belastung auf Grund einer Harnröhrenverschlussinsuffizienz Harn in die hintere Harnröhre ein, wodurch eine starke Drangsymptomatik mit nachfolgender Detrusorhyperaktivität und Dranginkontinenz resultiert. Für die Differenzierung dieser beiden Formen kann die Anamnese aufschlussreich sein: Wenn die Dranginkontinenz zeitlich vor der Belastungsinkontinenz aufgetreten ist, spricht dies für das Vorliegen von zwei voneinander unabhängigen Krankheitsbildern. Eine exakte Differenzierung kann durch die urodynamische Untersuchung mit folgender Technik erzielt werden: Als erstes wird die Füllungszystometrie auf übliche Weise mit Belastungstests durchgeführt, die die Kriterien der Dranginkontinenz aufweist. Als zweites folgt die Füllungszystometrie nach Einlage eines Vaginaltampons, der die proximale Harnröhre und den Blasenhals unterstützt. Wenn nun kein verfrühter Harndrang und keine Detrusorhyperaktivität mehr auftreten, ist der urodynamische Beweis einer stressinduzierten Dranginkontinenz geführt.
18.3
Entleerungsstörungen
Funktionsstörungen des unteren Harntraktes können sich symptomatisch stärker in einer Störung der Entleerung oder aber in einer Störung der Urinspeicherung äußern. Urodynamisch ist es wenig hilfreich, wenn man sich in der Betrachtung der Symptomatik auf eine Diagnostik bezieht, die ausschließlich eine Speicherstörung oder eine Entleerungsstörung analysiert. Es handelt sich dabei um eine künstliche Trennung, da Funktionsstörungen stets beide Phasen dieser sowohl morphologisch als auch funktionell einheitlich reagierenden Anteile von Blase und Harnröhre betreffen (⊡ Abb. 18.11). Nur die Analyse der Gesamtfunktion kann zu einem befriedigenden diagnostischen und therapeutischen Konzept führen. Jede Form einer Therapie der Speicherstörung führt automatisch zu einer Beeinträchtigung der Blasenentleerung und umge-
18
166
Teil III · Spezielle Urodynamik
⊡ Tab. 18.3. Symptome am unteren Harntrakt (»lower urinary tract symptoms« LUTS) bezogen auf Speicher- und Entleerungsfunktion Urinspeicherung
Blasenentleerung
Veränderte Miktionsfrequenz ▬ Pollakisurie, Nykturie
Veränderter Miktionsablauf ▬ Imperative Miktion, Strahlabschwächung, unterbrochener Harnstrahl, verzögerter Miktionsbeginn, verlängerte Miktionsdauer, Pressmiktion, Nachträufeln
Gestörte Sensitivität ▬ Drangsymptomatik, fehlender oder abgeschwächter Harndrang, Blasenschmerzen, Inkontinenz
Gestörte Sensitivität ▬ Restharngefühl, Algurie
kehrt. Dieses Konzept der Trennung von Speicherstörungen und Entleerungsstörungen ist jedoch aus didaktischen Gründen sinnvoll. Es soll deshalb auch in dieser Form abgehandelt werden – allerdings in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um einen Gesamtkomplex handelt, der in Symptomen resultiert, die heute als LUTS (lower urinary tract symptoms) beschrieben werden (⊡ Tab. 18.3).
18.3.1 Ungestörte Funktion
18
Unverändert nicht abgeschlossen ist die Definition einer ungestörten Funktion des unteren Harntraktes. Dies gilt besonders für die quantitative Beschreibung messtechnischer Daten zur Beurteilung einer Entleerungsstörung bei der Frau. Ein intakter unterer Harntrakt weist bei Kontinenz funktionell eine restharnfreie Miktion auf. Die Grenze der Normbereiche zum sicher pathologischen Befund ist fließend. Die individuell festzulegende Toleranz wird von vielen Faktoren beeinflusst (Alter, Geschlecht, Allgemeinzustand, Voroperationen u. Ä.), so dass allgemein gültige Regeln derzeit nicht aufgestellt werden können ( Anhang). Eine einfache funktionelle Klassifikation unterscheidet Entleerungsstörungen, die sich auf den Detrusor oder auf den Blasenauslass beziehen. Blasenstörungen können eine neurogene, myogene, psychogene oder idiopathische Ursache haben. Auslassbedingte Störungen beziehen sich auf anatomische Strukturen, die entweder mechanisch oder funktionell verändert sein können. Eine mechanische Obstruktion ist bei der Frau vornehmlich im distalen Harnröhrenbereich lokalisiert, kann jedoch auch im Blasenhalsbereich feststellbar sein, wenn auch deutlich
seltener. Hinzu kommen mechanische Momente durch eine Harnröhrenkompression, durch Harnröhrenmissbildungen (z. B. Divertikel), durch Schädigung der Harnröhrenstruktur (z. B. postaktinisch, iatrogen nach operativen Eingriffen im periurethralen Bereich). Diesen Veränderungen stehen rein funktionelle Störungen gegenüber, die sich als Detrusor-Blasenhals-Dyskoordination bzw. Detrusorsphinkterdyskoordination präsentieren und wiederum neurogene oder psychogene Ursachen haben können.
18.3.2 Sensitivitätsstörung – Hyposensitivität
(sekundäre Megazystis) Eine Störung der Sensitivität auf neurogener Basis als isoliertes Phänomen stellt eine äußerste Seltenheit dar. Andererseits kann eine zunehmende Dekompensation der Blasenentleerung mit Restharnbildung in zunehmendem Maße zu einer Vergrößerung der Blasenkapazität und zu einer Störung der Sensitivität führen, ein Phänomen das durchaus bei Frauen häufiger zu finden ist. Es sind dann Blasenvolumina von bis zu zwei Liter zu beobachten und trotz intensiver Bemühungen zur Verbesserung der Kontraktilität mit Blasentraining, Ableitung über eine suprapubische Blasenfistel, Erlernen des intermittierenden Katheterismus, verschiedene Formen der Neuromodulation und Elektrostimulation unter Einsatz von Medikamenten, die eine Detrusorstimulation bewirken sollen, ist keine Wiederherstellung der Normalfunktion zu erreichen. Vielfach bleibt lediglich der Weg des dauernden intermittierenden Selbstkatheterismus als einzige therapeutische Option. Andererseits ist öfter zu beobachten, dass eine relative Blasenhalsenge im Sinne einer mechanischen Störung (Missverhältnis zwischen Blasenhalsöffnung und Blasengröße) ursächlich für eine persistierende Entleerungsstörung mit Hypokontraktilität anzusehen ist. Bei einer gut funktionierenden externen Sphinkterstruktur kann durchaus eine Blasenhalsinzision hilfreich sein, die nach Turner-Warwick bei 4 h und 8 h, evtl. zusätzlich bei 12 h vorzunehmen ist. Eine 6 h-Inzision verbietet sich wegen des Risikos einer versehentlichen Inzision in die Vagina. Dieses pathophysiologische Konzept der Hyposensitivität mit sekundärer Megazystis und Detrusorhypokontraktilität gilt gleichermaßen für den Mann wie für die Frau. Andererseits ist die therapeutische Option bei der Frau besonders kritisch einzuschätzen. In aller Regel machen Ableitungsverfahren mit Blasentraining über sechs Wochen einen Sinn. Nach diesem Zeitraum ist die urodynamische Diagnostik mit Druckflussmessung zu wiederholen, am besten als Videourodynamik. Mit einer Besserung der Kontraktilität über diesen Zeitraum hinaus ist nach klinischen Erfahrungen nicht mehr zu rechnen, so dass man dann ein endgültiges Therapiekonzept erstellen kann.
167 Kapitel 18 · Spezielle Urodynamik der Frau
18.3.3 Detrusorbedingte Entleerungs-
störungen Myogene Hypo- bzw. Akontraktilität Eine myogene Hypo- bzw. Akontraktilität kann durch verschiedene Mechanismen verursacht sein. Sowohl eine chronische Blasenüberdehnung, eine chronische infravesikale Obstruktion und eine neurogene Läsion können die Detrusorkontraktilität herabsetzen. Die Diagnostik der Detrusorhypokontraktilität bezieht sich deshalb allein auf eine Blasendruckmessung während der Entleerungsphase, in aller Regel also auf eine Druckflussmessung. Dabei ist diagnostisch der intravesikal gemessene Druck, der Abdominaldruck und die Subtraktion zur Bestimmung des Detrusordrucks zu berücksichtigen, gleichzeitig sind jedoch die Harnflussmessung und das entleerte Volumen unter Einschluss einer Restharnmessung zu bestimmen. Mit diesen Methoden lässt sich dann die Kontraktilität erfassen und eine Analyse erstellen, ob die Detrusorhypokontraktilität bzw. -akontraktilität reversibel oder im Sinne einer irreversiblen Störung zu betrachten sind. J. Blaivas [2] hat für die Frau ein Druckflussdiagramm analog den Druckflussdiagrammen, die für den Mann erstellt wurden, errechnet und kalkuliert (⊡ Abb. 18.3). Dieses Diagramm stellt derzeit das einzige validierte System dar, um eine Obstruktion bei der Frau im Rahmen einer veränderten Kontraktilität in Relation zum maximalen Harnfluss zu bestimmen. Eine Hypokontraktilität bei der Frau liegt in aller Regel bei sämtlichen Formen einer Inkontinenz vor (⊡ Abb. 18.4). Sie stellt oft ein diagnostisches Problem dar, wenn es darum geht, präoperativ bei der Korrektur einer Harninkontinenz festzulegen, ob postoperativ durch eine Widerstandserhöhung, die im Rahmen einer Harninkontinenzoperation oftmals eintritt, mit einer Entleerungsstörung zu rechnen ist. Manchmal kann die Bestimmung der reaktiven Detrusordrucksteigerung bei einer Miktionsunterbrechung eine Hilfestellung geben, um diese Frage zu klären (Miktionsstopptest; ⊡ Abb. 18.5, [5, 17]). Auch kann durch Austamponieren der Vagina mit erneuter Druckflussmessung das Risiko für eine postoperative Entleerungsstörung eingeschätzt werden. Vielfach ist es nicht möglich, wegen exogen-psychogener Einflüsse während einer Druckflussmessung die Detrusorkontraktilität zu bestimmen, so dass man auf indirekte Parameter angewiesen ist. Beispiele hierfür sind die Harnflussmessung auf einer separaten Toilette, ergänzende Provokationstests wie Eiswassertest, Hypersensibilitätstest, eventuell auch Langzeiturodynamik, um zu einer verbesserten Diagnosestellung zu kommen. Sicher ist, dass eine über Jahre hinweg funktionslose Blase (z. B. terminale Niereninsuffizienz) in kurzer Zeit (in aller Regel nach max. 1 Woche) auf die Funktion zurückkehrt,
⊡ Abb. 18.3. Nomogramm für Frauen mit Blasenauslassobstruktion [2]
wie sie vor Ruhigstellung bestanden hat. Das bedeutet, dass eine Defunktionalisierung der Blase im Erwachsenenalter nicht zu einer irreversiblen Schädigung der Detrusormuskulatur führt. Andererseits können jedoch eine chronische Überdehnung, eine chronische Obstruktion und eine persistierende Restharnbildung mit zunehmend größeren Volumina zu einer irreversiblen myogenen Schädigung des Detrusors führen, insbesondere dann, wenn rezidivierende Infektionen oder auch eine Alterung der Blase, wie sie von verschiedenen Autoren diskutiert wird [8, 12], zusätzlich provozierend hinzukommen.
Psychogene Hypo- bzw. Akontraktilität Ein typisches psychogenes Entleerungsmuster ist dadurch charakterisiert, dass es zu Detrusorkontraktionen kommt, entweder ohne Entleerung oder mit wellenförmigen Stakkatoentleerungen (⊡ Abb. 18.6). Die fehlende Relaxation im Beckenbodenbereich kann durch ein gleichzeitig durchgeführtes bildgebendes Verfahren (Miktionsurethrozystographie) oder auch durch Messung der Beckenboden-EMG-Aktivität mittels Klebeelektroden als Massenpotential diagnostiziert werden. Wenn auch die Detrusorkontraktion bei der Frau in aller Regel mit einem geringeren Detrusordruck einhergeht als beim Mann, so ist es für die Beurteilung der Entleerungsfunktion zwingend, dass eine willkürliche Kontraktionsfähigkeit vorliegt, d. h. dass die Blasenentleerung durch einen aktiven Kontraktionsvorgang des Detrusors bewerkstelligt werden kann. Eine rein passive Entleerung durch Einsatz der Bauchpresse ist vielen Frauen möglich, sollte jedoch in der urodynamischen Diagnostik durch eine Aufforderung zu einer aktiv-willkürlich entspannten Entleerung ergänzt werden, um eine Information über die Detrusorkontraktion zu bekommen.
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Teil III · Spezielle Urodynamik
a
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⊡ Abb. 18.4. Hypokontraktilität bei Belastungsinkontinenz zweiten Grades und rotatorischem Blasendeszensus. a Pressbild im Sitzen – lateral, b Miktion im Sitzen – lateral
169 Kapitel 18 · Spezielle Urodynamik der Frau
Neurogene Hypo- bzw. Akontraktilität Neurogene Blasenstörungen werden in einem besonderen Kapitel ( Kap. 22) abgehandelt. Schwierigkeiten in der Diagnostik machen jedoch vielfach inkomplette neurogene Störungen wie sie in den Anfangsstadien der Multiplen Sklerose, einer ParkinsonErkrankung oder aber auch im Rahmen eines nicht entdeckten Tethered-cord-Syndroms bei einer Spina bifida occulta auftreten können (⊡ Abb. 18.11). Die urodynamische Diagnostik muss dann zusätzliche Provokationstests zur Diagnosestellung heranziehen. Gesteigerte Sakralreflexe, eine Beckenbodenspastik, die bei der Miktion kontinuierlich zu beobachten ist, oder eine ausgeprägte Detrusorinstabilität müssen Anlass sein, um neurologi-
sche Untersuchungen differenzierter Art zu veranlassen, eventuell unter Einschluss von Kernspinuntersuchungen des Schädels oder des Rückenmarks. Andererseits können auch Medikamente Ursache einer neurogenen oder myogenen Beeinträchtigung der Kontraktilität sein.
Idiopathische Hypo- bzw. Akontraktilität Vielfach lässt sich eine Detrusorhypo- oder -akontraktilität nur als idiopathisch einstufen und das Therapiekonzept ist entsprechend auszurichten. Gerade bei der Frau ist es wichtig, dass die Hypooder Akontraktilität bei vermuteter infravesikaler Obstruktion nicht dazu verleitet, frühzeitig und vorschnell widerstandssenkende Eingriffe durchzuführen. Dies gilt besonders, wenn der Blasenhals für die Obstruktion verantwortlich gemacht wird, um nicht bei einer Verbesserung der Kontraktilität später feststellen zu müssen, dass der Widerstand zu stark gesenkt und daraus resultierend eine Inkontinenz provoziert wurde.
Anatomische Veränderungen
Miktionsstopp
⊡ Abb. 18.5. Druckflusskurve mit Miktionsstopptest (vgl. die reaktive Drucksteigerung bei Miktionsunterbrechung)
Ein ausgeprägter vesikoureteraler Reflux kann ebenso wie ein Blasendivertikel durch ein großes Pendelvolumen zu einer Veränderung der Detrusoraktivität und -kontraktilität führen (⊡ Abb. 18.7). Dies kann sowohl eine ausgeprägte Hyperkontraktilität als auch eine Hypokontraktilität auslösen. Ein solches Pendelvolumen macht die urodynamische Einschätzung der Blasenfunktion schwierig. Der Zeitpunkt, zu dem der Flow sistiert, kann in diesen Fällen hilfreich sein um für die Diagnose einer infravesikalen Obstruktion den De-
⊡ Abb. 18.6. Psychogen verändertes Druckflussmuster (exogen ausgelöste Hemmung der Miktion im Rahmen der urodynamischen Diagnostik); charakteristisch ist das wellenförmige Druck- und Flussmuster, meist auch mit intermittierendem und verzögert einsetzenden Harnfluss
18
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Teil III · Spezielle Urodynamik
trusordruck zu bestimmen. Während Divertikel größeren Ausmaßes beim Mann häufiger zu beobachten sind, stellen diese bei der Frau eher eine Rarität dar. Ebenso ist eine ausgeprägte infravesikale Obstruktion mit einer reaktiven Detrusorhyperkontraktilität bei der Frau eher selten zu beobachten (⊡ Abb. 18.8).
Trabekulierung Das morphologische Zeichen einer Blasentrabekulierung wird vielfach dahingehend interpretiert, dass in diesen Fällen eine obstruktive Komponente vorliegen muss. Eine Trabekulierung der Blase kann jedoch auch zum einen ausgelöst werden durch eine Infektion mit Ödem oder durch eine Hyperaktivität in der Ruhephase, zum anderen durch eine chronische Überdehnung oder durch eine Hyperkontraktilität. Daraus folgt, dass eine Trabekulierung separat zu betrachten ist um zu entscheiden, ob es sich dabei um ein Phänomen des Detrusors handelt, das vornehmlich die Füllungsphase beeinträchtigt (Hyperaktivität), oder um ein Phänomen, das vornehmlich eine Störung der Entleerungsphase wiederspiegelt (Hyperkontraktilität). Andererseits ist es wichtig festzulegen, ob es sich um ein reversibles oder um ein irreversibles Phänomen handelt. Trabekulierung bedeutet nicht automatisch Obstruktion (⊡ Abb. 18.9).
18.3.4 Auslassbedingte Entleerungs-
störungen ⊡ Abb. 18.7. Massiver vesikoureteraler Reflux beiderseits bei einer Patientin mit Myelomeningozele. Das große Urinpendelvolumen in den oberen Harntrakt erschwert die Einschätzung der Compliance und der Detrusoraktivität in der Zystometrie (laterale Zystographie der Patientin)
Mechanische Obstruktion Wie bereits dargestellt, ist die mechanische Obstruktion bei der Frau am häufigsten im Bereich der distalen
18
⊡ Abb. 18.8. Videourodynamik bei Blasenhalssklerose und Detrusorhyperkontraktilität bei einer Frau
171 Kapitel 18 · Spezielle Urodynamik der Frau
⊡ Abb. 18.9. Formen der Blasenkontur in Abhängigkeit von Detrusoraktivität und -kontraktilität (Frühstadium – Spätstadium); Feintrabekulierung findet sich bei Detrusorhyperaktivität und -kontraktilität; Grobtrabekulierung oder glatte Blasenkontur findet sich bei Normooder Hypoaktivität bzw. -kontraktilität und zusätzlicher Blasenüberdehnung
Harnröhre, weniger häufig im Bereich des Blasenhalses lokalisiert. Extrem selten, wenn nicht iatrogene Behandlungsformen vorausgegangen sind, ist eine mechanische Obstruktion im Bereich der mittleren Harnröhre. Die Diagnostik der distalen Harnröhrenstenose ist viel diskutiert, die Uroflowmetrie kann bei der Diagnosestellung hilfreich sein (⊡ Abb. 18.10). Die Kalibrierung des Meatus sollte minimal 18 Charr betragen und kann urodynamisch meist nur dann diagnostiziert und nachvollzogen werden, wenn 18 Charr unterschritten sind. Ein Kalibersprung in der Harnröhre von >18 Charr stellt per se keine mechanische Obstruktion dar, hier liegt meist eine Form der Dyskoordination zwischen Blase und Sphinktermechanismus (z. B. Beckenbodenspasmus) vor. Auch ist es oft schwierig, zwischen einer nicht ausreichend lang anhaltenden Detrusorkontraktion, insbesondere im Falle einer Detrusorhypokontraktilität, und einer mehr oder weniger ausgeprägten morphologischen Engstellung der Harnröhre zu unterscheiden. Es stellt sich dann vielfach die Frage, was primär und was sekundär ist.
Funktionelle Obstruktion Eine Detrusorblasenhalsdyskoordination stellt im Rahmen einer urodynamischen Diagnostik eine schwierige Situation dar.
⊡ Abb. 18.10. Laterale Miktionszystourethrographie und Uroflowmetrie bei Meatusstenose (plateauförmiges Flussmuster)
Man findet sie beim Mann häufiger, man findet sie jedoch auch bei der Frau im Rahmen einer Strukturänderung des Beckenbodens, bei der der Blasenhals im periurethralen Gewebe nicht mehr stabil genug gehalten wird, um sich während eines koordinierten Miktionsablaufs mit der Detrusorkontraktion simultan zu öffnen (⊡ Abb. 18.1 – instabiler Blasenhals). Diese Insuffizienz der Verankerung des Blasenhalses im Sinne einer Detrusorblasenhalsdyskoordination ist eine seltene Störung im Rahmen einer Inkontinenz. Sie muss differenzialdiagnostisch abgetrennt werden von einem vorzeitigen Verschluss des Blasenhalses bei einer Detrusorhypokontraktilität mit einem vorzeitigen Abbruch der Detrusorkontraktion. Der einzige beständige Befund im Rahmen einer Blasenhalsdyskoordination ist ein abnormales Flowmuster. Es besteht Konsens darüber, dass nur eine Videourodynamik mit gleichzeitiger Druckflussmessung in der Lage ist, eine präzise Diagnose für dieses Phänomen zu liefern. Bei der Detrusorsphinkterdyskoordination ist die Diagnosestellung etwas leichter. Ursächlich beruht diese Dyskoordinationsform vornehmlich auf einer psychoge-
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Teil III · Spezielle Urodynamik
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b ⊡ Abb. 18.11. Videourodynamik bei inkompletter neurogener Blasenstörung (Z. n. Tethered-cord-Operation); a Detrusorhyperaktivität in der Füllungsphase; b Detrusorhyperkontraktilität bei Detrusorsphinkterdyskoordination durch Beckenbodenspastik (nichtrelaxierende Sphinkterobstruktion) in der Entleerungsphase
18
nen, meist sogar exogen psychogenen Störung im Rahmen der Untersuchungsverhältnisse [16], zum anderen jedoch auch im Rahmen einer inkompletten neurogenen Störung (⊡ Abb. 18.11). Während die Messung der Uroflowmetrie im Rahmen der Diagnostik der weiblichen Inkontinenz unterschiedlich beurteilt wird, ist es zweifellos von Vorteil, vor einer Druckflussmessung eine reine Harnflussmessung vorzunehmen und beide Flussmuster zu vergleichen. Dies gilt vornehmlich für solche Umstände, bei denen die Untersuchungsverhältnisse ursächlich für eine Dyskoordination verantwortlich sind. Ein völlig normales Flussmuster bei der Frau macht die Existenz einer infra-
vesikalen Obstruktion unwahrscheinlich. Ein abnormales Flussmuster kann jedoch durch eine Detrusorhypokontraktilität, eine infravesikale Obstruktion oder durch eine Kombination dieser beiden Störungen bedingt sein. In jedem Fall verlangt dies dann eine kombinierte urodynamische Untersuchung, bevor eine Antiinkontinenzoperation durchgeführt wird [15, 9]. Die Bestimmung einer Auslassobstruktion ist besonders bei Patientinnen bedeutend, die die Symptomatik einer Inkontinenz mit einer Detrusorinstabilität (Hyperaktivität) aufweisen, um letztendlich zu differenzieren, ob es sich um eine primäre oder sekundäre Instabilität (Hyperaktivität) handelt.
173 Kapitel 18 · Spezielle Urodynamik der Frau
18.3.5 Mischformen
Mischformen von Blasenentleerungsstörungen sind möglich. Häufige Kombinationen sind: ▬ mechanische und funktionelle Obstruktion ▬ infravesikale Obstruktion mit Detrusorhypokontraktilität ▬ infravesikale Obstruktion mit Blasenhyposensitivität, manchmal auch noch gleichzeitig mit Detrusorhypokontraktilität Die pathophysiologischen Aspekte der einzelnen Blasenentleerungsstörungen gehen dabei auch bei der Mischform in Kombination ein. Diagnostische Probleme können sich dann ergeben, wenn eine Obstruktion mit einer Detrusorhypokontraktilität einhergeht. Ebenso können Speicherstörungen und Entleerungsstörungen in Kombination auftreten. Dies trifft besonders für sogenannte inkomplette neurogene Schädigungen zu (⊡ Abb. 18.11). Auch führen nicht selten iatrogene Läsionen, z. B. postaktinische Schädigungen zu einer Speicherstörung, die kombiniert ist mit einer Entleerungsstörung. Man findet das Phänomen einer kleinkapazitären Blase in Kombination mit einer Rigidität der Harnröhre. Vielfach lassen sich solche Mischformen nur durch videourodynamische Untersuchung der Füllungs- und Entleerungsphase abklären.
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18
19
Spezielle Urodynamik des Mannes V. Grünewald, K. Höfner
19.1
Spezielle Aspekte der Blasenfunktionsstörung beim Mann – 176
19.2
Speicherstörungen
19.2.1 19.2.2 19.2.3
Blasenhypersensitivität – 177 Detrusorbedingte Speicherstörungen – 178 Auslassbedingte Speicherstörungen – 180
– 177
19.3
Entleerungsstörungen
19.3.1 19.3.2 19.3.3
Blasenhyposensitivität – 180 Detrusorhypokontraktilität – akontraktiler Detrusor Blasenauslassobstruktion – 183
19.4
Klinischer Wert der urodynamischen Diagnostik beim Mann – 189 Literatur
– 191
– 180 – 181
176
Teil III · Spezielle Urodynamik
19.1
19
Spezielle Aspekte der Blasenfunktionsstörung beim Mann
Funktionsstörungen des unteren Harntraktes lassen sich unabhängig vom Geschlecht urodynamisch-funktionell in Störungen der Harnspeicherfunktion und Störungen der Entleerungsfunktion unterteilen. Hierbei können sowohl die Harnspeicher- als auch die Entleerungsstörungen auf eine Fehlfunktion des Detrusors oder eine Fehlfunktion des Blasenauslasses zurückzuführen sein ( Kap. 4). Als Mischformen kommen detrusor- und auslassbedingte Störungen von Speicher- und Entleerungsfunktion in allen denkbaren Kombinationen vor, allerdings mit klinisch unterschiedlicher Häufigkeit und Relevanz. Im Gegensatz zur klinischen Situation bei weiblichen Patienten, bei denen Störungen der Harnspeicherfunktion mit dem Leitsymptom Harninkontinenz in der Praxis ganz im Vordergrund stehen, leiden männliche Patienten in erster Linie unter Störungen der Entleerungsfunktion, wobei diese vornehmlich bei den älteren Patienten in engem Zusammenhang mit dem BPH-Syndrom (benigne Prostatahyperplasie) stehen. Die grundlegenden klinischen Merkmale männlicher Patienten mit Funktionsstörungen des unteren Harntraktes, insbesondere solcher mit BPH-Syndrom, lassen sich in die drei Bereiche Symptomatik, Prostatavergrößerung und Blasenauslassobstruktion unterteilen. Wie das mittlerweile allgemein akzeptierte hierzu von T. Hald [8] entworfene Ringdiagramm (⊡ Abb. 19.1) verdeutlicht, überlappen sich die drei zentralen klinischen Merkmale, sie sind aber prinzipiell voneinander unabhängig. Grundlage des Hald-Ringdiagramms ist die Tatsache, dass in zahlreichen klinischen Studien statistisch keine Korrelation der im Diagramm aufgeführten Parameter nachgewiesen werden konnte [4, 19]. Für einen individuellen Patienten bedeutet dies, dass er zum Beispiel mit oder ohne Prostatavergrößerung symptomatisch sein und an einer infravesikalen Obstruktion leiden kann oder nicht. Das Ausmaß der Überlappung der einzelnen Felder und somit die Größe der Überlappungsbereiche spiegelt in diesem Diagramm nicht die tatsächlichen quantitativen Verhältnisse wieder. Diese sind gegenwärtig nur zum Teil bekannt. Symptome, jetzt als Symptome des unteren Harntraktes (»lower urinary tract symptoms«, LUTS), die im Zusammenhang mit Funktionsstörungen des unteren Harntraktes auftreten können, sind letztendlich die wesentlichen Gründe, die einen Patienten veranlassen, medizinische Hilfe zu suchen. Sie lassen sich in Miktionssymptome und Speichersymptome unterteilen (⊡ Tab. 19.1). In den vergangenen Jahren wurden mehrere sog. symptom-scores entwickelt [12], die anhand standardisierter Fragen eine Quantifizierung der vom Patienten angegebenen Symptomatik erlauben. Der Symptom-Score der
⊡ Abb. 19.1. Klinische Hauptaspekte der Funktionsstörungen des unteren Harntraktes beim Mann (Nach Hald et al.[8])
⊡ Tab. 19.1. Symptome des unteren Harntraktes (»lower urinary tract symptoms«, LUTS) Miktionssymptome
Speichersymptome
Startverzögerung Pressen Harnstrahlabschwächung Nachträufeln Verlängerte Miktion Restharn/Harnverhalt Überlaufinkontinenz
Pollakisurie Imperativer Harndrang Nykturie Dranginkontinenz Kleine Miktionsvolumina
American Urological Association (AUA) und der hieraus weiterentwickelte International-Prostate-Symptom-Score (I-PSS; [12]) haben mittlerweile die weiteste Verbreitung und Anwendung gefunden. Sie ermöglichen eine einfache standardisierte quantitative Erfassung der Symptomatik. Dies ist insbesondere für die Erfolgskontrolle jeder Therapie und die Vergleichbarkeit von Studien, die den therapeutischen Effekt unterschiedlicher Behandlungsverfahren im Bezug auf die Symptomatik untersuchen, von größter Bedeutung ( Anhang). In Analogie zu den vorangehend dargestellten drei klinischen Hauptmerkmalen lassen sich bei urodynamisch funktionellen Untersuchungen von männlichen Patienten mit Funktionsstörungen des unteren Harntraktes, insbesondere solchen mit BPH-Syndrom, drei prinzipiell voneinander unabhängige Hauptbefunde abgrenzen (Blasenauslassobstruktion, Detrusorhypokontraktilität und Detrusorhyperaktivität; ⊡ Abb. 19.2), die ebenso wie die klinischen Merkmale isoliert oder in unterschiedlicher Kombination nachweisbar sein können. Jeder einzelne der urodynamischen Kernbefunde, aber auch jede einzelne denkbare Befundkonstellation, kann sowohl auf eine z. B. BPH-bedingte mechanische Blasenauslassobstruktion als auch auf andere Ursachen wie altersbedingte Veränderungen oder altersassoziierte neurogene Veränderungen zurückzuführen sein, ohne
177 Kapitel 19 · Spezielle Urodynamik des Mannes
⊡ Abb. 19.2. Urodynamisch-funktionelle Befundmuster bei Männern mit Funktionsstörungen des unteren Harntraktes (Nach Hald et al. [8])
dass im Einzelfall mit den derzeit verfügbaren diagnostischen Verfahren eine Abgrenzung möglich ist. Dies hat Hald et al. [8] veranlasst, ein analoges Ringdiagramm für die bei männlichen Patienten, insbesondere bei solchen mit BPH-Syndrom, urodynamisch-funktionell potentiell nachweisbaren Befundkonstellationen zu entwerfen (⊡ Abb. 19.2). Hierin spiegeln sich folgende urodynamische Befundmuster wieder: ▬ isolierte Blasenauslassobstruktion ▬ isolierte Detrusorhypokontraktilität ▬ isolierte Detrusorhyperaktivität ▬ Blasenauslassobstruktion mit Detrusorhypokontraktilität ▬ Blasenauslassobstruktion mit Detrusorhypokontraktilität und Detrusorhyperaktivität ▬ Blasenauslassobstruktion mit Detrusorhyperaktivität ▬ Detrusorhyperaktivität mit Detrusorhypokontraktilität ▬ urodynamischer Normalbefund Offensichtlich lassen sich mit Hilfe des dargestellten Klassifikationssystems nur Patienten mit intakter Spontanmiktion erfassen, da im Falle einer akuten oder chronischen Harnretention eine der Klassifikation zugrundeliegende Druckflussmessung und Analyse natürlich nicht möglich ist. Trotz vielversprechender experimenteller Ansätze, wie z. B. der Nachweis einer infravesikalen Obstruktion durch sonografische Detrusordickenmessung [13], existiert eine allgemein akzeptierte diagnostische Lösung für dieses Problem gegenwärtig nicht.
19.2
damit zu einer funktionell verminderten Blasenkapazität führen [11]. Symptomatisch bestehen neben der Harninkontinenz Pollakisurie (in der Regel ohne Restharnbildung), imperativer Harndrang, Nykturie und bei zahlreichen Patienten Dys- oder gar Algurie, wobei Schmerzen auch kontinuierlich mit Verstärkung bei Blasenfüllung und Miktion auftreten können. Urodynamisch findet sich in der Zystometrie die Angabe eines verfrühten ersten Harndranges ohne begleitenden Detrusordruckanstieg im Sinne einer unwillkürlichen Detrusorkontraktion. Der Detrusor verhält sich während der gesamten Füllphase stabil, die Blasenentleerung erfolgt willkürlich, allerdings wegen des verstärkten Miktionsreizes verfrüht bei noch inadäquater Blasenfüllung [11]. Zur Differenzierung zwischen einer funktionell bedingten Kapazitätseinschränkung der Harnblase und einer strukturellen Kapazitätsverminderung im Sinne einer Schrumpfblase kann vergleichend eine Kapazitätsbestimmung oder besser noch eine Zystometrie in Narkose durchgeführt werden. Letztere erlaubt die Ermittlung der Compliance mit Gewinnung prognostischer Informationen und entsprechenden Auswirkungen auf die Therapieentscheidung insbesondere bei stark eingeschränkter Compliance (hyperbare Blase, Low-compliance-Blase).
Symptomatische (sekundäre) Blasenhypersensitivität Zahlreiche in der Regel lokale Faktoren, aber auch systemische Erkrankungen können das klinische und urodynamische Bild einer Blasenhypersensitivität hervorrufen. Allerdings können zahlreiche der aufgeführten Ursachen neben einer isolierten Blasenhypersensitivität auch zu einer Detrusorhyperaktivität mit identischer klinischer Symptomatik führen (s. u.). Typische Ursachen und Erkrankungen, die ganz überwiegend zu einer Blasenhypersensitivität mit oder ohne Harninkontinenz führen können, sind die Radiozystitis als Folge einer lokalen Strahlentherapie, das Carcinoma in situ der Harnblase, ein postmenopausaler Östrogenmangel und insbesondere die interstitielle Zystitis. Die beiden letztgenannten Ursachen einer Blasenhypersensitivität finden sich ausschließlich bzw. überwiegend bei weiblichen Patienten, bei denen eine Blasenhypersensitivität insgesamt deutlich häufiger als beim männlichen Geschlecht zu beobachten ist.
Speicherstörungen
19.2.1 Blasenhypersensitivität
Idiopathische (primäre) Blasenhypersensitivität
Pathophysiologisch liegt der Blasenhypersensitivität eine vermehrte Anflutung sensorischer Reize zugrunde, die zu einem verfrühten und verstärkten Harndrang und
Da die symptomatische und funktionelle Reaktion des unteren Harntraktes auf verschiedenste Noxen recht uniform ist und pathognomonische Befundkonstellationen nicht existieren, müssen prinzipiell alle Ursachen einer
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Teil III · Spezielle Urodynamik
symptomatischen Dranginkontinenz ausgeschlossen werden, bevor die Diagnose einer definitionsgemäß ursächlich ungeklärten idiopathischen Blasenhypersensitivität gestellt werden kann.
Mögliche Ursachen einer symptomatischen (sekundären) Blasenhypersensitivität oder Detrusorhyperaktivität ▬ Unspezifischer Harnwegsinfekt ▬ Spezifische Zystitis (TBC, Bilharziose) ▬ Interstitielle Zystitis ▬ Radiozystitis, Cyclophosphamidzystitis ▬ Östrogenmangel ▬ Blasenauslassobstruktion ▬ Urethraldivertikel, Urethralkarunkel, Urethralprolaps ▬ Fremdkörper, Steine ▬ Tumore (Blase, Urethra, Prostata) ▬ Beckenbodeninsuffizienz (Mischharninkontinenz) ▬ Psychogene Faktoren
In vielen Fällen wird, insbesondere wenn keine eindeutige Ursache der Blasenhypersensitivität im Sinne einer symptomatischen Hypersensitivität eruiert werden kann, eine psychogene Genese der Symptomatik vermutet, gelegentlich auch unterstellt. Auch aus eigener Erfahrung ist jedoch in aller Regel sehr schwer festzustellen, ob die durchaus bei zahlreichen Patienten mit Blasenhypersensitivität nachweisbaren psychischen Veränderungen Ursache oder Folge eines oft jahrelangen quälenden Leidensweges sind. Die Trennung einer psychogenen Genese von einer zweifellos unbefriedigenden Diagnose wie der einer idiopathischen Blasenhypersensitivität (synonym werden in diesem Zusammenhang auch die Begriffe Reizblase, Urethralsyndrom oder Urgency-Frequency-Syndrom verwendet) erscheint somit schwierig bzw. unmöglich. Die Therapie der symptomatischen (sekundären) Blasenhypersensitivität orientiert sich, sofern eine kausale Therapie möglich ist (wie z. B. beim Blasenkarzinom), an der zugrunde liegenden Erkrankung. Alle anderen, und insbesondere die idiopathischen Formen, erfordern eine symptomatische Therapie, wobei neben Anticholinergika und Alphasympatholytika auch Phytopharmaka, Analgetika, Antiphlogistika, Elektrostimulationsverfahren und verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren zum Einsatz kommen.
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19.2.2 Detrusorbedingte Speicherstörungen
Die Inzidenz der Detrusorhyperaktivität (⊡ Abb. 19.3) steigt unabhängig vom Geschlecht mit zunehmendem Alter, jedoch scheint eine zusätzliche infravesikale Obstruk-
tion die Inzidenz weiter zu erhöhen, wobei urodynamisch während der Füllungszystometrie eine phasische oder terminale obstruktionsbedingte Detrusorhyperaktivität nicht von ursächlich anders bedingten Formen unterschieden werden kann. Bisher ist unbekannt, ob die zunehmende Inzidenz der Detrusorhyperaktivität auf echte biologische Alterungsprozesse oder vielmehr auf alterungsassoziierte degenerative, metabolische und insbesondere neurogene Prozesse zurückzuführen ist. Für die Funktion des Harntraktes relevante alterungsassoziierte Prozesse sind vornehmlich Erkrankungen, die erst im höheren Lebensalter manifest werden oder ihre Spätkomplikationen erst im höheren Lebensalter entfalten. Wie bereits einleitend erwähnt wurde, lässt sich eine Detrusorhyperaktivität bei etwa zwei Drittel der Patienten mit BPH-Syndrom nachweisen, wobei diese bei etwa einem Drittel nach Durchführung einer TUR-P weiter bestehen bleibt [1]. Übereinstimmend hiermit findet sich bei 38% der über 65-jährigen Frauen, die keine BPH-bedingte infravesikale Obstruktion aufweisen, ebenfalls eine Detrusorhyperaktivität [3]. Eine Subpopulation mit möglicherweise schlechterer therapeutischer Prognose stellen Patienten mit Detrusorhyperaktivität und zusätzlich eingeschränkter Detrusorkontraktilität dar. Zur Genese einer obstruktionsbedingten Detrusorhyperaktivität werden in erster Linie neuronale Veränderungen auf Detrusorebene im Sinne einer Denervierungshypersensitivität bei Verminderung cholinerger Nervenfasern [21] sowie myogene Ursachen diskutiert, während für die Entstehung der nichtobstruktionsbedingten Detrusorhyperaktivität keine allgemein akzeptierten Konzepte existieren. Allerdings ist bekannt, dass ein wesentlicher Mechanismus bei der Entstehung der Detrusorhyperaktivität die Imbalance zwischen zentralnervösen exzitatorischen positiven Feedbackmechanismen und inhibitorischen Kontrollmechanismen darstellt [7]. Eine derartige Imbalance kann durch Läsionen neurogener Strukturen an zahlreichen Punkten des Nervensystems oder durch funktionelle Störungen innerhalb der exzitatorischen oder inhibitorischen Regelkreise hervorgerufen werden. Die Abgrenzung der nichtneurogenen von der sicher nachgewiesen neurogenen Detrusorhyperaktivität wäre demnach nur darin begründet, dass geringe neurogene Veränderungen mit den gegenwärtig verfügbaren diagnostischen Möglichkeiten nicht aufgedeckt werden können. Für die Entstehung einer neurogenen Detrusorhyperaktivität sind klinisch bedeutsame Erkrankungen z. B. Morbus Parkinson, zerebrovaskuläre Durchblutungsstörungen und degenerative Hirnabbauprozesse. Diese sog. suprapontine Läsionen führen zu einer Detrusorhyperaktivität mit koordiniertem Sphinkterverhalten und so häufig zur Harninkontinenz [7].
⊡ Abb. 19.3. BPH-assoziierte, nichtneurogene Detrusorhyperaktivität bei einem männlichen Patienten ohne Nachweis einer mechanischen infravesikalen Obstruktion
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Bei mehreren im Alter gleichzeitig vorliegenden Erkrankungen, die BPH eingeschlossen, kann es daher im Einzelfall unmöglich sein, Symptome oder urodynamische Befunde einzelnen Ursachen zuzuordnen, was die Therapie häufig sehr erschweren bzw. ihre Effizienz stark beeinflussen kann. Dies gilt insbesondere für die TUR-P bei gleichzeitig nachgewiesener Detrusorhyperaktivität. Im günstigsten (und häufigsten) Fall werden sowohl das Adenom, die subvesikale Obstruktion und die Detrusorhyperaktivität beseitigt, im ungünstigsten Fall resultiert eine unter Umständen gegenüber der klassischen anticholinergen medikamentösen Therapie der Detrusorhyperaktivität refraktäre Dranginkontinenz. Diesbezüglich besonders gefährdet sind Patienten mit den vorgenannten neurologischen Grunderkrankungen (besonders solche mit Morbus Parkinson aufgrund einer assoziierten Hypokinesie der quergestreiften Sphinktermuskulatur), welche nur nach entsprechender Aufklärung und bei urodynamisch nachgewiesener mechanischer Blasenauslassobstruktion operiert werden sollten.
19.2.3 Auslassbedingte Speicherstörungen
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Die bei Frauen im mittleren Lebensalter sehr häufige Belastungsinkontinenz als Ursache einer Harnspeicherstörung spielt beim männlichen Geschlecht quantitativ eine wesentlich geringere Rolle. Seltenere Ursachen einer Belastungsinkontinenz des Mannes sind neurogene Störungen (z. B. komplettes Kaudakonussyndrom, bilaterale N.-pudendus-Läsion nach ausgedehnten chirurgisches Interventionen im kleinen Becken) oder traumatische Affektionen der Sphinkterfunktion (z. B. im Rahmen eines supradiaphragmalen Harnröhrenabrisses). Am häufigsten jedoch findet sich die isolierte oder in Kombination mit einer Detrusorhyperaktivität auftretende Belastungsinkontinenz bei Männern als Folge iatrogener Läsionen des Kontinenzmechanismus im Rahmen operativer Eingriffe an der Prostata (sog. Postprostatektomieinkontinenz, z. B. nach radikaler Prostatovesikulektomie oder nach transurethraler Elektroresektion oder offen chirurgischer Adenomenukleation [11]). Während die Inkontinenz nach radikaler Prostatovesikulektomie wegen eines Prostatakarzinoms (Inzidenz nach Literatur zwischen 1% und 30%) ganz überwiegend auf eine isolierte Belastungsinkontinenz (bis zu 84%) zurückzuführen ist, liegt bei Patienten mit Harninkontinenz nach TUR-P oder offener Adenomenukleation wegen eines BPH-Syndroms (Inzidenz nach Literatur bei stark variierenden Angaben ca. 4%) ursächlich in erster Linie eine Dranginkontinenz auf der Basis einer Detrusorhyperaktivität (in ca. 70–80%) vor. Mischformen kommen in beiden Fällen vor und stellen, insbesondere wenn die Detrusorhyperaktivität vor
oder nach (erfolgreicher) operativer Therapie der Belastungsinkontinenz persistiert bzw. wieder oder de novo auftritt, ein besonderes therapeutisches Problem dar. Eine umfassende Basisdiagnostik einschließlich Endoskopie und eine intensive, alle verfügbaren Möglichkeiten ausschöpfende urodynamische Diagnostik, bedarfsweise unter Einschluss des beim Mann schwierig und nur mit speziellen Kathetern durchzuführenden Urethradruckprofils sowie einer Videourodynamik sind erforderlich, um die im individuellen Fall vorliegende Befundkonstellation feststellen und entsprechend therapieren zu können [11]. Trotz suffizienter diagnostischer Bemühungen ist es in vielen Fällen sehr schwierig wenn nicht unmöglich, z. B. einzuschätzen, ob eine in dieser Patientengruppe sehr häufig zusätzlich vorliegende mechanische Blasenauslassobstruktion z. B. durch eine Urethralstriktur, eine Blasenhalssklerose, eine Anastomosenstriktur oder ein Rest- bzw. Rezidivadenom Auslöser einer nachgewiesenen Detrusorhyperaktivität ist oder nicht. Eine in solchen Fällen dann erforderliche abermalige operative Intervention erfordert eine umfassende Aufklärung dieser in der Regel bereits psychisch erheblich belasteten Patienten, insbesondere hinsichtlich des nicht vorhersagbaren Erfolgs der Intervention oder gar einer Verstärkung der vorbestehenden Inkontinenz.
19.3
Entleerungsstörungen
19.3.1 Blasenhyposensitivität
Störungen der Blasensensitivität finden sich als Folge neurogener Grundleiden mit Affektion der peripheren Blaseninnervation, wobei in der Regel eine zusätzliche Hypokontraktilität infolge der meist untrennbar vergesellschafteten Mitbeteiligung motorischer Neurone nachzuweisen ist. Isolierte Störungen der Sensitivität selbst sind selten. Ein klassisches Beispiel ist die diabetische Neuropathie, die sich typischerweise schleichend und beginnend mit einem progredienten Sensitivitätsverlust entwickelt [7]. Auch bei anderen neurologischen Erkrankungen kann eine Blasenhyposensitivität als Frühsymptom (z. B. bei der Multiplen Sklerose) oder als assoziiertes Phänomen bei der peripheren Nervenschädigung als Folge ausgedehnter chirurgischer Interventionen im kleinen Becken bzw. eines Kaudakonussyndroms auftreten. Auch ohne sicher nachweisbare neurogene Ursache lässt sich bei zahlreichen Patienten mit schwerwiegenden Blasenentleerungsstörungen entweder auf der Basis einer Detrusorhypokontraktilität, aber auch bei solchen mit einer lang bestehenden, dekompensierten mechanischen oder funktionellen Blasenauslassobstruktion eine Blasenhyposensitivität feststellen. Oft ist es in fortgeschrittenen Fällen, insbesondere dann, wenn es zu einer kompletten
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Harnretention gekommen ist, nicht mehr möglich, die eigentliche Ursache der Entleerungsstörung zu ermitteln. Auch ohne fassbares neurologisches Korrelat muss auch in diesen Fällen eine (unter Umständen sekundär entstandene) neurogene Läsion zugrunde liegen, ohne dass eine solche mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten fassbar ist. Allgemein akzeptierte objektive urodynamische Kriterien zum Nachweis einer Blasenhyposensitivität existieren derzeit nicht. Die Ableitung in der Regel elektrisch induzierter evozierter Potentiale bzw. sensibler Reizschwellenbestimmungen findet gegenwärtig lediglich in der Forschung, nicht aber in der klinischen Routine Anwendung. Hier wird die Blasensensitivität nur indirekt und sehr subjektiv durch das Blasenfüllungsvolumen bei erstem bzw. starkem Harndrang, bzw. durch die Blasenkapazität im Rahmen der Füllungszystometrie erfasst. Diese Parameter sind bei der Blasenhyposensitivität in Richtung höherer Volumina im Vergleich zur Norm verschoben. Eine therapeutische Beeinflussung der Blasenhyposensitivität ist in der Regel schwierig. Sie gelingt – wenn überhaupt – nur bei nichtneurogenen oder inkompletten neurogenen Affektionen durch Einsatz elektrischer Neuromodulationsverfahren.
19.3.2 Detrusorhypokontraktilität –
akontraktiler Detrusor Eine Detrusorhypokontraktilität (⊡ Abb. 19.4) oder Detrusorakontraktilität kann sich, wie im nachfolgenden Abschnitt dargestellt, sekundär als Folge einer infravesikalen Obstruktion entwickeln. Der Sonderfall einer sekundären, unter Umständen ebenfalls als Folge einer infravesikalen Obstruktion entstandenen Detrusorhypokontraktilität bei im Sinne eines Windkessels Energie verbrauchenden anatomischen Veränderungen wie z. B. Blasendivertikeln oder hochgradigem vesikorenalem Reflux sei in diesem Zusammenhang an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Solche Veränderungen als Ursache einer Detrusorinsuffizienz können durch alleinige urodynamische Diagnostik nicht erkannt werden. Sie erfordern eine separate oder besser simultane Bildgebung (Videourodynamik [11]). Diagnostisch problematisch sind des Weiteren Fälle mit kompletter Harnretention, bei denen aufgrund der fehlenden Spontanmiktion eine urodynamische Abgrenzung (mittels Druckflussmessung und Druckflussanalyse) einer Detrusorhypokontraktilität als Folge einer Blasenauslassobstruktion zur primären Detrusorhypokontraktilität, formell myogener, neurogener oder psychogener Genese, nicht mehr möglich ist. Als Ursachen einer primären myogenen Detrusorhypokontraktilität kommen neben metabolischen Faktoren
(z. B. Diabetes mellitus, Hypothyreose) Veränderungen im Bereich von Neurotransmittern und Modulatoren oder Abnormitäten in der Zusammensetzung und Struktur der kontraktilen Proteine in Betracht. Bei neurogenen Grundleiden mit Beteiligung des peripheren motorischen Neurons findet sich ebenfalls eine Detrusorhypo- bzw. Detrusorakontraktilität. Seine Aussagekraft ist jedoch umstritten. Die psychogene Detrusorinsuffizienz stellt eine wie in all solchen Fällen problematische Ausschlussdiagnose dar. In zahlreichen Fällen, insbesondere in Endstadien mit kompletter Harnretention wird in der Praxis die Suche nach einer der aufgeführten Ursachen erfolglos bleiben und die Detrusorhypokontraktilität als idiopathisch bezeichnet werden müssen. In jedem Fall entwickelt sich eine Detrusorhypokontraktilität bei beiden Geschlechtern mit zunehmendem Alter, wobei bisher unbekannt ist, welcher oder welche der vorgenannten pathophysiologischen Mechanismen hierfür verantwortlich sind. Van Mastrigt und Mitarbeiter [22] untersuchten 291 Frauen und 225 Männer mit unterschiedlichen Funktionsstörungen des unteren Harntraktes mit urodynamischen Druckflussuntersuchungen und ermittelten die Detrusorkontraktilität. Sie fanden sowohl bei den Männern als auch und besonders ausgeprägt bei den Frauen eine eindeutige und statistisch hochsignifikante (p<0,001) Abnahme der Detrusorkontraktilität mit zunehmendem Lebensalter. Homma et al. [10] untersuchten 65 Männer und 51 Frauen zwischen 34 und 84 Jahren ohne Angabe von Miktionsbeschwerden urodynamisch. Sie fanden eine Abnahme der zystometrischen Blasenkapazität mit zunehmendem Alter bei beiden Geschlechtern. Darüber hinaus stellten sie ebenfalls für beide Geschlechter eine statistisch signifikante Abnahme von maximalem Detrusordruck und maximalem Harnfluss als Ausdruck einer Abnahme der Detrusorkontraktilität mit zunehmendem Alter fest. Übereinstimmend mit der erwähnten Untersuchung von van Mastrigt [22] fand sich diese Veränderung ausgeprägter bei den untersuchten Frauen. Es gilt mittlerweile als allgemein akzeptiert, dass bei ca. 30% der Patienten mit BPH-Syndrom anhand urodynamischer Kriterien eine infravesikale Obstruktion nicht nachgewiesen werden kann. In einer Untersuchung von Rosier und Mitarbeitern [18] fand sich bei 25,3% von 154 unselektierten Männern eine eingeschränkte Detrusorkontraktilität ohne Nachweis einer infravesikalen Obstruktion und bei weiteren 4,5% eine normale Detrusorkontraktilität, ebenfalls ohne Nachweis einer infravesikalen Obstruktion. Während die Patienten mit normaler Detrusorkontraktilität kaum symptomatisch waren, ähnelten die von den Patienten mit Detrusorhypokontraktilität angegebenen Symptome denen der Patienten mit nachgewiesener Obstruktion.
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⊡ Abb. 19.4. Druckflussmessung bei einem Mann mit Detrusorhypokontraktilität ohne mechanische infravesikale Obstruktion
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183 Kapitel 19 · Spezielle Urodynamik des Mannes
19.3.3 Blasenauslassobstruktion
Mechanische Blasenauslassobstruktion Die gegenwärtig optimale Methode zur Untersuchung und Analyse der Blasenentleerungsfunktion stellt die Druckflussmessung mit simultaner Aufzeichnung von Detrusordruck und Harnfluss dar. Eine getrennte Berechnung relevanter Widerstandsfaktoren im Bereich der Urethra (interner Sphinktermechanismus – Prostata – externer Sphinktermechanismus) ist bisher nicht möglich. Auf der Basis umfangreicher Untersuchungen zur Hydrodynamik des Flusses in elastischen Röhren wurde daher von D. Griffiths als Parameter zur Charakterisierung der mechanischen infravesikalen Obstruktion die mittlerweile allgemein akzeptierte sog. Urethralwiderstandsrelation (»urethral resistance relation«, URR) vorgeschlagen [5]. Die Urethralwiderstandsrelation spiegelt eine komplette individuelle Miktion in einem sog. Druckflussplot (P-Q-Plot) wieder, wobei die Zeitachse verloren geht (⊡ Abb. 19.5). Der minimale urethrale Widerstand während der Miktion findet sich in einem solchen Druckflussplot immer im Bereich des niedrigsten Detrusordruckes. Im Falle einer kompletten Relaxation der aktiven Sphinktermechanismen entspricht dieser Bereich dem durch passive urethrale Gewebseigenschaften hervorgerufenen mechanischen Widerstand und damit dem Grad der mechanischen infravesikalen Obstruktion. Zur Vereinfachung der Interpretation der oft komplizierten Hysteresen des Druckflussplots wurden von verschiedenen Autoren unterschiedliche Konzepte erarbeitet [2, 9, 17, 20], die Gegenstand einer intensiven Diskussion waren und sind. Stellvertretend soll an dieser Stelle das von Schäfer [20] vorgeschlagene Konzept dargestellt werden, das den gesamten Druckflussplot in die Analyse einbezieht: Vereinfacht erfolgt eine Markierung der Flanke niedrigen Druckes des Druckflussplots durch eine vereinfachte Kurve (⊡ Abb. 19.6), die sog. passive Urethralwiderstandsrelation (PURR). Im Bereich dieser in engstmöglicher Anlehnung an den P-Q-Plot (URR) anhand spezifischer Algorithmen computerunterstützt berechneten Kurve liegen die Punkte des geringsten für eine individuelle Miktion möglichen mechanischen Widerstandes. Grad und Form der mechanischen infravesikalen Obstruktion werden durch den Fußpunkt (Schnittpunkt mit der Druckachse) und die Steigung der PURR-Kurve charakterisiert. Der Fußpunkt der Kurve reflektiert hierbei den Urethralöffnungsdruck, während der Anstieg der Kurve die urethrale Elastizität und Distensibilität wiederspiegelt. Beide Parameter charakterisieren somit unabhängig voneinander verschiedene Formen möglicher infravesikaler Obstruktion, die im individuellen Fall, insbesondere bei BPH-Patienten, auch in Kombination nachweisbar sein können.
⊡ Abb. 19.5. Schematische Darstellung der Urethralwiderstandsrelation (URR). Unter Eliminierung der Zeitachse entsteht ein Druckflussplot (P-Q-Plot) durch Auftragung der zum jeweiligen Zeitpunkt korrespondierenden Detrusordruck- (pdet) und Harnflusswerte (Flow) in ein zweidimensionales Diagramm
⊡ Abb. 19.6. Markierung der Flanke des P-Q-Plots im Bereich des niedrigsten Druckes durch eine quadratische Funktion, die sog. passive Urethralwiderstandsrelation (PURR). Die PURR repräsentiert den minimalen (mechanischen) Widerstand während der Miktion. Der Fußpunkt der PURR (Schnittstelle mit der y-Achse) repräsentiert den Urethralöffnungsdruck, der Anstieg die elastischen Eigenschaften der geöffneten Urethra
Eine gegenüber der nichtobstruierten Situation (⊡ Abb. 19.7) erfolgende Verschiebung des Fußpunktes in Bereiche höheren Druckes wird in diesem Zusammenhang als sog. elastische, kompressive Obstruktion (⊡ Abb. 19.8), eine durch Abnahme des Anstieges der Kurve gekennzeichnete Situation als unelastische, konstriktive Obstruktion bezeichnet (⊡ Abb. 19.9). Pathophysiologisch ist eine kompressive Obstruktion (häufig »klassischer« Befund bei BPO) dadurch gekennzeichnet, dass ein hohes Maß an Energie erforderlich ist, um die Urethra zu öffnen und den Flow zu initiieren (hoher PURR-Fußpunkt), während wenig Energie aufgewendet werden muss, um den Fluss nach Beginn aufrechtzuerhalten (steiler PURR-Anstieg). Umgekehrt ist
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⊡ Abb. 19.7. Normale Blasenentleerung bei einem Mann ohne mechanische infravesikale Obstruktion
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⊡ Abb. 19.8. Kompressive (elastische) Form der mechanischen infravesikalen Obstruktion (Erläuterung im Text)
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⊡ Abb. 19.9. Konstriktive (unelastische) Form der mechanischen infravesikalen Obstruktion (Erläuterung im Text)
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bei einer konstriktiven Obstruktion (z. B. bei Urethralstriktur, Blasenhalssklerose) wenig Energie erforderlich, die Urethra zu öffnen und den Flow zu initiieren (niedriger PURR-Fußpunkt), während es eines hohen Maßes an Energie zur Aufrechterhaltung des Flusses bedarf (flacher PURR-Anstieg).
Funktionelle Blasenauslassobstruktion In Anlehnung an das Schäfer-Konzept [20] sind alle Abweichungen des Druckflussplots von der passiven Urethralwiderstandsrelation (PURR) in Richtung höherer Detrusordrucke durch urethrale Muskelaktivität bedingt und werden als sog. dynamische Urethralwiderstandsrelation (DURR) bezeichnet (⊡ Abb. 19.10). Die dynamische Urethralwiderstandsrelation lässt sich graphisch nach computerunterstützter Berechnung der einzelnen Werte in Relation zur Zeitachse darstellen [20] und repräsentiert die Summe aller funktionell wirksamen obstruktiven Komponenten während der Miktion. Eine ätiologische und quantitative Differenzierung einzelner funktionell obstruktiv wirksamer Komponenten (z. B. durch Kontraktion quergestreifter oder glatter Muskulatur hervorgerufene Widerstandserhöhungen) ist mit Hilfe der DURR (»dynamic urethral resistance relation«) allein nicht möglich. Allerdings kann durch simultane Mitregistrierung des Beckenboden-EMG bzw. durch videourodynamische Untersuchungstechnik die diesbezügliche Beurteilung erleichtert werden.
⊡ Abb. 19.10. Schematische Darstellung des Effektes einer willkürlichen Kontraktion des externen Urethralsphinkters während der Miktion: Als Folge der Muskelkontraktion kommt es zu einer Abnahme der Flussrate (Q) und einer Zunahme des Detrusordruckes (Pdet). Im Druckflussplot (URR) stellt sich dies als eine temporäre Abweichung des Plots in Richtung höheren Druckes und niedrigeren Flusses dar. Abweichungen des Druckflussplots von der passiven Urethralwiderstandsrelation (PURR) in Richtung höheren Druckes werden durch dynamische Prozesse im Bereich der Urethra (z. B. glattmuskuläre oder quergestreifte Muskelkontraktionen) hervorgerufen und können als sog. dynamische Urethralwiderstandsrelation (DURR) wiedergegeben werden
Variationen des funktionell dynamischen Auslasswiderstandes können durch wechselnde Aktivität glatter und quergestreifter Muskulatur im Bereich der Urethra hervorgerufen werden. Die funktionell wirksame quergestreifte Muskulatur findet sich in erster Linie im Bereich des Beckenbodens und des M. sphincer urethrae transversostriatus. Sie wird über den N. pudendus somatomotorisch innerviert und unterliegt der willkürlichen Kontrolle. Ausgeprägte Aktivitätssteigerungen bei Miktionseinleitung oder während der Miktion im Sinne einer Detrusorsphinkterdyskoordination (nichtneurogen) bzw. Detrusorsphinkterdyssynergie (neurogen; ⊡ Abb. 19.11) können sowohl durch direkte Erhöhung des urethralen Widerstandes als auch durch Aktivierung inhibitorischer neurogener Mechanismen mit Auswirkungen auf die Detrusorkontraktilität zu Blasenentleerungsstörungen führen. Glatte Muskulatur findet sich im Bereich des Blasenhalses, der proximalen Urethra und im stromalen Anteil der Prostata. Sie ist über Alpha-1-Rezeptoren viszeromotorisch sympathisch innerviert und unterliegt nicht der willkürlichen Kontrolle. Eine funktionelle Obstruktion im Bereich des Blasenhalses kann ebenfalls Ursache einer Blasenentleerungsstörung sein (Detrusor-Blasenhals-Dyskoordination oder Dyssynergie). Eine solche funktionelle Obstruktion im Blasenhalsbereich ist ungleich seltener als die funktionelle Obstruktion im Bereich des quergestreiften Sphinktermechanismus bzw. auch seltener als eine mechanische (narbige) Obstruktion im Sinne einer Blasenhalssklerose als Folge vorausgegangener operativer Eingriffe. Obwohl in der Druckflussanalyse bei einer funktionellen Obstruktion im Bereich des Blasenhalses häufig eine konstriktive Form der Obstruktion nachweisbar ist, lässt sich die sichere Diagnose nur durch simultane bildgebende Untersuchungstechnik (Videourodynamik) stellen. Die Bedeutung der glattmuskulären Strukturen im Bereich des Blasenauslasses für die BPH-assoziierte Blasenentleerungsstörung ist im Rahmen klinischer Studien zur Wirksamkeit von Alpharezeptorenblockern umfangreich untersucht worden. Im Hinblick auf die klinische Symptomatik ist ein statistisch signifikanter Effekt nachweisbar, während hinsichtlich der Auswirkungen auf die infravesikale Obstruktion eher geringe Effekte beschrieben werden.
Auswirkungen der Blasenauslassobstruktion Teilaspekte der hier beschriebenen Auswirkungen einer infravesikalen Obstruktion, insbesondere Veränderungen der Detrusorfunktion, Restharnbildung und Harnretention, sind nicht ausschließlich auf eine infravesikale Obstruktion zurückzuführen, sondern können ebenso auf einer primären Störung der Detrusorfunktion oder einer Detrusorfunktionsstörung aus anderen Gründen beruhen.
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⊡ Abb. 19.11. Detrusorsphinkterdyskoordination bei einem jungen Mann mit zusätzlich bestehender nichtneurogener Detrusorhyperaktivität. Infolge unwillkürlicher Kontraktion des quergestreiften Urethralsphinkters kommt es temporär zu einem kompletten Sistieren des Harnflusses (Flow) begleitet von einem Anstieg des intravesikalen Druckes (Pves) und des Detrusordruckes (Pdet). Als Ausdruck der funktionellen Erhöhung des infravesikalen Widerstandes findet sich zum Zeitpunkt der quergestreiften Muskelkontraktion eine Zunahme der dynamischen Urethralwiderstandsrelation (DURR) sowie der Aktivität des Beckenboden EMG mit entsprechender Abnahme nach Wiedereinsetzen des Harnflusses bei fortdauernder Detrusorkontraktion sowie Erschlaffen der quergestreiften Sphinktermuskulatur
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Bei Vorliegen einer infravesikalen Obstruktion ist der Detrusor in der Regel nicht in der Lage, ausreichend zusätzliche Kraft zu generieren, um einen normalen Harnfluss aufrechtzuerhalten. Es kommt daher zu einem reduzierten Flow bei erhöhtem Detrusordruck. Dieser direkte Effekt einer infravesikalen Obstruktion reflektiert lediglich fundamentale mechanische Eigenschaften einer Muskelkontraktion, die durch die Hill-Kraft-Geschwindigkeits-Relation beschrieben werden kann. Der Anstieg des Detrusordruckes bei infravesikaler Obstruktion ist daher nicht notwendigerweise auf eine Detrusorhypertrophie oder andere strukturelle, physiologische oder neurogene Veränderungen der Blase zurückzuführen, sondern stellt eine umgehende myogene Reaktion auf einen verminderten Harnfluss dar. Als Folge einer verminderten Harnflussrate infolge Obstruktion ist die Miktionszeit verlängert, so dass die Detrusorkontraktion länger aufrechterhalten werden muss, um eine restharnfreie Blasenentleerung zu erreichen. Dies gelingt, solange keine der nachfolgend dargestellten Sekundärveränderungen eingetreten sind [6]. Als Folge einer fortbestehenden infravesikalen Obstruktion kommt es aufgrund des fortgesetzt erhöhten Detrusordruckes und der prolongierten Miktion zu einer Hypertrophie der Detrusormuskulatur mit Zunahme der Blasengesamtmasse. Trotz dieses Vorganges konnte tierexperimentell gezeigt werden, dass die Kontraktilität der hypertrophierten Muskulatur gegenüber der normalen Muskulatur deutlich vermindert ist [21]. Die verminderte Kapazität der hypertrophierten Detrusormuskulatur, Kraft zu generieren, wird auf einen verminderten Gehalt kontraktiler Proteine bei gleichzeitig vermehrtem Gehalt an nichtkontraktilen Proteinen im Sinne einer Fibroelastose zurückgeführt. Erhöhter Restharn findet sich häufig in Assoziation mit einer infravesikalen Obstruktion, allerdings ist die Korrelation nicht sehr ausgeprägt und die intraindividuelle Variabilität groß. Nach einer Studie von Abrams und Griffiths [2] ließ sich eine signifikante Restharnbildung (>50 ml) bei 50% nichtobstruktiver älterer Männer nachweisen, während sich bei 31% der Männer mit nachgewiesener infravesikaler Obstruktion kein signifikanter Restharn nachweisen ließ. Die vorhandenen Informationen zum Thema Restharn sind erstaunlicherweise sehr begrenzt und in erster Linie hypothetisch. Man geht davon aus, dass die Restharnbildung multifaktoriell bedingt ist, wobei eine infravesikale Obstruktion nur einen möglichen verantwortlichen Faktor darstellt. In jedem Fall lässt das Vorhandensein von Restharn keinen Rückschluss auf das Vorliegen einer infravesikalen Obstruktion zu, darüber hinaus stellt Restharnbildung keinen prädiktiven Parameter im Hinblick auf einen Erfolg operativer Maßnahmen bzw. im Hinblick auf möglicherweise eintretende Folgeveränderungen am unteren und oberen Harntrakt dar. Nach Griffiths [6] stellt Restharnbildung in erster Linie ein Zeichen abnormer Detrusorfunktion dar.
Das Auftreten einer akuten Harnretention ist häufig nicht Folge eines schleichenden progredienten Prozesses, sondern ein plötzliches durch provozierende Faktoren begünstigtes Ereignis. Urethradruckprofile, die in der Phase der akuten Harnretention durchgeführt wurden, lassen vermuten, dass die primäre Ursache der Retention im Bereich der prostatischen Urethra lokalisiert ist. Als kausale Faktoren einer akuten Harnretention werden neben einem erhöhten Sympathikotonus eine distensionbedingte reduzierte sensorische Perzeption bzw. akute Prostatainfarkte oder Entzündungen diskutiert, ohne dass diese Vermutungen gesichert wären. Bekannt ist dagegen, dass der Detrusor aufgrund abnehmender Kontraktilität bei Überdehnung der glatten Muskelfasern über das ideale Maß hinaus nur einen geringeren Druck aufbringen kann. Die Genese einer sich schleichend entwickelnden chronischen Harnretention ist unklar, nicht zuletzt, da im Falle einer kompletten Retention Druckflussmessungen nicht mehr durchführbar sind oder aber die Detrusorfunktion bereits so weit eingeschränkt ist, dass nicht mehr geklärt werden kann, ob dieses eine Ursache oder eine Folgeerscheinung darstellt. Von Parys und Mitarbeitern [16] wird als Ursache einer chronischen Harnretention eine sensorische bzw. propriozeptive Abnormität im Bereich des Zentralnervensystems vermutet. In der Regel ist die Compliance der Blase bei chronischer Retention stark erhöht. Seltene Fälle mit verminderter Compliance müssen differentialdiagnostisch abgegrenzt werden, da sie ein erhöhtes Risiko der Entwicklung von Schäden am oberen Harntrakt beinhalten. Einschränkungen der Nierenfunktion, die sich in der Regel nach zweiwöchiger Katheterdauerableitung verbessern, werden bei Patienten mit BPH-Syndrom in 15–20% der Fälle beschrieben. Obwohl nach klassischen pathophysiologischen Vorstellungen Detrusordekompensation und Schädigung des oberen Harntraktes als zu erwartende Endstadien angesehen werden und zur Prävention die Indikation zur chirurgischen Behandlung der BPH abgeleitet wird, liegen sehr wenige Daten zur Relation zwischen Nierenfunktion und chronischer infravesikaler Obstruktion vor. Hauptfaktoren einer Schädigung des oberen Harntraktes sind konstante hohe Detrusordrücke, extreme Dehnung der Blasenwand und verminderte Compliance.
19.4
Klinischer Wert der urodynamischen Diagnostik beim Mann
Aus rein wissenschaftlicher Sicht muss heute die urodynamische Diagnostik bei Funktionsstörungen des unteren Harntraktes des Mannes als uneingeschränkt sinnvoll bewertet werden. Trotz ihrer Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die eindeutige Identifikation der im individuellen Fall ei-
19
190
19
Teil III · Spezielle Urodynamik
ner bestimmten Funktionsstörung zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen ist sie gegenwärtig die einzige Untersuchungstechnik, die individuell eine Funktionsstörung des unteren Harntraktes umfassend beschreiben, klassifizieren und quantifizieren kann. Hierbei sollte und kann der urodynamische Befund nicht isoliert von der Anamnese und den Befunden der urologischen Basisdiagnostik beurteilt werden. Prinzipiell wäre es auf diese Weise möglich, ein individuelles, an der zugrunde liegenden Funktionsstörung orientiertes Therapiekonzept für jeden Patienten zu entwickeln, solche mit BPH-Syndrom eingeschlossen. Wesentliche Eckpunkte einer solchen individuellen therapeutischen Entscheidung könnten die voneinander unabhängige Symptomatik des Patienten und der urodynamische Befund sein. Hierbei sollte die therapeutische Empfehlung in erster Linie von der Invasivität und Morbidität, aber auch von der zu erwartenden Effektivität des in Aussicht genommenen Therapieverfahrens bestimmt werden. Dies gilt insbesondere für Patienten mit BPHSyndrom und zwar sowohl im Hinblick auf eine symptomatische Besserung als auch hinsichtlich der Reduktion einer unter Umständen bestehenden infravesikalen Obstruktion (⊡ Abb. 19.12; ⊡ Abb. 19.13). Eine gegenwärtig ohne obligate urodynamische Diagnostik vermutlich häufig erfolgende isolierte Behandlung der Symptomatik (z. B. mit Phytopharmaka, Alphablockern, Anticholinergika oder Finasterid) ohne ergänzende Therapie einer nachgewiesenen mechanischen Obstruktion (Erzeugung einer »stummen« Obstruktion) sollte in jedem Fall vermieden werden. Die Realität des klinisch-urologischen Alltags weist jedoch häufig mit der zuvor dargestellten Idealsituation nur wenige Gemeinsamkeiten auf. Der Stellenwert der Druckflussmessung in der Abklärung von männlichen Patienten mit Funktionsstörungen des unteren Harntraktes ist in der urologischen Praxis derzeit gering. Die Gründe hierfür sind in erster Linie darin zu suchen, dass solche Funktionsstörungen, insbesondere beim BPH-Syndrom, sehr häufig sind, und dass demgegenüber die Druckflussmessung zeitaufwendig ist und schlecht vergütet wird. Gegenwärtig wird die Therapie des BPH-Syndroms in erster Linie aus Symptomen und klinischen Parametern wie Prostatagröße und Restharn abgeleitet. Ergänzend gehört die Uroflowmetrie als urodynamische Untersuchung zur Basisdiagnostik. Trotzdem ist auch die Kombination dieser Parameter nicht geeignet, eine funktionelle Charakterisierung der zugrunde liegenden Mechanismen einer Funktionsstörung des unteren Harntraktes präzise vorzunehmen. Entsprechend des am Anfang des Kapitels dargestellten überkommenen pathophysiologischen Verständnisses erfolgt die Therapie des Patienten dessen Wunsch entsprechend initial zumeist symptomorientiert mit Phyto-
nE-TUMT
hE-TUMT TUNA
Vaporisierung Laser
Enukleation TURP
Alpha-Blocker Finasterid Placebo/ Watchful Waiting
⊡ Abb. 19.12. Wahrscheinlichkeit der Symptomverbesserung durch verschiedene Therapieverfahren des BPH-Syndroms in Abhängigkeit von der Invasivität
Enukleation TURP Vaporisierung Laser hE-TUMT TUNA nE-TUMT Alpha-Blocker Finasterid Placebo/ Watchful Waiting
⊡ Abb. 19.13. Veränderung der mechanischen infravesikalen Obstruktion durch verschiedene Therapieverfahren des BPH-Syndroms in Abhängigkeit von der Invasivität
pharmaka, Alphablockern, Finasterid oder Anticholinergika. Bei nicht mehr ausreichender Wirksamkeit erfolgt dann in der Regel die Klinikeinweisung zur operativen Therapie, üblicherweise in Form einer transurethralen Resektion der Prostata. Angesichts einer seit Jahrzehnten konstanten Morbidität der TUR-P von etwa 18% sowie der Tatsache, dass keine Korrelation zwischen Symptomen, Prostatagröße und urodynamisch nachweisbarer infravesikaler Obstruktion besteht und ferner etwa ein Drittel unselektierter symptomatischer BPH-Patienten keine mechanische infravesikale Obstruktion aufweist, lässt sich eine derart unselektive therapeutische Vorgehensweise schwer rechtfertigen. Dies insbesondere, zumal die urodynamische Diagnostik nachweislich objektive Kriterien zur Verfügung stellen kann, die eine selektive, adaptierte individuelle Therapie ermöglichen. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten wäre es sicher sinnvoll, eine ungezielte Therapie der Patienten
191 Kapitel 19 · Spezielle Urodynamik des Mannes
im Sinne einer Therapiekaskade zu vermeiden und stattdessen die gesundheitsökonomischen Ressourcen in eine gezielte Diagnostik und Therapie zu investieren. Im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich Wünschenswertem und ökonomisch Machbarem haben sich die nationalen und die internationalen urologischen Fachgesellschaften bemüht, Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des BPH-Syndroms zu erstellen [14, 15]. All diesen Leitlinien ist gemeinsam, dass die Druckflussmessung gegenwärtig als ausschließlich fakultativ in bestimmten Fällen empfohlen wird. Hierzu zählen insbesondere Patienten mit bekannten oder vermuteten neurologischen Begleiterkrankungen, Patienten nach erfolgloser operativer Therapie oder solche mit Komplikationen nach operativer Therapie einer BPH. Darüber hinaus wurden in diesen Leitlinien [14, 15, 17] sowie in den Empfehlungen der International Consultation on BPH [8] absolute Operationsindikationen beim BPH-Syndrom formuliert. Hierzu gehören, soweit sie als Folge einer BPH auftreten: ▬ rezidivierender Harnverhalt ▬ rezidivierende Harnwegsinfekte ▬ rezidivierende Makrohämaturien ▬ Harnblasensteine ▬ große Blasendivertikel ▬ postrenale Niereninsuffizienz bzw. Nierenversagen Überarbeitete, an neuere Forschungsergebnisse adaptierte Versionen der entsprechenden Leitlinien sind in naher Zukunft zu erwarten bzw. bereits in Vorbereitung. Eine Stärkung des Stellenwertes der urodynamischen Diagnostik in der Abklärung von Funktionsstörungen des unteren Harntraktes des Mannes zeichnet sich vorsichtig ab.
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19
20
Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes D. Schultz-Lampel, M. Goepel, B. Schönberger †
20.1
Definitionen
20.1.1 20.1.2
Enuresis – 194 Kindliche Harninkontinenz
– 194 – 194
20.2
Ätiologie und Pathophysiologie
20.2.1 20.2.2
Enuresis – 194 Kindliche Harninkontinenz
– 194
– 195
20.3
Diagnostik
20.3.1 20.3.2 20.3.3
Basisdiagnostik – 197 Weiterführende Diagnostik – 199 Häufigste urodynamische Befunde – 206
20.4
Wertigkeit der Urodynamik – 209
20.5
Schlussfolgerungen Literatur
– 197
– 209
– 209
194
Teil III · Spezielle Urodynamik
20.1
Definitionen
Einnässen ist eines der häufigsten urologischen Symptome im Kindesalter. Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) und des Arbeitskreises Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau unterscheiden wir heute streng zwischen Enuresis und kindlicher Harninkontinenz [42–46].
20.1.1 Enuresis
Die Enuresis ist definiert als alleiniges Einnässen im Schlaf in mindestens zwei Nächten pro Monat nach dem 5. Lebensjahr ohne Tagsymptomatik oder Harnwegsinfekte. Synonym werden die bisher gebräuchlichen Begriffe Enuresis nocturna, unkomplizierte Enuresis, monosymptomatische Enuresis und enuretisches Syndrom verwendet. 33% der 5-Jährigen nässen noch nachts ein. Bei einer spontanen Remissionsrate von 15% pro Jahr sinkt die Enuresisrate bei den 8-Jährigen auf 18%, bei den 11-Jährigen auf 7% und auf 0,7% bei den 17-Jährigen ab [4, 23]. Eine Persistenz des Einnässens über das 18. Lebensjahr wird als adulte Enuresis bezeichnet. 75–80% der Enuretiker haben ein von Geburt an persistierendes nächtliches Einnässen ohne längere trockene Phasen, d. h. eine primäre Enuresis. Die sekundäre Enuresis beschreibt ein erneutes Einnässen nach einer bereits vorausgegangenen mindestens 6-monatigen trockenen Phase (⊡ Tab. 20.1).
20.1.2 Kindliche Harninkontinenz
Bei 15–20% der Kinder mit Einnässen bestehen zusätzliche oder alleinige Tagsymptome wie Pollakisurie, Dysurie, imperativer Harndrang, Urinverlust oder Harnwegsinfekte, die häufig mit körperlichen oder neurologischen Auffälligkeiten sowie Anomalien des Harntraktes assoziiert sind. Diese Form des Einnässens wird heute als kindliche Harninkontinenz bezeichnet. Bisher gebräuchliche Synonyme sind Enuresis diurna bzw. kombinierte Enuresis diurna et nocturna, komplizierte Enuresis, Enuresis mit Tagsymptomatik, symptomatische Enuresis (⊡ Tab. 20.1).
20.2
Ätiologie und Pathophysiologie
20.2.1 Enuresis
Ätiologie und Pathophysiologie der Enuresis sind letztlich nicht vollständig geklärt und wahrscheinlich multifaktoriell [46]: ▬ Maturationshemmung des Miktionsreflexes ▬ Genetische Disposition ▬ ADH-Sekretionsstörung ▬ Schlafstörungen bzw. gestörte Perzeption des Miktionsreizes im Schlaf ▬ Abnorme Trinkgewohnheiten ▬ Psychogene Störungen
Maturationshemmung Bei der Maturationshemmung wird infolge mangelhafter Reifung subkortikaler hemmender Nervenbahnen eine Retardierung auf der Stufe einer frühkindlichen Reflexmiktion angenommen, die zu unwillkürlichen Detrusorkontraktionen und erniedrigter Blasenkapazität führt [29, 55].
Genetische Disposition Die Enuresis tritt familiär gehäuft auf. So nässen 44% der Kinder ein, wenn ein Elternteil Enuretiker war und 77%, wenn beide Elternteile Enuretiker waren. Genetische Faktoren spielen wahrscheinlich die wichtigste Rolle in der Entstehung der Enuresis. Meist wird die Enuresis autosomal-dominant mit einer hohen Penetranz (90%) vererbt. Bisher konnten mehrere Gendefekte auf verschiedenen Chromosomen (8q, 12q, 13q, 22q) lokalisiert werden [7, 10].
ADH-Sekretionsstörung Eine erniedrigte nächtliche ADH-Produktion wird als Ursache der Enuresis postuliert. Hierfür wird eine Störung des hormonellen Tag-Nacht-Rhythmus verantwortlich gemacht. Der erwartete nächtliche ADH-Anstieg bleibt aus und es kommt zu einer nächtlichen Polyurie, die die funktionelle Blasenkapazität überschreitet [28].
⊡ Tab. 20.1. Synonyma der Definitionen Enuresis
Kindliche Harninkontinenz
20
Enuresis nocturna Unkomplizierte Enuresis Monosymptomatische Enuresis nocturna Enuretisches Syndrom Enuresis nocturna bzw. diurna Komplizierte Enuresis Enuresis mit Tagsymptomatik Symptomatische Enuresis
Gestörte Perzeption des Miktionsreizes im Schlaf Während 70% der Kinder mit Enuresis eine unauffällige Zystomanometrie im Schlaf haben, weisen 30% ungehemmte Detrusorkontraktionen während des Schlafes auf, obwohl die Zystometrie am Tag vollkommen unauffällig war. Dies kann als noch fehlende Kontrolle des zentralen Nervensystems über den Miktionsreflex interpretiert werden [34, 55]. Andere Untersucher konnten keine
195 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
urodynamischen Auffälligkeiten während des Schlafes finden. Vielmehr werden eine hohe Weckschwelle sowie Störungen der Perzeption des Miktionsreizes während des Schlafes mit der Enuresisentstehung in Zusammenhang gebracht [57].
Detrusorkontraktionen, die bei Enuretikern in 30–50% der Fälle nachweisbar sind. Ebenso kann der fehlende zirkadiane Rhythmus der ADH-Sekretion als Maturationshemmung erklärt werden. Diese Störungen sind möglicherweise genetisch determiniert, werden zum Teil aber auch durch Umgebungseinflüsse bestimmt [21].
Abnorme Trinkgewohnheiten Abnorme Trinkgewohnheiten sind häufig alleinige oder verstärkende Ursache einer Enuresis [52].
Psychogene und psychiatrische Störungen Inwieweit psychogene und psychiatrische Störungen eine Enuresis verursachen, ist schwer abschätzbar. Allerdings treten emotionale Störungen oder Verhaltensstörungen bei Enuretikern 2- bis 6-mal häufiger auf als bei Gleichaltrigen. Vor allem für die Manifestation einer sekundären Enuresis werden psychosoziale Stresssituationen wie Geburt eines Geschwisterkindes oder familiäre Interaktionsstörungen angenommen. Eine psychogene Ursache ist umso wahrscheinlicher die Ursache der Enuresis, je länger die Kinder zuvor bereits trocken gewesen waren. Nach der Theorie von S.A. Koff sind möglicherweise alle die Enuresis potentiell auslösenden Mechanismen auf eine Entwicklungsverzögerung des zentralen Nervensystems zurückzuführen. Eine verzögerte Entwicklung afferenter Bahnen könnte die fehlende Weckbarkeit durch den Reiz der vollen Blase erklären. Verzögerte Ausreifung efferenter Bahnen führt zur Persistenz ungehemmter
20.2.2 Kindliche Harninkontinenz
Bei der kindlichen Harninkontinenz ist der unfreiwillige Harnverlust Folge einer zugrundeliegenden neurologischen, urologischen oder psychischen Erkrankung und kann mit unterschiedlichen Symptomen kombiniert auftreten (⊡ Tab. 20.2 [46]).
Speicherstörungen Blasenhypersensitivität Auch im Kindesalter kann eine Harndrangsymptomatik durch eine gesteigerte Blasenempfindung hervorgerufen werden. Allerdings ist gerade bei kleinen Kindern eine Interpretation des Harndrangs schwierig, da die Kinder unter Messbedingungen oftmals bereits bei kleinen Füllvolumina einen starken oder gar imperativen Harndrang angeben.
Detrusorhyperaktivität Diese Form der kindlichen Blasenfunktionsstörung, wird vermutlich durch eine Reifungsverzögerung der zerebralen Hemmung des Miktionsreflexes mit Persistenz
⊡ Tab. 20.2. Ätiologie und Pathophysiologie der kindlichen Harninkontinenz Harnspeicherstörungen Blasenhypersensitivität, Detrusorhyperaktivität, Giggle-Inkontinenz Sekundäre Dranginkontinenz
Harnwegsinfekt, Fremdkörper (intravesikal, intravaginal), chemische Reizung, Oxyuriasis
Blasenentleerungsstörungen Mechanische Obstruktion
Meatusstenose, Harnröhrenstenose, Harnröhrenklappe, extreme Phimose
Funktionelle Obstruktion
Detrusorsphinkterdyskoordination, Detrusorblasenhalsdyskoordination
Detrusorhypokontraktilität, Blasenhyposensitivität, Megazystis, Klappenblase Neurogene Blasenfunktionsstörungen Myelomeningozele, Spina bifida, Sakrallipom, Tetheredcord-Syndrom, tumoröse bzw. entzündliche Erkrankungen des ZNS oder des peripheren Nervensystems Extraurethrale Harninkontinenz Ektoper Ureter, Sinus urogenitalis, inkontinente Epispadie, Blasenekstrophie, Fisteln
20
196
Teil III · Spezielle Urodynamik
ungehemmter Detrusorkontraktionen (Detrusorhyperaktivtät) verursacht. Gerade im Kindesalter kann eine Dranginkontinenz infolge Detrusorhyperaktivität aber auch Ausdruck einer Blasenirritiation aufgrund von Harnwegsinfekten, Fremdkörpern (intravesikal, intravaginal), chemischer Reizung oder Oxyuriasis sein.
Giggle-Inkontinenz Eine Sonderform der Detrusorhyperaktivität ist die Giggle-Inkontinenz, nach heutiger Auffassung fälschlicherweise als Enuresis risoria bezeichnet. Hierbei triggert die Bewegung der Bauchmuskulatur beim Lachen eine Detrusorkontraktion, die konsekutiv eine komplette Blasenentleerung auslöst. Hauptsächlich tritt sie bei 8- bis 12-jährigen Mädchen auf. Der zugrundliegende Pathomechanismus ist nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise liegt eine Imbalance zwischen dem cholinergen und dopaminergen System vor wie beim Narkolepsie- und Katalepsiesyndrom. Hereditäre Ursachen werden vermutet.
Extraurethrale Harninkontinenz An das Vorliegen einer anatomisch bedingten Harninkontinenz muss bei permanentem Urinabgang tags und nachts ohne regelrechte Miktionen gedacht werden. Mögliche Ursachen sind ein ektoper Ureter (meist in Kombination mit einer Doppelnierenanlage) oder Sinus urogenitalis beim Mädchen sowie die inkontinente Epispadie oder Blasenektopie. Angeborene oder erworbene Fistelbildungen sind im Kindesalter eine Rarität.
Entleerungsstörungen Tritt die Harninkontinenz kombiniert mit rezidivierenden Harnwegsinfekten, Restharnbildung, Blasenwandverdickung und eventuell Reflux auf, besteht der Verdacht auf eine infravesikale Obstruktion. Bei 15–30% wird eine organisch bedingte mechanische Obstruktion wie Meatusstenose, Harnröhrenklappe oder eine extreme Phimose gefunden.
Detrusorsphinkterdsykoordination, Detrusorblasenhalsdyskoordination
20
Häufiger als die organisch bedingte Obstruktion ist die funktionelle Obstruktion auf dem Boden einer Koordinationsstörung zwischen Detrusor und Sphinkter (Detrusorsphinkterdyskoordination, Detrusorblasenhalsdyskoordination). Sie ist Ausdruck eines Miktionsfehlverhaltens mit fehlender Relaxierung des externen Sphinkters bzw. Beckenbodens während der Miktion. Ursache ist in der Regel ein
antrainiertes Fehlverhalten auf dem Boden einer übertriebenen Sauberkeitserziehung. Entscheidender scheint jedoch die idiopathische (d. h. nichtneurogene) Detrusorhyperaktivität des betroffenen Kindes, die zu einer dysfunktionellen Miktion Anlass geben kann. Die ständige Angst des Kindes vor dem drohenden Einnässen infolge der plötzlichen Detrusordruckerhöhung führt dazu, dass diese Kinder mit aller Gewalt den Beckenboden anspannen. Gelegentlich wird die Urethra des Jungen mit den Fingern oder die des Mädchens durch das Aufsetzen des Meatus auf eine der Fersen komprimiert (»Vincent’s curtesy sign«) oder die Beine werden plötzlich verschränkt. Die Folge des ständigen Bemühens, die Kontinenz durch Beckenbodenkontraktion zu sichern, kann letztlich dazu führen, dass die Kinder auch während der gewollten Miktion nicht mehr richtig entspannen können. Extremformen dieser funktionellen Entleerungsstörung des Kindes wurden schon Anfang der 70er-Jahre beschrieben und als okkulte oder mitigierte neurogene Blasen bezeichnet. Der Begriff der nichtneurogenen neurogenen Blase wurde von T. Allen geprägt, weil derartige Blasen im Röntgenbild als Turm- oder Christbaumblase mit zahlreichen Pseudodivertikeln imponieren, man aber keine Zeichen für ein zugrundeliegendes neurologisches Leiden finden kann [1, 40, 45]. Die Bezeichnungen mitigierte oder okkulte neuropathische Blase oder Hinman-Blase sind ebenfalls in die Literatur eingegangen. Hinman und Bauman beschrieben 1973 erstmalig Knaben mit morphologischen Störungen am oberen und unteren Harntrakt infolge einer Miktionsstörung [13]. Urodynamisch ist dieses Erscheinungsbild durch ein reduziertes Blasenvolumen und eine erniedrigte Compliance sowie durch Detrusorhyperaktivität und Überaktivität des Sphinkterapparates und des Beckenbodens gekennzeichnet. Ob dieses spezielle Erscheinungsbild nur das Ergebnis einer lange bestehenden Detrusorsphinkterdyskoordination ist oder ob es sich um ein eigenes Krankheitsbild mit einer nicht erkennbaren neurologischen Störung handelt, ist bislang nicht geklärt [27, 53]. Mit den heutigen Untersuchungsmethoden ist diese Diagnose seltener geworden. Bei den meisten Kindern mit diesem Erscheindungsbild ist die Veränderung des unteren und oberen Harntrakts aber Ausdruck einer Detrusorssphinkterdyskoordination.
Detrusorhypokontraktilität/Blasenhyposensitivität (»lazy bladder«) Eine Detrusorhypokontraktilität mit großer schlaffer Blase und hoher Restharnbildung kombiniert mit einer Hyposensitivität im Sinne eines Lazy-bladder-Syndroms kann insbesondere bei Mädchen Ursache einer Inkontinenzproblematik sein [14,16]. Ursache liegt in einer langjährigen Miktionsvermeidung mit extrem seltenen Miktionen. Dies führt zunächst
197 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
zum Verlust des Blasenfüllungsgefühls und dann infolge chronischer Überdehnung der Blase zum Verlust der Detrusorkontraktilität.
Megazystis Der Begriff Megazystis sollte für übergroße Blasen verwendet werden, ohne dass erkennbare Ursachen für die hohe Kapazitätvorhanden sind. Gemeinhin wird jedoch der Terminus für das Megazystis-Megaureter-Syndrom gebraucht. Dieser Symptomenkomplex ist gekennzeichnet durch eine große hypokontraktile Blase, weite dilatierte Ureterostien und refluxive Megaureteren. Oft sind diese Zustände mit einer Nierendysplasie assoziiert. Ob dieses Syndrom ein eigenständiges Krankheitsbild oder die Extremform einer Refluxkrankheit [50] ist, konnte bislang nicht geklärt werden. Ein anderes Beispiel für eine Megazystis ist die große, dysmorphe Blase beim Prune-belly-Syndrom (Bauchdeckenaplasiesyndrom, Mesenchymal-Dysplasie-Syndrom). Hierbei ist der Detrusor nur schwach ausgebildet. Die Blasenwand kann durch vermehrte Fibrozyten- und Kollageneinlagerung verdickt sein. Der Blasenhals steht weit offen, ohne dass am Übergang zur membranösen Harnröhre ein mechanisches Hindernis zu erkennen ist. Die meisten Patienten können mit normalen Druckverhältnissen die Blase entleeren. Daneben fanden Kinahan et al. 1992 eine verlängerte Flusszeit mit gleichförmig niedrigem Uroflow und eine durch intermittierende Harnflussmuster gekennzeichnete Miktion [20].
Klappenblase Die Harnröhrenklappen des Neugeborenen sind segelförmige, schräg stehende Membranen mit einem engen Durchlass. Sie wirken als mechanische infravesikale Obstruktion und sind von unterschiedlicher urodynamischer Relevanz. Glücklicherweise kommen sie nur selten vor (1:5000– 8000 Geburten), denn sie können zerstörerische Folgen auf den unteren und oberen Harntrakt haben. Je höhergradig die Obstruktion der Harnblase ist, umso mehr nimmt ihr Eigengewicht infolge einer Fibrosierung des Detrusors zu: Umgekehrt nimmt der Funktionswert ab [17, 50]. Neuere klinische und experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass sowohl eine Transformation der Muskulatur und der Matrix als auch der intramuralen neurogenen Innervation zu einer zunehmenden Schädigung des Detrusors – nämlich zu einer Klappenblase – führt. Ganz offenbar hat das Oktapeptid Angiotensin II einen wesentlichen Einfluss auf die Zunahme der Aktivität von Wachstumsfaktoren, die sowohl die Zellfunktion als auch Zellproliferation des Detrusors beeinflussen [5]. Eine verminderte Kontraktilität und eine reduzierte Compliance sind die üblicherweise erkennbaren Verän-
derungen, die mit der Dauer der Obstruktion eng korrelieren. Die Klappenblasen entleeren sich aufgrund der schlechten Kontraktionskraft unvollständig, der Ruhedruck steigt sukzessive an, das Restharnvolumen wird größer und führt letztlich zur Dekompensation der Blase infolge eines irreversiblen Muskelschadens [19].
Kombinierte Speicher- und Entleerungsstörungen Neurogene Blasenfunktionsstörungen Typisch ist die Kombination von Harnspeicher- und Blasenentleerungsstörung mit Detrusorhyperaktivität und Harninkontinenz einerseits und Detrusorsphinkterdyssynergie mit Restharn und Auswirkungen auf den oberen Harntrakt (Stauungsnieren, Reflux) andererseits ( Kap. 22).
20.3
Diagnostik
Der Umfang des diagnostischen Vorgehens hängt vom Alter des Kindes ab und orientiert sich an der Art und Schwere der vorliegenden Symptomatik sowie den zurückliegenden frustrierenden Behandlungsversuchen. Während bei rezidivierenden Harnwegsinfekten, Tagsymptomen sowie körperlichen und neurologischen Auffälligkeiten schon frühzeitig eine invasive Diagnostik erforderlich sein kann, ist die Abklärung einer Enuresis erst ab einem Alter von 5 Jahren sinnvoll. Auf jeden Fall ist vor jeder urodynamischen Untersuchung eine nichtinvasive Basisdiagnostik unabdingbar [42–46].
20.3.1 Basisdiagnostik
Die Basisdiagnostik, die bei allen betroffenen Kindern durchgeführt werden sollte, die einer Enuresis- und Inkontinenzabklärung unterzogen werden, dient in erster Linie dem Ausschluss zugrundeliegender urologischer, neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen (⊡ Tab. 20.3).
Anamnese Ganz wesentlich ist eine exakte Miktionsanamnese, die bereits Hinweise auf die Ursache der Enuresis geben kann. ▬ Miktionsgewohnheiten – seltene Miktion deutet auf Verhaltensstörungen hin (z. B. Lazy-bladder-Syndrom) – intermittierende oder per Bauchpresse unterstützte Miktion gibt Hinweise auf eine infravesikale Obstruktion oder ein Miktionsfehlverhalten – situative Enuresis (z. B. nur zu Hause) kann auf eine psychosoziale Genese hinweisen
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Teil III · Spezielle Urodynamik
▬ ▬
▬ ▬
– wichtige anamestische Fragen sind weiterhin die Häufigkeit des Einnässens, bestehende Tagsymptome oder Harnwegsinfekte (fieberhaft oder nichtfieberhaft) Trinkgewohnheiten – Erfolgt eine übermäßige abendliche Flüssigkeitsaufnahme Stuhlverhalten – Obstipation, Stuhlschmieren oder Enkopresis spricht für eine psychogene Ursache der Enuresis; Stuhlinkontinenz spricht für eine neurologische Schädigung Familien- und Schulsituation – Familiäre Stresssituationen wie Geburt eines Geschwisterkindes, Trennung der Eltern Sonstiges – Liegen Zeichen einer allgemeinen Retardierung als Hinweise einer Entwicklungsverzögerung oder andere Verhaltensauffälligkeiten vor – Wichtig ist auch die Frage, ob und welche früheren Therapien mit welchem Behandlungserfolg durchgeführt wurden
Trink- und Blasentagebuch (Miktionsprotokoll) Das wichtigste Instrument zur Unterscheidung zwischen einem reinen nächtlichen Einnässen und einer überaktiven Blase ist das Führen eines so genannten Trink- und Blasentagebuches. Das Führen eines einfachen Einnässkalenders der nur die trockenen und nassen Nächte dokumentiert, ist nicht ausreichend.
⊡ Tab. 20.3. Diagnostik der Enuresis und kindlichen Harninkontinenz Basisdiagnostik (notwendige Untersuchungen) ▬ Anamnese (inkl. Familien-, Sozial-, Trink- und Miktionsanamnese) ▬ Trink- und Miktionsprotokoll ▬ Allgemeine körperliche Untersuchung, urologische Untersuchung, orientierende neurologische Untersuchung ▬ Urinsediment ▬ Sonographie (Restharn)
Das Kind soll alleine oder mit Hilfe seiner Eltern über zwei Tage unter der Woche und zwei Tage am Wochenende die Zeitpunkte des Trinkens, des Harndranges und des Wasserlassens notieren sowie die jeweiligen Trinkund Harnmengen und aufgetretenen Inkontinenzepisoden eintragen (⊡ Abb. 20.1). Dabei kann das maximale Miktionsvolumen beurteilt werden. Beträgt dies weniger als 65% der altersentsprechenden Blasenkapazität, die sich nach der Formel: (Alter×30) + 30 = Blasenkapazität in ml berechnet, so liegt eine kleinkapazitäre Blase vor, was für eine unzureichende Blasenkontrolle und somit überaktive Blase spricht und neben einem Blasentraining in der Regel einer anticholinergen Therapie bedarf. Zusätzlich sollte das Kind an den Dokumentationstagen nachts eine Windel tragen. Das nächtliche Diuresevolumen errechnet sich dann nach der Formel: (Windelgewicht nass – trocken) + erstem Morgenurin in ml. eine nächtliche Polyurieliegt, wenn die nächtliche Harnproduktion mehr als 30% der Gesamtmenge pro 24 h beträgt. Dies spricht für eine Störung der nächtlichen ADH-Ausschüttung und kann mit Desmopressinderivaten angegangen werden Trinkt das Kind in den letzten 2 h vor dem Zubettgehen noch mehr als 200 ml Flüssigkeit, so kann dies Ursache für das Einnässen sein und eine bessere Trinkdisziplin verlangen.
Körperliche Untersuchung Hier sollte vor allem auf Hinweise für das Vorliegen einer urologischen oder neurologischen Erkrankung oder angeborener Missbildungen geachtet werden. Bei Knaben muss insbesondere auf eine stenosierende Phimose, bei Mädchen auf Rötungen im Genitalbereich oder eine Labiensynechie geachtet werden. Die Inspektion des Rückens, insbesondere der lumbosakralen Region (präsakrale Lipome, Tierfellnävus) kann Hinweise auf eine Spina bifida occulta geben. Auf Asymmetrien der Hautfalten, Glutealatrophie oder Deformitäten der unteren Extremitäten sollte geachtet werden. Ebenso sollte eine Prüfung der Sensibilität im Reithosenareal, der Reflexe der unteren Extremitäten, des Bulbocavernosusreflexes, des Analsphinktertonusses und des Analreflexes erfolgen.
Weiterführende Diagnostik (individuell je nach Symptomatik) ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
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▬ ▬
Sonographie (Nieren, Blase, Blasenwanddicke, Restharn) Uroflow bzw. Flow-EMG-Studie Miktionszysturethrographie (MZU, MCU) Narkoseuntersuchung (Urethrozystoskopie, Harnröhrenkalibirierung, evtl. Urodynamikkatheteranlage) Urodynamik Videourodynamik (Zystomanometrie, Miktiometrie mit simultanem MCU) Weiterführende bildgebende Verfahren (AUG, CT, MRT), Weiterführende psychologische Exploration, weiterführende kinderneurologische Untersuchung, ADH-Profilometrie
Urinstatus Ein Harnsediment ist zum Ausschluss eines Harnwegsinfektes obligat. Eine Harnkultur muss nur bei pathologischem Sediment angelegt werden. Bei Enuresis kann die Bestimmung des spezifischen Uringewichtes als Screening für eine nächtliche ADHSekretionsstörung verwendet werden, bei der ein erniedrigtes spezifisches Gewicht des nächtlichen Sammelurins (<1020 mg/l) gefunden wird. In der Routinediagnostik
199 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
⊡ Abb. 20.1. Miktionsprotokoll
hat sie sich jedoch bisher nicht durchsetzen können ( Kap. 20.3.2, ADH-Profilometrie).
Orientierende Sonographie Zum Ausschluss einer Restharnbildung sollte eine orientierende Sonographie der Blase nach der Miktion durchgeführt werden.
klärung bedarf. Die weiterführende Diagnostik dient dem Nachweis bzw. Ausschluss zugrunde liegender anatomischer oder funktioneller Blasenentleerungsstörungen bzw. neurogener oder psychiatrischer Ursachen des Einnässens. Die Invasivität und die Reihenfolge der Untersuchungen werden hier ganz wesentlich von der vorliegenden Symptomatik und Befunden bestimmt.
Sonographie 20.3.2 Weiterführende Diagnostik
Ist beim nächtlichen Einnässen die Basisdiagnostik unauffällig, so kann von einer Enuresis ausgegangen werden, die keine weiteren urologischen Untersuchungen erfordert, insbesondere auch keine urodynamische Untersuchung. Finden sich dagegen eine deutliche Tagsymptomatik, Harnwegsinfekte, körperliche, neurologische oder psychische Auffälligkeiten oder eine konstante Restharnbildung, muss eine kindliche Harninkontinenz oder Blasenfunktionsstörung diagnostiziert werden, die einer weiteren Ab-
Diese einfache, nichtinvasive Untersuchungsmethode sollte zu: ▬ der Beurteilung von Restharn, ▬ einer Beurteilung der Blasenwanddicke, ▬ einem Ausschluss einer Harntransportstörung des oberen Harntraktes (Dilatation, Reflux) und ▬ Hinweisen auf Doppelbildung oder renalen Parenchymläsionen durchgeführt werden. Zunehmend wird versucht, die Blasenwanddicke als nichtinvasiven Parameter zur Differentialdiagnostik des
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200
Teil III · Spezielle Urodynamik
kindlichen Einnässens heranzuziehen. Die Sonographie sollte mit einem 5,0-Megaherz-, besser noch mit einem 7,0-Megaherz-Schallkopf durchgeführt werden, mit dem die drei Lagen der Blasenwand, bestehend aus innerer echoreicher Mukosaschicht, mittlerer echoärmerer Detrusorschicht und äußerer echoreicher Adventitia, gut unterschieden werden können. Gemessen wird die Detrusordicke an der Blasenvorderwand bei einer mittleren Blasenfüllung zwischen 10 und 50% der altersentsprechenden Blasenkapazität, die nach der Formel Blasenkapazität (ml) = Alter (Jahre) × 30 + 30 ermittelt wird. Bei einer Blasenfüllung von unter 50% sollte die Dicke der Blasenwand bei Kindern ohne Miktionsstörungen immer unter 2,0 mm liegen. Bei höherer Blasenfüllung sollte die Blasenwanddicke 1,5 mm nicht übersteigen [26]. Bei einer Blasenwanddicke von >3,0 mm besteht der Verdacht auf eine subvesikale Obstruktion oder Detrusorhyperaktivität. Bei Kindern mit reiner Enuresis wurde eine Blasenwanddicke von durchschnittlich 2,96 +/- 1,37 mm, bei kindlicher Harninkontinenz von 3,64 +/- 1,35 mm und bei Restharnbildung von 4,63 +/- 2,07 mm gefunden (⊡ Abb. 20.2). Da eine eindeutige Korrelation der Blasenwanddicke mit dem Restharn und keine Korrelation mit Alter, Geschlecht oder Miktionsfrequenz besteht, scheint auch bei Kindern die Messung der Blasenwanddicke ein wichtiges nichtinvasives diagnostisches Werkzeug zum Nachweis einer subvesikalen Obstruktion zu sein. Allerdings sollte berücksichtig werden, dass gerade bei chronischen Harnwegsinfekten die stärksten Blasenwandverdickungen nachgewiesen werden [36].
Uroflowmetrie bzw. Flow-EMG
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Die Uroflowmetrie, idealerweise als kombinierte FlowEMG-Studie mit simultaner Aufzeichnung des Beckenboden-EMG durchgeführt, gibt bereits entscheidende Hinweise auf das Vorliegen einer dyskoordinierten Miktion. Zur EMG-Ableitung ist auf eine exakte Positionierung der Klebeelektroden zu achten. Zwei Klebeelektroden werden perineal, eine dritte wird als Indifferenzelektrode am Oberschenkel angebracht (⊡ Abb. 20.3). Mittels eines 2-Kanal-Schreibers kann während der Miktion die Aufzeichnung der Harnflusskurve und der Aktivität der Beckenbodenmuskulatur erfolgen. Im Falle funktioneller Miktionsstörungen zeigt sich während der Miktion anstelle einer Beckenbodenentspannung eine erhöhte Aktivität mit Steigerung des Auslasswiderstandes (⊡ Abb. 20.4). Durch zusätzliche Ausrüstung mit akustischem Verstärker oder einem Videoschirm kann das Gerät auch therapeutisch zum Biofeedbacktraining verwandt werden (⊡ Abb. 20.5). Die Harnflussrate ist alters- und geschlechtsabhängig (⊡ Abb. 20.6).
a
b ⊡ Abb. 20.2. Messung der Blasenwanddicke; Abhängigkeit von Füllungszustand der Blase; Kind mit Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination. a Blasenfüllung von 150 ml, Blasenwanddicke von 2 mm; b Blasenfüllung von 50 ml, Blasenwanddicke von 8 mm
⊡ Abb. 20.3. Flow-EMG; Position der Klebeelektroden
201 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
a
⊡ Abb. 20.4. Flow-EMG; Pathologisches Flow-EMG-Muster bei Kind mit Detrusorsphinkterdyskoordition
Miktionszystourethrogramm (MZU, MCU) Eine radiologische Diagnostik des unteren Harntraktes ist immer indiziert bei Zeichen einer Blasenentleerungsstörung infolge infravesikaler Obstruktion mit verdickter Blasenwand oder Restharn, zum Ausschluss organischer Ursachen wie Meatusstenose, Harnröhrenenge oder Harnröhrenklappen und zum Ausschluss eines vesikoureteralen Refluxes (VUR), zumal bei 15–25% der Kinder mit Blasenfunktionsstörungen ein VUR nachgewiesen werden kann [12, 16]. Häufig findet sich gerade bei Mädchen radiologisch eine proximale Weitstellung der Urethra (Konusform). Dieses Bild ist jedoch oft funktionell bedingt und nur selten liegt eine echte Meatusstenose vor. Häufiger liegt einer Engstellung des urethralen Sphinkters bei Detrusorsphinkterdyskoordination vor. Die Durchführung eines isolierten MCU ohne simultane Druckflussmessung wird allerdings kontrovers diskutiert, da es für Kleinkinder ein erhebliches Untersuchungstrauma darstellt. Es wird daher eine Sedierung empfohlen, z. B. mit Midazolam rektal [16].
b ⊡ Abb. 20.5. a Walkman; b EMG-Biofeedbackgerät
Narkoseuntersuchung Bei Vorliegen rezidivierender Harnwegsinfekte, Reflux und Verdacht auf eine infravesikale Obstruktion, sollte eine Narkoseuntersuchung mit Urethrozystoskopie und
⊡ Abb. 20.6. Nomogramme pädiatrischer Harnflussraten in Korrelation zum Miktionsvolumen bei Knaben und Mädchen [55]; Maximale Harnflussrate
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Teil III · Spezielle Urodynamik
Harnröhrenkalibrierung (Bougie à boule) zum Ausschluss eines mechanischen anatomischen Hindernisses durchgeführt werden. Ein einheitlicher Normwert der Urethraweite existiert nicht. Häufig wird bei Mädchen die Näherungsformel von Alter + 10 = Urethrakaliber in Charrière
angewandt. Zuverlässiger ist jedoch der bei der Kalibrierung erkennbare anämische Schnürring. Bei Knaben sollte bei der Urethrozystoskopie bei voller Blase durch suprasymphysären Druck auf die Blase ein antegrader Spülstrom zum Ausschluss einer Urethralklappe provoziert werden. Werden anatomische Veränderungen wie Meatusstenose, Harnröhrenenge oder -klappe gefunden, so können sie in der gleichen Narkose beseitigt werden. Sind anatomische Veränderungen ausgeschlossen, so besteht der Verdacht auf eine funktionelle Blasenentleerungsstörung und es sollte die Einlage eines suprapubischen Urodynamikkatheters erfolgen (s. u.). Der Zeitpunkt der Zystoskopie in der Kaskade der weiterführenden Untersuchungen, ob vor oder nach der urodynamischen Untersuchung durchgeführt, hängt neben der Symptomatik und der Fragestellung von der Technik der Urodynamikkatheteranlage sowie dem zu erwartenden diagnostischen Zugewinn an Information ab. Bei Kindern mit neurogener Blasenfunktionsstörung bringt eine Zystoskopie keine zusätzlichen therapeutisch relevanten Informationen und ist daher nur bei zusätzlichen urologischen Pathologien indiziert. Anders bei nichtneurogenen Blasenfunktionsstörungen. Da sich bei bis zu 75% der Knaben und Mädchen mit dem Befund einer urodynamisch wirksamen Obstruktion anatomische Ursachen fanden, deren Beseitigung sofort zur Kontinenz führte, scheint es sinnvoll, die Zystoskopie zum Ausschluss einer anatomischen Ursache einer Urodynamik vorzuziehen [3, 12, 15].
Obwohl bei Kindern mit neurogenen Blasenfunktionsstörungen bei fehlenden Zeichen eines akuten Harnwegsinfektes ein antibiotischer Schutz nicht notwendig erscheint, empfiehlt sich doch, insbesondere bei rezidivierenden Harnwegsinfekten, eine Kurzzeitantibiose vorzunehmen. In der Regel werden Trimetoprim-Cotrimoxazol-Saft oder ein orales Cephalosporin nach Körpergewicht dosiert angewandt [48].
Technik Heute stehen speziell für die Anwendung bei Kindern doppellumige 6 Charr urodynamische Messkatheter für den transurethralen sowie suprapubischen Zugangsweg zu Verfügung (⊡ Abb. 20.7). Wegen der besseren Tolerierbarkeit des suprapubischen Katheters und der objektiveren Untersuchungsergebnisse, vor allem im Hinblick auf eine unbeeinflusste Beurteilung der Entleerungsfunktion, wird heute sowohl bei Knaben als auch bei Mädchen die suprapubische Anlage des Messkatheters dem transurethralen Katheter vorgezogen. Die Anlage erfolgt vorzugsweise im Rahmen einer Narkoseuntersuchung. Bei älteren Kindern kann die Katheteranlage auch in Sedierung mit DormicumSaft durchgeführt werden. Der Messkatheter sollte nach Anlage abgestöpselt werden, so dass eine physiologische Blasenfüllung erfolgen kann und möglichst wenig Irritationen entstehen, die die Messergebnisse beeinflussen könnten. Die urodynamische Untersuchung sollte frühestens 4–6 h nach Sedierung bzw. Narkose durchgeführt werden, wenn in der Regel keine Interferenzen durch Anästhetika mehr anzunehmen sind. Bei starkem Narkoseüberhang wird die Messung erst am Folgetag durchgeführt. Das Einführen des Messkatheters in das Rektum sowie die Platzierung der Klebeelektroden zur simultanen Ableitung des Beckenboden-EMGs erfolgen erst unmittelbar vor der urodynamischen Untersuchung [56].
Messung Urodynamik Indikationen Bei Verdacht auf funktionelle Blasenentleerungsstörungen (Detrusorsphinkterdyskoordination), therapieresistente kindliche Harndrangsymptomatik, sowie bei allen neurogenen Blasenfunktionsstörungen, sollte zur weiteren Abklärung eine Zystomanometrie erfolgen, die idealerweise unter digitaler Röntgendurchleuchtung als Videourodynamik durchgeführt werden sollte. Auch bei therapieresistenter Enuresis kann gelegentlich eine Urodynamik indiziert sein, um funktionelle Störungen aufzudecken [14, 30, 33, 43, 44].
Vorbereitung
20
Die Notwendigkeit einer antibiotischen Prophylaxe für die Untersuchung wird kontrovers diskutiert.
Die Messung erfolgt vorzugsweise im Sitzen in möglichst kindgerechter entspannter Atmosphäre (⊡ Abb. 20.8). Als Füllmedium wird isotone Kochsalzlösung oder bei der Videourodynamik ein 1:2-Gemisch aus Kontrastmittel und Kochsalzlösung verwendet, dessen Temperatur zwischen 30 und 37°C liegen sollte. Die Füllgeschwindigkeit sollte 10–25 ml/min nicht übersteigen.
Zystometrie Nach Verbindung der Messkatheter mit der Messelektronik erfolgt die Eichung der externen Druckwandler auf Symphysenhöhe und der Nullabgleich gegen den Atmosphärendruck. Die Messung selbst erfolgt wie beim Erwachsenen. Infolge der stärkeren Artefaktanfälligkeit ist bei Kindern eine mindestens ein- bis zweimalige Wiederholung
203 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
a
Provokationstest Selten werden beim Kind Provokationstest wie der Eiswassertest oder der Carbacholtest (Denervierungshypersensibilitätstest, Lapides-Test) durchgeführt. Zur Differenzierung zwischen neurogener und myogener Detrusorakontraktilität kann der Carbacholtest hilfreich sein. Bei Kindern werden 0,035 mg Carbachol pro kg Körpergewicht subkutan injiziert. Zeigt sich nach 10–30 min ein intravesikaler Druckanstieg von mehr als 25 cm H2O, ist der Test als positiv zu interpretieren.
Urethradruckprofil b ⊡ Abb. 20.7. a, b Pädiatrischer 6-Charr-Urodynamikkatheter zur suprapubischen Messung
der Messung zur Objektivierung der urodynamischen Befunde noch wesentlicher als beim Erwachsenen.
Videourodynamik Die simultane radiologische Darstellung des unteren Harntraktes während der Urodynamik hat den Vorteil, dass neben der Beurteilung der Blasenkonfiguration ein vesikoureteraler Reflux während der Füllungs- und Entleerungsphase der Blase z. B. während des Auftretens unwillkürlicher Detrusorkontraktionen registriert werden kann. Außerdem gelingt nur mit der Videourodynamik die Differenzierung einer dyskoordinierten Miktionsphase bei gestörter Blasenhalsöffnung (Detrusorblasenhalsdyskoordination) oder gestörter Sphinkterbeckenbodenrelaxation (Detrusorsphinkterdyskoordination). Die Videourodynamik sollte nur noch mit digitalen Röntgenanlagen durchgeführt werden, bei denen die Gonadenbelastung beim Mädchen unter 0,25 mSv und beim Knaben unter 0,26 mSv reduziert werden kann. Kurze Durchleuchtungszeiten ergeben sich ebenso aus den Anforderungen des Strahlenschutzes.
Die Indikation zum Urethradruckprofil (UDP) im Kindesalter wird nur selten gestellt. Bei kindlicher Belastungsinkontinenz nach Trauma oder angeborener Störung wie Sinus urogenitalis oder Myelomeningozele kann eine Quantifizierung der Sphinkterinsuffizienz vor operativen Interventionen sinnvoll sein. Die Harnblase sollte nach vollständiger Entleerung auf etwa 50% der maximalen Blasenkapazität aufgefüllt werden, jedoch maximal nur 100 ml. Es sollten nur dünne Mikrotipkatheter verwendet werden. Die Messung selbst mit Erstellung des Urethraruhe- und Stressprofils erfolgt analog zu der des Erwachsenen. Normalwerte für das UDP im Kindesalter existieren bislang nicht.
Leak point pressure Der Leak point pressure wird zur Verlaufskontrolle und als Prognosefaktor zur Abschätzung der Gefährdung des oberen Harntrakts bei Kindern mit neurogenen Blasenfunktionsstörungen durchgeführt. Wie beim Erwachsenen wird er im Rahmen einer Zystomanometrie durchgeführt. Relevant ist im Kindesalter der Detrusor Leak point pressure. Drücke über 40 cm H2O weisen auf ein potentielles Risiko der Schädigung des oberen Harntrakts hin ( Kap. 11 und Kap. 22).
Langzeiturodynamik Infrarottelemetrie ist zum Nachweis nächtlicher Detrusorkontraktionen bei Kindern mit nächtlichem Einnässen möglich. Vorteil ist die natürliche Blasenfüllung
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Teil III · Spezielle Urodynamik
und die vom Untersucher ungestörte normale Aktivität der Kinder in gewohnter Umgebung. Obwohl gerade im Kindesalter durch diese Technik repräsentative Untersuchungsergebnisse erzielt werden konnten, hat die Langzeiturodynamik bei noch bestehenden apparativen und technischen Schwierigkeiten bisher keine klinische Relevanz [14, 58].
Messparameter und Normalwerte Im Kindesalter muss bei der Interpretation der urodynamischen Befunde die Altersabhängigkeit einzelner Messparameter und die möglichen situativen (Angst, Abwehr, Schmerz, Bewegung) und messtechnischen (obstruktiver Katheter) Artefakte durch die Untersuchungsbedingungen berücksichtigt werden. Die Normalwerte müssen daher immer in Korrelation mit dem Alter angegeben werden (⊡ Tab. 20.4 [30, 39].
Blasenkapazität Die maximale zystometrische Blasenkapazität wird als das Volumen bezeichnet, bei dem das Kind spontan Harn auszuscheiden beginnt [18, 55]. Die altersentsprechend zu erwartende Kapazität kann anhand verschiedener Formeln berechnet werden ([26, 30], ⊡ Abb. 20.9): Blasenkapazität (ml) = Lebensalter (Jahre) × 24,8+31,6 (Jungen) Blasenkapazität (ml) = Lebensalter (Jahre) × 22,6+37,4 (Mädchen). Bewährt hat sich die vereinfachte Formel: Blasenkapazität (ml) = Lebensalter (Jahre) × 30+30.
⊡ Tab. 20.4. Relevante urodynamische Normalwerte bei Kindern Füllphase Maximale Blasenkapazität
Alter × 30+30=ml
Restharn
>10% der maximalen Blasenkapazität
Erster Harndrang
>60% der maximalen Blasenkapazität
Intravesikaler Druck (sitzend)
Durchschnittlich 14 cm H2O zu Beginn, bis 24 cm H2O am Ende der Füllung
Detrusoraktivität
Stabil
Abdomendruck
Stabil
Compliance
>25 ml/cm H2O
Beckenboden-EMG
Still
Detrusor-Leak-PointPressure (LPP)
<40 cm H2O
a
Entleerungsphase
b
20
⊡ Abb. 20.8. a, b Videourodynamik beim Kind mit suprapubischer Messung
Maximaler Harnfluss
Altersabhängig
Mittlerer Harnfluss
Altersabhängig
Miktionsdruck
<75 cm H2O
Beckenboden-EMG
Still
205 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
Restharn
Abdominaldruck
Normalerweise findet sich bei Kindern kein Restharn. Allerdings kann gerade bei kleinen Kindern die Aufforderung zur Spontanmiktion schwierig sein und situationsbedingt eine inkomplett geleerte Blase einen Restharn vortäuschen. Mehrfach wiederholte Restharnbestimmungen sind daher wichtig.
Die situationsbedingte Aktivierung infolge des Ballons sowie Spontankontraktionen des Rektums müssen bei Druckschwankungen im Abdominaldruck berücksichtigt werden.
Blasensensorik Gerade bei kleinen Kindern ist eine Interpretation des ersten und des weiteren Harndrangs schwierig, da die Kinder oftmals erst den starken oder gar imperativen Harndrang unmittelbar vor Miktionseinleitung angeben.
Intravesikaler Druck und Detrusoraktivität Der intravesikale Druck steigt durchschnittlich von 14 auf 24 cm H2O am Ende der Füllungsphase. Während bei älteren Kindern und Erwachsenen Detrusorkontraktionen während der Blasenfüllung als pathologisch gewertet werden müssen, sind sie bei Kindern bis zum vierten Lebensjahr noch physiologisch, da erst in diesem Alter zentrale hemmende Nervenbahnen ausgereift sind, die die frühkindliche Reflexmiktion in die zentral kontrollierte Miktion des Erwachsenen umwandeln. Der Miktionsdruck wird bei Kindern erheblich durch eine transurethrale Kathetereinlage beeinträchtigt, so dass Druckflussmessungen im Kindesalter mit liegendem transurethralen Messkatheter keine hohe diagnostische Bedeutung zukommt. Daher sollte, wenn eine objektive Aussage über die Entleerungsfunktion nötig ist, eine suprapubische Messung erfolgen. Der Miktionsdruck sollte dabei 75 cm H2O nicht übersteigen.
Beckenbodenaktivität Normalerweise sollte die über Oberflächenklebeelektroden abgeleitete Beckenbodenaktivität während der gesamten Messung, also sowohl in der Füllungs- wie in der Entleerungsphase, ruhig sein. Detrusorwellen sind allerdings häufig begleitet von einer Erhöhung der Aktivität im Beckenboden-EMG, da die Kinder versuchen, den Harndrang durch Zusammenkneifen des Beckenbodens einzuhalten.
Sonstige weiterführende Diagnostik Je nach Symptomatik, insbesondere bei Vorliegen eines Refluxes oder einer neurogenen Grunderkrankung, können weitere diagnostische Schritte notwendig werden.
Ausscheidungsurogramm (AUG) und Isotopennephrogramm (ING) Beide Untersuchungen sind heute bei normalem Sonographiebefund des oberen Harntraktes nur fakultativ, sollten jedoch bei Reflux oder Stauungsnieren zur Dokumentation des Ausgangsbefundes des oberen Harntraktes durchgeführt werden.
Magnetresonanztomographie (MRT) Bei Kindern mit therapieresistenten funktionellen Blasenentleerungsstörungen ohne sichtbare neurogene Grunderkrankung kann eine MRT-Untersuchung der lumbosakralen Wirbelsäule indiziert sein, um okkulte dysrhaphische Störungen aufzudecken, die sich bei bis zu 70% dieser Kinder finden lassen [22, 32, 51]. Allerdings reicht meist eine konventionelle Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule aus, um dysrhaphische Störung zu diagnostizieren, zumal das MRT der Wirbelsäule bei 91% dieser Kinder keine zusätzlichen Pathologien aufdecken kann [32].
ADH-Profilometrie Die ADH-Profilometrie wird heute nur noch in Ausnahmefällen oder bei wissenschaftlichen Fragestellungen angewendet [37].
Psychologische und psychiatrische Exploration
⊡ Abb. 20.9. Altersabhängigkeit der Blasenkapazität (Watanabe [55])
Kinder, die nach einem mehr als vierwöchigen trockenen Intervall erneut einnässen, sollten ein detailliertes psychiatrisches Screening erhalten, da sie signifikant häufiger psychiatrische Störungen aufweisen. Dies sollte zumindest als Fragebogenverfahren durchgeführt werden. Bei den meisten Kindern mit psychischen Auffälligkeiten ist
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206
Teil III · Spezielle Urodynamik
allerdings eine genaue kinderpsychiatrische Abklärung erforderlich [9].
20.3.3 Häufigste urodynamische Befunde
Detrusorhyperaktivität Bei der urodynamischen Abklärung von Kindern mit Harninkontinenz ist eine Detrusorhyperaktivität bei 25– 79% der häufigste Befund [2, 11, 12, 16, 24, 38 50]. Allerdings stellten verschiedene Untersucher bei Kindern mit therapieresistenter Enuresis in einem Viertel bis zur Hälfte unwillkürliche Detrusorkontraktionen als Zeichen einer noch fehlenden Reifung des Miktionsreflexes fest [24, 49, 59]. Kleinkinder mit rezidivierenden Harnwegsinfekten weisen in bis zu zwei Dritteln eine Detrusorhyperaktivität und hohe Miktionsdrücke auf (⊡ Abb. 20.10 [2]).
Detrusorsphinkterdyskoordination Zweithäufigster urodynamischer Befund bei 15–32% der Kinder ist die Detrusorsphinkterdyskoordination als Zeichen eines Miktionsfehlverhaltens mit fehlender Relaxierung des Sphinkters bzw. Beckenbodens während der Mik-
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tion (⊡ Abb. 20.11 und ⊡ Abb. 20.12 [12, 16]). Ursache ist in der Regel ein antrainiertes Fehlverhalten auf dem Boden einer übertriebenen Sauberkeitserziehung. Bei diesen Kindern findet sich in 15–25% ein vesikoureteraler Reflux. Eine besonders auffallende Pathologie des unteren Harntraktes infolge dieser funktionellen Abflussbehinderung war Anlass, ein eigenständiges Krankheitsbild zu beschreiben.
Detrusorhypokontraktilität bzw. Blasenhyposensitivität (»lazy bladder«) Eine Detrusorhypokontraktilität mit großer schlaffer Blase und hoher Restharnbildung kombiniert mit einer Hyposensitivität im Sinne eines Lazy-bladder-Syndroms findet sich bei bis zu 5% der Kinder mit kindlicher Inkontinenzproblematik. Bei Mädchen wird ein Lazy-bladder-Syndrom 4-mal häufiger gefunden als bei Knaben [14, 16]. Auch beim Megazystis-Megaureteren-Syndrom findet sich eine Detrusrorhypokontraktilität verbunden mit einer großkapazitären Blase, refluxiven Ureteren und oft erhöhten Retentionswerten (⊡ Abb. 20.12). Allerdings findet sich auch bei 6–34% der Kinder eine vollkommen unauffällige Zystometrie, trotz ausgeprägter Inkontinenzproblematik (⊡ Tab. 20.5).
⊡ Abb. 20.10. Detrusorhyperaktivität; Kurve eines 8 Jahre alten Mädchens mit Einnässen am Tag und in der Nacht
207 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
⊡ Abb. 20.11. Detrusorsphinkterdyskoordination. Kurve eines 10 Jahre alten Knabens mit Verdacht auf neurogene Blasenentleerungsstörung; in der Urodynamik zeigt sich eine typische Detrusorsphinkterdyskoordination mit hohem Miktionsdruck, Stakkatoflusskurve und Beckenbodenaktivitätszunahme während der Entleerung
20
208
Teil III · Spezielle Urodynamik
⊡ Abb. 20.12. Detrusorsphinkterdyskoordination. Radiologisch zeigt sich in der Videourodynamik eine Blase mit Pseudodivertikeln und Restharnbildung
a
20
b
⊡ Abb. 20.13. Megazystis-Megaureteren-Syndrom; bei einem 10 Jahre alten Mädchen mit einem Kreatininwert von 2,0 mg%. a AUG mit einer Megazystis mit einer Kapazität von 900 ml und flauer Darstellung der Nieren wegen der erhöhten Retentionswerte. b MCU mit vesikorenalem Reflux beidseits
209 Kapitel 20 · Urodynamik bei Blasenfunktionsstörungen des Kindes
⊡ Tab. 20.5. Häufigste urodynamische Befunde bei Kindern (n)
DI
DSD
LB
Schultz-Lampel et al. 1993
261
29
14
1
Bachelard et al. 1998
158
66
34
Medel et al. 1998 Komplizierte Enuresis Monosymptomatische Enuresis
43 37
79 49
21 49
Haben et al. 2001
375
73
27
Hoebecke et al. 2001
1000
58
32
Schulmann et al. 2001
366
52
25
Normal
VUR 15
25 4
6
15
DI Detrusorinstabilität, DSD Detrusordyskoordination, LB Lazy-bladderSyndrom, VUR Vesikourethaler Reflux
20.4
Wertigkeit der Urodynamik
Insgesamt hat sich die Invasivität bei der Abklärung der Enuresis und kindlichen Harninkontinenz in den letzten Jahren deutlich reduziert. Während in den 80er-Jahren noch bei fast allen Kindern Ausscheidungsurogramm, Miktionszystourethrographie und Urethrozystoskopie zum Abklärungsprogramm dazugehörten und eine Urodynamik bei etwa der Hälfte der Kindern durchgeführt wurde, werden heute Urogramme bei höchstens 2%, Urethrozystoskopien bei 5% und eine Urodynamik in 3,5% durchgeführt [12, 31]. Als wichtigstes diagnostisches Instrument zur Abklärung kindlicher Blasenfunktionsstörung haben sich die Basisuntersuchungen herausgestellt. Allein durch die Anamnese, untermauert durch das Trink- und Blasentagebuch (Miktionsprotokoll), gelingt meistens die Unterscheidung zwischen Enuresis und kindlicher Dranginkontinenz. Die Urinuntersuchung deckt Harnwegsinfekte als Ursache der Drangsymptomatik auf. Eine verdickte Blasenwand gibt Hinweise auf eine dyskoordinierte Miktion. Urodynamisch ist das Flow-EMG die wichtigste Screening-Untersuchung, die bei jedem Kind mit Miktionsstörungen durchgeführt werden sollte [48]. Obwohl nur die Videourodynamik eine auf der zugrunde liegenden Pathophysiologie basierende Diagnose liefern kann [11], hat sich gezeigt, dass dadurch nur unwesentlich die Diagnose und damit die Therapiekonsequenzen beeinflusst werden [31, 35]. Daher basiert heute zunehmend die Wahl der Therapie auf diesen nichtinvasiven Methoden.
20.5
und Therapieeinleitung ist fast immer nach Anamnese und nichtinvasiver Diagnostik möglich. Flow-EMG-Studien sollten vermehrt zum Einsatz kommen. Bei Therapieversagern sollte eine Videourodynamik durchgeführt werden. Obligat ist die Zystometrie allerdings bei Kindern mit neurogenen Blasenfunktionsstörungen, insbesondere zur Früherkennung einer Gefährdung des oberen Harntraktes durch hohe Blasendrücke bzw. einen Reflux. Bei diesen Kindern sollte jährlich eine Kontrollurodynamik durchgeführt werden [8].
Schlussfolgerungen
Bei nichtneurogenen Blasenfunktionsstörungen im Kindesalter wird die Zystometrie als invasive Methode heute zunehmend kritischer eingesetzt. Eine Diagnosestellung
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20
210
20
Teil III · Spezielle Urodynamik
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21
Spezielle Urodynamik beim alten Menschen D. Schultz-Lampel, H. Madersbacher
21.1
Altersbedingte Veränderungen der Blasenfunktion – 212
21.2
Abklärung der Harninkontinenz beim älteren Menschen – 212
21.2.1
Basisdiagnostik
21.3
Indikationen zur Urodynamik beim alten Menschen – 213
21.4
Durchführung der Urodynamik beim alten Menschen – 214
– 213
21.5
Typische urodynamische Befunde beim alten Menschen – 214
21.5.1
Detrusorhyperaktivität
21.6
Fazit
– 219
Literatur
– 219
– 215
212
21
Teil III · Spezielle Urodynamik
Blasenfunktionsstörungen und insbesondere die Harninkontinenz ist infolge ihrer medizinischen, psychischen und sozialen Konsequenzen ein zentrales Problemen des alten Menschen [3]. So liegt die Inkontinenz an vierter Stelle der Alterserkrankungen, die die Lebensqualität der Betroffenen am meisten einschränkt. Sie ist die häufigste Ursache für eine Heimeinweisung.
21.1
Altersbedingte Veränderungen der Blasenfunktion
Symptome der gestörten Harnspeicherung und Blasenentleerung (»lower urinary tract symptoms«, LUTS) nehmen mit dem Alter bei beiden Geschlechtern zu. Typisch für das Alter sind Symptome der überaktiven Blase (OAB = overactive bladder) mit Pollakisurie, imperativem Harndrang ohne oder auch mit Urinverlust (OAB dry bzw. wet) sowie Nykturie, die durch die altersbedingten Veränderungen hervorgerufen werden. Auch im Alter tritt die Harninkontinenz bei Frauen wesentlich häufiger auf als bei Männer (⊡ Tab. 21.1). Ein sinkender Östrogenspiegel, eine sinkende Östrogenwirkung führt zu einer atrophen Vaginitis und Urethritis, die die Entwicklung eines Harnwegsinfektes und einer Drangsymptomatik im Sinne einer Altersreizblase begünstigt. Gleichzeitig erhöht sich bei der alten Frau durch eine Schwächung des Beckenbodens infolge vorausgegangener Schwangerschaften, Geburten oder Operationen auch die Belastungsinkontinenzrate. Bei Männern liegt die Prävalenz von LUTS bei den über 65-Jährigen bei 50% [17]. Dementsprechend nimmt auch der Score der Speicher- und Entleerungsstörungen zu [12]. Die mit dem Alter zunehmende Überaktivität der Blase führt zu gehäuftem imperativem Drang, zur Dranginkontinenz. Obstruktion und Detrusorschwäche verursachen Symptome wie verzögerten Miktionsbeginn, erschwerte Miktion, abgeschwächten Harnstrahl und das Gefühl einer unvollständigen Blasenentleerung. Schon 1987 haben Resnick und Yalla [18] nachgewiesen, dass bei den über 80-Jährigen in 30% der überaktive Detrusor mit einer Kontraktionsschwäche und dadurch mit Restharn kombiniert ist, was die Therapie der irritativen Symptome deutlich erschwert. Neben strukturellen Veränderungen des Detrusors [4, 5, 6, 7] spielt die Minderperfusion des Gehirns eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Dranginkontinenz im Alter [1, 10]. Durch Beteiligung des rechtsseitigen Frontalhirnbereichs fallen hemmende Einflüsse auf den Detrusorreflex weg. Ein besonderes Problem stellt die Entwicklung einer Demenz dar, bei der es durch fortschreitenden Hirnabbau zu unkontrollierten Blasenkontraktionen und damit zur Inkontinenz kommt. Eine oft daraus resultierende inad-
⊡ Tab. 21.1. Häufigkeit [%] der Harninkontinenz im Alter (Nach Dikno et al. [4]) Männer
Frauen
Gesamt
Harninkontinenz
18,9
37,7
30,0
Belastungsinkontinenz
7,9
26,7
21,8
Dranginkontinenz
34,9
9,0
15,7
Gemischte Inkontinenz
28,9
55,5
48,6
Sonstige
28,3
8,8
13,8
äquate Wahrnehmung des Harndranges sowie Agnosien und Apraxien kommen verstärkend hinzu. Eine in der Regel zu wenig beachtete Rolle als Inkontinenzauslöser spielen zudem die Multimorbidität und die Multimedikation mit Medikamenten, die Nebenwirkungen auf Blasenentleerung oder Harnausscheidung haben [16]. Damit ist die Harninkontinenz bei dementiellen Syndromen geradezu ein typisches Kennzeichen und die Hauptursache zur Einweisung in ein Pflegeheim. Damit steigt die Prävalenz der Harninkontinenz bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen bis auf 90%. Typische Faktoren einer Harninkontinenz wurden durch Resnick zu dem Begriff DIAPPERS zusammengefasst, die er in erster Linie für die passagere Inkontinenz geprägt hat. Diese stehen für die Anfangsbuchstaben von Delir (akuter Verwirrtheitszustand), Infektion (Harnwegsinfekte und andere systemische Infekte), atrophische Urethritis, Pharmaka, psychische Veränderungen (Psychosen, Depressionen, Verhaltensauffälligkeiten), exzessive Flüssigkeitsverluste (erniedrigte Zufuhr, Diuretika, Ödeme, Herzinsuffizienz, endokrinologische Erkrankungen wie Hyperkalzämien, Diabetes insipidus), reduzierte Mobilität und Stuhlverhaltung (Obstipation). Durch Therapie der kausalen Faktoren lässt sich oftmals die Inkontinenz bessern oder beseitigen [19].
21.2
Abklärung der Harninkontinenz beim älteren Menschen
Jeder ältere Mensch sollte in der ärztlichen Praxis oder Klinik auf das Problem einer Blasenfunktionsstörung oder Harninkontinenz angesprochen werden. Der Umfang der Abklärung sollte sich individuell nach den Symptomen, dem Alter und Allgemeinzustand und auch den Wünschen und Erwartungen, demnach dem Leidensdruck des Betroffenen richten. Insbesondere sollte auf invasive Maßnahmen verzichtet werden, wenn sie keinen diagnostischen Zugewinn und therapeutische Konsequenzen haben.
213 Kapitel 21 · Spezielle Urodynamik beim alten Menschen
21.2.1 Basisdiagnostik
Grundlage für die Untersuchung älterer Patienten mit derartigen Symptomen ist die Basisdiagnostik: Sie besteht aus einer gezielten Anamnese und klinischen Untersuchung, der Harnanalyse, einer Restharnbestimmung und dem Blasentagebuch. Im Rahmen der Anamnese sollen die Umstände erfragt werden, die zum unfreiwilligem Harnabgang führen: Harnverlust in Kombination mit Harndrang im Sinne einer Dranginkontinenz, oder Harninkontinenz bei plötzlicher intraabdomineller Drucksteigerung im Sinne einer Belastungsinkontinenz. Außerdem muss der Leidensdruck evaluiert werden, da er die weiteren Maßnahmen wesentlich mitbestimmt. Gerade beim alten Menschen müssen oft konkrete Fragen gestellt werden, die über Zeitpunkt, Ausmaß und möglicher Ursachen der Inkontinenz Auskunft geben. Wichtig ist die ausführliche medikamentöse und neurologische Anamnese und die Anamnese vorausgegangener Erkrankungen. In der Regel deckt das erste Gespräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen oder Betreuern bestehende mentale und kognitive Defizite auf, von denen die Möglichkeiten und die Prognose einer erfolgreichen Therapie abhängen. Bei der klinischen Untersuchung sollte der anale Sphinktertonus geprüft und die Fähigkeit evaluiert werden, den äußeren Afterschliessmuskel willkürlich zusammenzukneifen. Letzteres vor allem deshalb, weil die Fähigkeit des Willkürkneifens die Prognose wesentlich verbessert, die Harninkontinenz – ob Drang- oder Belastungsinkontinenz – in den Griff zu bekommen. Die rektale Untersuchung dient aber auch der Beurteilung der Größe und Konsistenz der Prostata, insbesondere dem Ausschluss eines Prostatakarzinoms beim alten Mann. Eine vaginale Untersuchung der Frau auf pathologische Haut- und Schleimhautverhältnisse, Zysto- und Rektozelen, Deszensus und Uterusprolaps sowie Kontraktionskraft des Beckenbodens sollte immer durchgeführt werden. Einfache Inspektion des Ganges, der manuellen Geschicklichkeit, eines Tremors der Hände oder der Mimik können schon wichtige Hinweise auf mögliche neurologische Ursachen geben. Eine Harnuntersuchung ist selbstverständlich, vor allem zum Ausschluss eines Harnwegsinfektes, ebenso die Bestimmung des Restharns, der für die Indikation zu einer urodynamischen Untersuchung entscheidend sein kann. Da die Restharnmengen – auch tageszeitlich – schwanken, sollten zumindest zwei Messungen durchgeführt werden. Bei asymptomatischen Männern und Frauen über 75 Jahren wurden im Mittel 90 ml bzw. 45 ml Restharn ermittelt [2], wobei die intraindividuelle Restharnmenge stark von der Tageszeit abhängig war [9]. Restharn bis zu 50% der Blasenkapazität ist bei älteren Menschen tolerabel, sofern keine Harnwegsinfekte auftreten.
Bei Patienten mit irritativen Beschwerden, mit Inkontinenz, aber auch mit Nykturie liefert das Blasen- und Trinktagebuch (Miktionstagebuch, Miktionsprotokoll) entscheidende Informationen: Die Aufzeichnung der Miktionszeit, der jeweils entleerten Miktionsmenge sowie die Information, ob der Betroffene zum Zeitpunkt der Blasenentleerung bereits nass oder noch trocken war, gibt Informationen darüber, ob eine erhöhte Miktionsfrequenz durch eine überaktive Blase oder durch eine Polyurie verursacht ist. Die Miktionsmengen informieren über die funktionelle Blasenkapazität, außerdem bei Dranginkontinenz über jenes Füllvolumen, das die willkürlich nicht hemmbare Detrusorkontraktion triggert. Zusätzlich sollte das Trinkverhalten über den Tag dokumentiert werden, um darin ein Fehlverhalten zu erkennen, das als Ursache der Inkontinenz in Frage kommen kann. Auch wenn das Blasentagebuch beim alten oder gar dementen Menschen oft nicht ohne fremde Hilfe zu führen ist, sollte es immer so exakt wie möglich versucht werden, da es die essentielle Basis für das Erstellen eines »Ist-Status« und die Grundlage für die meisten Verhaltens modifizierenden Therapieschemata darstellt. Mit dieser Basisdiagnostik kann man bei 85% der Patienten die Situation so weit klären, dass die im Allgemeinen konservative Behandlung begonnen werden kann [11, 14].
21.3
Indikationen zur Urodynamik beim alten Menschen
Eine invasive Diagnostik ist im Alter vor allem dann indiziert, wenn die Inkontinenz durch verschiedene Ursachen ausgelöst sein kann und man die exakte pathophysiologische Ursache herausfinden möchte. Ebenso sollte sie immer bei kombinierten Speicher- und Entleerungsstörungen sowie vor interventionellen therapeutischen Schritten durchgeführt werden.
Indikationen zur Urodynamik beim alten Menschen ▬ Patienten mit Symptomen der Harnspeicher- und Blasenentleerungsstörungen mit Restharn über 50% der Blasenkapazität bzw. rezidivierenden Harnwegsinfekten in der Anamnese ▬ Versagen der primär aufgrund der Basisdiagnostik eingeleiteten Therapie ▬ Vor interventioneller Therapie bei Symptomen der Blasenentleerungsstörung, wenn ein schwacher Detrusor als Ursache oder Mitursache der Blasenentleerungsstörung ausgeschlossen werden soll
▼
21
214
Teil III · Spezielle Urodynamik
21.4
21
▬ Männer mit Morbus Parkinson mit Symptomen der Harnspeicher- und Blasenentleerungsstörung, wenn eine interventionelle Therapie geplant ist, auch wenn der Restharn unter 50% der Blasenkapazität liegt ▬ Frauen mit gemischter Harninkontinenz, wenn die konservative Therapie versagt bzw. eine interventionelle Therapie wegen der Belastungsinkontinenzkomponente geplant ist
Bei Patienten mit überaktiver Blase also typischen Symptomen der Harnspeicherstörung mit restharnarmer bis restharnfreier Blasenentleerung und ohne Harnwegsinfektionen in der Anamnese ist eine urodynamische Untersuchung nicht notwendig und die konservative Therapie (Verhaltenstherapie, Pharmakotherapie) kann ohne eine solche Untersuchung eingeleitet werden. Symptome der Blasenentleerungstörung mit Restharn unter 50% der Blasenkapazität stellen bei fehlendem Harnwegsinfekt in der Anamnese keine Indikation zu einer Urodynamik dar, wenn die Therapie konservativ gestaltet wird. Sollten die Therapiemaßnahmen nicht greifen oder ist eine interventionelle oder operative Therapie geplant, empfiehlt sich zumindest eine Druckflussmessung. Liegt der Restharn über 50% der Blasenkapazität, ist eine urodynamische Abklärung sinnvoll, um die notwendige Therapie gezielter durchführen zu können. Aufgrund der Klinik lässt sich nämlich nicht unterscheiden, ob eine Detrusorschwäche oder eine Blasenauslassobstruktion bzw. eine Kombination von beidem Ursache der Restharnbildung ist. Aufgrund von Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus oder Morbus Parkinson kann man zwar die zugrunde liegende Ursache vermuten, etwa eine Detrusorschwäche bei diabetischer Zystopathie oder eine funktionelle Auslassobstruktion bei rigidem Beckenboden im Rahmen des Morbus Parkinson, eine exakte Klärung ist allerdings nur durch eine Druckflussmessung möglich. Insbesondere bei Parkinsonkranken ist durch die mögliche Kombination von funktioneller Störung und morphologischen Veränderungen am unteren Harntrakt die Blasenentleerung mitunter sehr komplex und eine Abklärung nur durch die videourodynamische Untersuchung möglich. Bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen in Kombination mit Symptomen der Harnspeicher- und Enleerungsstörungen ist eine urodynamische Untersuchung indiziert, wobei eine videourodynamische Untersuchung gleichzeitig auch Auskunft über die Radiomorphologie des unteren Harntraktes liefert, insbesondere des Blasenauslasses in der Entleerungsphase.
Durchführung der Urodynamik beim alten Menschen
Die Technik der urodynamischen Untersuchung beim alten Menschen unterscheidet sich nicht von der des jüngeren Patienten, muss aber eventuell je nach Allgemeinzustand, mentalem Zustand und Mobilität des Patienten modifiziert werden. Schwierig kann die Interpretation subjektiver Angaben wie erster und maximaler Harndrang sein, zumal im Alter der erste Harndrang oft schon mit einem Urinverlust verknüpft ist. Als die am geringsten invasive urodynamische Untersuchung dient auch im Alter die Uroflowmetrie als Screeningmethode zur Beurteilung einer Blasenentleerungsstörung im Sinne einer subvesikalen Obstruktion. Wichtig ist die ausreichende Füllung der Blase, was beim älteren Patienten schwierig sein kann. Eine mehrfache Wiederholung ist notwendig. Die wichtigste Untersuchung zum Ausschluss bzw. Nachweis ungehemmter Detrusorkontraktionen bzw. einer subvesikalen Obstruktion ist die Zystomanometrie. Eine Videourodynamik kann bei Vorliegen einer neurogenen Grunderkrankung zur simultanen radiologischen Beurteilung der Blasenkonfiguration, der Öffnung des Blasenauslasses und zum Ausschluss eines vesikorenalen Refluxes vorteilhaft sein. Der Stellenwert eines Urethradruckprofils bei der alten Frau ist nicht klar definiert. Es ist sicher keine Routineuntersuchung und wird höchstens vor der geplanten operativen Therapie einer Belastungsinkontinenz durchgeführt.
21.5
Typische urodynamische Befunde beim alten Menschen
Eine Vielzahl von Faktoren wie Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Stoffwechselstörungen, medikamentöse Einflüsse, aber auch die natürlichen Alterungsprozesse des Gehirns und der Harnblase sowie die Entwicklung einer subvesikalen Obstruktion beeinflussen die Harnspeicherung und Blasenentleerung, so dass urodynamisch unterschiedliche Blasenfunktionsstörungen im Alter klassifiziert werden können (⊡ Tab. 21.2). Die typische Blasenfunktionsstörung des alten Menschen ist die idiopathische Detrusorhyerperaktivität, Daneben ist die Kombination aus Detrusorhyperaktivität und Hypokontraktilität ein typischer Befund der Altersblase, die sich von der reinen hyperaktiven Blase insbesondere durch die Miktionsparameter in der Urodynamik unterscheidet (⊡ Tab. 21.3, [11, 15, 19]). In einer Studie mit 948 Personen mit einem mittleren Alter von 72,4 Jahren war die Detrusorhyperaktivität mit 30% häufigste urodynamische Diagnose, gefolgt von einer Obstruktion bei 16% und einer
215 Kapitel 21 · Spezielle Urodynamik beim alten Menschen
⊡ Tab. 21.2. Detrusordysfunktion im Alter und ihre Ursachen Detrusorhyperaktivität: Terminale Detrusorhyperaktivität
Zerebrale Degeneration, Demenz, Schlaganfall
Phasische Detrusorhyperaktivität
Symptomatisch Idiopathisch Neurogen
Detrusorhyperaktivität und Hypokontraktilität Detrusorhypokontraktilität
Obstruktion, Tumor, Infekt Morphologisch, psychogen? Parkinson, zerebrale und spinale Erkrankungen Zerebrale Degeneration, Detrusordegeneration, Obstruktion
Symptomatisch Idiopathisch Neurogen
⊡ Tab. 21.3. Urodynamische Parameter im Alter. (Nach Resnick u. Yalla [18]) Detrusorhyperaktivität
Detrusorhyperaktivität, Hypokontraktilität
Blasenkapazität
166 +/- 26 ml
215 +/- 24 ml
Miktionsvolumen (% der Blasenkapazität)
96 +/- 2%
17 +/- 3%
Detrusordruckanstieg
6,1 +/- 0,8 cm H2O/s
2,0 +/- 0,4 cm H2O/s
Detrusordruck
35 +/- 8 cm H2O
3 +/- 1 cm H2O
Kontraktionsdauer
53 +/- 8 s
64 +/- 9 s
Restharn
14 +/- 4 ml
95 +/- 15 ml
Belastungsinkontinenz bei 14% der Fälle. 40% der Patienten wiesen allerdings eine Mischinkontinenz auf [20].
21.5.1 Detrusorhyperaktivität
Gerade beim alten Menschen ist eine exakte ätiologische Trennung von neurogener oder nichtneurogener (idiopathischer) Detrusorhyperaktivität oft nicht möglich. Eine klinisch und urodynamisch orientierte Subtypisierung der Detrusorhyperaktivität kann gerade beim alten Menschen sinnvoll sein, da die verschiedenen Typen auf unterschiedliche therapeutische Ansätze ansprechen [8]:
Terminale Detrusorhyperaktivität Hier liegen eine gestörte Perzeption für die Blasenfüllung sowie ein Verlust der bewussten Unterdrückung der Miktion vor. Während der Zystometrie wird der erste Harndrang schon bei kleinen Füllungsvolumina wahrgenommen und dieser imperative Drang wird sofort von einem unfreiwil-
Medikamente Degeneration, psychogen, morphologisch Periphere Denervierung, Diabetes mellitus
ligen Urinverlust gefolgt. In diesem Fall ist die Warnung einer vollen Blase defekt und der Patient hat erst dann das Bedürfnis zu miktionieren, wenn die Miktion schon in Gang ist. Diese Vorwarnzeit kann man während der Urodynamik messen: es ist die mit der Stoppuhr gemessene Zeit zwischen Auftreten des ersten Harndranges und der Miktion. Sie ist entscheidend für den Patienten, da er in dieser Zeit eine Toilette gefunden haben muss, um eine Inkontinenz zu vermeiden. Die Miktion selbst läuft komplett und koordiniert ab mit Relaxation des Sphinkters und ist in der Regel nicht zu unterbrechen. Die typische Urodynamikkurve zeigt eine terminale Detrusorhyperaktivität mit Detrusordruckanstieg und konsekutiver Miktion (⊡ Abb. 21.1). Einige Patienten können die Miktion hinauszögern, indem sie den externen Sphinkter kontrahieren (zusammenkneifen), was dann im Sinne eines Blasentrainings geübt werden sollte. 75% der Patienten über 70 Jahren mit Detrusorhyperaktivität können dieser Gruppe zugeordnet werden. Bei den meisten liegt keine definierte neurogene Grunderkrankung vor, sondern dieser Befund repräsentiert die typische Altersblase, die früher als ungehemmte neuropathische Blase (zerebral enthemmt Blase) bezeichnet wurde. Patienten mit dieser Form der Detrusorhyperaktivität profitieren von einem Blasentraining und einer anticholinergen Therapie.
Phasische Detrusorhyperaktivität Hier treten während der Füllungsphase der Zystometrie spontane oder durch Husten oder schnelle Füllung provozierte phasische Detrusorkontraktionen auf, bei denen der Patient einen starken Harndrang verspürt. Die Patienten haben eine normale Perzeption für die Blasenfüllung. Die Miktion kann noch über längere Zeit herausgeschoben werden (⊡ Abb. 21.2). Diese Form der Detrusorhyperaktivität ist eher untypisch für den alten Menschen. Sie weist eher auf eine neurogene Grunderkrankung hin. Patienten mit dieser Form der Detrusorhyperaktivität sprechen auch auf eine Elektrostimulation an.
21
⊡ Abb. 21.1. Terminale Detrusorhyperaktivität
216 Teil III · Spezielle Urodynamik
21
217
⊡ Abb. 21.2. Phasische Detrusorhyperaktivität
Kapitel 21 · Spezielle Urodynamik beim alten Menschen
21
⊡ Abb. 21.3. Kombinierte Detrusorhyperaktivität und Destrusorhypokontraktilität
218 Teil III · Spezielle Urodynamik
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219 Kapitel 21 · Spezielle Urodynamik beim alten Menschen
Detrusorhyperaktivität und Hypokontraktilität Neben dem frühzeitig einsetzenden imperativen Harndrang finden sich ein abgeschwächter Harnstrahl und größere Restharnmengen sowie als Folge der Kontraktionsstörung ein langsamerer Detrusordruckanstieg, eine verminderte isometrische Kontraktionskraft und eine verlängerte Kontraktionsdauer (⊡ Abb. 21.3).
21.6
Fazit
Im Vergleich zum jüngeren Patienten spielt die Urodynamik in der Abklärung von Blasenfunktionsstörungen beim alten Menschen eine untergeordnete Rolle. In Einzelfällen kann sie jedoch für die Diagnosefindung und somit für eine erfolgversprechende Therapie entscheidend sein. Bei einer nur geringen Morbidität und bei einfühlsamer Durchführung sollte und kann dann auch die Urodynamik Patienten bis ins hohe Alter zugemutet werden.
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21
22
Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung H. Madersbacher, M. Stöhrer, B. Schönberger †, J. Pannek
22.1
Allgemeiner Teil
22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5
Diagnostik vor einer urodynamischen Untersuchung Urodynamische Untersuchung – 222 Klinische Wertigkeit – 226 Ergänzende Untersuchungen – 226 Definitionen – 226
22.2
Spezieller Teil
22.2.1 22.2.2 22.2.3
Urodynamik bei suprapontinen Läsionen – 227 Urodynamik bei spinalen suprasakralen Läsionen – 230 Urodynamik bei subsakralen und peripheren Läsionen unter besonderer Berücksichtigung der Myelomeningozele – 233
Literatur
– 222 – 222
– 227
– 239
Weiterführende Literatur – 239
222
Teil III · Spezielle Urodynamik
22.1
Allgemeiner Teil
22.1.1 Diagnostik vor einer urodynamischen
22
Untersuchung Anamnese und klinische Untersuchung sind obligat.
Anamnese Sie umfasst Fragen nach Stoffwechselerkrankungen und neurologischen Erkrankungen mit bekannter Auswirkung auf den unteren Harntrakt, nach stattgehabtem Wirbelsäulentrauma, nach Kreuzschmerzen, Diskopathie, nach Gefäßoperationen, insbesondere im Bereich der Aorta abdominalis, sowie nach Operationen im kleinen Becken, nach bestehenden zerebrovaskulären Störungen sowie nach eingenommenen Medikamenten. Ebenso sollte nach neurologischen Ausfällen (sensorisch/motorisch/sensibel) gefragt werden. Die spezielle Anamnese umfasst die ▬ Miktionsanamnese ▬ Stuhlanamnese ▬ Sexualanamnese
Miktionsanamnese Die folgenden Fragen informieren über mögliche Störungen der Sensibilität und der Willkürsteuerung, über Inkontinenz und deren Management, die Art der Blasenentleerung und über Harnwegsinfektionen. Dazu kommen gezielte Fragen bei elektrisch stimulierter Blasenentleerung und bei implantiertem artifiziellem Sphinkter. Harndranggefühl: ▬ Besteht bei voller Blase Harndranggefühl oder lediglich Völlegefühl im Unterbauch? ▬ Ist die Unterdrückung des Harndrangs möglich, wenn ja, wie lange? ▬ Geschieht die Einleitung der Blasenentleerung willkürlich oder durch Triggern? ▬ Muss die Blasenentleerung mittels Credé (manuelle Kompression der suprapubischen Gegend) oder Valsalvamanöver (Betätigung der Bauchpresse) unterstützt werden? ▬ Erfolgt die Blasenentleerung normalerweise stehend, sitzend oder liegend? ▬ Besteht unfreiwilliger Harnabgang, können durch einfache Fragen wie Inkontinenz in Kombination mit imperativem Drang, bei Erhöhung des Druckes im Bauchraum u. a. auch bei Wechsel vom Bett in den Rollstuhl, wesentliche Hinweise zur Differenzierung zwischen detrusor- und sphinkterbedingter Inkontinenz erhalten werden. ▬ Das Management der Harninkontinenz sollte erfragt (Vorlagen, Kondomurinal) und wenn nötig das Aus-
maß des unfreiwilligen Harnabganges durch Wiegen der Einlagen quantifiziert werden. ▬ Wichtig ist auch die Frage nach Harnwegsinfektionen, nach ihrer Frequenz, Symptomatik, febril oder afebril, und der Behandlung. ▬ Bei elektrisch stimulierter Blasenentleerung (sakraler Vorderwurzelstimulator nach Brindley, sakrale Neuromodulation) interessiert die Häufigkeit der Blasenentleerung in 24 h, bei implantiertem artifiziellen Sphinkter, interessieren die Implantatcharakteristika (z. B. Reservoirdruck, Manschettendurchmesser, Pumpstöße). ▬ Vor jeder urodynamischen Untersuchung sollte ein Miktionstagebuch über mindestens zwei Tage darüber informieren, wann die Blase entleert wird, wie hoch die entleerten Mengen sind, ob der Betroffene zum Zeitpunkt der Entleerung noch trocken oder bereits nass war sowie wann und wieviel getrunken wird.
Stuhlanamnese Wichtige ergänzende Informationen ergibt die Stuhlanamnese, vor allem hinsichtlich sensorischen Qualitäten (Stuhldranggefühl, Differenzierung zwischen bevorstehendem Stuhl- und Windabgang möglich?), sowie die Art der Stuhlentleerung (spontan, medikamentös unterstützt, digital, durch Elektrostimulation?).
Sexualanamnese Dasselbe gilt für die Sexualanamnese betreffend Erektion und Ejakulation: ▬ Kommt eine Erektion zustande? ▬ Ist die Erektion ausreichend für penovaginalen Verkehr? ▬ Ist die Auslösung der Erektion spontan oder sind zusätzliche Reize notwendig? ▬ Kommt es zu spontanen morgendlichen Erektionen? ▬ Sind zur Erektion Hilfsmittel oder Medikamente nötig? ▬ Findet eine Ejakulation statt? ▬ Wie ist die Qualität der Ejakulation und des Ejakulates? ▬ Wird die Ejakulation induziert mittels Vibrator oder durch Elektrostimulation?
Neurourologische Untersuchung Geprüft werden die Sensibilität (Dermatome S2–S5) hinsichtlich Berührungs- und Schmerzempfindung, der Bulbokavernosusreflex, der anokutane Reflex und die Fähigkeit, willkürlich den Sphinkter ani zusammenzukneifen.
22.1.2 Urodynamische Untersuchung Vor jeder urodynamischen Untersuchung sollten wenn möglich zwei Harnflussmessungen vorliegen, eine möglichst unmittelbar vor der urodynamischen Untersu-
223 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
chung (Nativflow, nicht durch Messkatheter verändert). Anschließend sollte sonografisch der Restharn überprüft werden. Außerdem empfiehlt sich vor der urodynamischen Untersuchung eine Ultraschalluntersuchung des Harntraktes mit Evaluierung der Sonomorphologie der Harnblase (Blasenwanddicke, Kontur, Trabekulierung, Divertikel bzw. Pseudodivertikel) und der Nieren. Bei vorangegangener radiologischer Untersuchung sollten die Röntgenbilder und nicht nur der Befund vorliegen. In der Folge werden die Besonderheiten der verschiedenen urodynamischen Untersuchungsverfahren bei neurogener Störung des unteren Harntraktes dargestellt. Bezüglich der Messparameter der einzelnen Verfahren Kap. 6. Bei der urodynamischen Evaluierung von neurogenen Störungen des unteren Harntraktes muss insbesondere bei möglicher Detrusorhyperaktivität auf Störfaktoren geachtet werden, die zur Irritation und Provokation mit Verfälschung der Werte und Muster führen. Diese müssen auf ein Minimum reduziert werden. Wichtig ist der Harnbefund: Zum Zeitpunkt der (video)urodynamischen Untersuchung sollte der Harn infektfrei sein. Daher sollt unmittelbar vor der Untersuchung ein Urinsediment durchgeführt werden.
Untersuchungsmethoden bei neurogener Blasenfunktionsstörung Uroflowmetrie Sie hat als isolierte Maßnahme nur geringen Stellenwert, als Nativflow vor der urodynamischen Untersuchung (s. o.) sowie in Kombination mit anderen Messverfahren kann sie jedoch eine wertvolle Ergänzung darstellen.
Zystomanometrie Die Zystomanometrie evaluiert die Speicherphase. Als Einzeluntersuchung liefert sie zur Verlaufskontrolle wertvolle Informationen, etwa zur Frage des Therapieeffektes bei pathologischer Compliance oder Detrusorhyperaktivität.
Druckflussmessung Die kombinierte Druckflussmessung erlaubt eine objektive Bestimmung der Detrusorkontraktionsleistung und des Blasenauslasswiderstandes. Bei neurogenen Störungen interessieren vor allem das Kontraktionsmuster, die Höhe und die Dauer der Kontraktion, die Relation zum Harnfluss bzw. Harnflussmuster. Spricht die Druckflussmessung für eine infravesikale Obstruktion, müssen weiterführende Untersuchungen (zusätzliches EMG während der Druckflussmessung oder radiologische Beobachtung der Blasenentleerung) die Art und die Lokalisation der Obstruktion (funktionell oder strukturell, Blasenhals oder äußerer Schließmuskel) klären.
Elektromyographie Klebe- und Drahtelektroden erlauben über eine Massenableitung eine Beurteilung über Synergie oder Dyssynergie zwischen Detrusor und Sphinkter.
Urethradruckmessung Sie ist als isoliertes Verfahren bei neurogener Dysfunktion des unteren Harntraktes im Rahmen der Basisabklärung ohne wesentliche Relevanz. Bei bestimmten Fragestellungen (Überprüfung der Effektivität einer Sphinktermanschette, Beurteilung einer neurogener Belastungsinkontinenz) ist zusätzlicher Informationsgewinn möglich.
Videourodynamik Goldstandard bei der Abklärung einer neurogener Dysfunktion des unteren Harntraktes ist die Videourodynamik: die Kombination von radiologischer Dar-
stellung des unteren Harntraktes in der Speicher- und Entleerungsphase simultan mit urodynamischer Messung. Sie gibt im Rahmen der Basisdiagnostik umfassende Information und erlaubt eine exakte Klassifizierung der zugrundeliegenden Pathophysiologie. Auch vor Durchführung gezielter therapeutischer Maßnahmen, z. B. Indikation zur Sphinkterotomie, ist sie unerlässlich. Die im Rahmen der Videourodynamik gewonnene Information, etwa über einen Reflux in ein erweitertes Hohlsystem oder über funktionswirksame Divertikel, erfordert eine Relativierung der gemessenen Drücke.
Messtechnik Was die Messtechnik betrifft, ist vor allem auf vorbereitende Maßnahmen zu achten wie Behandlung eines Harnwegsinfektes mit Infektfreiheit bei Untersuchung, ausreichende Entleerung des Enddarmes, Berücksichtigung harntraktwirksamer Medikamente. Grundsätzlich sollte in jedem videourodynamischen oder urodynamischen Befund bei neurogener Dysfunktion des unteren Harntraktes die Position des Patienten während der Untersuchung (liegend, sitzend, stehend, wenn möglich entsprechend der individuellen Entleerungsgewohnheiten), Art und Größe des Messkatheters, Lage des Messkatheters (suprapubisch oder transurethral), das Füllmedium, seine Temperatur (bei möglicher Reflexaktivität die Körpertemperatur), die Füllgeschwindigkeit (bei möglicher Detrusorhyperaktivität maximal 20 ml/min) sowie die Art der EMG-Ableitung angegeben sein. Bei Querschnittgelähmten oberhalb von Th5 ist eine vegetative Fehlregulation (sog. autonome Dysreflexie) bei Füllung der Blase mit unter Umstänen vitalbedrohlichen hypertensiven Krisen möglich. Warnsymptome sind Kopfschmerzen, Rötung des Kopfes, Pulsverlangsamung und Schweißausbrüche, wobei bereits vorher in der Anamnese nach solchen Symptomen in Zusammenhang mit der Bla-
22
224
22
Teil III · Spezielle Urodynamik
senfüllung oder -entleerung gefragt werden muss. Bei Blutdruckanstieg über 180 mmHg systolisch bzw. entsprechender klinischer Symptomatik muss die Blasenfüllung abgebrochen und die Blase entleert werden. Gegebenenfalls müssen α-Blocker oder Diazepam i.v. gegeben werden. Die Wiederholung der Untersuchung unter Reduzierung provokativer Faktoren (Senkung der Füllgeschwindigkeit, Körpertemperatur des Füllmediums) ist möglich. Im Allgemeinen ist die Aufzeichnung mehrerer Füllungs- und Entleerungsphasen notwendig. Zunächst sollte der gewohnte Ablauf registriert, anschließend sollten gezielte Tests (z. B. Provokationstest) durchgeführt werden. Da mehr als 99% der Gesamttageszeit auf die Speicherphase der Blase fallen, gebührt ihr bzw. der Compliance hinsichtlich Prognose und potentieller Gefährdung des oberen Harntraktes besondere Aufmerksamkeit. Bei hypo- oder akontraktilem Detrusor ist eine Blasenfüllung bis 500 ml unbedenklich, individuell abgestimmt auf die klinische Situation ist jedoch auch eine Füllung bis zum Harnverlust möglich und sinnvoll. Bei neurogen-hyperaktivem Detrusor ist die Speicherphase mit dem ersten unwillkürlichen Harnverlust beendet. Bei erhaltener Sensibilität ist zu prüfen, ob und inwieweit eine Willkürsteuerung des Detrusors vorhanden ist bzw. eine einmal begonnene Detrusorkontraktion unterdrückt werden kann.
100
Leak Point
Low-Compliance-Blase Normale Compliance-Blase
50
a 100
200
300
400
End Point
b
Füllungsvolumen (ml)
⊡ Abb. 22.1. Low-compliance-Blase a mit aufgepfropften, hypokontraktilen Detrusorkontraktionen (im Vergleich dazu Druckkurve mit normaler Compliance bis zur Detrusorkontraktion), b schematische Darstellung mit konstantem Druckanstieg von Beginn der Blasenfüllung an (obere Linie) und mit Druckanstieg ab einer bestimmten Blasenfüllung (»break point«), nicht immer klar zu differenzieren von einer beginnenden Detrusorkontraktion
Untersuchungsparameter Compliance Die Compliance (Δ Volumen/Δ Druck) ist ein Maß für die Dehnfähigkeit/ Elastizität der Blase in der Speicherphase. Sie ist in Relation zur funktionellen Blasenkapazität zu sehen und sagt aus, welche Druckzunahme durch welches Füllungsvolumen vorliegt (⊡ Abb. 22.1). Die Berücksichtigung des Restharns ist bei der Berechnung erforderlich, da die echte Speicherphase erst ab Erreichen des Restharnvolumens beginnt. Wichtig ist die Differenzierung zwischen struktureller oder funktioneller Ursache einer erniedrigten Compliance: Bei Nichtansprechen auf relaxierende Maßnahmen ist eine Untersuchung in regionaler Anästhesie (z. B. Spinalanästhesie) zur Differenzierung notwendig.
Urodynamikkurve beurteilt werden, wobei vor allem bei gleichzeitiger Spastizität des Beckenbodens trotz hoher Drucke kein »leak« stattfindet, sondern der unfreiwillige Harnabgang erst bei Abklingen der Detrusorkontraktion und gleichzeitig nachlassender Sphinkterspastizität auftritt. Bei alleiniger Beurteilung des Leak point pressures würde man in diesem Fall das Risiko falsch bzw. zu gering beurteilen (⊡ Abb. 22.2).
Befundmuster in der Speicherphase In der Speicherphase der urodynamischen Messung werden Blasensensitivtät und Detrusoraktivität beurteilt
Detrusor leak point pressure
Sensitivität
Der Detrusor leak point pressure hat sich als Screening zur Risikobeurteilung von Kindern mit Myelomeningozele bewährt. Nach McGuire liegt der kritische Druck, bei dem Harnabgang auftritt, bei 40 cm H2O und darüber. Ab diesem Druck ist mit Komplikationen seitens des oberen Harntraktes (Reflux, Stauung) zu rechnen. Für Erwachsene liegen keine diesbezüglichen Werte vor. Allerdings ist der Leak point pressure allein für die Risikobeurteilung nicht ausreichend. In jedem Fall muss die zugehörige
Die Blase kann hypo- oder hypersensitiv (unangemessener Harndrang in Relation zum Füllungsvolumen) sein, darüber hinaus können vegetative Sensationen durch autonome Dysreflexie (s. o.) auftreten.
Detrusorfunktion Compliance
Bei normaler Blasenfunktion liegt die Compliance über 20 ml/cm H2O. Eine Compliance <20 ml/cm H2O gilt als
225 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
⊡ Abb. 22.2. Frühzeitiger Druckanstieg mit Werten von über 40 ml/cm H2O ohne dass es zur Inkontinenz kommt. Erst bei Füllung mit >200 ml unwillkürlicher Harnverlust. In diesem Fall unauffälliger Leak point pressure trotz extremer Gefährdung des Patienten durch frühzeitigen Druckanstieg in der Speicherphase
erniedrigt, bei einer Compliance <10 ml/cm H2O besteht ein stark erhöhtes Risiko für den oberen Harntrakt (low compliance Blase). Neurogene Detrusorhyperaktivität
Die neurogene Detrusorhyperaktivität (früher Detrusorhyperreflexie genannt) ist durch unwillkürliche Detrusorkontraktionen in der Speicherphase gekennzeichnet, die entweder spontan, getriggert oder provoziert sind. Die Kontraktion kann hypo-, normo- oder hyperkontraktil sein. Bei gleichzeitiger Bildaufzeichnung weist eine Zähnelung der Harnblase, in gröberer Form eine beginnende Trabekulierung auf eine Detrusorhyperaktivität, hin. Ein Fortschreiten bis zur Pseudodivertikelblase (»der klassischen, sog.Christbaumblase, früher typischer Befund bei lange Zeit unbehandelter neurogener Blasenfunktionsstörung«) ist möglich.
Bei vesikoureterorenalem Reflux ist zu anzugeben, bei welchem Füllungsvolumen und welchem intravesikalem Druck der Reflux auftritt. Ein offener Blasenhals in der Speicherphase ist pathologisch, im Allgemeinen besteht auch eine Korrelation zwischen dem Ausmaß des offenen Blasenhalses und der Schwere der zugrundeliegenden Pathophysiologie. Entleerungsphase
Die Blasenentleerung sollte wenn möglich in gewohnter Position erfolgen. Ein im Rahmen der urodynamischen Untersuchung gemessener Restharn ist nicht unbedingt relevant, daher ist eine Restharnbestimmung nach gewohnter Blasenentleerung vor der urodynamischen Untersuchung zu fordern. Von einer Detrusorakontraktilität spricht man, wenn keine Detrusorkontraktion möglich ist. Der Begriff Detrusorsphinkterdyssynergie charakterisiert eine
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226
22
Teil III · Spezielle Urodynamik
unwillkürliche Aktivität des quergestreiften Schließmuskels während einer Detrusorkontraktion. Öffnet sich der Blasenhals nur unzureichend, kann der Grund in einer Detrusorblasenhalsdyssynergie liegen, allerdings ist die Differentialdiagnose zur strukturellen Blasenhalsobstruktion allein aufgrund der Videourodynamik nicht immer sicher zu stellen. Bei der Bildbeobachtung während der Blasenentleerung sollte auf Symmetrie bzw. Dyssymmetrie der Detrusorkontraktionen geachtet werden, eine fehlende
Symmetrie ist Hinweis auf eine Teildenervierung. Die koordinierte Kontraktion ist bei neurogenen Störungen häufig beeinträchtigt, die Kontraktion daher ineffizient und nicht bis zum Ende der Entleerung anhaltend. Eine Ballonierung der supradiaphragmalen Harnröhre weist auf eine Detrusorsphinkterdyssynergie hin, das Ausmaß dieser Dyssynergie (initial, permanent, intermittierend) bestimmt ihre funktionelle Bedeutung. Bei Harnentleerung mittels Bauchpresse kann es ebenfalls zu einer funktionellen Obstruktion durch Abquetschung der Harnröhre am Durchtritt durch den Beckenboden kommen, auch wenn dieser schlaff gelähmt ist. Ein Reflux in die männlichen Adnexe ist immer pathologisch und Zeichen eines erhöhten Druckes in der hinteren Harnröhre während der Miktion und somit ein Hinweis für eine behandlungsbedürftige Situation. Harnröhrendivertikel sind meist Folge einer Dauerkatheterbehandlung und entstehen durch ein Druckulkus in der Harnröhre, meist penoskrotal. Bei entsprechender Größe beeinflussen sie die Entleerungsdynamik und können Ursache rezidivierender Harnwegsinfektionen sein.
punkt induziert werden, zu dem unter normalen Bedingungen noch keine Aktivität nachweisbar ist. Damit kann die Intaktheit des sakralen Detrusorreflexbogens frühzeitig nachgewiesen werden. Der Carbacholtest beruht auf der überschießenden Reaktion des denervierten Detrusors auf die Zufuhr eines Transmitters: Bei subsakralen Läsionen beweist ein positiver Test (Anstieg des intravesikalen Drucks um mehr als 20 cm H2O 20 min nach Injektion s.c. von Carbachol) eine komplette bzw. fast komplette Denervierung der Blase. Voraussetzung ist allerdings, dass die myogene Komponente weitgehend intakt ist. Leider sind Sensitivität und Spezifität beider Provokationstests nicht hoch genug, um als beweisend für eine spezifische Störung zu gelten. Zudem können, besonders beim Carbacholtests, z. T. gravierende unerwünschte Wirkungen auftreten, so dass die Indikation zur Durchführung dieser Verfahren streng gestellt werden sollte. Eine weiterführende fachübergreifende Diagnostik kann in Einzelfällen notwendig sein. Dazu gehört das klassische Beckenboden-EMG mit Nadelelektroden, die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit im sakralen Reflexbogen sowie die Evaluierung viszerosensorischer und somatosensorischer evozierter Potentiale. Besondere Bedeutung kommt dem MRI zum Ausschluß einer spinalen Dysraphie oder eines tethered cord bei Kindern mit pathologischer Urodynamik ohne wesentliche somatosensorische oder motorische Störung zu.
22.1.5 Definitionen 22.1.3 Klinische Wertigkeit
Die urodynamische Untersuchung ist Voraussetzung zur Beurteilung der Funktion des unteren Harntraktes bei allen neurogenen Blasenfunktionsstörungen. Die Zusammenfassung der Ergebnisse und eine Beurteilung nach der Befunderhebung sind obligat. Diese Beurteilung beinhaltet das neurologische Korrelat (Art und Dauer der neurologischen Erkrankung oder Läsion) und fasst die Charakteristika der Speicher- und Entleerungsfunktion zusammen, wobei bei der zusammenfassenden Bewertung der obere Harntrakt mit einbezogen werden soll.
22.1.4 Ergänzende Untersuchungen
Als Provokationstest hat sich der Eiswassertest bewährt: Durch schnelle (100 ml/Min.) Instillation von 4°C kalter physiologischer Kochsalzlösung (»Eiswasser«) in die Harnblase kann eine Detrusorkontraktion zu einem Zeit-
Anatomische Blasenkapazität: Blasenkapazität nach Ausschalten neurogener Einflüsse durch z. B. Regionalanästhesie (spinal, epidural, sakral) Funktionelle Blasenkapazität: mittleres Entleerungsvolumen, das besser durch das Miktionsprotokoll als im Rahmen der Urodynamik ermittelt wird Maximale Blasenkapazität: Blasenfüllungsvolumen bei Eintreten der Blasenentleerung. Die maximale Blasenkapazität entspricht der Summe von funktioneller Blasenkapazität und Restharn (cave: Volumenverlust z. B. durch Reflux, Divertikel) Reflexievolumen: Blasenfüllmenge bis zum Auftreten der ersten unwillkürlichen Detrusorkontraktion Breakvolumen: Volumen in der Speicherphase bis zu dem Punkt, an dem sich die Compliance entscheidend verändert Low-compliance-Blase: pathologischer intravesikaler Druckanstieg ohne Detrusorkontraktion. Die Lowcompliance-Blase wurde früher als hypertone Blase bezeichnet.
227 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
22.2
Spezieller Teil
Neurogene Funktionsstörungen des unteren Harntraktes können durch suprapontine Läsionen, spinale suprasakrale Rückenmarkläsionen und durch subsakrale Läsionen (Cauda equina und periphere Nerven) verursacht sein (⊡ Abb. 22.3). Abhängig von der Lokalisation und dem Ausmaß der Läsion sind verschiedene Funktionsstörungen von Detrusor und Sphinkter bzw. Kombinationen möglich (⊡ Abb. 22.4).
22.2.1 Urodynamik bei suprapontinen Läsionen
Ursachen für neurogene Blasenfunktionsstörungen mit suprapontiner (zerebraler) Genese sind beim älteren Menschen zerebrovaskuläre Läsionen, Ischämie oder
Spinale Reflexblase
Suprapontine Reflexblase
Intrapelvine Läsion der Blaseninnervation
Suprapontine Reflexblase
Subsakrale Läsionen komplett
Blutung, Morbus Parkinson und verwandte Krankheitsbilder insbesondere vom Typ der Multisystematrophien, bei jüngeren Leuten apallische Syndrome sowie Multiple Sklerose, wenn die zerebralen Herde im Vordergrund stehen. Klinisch klagen diese Patienten überwiegend über Symptome der überaktiven Blase wie gehäuften und imperativen Harndrang und Dranginkontinenz. Da das Zerebrum insgesamt einen hemmenden Einfluss auf das Miktionszentrum im Hirnstamm ausübt, führt die Schädigung dieser Areale zu einer Enthemmung der Blase und damit zur Symptomatik der zerebral enthemmten Blase. Urodynamisch sind diese Läsionen dadurch charakterisiert, dass es mit dem Auftreten von Harndrang zum Einsetzen einer willkürlich nicht mehr hemmbaren Detrusorkontraktion kommt, die dann zum unfreiwilligen Harnabgang führt. Da die Läsionen im Allgemeinen oberhalb des Hirnstammes gelegen sind, wo die Koordination
Subsakrale Läsionen komplett
Spinale Reflexblase
Lumbosakrale Läsion z.B. Myelomeningocele
Lumbosakrale Läsionen z.B. Myelomeningocele
Sphinkter Hyperreflexie isoliert
⊡ Abb. 22.3. Ursachen neurogener Funktionsstörungen
Intrapelvine Läsionen der Blaseninnervation
Sphinkter Hypo-/Areflexie
⊡ Abb. 22.4. Urodynamische Befundmuster bei neurogener Dysfunktion des unteren Harntraktes: dicke Linien symbolisieren eine Hyperaktivität, dünne Linien Hypooder Akontraktilität, die blauen Linien symbolisieren eine normale Innervation der betroffenen Struktur
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228
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Teil III · Spezielle Urodynamik
zwischen Detrusor und Sphinkter lokalisiert ist, bleibt der Synergismus zwischen Detrusor und Sphinkter bestehen. Wenn trotzdem die Blasenentleerung unzureichend ist bzw. Restharn besteht, sind die Gründe dafür entweder eine Detrusorschwäche, eine morphologische Obstruktion am Blasenauslass (Prostata) oder eine funktionelle Obstruktion, z. B. bedingt durch eine allgemeine Rigidität der quergestreiften Muskulatur inklusive des Beckenbodens im Rahmen eines Parkinson-Syndroms.
Abklärung Grundlage für die Abklärung dieser meist älteren Patienten ist die Basisdiagnostik, bestehend aus der gezielten Anamnese, der klinischen Untersuchung, der Harnanalyse, der Restharnbestimmung und dem Ausfüllen des Blasentagebuches über die Dauer von zwei Tagen. Fragen an den Patienten oder die betreuende Person sollen klären ob: ▬ Harndrang verspürt wird bzw. der Betroffene diesen artikuliert, ▬ unfreiwilliger Harnabgang mit dem Auftreten von Harndrang korreliert oder ▬ die Inkontinenz z. B. bei einer älteren Frau, von der neurologischen Erkrankung unabhängig ist. Diese Informationen können Hinweise darauf geben, ob der Harnverlust durch eine Harnbelastungsinkontinenz infolge Beckenbodenschwäche verursacht ist bzw. ob eine gemischte Inkontinenz vorliegt. Bei der klinischen Untersuchung sollte die Sensibilität in den sakralen Dermatomen insbesondere auf Schmerz geprüft, der anale Sphinktertonus untersucht sowie die Fähigkeit evaluiert werden, den äußeren Afterschließmuskel willkürlich zusammenzukneifen. Letzteres vor allem deshalb, weil die vorhandene Fähigkeit des Willkürkneifens die Prognose wesentlich verbessert, auch eine neurogene Dranginkontinenz in den Griff zu bekommen. Eine Harnuntersuchung ist selbstverständlich, vor allem zum Ausschluss eines Harnwegsinfektes. Gerade bei nicht mobilisierten und älteren Frauen ist die Gewinnung eines relevanten Mittelstrahlharnes kaum möglich und deshalb der Katheterismus zur Harngewinnung die Methode der Wahl. Das Urinsediment ist dabei dem Streifentest deutlich überlegen. Wichtig ist die Bestimmung des Restharns, der auch für die Indikation zu einer urodynamischen Untersuchung entscheidend sein kann. Da die Restharnmengen mitunter tageszeitlich schwanken, sollten zumindest zwei Messungen wenn möglich sonografisch durchgeführt werden. Bei älteren Frauen kann der zur Harngewinnung notwendige Katheterismus mit der Restharnbestimmung kombiniert werden. Ein absoluter Grenzwert für eine akzeptable Restharnmenge besteht nicht. Während bei jün-
geren Erwachsenen zirka 20% der Blasenkapazität als maximale Grenze angesehen werde, können bei älteren Menschen Restharnwerte von bis zu 50% der Blasenkapazität tolerabel sein, sofern keine Harnwegsinfekte auftreten. Klinisch lässt sich nicht unterscheiden, ob Restharn durch eine Detrusorschwäche oder eine Blasenauslassobstruktion bzw. eine Kombination von beidem verursacht ist. Unter Beachtung der zugrundeliegenden neurologischen Erkrankung bzw. von vorhandenen Begleiterkrankungen lässt sich die Ursache vermuten: etwa eine Detrusorschwäche bei Verdacht auf diabetische Zystopathie oder eine funktionelle Auslassobstruktion bei rigidem Beckenboden bei Morbus Parkinson. Eine exakte Klärung dieser Frage ist allerdings nur durch eine Druckflussmessung möglich. Entscheidende Informationen über die Blasenentleerungssituation und damit auch für das Toiletten- oder Miktionstraining liefert das Blasentagebuch: Die Aufzeichnung der Miktionszeit, der jeweils entleerten Harnmenge und ob der Betroffene zum Zeitpunkt der Entlassung bereits nass oder noch trocken ist, gibt wichtige Informationen über die funktionelle Blasenkapazität sowie darüber, bei welchem Füllvolumen willkürlich nicht hemmbare Detrusorkontraktionen getriggert werden. Häufig müssen derartige Aufzeichnungen von den betreuenden Personen gemacht werden. Eine entsprechende Aufklärung über den Sinn und Zweck eines solchen Protokolls ist notwendig, da das Erstellen eines guten Protokolls Zeit, Mühe und Zuwendung erfordert.
Wann kann auf invasive Urodynamik verzichtet werden? Entspricht die Klinik der aufgrund der zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung anzunehmenden Pathophysiologie – imperativer Drang und Dranginkontinenz bei suprapontinen Läsionen so kann man vorerst auf eine urodynamische Untersuchung verzichten, insbesondere auf eine Druckflussmessung Voraussetzungen sind allerdings: ▬ Harn ohne aktuelle Infektzeichen ▬ keine Hinweise auf wiederholte Harnwegsinfektionen ▬ vorhandener Restharn tolerabel Es kann mit einer konservativen Therapie bestehend aus Toiletten- bzw. Miktionstraining und Medikamenten zur Relaxation des hyperaktiven Detrusors begonnen werden. Ist die klinische Symptomatik unklar, besteht Restharn über 50% der Blasenkapazität oder finden sich anamnestisch bzw. aktuell Harnwegsinfektionen, so ist eine weitere Klärung durch eine urodynamische Untersuchung im Sinne einer Druckflussmessung bzw. durch eine videourodynamische Untersuchung angezeigt.
229 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
50 cm H2O 0
100 mL 170 mL FD
200 mL SD
Voiding
⊡ Abb. 22.5. Urodynamische Charakteristika der suprapontinen Reflexblase: normale Compliance, gleichzeitiges Auftreten von Harndrang und nichtsteuerbarer Detrusorkontraktion
Invasive Urodynamik bei suprapontiner neurogener Blasenentleerungsstörung Charakteristisch für die suprapontine neurogene Detrusorhyperaktivität sind: ▬ eine annähernd normale Compliance, ▬ das Auftreten von Harndrang gleichzeitig mit einer Detrusorkontraktion, ▬ die Unmöglichkeit, diese zu unterdrücken (⊡ Abb. 22.5) und ▬ bei erhaltenem Willkürkneifen die Kontraktion des äußeren Schließmuskels zur Verhinderung der Blasenentleerung, ein Befund, der nicht mit einer Detrusorsphinkterdyssynergie verwechselt werden sollte. Die funktionelle Blasenkapazität ist bei diesen Patienten sehr unterschiedlich. Mitunter triggern bereits geringe Füllungsvolumina reflektorische Detrusorkontraktionen, bei anderen treten sie erst bei relativ hohen Füllungsvolumina auf. In der Entleerungsphase interessiert die Kontraktilität des Detrusors, zumal etwa bei der Hälfte der Hochbetagten eine Hypokontraktilität der Blase besteht. Reduzierter Flow bei normo- oder hyperkontraktilem Detrusor spricht für eine bestehende Blasenauslassobstruktion struktureller oder funktioneller Genese (s. o.). Die videourodynamische Untersuchung bzw. das ergänzend durchgeführte Miktionszystourethrogramm oder die flexible Urethro-Zystoskopie klärt die Verhältnisse am Blasenauslass und informiert über Lokalisation und Art der Obstruktion. Vor jeder urodynamischen bzw. videourodynamischen Untersuchung sollte ein Blasentagebuch geschrieben, eine Harnflussmessung durchgeführt und der Restharn kontrolliert werden, wenn möglich zumindest zweimal nach freier Blasenentleerung. Die urodynamische Untersuchung kann aufgrund untersuchungsbedingter Artefakte diesbezüglich nicht der Realität entsprechende Befunde liefern. Insbesondere bei männlichen Parkinson-Patienten, kann die komplexe Funktionsstörung am unteren Harn-
trakt nur durch eine videourodynamische Untersuchung abgeklärt werden. Eine solche Untersuchung ist insbesondere dann unabdingbar, wenn ein operativer Eingriff zur Senkung eines erhöhten Blasenauslasswiderstandes geplant ist. Obwohl suprapontin verursachte neurogene Störungen des unteren Harntraktes selten Auswirkungen auf den oberen Harntrakt haben, so ist dennoch zumindest eine sonografische Untersuchung der Nieren zum Ausschluss einer Stauung angezeigt. Bei der Durchführung der urodynamischen Untersuchung sind jene Regeln zu beachten, die auch bei neurogenen Blasenentleerungsstörungen anderer Genese bzw. Lokalisation gefordert werden: adäquate Füllrate (etwa 10% der zu erwartenden funktionellen Blasenkapazität) sowie körperwarmes Füllmedium. Da viele dieser Patienten auch ein neurogen enthemmtes Rektum haben und eine Defäkation während der Untersuchung den Ablauf der Urodynamik erheblich stört, sollte für eine entsprechende Stuhlentleerung am Vorabend oder am Morgen des Untersuchungstages Sorge getragen werden.
Zusammenfassung Bei der Abklärung einer Blasenentleerungsstörung von Patienten mit suprapontinen Läsionen haben nichtinvasive Maßnahmen, insbesondere die gezielte neurourologische Untersuchung, die Restharnmessung, wenn möglich in Kombination mit einer Aufzeichnung des Harnflusses sowie das Miktionstagebuch einen hohen Stellenwert. Nur wenn aufgrund dieser Untersuchungen die Ursache der Blasenentleerungsstörung bzw. einer Harninkontinenz unklar bleibt, die erhobenen Befunde mit der zugrunde liegenden Neuropathologie nicht in Einklang zu bringen sind oder wenn eine aufgrund der Basisdiagnostik eingeleitete Therapie nicht die erwarteten Ergebnisse bringt, ist eine urodynamische Untersuchung angezeigt. Umfang und die Art dieser Untersuchung hängen vom Störungsmuster
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Teil III · Spezielle Urodynamik
und dem Zweck der Untersuchung ab: Erstabklärung oder Kontrolluntersuchung. Die funktionelle Blasenkapazität, Harnfluss und Restharn sind vor einer invasiven urodynamischen Untersuchung zu klären, da bei der hyperaktiven Blasenentleerungssituation die mit der Urodyamik verbundenen Irritationen die Werte verfälschen können. Grundlage für ein Toiletten- oder Miktionstraining ist in erster Linie das Blasentagebuch. Das Risiko einer Blasendekompensation durch anticholinerge Therapie lässt sich durch Flow und Restharn erfassen. Da die Gefahr einer sekundären Schädigung des oberen Harntraktes bei suprapontinen Läsionen gering ist und dementsprechend Low compliance, vesikoureterorenaler Reflux und Stauung selten beobachtet werden, ist die invasive urodynamische Untersuchung seltener indiziert als bei spinalen Läsionen.
22.2.2 Urodynamik bei spinalen suprasakralen
Läsionen Spinale suprasakrale Läsionen können angeboren oder
erworben sein. Die Läsion tritt oberhalb des sakralen Miktionszentrums auf, das sich etwa in der Höhe des 12. Brustwirbels befindet. In Frage kommen traumatische Schädigungen der BWS und der HWS, raumverdrängende Prozesse, entzündliche Erkrankungen, degenerative und generalisierte neurologische Krankheitsbilder sowie Durchblutungsstörungen.
Häufigste neurologische Krankheitsbilder, die zu einer neurogenen Blasenfunktionsstörungen führen können Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS) durch ▬ Durchblutungsstörungen ▬ multiple Sklerose ▬ Normaldruckhydrozephalus ▬ Frontalhirntumore ▬ Traumata des Frontalhirns und des Myelons ▬ Idiopathisches Parkinson-Syndrom ▬ Spinalkanalstenose ▬ Spinale Malformationen ▬ Stoffwechselstörungen – angeboren – iatrogen
Bei kompletten Läsionen fehlen Symptome wie imperativer Harndrang und Dranginkontinenz. Auf Grund der Lokalisation der Läsion besteht eine Dyssynergie zwischen Detrusor- und Sphinkteraktion. Es kommt zu einer zeit-
gleichen spastischen Kontraktion von Blase und Beckenboden bzw. des Schließmuskels. Die bisherige Bezeichnung Detrusorhyperreflexie wurde durch die neue Nomenklatur neurogene Detrusorhyperaktivität ersetzt. Eine mögliche Miktion bei diesem Typ der Blasenentleerung besteht darin, dass der quergestreifte Schließmuskel seine spastische Kontraktion nur kurzzeitig aufrecht erhält, während der glattmuskuläre Detrusor wesentlich länger kontrahiert. Während der Erholungsphase des quergestreiften Schließmuskelanteils kommt es in kurzen Abständen zu spritzerartigen Harnabgängen. Diese Harnabgänge können durch Triggern der Spastik provoziert werden. Die Kenntnis dieses Mechanismus hat schon vor 30 Jahren dazu geführt, die Patienten anzuhalten, die Blase durch Triggern zu entleeren. Das Triggern erfolgt meist durch suprapubisches Klopfen, die Entleerung kann aber auch anal oder an anderen Körperregionen getriggert werden (z. B. durch Kneifen der Glans penis). Das Problem ist die nicht immer restharnfreie Entleerung und die auf Grund der provozierten Spastik zunehmende Detrusoraktivität durch obstruktionsbedingte muskuläre Hypertrophie. Es kommt in diesen Fällen bei relativ hohen Läsionen und aggressiver Spastik schon frühzeitig zu einem Einflussstau der Ureteren durch den frühzeitigen Aufbau der Wandspannung des Detrusors zu Beginn der Speicherphase, so dass in kurzer Zeit ein Rückstau des oberen Harntraktes unvermeidlich ist. Die Lebenserwartung von Patienten mit sehr hoher Querschnittlähmung und einer unbehandelten sehr intensiven Dysreflexie war früher aus diesen Gründen deutlich eingeschränkt. Es kam frühzeitig zum Nierenversagen durch einen chronischen Rückstau. Bei inkompletten Läsionen ist diese Entwicklung ähnlich, meist nicht so ausgeprägt, aber häufig auch mit hohen Restharnmengen belastet. Patienten mit einer zervikalen oder einer hohen thorakalen Läsion haben sehr häufig erhebliche vegetative Begleitprobleme mit Erhöhung des Blutdrucks, Kopfschmerzen, Schweißausbrüchen und anderen vegetativen Symptomen, die die Lebensqualität und letztlich auch die Lebenserwartung limitieren. Diese Symptome können spontan, jedoch besonders beim Triggern der Blase auftreten. Große klinische Bedeutung in der Speicherphase kommt dem Reflexievolumen zu. So sollte im günstigen Fall die Compliance bis zum Auftreten der ersten Detrusorkontraktionen im Normbereich liegen und die erste Reflexkontraktion bei einem Volumen von >300 ml erfolgen. Tritt sie deutlich früher auf, können anamnestische Angaben des Patienten dazu beitragen, die Untersuchungstechnik zu überprüfen. Über das frühzeitige Ende einer physiologischen Speicherphase kommt es zu einer Druckbelastung des oberen Harntraktes und damit zur mittelfristigen Gefährdung der Nierenfunktion. Wie bereits einleitend im allgemeinen Teil dieses Kapitels angeführt, sind vor jeder urodynamischen Untersuchung eine allgemeine Anamnese sowie die Miktions-,
231 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
Stuhl- und Sexualanamnese zu erheben. Die neurourologische Untersuchung schließt sich an. Auch bei Patienten mit suprasakraler Läsion sind die zur urodynamischen Untersuchung angeführten standardisierten Abläufe erforderlich. Trotzdem gibt es eine Reihe von Problemen, die zu erheblichen artifiziellen Belastungen des urodynamischen Untersuchungsablaufes führen können, wenn der Untersucher sich nicht auf derartige vor allem durch die Spastik induzierte Probleme einstellt. Da es sich überwiegend um jüngere Querschnittgelähmte handelt, bei denen die Blasenfunktionsstörung zu mittelbar und unmittelbar vital bedrohlichen Zuständen führen kann, ist häufig ein Ausschöpfen des gesamten Repertoires an urodynamischer Untersuchungstechnik erforderlich. Unverzichtbar ist aus heutiger Sicht die gleichzeitige Bildgebung, um das Ausmaß der Schädigung zu erkennen und die funktionellen Abläufe mit den vorliegenden morphologischen Veränderungen zu vergleichen.
Urodynamik bei neurogener Detrusorhyperaktivität Mit der Erkenntnis, dass die Speicherphase eine vorrangige Bedeutung für die Sicherheit des oberen Harntraktes hat, hat sich der Schwerpunkt der urodynamischen Abklärung deutlich verschoben. Mit zunehmender Höhe der supraspinalen Schädigung und Zunahme der vegetativen Dysreflexie verstärkt sich auch die Reflexaktivität des Detrusors: Bereits geringe provokative Reize können zu artifiziellen Veränderungen des Untersuchungsergebnisses führen. Schon das Einführen und Einlegen eines Messkatheters kann zu einer Irritation führen, so dass unter Umständen mit dem Beginn der Messung gewartet werden muss, bis die provozierte spastische Reaktion abgeklungen ist. Die Einfüllgeschwindigkeit des Kontrastmittels sollte 10 ml/min nicht überschreiten, vor allem bei Läsionen oberhalb Th7. Alternativ bietet sich die von Klevmark angegebene Methode an: Füllgeschwindigkeit (ml/min) = Körpergewicht (kg) / 4 Das Kontrastmittel soll mit Körpertemperatur in der Blase ankommen. Es gibt inzwischen Hilfsgeräte, die eine solche Temperatur konstant auf dem gewünschten Niveau halten. Schnellere Füllung und reduzierte Temperatur des Füllmediums provozieren den Detrusor und führen zu erheblichen Veränderungen des Befundes (⊡ Abb. 22.6, ⊡ Abb. 22.7, ⊡ Abb. 22.8). Üblicherweise werden die Untersuchungen bei Querschnittgelähmten in liegender Position durchgeführt. Falls sie ihre Blase im Sitzen z. B. durch Triggern entleeren, sollte die Position für die Entleerung geändert werden. Es kann hierbei erneut zu einer reflektorischen Kontraktion kommen. Man sollte dann abwarten, bis sich die Situation beruhigt, und gegebenenfalls auch vorsichtig nachfüllen,
um den Patienten bei Erreichen seiner durchschnittlichen Kapazität triggern zu lassen. Bei Patienten, die sich selbst katheterisieren und unter anticholinerger Therapie stehen, ist die Gefahr einer Provokation erheblich geringer. Wichtig ist, zu wissen, dass bei Tetraplegikern lebensbedrohliche Blutdruckerhöhungen provoziert werden können. Die Beurteilung einer solchen Gefährdung vor der urodynamischen Untersuchung ist nicht mit letzter Sicherheit möglich. Angaben des Patienten über die Intensität seiner vegetativen Dysreflexie sind daher anamnestisch von besonderer Bedeutung. Die gleichzeitige videographische Darstellung des Harntraktes ist bei diesen Patienten essentiell. So zeigen sich Druckverluste durch Reflux, Formveränderungen der Blase bis hin zur massiven Pseudodivertikelbildung und eine Detrusorsphinkterdyssynergie am ehesten und deutlichsten über die videographische Aufzeichnung. Es sollten daher einzelne Bilder während der Speicherphase sowie eine fortlaufende Aufzeichnung oder möglichst viele Einzelbilder während der Entleerungsphase aufgezeichnet werden (⊡ Abb. 22.9, ⊡ Abb. 22.10). Da die meisten Patienten regelmäßig zu urodynamischen Kontrolluntersuchungen zum gleichen Zentrum kommen, ist über die Bildgebung der Verlauf und ggf. eine beginnende Dekompensation gut darstellbar. Zunehmende Veränderungen am Detrusor lassen auch bei wenig veränderten Drücken den Schluss zu, dass die Situation noch nicht optimal eingestellt ist. Im weiteren Verlauf tritt dann neben der Erhöhung der Speicherdrücke zusätzliche eine Reduzierung der Kapazität auf. Einen brauchbaren Hinweis auf die reaktive Situation des Detrusors gibt der Eiswassertest. Er wird unter diesen Bedingungen positiv sein, allerdings qualitativ unterschiedlich, so dass man auch aus dem standardisierten Eiswassertest einen zusätzlichen Hinweis auf die individuelle Situation und den Effekt einer medikamentösen Dämpfung erhalten kann. Die Messung eines Urethradruckprofils bei diesen Patienten ist selten ergiebig, da ein Messkatheter in der hinteren Harnröhre bei hohen Läsionen zu permanenter Spastik führen kann. Auch eine Punktion des externen Sphinkters mit einer EMG-Ableitungsnadel kann zu ähnlichen Zuständen führen. Am günstigsten ist ein Messkatheter wie er von Rossier benutzt wird mit mehreren Ableitungen zwischen Blase und Sphinkter. Dieser Katheter bleibt in Position, bis sich die provozierte Spastik beruhigt hat. Die Messung erfolgt dann bei unveränderter Katheterposition an den verschiedenen Punkten, wobei die Lage der Punkte videographisch dokumentiert wird. Eine Detrusorsphinkterdyssynergie ist mit dieser Messtechnik gut zu dokumentieren. In den meisten Fälle genügt eine quantitative periphere Aufzeichnung des BeckenbodenEMGs durch Klebeelektroden (die allerdings wasserdicht angebracht werden müssen) mit einer gleichzeitigen Bild-
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Teil III · Spezielle Urodynamik
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⊡ Abb. 22.6. Veränderungen des urodynamischen Untersuchungsbefundes am gleichen Patienten durch unterschiedliche Untersuchungstechnik. Temperatur des Füllmediums 38°C, Füllgeschwindigkeit 60 ml/min: Reflexievolumen 50 ml
dokumentation. Auch in den Beckenboden bzw. in die Gegend des äußeren Schließmuskels eingebrachte Drahtelektroden (⊡ Abb. 22.11) informieren sehr gut über die Beckenboden- bzw. Sphinkter- aktivität. Die Entleerungsphase sollte mit Ausnahme von Patienten die katheterisieren in gleicher Weise eingeleitet werden wie unter häuslichen Bedingungen (Position, Stimulation z. B. durch Triggern). Die Bestimmung des von McGuire eingeführten Leak point pressure mag als Screening bei Kindern geeignet sein, um einen Überblick zu erhalten. Das Problem ist allerdings der Kurvenverlauf bis zum Zeitpunkt des Harnverlustes. Ein Harnabgang unter 40 cm H2O, der von McGuire toleriert wird, schließt eine für den oberen Harntrakt gefährliche Situation nicht aus. Patienten mit einem sofortigen Druckanstieg über 40 cm H2O sind durchaus in der Lage, bis zum Erreichen eines gewissen
Füllvolumens kontinent zu sein. In der abgebildeten Situation (⊡ Abb. 22.4) tritt der Harnverlust erst bei über 300 ml Füllung und bei einem Druck von 35 cm H2O auf. Die Drücke steigen aber bereits bei Beginn der Füllung auf über 40 cm H2O, so dass bei diesem Patienten mit einer erheblichen Gefährdung des oberen Harntraktes gerechnet werden muss. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die urodynamische Untersuchung von spinalen suprasakralen Läsionen erhebliche Anforderungen an die Untersuchungstechnik stellt. Der Untersuchungsvorgang ist möglichst physiologisch durchzuführen. Eine simultane videographische Kontrolle ist essentiell. Der Leak point pressure ist von untergeordneter Bedeutung: seine alleinige Bestimmung kann sogar gefährliche Situationen verschleiern. Das Reflexievolumen und die bis zu diesem Zeitpunkt auftretende Compliance geben gute Hinweise
233 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
⊡ Abb. 22.7. Veränderungen des urodynamischen Untersuchungsbefundes am gleichen Patienten durch unterschiedliche Untersuchungstechnik. Temperatur des Füllmediums 21°C, Füllgeschwindigkeit 10 ml/min: Reflexievolumen 120 ml
über die Druckgefährdung des oberen Harntraktes in der Speicherphase. Eine vollständige Übereinstimmung zwischen den klinischen Angaben und dem urodynamischen Untersuchungsbefund wird sich nicht immer erreichen lassen. Es ist daher von erheblicher Bedeutung, die anamnestischen Angaben des Patienten mit in die Beurteilung einzubeziehen. Wenn der Patient zum Beispiel unter häuslichen Bedingungen Kapazitäten von über 400 ml hat und kontinent ist, urodynamischein Reflexievolumen von nur 200 ml aufweist und es dann über Detrusorkontraktionen zur unwillkürlichen Entleerung kommt, ist zwar eine Aussage über die erhöhte spastische Bereitschaft des Detrusor möglich. Bezüglich therapeutischer Maßnahmen würde ein erfahrener Untersucher sich aber eher den Angaben des Patienten zur häuslichen Situation anschlie-
ßen. Eine »Über-Therapie« mit vielleicht irreversiblen Maßnahmen kann so vermieden werden.
22.2.3 Urodynamik bei subsakralen
und peripheren Läsionen unter besonderer Berücksichtigung der Myelomeningozele Während die Urologen Konuskaudaläsionen zu den sakralen spinalen Läsionen rechnen, klassifizieren Neurologen Konusläsionen als subsakral. Charakteristisch für die komplette Konusläsion ist die Kombination einer Detrusorakontraktilität mit einer schlaffen Sphinkterlähmung mit den Folgen der neurogenen Be-
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⊡ Abb. 22.8. Veränderungen des urodynamischen Untersuchungsbefundes am gleichen Patienten durch unterschiedliche Untersuchungstechnik. Temperatur 38°C, Füllgeschwindigkeit 10 ml/min: Reflexievolumen 180 ml
⊡ Abb. 22.9. Ausgeprägte Detrusorsphinkterdyssynergie bei neurogener Detrusorhyperaktivität; Reflexblase bei kompletter Querschnittlähmung BWK 4
lastungsinkontinenz, gegebenenfalls auch kombiniert mit Überlaufinkontinenz bei nicht adäquater Blasenentleerung. Im Allgemeinen kann durch Credé oder Valsalvamanöver eine Blasenentleerung erreicht werden. Allerdings sind dabei oft unphysiologisch hohe intravesikale Drücke erforderlich, die im Rahmen der Urodynamik gemessen werden können. Das Auspressen der Blase ist potentiell gefährlich, wenn die dabei entstehenden Drücke um oder >100 cm H2O betragen. Mitunter sind Läsionen im Konus mit Läsionen im Epikonus kombiniert, so dass auch gemischte Läsionsmuster vorliegen können, z. B. Akontraktilität des Detrusors in Kombination mit Hyperreflexie des Sphinkters. Im letzteren Fall wäre das Auspressen der Harnblase besonders gefährlich und der intermittierende Katheterismus zur Blasenentleerung die Methode der Wahl. Ist hingegen eine neurogene Hyperaktivität des Detrusors mit einer Areflexie des Sphinkters kombiniert, so besteht kaum Gefahr für den oberen Harntrakt, andererseits ist die Beherrschung der Inkontinenz schwierig. Läsionen der peripheren Nerven entstehen vor allem durch chirurgische Eingriffe im kleinen Becken. Deshalb ist meistens nur der Detrusor, nicht jedoch der quergestreifte Sphinkter von der Läsion betroffen. Während der Sphinkter normal innerviert bleibt, kann der Detrusor
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⊡ Abb. 22.10. a Druckverlust durch massiven Reflux, messtechnisch Drücke im Normbereich, b massives Divertikel bei chronischer Überdehnung; gemessene Drücke unterhalb der Normalwerte
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mit Hypo- oder Arekontraktilität reagieren, abhängig von Lokalisation und Ausmaß der Läsion.
Urodynamische Untersuchungen bei Hemmungsfehlbildungen in unterem Rückenmark, Kauda und Sakralwurzeln Die neurogene Blase des Kindes ist überwiegend eine Folge angeborener Neuralrohrdefekte. Bei den offenen Dysrhaphien liegt das Rückenmark entweder völlig frei (Myelozele, Rachischisis) oder es besteht ein Prolaps des Myelons bzw. der Pia mater. Diese Gebilde sind dann nur von einer ausgezogenen Oberhaut bekleidet (Meningomyelozele oder Meningozele). Fast zwei Drittel der Dysplasien finden sich im lumbosakralen und sakralen Bereich, dort also, wo die spinalen Schaltstellen für die Blaseninnervation lokalisiert sind (S2–S4; ⊡ Abb. 22.12). Thorakolumbale Zelen stellen 1/4 dieses Komplexes dar. In diesem Bereich findet die Umschaltung des N. hypogastricus aus dem Nucleus in-
⊡ Abb. 22.11. a Drahtelektroden zur quantitativen Aufzeichnung des BeckenbodenSphinkter-EMG: Einbringen der lackisolierten Drahtelektroden (an den Enden wird die Isolierung abgeschabt) mittels einer Nadel, der hackenförmig gebogene Draht verbleibt im Gewebe, die Nadel wird nach Platzierung der Elektrode entfernt; erlaubt auch Bewegung des Patienten ohne Dislokation der Elektroden; b Klebeelektroden für das perineale Beckenboden-EMG
termediolateralis statt (Th12–L2). Diese Region ist an der sympathischen Innervation von Blase und proximaler Urethra beteiligt. Meningo- und Meningomyelozelen (auch als Spina bifida cystica bezeichnet) sind bereits im Mutterleib für einen erfahrenen Ultraschalldiagnostiker in der frühen Schwangerschaft erkennbar. Das α-Fetoprotein steigt nach der 16. Woche im Blut der Mutter und in der Amnionflüssigkeit an. Ein Hydrozephalus entwickelt sich bei bis zu 80% dieser Kinder. Fußdeformitäten findet man in fast der Hälfte und Hüftdysplasien bei 20% dieser Kinder. In der weiteren Entwicklung können sich Kyphoskoliosen bei einer Reihe von Kindern ausbilden (⊡ Abb. 22.13). Bei geschlossenen spinalen Dysrhaphien ist die Diagnostik meist schwierig, weil die auffälligen Veränderungen in der Lumbosakralregion fehlen. Die Lipomyelomeningozele, die Lipome, der Dermalsinus und das defekte Filum terminale finden sich in dieser Reihung mit abnehmender Häufigkeit (⊡ Abb. 22.14). Die Diastematomyelie (durch einen Knochensporn ge-
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⊡ Abb. 22.12. Schema der offenen Myelodysplasien. a Meningozele, b Myelomeningozele, c Myelozystozele (Syringomyolezele), d Myelozele
⊡ Abb. 22.13. Miktionszystouretherogramm eines 14-jährigen Mädchens mit Hochdruckblase, vesikoureteralem Reflux und Kyphoskoliose
spaltenes Myelon) und die ventrale Meningozele sind sehr seltene Ereignisse. Das defekte Filum terminale ist ein Störungskomplex, der völlig isoliert ohne andere Rückenmarkspathologie auftreten kann. Entscheidender pathogenetischer Faktor ist der Zug am aszendierenden Myelon, so dass dieser Missbildungskomplex allgemein als »tethered cord syndrome« bezeichnet wird. Ähnliche Erscheinungen gibt es bei der Kreuzbeinaplasie (-dysplasie; ⊡ Abb. 22.15) und bei der Analatresie des Kindes. Bei der Gruppe mit der Analatresie sind Wirbelsäulenanomalien bei bis zur Hälfte der Kinder nachweisbar. Die Hauterscheinungen bei den geschlossenen Dysrhaphien (auch als Spina bifida occulta bezeichnet) können als Fettgeschwulst, Haarbüschel, Sinus pilonidalis oder nur als kleiner Naevus oder Gesäßfaltenasymmetrie erkennbar sein. Als Hinweis auf eine Beteiligung des Harntraktes tritt bei fast der Hälfte der Kinder eine Inkontinenz auf, die häufig und oft lange Zeit als persistierende Enuresis (mit oder ohne Stuhlschmieren) verkannt und als solche behandelt wurde [21]. Eine frühe Diagnose der zugrunde liegenden Störung sichert eine rechtzeitige Therapie. Neurochirurgische Interventionen bei Lipomyelomeningozelen und bei Tethered-cord-Syndrom hat bei kleineren Kindern eine größere Aussicht auf Erfolg als bei Schulkindern [3, 22]. Bei fast 95% der Kinder mit einer »offenen« Myelodysplasie können Störungen des Harntraktes festgestellt werden. Bei den Kindern mit Kreuzbeindysplasien haben diejenigen mit drei fehlenden Wirbelkörpern in gleicher Häufigkeit eine Blasendysfunktion. Die vesikourethrale Dysfunktion bei Kindern mit Myelodysplasien ist der Hauptgrund für die Schädigung des oberen Harntraktes. Wie schon oben angedeutet, sind abhängig von der Höhe der Störung an der Wirbelsäule Lähmungen im oberen oder im unteren Neuron sowie kombinierte Störungen möglich. Die Detrusorareflexie ist aber die häufigste Störung. Der Verlust an Detrusorcompliance wird im weiteren Verlauf zu einem großen Problem [13]. Dabei spielt der intravesikale Druck während der Speicherphase eine große Rolle [5]. Es konnte gezeigt werden, dass eine frühzeitige therapeutische Intervention die Harntraktschäden weitgehend vermeiden kann [11]. Aus diesen Überlegungen heraus wird von den meisten Urologen die möglichst frühzeitige Durchführung einer urodynamischen Untersuchung befürwortet, d. h. schon unmittelbar nach dem Verschluss der Wirbelspalte [12]. Diese Auffassung wird aber nach wie vor diskutiert. Der Arbeitskreis ist sich einig, dass die urodynamische Funktionsuntersuchung auch schon im Neugeborenenalter von diagnostischem Wert ist. Die Detrusorhyperaktivität, eine Detrusorsphinkterdyssynergie, ein hoher Blasenruhedruck, eine schlechte Compliance des Detrusors und
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⊡ Abb. 22.14. Schema der geschlossenen Myelodysplasien mit Fixierung des Rückenmarks. a Normalzustand, b Lipomeningozele, c Sinus pilonidalis, d verdichtetes und verkürztes Filum terminale
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ein vesikoureteraler Reflux sind prognostisch ungünstige Bedingungen für den unteren wie oberen Harntrakt [19]. Galloway und Mitarbeiter [8] haben einen Hostility-Score erarbeitet, der Auskunft über die potentielle Gefährdung des Harntraktes geben kann. In diesen Score zwischen 1 und 10 gehen die eben genannten Faktoren ein. Werte unter 5 werden als günstig angesehen. Die gleiche Arbeitsgruppe konnte die Brauchbarkeit dieses Scores bestätigen [17]. Die systematischen urodynamischen Messungen von Blasen- und Rektumdruck ergaben in den ersten vier Lebenswochen höchst unterschiedliche Befunde. Roach et al. [18] beschrieben vier zystometrische Kategorien: a) Detrusorareflexie mit guter (»hoher«) Compliance b) Detrusorhyperaktivität c) Detrusorareflexie mit niedriger Compliance d) Detrusorhyperaktivität mit niedriger Compliance Bei der gleichzeitigen Bestimmung des Leak point pressure fanden die Untersucher für die Gruppen (a) und (b) Werte, die unter 30 cm H2O lagen, und für die Gruppen (c) und (d) Werte über 30 cm H2O. Die Tatsache aber, dass von diesen Untersuchungen nur etwa die Hälfte wirklich einen prognostischen Wert zu haben scheinen, hat den Kritikern an diesem Vorgehen neue Argumente geliefert. Die Gegner der frühzeitigen urodynamischen
⊡ Abb. 22.15. Schema häufiger Kreuzbeinfehlbildungen modifiziert nach D. Pang. a totale sakrale Agenesie b Fusion der Iliakalgelenke bei totaler sakraler Agenesie c subtotale sakrale Agenesie d Hemisakrum e unilaterales subtotales Hemisakrum f bilaterales subtotales Hemisakrum
Messung stehen auf dem Standpunkt, dass allein ein frühzeitiges Miktionszystourethrogramm und die engmaschige Überwachung mit Urinuntersuchungen sowie Ultraschallkontrollen für die prognostische Einschätzung ausreichen. Erst beginnende Veränderungen und rezidivierende Harnwegsinfektionen sollten nach ihrer Ansicht therapeutische Maßnahmen zur Folge haben [14]. Die frühzeitige urodynamische Diagnostik steht heute in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage, ob die intermittierende Katheterisierung auch aus prophylaktischen Gründen schon im frühen Säuglingsalter beginnen soll. Es herrscht Übereinstimmung, dass die prophylaktische intermittierende Katheterisierung beginnend mit der Neonatalperiode die Blasenfunktion erhält und die operative Augmentation der Blase vermeiden hilft. Ob aber die Nierenfunktion in gleicher Weise erhalten werden kann, ist noch nicht bewiesen. Erste Ergebnisse legen aber auch einen positiven Einfluss auf die Nieren nahe [4]. Durch systematische urodynamische Kontrollen ist klar geworden, dass sich die Art der Blasenfunktion in der Entwicklung des Kindes ändern kann [9, 18]. Selbst Neugeborene mit Meningomyelozele und initial normalen urodynamischen Messergebnissen sollten langfristig zystometrisch kontrolliert werden. Tarcan et al. [20] konnten zeigen, dass ein Drittel der Kinder mit den initialen
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Teil III · Spezielle Urodynamik
Normalbefunden durch ein Tethered-cord-Syndrom in ihren ersten sechs Lebensjahren neurologisch und urodynamisch gefährdet sind. Bei Vorliegen eines vesikoureteralen Refluxes ist die Messung des intravesikalen Drucks bei Kindern mit MMC von besonders großer Bedeutung. Die Drucksenkung in der gefüllten Blase unter 40 cm H2O ermöglicht eine höhere Rate von Refluxremission und verhindert damit eine Schädigung des oberen Harntraktes [7]. Bei der urodynamischen Evaluation von Kindern mit Myelodysplasien sollten nach Möglichkeit latexfreie Bedingungen (latexfreie Handschuhe, Katheter usw.) geschaffen werden. Bei mehr als der Hälfte der Kinder war in der Studie von Ellsworth et al. [6] eine Latexallergie nachzuweisen. Es bestand ein Zusammenhang zwischen der Zahl der operativen Eingriffe sowie der Anzahl der Jahre mit intermittierendem Katheterismus und der Häufigkeit der Allergie. Da die Therapie aber nicht nur auf den Erhalt der Nierenfunktion, sondern auch auf die Erziehung einer sozialen Kontinenz und einer restharnfreien Entleerung gerichtet ist, scheinen uns kurzfristige urodynamische Kontrollen eine größere diagnostische Sicherheit zu geben. Andros et al. [2] haben ein einfaches Gerät empfohlen, mit dessen Hilfe ein Home-Monitoring kurzfristig selbst durchzuführen ist. Die Prüfung der Praktikabilität durch andere Arbeitsgruppen steht jedoch aus. Ein empfohlener Ablaufplan bei der Diagnostik ist in der ⊡ Tab. 22.1 wiedergegeben. Es kommt aber auch heute immer wieder vor, dass Kinder mit einer Myelodysplasie erst spät zur urodynamischen Untersuchung kommen. Für die Klassifizierung hat sich eine vereinfachte Vierteilung der Störungen von Detrusor und Sphinkterapparat klinisch bewährt, wie sie Madersbacher 1993 publizierte [15]. Er sah in seinem Patientengut mit Kindern >14 Jahre bzw. Jugendlichen eine Verteilung der unterschiedlichen Gruppen wie folgt: a) Hyperaktivität von Blase und Beckenboden in 40% der Fälle,
b) die Kombination einer Detrusorhyperaktivität mit einer Beckenbodenhypoaktivität (sog. Durchlaufblase) in 30% der Fälle, c) eine Areflexie von Blase und Beckenboden (sog. Überlaufblase) in 20% der Fälle und d) die Kombination einer Detrusorakontraktilität mit einer Beckenbodenhyperaktivität (ausgeprägte Überlaufblase) in 10% der Fälle. In diese Klassifizierung geht die Sensitivität der Blase nicht ein. Sie ist aber eine wesentliche Voraussetzung für eine geordnete Miktion.
⊡ Abb. 22.16. Miktionszystourethrogramm bei Verdacht auf neurogene Blasenstörung mit DSD und Reflux bei einem 10-jährigen Jungen
⊡ Tab. 22.1. Empfohlenes diagnostisches Programm bei Kindern mit MMC (Programm kann abgewandelt werden bei Normalbefunden oder bei Pyelonephritis, Harnstauung, VUR bzw. bei erkannter Risikoblase und bereits eingeleiteter Therapie) Alter
Urodynamik
MCU
US
Labor
0–3 Monate
X (als Videourodynamik)
X
X
X
3–6 Monate
X
X
X
9 Monate
X
X
X
12–18 Monate
X
X
X
3. Lebensjahr
X
X
X
4. Lebensjahr
X
X
X
jährlich
X
X
X
X
Sonstiges
MAG 3 oder DTPA Szintigraphie
239 Kapitel 22 · Urodynamik bei neurogener Blasenfunktionsstörung
Neurogene und obstruktive Blasenentleerungsstörungen können im Kindesalter differentialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten. Insbesondere wenn einerseits die Dysrhaphie, andererseits das infravesikale Hindernis zunächst nicht augenfällig sind, muss stets an eine okkulte spinale Störung gedacht werden. Einige funktionelle Entleerungsstörungen können eine neurogene Blase imitieren (ohne Nachweis einer neurogenen Erkrankung), weshalb die Bezeichnung nichtneurogene neurogene Blase [1] geprägt oder pseudoneurogene Blase [10] vorgeschlagen wurde (⊡ Abb. 22.16).
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22
23
Urodynamik bei Blasenersatz M. Hohenfellner
23.1
Urodynamische Anforderungen an Harnableitungen – 242
23.2
Indikationen zur urodynamischen Untersuchung – 243
23.3
Ergänzende diagnostische Maßnahmen
23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4 23.3.5
Anamnese – 243 Studium der Akten – 244 Körperliche Untersuchung – 244 Miktionstagebuch – 244 Bildgebende Verfahren – 244
23.4
Urodynamische Untersuchung
– 244
23.5
Pathologische Befunde
23.5.1 23.5.2 23.5.3
Problematische Indikationsstellungen Harninkontinenz – 246 Entleerungsstörungen – 247
Literatur
– 248
– 243
– 246 – 246
242
Teil III · Spezielle Urodynamik
23.1
23
Urodynamische Anforderungen an Harnableitungen
Primäre Aufgabe von inkontinenten oder kontinenten Harnableitungen ist die ungehinderte Drainage des oberen Harntrakts zum Schutz der Nieren vor Reflux, aszendierenden Harnwegsinfekten und postrenalem Nierenversagen durch Harnstau und Hydronephrose. Inkontinente Harnableitungen, bei denen das Reservoir extrakorporal positioniert ist, werden als Nulldrucksysteme diesen Anforderungen in optimaler und einfacher Art gerecht [29]. Kontinente Harnableitungen stellen dagegen hohe Anforderungen an das in der Leibeshöhle positionierte Reservoir. Ausreichende Kapazität bei großer Compliance und niedrigem Druck wird durch Wahl von verwendetem Gewebe und chirurgischer Technik definiert und ist nicht nur Voraussetzung für die renale Protektion, sondern auch für die Kontinenz. Erfolg und Misserfolg von kontinenten Harnableitungen (sowohl in ihrer orthotopen als auch in kutankontinenter Form) sind daher in wesentlicher Art und Weise von ihren urodynamischen Eigenschaften abhängig. Auch die unterschiedlichen Techniken der Harnleiterimplantation und Stomabildung werden von urodynamischen Überlegungen bestimmt. Die Entwicklung des kontinenten Blasenersatzes [34] wird im Wesentlichen durch drei Faktoren geprägt: ▬ Technik der Harnleiterimplantation ▬ Verfügbarkeit von Antibiotika ▬ Auswahl und Konfiguration der verwendeten intestinalen Segmente In Bezug auf Letzteres kann die Zeit eingeteilt werden in die Ära vor und nach Detubularisation und Rekonfiguration der verwendeten Darmsegmente. Die Verwendung intakter Darmsegmente war mit der Problematik des kleinkapazitären hypertonen Reservoirs verknüpft, die sich aus der Physiologie des Darms als Hochdrucksystem praktisch zwangsläufig ergibt. So können in einem durch Ballon Katheter verschlossenen Ileum Conduits-Drücke bis zu 80 mmHg entstehen [22]. Dies erklärt die Problematik der Inkontinenz, die kennzeichnend war für die unterschiedlichsten Techniken der inneren Harnableitung inklusive der Harnleiterdarmimplantation, die auf eine Rekonfiguration verzichteten [6, 8, 23, 27]. Ursache waren in den meisten Fällen urodynamisch nachweisbare Drucksteigerungen als Folge der intestinalen Peristaltik [8, 17, 19, 27, 31]. Erst die Technik der anatomischen Rekonfiguration und Detubularisation der verwendeten Darmsegmente brachte den Durchbruch in der Blasenersatzchirurgie und ist bis heute die Grundlage aller unterschiedlichen hierzu verwendeten Operationsverfahren. Durch die Technik der Rekonfiguration und Detubularisation von Darmsegmenten, die im Prinzip Methoden der plastisch-rekonstrukti-
⊡ Abb. 23.1. Ileozäkales Darmsegment vor Detubularisation und Rekonfiguration. Gestrichelte Linie: antimesenteriale Schnittführung zur Längseröffnung des ausgeschalteten Darmsegments
ven Chirurgie folgt, wird die röhrenförmige Geometrie der ausgeschalteten Darmsegmente in eine kugelartige Geometrie umkonfiguriert [9, 10, 18, 35]. Dies geschieht in der Regel durch eine antimesenteriale Eröffnung der Darmsegmente und die Faltung und Reanastomosierung vorher nicht miteinander verbundener Schnittränder (⊡ Abb. 23.1, ⊡ Abb. 23.2 [9, 10, 18]). Durch die Rekonfiguration wird entsprechend der Formel für das Volumen von Hohlkörpern (Zylinder: V = r2h, Kugel: 4/3r3) das Reservoirvolumen gesteigert, indem Höhe gegen Radius getauscht wird: Während die zunehmende Höhe eines Zylinders nur einen linearen Zuwachs an Volumen bedingt, führt ein zunehmender Radius zu einem Volumenzusatz in seiner zweiten bzw. dritten Potenz (⊡ Abb. 23.3). Die Anwendung dieser mathematischen Prinzipien auf ausgeschaltete Darmsegmente wird in einer Arbeit von Hinman sehr eindrücklich demonstriert [12]. Durch die mit der Rekonfiguration automatisch einhergehende Detubularisation werden die unerwünschten Effekte der physiologisch koordinierten Peristaltik der verwendeten Darmsegmente aufgehoben. Bei Erhalt der röhrenförmigen Konfiguration der für die Harnableitung verwendeten Darmsegmente würden sich die peristaltischen Kontraktionen der glatten Muskulatur direkt als Druckwellen auf den Reservoirinhalt fortsetzen. Durch die oben beschriebene Technik der Rekonfiguration können zwar nicht die peristaltischen Kontraktionen der Darmseg-
243 Kapitel 23 · Urodynamik bei Blasenersatz
⊡ Abb. 23.2. Pouchformation (Hinterwand) durch Faltung und Anastomosierung freier Schnittränder. a schematisch, b intraoperativ
urodynamische Rahmenbedingungen erzielen, die Parameter eines physiologisch normalen unteren Harntrakts wiederspiegeln [16, 37].
23.2
Indikationen zur urodynamischen Untersuchung
Indikationen zu einer urodynamischen Untersuchung eines kontinenten intestinalen Reservoirs sind meist Frequency, Urgency bzw. Harninkontinenz; wenigerer häufig eine Entleerungsstörung und sehr selten eine Problematik im Bereich des oberen Harntrakts. ⊡ Abb. 23.3. Diese mathematischen Abhängigkeiten lassen sich leicht an einem Stück DIN-A4-Papier nachvollziehen. Rollt man das Papier in Längsrichtung, erhält man einen Zylinder mit einem Volumen von 1012 cm3; rollt man dagegen das Papier in Querrichtung, umschließt der resultierende Zylinder ein Volumen von 1430 cm3, was bereits bei dieser einfachsten Form der Rekonfiguration einem Zuwachs von 41% entspricht
mente verhindert werden, aber ihre lokale Synchronisation. In einer rekonfigurierten und detubularisierten Darmersatzblase lassen sich daher peristaltische Kontraktionen der einzelnen Segmente beobachten, die sich jedoch höchstens in moderate intraluminale Drucksteigerungen übersetzen. Urodynamische Befunde, die die klinische Wertigkeit einer Rekonfiguration und Detubularisation der verwendeten Darmsegmente belegen, ergeben sich aus dem Vergleich der Augmentation mittels intakter Darmsegmente mit der Augmentation von Darmsegmenten, die in der sogenannten Cup-patch-Technik mit der residualen Blase anastomosiert wurden [20,31]. Hierbei lassen sich mit detubularisierten und rekonfigurierten Darmabschnitten
23.3
Ergänzende diagnostische Maßnahmen
Entsprechend dem üblichen Untersuchungsgang zur Abklärung einer Dysfunktion des unteren Harntrakts ist auch nach Harnableitung die invasive Diagnostik nur ein Teil des diagnostischen Gesamtbildes. Es wird durch vorhergehende nichtinvasive Untersuchungen und nachgeordnete invasive Verfahren ergänzt.
23.3.1 Anamnese
Die Anamnese erfasst die soziale Situation, die Indikation zur stattgefundenen Harnableitung (z. B. onkologische oder neurologische Ursache, interstitielle Zystitis, Trauma), die Funktion des unteren Harntrakts vor Harnableitung, die spezielle neurologische Anamnese sofern zutreffend, die Art der Entleerung (z. B. spontan, spontan Valsalva, intermittierender Einmalkatheterismus) und eventuell vorhergegangene Therapieversuche.
23
244
Teil III · Spezielle Urodynamik
23.3.2 Studium der Akten
23
Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Studium der Akten, aus denen das Datum des Eingriffs (die Pouch-Kapazität kann postoperativ über mehrere Monate zunehmen [16]), die genaue Technik der Anlage von Reservoir und Kontinenzmechanismus und die Natur anderer, eventuell simultan durchgeführter chirurgischer Eingriffe (z. B. Blasenteilresektion, radikale Zystektomie, Faszienzügelplastik, Implantation eines artifiziellen Sphinkters) hervorgeht.
23.3.3 Körperliche Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung wird nach orthotoper Harnableitung ein neurologischer und – sofern indiziert – ein gynäkologischer Status erhoben. Von speziellem urodynamischen Interesse sind die Sensitivität der sakralen Dermatome, die sakralen Reflexe (Analreflex, Bulbokavernosusreflex), der anale Sphinktertonus und die willkürliche Kontrolle desselben. Nach einer kutankontinenten Harnableitung ist insbesondere auf Veränderungen im Stomabereich (Stenosen, Prolaps, oder Hernien) zu achten.
23.3.4 Miktionstagebuch
Im Miktionstagebuch werden Flüssigkeitszufuhr, Entleerungsursache (»nach der Uhr«, sensorisch), Entleerungszeitpunkt und -menge, Entleerungsmodus, Urgency und Inkontinenz registriert.
23.3.5 Bildgebende Verfahren
Die bildgebenden Verfahren umfassen insbesondere Sonografie, IVP, Pouchogramm, retrogrades Urethrogramm, endoluminale Kontrastmitteldarstellung eines kutanen Kontinenzmechanismus, Darstellung des Dickdarmrahmens nach Harnleiterdarmimplantation oder SigmaRektum-Pouch, sowie Computertomographie (CT). Exemplarische Befunde, die in diesem Untersuchungsgang erhoben werden können, sind Restharn, Pouchdivertikel und Pouchozelen, Nippelgleiten und Rotationen oder Abknickungen eines Pouches.
23.4
Urodynamische Untersuchung
Die spezielle Urodynamik untersucht differenziert die Funktion von Reservoir und Kontinenzmechanismus. Die Evaluation des Reservoirs erfolgt entsprechend der Empfehlungen der International Continence Society
(ICS; [36]) durch die sog. Enterozystometrie. Darunter versteht man die Evaluation des Verhältnisses von Druck zu Volumen in dem intestinalen Reservoir. Die verwendeten Messkatheter werden gegen den atmosphärischen Druck auf Null geeicht. Für externe Druckwandler gilt bei orthotopen und rektalen Harnableitungen die Oberkante der Symphyse als Referenzpunkt, bei kutankontinenten Harnableitungen das Niveau des kontinenten Stomas. Ziel der Untersuchung ist es, Sensitivität, Compliance, Kapazität und Eigenaktivität des Reservoirs zu bestimmen. Da bei einer urodynamischen Untersuchung von Harnableitungen von unterschiedlichsten anatomischen Voraussetzungen ausgegangen werden muss, ist ein genaues Protokoll der individuellen Untersuchungsbedingungen notwendig. Insbesondere der Weg des Zugangs (transurethral, transanal, transstomal, perkutan), die Natur des Füllmediums, die Temperatur des Füllmediums, die Position des Patienten, die Füllgeschwindigkeit (10 ml/ min: »langsame, physiologische« Füllung; 10–100 ml/min »mittelschnelle« Füllung; :100 ml/min »schnelle Füllung«) und die technische Spezifikation des Messgerätes können für Verständnis und Reproduzierbarkeit einer Enterozystometrie wichtig sein. Vor Beginn der Messung wird ein möglicherweise vorhandener Restharn komplett entleert. Die Messung sollte am wachen, nicht sedierten Patienten erfolgen, der keine Medikamente einnimmt, die die Funktionscharakteristika des Reservoirs beeinflussen könnten. Ebenfalls von der ICS definiert [36] sind die Messparameter: Totaler Reservoirdruck: Druck innerhalb des Reservoirs. Abdomineller Druck: intraabdomineller Umgebungsdruck außerhalb des Reservoirs (Messpunkt: intrarektal, im Magen über Magensonde oder direkt intraperitoneal). Subtrahierter Reservoirdruck: totaler Reservoirdruck minus abdomineller Druck. Kontraktionsdruck: Differenz zwischen maximalen Reservoirdruck während einer Kontraktion des Reservoirs und dem basalen Reservoirdruck vor Beginn der Kontraktion; Kontraktionsamplituden werden spezifiziert als erste, typische und maximale Kontraktion mit Angabe von Druck, Volumen und Häufigkeit. Leak point pressure: totaler Reservoirdruck bei dem ein Urinverlust auftritt (bei orthotopen Harnableitungen: ohne Sphinkterrelaxation). Reservoirsensitivität: eingeschränkt beurteilbar, weil sie sich als Völle- oder Blähungsgefühl des Intestinums bemerkbar macht; subjektive Angabe des Patienten über eine dieser oder vergleichbarer Sensationen in Relation zu Füllungsvolumen und Druck; assoziierte Parameter, die der konventionellen Zystometrie entsprechen, sind erster und normaler Harndrang (Gefühl, dass die Entleerung bei der nächsten passenden Gelegenheit erfolgen sollte, aber – falls nötig – verzögert werden kann); starker Harn-
245 Kapitel 23 · Urodynamik bei Blasenersatz
drang (persistierender Wunsch zu entleeren ohne Furcht vor Urinverlust); »urgency« (starker Wunsch zu entleeren mit gleichzeitiger Furcht vor Urinverlust); Schmerz (Art und Lokalisation sind anzugeben). Maximale enterozystomanometrische Kapazität (MEK): Volumen, das einen starken Harndrang auslöst.
Ist eine adäquate Sensibilität nicht vorhanden, wird unter MEK das Füllungsvolumen verstanden, bei dem der erste Urinverlust eintritt. Ist der Kontinenzmechanismus inkompetent, kann die MEK während des artifiziellen Verschlusses des Auslassmechanismus, z. B. durch einen Foleykatheter, bestimmt werden. In der Abwesenheit sowohl von Sensibilität als auch von Urinverlust wird die MEK als das Volumen definiert, bei dem unter klinischen Gesichtspunkten (z. B. wegen Gefahr der Pouchüberdehnung) die Füllung abgebrochen wurde. Funktionelle Reservoirkapazität (FRK): entspricht dem Entleerungsvolumen und wird über das Miktionstagebuch bestimmt. Falls das Reservoir mittels intermittierendem Einmalkatheterismus entleert wird, hängt die FRK von Sensibilität bzw. Urinverlust ab – sofern vorhanden. Maximale anatomische (anästhesiologische) Kapazität: Füllungsvolumen während einer Vollnarkose oder
einer spinalen bzw. epiduralen Anästhesie mit Spezifikation von Flüssigkeitstemperatur, Füllungsdruck, und Füllgeschwindigkeit. Compliance (C): beschreibt eine Volumenveränderung im Verhältnis zu einer assoziierten Druckänderung im Reservoir. Die Berechnung der Compliance erfolgt durch Division der Volumenveränderung (V) durch die Veränderung des subtrahierten Reservoirdrucks (Ps) während eben dieser Volumenveränderung (C=V/Ps) und hat die Einheit ml/cm H2O. Die Evaluation des Kontinenzmechanismus einer kontinenten Harnableitung erfolgt bei orthotopen Ersatzblasen analog zum Untersuchungsgang eines Patienten mit kongenitalem unterem Harntrakt. Hier wird die Kompetenz des urethralen Sphinkters entweder mit einem offenen perfundierten Messkatheter oder einem geschlossenen Mikrotiptransducerkatheter evaluiert. Bei Patienten mit einem kutanen Kontinenzmechanismus (im Folgenden auch Auslass genannt) ist dagegen die Aussage einer urodynamischen Untersuchung, ähnlich wie die Enterozystomanometrie, kaum standardisierbar. Messergebnisse lassen sich weder mit physiologischen Bedingungen vergleichen, noch erlauben sie den Vergleich unterschiedlicher Techniken zur Neuanlage eines kutanen Auslasses. Selbst identische Techniken zur Neuanlage eines kutanen Auslasses können in Kombination mit unterschiedlichen Reservoiren unterschiedliche Ergebnisse zeigen [36]. Aus diesem Grund ist es praktisch unmöglich, für die entsprechenden urodynamischen Untersuchungen Normwerte oder typische Kurvenverläufe vorzugeben. Vielmehr ist jede urodynamische Messung nur in Zusam-
menhang mit den Ergebnissen der übrigen Diagnostik individuell auswertbar. Die Indikation zu einer urodynamischen Untersuchung eines kutanen Auslasses ist daher in der Regel nicht, Kontinenz zu beweisen oder Inkontinenz zu quantifizieren. Stattdessen sollte man verstehen, wie unterschiedliche Kontinenzmechanismen funktionieren, welche urodynamischen Parameter ihre Kompetenz oder Dysfunktion wiederspiegeln, und wie ihre Funktion von den Eigenschaften des Reservoirs abhängt. Erschwert wird das Verständnis solcher Messungen von folgender Beobachtung: Es können nicht nur unterschiedliche Messtechniken zur Bestimmung des intraluminalen Drucks eines kutanen Auslasses unterschiedliche Ergebnisse produzieren, sondern allein minimale Variablen wie z. B. die Rotation des druckaufnehmenden Katheters bei ansonsten unveränderter Messtechnik zu unterschiedlichen Resultaten führen [36]. Druckmesspunkte innerhalb eines kutanen Auslasses können intraluminal unterschiedlich gewonnen werden: entweder stationär an einem Punkt während eines definierten Zeitraums oder konsekutiv an unterschiedlichen Punkten des kutanen Auslasses als intermittierendes oder kontinuierliches Auslassdruckprofil (ADP). Das ADP kann als Ruheprofil ohne Belastung des Reservoirs oder als Stressprofil mit Belastung des Reservoirs durch definierten Stress (z. B. Husten, Pressen, Valsalva) durchgeführt werden [36]. Zur Vorbereitung wird der Messkatheter gegen den atmosphärischen Druck auf Null geeicht. Bei externen Druckabnehmern ist die Referenzhöhe das Niveau des Kontinenzmechanismus. Während der Messung des ADP sollte simultan der Druck innerhalb des Reservoirs gemessen werden, um einerseits simultane Reservoirkontraktionen erkennen zu können und andererseits das Auslassverschlussdruckprofil durch Subtraktion des totalen Reservoirdrucks vom intraluminalen ADP errechnen zu können. In Zusammenhang mit der Messung sollte ▬ das Infusionsmedium, ▬ die Infusionsrate, ▬ die Art der Katheterbewegung (stationär, intermittierend, kontinuierlich), ▬ das Reservoirvolumen, ▬ die Position des Patienten während der Untersuchung und ▬ die apparative Ausstattung [36] spezifiziert werden. Die von der ICS definierten Messparameter [36] schließen ein: Maximaler Auslassdruck (MAD): maximaler Druck im Verlauf des gemessenen Profils. Maximaler Auslassverschlussdruck: Differenz zwischen MAD und totalem Reservoirdruck. Funktionelle Auslassprofillänge: Länge des Verschlussmechanismus, über die der Druck im Auslassmechanismus den totalen Reservoirdruck übersteigt.
23
246
23
Teil III · Spezielle Urodynamik
Funktionelle Auslassprofillänge (Stress): Länge des Verschlussmechanismus, über die der Druck im Auslassmechanismus den totalen Reservoirdruck während Stressbelastung übersteigt. Drucktransmissionsratio: Zunahme des Auslassdrucks während Stressbelastung als Prozentsatz der gleichzeitigen Zunahme des totalen Reservoirdrucks.
23.5
Pathologische Befunde
Eine pathologische Funktion eines kontinenten Blasenersatzes kann primär in einer Dysfunktion des Reservoirs bzw. des Kontinenzmechanismus begründet sein. Außerdem ist die Möglichkeit einer problematischen Indikationsstellung zu erwägen.
23.5.1 Problematische Indikationsstellungen
Gerade bei Patienten, bei denen wegen sensorischer Urgency bzw. Frequency oder aufgrund von Schmerzen die Blase substituiert wurde, ist postoperativ eine mögliche Persistenz der Beschwerden bekannt. Einer der negativsten Berichte stammt von Baskin und Tanagho [3], die bei vier Patienten, drei mit der Diagnose einer interstitiellen Zystitis und eine mit einer Miktionsstörung, trotz einer vorderen Exenteration keine Besserung der Symptomatik nach Harnableitung beobachten konnten. In diesem Zusammenhang sind sowohl Studien publiziert worden, die die Ergebnisse von Baskin und Tanagho bestätigten [25], als auch Studien, die auch bei Patienten mit konservativ therapierefraktärer interstitieller Zystitis gute bis hervorragende Ergebnisse erzielten [21, 39]. Dieser scheinbare Widerspruch kann durch die
⊡ Abb. 23.4. Ein-Drittel-Resektion der Blase mit Ileumaugmentation bei interstitieller Zystitis; postoperativ persistierende hypersensitive Symptomatik; suffiziente Therapie durch Zystektomie und kutankontinente Harnableitung
Analyse der Literatur zumindest teilweise aufgeklärt werden. Hierbei zeigt sich nämlich, dass es scheinbar zwei verschiedene Kollektive von Patienten mit interstitieller Zystitis gibt: ▬ Patienten mit einer großen anatomischen Blasenkapazität, die ein relativ hohes Risiko tragen, durch eine Harnableitung nicht suffizient behandelt zu werden und ▬ Patienten mit einer kleinen anatomischen Kapazität, die gute bis sehr gute Chancen haben durch eine Harnableitung therapeutisch zu profitieren [15, 26]. In jedem Fall sollte man bei interstitieller Zystitis einereine Augmentation ohne subtotale Blasenresektion vermeiden, da ansonsten die Gefahr einer persistierenden hypersensorischen Symptomatik besteht (⊡ Abb. 23.4). Eine weiteres Beispiel für eine möglicherweise problematische Indikation ist die »pelvic inflammatory disease« (PID; [24, 28]). Hier kann es nach einer aszendierenden bakteriellen Infektion über das innere weibliche Genitale zu einer Keimbesiedelung des Peritoneums kommen, darunter auch des peritonealen Überzugs der Harnblase. Die konsekutive Urgency und Frequency wird in ihrer mikrobiologischen Ursache bei sterilem Urin möglicherweise nicht erkannt und therapiert.
23.5.2 Harninkontinenz
Eine Harninkontinenz kann durch eine Dysfunktion des Reservoirs bzw. des Kontinenzmechanismus bedingt sein. Bei einer kontinenten Harnableitung mit kontinentem Stoma kann Urinverlust auftreten, wenn der totale Reservoirdruck den maximalen Auslassdruck übersteigt,
247 Kapitel 23 · Urodynamik bei Blasenersatz
so dass der maximale Auslassverschlussdruck negativ wird. Der Urinverlust per se ist allerdings noch kein Beweis für eine Inkompetenz des Auslassmechanismus. Alternativ kann eine Dysfunktion des Reservoirs, entweder verbunden mit hohen Drücken (kleine anatomische Kapazität bzw. Hyperkontraktilität) oder hohen Volumina (Überlaufinkontinenz) eine Inkontinenz bedingen. Auf die wichtige diagnostische Rolle der urodynamischen Untersuchung weist die Beobachtung hin, dass ein anatomisch insuffizienter Kontinenzmechanismus, der endoskopisch beispielsweise als Verlust des submukösen Bettes eines Appendixstomas oder als Nippelgleiten diagnostiziert werden kann, durch eine hypertone Reservoirdysfunktion bedingt sein kann [A. Lampel: persönliche Mitteilung]. In solchen Fällen wäre bei alleiniger Korrektur des Kontinenzmechanismus ein Wiederauftreten der Harninkontinenz wahrscheinlich. Eine Harninkontinenz bei orthotopen Harnableitungen erfordert die gleiche urodynamische Differentialdiagnostik wie eine Harninkontinenz bei kontinentem Stoma (pathologische Reservoirfunktion vs. pathologische Sphinkterfunktion). Eine Harninkontinenz als Folge einer Reservoirdysfunktion kann durch eine zu kleine anatomische Kapazität oder funktionell bedingt sein. Eine zu kleine anatomische Kapazität ist meist Folge einer zu geringen Länge an funktionell ausgeschaltetem Darm oder einer suboptimalen Rekonfigurationstechnik. Zu bedenken ist allerdings, dass das Volumen intestinaler Ersatzblasen nach der Anlage zunimmt [16], so dass eine Unterkapazität erst nach dem Ablauf einer – technikabhängigen – postoperativen Konsolidierungsphase diagnostiziert werden kann. Eine funktionelle Unterkapazität kann als sensorisch (s. o.) oder motorisch qualifiziert werden. Eine mit pathologischen Drücken verbundene Hyperaktivität eines intestinalen Reservoirs sollte in der Regel durch eine adäquate Rekonfigurations- und Detubularisationstechnik zu vermeiden sein. Allerdings sind Faktoren bekannt, die auch bei in Standardtechnik rekonfigurierten oder detubularisierten Reservoiren zu einer motorischen Hyperaktivität führen können. Besonders eindrücklich kann die Beeinflussung der Wandmotorik eines intestinalen Reservoirs in Einzelfällen nach Nahrungsaufnahme im Rahmen der Stimulation des autonomen Nervensystems [5] beobachtet werden. Unter experimentellen Bedingungen hat auch die Osmolarität des Füllmediums einen vergleichbaren Effekt: Eine Steigerung der Osmolarität auf Werte vergleichbar mit denen nächtlich konzentrierten Harns führte zu einer deutlichen Erhöhung der Wandspannung und Verstärkung der Darmperistaltik [13]. Diese Wirkung war durch die intraluminale Applikation von Oxybutynin komplett aufzuheben (⊡ Abb. 23.5, ⊡ Abb. 23.6 [13]). Auch unter klinischen Bedingungen wurde über einen therapeuti-
⊡ Abb. 23.5. Enterozystometrie bei zunehmender Pouchfüllung mit Füllmedien, die sich in ihrer Osmolarität unterscheiden. Beachte: Durch die Beigabe von Oxybutynin (900/Oxy) wird der drucksteigernde Effekt der auf 900 mosmol gesteigerten Osmolarität (900) völlig aufgehoben und ist praktisch identisch mit der Druckkurve, die bei Verwendung eines 300 mosmolaren Füllmediums (300 mmol/kg) beobachtet wird
⊡ Abb. 23.6. Enterozystometrie bei konstanter Pouchfüllung mit Füllmedien, die sich in ihrer Osmolarität unterscheiden. Beachte: Durch die Beigabe von Oxybutynin (900/Oxy) wird der Druck- und Amplitudenhöhe steigernde Effekt der auf 900 mosmol gesteigerten Osmolarität (900 mmol/kg) völlig aufgehoben und ist praktisch identisch mit der Druckkurve, die bei Verwendung eines 300 mosmolaren Füllmediums (300) beobachtet wird
schen Effekt von topisch appliziertem Oxybutynin berichtet [7, 30]. Als Ursache einer extraurethralen Inkontinenz sind bei orthotopen Harnableitungen außerdem vesikovaginale Fisteln beschrieben worden [2, 4, 11].
23.5.3 Entleerungsstörungen
Bei kutankontinenten Harnableitungen sind Entleerungsstörungen durch mechanische Hindernisse im Verlauf des Auslassmechanismus bedingt, die den intermittierenden Einmalkatheterismus erschweren oder unmöglich machen.
23
248
23
Teil III · Spezielle Urodynamik
Bei orthotopen Harnableitungen werden bei nichtneurogenen Patienten mechanische und funktionelle Ursachen von Entleerungsstörungen diskutiert [14]. Insbesondere bei Frauen konnte nach radikaler Zystektomie gezeigt werden, dass eine Verlagerung des Pouches nach dorsal mit Entwicklung einer Pouchozele zu einem Kinking am Übergang von Pouch zu Harnröhre führt [2]. Die Relevanz dieses Befundes konnte dadurch bestätigt werden, dass eine Lagekorrektur zu einer Normalisierung der Spontanmiktion führte [2]. Als weitere Ursache einer Entleerungsstörung nach orthotopem Blasenersatz ist eine mögliche Fehlinnervation des Sphincter urethrae nach chirurgischer autonomer Denervierung in Betracht gezogen worden [32, 33]. Die Wertigkeit dieser Hypothese ist in ihrer pathophysiologischen Argumentation jedoch fraglich [14] und wird experimentell widerlegt [1]. Darüber hinaus konnte unter klinischen Bedingungen zumindest beim Mann die postoperative Kontinenz durch den Erhalt der paraurethralen autonomen Innervation gezeigt werden [38]. Einfluss auf die postoperative Kontinenz einerseits und die Fähigkeit spontan zu miktionieren andererseits hat wahrscheinlich auch der Umgang (Erhalt bzw. die Durchtrennung) mit den pubourethralen Ligamenten [14]. Bei Patienten mit neurogenem unteren Harntrakt und der fehlenden Möglichkeit der willkürlichen Sphinkterrelaxation ist von der Notwendigkeit des postoperativen Einmalkatheterismus zur Ersatzblasenentleerung auszugehen.
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249 Kapitel 23 · Urodynamik bei Blasenersatz
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23
24
Begutachtung von Blasenfunktionsstörungen M. Stöhrer, H. Palmtag, J. Pannek
24.1
Unterschiede bei der Auftragserteilung – 252
24.1.1 24.1.2
Gesetzliche Unfallversicherung – 252 Sonstige Versicherungen – 252
24.2
Einteilung und Folgen von Blasenfunktionsstörungen – 253
24.3
Diagnostik Literatur
– 253 – 256
252
24
Teil III · Spezielle Urodynamik
Die Begutachtung medizinischer Sachverhalte erfordert Objektivität und ärztliche Fachkenntnis. Es muss die soziale Gerechtigkeit gewahrt und es sollten unberechtigte Ansprüche erkannt werden. Je nach Auftraggeber sind die Verfahren sowie die Fragestellungen unterschiedlich entsprechend der Ziele, die der Auftraggeber verfolgt. Das Ergebnis der Begutachtung soll in allgemeinverständlicher Form dargestellt werden. Das heißt, Fremdworte und Fachbegriffe sollten auf das absolut notwendige Minimum reduziert werden, da die Auftraggeber medizinische Laien sind. Die Bewertungsmaßstäbe sind entsprechend der jeweiligen Präferenzen der Versicherungen unterschiedlich.
24.1
Unterschiede bei der Auftragserteilung
24.1.1 Gesetzliche Unfallversicherung
Die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) bewertet die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Das Gesundheitsrisiko für die Zukunft wird nicht bewertet, es soll jedoch eingeschätzt werden, ob risikoabhängige Kontrollen erforderlich sind. Auftraggeber sind in diesen Fällen die Berufsgenossenschaften.
Entschädigt werden Verletzungen bzw. Erkrankungen, die im Zusammenhang mit der Beschäftigung oder auf dem Weg zur Arbeit auftreten. Auf der Basis des letzten Arbeitsentgelts wird unter Einbeziehung der Höhe der MdE eine Rente gewährt. Voraussetzung ist ein Zusammenhang mit einem Arbeitsunfall (Körperschaden nach plötzlichem Ereignis) oder eine Berufskrankheit (anerkannte entschädigungspflichtige Erkrankungen, die durch berufliche Einwirkungen mit schädlichen Stoffen entstanden sind). Eine Berufskrankheit liegt nur bei anerkannten Expositionen vor (durch Gesetzgebung). Die berufliche Einwirkung muss nachgewiesen sein. Für die Urologie sind folgende Krankheiten anerkannt: ▬ Urogenitaltuberkulose (z. B. Fleischer), ▬ Harnblasenkarzinom bzw. ▬ Schleimhautveränderungen oder andere Neubildungen der Harnwege durch Arbeiten mit aromatischen Aminen (chemische Industrie, Anstreicher), ▬ erektile Impotenz bei Exposition mit Lösungsmitteln. Die MdE berücksichtigt die Schwere eines Gesundheitsschadens, nicht aber die Leistungsfähigkeit.
sicherten in Bezug auf Invalidität. Eine Rente wird wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gewährt.
Private Unfallversicherung Der Begriff der Invalidität kommt nur in der privaten Unfallversicherung vor (PUV). Eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit wird vorausgesetzt. Der Versicherungsnehmer hat den Beweis für das Unfallereignis und die dadurch hervorgerufene Gesundheitsschädigung zu führen. Die Invalidität soll möglichst nach der Gliedertaxe eingeschätzt werden (abstrakt), die bei Extremitätenschäden und zerebralen Schäden, soweit diese sich an den Extremitäten auswirken, sowie bei Beeinträchtigung der Sinnesorgane anzuwenden ist. Psychische Störungen im Anschluss an einen Unfall werden bei der PUV nur entschädigt, wenn sie auf eine unfallbedingte organische Schädigung des Nervensystems zurückzuführen sind. Psychoreaktive Unfallfolgen sind hier nicht versichert.
Haftpflichtversicherung In der Haftpflichtversicherung (HV) gilt ebenfalls wie in der PUV die Kausalitätsnorm der Adäquanztheorie. Es erfolgt eine Begrenzung der Haftung auf voraussehbare Schadensfolgen. Die adäquate Kausalität muss der Geschädigte nachweisen. Der Sachverständige hat in diesen Fällen Art und Schwere des Unfallschadens zu beschreiben, eine erforderliche oder bereits durchgeführte Heilbehandlung, die entstandenen Folgen für Berufs- und Arbeitsfähigkeit, sowie erforderliche Hilfen zur Kompensation. Hieraus errechnen sich Verdienstausfall, Unterhaltsansprüche, Umschulungskosten usw. Ein entstandener immaterieller Schaden wird über eine Schmerzensgeldzahlung ausgeglichen. Während in der privaten Unfallversicherung individuelle Verhältnisse des Geschädigten im privaten und beruflichen Bereich nicht zu berücksichtigen sind, ist dies bei der Haftpflichtversicherung sehr wohl der Fall.
Private Berufsunfähigkeitsversicherung Private Berufsunfähigkeitsversicherungen werden meist
in Zusammenhang mit einer Kapitallebensversicherung abgeschlossen. Zur Zahlung von Leistungen ist im Allgemeinen eine mindestens 50%ige Berufsunfähigkeit erforderlich.
24.1.2 Sonstige Versicherungen
Sonstige Auftraggeber Die Begutachtung für Versicherungen (private Krankenversicherung, Lebensversicherung, Bundesversicherungsanstalt) beurteilt den Gesundheitszustand des Ver-
Es gibt weiterhin Gutachterkommissionen der Landesärztekammern und staatliche Institutionen wie Gerichte,
Gesundheitsämter, Wehrbereichsverwaltungen, die Gut-
253 Kapitel 24 · Begutachtung von Blasenfunktionsstörungen
achten in Auftrag geben. Diese Gutachten geben im Allgemeinen eine klar abgegrenzte Fragestellung vor.
24.2
Einteilung und Folgen von Blasenfunktionsstörungen
Blasenfunktionsstörungen können nach einer primär urologischen oder einer nichturologischen Schädigung auftreten, sie können zudem eingeteilt werden in neurogene und nichtneurogene Störungen (⊡ Abb. 24.1). Betroffen ist sowohl die Speicher- als auch die Entleerungsfunktion der Blase. Häufig sind beide Funktionen betroffen. Leitsymptome einer Blasenfunktionsstörung sind: ▬ unwillkürliche Harnabgänge ▬ rezidivierende Harnwegsinfekte ▬ fehlende oder unvollständige Blasenentleerung ⊡ Abb. 24.1. Einteilung von Blasenfunktionsstörungen
Diese können zu erheblichen Sekundärschäden an den Harnwegen führen: Formveränderungen des unteren Harntraktes, Reflux, infrarenale Obstruktion, ggf. mit konsekutiven Schäden: ▬ Steinbildung in Blase und Nieren ▬ Einschränkung der Nierenfunktion ▬ Blasentumore ▬ Einschränkungen der Mobilität (intermittierender Katheterismus) sowie der Sexualfunktion ▬ Einschränkungen der Mobilität (intermittierender Katheterismus) sowie der Sexualfunktion ▬ Darüber hinaus können auch Sekundärschäden an den Weichteilen (Mykosen, Dekubiti) entstehen
24.3
Diagnostik
Neben den Standardmaßnahmen zur Diagnostik der Blasenfunktion sind zur Quantifizierung und Qualifizierung von Blasenfunktionsstörungen spezielle Untersuchungsverfahren erforderlich. Häufig kann nur eine videourodynamische Untersuchung die vorhandenen Schäden bzw. Funktionsstörungen aufdecken. Eine standardisierte Untersuchungstechnik mit genauen Angaben zur Durchführung ist erforderlich, um reproduzierbare Ergebnisse zu erhalten ( Standardisierung der ICS). Eine Beurteilung des Versorgungsaufwandes mit Graduierung (Zahl der Vorlagen pro Tag, Windelversorgung, Harnableitung, Urinalversorgung, Miktionsprotokoll), dient der Absicherung der Beurteilung im Einzelfall. Alle weiteren zur objektiven Abklärung einer Blasenfunktionsstörung erforderlichen diagnostischen Maßnahmen sind unter Berücksichtigung ihrer Effizienz und ihrer Invasivität einzusetzen, insbesondere auch zur Erfassung von Spätschäden (Nierenfunktion).
Neben sonographischen Untersuchungen zur Erfassung der Nierenmorphologie sollte auch eine Quantifizierung der Nierenfunktion erfolgen, die in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Schädigung in bestimmten Abständen wiederholt werden sollte. Bei immobilen Patienten (z. B. Querschnittlähmung) muß dabei berücksichtigt werden, dass eine Serumkreatininbestimmung aufgrund der geringen Muskelmasse der Patienten die Nierenfunktion überschätzt. Als sensitivere Verfahren können die Kreatininclearance aus Sammelurin oder durch eine nuklearmedizinische seitengetrennte Nierenclearanceuntersuchung veranlasst werden. Eine Mitwirkungspflicht des Versicherten besteht nur für nichtinvasive Maßnahmen. Der Patient muss darüber informiert werden, dass er im Falle einer Ablehnung diagnostischer Maßnahmen (z. B. der urodynamischen Untersuchung) eine entscheidende Beweisführung unter Umständen verhindert. Zur Beurteilung eines Schadens können die in den Lehrbüchern zur Begutachtung abgebildeten Tabellen zur MdE bzw. GdB herangezogen werden. Eine umfangreiche und gut differenzierte Darstellung ist die von Otto [1] (⊡ Tab. 24.1). Sie enthält alle Schädigungen, die infolge einer Blasenfunktionsstörung und anderer urologischer Verletzungen auftreten können. Die Gefahr derartiger Tabellen besteht darin, dass einzelne Symptome ohne Berücksichtigung der gesamten funktionellen Situation zu Prozentzahlen aufaddiert werden, die nicht der tatsächlichen Höhe der Schädigung entsprechen. Es empfiehlt sich daher, Bewertungsmaßstäbe zu Hilfe zu nehmen, die den Gesamtzustand der Blasenfunktion unter Einbeziehung einzelner Symptome wiederspiegeln. Eine derartige Tabelle für neurogene Blasenfunktionsstörungen ist angefügt (⊡ Tab. 24.2).
24
254
Teil III · Spezielle Urodynamik
⊡ Tab. 24.1. Erkrankungen der Nieren und ihre Folgen (MdE in %) Nierenschäden Verlust oder Ausfall einer Niere bei Gesundheit der anderen Niere (in der gesetzl. Unfallversicherung)
24
Nierenfehlbildung (z. B. Hydronephrose, Zystenniere, Beckenniere, Nephroptose) ohne wesentliche Beschwerden und ohne wesentliche Funktionseinschränkung Nierensteinleiden ohne Funktionseinschränkung mit Koliken in Abständen von mehreren Monaten, je nach Schwere mit häufigeren Koliken und Intervallbeschwerden Nierenschäden ohne Funktionseinschränkung, mit krankhaftem Harnbefund geringen Grades sonst Verlust oder Ausfall einer Niere bei Schaden der anderen Niere, ohne Funktionseinschränkung, mit krankhaftem Harnbefund geringen Grades sonst Nierenschäden mit Funktionseinschränkung leichten Grades (Serumkreatininwerte unter 2 mg/dl, Allgemeinbefinden nicht oder nicht wesentlich reduziert, keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit) (Serumkreatininwerte andauernd zwischen 2 und 4 mg/dl erhöht, Allgemeinbefinden wenig reduziert, leichte Einschränkung der Leistungsfähigkeit) mittleren Grades (Serumkreatininwerte andauernd zwischen 4 und 8 mg/dl erhöht, Allgemeinbefinden stärker beeinträchtigt, mäßige Einschränkung der Leistungsfähigkeit) schweren Grades (Serumkreatininwerte dauernd über 8 mg/ dl, Allgemeinbefinden stark gestört, starke Einschränkung der Leistungsfähigkeit, bei Kindern keine normalen Schulleistungen mehr) Sekundärleiden (z. B. Hypertonie, ausgeprägte Anämie (Hb-Wert unter 8 g/dl), gastrointestinale Störungen) sind zusätzlich zu bewerten: sie sind bei Kindern häufiger als bei Erwachsenen. Verlust oder Ausfall einer Niere mit Funktionseinschränkung der anderen Niere leichten Grades mittleren Grades schweren Grades Notwendigkeit der Dauerbehandlung mit künstlicher Niere (Dialyse)
25 0–10
0–10
0–10 20–30
0–10 20
30 40
20–30
40
50–70
80–100
40–50 60–80 90–100 100
Nach Entfernung eines malignen Nierentumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten; MdE während dieser Zeit bei Hypernephrom oder Nierenbeckentumor nach Entfernung im Frühstadium (T1 N0 M0) nach Entfernung in anderen Stadien bei Nephroblastom nach Entfernung im Frühstadium I/II nach Entfernung im Stadium III/IV nach Entfernung in anderen Stadien
60 80–100 50 60 80–100
Nach Nierentransplantation ist eine Heilungsbewährung abzuwarten (im Allgemeinen 2 Jahre); während dieser Zeit ist eine MdE um 100%. anzusetzen. Danach ist die MdE entscheidend abhängig von der verbliebenen Funktionsstörung; unter Mitberücksichtigung der erforderlichen Immunsuppression ist jedoch die MdE nicht niedriger als 50% zu bewerten. Schäden der Harnwege Chronische Harnwegsentzündung leichten Grades (ohne wesentliche Miktionsstörungen) stärkeren Grades (mit erheblichen und häufigen Miktionsstörungen) Bei den nachfolgenden Gesundheitsstörungen sind Begleiterscheinungen (z. B. Hautschäden, Harnwegsentzündungen) ggf. zusätzlich zu bewerten: Entleerungsstörungen der Blase (auch durch Harnröhrenverengung) leichten Grades (z. B. geringe Restharnbildung, längeres Nachträufeln) stärkeren Grades (z. B. Notwendigkeit manueller Entleerung, Anwendung eines Blasenschrittmachers, erhebliche Harnretention,schmerzhaftes Harnlassen) mit Notwendigkeit regelmäßigen Katheterns, eines Dauerkatheters oder Notwendigkeit eines Urinals, ohne wesentliche Begleiterscheinungen Nach Entfernung eines malignen Blasentumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten; MdE während dieser Zeit nach Entfernung im Frühstadium (T1–2 N0 M0) mit Zystektomie einschließlich künstlicher Harnableitung nach Entfernung in anderen Stadien Harninkontinenz relativ – leichter Harnabgang bei Belastung (z. B. Stressinkontinenz Grad I) – Harnabgang tags und nachts (z. B. Stressinkontinenz Grad II–III) völlige Harninkontinenz
0–10 20–40
10 20–40
50
60 80 100
0–10 20–40 50
Schrumpfblase mit erheblicher Verringerung des Fassungsvermögens je nach Auswirkung
20–50
Harnröhren-Hautfistel der vorderen Harnröhre bei Harnkontinenz
10
24
255 Kapitel 24 · Begutachtung von Blasenfunktionsstörungen
⊡ Tab. 24.1. Fortsetzung Harnweg-Hautfistel bei Analkontinenz
30
Nieren-, Harnleiter-, Blasen-Hautfistel Künstliche Harnableitung (ohne Nierenfunktionsstörung) in den Darm nach außen
50
30 50
MdE/GdB – Männliche Geschlechsorgane Verlust des Penis
50
Teilverlust des Penis Teilverlust der Eichel Verlust der Eichel sonst
10 20 30–40
Nach Entfernung eines malignen Penistumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten: MdE während dieser Zeit nach Enfernung im Frühstadium (T1–2 N0 M0) bei Teilverlust des Penis bei Verlust des Penis nach Entfernung in anderen Stadien
50 60 90–100
Verlust oder Schwund eines Hodens bei intaktem anderen Hoden Verlust oder dem Verlust gleichzuachtende Verletzung beider Hoden in höherem Lebensalter, etwa ab 8. Lebensjahrzehnt sonst je nach Ausgleichbarkeit des Hormonhaushaltes durch Substitution vor Abschluß der körperlichen Entwicklung Außergewöhnliche psychoreaktive Auswirkungen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.
0
10 20–30 20–40
Verlust oder Schwund eines Nebenhodens Verlust oder vollständiger Schwund beider Nebenhoden (einschließlich Zeugungsfähigkeit) in höherem Lebensalter sonst Außergewöhnliche psychoreaktive Auswirkungen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.
0
(Potenzstörungen
0–10)
(Impotenz
20)
Nach Entfernung eines malignen Hodentumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten; MdE während dieser Zeit nach Entfernung eines lokalisierten Seminoms oder eines lokalisierten malignen Teratoms ohne Lymphknotenbefall (T1–3 N0 M0) sonst
50
0 10
80–(100)
Chronische Entzündung der Vorsteherdrüse ohne wesentliche Miktionsstörung
0–10
mit andauernden erheblichen Miktionsstörungen
20
Prostataadenom Die MdE richtet sich nach den Harnentleerungsstörungen und der Rückwirkung auf die Nierenfunktion Nach Entfernung eines malignen Prostatatumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten; MdE während dieser Zeit (Hochdifferenziertes Karzinom T0–1 oder Tx N0 MO, ohne spezifische Behandlung nach Entfernung im Frühstadium (T1–2 N0 M0) nach Entfernung in anderen Stadien
Keine Basis MdE) 50 80–100
MdE/GdB – Weibliche Geschlechtsorgane Scheidenfisteln Harnweg-Scheidenfistel 60 Mastdarm-Scheidenfistel 60 Harnweg-Mastdarm-Scheidenfistel (»Kloaken100 bildung«) Haarfisteln sind entsprechend niedriger zu bewerten. Senkung der Scheidenwand, Vorfall der Scheide und/oder der Gebärmutter ohne Harninkontinenz oder mit geringer Stressinkontinenz (Grad I) mit stärkerer Harninkontinenz mit völliger Harninkontinenz Ulzerationen sind ggf. zusätzlich zu bewerten. MdE/GdB – Störungen des Blutdrucks Hypertonie (Bluthochdruck) leichte Form (Schweregrad I) Blutdruck zeitweilig oder konstant erhöht mit Werten von 160–195/95–105 mmHg; leichte Augenhintergrundveränderungen – Fundus hypertonicus I (angedeutete Engstellung der Arterien); keine Organbeteiligung: keine oder leichte Kopfbeschwerden mittelschwere Form (Schweregrad II) Blutdruck konstant erhöht mit Werten von 180–230/110–120 mmHg; deutliche Augenhintergrundveränderungen – Fundus hypertonicus I–II (»Kupferdrahtarterien«, Kaliberschwankungen); allenfalls geringe Linkshypertrophie des Herzens, keine wesentliche Organbeeinträchtigung; zeitweilig Herz– und/oder Kopfbeschwerden schwere Form (Schweregrad III) Blutdruck konstant erhöht mit Werten über 220/115 mmHg; schwere Augenhintergrundveränderungen – Fundus hypertonicus II–III (»Silberdrahtarterien«, herdförmige Veränderungen, Blutungen); Beeinträchtigung der Herzfunktion, der Nierenfunktion und/oder der Hirndurchblutung je nach Art und Ausmaß der Organbeteiligung maligne Form (Schweregrad IV) Blutdruck konstant diastolisch über 130 mmHg; Fundus hypertonicus III–IV (Papillenödem, Venenstauung, Exsudate, Blutungen, schwerste arterielle Gefäßveränderungen); unter Einschluss der Organbeteiligung (Herz, Nieren, Gehirn)
0–10 20–40 50
0–10
20–40
50–100
100
256
Teil III · Spezielle Urodynamik
⊡ Tab. 24.1. Fortsetzung MdE/GdB – Tuberkulose Urogenitaltuberkulose spezifisch behandlungsbedürftig Schwerere Funktionsstörungen sind zusätzlich zu bewerten nicht mehr spezifisch behandlungsbedürftig
24 MdE/GdB – Brüche (Hernien) Leisten- oder Schenkelbruch je nach Größe und Reponierbarkeit ein– oder beidseitig bei erheblicher Einschränkung der Belastungsfähigkeit
Nabelbruch oder Bruch in der weißen Linie 50
je nach verbliebener Funktionsstörung
0–10 20
Bauchnarbenbruch ohne wesentliche Beeinträchtigung, je nach Größe mit ausgedehnter Bauchwandschwäche und fehlender oder stark eingeschränkter Bauchpresse mit Beeinträchtigung der Bauchorgane bei Passagestörungen ohne erhebliche Komplikationen bei häufigen rezidivierenden Ileuserscheinungen
0–10
0–10 20
20–30 40–50
Wasserbruch (Hydrozele)
0–10
Krampfaderbruch (Varikozele)
0–10
⊡ Tab. 24.2. Neurogene Blasenfunktionsstörungen und ihre Folgen Neurogene Blasenfunktionsstörungen und ihre Folgen
MdE [%]
1. Neurogene Blasenfunktionsstörung mit kompensierter Gesamtsituation: kompensiert bedeutete eine nach Wahrscheinlichkeit vergleichbarer Verläufe stabil bleibende Situation für mindestens 1 Jahr (Restharn <50, Kapazität 200–500 ml, kein Reflux, keine Stauung der oberen Harnwege, keine oder allenfalls geringe Inkontinenz ohne Notwendigkeit eines Harnauffanggerätes, keine Harnwegsinfekte, keine Konkremente)
10–20
2. Neurogene Blasenfunktionsstörung ausreichend kompensiert: (1 bis 2 Faktoren erhöht)
20–50
3. Neurogene Blasenfunktionsstörung dekompensiert (mehr als 2 Faktoren erhöht)
50–70
4. Neurogene Blasenfunktionsstörung dekompensiert mit verstärkten Sekundärschäden (mehr als 2 Faktoren erhöht, zusätzlich durch längere oder intensivere Dekompensation aufgetretene manifeste Sekundärschäden wie Nierenfunktionsschädigung, Reduktion der Blasenkapazität mit fortgeschrittenen irreversiblen Blasenwandveränderungen, Low–pressure–Reflux, pyelonephritische Veränderungen)
70–90
5. Neurogene Blasenfunktionsstörung dekompensiert (wie 4., jedoch mit hochgradiger Nierenfunktionsschädigung)
80–100
Literatur 1.
Otto G (1996) Begutachtung. In: Hofstetter A, Eisenberger F (Hrsg) Urologie für die Praxis, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio
Anhang
A1
Urodynamische Normbereiche
– 258
A2
Fragebögen
A3
Verzeichnis der Synonyme – 265
– 259
258
Anhang
A1
Urodynamische Normbereiche
Parameter
Mann
Frau
Kind
Bei normaler Diurese 1.500 ml Typische Miktionsvolumina
200– 300 ml
200– 300 ml
Altersabhängig
Miktionsfrequenz tags nachts
4-8x 0-1x
4-8x 0-2x
Altersabhängig Altersabhängig
Max. = urodynamische Kapazität: 500–600 ml Detrusorruhedruck
leere Blase
0–5 cmH2O
geringes Vol
0–10 cmH2O
hohes Vol
0–20 cmH2O
Klassifikation der Miktion mit Detrusordruck und maximalen Flow ( Kap. 18 und Kap. 19, Nomogramme)
Entsprechend dem provisorischem ICS Nomogramm für Männer (BPO) Obstruiert = pdet, Qmax-2xQmax >40 entspricht Schaefer > III Nichtobstruiert = pdet, Qmax-2xQmax <20 entspricht Schaefer < I Zwischenwerte >20 bis <40 »unklar«, entspricht Schaefer II Für Frauen gibt es kein anerkanntes Nomogramm ( Kap. 18), aber es ist sinnvoll anzunehmen, dass die Werte niedriger sind als beim Mann, d. h. obstruiert, wenn pdet, Qmax-2xQmax >20 bzw Schaefer > I Für Kinder gibt es kein Nomogramm. Bewertung der Detrusorkontraktionstärke entsprechend Nomogram Maximale Flowerte (ml/s) abhängig vom Miktionsvolumen Mann (altersabhängig)
Frau
Kind
20–35 ml/s
20–35 ml/s
15–25 ml/s
Flowwerte immer mit Miktionsvolumen und Restharn angeben
* Bei den angegebenen Normbereichen handelt es sich nur um Richtwerte, die einer Expertenmeinung entsprechen
259 Anhang
A2
Fragebögen
Internationaler Prostata Symptom Score (I-PSS) Patientennamen: _____________________________________ Geburtsdatum: _______________________________________
Untersuchungsdatum: ______________________________________
Bitte beantworten Sie jede Frage, indem Sie eines der zugehörigen Kästchen ankreuzen.
Niemals
Ungefähr 1 mal von 5
Ungefähr 1 mal von 3
Ungefähr 1 mal von 2
Ungefähr 2 mal von 3
Fast immer
1. Wie oft während des letzten Monats hatten Sie das Gefühl, dass Ihre Blase nach dem Wasserlassen nicht ganz entleert war?
0
1
2
3
4
5
2. Wie oft während des letzten Monats mussten SIe in weniger als 2 Stunden ein zweites Mal Wasser lassen?
0
1
2
3
4
5
3. Wie oft während des letzten Monats mussten Sie mehrmals aufhören und wieder neu beginnen beim Wasserlassen?
0
1
2
3
4
5
4. Wie oft während des letzten Monats hatten Sie Schwierigkeiten, das Wasserlassen hinauszuzögern?
0
1
2
3
4
5
5. Wie oft während des letzten Monats hatten Sie einen schwachen Strahl beim Wasserlassen?
0
1
2
3
4
5
6. Wie oft während des letzten Monats mussten Sie pressen oder sich anstrengen, um mit dem Wasserlassen zu beginnen?
0
1
2
3
4
5
Niemals
Einmal
Zweimal
Dreimal
Viermal
Fünfmal oder mehr
0
1
2
3
4
5
7. Wie oft sind Sie während des letzten Monats im Durchschnitt nachts aufgestanden, um Wasser zu lassen? Maßgebend ist der Zeitraum vom Zubettgehen bis zum Aufstehen am Morgen.
Total I-PSS
Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Harntraktsymptome
I. Wie würden Sie sich fühlen, wenn sich Ihre jetzigen Symptome beim Wasserlassen in Ihrem weiteren Leben nicht mehr ändern würden?
Ausgezeichnet
0
Zufrieden
Überwiegend zufrieden
Gemischt, teils zufrieden
1
2
3
Überwiegend Unzufrieden Unglücklich
4
5
Lebensqualität
Sehr schlecht
6
260
Anhang
King’s Health Questionnaire Patientenname: ______________________________________ Geburtsdatum: _______________________________________
Untersuchungsdatum: ______________________________________
Bitte beantworten Sie jede Frage, indem Sie eines der zugehörigen Kästchen ankreuzen.
Wie würden Sie zur Zeit Ihren allgemeinen Gesundheitszustand beschreiben?
sehr gut
gut
mittelmäßig
schlecht
sehr schlecht
●
●
●
●
●
Wie sehr wirkt sich Ihrer Meinung nach Ihr Blasenproblem auf Ihr Leben aus?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
In welchem Ausmaß beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Sie bei Ihren Aufgaben im Haushalt (z.B. Putzen, Einkaufen, kleinere Reparaturen im Haushalt usw.)?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihre berufliche Arbeit oder Ihre üblichen täglichen Aktivitäten außerhalb des Hauses?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihre körperlichen Aktivitäten (z.B. Spazierengehen, Joggen, Sport, Gymnastik usw.)?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihre Fähigkeit, Bus, Auto, Zug oder Flugzeug zu benutzen?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Schränkt Ihr Blasenproblem Sie im Kontakt mit anderen Menschen ein?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Schränkt Ihr Blasenproblem Ihre Fähigkeit ein. Freunde zu treffen/zu besuchen?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihre Beziehung zu Ihrem Partner/Ihrer Partnerin?
nicht zutreffend
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihr Sexualleben?
nicht zutreffend
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihr Familienleben?
nicht zutreffend
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
●
261 Anhang
King’s Health Questionnaire Patientenname: ______________________________________ Geburtsdatum: _______________________________________
Untersuchungsdatum: ______________________________________
Bitte beantworten Sie jede Frage, indem Sie eines der zugehörigen Kästchen ankreuzen.
Sind Sie wegen Ihres Blasenproblems deprimiert?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Sind Sie wegen Ihres Blasenproblems besorgt oder nervös?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihr Selbstwertgefühl?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Beeinträchtigt Ihr Blasenproblem Ihren Schlaf?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Fühlen Sie sich wegen Ihres Blasenproblems erschöpft/müde?
überhaupt nicht
ein wenig
mäßig
sehr
●
●
●
●
Tragen Sie Vorlagen, um trocken zu bleiben?
nie
manchmal
oft
immer
●
●
●
●
Achten Sie darauf, wieviel Sie trinken?
nie
manchmal
oft
immer
●
●
●
●
Wechseln Sie Ihre Unterwäsche, wenn sie naß wird?
nie
manchmal
oft
immer
●
●
●
●
Machen Sie sich Sorgen, ob Sie riechen?
nie
manchmal
oft
immer
●
●
●
●
Ist Ihnen Ihr Blasenproblem peinlich?
nie
manchmal
oft
immer
●
●
●
●
Führen Sie folgende Handlungen aus? Wenn ja, wie oft?
262
Anhang
ICIQ - SF 1. Bitte schreiben Sie Ihr Geburtsdatum ein
_____________________________
2. Sie sind
weiblich ●
3. Wie oft verlieren Sie unwillkürlich Urin niemals einmal pro Woche oder seltener zwei- bis dreimal pro Woche einmal am Tag mehrmals täglich ständig
männlich ●
0 1 2 3 4 5
4. Wir möchten wissen, wie viel Urin Sie verlieren Wie viel Urin verlieren Sie gewöhnlich (unabhängig vom Tragen einer Vorlage)? kein Urinverlust 0 eine kleine Menge 2 eine mäßige Menge 4 eine große Menge 6 Wie sehr beeinträchtigt der unwillkürliche Urinverlust Ihr tägliches Leben? Bitte wählen Sie eine Ziffer zwischen 0 (gar nicht) und 10 (sehr stark) 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 gar nicht sehr stark Wann verlieren Sie unwillkürlich Urin (Bitte kreuzen Sie alles zutreffende an) ● Ich verliere niemals Urin ● Bevor ich die Toilette erreiche ● Wenn ich lache oder niese ● Während des Schlafens ● Während körperlicher Aktivität oder Anstrengung Wenn ich mich nach dem Wasserlassen angezogen habe ● Ohne erkennbaren Grund ● ● Ständig
263 Anhang
Post-Prostatektomie – Inkontinenz 1. Anamnese - Art und Dauer der Harntraktsymptome Miktionsanamnese:
Zahl der Miktionen tags Zahl der Miktionen nachts Blasenfüllungsgefühl: Imperativer Harndrang Blasenentleerungsgefühl: normal Blasenentleerungsmodus: Startschwierigkeiten Miktion mit Bauchpresse Entleerung auf Raten Harnstrahlqualität normal abgeschwächt Restharngefühl
●● ●● ja ●
nein ●
ja ●
nein ●
ja ● ja ● ja ●
nein ● nein ● nein ●
● ● ja ●
nein ●
Inkontinenzanamnese:
Dauer der Inkontinenz: nein ● praeoperativ ja ● postoperativ Monate ●● ●● Häufigkeit/24 h Tageszeit: ● den ganzen Tag ● vorwiegend nachmittags/gegen Abend ● Nacht Situation ● bei imperativem Harndrang ● hustensynchron, spritzförmig ● bei bestimmten Bewegungen ● unbemerkt ohne Anlass nein ● Wird Harnverlust verspürt ja ● Intensität ● Grad 1 ● Grad 2 ● Grad 3 ●● Anzahl der Vorlagen/24 h Art der Vorlagen .……………………………………………..……………………… bisherige Therapie ……………………………………………..……………………… Frühere chirurg. Eingriffe im kleinen Becken: ………………………………………… Erfassung der Comorbidität: nein ● Chron. pulm. Erkrankungen ja ● Herzinsuffizienz ja ● nein ● DM – Polydipsie ja ● nein ● Sexualanamnese: erektile Dysfunktion ● keine geringgradig ● ● mäßiggradig ● hochgradig Stuhlanamnese nein ● Stuhlgang oB ja ● wenn nein: …………………………………………….
264
Anhang
2. Quantifizierung der Symptome und des Leidensdrucks
Quantifizierung der Symptome: Miktionstagebuch: Häufigkeit der Miktion tags nachts Häufigkeit der Inkontinenz Blasenkapazität Anlass der Inkontinenz Harndrang körperl. Belastung Schweregrad der Inkontinenz I II III Bewertung des Leidensdruckes KHQ ICIQ-SF
● ● ●● ● ● ● ml ja ● ja ●
nein ● nein ●
● ● ●
3. Körperliche Untersuchung
Rektal normal ● path. ● Äußeres Genitale normal ● path. ● Hustentest (200 ml Blasenfüllung) neg. ● pos. ● Harnanalyse nein ● Harnwegsinfekt ja ● Restharnbestimmung 100 ● 200 ● 300 ● ml kein ● Uroflowmetrie Volumen ● ● ● ml Qmax. ● ● 4. Endoskopie
Sphinkteraktivität normal ● Anastomose normal ● Blasenhals normal ● Elastizität des Blasenhalses elast. ●
schwach ●
fehlend ●
Striktur ● trichterförmig ● starr ●
5. Urodynamische Untersuchung
Blasensensitivität erster Harndrang Detrusorhyperaktivität nein ja phasisch terminal Compliance Blasenkapazität Valsalva Leakpoint Pressure
vorhanden ● ● ● ● ml
fehlend ●
● ● ● ● ● ● ● ml/cm H2O ● ● ● ml ● ● ● cm H2O
* Dieser Frage- und Untersuchungsbogen ist nicht validiert sondern entspricht einer Expertenmeinung
265 Anhang
A3
Verzeichnis der Synonyme
Terminologie Alt
Neu
Irritative Symptome
Speichersymptome
Obstruktive Symptome
Entleerungssymptome, Miktionssymptome
Stressinkontinenz
Belastungsinkontinenz
Überlaufinkontinenz
chronische Harnretention mit Inkontinenz
Motorische Dranginkontinenz
Nichtneurogene Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz
Reflexinkontinenz, spastische Blase
Neurogene Detrusorhyperaktivität mit Harninkontinenz
Hypertone Blase
Hochdruckblase, Low-compliance-Blase
Drangsyndrom
Syndrom der überaktiven Blase (»overactive bladder« OAB)
Detrusorinstabilität
Nichtneurogene Detrusorhyperaktivität
Instabile Harnröhre
Unwillkürliche Harnröhrenrelaxierung
Sensorische Dranginkontinenz
Gestrichen
Kombinierte Stress- und Dranginkontinenz
Mischinkontinenz
Nächtliche, monosymptomatische Enuresis
Enuresis
Enuresis diurna et nocturna, symptomatische Enuresis, komplizierte Enuresis, Enuresis mit Tagessymptomatik
Kindliche Inkontinenz
Stichwortverzeichnis
268
Stichwortverzeichnis
A Abrams-Griffiths-Number 119 ADH-Sekretionsstörung 194 ADH (antidiuretisches Hormon, Vasopressin) 29 Adrenozeptorsubtypen 20 Akontraktiler Detrusor 181 Akontraktilität idiopathische 169 myogene 167 neurogene 169 psychogene 167 Aktive Drucktransmission 102 Alphaadrenozeptor 21 Analreflex (AR) 136 kutaner 78 Analsphinkterkontraktion, willkürliche 78 Anamnese, gynäkologische 70 Antidiuretisches Hormon (ADH) 29 Auftragserteilung Gesetzliche Unfallversicherung 252 Haftpflichtversicherung 252 Private Berufsunfähigkeitsversicherung 252 Private Unfallversicherung 252 Augmentation, Blase 243 Auslassdruckprofil 245 Ausscheidungsurogramm (AUG) 205 Autonome Dysreflexie 224 Azetylcholinrezeptoren, muskarinische 19
B Beckenbodenelektromyographie 132 Beckenbodenmuskelfunktion 37 Beckenbodenmuskelstärke 163 Belastungsinkontinenz 41 Betaadrenozeptor 21 Blase asensitive 46 hypersensitive 42 hyposensitive 46 Blasen- und Trinktagebuch 213 Blasenauslassfunktion, Störung 47 Blasenauslassobstruktion Auswirkungen 187 funktionelle 187 mechanische 183
Blasenersatz, kontinenter 242 Blasenfunktionsstörung Begutachtung 251 Definitionen 226 Enuresis 194 Kind 193 kindliche Harninkontinenz 195 Klassifikation 41 neurogene 221 urodynamische Untersuchung 222 Blasenhypersensitivität 42 idiopathische (primäre) 177 Kind 195 symptomatische (sekundäre) 177 Blasenhyposensitivität 180 Blasenkapazität, Kind 204 Blasenkontraktion nichtadrenerge 24 nichtcholinerge 24 Blasensensitivität 38 Blasensensorik, Kind 205 BPH-Syndrom 190 Therapie 191 Bulbokavernosusreflex (BCR) 78, 136
C Capsaicin 27 CHESS-Klassifikation 119 Cholinesterase 20 Clostridium botulinum-Toxin A (Botox) 28 CO2-Gaszystometrie 5 Compliance 97, 224 Cough leak point 108 CT des Abdomens und Beckens 155
D Desmopressin 30 Detrusor akontraktiler 46 hypokontraktiler 46 Detrusorakontraktilität 46, 225 Detrusorblasenhalsdyskoordination 171, 196 Detrusordicke, Formel 200 Detrusordruck 63 Detrusorfunktion 38
Detrusorhyperaktivität 38, 43, 206, 214 Kind 195 neurogene 42, 225, 230 phasische 215 terminale 215 Detrusorhypokontraktilität 46, 181 Detrusorhypokontraktilität/Blasenhyposensitivität (lazy bladder) 196 Detrusorkoeffizient 14 Detrusorkontraktionsdruck 15 Detrusorsphinkterdysfunktion 39 Detrusorsphinkterdyskoordination 171, 196, 206 Detrusorsphinkterdyssynergie 39, 225, 234 Detrusor leak point pressure 108, 224 DIAPPERS 212 Dicyclomin 28 Dopaminrezeptor 23 Dranginkontinenz 41 Druckflussanalyse 115 Druckflussplot 115 Druckflussrelation 115 Druckflussstudie 141 Drucktransmission aktive 102 passive 102 Dysfunktion des unteren Harntraktes 36
E Eiswassertest 231 Elektrophysiologische Untersuchung 132 EMG 68 Enterozystometrie 244, 247 Entleerungsphase 98 Entleerungsstörung 46, 165 Entleerungsstörungen (Mann) 180 Entleerungssymptom 36 Enuresis 194 Evozierte Potentiale 133 Extraurethrale Harninkontinenz 196
F Fast-twitch-Fasern 12 Flow-EMG, Kind 200
269 Stichwortverzeichnis
Fragebogen 72, 259 Füllungsmedium 65 Füllungsphase 96 Füllungszystometrie 141 Funktionelle Obstruktion 117 Funktionsprüfung motorische 77 sensible 78
Inkontinenz bei chronischer Harnretention 42 Innervation, periphere 14 Instabile Urethra 165 International-Prostate-Symptom-Score (I-PSS) 176, 259 Interstitielle Zystitis, Augmentation 246 Ionenkanäle 26 Isotopennephrogramm (ING) 205
G GABA-Rezeptoren 24 Giggle-Inkontinenz 196 Glycin 26 Grenzstrang, thorakaler 14
H Harnableitungen inkontinente 242 orthotope 248 Harnblase asensitive 46 Entleerungsstörung 46 Speicherstörung 42 Harninkontinenz extraurethrale 42 Klassifikation 41 Harninkontinenz beim älteren Menschen 212 Harnretention, Inkontinenz 42 Harnröhre, hypotone 44 Harnröhrendruckprofil 100 Harnröhrenfunktion 39 Harnröhrenhypermobilität 164 Harntrakt Physiologie des oberen 52 Urodynamik des oberen 53 Wirkung von Pharmaka 71 Hustenreflex 78 Hustentest 75 Hypokontraktilität 214 Hypotone Harnröhre 164
I ICIQ - SF 262 ICS-Nomogramm 118
K Kindliche Harninkontinenz 194 King’s Health Questionnaire 260 Klappenblase 197 Klassifikation der Harninkontinenz 41 von Blasenfunktionsstörungen 41 von Sphinkterfunktionsstörungen 41 Kreatininclearance 253
L Langzeiturodynamik 8, 128, 143, 203 Lazy bladder 206 Leak point pressure 68, 203, 232, 237, 244 LUTS (Lower urinary tract symptoms) 36, 166, 176, 212
M Magnetresonanztomographie (MRT) 205 Maturationshemmung 195 MdE in % 254 Mechanische Obstruktion 115 Medikamentenanamnese 71 Megazystis 197 Meningomyelozele 235 Messgrößen 96 Messparameter, Normalwerte 204 Mikrotiptransducer 63 Miktionsanamnese 222 Miktionsfrequenz 70 Miktionskalender 73
A–P
Miktionsprotokoll 73 Miktionstagebuch 73 Miktionszentrum pontines 12 sakrales 13 Miktionszystourethrogramm 201 Miktionszysturethrographie 149 Mischharninkontinenz 42 Mischinkontinenz 165 MRT des Abdomens und Beckens 155 des Beckenbodens 156 des Nervensystems 157 Muskarinrezeptoren 19 Myelodysplasien 237 Myelomeningozele 233
N Neurogene Blasenfunktionsstörung Basisdiagnostik 197 Kind 197 Trink- und Blasentagebuch (Miktionsprotokoll) 198 Untersuchungsmethoden 223 weiterführende Diagnostik 199 Nomogramm 87, 258 Normbefunde der Zystometrie 97 Nullwert 62
O OAB = overactive bladder 212 Obstruktion funktionelle 47, 117, 171 mechanische 47, 115, 170 Operationsanamnese 70 Opioide 26 Östrogen, Rezeptor 29
P Passive Drucktransmission 102 pdet, Ruhewert 63 Perfusionsprofilometrie 9 Post-Prostatektomie – Inkontinenz 263 Potentiale, evozierte 133
270
Stichwortverzeichnis
Prolapsklassifikation 162 Prostaglandine 26 Provokationstest Carbacholtest 226 Eiswassertest 226 Pudenduslatenzzeit 136 PURR 116
Q Qualitätskontrolle 64
R Referenzhöhe 62 Reservoirdruck Kontraktionsdruck 244 subtrahierter 244 totaler 244 Reservoirkapazität 245 Reservoirsensitivität 244 Restharn 213, 228 Kind 205 Rezeptor purinerger 24 serotinerger 23 Rezeptoren, peptiderge 26 Röntgenuntersuchungen 146 Ausscheidungsurogramm (AUG) 146 Miktionszysturethrographie (MCU) 149 Urethrogramm 150 Videourodynamik 151 Zystogramm 147 Ruheprofil 101
S Sakrale Agenesie 237 Schäfer-Nomogramm 119 Schmerzsyndrom 36 Sensitivitätsstörung auslassbedingte Speicherstörung 164 detrusorbedingte Speicherstörung 164 Hyposensitivität 166
kleinkapazitäre Blase 164 Serotininantagonist 23 Serotoninagonist 23 Sexualanamnese 222 Siroky-Nomogramme 87 Slow-twitch-Fasern 12 Sonographie Blase und Blasenhals 152 Introitus und Perineum 154 Niere, Harnleiter, Retroperitoneum 151 Prostata und Samenblasen 153 Speicherstörungen auslassbedingte 180 detrusorbedingte 178 Speicherstörungen (Mann) 177 auslassbedingt 163 detrusorbedingt 163 Sphinkterfunktionsstörung, Klassifikation 41 Spinale suprasakrale Läsionen 230 Spina bifida occulta 236 Stickstoffmonoxid (NO) 26 Stressprofil (Belastungsprofil) 101 Stuhlanamnese 222 Subsakrale Läsionen 233 Substanz P 26 Suprapontine Läsionen 227 Synonyme 265
T Terminologie 265 Tethered-cord-Syndrom 236 Thorakaler Grenzstrang 14 Trabekulierung 170 Tractus spinothalamicus 12 Trink- und Blasentagebuch, Miktionsprotokoll 209
U Untersuchung elektrophysiologische 132 vaginale 75 Urethradruckprofil 67 Urethraweite, Näherungsformel 202 Urethrogramm, Doppelballonsystem 150 Urodynamik
bei Blasenersatz 241 beim alten Menschen 213 Füllgeschwindigkeit 231 Kind 202 Messung 202 Technik 202 Urodynamische Diagnostik beim Mann, klinischer Wert 189 Urodynamische Normbereiche 258 Uroflow-EMG-Studie 140 Uroflowmeter 6 Uroflowmetrie 92, 140 als Kombinationsuntersuchung 92 Durchführung 84 Grundlagen 64 Kind 200 Uroflownomogramme 86
V Vaginale Untersuchung 75 Valsalva leak point pressure 108 Vasopressin 29, 30 Videourodynamik 122, 141, 223 Kind 203 Vinpocetin 28
Z Zwei-Punkt-Verfahren (lineare PURR) 118 Zystogramm 147 Zystometrie 96 ff