Stunden der Versuchung Teresa Southwick Bianca 1235 24/2 2000
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Stunden der Versuchung Teresa Southwick Bianca 1235 24/2 2000
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL "Keine Küsse, Nick." Abigail Ridgeway eilte in der Technikabteilung des Kaufhauses an der Wand mit den vielen Fernsehschirmen vorüber, auf denen das sonntägliche Footballspiel übertragen wurde. "Ach, komm schon, Abby, ein kleiner Kuss ist doch harmlos." Sie blieb stehen und drehte sich um. Nick Marchetti war ihr Chef und außerdem ein Freund. "Darüber diskutiere ich nicht", erklärte sie. "Kein Techtelmechtel, und damit basta." "Deine Erwartungen sind unrealistisch." "Kann sein, aber du hast mich schon dazu überredet, eine Party zum sechzehnten Geburtstag meiner Schwester zu geben. Dann sollte ich wenigstens die Regeln festlegen können." "Na gut, aber ich warne dich. Jungs wollen immer das haben, was sie nicht haben können." "Ah, sprichst du etwa aus eigener Erfahrung? Du, der du immer alles hattest? Hast du jemals ein Nein gehört?" Nicks Blick verfinsterte sich. Er fuhr sich durch sein dichtes dunkelbraunes Haar. Abby überlegte, ob sie wohl einen wunden Punkt berührt hatte. Da Nick sehr selbstbewusst war, reizte es sie, seine Schwächen zu entdecken. Er sah bemerkenswert gut aus, war intelligent, kräftig gebaut und hatte eine Menge Geld.
Es konnte also nicht schaden, wenn er gelegentlich mal in die Enge getrieben wurde! "Es geht nicht um mich, Abby, sondern um Sarah. Man wird nur einmal sechzehn. Das ist ein Meilenstein, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, der besonders gefeiert werden sollte. Du willst doch auch, dass es ein Erfolg wird." Damit hatte er Abbys Frage umgangen und das Gespräch wieder auf sie gelenkt. In den fünf Jahren, die sie sich kannten, war ihr aufgefallen, dass er sehr geschickt darin war, auszuweichen. "Das schon, aber ich habe die Verantwortung für Sarah. Selbst wenn unsere Eltern noch lebten und auch der Meinung wären, dass man bei einer Teenagerparty unbedingt Flaschendrehen spielen muss, würde ich Nein dazu sagen." "Vielleicht hast du Recht, vorsichtig zu sein. Es ist bekannt, dass sechzehnjährige Jungs eine Schwäche für ,ältere Frauen' haben, und das wärst du in dem Fall." Er tippte ihr auf die Nase. "Woher hast du denn das? Aus dem Manager-Seminar?" "Ach, du glaubst mir nicht?" "Nein. Du magst es für albern halten, aber ich bin der Meinung, dass Kuss-Spiele unter Teenagern einfach zu riskant sind." "Vielleicht hast du Recht." Nick steckte die Hände in die Hosentaschen seines Anzugs. Dabei öffnete sich das Jackett, und das feine weiße Hemd wurde sichtbar. "Übrigens", fuhr Abby fort, "für einen Sonntagnachmittag bist du reichlich elegant angezogen. Arbeitest du heute, oder hast du noch eine Verabredung?" "Beides." Nick Marchetti war regelrecht arbeitswütig. Als Mitbesitzer der Firma Marchetti's Inc., einer Restaurantkette, war er Abbys Chef. Sie arbeitete in einem seiner Lokale, wo er jedoch nur unregelmäßig auftauchte. Abby spiegelte sich auf einer riesigen Bildschirmfläche und strich unwillkürlich ihren zerknautschten Rock glatt. Dabei hatte
sie ja heute frei und musste nicht wie sonst makellos aussehen. "Ich wusste nicht, dass du Pläne für heute Abend hattest. Bist du vorbeigekommen, weil du etwas Besonderes brauchst?" Nick zögerte kurz. "Nein, nur das Übliche." "Ich bin froh, dass du dir Zeit genommen hast, mit mir einkaufen zu gehen. Aber ich muss jetzt ins Restaurant zurück. Über die Party können wir ein anderes Mal sprechen. Im Augenblick brauche ich dein technisches Know-how, mit diesem elektronischen Kram kenne ich mich nicht aus." "Hör mal, ich fühle mich richtig degradiert." Nick tat beleidigt. "Bei der Elektronik fragst du mich um meine Meinung, aber wenn es um eine Teenagerparty geht, dann nicht!" Abby hätte am liebsten gelacht und ihn freundschaftlich in die Seite geknufft. Sie hatte sich jedoch vorgenommen, sich immer an ihre Stellung zu erinnern und sich nicht allzu vertraulich zu geben. Das Problem war nur, dass sie nicht genau wusste, wo die Grenzen waren. Das lag wohl an der besonderen Situation. Als sie achtzehn war, waren ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihre Schwester Sarah war damals elf, und es gab keine Verwandten, die hätten einspringen können. Auf einmal war Abby für sie beide allein verantwortlich und musste bei Sarah Mutter und Vater vertreten. Obgleich Nick sie nicht kannte, gab er ihr gleich einen Job als Bedienung in einem der Restaurants, und Abby hatte sich vorgenommen, ihn so gut wie möglich zu machen. Bislang hatte das auch geklappt. Inzwischen war sie sogar zur stellvertretenden Geschäftsführerin aufgestiegen. Nie würde sie vergessen, was Nick alles für sie getan hatte. Dazu gehörte, dass sie immer eine gewisse Distanz einhalten wollte. Aber manchmal sagte oder tat er irgendetwas Verrücktes, und sie vergaß, dass er ihr Chef war. Er schien es
normal zu finden, dass sie eine Art Freundschaft hatten, aber Abby wusste es besser. "Die Party ist erst in einem Monat", sagte sie und verkniff sich die scherzhafte Antwort, die ihr auf der Zunge lag. "Also haben wir noch Zeit genug, über das Flaschendrehen zu reden. Ich habe Sarah allerdings einen CD-Player zum Geburtstag versprochen, und das möchte ich heute entscheiden. Hilfst du mir nun dabei ..." sie schaute zu den Verkäufern hinüber, "oder überlässt du mich diesen Haien?" Er nahm sie am Ellbogen und zog sie in die Abteilung, in der es CD-Player und Lautsprecher gab. "Du kannst froh sein, dass es noch so etwas wie Ritterlichkeit gibt." Als Abby nicht antwortete, hakte er nach: "Na? Keine freche Bemerkung dazu?" "Nein. Wenn du Recht hast, hast du Recht. Ich freue mich über deine Hilfe. Aber wenn du mir vorhin gesagt hättest, dass du eine Verabredung zum Abendessen hast, hätte ich mich nicht aufgedrängt." "Du drängst dich nicht auf." "Bist du sicher, dass du Zeit für mich hast?" "Ganz sicher." Abby blickte auf die ausgestellten Geräte. "Soll ich einen billigen, oder einen teuren oder etwas in der Preislage dazwischen nehmen? Sollte ich mehr auf das Design oder mehr auf die Qualität achten? Oder ein preiswertes Anfangsgerät nehmen?" Nick zeigte auf einen CD-Player. "Das ist von einer guten Firma und hat alles, was Sarah braucht - es sei denn, sie ist technisch so ahnungslos wie du. Der Preis ist ganz vernünftig." Abby sah entsetzt auf das Preisschild. "Vielleicht für einen Marchetti, aber für ein Ridgeway-Portemonnaie ist der viel zu teuer, selbst wenn die mir vierzig Prozent Rabatt gäben." "Ich könnte..." "Nett von dir, Nick, aber das möchte ich nicht." "Lass mich doch mal aussprechen."
"Entschuldige. Sag, was du sagen möchtest, und dann lehne ich dein Angebot ab, es für Sarah zu kaufen." "Ich wollte dir vorschlagen, etwas dazu beizusteuern. Ich wüsste sonst nicht, was ich ihr schenken könnte, also würdest du mir damit einen Gefallen tun." Das war typisch Nick. Er versuchte zu helfen, ohne dass es nach Hilfe aussah. Dank seiner Kreativität hatte er es unter anderem geschafft, aus den ersten Restaurants eine ganze Kette zu machen. Abby wüsste nicht recht, wieso seine Großzügigkeit sie auf einmal störte. Vielleicht weil sie kurz vorm Abschluss ihrer Ausbildung stand und schon die kommende Unabhängigkeit spürte? Ihre leise Tendenz zu fehlender Dankbarkeit sollte sie wohl mal untersuchen... Nick war für sie da gewesen, als sie dringend jemanden gebraucht hatte. Sie versuchte, immer mit allem selbst fertig zu werden, aber wenn sie mal Hilfe brauchte, lehnte er die nie ab. Wieso hatte sie auf einmal das Gefühl, dass es besser wäre, wenn sie alles allein machte? "Ich nehme lieber einen billigeren", erklärte sie und zeigte auf ein Modell derselben Firma. "Das Geschenk sollte von mir als der großen Schwester allein kommen." "Aber was schenke ich ihr? Ich weiß nicht viel über sechzehnjährige Mädchen." "Ich weiß, dass sie unbedingt eine Party haben möchte." "Alle Teenager lieben Partys, das ist nichts Besonderes. Das hat sie mir auch schon gesagt. Aber ein Geschenk für sie zu finden..." "Ich bin sicher, dass Madison dir gern beim Aussuchen helfen wird." Madison Wainright. Nicks Freundin. Ein passender Name für eine elegante Frau, die auch noch ausgesprochen schön war. Abby hatte die beiden schon öfter zusammen gesehen. Neben der gemeinsamen Arbeit brachte Nick Madison manchmal mit zum Essen in das Restaurant, in dem Abby arbeitete. Er meinte,
dort könnte er sich immer darauf verlassen, dass Service und Qualität des Essens gut seien. Abby hatte das Gefühl, dass er sich gern mit der schönen, kultivierten Frau zeigte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er je länger mit jemandem zusammen gewesen war als mit ihr. "Magst du sie nicht?" fragte er. "Ich finde, Madison hat Klasse." Seit wann kann Nick meine Gedanken lesen? dachte Abby. Sie mochte Madison, fühlte sich neben ihr aber irgendwie minderwertig. Madison hatte alles, was Abby nicht besaß. Sie beugte sich über einen Stapel Kartons und studierte die Modellnummern, um den CD-Player herauszunehmen, den sie ausgewählt hatte. "Ich sage ja nicht, dass ich sie nicht mag." "Nein, aber der Ton macht die Musik. Würdest du mir bitte erklären, was du ihr gegenüber empfindest?" "Das steht mir nicht zu." "Glaubst du vielleicht, sie passt nicht zu mir?" "Ja." "Das heißt also, dass ich keine Klasse habe?" Nick zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. "Du drehst mir das Wort im Munde um." "In den sechs Monaten, in denen ich mit Madison zusammen bin, war sie immer sehr nett. Außerdem ist sie hübsch, klug und äußerst erfolgreich. Eigenschaften, die jedem Mann gefallen." Womit sie theoretisch die perfekte Partnerin für Nick wäre. Abby konnte nicht sagen, warum, aber sie fand, dass Madison Wainright trotzdem nicht zu ihm passte. Sie hatte sich schon oft gefragt, warum ein so attraktiver Mann wie Nick Marchetti, der von den schönsten Frauen begehrt wurde, dennoch unverheiratet war. Da er mit dem Thema angefangen hatte, wagte sie es, ihn danach zu fragen. "Wieso hast du Madison eigentlich noch keinen Heiratsantrag gemacht?" "Gibt es irgendwo eine Regel, die besagt, dass ein Mann, sobald er eine Frau bewundert, sie gleich heiraten muss?"
"Huh, wieso reagierst du denn so scharf?" "Tu ich doch gar nicht. Na ja, vielleicht doch. Aber meine Mutter und meine Schwester nerven mich dauernd mit demselben Thema." "Seitdem Rosie verheiratet ist und ein Baby hat, findest du das Thema allerdings nicht mehr so abwegig wie früher, oder? Ich habe den Eindruck, dass du öfter darüber nachdenkst, selbst eine Familie zu gründen." "Ja, gelegentlich." "Also was ist mit Madison?" Nick lehnte sich gegen ein Regal, verschränkte die Arme vor der Brust und reagierte mit einer Gegenfrage: "Und wann heiratest du?" "Ich habe seit meinem achtzehnten Lebensjahr meine Schwester zu versorgen. In weniger als zwei Jahren wird Sarah den Schulabschluss machen und aufs College gehen. Dann bin ich frei und ungebunden. Ich sehe also schon Licht am Ende des Tunnels." "Aber du hast keinen Freund, oder?" Abby fragte sich, woher er das wissen konnte, da sie ihr Privatleben für sich zu behalten pflegte. Wenn Nick nicht im Restaurant aufgetaucht wäre und sie wegen Sarahs Geburtstag gedrängt hätte, wäre sie nicht einmal mit ihm zum Einkaufen gefahren. Woher wusste er wohl, dass sie keinen Freund hatte? Dann fiel es ihr auf einmal ein. Sarah arbeitete ja nicht für ihn und hatte deshalb keinerlei Hemmungen, ihn privat anzurufen und ihm alles zu erzählen, was ihr in den Kopf kam. Soweit Abby wusste, machte ihm das nichts aus. Sonst hätte er, als viel beschäftigter Firmenchef, dem Teenager das schon gesagt, denn Sarah redete gern. Wäre Plaudern eine olympische Disziplin, bekäme sie garantiert die Goldmedaille dafür. "Schließlich kann ich nicht mit den Fingern schnipsen, und husch - fällt der richtige Mann vom Himmel", meinte Abby. Sie hörte sich nun genauso schroff an wie Nick kurz zuvor.
"Du willst mir doch nicht erzählen, dass Männer sich nicht für eine so attraktive Frau wie dich interessieren." Abby freute sich insgeheim über das Kompliment. "Das ist mir noch nicht aufgefallen", behauptete sie. "Ah, so, ich verstehe. Du weist sie also noch immer ab. Lass dir mal einen Ratschlag geben, Mädchen: Männer brauchen auch ein bisschen Ermutigung." "Sieh mal, Nick." Abby holte tief Luft. Da Nick ihr Chef war, hielt sie es für besser, sich diplomatisch zu verhalten. "Zwischen der Arbeit, dem Studium und Sarah bleibt mir fürs Ausgehen keine Zeit. Doch sobald Sarah auf dem College ist und ich meinen Abschluss habe, komme ich dran. Vielleicht gründe ich dann auch eine eigene Familie." Na, so was. Das mit dem Gründen einer Familie hatte Abby doch ihm geraten! Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Nick sie in die Ecke gedrängt hatte! Er war ausgesprochen geschickt darin, anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben. "Nur Arbeit und bloß keinen Spaß", rügte er. "Na gut, vielleicht bin ich eine langweilige Person." Abby ärgerte sich über die Wendung des Gesprächs. "Sag mal, bringst du Madison mit zu Sarahs Party?" versuchte sie ihn wiederum abzulenken. "Ist sie denn eingeladen? Ich weiß nicht mal, ob ich willkommen bin." "Selbstverständlich bist du das! Nick, ich habe dir schon erklärt, dass ich dich nur nicht gebeten hatte, mir bei der Party zu helfen, weil du selbst so beschäftigt bist." "Ist das alles?" "Ja, das ist alles. Also, was ist mit Madison? Möchtest du sie nicht mitbringen?" "Hört sich beinahe so an, als hättest du nichts dagegen." "Es wäre sicher interessant zu beobachten, wie sie sich beim Flaschendrehen benimmt mit einem Haufen sechzehnjähriger Jungs, die Pickel und feuchte Hände haben."
"Anstandsdamen spielen nicht, sie passen nur auf." Nick zog eine Braue hoch. "Du magst sie doch, oder?" "Ja", sagte Abby ehrlich. Sie wusste nicht, wieso er darauf kam, aber es stimmte. Sie bewunderte Madison. "Madison ist also auch eingeladen?" "Sie muss nicht extra eingeladen werden. Du kannst selbstverständlich in Begleitung kommen." "Das tue ich, wenn du es auch tust." "Rechne lieber nicht damit." Einige Stunden später, nachdem sie zusammen eingekauft hatten, stand Nick in Abbys Haustür. Er war mit der Arbeit früher als geplant fertig geworden und wollte nicht nach Hause fahren, um dort bis zu der Verabredung mit Madison zu warten. Eigentlich wusste er nicht recht, wieso er hier war. Zum Teil gab es noch Berufliches zu besprechen, aber ihm ließ auch Abbys Bemerkung keine Ruhe, dass sie zur Party ihrer Schwester niemanden für sich einladen wollte. Eine hübsche Person wie Abby sollte von Männern umschwirrt sein. Doch Nick schien der Einzige in ihrer Umgebung zu sein. Ihre Wohnung lag in einem großen Gebäudekomplex inmitten einer Grünanlage mit Büschen und kleinen Wegen. Nick hatte Abby, nachdem er ihr zum Verkauf ihres Elternhauses geraten hatte, geholfen, diese Wohnung zu finden. Das erschien ihm das Vernünftigste, denn sie war nicht in der Lage gewesen, das Haus weiter abzuzahlen. Und von ihm wollte sie keine finanzielle Hilfe annehmen. Der Erlös wurde auf ein Sparkonto für die beiden Schwestern eingezahlt. Abby hatte eine große Verantwortung zu tragen, und der Verkauf befreite sie von der Last, ein Haus finanzieren zu müssen. Gleichzeitig gewährte er ihr ein bisschen finanzielle Sicherheit. Das war nützlich, denn wie Nick wusste, hatte Abby viel Stolz, ließ sich nur ungern helfen und tat nur das, was sie selbst für richtig hielt.
Kaum hatte Nick auf die Klingel gedrückt, öffnete Abby auch schon. Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen überrascht an. "Ich dachte, du wärest mit Madison zum Essen verabredet." "Bin ich auch. In etwa einer Stunde." "Von der Gegend, wo sie wohnt, bis hierher ist es ziemlich weit. Wieso bist du dann hier?" "Ich wollte die Zeit totschlagen. Darf ich hereinkommen?" "Ja, natürlich." Abby trat zurück und ließ ihn eintreten. Nick schaute sich im Wohnzimmer um, während Abby hinter ihm die Tür schloss. Der Raum war nicht groß, aber sehr gemütlich. In der Mitte standen ein beigefarbenes Sofa und ein dazu passender Sessel. An einer Wand war die Musikanlage aufgestellt, die Nick günstig für sie erstanden hatte - eins der wenigen Male, wo Abby ihn mal um Hilfe gebeten hatte, da sie von Technik wenig verstand. Neben der kleinen Küche gab es einen Essbereich, außerdem zwei Schlafzimmer, ein Bad sowie einen Arbeitsraum mit Waschmaschine und Ähnlichem. An der Wand hingen Familienfotos und schlichte Drucke sowie ein metallenes Schild. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker stand darauf. "Möchtest du etwas trinken?" fragte Abby. Nick schüttelte den Kopf. "Ist Sarah da?" "Nein, sie ist mit ein paar Freundinnen ins Kino gegangen." "Keine Jungs dabei?", wollte Nick wissen. "Wenn es so wäre, hätte ich mich verkleidet, wäre heimlich mitgegangen und nicht mehr in Arbeitskleidung wie jetzt." Abby trug noch immer das blaue Kostüm, das sie tagsüber angehabt hatte. Allerdings hatte sie die Pumps abgestreift, und die Jacke war locker geöffnet. Ihre Seidenbluse war nicht vollständig ins Rockbündchen gesteckt, ihr blondes Haar hing leicht zerzaust um ihr ovales Gesicht. Eigentlich sah sie aus, als hätte sie gerade mit einem Mann geknutscht und wäre dabei unterbrochen worden.
Dass er an so etwas dachte, überraschte Nick. Vor allem aber, dass ihm der Gedanke, dass Abby sich mit einem Mann vergnügen könnte, irgendwie nicht behagte! Seit dem Tag, an dem er sie kennen gelernt hatte - sie war achtzehn Jahre jung und gab sich Mühe, sich wie eine Dreißigjährige zu verhalten - , fühlte Nick sich verantwortlich für sie. Er hatte die Ridgeway-Schwestern sozusagen unter seine Fittiche genommen, Abby ihren ersten Job gegeben und ihrer beider Entwicklung seither verfolgt. Da war es ganz natürlich, dass er sich als eine Art Beschützer fühlte. Wenn Abby sich für einen Mann interessierte, wäre das nur allzu normal! Er ermutigte sie ja sogar dazu, sich mal zu verabreden! Wieso reagierte er dann gleichzeitig so seltsam? Sie schaute auf die Armbanduhr. "Ist es nicht ein bisschen spät, jetzt noch essen zu gehen?" Nick zog sein Jackett aus und hängte es über die Sessellehne, bevor er sich setzte. "Madison bereitet sich auf eine große Gerichtssache vor, die diese Woche stattfindet, und braucht noch ein bisschen Zeit. Du vertrittst doch Rebecca, oder?" Abby nickte. "Ja, sie ist noch im Mutterschaftsurlaub. Ich muss zugeben, die hochhackigen Schuhe einer Managerin öffnen einem wirklich die Augen." "Wieso?" Dabei wusste Nick es eigentlich genau. Das war der Grund, warum er am Nachmittag im Restaurant vorbeigefahren war. Er wollte jedoch nicht selbst mit dem Thema anfangen. "Du bist etwas früher als sonst zu Hause, nicht?" Sie nickte und schob sich eine Strähne hinters Ohr. "Der große Ansturm war heute ziemlich früh zu Ende, da konnte ich eher weg." Ihre hängenden Schultern und der verkrampfte Mund zeigten, dass Abby etwas auf dem Herzen hatte. "Erzähl mir, was los ist."
Abby setzte sich seufzend aufs Sofa - weit genug weg, so dass ihre Knie sich nicht berühren konnten -, schaute Nick nicht an, sondern mehr in die Ferne. Komm mir nicht zu nahe! drückte ihre Körpersprache aus. Bei der Arbeit pflegte sie immer eine berufliche Distanz einzuhalten. In letzter Zeit hatte Nick jedoch das Gefühl, dass sie diese Distanz noch vergrößern wollte. Dabei war sie hier doch zu Hause, hier waren sie doch Freunde und nicht Angestellte und Chef! Hier konnte sie doch darüber sprechen, was bei der Arbeit vorgefallen war! "Heute war so wenig los, dass ich einen Kellner und eine Aushilfe vorzeitig nach Hause schicken musste." Sie schaute ihn an. "Deshalb bist du auch ins Restaurant gekommen, nicht? Um nach dem Rechten zu sehen." "Ja." Das leugnete Nick nicht. Er hatte schon befürchtet, dass Abby heute wegen zu weniger Gäste vorzeitig nach Hause gefahren war. "Es macht dir Sorgen, dass du die Leute nach Hause schicken musstest, stimmt's?" "Ja, natürlich. Dabei verstehe ich das Konzept natürlich." "Das weiß ich." "Ich kenne die Geschäftsprinzipien. Wenn nicht genug Geld reinkommt, muss man das Personal reduzieren, damit es keine Verluste gibt." "Richtig." "Und der, der zuletzt eingestellt wurde, muss als Erster wieder gehen. Dabei sind es meistens die, die das Geld am dringendsten brauchen." "Ich verstehe." "Jack, der Kellner, hat eine Frau und ein Baby. Und Larry geht nebenbei zur Schule." Abby rang nervös die Hände. Ein höherer Bang bedeutet Privilegien, dachte Nick. Dem am unteren Ende der Leiter ging es am schlechtesten. Doch diese Erkenntnis half nicht, einem Angestellten mit Familie zu erklären, dass er nicht so viel verdienen konnte, wie er hoffte.
Nick wusste, dass Abby damit Schwierigkeiten hatte. Sie wusste ja am Besten, wie es war, wenn man mit wenig Geld auskommen musste. Einmal war es ihm ähnlich gegangen. Tom Marchetti, sein Vater, war der Ansicht gewesen, dass man Dinge am Besten durch die Praxis lernte. Er war der Meinung, dass eine CollegeAusbildung nur dazu befähigte, theoretisch zu denken. So hatte jeder der vier Söhne das Geschäft von der Pike auf lernen müssen. Nick hatte am meisten gelernt, als sein Vater ihn nach Phoenix schickte, wo er sich um das erste Restaurant außerhalb Kaliforniens kümmern sollte. Aber seine größte Lektion fürs Leben hatte nichts mit dem Geschäft zu tun gehabt. Durch sein Interesse für eine der Angestellten hatte er sozusagen die höheren Weihen im Betrogenwerden erhalten. Aber das ging nur ihn etwas an, nicht Abby. Das Restaurant, in dem sie arbeitete, war das erste Lokal, mit dem die MarchettiKette vor zwanzig Jahren gegründet wurde. Inzwischen hatte sich viel geändert, Infrastruktur und neue Essgewohnheiten beeinflussten vieles. Genau darum war er heute auch vorbeigekommen, wie Abby richtig vermutet hatte. Sie war eine intelligente und zartfühlende Person, und dass sie den jungen Vater hatte nach Hause schicken müssen, war sicher schrecklich für sie gewesen. "Was schlägst du vor?" Abby blickte ihn überrascht an. "Ich? Ich bin doch nur für den Einsatz der Ersatzkräfte zuständig." "Ist derjenige nicht auch für den gesamten Ablauf verantwortlich?" Abby schaute Nick nachdenklich an. "Angestellte zu bezahlen, auch wenn sie gerade Däumchen drehen müssen, ist sicher nicht akzeptabel, oder?" "Nein. Damit verschenkt man Geld. Aber was könnte das Management sonst noch tun?"
"Na ja, darüber nachdenken, wie man mehr Gäste ins Restaurant lockt." "Richtig. Du hast doch ein paar Seminare besucht, was hast du dort gelernt?" "Botschaften, Visionen, Philosophie", antwortete sie. "Gut, das ist Terminologie. Aber was bedeutet es für die Firma Marchetti konkret?" Abby dachte einen Augenblick nach. "Für eine hohe Qualität sorgen, echtes italienisches Essen zu vernünftigen Preisen bieten und dafür sorgen, dass die Gäste sich wohl fühlen", zählte sie auf. Endlich mal jemand, der die Firmen-Memos gelesen hat, dachte Nick. "Also gut, daran erinnerst du dich. Aber was davon ist das Wichtigste?" "Was meinst du?" "Was ist mit den Gästen. Welcher Typ Publikum kommt zu uns?" "Im Moment sind es viele junge Paare, die sich gerade das erste Haus gekauft haben. Einige sind schon Eltern, und die meisten haben wenig Geld." "Ah, ja. Was kann man also tun, damit die ihr schwer verdientes Geld für ein Essen im Restaurant ausgeben?" "Man könnte sie eventuell mit Gutscheinen, Werbung und Rabatten dazu bringen. Durch einen Extra-Kinder-Abend, zum Beispiel. An Tagen, an denen immer wenig los ist, könnte man vielleicht das Angebot machen: ,Für einen Festpreis so viel essen, wie man kann'." "Das sind gute Ideen'', fand Nick. "Allerdings weichen sie von der Firmenmaxime ab, dass alle Marchetti-Restaurants gleich sein sollen, inklusive der Speisekarte."
"Das war der Wunsch meines Vaters, aber die Zeiten ändern sich. Also müssen wir uns auch ändern und eine neue Philosophie mit einbringen." "Nach dem Motto: Lass die Manager managen?" "Genau." Nicks Brüder waren ebenfalls alle in der Firma tätig. Joe war verantwortlich für das Personal. "Laut Joe sollte jedes Restaurant einen tüchtigen Manager haben, dem man auch die Möglichkeit gibt, individuell neue Dinge einzuführen und Veränderungen vorzunehmen." "Wenn also jeder Standort anders ist, musste man auch, der unterschiedlichen Kundschaft entsprechend, Änderungen einführen können." "Warum nicht." Wenn jeder Angestellte so mitdenken würde wie Abby, wäre ich eigentlich überflüssig, dachte Nick. "Lass dir das mal durch den Kopf gehen." "Das mache ich." Sie schauten sich zufrieden an. Nick war so froh wie schon seit langem nicht. Abby schien es ähnlich zu gehen, denn ihre Augen blitzten, und - was selten bei ihr war - sie lächelte. Doch schnell wurde sie wieder ernst. Sie schaute auf die Uhr. "Oh, je, du kommst zu spät." Auf einmal hatte Nick eine Idee. "Komm doch mit zum Essen." "Ich?" fragte sie erschrocken. Er schaute sich um. "Hier ist doch sonst niemand, oder? Natürlich, dich meine ich." "Nein, das geht nicht." "Selbstverständlich geht das. Madison mag dich, und du hast gesagt, du magst sie auch. Nenne mir einen triftigen Grund, wieso du nicht mitkommen kannst." "Na gut, aber ich nehme meinen eigenen Wagen." "Wieso denn?" "Sarah und ihre Freunde sind von April Petersens Mutter ins Kino gebracht worden, und ich soll sie abholen."
Nick dachte daran, was Abby wohl alles verpasst haben mochte, indem sie mit achtzehn zur "Mutter" geworden war. Jetzt wollte er ihr helfen, aus Sarahs Geburtstag etwas Besonderes zu machen. Hatte jemand das irgendwann auch bei ihr getan? "Was hast du eigentlich gemacht, als du einundzwanzig wurdest?" Abby schaute überrascht drein. Sie zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich glaube nichts Besonderes: Schule, Sarah und Arbeit." "Das ist gesetzwidrig." "Wie bitte?" "In meiner Familie gibt es eine Reihe von Traditionen, wenn man erwachsen wird. Zum Beispiel ging man irgendwo hin, wo man seinen Ausweis vorzeigen musste. Eine unvergessliche Erfahrung." "Das ist sicher ganz lustig, aber ich verstehe nicht ganz ..." Nick lächelte viel versprechend. "Ich glaube, ich muss mit dir noch mal die Volljährigkeit feiern."
2. KAPITEL Abby staunte. Wieso fühlte Nick sich für ihren einundzwanzigsten Geburtstag so verantwortlich? Wie kam er darauf? "Abgesehen davon, dass der schon zwei Jahre her ist, wieso glaubst du, mir das schuldig zu sein?" "Als du bei uns anfingst, wurdest du Teil der Familie Marchetti. Ich weiß gar nicht, wieso ich damals nicht daran gedacht habe." Seine Miene deutete darauf hin, dass der Gedanke ihn irgendwie betrübte. Nick zeigte selten seine Gefühle, und jetzt wurde Abby bewusst, dass es heute schon das zweite Mal war. Welche schlechte Erinnerung hatte wohl diesen Ausdruck auf sein Gesicht gebracht? Sie hatte merkwürdigerweise sofort das Bedürfnis, ihn wieder wegzuzaubern. "Na hör mal, das war doch ganz in Ordnung. Du hast vor allem ans Geschäft gedacht." "Vielleicht. Tatsache ist aber, dass du mündig wurdest, und das wurde von niemandem richtig gewürdigt." "Es ist ja schon ziemlich lange her, und mir ist es egal." "Aber mir nicht!" entgegnete Nick im Ton eines Chefs, der keinen Widerspruch duldet. "Es ist nett von dir, dass du daran denkst, Nick, aber der Geburtstag ist längst vorbei. Auch mit aller Gewalt können wir die Zeit nicht zurückdrehen."
Abby dachte nicht gern an ihre Vergangenheit, sie hatte vorwiegend negative Erinnerungen. Die Zukunft dagegen war voller Möglichkeiten - sobald sie Gelegenheit hätte, sie zu nutzen. Nick schaute auf seine Armbanduhr, erhob sich und nahm seine Jacke. "Ich habe keine Zeit, jetzt darüber zu diskutieren. Aber irgendwann holen wir deinen einundzwanzigsten Geburtstag nach." "Wenn Papierhüte und Flaschendrehen dazugehören, rechne nicht mit mir." Nick lachte. Er öffnete die Haustür. "Keine Sorge, ich kümmere mich darum." Abby schaute ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Bestimmt würde sie keine Kuss-Spiele oder etwas Ähnliches mehr spielen. Auch Nick würde noch herausfinden, dass Abby die täglichen Dinge wichtiger waren als Träume. Dennoch hatte der Gedanke an eine kleine Überraschung seinen Reiz - einige Sekunden lang gestattete sie es sich, ihm nachzuhängen. Nach dem Essen fuhr Nick seine Freundin Madison nach Hause. Kavaliersmäßig brachte er sie bis zur Tür. Sie wohnte in einem eleganten Viertel der Stadt. Das sorgfältig abgesicherte Gebäude war genau die Art Wohnung, in die eine Anwältin ihrer Klasse hineingehörte. Manchmal vergaß Nick, dass Madison eine so wichtige Position innehatte. Sie war klein, zierlich und rothaarig. An diesem Abend trug sie ein schwarzes Strickensemble, das sich weich um ihre Kurven schmiegte. Sie hoffte, dass es sie etwas größer erscheinen ließ, doch das half wenig. Nick schaute, selbst wenn sie hochhackige Pumps trug, von oben auf ihr Haar hinunter. Ihm gefielen blauäugige Blondinen besser. Aber noch wichtiger als die Haarfarbe war ihm, dass eine Frau Humor besaß. Er musste an Abbys drollige Bemerkung über ihre
Ahnungslosigkeit in technischen Dingen denken und lächelte. Hinter ihrem sonst so professionellen Verhalten steckte bestimmt eine Frau, mit der man viel Spaß haben konnte. Bei Madison war es ähnlich, meistens jedenfalls. An diesem Abend war sie allerdings nicht besonders guter Laune. Vielleicht dachte sie an einen schwierigen Fall, an dem sie gerade arbeitete. Oder es lag daran, dass er sie so spät abgeholt oder sonst irgendetwas falsch gemacht hatte. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, stand Nick eine Treppenstufe unter ihr. Im Licht der Außenlampe schimmerten ihre grünen Augen. "Hast du nicht Lust, noch auf einen Drink mit hereinzukommen?" fragte sie. "Ich wollte, ich könnte, aber ich habe morgen früh einen wichtigen Termin." "Na gut. Dann vielen Dank fürs Abendessen." Ihre Stimme klang etwas spitz. Sie drückte die Tür auf und wollte schon hineingehen. "Was ist los, Madison?" "Nichts. Gute Nacht, Nick." Er trat neben sie und legte ihr die Hand auf den Arm. "Irgendetwas hast du doch. Was ist es?" "Wir müssen miteinander reden." Oh, wie das klang! Auf diesen Satz reagieren Männer wohl oft ähnlich, dachte Nick. Aber er hatte gute Gründe, ihn nicht zu mögen, denn das letzte Mal, dass eine Frau das zu ihm gesagt hatte, war sein Leben völlig aus den Fugen geraten! Er holte tief Luft und sagte: "Also gut, schieß los." Sie drückte ihre schwarze Handtasche an die Brust. "Du wirst vermutlich allem widersprechen, was ich dir sagen werde, aber ich muss es einfach sagen. Du hast nicht die Art Gefühle für mich, die ich mir bei dir wünsche. Heute Abend, als du mich abholtest, hatte ich zuerst die Hoffnung, dass ich mich getäuscht hätte." "Was meinst du?"
"Du warst irgendwie freudig erregt, so, wie ich dich seit Wochen nicht erlebt habe." "Meistens bin ich total erschöpft, Madison, aber ich mag dich sehr." "Siehst du? Ich wusste doch, dass es zu Ende ist." Nick schob die Hände in die Hosentaschen. "Nein, das ist es nicht. Ich verstehe nur nicht ganz, worauf du hinaus willst." "Wir hatten noch nicht mal unseren Salat aufgegessen, als der alte Nick wieder da war. Der, den ich nicht erreichen kann, weil er nur ans Geschäft denkt." Merkwürdig. Etwas Ähnliches hatte auch Abby am Nachmittag zu ihm gesagt. "Das hört sich bei dir an, als wenn ich ungenießbar sei." "Das bist du auch, jedenfalls jetzt. Als wir uns kennen lernten, warst du sehr aufmerksam. Du hast mir den Hof gemacht. Deshalb habe ich mich auch..." Sie reckte sich auf und sah ihm in die Augen. "Jetzt kommst du mir wie ein gespaltener Mensch vor. Einer ist fröhlich und locker, und einer denkt seit einem Jahr nur an Gewinne und Verluste. Letzeren erlebe ich eigentlich nur noch, und ich glaube, den mag ich nicht so gern." "Als Nächstes wirst du behaupten, ich hätte einen bösen Zwilling." "So kommt es mir auch vor." "Du übertreibst..." "Wirklich? Denk mal darüber nach, Nick." Er versuchte es, kam aber zu keinem Ergebnis. Als er die Hand an ihre Taille legte, verkrampfte Madison sich. "Ich weiß wirklich nicht, was du meinst." "Schon gut. Es war vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt, damit anzufangen." "Ich habe das Gefühl, dass du noch irgendetwas zurückhältst."
Madison lächelte traurig. "Wenn du willst, bist du sehr sensibel. Ich frage mich seit einiger Zeit, ob wir uns nicht vielleicht für eine Weile trennen sollten." "Meinst du das ernst?" "Ja, denn ich habe den Ausdruck in deinen Augen gesehen, als du mir erklärtest, dass Abby der Grund für dein Zuspätkommen sei." "Das stimmt. Abby und ich hatten noch etwas Geschäftliches zu besprechen." "So kam es mir nicht vor. Ich habe den Eindruck, du hast Gefühle für sie, die nichts mit dem Geschäft zu tun haben." "Mit dir geht wohl die Phantasie durch", erwiderte er etwas schroff. "Tatsächlich?" Sie hob das Kinn. "Wann hast du mich das letzte Mal so geküsst, als wolltest du es auch wirklich?" Der Gedanke erschreckte ihn. Er überlegte. Dann machte er Anstalten, Madison in die Arme zu nehmen. "Das könnten wir bestimmt wieder in Ordnung bringen", meinte er. Aber sie sträubte sich. "Wenn ich dich schon daran erinnern muss, ist der Zauber längst vergangen." "Entschuldige, ich war mit den Gedanken woanders ..." Madison schüttelte den Kopf. "Wie ich schon sagte, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich bin auch ziemlich müde und muss morgen früh im Gericht sein." "Also gut." Nick zögerte. "Wie wäre es denn demnächst mit einem verlängerten Wochenende? Dann könnten wir mal über alles reden." "Nein, ich glaube nicht." Nick küsste sie auf die Wange. "Ich rufe dich an." "Das brauchst du nicht. Gute Nacht." Und schon war sie im Haus verschwunden. Nick hörte noch, wie sie den Riegel vorschob. Langsam ging er die Treppe hinunter zu seinem Wagen zurück. Das Gespräch mit Madison hatte ihn irgendwie
durcheinander gebracht. Er sollte Gefühle für Abby haben? Das war doch absurd. Sie waren nichts als gute Freunde! Er war völlig zufrieden mit Madison und der Situation, so wie sie war. Sie war eine intelligente Partnerin, auf die er stolz war, wenn sie ihn zu beruflichen Anlässen begleitete. Wenn er ehrlich war, konnte er sich allerdings kaum noch daran erinnern, wann er sie das letzte Mal geküsst hatte ... Und Madison wollte mehr. Sie war eine großartige Frau und verdiente etwas anderes. Nick war auf einmal zu Mute wie jemandem, der vor drei Türen steht. Hinter Tür Nummer eins befand sich ein Fragezeichen. Hinter Tür Nummer zwei stand Madison. Er achtete und verehrte sie. Sie war schön, klug, eine Frau, um die viele Männer ihn beneideten. Auch seine Eltern bewunderten sie. Mehr als einmal hatte seine Mutter darauf angespielt, dass es gefährlich sei, zu lange zu zögern. "Angespielt" war nicht das richtige Wort. Flo Marchetti kannte so etwas wie Taktgefühl überhaupt nicht. Sie hatte ihn direkt gefragt, ob er sich denn nicht beeilen wolle. Nick hatte sich damit herausgeredet, dass er noch nicht bereit sei, eine Familie zu gründen. Wenn er und Madison richtig zusammen wären, würde es nicht schaden, noch zu warten. Zu dem Zeitpunkt glaubte er das auch, aber er spürte, dass Madison und er gerade einen entscheidenden Moment miteinander erlebt hatten. Er würde seine silbergraue Corvette darauf verwetten, dass sie lieber eine Familienlimousine wollte. Und sie wollte heiraten, das spürte er. Das Einzige, was er dazu sagen konnte, war "vielleicht". Nachdem seine Schwester seinen besten Freund geheiratet hatte und seine Nichte geboren worden war, hatte er begonnen nachzudenken. Wie würde es sein, jeden Tag zu derselben Frau zurückzukehren? Kinder zu haben? Schließlich arbeitete er ja nicht umsonst so schwer! Er hatte sogar daran gedacht, Madison
zu heiraten, aber dann ergriff ihn meistens das Gefühl, fliehen zu müssen. Tür Nummer drei war das Leben, wie er es kannte. Seine Karriere lief großartig. Das Familienunternehmen zusammen mit den Brüdern weiter auszubauen machte großen Spaß. Nick musste an Abby denken. Sie waren richtig gute Freunde. Und Madison irrte sich, wenn sie glaubte, dass es etwas Romantisches zwischen ihnen gab. Hatte er Abby nicht gerade vor ein paar Stunden gesagt, dass sie so etwas wie Familie für ihn bedeutete? Dass sie eine Art jüngere Schwester für ihn war? Über die Jahre hatte er versucht, immer für sie da zu sein, war regelmäßig vorbeigefahren, um nach Sarah und ihr zu schauen. Abby gab sich immer ziemlich selbstständig. Nur wenn etwas anzuschließen war, wie die Stereoanlage zum Beispiel, dann meldete sie sich mal. Nick hatte die Rolle des großen Bruders übernommen. Abby wahrte immer einen gewissen Abstand. Sarah dagegen hatte keine Scheu, ihn anzurufen. Ohne sie hätte er keine Ahnung, wie Abby zum Beispiel ihre Freizeit verbrachte. Er neckte sie damit, dass sie nie ausging, wusste aber nicht, was sie davon abhielt. Und nun nagte noch etwas anderes an ihm. Er hatte ihr gesagt, dass sie praktisch mit zur Familie gehörte. Aber Verwandte würden doch niemals einen so wichtigen Geburtstag wie den einundzwanzigsten vergessen! Um das wieder gutzumachen, würde keine Glückwunschkarte reichen, da musste er sich schon etwas Besonderes einfallen lassen! Und danach wollte er versuchen, mit Madison wieder ins Reine zu kommen. Nick öffnete die Wagentür und glitt hinters Lenkrad. Abby hörte, dass es an der Tür klingelte. Da es ihr freier Tag und erst neun Uhr morgens war, fühlte sie sich gestört. Sie war beim Putzen und hatte gerade Seifenwasser in einen Eimer
gelassen, um alles gründlich auszuwischen. Vermutlich wollte mal wieder irgend jemand etwas Unnötiges verkaufen. Sie öffnete und sagte sofort: "Ich bin nicht interessiert..." Nick grinste. "Hallo! Aber vielleicht bin ich interessiert?" "Ich dachte, mir wollte jemand was verkaufen." "Nicht unbedingt. Darf ich reinkommen?" "Nick, hier sieht es schlimm aus." "Na, und?" "Sarah und ich sind daran gewöhnt, aber andere ..." Abby lächelte. "Na ja, komm rein, aber auf eigene Verantwortung." "Danke." Sie setzte sich auf die Sessellehne. "Wieso kommst du so früh am Morgen hierher? Ist irgendetwas passiert? Ist das Restaurant etwa heruntergebrannt?" Nick runzelte die Brauen. "Hey, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine blühende Phantasie hast?" "Ja, und deshalb erklärst du mir auch besser schnell, was los ist, bevor die Vorstellungskraft mit mir durchgeht." "Ich bin so früh gekommen, weil ich dich zum Essen einladen möchte." "Zum Essen?" Abby war völlig verblüfft. Wie kam er dazu, mit einer seiner Angestellten essen gehen zu wollen? Für eine Midlife-Crisis war er zu jung. Seltsam war auch, dass er keinen Anzug trug. Es war zwar Samstag, aber Nick war dafür bekannt, dass er sieben Tage die Woche arbeitete. Sie sah ihn also praktisch nie in Freizeitkleidung. Ein Glück, denn in den engen Jeans und mit dem weißen Hemd, dessen Ärmel aufgerollt waren, sah er verdammt gut aus! Beunruhigend gut. Normalerweise hielt die Arbeitsatmosphäre Abby von solchen Gedanken ab. Nick war ihr Chef, und private Gedanken über seinen Körperbau gestattete sie sich nicht. Davor hütete sie sich lieber. Abby strich sich die Haare aus dem Gesicht. "Hör zu, Nick ich muss weitermachen."
"Ich will dich auch gar nicht unterbrechen." Er warf einen Blick auf seine Uhr. "Wäre es dir recht, wenn ich dich heute Abend so um halb acht abhole? Ich finde, du brauchst mal etwas Abwechslung, Abby." "Nein." Das hatte so schroff geklungen, dass Abby seufzte. "Ich möchte nicht unhöflich sein, Nick, aber wieso verstehst du es nicht?" "Ich akzeptiere kein Nein." Er lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wir hätten das auch am Telefon besprechen können." "Ich ahnte, dass du ablehnen würdest und dass ich dich überzeugen müsste. Und das geht persönlich besser." Abby seufzte. Ihr freier Tag hatte doch so gut begonnen! Sie hatte einen festen Plan dafür gehabt. Und mit festen Plänen funktionierte das Leben besser. Wenn sie davon abwich, würde der nächste Tag durcheinander geraten. Und sie hatte keine Zeit, Nick davon zu überzeugen, dass ihre Pflichten vorgingen. "Lass es mich dir erklären", begann sie. "Ein Nein ist die negative Antwort auf einen Vorschlag oder eine Situation. Und dieses Nein bedeutet, dass ich nicht mitkommen kann. Dennoch weiß ich die Einladung sehr zu schätzen." "Sieh mal, wenn du eines Tages frei und ungebunden bist, brauchst du etwas Erfahrung. Du siehst schon das Licht am Ende des Tunnels, wie du selbst gesagt hast. Jemanden in die Freiheit zu entlassen erfordert Übung, Entschlossenheit, Praxis und Opferbereitschaft. " "Mit dir zum Essen zu gehen, ist also die erste Lektion im Verhalten für ,Frei und ungebunden'?" "Genau." Er lächelte. "Und die Vorbedingung dafür ist Spontaneität." "Nett von dir, Nick, aber ich muss mich dringender um die Wollmäuse kümmern", sagte Abby und schaute sich im Wohnzimmer um. "Wieso?"
"Ich habe Pflichten. Wenn ich die vernachlässige, gerät mein kleines Boot ins Schwanken. Ich habe zu viel zu tun." "Nenne mir drei Dinge, die dich ins Unglück stürzen, wenn du sie nicht tust und statt dessen heute Abend ausgehst." Es war nicht leicht, mit Mr. Perfekt zu diskutieren, und Abby sann fieberhaft nach einer guten Erklärung. "Ich warte", sagte er. "Drei Gründe, warum du nicht mal fünf grade sein lassen kannst." Abby wusste, dass er ahnte, was sie sagen würde, und versuchte es andersherum. "Mein Studium zum Beispiel." "Es ist Samstag, da gibt es keine Vorlesungen." "Aber ich stecke bis über beide Ohren in einer schriftlichen Hausarbeit, und Sarah hat bestimmt Pläne und muss irgendwo hingefahren werden." "Dann mach deine Hausarbeit heute Nachmittag, und ich bitte Ma, sich heute Abend um Sarah zu kümmern. Welche Ausrede hast du sonst noch?" "Das Gesundheitsamt." "Wie bitte?" "Die werfen mich aus der Wohnung, wenn ich sie nicht sauber mache." Nicks dunklen Augen wurden schmal. "Sag mal, Abby, wovor hast du eigentlich Angst. Etwa vor mir?" "Natürlich nicht." Das stimmte nur zur Hälfte. Abby hatte durchaus Angst davor, mit Nick auf privater Ebene zu tun zu haben. Was er vorschlug, erinnerte an eine Aschenputtel-Szene. Mit ihm essen zu gehen, wäre, wie zu einem Ball zu gehen. Mit ihm Spaß zu haben, würde ihr zeigen, wie andere Menschen lebten. Aber um Mitternacht wäre das Märchen zu Ende. Nick hatte Recht: Sie hatte Angst, die andere Seite zu sehen. Denn gleich danach würden sich die Pferde und die goldene Kutsche wieder in einen Kürbis und in Wollmäuse verwandeln.
Nick Marchetti war der Prinz im Geschäftsanzug. Er sah gut aus, war witzig und musste sich keine Gedanken darüber machen, ob die Stromrechnung bezahlt werden konnte, wenn er während einer, Kälteperiode zu viel verbrauchte. Er lebte Welten von ihr entfernt. Aber irgendwann würde auch sie dazu kommen, sich zu amüsieren, auszugehen und Freundschaften zu pflegen. Der Anfang würde schwierig werden. Darum wollte Abby erst mal abwarten, bis ihr Leben sich vereinfachte und sie überhaupt Zeit für einen Mann hätte. Sie hatte genug innere Narben, um davon überzeugt zu sein, dass alles schief gehen würde, wenn sie nicht geduldig auf ihre Stunde wartete. Sobald sie mehr Raum hätte, würde sie es versuchen. Auch wenn andere Männer nicht mit Nick zu vergleichen waren. Am meisten beunruhigte sie, wie sie das heikle Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatem einhalten sollte. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte Abby große Verantwortung übernommen. Sie wusste nicht, wie man mit gerichtlichen Dingen umging und wie sie mit dem Elternhaus verfahren sollte. Nick hatte ihr damals mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Neben ihrer Schwester war die Beziehung zu ihm der positivste Aspekt ihres Lebens. Das Bewusstsein, dass es ihn gab, ob sie ihn nun gerade brauchte oder nicht, half ihr durch schwere Zeiten. Das wollte sie keinesfalls aufs Spiel setzen! "Hör mal, ich rede nur von ein paar Stunden, von einem einzigen Abend. Einem verspäteten Geburtstagsessen zur Volljährigkeit. Damit tätest du mir einen Gefallen." "Dir? Wieso denn das?" Abby liebte es, Nick Marchetti, den Manipulierer, in Aktion zu sehen. Wie würde er diese Verspätung von zweieinhalb Jahren wohl begründen? "Ich werde es dir erklären." Er hob den Zeigefinger. "Erstens würde dadurch mein schlechtes Gewissen entlastet. Und zweitens würde ich meine beste Angestellte damit vielleicht
glücklich machen, und ein zufriedener Mitarbeiter ist ein guter Mitarbeiter." "Also das alles hast du davon." "Nicht nur. Du weißt Nummer drei noch nicht." "Also?" Er hob drei Finger und wackelte damit hin und her. "Wenn du nicht endlich mal ein bisschen Spaß hast, gerätst du in eine Persönlichkeitskrise von astronomischen Ausmaßen. Als Ehrenmitglied der Familie Marchetti hast du das Recht auf ein vollständig bezahltes, elegantes Dinner, bei dem du erfahren kannst, wie man einen wichtigen Geburtstag angemessen feiert. Und gleichzeitig bekommst du damit eine dringend nötige Lektion im Spaß-haben." Die Versuchung war da, Abby hatte das Gefühl, dass etwas tief in ihr Schlummerndes geweckt wurde. Sie bekam große Lust, mal etwas Aufregendes, etwas ganz Besonderes zu erleben. Allein die Vorstellung, einen ganzen Abend mit dem begehrten Nick Marchetti zu verbringen, war Stoff für Träume! Aber dann gewann die Vernunft wieder die Oberhand und brachte sie dazu, skeptisch zu reagieren. "Ich weiß nicht recht, Nick ..." Sie mochte ihrem Gefühl einfach nicht gehorchen. "Du kannst gar nicht Nein sagen, denn sonst werfe ich dich über meine Schulter und trage dich einfach davon. Ich dachte, du wüsstest, dass man sich lieber nicht mit einem Marchetti anlegt." Nick seufzte. "Ich habe schon befürchtet, dass Körperkraft über die Vernunft siegen wird." Abby neigte dazu, zuzustimmen, aber nicht, weil er mit Gewalt drohte. Eigentlich konnte sie nicht gut ablehnen. Nick wollte es offenbar absolut und hatte auch schon eine Idee, wie er es gestalten wollte. Da wäre sie doch dumm, seine Einladung nicht anzunehmen. "Also gut, um meine Würde zu wahren, bin ich einverstanden." Gleich danach sagte sie: "Oh, je, was ziehe ich denn bloß dazu an?"
"Das Feinste, was du hast. Das ist mal eine Gelegenheit, so etwas zu tragen. Ich habe nämlich schon ein bestimmtes Lokal im Auge." Abby berührte seinen Arm, "Danke, Nick." "Kein Grund, mir zu danken. Einen meiner Gründe habe ich noch vergessen. Ma findet, ich arbeitete zu viel und sollte mich endlich auch mal amüsieren. Vielleicht ist sie nun endlich zufrieden." Abby blickte ihn ernst an. "Du solltest froh sein, eine solche Mutter zu haben." "Na ja, das war scherzhaft gemeint. Aber jetzt überlasse ich dich deinen Pflichten." Er tippte ihr auf die Nase. "Also, ich hole dich um halb acht ab. Sei pünktlich. Und Ausreden lasse ich nicht gelten."
3. KAPITEL "Oh, Nick ..." Abby fehlten die Worte. Sie hatten sich gerade in einem exklusiven Restaurant oberhalb des San Fernando Valley, von wo aus man die Lichter der Stadt sehen konnte, an einen Fenstertisch gesetzt. "Na, gefällt dir die Aussicht?" fragte Nick. Abby lächelte. "Sie ist wirklich atemberaubend!" "Das finde ich auch." Abby bemerkte, dass er nicht nach draußen sah , sondern sie anschaute. Sein Blick war so, dass es ihr kurz den Atem nahm. So hatte er sie noch nie angesehen! "Ist irgendetwas?" fragte sie. "Habe ich Lippenstift auf den Zähnen? Ist die Wimperntusche verschmiert? Sitzt das Kleid nicht?" "Nein, du siehst wunderbar aus." "Warum starrst du mich dann so an?" "Es ist nur ..." Er zuckte mit den Schultern. Nick Marchetti gingen eigentlich nie die Worte aus, eine solche Situation gab es nicht. Das war bemerkenswert. "Was denn?" hakte sie nach. Ein Kompliment von ihrem Chef war gegen ihre Vorsätze, na und? Den Rest des Abends könnte sie sich doch noch entspannen. "So wie jetzt siehst du bei der Arbeit nie aus", versuchte Nick es zu erklären.
"Heißt das, ich bin unpassend gekleidet?" Abby trug das einzig elegante Kleid, das sie besaß. Ein langärmeliges schwarzes Kleid mit knielangem weiten Rock und einem spitzengesäumten Ausschnitt. Sie hatte es schon vor einem Jahr zur Weihnachtsfeier angehabt, aber daran erinnerte Nick sich offenbar nicht. In diesem Augenblick kam der Kellner. "Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?" Nick bestellte einen Scotch, Abby ein Glas Weißwein. Der Kellner räusperte sich verlegen. "Miss, dürfte ich Ihren Ausweis sehen?" Überrascht nahm Abby ihre Handtasche. Sie war froh, dass sie ihren Führerschein bei sich hatte, und reichte ihm das Dokument. Der Kellner nickte und sagte: "Ich bringe die Getränke sofort." Nick schien sich diebisch zu freuen. "Ah, ich verstehe. Das hast du dem Empfangschef zugeflüstert, als wir ankamen", meinte Abby. "Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst." "Nun komm schon, Nick, du hast ihn doch dazu gebracht, mich nach meinem Ausweis zu fragen, oder?" "Wenn das jetzt wirklich dein einundzwanzigster Geburtstag wäre, hätten die das von allein getan. Du siehst kaum älter aus als Sarah." Abby wusste nicht recht, ob ihr das gefiel. "Dafür muss ich mich wohl bedanken", meinte sie etwas ungehalten. Trotzdem gefiel es ihr, dass er es getan hatte. Der Kellner kam erneut und stellte die Getränke auf den Tisch. Dann verschwand er wieder, während Nick und Abby ausgiebig die Speisekarte studierten. Nachdem er sich für ein Gericht entschieden hatte, nippte er an seinem Whisky, legte die Ellbogen auf den Tisch und schaute Abby an. "Nun erklär mir mal, wieso du eigentlich nie ausgehst?"
Abby überlegte, ob sie die Frage beantworten wollte. "Woher weißt du denn, ob ich es tue oder nicht?" stellte sie eine Gegenfrage. "Sarah erzählt mir regelmäßig, was bei den RidgewaySchwestern so los ist. Sie findet, du lebst wie eine Nonne." "Sie ist aber auch ganz verrückt nach Jungs." Abby schüttelte lachend den Kopf. "Ihrer Meinung nach ist man reif fürs Kloster, wenn man nicht ausschließlich mit dem anderen Geschlecht beschäftigt ist. In ihrem Alter war ich vermutlich genauso." "Sarah sagt, sie müsse erst sechzehn werden, bevor du ihr erlaubst, mit einem Jungen auszugehen. In welchem Alter hast du es denn gemacht?" "Mit sechzehn. Aber da durfte ich noch nicht allein ausgehen, sondern nur in einer Gruppe." Abby spielte mit dem Fuß des Weinglases und drehte es, so dass das Kerzenlicht sich darin brach. "Zu der Zeit fand ich allerdings, dass meine Eltern wie aus dem Mittelalter waren. Nun sehe ich, dass sie nur klug waren. Aber die Zeiten haben sich geändert, heute werden die Jugendlichen schneller erwachsen. Ich mache mir große Sorgen um Sarah und fürchte, sie hört nicht wirklich auf mich. Ich wollte, Mom und Dad wären noch da." "Beide Eltern, die sich dann auch noch einig sind, sind bestimmt das Beste, besonders wenn man ein Teenager ist," "Selbst wenn die Eltern nicht immer einer Meinung sind", fügte Abby hinzu. Wenn es den Unfall nicht gegeben hätte und sie die Gelegenheit gehabt hätten, ihre Probleme auszudiskutieren, wären ihre Eltern vielleicht zusammengeblieben. Nun würde man das nie mehr erfahren. Inzwischen hatte Abby gelernt, mit dem bitteren Gefühl zu leben, dass auch sie indirekt schuld war an dem Unfall, aber es kam noch immer gelegentlich in ihr hoch. "Was heißt das?" fragte Nick und schaute Abby erstaunt an.
"Nichts. Ich liebe meine Schwester und möchte, dass sie all das hat, was ich nicht gehabt habe. Ich gebe mir große Mühe, mich um alles zu kümmern." "Du hast mich als Freund, das verspreche ich. Wähle einfach das große M wie Marchetti, und schon bin ich da." Er lächelte. "Ich werde dir helfen, Sarah in Schach zu halten. Aber du hast das Thema gewechselt. Wieso gehst du nie aus?" "Ich habe keine Zeit." Abby fingerte an dem Papierdeckchen herum, das unter dem Weinglas lag. "Seit dem Tod von Mom und Dad habe ich einfach zu viel zu tun." "Du bist nie ausgegangen?" fragte Nick, und sein entsetztes Gesicht brachte Abby beinahe zum Lachen. "Aber du warst doch erst achtzehn!" "Ich habe es ein paar Mal probiert, aber es funktionierte nicht. Es war zu kompliziert." Sie blickte zum Fenster hinaus und überlegte, wie sie das Thema wechseln könnte. "Hör mal, ich würde gern mit dir über den Plan für das Restaurant sprechen ..." "Warte bitte." Nick hob die Hand, um Abby zum Schweigen zu bringen. "Habe ich dir nicht die Regeln für heute Abend erklärt?" Abby schüttelte den Kopf. "Dann lass es mich jetzt tun. Wir sind Freunde, die heute Abend zusammen sind, um es sich gut gehen zu lassen. Von der Arbeit wird nicht geredet. Ist das klar?" Er nahm einen kleinen Schluck. "Und nun erzähl mir, wieso du es schwierig fandest, mit jemandem auszugehen." Abby versuchte sich zu erinnern. Das Problem dabei war, dass sofort Dinge hochkamen, die besser im Dunkeln blieben. Dinge wie der Schmerz. Aber sie wusste, dass Nick keine Ruhe geben würde. Wenn er etwas wollte, war er wie ein Hund, der seinen Lieblingsknochen nicht hergab. Also brachte sie es lieber schnell hinter sich. "Erstens brauchte ich zu viel Zeit für mich, was meinen jeweiligen Verehrern nicht passte." "Was noch?"
"Dann musste ich jemanden finden, der auf Sarah aufpasste und den ich bezahlen konnte." "Ah, ja." Nicks Stimme klang sachlich, aber seine Stirn war gefurcht, als sei dieser Gedanke neu für ihn. "Ich habe allerdings das Gefühl, da ist noch mehr", vermutete er. "Ich arbeitete, ging zur Schule und kümmerte mich um meine Schwester. Allein das kostete viel Zeit. Und beide Eltern auf einmal zu verlieren ist eine ziemlich traumatische Erfahrung." "Das kann ich mir vorstellen." Nick legte eine Hand auf ihre, streichelte sie und drückte sie aufmunternd. Abby hätte diese Berührung am liebsten länger genossen, aber das sollte sie besser nicht zulassen. Nick konnte sich einbilden, dass sie einfach Freunde waren, die mal zusammen essen gingen. Sie dagegen durfte nicht vergessen, dass er der Chef des Unternehmens war, für das sie arbeitete. Nicht dass sie Angst um ihren Job haben musste. Nick würde sie niemals hinauswerfen, es sei denn, sie würde total durchdrehen. Doch sie hatte Angst davor, dass ihre Beziehung sich möglicherweise ändern könnte. Bis sie mehr Zeit hätte, war es sinnlos, Energie für so etwas zu verschwenden, erst recht, sich wirklich für jemanden zu begeistern. Doch trotz dieser Bedenken schaffte sie es nicht, ihre Hand wegzuziehen. Diesen Abend wollte sie einfach mal genießen, denn er würde sich bestimmt nicht wiederholen. Und es konnte ja nicht schaden, wenn Nick mal ihre Hand hielt... "Sarah wurde immer fast hysterisch, sobald sie mich aus den Augen verlor", fuhr Abby fort und entspannte sich ein bisschen. "Es gab einfach nicht den richtigen Zeitpunkt fürs Ausgehen. Die wenigen Jungs, die den Mut hatten, mich zu fragen, verloren die Geduld, bis ich endlich alles geregelt hatte, um mal zu einem Fast Food-Dinner oder mit ihnen ins Kino zu gehen." Abby lächelte, um den Schmerz zu vertreiben, den sie empfand. "Schließlich ließen sie es ganz."
Es war Zeit vergangen, aber offenbar nicht genug. Die Erinnerung tat noch immer weh. Erst der Schock über den Verlust der Eltern. Dann die Einsamkeit, als ihre Freunde langsam aufhörten, bei ihr anzurufen, weil sie nie Zeit für sie hatte. Dann die Arbeit im Restaurant. Dort musste sie junge Pärchen bedienen, Verliebte. Das Bewusstsein, dass sie das nicht erlebte! Abby hatte sich vorgenommen, sich erst um ihr Liebesleben zu kümmern, wenn Sarah auf dem College wäre. Das war jedoch noch eine Weile hin. Ihre Haut prickelte, als Nick erneut ihre Hand drückte. "Es lohnt sich, auf die schönen Dinge im Leben zu warten, Abby. Diese Jungs waren jung und unerfahren." Entweder lag es an seiner Berührung oder daran, dass ihr der Wein zu Kopfe stieg. Jedenfalls fühlte Abby sich auf einmal wie beschwipst. Sie löste ihre Finger aus seinem Griff und legte sie auf den Tisch. "Warst du eigentlich jemals jung und unerfahren, Nick?" Er schaute sie düster an. "Ist das anfangs nicht jeder?" Sein Tonfall weckte Abbys Neugier. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du jemals in deinem Leben eine Dummheit begangen hast." "Wie kommst du denn darauf?" Wieder eine Frage statt einer Antwort. "Das ist mein Eindruck. Du wirkst so reif und selbstbewusst. Als der Älteste von euch fünf, kümmerst du dich immer um alles. Männer wie du fällen keine spontanen, unüberlegten Entscheidungen." "Wirklich?" Die dritte Gegenfrage! Das wurde ja allmählich seltsam. "Dein Leben ist perfekt/Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du jemals etwas Unüberlegtes getan hast." "Doch, ich habe mal geheiratet." Nick erschrak beinahe, dass ihm dieses Geständnis herausgerutscht war.
Und Abby war ebenfalls völlig erstaunt. "Du bist verheiratet?" "Nicht mehr." Nick erwartete, dass ihn der Zorn und der Schmerz über die Demütigung erneut überkommen würden. "Erzählst du mir davon, oder möchtest du es einfach so stehen lassen?" Nick wusste nicht mehr, wieso er es überhaupt gesagt hatte, aber nun glaubte er, Abby eine Erklärung schuldig zu sein. "Es war vor etwa fünf Jahren, kurz bevor wir beide uns kennen lernten und ich das Restaurant in Phoenix eröffnete. Ich stellte eine Empfangschefin ein, die mir sehr empfohlen wurde, und verliebte mich auf Anhieb in sie." "Was ist mit ihr?" "Sie war mit jemandem liiert, aber der verließ sie, als sie feststellte, dass sie schwanger war." "So ein Mistkerl." "Allerdings. Sie vertraute sich mir an, und ich war so verrückt nach ihr, dass ich mich um sie und das Kind kümmern wollte. Ich machte ihr einen Heiratsantrag, sie nahm ihn an, und wir heirateten in Las Vegas." "Und was geschah dann?" "Der Exfreund tauchte wieder auf." "Zu spät und ohne einen Penny", vermutete Abby. "So ähnlich, aber sie hat ihn wieder zurückgenommen." Als Abby etwas sagen wollte, hob Nick abwehrend die Hand. "Sie wollte ihm noch eine Chance geben, immerhin war er ja der Vater ihres Kindes." "Ihr habt euch also scheiden lassen." Nick schüttelte den Kopf. "Schlimmer. Sie ließ die Ehe annullieren, so als hätte sie nie stattgefunden." Abby versuchte zu verdauen, was sie da gehört hatte. "Gut." "Gut?" "Absolut. Wenn sie zu dumm war zu begreifen, was für ein wunderbarer Mann du bist - schon deshalb, weil du das Kind
eines anderen akzeptiert hättest -, bin ich froh darüber, dass sie sich von dir getrennt hat. Sie hätte dich gar nicht verdient." "Ich weiß nicht recht..." "Sie hat dir einen Gefallen getan! Und die Annullierung bedeutet, dass du, wenn du noch mal heiratest, es auch kirchlich tun kannst." "Das werde ich niemals tun, ich bin jetzt überzeugter Junggeselle." "Ah, so. Ist das der Grund, warum du Madison nicht heiraten willst?" Donnerwetter, Abby redete nicht lange um den heißen Brei herum. "Kannst du das nicht verstehen? Denselben Fehler zwei Mal zu machen wäre doch der Gipfel von Dummheit", sagte Nick bitter. Wann immer ihn der Gedanke streifte, eine Familie zu gründen, wurde ihm durch die Erinnerung an diese Blitzheirat geradezu übel. "Erst hat sie mich benutzt und dann brutal fallen lassen." "Tut mir Leid, Nick, dass du das erlebt hast", Abby legte ihre Hand auf seine, "aber denk mal an den Spruch, der bei mir an der Wand hängt: ,Was dich nicht umbringt, macht dich stärker'." Er nickte. Das Gefühl ihrer schmalen Hand auf seiner gefiel ihm. Ob sie seine Geste kurz vorher auch so genossen hatte? "Ja, und?" fragte er, allerdings scheinbar gelassen. "Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus, heißt es. Durch das, was du erlebt hast, bist du stärker geworden. Ein schwacher Mann hätte sich gänzlich von Frauen abgewandt. Das hast du nicht getan." "Nein?" Wieso fiel es ihm dann so schwer, mit einer tollen Frau wie Madison zusammen zu sein? "Nein, diese Erfahrung hat dich zu dem gemacht, was du bist: sensibel, liebevoll, hilfsbereit und stark." "Stark wie ein Stier", er hob den Arm und ließ den Bizeps spielen.
Abby lachte. "Genau. Siehst du, und deinen Humor hast du auch nicht verloren. Nick, sie war vielleicht jung und dumm, aber du nicht." Nick lächelte. Abby schaffte es, ihm das Gefühl zu geben, großartig zu sein. Er wusste nicht, wieso er ihr von seiner bitteren Erfahrung erzählt hatte, vielleicht weil auch sie Schlimmes erlebt hatte und es verstehen würde. Vielleicht um ihr zu zeigen, dass sie damit nicht allein war. Das Leben war alles andere als perfekt. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Abby sich über ihn lustig machen würde, statt dessen hatte sie ihn wieder aufgebaut. "Danke, dass du mir zugehört hast, Abby." "Keine Ursache." Sie lächelte sanft. Als Nick sie zum Essen einlud, hatte er nicht erwartet, dass der Abend wirklich etwas Besonderes werden würde, aber das war ein Irrtum gewesen. Allerdings hatte er nun jedoch Probleme damit, den Blick von ihren vollen Lippen zu nehmen, die so weich und einladend wirkten! Dabei war dieser Abend nur als nachträgliche Geburtstagsfeier geplant. "Genug Ernstes geredet. Schließlich wollte ich dir beibringen, wie man sich amüsiert!" In seiner Fröhlichkeit wirkte er so sexy, dass Abby froh war, ihm gegenüber zu sitzen. Aber es machte ihr auch bewusst, dass Nick unerreichbar war für sie. Wie jemand aus einer anderen Welt. Sein Lächeln machte das Kribbeln in ihrem Bauch noch schlimmer. Wenn er sie so ansah, konnte sie gar nicht mehr geradeaus denken. Zum Glück sah sie ihn selten, sonst hätte sie sich schon längst in ihn verliebt! Schon deshalb durfte sie die Beziehung nicht zu eng werden lassen. Abby lachte und hoffte, dass Nick nicht merkte, wie verunsichert sie war. "Ja, du hast mir versprochen, mir etwas über Lebensfreude beizubringen. Und du bist ein guter Lehrer. Ich genieße den Abend sehr und kann mich gar nicht daran
erinnern, wann ich das letzte Mal so entspannt war." Abby schwatzte fröhlich drauf los. Plötzlich stand Nick auf. "Würdest du mit mir tanzen?" "Tanzen?" Der Gedanke irritierte Abby. Wann immer sie ihr Boot gerade auf sicherem Kurs wähnte, brachte Nick es ins Wanken. "Ja, tanzen. Gibt es damit irgendein Problem?" Abby schüttelte den Kopf. "Ich dachte nur, dass du an eine weniger erwachsene Art von Spaß dachtest." "Zum Beispiel?" "Ich weiß nicht. Daran, mit Wasser gefüllte Ballons vom Balkon runterzuwerfen, Rasiercreme auf Fensterscheiben zu schmieren, den Parkplatzwächter in Toilettenpapier einzuwickeln oder so." "Ich vermute, so etwas hast du noch nie gemacht." "Nein, du?" "Als dein Chef verweigere ich die Antwort." "Aha, das heißt also ja." Die Band begann, ein langsames Stück zu spielen. "Komm schon, lass uns tanzen. Es sei denn, du hast Angst vor zu viel Spaß." Nick streckte ihr die Hand hin. Abby wusste, dass sie nicht ohne Erklärung ablehnen konnte. Das Einzige, was ihr dazu einfiel, mochte sie nicht sagen. "Aber wenn du mir auf die Füße trittst, wird der Unterricht abgebrochen." "Keine Sorge, du wirst ihn genießen." Seine Stimme klang dunkel und verführerisch. Mit Nick zu tanzen war sicher keine gute Idee. Er führte sie auf die Tanzfläche, wo sich schon andere Paare im Takt der Musik wiegten. Sein After Shave duftete wunderbar. Er roch so unglaublich nach Mann... Abby wurde allmählich nervös. Nick hielt sie nur locker fest, aber beim Tanzen berührten sie sich unwillkürlich. Und als es voller wurde, zog er sie enger an
sich, als müsse er sie beschützen. Abby hatte das Gefühl, nur schwer atmen zu können. Dabei hätte sie diesen Moment am liebsten in alle Ewigkeit ausgedehnt. Die Musik, die Atmosphäre, die Leichtigkeit durch den Wein ... Viele Frauen sahen zu Nick hin, und im Augenblick gehörte er ihr! Nein, Unsinn. Er war nur ihr Begleiter. Ein Freund. Ihr Chef. Abby seufzte. Das war alles so kompliziert. Sie sehnte sich nach der Klarheit ihrer Arbeit. Sie sollte sich ganz auf ihr Studium und ihren Job konzentrieren und auf nichts anderes. Erst kam noch Sarahs Party, aber danach wollte sie sich an ihre eisernen Regeln halten. In wenigen Wochen würde das Märchen zu Ende sein. Dann wurde Aschenputtel wieder am Herd sitzen, und das Leben würde wieder normal sein. Genau so, wie Abby es mochte. Wieso machte der Gedanke sie dann allerdings so traurig? "Was meinst du, wie läuft die Party? Wie ist dein Eindruck, Nick?" fragte Abby einige Wochen später. Sie standen nebeneinander in der offenen Verandatür und beobachteten die Teenager, die sich in Abbys Wohnzimmer tummelten. In ihren Jeans und dem weißen Pullover wirkte Abby kaum älter als die Jugendlichen. Nick musste daran denken, wie verführerisch sie in dem schwarzen Kleid ausgesehen hatte, als sie zum Essen ausgegangen waren. Er verstand noch immer nicht, wieso er sein Geheimnis ausgeplaudert hatte, das nicht mal seine Familie kannte! Aber vielleicht musste er es einfach mal loswerden. Und Abbys Reaktion darauf hatte ihm richtig gut getan. An dem Abend hatte er sie mit neuen Augen gesehen. Und der Gedanke daran, wie reizvoll sie in dem aufregenden Kleid gewesen war, ließ ihn gar nicht mehr los. Das Bild tauchte oft in den unpassendsten Momenten auf. Manchmal genügte ein Hauch von Parfüm, und er dachte an ihr hübsches Lächeln, das
sowohl Beschützerinstinkte in ihm wachrief als auch verführerisch war. An dem Abend hatte Abby sich ihm gegenüber ebenfalls geöffnet und ihm von ihrer Vergangenheit erzählt. Davon, wie schwierig es war, Vater und Mutter zu ersetzen, immer das Richtige zu tun. Abby war nach dem Fiasko in Phoenix in Nicks Leben getreten, als er den Frauen gerade abgeschworen hatte. Sie gefiel ihm sofort, aber damals sah er sie mehr wie ein Kind, das Hilfe brauchte. Inzwischen war sie eine richtige Frau geworden, und was für eine! Er schätzte Abbys Freundschaft und bewunderte ihre Kraft und die Entschlossenheit, ihrer Schwester nach dem Tod der Eltern diese zu ersetzen. Bei dem Gedanken an Sarah blickte er sich suchend nach ihr um. Sie stand - eine jüngere Ausgabe von Abby - umgeben von Freundinnen in der Küche und tuschelte mit ihnen. Im Wohnzimmer saßen einige Jungen auf dem Sofa und im Sessel. Alles in allem waren es zehn junge Leute, sechs Jungen und vier Mädchen. Nach einer richtigen "Party" sah das Fest nicht gerade aus. Aber Nick behauptete: "Na ja, es läuft doch ganz nett." Abby krauste die Stirn. "Du hast Recht, es läuft überhaupt nicht. Die Mädchen in der Küche, die Jungs im Wohnzimmer. Das ist vielleicht ein Geburtstag!" "Na, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Immerhin können wir alle sehen." Er zählte sie schnell durch. "Abgesehen von dem kleinen Hohlkopf, der in deinem Schlafzimmer telefoniert." "Ja, James. Wenn er allerdings mit Japan telefoniert, dürften seine Mutter und ich eine kleine Auseinandersetzung bekommen." "Das ist doch hoffentlich nicht der, für den Sarah schwärmt, oder?"
"Nein. Siehst du den niedlichen Jungen, der ganz am Rand auf dem Sofa sitzt? Den mit dem süßen Grübchen im Kinn?" "Mit ,niedlich' und ,süß' kann ich nichts anfangen, aber ich glaube, ich weiß, wen du meinst." "Das ist Austin Reese. Der ist gerade Sarahs Favorit." "Was weißt du von ihm?" "Er ist ein guter Schüler und Kapitän des Football-Teams." "Mehr weißt du nicht über ihn? Vielleicht sollte ich Steve mal ein paar Nachforschungen anstellen lassen." Steve Schaf er war Nicks bester Freund und der Mann seiner jüngeren Schwester. Er arbeitete als Privatdetektiv für große Firmen und würde sicher gern behilflich sein. "Nein, ich glaube, das ist nicht nötig. Mir macht es mehr Sorgen, wie Sarah den heutigen Abend ohne gebrochenes Herz überstehen soll. Sie hat sich so auf diese Party gefreut und wird todunglücklich sein, wenn es ein Flop wird." Abby legte die Hand auf Nicks Arm - eine für sie ungewöhnlich vertrauliche Geste und vermutlich ein Zeichen dafür, wie nervös sie war, denn sonst war sie immer äußerst zurückhaltend. Selbst beim Tanzen hatte Nick bemerkt, wie sehr sie auf Abstand geachtet hatte. Zwischen ihnen knisterte und funkte es eindeutig, aber Abby bemühte sich stets, das wieder abzukühlen. Vom Kopf her fand Nick das gut, ihr Widerstand reizte ihn aber irgendwie. Jetzt mussten sie sich jedoch erst mal darum kümmern, dass die Party kein Misserfolg wurde. "Vielleicht sollten wir schweres Geschütz auffahren, Abby." "Kein Küssen, Nick!" "Wer sagt denn etwas von Flaschendrehen?" Nick öffnete die Terrassentür und trat ins Haus. Eher schwerfällige Musik tönte aus dem neuen CD-Player. Nick durchquerte den Raum und zog ein großes Spiel aus seinem Rucksack. "Was ist das?" fragte Sarah aufgeregt.
"Twister." Nick ging zum Sofa und tippte Austin auf die Schulter. "Hilf mir bitte mal, das Sofa zur Seite zu schieben." Er gab den anderen beiden Jungen auf dem Sofa ein Zeichen. "Ihr beiden könnt inzwischen den Tisch in die Ecke rücken." Ein leises Grummeln war zu hören, aber die Teenager gehorchten Nicks Anweisungen, bis die Zimmermitte leer geräumt war. Das Spiel bestand aus nichts anderem als einem großen) Plastikfeld mit vier verschiedenfarbigen Kreisen sowie einer Drehvorrichtung mit den gleichen Farben darauf, welche die Teilnehmer anwies, wo sie ihre Hände und Füße zu plazieren hatten. Ziel des Spiels war es, festzustellen, wie weit die Teilnehmer sich verrenken konnten, ohne hinzufallen. Derjenige, der sich am längsten auf seinen Füßen hielt, wurde Sieger. "Wer versucht es als Erster?" Nick schaute sich um, aber niemand rührte sich. Na, das würde er schon ändern, schließlich hatte er nicht umsonst an endlosen Seminaren zur Motivation von Firmenpersonal teilgenommen! "Wenn sich niemand freiwillig meldet, wird einer bestimmt", erklärte er. Immer noch kam keine Reaktion. "Also gut, Sarah und Austin, ihr fangt an." Sarahs Augen weiteten sich erschrocken. "Nick, ich ..." "Wir versuchen es", sagte das niedliche Bürschchen mit dem süßen Grübchen im Kinn mutig. Austin Reese hat schon mal einen Punkt für sich, dachte Nick anerkennend. Die beiden Teenager zogen ihre Schuhe aus und stellten sich am Rand der Matte einander gegenüber. Die anderen umringten sie. Nick rief in den Flur: "James? Komm her, hier wird gefeiert!" Als der Junge verlegen zurückkam, reichte Nick ihm die Drehvorrichtung. "Bring sie zum Kreisen. Sobald sie still steht, sieh nach, auf welcher Farbe sich der Pfeil befindet und was da steht. Meinst du, du schaffst das?" "Natürlich", sagte der Junge.
"Gut. Dann los." James gehorchte, dann rief er: "Rechte Hand, Grün." Sarah und Austin folgten diesen Anweisungen. Die nächste Bewegung war linker Fuß rot. Als sie sich bemühten, es nachzumachen, mussten sie lachen. Die anderen Kinder begannen, ihnen Ratschläge zuzurufen. Nick ging zu Abby zurück, die noch immer an der Balkontür stand. Die Teenager begriffen schnell den Witz des Spiels. Als Austin schließlich umfiel, war Sarah die Gewinnerin, und ein anderes Paar drängte sich augenblicklich vor, die nächste Runde zu spielen. Zum zweiten Mal legte Abby Nick die Hand auf den Arm. "Das ist ja toll, Nick, das hat das Eis gebrochen! Und ganz ohne Küsse." "Wie ich schon sagte: Wähle das M für Marchetti, dann werden deine Probleme gelöst." Er grinste. Abby ging ins Haus und stellte sich zwischen die Jugendlichen, um ebenfalls sehen zu können, Nick folgte ihr. "Kennst du das Spiel denn nicht?" fragte er. "Nein. Aber es scheint richtig lustig zu sein." In diesem Moment fielen gerade die beiden derzeitigen Spieler lachend um. James schaute Abby an. "Hey, jetzt bist du dran." "Nein, das ist nur für euch." "Mach schon, Abby!" Sarah klatschte in die Hände. "Du und Nick, ihr müsst es auch versuchen." "Nein, wir schauen nur zu", wehrte Abby ab. "Ach was, Abby, man muss auch spontan sein können", rief Nick fröhlich. "Lass uns diesen Grünschnäbeln mal zeigen, wie beweglich wir noch sind." "Also gut." Abby zog die Schuhe aus und stellte sich erwartungsvoll auf die Matte. Ihre Augen blitzten, ihre Wangen röteten sich.
James drehte den Pfeil. "Rechter Fuß, Blau", verkündete er. Sie gehorchten. Abby frohlockte: "Du wirst schon sehen, was du davon hast, den ganzen Tag nur am Schreibtisch zu sitzen, Nick." "Wart's ab, Abby!" "Rechte Hand, Gelb", gab James jetzt die neue Anweisung. Beide versuchten, dem nachzukommen. In Abbys blauen Augen stand wilde Entschlossenheit. Die Teenager riefen Befehle, und sie versuchten, sie zu befolgen. "Hey, seid ihr eigentlich ein Paar?" fragte James, während er die Nadel erneut drehte. "Nein", erklärte Abby schon etwas atemlos vor Anstrengung, "Nick ist mein Chef," "Linker Fuß, Gelb." James sah zu, wie Abby und Nick sich geradezu ineinander verhakten. "Ich finde aber, ihr seht aus wie ein Paar." "Sind wir aber nicht!" rief Abby. "Schon gut." James drehte wieder. "Rechte Hand, Rot!" Abby stöhnte. Die einzige Möglichkeit, sich nicht wie eine menschliche Brezel zu verdrehen, war, sich nach hinten zu beugen. Langsam bewegte sie sich in die Richtung. Nick zögerte. Wenn er der Spielanweisung folgte, würde er in äußerst intimer Weise über Abby hängen. Er verdrehte seinen Körper so, dass er über ihr war und die Hand auf den Farbpunkt legen konnte. "Geschafft!" "James, dreh die Nadel!" befahl Abby. "Schnell!" Das klingt ja beinahe verzweifelt, dachte Nick. Er spürte ihren Atem an seiner Wange, ihre Münder waren nur Zentimeter voneinander entfernt. "Hey, Nick", meinte James auffordernd, "wieso gibst du ihr keinen Kuss?" Nick hatte seit dem Abend, an dem er mit Abby ausgegangen war, schon oft an ihre vollen Lippen gedacht. "Ja, gib ihr einen Kuss!" rief auch eins der Mädchen.
"Küs-sen! Küs-sen!" Schrien plötzlich alle Teenager im Takt. Nick schwankte zwischen dem Bedürfnis, Abby zu helfen, der Rolle, hier den Verantwortlichen zu spielen, und seiner Lust auf einen Kuss. Abby schüttelte unmerklich den Kopf. An ihrem Hals konnte man den Puls pochen sehen. Was schadet denn schon ein kleiner Kuss? dachte Nick. Aber zögernd sagte er: "Nein, Leute, das verstößt gegen die Regeln."
4. KAPITEL "Die Regeln?" fragte Abby atemlos. "Ja. Bei einer Teenagerparty muss es Regeln geben." Abby klopfte das Herz. Doch sie musste Nick Recht geben. Sie hatte schließlich entschieden, dass es keine Küsse geben sollte, und er hatte das akzeptiert. Wie konnte sie ahnen, dass sie in einer solchen Umarmung landen und sogar Lust haben würde, von ihm geküsst zu werden? "Hey, ihr beiden spielt wohl nur noch für euch allein", meinte James. Nick grinste. "Meinst du, wir sollten den anderen auch noch eine Chance geben?" Mit einer geschmeidigen Bewegung löste er sich von Abby, stand auf und reichte ihr die Hand. Sie nahm sie unwillkürlich und empfand die Festigkeit und Wärme als ausgesprochen angenehm. Zu angenehm. Schnell ließ sie wieder los. Sobald sie zur Seite getreten waren, drängten sich zwei andere auf die Twister-Matte. Abby ging zur Terrassentür und trat in die kalte Novemberluft hinaus, um ihre heißen Wangen zu kühlen, fröstelte aber sofort. Lag es an der Kälte oder daran, dass die heikle Situation mit Nick sie nervös gemacht hatte? Sie drehte sich um und schaute in die erleuchtete Wohnung. Ihr war ganz schwindelig, so als entglitte ihr die Kontrolle. Was war bloß los mit ihr?
Als sie hörte, wie die Glastür leise geöffnet und dann wieder geschlossen wurde, wusste sie sofort, wer herausgekommen war. "Ist irgendetwas, Abby?" Schon seine tiefe Stimme ließ sie ein wenig erschauern. "Nein." Jedenfalls nichts, was nicht durch einen Sprung in eiskaltes Wasser geheilt werden könnte, fügte sie im Stillen hinzu. Auf einmal fiel ihr ein, dass Nick der erste richtige Mann in ihrem Leben war, den sie beinahe geküsst hatte! Jungen hatte es schon gegeben, aber die waren unerfahren und ahnungslos gewesen. Ganz anders als Nick. Irgendwie ahnte Abby, dass ein Kuss von ihm ein völlig neues Erlebnis sein würde. Schon jetzt brachte er ihren Puls zum Rasen, und das, ohne dass er ihren Mund auch nur gestreift hatte! Wenn es doch nur passiert wäre ... Sie musste aufpassen, dass er nichts merkte. Was wäre, wenn er diese "Einladung" angenommen hätte ... Aber vermutlich bemerkte Nick gar nicht, was ihr durch den Kopf ging. Schließlich war er mit Madison Wainright liiert. Erneut fröstelte sie und rieb sich die Arme. "Ist dir kalt?" fragte Nick. "Ein bisschen. Ich glaube, ich gehe lieber wieder rein." Sofort zog er sein kariertes Flanellhemd aus, unter dem er ein schwarzes T-Shirt trug, das sich eng an seinen muskulösen Körper schmiegte, was Abby äußerst reizvoll fand, da es Nick etwas leicht Verwegenes gab. Abby nahm sich vor, Nick nie wieder außerhalb der Arbeitszeiten zu treffen! Am Besten wäre überhaupt, wenn sie ihn nur selten sah. Vielleicht würde sich dann die Faszination, die sie im Moment empfand, wieder geben. Er legte ihr das körperwarme Hemd um die Schultern. "Lass uns kurz miteinander reden", bat er.
"Worüber denn?" Sie atmete genussvoll seinen Duft ein, der ihr aus dem Hemd in die Nase stieg. "Über das, was gerade passiert ist." Meinte er den Beinahe-Kuss? Hoffentlich nicht! Wenn sie noch darüber sprechen würden, bekäme Nick sicher heraus, wie sehr sie sich das gewünscht hatte! "Da gibt es doch nichts zu besprechen", entgegnete sie gespielt locker. "Ich habe das Gefühl, dass du vor irgendetwas Angst hast, Abby. Aber wovor nur?" fragte er freundlich. "Ich habe keine Angst", widersprach sie. "Ich frage mich nur, was Madison wohl von all dem halten würde." "Von all dem? Was meinst du damit?" Abby dachte einen Moment nach. "Für einen Außenstehenden hätte es so aussehen können, als sei irgendetwas zwischen uns." "Ist es das denn?" Er schmunzelte. "Jemand, der uns nicht kennt, könnte denken, dass wir nicht nur eine berufliche Verbindung haben. Wir wissen ja, dass es Unsinn ist, aber wäre Madison hier gewesen, was hätte sie dann wohl gedacht?" "Dass wir für unser hohes Alter noch enorm gelenkig sind." "Ach, sei ernst, Nick", sagte Abby, obgleich es ihr gar nicht so vorkam, als scherzte er. "Wenn du eine andere Frau küssen würdest, meinst du nicht, Madison könnte auf die Idee kommen, dass du noch anderweitig interessiert bist?" "Seltsam. Wenn ich meine Mutter oder meine Schwester küsse, denken die nie an so etwas." Ich gehöre also in dieselbe Kategorie wie die Frauen in seiner Familie, überlegte Abby. "Na ja, ich frage mich, wieso Madison nicht mit zur Party gekommen ist. Hast du sie überhaupt eingeladen?" Er zögerte kurz. "Ja." "Ja und?"
"Sie konnte nicht." "Wieso nicht?" "Keine Ahnung. Sie hat auf meine Anrufe nicht reagiert." "Oh, Nick, was ist denn? Hattet ihr etwa Streit miteinander?" "Nicht wirklich. Aber es gab ein Gespräch, und seitdem weicht sie mir aus." "Hört sich danach an, als wollte sie dich verlassen." "Ja, das könnte sein." "Aber wieso? Madison Wainright ist doch intelligent. Sie muss doch erkennen, was für ein guter Mensch du bist." Nick verschränkte die Arme vor der Brust. "Vielleicht gibt es ja einen Grund dafür, dass Madison sich ausklinken will." "Was könnte das denn sein?" "Du." "Sei nicht albern!" "Einige Frauen finden, dass ich passabel aussehe, einigermaßen intelligent bin und Humor habe. Was findest du daran so komisch?" "Ich rede doch nicht von dir! Ich bin diejenige, die nicht in Frage kommt." "Und wer sagt das?" Bevor Abby antworten konnte, schob Sarah jetzt die Balkontür auf und steckte den Kopf heraus. "Kannst du helfen, Nick?" flüsterte sie. "Die Stimmung sinkt wieder. Hast du nicht noch mehr Ideen für Spiele?" "Wir reden später weiter", sagte Nick. "Jetzt muss ich erst mal den Teenys helfen zu feiern." Nick lächelte ihr zu, bevor er hineinging, um die Party zu retten. Eine Woche später ging Nick durch das Restaurant, in dem Abby arbeitete. Es war halb elf vormittags, bis zum mittäglichen Ansturm war es also noch eine Weile hin. Wenn sie viel zu tun hatten, war Abby immer in Bewegung. Sie machte alles, brachte die Gäste zum Tisch, räumte ab, kümmerte sich um jede Kleinigkeit. Jetzt aber war es ruhiger. Wahrscheinlich hatte Nick
unbewusst diese Zeit gewählt, damit sie nicht allzu sehr in Eile war und ein bisschen mit ihm reden konnte. Er hatte Abby seit der Party nicht mehr gesehen und wollte das Gespräch von dem Abend zu Ende führen. Ob Abby seitdem mal an ihn gedacht hatte? Nick hatte den Moment, als es beinahe zu einem Kuss zwischen ihnen gekommen war, nicht vergessen. Außerdem ging ihm ständig durch den Kopf, wie schön ihr blondes Haar draußen im Mondlicht ausgesehen hatte. Er musste daran denken, was Madison gesagt hatte: dass seine Gefühle für Abby offenbar viel mehr als nur beruflicher Natur waren. Hatte er ihr deshalb etwas anvertraut, was er noch niemandem sonst gesagt hatte? Er lächelte, als ihm einfiel, was er gesagt hatte: dass Männer sich vor allem für das interessierten, was sie nicht haben konnten. Er selbst war der beste Beweis dafür. Deshalb wollte er auch das Gespräch mit der zurückhaltenden Abby wieder aufnehmen und nicht durch ihre strenge Arbeitsmoral und den Gästeansturm gestört werden. Vermutlich erledigte Abby gerade Papierkram im Büro. Als er an der Küche vorbei ging, strömten köstliche Düfte heraus. Als er zum Büro im hinteren Teil des Gebäudes kam, hörte er schon von weitem eine ärgerliche Stimme. Es war Sarah. Nach dem Grad ihrer Erregung zu urteilen, war sie nicht gerade in bester Verfassung. "Du sagst immer Nein, ohne zu überlegen!" schimpfte sie. "Ich soll so leben wie du - ohne Freunde, ohne Spaß! Wie eine verbitterte alte Jungfer!" Nick wollte gerade den Raum betreten, als Sarah herausgestürmt kam und mit ihm zusammenstieß. In ihren Augen standen Tränen. "Was ist denn los, Kleines?" "Frag Abby!" rief Sarah wütend. "Ich möchte am Thanksgiving-Wochenende einen Skiausflug in die Berge machen, aber sie sagt Nein, ohne auch nur zu überlegen. Sie sagt
immer Nein! Nie lässt sie mich etwas unternehmen! Hilf mir, Nick." "Wie bist du überhaupt hergekommen und wieso zu dieser Zeit? Hast du keine Schule?" fragte er. Vielleicht hatte Abby gute Gründe, Nein zu sagen, dann wollte er sich lieber nicht einmischen. "Wir haben heute frei. Und wie ich hergekommen bin ..." Sie schaute besorgt über die Schulter zurück und flüsterte: "Sag es ihr bloß nicht, sonst dreht sie durch! Sie glaubt, ich sei mit dem Bus gekommen, aber meine Freundin Stacy hat mich hergebracht. Sie hat letzte Woche ihren Führerschein gemacht." In Sarahs blauen Augen flammte Ärger auf. "Ich darf natürlich nicht Auto fahren lernen!" "Nun reg dich nicht auf, meine Liebe." Nick umarmte sie kurz. "Ich werde mit Abby reden." "Bitte überzeuge sie, Ja zu sagen!" "Ich verspreche nichts, nur, dass ich mit ihr reden werde." Sarah nickte. "Danke, Nick, du rettest mir das Leben! Du bist der Beste." Bevor er ihr sagen konnte, dass sie den Tag nicht vor dem Abend loben solle, war sie schon verschwunden. Gelassen betrat er Abbys Büro. "Hallo, Kumpel." Abby saß am Schreibtisch. Erregt klopfte sie mit einem Stift auf die Tischplatte. "Nenn mich nicht Kumpel! Ein Kumpel wäre nicht zur Gegenseite übergelaufen, du bist ein Verräter." Abby musste wirklich ziemlich außer sich sein, um ihren Chef einen Verräter zu nennen. "Du hast mitgehört?" "Du wirst meine Meinung auch nicht ändern", entgegnete sie statt einer Antwort. "Ich sagte nur, ich würde mit dir reden. Bist du je auf die Idee gekommen, dass ich dir vielleicht beipflichten könnte? Man sollte nicht allzu schnell Schlüsse ziehen. Oder tun die Ridgeway-Schwestern das immer?"
"Sarah möchte für drei volle Tage weg." "Wie unverschämt! Der Kopf gehört ihr abgeschlagen!" "Das ist nicht lustig, Nick." "Also gut. Will sie mit einem Jungen fahren?" Abby sah ihn erschrocken an, "Du liebe Zeit, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen! Sie sagte, die Kirchengruppe veranstalte den Ausflug." "Dann tut sie es vermutlich auch. Ich wollte dich nicht noch mehr beunruhigen." "Sie behauptet, es würden auch Erwachsene mitkommen." "Das erklärt es." "Was meinst du?" "Wieso du Nein gesagt hast." "Ich hätte wissen müssen, dass du ihre Partei ergreifst. Es ist oben in den Bergen, Nick. Was ist, wenn sie es schrecklich findet und nach Hause will? Auf den Straßen könnte Schnee liegen. Sie könnte stürzen und sich verletzen. Sie ist noch nie Ski gelaufen. Was ist, wenn..." "Freunde und Schnee und Skier, du lieber Himmel." "Du bist unmöglich! Auch wenn Sarah das glaubt - ich sage nie Nein, ohne vorher über meine Entscheidung nachgedacht zu haben." Abby drehte den Bleistift in den Händen. "Sie hat dir gegenüber sicher nicht erwähnt, dass ich vorgeschlagen habe, als Aufsichtsperson mitzukommen." "Nein." "Siehst du. Du stellst dich auf ihre Seite, ohne zu hören, was ich zu sagen habe." "Also gut, ich gebe zu, dass ich anfangs auf ihrer Seite war. Was meinte sie denn zu deinem Kompromissvorschlag?" Nick konnte sich das schon vorstellen, wollte es aber von Abby selbst hören. "Ich liebe meine Schwester und möchte nicht, dass ihr etwas zustößt!"
Nick lehnte sich an den Türrahmen. Wenn Abby seinen Fragen weiterhin so auswich, konnte das ja noch dauern. "Ich verstehe. Aber danach habe ich nicht gefragt." Abby seufzte. "Sie sagte, sie bekäme lieber einen riesigen Pickel mitten auf der Nase, als mich als Aufpasserin dabei zu haben." "Es ist doch eine Schande, dass das Mädchen nicht gelernt hat, seine Meinung zu sagen", bemerkte er mitleidig. "Darüber solltest du nicht scherzen, Nick!" "Auch wenn es dich aufregt - ich finde, du solltest mal etwas umdenken, Abby. Früher oder später musst du Sarah ohnehin mehr Freiheit zugestehen. Und wie ginge es besser, als wenn erwachsene Betreuer dabei sind? Ich verstehe deine Ängste überhaupt nicht ganz." Abby stemmte die Ellbogen auf den papierübersäten Schreibtisch. "Dann werde ich dir erklären, was mich beunruhigt", sagte sie mit einem Seufzer. "Die Berge sind mehrere Autostunden entfernt. Es gefällt mir nicht, so weit von Sarah weg zu sein. Was ist, wenn sie mich braucht?" Nick wollte Abby nicht daran erinnern, dass sie doch eigentlich die Tage zählte, bis Sarah aufs College ging. Dann würde sie ohnehin gezwungen sein, die Schwester endlich loszulassen. Er machte sich Gedanken, dass Sarah bald ernsthaft rebellieren würde, wenn Abby ihr nicht etwas mehr Freiraum zugestände. Dann ginge es nicht nur darum, mit einer Freundin herumzufahren, die gerade ihren Führerschein gemacht hatte. Andererseits verstand er Abbys Ängste. Sie hatte beide Eltern verloren, als die sich auf einem Ausflug befanden. Aber das Leben ging weiter. Und man konnte Sarah verstehen. Das musste er Abby jedoch auf diplomatische Weise beibringen. "Du könntest doch die Person anrufen, die das Ganze organisiert, und dich nach Einzelheiten erkundigen."
"Das will ich auch, aber es wird mich nicht vollends beruhigen." "Wohin fahren sie denn?" "In die San Bernardino-Berge, zum Großen Bären." "Ach, da haben wir unsere Hütte." Vielleicht war das die Lösung! "Die könntest du doch für das Wochenende benutzen." Abby sah ihn irritiert an. "Nein, das geht nicht." Hatte Sarah Recht, wenn sie behauptete, dass Abby immer Nein sagte, bevor sie über etwas nachgedacht hatte? "Wieso denn nicht?" Nick blickte auf den Haufen Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. "Ist das der Einsatzplan, an dem du gerade arbeitest?" Als Abby nickte, fuhr er fort: "Dann streich dich schon mal aus." "Das geht nicht, ich ..." "Wenn Sarah damit einverstanden gewesen wäre, dass du als Aufsichtsperson mitkommst, hättest du dir auch freinehmen müssen. Also mach es! Du kannst der Aufsichtsperson ja heimlich sagen, wo du erreichbar bist. Dann bist du beruhigt, und Sarah hat ein bisschen Freiheit. Davon profitiert ihr beide. Und ich ebenfalls: Ich bin dann derjenige, der zwei Frauen glücklich gemacht hat." "Nicht so schnell! Ich kann nichts dafür bezahlen ..." "Wer spricht denn von Geld?" fragte Nick etwas ärgerlich. "Das biete ich dir kostenlos an." "Das geht nicht, du bist mein Chef, und die Leute würden reden." "Davon kann sie ohnehin niemand abhalten." Abby sah wirklich Hindernisse, wo gar keine waren. "Es ist unwichtig, was die Leute sagen, schließlich läuft nichts zwischen uns beiden." Du lügst, sagte seine innere Stimme, aber er überhörte sie. "Ich bin einfach nur ein Freund." "Das hoffe ich", sagte Abby.
Ah, ja? Nick wurde das Gefühl nicht los, dass Abby ihn nicht näher an sich heranlassen wollte. Ihr Kinn war trotzig gereckt, als kämpfe sie einen Kampf. "Sarah und ich wissen deine Freundschaft zu schätzen, darum dürfen wir sie nicht ausnutzen." "Wenn ich es anbiete, nutzt mich niemand aus." "Aber es kommt mir so vor." "Würdest du dich besser fühlen, wenn Luke dir für die nächsten zwei Jahre fünf Dollar pro Woche vom Gehalt abzieht?" "Wenn ich fünf Dollar sparen könnte, würde ich mich besser fühlen, Nick, aber ich kann es nicht." "Dann betrachte es einfach als einen Bonus für meine beste Mitarbeiterin." "Ich nehme keine Geschenke an." Ihr Ton war bestimmt. Nick schüttelte ratlos den Kopf. "Wie bitte? Du arbeitest doch noch bei uns, oder?" "Was hat denn das damit zu tun?" "Ein Bonus für Angestellte ist bei uns durchaus üblich. Zufriedene Mitarbeiter arbeiten produktiver." "Das denkst du dir jetzt aus, oder zumindest verzerrst du die Tatsachen." "Ganz und gar nicht. Bei meiner Pfadfinderehre! Du würdest uns sogar einen Gefallen tun, denn die Hütte wird viel zu wenig benutzt." Das dachte Nick sich allerdings wirklich aus, wie er sich eingestehen musste. "Es muss ohnehin mal jemand nach oben, um nachzuschauen, ob das Dach nicht zusammengefallen ist und ob die Rohre noch dicht sind." "Wirklich?" Abbys Widerstand wankte ein wenig. "Ja, wirklich." "Das wäre für mich natürlich großartig, denn Sarah will unbedingt mitfahren, und ich, würde mich tatsächlich viel besser fühlen, wenn ich in ihrer Nähe wäre." "Dann betrachte es als abgemacht."
"Danke, Nick, ich weiß dies Angebot sehr zu schätzen! Ich rufe Sarah gleich an. Die wird sich wahnsinnig freuen. Sie dürfte bald zu Hause sein." Nick überlegte, ob er Abby sagen sollte, dass Sarah nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren war. Nein, lieber nicht. Aber beim nächsten Mal würde er Sarah dazu bringen, es Abby selbst zu gestehen. Vermutlich war sie noch mit ihrer Freundin unterwegs, und ihre große Schwester würde sich Sorgen machen. Irgendwie wollte er Abby schnell vom Thema ablenken. Wie praktisch, dass er ihr den Grund seines Besuches noch gar nicht erzählt hatte. "Können wir jetzt mal über etwas anderes sprechen? Über das, was beinahe auf der Party passiert ist..."
5. KAPITEL "Was meinst du?" fragte Abby. "Du weißt doch genau, was ich meine." Abby klopfte das Herz. Natürlich wusste sie genau, was er meinte. Er meinte den Moment, als er sie beinahe geküsst hätte. Da sie sonst keinerlei romantische Verabredungen hatte, war es natürlich etwas Besonderes gewesen. Seit jenem Abend hatte sie an kaum etwas anderes denken können! Aber das würde sie Nick niemals gestehen. Er hatte Sarah und ihr immer geholfen. Auch das Angebot, die Familienhütte zu benutzen, damit sie im Notfall in der Nähe ihrer Schwester war, übertraf bei weitem die Freundlichkeit eines zufriedenen Chefs. Nick wollte über den Kuss sprechen, der beinahe stattgefunden hatte, der aber nie wirklich stattfinden würde! Wenn Abby mehr Zeit hätte, wäre es vielleicht anders, aber im Augenblick war es unmöglich. Hoffentlich bemerkte Nick Marchetti nicht, dass ihre Wangen sich bei der Erwähnung der Party leicht gerötet hatten. Über den Abend wollte Abby nicht sprechen! Sie fürchtete, ihr könnte herausrutschen, dass sie den Kuss durchaus gewollt hatte. Abby schaute Nick unverwandt an. Unvermittelt trat er plötzlich auf sie zu und setzte sich vor sie auf die Kante des Schreibtisches. Doch gegen seinen Charme war sie natürlich gefeit, und das würde sie auch immer sein!
Er zog eine Augenbraue hoch. "Du weißt also nicht mehr, was beinahe passiert wäre?" "Du meinst, bei Sarahs Party?" "Natürlich. Du und ich auf dieser Verrenkungsmatte." Er schnippte mit den Fingern. "Erinnerst du dich?" Was würde er bloß sagen, wenn er wusste, dass sie seit jener so intimen Szene ständig daran dachte! "Natürlich", antwortete Abby, als fiele es ihr gerade wieder ein. "Lektion Nummer zwei von ,Frei und ungebunden'. Ich habe ganz vergessen, dir zu danken. Entschuldigung, Herr Professor." "Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich davon spreche, oder?" "Doch. Ich wollte dir noch sagen, wie sehr ich es zu schätzen wusste. Jemand wie ich weiß ja gar nicht, wie es so zwischen Männlein und Weiblein abläuft. Bei mir wird es allerdings noch eine Weile dauern, bevor ich eine aktive Pistengängerin sein werde. Sobald ich einen Auffrischungskursus benötige, werde ich es dich wissen lassen," "Einverstanden." Seine Stimme klang etwas gereizt. "Übrigens ist es gut, dass du da bist, ich habe nämlich die Ideen ausgearbeitet, von denen wir gesprochen haben ..." In diesem Moment klingelte Nicks Funkgerät. Er drückte einen Knopf und schaute auf die Anrufnummer. "Irgendetwas passiert?" fragte Abby. "Muss Superman jemandem zu Hilfe eilen?" "Meine Mutter. Kann ich mal dein Telefon benutzen?" "Selbstverständlich." Er griff nach dem Apparat, der auf dem Schreibtisch stand. Abby rutschte mit dem Stuhl zurück, als wolle sie ihm mehr Bewegungsraum verschaffen, in Wirklichkeit brauchte sie selbst Abstand von ihm. Seine Nähe machte sie nervös. "Hallo Ma, was ist los?" fragte er, als seine Mutter sich meldete.
Abby beobachtete ihn. Sein Ton war scherzhaft und liebevoll, seine Züge drückten Wärme aus. Das Gespräch war nur kurz, und bald legte er wieder auf. "Ich muss gehen", sagte er. "Ich bin mit meiner Mutter zum Mittagessen verabredet. Sie hat mich nur daran erinnert." "Hättest du es sonst vergessen?" staunte Abby. "Nein, aber sie meint, doppelt hält besser. Es könnte bei mir ja etwas dazwischengekommen sein." "Du hast es gut..." bemerkte Abby sehnsuchtsvoll. "Weil bei mir gelegentlich etwas dazwischenkommt?" "Dass du die Möglichkeit hast, Zeit mit deiner Mutter zu verbringen." "Ich vergesse manchmal, dass du die beiden wichtigsten Menschen in deinem Leben verloren hast", entschuldigte Nick sich. "Du vermisst deine Eltern bestimmt noch immer." "Ja, sehr." "Du kannst dir meine mal ausborgen", bot er an. "Dann konzentrieren sie sich nicht so auf meine Brüder und mich. Wir wären gar nicht böse darüber." "Danke, das werde ich mir merken." "Wieso kommst du eigentlich nicht mit zum Mittagessen?" bot Nick ihr spontan an. Wieso lud er sie denn dazu ein? Aus Mitleid vermutlich. Das gefiel Abby nicht besonders, aber dennoch war sie versucht, Ja zu sagen. Allerdings würde sie dann zusehen müssen, wie freundlich Nick mit seiner Mutter umging. In den Frauenzeitschriften stand immer, wenn ein Mann seine Mutter nett behandelte, war er als Ehemann gut geeignet. Aber was sollten diese Gedanken, sie wollte ja noch gar nicht heiraten. Dazu musste sie erst den Richtigen finden. Abby wusste von ihren Eltern, was aus Beziehungen wurde, die zu schnell geknüpft wurden!
"Vielen Dank, aber ich kann leider nicht." Und noch bevor Nick sie zu einer flauen Ausrede zwingen konnte, fragte sie: "Wieso bist du denn nun eigentlich hergekommen?" "Ich wollte mit Rebecca sprechen." Das war die Geschäftsführerin. Also war Nick gar nicht ihretwegen gekommen. Na, um so besser. "Tut mir Leid, Nick, sie ist nicht da." "Ich dachte, sie käme gelegentlich, um sich wieder einzugewöhnen." "Das tut sie auch, aber Mutter und Kind hatten eine schlechte Nacht. Rebecca kommt erst morgen wieder. Soll ich versuchen, sie zu Hause zu erreichen?" Abby nahm schon den Hörer auf. "Nein, stör sie nicht, das kann warten. Ich rufe sie dann morgen an." "Ich werde ihr ausrichten, dass du sie sprechen wolltest." "Danke. Tut mir Leid, dass ich im Moment keine Zeit habe, mit dir über deine Ideen zu sprechen." Er schaute auf seine Armbanduhr. "Vielleicht kommst du mal in mein Büro." "Mache ich." "Nur Donnerstag nicht, der ist schon voller Termine." "Dann bis bald." Sein Lächeln hätte Eis zum Schmelzen gebracht. Und schon war er wieder verschwunden. Abby wollte ihre Pläne wirklich gern mit ihm besprechen. Beim letzten Mal war es richtig lustig gewesen. Sie hätte nie gedacht, dass Arbeit so amüsant sein konnte. Je öfter sie Nick sah, um so mehr Mühe kostete es sie, Abstand zu wahren. Aber schließlich hatte sie sich die Jahre über nicht halb totgearbeitet, um alles wegen eines Ausrutschers auf einer Verrenkungsmatte aufs Spiel zu setzen. Vielleicht hätten sie sich wirklich küssen sollen, dann könnte Abby es einfach abhaken! So aber musste sie dauernd daran denken. Sie musste ihre Beziehung wieder auf eine rein geschäftliche Ebene zurückbringen, Nick wie einen Chef behandeln und
gebührenden Abstand wahren. Das musste doch machbar sein, oder? Am Donnerstagmittag sagte Nick nach einem Telefongespräch mit seiner Mutter alle anberaumten Termine ab und eilte zu Joe ins Büro, um ihn über die Situation zu informieren. Gerade wollte er in den Raum stürmen, als er eine Frauenstimme hörte. "Danke, Joe, genau das brauchte ich." War das nicht Abby? Was machte sie denn im Büro seines Bruders? Und was gab Joe ihr, was sie brauchte? Allein der Satz irritierte ihn. "Gern geschehen", hörte er Joe sagen. "Mach dir keine Sorgen, Abby, es wird schon werden." Wie bitte? Abby hatte Nick gesagt, dass sie gern mit ihm sprechen wolle. Wieso war sie dann hier, obgleich Nick ihr gesagt hatte, dass er am Donnerstag keine Zeit habe? Was machte sie bei seinem Bruder? Das Restaurant, in dem sie arbeitete, war nur wenige Meilen vom Hauptsitz der Firma entfernt. Es wäre also für sie im Grunde sinnvoller gewesen, dorthin zu fahren. "Ich weiß nicht, ob es nützen wird, aber vielen Dank fürs Zuhören" , sagte Abby jetzt. "Ich bin immer für dich zu sprechen, du kannst jederzeit zu mir kommen." Zu lauschen war unter Nicks Würde, also betrat er das Büro. Dort stand sein Bruder - genauso groß und kräftig wie er selbst und hielt Abby gerade in den Armen! So hatte Nick sich nicht mehr gefühlt, seitdem seine Frau ihn wegen ihres Exfreundes verlassen hatte! Die lange verdrängten Gefühle kamen schlagartig wieder hoch. Ausgelöst durch den eigenen Bruder! Joe konnte gut mit Leuten umgehen. Das war äußerst nützlich, da er Direktor der Personalabteilung der Firma Marchetti's Inc. war. Er schaute über Abbys blonden Kopf hinweg und lächelte Nick zu. "Hallo, Bruderherz."
Abby drehte sich um. "Oh, Nick!" Eilig löste sie sich von Joe. Nick fand, dass sie schuldbewusst wirkte. "Hallo, Abby." Er sah Joe aufmerksam an, aber dem war nichts Besonderes anzumerken. Joe hatte viel Erfahrung mit Frauen, im Gegensatz zu Abby, die keine mit Männern hatte. Wenn Joe sich für Abby interessierte, hätte sie keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Allerdings würde Joe das sicher nicht ausnutzen. Oder etwa doch? "Du siehst aus, als hättest du Lust, jemandem den Kopf abzureißen. Was ist los?" "Das wüsste ich auch gern." Abby schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. "Was ist passiert?" Sag mir, was du hier bei meinem Bruder machst, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich heute keine Zeit hätte! In diesem Augenblick wurde Nick einiges bewusst: dass er nicht wollte, dass Abby mit dem unwiderstehlichen Playboy und überzeugten Junggesellen Joe Marchetti allein war und dass sie einen anderen Mann umarmte! Natürlich hatte er nicht das geringste Recht auf solche Wünsche, aber dennoch hatte er dieses beschützende und gleichzeitig besitzergreifende Gefühl Abby gegenüber. Er räusperte sich. "Was machst du denn hier?" Abby sah kurz zu Joe hin. "Rebecca hat den Vierteljahresbericht durchgesehen und sich Sorgen über den Umsatz bei uns gemacht. Wir haben einige meiner Ideen besprochen, da Rebecca der Meinung war, sie könnten vielleicht nützlich sein. Deshalb schickte sie mich hierher." Nick fand das alles recht merkwürdig. Immerhin hatte Abby darüber als Erstes mit ihm gesprochen. Joe lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme. "Sie hat ein paar großartige Vorschläge zu machen, Nick:
Gutscheine für ,Zwei Essen für den Preis von einem', Donnerstage unter dem Motto ,Arm, aber hungrig', und ..." "Einen Familienabend ,So viel man auf einmal essen kann'", beendete Nick den Satz. "Ja. Abby hat dir also schon davon erzählt." "Ja, von einigem." Abby krauste die Stirn. "Du hast heute doch etliche Termine, Nick. Ich habe versucht, Luke zu erreichen, um mit ihm die Zahlen durchzusprechen, aber er ist nicht da. Als Joe mich im Flur sah, war er so nett, mich in sein Büro zu bitten und sich alles anzuhören, inklusive meiner Klagen." Nick musste noch immer daran denken, wie Joe Abby in den Armen gehalten hatte. "Und wozu die Umarmung?" fragte er giftiger als geplant. "Das war rein geschäftlich. Abby ist noch nicht daran gewöhnt, als Geschäftsführerin zu arbeiten", erklärte Joe, "Es ist schrecklich für sie, Angestellte entlassen zu müssen. Ich wollte sie nur ein bisschen trösten." "Ach, ja?" "Allerdings." Joe hatte diesen scheinheiligen Gesichtsausdruck, den Nick schon als Kind nicht gemocht hatte. "Na ja, ich glaube, es hilft nicht viel, im Moment läuft es in der Filiale nicht besonders." So unbehaglich hatte Nick sich seit dem Sommer in Phoenix nicht mehr gefühlt. Dabei hatte das gar nichts mit Abby zu tun. Sie war einfach eine Freundin. Er durfte sich nicht von ein paar Phantasien hinreißen lassen und sich die Zunge verbrennen. Wie konnte er die Situation jetzt bloß retten? Es gab nur eine intelligente Möglichkeit, er musste sich für sein albernes Verhalten entschuldigen, auch wenn er dann einen Moment lang dumm dastand. Dennoch, der Gedanke an eine Verbindung zwischen Abby und Seinem Bruder gefiel Nick überhaupt nicht. Aber vermutlich bildete er sich da etwas ein. Nach den schlechten Erfahrungen, die er mit Beziehungen hatte,
war er wohl nicht mehr in der Lage, eine Situation sachlich zu sehen. "Tut mir Leid, Joe, ich hatte einen anstrengenden Vormittag." "Ich dachte, du hättest verschiedene Termine." "Ich habe sie abgesagt, nachdem Ma anrief. Grandma musste zur Untersuchung ins Krankenhaus." "Ja, das hörte ich schon von deiner Sekretärin. Weiß Dad es schon? Er wollte doch heute zum Golf spielen fahren." "Er ist bei ihnen. Und Luke ebenfalls." Nick schaute Abby an. "Darum hast du ihn auch nicht angetroffen. Alex ist nicht in der Stadt, aber ich habe eine Nachricht bei seiner Sekretärin hinterlassen." "Was ist denn mit eurer Großmutter?" fragte Abby besorgt. "Sie hat starke Schmerzen in der Bauchgegend", erklärte Nick. "Oh, je. Kann ich irgendetwas für euch tun?" "Danke, nein. Ich war gerade auf dem Weg zu ihnen", sagte Joe. "Wieso hast du es mir nicht gesagt?" rügte Abby ihn. "Das hier hätte doch warten können! Dann lasst euch nicht weiter aufhalten, sondern fahrt schnellstens los!" Abby zog Joe zur Tür. Diese vertraute Geste versetzte Nick gleich wieder einen Stich. Und noch etwas irritierte ihn. Auch wenn Abby hatte Luke sprechen wollen, so war sie doch an einem Tag in die Firmenleitung gekommen, an dem Nick theoretisch keine Zeit hatte. Wieso? Versuchte sie, ihm auszuweichen? Irgendetwas hatte sich zwischen ihnen geändert, aber was? Nick bedauerte das, er wünschte sich die alte Kameradschaft zwischen ihnen zurück. "Bin schon auf dem Weg", verkündete Joe, der zur Tür eilte. Wenn Joe irgendetwas vorhatte, wollte Nick darauf vorbereitet sein. "Das letzte Mal, als ich im Krankenhaus war, lag die Kardiologische Abteilung weit weg von der Entbindungsstation."
"Was soll denn das heißen?" fragte Joe fröhlich. Es missfiel Nick an seinem Bruder, dass der fast immer gut gelaunt und locker war. Ihn zu provozieren war schwierig. "Du scheinst ja unbedingt ins Krankenhaus zu wollen. Hat das vielleicht etwas mit der Krankenschwester zu tun, die du kennen gelernt hast, als Rosie ihr Baby bekam?" Joe grinste. "Ganz und gar nicht." "Na, dann kümmere dich mal um unsere Familie." Joe lächelte spöttisch. "Wird gemacht, Bruderherz. Soll ich auf dich warten?" "Nein. Ich hole noch meinen Wagen und komme in ein paar Minuten nach." "Okay", sagte Joe. "Noch mal, Abby, deine Vorschläge gefallen mir. Dafür verdienst du einen Zulage. Aber ich bin nur fürs Personal zuständig und nicht für den Umsatz." Er machte eine Kopfbewegung zu Nick hin. "Über eine Gehaltserhöhung redest du besser mit meinem Bruder." Abby hielt es für einen schlechten Zeitpunkt, jetzt über so etwas zu sprechen, denn Nick sah aus wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. In all den Jahren, die sie ihn kannte, hatte sie ihn zwar auch mal verärgert und gereizt erlebt, aber noch nie so finster. Hing das etwa damit zusammen, dass sie Joe Marchetti umarmt hatte? Der war für sie doch wie ein großer Bruder! Da Nick heute offenbar keine Zeit hatte, würde sie sich später an Luke wenden. Das war schon deshalb eine gute Entscheidung, weil Nick sie allein durch sein gutes Aussehen von der Arbeit ablenken konnte. Er trug schwarze Hosen und ein blütenweißes Hemd, dessen Ärmel aufgerollt waren, so dass seine kräftigen Arme mit den dunklen Härchen zu sehen waren. Seine Krawatte mit einem Muster in Pastellfarben war leicht gelockert. "Deine Krawatte gefällt mir", sagte Abby. Kaum war ihr das herausgerutscht, bereute sie die Bemerkung auch schon. Sie war wieder mal viel zu persönlich!
Nick sah an sich herunter. "Danke. Die hat Madison mir geschenkt." Ein ziemlich intimes Geschenk und sichtlich teuer. So etwas hätte Abby ihm nie kaufen können. "Tut mir Leid, jetzt ist kein guter Zeitpunkt für eine Besprechung, du musst ins Krankenhaus fahren, und ich ..." "Geh noch nicht", bat Nick und setzte sich auf die Kante von Joes Schreibtisch. Er wirkte so durcheinander, dass Abby trotz aller Vorsätze das Bedürfnis hatte, ihn in die Arme zu nehmen. "Du magst deine Großmutter sehr, nicht wahr?" "Ja, wir alle. Aber Luke ist ihr Liebling." "Wie kommt das? Du bist doch der Älteste." "Ja, schon, aber zwischen Luke und ihr gibt es eine besondere Verbindung." "Ich habe meine Großeltern nie kennen gelernt", berichtet Abby. "Niemanden von ihnen?" "Nein, sie lebten in einem anderen Bundesstaat, und wir besuchten sie nie. Und dann waren sie - einer nach dem anderen - gestorben." "Wie traurig. Es ist eine besondere Beziehung, die auch Verantwortung bedeutet." Das ist wieder mal ganz Nick, dachte Abby gerührt. Sie hätte gern länger mit ihm gesprochen, wusste aber, dass sie besser gehen sollte. Sie schaute auf die Uhr. "Oh, je, es ist schon spät, ich muss zurück zur Arbeit. Und du ..." "Warte noch, Abby", unterbrach Nick sie. "Wir können ja ein andermal über die Arbeit sprechen." "Es geht um etwas anderes. Als meine Mutter und ich neulich zusammen beim Essen waren, bat sie mich, dich und Sarah zu Thanksgiving einzuladen." "Wirklich? Wieso denn das?"
"Dein Name wurde erwähnt, und da kam Ma auf die Idee, dich zu uns einzuladen." "Wieso wurde mein Name denn erwähnt?" "Ach, einfach so. Also, was meinst du dazu?" Abby wunderte sich, wieso Nick und seine Mutter wohl über sie gesprochen hatten. Gleichzeitig freute sie sich sehr, dass Sarah und sie an dem Feiertag dann nicht allein sein würden. Andererseits, wieso fragte Nick sie überhaupt? Er hätte seiner Mutter doch sagen können, dass die Einladung von einem Chef an eine seiner Angestellten unpassend war. Oder hatte er etwa Mitleid mit ihr und ihrer Schwester? Ein grässlicher Gedanke! Abby schwieg so lange, dass Nick schließlich fragte: "Oder habt ihr schon andere Pläne?" "Nein", erklärte Abby ehrlich. Aber sofort hätte sie sich auf die Zunge beißen mögen. Hätte sie ihren Mund nicht zwei Sekunden länger halten können? Nick war sichtlich zufrieden. "Gut. Dann sage ich Mutter also, dass ihr beide kommt." "Ich habe die Einladung noch nicht angenommen." Nick runzelte die Stirn. "Soll ich ihr sagen, dass ihr lieber allein bleibt als mit uns zu essen?" "Bloß nicht! Das meine ich nicht." "Aber so habe ich es verstanden." "Dann solltest du mal dein Gehör untersuchen lassen." Als Abby klar wurde, was sie da gerade gesagt hatte, erschrak sie. Neulich war sie schon mal ziemlich frech gewesen, und nun das! Sie holte tief Luft. "So habe ich es nicht gemeint." "Könntest du mir dann mal erklären, was du meinst?" Abby war verlegen. "Was sagt denn Madison dazu, wenn wir bei euch eingeladen sind?" "Sie hat kein Stimmrecht." Darüber hatte Abby sich nicht freuen dürfen, aber tief in ihrem Inneren jubelte es. "Wieso das?"
"Madison und ich haben uns getrennt. Ich dachte, ich hätte es dir schon gesagt." "Du sagtest, dass ihr ein Gespräch hattet. Ich wusste nicht, dass es schon beschlossene Sache ist." Wenn Nick weiterhin solche Bomben losließ, würde Abby noch einen Herzinfarkt bekommen! Neulich in ihrem Büro hatte er Andeutungen gemacht, aber nicht gesagt, dass sie sich richtig getrennt hätten. "War das ein gemeinsamer Entschluss?" "Nein, es war ihre Idee." "Das tut mir Leid, Nick." Nach dem Desaster, das er mit seiner Frau erlebt hatte, musste das noch zusätzlich Salz in der Wunde sein. "Denk daran: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Du hast es ja schon einmal erlebt und sozusagen Routine darin. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich fände, Madison und du, ihr passt nicht zusammen. Aber ich will natürlich nicht, dass sie dir wehtut. Ihr werdet das schon wieder hinkriegen." "Mir geht es gut, Abby." "Wirklich?" "Ja, wirklich. Meine Mutter mag Madison sehr, sie hat es schwerer genommen als ich." "Hoffentlich war das nicht der Grund, warum mein Name beim Mittagessen aufgetaucht ist", bemerkte Abby ängstlich. "Doch, es war in dem Zusammenhang." Macht man mich etwa für die Trennung verantwortlich? dachte Abby entsetzt. Zwischen Nick und ihr war doch nichts, sie hatten eine rein freundschaftliche Beziehung. "Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll." "Meine Mutter wird es schon verwinden. Also sagst du nun für Thanksgiving zu? Du hast ja schon erklärt, dass ihr keine anderen Pläne habt. Ma wäre beleidigt, wenn ihr nicht kämt." Wenn das stimmte, denn bedeutete es, dass Mrs. Marchetti sie nicht für das verantwortlich machte, was zwischen Madison und ihrem Sohn lief. "Möchte sie uns wirklich dabeihaben?"
"Natürlich, sonst hätte sie euch doch nicht eingeladen. Das wirst du merken, wenn du mal an einem Fest bei uns teilgenommen hast." "Und was ist mit eurer Großmutter?" "Wir drücken alle die Daumen, dass es nichts Ernstes ist. Bis dahin leben wir weiter wie gehabt. Ich freue mich übrigens auch, wenn ihr kommt." Abby fühlte sich, als stünde sie an einer Klippe und hätte schon einen Fuß in der Luft. Noch konnte sie zurücktreten. Andernfalls riskierte sie, hinunterzustürzen. Wenn Nick noch mit Madison zusammen wäre, liefe sie weniger Gefahr. Andererseits war die Trennung Madisons Idee gewesen, also hatte Nick sicher noch Gefühle für sie und Abbys Rolle würde harmlos sein. In der großen Familie würde sie ohnehin nicht besonders auffallen. "Also, was ist, kommt ihr?" Abby lächelte. "Ja, gern."
6. KAPITEL Florence Marchetti präsidierte charmant am Kopfende der Tafel, während ihr Mann Tom ihr am anderen Ende gegenübersaß. Abby fand, dass es der schönste Feiertag war, den sie je erlebt hatte. Die Marchettis hatten die Ridgeway-Schwestern von Anfang an wie Familienmitglieder behandelt. Nick war bester Laune und benahm sich wie der Freund, der er immer gewesen war, so dass Abby alles ganz entspannt genießen konnte. Flo schaute der Reihe nach alle an und lächelte besonders den beiden weiblichen Gästen zu. "Meine Lieben, jetzt kommt der Moment an Thanksgiving, wo jeder von uns erklären soll, wofür er dankbar ist." "Und nun alle", stimmte Nick an, und alle Geschwister stöhnten im Chor. Abby musste lachen. Sie saß rechts von Mrs. Marchetti, die von Joe und Luke eingerahmt war, die Großmutter auf der anderen Seite. Sarah saß neben der alten Dame direkt gegenüber von Alex. Nick hatte seinen Vater neben sich und Rosie, deren Ehemann Steve und das sechs Monate alte Baby Stephanie auf der anderen Seite. Die Blumen, das Silber, die Kristallgläser sowie das feine Porzellan auf der italienischen Spitzendecke sahen einfach wundervoll aus. Abby genoss es, hier Gast zu sein. Eine so große Familie, alle an einem Tisch, und sie gehörte dazu! Es war
ein bisschen wie im Märchen. Doch selbst Aschenputtel musste keine Rede darüber halten, wie dankbar sie für alles war! So hatte eben jedes Märchen seinen Preis. Gleich käme Abby an die Reihe, und alle würden darauf lauern, was sie wohl Witziges, Originelles von sich geben würde ... Wenn kein Wunder geschah, hatte sie nicht die geringste Chance, es zu umgehen. "Flo, du fängst an", sagte jetzt gerade Tom am anderen Ende des Tisches. "Vielen Dank, mein Lieber. Also, ich bin vor allem dankbar für meine gesunde Familie." Ihr Blick fiel auf ihre Enkelin und blieb dann auf ihrer Schwiegermutter harten. "Ich bin froh, dass Grandmas Untersuchung nichts Schwerwiegendes ergeben hat. Und ich freue mich sehr, dass Sarah und Abby heute bei uns sind und damit den Männerüberschuss etwas ausgleichen." "Amen", fügte Rosie hinzu. "Steve und ich haben unseren Teil dazu beigetragen, indem wir ein weibliches Baby bekommen haben. Der Rest von euch lässt sich damit ja noch Zeit." Rosie schaute ihre vier älteren Brüder an. "Was hält euch eigentlich zurück, Jungs?" "Nichts", meinte Luke. "Das hieße ja, dass wir überhaupt planen, Kinder in die Welt zu setzen. Schwierige Sache, wenn man, wie wir Brüder alle, überzeugter Junggeselle ist." Er sah sich um. "Stimmt doch, oder?" Joe nickte. "Wir heiraten auf keinen Fall. Falls ich es doch tue, und das ist ein dickes 'Falls', dann bekomme ich garantiert nur Jungs." "Als wenn man das bestimmen könnte!" höhnte Rosie. "Lass es nicht drauf ankommen, Schwesterherz", warnte Joe, "du könntest die Wette verlieren." "Ich weiß, wer das Geschlecht eines Babys bestimmt", erklärte Rosie fest. "Ich rede vom Heiraten." Joe schaute sie ungläubig an. "Du glaubst also, ich könnte mich nicht gegen eine Frau zur Wehr setzen, die unbedingt heiraten will?"
Rosie lachte. "Ich glaube, du würdest augenblicklich umfallen, wenn die Richtige käme. Also tu nicht so, als könntest du eine romantische Situation kontrollieren." Abby war froh, dass diese kleine Auseinandersetzung es ihr ersparte, eine Thanksgiving-Rede zu halten. Außerdem gab es ihr Gelegenheit, die Marchetti-Männer zu beobachten. Nick, der gerade ein saftiges Stück Putenbraten mit Soße vertilgte, sah von den vier Brüdern eindeutig am Besten aus, fand sie. Und außerdem war er sehr männlich. Joe und Alex hatten den gleichen dunklen Teint. Lukes Haare waren etwas heller. Er war der Einzige mit blauen Augen. Das war ihr bislang nie aufgefallen. "Die Marchetti-Männer kontrollieren alles. Und zu jeder Zeit", behauptete Alex, "inklusive ihrer möglichen Ehen." "Richtig, Bruderherz", pflichtete Joe ihm bei. "Und dazu sage ich gleich: Ich bin dankbar dafür, nicht verheiratet zu sein." "Sag das nicht, bevor du es nicht ausprobiert hast", wandte Steve ein, Rosies Ehemann. Mit seinem dunkelblonden Haar und den blauen Augen war er eine attraktive Ergänzung zu seiner Frau, die eine wilde schwarze Lockenmähne und braune Augen hatte. "Rosie hat sicher von dir verlangt, dass du das sagst", meinte Alex. "Das stimmt nicht!" Rosie blickte ihn zornig an und hob eine Rassel auf, die ihre Tochter hatte runterfallen lassen. "Nein, das hat sie nicht verlangt", verteidigte Steve seine Frau. "Rosie zu heiraten und mit ihr ein Baby zu bekommen war das Beste, was ich bislang in meinem Leben getan habe." "Stephanie ist das hübscheste Baby in der Welt", fand auch Sarah. "Ganz richtig", meinte Joe. "Pech für dich, dass du meine Schwester dazu brauchtest."
"Ohne Rosie wäre ich nichts", erklärte Steve aufrichtig. Er sah seine Frau dabei so liebevoll an, dass Abby es sogar am anderen Ende der Tafel mitbekam. "Danke, Schatz." Rosie beugte sich vor und küsste ihren Mann auf die Wange. "Es ist ja kein Geheimnis, dass ich schon für dich schwärmte, als ich noch ein kleines Mädchen war." Auf einmal kam Abby ins Denken. Dieses junge verliebte Paar zu sehen weckte versteckte Sehnsüchte in ihr. Würde sie wohl auch jemals einen solchen Mann finden? Na ja, sobald sie dazu Zeit hätte, sich umzuschauen ... "Jetzt wird es sentimental", fand Joe. "Finde ich auch", stimmte Alex zu. "Hey, Nick", rief Luke, "du bist ja so ruhig! Heißt das, du lässt dich, was die Ehe angeht, weich klopfen? Gibst du womöglich bald deine Verlobung mit Madison bekannt?" Nick schaute Abby vom anderen Ende der Tafel her an. "Nein. Madison hat sich von mir getrennt. Sie glaubt, ich interessiere mich für Abby." Abby spürte schlagartig elf Augenpaare auf sich. Nur Baby Stephanie betrachtete ihre winzigen Finger. Eine ZehnsekundenAnsprache wäre leichter gewesen. "Nick erwähnte es mir gegenüber", sagte Flo. "Und Madison liegt meistens ziemlich richtig." "Diesmal nicht", erklärte Abby. Sie erinnerte sich daran, wie Nick ihr erzählt hatte, dass seine Mutter Madison sehr mochte und über die Trennung enttäuscht war. "Außerdem glaube ich, dass sie sich wieder vertragen werden, es ist bestimmt nur eine Trennung auf Zeit." "Interessant", meinte Luke. "Sie ist schön und intelligent und hat eine Figur, die ..." "Vorsicht, Luke", warnte die Mutter, "wir haben einen unerfahrenen Teenager unter uns."
"Danke, Mrs. Marchetti", ergriff Sarah jetzt das Wort, "aber ich habe schon Schlimmeres gehört. Highschool-Jungs sind ziemlich derbe." "Austin ebenfalls?" hakte Nick nach. "Der ist anders", meinte Sarah, die verlegen auf ihren Teller sah. "Wir haben das Thema gewechselt", sagte Luke. "Wessen Idee war die Trennung denn?" Der Ton, in dem er das fragte und wie er seinen älteren Bruder ansah, weckte Abbys Aufmerksamkeit. Seine blauen Augen blitzten. "Ihre", erklärte Nick. "Dann hatte sie sicher ihre Gründe", warf Tom Marchetti ein. "Um auf das zurückzukommen, wofür wir dankbar sind", sagte Nick, der das Thema offensichtlich wechseln wollte, "ich bin ebenfalls dankbar dafür, nicht verheiratet zu sein." "Genau wie ich", wiederholte Joe. "Und ich genauso ", fügte Alex hinzu. "Ich war nie verheiratet und werde es nie sein", erklärte Luke überzeugt. Flo Marchetti schaute, sichtlich erstaunt über ihre Söhne, am Tisch herum. Dann blieb ihr Blick an Nick hängen. "Dafür bist du ja wohl verantwortlich." "Ich? Wieso?" "Du bist der Älteste und damit der Anführer. Du hast die Weichen gestellt und bestimmt etwas getan oder gesagt, was deine Brüder dazu gebracht hat, die Institution Ehe so abzulehnen." "Das ist doch Unsinn, Ma", widersprach Nick schmunzelnd. "Gib nicht Nick die Schuld", verlangte Joe. Es gefiel Abby, wie er seinem Bruder zu Hilfe kam. "Wir sind schließlich keine Schafe." Er sah kurz zu Rosie hin, die einen blökenden Laut von sich gab. "Wir lassen uns nicht beeinflussen, sondern entscheiden selbst."
"Ganz richtig", fand auch Nick. "Ach, weißt du, Flo", mischte Tom Marchetti sich ein, "das geht uns doch eigentlich gar nichts an. Wenn die Jungs dafür reif sind und die Zeit kommt, werden sie sich auch verheiraten. So etwas sollte man nicht forcieren." Flo lächelte ihrem Mann zu. "Du hast Recht, mein Lieber, aber ich bin doch ein bisschen besorgt darüber, wie viel Zeit sie sich lassen. Schließlich werde ich nicht jünger und hätte gern noch mehr Enkelkinder. Ich wundere mich nur über diese Einstellung. Wie kommt ihr denn alle darauf, dass die Ehe etwas so Schlechtes ist?" Flo schaute der Reihe nach ihre Söhne an. "Es gibt ein Sprichwort..." "Beurteile niemals jemanden, bis du eine Meile in seinen Schuhen gegangen bist!" riefen Nick, Joe, Alex, Luke und Rosie im Chor. "Anscheinend habe ich das schon ein oder zwei Mal gesagt, aber ich dachte, ihr hört mir nie zu", sagte Flo deutlich amüsiert. "Außer Rosie und Steve ist schließlich keiner eurer Schuhe jemals zum Altar geschritten. Wie könnt ihr also wissen, ob eine Ehe etwas so Katastrophales ist?" "Sie beschneidet einem Mann die Flügel", meinte Joe schulterzuckend. "Warst du denn je verheiratet?" fragte Flo zurück. "Natürlich nicht, aber ..." "Dann rede auch nicht so." Sie schaute Alex und Luke an. "Und ihr beiden?" "Nein, aber..." "Dann habt ihr keine Ahnung." Sie fixierte ihren Ältesten mit einem Blick, den zu ignorieren unmöglich war. "Nick?" Abby war überrascht. Sie wussten doch sicher alle von Nicks Ehe! Wieso sprach seine Mutter so betont von etwas, das ihrem Sohn so viel Kummer gemacht hatte?
Während das Schweigen sich ausdehnte, verengten sich Flos Augen. "Du hast so einen Blick, Nick." "Was soll ich für einen Blick haben?" fragte Nick. "Seit du ein kleiner Junge warst, hast du immer so ein Gesicht gemacht, wenn du etwas ausgefressen hattest." "Du siehst Gespenster, Ma", Nick zuckte mit den Schultern. Flo schüttelte den Kopf. "Ich kann es nicht erklären, so etwas weiß eine Mutter einfach. Wie kannst du die Ehe so absolut verurteilen, wenn du nie verheiratet warst?" Nick schaute erst seine Mutter und dann seinen Vater an, der ihn ebenfalls aufmerksam beobachtete. Dann sah er zu Abby und sagte: "Ich denke, es wird Zeit, euch zu gestehen, dass ich verheiratet war." Tiefes Schweigen senkte sich über die Tafel. Niemand sagte ein Wort. Alle starrten Nick an. Die schockierten Gesichter der gesamten Familie sagten Abby, dass wirklich niemand von ihnen etwas davon gewusst hatte. Was bedeutete es wohl, dass Nick es ihr verraten hatte? Du liebe Zeit, was hieß denn das? Das unheimliche Schweigen wurde immer bedrückender. Schließlich räusperte sich Flo. Ganz leise fragte sie: "Warum hast du uns das nicht gesagt, Nick?" "Weil es nichts ist, auf das ich stolz bin. Wie du schon sagtest: Ich bin der Älteste und setze sozusagen den Standard." "Aber wir sind doch eine Familie", wandte sein Vater ein. Nick findet diese Situation bestimmt entsetzlich, dachte Abby voll Mitleid. Sie sah, wie angespannt sein Gesicht wirkte. Nachdenklich nahm seine Mutter einen Schluck Wein. "Es ist wohl in dem Sommer passiert, als du in Phoenix warst." "Ja. Sie war schwanger." Rosie stöhnte überrascht auf. "Von dir?" fragte Tom Marchetti sachlich. "Nein. Der Vater des Kindes hatte sie verlassen. Ich mochte sie sehr, darum machte ich ihr einen Heiratsantrag. Ich wollte mich um sie und um das Baby kümmern. Und sie sagte Ja."
"Und was ist dann passiert?" fragte Joe, dem man den Schock ansah. "Der Mistkerl kam zurück. Er hatte es sich anders überlegt." "Und die Frau ebenso?" Flo schaute zornig drein wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt. Abby konnte sich genau vorstellen, wie seine Mutter fühlte. Und als sie den unglücklichen Augenausdruck bei Nick sah, hätte sie ihn am liebsten selbst in die Arme genommen und getröstet. Nick seufzte. "Ja, sie nahm ihn zurück. Sie sagte, sie liebe ihn, es sei das Beste, wenn er sein Kind aufziehen würde, und erwirkte eine Annullierung." "Aber wieso hast du uns nichts davon erzählt?" fragte Rosie empört. "Ich begreife nicht, wie du uns etwas so Wichtiges verschweigen konntest!" Dem kann ich mich anschließen, dachte Abby. "Hör mal", Steve, der normalerweise wenig Gefühle zeigte, war ebenfalls sichtlich mitgenommen, "du hast nie ein Wort gesagt!" Nick fuhr sich mit der Hand durchs Haar. "Es war eine Dummheit und nichts, worauf ich stolz sein konnte. Ich hielt es für besser, diese Demütigung für mich zu behalten." Das war es wohl nicht, dachte Abby, denn ein Feigling war Nick wirklich nicht. Man hatte ihn schrecklich ausgenutzt. Sie schaute sich um: Alle wirkten auf dieselbe Art betroffen. Nick hatte seiner Familie Kummer ersparen wollen und deshalb geschwiegen. Aber nun begriff er, dass es ein Fehler gewesen war, den nur er wieder gutmachen konnte. Wie schrecklich musste es für ihn gewesen sein, seine verletzten Gefühle zu verheimlichen! "Kein Wunder, dass du jetzt überzeugter Junggeselle bist", meinte Luke. "Erst die Frau in Phoenix und nun Madison. Es steht null zu zwei für dich, Bruderherz."
Das klang zwar lustig, aber Abby ahnte, dass es für einen Scherz noch zu früh war. Und sie wurde darin bestätigt, denn Nick schaute seinen Bruder ernst an und stand auf. "Ich glaube, ich brauche etwas frische Luft. Ihr könnt euch ja weiter unterhalten." Auf dem Bürgersteig vor dem Haus seiner Eltern atmete Nick erst ein Mal tief durch. In der Abenddämmerung wurde der Novemberwind bereits empfindlich kühl. In der Luft lag eine lastende Feuchtigkeit, die den kommenden Regen ahnen ließ. Nachdem Nick auf dem "heißen Stuhl" seiner Familie gesessen hatte, tat ihm die Kälte gut. Endlich war die Katze aus dem Sack. Er fühlte sich einerseits erleichtert, andererseits auch beschämt. Aber insgesamt besser als erwartet. Schon nachdem er es Abby als Erster gesagt hatte, hatte er sich besser gefühlt. Die Eingangstür öffnete sich. Das war sicher entweder seine Mutter oder seine Schwester, die ihn trösten wollte, vermutete Nick. Merkwürdigerweise war er gar nicht verzweifelt. Er war nur nach draußen gegangen, weil er keine Lust mehr hatte, über seine Ehe zu reden, während die anderen sich bestimmt noch weiter drüber unterhalten wollten. Er hörte Schritte hinter sich auf dem Asphalt, dann nahm er einen vertrauten Geruch wahr. Abby. Und erwartungsvoll klopfte ihm das Herz. Wie stark er körperlich auf sie reagierte! Allmählich beunruhigte ihn das. Gerade hatte er die größte Dummheit seines Lebens überwunden, da wollte er nicht gleich wieder in so etwas hineingeraten! Abby stellte sich neben ihn. Der kalte Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie trug schwarze Hosen und einen weichen dunkelblauen Pullover, dessen Farbe das feine saphirblau ihrer Augen verstärkte. "Du hattest es deiner Familie nicht gesagt, Nick", sagte sie weich, aber voller Vorwurf.
"Es hätte ihnen nur Kummer bereitet, und sie hätten nichts tun können." "Das verstehe ich." "Ich gelte als das Glückskind in der Familie und wollte kein Mitleid haben." "Das habe ich mir schon gedacht." Wieso kannte Abby ihn eigentlich so gut? Nick betrachtete nachdenklich ihr Gesicht. "Meine Blamage ist vollständig, jetzt wissen es alle." Abby begann auf und ab zu gehen. "Es gibt keinen Grund für dich, das zu bedauern. Deine Frau hat einen Preis für ihre Dummheit verdient, einen so tollen Mann wie dich auszuschlagen. Soll sie doch der Teufel holen! Du warst bereit, dich wie ein Vater um ihr Kind zu kümmern, und sie hat dich wegen eines Mannes, der das Letzte zu sein scheint, einfach verlassen." Abby machte wieder ein paar Schritte, dann blieb sie stehen und schaute Nick empört an. Nick wunderte sich. Schon als er ihr diese Blitzehe gestanden hatte, hatte sie sehr verständnisvoll reagiert. Es gefiel ihm, dass sie seinetwegen zornig war. Und wie hübsch sie aussah, wenn sie wütend war! Am liebsten hätte er sie geküsst... Lass das sein! ermahnte Nick sich, das wäre ein Riesenfehler! Abby ging wieder hin und her, schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin. Was wohl in ihr vorging. Fasziniert beobachtete Nick sie. Aber schließlich konnte er seine Frage nicht mehr zurückhalten. "Wieso bist du eigentlich so ärgerlich?" "Weil ich genau weiß, wie schwer es dir gefallen ist, es ihnen zu sagen." Sie blieb stehen und legte ihm die Hand auf den Arm. "Dank deiner war es nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte", gestand Nick. Tatsächlich hatte sie ihm sogar geholfen. Nur seiner Nachtruhe nicht, denn seit dem Beinahe-Kuss musste er dauernd an Abby denken. Wie würde sie sich anfühlen? Wie
schmecken? Würde sie seine Küsse mit der Leidenschaft erwidern, die er unter ihrer beherrschten Oberfläche vermutete? Davon träumte er. Aber das würde er ihr niemals sagen! "Wieso dank meiner?" Abby trat einen Sehritt zurück. "Weil du mir zugehört hast, als ich das Bedürfnis hatte, es dir zu erzählen." In Abbys Blick mischten sich Besorgnis und Zorn. "Versuch nicht abzulenken, wenn ich auf dich wütend bin, Nick Marchetti!" "Wieso? Was habe ich denn gemacht?" "Es geht um das, was du nicht gemacht hast", sagte sie. "Wieso in aller Welt hast du deiner Familie etwas so Wichtiges wie deine Ehe verschwiegen? Und deiner Freundin ebenfalls." Sie runzelte die Stirn. "Hör mal, Abby..." "Nein, du hörst jetzt zu. Was bedeutet das, Nick? Alle lieben dich, also hatten sie das Recht, es zu wissen. Dazu ist eine Familie da. Sie hält zusammen." "Und man macht sich Gedanken um einander. Das habe ich getan - ich habe versucht, sie zu schützen." "Das gehört mit zu den vielen Dingen, die ich vermisse: einen Angehörigen zu haben, zu dem man gehen kann, wenn es einem schlecht geht", sagte Abby nachdenklich. "Du hast doch mich! Du brauchst nur das große M für Marchetti zu wählen." "Du hast das große Glück, Eltern zu haben, drei Brüder und eine Schwester, und hast ihnen keine Gelegenheit gegeben, für dich da zu sein, als du sie gebraucht hättest." "Sie hätten nichts tun können, also wollte ich ihnen, wie ich schon sagte, ersparen, sich um mich Sorgen machen zu müssen." "Und deshalb hast du es ihnen verschwiegen. Und hast sie glauben lassen, dass du ein egoistischer Idiot bist, der aus irgendeinem Grund gegen die Ehe ist."
"Ich habe es ja nicht absichtlich verschwiegen, sondern es vorgezogen, ihnen die unangenehmen Details zu ersparen. Wirfst du mir das vor?" "Ja!" Abby fröstelte und verschränkte die Arme. "Wie heißt sie eigentlich?" fragte sie plötzlich. Nick verstand nicht. "Wer?" "Deine Exfrau. Du hast nie ihren Namen genannt." Nick atmete hörbar aus. "Margaret." Ihren Namen laut zu sagen brachte einen Schwall dunkler Erinnerungen mit sich. Schwarze Haare und dunkle Augen, ein launisches Temperament, das er anfangs für Leidenschaft gehalten hatte. Er wusste noch gut, was ihm das für Kummer eingebracht hatte. Seine Wangenmuskeln waren sichtlich angespannt. "Ich habe ihr alles gegeben, Abby, aber es war nicht genug. Ich weiß, dass du das nicht verstehen wirst und es vielleicht komisch klingt, aber eine Scheidung wäre besser gewesen als eine Annullierung." Abby berührte ihn nicht, sie sah ihn nur an, aber es war wie ein Streicheln. "Ich hasse sie für das, was sie dir angetan hat. Nick. Und obendrein ist es ihr zu verdanken, dass deine Familie den Schmerz mit dir nicht teilen konnte." Nick hatte sein stilles Leid eher als eigene Bestrafung gesehen. Ihm gefiel der Gedanke, seiner Familie das alles erspart zu haben. Aus einem Grund, den er nicht recht verstand, hatte es ihm allerdings auch gefallen, sein Geheimnis mit Abby zu teilen. Mit Abby, seiner besten Freundin. Einer, die ihn verstand. Auch wenn ihre Reaktion nun unangemessen heftig war. "Was irritiert dich wirklich, Abby?" "Das sagte ich doch schon. Ich finde es egoistisch, dass du alles für dich behalten hast." Nick schüttelte den Kopf. "Nein, es steckt mehr dahinter. Irgendetwas nagt doch an dir." "Wie kommst du darauf?"
"Du verhältst dich seltsam. So, als wenn es etwas Persönliches wäre. Ich habe doch nichts anderes getan, als mit dir etwas aus meiner Vergangenheit zu teilen. Viele Menschen würden das als Kompliment werten. Also raus damit, was ist los?" "Du hast dieses Geheimnis die ganze Zeit für dich behalten. Kein Wort, keine Andeutung denen gegenüber gemacht, die dir am nächsten stehen." "Ja, und?" "Wieso hast du es dann mir erzählt?"
7. KAPITEL "Dir erzählt? Ich verstehe deine Frage nicht." "Du bist intelligenter als der Durchschnitt, Nick, darauf musst du schon selbst kommen." Schon wieder hat das ein bisschen frech geklungen, dachte Abby erschrocken. Und Nick spürte offenbar, dass es um etwas Persönliches ging. Ein solches Geheimnis mit jemandem zu teilen setzte schließlich voraus, dass man sich ziemlich vertraut war! Ein gefährlicher Gedanke, über den Abby auf keinen Fall mit Nick sprechen würde. Wenn sie das Gesagte doch nur rückgängig machen könnte ... Sie ging auf und ab, dann blieb sie erneut stehen. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen gewesen, dass er sie küssen wollte, deshalb war ihr dieser Satz wahrscheinlich herausgeplatzt. Es war gleichzeitig beängstigend und schön. Anstatt klar zu denken, reagierte sie als Frau. Und die Grenze zwischen Arbeitsbeziehung, Freundschaft und etwas Gefühlvollerem war so undeutlich, dass Abby nicht mehr wusste, wo sie sich befand. Was sollte sie nur tun? Am Besten nichts. "Komm schon, Abby, du kannst so etwas nicht einfach sagen und dann nicht erklären, was du damit meinst." "Wieso verstehst du es nicht, Nick? Ich möchte nicht zu deiner Niederlage Nummer drei werden!"
Nick schaute Abby verwirrt an. "Also nun begreife ich gar nichts mehr." Am liebsten wäre Abby davongelaufen. Vielleicht wäre es das Beste, denn sie wünschte sich gleichzeitig nichts Sehnlicheres, als dass er sie küsste! Ihr Gefühl sagte ihr das eine, aber ihr Verstand etwas ganz anderes. Wenn Nick sie küssen sollte, hätte sie nicht die Kraft, ihn daran zu hindern, das stand fest. Wenn sie ihn jedoch nicht hinderte, war das Unglück programmiert. Außerdem hatte Nick Recht, sie schuldete ihm eine Erklärung. "Es ist, wie Luke sagte: erst Margaret, dann Madison. Es steht für dich null zu zwei. Und ich möchte nicht die dritte .Pleite in deinem Leben werden." "Sieh es doch positiv, dein Name fängt nicht mit einem M an." "Mach darüber keine Witze, Nick, ich meine es ernst." "Also gut. Was willst du mir denn nun eigentlich sagen?" Abby hob die Hände. "Ich kann es nicht glauben, dass ich es aussprechen muss!" "Worüber regst du dich bloß so auf?" "Die Tatsache, dass du mir dieses Geheimnis anvertraut hast, ohne es deiner Familie zu sagen, legt nahe, dass unsere Beziehung ziemlich eng ist!" Nick kratzte sich am Kopf. "Ja, und?" Eine kalte Brise ließ Abby erschauern. Komisch, vor wenigen Minuten war ihr ganz heiß gewesen. Nick legte ihr den Arm um die Schultern. "Du holst dir noch den Tod." "Wir sollten wieder reingehen." Und obwohl Nick sie nicht losließ, fügte Abby sich ohne Protest. "Nicht so schnell, Mädchen. Wir müssen noch darüber reden. Und irgendwie ahne ich, dass du das nicht vor all den Marchettis da drinnen tun möchtest. Ich habe meine Familie sehr lieb, aber..."
"Du hast Recht." Abby kuschelte sich an seine warme Schulter. Das würde sie nur dieses eine Mal tun. Vielleicht tat es auch ihm gut. Sie hatte seit gut fünf Jahren niemanden mehr, der sie mal in den Arm nahm. Es fühlte sich wunderbar an und war so, wie nach Hause zu kommen. Lange hatte sie sich nicht mehr so geborgen gefühlt. "Also, leg los, Abby." "Na gut, ich sage dir, wie ich es sehe. Wenn man eine solche Bombe loslässt, wie du es gerade getan hast, in einem Moment, in dem alle sagen sollen, wofür sie dankbar sind, geschieht das meistens nur in einer bestimmten Umgebung, bei Menschen, die einem nahe stehen." "So war es auch bei mir. Du bist schließlich eine gute Freundin." "Stimmt, aber eigentlich hätte deine Mutter es als Erste erfahren müssen." "Oh, nein. Vor dem Zorn von Florence Evelyn Marchetti wäre Margaret in keiner Ecke der Welt sicher gewesen. Und vergiss nicht: Margaret war schwanger." "Damit scherzt man nicht, Nick." "Wer scherzt denn? Meine Mutter hätte sie auseinander genommen!" Abby spürte an seiner Brust, dass er leise lachte. "Also gut, dann eben ein guter Freund oder deine Schwester, oder einer deiner Brüder - immerhin hast du drei zur Auswahl! Jedenfalls nicht ich." "Warum nicht du?" "Wo soll ich bloß anfangen?" Abby seufzte. "Ich werde nicht zulassen, dass du alles verdrehst. Ein Trauma entwickelt sich oft langsam. Du hast einen riesigen Schritt gemacht und bist damit zu mir gekommen. Aber ich habe Angst, dass du unrealistische Erwartungen hast." "Aha? Ich stimme dir nicht zu, möchte aber verstehen, worauf du hinaus willst."
"Nirgends, das ist es ja. Ich habe keine Zeit für eine Beziehung und möchte keine haben. Gleichzeitig möchte ich nicht, dass du noch einmal verletzt wirst." "Schlag Nummer drei?" Der Ton, in dem er das sagte, deutete darauf hin, dass er das Ganze eher unterhaltsam fand. "Genau. Und hör auf, dich über mich lustig zu machen." "Niemals!" Er drückte sie enger an sich, und erstaunlicherweise - ließ Abby es zu. Ja, sie genoss es sogar. "Um es klarzustellen", er legte das Kinn auf ihren Kopf, "könnte man sagen, dass ich etwas für dich empfinde." "Lass das, Nick!" warnte Abby. "Was denn?" fragte er unschuldig. Marchetti, der Manipulierer, war wieder am Werk. "Nick, ich schulde dir mehr, als ich dir je zurückgeben kann, und ich möchte unsere Freundschaft nicht gefährden." "Erklär mir doch mal, was du mit »gefährden' meinst." "Margaret und Madison." Es war schwer, aber Abby löste sich aus der angenehmen Umarmung. "Erstens arbeite ich für dich, und zweitens möchte ich nicht, dass dir jemals wieder wehgetan wird." "Wieso sollte das denn passieren?" "Schon dadurch, dass ich mich derzeit nicht in der Lage fühle, eine Beziehung zu führen." "Was braucht man denn Besonderes dazu?" "Zeit. Außerdem bin ich darin völlig ungeübt. Vielleicht glaubst du, meine Phantasie geht mit mir durch. Aber du willst mir doch nicht weismachen, dass man einem wildfremden Menschen seine intimsten Geheimnisse anvertraut." Er schob die Hände in die Hosentaschen. "Nein, das will ich nicht." "Also gut. Dann lass mich dich an etwas erinnern, das du anscheinend vergessen hast. Die Sache mit Madison ist noch nicht zu Ende. Das wollte ich Luke noch sagen, bevor ich hinausgegangen bin. Der Gedanke, dass ihr, du und Madison,
euch wieder vertragen könntet, schien ihm nicht zu gefallen." Abby holte Luft. "Aber immerhin könnte es ja sein, dass ihr wieder zusammenkommt." "Ziemlich unwahrscheinlich." "Sie ist eine tolle Frau, Nick. Dir könnte wirklich Schlimmeres passieren." "Das habe ich ja erlebt." "Sag mal, sprichst du wirklich ernst mit mir?" "Durchaus! Aber du vergisst eins: Die Tatsache, dass ich über die Vergangenheit lachen kann, ist ein Zeichen dafür, dass sie nicht mehr schmerzvoll für mich ist. Indem ich dir davon erzählt habe, es laut ausgesprochen habe, hat sich alles irgendwie verflüchtigt. Das war wie die Generalprobe dafür, es meiner Familie zu beichten, und hat alles leichter gemacht. Und ich meine es ganz ernst, wenn ich dir sage, dass das eine Menge mit dir zu tun hat. Dafür möchte ich dir danken." "Danken? Mir?" fragte Abby ungläubig. "Ja, weil du mir zugehört hast und auf meiner Seite warst. Weil du lauter nette Dinge dazu zu sagen hattest. Ich kam mir auf einmal nicht mehr so dumm vor. Es war, als hielte ich die Luft an, weil ich wusste, dass gleich etwas kommt, was schrecklich wehtut. Das habe ich eine ganze Zeit lang gemacht. Schließlich ließ ich das Gefühl zu und stellte fest, dass es nicht mehr so schmerzte wie vorher." "Es freut mich, dass ich dir helfen konnte, aber das ändert nichts an der Situation, die ich ein für alle Mal klären möchte. Ich bin noch nicht so weit, eine Zweierbeziehung einzugehen. Irgendwann bestimmt, aber noch kann ich es nicht." "Keine Sorge, Abby. Was ich besonders an dir schätze, ist deine Offenheit, deine Freundschaft. Darum habe ich mich dir auch anvertraut. Niemand spricht von einer romantischen Verbindung." "Wirklich?"
Nick wollte noch mehr sagen, aber Abbys Blick hielt ihn davon ab. Sie hatte ja Recht, es gab etwas zwischen ihnen. Sonst hätte er ihr nichts von Margaret erzählt. Abby würde es nie zugeben, aber dieser Blick sagte Nick, dass sie von ihm geküsst werden wollte! Gleichzeitig wusste er, dass es höchst unklug wäre, eine Beziehung mit einer Frau einzugehen, die sich so entschieden dagegen aussprach! Mit Margaret hatte es damals so schnell angefangen, weil er sich sofort in sie verliebt hatte - und weil sie einen triftigen Grund dafür hatte, eine neue Beziehung zu haben. Die ganze Sache entwickelte sich dann zu einer totalen Katastrophe. Einen derartigen Fehler wollte Nick nicht wiederholen! Außerdem verliebte er sich nie allmählich in jemanden, ihn traf es meistens wie ein Blitz. Solange das nicht wieder passierte, wollte er auf jeden Fall Single bleiben. "Ich möchte genauso wenig wie du eine feste Beziehung, Abby. Wir sind gute Freunde, nicht mehr. Auf unsere Freundschaft", sagte er und streckte ihr die Hand hin. Abby lächelte, als sie ihre kühle Hand in seine legte. "Ich bin froh, dass du es verstehst. Unsere Freundschaft möchte ich auf keinen Fall verlieren!" Ihre Hand war eiskalt. "Ich schlage vor, wir gehen wieder hinein, bevor wir beide zu Eiszapfen erstarren." "Vorher möchte ich dir noch für etwas danken." Würde Abby sich mit einem Kuss bedanken, so wie er es sich kurz vorher gewünscht hatte? Der Gedanke war schneller da, als er ihn verdrängen konnte. Unwillkürlich klopfte ihm das Herz. "Wofür?" "Dafür, dass deine plötzliche Enthüllung mich davor bewahrt hat, eine Thanksgiving-Rede zu halten." "Gern geschehen", sagte er mit einem Blick zum immer dunkler werdenden Himmel, während er versuchte, seine zärtlichen Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. "Ich
werde dir noch ein zweites Mal helfen, indem ich dafür sorge, dass du ins Haus kommst, bevor es anfängt zu regnen." Nick musste unbedingt etwas Abstand zwischen Abby und sich bringen, sonst würde weit Bedenklicheres passieren, als nur ein bisschen nass zu werden ... Abby ließ sich von Nick ins Haus begleiten, löste aber die Hand aus seiner, sobald sie das Esszimmer betraten. Sie wollte der Familie keinen Anlass für Gerüchte geben, zumal es ja keinerlei Grund dafür gab. Dennoch hörten alle auf zu sprechen, sobald sie in der Tür standen, und starrten sie an. Offenbar hatten sie noch immer über Nicks Geständnis gesprochen. Abby schaute Nick an, als erwartete sie, dass er irgendetwas tun oder sagen würde. "Ich werde euch noch Folgendes sagen", erklärte Nick, "aber das Thema damit auch beenden. Das, was mir in Phoenix passiert ist, ist vorbei. Ich möchte es einfach vergessen. Ich hoffe, ihr versteht das." Im Raum war zustimmendes Gemurmel zu hören. Nick war zufrieden. "Gut. Abby, dann iss du erst mal zu Ende." Abby würde keinen Bissen mehr herunterbringen, war aber dankbar, sich setzen zu können und nicht mehr in Nicks unmittelbarer Nähe zu sein. Rosie stand auf, ging zu ihrem großen Bruder und legte die Arme fest um ihn. "Hast du es wirklich überwunden, Nick?" "Ja, danke, Schwesterchen." "Weißt du, das, was du für diese undankbare Zicke tun wolltest, war sehr, sehr toll. Aber hört man jemals auf, sich um andere kümmern zu wollen?" Er küsste sie auf die Wange. "Das hört sich ja plötzlich ganz anders an als früher! Ich erinnere mich an eine Zeit, als du stets wütend warst, wenn ich mich einmischte."
"Nur weil du zu sehr den großen Bruder herausgekehrt hast, der sich um die kleine Schwester kümmert. Aber eigentlich warst du immer mein Held." Diese Bemerkung wurde mit einem Schwall von Kommentaren, Gelächter und Stöhnen der Marchetti-Familie bedacht. "Und was ist mit mir?" beklagte sich Steve, der beleidigt tat. "Du bist mein Ritter in glänzender Rüstung", sagte Rosie lächelnd. Abby beneidete Nicks Schwester. Sie hatte einen wunderbaren Mann und vier Brüder, die sich jederzeit um sie kümmern würden. Ganz abgesehen von Mutter und Vater, die sich offenbar großartig miteinander verstanden. Abby fragte sich, wie es wohl war, wenn man in einer so starken und eng miteinander verbundenen Familie aufwuchs. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wie es war, nicht alles allein entscheiden zu müssen. "Aber wirklich, Nick", sagte sein Vater, "du hättest uns das doch alles erzählen können!" "Ich weiß, Dad, aber ich wollte euch das Gefühl ersparen, nichts tun zu können. Der Rest ist weniger edel. Ich wollte einfach nicht, dass ihr Zeugen meiner Blamage wurdet." "Du und blamiert?" meinte Joe überrascht. "Das war bestimmt das erste Mal in deinem Leben. Ehrlich gesagt, sind wir froh, dass auch du ein menschliches Wesen mit Schwächen bist. Das nächste Mal erzählst du uns gefälligst alles, damit wir ein bisschen Salz in deine Wunden streuen können, solange sie noch frisch sind." Nick lachte. "Das Gefühl kann ich gut verstehen!" Er schaute alle der Reihe nach an. "Können wir nun die Tafel aufheben?" "Ja, wir sind fertig", erklärte die Mutter. "Abbys und dein Essen ist ohnehin ganz kalt geworden." Sie nahm Abbys Teller hoch. "Lass mich das eben aufwärmen,"
"Und was ist mit mir, Ma?" scherzte Nick, der sich wieder neben seinen Vater setzte. "Du verdienst nichts anderes, nachdem du etwas so Wichtiges für dich behalten hast." Nicks Mutter schüttelte den Kopf, aber Abby konnte sehen, dass sie nicht wirklich böse war. Sie war wie eine Glucke, die über ihrer Brut wachte, aber durchaus wusste, dass es ihrem Sohn jetzt wieder gut ging. Nachdem alle erneut Platz genommen hatten, stand Rosie auf. "Um wieder auf das zurückzukommen, wofür wir dankbar sind, ich habe euch ebenfalls ein Geheimnis anzuvertrauen." "Ich weiß nicht, ob mein altes Herz noch so einen Schock verträgt", meinte Tom Marchetti scherzhaft. Seine Tochter lächelte. "Es ist etwas Positives." Sie strahlte ihren Mann an und legte ihm den Arm um die Taille. "Wir bekommen wieder ein Baby." Flo sprang von ihrem Stuhl auf, lief um den Tisch herum und umarmte ihre Tochter. "Das ist ja wunderbar! Wie weit bist du denn?" "Im dritten Monat." "Und dann sagst du es uns erst jetzt?" meinte Joe. Rosie runzelte die Stirn. "Die Schwangerschaft war am Anfang etwas gefährdet, deshalb wollte ich lieber noch nichts verraten." "Und nun?" fragte die Mutter besorgt. Steve lächelte Rosie an. "Der Arzt sagt, wir brauchten uns jetzt keine Sorgen mehr zu machen." Er klopfte ihr zart auf den Bauch. "Wir sind aus der Gefahrenzone heraus." Nun kamen alle Brüder an und gratulierten den beiden herzlich. Abby fand, dass Nick einen sehnsüchtigen Ausdruck hatte und dass auch Joe Marchetti besonders liebevoll mit seiner Schwester umging, ihren noch ganz flachen Bauch tätschelte und mit dem darin heranwachsenden Kind sprach. Flo Marchetti hatte völlig Recht, ihre Söhne sehnten sich insgeheim alle nach
einer eigenen Familie, und es war widersinnig, dass sie noch Junggesellen waren. Normalerweise fand Abby es langweilig, abzuwaschen, aber dieses Mal, zusammen mit Flo und Rosie, war es ausgesprochen lustig. Nick stand in der Gegend herum und dirigierte die ganze Aktion. Einer nach dem anderen kamen alle Brüder herein, aber sobald sie Gefahr liefen, mit zur "Frauenarbeit" herangezogen zu werden, verschwanden sie wieder, um lieber ein Footballspiel im Fernsehen anzusehen. Sarah kümmerte sich inzwischen um die kleine Stephanie, so dass Rosie sich ein bisschen ausruhen konnte. Als sie gerade die Reste des Truthahnbratens in eine Schüssel füllte, meinte Nick: "Die ist doch viel zu groß dafür, Rosie." "Wie bitte? Wenn du hier nur herumstehst und meckerst, kannst du es ja selbst machen." "Ich bin nur perfekt darin, Sachen zu verstauen, besonders wenn der Kühlschrank schon voll ist." "Ach, du weißt immer alles besser", meinte Rosie. "Wie hältst du das nur aus, Abby?" "Na ja, mit Mühe!" Ich halte es leider weit besser mit Nick aus, als es gut tut, dachte Abby besorgt. "Hey, ich denke, ich bin dein Held!" rief er Rosie zu, als sie gerade ein Geschirrtuch nach ihm warf. "Das bist du auch, aber es sollte dir nicht zu Kopf steigen." "Wieso, bin ich etwa nicht mehr dein Ritter in glänzender Rüstung?" Rosie schüttelte übertrieben stark den Kopf. "Dafür gibt es bestimmte Regeln. Erst musst du zum weißen Ritter erwählt werden, und dann kommt die Heldenhalle." Abby war noch nie auf die Idee gekommen, in solchen Begriffen zu denken. Aber eigentlich kam Nick diesem Rang schon ziemlich nahe... Er warf Abby einen heißen Blick zu. "Du musst mir helfen. Ich habe doch noch etwas gut bei dir, oder? Sag Rosie, wie ich
Sarahs Geburtstagsparty vor dem totalen Absturz gerettet habe. Du kannst sie doch nicht mit meiner Degradierung davonkommen lassen." "Stimmt, das hast du geschafft. Und doch, das werde ich tun." Ihre doppelte Antwort bewirkte Gelächter und Zustimmung bei den weiblichen Mitgliedern der Familie. Abby stand mit einem Geschirrtuch in der Hand neben Nicks Mutter, die die Teile abwusch, die nicht in den Geschirrspüler passten. Sie nahm jetzt eine Kristallschüssel entgegen, die Flo ihr reichte. "Ma", sagte Nick plötzlich, "wirst du uns jemals erzählen, was es mit dieser Schüssel auf sich hat?" Seine Mutter schaute über die Schulter zurück. "Das ist ein Geheimnis streng unter Verschluss. Im Augenblick brauchst du es nicht zu erfahren." Nick lächelte. "Ah, ja, diese Antwort habe ich schon mal gehört." "Vergiss es nicht", riet Rosie. Nachdenklich fragte sie ihren Bruder dann: "Ganz im Ernst, Nick, geht es dir wieder gut?" Er seufzte. "Abby, erklär du es." "Nick hat schon darüber Scherze gemacht, also denke ich, dass er es gefühlsmäßig überwunden hat." "Das freut mich. Trotzdem kann ich noch immer nicht verstehen, dass du es die ganze Zeit für dich behalten hast", meinte Rosie. "Das stimmt nicht ganz, ich habe es Abby erzählt." "Ach!" machten Rosie und Flo wie aus einem Munde. "Ja. Schließlich sind wir gute Freunde." "Aber auch nur das", betonte Abby. Bestimmt hatte Nick es Madison ebenfalls anvertraut. "Ich weiß, nur ..." Seine Mutter sprach nicht weiter, aber ihr Blick war bedeutsam. Nick schien weiter nichts sagen zu wollen, so dass Abby hektisch nach einem Thema suchte, um seine Mitteilung nicht
allzu schwer wiegend im Raum stehen zu lassen. " Wisst ihr schon, dass Nick mir angeboten hat, eure Berghütte zu benutzen, wenn Sarah dort oben zum Skilaufen ist?" "Nein", sagte Flo, die Nick fragend anschaute. "Tut mir Leid, Ma", er zuckte mit den Schultern, "das habe ich vergessen zu erwähnen." "Ich hoffe, das ist euch recht, oder?" meinte Abby. "Natürlich", erklärte seine Mutter schnell. "Die Berghütte", meinte Rosie träumerisch. "Da haben Steve und ich uns ineinander verliebt, weißt du noch, Nick?" "Ich weiß noch, dass ich euch beide dort im Bett überrascht habe, noch bevor ihr verheiratet wart." Rosie kicherte. "Ich wollte, ich hätte ein Foto von dem Gesicht, das du gemacht hast." "Sehr witzig. Ich dachte damals, mein bester Freund nutzt die Gelegenheit, meine Schwester zu verführen." "Und ich hätte dich am liebsten erwürgt, weil du unsere Flitterwochen unterbrochen hast. Wir hatten damals noch so einiges miteinander zu klären." "Das habt ihr ja inzwischen getan." Flo lächelte ihrer Tochter zu. "Aber die Zeit in der Hütte hat euch zweifellos einander näher gebracht. Und nun erwartet ihr euer zweites Kind. Dort scheint wirklich Liebe gesät zu werden. Euer Vater und ich haben die Hütte auch immer als einen romantischen Ort gesehen." Abby fühlte sich unbehaglich bei der Richtung, die das Gespräch nahm. "Nicks Idee war für mich die Rettung. Sarah fährt nämlich mit der Kirchengruppe in die Berge, und ich wollte es ihr erst nicht erlauben, weil ich mir große Sorgen machte. Nick meinte, es würde mich beruhigen, in ihrer Nähe zu sein." "Sehr fürsorglich, großmütiger Ritter", scherzte Rosie. "Aber anscheinend hast du es nicht zu Ende gedacht", sagte Flo zu Nick. "Wenn du deine Brüder nicht auch informierst,
müsste Abby damit rechnen, dass einer von ihnen dort auftaucht." "Womit muss Abby rechnen?" fragte Joe, der im Türrahmen erschien. "Was macht Abby?" fragte auch Luke. "Gut, dass ihr alle da seid", sagte Flo. "Nick überlässt Abby fürs Wochenende die Berghütte." "Prima", sagte Joe. "Luke und ich hatten auch schon vor, hinzufahren. Was ist mit dir, Alex?" "Ich war schon seit drei Monaten nicht dort." "Dann sollten wir alle zusammen fahren. Was meinst du dazu, Abby?" fragte Joe. Abby lächelte. "Da die Hütte euch gehört, kann ich ja wohl nicht Nein sagen." "Das solltest du aber." Nicks Ton klang eine Spur schärfer, als ihm bewusst war. Abby wunderte sich. Joe schnitt sich noch ein Stück Kürbistorte ab und setzte sich seinem Bruder gegenüber an den Tisch. "Was ist mit dir los, Nick?" "Es geht darum, dass Abby sich nie frei nimmt. Und wenn sie es dann endlich tut, sollte sie sich den Platz nicht auch noch mit einem Haufen Jungs wie euch teilen müssen, finde ich." "Ach, das macht mir nichts aus", erklärte Abby. "Das sagst du jetzt", warf Nick ein. "Aber was ist, wenn ..." "Es fängt an zu regnen." Flo schaute aus dem Fenster über der Spüle. "Abby, Liebe, hast du einen Wagen mit Vierradantrieb?" "Nein." "Schneeketten?" fragte Joe. "Nein, wieso?" Nick schaute besorgt drein. "Wenn es hier regnet, dann schneit es in den Bergen." Abby stammte aus dem warmen Kalifornien und hatte nie einen Fuß in die Berge gesetzt, geschweige denn Schnee erlebt.
Darum verstand sie auch nicht, wieso die Marchettis alle so beunruhigt waren. "Vielleicht sollte Sarah den Ausflug lieber absagen." "Na, viel Glück dabei", sagte Nick. "Ist es denn gefährlich zu fahren?" wollte Abby wissen. "Nicht, wenn man darauf vorbereitet ist", beruhigte Alex sie. "Also ist klar, was zu tun ist", meinte Flo. Nick kratzte sich den Kopf. "Daran habe ich gar nicht gedacht." "Das zeigt, dass du nicht nachgedacht hast", sagte Rosie. "Ich weiß, was Ma sagen will." "Dann erklär es mir", sagte Abby. "Wenn es nicht geht, bleiben Sarah und ich eben zu Hause." "Nein, meine Liebe, das wird nicht nötig sein. Nick nimmt den Jeep seines Vaters und bringt dich zur Hütte", entschied Flo. "Das muss er nicht", sagte Abby erschrocken. "Ich bin sicher, dass ich es allein schaffe, wenn ich vorsichtig fahre." Rosie lächelte. "Steve, Stephanie und ich könnten ja mitkommen, dann bist du nicht allein mit den anderen." Nick schien die Idee zu gefallen. "Wir waren schon lange nicht mehr alle zusammen dort, das ist eine prima Idee." Eine blöde Idee, dachte Abby. Dann musste sie schon wieder mit Nick zusammen sein! Wie sollte sie da bei ihrer mühsam gewonnenen Neutralität bleiben? "Nein", protestierte sie, "es wäre mir unangenehm, wenn du mich extra hinfahren würdest." "Das ist doch Unsinn, Abby." Flo reichte ihr einen Kupfertopf zum Abtrocknen. "Nick arbeitet ohnehin zu viel. Er braucht mal ein bisschen Zeit, um auszuspannen, und das ist ein guter Anlass. Du würdest der ganzen Familie einen Gefallen tun! Bitte erlaube es, dass er dich in die Hütte fährt." "Meine Güte, Ma, bin ich wirklich so schlimm?" fragte Nick grinsend. "In einem Wort: ja", antwortete sie.
Abby wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Immerhin war es ja nicht ihre Hütte. Und Nick würde ohnehin dafür sorgen, dass sie sicher dorthin gelangte. Sie durfte allerdings nicht vergessen, was seine Schwester und seine Mutter erzählt hatten. Der Ort war wie geschaffen für romantische Begegnungen ... "Also, was sagst du, Abby?" fragte Nick. Was konnte sie unter den erwartungsvollen Blicken aller Marchettis schon sagen? "Also gut, und vielen Dank."
8. KAPITEL "Na ja, nicht gerade die eindrucksvollste Hütte, die ich je gesehen habe." Abby rieb sich das Kinn, als sie das wundervoll in den Bergen gelegene Haus und die lange, hölzerne Treppe, die hinaufführte, betrachtete. "Nein?" Nick stand so dicht neben ihr, dass ihr ganz heiß wurde. Eine Meisterleistung, dachte sie im Stillen. Aber das würde sie für sich behalten, um Nick nicht auch noch zu ermutigen. Allmählich war sie wirklich verunsichert. Sie spürte bei ihm zunehmende Nervosität. Hoffentlich hatte sein Verhalten nichts mit ihr zu tun! Sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie Nicks dritter Reinfall würde! "Na, wenn du meine Behauptung glaubst, dass ich nicht beeindruckt bin, kann ich dich wahrscheinlich davon überzeugen, dass Schweine fliegen können." Abby lächelte. "Ich habe noch nie eine solche Berghütte gesehen, Nick. Und ich finde sie umwerfend." "Warte, bis du drinnen bist." Er ging zum Heck des Schneemobils. Sein Atem war in einem Wölkchen vor seinem Gesicht zu sehen, so kalt war es. Er schaute zum grauen Himmel hinauf. "Wir sollten uns beeilen, bevor es erneut schneit. Glücklicherweise war es bei er bei der Herfahrt nicht so schlimm."
"Ja, gut." Das sagte sich so leicht, aber Abby dachte besorgt daran, dass sie in dem Haus mit Nick ganz allein sein würde. Eigentlich hatte sie die ganze Situation seiner Mutter zu verdanken. Sollte sie nun dafür dankbar sein oder Flo verfluchen? Wenn die nicht alle so entschieden hätten, hätte Abby versucht, trotz der vereisten Straßen allein herzufahren. Aber nun waren sie zusammen hier. Weit weg von allen und allem. Ohne Telefon, Fax und ohne andere Dinge, die Nick ablenken würden. Die Vorstellung erregte und ängstigte sie zugleich. Nick nahm das Gepäck vom Wagen. Als Abby ihre Tasche herausholte, berührten sie sich aus Versehen, und sofort knisterte es zwischen ihnen. "Ich nehme sie", erklärte er. Abby musste daran denken, wie seine Schwester sich über ihn lustig gemacht hatte. Und daran, dass sie mit Nick ja nur so lange allein bleiben würde, bis der Rest der Familie einträfe. Dabei empfand sie sowohl Erleichterung als auch eine leichte Enttäuschung. Drei ganze Tage allein mit Nick, du lieber Himmel! Egal, sie würde sich entspannen und das Beste aus der Situation machen. "Meine Tasche brauchst du nicht zu tragen, Nick, das kann ich wirklich selbst", sagte Abby. "Ich weiß." Er wies auf die Treppe. "Aber es ist noch ein langer Weg bis nach oben. Und die Luft hier oben ist dünner, als du es gewohnt bist, du wirst schon sehen." "Komm, Nick du hast schon die lange Fahrt hinter dir. Es ist sicher ziemlich anstrengend, auf den vereisten Straßen zu fahren." "Nicht so schlimm. Außerdem: Dort, wo ich herkomme, verhalten sich Männer Frauen gegenüber ritterlich."
Abby nahm ihre Tasche hoch. "Sie ist gar nicht schwer." Insgeheim dachte sie, dass die Frau, die Nick eines Tages erobern würde, sich wirklich glücklich schätzen konnte. "Ist mir schon aufgefallen. Die Frauen, die ich kenne, packen immer Berge für einen einzigen Tag ein. Bist du sicher, dass du alles hast, was du brauchst?" Er schaute auf ihre Schuhe. "Die sind bestimmt nicht warm genug." "Ich habe noch ein paar lederne Turnschuhe dabei." "Die sind besser, aber ..." Eine eiskalte Böe traf Abby, und Nick sah, dass sie sofort fröstelte. "Komm mit, lass uns ins Haus gehen." "Nichts dagegen einzuwenden." Auf der Treppe ging ihr schnell die Luft aus. Ihre Brust fühlte sich richtig eng an. Nick hatte nicht übertrieben, als er von der Wirkung der Höhe gesprochen hatte. Oben angekommen, schloss er die Tür auf und ging als Erster ins Haus. Abby betrat nach Nick das Wohnzimmer. Sie staunte über den halbrunden Kamin und die geschmackvolle Einrichtung. An der Seite standen ein Sofa und verschiedene Sessel in warmen Farbtönen sowie rustikale Tische. Obgleich das Haus ja nur ein Feriendomizil war, wirkte es, als sei es von einem Innenarchitekten eingerichtet. "Donnerwetter, Spaghetti scheinen wirklich ganz schön viel einzubringen." Nick lachte. "Heißt es, dass es dir gefällt?" "Allerdings!" "Im Augenblick ist es ein bisschen dunkel hier drinnen." Obgleich es noch nicht einmal Mittag war, kam kaum Licht herein, da dicke Wolken die Sonne verdeckten. "Aber keine Angst, du bist ja nicht allein." Nick stellte seine Tasche ab und knipste eine Lampe an. "Wow!" rief Abby staunend aus. "Schon im Dunkeln gefiel es mir, aber jetzt ... Unglaublich. Machst du einen Rundgang mit mir?"
"Dein Wunsch ist mir Befehl." Abby folgte Nick durchs Erdgeschoss, wo sich ein großes Schlafzimmer mit elegantem Bad samt Whirlpool und goldenen Armaturen befand, mit Einbauschränken und einer großen Terrassentür. Im oberen Stock gab es vier kleinere Zimmer und ein größeres mit Billardtisch und Dart-Brett. Klar, dass die Marchettis hier Spaß hatten. "In welchem Zimmer möchtest du schlafen?" erkundigte Nick sich. Abby fiel wieder ein, dass die Marchettis auch noch an anderen Dingen Spaß hatten, an häuslichem "Sport", an MannFrau-Spielen... "Wem gehört denn welches Zimmer? Ich möchte nicht gern Schneewittchen spielen und jemandem sein Bett wegnehmen, zumal deine Brüder ja wohl noch kommen." Nick dachte einen Moment nach. "Mom und Dad bleiben mit Grandma zu Hause. Falls Rosie und Steve kommen, nehmen die das große Zimmer unten, schon damit sie auch Platz für Stephanie haben." Er wies den Flur hinunter. "Da hinten ist Rosies altes Zimmer, vielleicht nimmst du das." "Joe, Alex und Luke hätten nichts dagegen?" "Nein, ihnen ist es ohnehin zu mädchenhaft eingerichtet." "Also gut." "Ich nehme das daneben." Sollte Abby schnell noch ihre Meinung ändern, ohne dass es albern wirkte? "Wenn die Zwerge herkommen, können sie sich darüber streiten, wer zu zweit in einem Zimmer schlafen muss. "Also gut, wenn du meinst." Drei Tage mit einem Emotionenspiegel, der dicht an der Gefahrengrenze lag. Was für Aussichten! Dennoch war Abby neugierig darauf, was es wohl bedeuten mochte, eine Zeit lang mit Nick allein zu sein. Wäre sie anders gestrickt gewesen, hätte sie sich einfach auf eine Affäre eingelassen, sie genossen und
ihm dann ohne weiteres den Rücken gekehrt. Aber das mochte sie ihm schon deshalb nicht antun, weil er bereits einige schlechte Erfahrungen gemacht hatte. "Vielleicht packst du schon mal deine Tasche aus", schlug Nick vor. "Könnten wir uns nicht lieber erst danach erkundigen, ob die Kinder heil angekommen sind?" "Kein Problem. Ich muss nur erst unten das Telefon anschließen, dann kannst du anrufen." "Ich mag dich kaum fragen, aber könnten wir nicht direkt zu dem Gästehaus fahren und nachfragen? Ich weiß, ich übertreibe es mit meiner Sorge. Ich nerve dich bestimmt damit und so, aber die Straßen sind so glatt, und ich ..." Abby erwartete schon, dass Nick lachen und sie für albern halten würde, aber das tat er nicht. "Ich würde Sarah gern persönlich sehen, wie sie läuft und redet und kichert und gesund und munter ist." "Das verstehe ich." Nick, der Wunderbare, machte sich über ihre Bitte nicht lustig. Wenn das so weiterging, konnte es sein, dass Abby ihr Herz an ihn verlor ... Nick und Abby saßen in dem Cafe des Gästehauses und warteten auf den Bus mit den Jugendlichen. "Was ist, wenn etwas passiert ist?" fragte sie zum x-ten Mal in einer halben Stunde. "Rede das Unglück nicht herbei, Abby." "Aber es schneit immer stärker, und die Straßen sind glatt. Sie sind schon vor uns losgefahren und müssten längst da sein!" "Wie ich dir schon sagte, fahren die Busse viel langsamer, als wir es tun konnten. Du hast mir doch erzählt, dass sie irgendwo Halt machen und frühstücken wollten, oder?" Abby nickte. "So stand es jedenfalls auf dem Plan." "Dann könnten sie locker zwei Stunden nach uns ankommen. "
"Oh, Nick, ich halte es nicht länger aus." Abby presste ihre Hände um den Kaffeebecher. "Ich hätte es nie zulassen dürfen, dass meine Schwester mit auf diese Fahrt geht." Nick dachte daran, dass er nicht wusste, was es hieß, allein für jemanden verantwortlich zu sein. Er liebte seine kleine Nichte, aber er war nicht vierundzwanzig Stunden für sie verantwortlich und konnte sich nicht recht vorstellen, was für Ängste das bedeuten konnte. Aber man musste .das Unglück ja auch nicht herbeireden, und Abbys Bedenken kamen ihm wirklich etwas übertrieben vor. Er schaute sie an. Das blonde Haar war hinter die Ohren gestrichen, ihre blauen Augen wirkten dunkler als sonst. Ihre vollen Lippen - die er beinahe geküsst hatte - waren aufeinandergepresst. Wenn sie ihre Schwester nicht endlich ein bisschen losließe, würde sie sich das Leben nur schwer machen. "Doch, es ist gut, dass du es ihr erlaubt hast", sagte er. "Du hast die richtigen Fragen gestellt, alle Wenns und Abers erwogen, und bestimmt geht alles nach Plan." "Niemand hat allerdings mit so viel Schnee gerechnet und mit vereisten Straßen. Was ist, wenn ..." "Von allzu vielen Wenns bekommt man nur Magengeschwüre." Wie konnte er es nur schaffen, dass Abby wieder war wie gerade eben auf der Hütte? So entspannt wie dort, hatte er sie noch nie erlebt? Und es hatte ihn große Selbstbeherrschung gekostet, sie nicht in die Arme zu nehmen und sie zu küssen. Er wollte jedoch keinesfalls Schwierigkeiten heraufbeschwören! Zumal Abby deutlich gemacht hatte, dass sie an nichts anderem als an reiner Freundschaft interessiert war. Dass sie sich so große Sorgen machte, bewirkte andererseits, dass er das Bedürfnis hatte, sie zu trösten. Je länger er mit ihr zusammen war, um so deutlicher wurde ihm bewusst, wie sehr er sie mochte. Und er musste zugeben, dass es nicht nur rein freundschaftliche Gefühle waren!
Nervös strich Abby sich das Haar aus der Stirn. Nick nahm ihre Hand und rieb ihr die kalten Finger. "Was hältst du davon, wenn ich dir erst mal den Ort zeige. Wir können dann später hier anrufen, um zu fragen, ob sie inzwischen angekommen sind." Abby schüttelte den Kopf. "Nein, ich möchte nicht wegfahren, bis ich nicht weiß, dass alles in Ordnung ist." "Oder ich lade dich zum Mittagessen ein. Das letzte Mal, als ich hier war, gab es ausgezeichnete Steaks." "Du kannst gern etwas essen, Nick, aber ich könnte keinen Bissen herunterbringen." Abby hatte die Nische wegen des freien Blicks auf die Straße gewählt, so dass sie sehen konnte, wenn der Bus ankäme. In diesem Augenblick hörte man auch schon schweres Motorengeräusch, und ein großes, gelbes Gefährt mit der Aufschrift "St. Ignatius Kirche" fuhr draußen vor. "Da sind sie!" rief Abby aufgeregt. "Na, siehst du. Hör mal, im Ort gibt es einen hübschen kleinen Laden, den ich dir gern zeigen würde." "Nein, ich möchte erst Sarah begrüßen." Schon glitt Abby von der Bank herunter. "Danach können wir uns den Ort ansehen." Nick legte ihr die Hand auf den Arm. "Meinst du nicht, du solltest dich ein bisschen im Hintergrund halten? Nur als Hilfe für den Notfall? Und dich erst dann zeigen, wenn man dich ruft?" "Das mache ich, sobald ich mit meiner Schwester gesprochen habe." Wieder einmal war Nick klug genug, innerlich beiseite zu treten und Abby ihren Willen zu lassen. Er sah Sarah im Bus sitzen, die darauf wartete, ebenfalls aussteigen zu können, und bemerkte, dass sie ein genervtes Gesicht machte, sobald sie Abby entdeckte. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass Abby sich zeigte.
Die Auspuffgase hingen noch in der Luft, als sie am Bus darauf warteten, dass alle ausstiegen. Abby knetete nervös ihre Hände. Als Austin Reese herunterstieg, grinste er zu Nick hinüber. "Hallo, Nick." Dann entdeckte er Abby. "Hallo." "Wie war die Fahrt, Austin?" fragte Abby den langen Teenager. "Prima." "Keine Probleme?" "James ist vom Fahren schlecht geworden, das war ekelhaft, aber sonst war alles okay." Als Sarah in der Tür erschien, winkte Abby ihr zu. "Hallo, mein Schatz!" "Was machst du denn hier?" wollte Sarah wissen, und ihr Blick verriet, wie wütend sie war. Anstatt zu antworten, fragte Abby: "Wie geht es dir? Hat dir die Fahrt gefallen?" "Du siehst doch, dass es mir gut geht, oder? Von den anderen Angehörigen ist niemand hergekommen, wieso bringst du mich so in Verlegenheit? Warum kann ich nicht mal ein bisschen Spaß haben?" fragte sie leise und giftig. Sie sah Nick bittend an. "Bitte bring sie irgendwo anders hin, und sorg dafür, dass sie sich auch mal amüsiert." Der Altersunterschied zwischen den Schwestern war nicht besonders groß, aber Abby hatte ihre Jugend für dieses undankbare kleine Geschöpf geopfert. "So solltest du nicht mit deiner Schwester sprechen, Sarah." "Schon gut, Nick." Abby berührte seinen Arm. "Lass sie." Im selben Moment drängte Sarah auch schon an ihnen vorbei und trat zu ihren Freunden, die anfingen, die Treppen zum Gasthaus hochzusteigen. Es war sicher am Besten, wenn man Sarah in Ruhe ließ. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihr eine Standpauke zu halten. Doch angesichts der Tränen, die Abby in die Augen traten, hätte Nick Sarah gern mal ein paar Worte
gesagt. Andererseits verstand er nur allzu gut, dass der Teenager seine Freiheit haben wollte. Dennoch lag ihm am meisten am Herzen, sich um Abbys Wohlbefinden zu kümmern. Der Gedanke erschreckte ihn beinahe, denn offenbar ging es nicht mehr allein um eine ChefAngestellten-Beziehung und war weit mehr als bloße Freundschaft. Es war auch nicht die blinde Verliebtheit, die er Margaret gegenüber empfunden hatte, oder die liebevolle Zuneigung wie die für Madison. Nein, das hier war vollkommen anders, Nick begriff gar nicht, wieso. Er wusste nur, dass ihn der Anblick Abbys zitternder Lippen betrübte, als sie nun gegen die Tränen ankämpfte, und dass er nicht wollte, dass irgend jemand ihr wehtat. Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Jeep hinunter. "Komm mit, lass uns ein bisschen Spaß haben. Ich habe ein Twister-Spiel und weiß, wie man damit umgeht." "M... mein strahlender Ritter", sagte sie lachend, aber es klang mehr wie ein Schluchzer. Nick hatte den Schlüssel aus der Küche geholt, schloss den Schuppen auf und knipste das Licht an. Alles war mit Sachen voll gestopft. "Ich frage mich, wo Dad sie hingestellt hat", sagte er zu Abby, die ihm gefolgt war. "Wonach suchst du denn?" "Ah, da." Er nahm eine Art Wanne von einem Nagel an der Wand. "Das hier." "Für eine Frisbee-Scheibe ist sie ein bisschen groß, oder?" Nick seufzte. "Was mache ich bloß mit dir? Es wird wohl Zeit für einen Intensivkurs im ,Frei-und-ungebunden-Sein'." "Da bin ich nicht so sicher, zumal ich den Verdacht habe, dass ich damit irgendwas im Schnee machen soll." "Keine Sorge, ich bin ja bei dir." "Also gut, dann los."
Nick knipste das Licht wieder aus. Plötzlich fiel ihm noch etwas ein. "Du hast gar keine Handschuhe mit, oder?" "Nein, daran habe ich nicht gedacht. Ich hatte keine Ahnung, dass es hier so kalt sein würde." Er war ein bisschen hin und her gerissen zwischen Sorge und Übermut. Aber der Übermut gewann. "Komm, lass uns ein paar Mal den Berg runtersausen. Danach gehen wir ins Dorf zum Essen." Er führte sie hinter die Hütte, und oben auf dem Hügel legte er die Wanne in den Schnee. Es hatte wieder begonnen zu schneien, und die Flocken verfingen sich in Abbys Haar und in ihren Wimpern. Als sie in ihre Hände pustete, sah es aus wie kleine weiße Wölkchen vor ihrem Gesicht. Sie sah bezaubernd aus! Doch bevor Nick etwas tat, was er später bereuen würde, setzte er sich auf die Wanne und spreizte die Beine, so dass Abby sich vor ihn setzen konnte. "Ihr Wagen wartet, meine Dame", sagte er und streckte die Arme nach ihr aus. Lachend setzte Abby sich vor ihn. "Bitte sag mir, dass ich das hier mein Leben lang bereuen werde", scherzte sie und sah über die Schulter zu ihm zurück. "Habe ich dich je angelogen?" Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. "Nein, nie." Nick nahm Abby an den Armen und drückte sie an sich. "Dann vertraue mir", flüsterte er, "ich passe schon auf dich auf und verspreche dir, dass du es großartig finden wirst." Er bewegte den Körper ruckartig nach vorn, so dass sie begannen, den Berg hinunterzugleiten. Sobald sie Tempo bekamen, schrie Abby auf und barg das Gesicht hinter den Händen. "Wer nicht wagt, gewinnt nicht!" rief Nick lachend. Sie sausten den Berg hinunter und landeten in hohem Bogen in einer Schneewehe, lachend und unverletzt. Mit glänzenden Augen erhob Abby sich. "Das war klasse, lass es uns gleich noch mal machen."
"Der Erste, der oben ist, hat gewonnen!" rief Nick. Mit der Wanne in der Hand und Abbys kalten Fingern in der anderen, zog er sie den Hügel hinauf. Er lachte, und Abby kreischte, als sie erneut den Abhang hinuntersausten. Nachdem sie das noch drei Mal wiederholt hatten, war Abbys Kleidung völlig durchnässt, und sie zitterte vor Kälte. "Wir gehen besser wieder hinein und wärmen uns auf", schlug Nick vor. ; "Nur noch einmal, Nick, bitte, ich friere nicht!" Sie pustete in die roten Hände. "W... wirklich n... nicht." "Oh, ja, das merke ich." Trotzdem brachte er es nicht fertig, ihr den Wunsch abzuschlagen, und so fuhren sie noch einmal hinunter. Als sie nach der letzten rasanten Talfahrt wieder aufstanden, hing Abby das schneeverklebte Haar ins Gesicht, und sie schlotterte förmlich vor Kälte. Aber Nick fand, dass sie noch nie so reizvoll ausgesehen hatte. "Jetzt wird nicht mehr diskutiert, wir gehen sofort ins Haus", erklärte er energisch. "Na, gut. Vielleicht sind deine Brüder ja auch schon angekommen." Nick hoffte allerdings insgeheim, dass es nicht der Fall war, denn er wollte Abby gern noch eine Weile für sich allein haben.
9. KAPITEL Tatsächlich war noch keiner der Marchetti-Familie eingetroffen, und Abby wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder lieber fürchten. So unsicher, wie sie sich fühlte, war es bestimmt keine gute Idee, mit Nick allein zu sein! Sie entspannte sich in der Badewanne im ersten Stock und dachte daran, dass sie lange nicht mehr so viel Spaß gehabt hatte wie vorhin. Wie konnte sie es nur verhindern, sich in Nick zu verlieben? Er war so lieb zu ihr gewesen, nachdem sie sich über Sarahs schroffes Verhalten geärgert hatte! Dass er mit ihr Schlitten gefahren war, sollte bestimmt dazu dienen, sie von dem Zwischenfall mit ihrer Schwester abzulenken. Und es hatte wunderbar gewirkt! Wenn man sich so amüsierte, konnte man sich gar nicht mehr über irgendetwas grämen. Sie hörte aus der Ferne, wie er unter der Dusche im Erdgeschoss sang, und dachte, dass er viel zu nett war für ihren Seelenfrieden. Die Szene mit Sarah hätte ihr normalerweise den Tag verdorben, aber Nick hatte sie davor bewahrt. Es war so angenehm, unterstützt zu werden, wenn man so lange die alleinige Verantwortung für jemand anderen gehabt hatte. Nick kam ihr vor wie ein Leuchtturm in einer nächtlichen Brandung. "Ich kann mich gar nicht recht wehren, meine Gefühle spielen verrückt, und wir sind allein im Haus. Wo sind denn die
wunderbaren Marchetti-Brüder, wenn man sie mal braucht?" murmelte Abby vor sich hin. Ihre Haut war schon ganz schrumpelig, und allmählich wurde ihr wieder kalt. Sie musste also endlich aus der Badewanne heraus. Sie hatte sich aufwärmen sollen, sah das Baden aber auch als eine Art Rückzugsmöglichkeit. Sie hörte, wie Nick das Wasser abstellte, wobei er noch immer vor sich hin sang. Auch wenn Abby sich bemühte, es zu verdrängen - die Vorstellung von Nick, wie er wohl nackt und voller Seifenschaum aussah, kam immer wieder hoch, auch wenn sie versuchte, diese Bilder zu vertreiben. Immerhin gelang es ihr, ihn in ihrer Phantasie mit einer Badehose auszustatten und ihn sich beim Volleyballspielen am Strand vorzustellen, wobei seine kräftigen Muskeln zu sehen waren. Aufhören! befahl sie sich. "Vielleicht kommen seine Brüder ja bald", murmelte sie vor sich hin, um sich zu beruhigen. "Ich darf einfach nicht lange mit ihm allein sein." Es klopfte an der Tür. "Führst du Selbstgespräche, Abby?" Ihr klopfte das Herz. Er stand direkt hinter der Tür, noch feucht und sicher nur knapp bekleidet. Und sie war ganz nackt... "Alles in Ordnung, Abby? Du bist doch nicht etwa ertrunken, oder? Ich hörte, wie du mit dir selbst sprachst." "Dann kennst du ja mein dunkelstes Geheimnis. Wenn du je gehört hättest, wie ich singe, wärest du froh über meine Macke, allein vor mich hin zu reden." "Beeil dich, dein Reiseführer wird ungeduldig. Das Dorf wartet darauf, von dir besichtigt zu werden." "Gib mir noch eine Viertelstunde." "Na gut, ich zähle ab jetzt." Abby stand auf, wickelte sich ein dickes Handtuch um den Körper und stieg aus der Wanne. Nick konnte vermutlich Gedanken lesen. Woher wusste er sonst, dass sie Angst davor hatte, mit ihm allein zu sein? Rettung nahte, er wollte mit ihr ins Dorf gehen.
Der Gedanke verursachte auf einmal Schuldgefühle bei ihr. Für einen Arbeitswütigen wie Nick waren drei freie Tage etwas Kostbares, die sollte er lieber mit jemandem verbringen, der ihn glücklich machen würde, und nicht mit ihr! Sie war nicht in der Lage, jetzt eine romantische Beziehung zu haben. Das würde erst der Fall sein, wenn sie ihr Versprechen, Sarah auf zuziehen, eingehalten hatte. Während sie ihr Haar trocken föhnte, gingen ihr Bilder von sich und Nick durch den Kopf. Es wäre schön, wenn er darauf warten würde, bis sie ihre familiären Pflichten erfüllt hätte. Vielleicht könnten sie dann das, was da zwischen ihnen knisterte, auch ausleben. Aber es wäre nicht fair, von ihm zu erwarten, dass er so lange ausharrte. Nick sehnte sich offensichtlich nach einer Familie. Das hatte man ihm ansehen können, als seine Schwester verkündet hatte, dass sie wieder ein Baby bekäme. Nick verdiente es, dass seine Träume wahr wurden. Sie legte ein wenig Rouge auf die Wangen und einen Hauch Farbe auf die Augenlider. Dann zog sie Jeans und einen Pullover an, trockene Socken und Schuhe und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sie fand, dass sie eigentlich ganz gut aussah. Und jemand, der sie beide zusammen sah, würde bestimmt nicht vermuten, dass Nick nichts mehr von Frauen wissen wollte. "Die drei Tage hier sind pure Zeitverschwendung, Marchetti." Sie nickte sich im Spiegel energisch zu. "Schließlich wirst du! nicht jünger. Aber sobald wir in die Wirklichkeit zurückkommen, werde ich dich retten und jemanden finden, der dich glücklich macht", versprach sie laut. "Vielleicht Madison." Der Gedanke bedrückte sie jedoch irgendwie. Noch bevor sie jedoch darüber nachgrübeln konnte, klopfte es an der Tür. "Meine Uhr sagt, du hast noch eine Minute und zehn Sekunden. Wenn du es rechtzeitig schaffen willst, musst du aufhören, mit deinem unsichtbaren Freund zu sprechen."
Abby lachte. Nick verstand es immer, ihre düstere Stimmung zu vertreiben. "Ich bin fertig", verkündete sie und öffnete. Sein Anblick verschlug ihr den Atem. Er trug Jeans, ein weiches kariertes Flanellhemd und hätte als Hauptdarsteller in einem Abenteuer-Film durchgehen können. Abby ging der Vorsatz durch den Kopf, auf Abstand zu bleiben, sich neutral zu verhalten, sich Nick nie in etwas anderem als in Arbeitskleidung vorzustellen - also in Anzug und Krawatte - und auf keinen Fall mit ihm allein zu sein. All diese Vorsätze waren im selben Moment umgeworfen. Sie unterdrückte einen Seufzer. "Ich bin fertig", sagte sie ein zweites Mal. Nick schaute auf die Uhr. "Du hast sogar noch fünfundvierzig Sekunden übrig." Mit einem Blick, der ihr allmählich vertraut war, schaute er sie bewundernd an. "Du siehst toll aus, Abby." Die Worte taten ihr wohl wie Wasser einer vertrockneten Pflanze. "Danke, Nick, aber das sagst du bestimmt jeder." "Nur denen, die ich beeindrucken will." Bevor Abby antworten konnte, nahm er ihre Hand. "Komm, meine Schöne", sagte er, "jetzt amüsieren wir uns ein bisschen." Die Dinge entwickeln sich nicht nach Plan, dachte Nick. Er hatte Abby mit in den kleinen Ort genommen, dachte aber nur dauernd daran, wie er sie auf die Hütte zurückbringen könnte. Und alles, was sie unternahmen, lenkte ihn nicht von dem ab, was er sich insgeheim mit Abby erträumte. Der Nachmittagsfilm, den sie sich angesehen hatten, war eine romantische Komödie gewesen. Nach dem Glanz in ihren Augen zu urteilen, hatte Abby der Film sehr gefallen. Nick freute sich darüber, aber das verstärkte nur die Gedanken, die er zu verdrängen suchte. Nun saßen sie in dem feinsten Restaurant des kleinen Bergortes, und das war ausgerechnet auch das romantischste von allen. Dennoch: Wenn dadurch Sarahs giftige Worte gemildert wurden und der Abend für Abby ein positives Ende nahm, war
es das wert, dass er ihretwegen so nervös war. Und immerhin war es weit besser, unter Menschen zu sein, als allein oben im Haus! Abby schien es ähnlich zu gehen. Nick hatte ihren ängstlichen Ausdruck gesehen, als sie nach dem Herumtoben im Schnee wieder ins Haus gingen. Sie hatte offenbar Angst davor, mit ihm allein zu sein. Wenn auch sicher aus anderen Gründen als er. Garantiert war Abby noch unschuldig. Und obgleich Nick sie mehr begehrte, als er je eine Frau begehrt hatte, würde ihn das davon abhalten, sich ihr zu nähern. Er hatte nicht die Absicht, die Situation auszunutzen. Deshalb war es sicher das Beste, sich mit ihr in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Allmählich machte er sich ebenfalls Gedanken darüber, ob seine Brüder als " Anstands-wauwaus" wohl auftauchen würden. Wieso waren Joe, Alex und Luke noch nicht da? Das Wetter hatte sich gebessert, die Straßen waren sicher. Das Telefon und der Anrufbeantworter in der Berghütte funktionierten. Und dennoch hatten sie nichts von ihnen und einer eventuellen Ankunftszeit gehört. Na ja, vielleicht waren sie irgendwo aufgehalten worden und würden im Haus sein, wenn Nick mit Abby nach dem Essen dorthin zurückkäme. Einstweilen wollte Nick das Essen sowie die Umgebung genießen und dafür sorgen, dass Abby sich wohl fühlte. Von dem zunehmenden Verlangen nach ihr würde ihn die Gegenwart der Brüder schon wieder abbringen. Es war, wie auf dem Seil zu balancieren, aber ein Netz darunter zu haben. Als der Kellner Bier für ihn und Wein für Abby brachte, bestellte Nick für beide ein Essen, ohne nach der Speisekarte zu fragen. Abby furchte die Stirn, sagte aber erst etwas, nachdem der Kellner gegangen war. "Nick, es macht mich nervös, wenn ich keine Speisekarte sehe." "Mach dir keine Sorgen."
"Das ist leichter gesagt als getan. Ich möchte gern wissen, wie viel Geschirr ich hier abwaschen muss, bevor ich gehen kann." "Hier wäscht keiner von uns Geschirr ab, und du gehst erst, wenn du gegessen hast. Du hattest Recht mit dem, was du gesagt hast: Mit Nudeln kann man eine Menge Geld machen." Er nahm einen Schluck Bier. "Und heute Abend möchte ich ein bisschen davon für dich ausgeben." "Ich kann dich doch nicht für alles zahlen lassen." "Wieso nicht? Das tut ein Mann meistens, wenn er mit einer Frau ausgeht." Sie wollte gerade nach ihrem Glas greifen, hielt aber in der Bewegung inne. "Ausgeht?" "Ja. Ein Mann, eine Frau, Kino, Abendessen, all die wesentlichen Elemente." "Nicht alle. Dazu gehört ein Paar, das sich ernsthaft für einander interessiert." "Nicht unbedingt. Das können auch ein Mann und eine Frau sein, die nur mal schauen wollen, ob sie sich für einander interessieren könnten. Deine Erfahrung in diesen Dingen ist nicht besonders groß, meine Kleine." "Das bestreite ich ja gar nicht, aber mein Sprachverständnis ist ziemlich gut, und das hier kann man nicht als romantische Verabredung bezeichnen." "Von mir aus. Dafür kannst du dann in Zukunft die eine von der anderen unterscheiden." Abby schüttelte den Kopf. "Nicht in naher Zukunft." "Vielleicht denkst du noch einmal darüber nach." "Ich habe einfach keine Zeit..." Nick nahm ihre Hand. "Die Männer, die du kennst, scheinen ziemlich üble Kerle zu sein. Ich habe es dir bereits gesagt, du brauchst im Augenblick niemanden zu suchen, kannst jedoch schon mal eine innerliche Aufstellung machen. Wenn wir nicht einfach Freunde wären, könnten wir genauso gut romantisch
miteinander verabredet sein. Und wenn ich das arrangieren kann, kann jeder andere das auch." "Nick, das ist doch schrecklich." "Was ist schrecklich?" fragte er ratlos. "Das würde weitere gemeinsame Ausflüge bedeuten?" Ausflüge? Merkwürdige Wortwahl. Was wollte Abby damit sagen? "Du hast Recht, eine Verabredung beinhaltet ein gewisses Zusammensein." "Das geht aber nicht." "Für die nächsten zwei Tage kannst du tun und lassen, was du willst, und ich würde mich freuen, wenn du den ersten Grad des Zustandes ,Frei und ungebunden' erreichen könntest." "Und was ist mit Sarah?" "Sie ist keine Elfjährige mehr, die gerade ihre Eltern verloren hat, Abby. Und sie braucht dich nicht mehr so wie damals. Sie ist eine angehende junge Frau, die ihre Flügel ausprobieren möchte." "Aber es ist meine Pflicht, auf sie aufzupassen." "Richtig. Aber sie braucht auch Raum, um zu fliegen. Deine Eltern würden nicht von dir verlangen, dass du dafür dein eigenes Leben opferst. Die wären froh, wenn du jemanden fändest, mit dem du selbst glücklich wirst." "So wie sie, was?" meinte Abby abfällig. Das war ihr so herausgerutscht. "Hatten deine Eltern Probleme miteinander?" fragte er. Abby schwieg lange. Nick dachte schon, sie würde gar nicht mehr antworten. Dann jedoch nickte sie fast unmerklich. "Ja, sie heirateten sehr früh, mit achtzehn. Meine Mutter war schwanger mit mir. Aber als ich älter wurde, verschlechterte sich ihre Beziehung, und meine Mutter wollte meinen Vater gerade verlassen, als sie feststellte, dass sie erneut schwanger war, mit Sarah."
Abby schwieg wieder. Nick hatte den Eindruck, als hätte sie dies alles noch niemandem erzählt. Es musste ziemlich belastend für sie gewesen sein. "Und dann?" ermunterte er sie. "Sie hatten viel Streit - Sarah erinnert sich natürlich nicht daran - und wollten sich trennen." Ein schmerzlicher Ausdruck glitt über Abbys Gesicht, und einen Moment lang schloss sie die Augen. "Vor der endgültigen Entscheidung wollten sie noch einmal zusammen wegfahren, um zu sehen, ob ihre Ehe noch zu retten wäre." Abby seufzte tief. "Und dann kamen sie nicht mehr zurück." "Abby", Nick drückte ihre Hand, "ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll." "Dazu brauchst du nichts zu sagen." Sie sieht so jung und verletzlich und traurig aus, dachte Nick wehmütig. Ganz ähnlich wie damals, als ich sie das erste Mal gesehen habe. Er erinnerte sich gut daran, wie sie ihm versprach, sie wolle die beste Mitarbeiterin werden, die er je gehabt habe. Da er selbst noch viel zu sehr mit der Enttäuschung, die er gerade erlebt hatte, beschäftigt war, hatte er gar nicht bemerkt, was mit Abby los war. Aber zu dem Zeitpunkt wollte er sich nur gegen alles abschotten und hatte keinen Sinn für den Kummer anderer. Wenn er nicht so egoistisch gewesen wäre, hätte er ihr damals vielleicht helfen können. Das, was Abby über ihre Eltern erzählt hatte, half ihm nun, einiges zu verstehen. Zum Beispiel, dass sie sich hinter den Pflichten, die sie für Sarah zu haben glaubte, versteckte. Vielleicht versuchte sie deshalb auch unbewusst zu verhindern, dass Sarah erwachsen wurde. Damit deren Leben nicht ähnlich schwer wurde wie ihres. Nick wollte, er könnte Abby die verlorene Zeit wiedergeben. In den vergangenen fünf Jahren hatte Abby sich erfolgreich gegen Beziehungen gewehrt. Doch so leicht ließ Nick sich nicht
abschrecken. Er hatte viel Zeit versäumt, aber noch war Hoffnung. Er würde ihr zeigen, dass sie den Anschluss noch immer bekommen könnte. Dazu musste ihr Leben nur ein bisschen anders organisiert werden. Er würde ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite stehen, auch was Verabredungen mit Männern betraf, denn darin war Abby völlig unerfahren. Allein der Gedanke daran, wie sie, so ahnungslos wie sie war, in den Fängen eines charmanten Weiberhelden landen könnte, verursachte ihm Magenschmerzen. Er konnte nicht immer in ihrer Nähe sein, aber er konnte ihr mit seiner Erfahrung helfen. Die Vorstellung von Abby mit einem anderen Mann missfiel ihm zwar irgendwie, aber er war ja selbst ein gebranntes Kind und wollte sich lieber heraushalten. Abby verdiente jemanden, der sie wirklich liebte. Allmählich wurde es Zeit dafür, sie hatte schon einiges versäumt. Nick wollte schon dafür sorgen, dass sie auf dem Weg in die Freiheit beschützt sein würde. Und ein Nick Marchetti stand zu seinem Wort.
10. KAPITEL "Soll ich dich nun Don Juan oder Casanova nennen?" wollte Abby wissen. "Es ist ja nur ein Rollenspiel. Sir, Euer Ehren, Exzellenz oder so würde reichen." Abby lachte. "Also wirklich, Nick, daran muss ich mich erst gewöhnen. Was meine Motivation betrifft..." Nicks Blick brachte sie zum Schweigen. "Du nimmst das wohl nicht ernst, wie?" "Nein, du doch auch nicht." Abby stellte die Pfanne mit dem Hühnchen, das sie gerade mit Gewürzen eingerieben hatte, in den Ofen. Nick tat, als sei er verärgert. Er schmeckte gerade die Salatsoße ab. Seit ihrer Verabredung - nein, keine romantische Verabredung, niemals mehr! - waren vierundzwanzig Stunden vergangen. Das Treffen war für seinen Seelenfrieden ein wenig zu intim verlaufen, denn Abby hatte ihm sehr viel Persönliches erzählt. Private Dinge pflegte sie sonst für sich zu behalten, erst recht die Schuldgefühle, die sie dadurch empfand. Vielleicht hatte Nick deshalb nach dem Abend beschlossen, Abby Nachhilfestunden in dem zu geben, was man mit "Ausgehen" bezeichnete. Er wollte ihr die Vor- und Nachteile sowie Überlebenstechniken, die eine Frau heutzutage so brauchte, nahebringen.
Abby fand das Ganze eher unangenehm. Zumal sie noch immer allein in der Hütte waren. Nick rief zu Hause an. Er wollte von seinen Eltern erfahren, wann seine Brüder ankommen würden. Doch war niemand da. Sorgen machte er sich deswegen nicht. Wenn etwas Besonderes passiert wäre, würden sie sich schon melden. Also blieb alles, wie es war. Abby und er schliefen Wand an Wand, in getrennten Zimmern. Schlafen hätte Abby das nicht nennen mögen. Nachts wälzte sie sich hin und her und dachte dauernd an Nick. Schon deshalb war sie einverstanden, sich durch das "Lernspiel" ablenken zu lassen. Um Nick brauchte sie sich dabei keine Sorgen zu machen, er würde die Grenzen einhalten, die er sich gesetzt hatte. Gleichzeitig irritierte der Gedanke Abby aber auch. Was sollte sie eigentlich von all dem halten? Er hatte sie nicht mal geküsst. Eine innere Stimme warnte sie, dass es nicht gut war, in dieser Richtung weiterzudenken, aber die überhörte sie. Schließlich gab es im Leben immer wieder Fallstricke. Man musste eben aufpassen. Da sie nun schon mal hier waren und nicht durch ihre Schuld - allein, musste man das Beste aus der Situation machen. Später würde sie es schon schaffen, den ehemaligen Abstand wiederherzustellen. Heute Abend konnte sie immer noch darüber nachdenken, wieso er sie wohl nicht geküsst hatte. "Ich nehme es so ernst wie Sie, Euer Ehren", erklärte sie und schaute Nick an. "Aber du musst mir noch mal erklären, worum es eigentlich geht." "Du brauchst dringend Nachhilfeunterricht im Umgang mit Männern. Nach dem Essen gestern Abend ist mir klar geworden, dass du darin zu wenig Übung hast. So könntest du nur allzu leicht das Opfer jedes dahergelaufenen Playboys werden. Je länger du ohne jeglichen Kontakt mit eventuellen Verehrern
lebst, um so leichter gerätst du unter Umständen in Schwierigkeiten." Nick scheint wirklich besorgt um mich zu sein, dachte Abby gerührt. "Die Männer werden denken, du seist erfahren genug. Aber wenn sie herausfinden, dass du es nicht bist, werden sie sich auf dich stürzen wie eine Meute Wölfe auf ein verirrtes Lamm." "Wölfe?" "Alle Männer sind ein bisschen wie Wölfe. Raubtiere, die sich eine Beute nicht entgehen lassen. Die dich verspeisen und dann die Reste ausspucken." Er lächelte schief. "Es sei denn, du folgst den drei schlichten Regeln von Nick Marchetti." "Aber was ist, wenn ich möchte, dass sie mich bedrängen?" Sein Lächeln verschwand. "Das ist eine andere Lektion mit dem Titel .Wenn du das noch mal tust, wirst du dein blaues Wunder erleben'." Abby kicherte. Es gefiel ihr, dass Nick sich so um sie sorgte. "Also gut, und was sage ich nun zu einem Mann?" "Nein." "Wieso, wir reden also nicht über das, was man sprechen soll? Das ist meine größte Schwäche. Was sage ich denn nun zu einem Mann?" "Nein. Ich meine, du sagst einfach Nein." "Immer?" "Ja, immer." Er legte Gurkenscheiben in die Salatschüssel. "Einfach Nein! Punkt. Ende der Konversation." Abby zog eine Schublade auf, nahm zwei Tischsets heraus und platzierte sie auf dem Holztisch. "Wie komme ich dann jemals zu einer Verabredung, wenn ich immer nur Nein sage? Dann wird mein Traum von der Freiheit höchstens dreißig Sekunden lang dauern." "Das wäre gar nicht so übel", murmelte Nick vor sich hin. "Wie?"
"Das wäre natürlich traurig." Er begann heftig, Sellerie zu schnitzeln, so als ärgere ihn etwas. "Also, wie spreche ich nun mit einem Mann? Worüber redet ihr am liebsten?" "Über Bücher, Filme, das Parfüm, das du trägst." "Gefällt es dir?" fragte sie. "Oh, ja." Unter dem Blick, den er ihr zuwarf, wurde Abby ganz heiß. Schnell drehte sie sich um und nahm Teller aus dem Geschirrschrank. "Freut mich. Es wurde mir empfohlen von ..." "Benutze es nie, wenn du dich mit einem Mann verabredest", wies er sie scharf an. "Ah, ja?" Abby wunderte sich. "Wieso denn nicht?" "Dabei kommt ein Mann nur auf schlechte Gedanken." "Auf welche denn?" In Nicks Blick lag ein Hunger, der wenig mit Essen zu tun hatte. "Egal", seine Stimme klang heiser, "dazu ein anderes Mal. Wenn du meinen Regeln folgst, bewältigst du problemlos alle Situationen." Wie er mich ansieht! dachte Abby nervös. "Also gut, welche Regeln genau?" "Nummer eins: Wie nett ein Mann auch immer erscheint, er will immer nur das Eine." "Natürlich, er will sich wohl fühlen." "Na ja, das auch." Nick Sah sie von der Seite an. "Wir sprechen wohl über zwei verschiedene Dinge. Aber im Ernst. Dient eine Verabredung nicht vor allem dem Zweck, sich wohl zu fühlen, sich zu amüsieren?" "Ja, schon, aber es kommt darauf an, was man darunter versteht." Er zog eine Augenbraue hoch. "Es gibt Spaß, und ...", er ließ ein verführerisches Grummeln hören, "und es gibt Spaß." "Ah, ja." Küssen gehört eindeutig zur zweiten Sparte, dachte Abby. Sie wollte wirklich alles darüber erfahren. "Ich glaube, ich verstehe. Und was noch?"
"Gehe niemals, unter keinen Umständen, mit einem Mann in seine Wohnung." Abby sah sich unwillkürlich in der Küche um und fragte: "Du meinst, so wie wir beiden gerade?" "Genau", bestätigte er spontan. Dann erschrak er. "Ich meine, nein. Das hier ist anders." "Wie denn?" Abby wollte eigentlich gar nicht, dass es anders wäre. Sie wünschte sich einen Partner, beneidete, schon seit längerem, alle Pärchen, Die waren nie allein. Und nun träumte sie davon, in Nicks Armen zu liegen, seinen Mund auf ihrem zu fühlen ... "In welcher Hinsicht ist es anders?" hakte sie nach. "Meine Mutter hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern, Abby. Und bei uns beiden ist ja alles anders. Ich spreche von einem romantischen Abendessen, nach dem dein Begleiter dich fragt, ob du nicht mit zu ihm gehen willst, um seine CDSammlung zu sehen. Dann sagst du unbedingt Nein." "Hast du denn keine CDs, Nick?" Er war kurz irritiert, dann schüttelte er den Kopf. "Nein, hier in der Hütte haben wir keinen CD-Player. Da beschäftige ich mich eher mit Gewichtheben." Nick stemmte Gewichte? Na ja, kein Wunder. So ein Waschbrettbauch kam ja nicht von ungefähr. Als sie den Hügel hinabgesaust waren, hatte Abby die Kraft seines Körpers gespürt. "Kann ich die sehen?" fragte sie. "Du willst die Gewichte sehen?" staunte Nick. Sollte sie ehrlich sein oder Nein sagen? Schließlich nickte sie. "Und nachdem du sie mir gezeigt hast, möchte ich von dir erfahren, wie die Regeln fürs Küssen sind." "Fürs Küssen?" Sein Blick umwölkte sich, während er das scharf geschliffene Fleischmesser auf das Holzbrett legte und sich die Hände abtrocknete. Mit einem Schritt war er bei ihr. Abby klopfte das Herz.
"Und lass dich nie von einem Mann in die Ecke treiben", riet er und legte die Hände rechts und links von ihrem Kopf an den Kühlschrank, vor dem sie stand. Abby sehnte sich danach, seinen Körper zu spüren, sich an ihn zu drängen, von ihm so fest in die Arme genommen zu werden, als wolle er sie nie wieder gehen lassen. "Aber was ist, wenn er es trotzdem tut?" hauchte sie. "Wenn ich es bin, machst du es so!" Er senkte den Kopf. Abby hielt den Atem an, jede Sekunde war eine köstliche Folter, bis er endlich ihren Mund mit seinem berührte. Seine Lippen waren weich und fest, zart und doch von einem Hauch Leidenschaft getrieben. Als er ihre Oberlippe mit seiner Zunge berührte, öffnete sie unwillkürlich den Mund, und er drängte hinein und erforschte das weiche Innere. Abby klopfte das Herz so sehr, dass sie fürchtete, es müsse zerspringen. Dann lenkte er jedoch ihre Aufmerksamkeit auf ihren Hals, beziehungsweise auf einen empfindlichen Punkt hinter ihrem Ohr. Bei der federleichten Berührung seiner Lippen war ihr, als führe ein elektrischer Strom durch sie hindurch. Unwillkürlich schlang sie die Arme um seinen Hals. Sie genoss das Gefühl seines kräftigen, warmen Körpers. Wenn es feste Regeln für eine Situation wie diese gab, so hatte sie große Lust, sie mit Nick zu durchbrechen. Abby vertraute ihm völlig. Sie neigte den Kopf, so dass er genug Platz hatte, das fortzuführen, was ihr Kaskaden wohliger Gefühle verursachte. Sie hoffte, er möge nie damit aufhören. Aber er hob den Kopf und schaute sie heftig atmend an. Wie sehr wünschte er sich, sie hätte schon die Erfahrung, die er ihr vermitteln wollte! Was würde sie dann sagen? Abby ließ die Arme fallen und lachte verlegen. "Und wie wäre die Regel, die du hierfür vorschlägst?" fragte sie. Nick schaute sie dunkel an. "Dafür gibt es keine. Das war kein Spiel, das war echt."
Abby ging es genauso. Sie wusste jedoch nicht recht, wie sie es einordnen sollte. Sie durfte Nick nicht mehr küssen, auf keinen Fall. Das durften sie beide nicht tun. Sie löste sich von ihm und ging auf den offenen Geschirrschrank zu, um Teller herauszunehmen. Ihr zitterten die Hände. "Danke für die Hinweise, Nick. Wenn ich mich eines Tages verabrede, werden sie mir nützlich sein." "Abby, ich..." "Sag jetzt bitte nichts." Sie schloss die Augen, als könnte sie damit auch die Versuchung und ihre Gefühle wegschließen. "Ich möchte nicht darüber sprechen." Trotz des räumlichen Abstands zwischen ihnen lag noch immer knisternde Spannung in der Luft. "Genug für heute", sagte Nick schließlich. Seine Stimme klang merkwürdig gepresst. "Aber wegzulaufen hilft nicht. Eines Tages müssen wir darüber sprechen." Sein Blick beunruhigte Abby. Sie hätte das, was da eben zwischen ihnen passiert war, nicht in Worte kleiden können. Heute Abend war eine unsichtbare Grenze überschritten worden. Und wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass sie drauf und dran war, sich in Nick Marchetti zu verlieben. Doch das durfte nicht sein! Unter keinen Umständen. Sie passten überhaupt nicht zueinander. Nick suchte, wenn überhaupt, nach einer Partnerin für immer. Abby hatte nicht mal die Anfänge des Flirts hinter sich. Und bevor sie sich ernsthaft für jemanden entscheiden würde, wollte sie wenigstens einiges ausprobieren. Im Augenblick hatte sie jedoch nicht die Zeit, sich in irgendwelche Kennenlern-Aktivitäten zu werfen, um zu wissen, wann es der Richtige war und wann nicht! Ihre Eltern hatten vor der Ehe niemand anderen gehabt und mussten heiraten. Den Fehler wollte Abby nicht auch machen. Schließlich war alles schief gegangen. Sollte sie jemals heiraten, dann nur, wenn sie auch genau wusste, dass es für immer war. Dazu brauchte sie erst mal eine Zeit des Ausprobierens, und die
war noch weit entfernt. Ob Nick dann noch da wäre, erschien ihr unwahrscheinlich. Auch wenn das Gefühl sie drängte, sich mit ihm einzulassen, sagte ihr Verstand ihr doch, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war. Nick wusste, wie sehr Abby sich nach einer richtigen Familie sehnte. Vermutlich war sein Interesse an ihr nichts weiter als eine Art Pflichtgefühl. Wenn sie da weitermachten, wo sie gerade begonnen hatten, würde ihn das auf Dauer nur verletzen. Und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Sie wollte nicht Reinfall Nummer drei für ihn sein! Nick hörte die Kuckucksuhr um halb zwei Uhr morgens schlagen. Er saß in dem Lieblingssessel in seiner Wohnung und brütete darüber nach, wie er sich Abby gegenüber verhalten sollte. In den Wochen seit ihres Aufenthaltes in den Bergen hatte er festgestellt, dass er fortwährend an sie denken musste. Nachdem er sie jedoch an jenem Sonntagabend abgesetzt hatte, hatte er sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Er hoffte, wenn er sie in Ruhe ließe und ihr Zeit gäbe, würde sie vielleicht von selbst bei ihm anrufen. Aber das tat sie nicht. "Kein Glück", meinte er zu sich selbst und schaute auf die Bierflasche in seiner Hand, die er schon vor einer Weile geöffnet, deren Inhalt er aber noch nicht probiert hatte. Vermutlich musste er den ersten Schritt machen, wenn er das wollte. Lag ihm denn überhaupt daran? Oh, ja! Die Antwort kam ohne Zögern. Aber machte das überhaupt Sinn? Kein bisschen! Er kannte Abby seit langem, aber erst seit kurzem knisterte es zwischen ihnen. Normalerweise verliebte er sich auf Anhieb in eine Frau, also konnte hier etwas nicht stimmen. Trotzdem musste er immer wieder an sie denken. Und an den Kuss ... Wenn sie nicht diese drei Tage miteinander verbracht hätten, wäre alles anders gewesen. Seine Brüder hatten vage Ausflüchte gemacht, wieso sie nicht gekommen waren. Aber das war auch
unwichtig. Sie waren allein gewesen, und er hatte sie geküsst. Und dieser Kuss hatte die Temperatur zwischen ihnen bedenklich gesteigert. Danach hatte Abby sich zurückgezogen und eine innere Mauer aufgebaut, wobei sie als Argument ihre elterlichen Pflichten Sarah gegenüber und seine Beziehung mit Madison anführte. Aber so sehr Nick sich auch Mühe gab, den Zwischenfall in der Hütte zu vergessen - es gelang ihm nicht. Sie hatte ihn geküsst wie eine Frau, deren Herz für ihn schlug! Und er kannte Abby, sie spielte nicht. Wenn der Kuss gezeigt hatte, dass sie ihn mochte, dann tat sie es auch, auch wenn sie sich lieber etwas vormachte. Nick wollte herausfinden, ob ihre Beziehung überhaupt eine Chance hatte. Ein wenig hinderte ihn aber noch immer seine schmerzvolle Vergangenheit daran. Das brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Sollte er Abby nun anrufen oder nicht? In diesem Moment klingelte das Telefon. Er erschrak. Mitten in der Nacht? Das musste etwas Wichtiges sein. Er nahm er ab. "Hallo?" "Nick! Ein Glück, dass du da bist!" "Was ist denn los?" "Sarah ist noch immer nicht zu Hause! Ich habe solche Angst, dass ihr etwas zugestoßen ist!" "Nun beschwör das Unglück doch nicht gleich herauf, Abby." Das hatte er so ähnlich schon mal gesagt. Abby stellte sich immer gleich das Schlimmste vor. "Wenn etwas passiert wäre, hätte man dich schon informiert", sagte er. Aber alle seine Sinne waren geweckt, hellwach saß er da. "Ich weiß nicht, was ich tun soll, Nick", sagte sie kläglich. "Ich komme gleich rüber." "Das kann ich nicht abwarten ..." "Doch, das kannst du. In einer Viertelstunde bin ich da."
Abby öffnete die Tür, noch bevor er klingeln konnte. Ihrem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass sie insgeheim gehofft hatte, es wäre Sarah, und nun enttäuscht war. Also gab es nichts Neues. "Ich habe herumtelefoniert, Nick, und überall Nachrichten hinterlassen," Nick trat in die Wohnung Und schloss die Tür. "Erzähl mir erst mal alles von vorn." Abby sah ihn ratlos an. "Das habe ich dir doch schon gesagt, Sarah ist nicht zu Hause." "Ich meine, was war vorher?" "Meinst du, irgendwas ist passiert?" "Ich kenne Sarah. Grundsätzlich ist sie ein gehorsames Mädchen." "Willst du damit sagen, dass ich etwas falsch gemacht habe und dass sie weggelaufen ist?" "Nein, das glaube ich nicht. Aber hattet ihr vorher einen Streit oder etwas Ähnliches?" "Nein, natürlich nicht, schließlich bin ich ihr Vormund, und sie hat zu gehorchen." Sarah war kein Kind mehr, aber darüber würde er noch ein anderes Mal mit Abby reden. "Es gab also heftige Worte zwischen euch." "So könnte man es ausdrücken." "Ist heute Abend nicht das offizielle Winterfest?" fragte Nick, Sarah hatte ihm davon erzählt und gehofft, dass sie länger wegbleiben dürfte, da es etwas Besonderes war. Abby biss sich auf die Unterlippe. "Sie ist mit Austin unterwegs." "Habt ihr euch gestritten?" "Na ja, wir haben über die Zeit des Nachhausekommens diskutiert." "Du hast die doch hoffentlich etwas erweitert."
"Ja, schließlich war es ein besonderer Anlass. Aber sie sollte um halb eins zu Hause sein." Nervös schaute Abby auf ihre Armbanduhr. "Sonst ist sie immer pünktlich." "Hast du dich mit den anderen Eltern abgesprochen, um welche Zeit deren Kinder nach Hause kommen sollten,?" "Ja, aber Sarah ist erst sechzehn, da fand ich halb drei einfach zu spät." Nick schaute auf seine Uhr. "Das ist es jetzt beinahe." Abby lief auf und ab. "Ich mache mir solche Sorgen! Wieso hat sie nicht angerufen? Wenn alles in Ordnung ist, hätte sie das doch wenigstens tun können." "Als ihr über die Zeit spracht, zu der sie zurückkommen sollte, ist das in einen Streit ausgeartet?" Abby seufzte. Das klang beinahe wie ein Schluchzer. "Ja. Heute Morgen. Als ich sie zur Schule fuhr. Aber bevor sie zu dem Ball ging, schien alles wieder in Ordnung zu sein. Austin hat sie abgeholt und sagte, er würde sie rechtzeitig nach Hause bringen." "Ich habe eine Theorie", erklärte Nick. "Welche denn?" "Was ist, wenn sie Austin gesagt hat, sie dürfe auch bis halb drei bleiben? Vermutlich wollte sie nicht die Einzige sein, die viel früher zu Hause sein musste." "Sarah würde nicht lügen. Außerdem muss ihr klar sein, dass ich es rausbekäme und ihr dann Schwierigkeiten machen würde." "Vielleicht war es ihr das wert." Sollte er Abby sagen, dass er Sarah schon dabei erwischt hatte, dass sie etwas tat, was Abby keineswegs gutheißen würde? Einerseits Wäre das eine Lehre, andererseits würde sie Sarah erst recht dafür schimpfen. Also verkniff er es sich lieber. "Nein." Abby schüttelte den Kopf. "Wenn sie nicht zu Hause ist, heißt es, dass irgend etwas passiert ist!"
"Vielleicht hatten sie einen Platten oder kein Benzin mehr", vermutete Nick, dachte aber gleich, dass sie dann sicher angerufen hätten. "Was ist, wenn sie einen Unfall hatten? Ich stelle mir vor, wie sie da draußen allein und verletzt herumliegt und mich braucht!" Abby war ganz blass geworden, so dass Nick sie in seine Arme zog. Sie zitterte so, dass er fürchtete, sie würde gleich zusammenbrechen. Er führte sie zu einem Sessel, setzte sich und zog sie auf seinen Schoß. "Wenn wirklich etwas Derartiges passiert wäre, hätte man dich längst benachrichtigt." "Nicht unbedingt! Erst mal müssen sie herausfinden, wer die Opfer überhaupt sind! Die nächsten Angehörigen zu finden ist unter Umständen schwierig. Wenn sie keine Ausweise dabei haben, muss erst das Autokennzeichen überprüft und der Fahrzeughalter ausfindig gemacht werden. Das kann Stunden dauern!" "So weit musst du nicht gleich denken, Abby. Ich bin sicher, dass es nicht so ist." Nick drückte sie fester an sich. Abby hatte mit das Schlimmste erlebt, was ein Kind erleben konnte, deshalb stellte sie sich auch jetzt sofort das Schlimmste vor. Wie konnte er ihr begreiflich machen, dass nicht alles immer gleich so schrecklich war? Fast immer gab es ganz einfache Erklärungen für Geschehnisse. "Nick, sie ist alles, was ich habe. Ich könnte es nicht ertragen, noch einen Menschen zu verlieren, der mir so nahe steht." Das Letzte hatte sie so leise gesagt, dass man es kaum verstehen konnte. Aber der Schmerz, der aus jedem Wort sprach, war deutlich genug. "Ich bin sicher, deiner Schwester geht es gut." Das Trauma, das sie erlebt hatte, war noch immer nicht verarbeitet. Sie durchlebte es täglich neu. Und das lag daran,
dass sie für die einzige Verwandte, die sie hatte, allein verantwortlich war. Abby, wie kann ich dir nur helfen? dachte Nick. Was kann ich nur tun, um dir all diese Ängste zu nehmen? Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zu sagen, dass Sarah nicht die einzige Person war, die sie auf der Welt hatte - sie hatte auch ihn. Und würde ihn immer haben. Nick begriff, dass er ewig hätte vor sich hin brüten können, ob er Abby nun anrufen sollte oder nicht. Aber die Entscheidung stand nicht mehr in Frage. Seine Gefühle hatten sich von Respekt und Bewunderung in etwas Unkontrollierbares, Leidenschaftliches verwandelt. Das hatte sich nicht wie sonst entwickelt, war aber eine Tatsache. Abby war ein wichtiger Teil seines Lebens geworden. Auf sie verzichten zu müssen wäre beinahe, wie nicht mehr atmen zu können. Als sie ihn angerufen hatte, war er, ohne zu zögern, zu ihr gefahren. Plötzlich war es ihm klar: Er hatte sich in Abby verliebt. Aber jetzt musste er ihr erst mal bei einer Sache helfen, die vermutlich nicht mehr als die rebellische Handlung eines Teenagers war. Danach würde er ihr sagen, wie es um ihn stand. In diesem Augenblick hörte man draußen Stimmen und das Geräusch eines Schlüssels in der Tür. Als sie sich öffnete, trat Sarah ein. "Gute Nacht, Austin, vielen Dank für alles, es war ein wunderbarer Abend." Nick, der Sarah in ihrem königsblauen Kleid mit Spaghettiträgern sah, begriff, wie erwachsen sie schon geworden war. Mit ihrem hochgesteckten Haar, dem fliederfarbenen Schultertuch und dem etwas übertriebenen Make-up hätte sie gut und gern zehn Jahre älter sein können. Ganz abgesehen von dem Glanz in den Augen. Der hielt sich allerdings nur, bis sie den Blick ihrer älteren Schwester bemerkte. Dann war es, als senkte sich ein Vorhang, und sie nahm eine trotzige Haltung ein. Abby stand auf. "Ich möchte mit Austin reden."
Sarah schloss schnell die Tür und stellte sich davor. "Er ist: schon weg." "Ist alles in Ordnung mit dir, ist irgendwas passiert?" "Natürlich nicht." Sarah, die Nick gerade entdeckt hatte, lächelte. "Hallo, was machst du denn hier?" Abby sagte: "Ich habe ihn angerufen, weil ich außer mir war vor Sorge. Du hast mich zu Tode erschreckt! Alles Mögliche ist mir durch den Kopf gegangen, als du nicht nach Hause kamst! Ich werde Austins Mutter anrufen und mal ein Wörtchen mit ihr reden!" "Tu das ja nicht!" sagte Sarah mit blitzenden Augen. "Es ist meine Schuld. Ich habe ihm gesagt, dass ich länger bleiben dürfe. Wenn du mich den Rest meines Lebens dafür bestrafen willst, dann bitte. Es ist mir egal. Nur weil du nicht richtig leben willst, muss das ja noch lange nicht heißen, dass ich es auch nicht will. Wenigstens einen Abend lang wollte ich mich mal amüsieren wie alle anderen. Ich möchte keine alte Jungfer werden wie du. Ich hasse dich!" Damit rannte sie in ihr Zimmer. Nick wollte, dass Sarah sich erst mal beruhigte, bevor er ihr Verhalten kritisierte. Aber morgen würden er und ein gewisser Teenager ein Wörtchen miteinander zu reden haben. Abby sah aus, als hätte Sarah sie geohrfeigt. Sie schaute Nick an. "Ich bin froh, dass alles mit ihr in Ordnung ist, denn morgen bringe ich sie um." Ihr Atem ging stoßweise. "Das werde ich schon erledigen." Nick tat es Leid, dass Abby so viel Angst hatte durchstehen müssen. "Sie hat mich angelogen! Du hattest Recht." "Versuch aber auch mal, ihren Standpunkt zu sehen. Sie wird allmählich erwachsen. Sie ist kein kleines Mädchen mehr, auch wenn du es möchtest. Du sagtest selbst, dass sie bald aufs College gehen wird. Bei aller nötigen Kontrolle braucht sie mehr Freiheit, um sich auf ein unabhängiges Leben vorzubereiten."
"Das ist sehr schwer für mich, besonders nachdem ich erlebt habe, wie sie mit Freiheit umgeht. Sie hat mich angelogen!" wiederholte Abby fassungslos. "Und es ist nicht das erste Mal", fügte Nick hinzu. Abby musste irgendwann erfahren, dass ihre engen Vorschriften Sarah dazu brachten, sich zu wehren. Abby riss die Augen weit auf. "Woher weißt du das?" "Sie hat es mir erzählt." "Was hat sie denn noch gemacht?" fragte Abby kühl. "Sie ist mit einer Freundin Auto gefahren, die erst vor kurzem ihren Führerschein gemacht hat. Nichts weiter." "Nichts weiter?" Abby wurde leichenblass. Sie sah aus wie in dem Moment, als sie vom plötzlichen Tod ihrer Eltern erzählt hatte. "Und nun hat sie richtig gelogen und ist außerdem noch viel zu spät nach Hause gekommen." "Nicht später als die anderen, das ist wohl kein Grund zur Anklage", beschwichtigte Nick sie und hoffte, dass Abby es durch die Übertreibung ein wenig heiterer sehen würde. Vergeblich. "Tut mir Leid, dass ich es dir nicht eher erzählt habe, aber ich verstehe, wieso es passiert ist." "Du meinst, ich nicht?" "Nein, denn als du in dem Alter warst, in dem man rebelliert, wurdest du zur Ersatzmutter für deine Schwester. Du hattest nie Gelegenheit, Freiheit auszuprobieren." Er fuhr sich durchs Haar. "Ich habe schon mal versucht, mit dir darüber zu reden, Abby. Du solltest dich öfter in Sarahs Lage versetzen und kannst sie nicht immer an der kurzen Leine halten." "Ich versuche doch nur, sie zu beschützen!" "Ich weiß, mein Liebling. Aber sie einzuengen bringt auch nichts." Nick streckte die Arme nach ihr aus, aber Abby trat fast erschrocken zurück. "Es ist schon spät, und ich bin müde. Außerdem bin ich so zornig, wie ich noch nie in meinem Leben war, und das auf die
beiden Menschen, die mir am wichtigsten ..." Sie unterbrach sich und holte tief Luft. "Ich denke, du gehst jetzt besser." Nick runzelte die Stirn "Wir sollten darüber sprechen." "Da gibt es nichts mehr zu besprechen. Indem du das mit dem Autofahren für dich behalten hast, hast du Sarah indirekt unterstützt. Aus so etwas kann sich etwas Schlimmes entwickeln. Wie würdest du dich fühlen, wenn sie heute Abend einen Unfall gehabt hätte?" "Grauenhaft. Ich weiß nicht recht, wie ..." "Und du hast Recht, ich weiß nicht, wie man rebelliert, aber ich weiß, wie es ist, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht. Und ich werde dafür sorgen, dass es nie wieder passiert." "Lass mich dir dabei helfen, Abby." "Du hast schon genug getan." Sie ging zur Tür und öffnete sie. "Ich weiß es zu schätzen, dass du so spät noch gekommen bist, vielen Dank dafür. Aber nun ist es Zeit, Gute Nacht zu sagen." Nick schüttelte den Kopf. "So wie du das sagst... Es hört sich an wie .Komm mir ja nicht noch mal über die Schwelle'." "Vielleicht wäre das keine schlechte Idee." Nick wagte kaum zu atmen. Er hatte Angst, dass der alte Schmerz wiederkommen und ihn erneut quälen würde. "Das meinst du doch nicht ernst, Abby ..." "Doch", sagte sie und schaute ihn direkt an, "das meine ich, Gute Nacht, Nick."
11. KAPITEL Abby kuschelte sich in die Ecke der Couch und hoffte, dass die Tasse Kaffee, die sie in den Händen hielt, den mangelnden Nachtschlaf wettmachen würde. Aus dem Augenwinkel sah eine Bewegung im Flur. Ihre Schwester war also aufgestanden. Die Auseinandersetzung mit ihr stand ihr bevor. Sarah setzte sich auf die Sessellehne. Sie sah so verschlafen wie trotzig drein. "Tut mir Leid wegen gestern Nacht, Abby." "Mir auch. Aber ich bin noch immer böse mit dir." "Wieso solltest du auch milder mit mir umgehen, nur weil Nick es dir geraten hat." "Das hier geht nur dich und mich etwas an, Sarah. Wieso verstehst du nicht, dass ich nur so gut wie möglich versuche, das weiterzuführen, was Mom und Dad begonnen haben?" In Abbys Augen brannten Tränen. "Und dass ich deshalb so streng bin?" Sarah wirkte bedrückt. "Und warum kannst du nicht verstehen, dass ich mich jedes Mal schuldig fühle, wenn du meinetwegen nicht ausgehst? Wenn ich schon achtzehn wäre, würde ich sofort ausziehen. Dann brauchtest du dir keine Sorgen mehr um mich zu machen." "Ich habe dich sehr lieb, Sarah." Abbys Magen zog sich zusammen, wenn sie nur daran dachte, dass sie den einzigen Menschen verlieren könnte, den sie hatte. "Deshalb werde ich
mir immer um dich Sorgen machen. Du bist alles, was ich habe." "Du hast doch Nick." Abby schüttelte den Kopf. "Er ist mein Chef." "Er mag dich, Abby. Aber ich habe gehört, was du zu ihm gesagt hast. Du solltest noch mal mit ihm sprechen." "Da gibt es nichts mehr zu sagen." Sarah stand auf. Sie schaute wieder trotzig drein. "Oh, doch! Außerdem magst du ihn auch, und er könnte dir zeigen, wie man auch mal Spaß hat." "Damit ich dann nicht so streng mit dir bin?" Abby versuchte, ihrer Schwester ein Lächeln zu entlocken. "Nein. Oder vielleicht doch. Aber vor allem geht es um dich. Ich sollte nicht dein alleiniger Lebensinhalt sein. Was machst du sonst, wenn ich erwachsen bin, Abby?" Damit drehte sie sich um und verließ den Raum. Abby begriff auf einmal, wieso sie sich so schlecht fühlte. Es kam ihr vor, als würde sie erneut alles verlieren, was sie hatte. Sobald sich die Tür hinter Nick geschlossen hatte, war ihr etwas klar geworden. Sie war in ihn verliebt! Aber das konnte doch nicht sein, oder? So viel Zeit hatte sie gar nicht mit ihm verbracht. Oder verliebte man sich spontan, so wie ihre Eltern? Trotz vieler Schwierigkeiten hatten die immerhin mehr gute als schlechte Zeiten miteinander gehabt. Wenn sie noch lebten, wären sie vielleicht imstande gewesen, ihre Ehe zu retten. Aber Abby konnte Nick bestimmt nicht glücklich machen. Ein deprimierender Gedanke. Abby stand im Gästeraum des Restaurants, die Reservierungsliste in der Hand. Plötzlich kam Madison Wainright auf sie zu. "Abby, könnte ich mal mit Ihnen sprechen?" "Natürlich", sagte Abby automatisch, obgleich Madisons Erscheinen ihr einen Moment lang den Atem verschlug.
Ihr war gar nicht danach, mit Madison zu sprechen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr das, was sie hören würde, nicht gefallen würde. Wenn sie und Nick sich wieder versöhnt hätten, wäre das einerseits gut und andererseits nicht. Letzteres, weil Abby bewusst geworden war, dass sie sich in Nick verliebt hatte. Positiv war. es jedoch, weil Nick mit Madison vermutlich glücklich werden würde. Nachdem ihr Ärger verraucht gewesen war, war ihr mit Entsetzen bewusst geworden, dass sie ihn regelrecht weggeschickt hatte! Mehrmals wollte sie ihn danach anrufen, um sich zu entschuldigen. Aber dann? Dann wäre sie genau da, wo sie vorher war. Bei einer Liebe ohne Aussichten. Da es nun mal so gelaufen war, war es vielleicht das Beste, es auch dabei zu belassen. Die Zukunft erschien ihr nun allerdings irgendwie düster. Ohne Nick schien alle Farbe aus ihrem Leben gewichen zu sein. Da waren nur noch Leere und ein nagender Schmerz, der sie bis in den Schlaf hinein verfolgte. "Vielleicht sollten wir uns ein ruhiges Plätzchen suchen", schlug Abby vor und wies den Weg ins Büro am Ende des Flurs. "Störe ich Sie auch nicht bei der Arbeit?" fragte Madison freundlich und schaute sich im Lokal um. Abby sah auf die Uhr. "Nein, der große Ansturm ist vorbei. Außerdem könnte ich eine kleine Pause gebrauchen. Hier entlang", sagte sie. Sie führte Madison in einen ruhigen Raum im hinteren Teil des Restaurants. "Setzen Sie sich, bitte", forderte sie die Besucherin auf und nahm selbst am Schreibtisch Platz. Madison nahm einen der Stühle und setzte sich ihr gegenüber. "Ich würde gern mit Ihnen über Nick sprechen." Allein bei der Nennung seines Namens erzitterte Abby innerlich. "Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nicht mit mir über den Preis der Pasta-Gerichte sprechen wollen", entgegnete sie ein wenig schroff.
Madison lächelte. "Nein, auf dem Gebiet habe ich wenig Ahnung." "Bevor Sie anfangen, möchte ich Ihnen versichern, dass Nick und ich nichts anderes als gute Freunde sind." Lügnerin! Nicht nur, dass sie sich in Nick verliebt hatte, aber nun waren sie nicht mal mehr Freunde! "Was mich betrifft, so brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen." "Komisch, genau das wollte ich Ihnen sagen." Abby blinzelte, als sie den Inhalt der Worte begriff. "Was meinen Sie damit?" "Nick und ich sind nur gute Freunde. Sie haben von mir nichts zu befürchten." "Wieso, ich denke, Sie haben sich nur vorübergehend getrennt und werden wieder zusammenkommen? Wenn Sie sich Mühe geben, können Sie die Probleme, die es vielleicht gibt, bestimmt lösen." "Das glaube ich nicht." "Madison, Sie sollten nicht so schnell aufgeben. Einen besseren Mann als Nick finden Sie nicht! Er ist loyal, lustig, intelligent. Und er sieht gut genug aus, um eine Heilige in Versuchung zu führen." Abby hatte plötzlich das Gefühl, dass die vielen Jahre harter Arbeit und ohne Privatvergnügen sie offenbar dazu gebracht hatten, durchzudrehen. Wieso sollte sie sonst einer Frau gegenüber den Mann anpreisen, den sie selbst liebte? Weil sie ihm die Frau und die Familie wünschte, nach der er sich sehnte? "Ja, das ist er und noch vieles mehr", bestätigte Madison, "Was stimmt also nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so schnell aufgeben. Sie haben Jura studiert, dazu braucht man doch auch Ausdauer! Sie sollten es erneut versuchen! Sonst wird ihm noch einmal das Herz gebrochen." "Noch einmal?" fragte Madison verwirrt. "Na ja, wie von diesem Biest in Phoenix, das er damals geheiratet hat."
Madison war eine Weile sprachlos. "Wovon reden Sie, Abby?" "Wissen Sie es denn nicht, er hat Ihnen doch sicher von dieser Frau erzählt, die von einem anderen schwanger war und die er geheiratet hat, um ihr und dem Baby einen Namen zu geben. Dann kam dieser Mistkerl zurück, und sie ließ Nick einfach fallen." Madisons Überraschung war ehrlich. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung von dieser Geschichte gehabt, Nick hatte ihr das nicht anvertraut. Du lieber Himmel, hieß das, dass Nick es ihr als Erster erzählt hatte? Das bedeutete... Was das bedeutete, mochte Abby gar nicht zu Ende denken. "Nein, davon hatte ich keine Ahnung! Der arme Nick! Er kümmert sich immer um andere. Dabei braucht er jemanden, der ihn vor sich selbst schützt." "Er hat doch Sie", meinte Abby, die allmählich nervös wurde. "Nein, es war richtig, dass wir uns getrennt haben." "Aber er mag Sie doch!" Madison zuckte mit den Schultern. "Na ja, als Freundin schon, aber das reicht mir nicht. Außerdem würde immer eine andere Frau zwischen uns stehen." "Wieso, wer denn?" fragte Abby, obgleich sie die Antwort ahnte. "Sie, Abby." "Nein, das kann nicht sein, ich passe überhaupt nicht zu ihm." Madison zuckte mit den Schultern. "Wer sagt das? Wenn er nicht in Sie verliebt ist, dann steht er Ihnen jedenfalls ausgesprochen nahe." "Ich will aber nicht, dass er sich um mich kümmert." Abby stand auf. "Madison, Sie sollten sich um ihn bemühen. Ihm wurde schon zwei Mal sehr wehgetan, und das eine Mal hatte mit Ihnen zu tun." "Nein, ein Marchetti kommt für mich nicht in Frage." Madison schüttelte heftig den Kopf. "Übrigens habe ich ihm
damit nicht wehgetan. Aber Sie werden ihm das Herz brechen, wenn Sie nicht endlich aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken, anstatt zu akzeptieren, was er Ihnen bietet." "Nein, für mich kommt er nicht in Frage", erklärte Abby entschieden, die von einem Gefühl überschwemmt wurde, das sowohl Panik als auch Schmerz enthielt. "Ich verstehe nicht, was Sie daran hindert, Abby. Sie mögen ihn doch, oder?" "Hat Nick Sie etwa beauftragt, zu mir zu kommen?" fragte Abby. "Nein, aber ich habe ihn vor kurzem gesehen, da ich wegen der Firma etwas mit ihm zu besprechen hatte. Da tauchte Ihr Name auf." "Mein Name?" "Ja. Ich weiß nicht mehr, wieso, aber er sagte mir, Sie glaubten, dass er und ich noch ein Paar seien. Und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass dem nicht so ist." "Sie könnten es doch noch einmal miteinander versuchen", meinte Abby wieder. "Nein, ich weiß, wann die Umstände gegen mich sind. Nick hatte wieder diesen Augenausdruck, den er immer hat, wenn er von Ihnen spricht." Abby mochte es sich kaum eingestehen, aber die Worte machten sie glücklich! Dabei durfte sie sich keine Hoffnungen machen. Trotzdem hakte sie nach: "Was für einen Augenausdruck?" "Der ist schwer zu beschreiben. So, als könnten Sie ihm die Sterne vom Himmel holen." Madison seufzte. "Wirklich?" Die Frage war rein rhetorisch. Auf einmal begriff Abby, wieso sie gedacht hatte, dass Madison nicht die Richtige für Nick war. Wenn er von ihr sprach, sah er nie so aus, als wäre sein Herz mit ihr verbunden. "Abby, im Gegensatz zu dem, was Sie über Rechtsanwälte gehört haben mögen, sage ich immer die Wahrheit. Wirklich."
Madison stand auf und ging zur Tür, "Und noch etwas. Ich mag Sie. Das alles wäre leichter für mich, wenn es nicht so wäre. Nick hat Sie vor mir kennen gelernt, ich hatte eigentlich nie eine Chance bei ihm." "Wissen Sie, ich ..." Madison hob leicht die Hand. "Sagen Sie nichts. Ich glaube, ich gehe wieder ins Restaurant und genehmige mir erst mal ein schönes Glas guten Weißwein." Abby begleitete sie hinaus. Als sie zur Bar kamen, stand Luke dort. "Na wunderbar", murmelte Madison. "Das fehlte mir gerade noch: ein weiterer Marchetti." Abby schaute den Jüngsten der Marchetti-Söhne an und dachte, dass Madison doch etwas Schlimmeres passieren könnte. Auch Luke sah sehr gut aus. Er hatte nicht Nicks lässige, lockere Art, wirkte aber auf eine aridere Art attraktiv. Als sie die beiden zusammenstehen sah, dachte sie, dass sie ein prima Paar wären wenn Madison nicht eigentlich an Nick interessiert wäre. Trotz allem hoffte Abby, dass die beiden wieder zusammenkommen würden. Nick sollte glücklich sein, nur darum ging es. Luke strahlte Madison an. "Hi, Maddie." "Hallo", erwiderte sie. "Welchem Umstand haben wir denn die Ehre deines Besuches zu verdanken?" fragte Abby Luke. Zögernd wandte er den Blick von Madison. "Ich suche Nick. Seit Stunden versuche ich, ihn zu erreichen, kann ihn aber nicht finden. Ma schlug vor, hier nach ihm zu sehen. Sonst treffe ich ihn eben morgen im Büro." Luke setzte sich auf einen der Barhocker. "Ich dachte, es würde dich interessieren, wie sich die Gästezahlen entwickelt haben", sagte er zu Abby. "Du hast gut gearbeitet, Abby."
"Prima." Wenn sich der Rest ihres Lebens nur auch so gut entwickeln würde ... "Vielen Dank für die gute Nachricht, Luke." "War mir ein Vergnügen." Luke schaute Madison an. "Und du, Maddie, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du deinen liebsten Freund verloren." "Nein", mischte Abby sich schnell ein, "ihre Trennung ist nur vorübergehend." "Sie wissen genau, dass das nicht stimmt", entgegnete Madison ein bisschen traurig. "Ich muss wieder an die Arbeit." Abby umarmte Madison spontan. "Vielen Dank, dass Sie helfen wollten." Beim Weggehen hörte sie noch, wie Luke fragte: "Kann ich dich zu einem Drink einladen, Maddie? Ich habe zwei kräftige Schultern. Du kannst dir eine davon aussuchen, um dich an ihr auszuweinen." Abby schloss die Wagentür ab. Der Wind war kalt und der Stoff ihrer Kostümjacke nur dünn. Vor allem jedoch fror sie innerlich. Sie wusste kaum, wie sie nach Hause gefahren war, so sehr hatte es sie mitgenommen, was sie durch Madison erfahren hatte. Nick hatte Madison sein Geheimnis nicht verraten. Das bedeutete, dass er sich ihr, Abby, am nächsten fühlte. War es möglich, dass Madison und Sarah Recht hatten? Hatte Nick wirklich tiefere Gefühle für sie? Mit dem Schlüssel in der Hand, ging sie durchs Treppenhaus. Als sie sich ihrer Wohnung näherte, trat plötzlich ein Mann aus dem Schatten. Abby schrak zusammen. "Hallo, Abby." "Nick!" rief sie erstaunt und schlug sich unwillkürlich mit der Hand an die Brust. "Du hast mich zu Tode erschreckt!" "Tut mir Leid, das wollte ich nicht. Aber ich muss unbedingt mit dir sprechen."
"Du hättest doch im Restaurant vorbeikommen können. Luke war übrigens da, er sucht dich." "Ich wollte privat mit dir sprechen," Nick schob die Hände in die Hosentaschen, so dass das Jackett hochgeschoben wurde, "Ich wollte mich noch einmal für das entschuldigen, was ich dir hinsichtlich Sarah verheimlicht hatte. Du hattest ein Recht darauf, es zu erfahren." "Na ja, ich habe etwas übertrieben darauf reagiert." Abby hantierte an ihrem Schlüsselbund herum. "Mir hat das alles ziemlich Angst gemacht, und das habe ich an dir ausgelassen, während du nur versucht hast zu helfen." "Du weißt, was man darüber sagt, wenn man ausgerechnet diejenigen verletzt, die einem am nächsten ..." "Schon gut!" unterbrach sie ihn. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie den Schlüssel nicht ins Schloss bekam. Nick nahm ihn ihr freundlich ab. Dabei berührte er kurz Abbys Finger. Seine Haut war ganz warm. Sie wollte Nick sagen, dass er gehen sollte, und ihn gleichzeitig bitten, dass er niemals mehr gehen sollte. Am liebsten hätte sie sich unter eine Decke gekuschelt und hundert Jahre geschlafen - mit Nick an der Seite. Doch das waren alberne Träume. Darum sollte sie es lieber schnell hinter sich bringen. Sie betraten die Wohnung, Abby knipste das Licht an und schloss die Tür. "Bevor du etwas sagst, möchte ich dich etwas fragen." "Bitte." "Wieso hast du Madison nichts von Margaret erzählt?" "Woher weißt du, dass ich es nicht getan habe?" Abby stellte ihre Handtasche auf die Kommode und zog ihre Jacke aus. "Sie war heute Abend im Restaurant, um mit mir zu sprechen." "Ach, ja?" Madison schien die Wahrheit gesagt zu haben. Nick hatte sie eindeutig nicht zu ihr geschickt. Abby nickte.
"Wieso das?" "Sie erklärte mir, dass ihr beiden euch nicht mehr seht." "Und wie kamt ihr dabei auf Margaret?" "Ich sagte ihr, sie dürfe dir nicht so wehtun, wie Margaret es getan hätte, aber sie schien nicht die geringste Ahnung zu haben, wovon ich sprach. Was bedeutet das, Nick? Wieso hast du es nur mir gesagt? Vor deiner Familie und vor deiner Freundin?" Nick rieb sich die Schläfen. "Es ist so einfach, dass ich es selbst lange Zeit nicht begriffen habe." "Ich verstehe es noch immer nicht." "Oh, doch, das tust du, Abby." Nick schaute sie unverwandt an. Abby wollte den Blick von ihm abwenden, konnte es aber nicht. Am liebsten hätte sie sich ihm in die Arme geworfen, aber auch dazu war sie nicht in der Lage. Sie hätten Ewigkeiten so stehen bleiben können ... "Nick, sag jetzt nichts mehr. Du bist mein Chef, und ich möchte unser Arbeitsverhältnis nicht erschweren." Er lachte bitter auf. "Das ist doch längst erschwert." "Nein, das muss es nicht sein. Wenn wir jetzt nicht weitersprechen, geht alles einfach vorüber." "Das wird es nicht tun, Abby, jedenfalls was mich betrifft." "Ich möchte dir nicht wehtun, Nick, aber ich bin nicht die Richtige für dich. Ich muss erst meine Ausbildung beenden und Sarah genauso. Sie geht dann aufs College, und ich muss arbeiten. Ich möchte erst dann eine Beziehung eingehen, wenn ich auch die Zeit habe zu beurteilen, ob jemand richtig ist für mich oder nicht." "Wann begreifst du denn endlich, Abby?" "Ich sehe es doch jeden Tag." Nick schüttelte den Kopf. "Kein bisschen, du steckst den Kopf in den Sand, Abby." "Genau das hat Madison auch gesagt." Er lächelte bitter. "Weißt du auch, was passiert, wenn man seinen Kopf in den Sand steckt?"
"Ich denke, du wirst es mir gleich sagen." Er kam so nahe, dass Abby den Duft seines After Shaves wahrnahm. So dicht, dass sie den Pulsschlag an seinem Hals erkennen konnte. So nahe, dass sie seine Wärme spüren und sich geborgen fühlen konnte. Er hob ihr Kinn, so dass sie ihm in die Augen schauen musste. "Als dein selbst ernannter Schutzengel muss ich es dir sagen. Wenn du den Kopf in den Sand steckst, streckst du dafür deinen hübsch geformter Hintern in die Höhe." "Wie schaffst du es nur, mir ein Kompliment zu machen und mich gleichzeitig zu beleidigen." Er grinste kurz. "Das ist eins meiner Talente." "Ich wollte, ich hätte es auch. Denn ich kann dir nicht geben, was du brauchst, Nick." "Oh, doch, das kannst du. Ich bitte dich nur, uns eine Chance zugeben." "Dazu habe ich keine Zeit." Er packte sie bei den Schultern. "Unsinn! Du versteckst dich doch nur hinter deiner Verantwortung. Du kommst mir vor wie die einsame Prinzessin in ihrem Elfenbeinturm." "Wir leben nicht im Märchen, und du bist nicht mein Ritter in glänzender Rüstung." "Oh, doch. Du musst es nur zulassen." "Das möchte ich ja gern - wenn du ein paar Jahre warten könntest." "Man kann gleichzeitig ein Berufs- und ein Privatleben haben! Du hast doch ein Recht darauf, glücklich zu sein!" "Wirklich? Alles, was ich brauche, ist Zeit. Und deine Freundschaft. Gib mir nur das, Nick." "Wir wäre es statt dessen damit?" Er senkte den Kopf, und dafür, dass er so aufgebracht war, war der Kuss überraschend zart. Seine Lippen fühlten sich warm und weich an und waren überzeugend.
Abby durchrieselte es heiß. Sie versuchte, sichrem Kuss zu entziehen, aber Nick vertiefte ihn, und er drängte seine Zunge in ihren Mund. Abby konnte nicht anders, sie sank in seine Arme. Und Nick hielt sie ganz fest. Als er sich wieder von ihr löste, streifte sein Atem ihr Gesicht. Er flüsterte: "Abby, ich ..." Sie schob ihn von sich. "Ich kann nicht, Nick." "Du meinst, du willst nicht." Er sah verletzt aus. "Du bist einfach feige." "Nein, das bin ich nicht!" protestierte sie. "Wo ist nur die mutige junge Frau geblieben, die ich mal kennen gelernt habe? Die, die in meinem Büro stand und behauptete, sie würde die beste Angestellte werden, die ich je gehabt hätte! Weil ihre Eltern gerade gestorben waren, weil sie eine Arbeit brauchte, um sich und ihre Schwester zu ernähren. Jene Abby war das Tapferste, was mir je untergekommen ist. Die Frau, in die ich mich verlie..." "Sag es nicht, Nick!" Abby hob die Hand "Bitte sprich nicht weiter." Das war das zweite Mal in den letzten fünf Minuten, dass er versucht hatte, es auszusprechen, aber Abby ließ es einfach nicht zu. Sie hatte einfach zu viel Angst. Dabei hätte sie gern alle Vorsicht in den Wind geschrieben und wäre mit diesem wunderbaren Mann auf eine gemeinsame Reise gegangen. Aber die Unbefangenheit war bei dem Unfall ihrer Eltern mitgestorben. Der Schock hatte sie gelehrt, dass man immer mit Verlust rechnen musste, dass nichts von Bestand war. Abby wollte sich schützen, so gut sie konnte. "Liebes, ich ..." "Nick, es ist schon spät, und ich muss noch für die Prüfung lernen. Es freut mich, dass du vorbeigekommen bist, aber jetzt habe ich zu tun." Die alte Ausrede. Und die milderte den Schmerz in seinem Blick natürlich nicht. Abby nahm alle Kraft zusammen, um Nick
nicht zu umarmen und ihm zu gestehen, dass sie der größte Dummkopf aller Zeiten war, dass sie ihn liebte, und dass sie hoffte, er würde ihr ihre Dummheit verzeihen. Statt dessen brachte sie ihn zur Tür und öffnete sie. Zornig sagte er: "Reinfall Nummer drei, Abby." Damit ging er und schlug die Tür hinter sich zu. Abby drängte die Tränen zurück, die ihr in die Augen stiegen. Das, was sie beide miteinander verbunden hatte, war nun zerstört. Könnte sie ihm doch nur geben, was er brauchte! Sie hatte sich so darum bemüht, dass es zwischen ihnen nicht ernst wurde. Denn sie war fest davon überzeugt, dass sie alles verlieren würde, wenn sie sich ihre Liebe für Nick eingestand. Auch seine Freundschaft. Aber Recht zu haben schmerzte viel mehr, als Abby es sich je hätte vorstellen können.
12. KAPITEL "Nur mal als Anmerkung: Du kannst aufhören, uns verkuppeln zu wollen. Zwischen Abby und mir läuft nichts." Nick war von ihrer Wohnung zu seiner Familie gefahren. Nun saß er bei seiner Mutter am Küchentisch. Er sah auf die heiße Schokolade, die sie vor ihn gestellt hatte, und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Flos Schweigen, das für sie so untypisch war, erstaunte ihn. "Wieso sagst du gar nichts, Ma? Du könntest wenigstens eine Verzichterklärung über deine Versuche abgeben, uns zusammenbringen zu wollen." "Wieso, warum sollte eine Mutter das nicht tun? Jetzt liegt es nur an dir. Hast du schon einen Plan dafür, wie du sie zurückgewinnen kannst?" "Ich sagte dir doch, ihr liegt nichts an mir. Sie hat gesagt, ich solle verschwinden und nie mehr wiederkommen." "Das meint sie nicht so." "Oh, doch! Das zeigt sie mir seit Wochen. Ich war nur viel zu angespannt, um diese Botschaft zu verstehen." "Du bist zu angespannt, wenn du glaubst, dass das die Botschaft ist, die sie dir sendet." "Was soll das heißen?" Flo Marchetti zog den Gürtel ihres Morgenrocks enger, setzte sich Nick gegenüber und bewegte den Teebeutel in ihrem Becher auf und ab. "Das heißt, dass sie in dich verliebt ist. Was
meinst du wohl, warum ich den Rest der Familie davon abgehalten habe, an dem Wochenende nach Thanksgiving zur Berghütte zu fahren?" "Du gibst es also zu?" "Natürlich." Flo nickte zufrieden. "Und ich freue mich, dass sie ausnahmsweise mal ihren Mund gehalten haben. Ich kam durch Rosie auf die Idee, als sie erzählte, dass sie und Steve sich dort ineinander verliebt hätten." "Vielen Dank, Ma, und erinnere mich daran, dass ich mich auch bei meiner Schwester bedanke, denn das war der Anfang vom Ende. Wenn ich Abby nicht geküsst hätte ..." "Und?" "Nichts und. Leider gar nichts und. Flo zupfte an ihrer Lippe. "Das verstehe ich nicht, sie ist doch so verliebt in dich. Das ist mir damals gleich aufgefallen." Nick schnaubte leise. "Verliebt? Dass ich nicht lache. Dazu hat sie gar keine Zeit. Neben ihrer Arbeit, der Schule und Sarah - obgleich die nun fast erwachsen ist - hat sie absolut keine Zeit, sich in jemanden zu verlieben, wie sie behauptet." "Sie hat einfach nur Angst davor." "Angst? Abby ist der mutigste Mensch, den ich kenne", verteidigte er sie. Dabei hatte er ihr vor kurzem noch gerade das Gegenteil vorgeworfen. "Dann hat sie nicht den Verstand einer Ameise." "Abby ist eine der intelligentesten Personen, die mir je über den Weg gelaufen sind. Überleg mal, wie weit sie gekommen ist, seitdem sie für uns arbeitet! Dazu muss man schon intelligent sein, mit allem, was sie sonst noch um die Ohren hat." "Ach, Nick, vielleicht ist es das Beste so. So attraktiv ist sie ja nun auch wieder nicht..." "Sie ist umwerfend, Ma! Hör mal, ich wollte dich nur über den Stand der Dinge informieren und muss mir hier nicht anhören, dass du die Frau, die ich liebe, schlecht machst!"
Flo lächelte wie die Katze, die den Kanarienvogel verspeist hat. "Das wusste ich doch." "Ach, du wolltest mich nur provozieren?" Flo nickte. "Schau mich nicht so selbstgefällig an, ich wusste es auch. Aber um auf deine Frage von vorhin zurückzukommen, was ich zu tun gedenke. Die Antwort ist: nichts. Denn du hast Unrecht. Abby empfindet nicht das Gleiche für mich wie ich für sie. Sie lässt es nicht mal zu, dass ich es in Worte kleide. Jedes Mal, wenn ich dazu ansetze, ihr zu sagen, dass ich sie liebe, unterbricht sie mich." "Die arme Abby", meinte Flo mitleidig. "Und was ist mit mir? Meine eigene Mutter! Ich bin doch dein Fleisch und Blut! Du solltest Partei für mich ergreifen!" "Stimmt, ich bin deine Mutter, und es war meine tiefste Hoffnung, dass keins meiner Kinder sich zu einem Dummkopf entwickelt." "Nun hör mal zu, Ma, ich glaube nicht, dass es von Dummheit zeugt, wenn ich versuche, den Verlust in Grenzen zu halten und lieber gehe, wenn ich merke, dass eine Frau meine Gefühle nicht teilt." Flo zeigte auf ihn. "Und genau darin liegt der Fehler. Sie liebt dich, sonst hätte sie dich nicht daran gehindert, dass du es ihr sagst. Sie möchte es dir ersparen, dass du noch einmal so verletzt wirst wie von dieser Frau in Phoenix. Dir muss nur klar werden, was sie davon abhält. Sie hat doch bewiesen, dass sie Ausdauer hat und nicht die Menschen verlässt, die sie liebt. Aber sie lässt Gefühle erst zu, wenn sie damit rechnen kann, dass es für immer ist. Denk mal an das, was sie durchgemacht hat, Nick. Sie hat früh gelernt, dass ein ,Für immer' in einer Sekunde zu Ende sein kann." "Stimmt, Abby hat eine Menge durchgemacht, aber ..." "Kein Aber. Das Schicksal hat ihr die Eltern genommen, dadurch ist ihre Welt völlig außer Kontrolle geraten. Damit dass
sie sich ihre Liebe zu dir nicht eingesteht, versucht sie nur, ihr Leben so zu belassen, wie es ist, weil sie Angst hat, dass es erneut kaputt geht. Wenn du sie verlässt, ist sie nur um so mehr davon überzeugt, dass sie Recht mit ihrer Angst davor hat, zu Menschen eine engere Beziehung aufzubauen." Nick dachte über das nach, was seine Mutter gerade gesagt hatte. Er wusste, was es hieß, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nicht so wie Abby, aber doch genug. Inzwischen war ihm klar geworden, dass er und Margaret von Anfang an nicht zusammengepasst hatten. Das war ein Strohfeuer gewesen, das schnell ausgebrannt war und nur Asche hinterlassen hatte. Das, was sich zwischen Abby und ihm in all den Jahren entwickelt hatte, war etwas ganz anderes. Aber es war, als hätte er die ganze Zeit in einer Art Winterschlaf gelegen, weil er solche Angst davor hatte, erneut enttäuscht zu werden. Also reagierte er genauso wie Abby? Er durfte nicht einfach aufgeben und gehen. Abby war die einzige Frau, die ihn davon abbringen könnte, ein ewiger Junggeselle zu bleiben, und die ihm das geben konnte, was er sich wünschte. Aber dazu musste er erneut das tun, was er, seitdem sie sich kannten, dauernd tat: Er musste noch einmal zu ihr fahren. Abby saß erschöpft auf dem Sofa und rieb sich die Augen. Sie war froh, dass die Prüfung vorüber war. Nick hatte sie seit Tagen nicht gesehen. Seitdem schlief sie nur schlecht, sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht vergessen, kurz bevor er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Wann immer sie daran dachte, zog sich ihr das Herz zusammen. Wenn sie ihn doch nur nicht so sehr lieben würde ... Nick hatte Recht darin, dass sie Nachhilfeunterricht im Führen einer Beziehung brauchte. Davon verstand sie wirklich gar nichts! Sie dachte an den Kuss in der Berghütte und seufzte. Und an den, den sie genau hier ausgetauscht hatten, und stöhnte. Nick hatte ihr so sehr geholfen und ihr so viel beigebracht ...
Aber in einem solchen Kursus könnte sie niemals die Prüfung bestehen, da würde sie mit Pauken und Trompeten durchfallen. Abby hatte keine Ahnung, wie man sich in einer solchen Situation benahm. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie zu Nick gehen sollte, ihm sagen, wie es um sie stand, und ihn um Verzeihung bitten. Sie wollte ihn doch keinesfalls verlieren! Wenn er sie schon nicht wirklich liebte, dann sollte er wenigstens ihr Freund bleiben. Sarah ging in die Küche, holte, sich ein Mineralwasser und setzte sich neben Abby auf die Couch. "Kann ich mal mir dir reden?" "Natürlich." "Nick hat mir gesagt, ich sollte mich für mein Verhalten bei dir entschuldigen. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie sehr du dir neulich Nacht Sorgen um mich gemacht hast. Er sagte, ich hätte in einer passiv-aggressiven Weise gelogen, was immer das heißen mag." Abby musste lächeln. Typisch Nick. Ein ManagementAusdruck. Sie nahm die Hand ihrer Schwester. "Schon gut, meine Liebe. Mir hat er gesagt, ich musste dir mehr Freiraum geben, damit du besser auf die Zeit vorbereitet bist, wenn du das heimische Nest verlasst." Sarah lächelte. "Hört sich ganz nach ihm an. Dann bist du mir also nicht mehr böse?" "Nein, natürlich nicht. Du bist doch alles, was ich auf der Welt habe." Sarah runzelte die Stirn. "Du hast nicht nur mich, sondern auch Nick. Selbst wenn der sich seit neulich irgendwie kühl verhält. Ich habe ihm erklärt, dass du eine Prüfung machst, aber er wirkt ziemlich komisch." "Schon gut, wir hatten ein Gespräch miteinander." Abby traten Tränen in die Augen, aber sie wollte vor ihrer Schwester nicht weinen. "Er hat wohl endlich begriffen, was ich ihm sagen wollte."
Sarah schnippte mit den Fingern. "Da fällt mir ein, was ich dir noch sagen sollte. Ich habe eine Nachricht für dich." Sie sprang auf, rannte in ihr Zimmer und kam mit einer Notiz zurück. "Von Luke." Abby erschrak zutiefst, nachdem sie sie gelesen hatte. "M & M Marchetti. Alex. Nick ist im Krankenhaus", las sie leise vor. "Was ist denn los? Was heißt das?" fragte sie. Sarah wurde verlegen: "Ich telefonierte gerade mit Austin, als seine Nachricht kam. Darum habe ich nicht richtig zugehört, und nur die paar Worte notiert. Tut mir Leid, Abby." "Nick ist im Krankenhaus?" Abby wurde ganz blass. "Himmel, nein, nicht schon wieder, nicht Nick!" Sie sprang auf und griff nach ihrer Handtasche. "Ich muss zu ihm!" "Soll ich mitkommen?" fragte Sarah. Oh, ja! dachte Abby. Laut aber sagte sie: "Du bleibst besser hier für den Fall, dass Luke sich noch mal meldet." Sarah biss sich auf die Lippe und nickte. Dann eilte Abby nach draußen zu ihrem Wagen. Während sie den Motor zündete, flehte sie: "Bitte, lass mit ihm alles in Ordnung sein, damit ich ihm sagen kann, dass ich ihn liebe." Im Laufschritt betrat Abby das Regional Medical Center und blieb am Empfang stehen. Am liebsten hätte sie die Dame dort angeherrscht, sie solle endlich aufhören zu telefonieren und ihr sagen, wo Nick sich befand, hielt sich aber mühsam zurück. Schließlich blickte die Frau auf. "Kann ich Ihnen helfen?" "Haben Sie einen Mr. Marchetti hier?" Sie schaute in den Computer und nickte. "Ja, zweiter Stock, Zimmer 208." "Wie komme ich da hin?" Abby wollte keinerlei Zeit damit verschwenden, herumzusuchen. Zeit hatte immer eine große Rolle in ihrem Leben gespielt. Die Frau wies nach links. "Der Fahrstuhl ist da hinten."
Abby rannte den Flur hinunter, drückte den Knopf und war in weniger als einer Minute im zweiten Stock. Eilig ging sie ins Schwesternzimmer, um sich Informationen zu holen, sah aber schon, dass Flo und Tom Marchetti vor einem Zimmer standen. Luke und Joe waren ebenfalls da. Dort musste Nick sein. Flo, die sie aus der Ferne entdeckte, winkte ihr zu. "Wie geht es ihm?" fragte Abby aufgeregt, sobald sie bei ihnen war. "Ich habe die Nachricht bekommen. Wie geht es Nick?" "Mir geht es gut", sagte der. In diesem Augenblick sah Abby ihn im Türrahmen stehen, völlig gesund und sogar richtig fröhlich. Dass es ihm gut zu gehen schien, brachte sie nach der Anspannung so aus der Fassung, dass sie in Tränen ausbrach. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und wendete sich ab. "Hey, was ist denn los?" fragte Nick besorgt. Sie spürte, wie er seine Arme um sie legte, und barg spontan den Kopf an seiner Brust. "Was ist denn los, Liebling?" fragte er liebevoll. "Ich h... hörte, d... dass du im Kr... Krankenhaus bist." Abby konnte nicht aufhören zu schluchzen. "Lass uns irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist", sagte er und führte sie den Flur hinunter. Abby war froh, dass er den Arm nicht von ihrer Schulter nahm. Wenn es jetzt das letzte Mal wäre, dass er mit ihr sprach, würde sie sich wenigstens an diesen schönen Moment erinnern können. Gegenüber einer Reihe von Fenstern befand sich ein Wartezimmer mit einer Couch, Tischen und Stühlen. Nick setzte sich auf die Couch, zog Abby, die sich anfangs wehrte, auf seinen Schoß und legte die Arme fest um sie. Nun weinte sie wieder stärker. Er war so lieb mit ihr, das hatte sie doch nicht verdient!
"Weine ruhig", sagte er zärtlich. "Ich glaube, das hast du schon lange mal gebraucht." Abby wusste später nicht mehr, wie lange sie geweint hatte. Irgendwann war sie erschöpft wie noch nie in ihrem Leben. Seufzend hob sie das Gesicht und wischte sich die Tränen ab. "Alles in Ordnung?" fragte Nick besorgt. "Ja. Und du?" "Mir würde es besser gehen, wenn du mir erzähltest, was los ist." Ihr klopfte das Herz. "Erst du. Sarah hat irgendeine bruchstückhafte Nachricht bekommen, dass du und Luke im Krankenhaus seid. Was ist denn passiert?" "Alex hatte eine Lebensmittelvergiftung, aber es geht ihm schon wieder besser, er braucht sich nur ein bisschen auszuruhen. Allerdings muss sein Versuch, jemanden zu finden, der die Tiefkühlabteilung übernimmt, noch warten." Abby atmete tief aus. "Und ich dachte, du hättest einen Unfall gehabt, und es würde mir schon wieder passieren." "So wie das mit deinen Eltern?" Als Abby nickte, sagte Nick: "Erzähl es mir." Sie schniefte und zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche. "Es ist meine Schuld, dass sie gestorben sind. Ich wollte, dass sie sich wieder versöhnten, weil ich nicht das einzige Scheidungskind unter meinen Freunden sein mochte. Und weil ich nicht wollte, dass sich mein Leben änderte. Sie sprachen davon, für ein verlängertes Wochenende wegzufahren, hatten aber Bedenken, uns allein zu lassen. Ich sagte ihnen jedoch, ich könnte schon allein auf Sarah und mich aufpassen." Abby atmete stoßweise. "Meine letzten Worte zu ihnen war mein Versprechen, dass ich gut für Sarah sorgen würde. Und das tue ich seitdem." "Aber damit hast du sie doch nicht umgebracht!" "Wenn ich nicht so betont hätte, dass ich auf uns beide aufpassen könnte, wären sie sicher zu Hause geblieben.
Vielleicht wären sie nicht mehr verheiratet, aber dafür noch am Leben!" "Das erklärt alles. Ich danke dir, dass du es mir erzählt hast." Nick drückte sie tröstend. "Aber es ist nicht deine Schuld, dass sie gestorben sind. Niemand weiß, warum so schreckliche Dinge passieren." "Es erinnert einen aber immer daran, wie kostbar das Leben ist. Wir müssen jede Sekunde genießen." "Darin stimme ich dir vollkommen zu. Darum muss ich dir jetzt auch endlich etwas sagen." "Nein, erst ich! Du hattest Recht, Nick. Ich habe mich hinter meinen Pflichten versteckt. Es war entsetzlich, die Eltern zu verlieren, aber es war später genauso schlimm für mich, wenn meine Verehrer mich verließen, weil sie mit meiner Situation nicht umgehen konnten. Darum habe ich mich auch ganz zurückgezogen, weil ich es einfacher fand, mich gar nicht erst auf eine Sache einzulassen. Aber du hast alles verändert." "Ich?" Abby lächelte sanft. "Das weißt du genau. Du hast mich nie fallen lassen. Außer neulich Abend. Da habe ich mir wohl alle Chancen bei dir verdorben. Aber ich muss es trotzdem aussprechen, sonst drehe ich noch durch." Sie schaute ihm direkt in die Augen. "Ich liebe dich, Nick", sagte sie dann leise. "Darf ich jetzt auch etwas sagen?" "Ja." Abby hielt den Atem an. "Ich liebe dich ebenfalls." Abby war überglücklich. Sie konnte kaum glauben, was sie eben gehört hatte. "Du liebst mich? Obgleich ich mich so unmöglich benommen habe?" "Wie ich meiner Mutter vor kurzem sagte, halte ich dich für die intelligenteste, tüchtigste und schönste Frau der Welt." "Du hast mit deiner Mutter über mich gesprochen?"
"Ja. Sie machte mir klar, dass eine haltbare Beziehung nicht mit einem Strohfeuer beginnt. Nur gegenseitiger Respekt und Bewunderung bilden die Grundlage für eine wirkliche Liebe." "Sie ist eine kluge Frau." "Stimmt. Und sie hat mich beschimpft und mir gesagt, dass ich ein riesiger Dummkopf wäre, wenn ich nicht endlich versuchen würde, dich zurückzugewinnen." "Das hat sie gesagt?" "Ja, sie hat mir zu erklären versucht, warum du dich so abweisend verhieltst. Weil du nämlich Angst hattest, erneut verlassen zu werden." "Wirklich?" Abby machte diese kluge Einschätzung einerseits verlegen, andererseits empfand sie den spontanen Wunsch, zu Mrs. Marchetti zu eilen und sie zu umarmen. "Ich muss ihr unbedingt dafür danken", meinte sie und wollte aufstehen. Nick hielt sie jedoch fest. "Erst kommt etwas anderes." Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie. Anfangs ganz zart, dann intensiver. Und dieser Kuss wurde der Ausdruck des leidenschaftlichen Gefühls, das er seit langem für Abby hegte, das er aber bislang unterdrückt hatte. Als sie sich schließlich voneinander lösten, sagte Nick nur atemlos: "Wow!" Er half Abby aufzustehen, dann kniete er vor ihr nieder. "Ich könnte mir einen romantischeren Ort als diesen vorstellen, aber wir haben schon zu viel Zeit verschwendet. Abby, ich liebe dich und werde dir keine Gelegenheit geben, deine Meinung wieder zu ändern. Willst du meine Frau werden?" "Ja", antwortete sie schlicht. "Wirklich? Sofort? Und für immer!" "Versprochen?" "Oh, ja!" Sein Blick enthielt eine Tiefe, die Abby noch nie darin gesehen hatte. Er stand auf und nahm ihre Hände in seine. "Ich habe vor, dich den Rest unseres Lebens von dem zu überzeugen, was mir gerade klar geworden ist: Du warst und bist die einzige Frau für mich. Madison hatte es längst begriffen,
darum hat sie unsere Beziehung auch beendet. Und sie hatte Recht." "Sie ist ganz prima." Nick staunte. "Du hast anscheinend deine Meinung über sie geändert." "Ich glaube, ich war eifersüchtig auf sie. Aber ich fand es sehr nett von ihr, dass sie zu mir gekommen ist und versucht hat, uns beide wieder zusammenzubringen." "Das hat nur leider nicht geklappt." "Doch, eigentlich schon, nur nicht sofort." Abby schmiegte sich wieder an Nick. "Womit hatte sie Recht?" "Damit, dass ich dich vom ersten Moment an haben wollte. Irgendwie hast du dich sofort in mein Herz geschlichen, ich habe nur ziemlich lange gebraucht, um es zu begreifen." Im Flur waren Schritte zu hören. "Ach, nein, wie reizend", meldete sich eine Männerstimme. Nick drehte sich um. "Hallo, Joe. Du kannst uns als Erster gratulieren, wir werden heiraten." "Noch ein Marchetti, der dran glauben muss. Ich wusste es doch!" "Was wusstest du?" "Dass es bei euch beiden nur eine Frage der Zeit war. An dem Tag in meinem Büro, als ich Abby umarmte, warst du total eifersüchtig." "So?" meinte Nick, ohne es abzustreiten. "Da wusste ich sofort, was los war. Nun gibt es nur noch drei überzeugte Junggesellen bei uns." Joe schüttelte Nicks Hand, dann küsste er Abby auf die Wange. "Willkommen in der Familie, Abby." "Vielen Dank", sagte sie, glücklich über diese Vorstellung. Nick legte den Arm um Abby. "Du solltest es auch versuchen, Bruderherz." Joe schüttelte den Kopf. "Nein, nicht in einer Million Jahren." "Weißt du, was man sagt?" fragte Abby. "Wer allzu laut protestiert, fällt am schnellsten um."
Nick grinste. "Abby hat Recht. Irgendetwas sagt mir, dass du der Nächste bist. Aber keine Sorge, du wirst es nicht bereuen." Als Nick sie noch einmal küsste, dachte Abby schwärmerisch, dass das Leben doch herrlich sei. Gerade als sie geglaubt hatte, dass alles vorbei sei, hatte er ihre Welt wieder mit Farbe erfüllt. Er war der Mann, der für alle Zeit für sie da sein würde.
-ENDE-