ELENI CARR
UNVERGESSLICHE STUNDEN
Veronica Glenn, die Kunstgeschichte und Archäologie studiert, nimmt einen Ferienjob...
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ELENI CARR
UNVERGESSLICHE STUNDEN
Veronica Glenn, die Kunstgeschichte und Archäologie studiert, nimmt einen Ferienjob im Expeditionsteam des Archäologen Dr. Ferrara an. Ziel der Reise sind unter anderem die MayaRuinen in Mexiko, die Veronica schon einmal besucht hat. Die Aussicht, an diesen Ort zurückkehren zu dürfen, löst Begeisterung in Veronica aus – bis sie dem Leiter dieser Expedition gegenübersteht und die Bilder ihrer ersten Reise wieder wach werden, Sie erinnert sich überdeutlich an die MayaRuinen und an den Fremdenführer mit den faszinierenden Augen – ihr Hotelzimmer, wo sie sich zu aufregenden Zärtlichkeiten verführen ließ. Jener Mann und Dr. Ferrara sind ein und derselbe, und obwohl er mit keiner Geste zeigt, daß auch er sich erinnert, fühlt Veronica, daß ihr Abenteuer erst beginnt...
LOVE AFFAIR erscheint 14täglich in der © CORA VERLAG GmbH & Co, Berlin Redaktion und Verlag: KaiserWilhelmStraße 6, 2000 Hamburg 36, Telefon 040/347 (1), FS 0 Geschäftsführung: Hans Sommer Geschäftsführender Redakteur: Claus Weckelmann (verantwortlich für den Inhalt) Textredaktion/Lektorat: Ilse Bröhl (verantwortlich) Redaktionelle Produktion: Karin Dickhaut (verantwortlich), L.L.Stripling, Marianne Schmidt Gestaltung: Traute Bentel Grafik: Otto DövleMoe, Renate Lehrke Herstellung: Jürgen Brühl (verantwortlich), Peter Urbanczyk Vertrieb: Gerhard Bergmann (verantwortlich) Anzeigen: Norbert Büttner (verantwortlich) Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste. © by: Eleni Carr Unter dem Original titel: „Mayan Moon" erschienen bei Silhouette Books, a Simon & Schuster Division of Gulf & Western Corporation, New York. Übersetzung: Ruthild Rabius © Deutsche Erstausgabe in der Reihe LOVE AFFAIR Band 15 (14 1), 1984 by CORA VERLAG GmbH & Co, Berlin Alle Rechte vorbehalten. LOVE AFFAIRRomane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden, Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Satz: Ehapa Verlag GmbH, Stuttgart Druck: Ebner Ulm Printed in Western Germany
1. KAPITEL Veronica kümmerte sich nicht darum, daß die jugendlichen Schutzbefohlenen ihr mißmutige Blicke zuwarfen, als sie mit ihnen in den Bus stieg. „Achtzehn, neunzehn, zwanzig", zählte sie. Tatsächlich waren alle da. Es war nicht leicht, zwanzig lebhafte Oberstufenschüler zu betreuen. Aber Veronica hatte es inzwischen gelernt, das allgemeine Maulen zu ignorieren, das allen Ausflügen, die auch nur im entferntesten mit Bildung zu tun hatten, vorausging. Ergeben ließen die Schüler die Zählprozedur über sich ergehen. Veronica stieg als letzte ein, bedeutete dem Busfahrer loszufahren und wappnete sich für die zu erwartenden Fragen und Beschwerden. „Warum durften wir heute nicht am Strand bleiben?" „Es ist viel zu heiß für so eine weite Busfahrt!" „Von Uxmal habe ich noch nie etwas gehört. Warum muß ich es mir dann ansehen?" Der letzte Satz stammte von Peter Ellis, dem Wortführer der Gruppe. Veronica lächelte betont freundlich und antwortete: „Aber von Cancun hattest du auch noch nie etwas gehört, weißt du noch?" „Hey, Peter, habe ich dich nicht sogar Mexiko im Weltatlas nachschlagen sehen, bevor die Reise losging?" neckte ihn das hübsche Mädchen neben ihm. Peter gab ihr einen leichten Rippenstoß. Es dauerte nicht lange, bis alle friedlich auf ihren Plätzen saßen. Veronica war den Jungen und Mädchen nicht böse. Schließlich hatten sie Frühjahrsferien, und da genossen die Schüler es, dem Gymnasium auf Long Island den Rücken kehren zu können. Sie hatten sich für diese Reise nach Mexiko eingetragen, um ein paar schöne Tage zu verleben. Darunter verstanden sie, möglichst oft schwimmen zu gehen, zu segeln, sich zu sonnen und zu flirten. Letzteres zu beaufsichtigen, war nicht gerade leicht für Veronica, aber sie wurde auch damit fertig. Was die jungen Leute anging, wäre der kulturelle Teil der Reise entbehrlich gewesen. Für Veronica traf genau das Gegenteil zu. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren hatte auch sie Spaß an Vergnügungen, aber trotz des geringen Altersunterschieds von fünf oder sechs Jahren bedeutete ihr die Möglichkeit, die Architektur und Kunst der alten indianischen Kulturen besichtigen zu können, sehr viel. Das war auch der Grund dafür gewesen, daß sie diesen Job als verantwortliche Reisebegleiterin übernommen hatte. Als fortgeschrittene Studentin der Kunstgeschichte an der Waverly Universität von Manhattan hätte sie sich eine solche Reise niemals leisten können, aber als Reisebegleiterin wurden die Kosten für sie vom Touristikbüro übernommen. Der Strand bei Cancun war herrlich. Veronicas frische Bräune verriet, daß sie schon oft von der Gelegenheit zum Sonnen Gebrauch gemacht hatte. Dennoch freute sie sich heute besonders darauf, die Überreste der alten Mayastadt bei Uxmal zu besichtigen. Die meisten von Veronicas Freunden an der Universität spezialisierten sich auf eine bestimmte Epoche der europäischen Kunst. Doch sie war von der Kunst der südamerikanischen Indianer am meisten fasziniert. Es war nicht leicht für Veronica, die Studiengebühren aufzubringen, vor allem, nachdem ihre verwitwete Mutter im vergangenen Jahr gestorben war. Zum Glück hatte sie etwas Geld geerbt und ein Stipendium bewilligt bekommen, so daß sie ihr letztes Semester für die bevorstehende Magisterprüfung ohne finanzielle Sorgen abschließen konnte. Es war ein heller, wolkenloser Tag. Die Sonne brannte schon heiß vom Himmel, obwohl es erst neun Uhr war. Leider würden sie erst gegen Mittag, also in der heißesten Zeit des Tages, in Uxmal ankommen. Veronica hoffte, daß der Führer,
den sie bestellt hatte, es verstand, das Interesse der Schüler zu wecken.
Der Fahrer machte eine kurze Pause in dem verschlafenen Mayadorf Uman.
Veronica nutzte die Gelegenheit und vertrat sich die Beine, während die Schüler
sich an den Tischen des örtlichen Gasthofes niederließen und für die Weiterfahrt
mit kalten Getränken stärkten.
„Los, auf geht's", mahnte Veronica sie, als der Busfahrer ungeduldig hupte.
„Wie weit ist es denn noch?" murrten einige der Schüler.
Manchmal schien es ihr, als ob es den Jugendlichen insgeheim Freude machte, zu
widersprechen. Dabei waren sie im Grunde eine nette Gruppe.
Als sie schließlich in Uxmal ankamen, war der Parkplatz schon mit Autos und
Ausflugsbussen überfüllt. Sie hatten sich etwas verspätet, und Veronica hoffte,
daß ihr Fremdenführer sie bereits erwartete, aber auf dem Parkplatz war weit
und breit nichts von ihm zu sehen.
„Ich bin schon ganz müde", klagte eines der Mädchen, als es aus dem Bus stieg.
„Merkwürdig", erwiderte Veronica trocken, „daß die Müdigkeit genau dann
einsetzt, wenn wir am hellichten Tag etwas besichtigen wollen. Gegen
Mitternacht ist sie wie weggeblasen, wenn ich Anstalten mache, euch ins Bett zu
schicken."
Ein schalkhaftes Grinsen war die Antwort. Veronica blickte sich suchend um,
dann entschied sie, sich am Eingang der alten Indianerstadt nach dem
Fremdenführer umzusehen. Brav trotteten ihre Schutzbefohlenen hinter ihr her.
Die gute Laune hatte bei ihnen inzwischen die Oberhand gewonnen.
„Also auf zu den Pyramiden!"
„Pyramiden gibt's nur in Ägypten, Dummkopf!"
„Und was ist das dann, was wir vom Bus aus gesehen haben? In Mexiko gibt's
auch Pyramiden! Da staunst du wohl."
„Ist denn immer noch nicht SiestaZeit?"
„Diese Mühsal bringen wir auch noch hinter uns, Kopf hoch! Hey, Miss Glenn, wo
steckt denn unser Fremdenführer?"
Ja, wo war er? Hatte er sich davongemacht, weil sie nicht pünktlich kamen?
„Keine Bange", sagte Veronica zuversichtlicher, als sie sich fühlte. „Sonst müssen
wir uns auf das Buch verlassen, das ich mitgebracht habe."
„Warum nicht", meinte Peter. „Wir haben nichts dagegen, wenn wir die
Angelegenheit schnell hinter uns bringen."
In der Nähe des Eingangs saß ein Mann unter dem einzigen Baum, der in der
ausgetrockneten Landschaft ein wenig Schatten spendete. Er trug einen grünen
Overall, das war hier wohl die Arbeitskleidung der Touristenführer. Veronica
seufzte vor Erleichterung und ging wie gewöhnlich entschlossenen Schrittes auf
ihn zu.
Er machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen. Statt dessen beobachtete er mit
Interesse und, wie sie meinte, einer gewissen Unverschämtheit, wie sie sich ihm
näherte. Als sie schließlich vor ihm stand, war sie völlig verunsichert.
„Tut mir leid, daß wir zu spät sind. Der Bus..." sie wußte nicht weiter und deutete
vage in die Richtung des Busses.
„Also Ihr Bus ist zu spät angekommen. Wie dumm!" antwortete er und erhob sich
gemächlich. Der leichte Vorteil, den sie gehabt hatte, solange er saß, war
verloren. Wie ein Riese stand er jetzt vor ihr, groß, breit und kraftvoll. Er hatte
sehr dunkle Augen und musterte Veronica ungeniert. Sein Gesicht war
beeindruckend: die geschwungenen Augenbrauen, die hohen Wangenknochen,
der stark gebräunte Teint. Sein Profil erinnerte sie an die Porträts von
Indianerhäuptlingen längst vergangener Zeiten.
„Sie sollten Montezuma heißen", bemerkte eines der Mädchen frech.
„So heiße ich leider nicht", entgegnete er lachend. „Ich heiße Antonio. Und Sie?" fragte er Veronica. „Veronica... ich meine Miss Glenn. Lassen Sie uns nicht soviel Zeit mit dem Vorstellen verschwenden. Wir sollten lieber gleich anfangen." Sie gab sich Mühe, ihre Stimme knapp und geschäftlich klingen zu lassen. Doch er schien davon ganz unbeeindruckt. „Selbstverständlich", antwortete er und grinste. „Womit denn?" Veronica war entrüstet. „Sie scheinen nicht allzugern zu arbeiten. Paßt es Ihnen nicht, die Führung wie vereinbart zu machen? Halten Sie gerade ihre Siesta?" Sein Gesicht erhellte sich. „Eine Führung soll ich machen? Warum nicht? Es fing sowieso an, langweilig zu werden. Da ist mir eine kleine Abwechslung, besonders eine so nette, sehr willkommen." Anerkennend sah er Veronica an. Sie besaß hübsches kastanienbraunes Haar und braune Augen. Ihr Blick war offen und ehrlich, und sie hatte eine kleine, gerade Nase, dazu einen großen üppigen Mund. „Bitte beschränken Sie sich bei Ihren Bemerkungen auf das Fachliche. Ich bin kein Schuldmädchen mehr", erwiderte sie scharf. „Das ist nicht zu übersehen, Señorita", antwortete er und blickte vielsagend auf die üppigen Formen; die ihr lässiges rotes Baumwollhemd und die weißen Jeans kaum verbargen. „Hier entlang", dirigierte er. „Folgen Sie mir bitte und bleiben Sie zusammen, damit keiner verlorengeht." Die Schüler folgten seinen Anweisungen, ohne zu murren. „Es entgeht mir nicht", meinte sie, als sie mit ihnen hinter Antonio herging,„daß ihr unserem Führer das Leben nicht so schwer macht wie mir." „Der sieht ja auch aus wie ein harter Bursche", erklärte Peter ungeniert. „Hat er nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit den Mayaherrschern, die in dem Buch über Mexiko abgebildet sind?" fragte eines der Mädchen und seufzte bewundernd. Veronica schwieg. Insgeheim stimmte sie dem Mädchen zu. Schade, daß sie ihren Skizzenblock im Hotel liegengelassen hatte! Sie hatte eigentlich vorgehabt, das eine oder andere Relief vom Mayatempel abzuzeichnen und vielleicht sogar die ganze Anlage zu skizzieren. Aber Antonio wäre auch ein faszinierendes Objekt gewesen, er war von angenehmer Gestalt. Antonio war ein ausgezeichneter Fremdenführer. Das mußte man ihm lassen. Er wußte alles über die Geschichte der Mayas. „Warum haben die Einwohner dieses Uxmal immer wieder verlassen?" fragte einer der Schüler, nachdem Antonio etwas über die Indianerstadt erzählt hatte. „Das läßt sich nicht mit Sicherheit sagen", antwortete er. „Immer wiederkehrende Dürreperioden haben wahrscheinlich große Hungersnöte hervorgerufen, was die Menschen dazu veranlaßte, die Städte zu verlassen. Der Boden hier ist karg, und ohne Regen gab es kein Überleben. Deshalb wurde Chac, der Regengott, als einer der wichtigsten Götter verehrt." Veronica war von der kunstvollen Architektur begeistert. „Irgendwo habe ich gelesen, daß die Mayas auch die ‚Griechen Amerikas' genannt werden. Diesen Ruf haben sie wohl ihrer klassischen Bauweise zu verdanken und der Tatsache, daß sie in hochentwickelten Stadtstaaten lebten", bemerkte sie. Antonio erwiderte ironisch: „Genausogut könnte man die Griechen die Mayas von Europa nennen. Das hängt nur vom Standpunkt ab." Hatte sie, ohne es zu wollen, seinen Stolz verletzt? Sie bewunderte die Kultur der Mayas und hätte ihm das gern erklärt, wußte aber nicht, wie. Zum Glück waren sie inzwischen bei dem größten Tempel der Anlage, der Pyramide des Zauberers,
angekommen. Antonios Aufmerksamkeit wurde völlig von den Schülern beansprucht, deren Interesse erwacht war und die ihn nun mit Fragen bombardierten. „Wie lange hat man an dem Tempel gebaut?" wollten sie wissen. „Warum haben die Seiten verschiedene Ausmaße?" „Wie wurden die schweren Steine befördert, wenn man das Rad noch nicht kannte?" „Warum hat man die Steinstufen mit Ketten versehen?" „Dürfen wir hochklettern?" Geduldig beantwortete Antonio den Jungen und Mädchen ihre Fragen und erlaubte ihnen dann, die steilen Stufen zu erklimmen und Fotos zu machen. Sie kletterten eifrig die Pyramide hinauf. Antonio drehte sich zu Veronica um. „Und was ist mit Ihnen, Señorita? Möchten Sie hier auf uns warten?" „Natürlich nicht." Sie empfand seine Frage als Herausforderung und stieg entschlossen, ohne nach unten zu schauen, hinter den anderen her. Als sie die oberste Plattform endlich erreicht hatte, pustete sie, während ihre Schützlinge wie die Bergziegen ohne jegliches Zeichen von Anstrengung herumsprangen, Fotos machten und das Abenteuer genossen. Antonio machte sie darauf aufmerksam, daß die gesamte Westfassade aus der gigantischen Steinmaske des Regengottes Chac bestand. „Daran läßt sich ermessen, wie wichtig er für die Mayas war; von ihm hingen nach ihrer Ansicht Leben oder Tod ab." „Man mußte sich ja ganz schön anstrengen, um zum Tempel auf der Spitze der Pyramide zu gelangen. All diese steilen Stufen haben einem den Aufstieg nicht gerade leicht gemacht", meinte Peter. Veronica stimmte ihm zu, aber bald mußte sie feststellen, daß der Abstieg noch schwieriger war. Zum Glück trug sie keinen Rock, sonst hätte ihre Kletterei noch unbeholfener ausgesehen. Krampfhaft hielt sie sich an der Kette fest, die als eine Art Geländer diente, und bemühte sich, nur auf die direkt unter ihr gelegene Stufe zu schauen. Plötzlich bemerkte sie Antonio an ihrer Seite. Leise sagte er: „Das machen Sie prima!" Sie fühlte, wie er nach ihrer linken Hand griff, mit der rechten hielt sie sich an der Kette fest. „Den Rest des Weges gehen wir gemeinsam hinunter", sagte er. Veronica fühlte sich hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, und dem, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit behielt aber die Oberhand. Sie ließ sich von Antonio die Stufen hinunterführen. Unten warteten Peter und die anderen. „Was sieht man denn da, Veronica hält Händchen mit dem Fremdenführer", neckte Peter sie. Die ganze Bande bog sich vor Lachen, als sie Antonio daraufhin ihre Hand entzog. Hoffentlich verbarg ihre Bräune, daß sie rot geworden war. Während sie weitergingen, fuhr Antonio mit seinen Erklärungen fort. Er war eine unerschöpfliche Quelle von Informationen und ließ ihnen viel Zeit für die Besichtigung. Unterwegs trafen sie verschiedene Touristengruppen, von deren Führern Antonio respektvoll gegrüßt wurde. Er schien hier die allgemeine Achtung zu genießen. An dem Palast des Gouverneurs, den sie als nächstes erreichten, faszinierte Veronica besonders ein wunderschöner, kompliziert gemeißelter Steinfries, der mehr als zwanzigtausend unterschiedlich behauene Steine aufwies. „Er ist großartig", sagte sie bewundernd. „Schade, daß ich mein Skizzenbuch im
Hotel vergessen habe." „Sind Sie Künstlerin?" fragte Antonio neugierig. „Nein. Ich bin Kunsthistorikerin, beziehungsweise werde es bald sein. Aber ich male und zeichne auch selbst ein bißchen." „Dies ist sicher der ideale Ort für einen Künstler. In seinen besten Zeiten war der Palast ein Anziehungspunkt für die verschiedensten Menschen, Künstler wie Gelehrte, Bildhauer, Philosophen, Astronomen, sie alle wurden hier im Palast des Gouverneurs empfangen." Ein nachdenklicher Ausdruck ließ Antonios Gesicht plötzlich viel weicher und ruhiger erscheinen. Gedankenverloren sah er in die Ferne. „Zur Zeit der Mayas war Uxmal eine von vielen berühmten Ortschaften", fuhr er fort. „Was wir hier sehen, sind die traurigen Überreste einer einstmals blühenden Stadt." „Sie sprechen mit soviel Anteilnahme davon", sagte Veronica. „Haben Sie selbst MayaBlut in den Adern?" Seine Miene wurde undurchdringlich. „Ja, Señorita, das habe ich. Gefällt es Ihnen nicht? Ein waschechter Nachkomme der Mayas als Fremdenführer: Das läßt sich doch gut verwerten, wenn Sie später von Ihrer Reise nach Mexiko erzählen. Es gibt ein bißchen Lokalkolorit, nicht wahr?" Veronica spürte, wie ihr Zornestränen in die Augen stiegen. So schlecht dachte er von ihr! Hielt er sie etwa für eine von den Touristinnen, die Reisen unternahmen, um sich damit zu Hause vor den Freunden zu brüsten? Die das, was sie auf ihren Reisen erlebten, nur dann genießen konnten, wenn es wert war, zu Hause erzählt zu werden? Aber sie war nicht so. Verächtlich warf sie den Kopf in den Nacken. „Ihr Stolz mag gerechtfertigt sein, nicht aber Ihr ungerechtes Urteil über andere, Señor", wies sie ihn zurecht. „Sie kennen mich überhaupt nicht und denken schlecht über mich. Das gefällt mir an Ihnen nicht." Antonio sah sie überrascht an. Er lächelte anerkennend und sagte dann: „Wenn ich Ihnen unrecht getan habe, Señorita, bitte ich um Verzeihung. Mag sein, daß ich überempfindlich bin. Aber Sie sind es anscheinend auch." „Ganz im Gegenteil!" „Dann bitte ich Sie nochmals um Verzeihung. Aber ich muß zugeben, daß ich Ihren Zorn genossen habe. Sie sehen noch hübscher als sonst aus, wenn Sie wütend sind." Vielsagend blickte er sie an. „Ich bin gar nicht... sehe ich nicht..." Veronica wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich nie außergewöhnlich hübsch gefunden und besonders um ihr Äußeres gekümmert. Dafür hatte sie zu viel mit Arbeiten und Studieren zu tun gehabt. Nur widerstrebend gestand sie sich ein, wie sehr ihr sein Kompliment schmeichelte, und sie versuchte, ihre Aufregung vor ihm zu verbergen. Leider spiegelten sich bei ihr Gefühle immer auf dem Gesicht wider. Deswegen bewunderte sie Frauen, die sie hinter einer kühlen Fassade verbergen konnten. Verlegen schlug sie die Augen nieder. „Hey, Veronica, Antonio, wann gibt's überhaupt Essen?" Das war Peter. Er kam wie gerufen, um die peinliche Situation zu beenden. „Genau! Die Pyramide rauf und runter zu klettern, macht Hunger", unterstützte ihn ein anderer. Es war wirklich Zeit für eine Pause. Veronica wandte sich hilfesuchend an Antonio. „Gibt es hier ein billiges Restaurant, wo man eine Kleinigkeit zum Lunch bekommen kann?" Warum nur hatte sie das Gefühl, von seiner Zustimmung abhängig zu sein? Man konnte doch wohl die Führung für eine kurze Essenspause unterbrechen!
Antonio ließ sich Zeit mit der Antwort. So war sie gezwungen, ihn anzusehen. „Richtig, wir sollten eine Pause machen", stimmte er dann zu. „Wenn wir diese Straße ein Stück hinuntergehen, finden wir ein geeignetes Restaurant. Es ist billig, und wir werden bestimmt satt werden." Antonio ging mit Peter und ein paar anderen Jungen voran. Veronica blieb mit den Mädchen ein wenig zurück. Das Restaurant, zu dem sie gelangten, wirkte einladend. Es war sehr geräumig und angenehm kühl. Für einen Pauschalpreis konnte man sich an einem reichhaltigen Büfett soviel nehmen, wie man wollte. Die Schüler waren sofort dafür. Mit Begeisterung häuften sie sich Chili, Takos, Hähnchen und gefüllte Maisfladen auf die Teller. Veronica wartete, bis sich alle bedient hatten. Erst als die Kinder am Tisch Platz genommen hatten, nahm sie sich selbst. Als sie vom Büfett zurückkam, stellte sie fest, daß die Schüler ihr einen Platz zwischen Peter und Antonio freigehalten hatten. Ihr blieb keine Wahl. Sie mußte sich neben ihn setzen. „Ich dachte, ihr würdet gern zusammensitzen", meinte Peter anzüglich. „Da hast du ganz recht", stimmte Antonio ihm grinsend zu. Veronica lächelte gezwungen. „Warum nur bekommt man solche Takos nicht auch zu Hause?" seufzte Peter, dem es offensichtlich schmeckte. Bald stand er wieder auf und füllte sich den Teller von neuem. Veronica versuchte unterdessen, sich auf das Essen zu konzentrieren. Sie hatte nicht viel genommen. „Sie mögen unser mexikanisches Essen wohl nicht?" fragte Antonio mißtrauisch. „Ganz im Gegenteil. Ich mag es sogar sehr. In New York besuche ich gelegentlich eins der mexikanischen Restaurants." „Dort gibt es bestimmt nur Chili und Enchiladas. Aber daraus besteht die mexikanische Küche nicht nur." Wollte er schon wieder mit ihr streiten? Veronica sah ihn an und erwiderte hitzig: „Nun hören Sie mir mal gut zu, Antonio. Ich habe keine Lust, mit Ihnen über die Vor und Nachteile unserer verschiedenen Kulturen zu diskutieren. Ich will in Ruhe mein Essen genießen." Einen Moment schien Antonio verblüfft, aber dann lachte er herzlich. „Das sollen Sie auch, Señorita. Verzeihen Sie mir und essen Sie ruhig weiter. Die Takos sind hier exzellent." Sie probierte und gab ihm recht. Dann stocherte sie neugierig in dem Fladen, den sie sich genommen hatte. Antonio bemerkte ihr Zögern. „Das sind gefüllte Maisfladen", erklärte er. „Allerdings nehmen wir keine Maisblätter, um die Füllung einzuwickeln." „Was nehmen Sie dann?" „Bananenblätter." Die Maisfladen waren köstlich. Sie schmeckten ein wenig nach Artischocken. Mit Appetit beendete Veronica ihr Mal und lehnte sich entspannt zurück. Antonio unterhielt sich inzwischen angeregt mit den Schülern. Veronica war begeistert, wie viel er wußte. Fasziniert hörte sie zu, als er von der symbolischen Bedeutung der Säulenanzahl in den verschiedenen Gebäuden berichtete. Sie bestürmte ihn mit Fragen, und er antwortete ihr bereitwillig. Erst nach einer ganzen Zeit fiel ihr auf, daß ihre Schutzbefohlenen nach und nach das Restaurant verlassen hatten. Sie und Antonio saßen als einzige noch am Tisch. Ein wenig verlegen biß sich Veronica auf die Unterlippe. „Sieht ganz so aus, als ob man uns alleingelassen hat. Wir gehen dann wohl besser auch. Wahrscheinlich stehen sie draußen und warten dort auf uns."
Antonio erhob sich und folgte ihr. Einige der Schüler vergnügten sich draußen damit, mit einer Wurfscheibe zu spielen, die anderen lagen schläfrig abseits im Schatten des Hauses. Der Vorschlag, zur alten Stadtanlage zurückzukehren, wurde mit gelangweiltem Stöhnen beantwortet. „Ich glaube, die Jungen und Mädchen haben für heute genug, Señorita", mischte sich Antonio ein. „Sie sollten sie nicht gegen ihren Willen dorthin bringen." „Aber wir haben das Nonnenkloster noch nicht gesehen", protestierte Veronica. „Das wird sie sicher interessieren." „Das bezweifle ich", erwiderte Antonio. „Wenn die Studenten an der Universität so aussehen, weiß ich, daß sie nicht mehr aufnahmefähig sind." Was meinte er damit? Macht er dort auch Führungen? Doch ihr blieb keine Gelegenheit, zu fragen, denn Antonio hatte sich an die Jugendlichen gewandt. „Ihr habt noch eine Stunde Zeit zur Verfügung", erklärte er. „Wollt ihr das Nonnenkloster besichtigen oder hierbleiben und Señorita Glenn und mich in einer Stunde am Eingang erwarten?" Wie vorauszusehen gewesen war, entschieden sich die Schüler gegen die Besichtigung des Klosters. „Ein Nonnenkloster — das würde mich nur interessieren, wenn ich schon eine alte Jungfer wäre", meinte eines der Mädchen schnippisch, was ihr einen ärgerlichen Blick von Veronica eintrug. „Diese dumme Bemerkung hat Sie geärgert, nicht wahr?" sagte Antonio. „Nennt man Sie so... eine alte Jungfer?" „Natürlich nicht! Ich bin doch erst dreiundzwanzig, noch längst keine alte Jungfer!" „Hier in Mexiko heiraten die Mädchen sehr früh. Mit dreiundzwanzig haben sie manchmal schon drei oder vier Kinder." „In Amerika ist das anders. Die alten Jungfern sind dort ausgestorben. Viele Frauen sind mit ihrer Karriere beschäftigt, oft wollen sie gar nicht heiraten — zumindest eine Zeitlang nicht." „Und Sie... sind Sie auch eine Karrierefrau?" Sie fühlte, daß er sie von der Seite ansah. „Ich... ja... das heißt... ich mache ja erst mein Examen. Ich weiß noch nicht..." Dann sagte sie entrüstet: „Das geht Sie im übrigen gar nichts an, wissen Sie das?" „Das ist nur natürliche Neugier", verteidigte er sich mit gespielter Unschuld. „So wie Sie etwas über die mexikanischen Sitten hören wollen, möchte ich gern etwas über die amerikanischen erfahren." Sie gingen weiter. „Und was tun amerikanische Frauen, um ihre romantischen Bedürfnisse zu befriedigen, wenn sie nur studieren und ihre Karriere verfolgen?" fragte er nach einer Weile. „Ich habe nicht behauptet, daß sie Männern aus dem Wege gehen." Veronica war erbost. „Sie haben natürlich Freunde... und Bekannte..." Sie wußte nicht, wie sie fortfahren sollte. Ja, richtig", erwiderte er seufzend, „ich habe davon gehört, was für Beziehungen junge Menschen in Amerika haben. Ist diese Art von Beziehung denn wirklich zufriedenstellend?" Jetzt wurde Veronica wirklich böse. „Woher soll ich das wissen? Ich meine... ich hatte noch keinen... das heißt... hören Sie auf, für heute ist der Unterricht über die amerikanischen Sitten beendet. Reden wir lieber über die Mayas." „Aber selbstverständlich, Señorita. Das Leben war damals offenbar einfacher als heute."
Als sie und Antonio schließlich das Nonnenkloster erreichten, vergaß Veronica ihren Unmut. Das Kloster bestand aus vier Gebäuden, die einen rechteckigen Hof umgaben. Der Eingang des Ostflügels war mit steinernen Schlangenköpfen, Eulen und Regengöttern verziert. Die Steinfiguren des Nordflügels zeigten Symbole des Lebens, verschiedene Masken des Regengottes und zweiköpfige Schlangen. Fast eine Stunde war schon vergangen, als sie die breite Treppe zur Terrasse des Westflügels emporstiegen. Der Fries, der diese Fassade schmückte, war überwältigend schön. Gefiederte Schlangen, Mais, ein Thron, vielfältiges Blattwerk und eine Figur mit dem Kopf eines Menschen und dem Körper einer Schildkröte waren darauf dargestellt. Am liebsten hätte Veronica hier länger verweilt, und wieder bedauerte sie, den Zeichenblock vergessen zu haben, aber sie mußte zu ihrer Reisegruppe zurück. Als sie gerade die Stufen hinuntergehen wollten, hörten sie Peters Stimme. „Halt, stehenbleiben! Genau dort. Prima. Jetzt lächeln!" Er stand am Fuß der Treppe und hielt seine Kamera auf sie gerichtet. Hinter ihm, im Hof verteilt, entdeckte Veronica auch die anderen. „Das Herumgammeln wurde uns langweilig", erklärte er, „also beschlossen wir, Sie hier abzuholen und ein paar Aufnahmen zu machen." Auch die anderen baten Veronica und Antonio, noch einmal für ein Foto zu posieren. „Ich verstehe nicht, warum ihr unbedingt mein Gesicht auf euren Fotos haben wollt", lachte Veronica. „Ich sehe typisch amerikanisch aus. Aber ich kann gut verstehen, daß ihr Antonio fotografieren wollt. Wenn ich meinen Skizzenblock dabeihätte, würde ich ihn bitten, mir Modell zu stehen. Leider geht das nun nicht. Den habe ich im Hotel in Cancun vergessen." Antonio blickte sie nachdenklich an. „Zum Glück werde ich morgen da sein, wo sich Ihr Skizzenblock befindet, Señorita." „Was meinen Sie damit?" „Daß ich morgen geschäftlich in Cancun zu tun habe. Wenn Sie es wünschen, stehe ich Ihnen gern Modell." „Ich weiß nicht genau, was für morgen geplant ist..." „Aber ich weiß es. Morgen früh haben wir frei", mischte sich Peter ein. „Hier ist der Plan, wenn Sie mal nachsehen wollen." Hilfsbereit winkte er mit einem rosafarbenen Blatt Papier. „Sehr gut. Dann treffen wir uns morgen um elf in Ihrem Hotel." Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte sich Antonio den Schülern zu. „Da ihr nun doch gekommen seid, mache ich jetzt mit euch eine Kurzführung durch das Kloster. Kommt." Gehorsam folgten sie ihm. Veronica blieb mit einem merkwürdigen Gefühl zurück. Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, daß sie ihn morgen wiedersah. Er war ihr heute eine große Hilfe gewesen. Tatsächlich würde sie ihn auch gern zeichnen, denn so schnell fand sich kein zweites geeignetes Modell. Nun, die Verabredung war getroffen. Antonio schien äußerst entschlußfreudig zu sein. Er begleitete die Schülergruppe zum wartenden Bus zurück, überredete den Fahrer, einen kurzen Umweg über Kabáh zu machen, das zwölf Meilen südlich lag, und brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, als er sich an Veronica wandte, um der eine Botschaft auszurichten. Die hatte sowieso Schwierigkeiten, seinen Dialekt zu verstehen, außerdem versicherte Antonio ihr, daß es nichts von Bedeutung sei. Auf der kurzen Fahrt nach Kabáh, das außerhalb ihrer ursprünglich geplanten Route lag, saß Antonio neben Veronica. Sie war sich seiner Nähe sehr bewußt. „Warum ist Kabáh so bedeutend?" fragte sie und versuchte, ihre Stimme
möglichst geschäftlich klingen zu lassen. „Der Triumphbogen von Kabáh ist hochinteressant. Offenbar diente er einst als Stadttor. Die heilige Straße nach Uxmal führte durch dieses Tor. Wahrscheinlich gab es damals ein ganzes Netz solcher Straßen, die eine Stadt mit der anderen verbanden." Als sie aus dem Bus ausstiegen und zu den Ausgrabungen hinübergingen, bemerkte Veronica, daß manche Jungen und Mädchen sich als Pärchen von den anderen absonderten. Antonio schien das auch aufgefallen zu sein, denn er sah sie wissend an und meinte: „Ich glaube, wir müssen gut auf unsere jungen Freunde aufpassen. Ringsum gibt es soviel Natur. Da kommt uns womöglich das eine oder andere Pärchen abhanden. Ich kann es ihnen nicht einmal verübeln, wenn sie andere Dinge im Kopf haben." In diesem ungünstigen Augenblick stolperte Veronica über einen Stein und wäre gestürzt, wenn Antonio sie nicht aufgefangen hätte. Er griff nach ihrer Hand und gleichzeitig nach ihrer Taille, so daß sie wieder ins Gleichgewicht kam. Dankbar blickte sie ihn an. Daraufhin umfaßte er ihre Taille fester. Seine Augen wurden noch dunkler, als er weich zu ihr sagte: „Nein, Señorita Veronica, ich kann das Ihren Schülern wirklich nicht verübeln. Wenn ich es mir genau überlege, habe auch ich viel größeres Interesse an anderen Dingen." Eigentlich verspürte Veronica wenig Lust, sich ihm zu entziehen. Aber da die Jungen und Mädchen sie amüsiert beobachteten, befreite sie sich hastig. Hatte er ihre Nachgiebigkeit gespürt? Sie ging mit schnellen Schritten weiter. „Kommt schnell weiter!" drängte sie. „Wir haben nicht viel Zeit." Der Torbogen erinnerte Veronica an die Triumphbögen, die sie auf Bildern von Rom gesehen hatte, aber sie nahm sich vor, diesen Vergleich für sich zu behalten. Wahrscheinlich würde Antonio dann nur wieder verärgert reagieren. Doch da hörte sie ihn sagen, als könne er Gedanken lesen: „Der Torbogen von Kabáh hat viele Gelehrte an die römischen Triumphbögen erinnert, die als Siegestore dienten. Leider ist es wohl unser trauriges Los, immer mit der europäischen Baukunst verglichen zu werden." In einiger Entfernung bemerkte Veronica eine Art Camp mit mehreren Zelten. Menschen liefen dort geschäftig umher. „Hier werde ich Sie alleinlassen", kündigte Antonio an. „Möchten Sie nicht mit nach Uxmal zurückfahren?" fragte Veronica überrascht. „Nein, ich wohne hier", antwortete er und deutete in die Richtung des Camps, das ungefähr achthundert Meter entfernt lag. „Sagenhaft! Zelten, im Freien übernachten! Das hätten wir auch ins Programm aufnehmen sollen, Veronica", sagte Peter mit Begeisterung. Er war offenbar Frischluftfanatiker. „Bei dir ist wohl 'ne Schraube locker", wunderte sich seine Freundin Sally. „Das ist wahrscheinlich eine Indianersiedlung." Sie wandte sich zu Antonio um. „Die Indianer leben hier doch in Zelten, nicht wahr?" „Nein, mein Fräulein", antwortete er mit spöttischem Lächeln. „Sie haben im neunten Jahrhundert nicht in Zelten gelebt und tun das auch heute nicht. Es sei denn, sie campen, wie man das auch bei Ihnen in Amerika zu tun pflegt." „Also bei wem ist nun die Schraube locker?" neckte Peter sie und zog sie mit sich fort. „Wohnen da vielleicht die Touristenführer?" fragte Veronica verwundert. „Nicht direkt. Jeder hat sein richtiges Zuhause. Aber vorübergehend ist das schon das Zuhause Ihres Führers." Seine Antwort befriedigte sie nicht. Hatte er kein Zuhause? Wollte er etwas verbergen: seine Frau, seine Familie? Ach, es ging sie ja nichts an.
„Ich dachte nur... sagten Sie nicht, Sie wären morgen in Cancun? Wie wollen Sie
dort hinkommen?"
„Machen Sie sich keine Sorgen, Señorita. Ich werde ganz bestimmt morgen
pünktlich in Cancun sein."
„Wie kommen Sie darauf, daß ich mir Sorgen mache?" Das würde ihm wohl so
passen!
„Also gut, dann sehen wir uns morgen."
2. KAPITEL Auch an diesem Abend gab es wieder Schwierigkeiten, bis Veronica die ihr anvertrauten jungen Leute endlich in die Betten gescheucht hatte. Die Jungen und Mädchen waren voll Energie und hätten die ganze Nacht in der Disco durchtanzt, wenn sie ihnen nicht befohlen hätte, schlafen zu gehen. Noch um ein Uhr sah man vereinzelt Gestalten über den Hotelflur von Zimmer zu Zimmer huschen. Erst um zwei hatte sich die Bande beruhigt, und Veronica konnte selbst ins Bett gehen. Sie wollte morgen ausschlafen und hatte ihrer Gruppe freigestellt, entweder auch lange zu schlafen, schwimmen zu gehen oder Tennis zu spielen. Bis auf ihre Verabredung mit Antonio um elf Uhr hatte sie keine Verpflichtungen. Obwohl sie so spät ins Bett gegangen war, wachte sie schon um acht Uhr auf. Sie schob die schweren Vorhänge zurück, um den herrlichen Morgen zu genießen. Vom Balkon aus hatte man einen wunderschönen Blick über das klare blaue Meer und einen endlosen weißen Sandstrand, den prächtige, hohe Palmen säumten. Wie sollte sie da noch schlafen können? Schnell ging sie unter die Dusche, zog dann einen Badeanzug an und lief zum Strand hinunter. Das Wasser sah so einladend aus, daß sie es kaum erwarten konnte, sich in die Fluten zu stürzen. So verlassen, wie der Strand zu dieser frühen Stunde war, fand sie ihn am schönsten. Die meisten Leute schliefen noch oder saßen auf der Terrasse. Enrique, der Strandwächter, begrüßte sie herzlich. „Guten Morgen, Señorita. Es ist ein wunderschöner Morgen, nicht wahr? Brauchen Sie die Schnorchelausrüstung?" „Keine schlechte Idee, Enrique", antwortete sie heiter. „Der Morgen ist ja wie geschaffen für einen kleinen Abstecher in die Meereswelt. Außerdem können mich meine Schüler dann nicht so leicht finden." Als sie das erste Mal mit der ganzen Schülergruppe zum Strand gekommen war, hatte Enrique sie damit aufgezogen, daß sie Mutter von zwanzig wilden Teenagern sei. Er lachte und gab ihr den Schnorchel, die Taucherbrille und die Flossen. „Ich verrate der Horde nicht, wo Sie zu finden sind." Veronica trug die Ausrüstung bis ans Wasser. Dort streifte sie die Flossen und die Taucherbrille über und watete dann ins Meer hinein. Das Wasser ist nicht zu vergleichen mit dem zu Hause, dachte sie, als sie durch das kristallklare Wasser glitt. Die Strände von Long Island gefielen ihr schon, aber das Wasser war dort viel dunkler und kälter. Es besaß nie diese durchsichtige Klarheit, in der phantastisch gefärbte Fische jeder Art und die vielfältigsten Unterwasserpflanzen geheimnisvoll leuchteten. Nicht weit vom Strand gab es ein paar Felsen. Dort sammelten sich besonders viele Fische. Das Wasser war hier nicht sehr tief, und meistens tummelten sich darin Badegäste und beobachteten die Fische, die sich blitzschnell um die Felsen bewegten. Veronica freute sich, daß heute noch niemand dort war, und begann hinüberzuschwimmen. Sie bemühte sich, dabei das Wasser so wenig wie möglich aufzurühren, damit die Fische nicht erschreckt wurden. Tatsächlich huschten auch manche nahe an ihrem Gesicht vorbei. Plötzlich bewegte sich ein dunkler Schatten in der Nähe. Im ersten Augenblick erschrak sie, aber dann merkte sie, daß dort ein Mensch schwamm. Es war ein ziemlich großer Mann, der mit einer knappen weißen Badehose bekleidet war. Hatte er sie nicht gesehen? Er kam direkt auf sie zu. Als er sie erreicht hatte, stellte er sich hin, wodurch er ihr den Weg versperrte. Verärgert richtete sie sich in dem seichten Wasser auf und zog die Taucherbrille vom Gesicht. Vor ihr stand
niemand anders als Antonio. „Was machen Sie hier?" Vor Überraschung stotterte sie. „Offensichtlich das gleiche wie Sie, Señorita Veronica", antwortete er gutgelaunt. „Ich schwimme. Hier hat doch jeder Zutritt, oder täusche ich mich?" „Natürlich. So war das nicht gemeint. Ich habe nur noch nicht mit Ihnen gerechnet. Wußten Sie, daß ich hier im Wasser zu finden bin?" „Aber woher denn?" Jetzt kam sie sich albern vor. Das sah ja fast so aus, als glaube sie, daß er sie verfolge. „Ich bin schon sehr früh hier angekommen", erklärte er. „Also entschloß ich mich, schwimmen zu gehen. Wir sind ja erst um elf Uhr verabredet. Das Wasser sah so einladend aus, daß ich nicht widerstehen konnte. Wir verdienen ja auch beide ein bißchen Erholung, nachdem wir gestern so hart gearbeitet haben, habe ich recht?" „Wir sollen hart gearbeitet haben? Uxmal zu besichtigen war faszinierend!" „Auch gut. Freut mich, daß Ihnen die Tour gefallen hat. Trotzdem war es doch ganz schön anstrengend mit Ihren Halbwüchsigen. Wir sollten die kleine Ruhepause genießen. Kommen Sie, wir schwimmen ein Stück." Da gab es plötzlich eine freundschaftliche, lockere Atmosphäre zwischen ihnen, der sie sich nicht entziehen konnte. „Wer ist eher da drüben an dem Felsen?" fragte er herausfordernd und deutete auf eine große schwarze Felsformation, die sich ungefähr hundertfünfzig Meter entfernt aus dem Wasser erhob. „Achtung, fertig, los!" Antonio war ein kräftiger und schneller Schwimmer, aber Veronica hatte keine Mühe, mitzuhalten. Sie konnte sehr gut schwimmen, außerdem halfen ihr die Flossen, die sie noch an den Füßen trug. Als sie den Felsen fast erreicht hatten, legte sie sich noch einmal kräftig ins Zeug und langte tatsächlich einen Meter vor ihm an. Lachend hielt sie sich an den Steinen fest und blickte ihn triumphierend an. „Ich habe gewonnen", sagte sie stolz. „Das war nicht fair", rief er. „Sie waren im Vorteil, weil Sie die Flossen tragen. Aber das läßt sich schnell ändern." Ehe ihr klar war, was er vorhatte, war er schon getaucht. Er hielt ihre Beine fest umfaßt, so daß sie nicht um sich treten konnte, und zog ihr die Flossen von den Füßen. „Also gut, jetzt sind wir gleich", keuchte sie atemlos. „Wer ist zuerst wieder zurück?" Ohne seine Antwort abzuwarten, riß sie sich von ihm los und schwamm mit schnellen Zügen auf den Strand zu. Sie war ihm ein Stück voraus, aber Antonio hatte sie bald überholt. Als er mit ihr auf gleicher Höhe war, spritzte er sie mit den Flossen, die er in der Hand hielt, naß. „Diesmal habe ich gewonnen", stellte er zufrieden fest, als sie sich neben ihm in den Sand fallen ließ. „Allerdings nicht ohne Mühe. Die Flossen haben mich behindert. Übrigens, Ihre Füße müssen ja sehr klein sein, wenn Ihnen diese Dinger passen." Er beugte sich hinunter und maß ihren Fuß mit der Hand. Sie zitterte, weil sie sowieso ein bißchen kitzlig war und zudem besonders empfindlich für seine Berührung. Weil er ihre Reaktion spürte, hielt er ihren Fuß absichtlich fest. „Also kitzlig sind Sie", neckte er sie. „Jetzt könnte ich Sie ein wenig quälen, wenn ich Lust hätte." „Bitte nicht, Antonio!" „Nun, Veronica, dann lasse ich es eben bleiben“, antwortete er leichthin. „Ich habe sowieso zu ganz anderen Dingen Lust. Außerdem gibt es ja noch viele
andere Stellen, die zu berühren es sehr viel verlockender ist.“ „Die Sonne brennt schon so heiß", lenkte Veronica nervös vom Thema ab. „Wir gehen lieber wieder ins Wasser." Diesmal schwammen sie entspannt und ohne Ehrgeiz nebeneinander her. Antonio war hier im Wasser genauso in seinem Element wie in den Ruinen von Uxmal. Ab und an tauchte er und zog sie mit sich, um ihr etwas besonders Schönes zu zeigen. Nach einiger Zeit bemerkten sie, daß sie nicht mehr allein waren. Inzwischen tummelten sich viele Menschen im Wasser und lagen am Strand. Es war spät geworden. „Ich glaube, wir müssen allmählich zurück", meinte Veronica bedauernd. Als sie sich abtrockneten, machte Antonio den Vorschlag, noch etwas zu essen, bevor sie mit der Sitzung anfingen. „Ich weiß nicht, ob die Zeit dafür noch reicht", gab Veronica zu bedenken. „Denn für heute nachmittag ist ein Bootsausflug geplant." „Sicher reicht sie", entgegnete Antonio. „Schließlich müssen wir irgendwann mal etwas essen." Veronica fiel ein, daß sie noch gar nicht gefrühstückt hatte, und ihr Widerstand schwand. „Sie haben recht", sagte sie lächelnd. „Ich habe auch einen Riesenhunger." Veronica und Antonio gingen zusammen zur Hotelterrasse. Die Tische waren fast alle besetzt. Veronica entging es nicht, daß sich manche der weiblichen Gäste nach Antonio umdrehten, als sie vorbeigingen. Er sah wirklich sehr gut aus in seiner weißen Badehose und war ein stattlicher Mann, der sich trotzdem geschmeidig und leicht bewegte. Das schwarze Haar, das durch das Schwimmen noch lockiger geworden war, hing ihm verwegen in die Stirn. Sie neckte ihn wegen der Aufmerksamkeit, die er überall erregte, bereute aber bald, was sie gesagt hatte, denn Antonio erwiderte: „Sie schauen nicht nur mir nach, Veronica. Achten Sie mal darauf, wohin die männliche Begleitung jener Damen den Blick wendet. Das Interesse gilt nur Ihnen. Warum auch nicht? Wo es da doch so viel Schönheit zu bewundern gibt!" Veronica fühlte, wie sie rot wurde. Sicher spielte er damit auf ihren knappen Bikini an, dessen kurzes Höschen war über den Hüften zusammengebunden, und das ziemlich gewagte Oberteil verhüllte ihre gutgeformten Brüste kaum. Sie sollte wohl doch besser ihr Netzhemd überziehen. Das tat sie dann so lässig wie möglich. Doch Antonio lächelte und sagte: „Dies Ding enthüllt ja wohl mehr, als es verbirgt." Es überraschte Veronica, daß Antonio bei dem Personal des Hotels bekannt war. Er führte ein kurzes Gespräch auf spanisch mit dem Kellner, in dem er anscheinend für sie mitbestellte. „Sagen Sie bitte dem Ober, daß das Essen auf meine Rechnung geht", bat sie Antonio. „Auf keinen Fall." Antonio blieb fest. „Schließlich habe ich den Vorschlag gemacht, etwas zu essen." „Aber Sie sind auf meine Einladung hin hier, um mir einen Gefallen zu tun. Ich bestehe darauf." „Und mir ist es egal, worauf Sie bestehen." Sein Blick sagte ihr, daß für ihn die Diskussion damit beendet war. „Modern hin, modern her: das bedeutet nicht, man dürfe nicht mehr höflich sein." Veronica wußte, daß er ein sehr teures Essen bestellt hatte. Ob er sich das überhaupt leisten konnte?
„So ein Job als Fremdenführer muß lukrativer sein, als ich dachte", bemerkte sie.
Sie bekam nur eine kurze Antwort.
„Ich habe noch andere Einkommen."
Mehr sagte er nicht. Was für ein merkwürdiger Mann! Was mochten das wohl für
Einkommen sein? Und überhaupt: was hatte er hier in Cancun eigentlich zu tun?
Vielleicht war er in zweifelhafte Geschäfte verwickelt, vielleicht sogar in etwas
Ungesetzliches? Der Gedanke war zugleich beängstigend und aufregend.
Andererseits erklärte das nicht seine Anwesenheit in Uxmal gestern und seine so
reiche Kenntnis der Geschichte der Mayas. Irgendwie paßte das nicht zusammen.
Aber Veronica hatte keine Lust, darüber länger nachzudenken. Sie verspürte
einen Riesenhunger und genoß das Menü, das Antonio bestellt hatte. Als
Vorspeise gab es eine gut gewürzte Gazpacho, die leckerste kalte Suppe, die sie
je gegessen hatte, und danach marinierten Fisch.
„Unser Ceviche scheint ihnen zu schmecken", sagte Antonio anerkennend,
während sie den letzten Happen in den Mund schob. „Das freut mich, denn viele
Touristen mögen keinen rohen Fisch." Er lachte vergnügt, als sie das Gesicht vor
Überraschung und Widerwillen verzog.
„Aber Sie haben es doch gemocht", verteidigte er sich.
„Nur, weil ich nicht wußte, was er war. Sie haben mich reingelegt. Das war nicht
nett", erwiderte sie mit gespieltem Ärger.
„Da muß ich Ihnen recht geben, aber ich tat es nur um Ihretwillen." Sein Blick
verriet, daß er damit mehr meinte, als er sagte. Als der Kellner die Rechnung brachte, sah Veronica auf die Uhr. Es war mittlerweile halb eins. Der Morgen war wie im Fluge vergangen. „Hoffentlich bleibt uns noch genug Zeit für die Skizze, bevor der Nachmittagsausflug beginnt." Er wirkte ein wenig enttäuscht. „Können sie den nicht einfach absagen?" „Dann riskiere ich, daß mir zwanzig wütende Teenager das Leben zur Hölle
machen. Das ist der erste Ausflug, auf den sie sich richtig freuen. Wir wollen in
einem großen Segelschiff an der Küste entlangfahren. Das liegt ihnen mehr, als
MayaRuinen zu besichtigen."
„Lassen Sie sie doch allein fahren."
„Unmöglich! Ich bin für die Gruppe verantwortlich. Was wäre, wenn dabei einer
über Bord geht? Das ist unvorstellbar."
„So etwas passiert doch nicht."
„Doch, das gibt's leider. Man braucht nur einmal wegzusehen."
„Aber Sie sind doch auch jetzt nicht bei der Bande. Auf alles können Sie nicht
aufpassen."
Das stimmte schon. Aber es kam für sie gar nicht in Frage, daß sie ihre Pflichten
als Reiseleiterin vernachlässigte.
Warum sollte sie auch? Schließlich interessierte Antonio sie nur als Modell.
„Das ist ausgeschlossen", sagte sie mit Nachdruck. „Nur einen Augenblick, ich
hole sofort, was ich zum Zeichnen brauche. Gleich bin ich zurück."
„Aber wo wollen Sie denn arbeiten?"
Das war eine berechtigte Frage! Suchend sah sie sich auf der Terrasse um und
blickte dann auf den inzwischen von Menschen dicht bevölkerten Strand.
„Wie wäre es mit dem Aufenthaltsraum?" meinte sie zögernd.
„Der wird auch überfüllt sein. Dort kann man sich doch dann nicht
konzentrieren."
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich würde auch lieber bei natürlichem Licht
arbeiten."
Antonio hatte eine Idee. „Haben Sie einen Balkon?"
„Sie meinen, bei meinem Zimmer? Alle Zimmer hier haben Balkon, aber..." Er ließ sie nicht ausreden. „Ausgezeichnet! Dort haben wir natürliches Licht und werden nicht dauernd abgelenkt. Kommen Sie." Mit Widerspruch rechnete er offenbar nicht. Er bestimmte einfach, was zu tun sei. Dann kümmerte er sich um die Rechnung. Er erledigte das durch eine Unterschrift, worüber Veronica sich wunderte. Aber sie wagte nicht, ihn deswegen zu fragen, er sollte sie schließlich nicht für neugierig halten. Dann gingen sie in die Empfangshalle hinüber, wo sie ihren Schlüssel von der Rezeption abholte. Veronica war ziemlich verlegen. Sah der Hotelangestellte sie und ihren Begleiter nicht bedeutungsvoll an? Sie war wirklich ein bißchen spießig! Heutzutage kümmerte es niemand, ob man einen Mann mit auf sein Zimmer nahm. Trotzdem fühlte sie sich bei dem Gedanken, was man jetzt vermutlich über sie dachte, nicht wohl. Antonio dagegen wirkte gelassen, während er mit ihr zum Aufzug ging. Wahrscheinlich hat er solche Situationen schon oft erlebt, dachte Veronica ein wenig verstimmt. Er schien sich ein bißchen zu amüsieren, offenbar spürte er ihre Verlegenheit. Doch er sagte nichts, als sie im Aufzug hinauffuhren, was ihr Unbehagen noch verstärkte. Ich bin albern, schimpfte sie mit sich. Unser Vorhaben ist doch völlig harmlos. Was kümmerte es sie, was andere Leute über sie dachten. Hauptsache, sie wußte, was sie wollte. Andererseits konnte sie Antonios Absichten nicht genau einschätzen. Wie sollte sie wissen, was sich hinter seinem rätselhaften Lächeln verbarg? Sie kannte ihn kaum, und was sie über ihn wußte, war widersprüchlich. Die Tür zu Veronicas Zimmer stand offen. Das Mädchen war gerade dabei aufzuräumen. So blieb Veronica im Flur stehen. „Das Zimmermädchen ist noch im Raum", sagte sie überflüssigerweise zu Antonio. „Wie man sieht", erwiderte er trocken. „Vielleicht sollten wir es lassen..." Er ließ sie nicht ausreden. „Unsinn! Sie ist fast fertig." Das Mädchen grüßte sie auf spanisch. „Sie sagt, sie muß nur noch staubsaugen", übersetzte Antonio. „Außerdem sitzen wir ja auf dem Balkon. Da wird sie nicht stören." Er durchquerte das Zimmer, öffnete die Balkontüren und trat hinaus. Sein Verhalten war so sachlich und nüchtern, daß Veronica ihre Scheu verlor. Sie holte den Skizzenblock und die Pastellstifte und folgte Antonio auf den Balkon. „Wie wollen Sie mich?" frage er anzüglich. Sie ignorierte diese Bemerkung und betrachtete fachmännisch sein Gesicht. „Das ist egal. Ich werde zuerst ein paar Kohleskizzen machen und Sie anschließend mit Pastellfarben zeichnen. Dann muß ich Sie aber bitten, eine Weile stillzusitzen." „Kein Problem", versicherte er. „Das kriegen wir schon hin." Der Anfang fiel Veronica schwer. Der Skizzenblock war zu groß, um auf dem Schoß gehalten zu werden. Schließlich holte sie ein paar Bücher aus dem Zimmer, stapelte sie auf dem kleinen BalkonTischchen und lehnte den Block dagegen. Antonio beobachtete sie bei ihren Vorbereitungen, ohne ein Wort zu sagen oder ihr seine Hilfe anzubieten. Sie mied seinen Blick, denn er verunsicherte sie. Doch beim Zeichnen würde sie ihm nicht ausweichen können... Nun, sie wollte von ihm verlangen, daß er einen bestimmten Gegenstand fixierte. Dann brauchte sie ihm nicht in die Augen zu sehen.
Veronica konzentrierte sich auf Antonios Gesichtszüge und begann mit der
Skizze. Mit schnellen Strichen zeichnete sie sein Gesicht von vorn und im Profil,
dann hieß sie ihn den Kopf wenden und über das Meer schauen.
Sie war so mit ihrer Zeichnung beschäftigt, daß sie gar nicht mehr daran dachte,
daß sie hier mit Antonio allein auf ihrem Balkon saß. Erst als das Geräusch des
Staubsaugers verstummte, das Zimmermädchen in der Tür erschien und mit
einem wissenden Lächeln von einem zum anderen sah, erinnerte sich Veronica
daran, daß sie Antonio mit in ihr Zimmer genommen hatte. Gleich darauf schlug
das Zimmermädchen die Tür mit einem lauten Knall zu. Jetzt waren sie allein.
Die Situation war verfänglich, aber Veronica versuchte, sich darüber
hinwegzusetzen.
Sie bat Antonio, jetzt ganz still zu sitzen. Regungslos starrte er an ihr vorbei über
das Meer. Veronica zeichnete ihn mit Pastellstiften. Eine Weile arbeitete sie still
und konzentriert, obwohl sie sich von Minute zu Minute unbehaglicher fühlte.
Natürlich hatte sie nicht erwartet, daß Antonio die ganze Zeit unbewegt in
dieselbe Richtung starren würde. Aber daß er so häufig den Blick auf sie heftete,
machte sie nervös. Er schien sie genauso zu studieren, wie sie ihn.
Nach einer Weile hatte sie Mitleid mit ihm und legte eine Pause ein, damit er sich
lockern konnte.
„Sicher langweilt Sie das", bemerkte sie.
„Ganz im Gegenteil. Es bringt Spaß, Sie bei der Arbeit zu beobachten."
„Das haben Sie ja auch ausgiebig getan. Zeichnen Sie auch?"
„Leider fehlt mir dazu jedes Talent. Aber ich erkenne Schönheit, wo ich sie finde."
Bewundernd blickte er sie an.
Sie fühlte, wie es in ihr zu kribbeln begann, was ihr angenehm und ärgerlich
zugleich war.
Er machte eine Bewegung, als ob er näherrücken wollte.
„Wir sollten weitermachen", sagte sie schnell und ein wenig verlegen. „Ich
möchte gern noch die wichtigsten Linien skizzieren."
Widerstrebend setzte er sich und nahm die alte Stellung wieder ein. Veronica
arbeitete jetzt mit einem ungeahnten Eifer. Lieber wollte sie keine Pausen
aufkommen lassen. Sie freute sich, als das Gesicht auf ihrem Zeichenblock
allmählich zu leben begann und Ähnlichkeiten mit dem Modell zeigte.
Veronica war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie das Klopfen an der Tür zuerst gar
nicht hörte. Dann rief jemand ihren Namen, und das Klopfen wiederholte sich.
Veronica sprang erschreckt auf, wobei der Block vom Tisch herunterfiel. Antonio
und sie bückten sich gleichzeitig, um ihn aufzuheben, wobei sich ihre Köpfe ganz
nahe kamen und er wie zufällig ihre Hand berührte.
„Sie brauchen nicht zu antworten", sagte er weich und strich ihr zart über die
Finger.
„Warum sollte ich nicht?" fragte sie, wußte aber genau, wie er es meinte. Bevor
er antworten konnte, fuhr sie hastig fort: „Natürlich muß ich es tun." Sie stand
auf und ging zur Tür.
Peter und Sally standen vor ihrem Zimmer. Sie sahen so aus, als ob sie gerade
gehen wollten.
„Alles in Ordnung", sagte Peter erleichtert und betrat den Raum. „Hier stecken
Sie. Wir haben Sie überall gesucht."
Sally folgte ihm. Sie gingen bei ihr ein und aus, und unter normalen Umständen
hatte Veronica auch nichts dagegen.
„Sonst trommeln Sie uns doch immer schon eine Stunde vor der Abfahrt
zusammen", ergänzte Sally. „Fällt der Ausflug etwa ins Wasser?"
„Nein, auf keinen Fall. Ist es denn schon so weit?"
„Nein, keine Angst. Uns bleibt noch eine Stunde. Wir wollten nur wissen, wo Sie sind", antwortete Peter. „Es fällt schon richtig auf, wenn keiner auf uns rumhackt", neckte Sally sie, während sie zum Balkon hinüberging. „Aber Sie hatten, wie man sieht, heute anderes im Sinn", fügte sie keck hinzu, als sie Antonio sah. „Hallo, Antonio", Peter begrüßte ihn hocherfreut. „Kommen Sie heute nachmittag mit segeln?" „Ich fürchte, nein." Antonio schien überhaupt nicht aus der Fassung gebracht zu sein. Veronica schwitzte vor Verlegenheit. Wie sollte sie das vorwitzige Jungvolk bloß zum Schweigen bringen? „Ich hoffe doch, wir haben Sie nicht gestört, Veronica." Sally ließ nicht locker. „Ich meine nur, wenn Sie beschäftigt waren..." „Nein, überhaupt nicht. Wir waren gerade dabei... ich habe Antonio gezeichnet." Warum nur meinte sie sich rechtfertigen zu müssen? „Ist Ihnen heiß, Veronica? Lassen Sie sich Zeit", sagte Peter mit unverschämtem Grinsen. „Sie haben Anspruch auf Freizeit nach dem Streß gestern! Machen Sie sich keine Sorgen; wir werden den anderen auch nicht erzählen, daß Sie einen Mann im Zimmer haben." Er griff nach Sallys Hand und zog sie mit sich zur Tür. „Bis später", rief er ihr und Antonio zu und ging mit seiner Freundin davon. Hilflos und verwirrt blieb Veronica zurück. Sie ärgerte sich über die Dreistigkeit der beiden und hatte das unbestimmte Gefühl, nicht ganz Herr der Situation gewesen zu sein. Jetzt, nachdem die Schüler gegangen waren, spürte sie die Spannung zwischen sich und Antonio um so deutlicher. Nervös drehte sie sich zu ihm um. Er lehnte in der Tür zum Balkon und hielt ihren Malblock in der Hand. „Am besten lassen wir die Skizze so, wie sie ist. Die Zeit reicht nicht, um sie zu beenden." Antonio schien sich über ihre Verlegenheit zu amüsieren. Lächelnd betrat er das Zimmer, legte die Skizze auf ihr Bett und trat auf sie zu. „Wollen Sie nicht zu Ende bringen, was Sie angefangen haben?" fragte er leise. „Das würde ich, wenn ich genug Zeit hätte. Aber vielleicht kann ich das Porträt anhand der anderen Zeichnungen später vervollständigen." Er stand vor ihr und faßte nach ihren Armen. Schüchtern fügte sie hinzu: „Ich kann das Porträt auch ohne Sie beenden..." „Nein", widersprach er, und seine Stimme klang ganz rauh. „Sie können das nicht ohne mich. Was Sie angefangen haben, läßt sich nicht ohne mich zu Ende bringen." Entschlossen zog er sie an sich. „Antonio, bitte nicht... die Schüler..." flüsterte sie, während ihr Widerstand nachließ. „Vergiß deine Schüler!" Er hielt sie ganz fest. „Schließlich sind wir schon in Verruf. Denk nicht an sie, vergiß alles." Er beugte sich über sie und küßte sie, zuerst vorsichtig, dann fordernder. Veronica wußte, daß sie ihn wegschieben sollte, doch sie konnte es nicht, ihr eigenes Verlangen überwältigte sie. Aber, was war schon dabei? Übermorgen würde sie abreisen und diesen hübschen Fremdenführer nie wiedersehen. Warum gab sie ihrem Bedürfnis also nicht nach? Bereitwillig gab sie sich seinem Kuß hin. Automatisch legte sie die Arme um seinen Nacken, worauf er sie noch fordernder küßte, mit noch größerem Verlangen streichelte. Sie bekam Angst. Es war eine Sache, einen so charmanten Abenteurer zu küssen, aber eine andere, sein drängendes Begehren zu fühlen. Außerdem hatte
sie nicht damit gerechnet, daß sie so bereitwillig darauf reagieren würde. Als er ihr das Netzhemd von den Schultern streifte, fühlte sie, die Hitze seines Körpers. „Du bist so süß..." flüsterte er an ihren Lippen und strich zärtlich über ihre kaum bedeckten Brüste, deren Spitzen sich aufrichteten. Es kostete Veronica viel Kraft, aber sie entzog sich ihm. Antonios Augen verengten sich. „Nein", rief sie bestimmt, als sie sich ganz losriß und einen Schritt zurücktrat. Schweigend standen sie sich gegenüber und starrten sich an, Antonio atmete schwer. „Wie ich sehe, haben Sie Ihren Spaß gehabt." Geringschätzig blickte er sie an. Veronica stand wie versteinert, kaum fähig, ihre Gefühle in Einklang zu bringen. Doch sein Sarkasmus weckte ihren Zorn. „Was meinen Sie damit: Ich hätte meinen Spaß gehabt?" „Was ist es sonst, wenn Sie erst wollen und mich dann zurückstoßen. Sind Sie sich zu schade für einen einfachen Fremdenführer?" Sein Gesicht sah bleich und angespannt aus. „Es gefällt Ihnen wohl, wenn ich den unterhaltsamen indianischen Führer spiele, nicht wahr? Sie zeichnen mich, gestatten mir ein paar Küsse, und dann bin ich entlassen. So ist es doch, oder? So leicht kann man mich aber nicht loswerden, Señorita Veronica!" Drohend kam er auf sie zu. Sie machte einen Schritt rückwärts, wobei sie gegen die Bettkante stieß und das Gleichgewicht verlor. Im nächsten Augenblick lag sie quer über dem Bett, und Antonio beugte sich über sie, wobei er sie an den Armen festhielt. „Bitte..." flüsterte sie erschrocken. „Bitte was?" fragte er kalt. „Bitte ja — oder bitte nein? Drücken Sie sich doch deutlich aus!" „Sie sind ein Monster", schrie sie ihn an. „Nein, meine Liebe, ich bin ein Mann. Offensichtlich kennen Sie den Unterschied nicht. Sie scheinen auch nicht zu wissen, wie man mit Männern umgeht", spottete er. „Aber beruhigen Sie sich. Mir ist die Lust an diesem Spiel vergangen. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie wenig Sie im Ernstfall gegen mich ausrichten könnten. Wenn ich wollte... wenn ich wirklich wollte..." Er beendete den Satz nicht, sondern beugte sich noch tiefer über sie. Sein Blick, in dem sich Leidenschaft und Heftigkeit spiegelten, erschreckte sie. Dann sah sie nichts mehr, fühlte nur seinen Mund, mit dem er ihre Lippen kurz und hart berührte. Abrupt ließ er sie los, durchquerte das Zimmer und ging hinaus, wobei er die Tür laut hinter sich zuschlug. Veronica blieb wie betäubt liegen. Ihr Kopf war ganz leer, sie fühlte nur ihre Erregung und ihr Herz, das wild klopfte. Bald kam sie jedoch wieder zu sich, setzte sich auf und rieb sich die Arme. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Das muß Angst sein, entschied sie, als sie ihre Gefühle prüfte. Was soll es sonst sein? Sie stand auf und ging mit weichen Knien zum Spiegel. Ihr Haar hing in wirren Strähnen, und ihre Augen wirkten seltsam groß. Auf den Armen, dort wo Antonio sie festgehalten hatte, zeigten sich Druckstellen. Ihr Mund brannte, und sie fuhr mit der Zunge über die Lippen. Aber das half nicht. Erst das schrille Klingeln des Telefons riß Veronica aus ihren Gedanken. Es war Peter. In zwanzig Minuten sollten sie am Kai sein. Ob sie dann fertig wäre? Er störe sie doch nicht etwa? Nein, fuhr sie ihn an, sie sei schon beim Anziehen. Als sie ihn am anderen Ende der Leitung lachen hörte, verbesserte sie sich: „Ich meine, daß ich dabei bin, mich umzuziehen." Dann hängte sie ein, ärgerlich über sich, weil sie wieder
unnötige Erklärungen abgegeben hatte. Ich bin wohl immer im Unrecht, dachte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie unterdrückte sie. Vielleicht half Duschen gegen ihre Aufregung? Eine ganze Weile stand sie unter dem kühlen Strahl, aber das nützte auch nichts. Antonio ging ihr nicht aus dem Sinn. Mittlerweile wurde es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie zog eine weiße Hose an und dazu ein marineblaues Trägerhemdchen. Die Lippen schminkte sie sich leuchtend rot. Ihre Aufmachung wirkte recht unternehmungslustig. So konnte sie sich mit ihrer lebhaften Jugendgruppe ins Vergnügen stürzen. Nervös blickte sie sich in der Eingangshalle um. „Wenn Sie Antonio suchen, der ist gegangen." Sallys Stimme klang täuschend nett. „Vor ein paar Minuten kam er herunter. Er war wahnsinnig schick angezogen, als ob er auf einen Empfang gehen wollte, und sah umwerfend aus..." Das letzte sprach sie mit gedehnter Stimme, um' ihre Bewunderung deutlich zu machen. „Ja, wirklich sagenhaft. Er trug einen Koffer in der Hand. Offenbar wohnt er hier im Hotel. Wußten Sie das, Veronica?" fragte Peter. „Ich weiß nur sehr wenig über Señor Antonio", antwortete Veronica kurz und scharf. „Aber was ich weiß, reicht mir." Peter blickte sie überrascht an. Sally lächelte skeptisch, aber Veronica kümmerte sich nicht darum und brachte ihre Gruppe zum Landesteg, wo ihr Boot schon wartete. Die beiden Jugendlichen hatten die Angelegenheit bald vergessen, aber Veronica dachte noch lange darüber nach, wieso ein Fremdenführer in einem Luxushotel wohnte. Es wurde eine nette Segeltour. Der Wind frischte ein wenig auf, so daß die Schüler noch mehr Spaß daran hatten. Sie durften die Segel setzen und das Boot steuern. Am liebsten war es ihnen, wenn sie es auf die Seite legen konnten. Sie wurden von der Besatzung überwacht und waren hellauf begeistert. Daher hatte Veronica Zeit genug, sich zu entspannen. Gedankenverloren starrte sie in die Wellen und dachte nach. Als sie gegen Abend wieder im Hotel eintrafen, fragte sie den Hotelangestellten am Empfang beiläufig, ob der Fremdenführer Antonio oft im Hotel übernachtet. „Ich überlege nämlich, ob ich ihn für morgen engagieren soll", erklärte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Es tut mir leid, ich verstehe Sie nicht. Hier beim Hotel ist kein Fremdenführer angestellt. Antonio: wie heißt er mit Nachnamen?" „Das weiß ich nicht", antwortete Veronica. Jetzt erst fiel ihr auf, daß sie nicht einmal Antonios vollen Namen kannte. Trotzdem wußte sie viel von ihm. Sie liebte sein Lächeln, bewunderte seine Kenntnisse zur Kulturgeschichte seines Volkes, mochte seinen Humor und ebenso seinen Sarkasmus, seine Arroganz und seine Grausamkeit. Erst hatte er ihre Leidenschaften geweckt, jetzt beherrschte er ihre Gedanken. „Zum Teufel mit ihm", sagte sie halblaut und scherte sich nicht darum, daß der Empfangsangestellte sie hören konnte. Der machte ein verdutztes Gesicht. „Lassen Sie's gut sein", sagte sie abschließend. „Es ist nicht so wichtig." Diesen letzten Satz sagte sie sich immer wieder während der Nacht und am folgenden Tag. Es war ihr letzter Tag in Mexiko, man ging einkaufen oder aalte sich ein letztes Mal am Strand. Doch die Erinnerung an Antonio war ständig gegenwärtig. Als sie am nächsten Morgen das Flugzeug nach Hause bestiegen, war Veronica erleichtert. „Das war's!" dachte sie und legte im Geiste ihre Begegnung mit
Antonio unter der Rubrik Vergangenheit ab, in der Hoffnung, auf diese Weise damit fertigzuwerden. Doch als sie am Abend in ihrer kleinen Wohnung in New York die Koffer auspackte, fiel ihr das unvollendete Porträt von ihm in die Hände. Er hielt den Kopf darauf leicht seitwärts gewandt, weil er an ihr vorbei über das Meer schauen sollte, aber sein Blick war entgegen ihrer Anweisung direkt auf sie gerichtet gewesen. Deswegen hatte sie ihn so festgehalten. Er wirkte intensiv und forschend. Sein Gesicht sah aus, als sei es lebendig. Sie war sehr stolz auf ihr Werk. Ob es an ihrem künstlerischen Talent oder an ihrer Sehnsucht lag, daß es so stark auf sie wirkte? Sie wußte es nicht.
3. KAPITEL Nach ihrer Rückkehr widmete sich Veronica ganz dem Studium. Das Semester dauerte nur noch ein paar Wochen, und sie hatte noch viel Arbeit zu erledigen. Zwei schriftliche Hausarbeiten waren zu vervollständigen, von denen eine von der Architektur der Mayas und den Wandreliefs in Uxmal handelte. Diesen Aufsatz hatte sie immer wieder aufgeschoben, da er Bilder und Vorstellungen heraufbeschwören würde, an die sie sich lieber nicht erinnern wollte. Doch schließlich mußte sie damit anfangen. Sie fertigte einen Entwurf an, sah sich noch einmal genau die Photos an, die sie auf ihrer Tour gemacht hatte, und meldete sich zur Sprechstunde bei Dr. Cramer an, dem Leiter der kunstgeschichtlichen Abteilung. Ben Cramer hielt auch das Seminar über mexikanische Kunst und hatte ihr angeboten, sie bei ihrer Hausarbeit zu beraten. Auf dem Weg zu Dr. Cramers Sprechstunde sah Veronica, wie die Sekretärin einen Aushang an das schwarze Brett vor seinem Büro heftete. Es war ein Stellenangebot für einen Zeichner, der als Mitglied einer archäologischen Forschungsgruppe den Sommer über in Mexiko arbeiten sollte. Das Gehalt war bescheiden, dafür wurden alle anderen Ausgaben übernommen. Die Bewerbung war an einen Dr. A. Ferrara zu richten, den Leiter des Völkerkundemuseums in Mexico City. Veronica nahm den Zettel vom schwarzen Brett. „Hat das schon jemand gesehen?" fragte sie die verdutzte Sekretärin. „Nein, das ist gerade erst gekommen." Veronica wartete ihre Antwort nicht ab. Aufgeregt platzte sie ins Büro von Dr. Cramer. „Haben Sie das schon gesehen?" fragte sie den Professor, der bei ihrem Eintritt überrascht aufblickte. „Was soll ich gesehen haben? Beruhigen Sie sich und setzen Sie sich erst mal hin. So! Und jetzt erzählen Sie, was los ist." Sie waren schon sehr gegensätzlich, der zurückhaltende, untersetzte Akademiker mit den grauen Haaren, und Veronica, deren Augen vor Begeisterung blitzten und die ihre spontane Idee gar nicht so schnell in Worte fassen konnte. „So eine Gelegenheit! Mexiko! Und das den ganzen Sommer lang! In einer Gruppe von Archäologen könnte ich arbeiten, vielleicht wieder in Yucatán. Diesen Job muß ich bekommen." Jetzt hatte Dr. Cramer sie verstanden. „Natürlich! Sie meinen Ferraras Sommerprojekt. Also das hat Sie so aus dem Häuschen gebracht! Aber wollten Sie nicht in den Semesterferien hier im Büro arbeiten?" Einen Moment sah Veronica betroffen aus. „Ja, das dachte ich eigentlich, und ich bin Ihnen natürlich sehr dankbar, daß sie mir diese Möglichkeit geben wollten. Aber Sie finden bestimmt jemand anders. Wissen Sie, diese Gelegenheit kann ich mir einfach nicht entgehen lassen!" „Langsam, langsam", meinte Cramer lachend. „Sie haben sich noch nicht mal beworben. Ich weiß auch nicht, ob es das Richtige für Sie wäre, mit Ferrara zusammenzuarbeiten. Ich kenne ihn, kenne ihn sogar ganz gut. Er hat ein Jahr hier in Waverly gearbeitet." „Das muß schon lange her sein." „Nein, nur ungefähr fünf Jahre. Aber das war noch vor Ihrer Zeit. Er ist in den Dreißigern. Bei einem Teil seiner Doktorarbeit habe ich ihn beraten, und wir sind gut miteinander ausgekommen. Wahrscheinlich hat er mir deshalb diese Anfrage geschickt." „Wollen Sie damit sagen, daß sonst niemand, keine andere Universität, dieses
Angebot zugesandt bekommen hat?" Sie war begeistert. „Dann werde ich wohl die einzige Bewerberin sein." „Vielleicht, aber ich warne Sie. Ferrara ist nicht einfach. Er lebt nur für seine Arbeit. Ich habe den Eindruck, daß es für ihn nichts Wichtigeres gibt. Er hat keine Familie. Ich für meinen Teil achte ihn sehr, ja, ich mag ihn sogar. Aber das geht nicht jedem so. Er ist ein brillanter Wissenschaftler, aber bei der praktischen Arbeit draußen ist er sehr bestimmt und verlangt von jedem das Äußerste. Das wird kein leichter Sommer für Sie." „Aber ein aufregender Sommer", konterte Veronica. „Ich bin nicht auf der Suche nach etwas Leichtem. Und Ferraras Persönlichkeit interessiert mich nicht. Schließlich habe ich nicht vor, ihn zu heiraten." Sie überredete Ben Cramer, Ferrara in Mexico City anzurufen. Zum Glück war er da. Aus Dr. Cramers Worten konnte sie schließen, daß Ferrara Vorbehalte hatte, eine Studentin mitzunehmen, aber er ließ sich glücklicherweise schließlich umstimmen, da Cramer sie ihm wärmstens empfahl. Dr. Cramer legte den Hörer auf. „Herzlichen Glückwunsch! Sie sind bei Ferrara engagiert. Hoffentlich bereuen Sie es nicht", sagte er besorgt. „Bereuen? Am liebsten würde ich das jetzt feiern, so glücklich bin ich." „Da kommt mir ein Gedanke. Gerade ist mir eingefallen, daß heute abend in der Botschaft von Mexiko ein Empfang zur Eröffnung einer Kunstausstellung aus Mexiko stattfindet. Ist das nicht ein Zufall? Meine Frau und ich sind dazu eingeladen. Wollen Sie uns nicht begleiten?" „Aber ich habe keine Einladung." „Darum werde ich mich kümmern. Keine Sorge", beruhigte sie Dr. Cramer. „Wäre das nicht die ideale Gelegenheit, sich auf die Reise nach Mexiko einzustimmen?" „Ich werde tatsächlich wieder nach Mexiko fahren", stellte Veronica noch ganz ungläubig fest. Das war wirklich ein Grund zum Feiern. Der Empfang zur Eröffnung der Kunstausstellung war überwältigend. Der Saal der Botschaft erstrahlte im Licht der Kronleuchter. Festlich gekleidete Menschen drängten sich in ihm. Veronica merkte bald, daß ihr einfaches weißes Kleid, das schon einige Änderungen mitgemacht hatte, sich auffallend von der prachtvollen Aufmachung der anderen Damen unterschied. Aber gerade die Schlichtheit dieses Kleides hob ihre Schönheit besonders hervor. Bewundernde Blicke folgten ihr, als sie die ausgestellten Kunstgegenstände betrachtete. Während sie vor einer der Figuren stand, trat ein schlanker, gutaussehender junger Mann neben sie. „Interessant, aber ein wenig grob, nicht wahr?" fragte er. „O nein. Sie sind sehr beeindruckend und gar nicht grob", widersprach Veronica. „Glauben Sie auch, daß diese Figur den Regengott darstellt?" Sie wandte sich zu dem Fremden um. Er war mittelgroß, sehr schlank und hatte einen blassen Teint, freundliche braune Augen und hübsche, fast etwas weiche Gesichtszüge. „Wahrscheinlich, aber ich bin nicht ganz sicher", antwortete er. Mißbilligend zog er die Augenbrauen hoch. „Eigentlich sollte ich mehr über diese Kunstgegenstände wissen. Schließlich gehören sie meiner Familie. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle: Ich bin Eduardo LopezPerreira." Er sagte das, als ob sein Name ihr bekannt sein müsse, und lächelte sie dabei gewinnend an. „Ich heiße Veronica Glenn, und ich finde es auch sehr schade, daß Sie kaum etwas über diese Figuren wissen. Ganz besonders, wenn sie Ihnen sogar gehören. Diese Stücke sind faszinierend." Als ihr neuer Bekannter erfuhr, daß Veronica Kunst studiere und besonders an der mexikanischen interessiert sei, erklärte er entzückt: „Wunderbar! Dann
müssen Sie mir alles beibringen, was Sie wissen, damit ich unsere Familiensammlung endlich zu schätzen lerne. Sie werden sehen, ich kann ein außergewöhnlich lernbegieriger Schüler sein." Als Veronica ihm dann noch erzählte, daß sie den Sommer in seiner Heimat verbringen wollte, war er hocherfreut. Ganz offensichtlich fand er seine neue Bekannte äußerst attraktiv und wollte sie gern näher kennenlernen. Doch als er erfuhr, für wen sie arbeiten würde, machte er ein bedenkliches Gesicht. „Ferrara ist sehr stolz", warnte er sie. „Er ist zu einem Viertel indianischer Abstammung, aber er benimmt sich, als ob er ein Vollblutindianer wäre. Dabei haben wir Mexikaner vor allem spanisches Blut." Veronica fand bald heraus, daß Eduardo LopezPerreira auf seine spanischen Vorfahren stolz war. Es überraschte sie, daß es immer noch ein so starkes Klassen und Rassenbewußtsein in Mexiko gab. Doch als sie Eduardo das sagte, machte er ein skeptisches Gesicht. „Theoretisch sind wir eine Gesellschaft, in der die Spanier, die Indianer und die Mestizen, die von beiden abstammen, gleichberechtigt miteinander leben. Doch Tatsache ist, daß die Indianer es den spanischen Weißen nicht verzeihen können, daß sie als Eroberer, als Konquistadoren kamen. Daß die Spanier einem rückständigen Volk Christentum und Kultur brachten, wird dabei übersehen." „Rückständig?" rief Veronica empört. „Wie können Sie so etwas sagen? Die Mayas, die Azteken und die Tolteken besaßen hochentwickelte Gesellschaftsformen." „Das ist nur zum Teil richtig", verbesserte Eduardo sie. „Die Spanier mußten ihnen zum Beispiel sogar die Haltung von Haustieren beibringen. Sie waren es auch, die bei ihnen das Rad einführten." „Sie brachten aber auch ihre Krankheiten mit und für die Indianer die Sklaverei..." Veronica verstummte. Dies war nicht der richtige Ort und die richtige Stunde, um sich auf eine solche Diskussion einzulassen. Mit ihrer erhobenen Stimme hatte sie auch schon die Aufmerksamkeit einiger Gäste auf sich gezogen. „Ich fürchte, mir war nicht ganz bewußt, daß die alten Klassenunterschiede immer noch bestehen", fügte sie etwas leiser hinzu. „Für die meisten Mexikaner haben diese Fragen keine große Bedeutung mehr. Sie sind nur daran interessiert, sich irgendwie zu arrangieren. Sie tragen meist indianisches und spanisches Blut in sich, und ihre Abstammung ist ihnen nicht so wichtig. Es verlangt ihren ganzen Einsatz, ihren Lebensunterhalt zu verdienen." Eduardo schwieg und seufzte ein wenig. Veronica wartete. Dann fuhr er fort: „Doch da gibt es eben die reinrassigen Indianer, die eisern an den alten Sitten festhalten und die Weißen noch heute als Eindringlinge betrachten. Ihnen gegenüber stehen die Hidalgos, die reinblütigen Spanier. Es sind die Nachkommen der Konquistadoren. Sie lehnen den Umgang mit allen, die nicht ihresgleichen sind, ab und führen sich teilweise noch heute wie Herrscher auf." „Und Sie sind ein Hidalgo?" Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ja, das bin ich, ob es Ihnen gefällt oder nicht." Veronica wunderte sich über seine Antwort. Auch wenn man in eine ganz bestimmte soziale oder rassische Gruppe hineingeboren war, mußte man ihre Überzeugungen oder ihre Vorurteile doch nicht akzeptieren. Sie war froh, daß die amerikanische Einstellung da mehr Spielraum für den einzelnen ließ. Um das Thema zu wechseln, erzählte Veronica Eduardo, daß sie selbst als Kind eines irischen Vaters und einer armenischen Mutter aufgewachsen sei. „Meine Haarfarbe und mein Temperament stammen von ihm, meine Neigung
zum Künstlerischen von ihr", meinte sie scherzend, „von beiden Welten erbte ich also das Beste." Eduardo lachte. Er bewunderte Veronica und machte daraus keinen Hehl. Sie fühlte sich durch seine Aufmerksamkeit sehr geschmeichelt und fand ihn viel charmanter und geistreicher als die Studenten, die sie kannte. Er ist nicht nur anders als meine Kommilitonen, dachte sie, sondern auch ganz anders als sein Landsmann Antonio. Der hat mich nicht mit so viel Respekt behandelt, und trotzdem mußte sie so häufig an ihn denken. Als Veronica schließlich mit Dr. Cramer und seiner Frau nach Hause fuhr, mußte sie sich ein paar Neckereien wegen ihrer neuen Eroberung gefallen lassen. Sie hatte Eduardos Vorschlag, sie nach Hause zu bringen, abgelehnt, aber eine Einladung zum Essen in den nächsten Tagen angenommen. „Ich bin froh, daß Sie den jungen Mann kennengelernt haben", sagte Dr. Cramer zufrieden. „Sonst wäre es Ihnen mit uns alten Leuten bestimmt langweilig geworden. Schade, daß er so bald schon abreist." „Ich habe den Eindruck gewonnen, der junge Mann würde mit ein wenig Ermunterung auch länger bleiben", bemerkte sein Frau und sah Veronica fragend an. „Also, von mir wird er diese Ermunterung nicht bekommen", erwiderte sie widerspenstig. „Spielen Sie bloß nicht den Heiratsvermittler. Ich habe viel zuviel mit meinen Hausarbeiten, den Abschlußprüfungen und den Vorbereitungen für meine Reise in den Ferien zu tun. Eigentlich hätte ich die Einladung zum Essen lieber gar nicht annehmen sollen." „Unsinn", entgegnete Dr. Cramer. „Ein bißchen Vergnügen tut Ihnen nur gut. Sie haben sowieso ziemlich niedergedrückt ausgesehen nach Ihrer letzten Fahrt. Diese Teenager müssen Sie viel Kraft gekostet haben." Veronica überraschte es, was für ein aufmerksamer Beobachter Dr. Cramer war. „Der junge Mann macht einen netten Eindruck. Seine Familie ist sehr reich und hat in Mexiko großen Einfluß. Diese Bekanntschaft könnte sich für Ihren Aufenthalt in Mexiko als sehr nützlich erweisen", meinte er. „Was heißt hier nützlich?" schimpfte seine Frau. „Das ist mal wieder typisch für dich. Eduardo LopezPerreira ist sehr attraktiv und charmant. Jeder sieht, daß er an Veronica interessiert ist. Durch ihn wird für sie die Zeit in Mexiko vielleicht zu einem unvergeßlichen Erlebnis." „Ach nein, ich werde wahrscheinlich zuviel zu tun haben, um ihn häufig sehen zu können", antwortete Veronica. „Da haben Sie wohl recht", stimmte ihr Dr. Cramer zu. „Ferrara ist ein Arbeitstier. Sie werden sehen, daß er ganz anders ist als Eduardo Lopez Perreira." In den nächsten vier Wochen blieb Veronica nicht viel Zeit. Sie hatte alle Hände voll mit ihrer Abschlußprüfung zu tun und dann mit den Vorbereitungen für die Reise nach Mexiko. Ihre Verabredung mit Eduardo war das einzige Vergnügen, das sie sich zwischendurch gönnte. Eduardo hatte sich viel Mühe gemacht, sie gut zu unterhalten. Veronica genoß auch das Essen in dem eleganten französischen Restaurant und freute sich gebührend darüber, daß er Karten für ein Musical gekauft hatte. Obwohl sie sogar in der ersten Reihe saßen, konnte sie jedoch nicht verhindern, daß ihr die Augen gegen Ende des zweiten Aktes zufielen. Als Eduardo das bemerkte, schlug er ihr schweren Herzens vor, sie nach Hause zu bringen. Sie war ihm dankbar für seine Rücksicht, denn sie konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. „Ich hoffe, es liegt nicht an meiner Gesellschaft", sagte er, als sie im Taxi zu
ihrer Wohnung zurückfuhren. „Nein, überhaupt nicht", beruhigte sie ihn. „Ich habe nur in der letzten Zeit bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Der französische Wein tut ein übriges." Als Eduardo sich von ihr verabschiedete, meinte er: „In Mexico City holen wir diesen mißglückten Abend nach, ja? Ich werde Ihnen alle Sehenswürdigkeiten zeigen. Lassen Sie mich Ihr Führer sein." Als Veronica ihm ihre Zustimmung gab, mußte sie daran denken, wie verschieden Eduardo und jener andere Führer waren: Antonio. Eduardo war nett und zuvorkommend. Vor der Haustür hatte er sie sanft und zart geküßt und dabei nur eben ihre Lippen berührt. Antonio war viel rücksichtsloser gewesen. Obwohl sie sehr erschöpft war, fand sie nicht sofort Schlaf. Gedankenverloren nahm sie das Porträt von Antonio aus der Schublade ihres Schreibtisches: Es war noch immer unvollendet. Sie starrte es an und überließ sich ihren Träumereien, in denen sie davonschwebte. Zwei Wochen später stand Veronica abreisebereit in ihrer Wohnung. Sie sah sich noch ein letztes Mal in den Räumen um, ging dann zu ihrem Schreibtisch und packte das Porträt von Antonio, einer plötzlichen Eingebung folgend, in den Koffer. Später, als sie im Flugzeug nach Mexico City saß, dachte sie wieder einmal darüber nach, ob sie durch ihre Arbeit mit Ferrara wohl auch nach Uxmal kommen würde. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich groß, denn Uxmal stellte ein Zentrum archäologischer Forschung dar. Wenn sie dem arroganten Antonio dann wieder begegnete, könnte sie vielleicht die Zeichnung vervollständigen. Als sie wenige Stunden später in Mexico City landete, war sie voller Zuversicht. Auch die ermüdende Fahrt vom Flughafen in die Stadt konnte ihr nicht die gute Laune rauben. Sie war dem Rat von Dr. Cramers Frau gefolgt und hatte ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der „Rosa Zone" reservieren lassen. „Da ist immer etwas los", hatte Frau Cramer ihr erklärt. „Vergleichbar ist das Viertel mit Greenwich Village hier in New York, nur daß die Hotels dort billiger sind." Mit diesem Argument hatte sie Veronica überzeugt. Sie wußte zwar, daß Dr. Ferrara für ihre laufenden Kosten aufkam, war aber nicht ganz sicher, ab wann sie offiziell eingestellt sein würde. Es war schon fast sieben Uhr, als der Taxifahrer vor ihrem Hotel in der Straße mit dem merkwürdigen Namen „Hamburgo" hielt. Das Haus machte einen freundlichen Eindruck. Es war Uförmig um einen hübschen Innenhof gebaut, in dem ein Springbrunnen plätscherte. Sie beschloß, diesen ersten Abend in Mexiko City damit zu verbringen, daß sie ein bißchen spazieren ging und die Stadt kennenlernte. Das Museum hatte inzwischen geschlossen, sie würde Dr. Ferrara ihre Ankunft morgen melden. Beim Empfang wartete schon eine Nachricht von Eduardo auf sie. Er hatte seine Telefonnummer hinterlassen, aber Veronica fand, daß er bis zum nächsten Tag warten konnte. Sie freute sich darauf, mit Mexico City allein erste Bekanntschaft zu schließen. Das war ein Vergnügen! Mexico City entpuppte sich als eine Weltstadt voll von pulsierendem Leben. Veronica ging zuerst die Hauptstraße, die Paseo de la Reforma, hinunter. Sie war so in Erinnerung an die Revolution benannt. Bald erreichte sie die Kathedrale und die beeindruckende Stadthalle und kehrte dann in die „Rosa Zone", die sie nun schon als ihr Zuhause betrachtete, zurück. Die Straßennamen machten ihr Spaß: Liverpool, Florenz, London, Genf. Als sie „Hamburgo", erreichte, die Straße, in der sie wohnte, verspürte sie auf einmal Hunger. Schon der Gedanke an einen appetitlichen „Hamburger" ließ ihr das
Wasser im Mund zusammenlaufen, und sie mußte unwillkürlich lachen. Tatsächlich fand sich auch ein Zweigbetrieb von Mac Donalds in unmittelbarer Nähe ihres Hotels. Dort ließ sie es sich schmecken. Für diesen Genuß hätte sie heute abend jedes Festessen stehenlassen. Als sie das Restaurant verließ, war es draußen empfindlich kühl geworden. Dieser Temperaturwechsel war, wie Veronica gelesen hatte, typisch für das Klima der Stadt. Für heute meinte sie genug getan zu haben. So ging sie zurück zum Hotel und auf ihr Zimmer. Dort begann sie die Koffer auszupacken. Doch sie blieb nicht lange dabei, sondern legte sich bald, von Müdigkeit überwältigt, schlafen. Am nächsten Morgen fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Die mexikanische Luft bekommt mir, stellte sie zufrieden fest. Sie zog die Vorhänge auf, um die Morgensonne hereinzulassen, und sah, daß ihr Fenster auf eine Seitenstraße hinausging. Es machte ihr Spaß, von oben zuzuschauen, wie einige Ladenbesitzer ihre Geschäfte öffneten. Gelegentlich hastete jemand durch die stille Gasse, wohl auf dem Weg zur Arbeit. Dabei fiel ihr ein, daß auch sie nicht als Feriengast hierhergekommen war, sondern um zu arbeiten. Gleich nach dem Frühstück wollte sie Dr. Ferrara anrufen. Sie duschte, zog sich an und packte die restlichen Sachen aus dem Koffer. Dann hängte sie ihre Kleider in den Schrank. Nur ihre strapazierfähigen Jeans, die sie für die Arbeit im Freien mitgenommen hatte, ließ sie in der Reisetasche. Als sie damit fertig war, ging sie erst einmal frühstücken. Entzückt ließ sie sich vom Kellner zum Frühstück in den Innenhof geleiten. Ihr Aufenthalt in Mexiko begann ja wirklich romantisch. Die anderen Gäste schauten sie interessiert an, als sie auf ihren Tisch wartete. Es war ihr gar nicht bewußt, daß sie vor sich hinlächelte, als sie so dastand. Sie fühlte sich rundum wohl. Die Sonne ließ ihr kastanienbraunes Haar aufleuchten, und ihre Augen glänzten vor Erwartung. Sie hatte heute morgen auf Makeup verzichtet, nur ein wenig die Lippen geschminkt. Ihr schlichtes, ärmelloses Kleid in leuchtendem Seegrün wurde nur von einem schmalen weißen Gürtel geschmückt. Weiße Sandalen und eine kleine weiße Umhängetasche vollendeten ihre Garderobe — sie sah bezaubernd aus. Es gab ein großes Frühstücksbüfett, an dem eine Menge Köstlichkeiten angeboten wurden. Obwohl Veronica sich zu Hause morgens mit Kaffee oder Orangensaft begnügte, wollte sie an diesem besonderen Tag eine Ausnahme machen. Das ist bald kein Frühstück mehr, sondern ein Bankett, dachte sie, während sie sich den Teller mit frischen Ananas, Melonen, Rührei, mexikanischen Würstchen und frischem Teekuchen füllte. Sie verzehrte alles mit großem Appetit, was den jungen Kellner sehr erheiterte, der kam um ihre Tasse mit frischem Kaffee aufzufüllen. „Wünschen Sie noch etwas?" fragte er interessiert. „Wenn ich noch etwas zu mir nähme, würde ich aus allen Nähten platzen", antwortete Veronica lachend. „Das glaube ich kaum..." widersprach er und musterte sie anerkennend. Geschwind bat Veronica um die Rechnung. In Zukunft mußte sie sich etwas mehr zurückhalten. Aber das wird mir schwerfallen, dachte sie, als sie den Innenhof verließ. Die Blicke des Kellners folgten ihr. Das blieb ihr nicht verborgen, und sie fühlte sich sehr glücklich und voller Lebensfreude. Gutgelaunt kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um von dort aus im Museum anzurufen. Als sie Dr. Ferrara zu sprechen wünschte, nannte man ihr seine Durchwahl und verband sie dann mit seinem Büro. Ferrara war gleich selbst am Apparat. Sie verlor fast den Mut, als er sich barsch mit Ja, wer ist dran?"
meldete. „Hier spricht Veronica Glenn, Dr. Ferrara. Ich bin gestern abend in Mexico City angekommen." Schweigen. Dann folgte ein langgezogenes Jaaa?" Was bedeutete dieses Ja", wußte er nicht, wer sie war? „Ich bin die Zeichnerin... erinnern Sie sich nicht? Dr. Cramer hat mich Ihnen empfohlen. Ich studiere Kunstgeschichte", versuchte sie es noch einmal. „Ach ja?" Warum sagte er nicht mehr? „Ich bin also jetzt hier und möchte mich Ihnen möglichst bald vorstellen." „Aha, sind Sie sicher?" Was für eine seltsame Frage! Aber sie bemühte sich, höflich zu bleiben. „Aber natürlich! Ich habe schon so viel von Ihnen und Ihrer Arbeit gehört. Ich möchte so schnell wie möglich anfangen." „Dann kommen Sie. Sie können hier im Museum arbeiten. Es sind Zeichnungen von Trinkgefäßen anzufertigen, die erst vor kurzem in Yucatán gefunden wurden." Wieso war er so kurz angebunden? „Das Museum liegt im Chapultepec Park. Wissen Sie, wie Sie dort hinkommen?" „Nein, ich bin doch erst angekommen und kenne mich noch gar nicht aus." „Lassen Sie sich den Weg an der Rezeption beschreiben. Ich erwarte Sie in Kürze." Damit legte er auf. Veronica tröstete sich damit, daß seine Grobheit wahrscheinlich unbeabsichtigt war. Einige ihrer besten Professoren fielen auch durch abweisendes Verhalten auf. Sie waren viel zu sehr in ihre Arbeit vertieft, um sich mit überflüssigen Höflichkeitsformeln abzugeben. An der Rezeption ließ sich Veronica den Weg erklären, fand auch den richtigen Bus, mit dem sie die Paseo de la Reformá entlang bis zum Museum fuhr. Die Fahrt nahm ihr ein wenig von ihrer Aufregung, so daß sie nicht ganz so nervös im Museum ankam. Das Museum für Völkerkunde war ein architektonisches Meisterwerk. Während Veronica hinter dem Angestellten herging, der ihr freundlicherweise angeboten hatte, sie zu Dr. Ferraras Büro zu bringen, betrachtete sie im Vorbeigehen die ausgestellten Gegenstände aus den verschiedenen Sachgebieten. Sie mußte sich wirklich einmal Zeit nehmen, um diese Sammlung eingehend zu betrachten. Jetzt blieb ihr ja leider keine dazu, denn Dr. Ferrara wartete auf sie. Hinein in die Höhle des Löwen! machte sie sich selbst Mut, aber dann schalt sie sich. Sie sollte ihren zukünftigen Vorgesetzten wirklich nicht nach dem beurteilen, was sie über ihn gehört hatte. Lieber wollte sie sich ein eigenes Urteil bilden. Als sie vor Dr. Ferraras Büro angekommen waren, ließ der Museumsangestellte sie allein. Veronica klopfte, erhielt aber keine Antwort. Sie klopfte erneut, diesmal energischer. „Herein", ertönte es mürrisch. Vorsichtig drückte Veronica die Klinke herunter und öffnete die Tür. Während sie ins Zimmer trat, bemühte sie sich um ein Lächeln. Doch das hätte sie sich sparen können, denn der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, sah sie nicht an. Er drehte ihr den Rücken zu und blickte in ein Bündel Papiere, das er in den Händen hielt. Er schien sie nicht gehört zu haben. „Guten Morgen", sagte sie betont fröhlich. Er konnte sich wenigstens umdrehen. „Ich bin Veronica Glenn." Sie mußte ruhig bleiben, schließlich würde sie in den nächsten Monaten eng mit diesem Mann zusammenarbeiten. Endlich wandte er sich ihr zu und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Ihr
Lächeln gefror. Das war unmöglich! Vor ihr stand niemand anders als Antonio!
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, kam er auf sie zu.
„So so! Señorita Veronica und Ben Cramers Miss Glenn sind also ein und
dieselbe."
War er etwa genauso überrascht wie sie? Hatte er denn nicht gewußt, wer sie
war, als er mit Dr. Cramer über sie gesprochen hatte?
„Und Antonio, der Fremdenführer von Uxmal, ist Antonio Ferrara. Was für
merkwürdige Zufälle das Leben doch für uns bereithält, nicht wahr, Miss Glenn?"
Seine Stimme klang glatt und kalt, und er blickte sie abweisend an.
Die Situation war schrecklich. Veronica merkte, wie ihr das Atmen schwer wurde.
Sie konnte keinen Ton hervorbringen, und ihre Knie zitterten. Wenn sie sich doch
nur hinsetzen könnte!
Als ob er ahnte, was in ihr vorging, ergriff er ihren Arm und schob sie unsanft
zum Besuchersessel neben seinem Schreibtisch.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie entsetzt. Zu allem Überfluß wurde ihr
auch noch heiß bei seiner Berührung. Es hatte sich also nichts geändert seit
ihrem letzten Zusammentreffen.
„Aber... das ist nicht... Sie können doch nicht..."
„Was kann ich nicht?"
„Der Fremdenführer sein."
„Doch, es ist möglich, ich konnte durchaus den Fremdenführer spielen. Wie Sie
sich vielleicht erinnern, Señorita, war es Ihre Idee, mich zum Führer für Ihre
Gruppe zu machen, nicht meine."
„Was wollen Sie damit sagen? Sie warteten doch am Eingang, und Ihre
Uniform..."
„Meine liebe Señorita Glenn, ich lag unter einem Baum im Schatten und ruhte
mich aus. Der Führer, den Sie bestellten, verspätete sich. Das erzählte mir der
Busfahrer, als wir zurückkamen. Sie haben mich mit ihm verwechselt."
„Aber warum haben Sie meinen Irrtum nicht berichtigt?"
„Weil ich mich langweilte und weil Sie mir gefielen", antwortete er. „Ich war mit
meiner Arbeit in Uxmal fertig und hatte an dem Tag nicht mehr viel zu tun. Es
hat mir Spaß gemacht, die Rolle des Führers zu spielen."
Jetzt verstand Veronica, warum die anderen Führer so merkwürdig zu ihnen
herübergeschaut hatten, als er mit ihr und ihrer Gruppe durch die Stadtanlage
ging. Kein Mensch hatte wohl begreifen können, wieso der bekannte Antonio
Ferrara mit einer Gruppe alberner Schüler umherzog.
Sie durfte gar nicht darüber nachdenken, wie sie sich blamiert hatte. Er hatte
sich die ganze Zeit über sie lustig gemacht!
„Ja, jetzt verstehe ich, warum Ihnen alles Spaß gemacht hat." Sie bemühte sich,
ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. „Ich werde mich wohl an Ihre neue
Identität gewöhnen müssen, Dr. Antonio Ferrara."
„Das werden Sie wohl, Señorita", erwiderte er ungerührt. „Denn der bin ich nun
einmal und dazu auch noch Ihr Vorgesetzter in den nächsten Monaten. Aber das
haben Sie sich ja selbst zuzuschreiben. Ich hörte von Dr. Cramer, daß Sie diese
Stelle hier unbedingt haben wollten. Nun müssen Sie die Umstände eben
akzeptieren."
„Aber da wußte ich nicht..."
„Ich auch nicht", entgegnete er kühl.
Sagte Antonio die Wahrheit? Hatte er wirklich nicht begriffen, wen Dr. Cramer
ihm am Telefon wärmstens empfahl? Es schien unwahrscheinlich, aber warum
sollte er lügen? Andererseits hießen eine Menge Mädchen Veronica, und ob
Antonio ihren Nachnamen erfahren hatte, konnte sie jetzt gar nicht mehr sagen.
Die Schüler hatten sie Veronica genannt. Gefragt hatte er nicht, woher sollte er ihren Nachnamen also wissen? „Lassen wir die Angelegenheit auf sich beruhen", schlug er vor. „Ich brauche in meiner Gruppe noch einen Zeichner, und Sie sind jetzt hier. Wenn ich mich recht erinnere, verstehen Sie etwas von dieser Kunst. Können Sie sofort anfangen?" „So als ob... als ob nichts vorgefallen wäre?" „Offensichtlich habe ich ein besseres Gedächtnis als Sie, Señorita Veronica." Er beugte sich über sie, wobei er sich mit beiden Händen auf den Armlehnen ihres Sessels abstützte. Seine Stimme klang hart. „Darf ich Sie daran erinnern, daß nichts vorgefallen ist? Und das lag bestimmt nicht an mir!" Seine Augen blitzten zornig. Er hatte ihr also noch nicht vergeben. Dann seufzte er und trat einen Schritt zurück. „Vergessen wir das! Aber ab jetzt wird das, was Sie anfangen, auch beendet! Damit meine ich natürlich Ihre Arbeit. Was zwischen uns war, spielt keine Rolle mehr." Veronica fühlte sich durch seine Sachlichkeit verletzt. Die Vergangenheit spielte also für ihn keine Rolle mehr. Sie schämte sich jetzt, daß sie immer wieder sehr lebendig an seine Umarmungen hatte denken müssen. Aber das würde sie ihm nicht zeigen. Dann fühlte er sich geschmeichelt! „Natürlich haben Sie recht, Dr. Ferrara. Was war denn auch schon dabei." Sie stand auf und blickte ihn äußerlich völlig gelassen an. „Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um an diesem Projekt zu arbeiten. Ich möchte sofort anfangen." Sein Lächeln wirkte herablassend, aber seine Stimme ließ etwas wie Bewunderung erkennen. „Ausgezeichnet! Dann brauchen wir uns ja nicht länger zu unterhalten. Ich zeige Ihnen, womit Sie anfangen sollen." Veronica folgte ihm in einen großen, hellen, aber sehr staubigen Arbeitsraum. Auf den Tischen lagen Tonscherben und verschiedene Werkzeuge. In den Regalen standen allerlei Gegenstände, Skulpturen, Zeichenutensilien und Behälter unterschiedlichster Art. Bei manchen Tongefäßen konnte man die Bruchstellen sehen, an denen sie zusammengeklebt worden waren. Veronica war begeistert. Sie griff nach einer der Scherben auf dem Tisch. Ob sie Teil einer Urne gewesen war? „Rühren Sie das nicht an", schnauzte Antonio, so daß sie das Stück fast fallengelassen hätte. „Es hat seinen Grund, daß die Tonstücke hier so liegen und nicht anders." „Ich hatte auch nicht die Absicht, etwas durcheinanderzubringen. Seien Sie unbesorgt! Ich hätte die Scherbe genau dorthin zurückgelegt, wo ich sie weggenommen habe. Da brauchen Sie nicht gleich so laut zu werden." „Tut mir leid." Aber seine Stimme klang nicht danach. „Isabel verbringt Stunden damit, diese Teile zu sammeln und zu ordnen. Es macht sehr viel Mühe." „Dessen bin ich mir durchaus bewußt", antwortete Veronica. „Schließlich studiere ich Kunstgeschichte. Da lernt man auch etwas über Ausgrabetechniken. Wer immer auch Isabel ist, von mir hat sie nichts zu befürchten. Vielleicht könnte ich ihr sogar helfen..." „Sie bleiben bei Ihren Zeichnungen, Señorita", unterbrach er sie. „Nur so können Sie uns behilflich sein. Das Fachliche überlassen Sie lieber uns." Also so läuft das! dachte Veronica verärgert. Sie sollte zeichnen und im übrigen lieber den Mund halten. Am liebsten hätte sie etwas dagegen gesagt, aber sie beherrschte sich. Als Antonio Veronica dann ihren Arbeitsplatz zeigte, war sie ein wenig besänftigt.
Vor einem großen Fenster standen eine ordentliche Staffelei, ein Tisch für
Skizzen und ein Ständer, in dem sich Stifte, Pinsel und Tinte befanden. Diese
Ecke machte einen saubereren Eindruck als der übrige Teil des Raumes.
Offensichtlich hatte sich jemand bemüht, den Platz für sie vorzubereiten.
„Die meiste Arbeit werden Sie am Tisch erledigen wollen. Aber ich... wir dachten,
Sie könnten eine Staffelei gebrauchen, falls sie auch eigene Arbeiten anfertigen."
„Das weiß ich zu schätzen", sagte Veronica dankbar.
„Das heißt jedoch nicht, daß Sie viel Zeit für andere Dinge haben werden", fuhr
er mürrisch fort und verdarb damit gleich wieder das freundschaftliche Klima.
„Da Sie so voller Eifer sind, können Sie gleich beginnen. Sehen sie dort drüben
die großen Urnen an der Wand? Fangen Sie damit an. Bitte genau im Maßstab,
achten Sie darauf." Er wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Veronica blieb verärgert zurück. Sein Verhalten war empörend. Er brachte sie
ganz durcheinander. Daß er nun auch noch ohne ein freundliches Wort gegangen
war, stellte den Gipfel der Frechheit dar.
Sie wanderte ein paar Minuten in dem großen Raum herum. Jetzt konnte sie
anfassen, was sie wollte. Er brauchte sie nicht so zu behandeln, als ob sie ein,
unerfahrener Anfänger sei. Sie wußte, wie man mit archäologischen Fundstücken
umging. Wenn ich nur auch so gut mit Männern Bescheid wüßte, seufzte sie.
Dann begann sie zu arbeiten. Sie war entschlossen, ihre Zeichnungen so exakt
wie möglich auszuführen, deshalb verbesserte sie ihre erste mehrmals. Sie
wußte, daß sie übertrieben sorgfältig war, aber sie wollte Antonio auf keinen Fall
Anlaß zur Kritik geben. Sie ertappte sich beim Lauschen. Ob Antonio vorbeikam,
um ihre Fortschritte zu überwachen? Aber er ließ sie den ganzen Morgen
ungestört arbeiten. Zwei weitere Zeichnungen wurden fertig. Der Nacken
schmerzte ihr mittlerweile von der gebeugten Haltung, die sie beim Zeichnen
einnahm.
Mittlerweile war es zwei Uhr. Ob sie wohl eine Mittagspause machen durfte?
Würde Antonio wiederkommen? Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Um die verspannten Muskeln zu lockern, stand sie auf, drehte den Kopf hin und
her und streckte die Arme hoch über den Kopf. Ihre Silhouette hob sich deutlich
vor dem Fenster ab, und der Stoff ihres Kleides spannte sich über ihren vollen,
runden Brüsten.
„Wie eine Tänzerin sehen Sie aus."
Veronica erstarrte vor Schreck. Das war Antonios Stimme. Mußte er denn gerade
in diesem Moment hereinkommen?
„Eine leuchtend grüne Gestalt, die sich deutlich vor dem blauen Himmel abhebt:
was für ein reizendes Bild!"
Verlegen griff Veronica nach ihren Zeichnungen.
„Diese Bilder sollten Sie mehr interessieren, Anto... Dr. Ferrara. Habe ich es
richtig gemacht?"
Nur widerstrebend wandte er den Blick von ihr ab und schaute auf die
Zeichnungen. „Gut, aber Sie brauchen sich nicht so viel Mühe zu geben. Lassen
Sie die Schattierungen. Wir benötigen nur einfache Darstellungen. Versuchen Sie
bitte nicht, Kunstwerke daraus zu machen."
„Oh", sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen, „ganz wie Sie wünschen.
Soll ich das noch mal machen?"
„Nicht nötig. Aber arbeiten Sie ab jetzt etwas schneller." Sie wollte sich daraufhin
sofort wieder an den Tisch setzen, doch da sagte er: „So habe ich es doch nicht
gemeint, Veronica. Sie haben sicher noch nichts gegessen. Hier im Museum gibt
es ein Restaurant. Möchten Sie..."
Wollte er sie etwa einladen? Das ließ sich im Moment nicht herausfinden, denn
sie wurden unterbrochen.
„Señorita Glenn, Veronica! Habe ich sie endlich gefunden. Warum haben Sie mich
nicht angerufen?"
In der weit geöffneten Tür stand Eduardo LopezPerreira. Jetzt kam er mit
ausgestreckten Armen auf Veronica zu.
Sie war überrascht, ihn hier zu sehen, aber doch geistesgegenwärtig genug, ihm
schnell die Hand zu reichen. So hinderte sie ihn daran, sie zu umarmen, was
ursprünglich seine Absicht gewesen war.
„Woher wußten Sie, daß ich hier bin?"
„Sie haben mir doch gesagt, daß Sie bei Ferrara arbeiten. So versuchte ich mein
Glück eben hier im Museum."
Ein Kopfnicken in Antonios Richtung zeigte, daß er dessen Anwesenheit zur
Kenntnis genommen hatte.
Veronica war die Situation peinlich. Am besten stellte sie Eduardo gleich vor. „Dr.
Ferrara, das ist Eduardo LopezPerreira. Wir haben uns vor kurzem in New York
kennengelernt."
„Mr. LopezPerreira und ich kennen uns schon", erwiderte Antonio kühl.
Die beiden Männer maßen sich mit kaum verhüllter Feindseligkeit.
„Ich hoffe, ich störe nicht", sagte Eduardo. „Das kann doch nicht wahr sein, daß
Sie schon arbeiten!"
„Und warum nicht?" meinte Antonio herausfordernd. „Nicht jeder kann sich bei
seinem reichen Onkel auf die faule Haut legen."
Veronica sah, wie Eduardo sich zornig straffte.
Sie wollte die Spannung mildern und sagte deshalb fröhlich: „Wir waren sowieso
gerade an einem Schlußpunkt angelangt. Ich muß jetzt erst mal etwas essen."
„Ja, wir wollten gerade essen gehen", fügte Antonio bestätigend hinzu. Veronica
blickte ihn verwundert an. Wollte er sie nicht vorher fragen?
„Darf ich mitkommen?" fragte Eduardo ungeniert. „Genau deswegen such' ich die
Señorita hier."
Antonio schwieg. Um die Situation zu retten, antwortete Veronica: „Aber
natürlich dürfen Sie. Warum sollte das nicht möglich sein?" In Wirklichkeit war
sie gar nicht so sicher. „Was meinen Sie, Dr. Ferrara?"
Antonio blickte sie scharf an. „In Ordnung", sagte er dann und wandte sich ab.
Eduardo war das MuseumsRestaurant offensichtlich nicht fein genug, aber er
machte keine Bemerkung darüber. Obwohl Veronica ziemlichen Hunger gehabt
hatte, war ihr inzwischen der Appetit fast ganz vergangen. Die beiden Männer
schwiegen oder lieferten sich Wortgefechte, jedenfalls kam keine angenehme
Atmosphäre auf.
Antonio schien das jedoch nicht zu stören. Sie hatten alle drei dasselbe bestellt,
Ensalada de Camarón, einen kalten Krabbensalat. Antonio verzehrte ihn als
einziger mit Genuß, während sie nur darin herumstocherte und Eduardo sich
mehr mit der Unterhaltung als mit seinem Essen beschäftigte.
„Was für ein Glück habe ich doch, daß Sie in Mexico City arbeiten, Veronica",
sagte er in diesem Moment. „Jetzt können wir viel zusammen unternehmen.
Unsere gemeinsame Zeit in New York war viel zu kurz."
Wieso tat Eduardo so, als seien sie gute alte Bekannte? Veronica blickte ihn
ärgerlich an und schaute dann zu Antonio hinüber. Dessen Gesicht wirkte
undurchsichtig.
Sie wollte das Bild gerade zurechtrücken, da sagte Antontio: „Wahrscheinlich
werden wir nicht so lange in Mexico City bleiben, wie ich eigentlich vorhatte,
Señor. Also nutzen Sie die Zeit, die Ihnen noch bleibt."
„Genau das habe ich auch vor, und zwar ab sofort. Draußen steht mein Wagen,
Veronica. Heute ist so ein schöner Tag, da könnten wir doch eine kleine Stadtrundfahrt machen. Sie müssen doch nicht etwa wieder an die Arbeit?" „Das fragen Sie besser mich. Ich bin ihr Chef", sagte Antonio mit Nachdruck. Es schien ihm nicht gleichgültig zu sein, ob sie sich mit Eduardo traf. Das freute Veronica. Im übrigen hatte er recht. Denn er war ihr Arbeitgeber und konnte über ihre Zeit verfügen, natürlich nur über ihre Arbeitszeit. „Ich kann jetzt nicht weg", erklärte sie Eduardo. „Ich habe noch zu arbeiten." „Aber an Feiertagen arbeitet niemand", erwiderte Eduardo hartnäckig. „Wieso, ist heute ein Feiertag?" fragte sie überrascht. „Heute haben wir den neunundzwanzigsten Juni. Das ist der PeterundPaulTag. Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, daß niemand außer Ihnen in der Werkstatt gearbeitet hat?" Er blickte Antonio argwöhnisch an. „Die anderen kommen morgen", beeilte sich der zu erklären. „Sie arbeiten heute nicht. Aber da Sie ja unbedingt anfangen wollten..." „Das wollte ich wirklich!" unterbrach sie ihn. „Ich möchte nicht, daß Sie jetzt denken..." „Ich denke gar nichts. Aber offensichtlich ist Ihr Arbeitseifer angesichts Eduardos verlockendem Angebot wie fortgeblasen. Wenn Sie wollen, können Sie gehen. Ich hoffe, Sie sind morgen früh wieder zur Stelle. Punkt neun, wenn ich bitten darf. Adios!" Antonio erhob sich und ging einfach davon. Er wartete nicht einmal ihre Antwort ab und gab ihr gar keine Gelegenheit, seinen Irrtum zu berichtigen. Denn Eduardos Angebot reizte sie keinesfalls. Zweifel überkamen Veronica. Ob sie einen so schwierigen Mann wie Antonio überhaupt mit ihrer Arbeitsleistung zufriedenstellen konnte? Fest stand, daß harte Wochen vor ihr lagen. Während sie kummervoll dreinblickte, strahlte Eduardo und genoß seinen Triumph. „Prima", freute er sich. „Jetzt können wir uns ein bißchen amüsieren. Gott sei Dank ist er gegangen. Sonst hätten wir ihn womöglich im Schlepptau gehabt. Ein schwieriger Mann, nicht wahr?" Veronica mußte ihm schweigend recht geben. „Daß er Sie direkt nach Ihrer Ankunft an die Arbeit geholt hat! Das ist doch nicht zu fassen. Heute arbeitet kein Mensch." Dann fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu: „Naja, vielleicht wollte er Sie auf diese Weise ganz für sich haben..." Veronica wies diesen Gedanken entrüstet von sich. „Unsinn! Das kann nicht sein. Im Gegenteil, er hat mich den ganzen Morgen allein gelassen." Im nachhinein ärgerte sie sich darüber. „Ja, ja, aber was ist mit dem Nachmittag?" gab Eduardo zu bedenken. „Wir wissen doch nicht, was er für den Nachmittag geplant hatte." Nein, das wußten sie tatsächlich nicht. Hatte Antonio tatsächlich Pläne mit ihr gehabt, die durch Eduardo und sein Kommen vereitelt worden waren? Doch Eduardo ließ ihr keine Zeit, solchen Fragen nachzuhängen. „Wen interessieren schon Antonios Pläne?" stellte er zufrieden fest. „Wir wollen uns vergnügen. Ich werde Ihnen zeigen, wie schön Mexico City ist. Dabei werden wir diesen merkwürdigen Dr. Ferrara im Nu vergessen haben."
4. KAPITEL Veronica fuhr am nächsten Morgen erschreckt aus dem Schlaf auf. Im Traum hatte sie Antonio barsch sagen hören: „Punkt neun, wenn ich bitten darf." War sie schon zu spät? Sie hatte den Wecker nicht klingeln hören. Sie beruhigte sich erst, als sie sah, daß es gegen sieben Uhr war. Da blieb ihr noch eine halbe Stunde bis zum Läuten. Erleichtert kroch sie wieder unter die Bettdecke. Die Stadtrundfahrt mit Eduardo gestern nachmittag hätte ihr eigentlich Freude machen sollen. Doch sie erinnerte sich kaum daran, wohin sie gefahren waren, was sie gesehen oder Eduardo gesagt hatte. Sie hatte die ganze Zeit an das Museum im Chapultepec Park und den Mann, der dort arbeitete, denken müssen. Gegen Abend war Eduardo mit ihr in die Nähe des Museums gefahren, um sie dort in das bekannte Restaurant Del Lago einzuladen. „Hier ist es doch viel hübscher als in dem Museumsrestaurant", hatte er stolz bemerkt. Natürlich hatte er recht. Durch die hohen Glaswände sah man auf mehrere Springbrunnen, deren Fontänen sich, angestrahlt von farbigen Scheinwerfern, zu immer neuen Höhen erhoben. Der Speisesaal war elegant eingerichtet, und Eduardo bestellte ein aufwendiges Menü. Veronica war zwar sehr beeindruckt, fühlte sich aber irgendwie unwohl und konnte den Abend nicht richtig genießen. So lehnte sie Eduardos Vorschlag ab, in einem Nachtclub zu tanzen und sich eine Show anzusehen. „Eduardo, ich bin wirklich erschöpft. Es war ein langer Tag für mich." „Verständlich, daß du müde bist", pflichtete Eduardo, mit dem sie sich inzwischen duzte, ihr voll Mitgefühl bei. „Außerdem muß ich morgen wieder arbeiten", setzte sie seufzend hinzu. „Da steht dir eine schwere Zeit bevor", unkte Eduardo. „Dem Ferrara kann man so leicht nichts recht machen, das kannst du mir glauben." An dieses Gespräch erinnerte sich Veronica, während sie in ihrem Bett lag. Dann wurde es Zeit zum Aufstehen. Sie duschte, bürstete die Haare, zog sich an und legte Makeup auf. Aber ihre Gedanken waren woanders. Wie sollte sie sich bloß Antonio gegenüber verhalten? Wie würde er sie empfangen? Sollte sie noch einmal auf das gestrige Gespräch zu sprechen kommen und ihm versichern, daß sie lieber gearbeitet hätte? Würde er ihre Zeichnungen akzeptieren? Eduardo hatte wohl recht: Er war bestimmt nicht leicht zufriedenzustellen. Veronica warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ob sie Antonio mit ihrem Aussehen gefiel? Vielleicht sollte sie lieber einen weniger auffallenden Lippenstift benutzen? Nachdem sie verschiedene Farben ausprobiert und sich schließlich für eine entschieden hatte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Genauso hatte sie gestern ihre Zeichnung immer wieder verbessert, um Antonio Ferrara zu gefallen. Sie ärgerte sich über sich selbst, als ihr das klar wurde. Daß sie sich mit ihrer Arbeit alle erdenkliche Mühe gab, war selbstverständlich, dazu war sie ja auch verpflichtet. Aber wie sie aussah, ging Antonio nichts an. Außerdem hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß er kein persönliches Interesse mehr an ihr hatte, falls das überhaupt jemals der Fall gewesen war. Eine leichtlebige Touristin und ein verliebter Fremdenführer: mit dieser Beschreibung hatte er ihre erste Begegnung abgetan. Sie war darüber bis heute nicht hinweggekommen. Allerdings, wenn Antonio sie weiterhin so herablassend und kühl behandelte, würde sie auch eine andere Einstellung zu ihm finden.
Als Veronica zum Frühstück nur Obst und Kaffee bestellte, war ihr Bewunderer, der junge Kellner, der sie schon gestern bedient hatte, sehr enttäuscht. „Fühlen Sie sich heute morgen nicht wohl, Señorita?" fragte er besorgt, weil sie selbst den Kaffee nur zur Hälfte getrunken hatte und schon dabei war, die Quittung zu unterschreiben. „Ach nein, mit geht's ausgezeichnet!" versicherte sie ihm. „Ich bin heute nur nicht so hungrig." Das stimmte. „Sonst komme ich außerdem zu spät zur Arbeit." Das war gelogen. Sie erreichte sogar einen früheren Bus, als geplant, und stieg Punkt acht Uhr zwanzig an der Haltestelle des Museums aus. Einen Moment überlegte sie, ob sie noch ein bißchen im Park Spazierengehen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Sie war viel zu aufgeregt, um einen solchen Spaziergang zu genießen. Also beschloß sie, schon hineinzugehen und mit der Arbeit anzufangen, auch wenn Antonio... Dr. Ferrara noch nicht da war. Aber da kannte sie ihn schlecht. Als sie ihren Arbeitsraum betrat, fand sie ihn dort an ihrem Tisch sitzend vor. Er sah sich die Zeichnungen an, die sie gestern angefertigt hatte. Dies unerwartete Zusammentreffen brachte sie so durcheinander, daß sie schweigend in der Tür stehenblieb. Sie schaffte es einfach nicht, zu ihm hinüberzugehen. Aller Mut hatte sie verlassen. Doch Antonio meisterte die Situation. „Kommen Sie herein", befahl er ihr. „Warum bleiben Sie dort in der Tür stehen?" Sie merkte, wie sie automatisch gehorchte. „Wie ich sehe, sind Sie pünktlich. Das ist immerhin ein guter Charakterzug." Wieso war er wieder sarkastisch? Sollte das etwa heißen, daß sie sonst keine guten Eigenschaften hatte? „Ich habe mir gerade noch einmal diese Zeichnungen angesehen. Sie sind wirklich sehr ordentlich und exakt ausgeführt. Wahrscheinlich war ich gestern zu kritisch. Ich wollte aber damit nur sagen, daß es, was meine Zwecke angeht, nicht notwendig ist, diese Skizzen künstlerisch zu gestalten. Ich verlange keine Raffinessen." Meint er das zweideutig? überlegte Veronica. Darüber kann ich mir nun wieder den Kopf zerbrechen. Antonio schwieg und blickte sie forschend an: „Nun, Sie sagen ja gar nichts, nicht mal guten Morgen." Erst jetzt fiel Veronica auf, daß sie während der ganzen Zeit noch kein Wort gesagt hatte. Sie hatte wie festgenagelt in der Tür gestanden, war auf seinen Befehl hin näher gekommen und stand nun schweigend und hölzern vor ihm. Er mußte sie für sehr linkisch halten. „Das tut mir leid", stammelte sie. „Guten Morgen. Ich war so überrascht, Sie hier anzutreffen..." Allmählich fand sie ihre Sicherheit wieder, so daß sie etwas gefaßter fortfuhr: „Und es wunderte mich, Sie zur Abwechslung etwas Nettes sagen zu hören." Er lächelte amüsiert. „Ich bin ein Frühaufsteher, aber Sie anscheinend auch. Da haben wir immerhin eine Gemeinsamkeit. Im übrigen bin ich durchaus in der Lage, etwas Nettes zu sagen, wenn mir etwas gefällt. Zum Beispiel Ihre Erscheinung heute morgen: Sie sehen so frisch und natürlich aus wie der junge Morgen. Sagen Sie, was ist das für ein interessantes Lippenrot?" „Das ist... Aprikose", stotterte sie, ganz verwirrt, weil er ihr ein Kompliment machte. „Ob es auch so schmeckt, wie es aussieht?" Er war plötzlich aufgestanden und hatte sie mit einer schnellen Bewegung an sich gezogen. Sie wollte Atem holen, aber seine Lippen legten sich weich auf die ihren. Völlig wehrlos überließ sie sich
seinem Kuß. Das kleine Täschchen, das sie festgehalten hatte, fiel ihr aus der Hand, aber sie merkte es kaum. Sie spürte nur seinen Mund, und daß er mit der Zunge ihre Lippen berührte. Ihre Knie fühlten sich ganz weich an, so daß sie ohne ihn wohl kaum hätte stehen können. Ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen. Aber ebenso plötzlich, wie er sie an sich gezogen hatte, ließ Antonio Veronica los, so daß sie ein wenig aus dem Gleichgewicht geriet. Während er einen schritt zurücktrat, blickte er sie prüfend an. „In der Tat, des schmeckt köstlich. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Wahl. Aprikose, nicht wahr? Kann man den Tag schöner beginnen?" Damit bückte er sich, hob Veronicas Täschchen auf und reichte es ihr. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Machte er sich etwa über sie lustig? Antonio hatte sie beobachtet. Er zog die Augenbrauen hoch und meinte: „Ärgern Sie sich nicht. Betrachten Sie's als eine Art Händedruck, einen netten Auftakt für den Arbeitstag. Ach, das erinnert mich", schloß er mit übertriebenem Seufzer, „daß ich allmählich anfangen muß." Damit ging er zur Tür, wo er stehenblieb und sagte: „Machen Sie sich allein mit den anderen bekannt, wenn sie kommen, ja? Sie müßten bis neun hier sein. Vielleicht werde ich aufgehalten und kann deshalb nicht rechzeitig zurück sein." Mit den Worten schloß er die Tür hinter sich. Veronica blieb reglos zurück. Seit dem Aufwachen hatte sie versucht, sich auszumalen, wie die erste Begegnung mit Antonio verlaufen würde. Alles hatte sie erwartet — nur nicht das, was dann geschehen war. Aber allzuviel sollte sie darauf wohl nicht geben. Er hatte ihr sicher nur beweisen wollen, daß er sie aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Bestimmt war dieser Kuß kein Zeichen seiner Zuneigung. Warum hatte sie sich bloß nicht besser unter Kontrolle? Wieso reagierte sie so heftig, obwohl er nur sein Rachebedürfnis befriedigen wollte? Sie kannte sich selbst nicht mehr. Natürlich hatte sie sich auch küssen lassen, wenn sie mit irgendeinem jungen Mann ausging. Aber eigentlich hatte ihr das nicht viel gegeben. Jedesmal hatte sie das dumpfe Gefühl gehabt, die wirkliche Leidenschaft noch nicht kennengelernt zu haben. Ob sie es diesmal war? Das wäre ja schrecklich. Sie konnte sich doch nicht gerade in einen Mann verlieben, der sie mit solcher Verachtung behandelte. Nein, diese Episode wollte sie lieber aus ihrem Gedächtnis streichen. Wenn er den Kuß als eine Art Händedruck betrachten konnte, würde sie das auch tun. Entschlossen machte sie sich an die Arbeit. Veronica arbeitete ohne Pause, wie im Fieber. Gegen neun Uhr war sie schon bei der zweiten Skizze. Ich werde es ihm schon zeigen, dachte sie, als sich die Tür öffnete. Aber es war nicht Antonio, der sich in der Tür zeigte. Ein älterer Mann, er mochte Ende fünfzig sein, betrat den Raum. Er war von untersetzter, schwerer Gestalt und hatte, wie Veronica fand, einen Kopf wie ein Löwe. Er war eine beeindruckende Erscheinung. Eine dunkelhäutige, hübsche junge Frau von ungefähr siebenundzwanzig Jahren folgte ihm. Sie musterte Veronica argwöhnisch. Der Mann kam lächelnd auf Veronica zu. Während er näherkam, bemerkte Veronica die unzähligen Lachfältchen in seinem Gesicht. Er trug ein kurzärmliges TShirt über den einfachen Baumwollhosen und hielt einen breitrandigen Strohhut in der einen Hand. In der anderen hatte er einen merkwürdig gekrümmten Spazierstock, der in der Mitte gewinkelt war. Weil Veronica den Stock neugierig betrachtete, sagte er: „Der dient zum Festhalten, wenn ich an den Ausgrabungsstätten über Felsen klettern muß." Jetzt erst stellte er sich vor. „Ich heiße Leochan und bin Tonios Führer."
Tonio? Damit meint er wohl Ferrara, dachte Veronica.
„Und das ist meine Tochter Isabel."
„Wieso nennst du nicht unsere Nachnamen?" wunderte sich die junge Frau. „Wir
sind hier nicht zu Hause im Dorf. In der Stadt gehört sich allzu große
Vertraulichkeit nicht."
Dann wandte sie sich an Veronica. „Ich bin Isabel Tikal, Dr. Tikal", fügte sie
ziemlich arrogant hinzu. Also das war Isabel, um deren Arbeit Antonio so besorgt
gewesen war. Sie rekonstruierte aus den Scherben Gefäße aus Ton.
Veronica stellte sich ebenfalls vor.
„Ach ja, die Zeichnerin", meinte Isabel wenig beeindruckt.
Leochan lachte. „Sie müssen meiner Tochter verzeihen, Señorita Glenn. Sie ist Archäologin und hat gerade eine Stelle als Assistentin an der Universität bekommen. Das ist eine Leistung für jemand, der noch so jung und zudem eine Frau ist.“ „Muy
importante", neckte er seine Tochter. „Sehr bedeutsam. Sie versucht sogar, ihren Vater herumzukommandieren. Dabei scheint sie vergessen zu haben, daß die Archäologen jetzt erst herausfinden, was die Mayas schon immer gewußt haben." Damit spielte er offenbar auf einen harmlosen Streit zwischen sich und Isabel an. Isabels Gesicht wurde weicher, und sie lächelte ihrem Vater liebevoll zu. Man konnte es nicht leugnen — Isabel war wirklich schön. Sie war kleiner als Veronica, wirkte aber dennoch hochgewachsen. Das lag an ihrer schlanken Figur und daran, daß sie sich kerzengerade hielt. Sie hatte dichte, dunkle Augenbrauen und große, mandelförmige braune Augen. „Es macht Vater einen Heidenspaß, die neuesten Spekulationen nordamerikanischer und europäischer Archäologen über die Mayas zu lesen", erklärte sie Veronica. „Sie entziffern Schriften, deuten Reliefs und warten dann mit irgendwelchen Theorien auf, die Vater schon längst aus unserer Überlieferung kennt." Leochan freute sich. Ja, auf die Überlieferung ist Verlaß. Die Mayas haben ihr Wissen von Generation zu Generation weitergegeben, die Archäologen können uns nichts Neues sagen. „Ihr bildet euch was auf euer indianisches Blut ein", sagte Isabel verächtlich. „Dabei stammt Antonio ja nur zu einem Viertel von den Mayas ab, wie du eigentlich wissen solltest." „Dann solltet ihr ihn vielleicht adoptieren", schlug im Hintergrund jemand munter vor. „Kann man bei euch EhrenMaya werden?" Der Neuankömmling war, wie Veronica bald erfuhr, Sam Ross. Er arbeitete als Völkerkundler an der Universität von Arizona und half jedes Jahr in den Sommerwochen Ferrara bei seiner Arbeit. Sam war um die vierzig, untersetzt und trug einen schwarzen Bart. Sein drahtiges Haar zeigte schon einige graue Strähnen. „Sie müssen Veronica Glenn sein, die Zeichnerin, die Antonio eingestellt hat." Er blickte sie anerkennend an. „Diesmal hat er bei der Wahl aber Glück gehabt. Das ist ja zu schön, um wahr zu sein!" Veronica wurde vor Verlegenheit rot. „Wir können uns glücklich schätzen, Leochan", fuhr Sam im selben Ton fort. „Unsere junge Zeichnerin ist so hübsch, sie könnte ihr eigenes Modell sein. Das bringt mich auf eine Idee. Wer weiß, vielleicht greife ich selbst noch zum Pinsel." Veronica mochte Sam und Leochan auf Anhieb. Bei Isabel war sie sich über ihre Gefühle nicht ganz im klaren. Aber die andere empfing sie auch nicht gerade mit offenen Armen. Ob Isabel sie wohl als Rivalin betrachtete? Vielleicht war ihre Beziehung zu Antonio Ferrara nicht nur beruflicher Natur. Als Antonio eine halbe Stunde später den Arbeitsraum betrat, beobachtete
Veronica ihn genau. Aber sein Verhalten gegenüber Isabel hatte nichts Auffälliges. Er verriet mit keiner Miene, wie er zu Isabel Tikal stand. Andererseits: Genausowenig konnte man ihm ansehen, daß er Veronica, die er ein wenig von oben herab behandelte, noch vor weniger als zwei Stunden im Arm gehabt hatte. Als Sam ihn damit aufzog, daß sich sein Geschmack, was die Zeichnerinnen betreffe, erheblich verbessert habe, meinte Antonio nur kurz angebunden: „Ja, sie wird sich schon machen, denke ich." „Wie sollte sie auch nicht: bei so viel Vertrauensvorschuß?" hatte sie sarkastisch geantwortet, worauf Antonio sie scharf anblickte. Dachte er etwa, sie ließe sich alles von ihm gefallen? Anscheinend traf Antonio sich jeden Morgen mit seinen Mitarbeitern, um die anfallende Arbeit und das, was bisher erreicht worden war, zu diskutieren. Veronica hielt sich ganz im Hintergrund. Sie war hier neu und konnte nichts zu dem Gespräch beitragen. Aber sie hörte genau zu, denn sie wollte soviel lernen wie möglich. Sam war ihr Interesse aufgefallen, und so fragte er sie am Ende des Gespräches, ob es ihr Spaß machen würde, die Museumsbücherei zu durchforschen. Veronica war von dem Vorschlag begeistert, auch von seinem Angebot, ihr Bücher aus seinem Privatbesitz zu leihen. „Antonio besitzt allerdings noch mehr Bücher als ich", sagte Sam. „Er hat sicher auch nichts dagegen, wenn Sie sie ausborgen." „Wenn Veronica genug Zeit zum Lesen hat", erwiderte Antonio. „Bei ihren vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen habe ich da meine Zweifel." „Ich bin sicher, daß ich genügend Zeit haben werde", wies sie ihn zurecht. „Schließlich kann ich mir meine freien Stunden einteilen, wie ich will." „So so", antwortete Antonio nachdenklich. „Nur: wie wird Señor LopezPerreira es aufnehmen, wenn ein wissenschaftlicher Text ihm den Rang abläuft?" Veronica merkte, wie Isabel zusammenfuhr, aber ihre Überraschung zu verbergen suchte. Kannte sie Eduardo etwa? Als ihr Arbeitstag zu Ende war, verließen Veronica und Sam gemeinsam das Museum. In der Nähe des Eingangs stießen sie auf Antonio, der sich mit einem wohlbeleibten Herrn in einer hitzigen Debatte befand. „O je," stöhnte Sam, „Antonio hat schon wieder eine Auseinandersetzung mit Gutierrez." „Wer ist das?" „Er ist einer der Museumsdirektoren und kümmert sich hauptsächlich um die Beschaffung der nötigen Gelder. Dabei hat er schon die unglaublichsten Geldquellen erschlossen. Er ist auch an der Finanzierung dieses SommerProjekts beteiligt und beschafft das Geld für den Ankauf neuer Ausstellungsstücke. Antonio und er geraten sich immer wieder in die Haare. Sie haben so unterschiedliche Vorstellungen und sind überhaupt so verschieden in ihren Persönlichkeiten, daß sie ständig im Kampf miteinander liegen." Als Antonio sich von Gutierrez verabschiedete und sich ihnen anschloß, war er noch immer verärgert. „Der plant eine Modenschau im Aztekensaal! Haben Sie schon mal so was Idiotisches gehört? Irgendein französischer Modeschöpfer will hier seine Show zeigen. Gutierrez zieht diesen Unsinn tatsächlich in Erwägung." „Vielleicht will er das Museum in der Öffentlichkeit bekannter machen?" gab Sam zu bedenken. „Auf diese Art von Bekanntheit pfeife ich", schimpfte Antonio, während sie zusammen weitergingen. „Aber das bringt doch bestimmt Geld?" fragte Sam vorsichtig.
„Na ja, das stimmt", gab Antonio unwillig zu. „Der gesamte Erlös kommt dem Museum zugute. Aber wenn schon..." Veronica merkte, wie schwer es Antonio fiel, Kompromisse zu machen. Für ihn gab es offenbar nur einen richtigen Weg: nämlich seinen. „Bis morgen dann", sagte sie und ging zur Bushaltestelle hinüber. Aber Sam hielt sie fest und wandte sich dann an Antonio. „Du könntest Veronica und mich gut mitnehmen. Es dürfte kein großer Umweg für dich sein." „Aber natürlich", stimmte ihm Antonio geistesabwesend zu. Anscheinend war er in Gedanken immer noch bei der Auseinandersetzung mit Gutierrez. Veronica wollte zunächst Einwände machen, schwieg dann aber. Warum eigentlich nicht? dachte sie. Doch schon bald bereute sie es, eingewilligt zu haben. Sie saßen nämlich kaum im Auto, da hatte Sam eine glänzende Idee. „Antonio, das ist doch die Gelegenheit für dich, Veronica einige Bücher auszuleihen." Weil keiner von ihnen antwortete, fuhr er entschlossen fort: „Es ist wirklich ideal, weil du sie doch anschließend zum Hotel bringst. Dann muß sie nicht mit Büchern beladen Bus fahren. In mexikanischen Bussen sollten hübsche Mädchen nämlich immer die Hände frei haben, um sich notfalls verteidigen zu können", fügte er im Spaß hinzu. Immer noch erhielt er keine Antwort. Sam drehte sich darauf zu Veronica um. „Sie sollten sich wirklich ein bißchen informieren, bevor wir mit der eigentlichen Arbeit anfangen. Antonio wird sicher genau das Richtige für Sie aussuchen." Veronica wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sam benahm sich unmöglich. Doch der tat so, als bemerke er ihre Verlegenheit nicht. Als Antonio vor seiner Wohnung hielt, sprang er schnell aus dem Wagen und rief: „Bis morgen dann. Viel Spaß — natürlich bei den Büchern." Veronica und Antonio sagten kein Wort. Stumm fuhr Antonio los. Verzweifelt suchte Veronica nach irgendeinem Einwand gegen das Bücherentleihen. Doch ihr fiel nichts ein. Während sie noch grübelte, bog Antonio in eine Seitenstraße ein und hielt vor einem schmalen, drei Stockwerke hohen Haus. „Da wären wir", sagte er und schaltete den Motor aus. „Sehen Sie", begann sie zögernd. „Wir müssen nicht... ich meine, ich sollte Sie besser nicht stören. Die Bücher können warten." „Natürlich können die Bücher warten", erwiderte Antonio ungeduldig. „Vieles kann warten, aber es muß nicht. Sams Idee ist doch nicht schlecht. Sie meinen es doch ernst mit Ihrem Entschluß, mehr über unsere Arbeit zu lernen?" „Natürlich meine ich es ernst." Seine Meinung von ihr war wirklich nicht die beste. „Also dann?" Antonio stieg aus, kam zu ihrer Seite herüber und öffnete ihr höflich die Tür. Weil sie mit dem Aussteigen zögerte, beugte er sich hinunter und fragte spöttisch: „Sie haben doch nicht etwa Angst?" Das wollte sie sich nicht nachsagen lassen. So verließ sie, ohne zu zögern, das Auto. Antonio wohnte in der Amberes Straße, nicht weit von ihrem Hotel. Das Haus hatte eine hübsche Fassade und besaß drei Balkone. Veronica war ziemlich nervös, als sie Antonio die Treppe hoch zu seiner Wohnung folgte. Wie mochte es bei ihm aussehen? Er öffnete die Tür und machte ihr ein Zeichen, vorzugehen. Sie war überrascht, als sie den Raum sah, der vor ihr lag. Er war keineswegs düster, wie sie vermutet hatte, sondern farbenfroh und großzügig eingerichtet. Es gab kein schweres Mobiliar, das ließ den Raum noch größer erscheinen, als er sowieso schon war. Durch eine offenstehende Tür konnte man in eine helle,
modern eingerichtete Küche hineinsehen. Glasschiebetüren führten hinaus auf den schmiedeeisernen Balkon. „Was für ein herrlicher Raum", rief sie spontan aus. „Ja, ich fühle mich hier auch wohl", antwortete Antonio schroff, doch sie spürte, daß er sich über ihre Bewunderung freute. „Früher waren es drei kleine Zimmer. Aber ich habe die Wände einreißen und einen großen Wohnraum daraus machen lassen." Er beobachtet Veronica, die sich in seiner Wohnung umsah. Die Einrichtung war ziemlich ausgefallen. Einige wunderschöne antike Stücke aus der Kolonialzeit standen neben ganz modernem Mobiliar. Es gab ein gemütlich aussehendes Sofa, das mit einem verwirrend gemusterten Stoff, offenbar einer indianischen Arbeit, bezogen war. Indianische Motive zeigten auch die auffallend gemusterten Wandbehänge und einige ungewöhnliche Skulpturen, die bestimmt Ausgrabungsstücke waren. Der Raum hatte für Veronicas Geschmack etwas Dramatisches, wirkte aber zugleich gemütlich. Als sie an den Glastüren vorbeikam, hielt sie in ihrem Rundgang inne, um den Balkon zu bewundern. Mit seinem gekachelten Fußboden und dem verschlungenen Gitterwerk der schmiedeeisernen Balustrade sah er malerisch aus. Wieso benutzte Antonio ihn nicht? Man könnte bequem einen kleinen Tisch und zwei Stühle darauf unterbringen. „Ich stelle es mir herrlich vor, an einem Abend wie diesem hier zu sitzen und den Sonnenuntergang..." Sie stockte. Hoffentlich verstand Antonio das nicht falsch. Er blickte sie durchdringend an, und Veronica wußte plötzlich nicht, was peinlicher war: zu schweigen oder den begonnenen Satz zu Ende zu sprechen. „Für solche Mußestunden fehlt mir die Zeit", meinte er. Er stand jetzt dicht neben ihr und schob ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. Wie unabsichtlich ließ er die Hand dort liegen. Seine Berührung ließ sie zittern, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Und jemand, mit dem ich solche Stunden teilen könnte", fuhr er fort, wobei sein Lächeln seine Gesichtszüge für einen Augenblick weicher erscheinen ließ. Wie sollte sie diesen Blick deuten? Hatte er ihre Reaktion auf seine Berührung bemerkt? Lachte er über sie? Verlegen und ein wenig unsicher ging sie zurück ins Zimmer. Vor dem wunderschönen, zierlichen Sekretär aus honigfarbenem Holz blieb sie stehen. Diese wertvolle Antiquität paßte irgendwie nicht zu Antonio. Es war ein Möbelstück, das für eine Frau gemacht zu sein schien. Ob eine Frau es für ihn ausgesucht oder ihm geschenkt hatte? Auf dem Sekretär stand ein Foto, es war das einzige in diesem Zimmer. Sie konnte nicht widerstehen und hob es hoch, um es genauer anzusehen. Es zeigte einen jungen Mann, der neben einem kleinen Jungen von ungefähr fünf Jahren kniete. Der Junge hielt einen Ball in der Hand, und der Mann schien ihm etwas zu erklären. Sie blickten sich lächelnd an. Die Ähnlichkeit der beiden war nicht zu verkennen, es mußten Vater und Sohn sein. Beide hatten das gleiche dunkle Haar und die gleichen dunklen Augen. Der kleine Junge auf dem Foto sah seinen Vater mit unverhohlener Freude und Bewunderung an. Es war ein offener und glücklicher Blick. Schade, daß der erwachsene Antonio — daß er das Kind auf dem Foto war, stand für Veronica fest — nicht mehr so in die Welt blickte. Hinter Vater und Sohn sah man eine schlanke, dunkelhaarige Frau in einem bauschigen, fast knöchellangen weißen Kleid. Sie trug weiße Handschuhe und einen breitrandigen Hut. Ihre ganze Erscheinung wirkte sehr vornehm. Doch ihr Blick war mißbilligend auf den Mann und den Jungen gerichtet. Während die beiden lächelten, wirkte ihr Gesicht verschlossen und streng. Antonio sprach kein Wort, während Veronica das Bild studierte. Plötzlich schämte
sie sich. Es gehörte sich bestimmt nicht, in einer fremden Wohnung die dort ausgestellten persönlichen Fotos so eingehend zu studieren. „Ein hübsches Foto. Sind Sie das mit Ihrer Mutter und Ihrem Vater?" fragte sie verlegen. „Ja, es sind meine Eltern. Das ist schon lange her." „Sie haben noch nie von Ihrer Mutter oder Ihrem Vater erzählt." „Sie sind beide tot." Er sagte das ganz unbeteiligt. „Wie traurig! Meine Eltern sind auch tot. Sie fehlen mir immer noch." Sie wartete, ob er vielleicht eine ähnliche Bemerkung machte, aber er schwieg. „Zum Glück gibt es die Fotos", bohrte sie, „die uns an die guten alten Zeiten erinnern, als wir noch in einer liebevollen Familie lebten." Jetzt kam Leben in Antonio. „Liebevoll?" Seine Stimme klang bitter. „Fotos können wirklich sehr täuschen." Er nahm das Bild in die Hand und blickte es nachdenklich an. „Aber... Sie und Ihr Vater.“ „Ja, mein Vater und ich, wir liebten uns." „Und Ihre Mutter?" Antonio stellte das Bild auf den Schreibtisch zurück, wandte sich Veronica zu und nahm ihre Hand fest in die seine. „Meine Mutter, liebe Señorita Glenn, war eine sehr schöne Spanierin, eine Dame der mexikanischen Oberschicht. Sie hielt sich streng an die gesellschaftlichen Regeln und verübelte es meinem Vater, daß er sich nicht anpassen wollte. Dieser Schreibsekretär", er wies auf das zierliche alte Möbel, „gehörte ihr. Mein Vater hatte ihn ihr geschenkt. Aber sie benutzte ihn nur selten. Meine Mutter besaß die typische Bildung einer höheren Tochter, aber hatte keine geistigen Interessen. Mein Vater als Wissenschaftler las sehr viel. Die beiden paßten gar nicht zusammen, mir ist bis heute nicht klar warum sie geheiratet haben." Veronica hätte von Antonio gern mehr über seine Mutter erfahren. Dann würde sie diesen Mann vielleicht besser verstehen können. In seiner Kindheit mußt es irgend etwas gegeben haben, was ihn verhärtet und Frauen gegenüber argwöhnisch gemacht hatte. Aber ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, daß sie nicht weiter fragen durfte. Das Thema war für ihn beendet. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß er ihre Hand in der seinen hielt. Geistesabwesend streichelte er mit dem Daumen ihre Finger. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und entzog ihm deshalb die Hand. Dabei gab sie sich ein möglichst gleichgültiges Aussehen. „Wirklich bewundernswert, was Sie aus diesem Raum gemacht haben." Das hörte sich zwar etwas hergesucht an, aber ihr fiel nichts Besseres ein. „Die Kombination zwischen Modernem, Antiquität und Indianischem ist irgendwie... mexikanisch." Antonio blickte sie anerkennend an. „Ganz recht, Señorita. Das ist eine kluge Beobachtung. Aber mich interessiert daran eigentlich nur das indianische Element." „Das weiß ich von Eduardo. Er hat mir erzählt, daß Sie sich wie ein Maya aufführen, obwohl nur ein Teil Ihrer Großeltern ein Maya war." „Interessant, was Eduardo alles zu berichten hat", sagte Antonio leise und scharf. „Es war mir gar nicht bekannt, daß Señor LopezPerreira so viel Interesse an meinen Familienverhältnissen hat. Offensichtlich hängt seine Aufmerksamkeit mit meiner neuen Mitarbeiterin, meiner kleinen Zeichnerin aus New York, zusammen." „Ich bin nicht Ihre kleine Zeichnerin", wies sie ihn verärgert zurecht. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Das Thema war es nicht wert, länger
behandelt zu werden. „Die Bücher, Antonio, was ist damit?" Am besten kam sie schnell zum eigentlichen Grund ihres Besuchs. Dann konnte sie wieder gehen. „Aber natürlich, die Bücher! Deshalb sind sie schließlich hier, nicht wahr?" Sein sarkastischer Unterton gefiel ihr gar nicht. Antonio faßte sie am Ellbogen und schob sie zu einer Tür, die in ein anderes Zimmer führte. Veronica erwartete, jetzt sein Arbeitszimmer oder eine Art Bibliothek zu sehen, und ließ sich willig mitnehmen. Doch als er die Tür öffnete, blieb sie wie angewurzelt stehen. Es war sein Schlaf räum. In einem kleinen Zimmer, in dem nur ein breites Mahagonibett stand mit einer hohen Kommode, befand sich ein riesiges Bücherregal, das vom Boden bis an die Decke reichte. „Das ist ja Ihr Schlafzimmer!" sagte sie vorwurfsvoll. „Ganz richtig", lobte er sie überschwenglich. „Was für eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe! Sehr gut! Es ist aber auch, wie Sie selbst sehen, meine Bibliothek. Ich tue vieles im Bett. Sie haben Angst? Worauf habe ich es denn Ihrer Meinung nach abgesehen? Auf die Freuden des Fleisches?" Veronica wußte, daß er sie aufziehen wollte, doch sie ging nicht darauf ein. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir jetzt die Bücher geben würden, die ich brauche, damit ich dann gehen kann", sagte sie steif. Antonio betrat vor ihr den Raum, ließ sich auf sein Bett fallen und sagte herausfordernd: „Suchen Sie sich nur aus, was Sie brauchen. Das kann ich schließlich nicht für eine junge Frau tun, die auf ihre Unabhängigkeit so stolz ist." Veronica zögerte einen Moment, entschloß sich aber dann, seiner Aufforderung mutig nachzukommen. Sie war schließlich eine moderne junge Frau und lebte im zwanzigsten Jahrhundert. Also ging sie um das Bett herum zum Regal und studierte die Titel der Bücher, wobei sie mit dem Finger die Buchrücken entlangfuhr. Es war nicht einfach, sich zu konzentrieren. Sie spürte deutlich Antonios Blick, während sie in dem schmalen Raum zwischen Bett und Bücherregal hockte. Schließlich nahm Veronica vier Bücher heraus und sah sie sich etwas genauer an. Dabei fiel ihr Blick auf ein Buch, das auf dem untersten Regalbrett stand, es hieß: „Das Geheimnis der Mayas." Sie bückte sich, um auch dieses Buch herauszuziehen. Dann erhob sie sich schnell, wobei sie durch das Gewicht der Bücher ein wenig ins Schwanken geriet. Ungeschickt versuchte sie, über Antonios Füße zu steigen, der auf dem Bettrand saß. Sie hatte eine undeutliche Ahnung, was gleich geschehen würde, und fragte sich später, ob sie es vielleicht sogar gewollt hatte. Gleich darauf stieß sie gegen Antonios Knie, verlor das Gleichgewicht und fiel hilflos auf ihn, wobei die Bücher zu Boden fielen. „Das Geheimnis der Mayas" traf ihn allerdings an der Stirn, direkt über dem Auge. Erschreckt preßte er die Hand auf die Stelle. „Oh, das tut mir leid. Aber Sie haben mir ein Bein gestellt, vielleicht bin ich auch gestolpert. Sind sie verletzt?" Veronica war völlig durcheinander. Hier lag sie mit hochgerutschtem Rock auf Antonio, ihre Beine zwischen den seinen, Gesicht an Gesicht mit ihm. Auf einmal wurde sie ganz still. Eine Menge Empfindungen überfielen sie und ließen sie alles vergessen, was eben noch wichtig schien. Antonio nahm die Hand von der Stirn und umschlang sie mit beiden Armen. Sie fühlte, wie ihr Körper schwer auf dem seinen lastete. Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, konnte ihn aber nicht länger hochhalten. Vor Anstrengung ließ sie ihn neben Antonios Kopf sinken. Sein Atem streifte ihr Ohr, als er ihr zuflüsterte: „Freuden des Fleisches?
Dagegen hätte ich nichts einzuwenden." Sanft küßte er ihr Ohr. Als sie seine Zunge dabei spürte, erschauerte sie. Dann suchte er ihre Lippen. Er hielt ihren Kopf fest, so daß sie seiner Liebkosung nicht ausweichen konnte. Sein Kuß war forschend, mal zärtlich und suchend, dann wieder heftig und drängend. So war sie noch nie geküßt worden. Sie beantwortete diesen Kuß nicht bloß mit nachgiebiger Fügsamkeit, sondern liebkoste ihn ihrerseits voller Inbrunst. Mit den Beinen preßte er ihren Körper jetzt fest gegen den seinen. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß sie dem Treiben vielleicht lieber Einhalt gebieten sollte. Sie löste sich von seinen Lippen, stützte sich auf die Ellbogen und sah ihn an. Doch als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, brachte sie es nicht fertig, sich von ihm ganz und gar zu trennen. Statt dessen berührte sie vorsichtig die Stelle auf seiner Stirn und dann zart sein übriges Gesicht. Sie mußte an das Foto denken und den liebenswerten kleinen Jungen, der er einmal gewesen war. Als sie nun seinen Mund berührte, hielt er ihren Finger mit den Lippen fest. Sie gab nach und senkte wieder die Lippen auf die seinen. Es erschreckte Veronica, wie heftig sie diesen Mann begehrte. Sie fühlte, wie er ihren Rock noch höher zog und sie an den Beinen zu streicheln begann und wußte, daß seine Hand sich im nächsten Augenblick unter ihren Slip verirren würde. Doch sie konnte sich ihm nicht entziehen. Er berührte sie sacht und zärtlich. Wäre es anders gewesen, hätte sie sich vielleicht gewehrt. Doch so steigerte sich nur ihre Bereitschaft, seine Liebkosungen zu empfangen. Seine Berührungen schienen ihr wie Flammen, deren Wärme sich immer weiter in ihr ausbreitete. Er drückte sie fester an sich. Dann schaffte er es mit einer geschickten Bewegung, mit ihr die Position zu tauschen. Er blickte ihr tief in die Augen. Deutlich spürte sie seine Erregung, als er sich gegen sie drängte. „Ich kann jetzt nicht aufhören, ich will nicht aufhören." Seine Stimme klang heiser. Veronica wußte, daß er eine Antwort auf seine unausgesprochen Frage erwartete. Wollte sie denn, daß er weitermachte? Aber ihr Körper hatte ja längst seine Antwort gegeben. Plötzlich versteifte Antonio sich. Veronica hatte nichts gehört, aber irgend etwas mußte ihn ablenken. Dann vernahm auch sie ein Geräusch. Es war unverkennbar das Schließen einer Tür. Dann hörte man eine weibliche Stimme rufen: „Antonio, bist du da?" „Isabel", sagte er und stieß dann einen Fluch auf spanisch aus. Verärgert stand er auf, fuhr sich über das zerzauste Haar und bemühte sich um ein harmloses Aussehen. Er warf Veronica, die immer noch auf dem Bett lag, einen bedauernden Blick zu und ging dann hinaus, wobei er die Tür schnell hinter sich zuzog. Wie betäubt lag Veronica da. Nach einer Weile setzte sie sich auf und zog sich das Kleid zurecht. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wie er seiner Freundin die Situation wohl erklären würde? Bruchstücke der Unterhaltung, die im angrenzenden Zimmer stattfand, drangen durch die geschlossene Tür. „Ich ahnte doch, daß du hier bist... deine Tür... wollte gerade..." Kein Zweifel, es war Isabels Stimme! Das war ja interessant. Isabel besaß einen Schlüssel zu Antonios Wohnung. Offensichtlich konnte sie kommen, wann immer sie wollte. Veronica fühlte sich schlagartig ernüchtert. Hier saß sie und lauschte hinter der geschlossenen Tür, von Antonio sorgfältig versteckt, damit Isabel nichts merkte. Veronica fühlte sich schrecklich erniedrigt. Wie hatte sie bloß in eine derart entwürdigende Situation hineingeraten können!
Nach ein paar weiteren Minuten klappte die Wohnungstür zu, dann hörte man seine Schritte im Nebenzimmer. Als er die Tür zum Schlafzimmer öffnete, blickte Veronica ihn abweisend an. „Du bist böse auf mich", sagte Antonio. „Was hast du denn erwartet?" fragte sie schnippisch. „Daß ich hier liegenbleibe und nur darauf warte, daß du da weitermachst, wo du aufgehört hast?" Sie ließ es nicht zu, daß er ihr darauf antwortete, sondern fuhr sarkastisch fort: „Hoffentlich hast du Isabel nicht meinetwegen weggeschickt. Du hättest mir sagen sollen, daß du schon eine Verabredung hattest." „Veronica, es tut mir doch leid. Ich wußte nicht, daß sie herkommen wollte. Als ich die Tür aufgehen hörte..." Veronica fiel ihm scharf ins Wort: „...bist du hinausgerannt, um sie zu empfangen. Aber trotz der Eile hast du nicht vergessen, die Schlafzimmertür gut zu schließen. Nun ja, es hätte ihr wahrscheinlich nicht besonders gefallen, eine andere Frau in deinem Schlafzimmer vorzufinden. Hoffentlich habe ich deine und ihre Pläne für den Abend nicht durcheinander gebracht." Antonio hatte anfangs ein bißchen schuldbewußt ausgesehen, doch während ihres Ausbruchs wurde er immer zorniger. „Du irrst dich", widersprach er kühl. „Ich habe nur versucht, dich zu schützen..." „Mich — oder vielmehr dich selbst? Es ist bestimmt nicht leicht, mit zwei Frauen dasselbe Spiel zu spielen." „Ich habe dir doch schon früher gesagt, daß ich nicht spiele." Wütend blickten sie sich an. Schließlich brach Veronica das Schweigen, indem sie die Bücher einzusammeln begann, die überall verstreut lagen. Als sie sie alle beisammen hatte, sagte sie förmlich: „Ich bin jetzt soweit, daß ich gehen kann. Wenn Sie mich nicht nach Hause fahren können, kann ich mir auch ein Taxi bestellen." Er ging auf ihren Ton sofort ein. „Natürlich werde ich Sie zu Ihrem Hotel bringen." Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer. „Es macht mir nichts, ein Taxi zu nehmen", beharrte sie. „Vielleicht möchten Sie lieber hierbleiben: falls Isabel zurückkommt. Ober haben Sie einen späteren Zeitpunkt mit ihr ausgemacht?" Damit wollte sie eigentlich Antonio treffen, doch es tat vor allem ihr selbst weh. Antonio wurde noch zorniger. „Wenn Sie es unbedingt wünschen, soll es so sein. Holen wir also ein Taxi." Seine Reaktion betrübte Veronica. Sie hatte auf Widerspruch gehofft, konnte jetzt aber nicht mehr zurück. Antonio ging ihr voraus die Treppe hinunter, winkte ein Taxi herbei und sagte dem Fahrer Veronicas Adresse. Er steckte ihm einen Geldschein zu und schob sie auf den Rücksitz. Es ging alles so schnell, daß sie kaum begriff, was geschah. Als sich das Taxi in Bewegung setzte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Natürlich hatte sie es nicht wirklich gewollt, daß er sie in ein Taxi setzte. Sie hatte gehofft, er würde sie selbst nach Hause bringen. Dann hätten sie noch etwas zusammen sein können und wären vielleicht anders auseinander gegangen als jetzt. Veronica schloß die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Aber was hätte sie damit erreicht? Vielleicht hätte sie erfahren, wieso Isabel in die Wohnung gekommen war, vielleicht wäre ihr Zorn verraucht, vielleicht... vielleicht hätte sie sich ihm wieder so nah fühlen können, wie vor Isabels Auftritt. Aber solche Gedanken waren jetzt nutzlos. Hier saß sie allein im Taxi und fuhr zurück ins Hotel. Warum hatte sie diesen unsinnigen Vorschlag nur gemacht? Das verdankte sie nur ihrem dummen Stolz. Woher sollte sie auch wissen, daß Antonio auf ihren Vorschlag eingehen würde? Offensichtlich hatte sie, was
Antonio Ferrara betraf, noch viel zu lernen. Soviel wußte sie jedenfalls jetzt
schon: sein Verhalten ließ sich nicht vorausberechnen.
Als sie vor ihrem Hotel aus dem Taxi stieg, blickte der Fahrer sie neugierig an. Es
war zu peinlich! Was er wohl denken mochte? Trotzig warf sie den Kopf in den
Nacken. Das konnte ihr nun wirklich gleichgültig sein.
In ihrem Zimmer angekommen, nahm sie erst einmal ein ausgedehntes Bad.
Vielleicht würde das warme Wasser sie beruhigen. Krampfhaft versuchte sie, alle
störenden Gedanken zu verbannen und völlig selbstvergessen im Wasser zu
liegen. Es gelang auch für kurze Zeit, doch dann war die Erinnerung wieder da.
Unzufrieden stieg sie aus der Wanne und begann, sich mit dem rauhen Badetuch
abzutrocknen. Doch das erinnerte sie nur daran, wie Antonios Liebe sie gewärmt
hatte.
Später lag sie noch stundenlang wach. Erst versuchte sie zu lesen und griff nach
einem der Bücher, die sie mitgebracht hatte. Es war „Das Geheimnis der Mayas",
jenes Buch, das ihn an der Stirn getroffen hatte. Wenn das nicht komisch ist,
dachte sie, auf diese Weise ist heute nacht ein Teil von Antonio in meinem Bett.
Aber der Gedanke gab ihr auch nicht viel Trost.
5. KAPITEL Am nächsten Morgen war Veronica wieder früh an ihrem Arbeitsplatz. Erwartungsvoll hatte sie die Tür zu der Werkstatt geöffnet. In der Hoffnung, Antonio wie am vergangenen Morgen an ihrem Tisch sitzen zu sehen, war sie einen Augenblick im Türrahmen stehengeblieben. Doch der Raum war leer. Sie unterdrückte ihre Enttäuschung und versuchte sich einzureden, daß es ihr gar nichts ausmachte. Vielleicht war es sogar ganz gut, wenn sie ihn nicht so schnell wiedersah. Es wurde später und später. Antonio ließ sich nicht blicken. Er dachte wohl ähnlich wie sie. Den ganzen Vormittag verbrachte er in seinem Büro auf der anderen Seite des Korridors. Nur einmal steckte er den Kopf durch die Tür, aber nur, um Isabel für einen Augenblick zu sich zu bitten. Isabell war kaum zehn Minuten fort, da begann sich in Veronica Eifersucht zu regen. Worüber mochten die beiden wohl sprechen? Erzählte ihr Antonio etwa von seinem verunglückten Verführungsversuch mit der Neuen, und lachten sie gemeinsam darüber? Nein, das wäre zu grausam! Das würde er nicht tun! So gemein konnte Antonio nicht sein. Als Isabel zurückkehrte, sah sie ernst und beherrscht aus. Sie blickte nicht einmal in Veronicas Richtung. Genauso beherrscht werde ich auch sein, dachte Veronica. Ich werde die letzte Nacht einfach aus meinem Gedächtnis streichen. Den ganzen Morgen arbeitete sie in nahezu fieberhafter Eile. Isabel beschäftigte sich schweigend, Leochan las in der Zeitung und ging dann fort. Er beaufsichtigte die Ausgrabungsarbeiten und fand sich nur in seinen Arbeitspausen in der Werkstatt des Museums ein. Sam holte seine Notizen hervor. Er stellte den neuen Katalog für das Museum zusammen und ließ sich geschäftig an seinem Schreibtisch nieder. Veronica war dankbar, daß er heute nicht ununterbrochen redete und damit ihre Konzentration störte. Nur einmal sprach er sie an. Offenbar hatte er gesehen, daß sie sich die Augen rieb. „Warum machen Sie denn keine Pausse, Veronica? Sie sollen doch nicht all die Zeichnungen heute erledigen. Dafür brauchen Sie Wochen! Antonio ist doch kein Sklaventreiber. Lassen Sie sich ruhig Zeit." Er hatte recht. Sie schob den Stuhl zurück, um sich einen Augenblick zu entspannen. „Antonio besitzt eine ganze Menge Bücher, nicht wahr?" fragte Sam beiläufig. „Ja, das kann man wohl sagen." Sie vermied seinen Blick. „Haben Sie ein paar Bücher gefunden, die Ihnen zusagten?" „Ja, ich habe mir welche ausgeliehen." Sam ließ sich nicht entmutigen. „Antonio hat 'ne hübsche Wohnung, nicht wahr?" Vielleicht konnte man Veronica so aus der Reserve locken? Doch sie brachte nur ein karges „ganz nett" hervor und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Sam lächelte und verzichtete auf das Thema. Er stand auf und kam zu ihrem Tisch herübergeschlendert. Interessiert betrachtete er die Zeichnung, mit der sie gerade beschäftigt war. „Sie können wirklich hervorragend zeichnen", sagte er mit aufrichtiger Anerkennung. „Haben Sie schon mal Porträts versucht?" Veronica wurde rot. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihren letzten Entwurf. Sam hatte ihre Verlegenheit bemerkt. „Oh, da berühre ich wohl ein peinliches Thema. Da muß ja ein interessantes Porträt dabei gewesen sein, wenn Sie schon bei der Erinnerung ganz rot werden."
Sie blickte auf ihre Hände, und Sam gab nach. „Nun gut, ich werde kein Wort mehr darüber verlieren. Kommen Sie, wir machen Mittagspause. Isabel, das gilt auch für dich", rief er. „Ich freue mich schon auf die neidischen Blicke der anderen Männer, wenn ich gleich mit zwei schönen Frauen das Museumsrestaurant betrete." „Aber was ist mit Antonio, nehmen wir ihn nicht mit?" Veronica konnte es nicht lassen, nach ihm zu fragen. „Der muß selbst sehen, wo er für sich Frauen findet", gab Sam zurück. „Stimmt's, Isabel?" Isabel, die heute ungewöhnlich ernst war, mußte unwillkürlich lächeln. Man konnte Sam's Charme auch nur schwer widerstehen. „Ja, Sam, du hast recht. Antonio ist durchaus in der Lage, sich weibliche Begleitung zu verschaffen. Wenn er nur will." Sam, Isabel und Veronica verließen wenig später die Werkstatt, um essen zu gehen. Im Vorbeigehen klopfte Isabel bei Antonio an die Bürotür. „Wir gehen jetzt essen, Antonio. Kommst du mit?" rief sie ihm zu und steckte den Kopf bei ihm zur Tür herein. Veronica konnte seine leise Antwort nicht verstehen. Jedenfalls gingen sie zu dritt weiter zum Museumsrestaurant. Dort gesellte sich auch Leochan zu ihnen. Es wurde eine fröhliche Mahlzeit, Sam erzählte von diesem und jenem, und auch Leochan trug einiges zur Unterhaltung bei. Selbst Isabel entspannte sich. Veronica ertappte sich mehrfach dabei, daß sie zum Eingang starrte, während sie angestrengt Sam zuhörte. Der zählte soeben gerade die Sehenswürdigkeiten von Mexico City auf, die sie unbedingt sehen müsse. „Brauchen Sie einen Führer, Veronica? Oder hat sich der junge Mann, den Antonio kürzlich erwähnte, schon als Führer erboten? Wie hieß er doch gleich...?" fragte Sam neugierig. „Eduardo LopezPerreira", antwortete Isabel scharf. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, als sie hinzufügte: „So heißt er doch?" „Ja", bestätigte Veronica ein wenig überrascht. Isabel schien ein erstklassiges Gedächtnis zu haben. „Ich lasse mir von ihm die Stadt zeigen." Begütigend legte sie die Hand auf Sams Arm und fügte hinzu: „Ich wußte ja nicht, daß sich ein so charmanter Bewerber für diesen Job finden würde." „Hoffentlich zeigt Ihnen Ihr Bekannter nicht nur die üblichen Touristenattraktionen", sagte Leochan. Dann blickte er hoch: Antonio war an ihren Tisch getreten. Veronica hielt vor Schreck den Atem an. Sie hatte ihn nicht kommen sehen und tat nun so, als sei sie eifrig mit ihrem Essen beschäftigt. „Antonio", hilfesuchend wandte sich Leochan an ihn. „Das dürfen wir doch nicht zulassen, daß Veronica nur das Mexico City der Touristen kennenlernt, nicht wahr? Wie wär's mit einem Picknick? Heute haben wir Dienstag. Wollen wir am Sonntag alle zusammen nach Xochimilco fahren? Ich bin dafür." Sam fand die Idee ausgezeichnet, und auch Isabel lächelte zustimmend. „Antonio, sag auch mal was", verlangte Leochan. „Wäre das nicht eine tolle Sache?" „Für uns ja." Antonio sah Veronica starr an. „Aber wie steht Veronica dazu? Wer weiß, ob ihr so ein mexikanischer Ausflug gefällt. Wahrscheinlich hat sie schon etwas anderes vor." „Lassen Sie mich gefälligst für mich selbst sprechen", wies ihn Veronica ärgerlich zurecht. Zu den anderen sagte sie dann: „Ich würde riesig gern mitkommen." Damit war es abgemacht. Sie würden sich am Sonntag bei den „Schwimmenden Gärten" von Xochimilco treffen. Das war ein Park, der ungefähr eine halbe Stunde Fahrt von der Stadt entfernt lag. Veronica würde die Verabredung mit
Eduardo absagen. Der hatte sich in der Zwischenzeit sowieso zu einem richtigen kleinen Quälgeist entwickelt. Bestimmt saß er auch heute nachmittag wieder in der Halle ihres Hotels und wartete dort auf sie. Veronica hatte sich nicht getäuscht. Eduardo, die treue Seele, kam ihr bei ihrer Ankunft glücklich entgegen und begrüßte sie überschwenglich. Er lud sie zu einer Piña Colada ein, wofür sie ihm dankbar war. Der Kellner musterte ihren Begleiter kritisch. Doch Eduardo schien ihm zu gefallen, jedenfalls bediente er sie sehr liebenswürdig. Eduardo eröffnete Veronica, daß er zum Abendessen einen Tisch im „Muralto" hatte reservieren lassen. Sie würde sich also umziehen müssen. Von diesem Restaurant hatte sie schon viel gehört. Es hieß, es sei der Regenbogensaal von Mexico City. Veronica war müde, aber das Duschen erfrischte sie. Sie entschied sich ohne Umschweife für eins der wenigen Ausgehkleider und freute sich, daß es Eduardo gefiel. Das hellblaue Kleid war aus weich fallendem Stoff gefertigt. Es besaß dünne Träger, und der Rock war auf der Hüfte angesetzt. Dazu paßte die schlichte hüftlange Stoffjacke. So würde auch die kühle Nachtluft ihr nicht schaden können. Sie bemühte sich, genausoviel Begeisterung wie Eduardo aufzubringen. Mexico City war immerhin eine aufregende Stadt und Eduardo ein aufmerksamer Begleiter. Doch ihre Gedanken flogen immer wieder zu Antonio zurück. Das verdarb ihr ein wenig das Vergnügen. Vom „Muralto", das sich hoch oben im Lateinamerikanischen Hochhaus befand, hatte man einen atemberaubenden Blick über die Stadt. Veronica gefiel die Aussicht besser als das Essen, aber das lag wohl daran, daß sie sowieso nicht viel Hunger hatte. Eduardo schlug vor, nach Las Lomas, den Hügeln jenseits von Chapultepec, zu fahren. Veronica stimmte zu, doch dann fiel ihr ein, daß Eduardos Wohnung irgendwo dort sein mußte. „Naja, warum nicht? Du hast doch nicht etwa vor, mich zu dir nach Hause zu bringen und mir dort deine Briefmarkensammlung zu zeigen?" Mißtrauisch betrachtete sie ihn. Von Männerwohnungen hatte sie fürs erste genug. Da verzichtete sie lieber auf den Ausflug. „Bitte, Veronica", Eduardo wurde richtig ein bißchen rot. „Ich habe nur die besten Absichten! Du bist für mich das schönste Mädchen, das ich kenne, ich würde dich nie derartig kompromittieren. Wenn du mir eines Tages einmal einen Besuch abstattest darfst du dich ganz sicher fühlen." Veronica wußte einen Moment nicht, ob sie seine Beherrschung bewundern oder seinen Mangel an Leidenschaft bedauern sollte. Doch dann fügte er grinsend hinzu: „Mein Personal, Frederick und Lena, würde für deine Sicherheit garantieren. Die beiden wissen, was sich gehört." Es wurde eine sehr vergnügliche Fahrt. Las Lomas war ein vornehmes Wohngebiet. Eduardo und Veronica kamen auch an dem Hochhaus vorbei, in dem Eduardo wohnte. „Mir gehört die Penthousewohnung. Von dort hat man einen wunderbaren Blick über die Stadt. Kann dich das nicht reizen, für ein paar Minuten mit hinaufzukommen?" „Vielleicht ein andermal", meinte sie unbestimmt. Es war nicht etwa so, daß sie sich fürchtete. Eduardo würde ihr schon nicht zu nahetreten, und bei ihm empfand sie nun mal keine Leidenschaft. Da würde sie sich schon nicht vergessen. Aber sie wollte nicht mit ihm allein sein. Worüber sollte sie sich denn auch mit ihm unterhalten? Lieber wollte sie mit ihm die Stadt besichtigen. „Ist der Markt der Diebe, von dem ich gelesen habe, noch geöffnet?" fragte Veronica. Vielleicht hatte Eduardo ja Lust, mit ihr dorthin zu fahren.
„Lagunilla? Das weiß ich nicht genau. Aber eigentlich müßte dort etwas los sein. Interessierst du dich denn für Antiquitäten?" „Nein", lachte Veronica, „weil ich sie mir nicht leisten kann. Aber dort soll es eine besondere Atmosphäre geben. Dr. Cramers Frau hat mir dieses Viertel besonders empfohlen. Laß uns dorthin fahren, ja?" Als sie das Viertel erreichten, bat Veronica Eduardo, den Wagen zu parken, damit sie durch die Straßen bummeln konnten. Die Buden waren noch offen, und überall drängten sich Kauflustige und Spaziergänger. Aber sie hatte sich den Markt anders vorgestellt. Vor Jahren mochte er ein Umschlagplatz für Diebesgut gewesen sein, heute wurden dort fast ausschließlich Antiquitäten, Gemälde und alte Münzen verkauft. Plötzlich hörte sie in der Nähe fröhliche Musik. „Das ist ein Leierkastenmann", erklärte Eduardo und wies die Straße hinunter. Sie sah in die angegebene Richtung. Tatsächlich stand dort jemand mit einer Drehorgel. Daß es so etwas noch gab! In New York sah man solche Instrumente höchstens als PartyAttraktion. Sie blieben stehen, um zuzuhören. Eduardo war zwar nicht so begeistert wie sie, genoß aber ihre kindliche Freude. Als der kleine Junge, der den alten Leierkastenmann begleitete, mit dem Hut herumging, warf Eduardo fünfzig Pesos hinein und erntete dafür ein überglückliches „Gracias, Señor" von ihm. Veronica hatte genug gesehen und erlebt und wollte zurück zu ihrem Hotel. Eduardo wäre gern noch in einen der vielen Clubs in der Rosa Zone eingekehrt für einen Schlummertrunk, doch Veronica konnte sich dafür nicht begeistern. Er nannte einen Namen nach dem anderen und beschrieb die Bars in den verlockendsten Farben, um ihre Meinung zu ändern. Doch sie lachte nur und sagte: „Du scheinst die Lokalitäten hier ja bestens zu kennen. Aber, mein lieber Eduardo, ich muß morgens früh aufstehen. Vergiß nicht, daß ich zur arbeitenden Bevölkerung gehöre." „Das versuche ich ja gerade zu vergessen", erwiderte er im Scherz. „Aber du läßt mich ja nicht." Veronica mußte an Antonios spöttische Bemerkung denken, daß er, Eduardo, Glück habe, für seinen reichen Onkel arbeiten zu dürfen. Dadurch hatte Eduardo viel freie Zeit. Er konnte wohl auch an Arbeitstagen morgens ausschlafen, wenn ihm danach zumute war. Nur widerstrebend fügte Eduardo sich Veronicas Wunsch. Auf ihrem Weg zum Hotel bemerkte Veronica plötzlich, daß sie auf der AmberesStraße fuhren. Gleich würde sie an Antonios Haus vorbeikommen. Automatisch lehnte sie sich vor, um einen kurzen Blick zu seiner Wohnung hinaufzuwerfen. Brannte Licht bei ihm? Doch sie waren so schnell vorbei, daß sie es nicht herausfand. „Schaust du nach etwas Bestimmtem?" erkundigte sich Eduardo scheinheilig. „Nein, überhaupt nicht." Bald standen sie vor dem Eingang des Hotels. Eduardo verabschiedete sich wie gewöhnlich von Veronica mit einem flüchtigen Gutenachtkuß. Veronica überlegte, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihn leidenschaftlich küßte? Doch andererseits stand ihr der Sinn nicht nach Experimenten. Ihr Leben war auch so schon kompliziert genug. Um die Sonntagsverabredung abzusagen, erfand sie irgendeine Ausrede. Sie wollte ihm nichts von dem geplanten Picknick erzählen. Dann würde er sich vielleicht selbst einladen, was sie auf keinen Fall wollte. Schließlich versprach sie ihm schuldbewußt, sich wenigstens zum Abendessen mit ihm zutreffen. Der Sonntagmorgen brachte strahlendes Wetter. Es ist ein idealer Tag für ein Picknick, freute sich Veronica. Sie war ziemlich früh wach geworden und sah nun auf das ihr inzwischen vertraute Straßenbild hinab. Schön, daß sie heute an
einem solchen Tag die Stadt hinter sich lassen würden. Sam wollte sie abholen und mit ihr zusammen im Taxi zum Park hinausfahren, wo sie sich mit den anderen treffen würden. „Ziehen Sie sich was Leichtes an", hatte er vorgeschlagen. „Es wird ein heißer Tag werden." Nun blickte er sie anerkennend an, als sie sich in der Hotelhalle trafen. „Veronica. Sie sehen ja wie eine Blume aus, eine wunderschöne gelbe Sonnenblume." Der Vergleich war nicht ganz unpassend. Veronica trug nämlich ein leuchtend gelbes Sommerkleid aus leichter Baumwolle. Es war ihr luftigstes Kleid, und sie trug darunter nur einen Slip. Das Haar hatte sie sich zurückgebunden und mit gelben Spangen geschmückt. Wegen der Hitze trug sie braune Riemchensandalen. Ein dünnes Goldkettchen um den Hals und ein Hauch aprikosenfarbenen Lippenstifts vervollständigten das Bild. Ohne darüber nachzudenken, hatte sie an diesem Morgen wieder nach dieser Farbe gegriffen. Während das Taxi sie nach Xochimilco hinausbrachte, erzählte ihr Sam etwas über die „schwimmenden Gärten", die sie besuchen wollten. „Zur Zeit der Mayas war die Tiefebene von Mexiko ein riesiger See. Es gab nur wenig Land, auf dem man etwas pflanzen konnte. So bauten die Mayas, erfinderisch, wie sie waren, große Flöße und beluden sie mit Erde. Darauf pflanzten sie dann Obst, Gemüse und Blumen." „Das ist ja eine phantastische Idee!" „Genau. Als die Tiefebene später austrocknete, bildeten sich um die Flöße herum richtige kleine Inseln, zahlreiche Kanäle liegen dazwischen. Auf ihnen fahren Boote und Gondeln, die heutzutage über und über mit Blumen geschmückt werden, so daß sie wie schwimmende Gärten aussehen. Das gefällt den Touristen." Veronica war enttäuscht. „Das ist also doch so eine Touristenattraktion." „Das ist es natürlich auch", gab Sam zu. „Viele Besichtigungsfahrten beginnen sonntags mit einem Besuch der Gärten, mittags fährt man dann zu einem Stierkampf. Doch die Touristen bleiben höchstens eine Stunde; dann gehört der Park den mexikanischen Familien." Veronica begriff bald, daß Sam reichlich untertrieben hatte. Auf den Parkplätzen vor den Gärten standen unzählige Tourenbusse, denen Massen von Touristen entstiegen. Sie wurden in Gruppen zu den Anlegestellen der Boote geführt. Dort erhielten die Damen ein Sträußchen roter Blumen, das sie fest in der Hand hielten, während sie in die langen Boote kletterten. Die größeren Kähne erinnerten Veronica an die altmodischen amerikanischen Straßenbahnwagen, in denen man an den Seiten auf langen Bänken sitzen konnte. Wenn das Boot voll war, stieß es der Bootsführer vom Anlegesteg ab und stakte es mit einer Holzstange durch das seichte Wasser. Die Passagiere genossen die Fahrt und machten unzählige Fotos. Der riesige Park war voll mit Menschen. Ganze Familien saßen unter schattigen Bäumen am Ufer und machten Picknick. Viele beschäftigten sich damit, all das, was sie heute brauchten, auf kleine Boote zu laden. Das waren diejenigen, die den ganzen Tag auf dem Wasser verbringen wollten. In ihren kleinen Booten gab es in der Mitte einen Tisch mit Bänken oder hölzernen Klappstühlen. Auf diese Tische luden sie Töpfe, Pfannen, Lebensmittel, Früchte, Wein. Manche hatten sogar einen Grill in ihrem Boot stehen. Musik ertönte aus unzähligen Radios, von KassettenRecordern. Eine Menge junger Leute hatten ihre Gitarre dabei, entweder einzeln oder im Chor wurde dazu kräftig gesungen. Neben diesem musikalischen Durcheinander ertönte Kindergeschrei. Die Bootsführer riefen sich Warnungen zu, während sie ihre Boote in die schmaleren Kanäle steuerten, und die Fremdenführer sorgten lautstark dafür, daß niemand
aus ihren Gruppen verlorenging. Es war ein Höllenlärm, aber Veronica freute sich über das bunte Treiben. „Da sind die anderen", rief Sam plötzlich und streckte den Arm aus. In der angegebenen Richtung entdeckte Veronica Leochan und Isabel. Sie warteten an einer der Anlegestellen. Aber wo war Antonio? Veronicas Hochgefühl bekam einen Dämpfer. Ob er seine Pläne geändert hatte und nicht kam? Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Keiner der anderen erwähnte ihn, und sie war zu stolz, nach ihm zu fragen. Leochan hatte schon ein Boot für sie gemietet, es war ein blumengeschmückter, rot angestrichener Kahn mit dem Namen „Amore". „Wie passend!" rief Sam aus. „Wir werden den ganzen Tag mit ,Liebe' verbringen. Aber müssen wir auch von Luft und Liebe leben, Leochan? Ich hoffe doch, daß du alles mitgebracht hast, was man für ein Festessen braucht." Da brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. Fast hatten sie Mühe, alle Vorräte für das Picknick an Bord zu verstauen. Sam machte Inventur, spähte in Kühltaschen und Körbe und inspizierte die Tabletts auf dem Tisch. „Der Wein ist kaltgestellt, wie ich sehe. Das ist gut. Dann haben wir da noch Gazpacho, Ceviche, Hühnchen, Reis, Mais, Tomaten und Obst. Na, wer sagt's denn! Heute leben wir wie die Mayakönige." „Beherrsch dich, Sam", mahnte ihn Isabel. „Erst mal fahren wir ein bißchen spazieren." Isabel sah heute besonders attraktiv aus. Ihr langes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Sie trug wie Veronica ein schlichtes Sommerkleid, doch es war aus bunt gemustertem indianischem Stoff gefertigt. Einen größeren Gegensatz als die beiden Mädchen konnte man sich kaum denken: die sommersprossige hellhäutige Amerikanerin mit dem rötlichen Haar und den haselnußbraunen Augen auf der einen Seite und das dunkelhäutige Indianermädchen neben ihr. Als der Bootsführer das Boot vom Landesteg abstieß, suchte Veronica vergeblich nach einem Zeichen von Antonio. Er kam nicht zu spät, er kam überhaupt nicht! Doch sie verbot es sich, deswegen enttäuscht zu sein. Das Gelingen dieses Tages hing sicher nicht von der Anwesenheit eines Antonio Ferrara ab. Sie konnte sich auch ohne ihn amüsieren und den Tag genießen. So wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem zu, was um sie herum auf dem Wasser vorging. Außer den Touristen und Familienbooten gab es zahllose kleinere Boote, von denen aus Händler ihre Waren anboten. Sie verkauften alles, Bekleidung, Getränke, Lebensmittel. Geschickt steuerten sie um die größeren Boote herum und legten bei ihnen an, um ihre Waren vorzuzeigen oder mit einem potentiellen Käufer zu handeln. Es gab sogar Boote mit MariachiMusikern, die sich in ihren bunten Trachten durch die Kanäle staken ließen und dabei musizierten. „Das ist ja einmalig", sagte Veronica begeistert. Mittlerweile waren sie an der dritten MariachiKapelle vorbeigekommen. „Spielen sie den ganzen Tag einfach so — zum Vergnügen?" „Das nun wieder nicht", antwortete Isabel trocken. „Man muß sie mieten." Veronica war überrascht. „Aber sie haben doch ihr eigenes Boot?" „Sehen Sie genauer hin", rief ihr Leochan zu. „Dann können Sie sehen, daß die Musiker mal von diesem, mal von jenem Boot gerufen werden. Für einen bestimmten Preis spielen sie dann ein oder zwei, manchmal auch mehrere Lieder." „Die Mariachis sind also nur wegen der Touristen hier", seufzte Veronica. „Schade!"
„Das ist nicht ganz richtig. Die Mariachikapellen gehören zum mexikanischen Alltag. Man mietet sie zu allen möglichen Gelegenheiten", belehrte Sam sie. „Zum Beispiel läßt man seiner Angebeteten Ständchen bringen. Vor ein paar Jahren hatte ich die kleine Wohnung in meinem Haus an eine sehr schöne junge Witwe untervermietet. In jenem Sommer habe ich nicht viel Schlaf gefunden, dafür aber viele beliebte Liebeslieder kennengelernt." Leochan lächelte über Veronicas entzückten Gesichtsausdruck, die das höchst romantisch fand. „Was ist daran romantisch, wenn man um drei Uhr nachts von schrillen Instrumenten unter dem Schlafzimmerfenster geweckt wird und um sechs Uhr wieder aufstehen muß?" schüttelte Isabel den Kopf. „Das findet man dann kaum noch entzückend." So, so, irgend jemand hat ihr auch einmal so ein Ständchen gebracht, stellte Veronica bei sich fest. Wer war das wohl? Ob Antonio für so etwas Sinn hatte? Eigentlich war er nicht der Typ. Aber da konnte man sich täuschen. Gerade jetzt näherten sie sich wieder einem Boot mit Musikanten. Es waren sieben Männer, die alle, bis auf einen, breitrandige Strohhüte auf dem Kopf und bunte Dreieckstücher über den Schultern trugen. Der Mann ohne Tracht hielt eine Gitarre in der Hand. Das Boot mit den Musikern kam immer näher, bis es zum Schluß neben ihrem anlegte. Dann sprang der Mann mit der Gitarre leichtfüßig in ihr Boot herein. Veronica sah ihn verblüfft an. Es war niemand anders als Antonio Ferrara. Er freute sich sichtlich über die gelungene Überraschung. „Ein Lied für die Señorita?" fragte er spöttisch und sah ihr tief in die Augen. Leo, Isabel und Sam begrüßten den Neuankömmling ohne eine Spur von Verwunderung. Anscheinend hatten sie gewußt, daß er auf diese Weise zu ihnen stoßen würde. Veronica lächelte ein wenig gezwungen. Seine Nähe verwirrte sie. „Antonio, spiel ,La Perdita' für uns. Das klingt so schön traurig und lieblich", bat Leochan ihn. Bereitwillig ließ er sich Veronica gegenüber nieder und begann, eine seltsam fremdartige Melodie auf der Gitarre zu spielen. Die MariachiMusiker im Boot nebenan fielen mit ein. Dann begann einer von ihnen leise zu singen. Die wehmütigen Klänge des fremden Liedes rührten Veronica seltsam an. Als sie geendet hatten, erklärte ihr Leochan, daß dieses Lied eine indianische Ballade sei, in der ein Liebender sein Leid klage, weil seine Geliebte ihn verlassen habe. Doch an einem so sonnigen Tag hielt die traurige Stimmung nicht lange vor. Eine sorglose Fröhlichkeit ergriff von ihnen Besitz. Ihr Boot schwenkte von einem der schmalen Wasserwege in den nächsten und blieb manchmal in einem Stau stecken, wenn es Gegenverkehr gab. Das war nicht gefährlich. Mit großem Hallo schob und zwängte man sich aneinander vorbei. Dabei wurde viel gelacht und erzählt. Es fiel Veronica auf, das Leochan und Antonio häufig aus den anderen Booten gegrüßt wurden. Ob Antonio oft hierher kam? Irgendwie paßte das nicht in das Bild, daß sie sich von ihm als einem arroganten und unbeugsamen Mann gemacht hatte. Aber sie ließ sich gern eines Besseren belehren. Antonio war heute so entspannt wie schon seit langem nicht mehr. Sie mußte an das gemeinsame Schwimmen in Cancun denken. Dort hatte sie ihn schon einmal so erlebt. Inzwischen war es schwülheiß geworden. Wie die anderen Männer zog auch Antonio das Hemd aus. Nun saß er ihr mit bloßem Oberkörper gegenüber, und die Erinnerung daran überfiel sie, wie er sie in den Armen gehalten hatte. Nur mit Mühe konnte sie den Blick von ihm abwenden und diese Gedanken verdrängen.
„Laßt uns endlich essen", schlug Sam am frühen Nachmittag vor und fand damit allgemeine Zustimmung. Alle halfen mit, den Tisch zu decken. Isabel spielte dann die Gastgeberin. Mißbilligend beobachtete Veronica sie. Wieso bekam Antonio immer als erster angeboten? Sie las ihm seine Wünsche ja geradezu von den Augen ab! Konnte sie sich nicht etwas mehr um Sam kümmern? Der bot ihr im Namen aller das Du an, worauf sie gern einging. Fröhlich tafelten sie weiter. Als Antonio sah, daß Veronica freiwillig Ceviche aß, rohen Fisch in Marinade, lächelte er beifällig. „Wie ich sehe, entwickelst du Sinn für unser mexikanisches Essen, Veronica. Ein gutes Zeichen! Vielleicht kommst du allmählich auch bei anderen Dingen auf den Geschmack?" „Vielleicht", erwiderte Veronica spöttisch. „Doch manche Dinge sind eben schwerer zu schlucken als andere." „Das hängt ganz von der Zubereitung ab. Wer weiß, was für Vorlieben du noch entwickelst." Antonios Augen funkelten. Er schien solche Zweideutigkeiten zu genießen. Wenn er so aufgeräumt war wie jetzt, fand Veronica ihn unwiderstehlich. Genauso anzüglich wie er antwortete sie: „Ich bin nicht an die scharfen Gewürze gewöhnt. Aber das lerne ich schon noch." „Ist dies ein privates Gespräch, oder darf man mitmachen?" mischte sich Sam interessiert ein und blickte dabei wohlwollend von einem zum anderen. Sie hatten nichts dagegen und bald drehte sich das Gespräch um andere Themen. Der Bootsführer hatte das Boot inzwischen an eine einsame Anlegestelle gesteuert, dort zurrte er es fest und streckte sich auf dem Deck aus. „Das ist eine phantastische Idee, wir halten auch Siesta", rief Sam. Die ausgedehnte Mahlzeit hatte sie alle schläfrig gemacht. Unter viel Gelächter räumte man Tisch und Stühle beiseite und streckte sich, so gut es ging, aus. Taschen, Hemden und Schuhe mußten dabei als Kopfkissen herhalten. „Hier, das ist doch viel schöner", hörte Veronica jemand sagen, als sie schon halb eingeschlafen war. Der Jemand zerrte an ihr, und gleich darauf lag sie ganz weich und bequem. Erst als sie wach wurde, merkte sie, daß ihr Kopf in Antonios Schoß ruhte. Er selbst war hellwach und blickte sie vergnügt an. Sie schämte sich entsetzlich. Wie lange er sie wohl schon betrachtete? „Hast du denn gar nicht geschlafen?" fragte sie und rieb sich die Augen. „Doch, ein bißchen." „Ich schätze, mein Kopf war dir dabei im Weg." Nervös strich sie sich über das Haar. „Da ist dir sicher noch heißer geworden." Antonio grinste unverschämt. „Da hast du völlig recht." Sam hatte die beiden beobachtet und hielt es für nötig, seinen Senf dazuzugeben. „Antonio, sie wird ja ganz rot!" Dann wandte er sich an Veronica. „Um Antonios Wohlergehen brauchst du dich nicht zu sorgen. Unser berühmter Chef tut nichts, was er nicht tun will." Im weiteren Tagesverlauf gingen Veronica Sams Worte nicht aus dem Kopf. Die Schatten wurden gegen Abend immer länger, und die Sonne färbte beim Untergehen den Himmel leuchtend rot. Viele Boote waren schon auf dem Heimweg zu ihren Anlegestellen. „Es ist spät geworden", seufzte Isabel. Ihr Vater wies den Bootsführer an, umzukehren. Veronica war traurig, daß dieser schöne Tag so schnell vorbeigegangen war. Während sie die Picknicktaschen und körbe entluden, wurde ihre Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Menschen gelenkt, die sich auf einer Lichtung versammelt hatten und dort tanzten. Musik und Gelächter klang zu
ihnen herüber.
„Kommt, wir schauen beim Tanzen zu", schlug Sam vor. „Es ist noch viel zu heiß,
um schon in die Stadt zurückzufahren."
Veronica war für diesen Vorschlag dankbar. Sie freute sich darüber, noch etwas
länger mit Antonio Zusammensein zu können.
Gleich darauf schlossen sie sich der Menge an. Die Musik kam vom Kassetten
Recorder. Es gab für jeden Geschmack etwas: Lieder, Volkstänze,
lateinamerikanischen Beat, Samba und sogar mexikanische Discomusik. Die
Tanzenden bewegten sich zwanglos zu den Rhythmen. Es machte Veronica Spaß,
sie dabei zu beobachten. Ihr Tanzen verriet reine Freude an der Bewegung.
„Los, los! Hier muß jeder mitmachen!" behauptete Sam, packte Veronica am Arm
und zog sie unter viel Gelächter auf die Tanzfläche. Dort begann er, mit Schwung
und Eleganz einen lateinamerikanischen Tanz zu improvisieren. Veronica warf
alle Schüchternheit von sich und versuchte mitzuhalten.
„Die machen bestimmt Augen, weil sie uns New Yorker hier tanzen sehen",
keuchte Sam, während er sich zu den heißen Rhythmen drehte. Doch schon
wurde etwas anderes gespielt. Es folgte ein langsames Volkslied. Leochan nutzte
die Gelegenheit und zog Veronica aus Sams Armen fort. Der blieb verblüfft
stehen und holte sich dann Isabel als Partnerin.
„Mach es wie ich", empfahl Leochan Veronica. Obwohl er sonst, beim Gehen,
einen Stock benutzte, bewegte er sich jetzt zur Musik sicher und würdevoll.
Angestrengt versuchte Veronica, sich seinem Schritt anzupassen.
„Hör auf zu zählen", riet Leochan ihr. „Folge einfach der Melodie. Laß sie zu
deinem Herzen und deinem Körper sprechen."
Bald schon nahm der Zauber der Musik sie gefangen. Leichtfüßig bewegte sie
sich zu dem Rhythmus. Daß der Tanz schon so bald vorbei war, gefiel ihr gar
nicht.
Sie gingen alle vier zu den Zuschauern zurück, wo Antonio still und einsam auf
sie wartete. Veronica spürte, daß er sie ansah, zögerte aber, seinen Blick zu
erwidern. Was mochte er von ihr denken? Machte er sich womöglich über sie
lustig? Das wollte sie dann lieber nicht wissen.
Jetzt erklang romantische Musik. Liebespaare begannen, sich eng
aneinandergeschmiegt im Tanz zu wiegen. Veronica sah, daß Sam sich
erwartungsvoll nach ihr umdrehte, doch Antonio kam ihm zuvor.
Ohne sie zu fragen, zog er Veronica an sich. Widerstand war sowieso zwecklos,
aber danach stand ihr der Sinn auch gar nicht.
Langsam bewegten sie sich wie die anderen Paare zur Musik. Antonio drückte sie
gegen seine nackte Brust, und der dünne Stoff ihres Kleides klebte an ihrer Haut.
„Es sah hübsch aus, wie du vorhin mit Leochan getanzt hast", flüsterte er in ihr
Haar.
„Leochan sagte mir, ich solle nur der Musik folgen. Sie würde mich schon richtig
führen", antwortete sie aufgeregt.
Antonio drückte sie noch fester an sich, und das war ganz in Veronicas Sinn.
Dann ließ er ihre Hand los und legte beide Arme um sie. „Jetzt folgen wir beide
ihr mit allen Sinnen, nicht wahr?"
Veronica nickte stumm, denn sie fürchtete, daß ihre Stimme sie verraten würde.
Sinnlich und langsam bewegten sie sich zu den Klängen. Immer weiter fort von
den Tanzenden drängte Antonio sie, bis sie ans andere Ende der Lichtung
gelangten. Unter den dunklen Bäumen blieb er mit ihr stehen. Seine Umarmung
wurde noch fester, sein Blick forderte ihre Antwort.
Langsam hob sie ihm das Gesicht entgegen. Sie sah das Verlangen in seinen
Augen. Dann beugte er sich über sie, und sein Mund suchte den ihren. Sie bog
sich ihm entgegen, ihre Lippen antworteten ihm voller Leidenschaft.
An ihrem Mund flüsterte er fragend: „Ja?"
„O ja", antwortete sie. Es gab, was Antonio betraf, keine andere Antwort für sie.
„Antonio!" Das war Isabel. Wieder einmal störte sie. „Wir müssen gehen."
Widerwillig ließ er Veronica los. Schockiert ging sie neben ihm her und versuchte,
ihre Gedanken zu ordnen. Dies war nun das zweite Mal, daß die junge Frau in
ihre Zweisamkeit eindrang und sie in die Realität zurückholte. Sie spürt offenbar,
daß ihre Ansprüche auf ihn gefährdet sind, dachte Veronica bitter. Aber sie würde
sich an Isabels Stelle wohl auch nicht anders verhalten und um Antonio kämpfen.
6. KAPITEL Isabel und ihr Vater waren im eigenen Wagen nach Xochimilco gekommen.
Leochan bot Veronica und Sam an, sie nach Hause mitzunehmen, doch Antonio
mischte sich ein.
„Das ist nicht nötig", meinte er. „Es ist ja ein ziemlicher Umweg für euch. Ich
werde die beiden mitnehmen."
Veronica freute sich. So war der Abschied von Antonio noch einmal
hinausgeschoben. Für die kurze Fahrt — sie würde eine halbe Stunde dauern —
zwängten sie sich zu dritt auf die Vordersitze.
Sam hielt wie gewöhnlich die Unterhaltung in Gang. Er redete über dies und das,
zeigte Veronica das Universitätsgelände und das OlympiaStadion und stellte
unzählige Fragen. Antonio war nicht sehr gesprächig, so wandte Sam seine ganze
Aufmerksamkeit Veronica zu. Doch es fiel ihr schwer, sich auf ihn zu
konzentrieren, denn sie spürte unablässig Antonios Schenkel an ihrem, da sie
zwischen den beiden Männern saß.
Als sie MexicoCity erreicht hatten, bat Sam Antonio, am Fiesta Palace Hotel zu
halten. „Ein paar Freunde aus New York machen hier gerade Urlaub. Ich habe
ihnen versprochen, hereinzuschauen und etwas mit ihnen zu trinken. Habt ihr
beide vielleicht Lust mitzukommen?"
Antonio lehnte auch in ihrem Namen ab. Aus Prinzip wollte Veronica eigentlich
widersprechen, denn sie konnte schließlich für sich selbst entscheiden.
Andererseits hatte sie heute wirklich keine Lust, Sams Freunde kennenzulernen.
Also schwieg sie lieber. Sam sagte gute Nacht, und sie fuhren weiter zur Rosa
Zone.
Hier waren die Straßen wie immer voll von Menschen. Als Veronica eine
Bemerkung darüber machte, erinnerte Antonio sie daran, daß es noch nicht
einmal zehn Uhr war. „Hier fängt die Nacht erst an — so wie für uns beide."
„Warte am Aufzug", befahl er ihr, als sie die Empfangshalle betraten. Dann ging
er, ihren Zimmerschlüssel zu holen, kehrte zurück, ließ den Aufzug kommen und
fuhr mit ihr zu ihrem Zimmer hinauf. Wieder hatte er die Führung übernommen.
Ihre Gedanken eilten zurück zu einem ähnlichen Erlebnis, und ihr Herz klopfte
wild.
Er hielt immer noch den Schlüssel in der Hand, als sie ihr Zimmer erreichten, so
daß es nur natürlich war, daß er die Tür öffnete. Doch dann streckte sie ihm die
Hand entgegen und sagte: „Gute Nacht, Antonio, und vielen Dank..."
Er ignorierte den zarten Hinweis, den sie ihm auf diese Weise gab, ergriff
entschlossen ihre ausgestreckte Hand, zog sie ins Zimmer und schloß die Tür
hinter sich.
„Heute werden wir nicht von Isabel gestört werden", sagte er mit rauher Stimme.
„Als ich dich vorhin beim Tanzen fragte, ob du willst, hast du Ja' gesagt. Warum
also jetzt die falsche Scham?"
„Du hast mich gefragt? Aber damit meinte ich doch nicht... ich weiß nicht
mehr..."
„Nun, dann müssen wir die Situation rekonstruieren", entgegnete er kurz.
„Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge." Er packte ihr
Handgelenk so fest, daß es ihr weh tat.
„Unter den Bäumen war es dunkel", begann er und löschte das Licht.
„Wir tanzen eng aneinandergeschmiegt." Er zog sie gegen ihren Widerstand fest
an sich.
„Sehr eng", murmelte er. Sie sträubte sich, aber das beachtete er nicht.
„Allerdings warst du äußerst nachgiebig."
„Einer von uns beiden war oben herum nackt. Vorhin war ich es, jetzt bist du dran." Geschickt streifte er die Träger ihres Kleider herunter und entblößte so ihren Busen. Dann legte er die Hände auf ihre vollen, runden Brüste, deren Spitzen sich bei der Berührung aufrichteten und hart wurden. Als er sich hinabbeugte, um mit dem Mund den Händen zu folgen, gab Veronica jeden Widerstand auf. Sie wollte ihn gewähren lassen, seinen Mund auf ihren Brüsten, seine Hände, seinen Körper auf dem ihren spüren. Schon als seine Lippen ihre Brust berührten, fühlte sie, wie ihre Knie nachgaben. Antonio hob sie auf die Arme und trug sie zum Bett. Sie fühlte sich wie betäubt, alle ihre Sinne vibrierten vor Erwartung. Aber da klingelte das Telefon. Schrill und laut durchbrach es die Stille. „Nimm nicht ab", bat Antonio. Unschlüssig blickte sie den Apparat an. Das erneute Klingeln brachte sie dann schlagartig auf den Boden der Realität zurück. Was war eigentlich in sie gefahren? Entsetzt rollte sie sich auf die andere Seite des Bettes; stand auf und nahm den Hörer ab. Ihre Stimme klang noch ein wenig zittrig. Eduardo meldete sich am anderen Ende der Leitung. Vorwurf voll meinte er: „Wo warst du denn? Seit dem Nachmittag versuche ich laufend, dich zu erreichen. Hast du etwa unsere Verabredung vergessen, Veronica?" Die war ihr tatsächlich völlig entfallen. Aber wie sollte sie auch an etwas anderes denken, wenn Antonio in ihrer Nähe war? „O Eduardo, das tut mir leid", stammelte sie. „Ich bin aufgehalten worden, und jetzt ist es schon zu spät. Vielleicht sollten wir es lieber verschieben? Also gut, aber nur ein leichtes Essen. Gib mir zehn Minuten, dann bin ich bei dir. Nein, komm nicht herauf. Ich komm' gleich herunter." Sie legte auf und drehte sich zu Antonio um. Er wirkte auf den ersten Blick völlig beherrscht, aber das täuschte. Nur mit Mühe bewahrte er Fassung. „So. Du wurdest leider aufgehalten. Das ist ja hochinteressant! Hat er deine Entschuldigung angenommen? Muß ganz schön anstrengend sein, zwei Männer an der Nase herumzuführen! Darf ich dir einen Rat geben, meine Liebe? Du solltest deine Rendezvous' nächstens zeitlich etwas besser abstimmen." „Du tust mir unrecht. Was wirfst du mir eigentlich vor?" „Das weiß ich mittlerweile auch nicht mehr." Traurig sah er sie an. „Offensichtlich bändelst du wahllos mit allen möglichen Männern an. Aber was geht es mich an, nicht wahr? Hauptsache, ich bekomme, was mir zusteht." Veronica sah ihn verstört an, das besänftigte ihn offenbar etwas, denn er fügte etwas weicher hinzu: „Schade, daß ich dir trotz allem nicht richtig böse sein kann. Schön siehst du aus, wie du so verlegen dastehst in deiner Blöße." Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, daß sie halbnackt vor ihm stand. Hastig zog sie die Träger ihres Kleides über die Schultern, um sich zu bedecken. Bissig meinte er: „Zu dumm, daß du in zehn Minuten schon bei deinem nächsten Liebhaber sein mußt. Das reicht nicht. Ich bin zwar schnell, aber nicht so schnell." Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Leise schloß er die Tür dabei hinter sich. Veronica wünschte, er hätte sie zugeknallt. Seine Kälte und Verachtung waren schlimmer zu ertragen als sein Zorn. Sie wollte ihn zurückrufen, brachte es aber nicht über sich. Jetzt auszugehen, das war das letzte, wonach ihr der Sinn stand. Doch Eduardo wartete unten auf sie, und er konnte ja schließlich nichts dafür, daß Antonio auf sie böse war. Vielleicht half es, wenn sie duschte? Dann kam sie bestimmt auf andere Gedanken und ihr Kopf wurde klarer. Entschlossen ging sie ins Badezimmer hinüber und stellte sich dort unter die
Brause. Eiskaltes Wasser ergoß sich gleich darauf über sie. Als sie zu frieren begann, rieb sie sich schnell mit einem der Handtücher ab. Achtlos zerrte sie dann ein Kleid aus dem Schrank und zog es schnell an. In aller Eile und merkwürdig unbeteiligt machte sie sich fertig. Eduardo begrüßte sie wenige Minuten später überschwenglich. Es wirkte auf sie wie reinste Ironie: „Veronica, wie hübsch du aussiehst! Du glühst so und wirkst fast wild." Ihre Haut schimmerte noch rosig vom Trockenreiben, und das feuchte, nur flüchtig gekämmte Haar hing ihr in widerspenstigen Locken ins Gesicht. „Sei nicht albern", sagte sie kurz angebunden. „Was du hier vor dir siehst, ist kein wildes, sondern nur ein müdes Geschöpf." Aber weil sein Gesicht vor Enttäuschung lang wurde, taten ihr die scharfen Worte leid, kaum, daß sie heraus waren. Schließlich konnte er nichts für ihre schwierige Situation. Sie beschloß, besonders nett zu ihm zu sein. Trotz Veronicas guter Vorsätze wurde der Abend kein Erfolg. Eduardo lud sie wieder in ein hoch oben in einem Hochhaus gelegenes Restaurant ein, von dem aus man einen großartigen Blick über die Stadt hatte. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre sie beeindruckt gewesen, doch am heutigen Abend bedeutete ihr die Schönheit der hellerleuchteten Stadt nichts. Veronica hatte auch keinen richtigen Appetit. Das fröhliche Picknick ging ihr nicht aus dem Kopf. Als Eduardo sie zum Tanzen aufforderte, bewegte sie sich rein mechanisch im Takt der Musik. Natürlich mußte sie unablässig an den Tanz mit Antonio denken. War das wirklich auch erst heute gewesen? Offenbar ahnte Eduardo nichts von diesen Gedanken. Er schien vollauf zufrieden, daß sie bei ihm war und ihm zuhörte. Er ist ein richtiges Glückskind, dachte Veronica bitter: sieht nur, was er sehen will, und kann anscheinend das, was weh tut, schnell aus dem Gedächtnis streichen. Später, als sie sich schlaflos im Bett wälzte, dachte sie wieder mit Neid an Eduardos Seelenruhe. Wieso konnte sie die Erinnerung an Antonio nur nicht abschütteln? Dreimal waren sie sich nun schon so nahe gewesen, hatte sie Verlangen nach ihm gespürt. Schon bei diesem Gedanken überlief es sie heiß. Würde sie denn nie mehr zur Ruhe kommen? An den nächsten beiden Tagen widmete sie sich ganz ihrer Arbeit. Die war inzwischen schwieriger geworden. Sie mußte jetzt alte Schriftzeichen kopieren, eine Bilderschrift, die auf einigen kleineren Reliefs entdeckt worden war. Manche Linien waren durch das Alter des Steines kaum noch zu erkennen. Man mußte sehr exakt arbeiten, damit die Schriftexperten die Zeichen zu deuten versuchen konnten. Ein riesiges Vergrößerungsglas half Veronica bei dieser komplizierten Tätigkeit. „He, mach mal Pause", mahnte Sam, als der Dienstagnachmittag zu Ende ging. „Das ist eine sehr schwierige Arbeit, und du hast seit heute mittag kaum den Kopf gehoben. Willst du etwa den Chef beeindrucken? Der kriegt das gar nicht mit." Antonio war gestern und heute kaum im Museum gewesen. „Das habe ich zum Glück nicht nötig", erwiderte Veronica schnippisch, „ich tue nur meine Arbeit." „Da geht es dir wie uns", antwortete Sam ruhig. „Aber du arbeitest so verbissen. Stimmt irgendwas nicht, Veronica?" „Nein, alles ist bestens." Doch Sam sah nicht überzeugt aus. Um das Thema zu wechseln, deutete Veronica auf die kleine Tonfigur, die er gerade studierte. „Was für eine Figur ist das, Sam? Wofür sind diese kleinen Löcher?"
Die Figur war ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lang, sie besaß einen reich
verzierten Kopfputz und eine Reihe von Löchern am Körper.
„Damit werde ich dir mal den Marsch blasen, meine Liebe", erwiderte Sam
scherzhaft.
Er setzte die Figur mit dem Kopf an die Lippen und entlockte ihr ein paar Töne.
Veronica mußte lachen.
„Wir haben viele solcher Figuren gefunden. Sie sind innen hohl, so daß man
darauf spielen kann", erklärte Sam. „Wahrscheinlich wurden sie zu bestimmten
Zeremonien gebraucht. Aber wenn du meine Meinung hören willst: die jungen
Männer benutzten sie, um damit den Mädchen hinterherzupfeifen."
„Aber Sam!" lachte sie, dankbar, mal einen Grund dazu zu haben. Aber von der
Arbeit würde sie sich von ihm nicht abhalten lassen.
„Ich muß erst noch mit dieser Serie fertigwerden", meinte sie bestimmt.
„Vielleicht will Isabel morgen daran weiterarbeiten."
Auch Isabel war den ganzen Tag nicht dagewesen. Veronica fragte sich, ob sie
und Antonio... Sam sah sie neugierig an, als könne er ihre Gedanken erraten.
„Isabel wird wahrscheinlich nicht mehr dazu kommen, Veronica. Antonio und sie
sind mit den Vorbereitungen für die Geländearbeit beschäftigt. Es sieht so aus,
als würden wir hier bald aufhören. Das erinnert mich an was: Ich habe genug für
heute." Entschlossen stand er auf. „Eigentlich bin ich ja immer gegen Arbeitswut.
Aber wer weiß, vielleicht ist dein Arbeitseifer doch ansteckend? Rette sich, wer
kann, sagt mein Hausarzt immer. Also, auf Wiedersehen."
Als Sam gegangen war, kehrte Veronica an ihre Arbeit zurück. Sie merkte nicht,
wie die Stunden vergingen, bis auf einmal jemand die Tür zur Werkstatt öffnete.
„Was machst du denn noch hier?" Antonio stand in der Tür und blickte finster zur
ihr herüber.
„Ich arbeite." Was dachte er denn, was sie hier tat?
Ungläubig kam er zu ihr. „Weißt du nicht, daß es schon nach sieben ist?"
„Ich wollte erst das hier zu Ende bringen." Sie legte den Bleistift aus der Hand
und stand auf. „Reg dich bloß nicht auf. Ich berechne keine Überstunden."
Er brach in herzhaftes Lachen aus. „Das beruhigt mich ungemein. Heule mal
keine Verabredung, he? Lobenswert, mit welcher Hingabe du dich der Arbeit
widmest. Aber verausgabe dich lieber nicht zu sehr. Am Donnerstag fangen wir
mit der Arbeit im Gelände an."
„Diesen Donnerstag?"
„Natürlich! Was ist los? Hast du dadurch Terminschwierigkeiten?"
„Kümmer dich um deine Angelegenheiten." Sie richtete sich auf. „Ich kann
jederzeit mit euch abreisen. Wohin fahren wir?"
„Zuerst nach Merida, dann nach Chichén Itzá, wo wir mit der Arbeit im Gelände
anfangen werden."
„Chichén Itzá", wiederholte Veronica aufgeregt. Man sah ihr die Vorfreude an.
Dennoch betrachtete Antonio sie argwöhnisch.
„Wir werden ein paar Tage in Merida bleiben. Dort muß ich einige geschäftliche
Dinge regeln. Ihr habt dadurch ein paar freie Tage. Merida ist eine hübsche
Stadt. Leochans und Isabels Familie leben dort." Dann blickte er sie scharf an.
„Ich glaube, Eduardo LopezPerreira besitzt dort ein Haus, oder war es sein
Onkel?"
Veronica blickte ihn stolz an. „Ja und?"
„Das bietet dir die Möglichkeit, eure Beziehung noch ein wenig zu vertiefen. Das
wäre alles. Freust du dich etwa nicht darüber?"
„Du machst mich überaus glücklich, Antonio! Darf ich dir einen bescheidenen Rat
geben? Denk nächstes Mal ein bißchen nach, ehe du voreilige Schlüsse ziehst."
„Willst du damit sagen, daß es dir egal ist, ob du Eduardo wiedersiehst?" Er blickte sie forschend an. „Nein... das heißt, ja. Eigentlich will ich damit nur sagen, daß ich privat das tue, was ich möchte. Was du darüber denkst, ist deine Sache." „Wie ich sehe, willst du mir beweisen, wie unabhängig du bist. Vergiß dabei aber bitte nicht, daß ich immer noch dein Vorgesetzter bin." „Aber deine Macht hat Grenzen. Über meine Arbeit kannst du bestimmen, aber nicht über mich." „Also gut", antwortete er kalt, „wenigstens erkennst du das an. Reden wir also über die Arbeit. Diese Zeichnungen sollten tatsächlich fertig werden. Ich lasse uns etwas zu essen bringen. Bis zehn Uhr müßtest du es eigentlich schaffen." Veronica war sprachlos. Dann sagte sie spitz: „Aber ich soll mich doch nicht verausgaben, bevor wir ins Gelände gehen?" „Ich habe es mir anders überlegt. Wenn du deine Energie auf Eduardo verschwendest, kann ich genausogut meinen Nutzen daraus ziehen." Veronica war blaß geworden. Sie war drauf und dran, ihn stehenzulassen und nach Hause zu gehen. Aber vielleicht war es dies, was er wollte? Suchte er nach einem Vorwand, um sie zu entlassen? Nun, sie würde es ihm schon zeigen! Sollte er ruhig versuchen, ihr Arbeit aufzuhalsen! „Wie du willst, dann bleibe ich eben. Du erlaubst doch, daß ich kurz telefoniere?" Sie mußte Eduardo anrufen, um ihm abzusagen. Sie hatten sich um acht Uhr zum Abendessen verabredet. Antonio machte eine einladende Handbewegung in Richtung Telefon, und Veronica wählte verlegen Eduardos Nummer. Antonio machte es sich derweil auf einer Ecke des Tisches bequem und beobachtete sie interessiert. „Möchtest du noch etwas näher kommen? Dann kannst du beide Teile des Gesprächs hören", schlug sie ironisch vor. Er ließ sich davon nicht beeindrucken. „Nein, danke. Mir reicht es so. Ich kann mir durchaus vorstellen, wie enttäuscht Sefior Eduardos Stimme klingen wird, wenn du ihm absagst." Eduardo nahm in diesem Moment den Hörer ab. Er war tatsächlich enttäuscht und wollte ihre Entschuldigung gar nicht recht glauben. Doch Veronica ließ sich auf keine Diskussion ein. Sie merkte, daß seine Fragen und seine Anteilnahme sie immer ärgerlicher machten. Warum legte er nicht endlich auf? „Aber mir geht's wirklich gut. Ich sagte doch...", verlegen wich sie Antonios Blick aus. „Ich bin natürlich allein, warum fragen sie mich aus... aber jetzt muß ich weitermachen, Eduardo. Bis morgen. Tschüs." Schweigend setzte Veronica sich wieder an ihren Platz. Sie konnte sich schon denken, welche Frage jetzt kam. „Warum hast du gelogen, Veronica?" wollte Antonio wissen. „Warum hast du gesagt, du seist allein?" „Warum schon!" erwiderte sie wütend. „Ich schulde weder ihm noch dir Rechenschaft über das, was ich tue. Du darfst mir ein Sandwich bestellen, irgend etwas muß ich jetzt essen. Ich bin nämlich hungrig, Chef. Dann werde ich pflichtgemäß meine Arbeit tun." Antonio schwieg. Er hielt es offensichtlich für klüger, sie nicht noch mehr herauszufordern. Dann rief er im Restaurant an und bestellte Sandwiches und Kaffee für sie beide. Offenbar wollte er ihr Gesellschaft leisten. Veronica beugte sich über ihre Zeichnung und kümmerte sich nicht um ihn. Als die bestellten Dinge endlich gebracht wurden, nahm Antonio einen der Teller und verschwand damit ohne Abschied in seinem Büro. Veronica arbeitete weiter, während sie aß, hatte aber plötzlich keinen rechten Appetit mehr. Wenn er bei ihr
war, machte er sie nervös, wenn er ging, gefiel ihr das noch weniger.
Kurz vor zehn Uhr vollendete sie die letzte Zeichnung. Müde trank sie den Rest
des Kaffees, der inzwischen kalt geworden war, und packte ihre Sachen
zusammen. Von Antonio hatte sie seit zwei Stunden nichts gesehen. War er etwa
gegangen, ohne ein Wort zu sagen? Beklommen ging sie hinaus auf den Flur. Die
Tür zu seinem Büro stand offen, und die Schreibtischlampe brannte, aber er war
nicht da.
Plötzlich berührte jemand ihren Arm, und sie schrie vor Schreck auf. Dann wurde
sie an den Schultern gepackt und mit Schwung herumgedreht. Es war Antonio,
und sie seufzte vor Erleichterung. „Hast du mich erschreckt!" beschwerte sie
sich. „Ich habe dich gar nicht kommen hören. Gerade suche ich dich."
„Hast du mich etwa gebraucht?" fragte er bedeutungsvoll.
„Nein, natürlich nicht", beteuerte sie. „Ich wollte nur gute Nacht sagen." Sie
wandte sich zum Gehen.
„Gibt's heute keinen Gutenachtkuß?" fragte er und zog sie, ohne ihre Antwort
abzuwarten, an sich.
Sein Kuß war ohne jede Zärtlichkeit, und Veronica stieß ihn wütend von sich.
„Wer gibt dir das Recht?" fauchte sie ihn an.
„Spiel nur nicht die Beleidigte", sagt er kalt. „Sieh's als Bestandteil deiner Arbeit
an."
„Als Teil meiner Arbeit...?" Sie wollte ihren Ohren nicht trauen.
„Ich verstehe nicht, warum du dich so anstellst", wunderte Antonio sich. „Du bist
doch sonst auch nicht kleinlich, wenn's um Gunstbeweise geht. Warum soll
immer nur Eduardo das Vergnügen haben?"
„Du hast überhaupt kein Gefühl", warf sie ihm vor.
„Wie soll man eine Frau behandeln, die nur mit der Liebe spielt? Ich küsse dich
gern, auch wenn du mich nicht liebst. Denn ich finde dich sehr begehrenswert.
Schade, daß die Treue nicht zu deinen Tugenden zählt. Aber damit werde ich
mich abfinden müssen. Ich gebe mich mit dem zufrieden, was ich bekommen
kann."
„Du bist ein Zyniker."
„Ich bin Realist."
„Und ich verachte dich." So dachte er also über sie! Gut, daß sie das noch
rechtzeitig herausgefunden hatte. „Denkst du, ich gebe mich für dich als
Sexobjekt her?" stieß sie empört hervor.
„Erspar mir diese Emanzensprüche", antwortete er und winkte müde ab.
Ärgerlich entwand sie sich seinem Griff. „Hör zu, was ich dir mitzuteilen habe:
Unsere Beziehung bleibt ab jetzt auf der beruflichen Ebene. Merk dir das
gefälligst."
Antonio lehnte sich gegen die Wand und zog ironisch die Augenbrauen hoch.
„Wie feurig du sein kannst! Toll! Temperamentvolle Frauen gefallen mir. Aber
meinst du das mit der beruflichen Ebene tatsächlich ernst? Du hast da, wenn ich
mich recht erinnere, auch schon ganz anders gedacht, meine liebe Veronica. Muß
ich deinem Gedächtnis erst nachhelfen? Im übrigen solltest du mal in ein
Psychologiebuch reinschauen. Dort stehen interessante Dinge. Schon mal was
von Körpersprache gehört? Die verrät, was ein Mensch wirklich will, auch, wenn
er es nicht zugibt."
Er ließ ihr keine Zeit zum Widerspruch, sondern fuhr in bestimmtem Ton fort:
„Du weißt, daß ich hier zu bestimmen habe, Veronica. Du gehörst zu meinem
Team, und ich trage die Verantwortung für alles, was geschieht. Übermorgen
werden wir zu den Ausgrabungsstätten abreisen. Wenn du mitkommen willst,
muß du meine Anweisungen befolgen."
Jetzt war der Moment gekommen, an dem sie die ganze Sache hinwerfen konnte.
Aber sie brachte es nicht über sich.
„Nur, was die Arbeit betrifft."
Antonio lächelte geheimnisvoll. „Wir werden es ja sehen. Laß dir aber sagen, daß
bei den Mayas die Frau ein gehorsames Wesen ist. Die schönen Jungfrauen ließen
sich sogar willig den Göttern opfern."
„Ich bin keine Frau, die sich opfern lassen würde", erklärte Veronica mit
Nachdruck.
Nachdem sie gemeinsam mit Antonio das Museum verlassen und er sie in ein
Taxi gesetzt hatte, war sie aber nicht mehr so sicher. Sie mußte sich
eingestehen, daß es sie enttäuschte, daß er keine Anstalten machte, sie zu
begleiten. War nicht ein Teil von ihr doch schon geopfert?
7. KAPITEL Eduardo zeigte sich anhänglich wie immer. Am nächsten Morgen rief er Veronica noch im Hotel an. Sie war gerade im Begriff, sich auf den Weg ins Museum zu machen. Er gab sich aber so jungenhaft charmant, daß sich ihr anfänglicher Ärger über die unliebsame Störung verflüchtigte. „Schimpf nicht mit mir", bettelte er. „Schließlich bin ich zwei Stunden früher als sonst aufgestanden, nur um dich noch zu erreichen, bevor du das Hotel verläßt." Veronica mußte lachen. „Oh, was für ein Opfer bringst du für mich! Soll ich mich jetzt etwa geschmeichelt fühlen?" „Das solltest du schon. Es ist Jahre her, daß ich wegen einer Frau so früh aufgestanden bin." „Und warum hast du es dann diesmal getan?" fragte sie neugierig. „Weil man mit dir nicht vernünftig reden kann, wenn du im Museum bist. Du sollst wissen, daß ich mich um dich sorge. Ich glaube, die Arbeit mit Ferrara streßt dich ziemlich. Mich übrigens auch." Veronica nahm ihn sowieso nicht ganz ernst, sonst hätte sie seine Bemerkung wohl nicht durchgehen lassen. Er sah sie inzwischen offenbar als seinen Besitz an. Eduardo gab nicht eher Ruhe, bis sie ihm versprochen hatte, an diesem Abend wieder mit ihm zu essen. „Aber komm früh", mahnte er. „Du darfst nicht zweimal hintereinander bis in die Nacht arbeiten." Der Tag verstrich wie im Fluge. Alle waren eifrig bei der Arbeit, bemüht, die laufenden Projekte zu beenden, um für die Abreise ins Gelände bereit zu sein. Keiner war so aufgeregt wie Veronica. Antonio schaute nur kurz herein, beachtete sie aber nicht. Einen so launischen Mann hatte Veronica noch nie kennengelernt. Er hatte etwas mit Isabel und Leochan zu besprechen. Sam erklärte ihr unterdessen, es sei eine Schande, die Stadt zu verlassen, ohne den „Schrein Unserer lieben Frauen von Guadalupe" gesehen zu haben. „Ich habe davon gehört", meinte Veronica zustimmend. „Wahrscheinlich hat Eduardo nicht daran gedacht, als wir die Stadtrundfahrt machten." Plötzlich mischte sich Antonio ein: „Der Schrein ist sehr sehenswert. Den solltest du dir wirklich nicht entgehen lassen. Du könntest ja ohne Eduardo hinfahren, zum Beispiel morgen früh, ehe du hier anfängst. Es macht nichts, wenn du später kommst." Nanu, ist er zur Abwechslung mal wieder freundlich zu mir? dachte Veronica. Eduardo war ganz anders. Er behandelte sie immer gleich. Besonders temperamentvoll war er allerdings nicht. Das störte Veronica an ihm ja auch. Heute abend brachte sie ihn allerdings aus dem Gleichgewicht, als sie ihm eröffnete, daß sie mit Antonio und dem Archäologenteam am Donnerstag abreisen würde. Aber seine Stimmung besserte sich im Nu, als er hörte, daß Merida das Ziel sein würde. „Das ist ja wunderbar! Meine Familie besitzt dort nämlich ein Haus, und ich habe meine Kindheit in Merida verbracht. Es ist meine Heimatstadt. Mein Onkel lebt noch heute dort. Ihm ist Mexico City zu laut und zu hektisch. Aber unter uns: In Wirklichkeit bleibt er, weil er dort etwas darstellt — ein ,großer Mann' ist. Du kannst natürlich bei uns wohnen." „Im Haus des ,großen Mannes'?" neckte ihn Veronica. „Besser nicht." „Ich hätte das lieber nicht erzählen sollen. Glaube mir, er kann auch sehr charmant sein, ein Kavalier der alten Schule. Sag doch bitte ja!" Veronica wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Es war bestimmt angenehmer, bei Eduardo zu Gast zu sein, als in einem Hotel zu wohnen. Aber
durfte sie sich denn aus der Gemeinschaft ausschließen? Die anderen würden dort bestimmt im selben Hotel Unterkunft finden. Schließlich sollten sie den ganzen Sommer zusammen arbeiten, und sie gehörte doch auch zur Gruppe. Außerdem: Eduardo betrachtete sie sowieso schon als seinen Besitz. Da sollte sie eigentlich nicht Wasser auf die Mühlen schütten. Doch vorerst wollte sie Antonios Vorschlag folgen und sich den berühmten Schrein „Unserer lieben Frauen von Guadalupe" ansehen. Am nächsten Morgen stand sie früher als gewöhnlich auf. Antonio hatte zwar gesagt, sie könne später kommen, aber dieses Angebot anzunehmen, war sie zu stolz. Sie zog einen schlichten Baumwollrock und dazu ein gelbes TShirt an. Zum Frühstück gab es Toast und Kaffee, dann konnte es losgehen. Sie beschloß, sich ein Taxi zu leisten, und ließ sich zur Basilika von Guadalupe bringen. Es war noch nicht ganz acht Uhr, als sie dort ankam. Veronica hatte gelesen, daß die Kirche an derselben Stelle errichtet worden war, an der die Azteken einst die Mutter ihrer Götter in einem Tempel verehrten. Die spanischen Eroberer hatten diesen Tempel zerstört. Ein paar Jahre danach geschah ein Wunder: Einem armen Indianer erschien die Jungfrau Maria und befahl, ihr zu Ehren die Kirche auf jenem Platz zu bauen. Als Zeichen hinterließ die Erscheinung ihr Bild auf dem Mantel des armen Mannes. Dieser Mantel wird noch heute im Hauptaltar der Basilika, im Schrein, aufbewahrt, und die Gläubigen aus aller Welt kommen, ihn zu besichtigen. Leider war das alte Gemäuer für den Publikums verkehr gesperrt. Ein Wärter erklärte Veronica, daß das Bauwerk durch das letzte Erdbeben so angegriffen sei, daß umfangreiche Renovierungsarbeiten notwendig waren. Er empfahl ihr, die neue Basilika zu besichtigen, eine beeindruckende, moderne Konstruktion nicht weit von der alten Kirche gelegen. Sie sah gelegentlich Menschen hineingehen, darunter auch ein paar Touristen, zum größten Teil waren es aber Mexikaner: Männer wie Frauen, die hier kurz Andacht hielten, ehe sie zur Arbeit gingen. Veronica machte sich darauf gefaßt, daß der moderne Stil des Kircheninneren sie abschrecken würde, denn sie fühlte sich weitaus mehr zu alten Bauwerken hingezogen. Um so mehr überraschte es sie, wie gut es ihr in der Kirche gefiel. Staunend blickte sie sich um. Sie bedauerte, daß niemand bei ihr war, jemand, mit dem sie ihr Erstaunen und ihre Bewunderung hätte teilen können. Die Mexikaner knieten in den Bänken und beteten ihre Rosenkränze oder falteten still die Hände, Offensichtlich waren sie den Anblick dieser gewaltigen Kirche gewöhnt. Antonio hat recht gehabt, dachte sie, so etwas sollte man sich wirklich nicht entgehen lassen. „Faszinierend, nicht wahr?" sagte plötzlich eine bekannte Stimme hinter ihr. Als ob sie ihn herbeigerufen hätte, stand Antonio neben ihr. „Ich bin kein besonders religiöser Mensch, aber ich halte mich hier oft auf. Die Raumgestaltung fasziniert mich. Obwohl sie modern ist, erinnert sie an die großartige Vergangenheit der Mayas, genauso wie die Pyramiden." „Ich verstehe, was du damit sagen willst", antwortete Veronica. Sie nahm es, ohne zu fragen, hin, daß er da war. Schön, daß er hier neben ihr stand und ihre Bewunderung teilte. Gemeinsam schlenderten sie durch die Kirche, und Antonio erklärte Veronica die ungewöhnliche Architektur. „Du weißt ja eine ganze Menge", sagte Veronica erstaunt. „Als ich jünger war, wollte ich Architekt werden", gestand er. „Warum bist du nicht dabei geblieben? Soviel ich weiß, kann man in diesem Beruf sehr viel verdienen." „Das ist richtig, aber ich merkte sehr bald, daß die, die Aufträge vergeben,
dieselben sind, die Mexikos Traditionen und seine Geschichte mißachteten. Ich
glaube allerdings, daß das Bewußtsein sich langsam ändert. Aber die Einsicht
setzt sich nur allmählich durch, daß man das Alte wahren muß. Übrigens kann ich
viel von dem, was ich während meines ArchitekturStudiums gelernt habe, heute
verwenden."
Als Veronica und Antonio die Kirche verließen, wagte sie ihn endlich zu fragen:
„Wie kommt es, daß du hier bist?"
„Wie ich dir schon sagte", antwortete er kurz angebunden, „ich halte hier des
öfteren mit dem Auto. Außerdem dachte ich, ich könnte dich mit zurück zum
Museum nehmen."
„Wirklich? Wie nett von dir." Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Er 'konnte
sehr liebenswürdig sein, wenn er wollte. Es war jedesmal eine Überraschung für
sie.
Veronica bemühte sich während der Rückfahrt, die Unterhaltung
aufrechtzuerhalten. Es kam ja selten genug vor, daß sie friedlich ihre Gedanken
austauschten. Meistens gerieten sie in irgendeinen Streit oder Antonio versuchte,
sie zu küssen.
„Ist schon alles für die Abreise fertig?" fragte sie.
„Ich würde sagen ja. Hier gibt es nicht so viel vorzubereiten, die meiste Arbeit
wartet in Merida auf uns. Natürlich muß ich meine persönlichen Sachen packen.
Und wie sieht's bei dir aus?"
„Ich bin startbereit", antwortete Veronica. „Meine Arbeitskleidung habe ich hier
gar nicht erst ausgepackt."
„Du wirst sonst nicht viel brauchen. Es geht in Merida ganz zwanglos zu."
„Ich dachte nur, falls ich bei..." Sie verstummte, aber es war schon zu spät.
Antonio hakte sofort nach.
„Falls du bei...?" wiederholte er.
„Ich wußte ja nicht, wie das mit der Unterbringung sein würde, und Eduardo
sprach davon, daß ich bei seinem Onkel wohnen könnte."
„Señor Lopez?"
„Ja, ich glaube, so heißt er. Kennst du ihn? Er hat ein Haus..."
„Die Villa Lopez. Sie ist eine der schönsten in Merida."
Seine Stimme klang kalt. Ach, warum hatte sie bloß davon angefangen?
„Tatsächlich?" fragte sie nervös. „Das wußte ich nicht. Ich bin gar nicht mal
sicher, ob ich die Einladung annehmen werde. Ich kenne Señor Lopez ja gar
nicht."
„Aber den Neffen kennst du offensichtlich dafür um so besser."
Jetzt wurde Veronica ihrerseits ärgerlich, und sie entgegnete scharf: „Ja, ich
kenne Eduardo, aber deine Anspielung kannst du dir sparen."
„Wer spielt hier auf was an? Stimmt es etwa nicht, daß du Eduardo besser als
seinen Onkel kennst?"
Warum war er jetzt wieder so gemein, nachdem sie sich so angenehm
unterhalten hatten?
„Ich überlege doch nicht Eduardos wegen, ob ich die Einladung annehmen soll."
Sie versuchte, versöhnlich zu klingen. „Meinst du nicht, daß es besser wäre,
wenn ich... also wenn ich bei den anderen wohnte?"
„Es kommt doch wohl kaum darauf an, was ich meine", wies er sie noch immer
kühl und distanziert zurecht. „In Merida kannst du über deine Zeit frei verfügen.
Wenn du mit Eduardo zusammen sein willst..."
„Das setzt du wohl als selbstverständlich voraus? Dabei weiß ich nicht mal, wann
Eduardo nach Merida kommt."
„Er hat also vor, zu kommen."
„Ja, das heißt, ich weiß es nicht genau."
„Und wenn er dann da ist, will er dich natürlich in seiner Nähe haben."
„Unsinn! Er will einfach nett sein und bietet mir die Gastfreundschaft seines
Onkels an, damit ich nicht in irgendeinem Hotel wohnen muß."
„Natürlich! In einem kleinen Hotel zu hausen, ist dir wohl nicht zuzumuten. Da
geht's bei seinem Onkel natürlich luxuriöser zu."
„Du machst mich rasend! Du willst mich einfach nicht verstehen. Vielleicht ist es
wirklich besser, wenn ich nicht im selben Hotel wohne wie du. Dann haben wir
beide wenigstens unsere Ruhe."
„Zweifellos... wenn Ruhe für dich das Wichtigste ist..." Den Rest der Fahrt über
schwieg er. Als sie beim Museum ankamen, verschwand er in seinem Büro und
ließ sich den ganzen Tag nicht mehr blicken.
An diesem Abend nahm Veronica Eduardos Einladung an. Er war überglücklich.
Gleich am nächsten Tag wollte er bei seinem Onkel anrufen, um ihr Kommen
anzukündigen. Natürlich würde er seine geschäftlichen Verpflichtungen
schnellstmöglich erledigen und dann sofort nach Merida aufbrechen. Seine
Begeisterung kannte keine Grenzen.
Später, als Veronica wieder allein war, kamen ihr doch gewisse Bedenken.
Vielleicht hätte sie sein Angebot doch nicht annehmen sollen? Sie hatte sich
eigentlich nicht von den anderen trennen wollen. Schade, daß Antonio gestern so
arrogant auf ihre Frage reagiert hatte — aber für solche Überlegungen war es
jetzt zu spät. Die Entscheidung war getroffen.
Am nächsten Tag erzählte sie den anderen kurz vor dem Abflug, daß sie bei
Eduardos Onkel wohnen würde. Verwundert registrierte sie, daß Isabel ihr einen
scharfen Blick zuwarf. Sie sah Antonio an, von dem sie eine kritische Bemerkung
zu hören erwartete, aber er schien nicht zugehört zu haben.
„Da hast du aber Glück", sagte Sam anerkennend. „Manuel Lopez ist einer der
reichsten Männer in Merida, vielleicht sogar in ganz Mexiko. Sein Haus soll
wunderschön sein. Laß dich nur nicht von all dem Luxus verderben, Mädchen.
Solchen Gefahren werden wir in unseren Zelten in Chichén Itzá allerdings nicht
ausgesetzt sein."
„Keine Angst, Sam. Ich bin sehr anpassungsfähig."
„Das ist mir auch schon aufgefallen", bemerkte Antonio kritisch. „Eine bequeme
Einstellung."
„Und eine nützliche", versetzte Veronica, „gerade in einer feindseligen
Umgebung."
Sam blickte von einem zum anderen, zögerte und schwieg dann offenbar in der
Erkenntnis, daß er hier nicht eingreifen konnte.
„Ihr beide nehmt kein Blatt vor den Mund, was?", bemerkte er trocken.
„Hoffentlich gerate ich nicht in die Schußlinie. Ich bin so empfindsam."
„Kommt Eduardo auch nach Merida?" Isabels Frage sollte gleichmütig klingen,
aber Veronica merkte, wie gespannt sie auf die Antwort wartete.
„Vielleicht", sagte sie beiläufig, „er will es versuchen." Isabel war mit dieser
Aussicht ganz zufrieden, und Veronica dachte: Vielleicht will sie mich mit Eduardo
beschäftigt wissen, damit ich ihr und Antonio nicht in die Quere komme?
Isabel wirkte auf Veronica bisher ziemlich unnahbar. Doch heute schien sie sich
aus irgendeinem Grund für Veronica zu interessieren.
„Wir hatten nicht viel Zeit, um miteinander zu reden", begann sie eine
Unterhaltung mit ihr im Flugzeug. „Du muß entschuldigen, daß ich dir gegenüber
nicht aufmerksamer war. Aber manchmal verliere ich mich ganz in meiner Arbeit.
Doch du hast dich wohl in Mexico City nicht einsam gefühlt?"
„Nein, überhaupt nicht. Ich kann mich nicht beklagen."
Isabel sah sie nachdenklich an. „Natürlich ist es leichter, wenn man schon ein paar Leute kennt, nicht wahr?" Worauf wollte sie hinaus? Wollte sie herausfinden, wieviel Zeit sie mit Antonio verbracht hatte? Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dachte Veronica. Das bißchen ist nicht der Rede wert. Aber das ging Isabel ja wohl nichts an. „Ja", antwortete sie, „ihr wart ja auch alle so hilfsbereit." „Señor LopezPerreira hat sich bestimmt auch um dich gekümmert. Was für ein Glück für dich, daß du ihn kennst. Hat Antonio euch bekannt gemacht?" „Nein. Wir haben uns ein paar Wochen, bevor ich hierherkam, in New York kennengelernt. Wir trafen uns auf einer Party und sprachen lange miteinander." „Ach ja?" Isabel bemühte sich, gleichgültig zu klingen, aber ihre Augen verrieten höchste Aufmerksamkeit. Offensichtlich wollte sie noch mehr hören, aber Veronica begann, sich über die neugierige Fragerei zu ärgern. „Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen", sagte sie und schloß die Augen. „Schade, daß der Flug nicht länger dauert. So reicht es nur für ein kleines Nickerchen." Wohl oder übel mußte Isabel also auf die Fortsetzung des Verhörs verzichten. Als sie eine Stunde später in der Abfertigungshalle des Flughafens von Merida standen, hörte Veronica, daß ihr Name ausgerufen wurde. Sie ging zum Informationsschalter hinüber, wo ein uniformierter Chauffeur sie erwartete. „Ich bringe Sie zur Villa Lopez", erklärte er. Veronica war überrascht. Das hatte sie nicht erwartet. „Señor Eduardo hat uns Ihre Ankunftszeit telefonisch durchgegeben", sagte der Chauffeur. Veronica sah die anderen an. Deren Blicke sagten genug. Wieder bedauerte sie, Eduards Einladung angenommen zu haben. Sie drehte sich zu Sam um und flüsterte: „Bitte, Sam, komm mit. Ich kenne diesen Mann doch gar nicht und möchte nicht gern allein dorthin fahren." Sam beruhigte sie: „Was kann dir schon passieren? Unser Hotel liegt auch ganz in der Nähe. Also, Kopf hoch!" Aber er tat ihr dann doch den Gefallen. Er hat recht, dachte Veronica. Eduardos Onkel kann auch nicht schlimmer als Antonio Ferrara sein. Und wenn ich ihn mir so ansehe, ist Señor Lopez diesem gräßlichen Tyrann bestimmt vorzuziehen. Sam bat den Chauffeur, durch die City von Merida zu fahren. Sie kamen an einem öffentlichen Park vorbei, in dem Touristen spazierengingen, Großmütter auf ihre spielenden Enkel aufpaßten und Straßenverkäufer handgewebte Decken zum Verkauf anboten. „Hier in Merida läuft wohl alles im Schneckentempo ab?" bemerkte Veronica, als eine Frau mit ihrem Kind gemächlich vor ihnen die Straße überquerte. „Das liegt an der Hitze. Hier in Merida ist es nahezu zehn Grad heißer als in Mexico City", belehrte sie Sam. „Was kann man dann überhaupt noch tun?" Sam lachte. „Zunächst mal muß man lernen, nicht solche Fragen zu stellen. Aber sei unbesorgt, Merida hat verschiedene Sehenswürdigkeiten. Die Stadt wurde übrigens 1542 von Francisco de Montejo gegründet, falls es dich interessiert. Seine Nachkommen wohnen noch heute hier. Man nennt Merida auch das Paris der Neuen Welt. Damit du es nur weißt." Sofort mußte Veronica an Antonio denken, der sich über eine solche Bezeichnung sicher geärgert hätte. „Schau mal", sagte Sam, „es gibt Pferdekutschen! Das ist bestimmt die beste Methode, die Stadt zu erkunden." Er wies sie auf die zitronengelbe Kathedrale hin
und zeigte ihr das unscheinbare Museum für Archäologie am Paseo Montejo. Dann bog der Wagen in eine große, baumbestandene Allee mit prächtigen Herrschaftshäusern zu beiden Seiten ab. „Hier bekommen wir den richtigen Eindruck davon, wie die spanische Oberschicht in der Kolonialzeit gelebt hat", kommentierte Sam. Als der Chauffeur vor dem Hause der Familie Lopez hielt, pfiff er bewundernd durch die Zähne und fügte hinzu: „Und wie einige Leute, zum Beispiel die Familie Lopez, noch heute leben." Das Haus war mit Abstand das größte Gebäude in der Umgebung, ein beeindruckendes, leuchtend weißes Bauwerk. Eine breite Treppe führte hinauf zu einem mit Balustraden umgebenen Vorplatz. Dort befand sich die schwere, geschnitzte Eingangstür. Offensichtlich hatte man schon auf ihre Ankunft gewartet. Während sie die Treppe emporstiegen, öffnete sich die Tür, und eine gepflegte dunkelhaarige Frau erschien im Eingang. „Señora Lopez?" Veronica zögerte. „Ich bin Veronica Glenn. Ich glaube, Eduarde." Ein hochgewachsener Herr mit weißem Haar tauchte hinter der Dame auf. „Das ist alles, Maria", sagte er zu ihr. Offensichtlich war die so Angesprochene eine Bedienstete des Hauses. „Es gibt keine Señora Lopez", erklärte Eduards Onkel, nachdem er sich vorgestellt hatte. „Meine Frau ist vor vielen Jahren gestorben." Höflich, aber distanziert bat Señor Lopez Veronica und Sam in den kleinen Salon. Während er ihnen einen Sherry einschenkte, fuhr er fort: „Eduardo und ich sind der Rest der Familie Lopez, und ich habe dieses Jahr nur wenig von meinem Neffen gesehen. Ich denke jedoch, daß sich das ändern wird, wenn Sie jetzt in Merida sind, Señorita." Dabei sah er Veronica prüfend an. „Eduardo erwarte ich morgen, aber ich weiß, daß er nicht meinetwegen kommt." Veronica fühlte sich völlig fehl am Platz. Sie hatte das ungute Gefühl, daß Señor Lopez die Neigung seines Neffen nicht unbedingt guthieß. „Eduardo hat eine Menge Pläne für sie beide geschmiedet. Haben Sie denn überhaupt Zeit? Was sagt Ferrara dazu?" Veronica schwieg verwirrt. Nein, in dieses Haus gehörte sie nicht. Das wurde ihr von Sekunde zu Sekunde deutlicher bewußt. „Antonio hat zu tun, wir anderen können uns ein paar Tage Urlaub gönnen", antwortete Sam für Veronica, als er ihre Hilflosigkeit spürte. Veronica war traurig, als Sam ging. Zu gern wäre sie ihm gefolgt. Sie mußte die steife Unterhaltung mit Señor Lopez noch eine Weile fortsetzen, doch dann bat sie, sich zurückziehen zu dürfen. Maria brachte sie zu ihrem Zimmer. Es war ein großer Raum mit einem kleinen Balkon, der auf den Garten hinausging. Später beim Abendessen stellte ihr Eduardos Onkel viele Fragen über ihr Studium, ihre Familie und ihre Arbeit mit Dr. Antonio Ferrara. Er möchte sich ein Bild von mir machen, um dann zu entscheiden, ob er mich akzeptiert oder nicht, dachte Veronica mit wachsendem Unwillen. Die Atmosphäre war sehr förmlich, zumindest zu Beginn des Abendessens. Señor Lopez und sie saßen sich in den schmalen Seiten eines langen Tisches gegenüber, und Veronica fühlte sich an manche Filmszene erinnert. Doch befangen, wie sie war, gelang es ihr nicht, die Situation mit Humor zu meistern. Als der Kaffee serviert wurde, faßte sich Veronica ein Herz und fragte Señor Lopez, ob sie sich nicht neben ihn setzen könne. Ihr Gastgeber stutzte einen Moment, faßt sich aber sehr schnell und antwortete lächelnd: „Aber natürlich. Ich vergesse manchmal, daß unsere Gäste die Etikette nicht gewöhnt sind. Aber bitte!" Er stand auf und rückte ihren Stuhl zurecht. Dann fuhr er fort, sie zu befragen. Besonders interessierte ihn, warum sie sich
dafür entschieden hatte, die heißen Sommertage mit Geländearbeit in Chichén Itzá zu verbringen. „So eine Gelegenheit gibt es für mich nie wieder", ereiferte sie sich. „Ich interessiere mich doch besonders für mexikanische Kunst. Diese Ferienarbeit kann ich dann schon vorweisen, wenn ich mich um eine Stelle bewerbe", erläuterte sie ihm. Señor Lopez blickte sie erstaunt an, und Veronica erklärte ihm, daß Antonio Ferrara nicht nur in Mexiko, sondern auch in Amerika einen guten Ruf habe. „Ja, ja", erwiderte der alte Herr. „Er ist ein brillanter Mann, und das, obwohl er indianisches Blut in sich hat." Weil Veronica ihm einen scharfen Blick zuwarf, fügte er hinzu: „Tut mir leid, meine Liebe. Ich weiß, daß ihr Amerikaner anders über solche Dinge denkt. Aber meiner Ansicht nach sollte man unter seinesgleichen bleiben." „Die amerikanische Gesellschaft ist auch nicht perfekt", sagte Veronica ernst. „Ich weiß, daß es viele Probleme gibt. Die Chancengleichheit ist noch lange nicht verwirklicht." „Und wird es auch nie werden", beharrte Señor Lopez. „Darüber läßt sich streiten. Wir haben schon Fortschritte gemacht. Warum soll diese Entwicklung nicht weitergehen? So unwahrscheinlich es auch klingt: Bei uns zählen nur Leistung und gleiche Interessen. Die Herkunft des einzelnen spielt keine Rolle." Señor Lopez schüttelte den Kopf. „Das ist in Mexiko ganz anders. Wissen Sie, wie die Indianer meine Vorfahren nannten?" Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Gachupinen. Das ist ein Begriff aus der Sprache der Azteken. Er beschreibt Männer, die Schuhe mit Sporen tragen. Bevor die Spanier kamen, hatten die Indianer Pferde nicht einmal gesehen." Seine Verachtung war deutlich. „Aber Pferde sind kein Maßstab für Zivilisation." „Vielleicht nicht. Aber die Spanier brachten dem Land auch das Christentum. Von allen Ländern der Welt ist Mexiko das mit der größten Verbreitung des Katholizismus. Trotzdem war ,Muerte a los Gachupines', das heißt, ,Tod den Gachupinen', die Parole während der blutigen Aufstände. Warum?" Die Frage klang bitter. Veronica kannte die Antwort. Die Indianer hatten den Spanier Cortez und seine Leute freundlich empfangen. Er hatte es ihnen damit vergolten, daß er ihre Anführer einsperrte, ihnen ihr Gold wegnahm und sie zu Sklaven machte. Vor allem die Kirche war daran schuld, daß die indianische Kultur weitestgehend zerstört wurde. Die Leibeigenschaft der Indianer dauerte Hunderte von Jahren. Veronica mußte an das Gespräch mit Eduardo bei ihrem ersten Treffen in New York denken. Er hatte von den Klassenunterschieden in der Gesellschaft Mexikos gesprochen. Sie bestanden bis auf den heutigen Tag, und das lag an solchen Männern wie Señor Lopez, denen das Ansehen der Familie und die spanische Abstammung mehr bedeuteten als Leistung. Antonio Ferrara dachte da ganz anders, obwohl auch er spanisches Blut in sich trug. Sie fragte sich, warum Antonio sich wohl so verhielt? Er tat ja gerade so, als habe er keine spanischen Vorfahren. Ob das an seiner Beziehung zu Isabel lag? Vielleicht wollte er ihr gefallen? Doch sie verwarf diesen Gedanken sofort. Das paßte nicht zu ihm. Wahrscheinlicher war, daß Antonio genau wie sie die Arroganz solcher Männer wie Señor Lopez nicht ausstehen konnte. Sie jedenfalls fand die Engstirnigkeit ihres Gastgebers immer abstoßender. Señor Lopez trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee und wartete anscheinend, daß sie mit der Diskussion fortfuhr. Aber was half es, wenn sie sich in diesem Gespräch erregte? Sie brauchte sich keine Hoffnungen zu machen, die tief
verwurzelten Vorurteile bei ihm zu ändern. Außerdem war sie sein Gast. „Ich merke, wie schwer es fällt, alte Feindschaften zu begraben", sagte sie daher. „Wenn man jedoch eine Wunde immer wieder aufreißt, wird sie nie heilen. Das ist ein altes armenisches Sprichwort. Meine Mutter liebte es besonders." Sie lächelte Señor Lopez höflich an und fügt hinzu: „Ein anderes, das sie oft gebrauchte, war: Früh ins Bett und früh heraus... ich glaube, das ist ein guter Rat, besonders nach einem anstrengenden Tag." Señor Lopez erhob sich sofort. Es schien ihm auch ganz lieb zu sein, das heikle Thema fallenlassen zu können. Höflich brachte er sie zur Treppe und erkundigte sich, ob Maria ihr noch etwas aufs Zimmer bringen solle, ein Glas Milch oder Kakao. Dann wünschte er ihr eine gute Nacht. Allein in ihrem Zimmer fühlte Veronica sich ziemlich niedergeschlagen. Die Unterhaltung mit Señor Lopez hatte ihr erneut bewußt gemacht, wieviel Trennendes es zwischen den Menschen gab. Es machte sie nicht glücklich, daß sie in diesem luxuriösen Haus wohnte, während Antonio und die anderen in einem bescheidenen Hotel übernachteten. In Wirklichkeit wollte sie das gar nicht, dachte sie unzufrieden. Wenn nur Antonio mich nicht dazu getrieben hätte! Er ist schuld an meiner Situation. Sie duschte, zog das Nachthemd an und ging ins Bett, ohne jedoch sofort zu schlafen. Das Gespräch mit Señor Lopez ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie würde es sich auf ihre Beziehung zu Antonio auswirken, daß sie hier bei diesem stolzen Mexikaner wohnte? Ob er sie jetzt verachtete? Übermüdet schlief sie schließlich ein. Veronica hatte vorgehabt, sich in Merida erst einmal richtig auszuruhen. Sie wollte den Luxus genießen, morgens auszuschlafen. Doch am nächsten Morgen wachte sie so früh wie gewöhnlich auf. Nun, sie konnte ja noch etwas im Bett bleiben. Vielleicht schlief sie wieder ein. Aber sie merkte bald, daß das nicht gelang. Ruhelos drehte sie sich im Bett herum. Es war ungemütlich, in diesem riesigen Zimmer wach im Bett zu liegen. Der Raum war so groß wie ihr ganzes Apartment in New York. In dem schweren Mahagonibett hätten leicht vier Menschen Platz gefunden. Sie fühlte sich durch seine Größe und die reiche Ausstattung des Zimmers erdrückt. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie, während sie sich das Haar bürstete, bis es knisterte. Lustlos zog sie ein weißes Leinenkleid an. In Jeans und TShirt hätte sie sich bestimmt wohler gefühlt, aber das konnte sie Señor Lopez kaum antun. Als sie nach unten kam, sagte ihr Maria, daß es vor halb zehn kein Frühstück geben würde, da Señor Lopez nur selten früher aufstand. Veronica wußte nicht, was sie über eine Stunde lang tun sollte. Unschlüssig ging sie ins Bibliothekszimmer hinüber, wo sie ein Buch über die Geschichte von Yucatán fand. Sie setzte sich in einen der unbequem aussehenden Lehnstühle und blätterte mit mäßigem Interesse die Seiten durch. Etwa eine Stunde später klopfte es an der Tür. Die Störung war ihr sehr willkommen, denn sie konnte sich in dieser Umgebung kaum auf das Buch konzentrieren. Es war Maria: „Señor Ferrara für Sie, Señorita." Ehe Veronica ihre Überraschung verbergen konnte, hatte Antonio das Zimmer betreten. Sie erhob sich abrupt, wobei das Buch zu Boden fiel. „Guten Morgen", begrüßte er sie und bückte sich, um es aufzuheben. Gelassen blickte er auf den Titel, bevor er es ihr zurückgab. Seine Ruhe stand in ziemlichem Gegensatz zu der Aufregung, die sein plötzliches Erscheinen bei ihr hervorgerufen hatte. „Du informierst dich also über das Yucatan. Bewundernswert! So beschäftigst du
dich also mit den Menschen der Vergangenheit, um deine Zeitgenossen willst du dich ja nicht kümmern." Ihre Freude, ihn wiederzusehen, schwand. „Bist du nur so früh hierhergekommen, um mich zu beleidigen?" „Du brauchst dir gar nichts einzubilden." Seine Stimme klang nicht weniger kühl als ihre. „Ich bin nicht hergekommen, um dich zu besuchen. Señor Lopez und ich haben zwar viele Differenzen, aber die LopezStiftung unterstützt meine Arbeit schon seit Jahren. Ich möchte ihm Bericht erstatten." „Ach so." Vor Enttäuschung stockte ihre Stimme. Selbst Kritik und Nörgelei waren ihr lieber, als gar nicht von ihm beachtet zu werden. Er hatte sie überhaupt nicht sehen wollen! „Wie geht's den anderen?" fragte sie zögernd, um das Schweigen zu brechen. „Ganz gut. Aber du hast sie doch gestern erst gesehen?" „Ich wollte nur wissen, ob ihr alle gut in eurem Hotel untergekommen seid. Bist du zufrieden?" „Durchaus! Immer wenn ich in Merida bin, wohne ich dort. Es liegt übrigens ganz in der Nähe, auch in dieser Straße, der Paseo de Montejo. Natürlich ist unsere Unterkunft nicht so luxuriös wie deine. Was für ein Glück für dich, daß du es einrichten konntest, hier zu wohnen." „Nicht ich habe es so eingerichtet! Eduardo bestand darauf." Sie stockte, weil Antonio ärgerlich das Gesicht verzog, und fuhr dann fort: „Falls du dich erinnerst, war es vor allem dein sarkastischer Kommentar, der mich zu diesem Entschluß trieb. Jetzt tut es mir leid. Es war ein Fehler." „Einer von vielen", bemerkte er lakonisch. „So also ist das: Eduardo besteht auf etwas, und du fügst dich. Aber wehe, wenn Antonio auf etwas besteht..." Er trat auf sie zu und ergriff ihre Ellbogen. „Andererseits bin ich dein Vorgesetzter. Das gibt mir ein paar Vorrechte, die sollte ich schnell nutzen, bevor Eduardo ganz allein das Sagen hat." Veronica versuchte, den Kopf wegzudrehen, doch Antonio griff nach ihrem Kinn und hielt es fest. Er küßte sie hart und gebieterisch, sie aber preßte die Lippen zusammen. Da hob er enttäuscht den Kopf und sagte sanft: „Also gehört schon alles Eduardo. Ist für mich nichts mehr übrig?" Seine Worte klangen bitter, und er sah auf einmal richtig traurig aus. Gegen ihren Willen gab Veronica nach und schmiegte sich an ihn. Antonio war überrascht und küßte sie erneut. Diesmal waren ihre Lippen weich, und sie erwiderte seinen Kuß. „Du kannst so süß sein, Veronica", murmelte er an ihren Lippen. In diesem Augenblick hörten sie Stimmen. Zwei Männer näherten sich der Tür. Antonio ließ sie los und tat einen Schritt zurück. „Und einen damit so täuschen", fügte er bitter hinzu. Veronica fühlte sich alleingelassen. Jedesmal, wenn sie sich nahe waren, kam etwas dazwischen. Es war zum Verzweifeln. Sie kannte inzwischen den Geschmack seiner Lippen und das Gefühl, das sie überkam, wenn er sich an sie drängte. Aber seine Gefühle waren ihr immer noch ein Rätsel, genauso sein Denken. Sie hatten von Anfang an alles falsch gemacht. Daß sie sich körperlich anziehend fanden, hatte ihre Beziehung von vornherein erschwert. Doch Veronica ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken. Äußerlich wirkte sie völlig ruhig, als sich die Tür öffnete und Eduardo, gefolgt von seinem Onkel, überglücklich das Zimmer betrat. Er ging sofort auf Veronica zu. Mit Besitzermiene, die, wie Veronica wußte, Antonio galt, neigte er den Kopf, um sie zu küssen. Sie wandte den Kopf ab, so daß seine Lippen sie kaum berührten, aber das schien Eduardo nicht zu
beunruhigen. Er begrüßte sie herzlich. „Eigentlich wollte ich erst heute abend herfliegen, aber die Versuchung war einfach zu groß. Ich wußte ja, daß du hier in Merida auf mich wartest. Also beschloß ich, alles stehen und liegen zu lassen und zu kommen." „Eduardo hat den Bogen raus. Er weiß, wie man Ferien macht", sagte sein Onkel trocken und fügte hinzu: „Doch in diesem besonderen Fall ist das ja nur zu verständlich." Dann wandte er sich an Antonio. „Buenos dias, Señor Ferrara. Maria sagte mir, daß Sie hier sind. Ein geschäftlicher Grund?" Es klang erstaunt. „Ich bringe nur diesen Bericht." Antonio nahm einen Umschlag aus der Tasche. „Ich dachte, Sie sollten ihn gleich haben." „Oh", sagte Señor Lopez ein wenig überrascht. „Aber Sie hätten ihn doch wie üblich an mein Büro schicken können?" Dann fügte er ein wenig höflicher hinzu: „Es ist natürlich sehr freundlich von Ihnen, ihn gleich selbst vorbeizubringen. Entschuldigen Sie meine schlechten Manieren. Wie wäre es, wenn Sie mit uns frühstückten und uns ein wenig von Ihrer Arbeit erzählten?" Antonio ließ sich ohne Mühe überreden. Eduardo war nicht sehr erfreut, aber Veronica war natürlich froh, daß Antonio auf diese Weise bleiben konnte. Der mit Blumen bepflanzte Innenhof war so früh am Morgen angenehm kühl und wie geschaffen für ein ausgedehntes Frühstück. Daß Veronica es trotzdem nicht genoß, lag an Eduardo. Sie ärgerte sich zunehmend über ihn. Er redete rücksichtslos auf sie ein, während sie versuchte, etwas von der Unterhaltung zwischen Antonio und Señor Lopez mitzubekommen. Der alte Herr interessierte sich wider Erwarten sehr für Antonios Arbeit und stellte ihm viele Fragen. Es versöhnte sie mit Señor Lopez, daß er Antonio mit Respekt behandelte. Nach dem Gespräch gestern abend hätte sie das nicht für möglich gehalten. Antonio seinerseits gab sich höflich, aber zurückhaltend. Auch das gefiel Veronica. Sie hätte ihn nicht gern unterwürfig erlebt. Er blickte oft in ihre Richtung, denn Eduardo bemühte sich, den Eindruck von Intimität zwischen sich und Veronica zu erwecken, obwohl das nicht der Wirklichkeit entsprach. Obwohl es völlig unnötig war, beugte er sich oft zu Veronica hinüber, um sich flüsternd mit ihr zu unterhalten. Am liebsten hätte sie Antonio zugerufen: „Es ist nicht so, wie du denkst! Wir sind nicht verliebt, Eduardo und ich." Aber das ging natürlich nicht. So begnügte sie sich damit, Eduardo scharf zurechtzuweisen. Das war aber tatsächlich für Antonios Ohren gedacht. „Sprich nicht so leise, Eduardo. Ich kann überhaupt nichts hören. Mach doch aus deinen Plänen für eine Rundfahrt kein Geheimnis. Ich kann deine Vorschläge kaum verstehen. Dein Onkel und Antonio werden schon auf dich aufmerksam!" Señor Lopez lächelte nachsichtig, aber Antonios Gesicht blieb maskenhaft starr. Veronica verzweifelte fast und fügte noch hinzu: „Oder darf man über den Besuch eines Stierkampfes nicht laut sprechen?" „Mögen Sie Stierkämpfe, Señorita?" fragte Eduardos Onkel. „Übrigens ist für morgen einer angesagt. Aber leider sind wir beide, Eduardo und ich, morgen geschäftlich unterwegs." „Ich weiß nicht, ob ich so etwas mag, denn ich habe noch nie einen Stierkampf gesehen", antwortete Veronica. „Ich bin auch nicht sicher, ob ich das überhaupt möchte. Was soll daran lustig sein, wenn ein Tier zum Spaß getötet wird?" „So sollte man das nicht betrachten", entgegnete Eduardo. „Der Stierkampf ist kein Sport — eher eine Form von Kunst. Obwohl er von den Spaniern mitgebracht wurde, ist er auch bei den indianischen Einwohnern sehr beliebt, nicht wahr, Señor Ferrara?" Eduardo wandte sich dabei direkt an Antonio, fast
schien es, als wolle er ihn herausfordern. „Ja, leider ist er das. Auch wir Indianer finden Vergnügen daran, wie sich menschliche Intelligenz an der Stärke des Stieres mißt. Doch nicht alle von uns finden Vergnügen an dem unvermeindlichen Ausgang." „Meinst du, ich sollte lieber nicht hingehen?" fragte Veronica Antonio. „Laß dich nicht von meinem Urteil beeinflussen. Ich an deiner Stelle würde hingehen. Schließlich ist der Stierkampf ein Teil des mexikanischen Lebens, und du willst doch alles hier kennenlernen." Antonio führte die Serviette an den Mund und erhob sich. „Entschuldigen Sie mich bitte, ich muß gehen. Und dich überlasse ich den Vergnügungen des Tages und deinen... Geheimnissen." „Aber wann sehe ich dich wieder? Ich meine, wann fahren wir zu den Geländearbeiten?" rief Veronica ihm ängstlich nach, ohne die anderen zu beachten. „Isabel wird dich anrufen, wenn wir soweit sind." Antonio starrte dabei Eduardo an, dessen Gesicht sich mit einer feinen Röte überzog, und verließ dann abrupt den Innenhof. Eduardo stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Dieser Mann kennt keine Muße. Nur weil er nicht ohne Arbeit leben kann, verlangt er einen überdurchschnittlichen Einsatz von allen seinen Mitarbeitern. Doch ich werde nicht zulassen, daß er deine Zeit hier für sich in Anspruch nimmt." Dann lächelte er verschmitzt. „Ich habe nämlich vor, das selber zu tun." „Er ist nicht gekommen, um mich zu sehen", erwiderte Veronica. „Pah!" Eduardo tat ihren Einwand mit einer Handbewegung ab. „Diese Papiere hätte er nicht selbst vorbeibringen müssen. Das hat er noch nie getan, stimmt doch, Onkel?" Señor Lopez nickte gedankenverloren, dann wandte er sich an Veronica. „Ich stelle mit Interesse fest, daß mein Haus für diese beiden so verschiedenen Junggesellen ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt geworden ist, Señorita. Ich glaube, mein Neffe ist eifersüchtig, vielleicht nicht ohne Grund." Eduardo kam wieder auf den Stierkampf zu sprechen. Er wollte sogar die geschäftliche Verabredung verschieben, damit er Veronica am nächsten Tag begleiten könnte. Doch sein Onkel blickte ihn mißbilligend an. „Eduardo, ich habe deinen überraschenden Besuch zum Anlaß genommen, dieses Treffen zu arrangieren. Ich bin nicht der Ansicht, daß du es wegen privater Vergnügungen verschieben solltest", mahnte Señor Lopez. „Dein Onkel hat völlig recht", mischte sich Veronica ein. Aus irgendeinem Grund wollte sie dieses Ereignis lieber nicht mit Eduardo zusammen erleben. Der fand sich nur zögernd damit ab. „Wenigstens haben wir den heutigen Tag für uns allein", befand er dann, und das tröstete ihn wohl. „Ja, geh nur", sagte Señor Lopez besänftigend, „bevor ich etwas für dich zu tun finde." Wunschgemäß unternahm Eduardo mit Veronica eine morgendliche Besichtigungstour. „Es gibt wirklich nicht sehr viel zu sehen", hatte er beteuert. „Meridas Atmosphäre ist bezaubernd. Es gibt nur wenige Touristenattraktionen." Da sie jedoch darauf bestand, gab er nach. Zuerst hielten sie an der wunderschönen Villa Monjeto. Dort hatte der Gründer Meridas gewohnt. Das Innere des Hauses war sehr beeindruckend. Es gab kostbare Marmorfußböden, hübsches antikes Mobiliar und einen lieblichen Innenhof, in dem eine Unzahl Blumen blühte. Als sie das Haus wieder verließen, blieb Veronica vor dem Eingang stehen. Die zierliche Stuckarbeit, mit der er geschmückt war, faszinierte sie. In der Mitte war
das Wappen der Montejos dargestellt, rechts und links davon je ein spanischer Eroberer in voller Rüstung. Die beiden hatten jeder einen Fuß auf den Kopf eines besiegten Indianers gesetzt. Veronica dachte darüber nach, was für Gefühle diese Szene in Antonio hervorrufen mußte. „Das ist natürlich übertrieben", bemerkte Eduardo, der sie schon eine ganze Zeit beobachtet hatte. „Meinst du?" „Damals galten außerdem andere Gesetze, vergiß das nicht. Francisco de Montejo kämpfte als Offizier für Cortez, er war ein tapferer und fähiger Mann." „Nach diesem Haus zu urteilen, wurde er auch gut dafür belohnt." „Das stimmt. 1526 erhielt er es vom König von Spanien als Dank für seine Dienste geschenkt. Gleichzeitig bekam er allerdings den Auftrag, Yucatán mit Gewalt zu unterwerfen. Er sollte das Land befrieden und es der Kirche zuführen. Die schickte dann Missionare und zwang die Indianer zur Taufe. Außerdem sollte er Spaniens Reichtümer vermehren. Dazu mußte er den Indianern ihr Gold wegnehmen. Das alles schaffte er ohne Hilfe durch das Mutterland Spanien." Wie kann er so etwas nur bewundern, dachte Veronica verächtlich. Laut sagte sie: „Daß zwölfhundert Indianer bei ihrer Verteidigung mit Pfeil und Bogen den Tod fanden, stört dich wohl nicht?" „Sieht Amerikas Vergangenheit, was die nordamerikanischen Indianer betrifft, weniger blutig aus?" konterte Eduardo und brachte damit Veronica zum Schweigen. „Nein", gab sie nach einer Weile zu. Sie blickte wieder auf das Stuckrelief. „Aber ich könnte sehr gut verstehen, wenn sich Leute mit indianischer Abstammung über eine solche Darstellung ärgern würden. Sieh mal genau hin! Der Schöpfer dieses Reliefs hat sich hier einiges an künstlerischer Freiheit herausgenommen." „Das mußt du mir erklären." „Sieh doch nur, wie winzig klein die Indianer sind im Vergleich zu den Spaniern." „Das ist doch keine künstlerische Freiheit", erwiderte Eduardo. „Es mag ein wenig übertrieben sein, aber die Mayas waren tatsächlich die kleinsten Indianer Amerikas. Sie sind auch heute noch sehr kleinwüchsig." „Aber Antonio... er ist doch sehr groß?" Sie hatte natürlich sofort an ihn denken müssen. „Ferrara ist ja auch zu drei Vierteln spanischer Abstammung", erwiderte Eduardo. „Auch wenn ihm das nicht paßt." Veronica antwortete nicht. Über dieses Thema mit Eduardo zu reden, hatte bestimmt keinen Sinn. Anschließend besuchten Veronica und Eduardo die Kathedrale von Merida. Sie war während eines Aufstands 1917 geplündert worden. Doch gerade ihre Nüchternheit beeindruckte Veronica. Als sie schließlich an dem kleinen Museum für Archäologie angelangten, konnte Eduardo seine Langeweile kaum noch unterdrücken. Die Sammlung des Museums war bescheiden. Trotzdem wäre Veronica gern noch geblieben. Eduardo jedoch tat so, als litte er riesigen Hunger, so daß sich Veronica schließlich seiner erbarmen mußte. Sie gingen in ein elegantes Restaurant, dessen Geschäftsführer Eduardo mit Ehrerbietung begrüßte. Mehrere Gäste winkten Eduardo zu und blickten neugierig auf Veronica. Die schloß daraus, daß dieses Lokal einer der Treffpunkte der besseren Gesellschaft von Merida war. Das Essen war ausgezeichnet, aber leider europäische Küche. Doch vielleicht wollte Eduardo ihr die scharfen mexikanischen Gerichte nicht zumuten? Ich werde ihm sagen müssen, daß ich die mexikanische Küche liebe, dachte Veronica.
„Und jetzt halten wir nach gutem mexikanischen Brauch Siesta", bestimmte Eduardo, als sie gegessen hatten. Veronica widersprach nicht, denn es war mittlerweile sehr heiß geworden, und das Essen hatte sie müde gemacht. Sie kehrten zur Villa der Lopez zurück, die wie ausgestorben mit geschlossenen Läden dalag. Vor ihrem Zimmer nahm Eduardo Veronicas Hand und sagte leise: „Um fünf werde ich an deine Tür klopfen. Schlaf gut! Es ist so schön, daß du hier bist. Es ist, als gehörtest du hierher." Er drückte ihre Hand und ging. Langsam schloß Veronica die Tür. Was mochte Eduardo wohl in ihr sehen? Merkwürdig, daß er fand, sie gehöre hierher. Sie war zu dem gegenteiligen Schluß gekommen. Offenbar hatten sie ganz verschiedene Vorstellungen davon, wann man irgendwohin gehörte. Aber die Menschen hatten eben unterschiedliche Auffassungen. Für manche waren Bequemlichkeit und Sicherheit am wichtigsten. Andere fühlten sich durch alles Neue und Unbekannte angezogen. Leute wie Ben Cramer zum Beispiel suchten die geistige Herausforderung, während sich andere körperlichen Strapazen, sogar Gefahren aussetzten. Jeder fühlte sich da am wohlsten, wo seine wichtigsten Bedürfnisse befriedigt wurden. Das Problem war nur, daß sie nicht genau wußte, welche die ihren waren. Luxus, soviel wußte sie inzwischen, gehörte jedenfalls nicht dazu. Eduardo war der Meinung, sie passe in seine Welt. Aber da täuschte er sich. An diesem Punkt angelangt, fiel ihr natürlich prompt Antonio ein. Er war so ganz anders als der immer freundliche und ausgeglichene Eduardo. Was für eine Wirkung hatte er doch auf die Menschen, mit denen er zusammenkam! Selbst der zurückhaltende Eduardo fühlte sich durch ihn zum Widerspruch herausgefordert. Als Eduardo um fünf Uhr an Veronicas Tür klopfte, war sie schon auf. „Beeil dich", sagte er. „Wir treffen uns mit ein paar Freunden von mir, die dich gern kennenlernen möchten. Und nimm einen Badeanzug mit." Es würde also einen geselligen Nachmittag und Abend geben. Sie entschied sich für ihr hauchdünnes, türkisfarbenes Flatterkleid und stopfte den Bikini in ihren weißen gehäkelten Beutel. Er nahm nicht viel Platz weg. Dann schlüpfte sie in weiße Sandalen und war schon fertig zum Gehen. Nicht nur Eduardo war voller Bewunderung über ihr Aussehen. Auch seine Freunde, mit denen sie sich außerhalb der Stadt in einem modernen Bungalow trafen, bewunderten Veronica. Es waren zwölf junge Leute, die sich um den großen Swimmingpool, der zum Haus gehörte, versammelt hatten. Sie begrüßten Eduardo und Veronica herzlich. Die Mädchen sahen Eduardos neue Begleiterin abschätzend an, während die jungen Männer sie mit unverhohlener Begeisterung betrachteten. Sie alle waren in Merida aufgewachsen und schienen sich gut zu kennen. Obwohl anfangs unsicher, entspannte sich Veronica und genoß bald die herzliche Aufnahme. Sie merkte schnell, daß sie für diese reichen jungen Leute etwas Besonderes war. Sie sahen in ihr vor allem die Studentin, die mit dem bekannten Dr. Antonio Ferrara im Ausgrabungsgelände arbeiten wollte. Eduardos Freunde, auch die Männer, führten ein Leben der Muße und Leichtigkeit. Heute teilte Veronica diese Freuden mit ihnen. Sie badete in dem herrlichen Swimmingpool, genoß das kalte Büfett und trank eisgekühlte Drinks, die von einem uniformierten Diener serviert wurden. Später aß sie mit den anderen zu Abend und tanzte mit Eduarde und seinen Freunden in dem nahegelegenen Nachtclub, in dem die jungen Leute offenbar regelmäßig verkehrten. Es machte ihr Spaß, aber sie merkte auch, daß für sie nur ein Zwischenspiel war, was für die anderen einen immer wiederkehrenden Ablauf,
ihren Lebensstil, bedeutete.
Veronica versuchte, Eduardo dies zu erklären, als er spät nachts mit ihr nach
Hause fuhr. Er reagierte ungehalten, offenbar fühlte er sich und seine Freunde
kritisiert.
„Wir kennen nichts anderes", sagte er. „Es ist ein sehr angenehmer Lebensstil,
und nichts zwingt uns, ihn aufzugeben. Wir sind materiell unabhängig."
Veronica gab sich damit nicht zufrieden. „Für mich ist die Arbeit sehr wichtig. Sie
befriedigt ja nicht nur meine finanziellen Bedürfnisse, sondern auch meine
persönlichen."
Eduardo sah sie von der Seite an und schwieg. Dann hob er gleichgültig die
Schultern.
„Du nimmst das Leben zu ernst, meine Liebe. Das erinnert mich aber an etwas:
Leider muß ich zumindest den morgigen Tag auch ernst nehmen. Du weißt doch,
daß mein Onkel und ich zu einer geschäftlichen Besprechung müssen. Was hast
du morgen vor?"
„Also wirklich, Eduardo", protestierte sie. „Ich bin doch kein kleines Kind.
Vielleicht sehe ich mir La Ermita an, das alte Kloster außerhalb der
Stadtmauern."
„Da gibt es nicht viel zu sehen, aber bitte... es ist ganz nett dort."
Offenbar war er erleichtert, daß ihm dieser Ausflug erspart blieb.
„Aber wie willst du dorthin kommen? Soll ich dich hinbringen und dir für die
Rückfahrt ein Taxi bestellen?"
„Nein. Hör auf, mich so zu behandeln, als wäre ich ohne dich hilflos." Sie lachte
über sein bekümmertes Aussehen. „Ich komme schon zurecht. Ich kann ja eine
Kutsche nehmen und mich richtig stilvoll fahren lassen. Das könnte ein netter
Ausflug werden." Veronica ahnte nicht, daß sie den morgigen Nachmittag ganz
anders verbringen würde.
8. KAPITEL Veronica hatte wirklich vorgehabt, den nächsten Nachmittag so zu verbringen, wie sie es Eduardo beschrieben hatte. Doch der Telefonanruf, der sie am nächsten Morgen erreichte, warf ihre Pläne über den Haufen. „Veronica, hier ist Antonio am Apparat." Sie hatte seine tiefe Stimme sofort erkannt. „Ich habe zwei Eintrittskarten für den Stierkampf heute nachmittag. Ich bekam sie von jemand geschenkt. Da habe ich gleich an dich gedacht.“ Vor Überraschung konnte sie nicht gleich sprechen. Daß er mit ihr ausgehen wollte, war zu schön, als daß sie es glauben konnte. „Wie kommt es, daß du deine Meinung geändert hast? Als wir gestern über Stierkämpfe sprachen, wirktest du nicht gerade begeistert", sagte sie schließlich. „Ich finde es wirklich nicht schön, daß der Stier am Schluß getötet wird. Aber trotzdem ist der Stierkampf ein interessantes Schauspiel, und ich habe Respekt vor der Geschicklichkeit des Matadors." „Aha", sagte sie, noch nicht ganz überzeugt. „Was ist nun?" fragte er ungeduldig. „Willst du mit mir hingehen oder nicht?" „Doch, ich will", beeilte sie sich, ihm zu versichern. „Ich sollte mir tatsächlich wenigstens einen Stierkampf ansehen." „Natürlich. Du solltest von allem, was Mexiko zu bieten hat, wenigstens einmal probieren." Veronica ersparte sich eine Antwort. Im Moment zählte nichts, außer daß sie ihn am Nachmittag sehen würde. „Wir treffen uns um zwei Uhr auf dem Platz vor Los Portales." „Wo ist das?" „Es ist der Säulengang, in der Nähe vom Palast des Gouverneurs." „Sehr gut! Adios." Im nächsten Augenblick legte Antonio auf. Mit dem Hörer in der Hand blieb Veronica einen Moment bewegungslos stehen. Er hatte sehr früh angerufen. Sollten die anderen von diesem Gespräch nichts wissen? Warum hatte er nicht gefragt, ob er sie abholen könne? Der verabredete Treffpunkt lag zwar nicht weit von der Villa Lopez entfernt, aber dennoch... wollte er ihre Verabredung vielleicht vor Eduardo und seinem Onkel geheimhalten? Warum sollte Eduardo nicht wissen, daß sie mit Antonio zu einem Stierkampf ging? Als Veronica jedoch später mit Eduardo und Señor Lopez am Frühstückstisch saß, erzählte sie nicht, daß Antonio angerufen und sie eingeladen hatte. Schließlich standen die beiden Männer auf, um zu ihrer Verabredung zu gehen. Sie blieb sitzen und trank noch eine Tasse Kaffee. Warum hatte sie es nur nicht erzählt? Das Thema war eben nicht zur Sprache gekommen. Außerdem war sie Eduardo keine Rechenschaft schuldig. Schon gar nicht mußte sie ihn um Erlaubnis bitten. Doch wenn sie ehrlich war, gab es nur einen Grund für ihr Schweigen: er würde bestimmt versuchen, sie von diesem Treffen abzubringen, und das wollte sie nicht. Veronica verbrachte den Morgen mit einem Stadtbummel. Als sie zurück war, versuchte sie zu lesen. Doch sie war nicht bei der Sache. Die vielen Bücher in der Bibliothek erinnerten sie an die Episode in Antonios Wohnung. Maria fragte nach ihren Wünschen für das Mittagessen, doch Veronica bat nur um etwas eisgekühlten Tee und Sandwiches. Sie ließ sich den Imbiß auf den Balkon bringen, der zu ihrem Zimmer gehörte. Maria bedachte sie mit einem mißbilligenden Blick und murmelte etwas davon, daß sie zu dünn sei. Doch Veronica konnte nicht einmal aufessen, was ihr Maria gebracht hatte. Sie war viel zu nervös, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um das bevorstehende
Zusammensein mit Antonio. Es war noch viel zu früh, als sie sich umzuziehen begann. Nichts schien ihr passend, zugleich aber schalt sie sich, weil sie ihrer Kleidung solch lächerliche Wichtigkeit beimaß. Dann entschied sie sich für einen khakifarbenen, engen Baumwollrock, der an der Seite geschlitzt war, und eine buntkarierte Bluse im Westernstil. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und beschloß, das Haar zurückzustecken. Einige Strähnen hingen lose hinter ihrem Ohr, aber sie ließ sie. Denn das erinnerte sie daran, wie Antonio einmal eine solche Haarsträhne bei ihr zurückgestrichen hatte. Sie war zu früh fertig, wollte sich aber schon auf den Weg machen. Sie würde eben langsam gehen, und auf diese Weise würde die Zeit schnell verstreichen. In ihrem Zimmer sitzen und warten: das konnte sie jetzt nicht. Als sie zu dem vereinbarten Platz kam, war Antonio schon da. Er saß auf einer Bank vor dem Säulengang, und ohne es zu merken, beschleunigte Veronica ihren Schritt, um zu ihm zu gelangen. Antonio unterhielt sich angeregt mit einem Straßenhändler, der neben ihm saß. Veronica spürte, daß er sie bemerkt hatte, aber er schenkte ihr keine Beachtung, sondern wartete, bis der andere zu sprechen aufgehört hatte. Erst dann blickte er auf, sagte „Hallo" und bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Der Händler warf Veronica einen bewundernden Blick zu und verfiel dann in noch eifrigeres und lauteres Sprechen. Schließlich zog er eine riesige, handgewebte Hängematte aus einem Bündel zu seinen Füßen und versuchte, sie vor ihnen auszubreiten. Dabei sprach er so schnell, daß Veronica kein einziges Wort verstand. „Nein, nein", wehrte Antonio lächelnd ab und hinderte den Mann daran, die Hängematte ganz auszurollen. Dann erklärte er Veronica die Sachlage. „Er glaubt, wir könnten die gebrauchen. Sie ist groß genug für zwei. Man nennt sie hier ,Hängematte für Hochzeitsreisende'. Was hältst du davon?" Veronica spürte, wie sie rot wurde. Wollte er sich etwa über sie lustig machen? Es lag ihr viel daran, sich heute einmal nicht mit ihm zu streiten. „Ich glaube, man würde nicht viel Ruhe finden, wenn man zu zweit in dieser Hängematte läge", antwortete sie ausweichend. „Es ist eine Hängematte für Hochzeitsreisende — da ist es nicht gerade Ruhe, was man im Kopf hat." Er blickte sie an, wohl in der Hoffnung, sie erröten zu sehen. Dann wandte er sich wieder dem Straßenverkäufer zu. Anscheinend lehnte er dessen Angebot ab. Der Mann sagte etwas, worüber beide lachten. Ein Männerwitz, dachte Veronica, vielleicht haben sie über mich gelacht. Seltsamerweise ärgerte sie sich nicht darüber, sondern die gute Laune der beiden wirkte auf sie ansteckend. Der Händler winkte ihnen zu und ging dann davon. „Du bist aber früh dran", sagte Antonio. „Ja, ich hatte heute morgen nicht viel vor. Es war auch niemand zu Hause. Eduardo und sein Onkel sind heute nämlich nicht da. Da wollte ich hier bis zu deiner Ankunft noch etwas Spazierengehen." „Deshalb habe ich heute ja auch angerufen. Ich wollte nämlich Eduardo nicht im Schlepptau haben. Ist er sehr verärgert, weil du mit mir dorthin gehst?" Veronica gab keine Antwort. Sie wolle ihm nicht sagen, daß sie ihre Verabredung Eduardo gegenüber nicht einmal erwähnt hatte. Er würde sich dann so seine Gedanken machen, und das war ihr gar nicht recht. „Oder hast du... versäumt, es ihm zu sagen?" hakte er nach. „Ich hielt es nicht für notwendig", antwortete sie kühl und sah Antonio herausfordernd an.
„Recht so", erwiderte er, wobei er die Augenbrauen hochzog. „Warum sollte man ihn unnötig eifersüchtig machen?" Also „unnötig" war das für ihn! „Was soll's", sagte er, womit das Thema für ihn erledigt schien. „Ich wollte ihn nicht dabei haben und bin froh, daß er nicht hier ist." Hunderte von Menschen strebten wie Veronica und Antonio der Arena zu, um den heutigen Stierkampf zu sehen. „In Mexico City finden Stierkämpfe ja nur zu bestimmten Zeiten statt", sagte Veronica. Sie mußte große Schritte machen, um mit Antonios Tempo mitzuhalten. „Hier auf dem Lande ist es so ähnlich. Allerdings kann man kaum von einer Saison sprechen. Die Stierkämpfe finden meistens an einem Feiertag statt." „Ist denn heute ein solcher Feiertag?" „Ich weiß es nicht. Ich kenne mich in kirchlichen Feiertagen nicht aus. Aber ich habe gehört, daß man drei bekannte Matadore für den heutigen Kampf gewinnen konnte. Einer von ihnen, Adolpho Diaz, gehört mit zu den besten. Leider wird der Stierkampf immer mehr zu einem Geschäft. Aber wenn du mal ein richtiges mexikanisches Fest miterleben willst Ende September findet hier jedes Jahr eines statt, falls du dann vielleicht noch da bist." Warum sagte er das? Er wußte doch, daß sie nur bis Ende August bei ihm beschäftigt war. Über der Kasse der Arena hing ein Schild mit der Aufschrift „Agotado". Dort drängten sich eine Menge Leute. „Das heißt ausverkauft'", erklärte Antonio. „Die Arena hier ist sehr klein, nicht vergleichbar mit der in Mexico City." „Wo sitzen wir denn — sol oder sombra?" fragte Veronica. Sie wußte, daß man zwischen der Sonnen und der Schattenseite des Ringes wählen konnte. Die billigeren Plätze lagen in der Sonne, und dort saßen auch die ärmeren Zuschauer. Die anderen wählten die Schattenseite. Dort war es kühler, und man war auch näher am Geschehen. „Da dies dein erster Stierkampf ist, war ich großzügig." Er hielt ihre Karten hoch. „Wir sitzen direkt hinter der Absperrung, also ganz vorn. Wenn schon, dann sollst du auch alle Einzelheiten sehen." Mit Hilfe eines Platzanweisers fanden sie bald ihr Sitze. Veronica blickte sich neugierig um. Obwohl sie wußte, was sie erwartete, fühlte sie sich eher erregt als abgestoßen. Vielleicht ließ sie sich auch durch die gespannte Erwartung der anderen Zuschauer um sie herum anstecken. „Warum siehst du dir Stierkämpfe an, wenn du sie nicht magst?" fragte sie Antonio. „Mich stößt das Töten ab, aber das ganze Drumherum gefällt mir", gab er zu. „So ein Kampf fesselt mich. Eigentlich sollte man es nicht Kampf nennen, sondern ,corrida': es geht nämlich darum, wer schneller und geschickter ist." Dann erklärte Antonio Veronica die drei Stufen des Kampfes: „Zuerst kommen die Picadore, dann die Banderilleros und zum Schluß der Matador, den man auch Torero nennt." Er begann, die Aufgaben der verschiedenen Stierkämpfer Gruppen zu erläutern, wurde dabei jedoch von einem lauten Trompetenstoß unterbrochen. Die Menschenmenge brüllte vor Erwartung. „Jetzt geht's los", sagte Antonio. Veronica freute sich, daß sie einen der besten Plätze direkt hinter dem hölzernen Zaun hatte, der die Arena umgab. Als erste zogen die drei Matadore ein. Veronica staunte über ihre reichen Kostüme, die mit goldener und silberner Stickerei verziert waren. Die roten Mäntel, die sie lässig über eine Schulter geworfen
trugen, flatterten, und sie stolzierten damit in die Mitte des Ringes, als wären sie kühne Eroberer. „Wie Konquistadoren sehen sie aus", flüsterte sie Antonio ehrfürchtig zu. „Sieh noch mal genau hin", empfahl er ihr. „Diese Männer haben indianische und nicht kastilische Gesichtszüge. Es ist schon sehr ironisch, aber jeder arme Indianerjunge träumt davon, einmal ein berühmter Matador zu werden." Doch schon wurde Veronicas Aufmerksamkeit von den vielen anderen beansprucht, die hinter den Matadoren im Takt der durchdringenden Musik hereinmarschierten. Es waren die Picadore, zu Fuß oder auch beritten, deren prunkvoller Einzug von der Menge mit lautem Jubel begrüßt wurde. Während der nächsten Stunde sprang Veronica abwechselnd vor Aufregung auf die Beine oder hielt sich vor Entsetzen die Augen zu. Zuerst versuchte Antonio noch, ihr zu erklären, was im Ring vor sich ging. „Der Matador darf sich nicht viel bewegen, wenn der Stier vorbeirennt. Die wahre Meisterschaft liegt darin, die Reaktionen des Stieres unter Kontrolle zu haben, nicht aber darin, ihm auszuweichen." Der nächste Matador, Adolpho Diaz, war offensichtlich besonders beliebt beim Publikum. Er mußte gegen einen weitaus gefährlicheren Stier antreten. Das Tier griff sofort an und machte keine langen Pausen zwischen seinen Attacken. Doch er bestand den ersten Gang mit Bravour. Veronica war mittlerweile so mitgenommen, daß sie den zweiten Teil des Kampfes am liebsten nicht gesehen hätte. „Warum kann der Kampf nicht an dieser Stelle aufhören?" fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Inzwischen war Adolpho Diaz vor die Ehrenloge der Arena getreten und bat, den Hut in der einen, Schwert und Muleta in der anderen Hand, formell um die Erlaubnis, den Stier töten zu dürfen. Dann machte er eine weitausholende Bewegung, als ob er das ganze Publikum einbeziehen wolle. „Damit vermacht er den Stier dem ganzen Publikum, nicht bloß einer Person seiner Wahl", erklärte ihr Antonio, während die Zuschauer begeistert Beifall klatschten. „Sie erwarten jetzt von ihm, daß er besonders gut ist." Er hatte seinen Arm inzwischen um Veronica gelegt und drückte sie vor Aufregung an sich. Dieses Schauspiel sprach nicht nur alle Sinne an, sondern erzeugte auch eine erotischsinnliche Atmosphäre, der sich keiner entziehen konnte. Antonios Berührung verstärkte ihr Empfindungsvermögen für das, was sich in der Arena abspielte, während die innere Anspannung, die der Kampf zwischen Mensch und Tier hervorrief, ihr Antonios Wärme und Nähe um so stärker ins Bewußtsein rief. Antonio hatte ihr erklärt, daß die Menge das Äußerste an Können und Brillanz von Diaz erwartete. Und Diaz enttäuschte die Zuschauer nicht. Veronica hielt wiederholt den Atem an, so riskant sahen seine Manöver aus. Manchmal hörte sie kaum, was Antonio zu ihr sagte. Auf einmal schrie die Menge auf und begann zu toben. Sie fühlte, wie Antonios Spannung nachließ und er ruhiger atmete. Der Kampf war vorbei. Ganz im Sinne des jubelnden Publikums sprach der Schiedsrichter dem Matador nicht nur ein, sondern beide Ohren des Stieres zu. Doch die Menge gab keine Ruhe. „Sie sind der Meinung, daß er mehr verdient hat", erklärte Antonio. Blumen und bunte Hüte wurden in die Arena geworfen. Stolz nahm Diaz diese Zeichen der Verehrung entgegen. Da machte der Schiedsrichter eine Handbewegung, die die Menge zufriedenzustellen schien. Erneute brandete Beifall auf.
„Ihm ist auch noch der Schwanz zuerkannt worden. Das ist eine seltene Ehre, die nur ausgezeichneten Kämpfern vorbehalten bleibt." Antonio wandte sich Veronica zu und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. „Du hast großes Glück gehabt. Schon beim ersten Mal hast du eine großartige Vorstellung gesehen. Aber... was ist los? Du weinst ja!" Erst jetzt wurde sie sich ihrer Tränen bewußt. War es Mitleid mit dem Stier? Das wohl auch, aber vor allem suchte sich die übergroße Spannung so einen Ausweg. Die Aufregung über diesen Kampf, aber vor allem ihr Zusammensein mit Antonio brachten sie ganz durcheinander. Veronica wußte nicht, wie sie all das, was in ihr vorging, in Worte fassen sollte — sie wollte es auch gar nicht. Sie traute ihren Gefühlen nicht, wenn Antonio mit im Spiel war. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß auch seine Reaktionen nicht vorauszusagen waren. Aber jetzt nahm er sie in die Arme, strich ihr über das Haar und drückte sie fest an sich. „Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen. Es war zuviel für dich." Er wirkte ganz reuevoll. Wenn sie ihm mit Argumenten kam, wies er sie jedesmal zurück, aber wenn es ihr schlecht ging, behandelte er sie mit ungewohnter Zärtlichkeit. Sie hatte beste Lust, seine milde Stimmung einmal ordentlich zu genießen. Aber dann würde sie nur ein Spiel mit ihm treiben. Das war nicht recht. Sie rutschte etwas von ihm fort, um ihn anzusehen, aber nicht so weit, daß er sie loslassen mußte. „Mir geht's wieder gut. Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich fühle. Es war scheußlich, aber auch spannend. Ich weine eigentlich nicht richtig. Diese Tränen..." „Es hat dir also gefallen?" „So kann man das nicht sagen. Ich war sehr beteiligt an dem, was da vor sich ging." „Willst du gehen? Hast du genug gesehen?" Veronica war sich nicht sicher. Aber dann überwog doch der Wunsch, ihm zu zeigen, daß sie nervenstärker war, als er dachte. „Wir bleiben auch für den letzten", entschied sie. Dieses Mal gab sie genauer auf die Technik des Matadors und Antonios Kommentare dazu acht. Sie erkannte bald, daß dieser Stierkämpfer längst nicht so viel Erfahrung besaß wie Diaz. Ihm fehlte wirkliches Können. Antonio schüttelte mehrfach den Kopf, während er den jungen Mann bei seinen Manövern mit dem Stier beobachtete. Einmal schrie er laut: „Zu dicht!" Und in der Tat: der Stier hatte mit dem Horn die Jacke des Matadors gestreift. Bis zum Ende des Kampfes schrien und schimpften die Zuschauer vor Enttäuschung, daß ihnen für ihr gutes Geld nichts Besseres geboten wurde. Dem Matador blieben noch fünf Minuten, um den Stier zu besiegen, da sagte Veronica bittend: „Laß uns gehen, Antonio." „Aber vielleicht kann er ihn jetzt erledigen." „Das ist mir gleichgültig. Ich möchte es nicht sehen." Antonio gab nach und ging ihr durch die Menge voraus, deren Hohnrufe immer lauter wurden. Bald standen sie wieder draußen, außerhalb der Arena. Obwohl es später Nachmittag und immer noch sehr heiß war, atmete Veronica tief ein, froh, der stickigen Atmosphäre der Arena entkommen zu sein. „Die Luft dort war so schwer", sagte sie und lehnte sich einen Augenblick gegen Antonio. „Sie ist geschwängert mit Schweiß und Angst", erwiderte er und blickte sie aufmerksam an. „Fühlst du dich jetzt wieder wohl? Oder soll ich dir ein Taxi kommen lassen?"
„Nein, mir geht's prima. Ich würde lieber zu Fuß gehen. Das tut mir sicher gut." Auch als sie zur Stadt zurückgingen, hielt Antonio den Arm um ihre Schultern gelegt. Es war jetzt still in den Straßen. Die Menschen befanden sich noch in der Arena. Eine Zeitlang gingen sie, ohne zu sprechen, aber ihr Schweigen trennte sie nicht. Veronica gingen die Szenen des Stierkampfes immer wieder durch den Kopf, und sie durchlebte noch einmal die Gefühle, die sie dabei ergriffen hatten. Mit leiser Stimmer fragte sie schließlich Antonio: „Warum siehst du dir das an? Ich weiß, ich habe dich das schon vorhin gefragt..." „Weil es mich fasziniert, obwohl es mich zugleich auch abstößt. Schrecken, Blut und Tod gehören dazu, aber auch Schönheit und Tapferkeit. Vielleicht sehe ich auch gewisse Gemeinsamkeiten zwischen einem geschickten Matador wie Diaz und den jungen Mayas, die einstmals Wettkämpfe mit dem Ball austrugen, wie du es bald in Chichén Itzá sehen wirst." „Aber das war nur Sport, ein Spiel." „Aber es war ein Spiel mit ernstem Hintergrund, Veronica. Wir wissen heute, daß die Anführer der Mannschaften um den Sieg kämpften, obwohl sie wußten, daß ihr Sieg als Beweis gelten konnte, daß sie es wert waren, den Göttern geopfert zu werden." Weil Veronica so verstört aussah, fügte hinzu: „Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen." „Doch, ich bin froh, daß ich es miterlebt habe, Antonio, obwohl ich nicht weiß, ob ich es noch mal sehen möchte. Es war schrecklich aufregend." Schweigend gingen sie weiter. Dann sagte Antonio: „Als ich noch ein kleiner Junge war, wollte ich Stierkämpfer werden." Sie kamen wieder zu der Bank, an der sie sich getroffen hatten, und blieben dort stehen. Während sie sich dann setzten, sagte Veronica erstaunt: „Du — ein Stierkämpfer?" „Ja, ich." Er lächelte. „Amerikanische Jungen wollen Cowboys werden, mexikanische träumen vom Stierkampf." „Also, das richtige Aussehen und die Haltung, das hast du." Veronica konnte sich ihn gut in der Arena vorstellen — groß, geschickt und gebieterisch. „Aber nicht das Herz", sagte er. „Man braucht eine gewisse Härte, um das zu seinem Beruf zu machen. Als Kind spielte ich auf der Farm meines Onkels Stierkampf und ärgerte die Bullen, die er züchtete, mit einem roten Handtuch. Das war nichts weiter als ein Kinderspaß. Aber bei jedem Auftritt töten zu müssen, dauernd in Mexiko oder Spanien herumzureisen, von einem Kampf zum anderen, ständig um die Gunst des Publikums bemüht, das wäre nichts für mich. Ein Matador führt nicht gerade ein freies Leben." „Und solche Einschränkungen könntest du nicht ertragen." „Das will ich nicht sagen. Auch in meiner Arbeit muß ich Einschränkungen hinnehmen, aber ich bin bereit, sie zu akzeptieren. Weißt du, meine Tätigkeit ist eine intellektuelle Herausforderung; für den Stierkampf gibt es nur die physische." „Es sieht so aus, als wäre die Arbeit alles, was du brauchst." Etwas verständnislos blickte Antonio sie an und wartete, daß sie ihm das genauer erklärte. „Damit meine ich: alle sagen, daß du dich selbst zur Arbeit treibst, daß du keine anderen Interessen hast." „Fändest du es besser, wenn ich so ein Amateur wie Eduardo LopezPerreira wäre?" Er sprach den Namen mit Verachtung aus. „Nein, ich maße mir überhaupt nicht an, dir vorzuschreiben, wie du sein sollst.
Das liegt mir fern. Aber ich meine, du tust Eduardo unrecht. Er ist nicht so leichtsinnig, wie du denkst, und hat auch nicht solche Vorurteile wie sein Onkel." Antonio wirkte verärgert. „Wir sprechen doch nicht über Vorurteile! Allerdings wirst du mich kaum davon überzeugen können, Eduardo sei ein Freund des Gleichheitsgedankens." „Du scheinst zu vergessen, daß Eduardo hier geboren wurde, daß er genauso Mexikaner ist wie du. Er ist sehr stolz auf sein Land. Als wir uns gestern Merida ansahen, war ich überrascht, wieviel er über ihre Geschichte weiß." „Über Montejos Merida?" Antonios Stimme klang hart. „Was meinst du damit, Montejos Merida?" „Diese Stadt hieß nicht immer Merida. Die Mayas haben sie gebaut. Bei ihnen hieß sie Tiho. Montejo machte sie zu seiner Hauptstadt, aber eigentlich hätte er lieber in Chichén Itzá residiert. Der Gedanke, den Tempel auf der höchsten Pyramide der Mayas zu benutzen, faszinierte ihn." „Und was geschah dann?" „Die Indianer vertrieben ihn, so daß er bis Tiho zurückkehren mußte. Das zu erobern, gelang ihm. Er gab der Stadt den neuen Namen Merida. Aber selbst heute sagt ein großer Teil der Landbevölkerung noch Tiho. Tja — und dann lebte der Gouverneur hier in seiner Villa." Antonio deutete auf die Villa Montejo. „Du findest sie wohl nicht besonders schön?" „Nein. Sie steht für all das, was ich verabscheue." „Hat denn dieser Montejo gar nichts Gutes getan?" „Nach meiner Ansicht nicht. Man sagt, er habe einigen Kindern edler Indianerfamilien eine christliche Erziehung ermöglicht — wenn du das ,etwas Gutes' nennen willst. Eins dieser Kinder, das von der Kirche erzogen wurde, war ein direkter Nachkomme des letzten Königs von Mayapan, Gaspar Antonio Xiu. Diese Art Wohltätigkeit, die für mich einen bitteren Beigeschmack hat, wird von den reichen Familien noch heute praktiziert. Übrigens hat Señor Lopez meinem Vater einmal ein solches Angebot gemacht." „Ich verstehe nicht ganz", sagte Veronica. „Er schlug ihm vor, mir eine Ausbildung zum Landwirt zu finanzieren, was ja für einen armen, aber vielversprechenden Jungen eine anständige Karriere ist." In seiner Stimme schwang Verachtung. „Was wurde daraus?" „Mein Vater lehnte natürlich ab. Er mußte schwer arbeiten, um meine Ausbildung zu bezahlen. Aber er ließ mich meinen Beruf selbst wählen. Natürlich war ich inzwischen reifer geworden. Ich hatte gemerkt, daß Stierkampf mir weniger zusagte als Völkerkunde." Antonio lachte. „Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich mich so intensiv meiner Arbeit widme." „Unter Ausschluß von allem anderen?" meinte Veronica herausfordernd. Antonio warf den Kopf zurück und lachte herzlich. Dann blickte er sie abschätzend an. „Aber ich habe doch andere Interessen! Gerade du solltest das wissen." „Ich bin sicher nicht die einzige Frau, die dazu etwas sagen kann", gab sie scharf zurück. „Das will ich gar nicht bestreiten. Ich bin schließlich kein Heiliger. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, muß ich immerzu an meine Bedürfnisse denken. Ich glaube, dir geht es da nicht anders." Er sprach leise, und Veronica spürte ein angenehmes Kribbeln. Sie wußte nur zu gut, was er meinte, und suchte nach einer geschickten Antwort. Aber im Grunde waren ihr derartige Gespräche fremd. In der Hinsicht war sie eben anders als viele junge Leute, auch junge Frauen, die sogar offen mit ihren Bekannten und
Freunden über Sex sprechen konnten. Aber sie mochte das nicht. Man konnte schon sagen, daß sie sehr behütet aufgewachsen war. Auch jetzt während des Studiums lebte sie eher zurückgezogen, und das tat sie aus freiem Entschluß. Studium und Arbeit verbrauchten fast ihre ganzen Energien, und sie hatte ihre sozialen Kontakte bewußt eingeschränkt. Was die Arbeit betraf, war sie selbstbewußt und geradeheraus. Doch was ihre Gefühle und sexuellen Bedürfnisse anging, da war sie hilflos. Verwirrt blickte sie Antonio an, während sie nach einer passenden Antwort suchte. Doch sie wurde bald der Mühe enthoben. Zwei Männer kamen auf sie zugeschlendert: es waren Eduardo und Señor Lopez. Señor Lopez machte ein neugieriges Gesicht, Eduardo wirkte eher verärgert. Veronica wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken, und Antonio, der ihr Mienenspiel beobachtet hatte, geriet darüber fast in Zorn. Die Unterhaltung, die mit Mühe zustande kam, war eine einzige Peinlichkeit. Wenn Veronica später darüber nachdachte, errötete sie jedesmal. Sie versuchte den beiden zu erklären, wieso sie hier mit Antonio vor den Arkaden auf der Bank saß. Später mußte sie sich eingestehen, daß sie sich selbst in diese unangenehme Lage gebracht hatte. Warum hatte sie auch Eduardo und seinem Onkel ihre Pläne verheimlicht? Ihre Verlegenheit wiederum machte Antonio böse, und als er es nicht mehr aushielt, unterbrach er sie einfach und sagte: „Eigentlich ist alles sehr schnell erzählt. Ich habe Señorita Glenn zum Stierkampf eingeladen. Da sie keine anderen Verpflichtungen hatte, sagte sie mir zu. Sie ist doch frei, zu tun und zu lassen, was sie will, oder nicht?" Eduardo sah so aus, als läge ihm eine böse Antwort auf der Zunge, aber sein Onkel kam ihm mit einer höflichen Bemerkung zuvor. Kurz darauf wandte sich Antonio zum Gehen. „Da du jetzt in passender Begleitung bist, verabschiede ich mich lieber, Veronica." Veronica wußte nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte: darüber, daß Eduardo und sein Onkel ihre und Antonios Zweisamkeit gestört hatten, über ihre Feigheit, durch die es zu dieser peinlichen Situation gekommen war, oder über Antonio, der sich erst in ihre Angelegenheiten einmischte und dann aus dem Staube machte. Die gute Laune war jedenfalls für heute dahin.
9. KAPITEL Am nächsten Tag war Veronica immer noch sehr niedergeschlagen. Eduardo versuchte, sie aufzuheitern. „Veronica", bettelte er, „lächle mal! Der Nachmittag mit Ferrara hat dich traurig gemacht, nicht wahr? Oder war es der Stierkampf?" „Keins von beiden, Eduardo. Man kann aber doch nicht jeden Tag fröhlich sein, obwohl du das offenbar fertigbringst." „Entschuldige", sagte Eduardo und setzte eine ernste Miene auf. „Ich tue mein Bestes, verdrießlich zu wirken. Siehst du, wie ich mich anstrenge?" Es fiel ihm sehr schwer, ernst zu bleiben, und darüber mußte sie lächeln. „Ich weiß, was wir heute unternehmen können", rief er. „Heute zeige ich dir den Markt. Das wird dich auf andere Gedanken bringen." Veronica überlegte, ob sie nein sagen sollte. Sie hatte absolut keine Lust zu einem Ausflug und hätte sich am liebsten in ihr Zimmer zurückgezogen. „Komm mit", beharrte er. „Du kannst doch nicht den ganzen Tag hier im Haus herumsitzen." Nein, das wollte sie auch nicht. Was für ein Sinn läge auch darin? Es war sowieso töricht, darauf zu hoffen, daß Antonio wieder anrief. Direkt nach dem Frühstück brachen sie also zum Mercado Municipal auf. Unter einem riesigen Dach waren unzählige Stände aufgebaut, warteten Händler und Bauchladenverkäufer auf Kundschaft. Dazwischen drängten sich die Menschenmassen. Es waren vor allem Touristen und Indianer, die hier kauften und verkauften, über Preise verhandelten, stritten und schwatzten. Veronica war von dem bunten Treiben begeistert. „Hier kann man alles kaufen, vom billigen Strohhut für einen bis zum juwelenbesetzten Goldarmband für tausend Dollar", erklärte Eduardo und sah Veronica aufmerksam von der Seite an. Die bummelte glücklich von Stand zu Stand. Obst und Gemüse wurden feilgeboten, Töpfe und Geschirr, billige Kleider und feine Lederwaren und überdies viele nützliche Gegenstände aus Henequen, dem Sisalmaterial, das Yucatáns Hauptanbauprodukt ist. Natürlich konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sich etwas zu kaufen. Sie erstand eine bestickte Bluse und eins der weißen Baumwollkleider, die von den IndianerFrauen in Yucatán getragen werden. Es war wunderschön handbestickt und viel liebevoller gearbeitet als die Kleider, die sie vor einigen Wochen mit ihren Schülern in Uxmal bewundert hatte. Der Verkäufer sagte, es sei ein besonderes Kleid, „für die Hochzeit, ja, ja." Veronica tat, als habe sie nicht verstanden, aber Eduardo lachte und sagte: „Ich glaube, da brauchst du etwas anderes... es sei denn, du hast eine MayaHochzeit im Sinn." Am nächsten Stand blieb Veronica vor den fein gefältelten, reich verzierten „guayaberas" stehen, die dort auslagen. Es waren die weiten Hemden, die die Männer Yucatáns tragen. Sie war versucht, eins davon zu kaufen, aber wem sollte sie es schenken? Antonios Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, aber sie schalt sich wegen dieser unsinnigen Idee. Andererseits... Vorsichtig berührte sie die weiche Baumwolle. Dann faßte sie einen schnellen Entschluß. Sie bat den Händler, ihr ein großes Hemd herauszusuchen. „Für Dr. Cramer ist das, meinen Professor zu Hause", erklärte sie Eduardo, wobei sie hoffte, er habe den untersetzten Dr. Cramer nicht mehr recht in Erinnerung. Langsam gingen sie weiter. Vor einem Stand mit herrlich gearbeitetem Silberschmuck blieben sie stehen. Eine Halskette gefiel Veronica besonders gut. Eduardo wollte sie für sie kaufen, doch Veronica protestierte heftig. Sie wollte
nicht zulassen, daß er ihr teure Geschenke machte. Sie stritten immer noch hin und her, da hörten sie eine vertraute Stimme. „Wen haben wir denn da? Ja, ja auf dem Markt trifft man Gott und die Welt." Es war Sam, der mit breitem Grinsen auf sie zukam. Isabel folgte ihm. Sie wollte ein wenig zurückbleiben, aber Sam packte sie am Arm und zog sie mit sich. „Komm, Isabel, wir wollen doch Veronica und Señor LopezPerreira begrüßen." Sam begrüßte Eduardo mit zwangloser Freundlichkeit. Offensichtlich kannten sie sich schon. Isabels Verhalten kam Veronica jedoch merkwürdig vor. Sie sagte lächelnd „Hallo" zu ihr, begrüßte aber Eduardo mit äußerster Zurückhaltung. Eduardos Fröhlichkeit wirkte gezwungen. „Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Wie geht's dir, Isabel?" „Gut. Und dir?" Isabels Tonfall klang betont gleichgültig. „Prima. Ich bin immer derselbe." Isabel sah ihn abschätzend an. „Wirst du dich denn niemals ändern?" Die Frage schien ihn unangenehm zu berühren. Statt zu antworten, fragte er: „Was macht die Arbeit?" „Die läuft gut. Wir sind dabei, unser Geländeprojekt in Chichén Itzá vorzubereiten." „Ja, ich weiß..." Stumm blickten sie sich an. „Und dein Onkel? Geht's ihm gut?" fragte Isabel. „Wie immer." Die Spannung zwischen den beiden konnte man fast mit den Händen greifen. Veronica wurde ganz nervös, doch Sam rettete die Situation. Auf seine lustige Art begann er davon zu erzählen, wie er soeben um eine kleine Statue aus Obsidian gehandelt hatte. „Schließlich war die Händlerin mit meinem Preis einverstanden", fuhr er fort. „Ich hatte ein richtiges Triumphgefühl, als ich meine kleine Statue endlich in der Hand hielt." Er zeigte ihnen, während er sprach, den kleinen Regengott, den er erstanden hatte. „Doch mein Hochgefühl dauerte nur drei Minuten. Dann gelangte ich an einen Stand auf der anderen Seite des Ganges, wo es genau die gleiche Statue für den halben Preis gibt. Na ja, ich muß eben noch üben, was das Handeln betrifft", schloß er ein wenig kläglich. Selbst Isabel mußte über sein komisches Gesicht lächeln. „Ach, Sam, du fehlst mir", sagte Veronica wahrheitsgemäß. „Ich wünschte, wir wären alle beieinander." Eduardo hatte sich mit Isabel unterhalten, doch blickte er sofort auf, als er Sam sagen hörte: „Warum treffen wir uns nicht heute abend? Kommt doch mit zum Essen ins Los Almendros." Veronica fürchtete, daß Eduardo sofort ablehnen würde. Denn er hatte am Morgen etwas von einer Party bei einem Freund gesagt. Doch zu ihrer Überraschung drehte er sich um und fragte sie: „Was meinst du? Es hört sich gut an." Sie nickte zustimmend, denn sie hatte wenig Lust, noch einen abend mit Eduardos reichen Freunden zu verbringen. Außerdem bestand die Aussicht, daß auch Antonio dabei war. Zu viert setzten sie ihren Bummel über den Markt fort. Sam machte viel dummes Zeug und reizte Veronica damit fortwährend zum Lachen. Es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, um wertlose Gegenstände zu feilschen, ja, einmal überbot er sogar Veronica, als sie beide denselben Krug komisch fanden. „Sam, wenn dich deine Studenten jetzt sehen könnten, sie würden dich nicht wiedererkennen, wie du um zwei lumpige, spanische Pesetas feilschst, und das für etwas, was du überhaupt nicht brauchst", lachte sie und schüttelte den Kopf.
„Und wie ich das genieße", meinte er stolz. „Dr. Sam Ross, die Leuchte der Wissenschaft, Idol der strebsamen akademischen Jugend: dies Gesicht zeige ich Amerika. Aber wehe, wenn ich nach Mexiko komme: da bin ich der Schatzjäger und Geschäftemacher, die Plage der Märkte. Aber so ist das eben: Alle großen Männer haben zwei Seiten." Veronicas Lächeln wirkte nicht ganz echt, als sie ihm antwortete: „Das mag auf dich zutreffen, Sam, aber sicher nicht auf jeden großen Mann." Sie wußten beide, wen sie meinte. „Da hast du leider nicht recht, meine Liebe", entgegnete Sam. „Er hat auch nicht nur eine Seite. Gib ihm eine Chance." Das will ich ja, hätte sie am liebsten geantwortet, aber er gibt mir keine. Veronica war froh, daß Eduardo dieses Gespräch nicht mitbekommen hatte. Er und Isabel waren an einem Stand stehengeblieben und betrachteten die ausgestellten Dinge, wobei sie sich angeregt unterhielten. „Komm, laß uns weitergehen, Sam", drängte Veronica, um das Thema zu wechseln. „Du brauchst wirklich keinen Strohhut mehr." Sam ließ sich nicht beirren. „Meine liebe Veronica, werde erst mal erwachsen. Dann wirst du begreifen, daß das, was man wünscht, meistens das ist, was man braucht. Ich möchte diesen Hut gern haben, also brauche ich ihn wohl auch. Du wirst noch an meine Worte denken, wenn wir erst mal in der heißen Sonne von Chichén Itzá schuften." Sam begann nun ein ausgedehntes Verhandlungsgespräch und erstand schließlich zwei Hüte, einen für Veronica und einen für sich selbst. Die alte Indianerfrau und er schieden in gutem Einvernehmen; jeder freute sich über die gelungene Transaktion. Sam stülpte Veronica den breitrandigen Strohhut auf den Kopf und bog die Krempe an einer Seite kess nach oben. Isabel und Eduardo hatten sie inzwischen eingeholt und bewunderten den neuen Kopfschmuck gebührend. Isabel wirkte jedoch unruhig. Sie blickte Sam bittend an und sagte: „Ich glaube, wir sollten umkehren. Mein Vater wartet bestimmt schon." Sam wollte widersprechen, aber nach einem prüfenden Blick auf Isabels Gesicht lenkte er ein. Als die beiden gegangen waren, hielt Veronica es vor Neugier nicht mehr aus und fragte Eduardo, woher er Isabel kenne. „Wir haben uns vor einigen Jahren auf der Universität kennengelernt", antwortete er einsilbig. „Und dann...?" bohrte sie. Er benahm sich ja höchst merkwürdig. „Nichts", wich er aus. „Wir hatten zu wenig Gemeinsamkeiten. Wir beschlossen... nun, die Freundschaft ging auseinander." Veronica hätte zu gern Einzelheiten erfahren, aber Eduardo ließ sich in diesem Fall, ganz gegen seine Gewohnheit, nicht das kleinste Wörtchen entlocken. Auf der Heimfahrt waren beide sehr schweigsam. Als Veronica sich am Abend mit besonderer Sorgfalt für das Essen im Los Almendros umzog, fiel ihr plötzlich ein, daß weder Sam noch Isabel Antonio erwähnt hatten. Ob er überhaupt dabei sein würde? Vielleicht hoffte sie vergeblich, ihn wiederzusehen. Doch dann ärgerte sie sich über sich selbst. Es war lächerlich, daß sie daran auch nur einen Gedanken verschwendete. Veronica hatte nicht sehr viele Kleider mitgenommen, da sie nicht damit gerechnet hatte, oft auszugehen. In dem weißen Kleid hatte Antonio sie neulich beim Frühstück gesehen, und das türkisfarbene hatte sie schon bei Eduardos Freunden angehabt. Nun, sie würde es zum zweiten Mal anziehen. Es sah sehr weiblich und romantisch aus, und Antonio kannte es noch nicht an ihr.
Eduardo wartete unten im Salon auf sie. Er unterhielt sich dort mit Señor Lopez und schien aufgeräumter Stimmung zu sein. Gott sei Dank hatte seine Laune sich inzwischen gebessert. „Sie sehen entzückend aus, meine Liebe", lobte Sefior Lopez Veronica. „Eduardo hat mir erzählt, daß ihr euch mit ein paar Freunden zum Abendessen trefft. Wohin geht ihr, wenn ich fragen darf?" „Das Restaurant heißt ,Los Almendros'. Das hat Sam doch gesagt, Eduardo?" „Ganz richtig", bestätigte er. „Es ist ein unscheinbares Lokal, hat aber einen guten Ruf für einheimische Gerichte. Vielleicht kennst du es?" „Ja, sogar sehr gut. Es wird euch gefallen. Ihre Freunde möchten also Yucatáns Küche kennenlernen?" „Ja", antwortete Eduardo an Veronicas Stelle, ohne etwas hinzuzufügen. Sie hatte den Eindruck, daß er seinem Onkel nicht sagen wollte, mit wem sie sich trafen. „Ich bin schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen", überlegte Señor Lopez, doch zu Veronicas Überraschung reagierte Eduardo nicht auf diesen deutlichen Hinweis. „Wir sollten uns auf den Weg machen", wandte er sich an Veronica. „Warum hast du ihn nicht eingeladen, Eduardo?" fragte sie ihn draußen vor der Tür. „Leochan hätte bestimmt nichts dagegen gehabt." „Mein Onkel gehört zu den Unverbesserlichen", erwiderte Eduardo ruhig. „Er behauptet zwar, auf die Kultur der Mayas stolz zu sein, unterstützt auch die Arbeit von Ferrara. Aber er fühlt sich nur in der Gesellschaft seinesgleichen wohl." Also hatte sie sich nicht getäuscht. Offenbar sollte sein Onkel nicht wissen, mit wem sie sich trafen. Sie beschloß, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Eduardo würde seine Gründe haben, auch wenn sie das nicht verstand. Als Veronica und Eduardo in dem Restaurant eintrafen, wurden sie eine Treppe hinauf in ein kleines, intimeres Speisezimmer geführt. Die anderen waren schon da. Veronica hatte sich umsonst gesorgt, auch Antonio saß mit ihnen am Tisch. Glücklich betrachtete sie ihn. Zuerst bemerkt er ihre Ankunft nicht, denn er war in ein Gespräch mit Isabel vertieft. Ihre Köpfe steckten dicht zusammen, während sie miteinander sprachen. Veronica konnte nicht umhin festzustellen, was für ein hübsches Paar sie waren. Ob er die stolze indianische junge Frau wohl mit der gleichen besitzergreifenden Rücksichtslosigkeit behandelte wie sie? Leochan entdeckte sie und Eduardo als erster und stand sofort auf, um sie zu begrüßen. An diesem Abend war er der Gastgeber, und diese Rolle schien er zu genießen. Auch Sam erhob sich sofort, aber Antonio brach sein Gespräch nur widerwillig ab und ließ sich Zeit mit dem Aufstehen. Veronica schwankte, ob sie darüber amüsiert oder beleidigt sein sollte, dann entschied sie sich dafür, sein Verhalten mit Humor zu nehmen. Leochan war allem Anschein nach in diesem Restaurant gut bekannt. Die ganze Belegschaft war gekommen, um ihn zu begrüßen. Es sah ganz so aus, als wolle man ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. „Warum auch nicht?" sagte er. „Wir sind alle irgendwie miteinander verwandt. Selbst Antonio ist ein entfernter Cousin des Besitzers." „Aber Leochan ist das Familienoberhaupt", sagte Antonio liebevoll. „Früher, in den alten Zeiten, wäre er ein mächtiger Häuptling gewesen." „Und welche Funktion hättest du gehabt?" fragte Veronica. „Wärst du ein Prinz gewesen?" „Eher ein Krieger", schlug Eduardo vor. „Ich glaube, sie haben eine reichlich
kämpferische Ader."
Antonio warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Nur, wenn man mich provoziert,
mein Bester. Von Natur aus bin ich eher friedlich."
Sam mischte sich ein, bevor das Geplänkel vielleicht noch hitziger geworden
wäre, und entschied diplomatisch: „Nein, ich weiß es besser. Antonio wäre
Astronom gewesen.“
„Bei den alten Mayas waren die Astronomen die angesehensten Gelehrten, mußt
du wissen", fügte er, an Veronica gewandt, hinzu.
„Wahrscheinlich war es nicht leicht, mit ihnen auszukommen", sagte Veronica,
„wenn sie sich mehr mit Astronomie als mit den irdischen Dingen befaßten."
„Wie wär's mit Priester?" konterte Antonio. „Deren Leben ist wohl sehr
interessant gewesen. Schließlich mußten sie sich um die Jungfrauen kümmern,
die geopfert werden sollten. Du weißt sicher, daß manche Familie ihre Tochter
hergab, damit sie an einem geheimen Ort aufgezogen und eines schönes Tages
den Göttern geopfert wurde. Es galt als Ehre damals."
„Ich weiß", antwortete Veronica. „Mich schaudert, wenn ich daran denke. Auf
diese Ehre hätte ich gern verzichtet."
„Es kamen nur Mädchen in Frage, die besonders schön, sehr jung und völlig
unschuldig waren", sagte Antonio und schaute Veronica bedeutsam an. Die
ärgerte sich auch prompt.
„Hör auf, Antonio", sagte Leochan ganz ernst. „Du darfst nicht auf ihn hören,
Veronica. Antonio dramatisiert gern, besonders wenn es sich um solche Dinge
handelt. Auf diese Weise will er deutlich machen, wo die Frauen hingehören.
Dabei gibt es in der Geschichte der Mayas sogar einige berühmte Frauen."
„Das stimmt", mischte sich Sam ein. „Obwohl die Frauen teilweise aus
machtpolitischen Gründen oder wegen vorteilhafter Handelsabkommen an ihre
Freier verkauft wurden, gelangten sie häufig auch zu Macht."
„Meinst du so etwas wie die heimliche Macht hinter dem Thron?" fragte Veronica.
„Nicht nur das", antwortete Isabel. „Sie wurden manchmal wegen spezifischer
Fähigkeiten verehrt, die sie besaßen. Manche von ihnen herrschten sogar in so
wichtigen Zentren wie Naranja und Coba." Sie hatte stolz das Kinn gehoben und
blickte nicht Antonio, sondern Eduardo herausfordernd an.
„Genug damit", sagte Antonio lachend. „Gleich werden Veronica und Isabel uns
weismachen, daß die gesamte Geschichte von Frauen gemacht worden ist."
„Nun", erwiderte Veronica spitz, „das ist gar nicht mal so falsch. Denn all dieser
berühmten Männer sind schließlich von einer Frau geboren worden."
„Eins zu null", rief Sam begeistert. „Sie hat dich in der Falle, Antonio."
„Ja", meinte Antonio zustimmend. „Das hat sie, nicht wahr?"
Zu Veronicas Erleichterung wurde in diesem Augenblick der erste Gang
hereingebracht. Deshalb brauchte sie nicht zu reagieren.
Danach folgte eine Menge scharf gewürzter, köstlicher Speisen, die von allen mit
blumigen Worten gepriesen und begeistert verzehrt wurden.
„Wenn ich daran denke, daß ich mir wegen der Gewürze Sorgen gemacht habe,
Veronica", sagte Leochan erfreut, als er sah, wie ausgezeichnet es ihr schmeckte.
„Ich fürchtete schon, du seist nur milde Speisen gewöhnt, doch wie ich sehe,
genießt du unsere Küche."
„Und wie!" antwortete Veronica begeistert. „Dabei habe ich früher immer
geglaubt, die mexikanische Küche bestünde nur aus Tortillas und Enchiladas."
Sie kostete das Hauptgericht. Es bestand aus zartem Hühnerfleisch, das in einer
dicken, dunklen und sehr scharfen Sauce angerichtet war. Sie sah wie heiße
Schokolade aus, hatte aber einen sehr würzigen Geschmack, der ihr völlig neu
war.
„Köstlich", seufzte sie, „die reinste Versuchung, für immer hierzubleiben. Aber wahrscheinlich kann ich mir das nicht leisten." „Warum nicht? Mexiko ist bestimmt billiger als New York", meinte Sam lachend. „Aber nicht, wenn ich mir eine neue Garderobe anschaffen muß, weil ich in die alte nicht mehr hineinpasse. Diesem Essen könnte ich einfach nicht widerstehen", erklärte Veronica zur allgemeinen Heiterkeit. Ganz Kavalier alter Schule, tröstete Eduardo sie: „Nur keine Angst. Wir Mexikaner mögen es, wenn unsere Frauen ein bißchen fülliger sind. Hab' ich nicht recht, Dr. Ferrara?" „Das ist wohl eher der spanische als der indianische Geschmack, mein Bester", antwortete Antonio. „Die indianischen Mädchen sind schlank und kräftig." „Wie Isabel?" fragte Eduardo, wobei er die hübsche Archäologin ansah. „Ja, wie Isabel." Die beiden Männer blickten sich feindselig an. Leochan brach das unangenehme Schweigen. „Es ist leicht, schlank zu bleiben, wenn man hungern muß." Er erinnerte damit daran, daß die Mayas ihre Städte in sehr trockenen Gebieten gebaut hatten. Wenn es nicht regnete, herrschte bei ihnen Hungersnot. „Ein Glück, daß wir modernen Mayas statt des Regengottes den Supermarkt haben." „Das würde ich nicht sagen", widersprach Antonio. „Bevor die Spanier kamen, ging es den Mayas besser. Die brachten ihnen nämlich die europäische Kultur und in deren Gefolge viele Krankheiten. Die Knechtschaft machte sie außerdem seelisch krank." Seine Verbitterung kommt immer wieder durch, dachte Veronica. „Wird nicht gerade in Merida das Positive beider Kulturen sichtbar?" versuchte sie zu vermitteln. „Wer weiß, was aus Merida beim Aufstand von 1847 geworden wäre, wenn es nicht jenes sogenannte Wunder gegeben hätte." Antonios Sarkasmus war nicht zu überhören. Leochan lachte in sich hinein. Anscheinend wußte er, worauf Antonio anspielte. „Aber es war doch wirklich so etwas wie ein Wunder", ereiferte sich Eduardo. Leochan machte es Spaß, die Geschichte zum besten zu geben. „Im Jahr 1847 hatte es eine große Rebellion gegeben, die letzte, die die Mayas gegen die Spanier unternahmen. Die Indianer hatten ihr Lager in der Nähe von Merida aufgeschlagen, um dort den Angriff auf Merida vorzubereiten. Sie waren wild entschlossen, die Spanier ein für allemal aus der Hauptstadt zu vertreiben. Die sahen die Stadt schon verloren. Doch es kam nie zu dem Angriff, der den Mayas mit ziemlicher Sicherheit den Sieg gebracht hätte. Statt dessen stellten die Einwohner Meridas beim Morgengrauen fest, daß die Aufständischen abgezogen waren. Merida war gerettet. Die Kirchenglocken läuteten, und die Bewohner der Stadt dankten Gott für dieses Wunder." „Es gab also ein Wunder!" rief Veronica. Leochan lachte erneut in sich hinein. „Das hängt davon ab, wie man das Ganze betrachtet. Du weißt ja, daß die Mayas Bauern und keine Krieger sind. Sie leben mit der Natur, und die Natur bestimmt ihr Tun. Dafür ein Beispiel: Wenn die geflügelten Ameisen fliegen, ist es, so sagt die Überlieferung, Zeit, zu säen und den Boden vorzubereiten. Als die Indianer vor ihrem Angriff auf Merida ihr Lagar aufgeschlagen hatten, um sich auszuruhen und vorzubereiten, war es ein warmer Tag. Plötzlich überfielen Wolken fliegender Ameisen ihre Zelte. Die Männer wußten sofort, daß die Zeit zum Säen gekommen war. Die rechzeitige Einsaat aber bedeutete für sie und ihre Familien Brot und Leben. Das war ihnen wichtiger
als Krieg. Trotz der Bitten des Anführers verschwanden sie einer nach dem anderen. Es blieben nur wenig Männer übrig, so daß es sinnlos war, die Stadt anzugreifen. Das ist das sogenannte Wunder, das Merida vor dem Untergang bewahrte." „Es ist eher ein natürlicher als ein übernatürlicher Vorgang", meinte Isabel. Sie hatte die Geschichte schon oft gehört, freute sich aber immer wieder, wenn ihr Vater sie erzählte. „Für die, die auf diese Weise geschont wurden, war es dennoch ein Wunder." Eduardo bliebt hartnäckig. „Mir ist es gleich, welchen Ursprung ein solches Wunder hat." „Merida wurde verschont", sagte Antonio. „Dieser Kampf wurde nie ausgefochten. Aber es gibt andere Konflikte, die noch immer nicht ausgestanden sind." „Genug davon", sagte Leochan. „Damit wollen wir lieber gar nicht erst anfangen. Wir wollen uns doch entspannen, gut essen und nicht Kämpfe ausfechten." „Du hast recht", antwortete Antonio einlenkend. „Ich kann es Sam ansehen, daß auch er deiner Meinung ist." „Stimmt", bestätigte Sam. „Komm herunter von deinem Rednerpult. Du bringst damit Isabel und Eduardo ganz aus der Fassung." Die beiden machten keinen besonders glücklichen Eindruck, das fiel Veronica jetzt auf. Sam fuhr unterdessen fort: „Zuviel reden ist schlecht für die Verdauung. Bei der Gelegenheit: wann kommt der Nachtisch?" Es gab eine Obstspeise, die auf der Zunge zerging. Danach schlürften sie noch einen Likör. Er war das traditionelle Getränk der Mayas, aus fermentiertem Honig hergestellt und mit Anis verfeinert. Sam kostete bedächtig und befand: „Das ideale Getränk, um das Essen abzurunden." Anschließend bummelten sie noch durch die Straßen Meridas. Wahre Menschenmengen strömten in Richtung Marktplatz. „Es findet eine Veranstaltung statt", erklärte Isabel. Als sie hinkamen, hatte die Vorstellung schon angefangen. Ein bunt gekleideter Mann, der Sänger und Komiker in einer Person zu sein schien, brachte das Publikum zum Lachen. „Er singt unzüchtige Lieder", amüsierte sich Leochan. Im Hintergrund der Bühne wartete schon eine Gruppe farbenprächtig gekleideter Tänzer. Veronica war begeistert. „Können wir nicht hierbleiben und zuschauen?" „Warum nicht? Das heißt, Sie finden eine provinzielle Unterhaltung wahrscheinlich langweilig, nicht wahr?" wandte sich Antonio provozierend an Eduardo. Der ärgerte sich. „Finden Sie diese Lieder denn witzig? Außerdem gibt es keine freien Plätze mehr." „Wir können doch stehen, wir haben schon den ganzen Abend gesessen", schlug Sam vor. „Ich habe so eine Darbietung seit Jahren nicht mehr gesehen", sagte Isabel, und ein sehnsüchtiger Klang war in ihrer Stimme. „Als Kind habe ich mich immer so darauf gefreut." „Sie sind überstimmt, Señor Perreira", erklärte Antonio. „Wir bleiben." So drängten sie sich durch die Menge der Zuschauer. Doch Veronica konnte leider kaum etwas sehen. Da kam ihr ein Gedanke. Konnte sie nicht auf den Sockel des Denkmals klettern, neben dem sie standen? Gedacht, getan. Eduardo tat ihr den Gefallen und hob sie hinauf. Veronica war sehr zufrieden mit ihrem Aussichtspunkt. Von hier aus hatte sie
einen guten Blick auf die Bühne. Nach der Volkstanzgruppe trat ein Chor auf und danach ein hübsches Mädchen, das romantische Lieder sang. Veronica war von den Darbietungen so begeistert, daß sie nicht bemerkte, wie die Freunde von der Menge zur Seite gedrängt wurden. Als der Zeremonienmeister die letzte Darbietung, eine MariachiBand, ankündigte, hielt Veronica nach den anderen Ausschau, konnte sie aber nirgendwo in der Menschenmenge entdecken. Was sollte sie jetzt tun? Sie stand fast ein Meter fünfzig über dem Boden und konnte nicht einfach in die Menschenmenge hinunterspringen. Sollte sie vielleicht einen Fremden bitten, ihr zu helfen? Allmählich geriet sie in Panik, aber da entdeckte sie ganz in der Nähe Antonio. Er stand da mit einem breiten Grinsen, hatte sie offenbar schon eine ganze Weile in ihrer Not beobachtet. Langsam schob er sich nun an den Sockel heran. „Das Fräulein hat ein Problem?" tat er unschuldig. „Was denkst du denn?" fauchte sie. „Ich muß hier runter." „Ach, so ist das. Warum kommst du nicht so herunter, wie du hinaufgekommen bist?" „Du weißt doch genau, daß Eduardo mir geholfen hat." Sie kam sich so lächerlich vor. Die Untenstehenden fingen schon an, sie anzustarren. „Und jetzt gibt es keinen Eduardo, der dir herunterhelfen könnte. Ist das dein Problem?" „Antonio... bitte..." „Bitte was? Eduardo hat dich im Stich gelassen, und jetzt möchtest du, daß ich dir helfe?" „Du bist entsetzlich! Eduardo hat mich nicht im Stich gelassen. Er muß hier irgendwo sein." „Also in dem Fall..." sagte er und machte Anstalten, davonzugehen. „Nein, warte", schrie Veronica. „Ich will nicht länger hier oben bleiben. Bitte, hilf mir herunter." „Nun, da du mich jetzt so freundlich darum bittest..." Er kam zurück, hob die Arme, und Veronica ließ sich von ihm hinunterheben. Ihre Zehen berührten schon den Boden, aber Antonio gab sie noch nicht frei. Die vielen Menschen um sie herum schwanden aus ihrem Bewußtsein. „Meinen Lohn, bitte", sagte er sanft. Dann gab er ihr einen leichten Kuß, der ihren Mund wie mit Feuer versengte. Es verlangte sie nach mehr, aber er hatte die Lippen schon wieder von den ihren gelöst. Veronica hielt immer noch selbstvergessen seine Schultern umklammert. Sie machte keine Anstalten, ihn loszulassen, so daß Antonio ihr prüfend ins Gesicht blickte. „Du scheinst mehr zu erwarten, Veronica. Aber wenn es dir angeboten wird, reagierst du abweisend. Du mußt dich endlich entscheiden. Mit mir kann man nicht spielen." Energisch machte er sich los und nahm sie bei der Hand. „Komm, die anderen sind da drüben. Sie warten schon." Aber Veronica wollte gar nicht zu den anderen gehen. Wie kam er nur darauf, daß sie mit ihm spielen wollte? Doch leider blieb ihnen keine Zeit, die Unterhaltung fortzusetzen. Da waren ihre Freunde schon. „Schnell, euer Eis schmilzt", rief Sam, der auch für sie Eiswaffeln bei einem Straßenstand gekauft hatte, und überreichte ihnen die tropfenden Waffeln. „Vanille für dich", sagte er zu Veronica und hielt ihr das Eis hin, „und gebrannte Mandel für dich, Antonio. Ich habe die Sorten zu eurem Temperament passend ausgewählt: süß und hell für Veronica und dunkel und ein wenig bitter für dich, Antonio." „Du solltest nicht nach Äußerlichkeiten urteilen", sagte Antonio zu Sam. „Meine
Sorte schmeckt eigentlich sehr süß."
„Veronica, was meinst du: Will Antonio uns vielleicht durch die Blume etwas zu
verstehen geben?" forschte Sam.
Eduardo war als einziger mit dem Auto gekommen. Daher bot er den anderen an,
sie zu ihrem Hotel zurückzufahren.
Antonio lehnte das Angebot ab. „Vielen Dank, aber ich gehe lieber zu Fuß. Es ist
nicht weit."
„Ich glaube nicht, daß wir alle hineinpassen", gab Isabel zu bedenken.
„Sechs Personen könnte ich unterbringen", erwiderte Eduardo.
„Wie gesagt, ich gehe lieber", wiederholte Antonio.
„Und ich schließe mich dir an", meldete sich Sam zu Wort. „Vielleicht werde ich
beim Gehen ein paar von den Kalorien los, die ich mir heute abend angefuttert
habe." Er drehte sich zu Isabel um. „Fahr du mit Leochan zum Hotel. Ich glaube,
das lange Stehen ist deinem Vater nicht bekommen."
„Das stimmt", pflichtete der ihm bei. „Das Gehen und Stehen hat mich ziemlich
ermüdet. Señor Eduardo, ich nehme Ihr freundliches Angebot gern an."
Veronica sah Antonio forschend an, aber er wünschte allen eine gute Nacht und
ging dann mit Sam davon.
Ihre Blicke folgten der hochgewachsenen Gestalt, die sich langsam entfernte.
Wenn ihr doch bloß ein Grund einfiele, die beiden zu begleiten! Aber es war dafür
zu spät, sie waren nicht mehr zu sehen. Wohl oder übel mußte sie mit Leochan
und Isabel in Eduardos Mercedes einsteigen.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Das Hotel der Forschungsgruppe lag nur etwas
weiter die Allee hinunter als die Villa der Lopez, an der sie vorbeikamen. Trotz
Isabels Protest stieg Eduardo mit aus dem Wagen und brachte sie und ihren
Vater zum Eingang des Hotels. Veronica sah, wie Leochan hineinging und
Eduardo noch ein paar Worte mit Isabel wechselte. Dann verschwand auch sie in
dem Hotel, und Eduardo kehrte zum Auto zurück.
„Das war ein netter Abend", begann Veronica.
„Ja, auf diese komische Show hätte ich allerdings gern verzichten können. Es war
viel zu voll, zu laut und zu lang."
„Eduardo, sei nicht ein solcher Muffel", schalt sie. „Wahrscheinlich war es lustiger
als die Party, zu der du gehen wolltest."
„O je, das hätte ich fast vergessen. Ich habe Pedro versprochen, wir würden kurz
,reinschauen'."
„Aber es ist schon so spät", warf Veronica ein.
„Für Pedro nicht. Seine Partys dauern immer bis Sonnenaufgang."
„Das mag ja sein, aber ich schaffe das nicht. Laß mich bei euch aussteigen, und
geh allein hin. Ich bin müde."
„Also gut", stimmte Eduardo ihr zu. Veronica war zwar ein wenig überrascht, daß
er so bereitwillig nachgab, aber zugleich auch erleichtert.
Eduardo hielt vor dem Haus des Onkels. „Was für eine laue Nacht!" schwärmte
Veronica, als sie durch das Tor und die Stufen zum Eingang hinauf gingen. „Ein
leichter Wind ist aufgekommen. Am liebsten würde ich draußen schlafen."
„Davon wirst du bald genug haben, wenn du erst mal in Chichén Itzá bist",
erinnerte sie Eduardo und öffnete die Haustür.
Er wollte sie noch zu ihrem Zimmer bringen, aber sie winkte ab. Den ganzen
Abend war er schon so nett und rücksichtsvoll gewesen. In einer plötzlichen
Anwandlung von Dankbarkeit und Zuneigung küßte sie ihn heftiger und mit mehr
Gefühl als gewöhnlich.
Eduardo wußte gar nicht, wie ihm geschah. Dann nutzte er die Gunst der Stunde
und zog sie enger an sich. Aber so hatte Veronica das eigentlich nicht gemeint.
Sie empfand weder Leidenschaft noch Zärtlichkeit für ihn, nur eine Art Zuneigung, die — so fürchtete sie — auch noch vergehen würde, wenn sie sich weiter umarmten. Darum schob sie ihn lieber fort. „Gute Nacht. Und viel Spaß", meinte sie hastig und schob Eduardo in Richtung Haustür. Er blickte sie erstaunt an, sagte aber nichts. Sie war erleichtert, als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel.
10. KAPITEL Eduardo fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, nachdem er gegangen war.
Veronica hatte ihn heute endlich einmal mit Leidenschaft geküßt. Solange hatte
er sich danach gesehnt, daß sie seine Liebe eines Tages erwiderte. Jetzt ging sein
Wunsch in Erfüllung, aber hatte das überhaupt noch Bedeutung für ihn?
Das Wiedersehen mit Isabel heute hatte schmerzliche und sehnsuchtsvolle
Erinnerungen in ihm geweckt.
Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen, denn er war Veronica gegenüber, was
Pedros Party anging, nicht ganz ehrlich gewesen. Zwar fand sie heute statt, aber
er hatte sein Kommen nicht zugesagt. Er war davon ausgegangen, daß Veronica
lieber zu Hause bleiben wollte. Das gab ihm die Möglichkeit, allein etwas zu
unternehmen.
Denn vieles ging ihm durch den Kopf. Er war ruhelos, und es hielt ihn nicht im
Haus. So stieg er in seinen Wagen und fuhr davon. Er hatte zunächst kein
bestimmtes Ziel im Sinn. Doch wenige Momente später stand er wieder vor dem
Hotel, in dem die Tikals, Sam und Antonio wohnten. Hierhin also hatte es ihn
gezogen.
Vorhin hatte Isabel es eilig gehabt. Sie waren nicht dazu gekommen, sich für
einen späteren Zeitpunkt zu verabreden. Nervös hatte Isabel ihn daran erinnert,
daß Veronica im Auto auf ihn wartete, und war ins Hotel gerannt.
Eduardo spähte zum Hotel hinüber. In welchem Zimmer mochte Isabel wohnen?
Dann schalt er sich. Als ob dieses Wissen ihm etwas genutzt hätte! Er seufzte,
stellte den Motor ab, stieg aus und ging auf das Eingangstor zu. Die alberne
Hoffnung trieb ihn, sie hier draußen wie durch ein Wunder anzutreffen.
Du bist närrisch, schalt er sich und stutzte dann: Irgend jemand hatte in der
Dunkelheit auf dem Mäuerchen neben dem Eingang gesessen und wollte jetzt ins
Haus gehen.
„Isabel..." rief er leise. Spielte ihm seine Sehnsucht einen Streich?
Er hatte sich nicht getäuscht, packte sie am Arm und hielt sie fest.
„Bitte, bleib, wo willst du hin? Lauf nicht wieder weg."
„Was machst du denn hier, Eduardo?"
„Ich hätte doch nicht schlafen können", antwortete er. Der Klang seiner eigenen
Stimme irritierte ihn. Warum mußte sie nur so entsetzlich wehleidig und kindisch
klingen? Ob Isabel es auch bemerkte?
„Aber wieso bist du dann hier?" wiederholte sie hartnäckig.
„Ich hatte die verrückte Idee, daß ich dich vielleicht noch mal sehen und
sprechen kann."
„Das bringt doch nichts!"
„Woher willst du das wissen? Wir könnten es einfach mal versuchen."
„Es gibt nichts, was wir zu bereden hätten", wiedersprach sie ihm. Eduardo
versuchte, ihr Gesicht im Dunklen zu erkennen.
„Wir haben uns jetzt drei Jahre nicht gesehen. Es gibt viel, worüber wir sprechen
könnten. Wir hatten uns doch immer so viel zu erzählen."
„Das war damals, in einer anderen Situation", entgegnete sie voller Wehmut.
„Wir studierten beide an derselben Universität, hatten die gleichen Träume und
Ideale."
„Und warum konnte es nicht so bleiben, Isabel?"
„Sei doch ehrlich, Eduardo, unsere Beziehung hatte doch in Wirklichkeit keine
Chance. Denk nur mal an deinen Onkel."
„Schieb nicht meinen Onkel vor! Du wolltest mich nicht mehr sehen, das ist die
Wahrheit. Du wolltest die Trennung."
Kühl erwiderte sie: „Nun gut, Eduardo, vielleicht sollten wir wirklich miteinander reden. Es gibt Dinge, die endlich geklärt werden müssen. Komm, wir setzen uns dort hinten hin. Da kann uns niemand stören." Entschlossen nahm sie seine Hand und führte ihn ans andere Ende des Mäuerchens. Dort ließen sie sich nieder, aber Isabel entzog ihm dabei schnell ihre Hand, ehe er sie festhalten konnte. „Nein", sagte sie. „Laß uns nur reden, ohne daß wir uns dabei anfassen." Doch keiner mochte den Anfang machen. So schwiegen sie eine lange Zeit, bis Eduardo sich ein Herz faßte und begann: „Du hast die Trennung herbeigeführt. Von einem Tag auf den anderen wolltest du mich nicht mehr wiedersehen." „Es war nicht so plötzlich. Das weißt du genau, Eduardo! Dein Onkel war gegen uns, das zeigte er deutlich. Er hat mich einfach nicht akzeptiert. Ein indianisches Mädchen: das paßt nicht in seine Welt." „Aber es hätte in meine gepaßt." „Genau das bezweifle ich. Auf der Universität hatten wir beide, du und ich, unsere gemeinsame Welt. Aber dein Onkel lebt in einer völlig anderen, es ist die der spanischen Aristokraten. Du standest vor der Wahl, wohin du gehören willst." „Aber ich kam doch gar nicht dazu, eine Entscheidung zu fällen. Du hast das für mich erledigt." Seine Stimme klang zugleich zornig und hilflos. „Um dir Zeit zum Nachdenken zu lassen, zog ich mich zurück. Aber was geschah daraufhin? Dein Onkel vereinnahmte dich völlig. Das ging sogar so weit, daß du die Universität verlassen und dein Studium abgebrochen hast." „Was für einen Sinn hätte es denn gehabt, noch an der Universität zu bleiben?" „Was für einen Sinn?" wiederholte sie entrüstet. „Deine Zukunft hing doch nicht nur von mir ab. Du warst mitten im JuraStudium. Vor dir hätte ein Karriere gelegen. Das hast du alles hingeworfen. Ein sinnvolles Leben hat auf dich gewartet, aber statt es anzupacken, bist du davongelaufen. So verhält sich kein Mann. Du hast dich wie eine Marionette benommen." Jetzt wurde Eduardo richtig zornig: „Ich soll eine Marionette sein? Was willst du damit sagen?" „Du weißt genau, was ich meine. Ein anderer zieht die Fäden." „Aber ich versuchte doch, dich wiederzusehen..." „Du verstehst mich offenbar noch nicht, Eduardo. Ich wollte nicht, daß du meine Marionette bist, genausowenig gefällt es mir, daß du dich nun zur Marionette deines Onkels gemacht hast. Du mußt endlich mal du selbst sein, das tun, was du tun willst. Wie du jetzt lebst..." Sie schüttelte den Kopf. „Diese, Arbeit', die du da für deinen Onkel tust: Das kann doch wohl nicht dein Lebenszweck sein." „Jetzt redest du wie Ferrara daher." Verächtlich schüttelte er den Kopf. „Und wenn schon. Antonio mag seine Fehler haben, aber er hat auch viele gute Eigenschaften. Eine davon ist seine Unabhängigkeit." „Mir scheint, Dr. Ferrara hat bei seiner weiblichen Belegschaft einen Stein im Brett", murmelte Eduardo verärgert. „Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen. Sagst du das meinetwegen, oder denkst du an Señorita Glenn dabei?" Isabel schwieg einen Moment, aber bevor Eduardo Gelegenheit hatte zu antworten, fuhr sie fort: „Nein, du brauchst nichts zu sagen. Ich habe kein Recht, dich das zu fragen. Was du tust und mit wem du dich triffst, geht mich nichts an." „Wieso denkst du, daß ich mich hätte anders verhalten müssen? Du wolltest schließlich nichts mehr von mir wissen. Was hast du denn von mir noch erwartet? Ich war froh, daß ich bei meinem Onkel neu anfangen konnte." „Was ich von dir erwartete? Ich weiß nicht. Vielleicht genau das, was dann auch eingetroffen ist. Ich bin ja kein Optimist. Aber was ich wollte? — Um deinetwillen, Eduardo, wollte ich, daß du dich gegen deinen Onkel durchsetzt. Ich hoffte, daß
du ihm sagst, du würdest jetzt deine eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe
gewünscht, daß du, falls notwendig, meine Tür aufbrichst und mir dasselbe
sagst. Ich wollte... aber ist das für dich jetzt noch wichtig?"
Ihre Stimme schwankte, und sie wirkte gar nicht mehr so kühl und beherrscht
wie sonst.
„Ich mag es nicht, wenn ich so bin wie jetzt", fuhr Isabel nach kurzer Pause fort,
als sie sich wieder gefangen hatte. „Ich habe gelernt, nichts von anderen
Menschen zu erwarten. Und ich weigere mich, mich von irgend jemand verletzen
zu lassen. Meine Unabhängigkeit ist mir am wichtigsten."
„Darin seid ihr wohl ein Herz und eine Seele, Ferrara und du?"
„Kann sein, daß wir sehr viel Gemeinsames haben."
„Auch, was das hier betrifft, Isabel?" Eduardo zog sie an sich. „Seid ihr euch auch
in dieser Beziehung nahe? So nahe wie wir damals?"
Isabel war so überrascht, daß sie vergaß, sich gegen ihn zu wehren. Doch als
Eduardo sie zu küssen versuchte, preßte sie die Lippen trotzig zusammen. „O
Isabel", flüsterte Eduardo verzweifelt und berührte noch einmal ihren Mund mit
den Lippen. Weil sie Mitleid mit ihm bekam, gab sie ein wenig nach, und
Eduardo, der die Veränderung in ihr spürte, zog sie noch fester an sich.
Doch Isabel befreite sich bald aus seinen Armen. Sie hatte wenig Lust, noch
einmal das durchzumachen, was hinter ihr lag.
„Nein, Eduardo. Wir können nicht noch einmal von vorn anfangen. Es hat sich
nichts verändert. Wir meinen, wenn wir uns umarmen, gäbe es die Realität nicht
mehr, aber das stimmt nicht. Dein Onkel und seine Einstellung... das ist
geblieben. Señor Lopez kann man nicht außer acht lassen."
„Und Antonio Ferrara..." sagte er vorwurfsvoll.
„Und Veronica Glenn..." gab sie zurück.
„Hast du gedacht, ich würde allen Frauen aus dem Wege gehen, Isabel? Hast du
das gehofft? Lange Zeit war es tatsächlich so. Ich interessierte mich nicht für
andere Mädchen. Veronica ist die erste, mit der ich mich seit unserer Trennung
ein wenig näher angefreundet habe. Irgendwie hat sie mich an dich erinnert."
„Entschuldige, Eduardo. Aber darüber kann ich nur lachen. Der Vergleich ist doch
an den Haaren herbeigezogen."
„Natürlich bist du vom Aussehen und Temperament her ganz anders als sie. Aber
auch Veronica liebt ihre Arbeit und Unabhängigkeit.“
„Erspar mir diese Beschreibung, ja?"
„Isabel, bitte..." Eduardo hielt sie am Arm fest, weil sie aufstehen wollte, doch
sie riß sich los. Hilflos ging er neben ihr her. Zur Eingangstür, da hörten sie
jemand pfeifend näherkommen.
„Ist es nicht nett, daß ich euch mein Kommen ankündige, wer immer ihr seid?"
Isabel hatte die Stimme sofort erkannt.
„Sam", rief sie überrascht, „bist du's?"
Er trat auf sie zu. „Isabel? Du bist noch auf? Wen hast du da bei dir? Oh,
Eduardo..." Er schien einen kurzen Moment verdutzt. „Heute nacht scheint
einiges drunter und drüber zu gehen."
Isabel sah ihn prüfend an. „Sam, bist du beschwipst? Du hast doch vorhin gar
nicht viel getrunken?"
„Nicht der Wein verwirrt mich, meine liebe Isabel, sondern ihr Menschen. Ja, ihr
seid ein merkwürdiges Völkchen. Keiner von euch ist da, wo man ihn erwartet."
„Wo ist Ferrara?" erkundigte sich Eduardo, einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Eine gute Frage", lobte Sam. „Ja, wer das wüßte!"
„Was redet ihr da?" fragte Isabel ungeduldig. „Ist ihm etwas passiert?"
„Nein, das würde ich nicht sagen. Ich will es mal so nennen: Er ist ein bißchen
vom Weg abgekommen. Genau wie Sie übrigens, Eduardo."
„Ich bin auf dem Weg zu einer Party bei einem Freund. Doch zuerst mußte ich
Isabel sprechen."
„Dabei will ich auf keinen Fall stören." Sam schickte sich an zu gehen.
„Sei nicht albern. Du störst nicht." Isabel ergriff Sams Arm und ging mit ihm zur
Tür. „Ich gehe mit dir hinauf, Sam. Eduardo hat schon alles gesagt, was es zu
sagen gab."
„Aber..." begann Eduardo.
„Hör auf", sagte sie ärgerlich. „Um Himmels willen, geh endlich zu deiner Party.
Die wirst du dir doch nicht entgehen lassen wollen."
„Da hast du recht. Das werde ich auch nicht. Ein bißchen Vergnügen kann ich
jetzt nämlich gebrauchen", erwiderte Eduardo wütend und stürmte zu seinem
Wagen davon.
„Mich wundert, daß Veronica nicht mitgeht."
„Ich glaube, die hat anderes zu tun", antwortete Sam geheimnisvoll und fügte
dann hinzu: „Was für eine Nacht!"
Als Veronica Eduardo gute Nacht gesagt hatte, blieb sie noch einen Moment
hinter der Haustür stehen. Sie war unzufrieden mit sich selbst.
Warum nur empfand sie nichts für Eduardo? Ihr Leben wäre viel unkomplizierter,
wenn sie es könnte. Schließlich war er intelligent, rücksichtsvoll und sehr reich.
Viele Frauen würden sie um einen solchen Freund und vielleicht Ehepartner
beneiden.
Sicher — er verstand nichts von ihrer Arbeit. Aber war das so schlimm? Er würde
sich auch nicht einmischen und ihr außerdem Beistand, Zuneigung und auf jeden
Fall Sicherheit geben.
Ganz in Gedanken berührte sie ihren Mund. Ihre Lippen fühlten sich kalt an.
Wozu hatte sie nur die Leidenschaft kennenlernen müssen! Die brachte
schließlich nichts als Verdruß ein.
Der Kopf schmerzte ihr vom vielen Denken. Deshalb öffnete sie die Haustür
wieder. Vielleicht würde ihr die frische Luft guttun, so daß sie Schlaf finden
konnte.
Entschlossen trat sie hinaus ins Freie. Während sie tief Luft holte, hörte sie die
Tür hinter sich mit einem kurzen Klicken ins Schloß fallen. So ein Pech! Nun hatte
sie sich selbst ausgeschlossen.
Wie sollte sie wieder hineinkommen, ohne Señor Lopez aufzuwecken? Wärend sie
noch dastand, hörte sie Menschen die Straße herunterkommen. Ihr Schritte
hallten in der Stille der Nacht, und ihre Stimmen drangen zu ihr herüber.
Wenn sie sehr viel Glück hatte, waren das Sam und Antonio. Sie mußten auf dem
Weg ins Hotel an der Villa Lopez vorbeikommen. Veronica lief schnell zum
Gartentor und hielt nach den nächtlichen Spaziergängern Ausschau. Und da
kamen sie: Es waren tatsächlich Sam und Antonio. Veronica fiel ein Stein vom
Herzen. Die beiden wußten sicher Rat.
„Sam", rief sie leise. „Antonio..." Bewußt hatte sie ihrem spontanen Bedürfnis,
erst einmal Antonio zu rufen, nicht nachgegeben.
„Veronica, bist du's?" Sam trat näher an das Tor heran und blickte sie erstaunt
an. Antonio blieb hinter ihm stehen. Im spärlichen Licht der Straßenlaterne
wirkte sein Gesicht düster. Streng fragte er:
„Was ist los? Was tust du hier so allein? Wo ist Eduardo?"
Veronica kam sich richtig töricht vor, als sie erklärte: „Eduardo wollte noch kurz
zu einem Freund, und ich hatte keine Lust, mitzukommen. Ich fürchte, ich habe
mich ausgeschlossen."
„Dieser Schwachkopf hat dich hier stehenlassen, ohne dir die Tür aufzumachen?"
fragte Antonio fassungslos. „Nein, nein, es ist nicht Eduardos Schuld. Er hat mir ja die Tür geöffnet, aber ich wollte noch ein wenig an die frische Luft und verließ das Haus noch einmal. Ich habe nicht daran gedacht, daß die Tür zuschnappt." Veronica fürchtete, daß sie sich genauso dumm anhörte, wie sie sich vorkam. „Aber warum klingelst du nicht einfach?" fragte Sam. „Das ist mir peinlich. Ich komme mir schon so blöd genug vor." Sie zögerte. „Eduardo muß ja bald zurückkommen. Ich warte einfach hier draußen. Die Nachtluft tut mir gut." Die beiden Männer schwiegen ein paar Sekunden. Dann sagte Antonio entschlossen: „Ich... wir... werden mit dir warten." „Das ist wirklich nicht nötig", protestierte sie schwach. „Aber sicher", erwiderte Sam. „Aber du brauchst bestimmt nicht gleich zwei Gesellschafter. Diese Kavalierspflicht überlasse ich Antonio gern. Denkt daran, in meinem Alter braucht man mehr Schlaf als ihr jungen Leute. Außerdem", fügte er bedeutungsvoll hinzu, „wie sagt man doch: drei Leute bilden schon einen Verein, und die Vereinsmeierei liegt mir nicht." Grinsend wünschte er ihnen eine besonders gute Nacht und ging davon. Seine Schritte hallten laut durch die stille Straße. Als Antonio das schwere Eisentor mit einem Ruck öffnete, um zu Veronica in den Vorgarten hereinzukommen, prallte es gegen ihre Schulter, und sie schrie vor Schmerz auf. Besorgt nahm er sie in den Arm und sagte: „Das tut mir leid. Das blöde Ding hat geklemmt. Habe ich dich verletzt?" „Nein, schon gut, ich hätte dir nicht im Weg stehen sollen." Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und setzte verlegen hinzu: „Du brauchst wirklich nicht hierzubleiben. Ich kann auch allein warten", unsicher blickte sie ihn an. „Hör auf", befahl er, „ich entscheide, was ich tue." Er ließ den Arm um sie gelegt und führte sie zurück zur Eingangstreppe. Dort setzte er sich auf die unterste Stufe und zog sie neben sich. „Habe ich dich da verletzt?" Sanft berührte er ihre Schulter und schob den Ärmel ihres Kleides zurück. Diese leichte Berührung empfand sie als die reinste Liebkosung. „Es ist nicht schlimm." Ihre Stimme klang atemlos und war kaum zu hören. „Was hast du gesagt?" fragte er und beugte den Kopf so weit zu ihr herüber, daß sie seinen Atem auf der Wange spürte. Noch atemloser als zuvor wiederholte sie, was sie gesagt hatte. „Keine blauen Flecken?" Er senkte den Kopf noch tiefer, streifte ihre Schulter mit den Lippen, und sie empfand auf einmal keinen Schmerz mehr. Alles, was sie spürte, war Verlangen. Sie mußte an Eduardos Umarmung denken. Wie anders hatte sie sich in seinen Armen gefühlt! Bei Antonio brachte schon die leiseste Berührung sie völlig in Verwirrung. Dabei hatte er sie nicht einmal richtig geküßt. Sie wandte ihm das Gesicht zu. „Antonio", flüsterte sie, und er küßte sie voller Inbrunst. Eine Welle von Verlangen überkam sie, und Antonio, der das spürte, begehrte sie noch heftiger. Mit dem Mund erforschte er die Tiefen des ihren, dabei streichelte er sie unablässig. Dann berührte er mit den Lippen ihre Augen, ihren Hals, den runden Ansatz ihres Busens und im nächsten Moment, kaum spürte sie, daß er ihr ungeduldig das Oberteil herunterstreifte, die harten Spitzen ihrer nackten Brüste. Veronica ließ das ohne jede Scham geschehen. Sie war völlig willenlos und leistete keinen Widerstand. Als ihr das nach einiger Zeit bewußt wurde, kehrte ihre Vernunft zurück. Was war, wenn sie hier überrascht wurden? Kaum auszudenken, wenn Mario, Eduardo oder womöglich Señor Lopez sie hier mit
Antonio fanden. Eigentlich sollte sie sich ihm entziehen, konnte es aber nicht über sich bringen. Verzweifelt rief sie: „O Antonio, nein", drückte ihn aber, noch während sie dies sagte, fester an sich. „Oh, wie ich dich begehre!" murmelte er. „Aber du machst mich noch wahnsinnig mit deiner Unentschlossenheit. Es gefällt dir wohl, wenn ich dich hier vor Eduardos Haus liebe, was?" „Antonio, bitte..." Doch er gab nicht nach. „Das findest du wohl aufregend. Läßt dich hier vor dem Haus ein bißchen küssen und weißt, daß Eduardo jederzeit zurückkommen kann. So ein kleines Liebesabenteuer gibt neuen Schwung, nicht wahr? Jetzt bist du wieder die unternehmungslustige Touristin, die mit ihrem indianischen Führer ihre Spielchen treibt. Den reichen, jungen Spanier hältst du dir in Reservere, stimmt's? Antonio für die Liebe und Eduardo für die Bequemlichkeit: geschickt, geschickt!" Seine Vorwürfe taten ihr weh, aber war nicht ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagte? Er mußte denken, daß sie mit seinen Gefühlen spielte. Sollte sie ihm etwa erzählen, daß sie sich selbst nicht verstand? Wie sollte sie sich nur verhalten? Die widersprüchlichsten Gefühle beherrschten sie. „Ich bin nicht so", sagte sie, „wie du denkst, so berechnend. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, wenn du bei mir bist." „Dann sag doch nicht jedesmal erst ja und dann nein, wenn du mit mir zusammen bist." „Du erwartest, daß ich hier mit dir... Hier... fast auf der Straße?" fragte sie ungläubig, während sie ihr Kleid zurechtzog und sich zu fassen versuchte. „Wir könnten in dein Zimmer, dein Bett gehen", schlug er vor und fügte bitter hinzu: „Das heißt, wenn du es nicht schon mit jemandem teilst." Veronica fühlte, wie sie innerlich ganz kalt wurde. Dachte er wirklich, sie hätte ein Verhältnis mit Eduardo? Sie erinnerte sich, daß er ihr von Anfang an nicht hatte abnehmen wollen, daß sie noch unschuldig war. Damals, als sie ihn noch für einen Touristenführer hielt, hatte er geglaubt, sie sei eine abenteuerlustige Touristin. Offensichtlich hatte sich an seiner schlechten Meinung über sie seit ihrem Wiedersehen nicht viel geändert. „Wir kommen aber nicht hinein", sagte sie scharf. „Aber wir könnten ja in dein Hotel gehen: wenn du dein Zimmer nicht auch mit jemandem teilst", gab sie die Spitze prompt zurück. „Denkst du etwa, daß Isabel und ich...?" „Warum nicht? Wer weiß, ob du nicht genausoviel Frauen brauchst wie ich angeblich Männer. Oder kannst du nicht zwei Frauen zufriedenstellen?" Am liebsten hätte sie diese Unverschämtheit sofort zurückgenommen. Antonio war vor Schreck erstarrt, sie konnte förmlich spüren, wie er sich von ihr zurückzog. „Wir versuchen bewußt, uns zu verletzen." Sein Gesicht war blaß. „Ich finde diese Wortgefechte barbarischer als Handgreiflichkeiten. Das bringt uns doch nicht weiter. Wir sind zu verschieden, kommen eben aus unterschiedlichen Welten." Veronica fiel bei seiner Bemerkung ein, was Eduardos Onkel gesagt hatte: „Man sollte immer unter seinesgleichen bleiben." Damals hatte sie sich über seine Einstellung geärgert, doch jetzt kam ihr der Gedanke als Argument Antonio gegenüber gerade recht. „Offensichtlich hast du mit Señor Lopez mehr gemeinsam, als du glaubst. Er sagte nämlich, man soll immer unter seinesgleichen bleiben. Ist es das, was du denkst?" „Vielleicht", antwortete Antonio. Er stand auf und zog sie mit sich hoch. „Das
einzige, was uns verbindet, ist körperliche Anziehung. Aber wenigstens darin sind
wir uns gleich, nicht wahr?"
Leider mußte sie zugeben, daß er recht hatte. „Aber eine Beziehung sollte aus
mehr bestehen..."
„Wenn wir aber nicht mehr bekommen können...?" Er küßte sie, und Veronica
erwiderte seinen Kuß voll Sehnsucht.
Antonio hörte als erster, daß sich jemand von innen an der Tür zu schaffen
machte. Er ließ Veronica los, zog ihr Kleid für sie zurecht, nahm sie bei der Hand
und ging mit ihr die Stufen hinauf. Es war Maria, die die Tür öffnete.
„O Señorita, Entschuldigung, aber ich hörte jemand sprechen. Guten Abend,
Señor Ferrara." Antonio sagte gute Nacht und verschwand die Treppe hinunter.
Veronica hörte, wie das eiserne Tor aufschwang und zurückfiel. Er war fort.
Wie sollte sie nur aus ihm schlau werden? Eben noch ruppig und verletzend,
hatte er sich jetzt ganz ritterlich gezeigt. Veronica wünschte der erstaunten Maria
eine gute Nacht und ging verwirrt in ihr Zimmer.
11. KAPITEL Veronica lag die ganze Nacht wach und versuchte, Ordnung in das Durcheinander ihrer Gefühle zu bringen. Sie mußte einfach dahin kommen, daß sie ihre Reaktionen auf Antonio unter Kontrolle bekam. Seine Anziehungskraft auf sie war beispiellos — so etwas hatte sie bisher bei keinem Mann erlebt. Und das, obwohl er keine gute Meinung von ihr hatte, autoritär war und äußerst anspruchsvoll, ihren Zorn erregte — aber eben auch ihr Begehren. Und was wäre, wenn sie nachgeben würde? Wenn sie das geschehen ließe, wonach es sie genauso verlangte wie ihn? Schon bei diesem Gedanken erschauerte sie. Sie lag ganz still auf dem Bett, und ihre Gedanken wanderten zu Eduardo. Er war fürsorglich und rücksichtsvoll, aber es gelang ihm nicht, ihre Leidenschaft zu wecken. Was war wichtiger? Jedenfalls fehlte in beiden Beziehungen etwas Wesentliches. Sie seufzte. Vielleicht wäre Eduardo die bessere Wahl? Mit ihm zu leben, war sicher leichter und bequemer. Vielleicht würde sich allmählich auch Leidenschaft entwickeln. Doch bei diesem Gedanken mußte Veronica über sich selbst lachen. Was bin ich doch für ein Optimist, dachte sie, dabei weiß ich nicht mal, ob Eduardo es überhaupt ernst mit mir meint. Müde stand sie auf und ging ins Bad, um sich das heiße Gesicht mit kaltem Wasser zu erfrischen. Dann betrachtete sie sich in dem pompös gerahmten Spiegel. Wenn ich schon ein Optimist bin, warum stelle ich mir dann nicht das vor, was ich wirklich möchte? fragte sie sich. Wäre es nicht ebenso möglich, daß Antonio neben seiner Leidenschaft auch Achtung und Liebe für mich entwickelt? Stumm betrachtete sie ihr Spiegelbild, aber das konnte auch keine Antwort auf diese Frage geben. Am nächsten Tag forderte die schlaflose Nacht ihren Tribut. Eduardo machte mit Veronica einen Ausflug aufs Land, den sie mit einem Mittagessen auf einer hübschen Hazienda krönten. Nach dem Essen überkam Veronica jedoch große Müdigkeit, so daß sie über Eduardos Vorschlag, nach Hause zu fahren, sehr froh war. Eduardo lachte, als er sah, wie erleichtert sie war. „Eigentlich sollte ich über deine Reaktion beleidigt sein, Veronica. Andererseits kann man hier in Merida auch tatsächlich nicht viel unternehmen. Ein Tag ist wie der andere. Man frönt dem süßen Nichtstun, geht schwimmen, essen, Freunde besuchen und sieht immer dieselben Leute. Wahrscheinlich wäre dieser Lebensstil dir schnell langweilig." Da hatte er bestimmt recht. Die Nutzlosigkeit eines solchen Lebens würde sie kaum ertragen können. Zu Hause war ihr Dasein vollgestopft mit Arbeit. „Ich bin so viel freie Zeit einfach nicht gewöhnt", sagte sie entschuldigend. „Wie wär's, wenn wir für ein paar Tage nach Cancun fliegen würden?" Eduardo war schon wieder voller Eifer. „Nicht nach Cancun!" Sie erschrak. Cancun war für sie untrennbar mit ihrer ersten Begegnung mit Antonio verbunden. Dahin wollte sie auf keinen Fall. Eduardo war über ihre heftige Reaktion überrascht, sagte aber nichts dazu. „Oder nach Cozumel? Mir ist es egal. Ein paar Freunde von mir haben da ein Haus direkt am Wasser und ein Boot." „Nein, Eduardo, das geht leider nicht. Unsere Abreise nach Chichén Itzá steht kurz bevor. Du darfst nicht vergessen, daß ich hier nicht auf Urlaub bin, sondern um zu arbeiten."
Eduardo zog die Augenbrauen hoch. „Es fällt mir schwer, Frauen in einer solchen Rolle zu akzeptieren. Das stelle ich wieder einmal fest." „Eduardo, gibt es etwas, was dir Sorgen macht?" Veronica fand, daß er in letzter Zeit ungewöhnlich unkonzentriert und geistesabwesend wirkte, aber sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie dem bisher nicht viel Beachtung geschenkt hatte. „Nein, es ist nichts. Außer, daß ich mit Karrierefrauen nicht klarkomme." Doch dann fügte er in seiner üblichen, großsprecherischen Manier hinzu: „Aber schließlich bin ich ja noch jung. Ich kann dazulernen." Wie sich bald herausstellte, sollte Veronica, was die bevorstehende Abreise nach Chichén Itzá betraf, recht behalten. Den ganzen Nachmittag saß sie allein auf der Terrasse der Villa Lopez und versuchte, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Eduardo und sein Onkel hatten geschäftlich zu tun. Als sie schließlich ans Telefon gerufen wurde, erschien ihr das eine willkommene Abwechslung. Erwartungsvoll nahm sie den Hörer in die Hand. Aber es war leider nur Sam. Doch ihre Enttäuschung verkehrte sich bald in Freude. „Wir brechen morgen auf, Veronica. Genieße also deine letzte Nacht in Samt und Seide. Ab morgen liegst du wie wir in einem Feldbett in einem Zelt unter dem Sternenhimmel. Und es gibt viel Arbeit!" „Großartig, Sam! Denn ich habe feststellen müssen, daß ich nicht für ein Leben in Muße geschaffen bin. Ich langweile mich entsetzlich." „Du bist also auch verrückt! Sei willkommen im Kreis der Irren. Hauptsache, wir enden nicht eines Tages wie Antonio." „Wäre das denn so schlimm?" „Diese Frage kannst du besser beantworten als ich, Veronica." Als Sam aufgelegt hatte, blieb Veronica, den Hörer in der Hand, einen Augenblick gedankenverloren stehen. Antonio war von seiner Arbeit besessen. Neben ihr zählte nichts — jedenfalls war es bisher so gewesen. Veronica fragte sich, wie er sich wohl bei der Arbeit im Gelände ihr gegenüber verhalten würde. Würden sie sich bei der gemeinsamen Aufgabe näherkommen? Sie bemühte sich, keine allzugroßen Hoffnungen aufkommen zu lassen. Das führte nur wieder zu Enttäuschungen. Als Eduardo die Neuigkeiten erfuhr, maulte er wie ein verwöhntes Kind, dem man eine Bitte abschlägt. Aber Señor Lopez schien ganz zufrieden. Bestimmt mißfiel ihm Eduardos Interesse an ihr. Natürlich: genau wie Antonio gehörte sie ja auch nicht zu seinesgleichen. Dennoch war er beim Abendessen besonders zuvorkommend ihr gegenüber. „Da es Ihr letzter Abend bei uns ist", sagte er, „hat Maria ein ganz besonderes Essen vorbereitet. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen." „Ganz bestimmt", antwortete Veronica und lächelte Maria anerkennend zu. „Wahrscheinlich wird dies für einige Zeit das letzte gute Essen gewesen sein. Sam spielt nämlich den Koch, und er hat mich schon vor seinen Kochkünsten gewarnt." „Warum darf ich dich nicht hinfahren?" fragte Eduardo nach dem Abendessen. „Ich habe genug Zeit, und die Fahrt wäre viel angenehmer für dich." Er versteht einfach nicht, dachte Veronica, daß das für mich nicht so wichtig ist. Doch am nächsten Morgen tat es ihr fast leid, daß sie Eduardos Angebot abgelehnt hatte. Sie mußten sich samt Gepäck und Ausrüstung zu fünft in einen alten Kombi zwängen. Es waren ungefähr einhundertzehn Kilometer bis Chichén Itzá zu fahren, und die Strecke war heiß und staubig. Die Unannehmlichkeiten der Fahrt wurden gutgelaunt hingenommen. Antonio und Sam wechselten sich beim Fahren ab, auch Isabel durfte einmal den Wagen
lenken. Nur Veronicas diesbezügliches Angebot wurde abgelehnt. Im ersten Moment hatte sie nicht übel Lust, darüber zu streiten, aber dann sah sie ein, daß die anderen recht hatten. Sie kannte die Straßen nicht und hatte noch nie einen so großen Wagen gefahren. Sie durfte nicht jedes Nein als allgemeine Zurückweisung auffassen. Trotzdem, sie hätte Antonio gern gezeigt, daß sie genauso tüchtig war wie Isabel. Nicht weit entfernt von Chichén Itzá hielten sie vor einem Hotel, um Ausrüstungsmaterial „an Bord zu nehmen", das Antonio dort verwahrt hatte. Sie stiegen alle aus, um sich bei einer Erfrischung zu erholen. Als sie weiterfuhren, meinte Sam scherzhaft: „Jetzt mußt du von der Zivilisation Abschied nehmen, Veronica." Schon bald hielt Antonio wieder. Jetzt erst begriff Veronica, daß Sam diesmal nicht gespaßt hatte. Vor ihnen befand sich das Lager. Es lag in der Nähe der Pyramiden, aber abseits der Touristenpfade in einem dünn bewaldeten Gebiet, und bestand aus einem großen Eßzelt und fünf kleineren Schlaf zelten. „Darf ich bekannt machen: unsere Wohnung auf dem Lande", verkündete Sam mit einer ausladenden Handbewegung. „Nun, was sagst du dazu?" Veronica blickte sich um. „Tja, es ist nicht gerade ein Ferienhotel, aber..." „Wenn dir das zu primitiv ist, mein Fräulein, kann dich einer zum Hotel zurückbringen", fuhr Antonio ihr über den Mund. „Du solltest mich lieber ausreden lassen", gab sie zurück. „Ich wollte gerade sagen, daß ich sicher gut zurechtkommen werde." Dann brachte Veronica ihren Koffer in das Zelt, das sie mit Isabel teilen würde. Sobald sie alles verstaut hatten, zeigte Antonio ihnen das Gelände. Die anderen waren schon mehrere Male hier gewesen, aber für Veronica war alles neu und aufregend. Das ganze Ausgrabungsgebiet erstreckte sich ungefähr vier Kilometer in nordsüdlicher Richtung. Obwohl erst etwa dreißig von den gut hundert zerstörten Gebäuden ausgegraben waren, konnte man die Anlage schon erkennen. Staunend blieb Veronica vor der im Zentrum gelegenen Pyramide stehen. Sie war fast dreißig Meter hoch, und von allen vier Seiten führten Treppen zu einem Tempel auf der Spitze. „Warte nur, bis du den Jaguarthron im Innern gesehen hast", sagte Leochan. „Er ist aus Stein und stellt einen Jaguar dar, leuchtend rot bemalt, mit Fängen aus Muscheln und Augen aus Jade. Er ruft Furcht und Ehrfurcht selbst heute noch hervor." Veronica wäre gern zum Tempel hinaufgestiegen, aber die anderen waren schon weitergegangen. „Keine Sorge. Du wirst schon noch alles zu sehen bekommen", versicherte Leochan. Sie gingen zu den anderen, die auf sie gewartet hatten. Das nächste Gebäude, an dem sie Halt machten, war längst nicht so beeindruckend wie der Tempel. „Aber es ist viel bedeutender", erklärte Sam Veronica. „Man nennt es El Caracol, was auf spanisch ,Schnecke' heißt." „Warum haben die Spanier es so genannt?" „Es gibt eine spiralförmige Rampe im Innern, die oben in einem Observatorium endet", erklärte Sam. „Es diente zur Betrachtung des Sternenhimmels." Stolz blickte Antonio Veronica an. „Die Mayas waren ausgezeichnete Astronomen. Sie entdeckten die Zahl Null und führten das Dezimalsystem ein, lange bevor die Europäer es von den Arabern übernahmen. Außerdem erstellten sie einen Kalender, der genau 365 Sonnentage zählte." Veronica gab freimütig zu, daß sie nicht viel von Astronomie verstand. „Mich interessiert am meisten die Architektur und die Kunst der Mayas."
„Warte nur, bis du den Ballspielplatz gesehen hast", sagte Sam daraufhin. Veronica hatte einiges über die Ballspielplätze der Mayas gelesen. Der von Chichén Itzá war der besterhaltene und größte von allen. Auf ihrem Weg zurück zum Lager versuchte Leochan, ihr das alte Spiel zu erklären. „Dieses Ballspiel ist eine Mischung aus Fußball und Basketball. Auf jeder Seite des großen Platzes befinden sich in ziemlicher Höhe steinerne Ringe, durch die die Spieler mit den Unterarmen unter Zuhilfenahme von Knie und Hüften einen festen Ball schleudern mußten." „Deshalb also die merkwürdigen Kostüme, die auf den Gemälden im Museum zu sehen waren", warf Veronica ein. „Kostüme ja wohl weniger", sagte Antonio trocken. „Die starke Polsterung brauchten die Spieler als Schutz und um den Ball wieder von sich schleudern zu können. Bedenke, daß sie die Hände nicht benutzen durften." Bald hatten sie den Spielplatz erreicht. Die Rachreliefs an den Seitenwänden weckten sofort Veronicas Interesse. „Davon sind Zeichnungen anzufertigen", erklärte Antonio ihr. „Die einzelnen Bilder müssen genau kopiert werden. Dabei kommt es besonders auf die verschiedenen Symbole an. Manche stellen den Tod dar, andere die Erneuerung des Lebens in Fruchtbarkeitsriten. Daran kann man sehen, daß dieses Spiel eine über den reinen Sport hinausgehende Bedeutung hatte. Dafür spricht auch, daß im Anschluß daran Menschen den Göttern geopfert wurden." „Ja, ich weiß. Du hast mir das während des Stierkampfes erzählt." Veronica wollte Antonio mit dieser Bemerkung an das gemeinsame Erlebnis erinnern. Aber er reagierte nicht darauf. „Es gibt sogar Hinweise", erläuterte Leochan, „daß auch die Sieger manchmal geopfert wurden." „Das finde ich seltsam, wo sie doch gewonnen haben", meinte Veronica. „Die Mayas hatten eine andere Logik", antwortete Leochan. „Gerade der Sieg bewies, daß dieser Mensch es wert war, geopfert zu werden." „Wie schrecklich!" stieß sie hervor. „Jede Zivilisation hat ihre eigenen Schrecken", entgegnete Antonio. „Aber diese Zivilisation war besonders ungewöhnlich." „Warum ist sie zusammengebrochen?" fragte Veronica. Sie blickte Isabel an. „Das ist doch dein Gebiet. Wissen die Historiker irgendeine Erklärung?" „Es gibt keine", antwortete sie. „Schon in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts vor Christus wurde eine Stadt nach der anderen von der Bevölkerung verlassen und verfiel. Später, im elften und zwölften Jahrhundert nach Christus, erlebten viele Städte eine zweite Blüte, und Chichén Itzá wurde zum wichtigsten Zentrum. Doch dann, noch vor der Eroberung durch die Spanier, brach die gesamte Kultur der Mayas zusammen." In Isabels Gesicht spiegelten sich Stolz und Trauer, als sie hinzufügte: „Das ist alles, was übriggeblieben ist." Dabei zeigte sie auf die Anlage. „Nicht nur das hier", widersprach Leochan. „Wir... wir sind übriggeblieben. Trotz allem — die Mayas haben überlebt." „Ach, Vater." Isabel seufzte. „Es gibt nur sehr wenige Indianer, die noch an den alten Sitten festhalten, und die leben überall verstreut." Ihr Vater lächelte gutmütig. „Du hast sicher recht, wir sind nur wenige. Aber wir haben einige der alten Rituale bewahrt, die auch heute noch Bedeutung für uns haben." Er wandte sich an Veronica. „Heute abend kannst du es selbst sehen, da findet nämlich eine Taufe im Dorf statt." „Der Erstgeborene meiner Kusine", ergänzte Antonio. „Es wird eine Feier geben." „Meinst du eine kirchliche Taufe?" fragte Veronica neugierig.
„Nicht ganz", antwortete Leochan lächelnd. „Du wirst schon sehen. Es ist eine besondere Zeremonie, getreu der Überlieferung. Wart's nur ab." „Weiter", befahl Antonio. „Dann schaffen wir es noch, auf dem Rückweg ins Lager den Cenote Sagrado anzusehen." „Ist das nicht der Opferbrunnen?" erkundigte sich Veronica mit deutlicher Abneigung. Sie hatte gelesen, daß dort fast ausschließlich Menschen geopfert wurden. Antonio schien sich über ihre Reaktion zu amüsieren. „Ja", antwortete er. „Er liegt im Dschungel nicht weit von unserem Lager und ist eine besondere Attraktion für Touristen." Sie gingen die heilige Straße entlang und erreichten bald das riesige Wasserloch. „Meine Güte, ist das groß!" Veronica staunte. „Es sind über fünfzig Meter im Durchmesser." Antonio ging bis an den Rand des Loches und deutete hinunter. „Und ungefähr fünfundzwanzig Meter bis zur Wasseroberfläche. Schau dir das an." Veronica wollte lieber nicht. „Morgen, für heute habe ich genug gesehen." Sie fürchtete schon, Antonio würde sie wegen ihrer Empfindlichkeit zurechtweisen, aber er gab unversehens nach. „Selbstverständlich", meinte er zustimmend. „Wir sind alle müde. Wie wäre es jetzt mit einem Imbiß und einer kleinen Siesta?" „Das ist die beste Idee, die du je gehabt hast", lobte Sam. Im Lager veranstaltete Sam einen ungeheuren Wirbel, bis er das Essen für sie zubereitet hatte. „Wollt ihr in das Geheimnis meiner Kochkunst eingeweiht werden? Abrakadabra: Mein Zauberstab ist der Büchsenöffner. Simsalabim: diese Sammlung alter Gewürze enthält magisches Pulver. Das verwende ich reichlich." Stolz servierte er Reis, Erbsen und Huhn. Er strahlte über Veronicas Komplimente und freute sich über den Appetit, mit dem alle dem Essen zusprachen. „Leider muß ich dir eröffnen", sagte er zu Veronica, als sie mit dem Essen fertig waren, „daß du jetzt schon die Hälfte meiner Speisekarte kennst. Auf mehr als Huhn mit Reis und ,Sams Hamburger' verstehe ich mich nicht. Diese beiden Gerichte gibt's immer abwechselnd. Auf die Dauer ein bißchen eintönig, sagen manche Leute — Isabel und Leochan erfinden nach dem vierten Mittagessen bei mir zum Beispiel irgendwelche Ausreden, um bei Verwandten, die in der Nähe wohnen, zu essen. Nur Antonio ist mir immer treu geblieben. Aber er steckt schließlich so in der Arbeit, daß er gar nicht weiß, was er ißt." „Armer Sam", tröstete ihn Veronica schmunzelnd, „ich werde dir beim Kochen helfen. Wenn dir nichts mehr einfällt, übernehme ich das Kommando in der Küche." „Man sagt, ich sei eine gute Köchin, falls du Bedenken hast." „Hier haben wir ein Mädchen mit vielen guten Eigenschaften", erklärte Sam und legte den Arm um sie. „Der Mann, der dich einmal bekommt, ist zu beneiden. Schade, daß ich schon ein verknöcherter alter Kerl bin. Aber vielleicht ist es doch noch nicht zu spät, wer weiß? Sag mal, Veronica, könntest du auch jemand lieben, der viel älter und ein bißchen kleiner ist als du?" Alle lachten. Veronica gab ihm einen zärtlichen Kuß. „Das ist keine Frage. Ich bin doch schon ganz verrückt nach dir, Sam." „Da hast du's", rief Sam triumphierend und fuhr an Antonio gewandt fort: „Das habt ihr jungen Männer davon, wenn ihr euch nicht entscheiden könnt. Da kommt so einer wie ich daher und siegt." Antonio wirkte etwas verärgert. „Das sagst du dem falschen Mann. Ich bin nicht dein Rivale."
„Darüber solltest du noch mal nachdenken", gab Sam prompt zurück, aber Antonio hatte sich schon abgewandt, Veronica war betroffen. Obwohl sein Verhalten nichts Neues für sie darstellte, fühlte sie sich doch jedesmal verletzt. Aber sie bemühte sich, es nicht zu zeigen. Schweigend half sie Sam beim Aufräumen und zog sich dann wie die anderen in ihr Zelt zurück. „Euch bleibt eine Stunde zum Ausruhen", sagte Leochan. „Dann müssen wir zu der Taufe aufbrechen." Diese Pause hatte Veronica auch sehr nötig. Obwohl sie nicht schlafen konnte, fühlte sie sich müde und hatte überhaupt keine Lust aufzustehen, als Isabel sich anzuziehen begann. „Vielleicht sollte ich besser hierbleiben", sagte Veronica zögernd. „Diese Taufe ist doch ein Familienfest.“ „Dabei sind Gäste herzlich willkommen", antwortete Isabel. Sie stand vor Veronicas Feldbett und blickte nachdenklich auf sie hinunter. Jetzt trug sie eins der reich bestickten weißen Kleider wie die einheimischen Frauen, und ihr dunkles Haar hatte sie mit bunten Bändern zu einem hübschen Seitenzopf geflochten. Sie sah ausgesprochen schön aus. Plötzlich fiel Veronica ein, daß sie überhaupt keine Kleider mitgenommen hatte. „Außerdem hab' ich gar nichts Richtiges zum Anziehen", sagte sie bekümmert. „Ich habe nur Arbeitskleidung eingepackt." „Es ist wirklich ganz unwichtig, was du trägst..." begann Isabel. Doch weil Veronica ein so bekümmertes Gesicht machte, wühlte sie in ihrem Koffer und zog dann noch eins dieser weißen Kleider hervor. „Hier, dann zieh das an. Es ist ganz bequem." Veronica ließ sich überreden, denn plötzlich machte ihr der Gedanke, allein im Lager zurückzubleiben, Angst. So zog sie das schlichte weiße Kleid an. Ihr rötliches Haar und ihre braune Haut hoben sich deutlich gegen das helle Weiß ab. Isabel borgte ihr noch ein leuchtend grünes Band, mit dem sie die Haare zurückband. So konnte sie sich sehen lassen. Ein wenig schüchtern trat Veronica hinter Isabel aus dem Zelt. Sam sah sie zuerst und pfiff anerkennend. „Entzückend", stellte er fest und lobte Veronica: „Dieses Kleid steht dir aber sehr gut!" „Meinst du wirklich, ich kann so gehen?" fragte sie ihn unsicher. „Die Einheimischen mögen es oft nicht, wenn Fremde ihre Tracht tragen." „Heute abend bist du keine Fremde, Veronica", antwortete Leochan anstelle von Sam warmherzig und nahm ihre Hand in die seine. „Heute abend bist du eine von uns." Veronica mied Antonios Blick. Sie fürchtete, er könne mit seinem üblichen sarkastischen Gesichtsausdruck die herzliche Atmosphäre zerstören, die Leochan mit seinen Worten geschaffen hatte. Aber ihre Sorge war unbegründet. Antonio war ganz versunken in ihren Anblick. „Übrigens, Antonio, du bist als einziger nicht angemessen gekleidet", stellte Sam fest. Er und Leochan trugen bestickte „guayaberas", weite Hemden, wie das, das Veronica in Merida auf dem Markt gekauft hatte. Antonio dagegen stand in seinem einfachen Polohemd da. „Wart einen Moment", sagte Veronica und rannte zum Zelt. Nach kurzem Suchen fand sie in ihrer Reisetasche das kleine Päckchen mit dem Hemd, das sie gekauft hatte. Sie wußte auch nicht recht, warum sie es überhaupt mitgenommen hatte. Schüchtern reichte sie es Antonio. „Hier, vielleicht paßt das." Aber sie blickte ihn dabei nicht an. Verwundert zog er das Hemd aus dem Paket. „Wie kommst du dazu?" fragte
Isabel sofort. „Ich habe es für Dr. Cramer gekauft", beeilte sich Veronica zu erklären. „Aber ich kann jederzeit ein neues holen. Bitte, zieh's an." „Für Ben Cramer?" fragte Antonio ungläubig, während er das Hemd auseinanderfaltete. Er kannte ihn, das hatte Veronica nicht bedacht. „Zieh es an", drängte Sam. „Für Ben Cramer ist das sowieso zu groß." Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, zog Antonio sein Polohemd über den Kopf, schlüpfte in das neue und knöpfte es zu. „Du siehst großartig aus", lobte ihn Sam. Veronica mußte ihm insgeheim recht geben. „Warte, du hast einen Knopf vergessen", sagte Isabel und schloß mit größter Selbstverständlichkeit den letzten Knopf, sehr zu Veronicas Ärger. Dann zwängten sie sich in den Kombi und fuhren zu dem zwanzig Kilometer entfernt liegenden Dorf Alenque, wo Antonios Kusine wohnte. Während der Fahrt erklärte Leochan Veronica, daß ihr keine gewöhnliche Taufe bevorstand. „Wir erleben jetzt eine MayaZeremonie, also einen vorchristlichen Ritus, der schon Tausende von Jahren alt ist", mischte sich Isabel ein. „Er hat sich bis heute erhalten. Meine Tante, die so etwas wie eine Patin für das Kind ist, hat diesen Ritus aus Lepán, einem Dorf nicht weit von der Ruinenstadt Mayapan, mitgebracht." Als sie in Alenque ankamen, waren die Gäste schon auf dem Dorfplatz versammelt. Leochan, Isabel und Antonio wurden von ihren Freunden und Verwandten herzlich willkommen geheißen. Auch Sam kannte einige der Gäste. Veronica wurde mit unverhohlener Neugier empfangen. Antonios Kusine Imelda, Mutter des kleinen Täuflings Juan, begrüßte sie jedoch sehr herzlich, so daß sich Veronicas Hemmungen bald legten. „Es ist eine Ehre für uns, daß Sie dabei sind", sagte Imelda mit großer Liebenswürdigkeit und in bestem Englisch. „Ich freue mich, daß Antonio seine Freundin mitgebracht hat." Offensichtlich hatte sie einen falschen Eindruck von Veronica Beziehung zu Antonio. Doch Veronica sagte nichts, als sie fortfuhr: „Wir haben schon auf euch gewartet. Jetzt können wir anfangen." Imeldas Mann brachte seinen Sohn, ein hübsches Baby von ungefähr vier Monaten, herbei. Das Kind und die ältere Frau, der man es zu halten gab, trugen beide ein weißes Kleid. Ehe sie es auf den Arm nahm, legte sie ihm ein kleines goldenes Armband um das Handgelenk. „Das soll ihm in den ersten beiden Lebensjahren Gesundheit geben", flüsterte Leochan Veronica zu. „Auch die gestickten grünen Blätter und roten Trauben auf seinem ,Taufkleid' bedeuten Gesundheit und ein fruchtbares, glückliches Leben." Die Frau begann dem kleinen Jungen etwas vorzusingen. Er hörte aufmerksam zu und schien das allgemeine Interesse zu genießen. Leochan übersetzte den Text des Liedes leise für Veronica. „Du bist jetzt kein Säugling mehr, kleiner Juan, sondern schon ein Kleinkind. Hier sind Geschenke für dich, die dir in deinem weiteren Leben nützlich sein werden." Langsam nahm die Frau einen kleinen Gegenstand nach dem anderen von dem Tisch, neben dem sie stand. „Diese Dinge wirst du gebrauchen können, wenn du ein Mann geworden bist. Berühre sie mit deinen kleinen Fingern, und halte sie fest, damit du lernst, mit ihnen umzugehen." Die Frau legte ihm nun ein Geschenk nach dem anderen in die kleine Hand. Er hielt alles eisern fest und fuchtelte mit den Ärmchen, bis das nächste verlockende Angebot kam. Das erste Geschenk war ein winziges Büchlein.
„Auf daß du lesen lernst und dir die Wahrheit erwirbst, die Bücher dir geben können", lautete ihr Singsang. Danach kam ein kleines Gewehr. „Zum Jagen, zum Beschützen und zum Überleben." Leochan erklärte Veronica, daß die Waffe ein Symbol der Stärke sei. Als nächstes griff der Kleine nach dem Griff eines Messers. „Damit lernst du, den Acker zu bestellen und die Früchte der Erde einzubringen." Das Messer wurde durch eine Schere ersetzt. „Der Schneider lernt, mit Nadel und Faden umzugehen. Ein Mann, der sein Handwerk beherrscht, kann seine Familie versorgen und ist stolz auf das, was er schafft." Die kleine Schere gab Juan nur sehr ungern wieder her. Doch endlich griff er nach der goldenen Münze. „Auf daß du genug Geld für dich und deine Familie verdienst und es dir an Reichtum und Glück nie mangelt." Damit endete der Singsang. „Juan Quetaro", sprach die Frau das Kind an, das heftig gestikulierte, „ab heute bist du nicht mehr ein Säugling an der Brust deiner Mutter, ab heute beginnt dein eigenes Leben." Mit dem Kind auf der Hüfte schritt sie dann neunmal gegen den Uhrzeigersinn um den Tisch herum, wobei sie ein christliches Gebet sang. „Das soll an die neun Herren alter MayaSagen erinnern“, erklärte Leochan. „Es wird mit etwas christlichem Beiwerk verbrämt. In vielen solchen Zeremonien gibt es diese Mischung aus dem neuen Glauben und unseren alten Traditionen." Überrascht sah Veronica, daß Antonio aufstand und den kleinen Juan auf den Arm nahm. Auch er setzte sich den Jungen auf die linke Hüfte und begann, das Ritual zu wiederholen. „Imelda hat Antonio gebeten, die Patenschaft zu übernehmen, damit der kleine Juan sich an seiner Stärke und Zartheit ein Beispiel nehmen kann." Zartheit? Antonio brachte man doch nicht mit einer Eigenschaft wie Zartheit in Verbindung? Doch als Veronica ihn so mit dem kleinen Jungen betrachtete, änderte sie ihre Meinung. Die Zeremonie war vorüber. Imelda begann mit Hilfe von Mutter und Schwestern den Gästen das vorbereitete Festessen zu servieren. „Halt dich ran", empfahl Sam Veronica, während er sich seinen Teller zum wiederholten Male mit den herrlichsten Köstlichkeiten füllen ließ. „Morgen im Lager gibt's wieder ,Sams Hamburger'." Sie waren eine fröhliche Festgesellschaft. Schon bald umgab Veronica eine Gruppe lebhafter junger Mädchen, die die Gelegenheit nutzten, um ihr Englisch zu üben. „Wie anders doch das Leben in New York ist!" sagte Imelda und fuhr mit strahlendem Lächeln fort: „Aber das Leben hier an Antonios Seite wird Ihnen auch gefallen!" Ehe Veronica das Mißverständnis klarstellen konnte, hatte Imelda ihr schon den schläfrigen kleinen Juan in den Arm gedrückt, weil sie den anderen Frauen beim Aufräumen helfen wollte. Veronica blickte unsicher auf das Kind hinunter, das sich an sie kuschelte und gleich einschlief. Das schlafende Kind in ihrem Arm gab Veronica ein unerklärliches Gefühl von Zufriedenheit. Sie blickte es aufmerksam an. Der dichte schwarze Haarschopf gab ihm, so fand sie, etwas Kühnes. „Er sieht schon jetzt wie ein Krieger aus", flüsterte sie Leochan zu, der sich neben sie gesetzt hatte. „Er ist ein richtiges Mayakind", erwiderte Leochan stolz. „Völlig reinrassig. Es gibt davon nicht mehr viele." Dann wandte er sich an seine Nichte, die in der Nähe hantierte. „Imelda, war bei deiner Geburt das Mal der Mayas zu erkennen?" „Ja", antwortete Imelda lachend.
Veronica wunderte sich. „Was ist das — das Mal der Mayas?"
„Viele sagen, es sei Aberglaube oder nur Zufall", erklärte ihr Leochan. „Aber in
unserem Volksglauben heißt es, daß reinrassige Mayakinder mit einem bläulichen
Fleck am Ende der Wirbelsäule geboren werden, der von Geburt an sichtbar ist.
Ich habe mir sagen lassen, daß auch Eskimos und Mongolen dieses Mal
aufweisen, vielleicht weil sie von der gleichen alten Rasse abstammen."
„Aber ich hatte auch einen solchen Fleck", sagte Veronica überrascht. „Allerdings,
ist er inzwischen verschwunden. Ich erinnere mich, daß meine Mutter mir
erzählte, wie besorgt sie war, als sie ihn zum ersten Mal bemerkte. Aber der Arzt
beruhigte sie, es sei nichts Schlimmes. Du mußt wissen, daß meine Mutter
armenischer Abstammung ist. Der Arzt erklärte ihr, daß so etwas bei
armenischen Babys nicht ungewöhnlich ist. Ist das nicht verrückt?"
„Anscheinend haben sich die Mongolen nicht nur hier vermehrt", meinte Antonio
trocken. Aber Veronica hatte nicht das Gefühl, daß er sich über sie lustig machte.
Dann schwiegen sie, bis Isabel die Stille unterbrach und daran erinnerte, daß es
schon spät sei und sie morgen einen anstrengenden Arbeitstag vor sich hätten.
Zögernd erhob sich Antonio. „Dann müssen wir wohl..."
Veronica übergab den kleinen Juan seiner Mutter, die ihnen das Versprechen
abnahm, bald wiederzukommen.
Isabel bot an, zurückzufahren, denn Antonio war offensichtlich sehr müde. Also
kletterte Veronica mit Leochan und Sam auf den Rücksitz. Sie blickte auf die
beiden Köpfe vor ihr. Isabel sah angestrengt geradeaus und konzentrierte sich
aufs Fahren, während Antonio den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen
hatte. Der Anblick der beiden gab Veronica einen kleinen Stich.
Später, als sich die beiden jungen Frauen zum Schlafengehen fertig machten und
Isabel sich das dunkle Haar bürstete, sagte Veronica, wie glücklich Imelda ihr
vorgekommen sei.
„Beneidest du sie eigentlich?" fragte sie.
Isabel drehte sich zu ihr herum und blickte sie an. „Nein, eigentlich nicht",
antwortete sie nachdenklich. „Imelda hat das, was sie sich am meisten wünscht.
Und das habe ich auch."
„Einen Mann... und Kinder?" fragte Veronica.
„Ja, das ist Imeldas Leben. Meines ist die Arbeit."
„Aber hast du nie... wolltest du nie...?" Veronica wußte nicht, wie sie sich
ausdrücken sollte.
Isabels Gesicht war im schwachen Licht der Zeltlampe nur schwer zu erkennen.
„Es hat eine Zeit gegeben, da hatte ich auch romantische Flausen im Kopf und
verliebte mich in meinen Märchenprinzen." Ihre Stimme wurde hart. „Aber
Märchenprinzen taugen nichts im wirklichen Leben. Jetzt weiß ich, wohin ich
gehöre: zu meiner Arbeit und zu den Menschen meinesgleichen."
Will sie mir auf diese Weise etwas sagen? Mißtrauisch sah Veronica sie an.
„Gehörst du zu Menschen wie Antonio?" Veronica ließ nicht locker, obwohl sie
wußte, daß die Antwort ihr weh tun würde.
„Ja!" erwiderte Isabel bestimmt. „Wie Antonio. Wir sind uns in vieler Hinsicht
ähnlich. Und unsere Arbeit ist uns am wichtigsten."
„Ihr habt wohl sehr viel gemeinsam?"
„Ja, ziemlich viel."
Veronica spürte, daß Isabel sie ansah. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß die
andere noch etwas sagen wollte. Aber dann überlegte sie es sich wohl anders.
„Es ist spät geworden", bemerkte sie. „Wir sollten schlafen."
Leichter gesagt als getan! Beide lagen mit offenen Augen im Dunkeln und ließen
ihren Gedanken freien Lauf. So sehr Veronica sich auch mühte: Antonios Bild ließ
sich nicht vertreiben. Ob auch Isabel an ihn dachte?
12. KAPITEL Als Veronica am nächsten Morgen wach wurde, schliefen die anderen noch. Schnell zog sie sich ihre Jeans und ein buntkariertes Hemd an und ging nach draußen, um sich zu waschen. Das Wasser war eiskalt. Sie wusch sich das Gesicht und kämmte ihr Haar. Dann band sie es, so gut es ohne Spiegel ging, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Es versprach, wieder ein heißer Tag zu werden. Veronica beschloß, die anderen mit einem fertigen Frühstück zu überraschen. Im Küchenzelt hatte sie bald Brot und Eier und in der Tiefkühlbox Margarine gefunden. Dann entdeckte sie eine große eiserne Bratpfanne, die so schwer war, daß sie sie kaum heben konnte. Nachdem sie sieben Streichhölzer verbraucht und sich die Finger verbrannt hatte, war auch der Gaskocher entzündet. Vor Aufregung ließ sie ein Ei in den Topf fallen und verbrachte die nächsten Minuten damit, die Eierschalen herauszusuchen. Als die anderen später nach und nach hereinkamen, war der Tisch schon gedeckt, der Kaffee frisch aufgebrüht, das Omelett fertig in der Pfanne und das Brot getoastet. Veronica freute sich über die gelungene Überraschung. „Wie ich sehe, warst du schon fleißig", sagte Antonio und wischte ihr mit einem Küchenhandtuch einen Schmutzfleck vom Gesicht. Liebevoll sah er sie dabei an. „Veronica, du bist ein richtiger Schatz", verkündete Sam, nachdem er seinen Teller geleert und seine zweite Tasse Kaffee getrunken hatte. „Du bist sehr hübsch, kannst zeichnen, kannst kochen und siehst sexy aus in deinen engen Jeans." Bei seinen letzten Worten wurde Veronica rot, stimmte aber bald in das Lachen der anderen ein. Der Tag fing gut an. Sie freute sich auf die vor ihr liegende Arbeit. Aber als sie hörte, daß sie allein auf dem Ballspielplatz arbeiten sollte, während die anderen mit einer Ausgrabung auf der anderen Seite des Geländes beschäftigt sein würden, war sie sehr enttäuscht. Antonio hatte dort einen Tunnel entdeckt, der vielleicht in ein unterirdisches Gemach führte. Dort hoffte er, Zeugnisse aus jener längst vergangenen Zeit zu finden, die Licht auf den Untergang dieser alten Stadt werfen konnten. Antonio konnte es kaum abwarten, daß sie endlich mit der Arbeit anfingen. Isabel war genauso ungeduldig, und selbst Sam packte eilig seine Ausrüstung zusammen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, etwas von Sträflingsarbeit vor sich hinzumurmeln. Auch Leochan wollte mitkommen, obwohl er nicht schwer arbeiten konnte. „Was mag am anderen Ende des Tunnels auf uns warten?" fragte er. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß sie eines Tages Aufzeichnungen finden würden, die ihnen über Aufstieg und Niedergang jener alten Zivilisation Aufschluß geben konnten. Diese Möglichkeit versetzte sie alle in fieberhafte Erregung. Natürlich übertrug sich diese Stimmung auch auf Veronica. Sie fragte Antonio, ob sie ihnen nicht helfen könne, und fühlte sich ausgeschlossen, als er ihre Bitte ablehnte. „Eigentlich müßtest du mit dem größten Teil der Reliefs fertig sein, bevor die Touristen kommen," sagte er. „Der Bus braucht von Merida ungefähr zwei Stunden, also werden die ersten Touristen gegen Mittag hier eintrudeln." „Und was soll ich hinterher tun?" fragte Veronica. Aber Antonio war schon auf halbem Wege aus dem Zelt und antwortete nicht. Hatte er ihre Frage überhaupt gehört? „Offensichtlich ist ihm das egal", sagte sie mißmutig zu Sam, der sie amüsiert beobachtete.
„Das glaube ich nicht, meine Liebe", entgegnete er. „Es ist nur zu deinem Schutz. Er will, daß du dich erst an das Arbeiten in der Hitze gewöhnst, bevor er dich voll einsetzt." Veronica holte lustlos ihr Zeichenmaterial und machte sich auf den Weg zum Ballspielplatz. Die Frische des kühlen Morgens hing hoch in der Luft und tat ihr gut. Auf dem Ballspielplatz stellte sie den mitgebrachten Klappstuhl und die Staffelei auf und begann zu zeichnen. Schon bald war sie so in ihre Arbeit vertieft, daß sie gar nicht mehr an ihren Ärger dachte. Die Reliefs mit ihrer Darstellung des ewigen Wechsels von Tod und Erneuerung begannen sie zu faszinieren. Die Arbeit machte ihr Spaß, sie war in jeder Hinsicht befriedigend. Veronica merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Irgendwann sah sie jedoch, daß sie nicht mehr allein auf dem Platz war. Zuerst stellten sich nur ein paar einzelne Besucher ein, die offensichtlich im eigenen Wagen gekommen waren. Sie blätterten in ihren Informationsblättern, während sie die Anlage erforschten. Einige von ihnen waren bestimmt Studenten, denn sie machten sich genaue Notizen. Sie schauten Veronica zwar ab und zu neugierig über die Schulter, aber das störte sie nicht. Doch gegen Mittag änderte sich das Bild. Die TouristenBusse waren angekommen, und bald konnte man die Stimmen der Führer hören, die jeweils Gruppen von dreißig und mehr Besuchern durch das Gelände geleiteten. Der Lärm war sehr störend. Das lag vor allem an der besonderen Akustik des Ballspielplatzes. Er war so angelegt, daß man alles, was am einen Ende des Platzes gesagt wurde, am anderen Ende hörte. Natürlich wollten die Gäste sich davon alle selbst überzeugen. „JuuuHuuuuu..." „Haaalooo..." „Martha, verstehst du mich?" „He, ihr da..." Veronica versuchte, ihre Ohren vor dem Lärm zu verschließen, so gut es ging. Aber die Menschen, die sich um sie scharten, machten dann jede Arbeit unmöglich. Sie stellten Fragen, bedrängten sie, um gut sehen zu können, ja, kritisierten sogar ihre Zeichnungen. Schließlich bot eine schwitzende Dame mit ausladenden Kurven Veronica zehn Dollar, wenn sie sie von der Seite zeichnen würde: „Vielleicht mit etwas Kunst im Hintergrund, damit es besser aussieht." Da hatte Veronica endgültig genug. Sie lächelte höflich und erklärte ihr, daß sie einem so ausgefallenen Profil sicher nicht gerecht werden könne, packte ihre Sachen zusammen und ging. Als sie im Lager auf die Uhr schaute, stellte sie fest, daß es schon nach eins war. Ob die anderen wohl eine Mittagspause einlegen würden? Da kam ihr eine Idee: sie würde ihnen etwas zu essen bringen. Ich fürchte, das wird mein einziger Beitrag zu dieser aufregenden Ausgrabung sein, dachte sie ein wenig traurig. Zumindest heute, tröstete sie sich. Sie fand in der Kühlbox Käse, Schinken und Thunfisch, belegte damit eine ordentliche Anzahl Brote und füllte eine Thermoskanne mit eisgekühltem Tee. So bepackt, machte sie sich auf den Weg in das Gelände, wobei sie die Touristenschwärme tunlichst umging. Hinter der Ruine, wo der Tunnel begann, stieß sie auf drei müde, verschmutzte Gestalten. Leochan war schon gegangen, aber die anderen hatten den ganzen Morgen gegraben, den Schutt weggeräumt und durchgesiebt. Nur widerwillig ließ Antonio den Spaten ruhen. Er war überrascht, daß es schon so spät war. Veronica dachte schon, er wolle sie wegen ihres Kommens
zurechtweisen, aber er unterließ es, als er sah, wie dankbar Isabel und Sam nach dem mitgebrachten Tee griffen. „Du bist ein Engel", seufzte Sam. „Genau das haben wir gebraucht. Ich konnte es geradezu spüren: wie eine Dörrpflaume bin ich ausgetrocknet." Dabei zog er mit komischer Miene die Luft ein, so daß er ganz hohlwangig aussah. Antonio setzte sich neben Veronica und nahm sich ein Sandwich. Sie füllte eine Plastiktasse mit eiskaltem Tee und reichte sie ihm. Er leerte sie in einem Zug. Als er sie ihr noch einmal hinhielt, um nachgeschenkt zu bekommen, trafen sich ihre Blicke. „Das tut gut", sagte er, und dieses Lob machte sie glücklich wie nie. Sie ruhten sich eine Zeitlang aus und begannen dann wieder zu arbeiten. Zuerst saß Veronica nur dabei und beobachtete sie. Dieses Graben war sehr mühsam und versprach keine unmittelbaren Erfolgserlebnisse. Es gab in dieser Arbeitsphase keine Funde, keine Jubelrufe über endlich freigelegte Schätze. Trotzdem mußte man sehr sorgfältig sein. Denn man konnte nicht wissen, ob die nächste Schaufel voll Erde irgend etwas Wichtiges enthielt oder ob man vielleicht gegen eine tiefliegende Wand stieß. Es war ein mühevolles Unterfangen. Doch lange hielt sie das Zuschauen nicht aus. Dann half Veronica Isabel, die Erde zu durchsuchen, die die Männer aus dem Tunnel karrten. Sie waren erst eineinhalb Meter in dem Tunnel vorangekommen, und Veronica war überwältigt bei dem Gedanken, wieviel sie noch vor sich hatten. Einmal rief Sam laut nach einer kleinen Schippe, und Veronica brachte sie ihm. Von da an blieb sie bei den beiden Männern und grub auch selbst ein ganzes Stück. Offensichtlich hatte Antonio seine Anweisung vom frühen Morgen vergessen. Um vier Uhr legten sie auf Sams Drängen hin die Spaten nieder. Veronica war erschöpft, aber glücklich. Nur Antonio wollte noch weitermachen, aber die anderen hatten genug. Sie gingen geradewegs durch das Hauptgelände zurück, denn die meisten Touristen waren inzwischen abgefahren. Dabei kamen sie nur langsam voran, und Sam stöhnte. Er behauptete, sich nicht mehr ganz aufrichten zu können, nachdem er so lange gebeugt im Tunnel gestanden habe. „Wie kann man nur so seinen Sommerurlaub verbringen", klagte er. „Ich könnte jetzt in Vermont an einem Bach sitzen und Forellen angeln. Ich muß verrückt sein. Was habt ihr beiden", und er blickte von einem Mädchen zum anderen, „denn für eine Entschuldigung?" Isabel lächelte nur. „Bei meiner Arbeit fühle ich mich zu Hause, Sam." „Und du, meine Liebe?" fragte er Veronica. „Was zieht dich zu solcher Arbeit?" Warum mußte Sam nur so zweideutige Fragen stellen! Sie versuchte, Antonio nicht anzusehen. „Du bist es", sagte sie leichthin, „du bist die Hauptattraktion für mich. Was sollte es sonst sein?" Sam grinste. Antonio sagte nichts. Am Eingang zum Ruinengebiet verwickelte er einen der Führer in ein Fachgespräch. Die anderen gingen inzwischen weiter. Im Lager erwartete sie Leochan. Als er Sam und Veronica über die Essensvorbereitungen sprechen hörte, winkte er ab. „Heute abend werde ich mich darum kümmern. Ihr seid doch ganz erschöpft. Der erste Tag ist immer der schlimmste. Wascht euch und ruht euch aus. Ich rufe euch dann, wenn alles fertig ist." „Großartig", erwiderte Sam voller Dankbarkeit. „Eine kurze Dusche — das können wir gebrauchen." „Duschen?" Aber Veronicas Begeisterung dauerte nicht lange. Die Dusche entpuppte sich als ein primitives Gestell, das Leochan für sie aufgebaut hatte: auf drei Seiten mit einer Plane bespannt und über dem Kopf eine Aufhängevorrichtung für einen Kübel mit Wasser.
„Wenn man an dem Seil hier zieht", erklärte Sam, „fängt das Wasser langsam an zu laufen, und wenn der Kübel leer ist, mußt du ihn mit diesem Schlauch wieder füllen." Er lachte über Veronicas skeptischen Gesichtsausdruck. „Primitiv, aber etwas Besseres gibt's hier nicht." „Aber diese sogenannte Duschkabine ist an einer Seite offen", stellte sie kritisch fest. „Ganz richtig", stimmte Sam zu und grinste. „Vielleicht sollten wir einen Vorhang oder etwas Ähnliches beschaffen. Aber nur keine Angst: niemand wird dich belästigen. Wir duschen der Reihe nach. Wenn du fertig bist, rufst du nach dem nächsten. Als vollendeter Kavalier lasse ich den Damen den Vortritt. Um ehrlich zu sein: meine Arme und Beine haben's nötiger, sich auszuruhen, als gewaschen zu werden." Isabel half ihrem Vater beim Kochen, so daß Veronica den Anfang machen mußte. Sie zog sich im Zelt aus, streifte ihren kurzen Bademantel über, nahm Seife, Waschlappen und Handtuch und näherte sich mit ziemlich gemischten Gefühlen der Dusche. Sie war zwar primitiv, aber sie funktionierte. Veronica verbrauchte nur ein wenig Wasser, um sich einzuseifen, dann zog sie vorsichtig an dem Seil, um die Seife abzuspülen. Die Unterhaltung vom gestrigen Abend fiel ihr ein. Leochan hatte von diesem merkwürdigen Geburtsmal erzählt. Anstatt sich gleich abzutrocknen, verdrehte sie den Hals, um sich über die Schulter sehen zu können. Ob der blaue Fleck, den sie als Kind gehabt hatte, noch war? Sie konnte es nicht genau erkennen. Zu dumm, daß sie keinen Spiegel hatte! Plötzlich hörte sie jemand amüsiert sagen: „Er ist noch da, nicht sehr deutlich, aber durchaus erkennbar." Es war Antonio. Er stand vor der Dusche und betrachtete sie anerkennend in ihrer Blöße. Sie spürte, wie sie errötete. Darauf reagierte er mit lautem Lachen. „Was ist denn das? Du wirst ja überall rot... ja, überall." Dabei musterte er sie so, daß sie eine Welle von Wärme durchflutete. „Wie kannst du es wagen..." stotterte sie. Antonio ließ sich nicht beirren. „Gönn mir doch das Vergnügen! Du bist wirklich ein wunderschöner Anblick." Veronica spürte deutlich seinen Blick. Er wanderte über ihre nackte Haut, als würde er sie liebkosen. Es war fast wie eine zarte Berührung. Doch schon im nächsten Augenblick hatte er die Hand zu einem kurzen Gruß erhoben und war verschwunden. Erst jetzt merkte Veronica, daß sie nicht mal versucht hatte, sich zu bedecken. Vor lauter Aufregung hatte sie gar nicht daran gedacht, daß Handtuch und Bademantel deutlich sichtbar an einem Haken neben ihr hingen. Antonio behielt seine Gedanken für sich, als sie sich bald darauf zum Abendessen versammelten. Auch die anderen waren nicht besonders gesprächig, selbst Sam sagte verhältnismäßig wenig. Jeder hing seinen Gedanken nach, während sie zufrieden beieinander saßen und den starken schwarzen Kaffee, Leochans Spezialgebräu, schlürften. Dieser erste Tag war ein guter Anfang gewesen. Jeder von ihnen hatte schwer gearbeitet und war jetzt müde, so daß es kein Bedürfnis nach leichter Unterhaltung gab. Was für ein Unterschied zu dem ständigen Geschwätz von Eduardos Freunden, dachte Veronica. Für die war Schweigen eine Leere, die ausgefüllt werden mußte. Der Mond schien ungewöhnlich hell und beleuchtete den Tempel auf der Spitze der großen Pyramide El Castillo. Veronica konnte ihn in der Ferne über den schwarzen Wipfeln der Bäume sehen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, als Chichén Itzá noch bewohnt gewesen war und ein kulturelles wie
religiöses Zentrum dargestellt hatte. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie damals, vor vielen hundert Jahren, gelebt hätte? Ihr Blick wanderte zu Antonio hinüber. Auch er sah sie an. Ob auch er an die Vergangenheit dachte? Dann wandte er sich Isabel zu, die ihn leise ansprach. Veronica fühlte einen Stich, als sie die beiden so vertraulich miteinander reden sah. „Es ist spät geworden. Laßt uns schlafen gehen", schlug Antonio vor. Alle waren einverstanden. Man erhob sich und wünschte allseits eine gute Nacht. Veronica folgte Isabel ins Zelt, obwohl sie eigentlich noch nicht richtig müde war. Dort ging ihre Kollegin sofort ins Bett und schlief auch bald ein. Veronica streifte sich unschlüssig ihr Nachthemd über, ein loses weißes Hemd, das von Spaghettiträgern gehalten wurde. Ihr war immer noch sehr heiß. Ruhelos legte sie sich auf die Pritsche und versuchte einzuschlafen, warf sich dabei immer wieder von einer Seite auf die andere. Fahles Mondlicht drang durch die dünne Gaze vor dem Eingang ins Zelt und lockte zum Spazierengehen. Geräuschlos schlüpfte Veronica aus dem Bett. Sie wollte Isabel auf keinen Fall aufwecken. Ihre Turnschuhe nahm sie mit aus dem Zelt. Während sie sie draußen anzog, lächelte sie über ihren merkwürdigen Aufzug. Aber wer würde sie schon so sehen außer dem Mond und vielleicht noch den Geistern der Vergangenheit? Ohne Plan schlenderte sie davon. Bald aber merkte sie, daß sie unbewußt ihre Schritte zum Cenote Sagrado, dem Brunnen der Jungfrauen, gelenkt hatte. Jetzt im Mondlicht sah er viel weniger bedrohlich aus als im Tageslicht. Veronica trat näher an den Rand heran und blickte wie unter Zwang in das bodenlose Dunkel hinab. Dann setzte sie sich dort, wo sie stand, auf den Boden und dachte an die Zeremonien, die hier stattgefunden hatten. Sie stellte sich die Priester mit ihrem prächtigen Federkopfschmuck vor, die Krieger mit den stolzen, finsteren Gesichtszügen, die Anführer in ihrer großen Robe und die Jungfrauen, die geopfert werden sollten. Ob diese wohl ängstlich am Rande gekauert oder stolz voll Ehrfurcht ihrem Schicksal entgegengesehen hatten? Plötzlich fiel ein riesiger Schatten über sie und die weite Fläche des Wassers. Jemand näherte sich. Doch sie spürte keine Furcht. Denn, der da kam, gehörte hierher. Ohne aufzublicken, wußte sie, daß es Antonio war, der da schweigend hinter ihr stand. Er tadelte sie sanft, weil sie nachts so allein spazierenging. „Woher wußtest du denn, daß ich weggegangen bin?" fragte sie leise, während er sich neben sie setzte. „Ich wußte es eben." Seine Stimme klang jetzt noch milder. „Ich war voll Unruhe und konnte nicht schlafen. Da sah ich eine weiße Gestalt im Mondlicht. Ich dachte schon, es wäre Xtabay, sie treibt in so mondhellen Nächten bekanntlich ihr Unwesen." „Wer ist das?" „Sie ist eine verführerisch schöne Frau, die unter den CeibaBäumen lauert, um vorübergehende Männer in den Tod zu locken." „Eine Verführerin in Turnschuhen?" lachte Veronica, wobei sie demonstrativ ihre Beine ausstreckte. „Du hast recht, das ist merkwürdig. Xtabay konnte durch die Luft schweben. Du hast also nicht vor, mich zu verführen und ins Verderben zu locken?" „Verführen — vielleicht, aber nicht ins Verderben locken", flüsterte sie und merkte, wie sein Atem schneller ging. Was mache ich hier eigentlich? sagte sie sich. Paß bloß auf! „Xtabay ist nicht da", fuhr sie fort, „aber vielleicht ein paar andere Geister?" Sie blickte sich um. Die Lichtung am Wasser war vom Mond beschienen, aber die Bäume ringsum sahen dunkel und undurchdringlich aus. Sie hatte ein Gefühl, als seien sie beide ganz allein auf der Welt.
„Erzähl mir von dem Brunnen", forderte sie Antonio auf. „Stimmt das, daß er voll von Schätzen war?" „Ja, bei der ersten Untersuchung fand man viele wertvolle Gegenstände, kostbaren Schmuck, Gold und Juwelen." „Aber warum hat man solche kostbaren Dinge in den Brunnen geworfen? Damit sie den Spaniern nicht in die Hände fielen?" „Nein, das hat damit gar nichts zu tun. Diese Wasserstelle war eine religiöse Kultstätte", erklärte Antonio, „und die gefundenen Gegenstände Opfergaben. Man gab immer den am meisten gehüteten Schatz." „Wurden hier auch Knochen gefunden, Knochen von Menschen?" Veronica schauderte bei der Vorstellung, und Antonio legte fürsorglich einen Arm um ihre Schultern, um sie zu wärmen. „Diese Wasserstelle heißt deshalb doch ,Brunnen der Jungfrauen'", sagte sie. „Das ist eine Sitte meiner Vorfahren, für die ich gar kein Verständnis habe", flüsterte Antonio. „Ich könnte mir Besseres vorstellen, als schöne junge Frauen den Göttern zu opfern." Verlangend legte Antonio beide Arme um Veronica und zog sie an sich. Und ihr Begehren war stärker als ihr Wille, sich ihm zu entziehen. Schon sein erster Kuß machte jeden Gedanken an Widerstand unmöglich. Sie wurde zunehmend weicher und nachgiebiger und erlag allmählich ganz seiner wachsenden Leidenschaft. Seine Hände wanderten forschend und liebkosend über ihren Körper. Nacheinander bedeckte er ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Brüste mit Küssen. Allmählich erwachte auch in ihr die Leidenschaft und brachte sie zum Glühen. Sie zog ihn noch näher an sich, und er spürte ihr wachsendes Begehren. Ihr Mund suchte den seinen, und sie drängte sich an ihn. Wortlos nahm Antonio sie auf die Arme. Er trug sie vom Rand der Wasserstelle weg an eine weiche, grasbewachsene Stelle unter den Bäumen. Dort stellte er sie auf die Füße. Aber sie schwankte und lehnte sich hilflos gegen ihn. Langsam ging Antonio in die Knie, wobei er sie mit sich zog. Dann schob er ihr die schmalen Träger ihres Nachthemds von den Schultern und streifte es ihr herunter, wobei er mit den Fingern jede ihrer Kurven nachzeichnete. Bald lag sie ganz nackt vor ihm. Stumm betrachtete er sie in ihrer Schönheit. Veronica spürte, wie sie trotz des kühlen Bodens glühte und vor Erregung zitterte. Eine Welle des Begehrens durchflutete sie, und sie merkte nicht, wie sich ihre Hüften langsam und sinnlich bewegten, voll Sehnsucht und Erwartung. Als sie schließlich die Arme nach Antonio ausstreckte, riß er sich das Hemd vom Leib und ließ sich seufzend neben ihr nieder. Mit Mund und Händen liebkoste er jede Stelle ihres nackten Körpers. Veronica hatte so etwas noch nie erlebt. Es war so unvergleichlich schön, daß selbst Antonios frühere Zärtlichkeiten dagegen verblaßten. „Du bist so wunderschön", flüsterte er, den Kopf an ihren Brüsten. „Xtabay, der weißen Gestalt, bin ich gefolgt und habe nun eine wirkliche Frau gefunden, eine warme, lebendige Frau voller Leidenschaft." Veronica streichelte selbstvergessen Antonios kräftigen Rücken und seine breite Brust. Als sie seine Hüften berührte, stöhnte er auf. Er entzog sich ihr und streifte mit einer schnellen Bewegung seine Hose herunter, so daß auch er jetzt nackt war. Als Veronica ihn so sah, wußte sie, daß es nun kein Zurück mehr für sie gab. Sie empfand zugleich Angst und Begehren. Doch das Gewicht seines Körpers auf dem ihren erstickte ihre Furcht. Jetzt gab es nur noch ihr drängendes Verlangen. Instinktiv bewegte sie sich so, daß ihre Lust sich immer weiter steigerte. Als Antonio sie schließlich nahm, schrie sie im
ersten Moment vor Wonne auf. Bald verdrängte ein lustvoll pulsierendes Gefühl,
das stärker und stärker wurde, jeden Gedanken. Gemeinsam mit ihm erreichte
sie den Höhepunkt.
Erschöpft lagen sie einen Augenblick völlig unbewegt. Dann glitt Antonio neben
sie und beruhte zärtlich ihr Gesicht. „Kein Schatten der Vergangenheit, eine
leidenschaftliche Frau voller Leben."
Veronica wollte der rauhen Wirklichkeit lieber noch nicht ins Auge blicken.
„Wieso? Ich bin doch Xtabay!" sagte sie „Du bist ein gefährlicher MayaKrieger,
den ich nun in sein Verderben gelockt habe."
„Wenn das mein Verderben ist, bin ich ein williges Opfer", antwortete er und
küßte sie zärtlich. Doch dann wurde er ernst. „Veronica, hoffentlich habe ich dir
nicht weh getan. Ich wußte nicht, daß du... noch Jungfrau warst."
Schlagartig war Veronica ernüchtert. Abweisend blickte sie ihn an, während sie
sich aufsetzte. „Tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe."
„Veronica, so habe ich das doch nicht gemeint."
„Was hast du denn sonst gemeint? Vielleicht, daß du lieber eine erfahrenere,
raffiniertere Partnerin gehabt hättest? Du dachtest wohl, daß ich schon mit...“
Jetzt erst wurde ihr bewußt, was gerade geschehen war.
„Veronica, hör auf."
Veronica stand entschlossen auf. Hell hob sich ihre Gestalt von der Dunkelheit
des Waldes ab. Zwar waren ihre Knie weich, aber ihr Gesicht zeigte stolze
Entschlossenheit. Jetzt erhob sich auch Antonio. Als sie nach ihrem Nachthemd
griff, hielt er sie fest.
„Nein", sagte er. „So lasse ich dich nicht gehen." Rasch zog er sich an, und sie
kam sich ihm gegenüber nun in ihrer Nacktheit gedemütigt vor. Deshalb machte
sie einen Versuch, davonzulaufen, doch da sagte Antonio: „Ich an deiner Stelle
würde nicht so durch den Wald rennen." Mit dem Nachthemd in der Hand stand
er neben ihr.
„Warum nicht?" erwiderte sie herausfordernd. „Wenn mich jemand entdeckt,
denkt er vielleicht auch, ich sei Xtabay."
„Veronica", sagte Antonio sanft. „Ich habe den Eindruck, daß du dich und mich
heute nacht nicht sehr klar gesehen hast. Du warst in Gedanken in einer längst
vergangenen Zeit. Ich war für dich ein heldenhafter Krieger, vielleicht sogar eine
Gottheit. Aber das bin ich nicht, genausowenig wie ein Fremdenführer, mit dem
man zum Vergnügen einen Flirt riskieren kann. Und du bist kein Fabelwesen,
sondern eine richtige, lebendige Frau."
„Die dich mit ihrer Jungfernschaft schockiert hat."
„Sprich nicht so", antwortete er. „Du verstehst meine Reaktion völlig falsch. Ich
hätte das dann nicht gewollt, aber du hast den Eindruck vermittelt, daß Eduardo
und du..."
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", erwiderte sie ruhig. „Du gingst davon
aus, daß ich ein Verhältnis mit Eduardo habe und deshalb eine leichte Beute für
dich sein würde. Wer weiß, vielleicht ist deine Idee ja gar nicht so schlecht. Aber
das wird die Zukunft zeigen. Ich werde die heutige Nacht als eine Art
Vorbereitung dafür verstehen."
Antonio erstarrte sichtlich. Dann überkam ihn Zorn. „Ich habe begriffen. Ich bin
der passende Geliebte für diese Umgebung, hier am heiligen Brunnen. Aber wenn
du nach New York oder auch nur nach Merida zurückkehrst, wird Eduardo Lopez
Perreira wieder der geeignetere Mann für dich sein."
Hilflos vor Zorn holte Veronica aus. Doch er hielt ihr Handgelenk schnell fest und
drückte es, um ihr weh zu tun.
„Du hast recht", bestätigte sie ihm dann spitz, „daß ich nicht hierher gehöre.
Aber mit Isabel ist das anders, nicht wahr? Mit ihr teilst du deine Arbeit. Und was sonst noch?" „Was bist du doch für ein dummes Mädchen! Isabel! Schon wieder dasselbe Thema. Sie ist eine Kollegin, mit der ich mich gut verstehe. Wir haben viel gemeinsam." „Richtig — das hat sie mir auch gesagt." „Was hat sie dir gesagt?" Veronica versuchte sich seinem Griff zu entziehen, aber er war stärker und hielt sie fest. „Es reichte, um mich wissen zu lassen, daß ich lieber bei meinesgleichen bleiben solle." „Und wo ist das: bei deinesgleichen?" Veronica zitterte. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie noch immer nackt war, und sie fühlte sich erniedrigt. „Gib mir bitte mein Nachthemd", sagte sie, den Tränen nahe. Als Antonio ihr Gesicht sah, gab er nach. Während sie es überzog, wiederholte er seine Frage. „Was ist deinesgleichen, Veronica? Verrat es mir." „Das weiß ich nicht", sagte sie kläglich. „Eine Zeitlang dachte ich, du... und ich..." Sie brach ab. Ein bißchen Stolz hatte sie ja auch noch. „Warte..." rief Antonio ihr nach, als sie davonrannte. „Sei doch nicht dumm. Das Ganze ist ein..." Doch sie hörte nicht auf ihn. Ohne sich umzudrehen, rannte sie zum Zelt zurück. Dort öffnete sie leise den Zelteingang, um Isabel nicht zu wecken. Auf keinen Fall durfte sie sie jetzt sehen. Denn wie könnte Veronica ihr ihre Erregung und ihr zerzaustes Äußeres erklären? Doch Isabel ließ sich nicht in ihrem Schlaf stören. Veronica verließ das Zelt noch einmal, um sich zu waschen, und legte sich dann auf ihr Bett. Aber sie fand keinen Schlaf. Alles tat ihr weh, und das erinnerte sie schmerzlich an ihr Zusammensein mit Antonio. Wäre es doch nie passiert! Der körperliche Schmerz würde vergehen, aber die Enttäuschung und die Erinnerung würden bleiben.
13. KAPITEL Am nächsten Morgen brannten Veronicas Augen, weil sie viel zu wenig geschlafen
hatte. Ihr Körper fühlte sich wie betäubt an, und die Glieder waren ihr schwer.
Als sie hörte, wie Isabel sich anzog, stand sie mühsam auf.
Isabel merkte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Besorgt fragte sie: „Fühlst
du dich krank?"
„Nur... müde. Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen."
„Ich hörte, daß du unruhig warst", sagte Isabel. „Dann bist du hinausgegangen.
Ist irgend etwas passiert?"
Veronica war nahe daran, sich bei Isabel solche Fragen zu verbitten. Doch als sie
sie ansah, begriff sie, daß die Kollegin aufrichtig besorgt um sie war. Ihr konnte
sie nicht die Schuld dafür geben, daß Antonio sie zurückgewiesen hatte. Daß
auch sie Antonio begehrte, konnte Veronica ihr genausowenig zum Vorwurf
machen, zumal sie sich darin nicht voneinander unterschieden.
„Bleib im Bett", drängte Isabel sie. „Es dauert seine Zeit, bis man sich an die
Hitze angepaßt hat. Nach ein paar Tagen kannst du sie leichter ertragen."
Welche Ironie, dachte Veronica unterdessen. Im Augenblick fühlte sie sich so kalt
wie Eis.
„Vielleicht hast du dir auch einen Bazillus eingefangen", gab Isabel zu bedenken.
Jedenfalls mußt du dich erst ausruhen, bevor du wieder an die Arbeit gehst.
„Aber, Antonio...?"
„Ich werde mich schon um ihn kümmern", versprach Isabel. „Wenn du dich
später besser fühlst, kannst du dich uns ja anschließen. Doch jetzt geh schnell
zurück ins Bett." Mit Bestimmtheit schickte sie Veronica auf die Pritsche, ehe sie
das Zelt verließ.
Ja, ja, dachte Veronica bitter, du wirst dich schon um Antonio kümmern!
Offensichtlich war Isabel geeigneter dafür als sie selbst. Sie kennt ihn ja auch
besser als ich, dachte sie traurig. Aber Isabel konnte nichts für das, was letzte'
Nacht geschehen war. Und Veronica empfand ihr gegenüber Dankbarkeit, daß sie
sich an diesem Morgen so um sie gekümmert hatte.
Wie sollte sie bloß Antonio wieder gegenübertreten? Sie hatte sich ihm
hingegeben, obwohl er keine dauerhafte Beziehung mit ihr wollte. Er hatte
angenommen, daß sie sexuelles Vergnügen kannte. Als er merkte, daß sie noch
nie mit einem Mann geschlafen hatte, war er... ja, wie war er gewesen?
Enttäuscht? Ärgerlich? Sie konnte es gar nicht genau sagen.
Dachte er etwa, daß sie ihn in eine Falle locken, ihm eine Verpflichtung
aufbürden wollte? Veronica hatte von Frauen gehört, die sich solcher Taktiken
bedienten. Schon der bloße Gedanke war beschämend.
Wie aber stand es um ihre eigenen Gefühle Antonio gegenüber? Sie wünschte,
sie könnte die Erfahrung der letzten Nacht ungeschehen machen. Wäre es doch
bei einer rein beruflichen Beziehung bei ihnen geblieben!
Veronica warf das Bettuch zur Seite und setzte sich auf. Ich mache mir etwas
vor, dachte sie niedergeschlagen. Es gibt keinen Weg zurück. Ich liebe Antonio,
liebe ihn tief und dauerhaft. Wie soll ich jetzt, nachdem wir schon einmal
zusammen geschlafen haben, den ganzen Sommer über an seiner Seite arbeiten?
Ich werde immer Sehnsucht danach haben, ihm wieder so nahe zu sein. Das
schaffe ich nicht.
Entschlossen stand sie auf, ging zum Zelteingang und blickte hinaus. Alles
ringsum blieb still. Die anderen waren nicht mehr da. Selbst der Himmel zeigte
sich im Einklang mit ihrer Stimmung: heute wolkenbedeckt und grau. Ihre
Entscheidung, war gefallen: Sie würde nicht länger bleiben.
Fest stand, daß sie handeln mußte, solange Antonio und die anderen arbeiteten und ihre Entschlossenheit anhielt. Eile war also geboten. Sie wusch sich und zog weiße Jeans und ein blaues TShirt an. Dann begann sie zu packen. Es dauerte nicht lange, denn außer ihrer Arbeitskleidung hatte sie nicht viel mitgenommen. Das Zeichenmaterial gehörte sowieso dem Museum. Plötzlich fiel ihr das Hemd ein, das sie Antonio gegeben hatte. Gut, daß er etwas hatte, um sich an sie zu erinnern! Dann nahm Veronica den großen Umschlag heraus, der in der Seitentasche ihrer Reisetasche steckte. Er enthielt das unvollendete Porträt von Antonio. Es war das einzige Erinnerungsstück an ihn, das sie besaß. Sie blickte sinnend auf das Bild und war auch diesmal wieder betroffen, wie lebendig seine Augen auf dem Papier wirkten mit ihrem durchdringenden Blick. Selbst als Zeichnung war Antonio beunruhigend. Ich bin gar nicht schlecht, dachte sie stolz und schob das Bild wieder in den Umschlag und zurück in ihre Tasche. Während sie noch mit Packen beschäftigt war, hörte sie, daß sich ein Wagen ihrem Camp näherte. Antonios Kombi stand an seinem Platz. Daher nahm Veronica an, daß einer von den angeheuerten Arbeitern einen Tag früher gekommen war als nötig. Auch gut, dachte sie. Vielleicht kann ich mit ihm nach Merida zurückfahren oder wenigstens bis zum Hotel. Von dort aus kann ich mir ein Taxi mieten. Wie überrascht war sie aber, als eine bekannte Stimme rief: „Hallo... hallo, ist hier jemand?" Es war Eduarde Veronica rannte aus dem Zelt, und da stand er und blickte sich suchend um. „Eduarde.. was in aller Welt willst du denn hier?" Glücklich kam er zu ihr und gab ihr die Hand. Diesmal war Veronica richtig froh, ihn zu sehen. „Das ist einfach eine Laune gewesen", sagte er ungewöhnlich ernst. „Ich kam mir so alleingelassen vor. Da beschloß ich zu schauen, wie es euch geht." Er wirkte irgendwie angegriffen. Aber Veronica freute sich zu sehr, ihn wiederzusehen, und hatte zu viel mit ihren eigenen Problemen zu tun, um sich darüber Gedanken zu machen. „Dich schickt mir der Himmel. Ich überlegte gerade, wie ich nach Merida zurückkommen könnte. Und da kommst du mit deinem Wagen." „Zurück nach Merida?" Eduardo sah sie überrascht an. „Aber warum? Du bist doch vorgestern erst angekommen?" „Das stimmt. Aber... es läuft nicht alles so, wie ich dachte. Ich fahre zurück nach Hause, zurück nach New York. Heute will ich erst mal nach Merida zurück, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen." Eduardo reagierte nicht wie erwartet. Sie hatte gedacht, er würde sich darüber freuen. Nun schien es ihm gar nicht recht zu sein, daß sie alles hinwarf. „Wo sind eigentlich die anderen? Wo ist Isabel?" fragte Eduardo, noch immer völlig verständnislos. „Darum geht es ja gerade", erwiderte Veronica. „Sie sind nicht hier, und ich möchte weg sein, bevor sie zurückkommen." Eduardo zögerte. „Muß das denn jetzt sofort sein? Es ist doch noch früh." Erst jetzt wurde Veronica klar, daß Eduardo schon bei Morgengrauen von Merida losgefahren sein mußte, um die weite Strecke zurückzulegen, denn es war noch nicht ganz neun. Das mußte einen wichtigen Grund haben. Ob irgend etwas nicht stimmte? „Eigentlich wollte ich hier sein, bevor Isabel... bevor ihr zu arbeiten anfangt. Isabel... geht es ihr gut?" Obwohl sie selbst soviel Probleme hatte, fiel Veronica auf, wie erregt Eduardo
war. „Isabel...? Ja, ihr geht's gut, das heißt, sie ist nicht anders als sonst." Veronica war erstaunt. „Du kennst Isabel..., aber natürlich! Natürlich kennst du Isabel. Hast du mir nicht erzählt, daß ihr mal befreundet wart? Jetzt wird mir einiges klar. Du bist also nicht meinetwegen hierhergekommen, Eduardo! Du wolltest Isabel besuchen, nicht wahr?" An seinem Gesicht konnte sie ablesen, daß sie recht hatte. „Mach nicht so ein trauriges Gesicht", fuhr sie fort, denn er tat ihr leid. „Ich bin dir nicht böse. Höchstens mein Stolz ist ein bißchen verletzt, denn ich dachte immer, du würdest mir den Hof machen. Aber warum hast du mir nicht gesagt, daß du... also daß du und Isabel.." „Da gab's nichts zu erzählen, als wir uns kennenlernten", antwortete Eduardo aufrichtig. „Ich hatte seit langem keinen Kontakt mehr zu Isabel. Ich habe dir tatsächlich den Hof gemacht, denn ich dachte, es wäre mit Isabel und mir aus und vorbei." „Dann war es also mehr als nur Freundschaft?" fragte Veronica neugierig, aber zugleich voll Mitgefühl. „Ja, es war mehr, viel mehr", gestand Eduardo. „Als wir uns vor vier Jahren an der Universität begegneten, verliebten wir uns sofort ineinander. Isabel war schon in einem fortgeschrittenen Semester und begann gerade, Anfängerkurse zu geben, und ich studierte im sechsten Semester Jura. Wir wollten heiraten. Aber dann bekam mein Onkel alles heraus. Er war überhaupt nicht einverstanden mit einer solchen Verbindung — aus Gründen, die du dir wahrscheinlich denken kannst." „Aber du brauchtest doch nicht..." „Er muß sich direkt an Isabel gewandt haben", unterbrach Eduardo sie, „denn sie machte mit mir Schluß und wollte mich nie mehr wiedersehen. Dann riet er mir, das Studium abzubrechen. Er meinte, ich brauchte keinen juristischen Abschluß, um die Firma der Familie weiterzuführen. Und er hatte recht. Eigentlich brauche ich überhaupt nichts zu können, um im Geschäft die Galionsfigur abzugeben." „Aber wieso hast du auf ihn gehört?" „Ich wollte nicht ohne Isabel weiterstudieren. Mein Onkel hatte ihr klargemacht, daß sie als indianische Frau eine Schande für unsere spanische Familie sei. Damals ahnte ich nicht, daß das Leben, das ich führen würde, eine weitaus größere Schande für mich selbst sein würde. Erst durch dich bin ich zu dieser Erkenntnis gelangt." „Durch mich...?" Veronica war überrascht. „Durch deine Beziehung zu deiner Arbeit. Ich spürte, daß du mein faules Leben mißbilligtest. Nicht, daß du Kritik daran geübt hättest. Das hast du nicht getan. Aber ich merkte, wie wichtig dir deine Arbeit ist. Ich hatte die Karriere aufgegeben, die ich mir eigentlich gewünscht habe, und was viel wichtiger ist, die Frau, die ich liebte. Ich glaube, du würdest das niemals tun, nicht wahr?" Veronica antwortete ihm nicht. Ob sie im Beginn stand, den gleichen Fehler wie Eduardo zu machen? Aber ihre Situation war bestimmt ganz anders. „Gestern abend", fuhr Eduardo fort, „hatte ich eine Unterhaltung mit meinem Onkel. Ich erklärte ihm, daß ich mein Studium wieder aufnehmen würde: mit oder ohne seine Unterstützung. Ich wollte es Isabel heute sagen. Ob es etwas an ihrer Einstellung zu mir ändert, weiß ich nicht. In Merida hat sie kaum mit mir gesprochen", endete er niedergeschlagen. Plötzlich wurde Veronica alles klar. Der Mann, um den es Isabel ging, war Eduardo, nicht Antonio. Wie dumm sie doch gewesen war, so voreilige Schlüsse zu ziehen.
„Geh zu ihr, Eduardo", riet sie ihm. „Erzähl ihr, was du mir gerade gesagt hast.
Ich glaube schon, daß eure Situation sich dadurch ändert." Dann sagte sie ihm,
wo Isabel zu finden sei, und Eduardo machte sich mit neuen Hoffnungen auf den
Weg.
Veronica überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte sich, was Isabel betraf,
falsche Vorstellungen gemacht. Vielleicht hatte sie auch Antonios Gefühle falsch
gedeutet, so daß die Situation doch noch nicht verloren war? Aber sie würde es
nie erfahren, wenn sie jetzt weglief.
Veronica ging zum Zelt zurück und begann ihre Reisetasche wieder auszupacken.
Antonio hatte zwar mit ihr geschlafen, aber sie wußte nicht, ob er sie auch liebte.
Jedenfalls gab es keine andere neben ihr, das war ein Hoffnungsschimmer. Sie
hatte sich ihm letzte Nacht aus Liebe hingegeben, es ihm aber nicht gesagt. Ob
auch er... Sie weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
In diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch am Zelteingang. Es war Antonio, der
mit verschlossenem Gesicht hereinkam.
„Gerade habe ich Eduardo gesehen", sagte er ohne jede einleitende Bemerkung.
Es klang eher wie ein Vorwurf als eine Feststellung.
„Und weiter?" fragte sie.
„Isabel sagte mir, daß es dir nicht gutgeht. Da wollte ich nach dir schauen. Ich
habe mir schon fast Vorwürfe gemacht wegen letzter Nacht..." Vor Aufregung
wußte er nicht weiter. Doch dann blickte er sie wieder finster an. „Eben kam er
beim Tunnel an. Er will sich wohl ein wenig die Zeit vertreiben, bis du fertig
gepackt hast, wie ich sehe." Seine Stimme klang eisig. Die offene Reisetasche
auf ihrem Bett, sie mit ein paar Kleidungsstücken in der Hand — er konnte die
Situation nur mißverstehen.
„Hat Eduardo dir nicht gesagt, warum er hergekommen ist?"
„Ich habe kein Wort mit Señor LopezPerreira gesprochen", erwiderte er bitter.
„Ich hatte keine Lust, und es war auch nicht nötig. Offensichtlich hast du ihn
bestellt, damit er dich hier wegholt. Ich bin froh, daß unser kleines Abenteuer
letzte Nacht deine Pläne nicht umgestoßen hat. Wer weiß, vielleicht macht es dir
mit Eduardo jetzt noch mehr Spaß."
Sie hätte ihm gern gesagt, was wirklich geschehen war, wollte ihm gestehen,
was sie für ihn fühlte, aber er gab ihr keine Gelegenheit, sondern redete weiter.
„Aber vielleicht brauchst du etwas, damit du später auch einmal an mich denkst.
Falls du vergessen haben solltest, was letzte Nacht geschehen ist." Er packte sie
wütend, schob ihr TShirt hoch und griff nach ihren entblößten Brüsten. Sie
wollte schreien, aber er erstickte ihren Protest mit dem Mund. Dann drängte er
sie zurück auf das Bett. Sie fühlte, wie er an ihren Jeans zerrte.
Mit aller Kraft begann Veronica sich zu wehren. Doch obwohl er sie mit Gewalt zu
überwältigen versuchte, spürte sie ihre wachsende Erregung. Aber auf diese
Weise wollte sie nicht genommen werden. Sie biß ihn.
Antonio schrie vor Schmerz auf und ließ sie los. Veronica rollte sich blitzschnell
zur Seite und stand auf.
Er faßte vorsichtig nach seiner Lippe und brüllte sie an: „Was glaubst du, was du
da tust?"
„Ich schütze mich vor dir, nichts anderes." Völlig aufgelöst stand sie vor ihm und
atmete heftig. Dann zog sie ihr TShirt herunter, um ihre Blöße zu bedecken.
„Und was tust du? Das solltest du dich lieber fragen! Daß du ein Tyrann bist, hab'
ich schon gehört, aber daß du auch vor Vergewaltigung nicht zurückschreckst,
hätte ich nicht gedacht."
Antonio erstarrte. Das hatte ihn getroffen, und er tat ihr auf einmal leid. Was sie
gesagt hatte, war ja nur die halbe Wahrheit gewesen. Sie wollte sich nicht mit
Gewalt von ihm lieben lassen, doch sie hatte ihm nicht zu verstehen gegeben,
daß sie seine Liebe sonst brauchte. Doch dafür war es jetzt zu spät.
Antonio stand steif und unbewegt da. „Du hast recht. Wenn es nicht mehr
zwischen uns gibt, sind wir zu verachten. Geh zu Eduardo, wenn es das ist, was
du dir wünschst, und fahrt ab." Er drehte sich um und verließ zornig das Zelt.
Es war endgültig aus zwischen ihnen. Sinnlos, ihm jetzt noch erklären zu wollen,
weshalb Eduardo gekommen war oder ihm ihre wahren Gefühle zu gestehen.
Veronica zog ein anderes TShirt an und packte alles wieder ein. Als Eduardo mit
Isabel zurückkam, war sie startbereit und saß still und teilnahmslos auf ihrem
Bett.
Die beiden waren freudig erregt. Triumphierend erzählte Eduardo, daß sie
zusammen nach Merida zurückfahren wollten, um seinem Onkel
gegenüberzutreten.
„Das sind wir ihm schuldig. Aber ganz gleich, wie er reagiert, wir werden
heiraten", kündigte Eduardo an.
„Und du machst dein JuraExamen", fügte Isabel hinzu und blickte ihn liebevoll
an. Noch nie hatte Veronica sie so sanft und so schön gesehen wie heute.
„Auch wenn er mich enterbt und du für meinen Lebensunterhalt sorgen mußt?"
neckte er sie.
„Auch dann! Wir werden das schon schaffen." Isabel blickte ganz kampfbereit
drein.
„Das glaube ich auch", meinte Veronica zustimmend. „Es gibt nichts, aber auch
gar nichts auf der Welt, was wichtiger wäre, als sich zu lieben und zu verstehen."
Überrascht über ihre Heftigkeit, blickten die beiden Veronica fragend an. Sie
wurde verlegen.
„Kümmert euch nicht um mich. Ich freu' mich einfach für euch. Trotzdem,
Eduardo, wäre ich dir dankbar, wenn du mich nach Merida mitnehmen könntest,
das heißt, wenn es dir und Isabel nichts ausmacht."
„Aber warum?" fragte Isabel. „Schon heute morgen fiel mir auf, daß mit dir
etwas nicht stimmt. Hat es etwas mit Antonio zu tun? Ganz bestimmt, er verhält
sich auch so merkwürdig." Veronica antwortete nicht. Mit besorgter Miene fuhr
Isabel fort: „Hoffentlich bin ich nicht dafür verantwortlich. Ich meine, wenn ich
den Eindruck erweckt haben sollte, daß Antonio und ich..." Sie brach ab und
blickte beunruhigt zu Eduardo hinüber.
Veronica verstand, was sie sagen wollte. Beruhigend legte sie die Hand auf
Isabels Arm. „Liebe Isabel, das, was geschehen ist, betrifft nur Antonio und mich.
Ich werde es dir im Auto erklären."
„Aber warum bleibst du nicht hier? Wir können darüber reden, wenn ich morgen
wieder da bin."
„Ich kann Antonio nicht noch einmal gegenübertreten. Deshalb bleibe ich nicht
länger. Laßt uns lieber losfahren. Du wirst es verstehen, wenn ich dir alles
erzählt habe."
Aber sie konnte sich dann gar nicht recht verständlich machen. Denn sie brachte
es natürlich nicht übers Herz, von ihrem nächtlichen Erlebnis zu sprechen. Doch
Isabel hatte es wohl schon erraten. Sie schien Veronica jedoch deswegen nicht zu
verurteilen.
„Veronica", bat sie, „ruf Antonio von Merida aus an. Gib ihm noch eine Chance.
Ich weiß, daß du ihm viel bedeutest."
„Wenn das so ist, zeigt er es aber auf eine sehr merkwürdige Weise."
„Ich kenne ihn schon viele Jahre. Er war nie verliebt in jemand, aber jetzt ist
er's."
„Verliebt!" wiederholte Veronica abwehrend. „Er behandelt mich mit Verachtung,
auch wenn er zärtlich zu sein versucht. Ich wünschte, ich würde mich täuschen,
aber leider ist es, wie ich sage."
„Da muß ich Veronica leider zustimmen", fiel Eduardo ein. „Er hat sich ihr
gegenüber abscheulich verhalten."
„Das kannst du überhaupt nicht beurteilen", wies Isabel ihn zurecht. Dann fuhr
sie mit veränderter Stimme fort: „Antonio ist ganz anders, als man denkt, und
auf jeden Fall ganz anders als du, Eduardo. Er ist sehr stolz und reagiert sehr
empfindlich, vielleicht zu empfindlich auf Verhaltensweisen, die auch nur entfernt
an Vorurteile oder Herablassung erinnern."
„Was aber hat das mit mir zu tun?" rief Veronica. „Ich habe bestimmt nicht..."
„Wart einen Moment", unterbrach Isabel sie. „Laß mich das erst zu Ende bringen.
Sein Mißtrauen, das sich besonders gegen Frauen richtet, geht auf die schlechten
Erfahrungen seines Vaters zurück."
Und sie begann zu erzählen, daß Antonios Vater, ein Halbindianer, eine junge
Frau heiratete, die aus einer wohlhabenden spanischen Familie stammte. Sie
fühlte sich ihm ihr Leben lang überlegen und ließ es ihren Mann, Antonios Vater,
immer spüren, wie sehr sie ihn wegen seines indianischen Blutes verachtete.
„Kannst du jetzt verstehen, warum er so mißtrauisch ist?" fragte sie.
„Es ändert nichts", erwiderte Veronica mutlos. „Natürlich kann ich es verstehen,
aber warum konnte er mir das nicht erzählen?"
„Gerade weil er so stolz ist", antwortete Isabel. „Antonio Ferrara weiß eine Menge
auf seinem Gebiet, aber er ist nicht fähig, seine Gefühle auszudrücken." Und sie
fügte leise hinzu: „Das ist ein Fehler, von dem wir drei uns auch nicht
freisprechen können. Deshalb sollten wir ihn nicht verurteilen."
„Ich verurteile ihn nicht mehr oder weniger als mich selbst. Aber es ist zu spät,
Isabel. Verstehst du das nicht?"
Nein, das verstand Isabel nicht. Doch sie sagte nichts mehr zu dem Thema auf
der Fahrt zurück nach Merida. Auch Veronica schwieg. Sie starrte
gedankenverloren auf die Plantagen, an denen sie vorbeifuhren.
Eduardo und Isabel sprachen leise über ihre weiteren Pläne. Sie überlegten, wie
Sefior Lopez auf die Neuigkeiten reagieren würde. Isabel schien keine Angst zu
haben, denn Eduardos Zielstrebigkeit gab ihr ein sicheres Gefühl. Sie hoffte, daß
sich Eduardos Onkel um Eduardos willen einverstanden erklären würde.
Andererseits waren sie von seiner Zustimmung nicht abhängig. Gleichzeitig ließ
sie jedoch der Gedanke an Veronicas Liebeskummer nicht los, für den sie sich
mitverantwortlich fühlte.
Es zeigte sich, daß Isabels Optimismus, was Eduardos Onkel betraf,
gerechtfertigt war. Zunächst beugte er sich Eduardos Entschluß nur widerwillig,
dann schickte er sich in das Unvermeidliche.
Eduardo war überglücklich. Nur ungern ließ er Isabel nach Chichén Itzá
zurückkehren.
„Vergiß nicht, daß ich auch noch meine Arbeit habe", erinnerte sie ihn mit sanfter
Entschiedenheit. Doch schließlich gab sie nach und verschob ihre Abfahrt
wenigstens um einen Tag. Schließlich hatten sie beide sich so lange nicht
gesehen.
„Antonio wird nichts dagegen haben", sagte sie zu Eduardo. „Wahrscheinlich wird
er morgen... andere Dinge zu tun haben."
Erstaunt wiederholte Eduardo: „Andere Dinge?"
„Wir werden sehen", lautete ihre rätselhafte Antwort. „Ich muß ihn sowieso
anrufen. Er weiß noch gar nicht, was geschehen ist, warum ich abgefahren bin,
und wird ziemlich wütend sein."
Wütend ist nicht der richtige Ausdruck, dachte sie, als sie ihn schließlich ans
Telefon bekam. Sie hatte ihn in das Gebäude des Aufsichtspersonal von Chichén Itzá rufen lassen. Eher wirkte er verzweifelt. So hatte sich seine Stimme noch nie angehört. Leochan hatte erraten, was sich zwischen Isabel und Eduardo abgespielt hatte, und versucht, Antonio die Situation zu erklären, doch ohne Erfolg. Erst als Isabel ihm bestätigte, daß Eduardo nicht Veronicas, sondern ihretwegen nach Chichén Itzá gekommen war, glaubte er es schließlich. „Warum ist sie dann mit euch gefahren?" Er war ganz verwirrt. „Das mußt du dir wohl selbst beantworten", erwiderte Isabel, die jetzt ärgerlich wurde. „Du weißt selbst am besten, was zwischen euch vorgefallen ist. Ich weiß es jedenfalls nicht." Antonio schwieg. „Sie liebt dich. Wenn du das noch nicht gemerkt hast, bist du völlig blind", warf sie ihm vor. „Daß sich Veronica überhaupt so viel gefallen ließ, zeigt, daß sie dich liebt. Und daß sie die Situation nicht länger ertragen kann, ist ein weiterer Beweis." Diese Art Logik brachte Antonio vollends durcheinander. Wütend befahl er Isabel, mit ihren Vermittlungsversuchen aufzuhören, und dankte ihr für den Anruf. Er müsse jetzt gehen, sagte er, und legte auf. Isabel triumphierte, denn sie wußte, daß ihr Anruf nicht umsonst gewesen war. Doch Veronica davon abzubringen, Merida zu verlassen, war schwieriger. Sie erledigte die nötigen Vorbereitungen zügig, führte verschiedene Telefongespräche, buchte einen Flug nach Mexico City und packte ihren Koffer. Als sie zu guter Letzt noch ein Taxi zum Flughafen nehmen wollte, gaben Eduardo und Isabel nach und brachten sie im Wagen dorthin. Sie verabschiedete sich wehmütig von den beiden. Die drängten sie, alles noch einmal in Mexico City zu überdenken, doch als Veronica im Flugzeug saß, hatte sie das Gefühl, daß dieser Abschied endgültig gewesen sei. Sie hatte nicht vor, einen Tag länger als nötig in Mexiko zu bleiben. Zweieinhalb Stunden später befand sich Veronica in ihrem Hotel in der Rosa Zone, der Zufall hatte sie wieder in dem Zimmer landen lassen, in dem sie zu Beginn ihres mexikanischen Aufenthalts gewohnt hatte. Mit wieviel Vorfreude hatte sie es damals bezogen! Schade, daß es so enden mußte. Aber das mexikanische Zwischenspiel war nun vorbei, und das viel früher, als erwartet. Von mir aus hätte es ein Leben lang dauern kennen, seufzte sie. Sie blickte sich niedergeschlagen in dem ihr vertrauten Zimmer um. Lange würde sie nicht mehr hierbleiben. Gleich am nächsten Morgen wollte sie den frühestmöglichen Flug nach New York buchen. Es war nicht einmal nötig, die Reisetasche auszupacken. Sie brauchte nicht viel für die eine Nacht. Traurig öffnete sie die Tasche und nahm ihre Toilettenartikel und das Nachthemd heraus. Auch diesmal fiel ihr der Umschlag mit dem unvollendeten Porträt in die Hände. Doch sie sah es sich nicht an. Es war nicht nötig, denn Antonios Bild hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. Sie war nicht mehr dieselbe, die dieses Porträt gezeichnet hatte. Es kam ihr vor, als wäre eine Ewigkeit seitdem vergangen. Als sie sich damals voneinander getrennt hatten, war ein romantisches Gefühl des Bedauerns zurückgeblieben. Doch was war das im Vergleich zu dem Schmerz, den sie jetzt darüber empfand, ihn nie wiederzusehen? Immer wieder durchlebte sie in Gedanken ihre leidenschaftliche Umarmung und sie begann, ihre Schwäche zu bereuen. Das Schlimmste daran war, zu wissen, daß sie eine solche Erfüllung bei keinem anderen finden würde.
Was er wohl jetzt gerade machte? Ein langer, harter Arbeitstag lag hinter ihm. Ob er in seinem Zelt war und erleichtert darüber, sie endlich los zu sein, schlafen ging? Als Veronica irgendwann einschlief, sah sie im Traum Antonio hinter einer weißen Gestalt her durch einen dunklen Wald rennen. Die Gesichtszüge der Frau in Weiß konnte sie jedoch nicht erkennen. Am nächsten Morgen ging sie als erstes zum Reisebüro. Sie hatte Glück, denn jemand hatte seinen Flug für den nächsten Tag abgesagt. Trotzdem war sie ein wenig enttäuscht. Was sollte sie nur den ganzen Tag über tun? Die Stadt hatte jetzt keine Anziehungskraft mehr für sie. Niedergeschlagen kehrte sie ins Hotel zurück, um zu frühstücken. Am Empfang erwartete sie die Nachricht, daß Dr. Cramer aus New York angerufen habe. Sie möge ihn zurückrufen. Veronica war überrascht. Woher wußte er, daß sie sich wieder in Mexico City aufhielt? Ob er enttäuscht sein würde, daß sie die Arbeit aufgab? Aber als sie ihn wenig später in seinem Büro erreichte, war sie so erfreut, seine freundliche und ihr so vertraute Stimme zu hören, daß sie ganz vergaß, ihn danach zu fragen. Völlig überstürzt erzählte sie ihm, daß es mit der Arbeit anders gekommen sei, als erwartet, daß sie das Forschungsteam verlassen hatte und am nächsten Tag zurückfliegen würde, daß sie eine neue Arbeit suchen müsse und und und... Wie sehr sie doch jemand brauchte, mit dem sie reden konnte! Erst jetzt merkte Veronica, wie allein sie gewesen war. Dr. Cramer war wie gewöhnlich sehr freundlich und geduldig. Er sagte ihr, wie leid es ihm tue, daß ihr Aufenthalt so enttäuschend verlaufen sei, und daß er ihr selbstverständlich behilflich sein würde, eine neue Aufgabe in New York zu finden. Dann fragte er sie unvermittelt, ob sie ihm den Forschungsbericht von Dr. Alvarez, einem Kollegen, der im Museum arbeitete, mitbringen könne. Da sie am nächsten Tag fliegen würde, wäre das doch noch möglich. Es sei eine wichtige Studie über die Architektur von Teotihuaca. Ob sie wohl mittags um ein Uhr dort sein könne? Dr. Alvarez wäre nie vormittags zu erreichen. „Natürlich kann ich das für Sie tun", antwortete sie ihm. Sie fühlte sich ihm verpflichtet und hätte ihm jeden Gefallen getan. Es war ihr nämlich peinlich, daß sie den Job hingeworfen hatte, den sie aufgrund seines persönlichen Einsatzes bekommen hatte. Als sie später beim Frühstück saß, fiel ihr plötzlich auf, daß Dr. Cramer gar nicht nach Antonio Ferrara gefragt hatte. Aber warum auch? Sie war jedenfalls froh, daß sie jetzt eine Aufgabe hatte, so daß ihr der Tag nicht so lang wurde. Veronica nahm den nächsten Bus zum Chapultepec Park. Da sie sonst nichts vorhatte, wollte sie sich noch einmal das Museum ansehen. Während der kurzen Zeit, die sie dort gearbeitet hatte, war sie nicht dazu gekommen, all die ausgestellten Dinge aufmerksam anzusehen. Kurz vor zwölf war sie da und verbrachte eine Stunde in der Azteken und Toltekenabteilung. Der Abteilung für MayaKultur blieb sie bewußt fern. Ohne es bemerkt zu haben, befand sie sich auf einmal inmitten einer Touristengruppe, die hier eine Führung mitmachte. Obwohl sie den Erklärungen des Führers nur mit halbem Ohr zuhörte, merkte sie bald, daß der gutaussehende, schlanke junge Mann sehr viel wußte und mit Begeisterung und Sachkenntnis sprach. Sie fühlte sich prompt an einen anderen Führer erinnert, den attraktiven und ziemlich arroganten, damals in Uxmal. Das lag nun schon ein paar Monate zurück. Doch es kam ihr vor, als seien inzwischen Jahre vergangen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer ersten Begegnung mit Antonio zurück. Lange stand sie, in ihre Erinnerung versunken, vor demselben Schaukasten. Die Touristengruppe war längst weitergezogen.
Veronica blickte auf die Uhr, jetzt war es viertel vor eins, und es wurde allmählich Zeit. Sie fragte einen Museumswärter, wo sie DT . Alvarez' Büro finden könne, und er zeigte ihr die Richtung. Es lag in dem Gebäudeteil, in dem sie gearbeitet hatte, in der unmittelbaren Nähe ihres früheren Arbeitsraumes. Veronica kam auch an Antonio Ferraras Büro vorüber. Die Tür war geschlossen. Ob sie einmal in den Arbeitsraum hineinsah? Dessen Tür stand einladend offen. Der große Raum sah unverändert aus, staubig und leer lag er vor ihr. Helles Licht fiel durch die riesigen Fenster. Sie ging zu ihrem Arbeitstisch, der verlassen dastand, und blickte sich gedankenverloren um. Wenn ich doch noch einmal von vorn anfangen könnte, dachte sie, aber mit dem Wissen, das ich inzwischen über Antonio und mich selbst gewonnen habe... „Haben wir da Señorita Glenn, die Studentin, die Dr. Gramer mir so warm empfohlen hat?" Im ersten Moment glaubte Veronica, ihre Phantasie spiele ihr einen Streich. Wahrscheinlich bildete sie sich nur ein, Antonios Stimme zu hören, weil sie gerade so sehnsüchtig an ihn gedacht hatte. „Ich hoffe, Sie können gleich mit der Arbeit anfangen." Wer sich da von der Tür her näherte, war tatsächlich Antonio Ferrara. Dicht neben ihr blieb er stehen. Seine Gegenwart war so überwältigend, daß sie kaum atmen konnte. „Was... was machst du denn hier?" fragte sie verstört. Zärtlich antwortete er: „Ich bin hergekommen, um Miss Glenn zu treffen, eine junge Studentin aus New York, die mir mein Kollege Ben Gramer wärmstens empfohlen hat. Ich kann diese Veronica Glenn nämlich nicht vergessen, seit ich sie zum ersten Mal mit einer Gruppe von Teenagern in Uxmal sah. Als Dr. Cramer mir den Namen der jungen Frau nannte, die sich um die ausgeschriebene Stelle bewarb, wußte ich, daß das Schicksal es gut mit mir meint und uns wieder zusammenbringt." „Dann wußtest du also, daß ich es war?" „Natürlich wußte ich es. Aber ich wußte nicht, wie dir bei meinem Anblick zumute sein würde und wie ich dir entgegentreten sollte. Ich hatte Angst vor meinen Gefühlen. Deshalb sagte ich gar nichts, beziehungsweise genau das Falsche. Doch jetzt sollst du die Wahrheit hören, Veronica. Ich möchte wieder von vorn anfangen." Er nahm ihre Hände in die seinen und bat: „Laß mich dir zeigen, was ich damals vor dir verbarg: meine Freude, dich wiederzusehen, mein Bedürfnis, dich besser kennenzulernen und dich zu lieben." „Ich soll so tun, als ob nichts geschehen wäre? Nein, das geht wohl nicht", flüsterte Veronica. Die Stimme wollte ihr nicht gehorchen. Drängender fügte er hinzu. „Ganz so meine ich es auch nicht. Natürlich kann ich unsere Nacht am Brunnen nicht aus dem Gedächtnis streichen. Doch wie soll ich mit der Erinnerung leben, wenn ich weiß, daß ich dich nie wieder sehe." Bei seinen Worten tauchte das Erlebnis lebendig vor ihr auf. Wieder spürte sie jenes Verlangen, das sie mit sich gerissen hatte. „Mit uns beiden ist es irgendwie etwas Besonderes. Ich kann das spüren." Er fuhr sich mit den Fingern nervös durchs Haar. „Ich fürchtete immer, daß ich mit Frauen das erlebe, was mein Vater mit meiner Mutter durchgemacht hat. Er hat sie sehr geliebt, und sie hat es ihm schlecht vergolten. Darum wollte ich meine Gefühle lieber für mich behalten. Wenn man nicht liebt, kann man auch nicht verletzt werden." „Denkst du so schlecht von mir?" „Nein, aber du bist so unabhängig. Ich dachte, du machst dir eigentlich nichts aus mir. Außerdem habe ich deine Beziehung zu Eduardo falsch verstanden. Ich weiß, ich bin ein Dummkopf. Isabel hat es mir schon mit drastischen Worten
gesagt. Und dann mußte ich mir auch noch anhören, was Ben dazu zu sagen hatte." „Ben?" rief Veronica überrascht. „Wann hast du mit ihm...?" Allmählich begann sie zu verstehen. „Dann hast du Dr. Cramer angerufen. Daher wußte er, daß ich in Mexico City bin." „Ja. Ich wollte ihm erklären, was geschehen war. Ben Cramer ist ein kluger Mann, und er kennt uns beide. Ich dachte, er könnte uns vielleicht helfen, und das tat er auch." „Dann ist der Forschungsbericht für Dr. Alvarez..." „Es gibt keinen Dr. Alvarez. Das heißt, es gibt ihn schon, aber er ist zur Zeit in Urlaub. Es gibt aber keinen Forschungsbericht. Ben hat ihn erfunden, damit ich Zeit genug hätte, um von Merida hierher zu gelangen. Außerdem wollte ich dich lieber hier im Museum sprechen. Ich hatte Angst, daß du mich fortschickst, wenn ich zu deinem Hotel komme. Hättest du das wirklich getan?" „Ich weiß es nicht. Bei all dem, was zwischen uns vorgefallen ist..." „Du mußt zugeben, Veronica, daß du nicht ganz unschuldig daran warst, wie sich unser Verhältnis entwickelte. Du hast dich so widersprüchlich verhalten. Ich wußte nie genau, was du wolltest. Immer wenn ich dir sagen wollte, daß ich dich liebe, hast du mich zurückgewiesen. Und dein Stolz..." Veronica mußte unwillkürlich lächeln. Obwohl er liebevoll mit ihr sprach, hatte seine Stimme wieder den gewohnt autoritären Klang. Antonio konnte bescheiden sein, aber das hatte bei ihm seine Grenzen. Selbst in seiner Entschuldigung schwang etwas wie Stolz mit. Aber sie wußte, daß sie ihn nehmen mußte, wie er war. Antonio spürte, daß alles wieder gut war, und nahm sie in die Arme. Sein Kuß war zugleich zärtlich und fordernd und rief in ihr die alte Leidenschaft wach. „Nein", flüsterte sie, als er ihre Lippen schließlich freigab, „unsere Vergangenheit möchte ich nicht vergessen, sondern darauf unsere Beziehung aufbauen. Sicher werden wir am Anfang viele Fehler machen. Aber das muß man durchstehen, nicht wahr?" „Ja, das stimmt." zärtlich sah er sie an und fügte hinzu: „Und dann entdeckt man wie bei unserer Arbeit die wahren Schätze." Neckend setzte er hinzu, während er sie fest im Arm hielt: „Meinst du, du könntest mein Porträt jetzt zu Ende zeichnen?" Zärtlich zog Veronica mit dem Zeigefinger die Linien seines Gesichts nach. „Ja", antwortete sie. „Ich werde es mit Hingabe beenden: das Bild unserer Liebe." ENDE