RICHARD DAWKINS
Und es entsprang ein Fluß in Eden Das Uhrwerk der Evolution Zeichnungen von Lalla Ward Aus dem Englisch...
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RICHARD DAWKINS
Und es entsprang ein Fluß in Eden Das Uhrwerk der Evolution Zeichnungen von Lalla Ward Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
GOLDMANN
Die Serie »Science Masters« erscheint weltweit und umfaßt populärwissenschaftliche Bücher, die von international führenden Wissenschaftlern verfaßt werden. An diesem einzigartigen Projekt beteiligen sich sechsundzwanzig Verlage, die John Brockman zusammengebracht hat. Die Idee zu dieser Serie stammt von Anthony Cheetham vom englischen Verlag Orion und von John Brockman, der eine Literaturagentur in New York leitet. Entwickelt wurde die Serie »Science Masters« in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Verlag BasicBooks. Der Name »Science Masters« ist urheberrechtlich geschützt. Er gehört John Brockman Inc., New York, und ist an die Verlage lizenziert, die die Serie »Science Masters« veröffentlichen.
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann Vollständige Taschenbuchausgabe September 1998 Wilhelm Goldmann Verlag, München © 1996 der deutschsprachigen Ausgabe C. Berteismann Verlag, München © 1995 der Originalausgabe Richard Dawkins Originalverlag: BasicBooks, New York Originaltitel: River out of Eden Umschlaggestaltung: Design Team München Druck: Presse-Druck Augsburg Verlagsnummer: 12784 KF • Herstellung: Sebastian Strohmaier Made in Germany ISBN 3-442-12784-X 1 3 5 7 9 10 8 6 4 2
In Erinnerung an Henry Colyear Dawkins (1921-1992), der am St. John College in Oxford gelehrt hat und ein Meister in der Kunst war, Dinge zu erklären.
»Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern...« Genesis 2,10
Inhalt Vorwort 9 Der digitale Fluß 13 Mutter Afrika und ihre Kinder 43 Heimlicher Nutzen 73 Gottes Nutzenfunktion 111 Die Replikationsbombe
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Quellen und ausgewählte weiterführende Literatur 183
Vorwort
Natur, so scheint's, ist nur ein Wort für Milliarden und Abermilliarden von Teilchen im unendlichen Spiel eines kosmischen Billards. Piet Hein Piet Hein fängt die klassisch-urtümliche Welt der Physik ein. Aber wenn die Querschläger des atomaren Billards sich zufällig zu einem Gebilde zusammenfinden, das eine bestimmte, scheinbar harmlose Eigenschaft hat, geschieht im Universum etwas Folgenschweres. Diese Eigenschaft ist die Fähigkeit zur Selbstverdoppelung, das heißt, das Gebilde kann mit dem Material seiner Umgebung genaue Kopien von sich selbst herstellen, und wenn sich gelegentlich kleine Kopierfehler einschleichen, werden sie ebenfalls verdoppelt. Auf dieses einzigartige Vorkommnis irgendwo im Universum folgt die Darwinsche Selektion und damit jenes üppig-sonderbare Phänomen, das wir auf unserem Planeten Leben nennen. Noch nie wurden so viele Tatsachen mit so wenigen Hypothesen erklärt. Die Darwinsche Theorie hat nicht nur eine enorme 9
Aussagekraft; ihre Bündigkeit ist von einer geschmeidigen Eleganz, von einer poetischen Schönheit, die auch die wohlklingendsten Schöpfungsmythen der Welt in den Schatten stellt. Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich unter anderem das Ziel, der inspirierenden Qualität unseres heutigen darwinistischen Verständnisses vom Leben die verdiente Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Eva der Mitochondrien vereinigt in sich mehr Poesie als ihre mythologische Namensvetterin. Das Kennzeichen des Lebens, das, wie David Hume es ausdrückte, »alle Menschen, die es je betrachtet haben, zur Bewunderung hinreißt«, ist die komplexe Einzelheit, mit der ihre Mechanismen - die Mechanismen, die Charles Darwin »Organe von äußerster Vollkommenheit und Kompliziertheit« nannte - offensichtlich einen Zweck erfüllen. Das zweite beeindruckende Merkmal des irdischen Lebens ist seine überschäumende Vielfalt: An der geschätzten Zahl der Arten gemessen, gibt es einige Zigmillionen Wege, das Leben zu fristen. Weiterhin möchte ich meine Leser davon überzeugen, daß »das Leben fristen« soviel bedeutet wie »in DNA codierte Texte in die Zukunft weitertragen«. Mein »Fluß« ist ein Fluß aus DNA, der durch die geologischen Zeiträume fließt und sich verzweigt; die Metapher von den steilen Ufern, die den genetischen Spielraum der einzelnen Arten begrenzen, erweist sich überraschenderweise als wirksames, nützliches Mittel zur Erklärung. Auf die eine oder andere Weise sind alle meine Bücher dem Ziel gewidmet, die fast unbegrenzte Kraft des darwinistischen Prinzips zu erläutern und zu untersuchen, eine Kraft, die jedesmal dann frei wird, wenn soviel Zeit zur Verfügung steht, daß sich die Folgen der ursprünglichen Selbstverdoppelung entfalten können. Und es entsprang ein Fluß in Eden setzt dieses Vorhaben fort und führt die Geschichte der Rückwirkungen, die sich ergeben, wenn das Phänomen der Replikatoren in das zuvor schlichte Spiel der atomaren 10
Billardkugeln einsickert, zu einem extraterrestrichen Höhepunkt. Beim Schreiben dieses Buches wurde ich von folgenden Personen in unterschiedlichster Weise unterstützt: Michael Birkett, John Brockman, Steve Davies, Daniel Dennett, John Krebs, Sara Lippincott, Jerry Lyons und insbesondere von Lalla Ward, meiner Frau, die auch die Zeichnungen anfertigte. Einige Abschnitte sind neubearbeitete Fassungen von Texten, die schon an anderer Stelle erschienen sind. Die Passagen im ersten Kapitel über digitale und analoge Codes gründen sich auf meinen Artikel im Spectator vom 11. Juni 1994. Der Bericht im dritten Kapitel über die Arbeiten von Dan Nilsson und Susanne Pelger zur Evolution des Auges stammt teilweise aus meinem Aufsatz in der Rubrik »News and Views« der Zeitschrift Nature vom 21. April 1994. Ich danke den Redaktionen dieser beiden Zeitschriften, die jeweils den Abdruck des betreffenden Artikels gestatteten. Und schließlich danke ich John Brockman und Anthony Cheetham für die Einladung, mich an der Serie Science Masters zu beteiligen. Oxford 1994
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Der digitale Fluß
In allen Völkern gibt es Epen und Sagen über die Ahnen, und häufig sind diese Erzählungen in die Form religiöser Kulte gegossen. Die Menschen verehren ihre Vorfahren und beten sie sogar an; warum auch nicht. Immerhin liegt der Schlüssel zum Verständnis des Lebens bei den wirklichen Vorfahren und nicht bei übernatürlichen Göttern. Von allen Lebewesen, die geboren werden, stirbt die Mehrheit, ohne sehr alt zu werden. Und von der Minderheit, die überlebt und sich paart, hat nur ein noch viel kleinerer Bruchteil in tausend Generationen noch Nachkommen. Diese winzige Minderheit einer Minderheit, diese Elite der Vorfahren, können alle zukünftigen Generationen als ihre Ahnen anführen. Vorfahren sind selten, Nachkommen sind häufig. Alle Organismen, die jemals gelebt haben - jedes Tier und jede Pflanze, alle Bakterien und Pilze, alles, was kreucht und fleucht, und sämtliche Leser dieses Buches - können auf ihre Vorfahren zurückblicken und folgende stolze Behauptung aufstellen: Von unseren Vorfahren ist kein einziger als Säugling gestorben. Alle haben das Erwachsenenalter erreicht, und jedem einzelnen gelang es, mindestens einen heterosexuellen Partner (beziehungsweise eine Partnerin) zu finden und 13
sich mit Erfolg zu paaren.* Kein einziger unserer Vorfahren wurde von einem Feind niedergestreckt oder von einem Virus oder einem falsch eingeschätzten Schritt am Rand einer Klippe getötet, bevor er mindestens ein Kind in die Welt gesetzt hatte. Tausende von Zeitgenossen unserer Vorfahren haben in allen diesen Punkten versagt, aber von unseren Ahnen selbst passierte das keinem einzigen auch nur in einer Hinsicht. Diese Aussagen sind so offenkundig, daß man sie leicht übersieht, aber aus ihnen folgt eine Menge: viel Seltsames und Unerwartetes, vieles, das erklärt, und vieles, das verwundert. Von allen diesen Themen wird in dem vorliegenden Buch die Rede sein. Da alle Lebewesen ihre Gene von ihren Vorfahren erben und nicht von deren erfolglosen Zeitgenossen, besitzen alle Lebewesen in der Regel auch erfolgreiche Gene. Sie haben das Zeug zu Vorfahren, das heißt, sie können überleben und sich vermehren. Deshalb vererben die Lebewesen im allgemeinen Gene mit der Anlage zum Aufbau einer gut gestalteten Maschine, eines Körpers, der so funktioniert, als wollte er unbedingt ein Vorfahr werden. Das ist der Grund, warum Vögel gut fliegen, Fische gut schwimmen, Affen gut klettern und Viren sich so gut verbreiten können. Das ist der Grund, warum wir das Leben lieben, den Sex lieben und Kinder lieben. Es liegt daran, daß wir alle ohne einzige Ausnahme unsere Gene von einer ununterbrochenen Reihe erfolgreicher Vorfahren geerbt haben. Die Welt hat sich mit Lebewesen gefüllt, die das Zeug zu Vorfahren haben. Das ist, um es mit einem Satz zu sagen, Darwinismus. Natürlich sagte Darwin * Genaugenommen gibt es Ausnahmen. Manche Tiere, beispielsweise die Blattläuse, pflanzen sich ohne Sexualität fort. Mit Methoden wie der künstlichen Befruchtung können die Menschen heute ohne Geschlechtsverkehr ein Kind haben, und - da man die Eizellen für die künstliche Befruchtung einem weiblichen Fetus entnehmen kann - sogar ohne das Erwachsenenalter zu erreichen. Für die meisten Fälle ist meine Aussage aber unvermindert gültig.
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noch vieles andere, und heute können wir noch viel mehr sagen. Deshalb ist das Buch hier auch noch nicht zu Ende. Man kann den vorangegangenen Abschnitt auf eine natürliche und sehr verhängnisvolle Weise mißverstehen. Wenn unsere Vorfahren Erfolgreiches geleistet haben, so - ist man versucht zu denken - müssen die Gene, die sie an ihre Kinder weitergegeben haben, im Vergleich zu denen, die sie von ihren Eltern erbten, verbessert worden sein. Man könnte meinen, der Erfolg habe irgendwie auf die Gene abgefärbt, und deshalb seien die Nachkommen so gut im Fliegen, Schwimmen, Partnerwerben. Falsch, völlig falsch! Gene werden durch Gebrauch nicht besser; sie werden nur weitergegeben, und zwar, von ein paar zufälligen Fehlern abgesehen, unverändert. Erfolg sorgt nicht für gute Gene. Gute Gene sorgen für Erfolg, und nichts, was ein Lebewesen während seines Lebens tut, hat auf die Gene auch nur die geringsten Auswirkungen. Individuen, die mit den besten Genen geboren werden, erreichen mit der größten Wahrscheinlichkeit das Alter, in dem sie zu erfolgreichen Vorfahren werden können; deshalb werden gute Gene eher als schlechte in die Zukunft weitergegeben. Jede Generation ist ein Filter, ein Sieb: Gute Gene fallen hindurch und gelangen in die nächste Generation; schlechte Gene enden in Körpern, die früh oder ohne sich fortzupflanzen sterben. Ein oder zwei Generationen lang können auch schlechte Gene durch das Sieb fallen, vielleicht weil sie das Glück haben, ihren Körper mit guten Genen zu teilen. Aber um sich erfolgreich durch tausend hintereinandergeschaltete Siebe zu lavieren, braucht man mehr als Glück. Nach tausend Generationen sind die Gene, die es geschafft haben, wahrscheinlich die guten. Ich habe gesagt, daß die Gene, die über Generationen hinweg überleben, auch diejenigen sind, denen es gelungen ist, Vorfahren zu erzeugen. Das stimmt auch, aber es gibt offenkundig eine Ausnahme, und mit ihr muß ich mich befas15
sen, bevor der Gedanke daran Verwirrung stiftet. Manche Individuen sind ein für allemal unfruchtbar, und doch sind sie anscheinend dazu bestimmt, zur Weiterleitung ihrer Gene an zukünftige Generationen beizutragen. Die Arbeiterinnen der Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten sind steril. Sie arbeiten, nicht um Vorfahren zu werden, sondern damit ihre fruchtbaren Verwandten - in der Regel ihre Schwestern und Brüder - Vorfahren sein können. Hier muß man zwei Dinge begreifen. Erstens haben Schwestern und Brüder bei allen Tieren mit hoher Wahrscheinlichkeit teilweise die gleichen Gene. Und zweitens bestimmen nicht die Gene, sondern die Umwelt darüber, ob beispielsweise eine einzelne Termite fruchtbar ist oder Arbeiterin wird. Alle Termiten besitzen Gene, die sie unter geeigneten Umweltbedingungen zu Arbeiterinnen und unter anderen Voraussetzungen zu fortpflanzungsfähigen Tieren machen. Die fruchtbaren Termiten geben Kopien der gleichen Gene weiter, welche die sterilen Arbeiterinnen veranlassen, ihnen dabei zu helfen. Die Arbeiterinnen rackern sich ab unter dem Einfluß von Genen, deren genaue Kopien in den fruchtbaren Tieren zu Hause sind. Die Genkopien in den Arbeiterinnen sorgen dafür, daß ihren eigenen zur Fortpflanzung bestimmten Kopien der Durchgang durch das Generationensieb erleichtert wird. Die Arbeiterinnen der Termiten können männlich oder weiblich sein; bei Ameisen, Bienen und Wespen handelt es sich ausschließlich um Weibchen, aber das Prinzip ist dasselbe. In verwässerter Form gilt es auch für einige Arten von Vögeln, Säugern und anderen Tieren, die sich bis zu einem gewissen Grad um die Jungen ihrer älteren Brüder oder Schwestern kümmern. Zusammenfassend kann man sagen: Gene können sich ihren Weg durch das Sieb nicht nur dadurch bahnen, daß sie den eigenen Körper zum Vorfahren zu machen versuchen, sondern auch indem sie dem Körper eines Verwandten helfen, Nachkommen hervorzubringen. 16
Der im Titel meines Buches genannte Fluß ist ein Fluß aus DNA, und er fließt nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit. Es ist ein Strom der Informationen, nicht der Knochen und Gewebe: ein Fluß der abstrakten Anweisungen für den Aufbau von Körpern, kein Fluß aus den festen Körpern selbst. Die Informationen fließen durch die Körper und beeinflussen sie, aber sie selbst werden von ihnen auf ihrem Weg nicht beeinflußt. Der Strom ist nicht nur unbeeinflußt von den Erfahrungen und Leistungen der aufeinanderfolgenden Körper, durch die er fließt, sondern auch unbeeinflußt von einer möglichen Quelle der Verunreinigung, die, wie es aussieht, viel wirkungsvoller ist: von der Sexualität. In jeder unserer Zellen wirkt die Hälfte der Gene unserer Mutter mit der Hälfte der Gene unseres Vaters zusammen. Väterliche und mütterliche Gene treten in enge Wechselwirkung und machen uns zu einer raffinierten, unteilbaren Mischung. Aber die Gene mischen sich nicht; das tun nur ihre Wirkungen. Die Gene selbst haben eine diamantharte Identität. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem sie in die nächste Generation übergehen sollen, wandert ein Gen entweder in den Körper des Kindes oder nicht. Väterliche und mütterliche Gene verschmelzen nicht, sondern kombinieren sich unabhängig voneinander neu. Ein einzelnes Gen ist entweder vom Vater oder von der Mutter gekommen. Es stammte auch von einem und nur einem der vier Großeltern; von einem und nur einem der acht Urgroßeltern; und so immer weiter zurück. Ich habe von einem Fluß der Gene gesprochen, aber ebensogut könnten wir ihn als eine Gruppe guter Kameraden bezeichnen, die durch die geologischen Zeiten marschieren. In einer fruchtbaren Population sind alle Gene auf lange Sicht gegenseitige Begleiter. Kurzfristig befinden sie sich in einzelnen Körpern und sind mit den anderen Genen in diesem Körper besonders eng verbunden. Über die Zeitalter hinweg 17
überleben Gene nur dann, wenn sie Körper bauen können, die unter den besonderen, von der jeweiligen Art gewählten Lebensumständen gut leben und sich fortpflanzen können. Aber das ist noch nicht alles. Um gut überleben zu können, muß ein Gen gut mit den anderen Genen in derselben An demselben Fluß - zusammenwirken können. Um langfristig erhalten zu bleiben, muß ein Gen ein guter Kamerad sein. Es muß sich in Gesellschaft der anderen Gene in dem Fluß oder vor ihrem Hintergrund gut benehmen. Gene einer anderen Art gehören zu einem anderen Fluß. Gene verschiedener Flüsse müssen nicht unbedingt gut miteinander auskommen - zumindest nicht in demselben Sinn -, denn sie brauchen sich nicht die gleichen Körper zu teilen. Eine Art ist durch ein entscheidendes Merkmal definiert: Durch alle ihre Individuen fließt derselbe Genfluß, und alle Gene einer Art müssen dazu angelegt sein, daß sie gegenseitig gute Kameraden sein können. Eine neue Art entsteht, wenn eine Vorläuferart sich teilt. Der Genfluß gabelt sich in der Zeit. Aus der Sicht der Gene ist die Entstehung neuer Arten ein »langer Abschied«. Nach einer kurzen Phase der partiellen Trennung gehen die beiden Flüsse für immer eigene Wege, oder zumindest so lange, bis einer von ihnen austrocknet und im Sande verläuft. Innerhalb der von den Ufern gesicherten Grenzen wird das Wasser jedes Flusses durch die sexuelle Rekombination immer wieder neu gemischt. Aber nie tritt das Wasser über die Ufer, um einen anderen Fluß zu verunreinigen. Wenn eine Art sich geteilt hat, sind die Gene der beiden Gruppen füreinander keine Kameraden mehr. Sie treffen nicht mehr in denselben Körpern zusammen und brauchen nicht mehr gut miteinander auszukommen. Es gibt zwischen ihnen keinen Verkehr mehr, und »Verkehr« bedeutet hier ganz wörtlich Geschlechtsverkehr zwischen ihren vorübergehenden Vehikeln, den Körpern. Warum trennen sich zwei Arten? Was setzt den langen Ab18
schied ihrer Gene in Gang? Was veranlaßt einen Fluß, sich zu gabeln, so daß die beiden Arme auseinanderweichen und sich nie wieder treffen? Die Einzelheiten sind umstritten, aber niemand zweifelt daran, daß zufällige geographische Isolierung das Entscheidende ist. Der Fluß der Gene fließt durch die Zeit, aber die physische Vereinigung der Gene findet in greifbaren Körpern statt, und Körper besetzen einen Platz im Raum. Ein nordamerikanisches Grauhörnchen könnte sich mit einem englischen Grauhörnchen paaren, wenn die beiden sich jemals begegneten. Aber das ist unwahrscheinlich. Der Fluß der amerikanischen Grauhörnchengene ist sehr wirksam, nämlich durch fünftausend Kilometer Ozean, vom Fluß der englischen Grauhörnchengene getrennt. Die Gene der beiden Gruppen sind eigentlich keine Kameraden mehr, auch wenn sie es vermutlich sein könnten, wenn sich die Gelegenheit ergäbe. Sie haben sich voneinander verabschiedet, aber es ist kein unwiderrufliches Lebewohl - noch nicht. Nach ein paar tausend weiteren Jahren der Trennung werden die beiden Flüsse sich aber wahrscheinlich so weit voneinander entfernt haben, daß sie keine Gene mehr austauschen könnten. Mit »entfernt« ist dabei nicht der räumliche Abstand gemeint, sondern die Verträglichkeit. Etwas Ähnliches ist mit ziemlicher Sicherheit die Ursache für die ältere Trennung von Grauhörnchen und Rothörnchen. Diese Arten können sich nicht kreuzen. Ihre Verbreitungsgebiete überschneiden sich in Teilen Europas, und obwohl sie sich treffen und gelegentlich wahrscheinlich über die eine oder andere Nuß in Streit geraten, können sie sich nicht paaren und fruchtbare Nachkommen zeugen. Ihre genetischen Flüsse sind schon zu weit auseinandergewichen, das heißt, ihre Gene eignen sich nicht mehr dazu, in ein und demselben Körper zusammenzuwirken. Vor vielen Generationen waren die Vorfahren der Grau- und Rothörnchen dieselben Individuen. Aber sie wurden geographisch getrennt 19
vielleicht durch ein Gebirge, vielleicht durch Wasser, schließlich durch den Atlantik. Nun entwickelte sich ihre genetische Ausstattung in unterschiedliche Richtungen. Aus der geographischen Trennung erwuchs die Unverträglichkeit. Gute Kameraden wurden zu schlechten Kameraden (oder sie würden sich als schlechte Kameraden erweisen, wenn sie durch eine paarungsträchtige Begegnung auf den Prüfstand gestellt würden). Die schlechten Kameraden wurden immer schlechter, bis sie überhaupt keine Kameraden mehr waren. Ihr Abschied ist endgültig. Die beiden Flüsse haben sich getrennt und sind dazu bestimmt, sich immer weiter zu trennen. Der gleiche Ablauf liegt auch beispielsweise der sehr viel älteren Trennung zwischen unseren Vorfahren und etwa den Vorfahren der Elefanten zugrunde. Oder auch zwischen den Vorfahren des Vogels Strauß (die auch unsere Vorfahren waren) und den Vorfahren der Skorpione. Der DNA-Fluß hat jetzt vielleicht dreißig Millionen Arme so viele Arten gibt es den Schätzungen zufolge auf der Erde. Und man hat auch geschätzt, daß die heutigen Arten nur etwa ein Prozent aller Arten darstellen, die es jemals gegeben hat. Demnach hätte der DNA-Fluß alles in allem ungefähr drei Milliarden Verzweigungen. Die heutigen dreißig Millionen Äste sind unwiderruflich getrennt. Viele von ihnen sind dazu bestimmt, ins Nichts zu wachsen, denn die meisten Arten sterben aus. Verfolgt man die dreißig Millionen Flüsse (der Einfachheit halber werde ich die Flußarme von jetzt an als Flüsse bezeichnen) zurück in die Vergangenheit, so stellt man fest, daß sie sich nach und nach mit anderen Flüssen vereinigen. Der Fluß der menschlichen Gene vereinigt sich mit dem der Schimpansengene ungefähr zur gleichen Zeit wie der Fluß der Gorillagene, nämlich vor etwa sieben Millionen Jahren. Ein paar Millionen Jahre vorher fließt unser gemeinsamer Fluß der afrikanischen Menschenaffengene mit dem Fluß der Orang-Utan-Gene zusammen, und in noch fernerer Vergan20
genheit kommt der Fluß der Gibbongene hinzu, der sich weiter stromabwärts in die Flüsse mehrerer Gibbon- und Siamangarten aufspaltet. Gehen wir weiter zurück in die Vergangenheit, vereinigt sich unser genetischer Fluß mit anderen, die sich, verfolgt man sie wieder in Richtung Gegenwart, in Alt- und Neuweltaffen sowie die Lemuren Madagaskars aufspalten. Noch weiter zurück fließt er mit den Flüssen der anderen großen Säugetiergruppen zusammen: Nagetiere, Katzen, Fledermäuse, Elefanten. Und danach treffen wir auf die Flüsse, die zu den verschiedenen Reptilien, Vögeln, Amphibien, Fischen und wirbellosen Tieren führen. In einem wichtigen Punkt müssen wir aber mit der Metapher vom Fluß vorsichtig sein. Wenn wir an den Arm denken, der zu allen Säugetieren führt (im Gegensatz beispielsweise zu den Ästen des Stroms, die bei Rot- und Grauhörnchen enden), liegt die Vorstellung nahe, es handele sich um etwas Gewaltiges von den Ausmaßen eines Mississippi/Missouri. Immerhin sollte sich der Säugetierfluß später immer wieder verzweigen, bis er schließlich alle einzelnen Säugetiere hervorbrachte, von der Zwergspitzmaus bis zum Elefanten und von den Maulwürfen unter der Erde bis zu den Affen in den Baumwipfeln. Der Flußarm der Säugetiere nährt so viele tausend wichtige Zweigwasserstraßen, muß er da nicht eine gewaltige, rollende Flut sein? Aber diese Vorstellung ist völlig falsch. Als die Vorläufer aller heutigen Säugetiere sich von denen trennten, die keine Säugetiere waren, hatte dieses Ereignis nichts Bedeutsameres als jede andere Artbildung. Keinem Naturforscher, der sich zu jener Zeit umgesehen hätte, wäre es aufgefallen. Der neue Arm des Genflusses wäre ein Rinnsal gewesen, beheimatet in einer Art kleiner, nachtaktiver Geschöpfe, die sich von ihren nicht zu den Säugetieren gehörenden Vettern nicht stärker unterschieden als ein Rot- von einem Grauhörnchen. Nur rückblickend können wir diesen Vorfahren aller Säugetiere überhaupt als Säugetier erkennen. 21
Zu seiner Zeit war es nur eine weitere Art säugetierähnlicher Reptilien, nicht merklich anders als vielleicht ein Dutzend weiterer kleiner, langnasiger, insektenfressender Stückchen Dinosaurierfutter. Ebenso undramatisch verliefen auch die früheren Aufspaltungen zwischen den Vorfahren aller großen Tiergruppen: Wirbeltiere, Weichtiere, Krebstiere, Insekten, Gliederwürmer, Plattwürmer, Quallen und so weiter. Als der Fluß, der zu den Weichtieren (und anderen) führen sollte, sich von demjenigen trennte, der zu den Wirbeltieren (und anderen) führte, sahen sich die beiden Populationen der (vermutlich wurmähnlichen) Geschöpfe so ähnlich, daß sie sich hätten paaren können. Daß sie es nicht taten, hatte nur einen Grund: Sie waren zufällig durch ein geographisches Hindernis getrennt, vielleicht durch trockenes Land, welches das zuvor gemeinsam bewohnte Gewässer geteilt hatte. Niemand hätte damals ahnen können, daß aus der einen Population die Weichtiere und aus der anderen die Wirbeltiere hervorgehen sollten. Noch waren die beiden DNA-Flüsse kleine, kaum getrennte Rinnsale, und die beiden Tiergruppen waren fast nicht zu unterscheiden. Die Zoologen wissen das alles, aber wenn sie über die wirklich großen Tiergruppen wie Weich- und Wirbeltiere nachdenken, vergessen sie es manchmal. Sie neigen dazu, sich die Aufspaltung zwischen den großen Gruppen als schicksalsträchtiges Ereignis vorzustellen. Daß Zoologen so in die Irre gehen können, hat einen bestimmten Grund: Sie wurden in dem fast dogmatischen Glauben erzogen, jede der großen Gruppen im Tierreich sei mit einem ganz einzigartigen Bauplan ausgestattet. Dieses deutsche Wort ist auch im Englischen zu einem Fachausdruck geworden, obwohl es (wie ich mit leichtem Erschrecken feststellen mußte) in der neuesten Ausgabe des Oxford English Dictionary nicht vorkommt. (Da ich an dem Wort weniger Vergnügen habe als manche meiner 22
Kollegen, bekenne ich mich zu einem winzigen frisson der Schadenfreude über sein Fehlen; diese beiden Fremdworte stehen in dem Wörterbuch, das demnach keine prinzipiellen Vorurteile gegen Sprachimporte hegt.) Unter dem Bauplan im wissenschaftlichen Sinn versteht man oft ein grundlegendes Konstruktionsprinzip, und das Attribut »grundlegend« (oder der verlegene Wechsel ins Deutsche, wenn man Tiefgründigkeit demonstrieren will) ist die Ursache des Übels. Es kann dazu führen, daß die Zoologen schwere Irrtümer begehen. Ein Zoologe äußerte zum Beispiel die Vermutung, die Evolution müsse im Kambrium (der Zeit vor etwa sechshundert bis fünfhundert Millionen Jahren) völlig anders abgelaufen sein als in späterer Zeit. Er argumentierte, daß heute neue Arten auftauchten, während im Kambrium die großen Gruppen entstanden seien, beispielsweise die Weichtiere und die Krebse. Welch ein krasser Irrtum! Selbst Geschöpfe, die sich so stark unterscheiden wie Weichtiere und Krebse, waren ursprünglich nur geographisch getrennte Populationen derselben Art. Eine Zeitlang hätten sie sich bei einem Zusammentreffen noch kreuzen können, aber sie taten es nicht. Nach Jahrmillionen der getrennten Evolution erwarben sie die Eigenschaften, in denen wir heutigen Zoologen rückblickend die Merkmale der Weichtiere beziehungsweise Krebse erkennen. Und diese Eigenschaften bezeichnen wir hochtrabend als »grundlegenden Körperbauplan«. Aber die wichtigen Baupläne des Tierreiches zweigten sich allmählich von den gemeinsamen Ursprüngen ab. Zugegebenermaßen bestehen kleine, allerdings sehr öffentlichkeitswirksame Meinungsverschiedenheiten darüber, wie allmählich oder »sprunghaft« die Evolution verlaufen sei. Aber niemand, wirklich niemand, hält sie für so sprunghaft, daß dabei ein ganzer neuer Bauplan in einem Schritt hätte entstehen können. Der Autor, den ich zitiert habe, schrieb 1958. Die wenigsten Zoologen würden heute offen seinen 23
Standpunkt teilen, aber unausgesprochen tun sie das manchmal: Sie reden so, als wären die wichtigsten Tiergruppen nicht durch die Aufspaltung einer zufällig geographisch isolierten Population entstanden, sondern plötzlich und in vollkommener Gestaltung wie Athene aus dem Haupte des Zeus.* Molekularbiologische Untersuchungen haben in jedem Fall gezeigt, daß die großen Tiergruppen einander viel näherstehen, als man bis dahin gedacht hatte. Man kann den genetischen Code als Wörterbuch betrachten, in dem vierundsechzig Wörter einer Sprache (die vierundsechzig Dreiergruppen eines Alphabets mit vier Buchstaben) den einundzwanzig Wörtern einer anderen Sprache (zwanzig Aminosäuren und ein Satzzeichen) zugeordnet werden. Die Chance, zweimal durch Zufall zu demselben Zusammenhang von 64 zu 21 zu gelangen, liegt bei eins zu einer Million Millionen Millionen Millionen Millionen. Und doch ist der genetische Code bei allen Tieren, Pflanzen und Bakterien, die man jemals untersucht hat, buchstäblich identisch. Alle Lebewesen auf der Erde stammen mit Sicherheit von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Das stellt niemand in Frage, aber jetzt, wo man nicht nur den genetischen Code selbst, sondern einzelne Abschnitte der genetischen Information analysiert, zeigen sich auch einige verblüffende Ähnlichkeiten beispielsweise zwischen Insekten und Wirbeltieren. Ein höchst komplizierter genetischer Mechanismus ist für den gegliederten Körperbauplan der Insekten verantwortlich, und einen geradezu erschreckend ähnlichen genetischen Apparat hat man auch bei Säugetieren gefunden. Aus molekularer Sicht sind alle Tiere untereinander und sogar mit den Pflanzen recht eng verwandt. Um unsere entfernteren Vettern zu finden, muß man sich schon die BakteDiese Aussagen sollte der Leser im Kopf behalten, wenn er Zufall Mensch liest, den wunderschön geschriebenen Bericht von S. J. Gould über die Fauna von Burgess Shale aus dem Kambrium.
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rien ansehen, und selbst die haben den gleichen genetischen Code wie wir. Daß man über den genetischen Code solche genauen Aussagen machen kann, nicht aber über die Baupläne, hat einen einfachen Grund: Der genetische Code ist streng digital, das heißt auf Ziffern gegründet, und Ziffern kann man genau zählen. Der Fluß der Gene ist ein digitaler Fluß. Jetzt muß ich erklären, was dieser technische Begriff bedeutet. In der Technik kennt man den wichtigsten Unterschied zwischen digitalen und analogen Codes. Der Plattenspieler und das Tonbandgerät verwenden - wie bis vor kurzem auch die meisten Telefone - analoge Codes. Compact Disc, Computer und die meisten modernen Telefonsysteme arbeiten dagegen digital. Bei einem analogen Telefon werden stetig veränderliche Luftdruckwellen (Schall) in ebenso stetig veränderliche Spannungsschwankungen in einer Leitung umgewandelt. Ganz ähnlich ist das Prinzip bei einer Schallplatte: Die gewellten Rillen versetzen eine Abtastnadel in Schwingungen, und diese Bewegung wird in entsprechende Schwankungen der elektrischen Spannung umgesetzt. Am anderen Ende der Leitung findet der umgekehrte Vorgang statt: Eine vibrierende Membran in der Hörmuschel des Telefons oder im Lautsprecher des Plattenspielers macht aus den Spannungsschwankungen wieder Luftdruckwellen, die wir hören können. Es ist ein einfacher, unmittelbarer Code: Die elektrischen Schwankungen in der Leitung sind den Luftdruckschwankungen proportional. Innerhalb bestimmter Grenzen sind in der Leitung alle Spannungswerte möglich, und die Unterschiede zwischen ihnen sind von großer Bedeutung. Beim digitalen Telefon wandern nur zwei mögliche Spannungen - oder eine andere genau festgelegte Zahl solcher Werte, beispielsweise 8 oder 256 - durch den Draht. Die Information ergibt sich nicht aus der Spannung selbst, sondern aus dem Muster der verschiedenen Werte. Dieses Prinzip 25
nennt man Pulscodemodulation. Die Spannung selbst entspricht zu jedem beliebigen Zeitpunkt kaum einmal genau einem der beispielsweise acht vorgegebenen Werte, aber das Empfangsgerät rundet sie zu der nächsten vorprogrammierten Spannung auf oder ab; auf diese Weise kommt am Ende etwas fast Vollkommenes heraus, selbst wenn die Leitung selbst nur eine schlechte Übertragungsqualität bietet. Man muß die abgegrenzten Spannungswerte nur mit ausreichend großen Abständen festlegen, damit der Empfangsapparat sie auch bei zufälligen Schwankungen nicht falsch einordnet. Das ist der große Vorteil der Digitalcodes, und es ist auch der Grund, warum man nicht nur Audio- und Videosysteme, sondern die ganze Informationstechnologie zunehmend digitalisiert. Computer bedienen sich natürlich für alle ihre Anwendungen ausschließlich digitaler Codes. Aus praktischen Gründen handelt es sich dabei um einen Binärcode, das heißt, er kennt nicht acht oder zweihundertsechsundfünfzig Spannungswerte, sondern nur zwei. Selbst beim Digitaltelefon besteht der Schall, der in die Sprechmuschel gelangt und aus dem Hörer dringt, noch aus analogen Luftdruckschwankungen. Digital ist nur die Information, die zwischen diesen beiden Stationen hin- und herfließt. Dazu muß man einen Code schaffen, der die Analogwerte von Mikrosekunde zu Mikrosekunde in Reihen digitaler Impulse übersetzt, das heißt, man braucht digital codierte Zahlen. Wenn eine Frau am Telefon mit ihrem Geliebten flüstert, läuft jede Nuance, jedes Stocken der Stimme, jedes leidenschaftliche Seufzen und jede sehnsüchtige Klangfärbung ausschließlich in Form von Zahlen durch die Leitung. Zahlen können zu Tränen rühren - vorausgesetzt, sie werden schnell genug verschlüsselt und wieder entschlüsselt. Die modernen elektronischen Schaltkreise sind so schnell, daß man die Übertragungszeit in Stücke zerlegen kann, ganz ähnlich wie ein Schachgroßmeister, der seine Zeit bei einem Simultanspiel 26
zwischen zwanzig Gegnern aufteilt. Auf diese Weise lassen sich Tausende von Telefongesprächen über eine einzige Leitung übertragen - scheinbar gleichzeitig, aber in Wirklichkeit elektronisch getrennt und ohne sich gegenseitig zu stören. Eine große Datenleitung - häufig handelt es sich dabei nicht mehr um Drähte, sondern um Funkwellen, die unmittelbar von Berggipfel zu Berggipfel übertragen oder indirekt von Satelliten zurückgeworfen werden - ist ein riesiger Zahlenfluß. Aber wegen der genialen elektronischen Trennung besteht er eigentlich aus Tausenden von digitalen Flüssen, die nur bei oberflächlicher Betrachtung im gleichen Bett fließen wie Rot- und Grauhörnchen, die sich dieselben Bäume teilen, aber nie ihre Gene vermischen. Kehren wir noch einmal in die Welt der Technik zurück: Die Schwächen der analogen Signale fallen nicht besonders stark ins Gewicht, solange sie sich nicht ständig wiederholen. Das Hintergrundrauschen bei einer Bandaufnahme ist unter Umständen so gering, daß man es kaum bemerkt - bis man den Schall und damit auch das Rauschen verstärkt, so daß ein neues Geräusch hinzukommt. Macht man aber eine Kopie von dem Band, und dann eine Kopie von der Kopie und so weiter, bleibt nach hundert »Generationen« nur noch ein entsetzliches Rauschen übrig. Etwas Ähnliches war in den Zeiten analoger Telefone ein großes Problem. Jedes Telefonsignal schwächt sich über große Entfernungen ab und muß etwa alle hundertfünfzig Kilometer verstärkt werden. Dieser Vorgang war in den Tagen der Analogtechnik sehr fehleranfällig, denn das Hintergrundrauschen wurde mit jedem Verstärkungsschritt lauter. Digitale Signale müssen ebenfalls verstärkt werden, aber bei ihnen schleicht sich dabei aus den beschriebenen Gründen kein Fehler ein: Man kann es so einrichten, daß die Information einwandfrei übermittelt wird, unabhängig davon, wie viele Verstärkerstationen dazwischenliegen. Selbst nach vielen tausend Kilometern nimmt das Rauschen nicht zu. 27
Als ich Kind war, erklärte mir meine Mutter, die Nervenzellen seien die Telefonleitungen unseres Körpers. Aber sind sie analog oder digital? Die Antwort: Sie sind eine interessante Mischung aus beidem. Eine Nervenzelle ist nicht wie eine Elektroleitung, sondern ein langes, dünnes Rohr, durch das Wellen chemischer Veränderungen laufen, ähnlich wie die Flamme, die sich an einer Spur von Schießpulver auf dem Boden entlangfrißt; aber anders als das Schießpulver erholt sich die Nervenzelle bald wieder, so daß sie nach einer kurzen Ruhepause erneut »brennen« kann. Die Höhe der Welle, gewissermaßen die Temperatur der Flamme, kann auf dem Weg am Nerv entlang schwanken, aber das ist ohne Bedeutung. Der Code spricht darauf nicht an. Der chemische Impuls ist entweder vorhanden oder nicht, wie bei den beiden Spannungszuständen in einem Digitaltelefon. Bis hierhin ist das Nervensystem digital. Aber die Nervenimpulse werden nicht in Bytes gezwängt: Sie setzen sich nicht zu getrennten Codezahlen zusammen. Die Stärke der Nachricht (die Lautstärke von Schall, die Helligkeit von Licht, vielleicht sogar die Heftigkeit von Gefühlen) ist vielmehr in der Geschwindigkeit der Impulse verschlüsselt. In der Technik kennt man das Prinzip unter dem Namen Pulsfrequenzmodulation; es war dort sehr beliebt, bevor sich die Pulscodemodulation durchsetzte. Die Geschwindigkeit von Impulsen ist eine analoge Größe, aber die Impulse selbst sind digital: Sie sind entweder vorhanden oder nicht vorhanden, dazwischen gibt es nichts. Und daraus zieht das Nervensystem den gleichen Nutzen wie jedes andere digitale System. Wegen der Funktionsweise der Nervenzellen gibt es auch die Entsprechung zu den Verstärkerstationen - nicht alle hundertfünfzig Kilometer, sondern nach jedem Millimeter, achthundert Verstärker vom Rückenmark bis zur Fingerspitze. Wäre die absolute Größe des Nervenimpulses - die Temperatur der Schießpulverflamme - von Bedeutung, würde die Nachricht auf dem Weg durch den 28
menschlichen Arm bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, vom Hals einer Giraffe ganz zu schweigen. In jedem Stadium der Verstärkung würden sich neue zufällige Fehler einschleichen, wie bei einer Tonbandaufnahme, die man achthundertmal kopiert, oder wie bei einem Bild, bei dem man immer wieder die Kopie auf das Xeroxgerät legt. Nach achthundert »Generationen« des Fotokopierens wären nur noch graue verschwommene Flecken übrig. Die digitale Codierung ist die einzige Lösung für das Problem der Nervenzellen, und die natürliche Selektion hat sie pflichtschuldigst übernommen. Das gleiche gilt auch für die Gene. Francis Crick und James Watson, die die molekulare Struktur der Gene erschlossen haben, sollten nach meiner Überzeugung ebenso über Jahrhunderte hinweg berühmt bleiben wie Aristoteles und Platon. Ihren Nobelpreis erhielten sie »in Physiologie oder Medizin«, was zwar richtig, aber auch fast trivial ist. Eine »anhaltende Revolution« ist zwar fast ein Widerspruch in sich, aber die Veränderung des Denkens, die diese beiden jungen Männer 1953 in Gang setzten, wird nicht nur die Medizin, sondern unsere gesamte Sicht des Lebens immer wieder revolutionieren. Die Gene selbst und die genetisch bedingten Krankheiten sind nur die Spitze des Eisbergs. Das wirklich Revolutionäre an der Molekularbiologie der Ära seit Watson und Crick ist die Tatsache, daß sie digital geworden ist. Seit Watson und Crick wissen wir, daß die Gene selbst mit ihrer winzigkleinen inneren Struktur lange Ketten digitaler Informationen sind. Und das ist noch nicht alles: Sie sind wirklich digital im umfassenden, strengen Sinne der Computer und Compact Discs, nicht in der schwachen Form des Nervensystems. Der genetische Code ist weder binär wie die Computersprache, noch hat er acht Ebenen wie manche Telefonsysteme; er ist ein quaternärer Code mit vier Symbolen. Die Maschinensprache der Gene ist furchterregend computerähnlich. Sieht man von den Unterschieden im Jargon ab, 29
könnte man die Seiten einer molekularbiologischen Fachzeitschrift gegen die eines Journals für Computertechnik austauschen. Diese digitale Revolution im innersten Kern des Lebens hatte neben vielen anderen Auswirkungen die Folge, daß der Vitalismus den letzten Todesstoß erhielt, jene Überzeugung, wonach Lebendiges sich deutlich von unbelebter Materie unterscheidet. Bis 1953 konnte man noch glauben, es gebe im lebenden Protoplasma etwas grundlegend und unauflöslich Geheimnisvolles, Danach ging das nicht mehr. Selbst diejenigen Philosophen, die zu einer mechanistischen Sicht des Lebens neigten, hätten auf diese Erfüllung ihrer kühnsten Träume nicht zu hoffen gewagt. Die folgende Science-fiction-Handlung ist durchaus plausibel, wenn man eine Technologie voraussetzt, die sich von der heutigen nur durch eine etwas größere Schnelligkeit unterscheidet. Professor Jim Crickson wurde von einer bösen fremden Macht entführt und gezwungen, in ihren Labors für biologische Kriegsführung zu arbeiten. Um die menschliche Zivilisation zu retten, muß er unbedingt eine streng geheime Nachricht an die Außenwelt übermitteln, aber alle normalen Kommunikationskanäle sind ihm verschlossen. Es gibt nur eine Ausnahme. Der DNA-Code besteht aus vierundsechzig Triplett»codons«, genug für ein vollständiges englisches Alphabet mit Groß- und Kleinbuchstaben, zehn Ziffern, einem Leerzeichen und einem Punkt. Professor Crickson nimmt ein gefährliches Influenzavirus aus der Schublade und verändert sein Genom so, daß es seine Botschaft in vollendet gebildeten englischen Sätzen nach außen trägt. Seine Nachricht wiederholt sich in dem Genom immer aufs neue, und außerdem ist sie mit einer leicht erkennbaren »Markierungssequenz« versehen, zum Beispiel mit den ersten zehn Primzahlen. Dann infiziert er sich selbst mit dem Virus und niest es in einem Raum voller Menschen aus. Eine Grippewelle geht um die Welt, und die medizinischen Labors in anderen Ländern, die 30
einen Impfstoff entwickeln wollen, sequenzieren das Genom des Erregers. Schnell wird deutlich, daß die DNA ein seltsames Wiederholungsmuster enthält. Von den Primzahlen alarmiert, die nicht von selbst entstanden sein können, kommt jemand auf die Idee, herkömmliche Dechiffrierungsmethoden auf die Sequenz anzuwenden. Von da an ist es nur noch wenig Arbeit, bis man die Botschaft lesen kann, die Professor Crickson in die Welt geniest hat. Unser genetisches System, das universelle System allen Lebens auf der Erde, ist durch und durch digital. Das gesamte Neue Testament könnte man Wort für Wort in denjenigen Teilen des menschlichen Genoms verschlüsseln, die heute als »DNA-Schrott« gelten, weil der Organismus sie - zumindest in der herkömmlichen Weise - nicht nutzt. Jede Zelle unseres Körpers enthält die Entsprechung zu sechsundvierzig riesigen Datenbändern, an denen viele gleichzeitig arbeitende Leseköpfe die digitalen Buchstaben ablesen. In jeder Zelle enthalten diese Bänder - die Chromosomen - die gleiche Information, aber die Leseköpfe suchen sich in den einzelnen Zelltypen unterschiedliche Abschnitte der Datenbank für ihre Spezialistenarbeit heraus. Deshalb unterscheiden sich Muskelzellen von Leberzellen. Es gibt keine von einem Geist angetriebene Lebenskraft, kein pulsierendes, knospendes, protoplasmatisches, geheimnisvolles Gelee. Leben besteht schlicht aus Bytes und Bytes und Bytes digitaler Information. Gene sind Information in Reinkultur - und diese Information kann verschlüsselt, neu verschlüsselt und entschlüsselt werden, ohne daß ihr Inhalt zerstört oder verändert wird. Reine Information läßt sich kopieren, und das, da es sich um digitale Information handelt, mit unglaublicher Genauigkeit. Die Buchstaben der DNA werden mit einer Präzision verdoppelt, die es mit allen Leistungen moderner Ingenieure aufnehmen kann. Sie werden von Generation zu Generation kopiert, und das gerade mit soviel Fehlern, daß Vielfalt entsteht. Die 31
ganze Vielfalt dieser Buchstabenkombinationen wird in Körpern kopiert und umgesetzt, und dabei werden in der Welt offenkundig und ganz automatisch diejenigen Kombinationen zahlreicher, die ihren Körper dazu veranlassen können, die DNA-Botschaft aktiv zu erhalten und weiterzuverbreiten. Wir - und damit meine ich alle Lebewesen - sind Überlebensmaschinen, die so programmiert sind, daß sie die digitale Datenbank, die das Programm enthält, vermehren. Der Darwinismus ist, mit heutigen Begriffen beschrieben, das Überleben der Überlebenden auf der Ebene des rein digitalen Codes. Rückblickend betrachtet, konnte es auch gar nicht anders sein. Ein analoges genetisches System könnte man sich zwar ausmalen, aber wir haben bereits gesehen, was mit analoger Information geschieht, wenn sie über viele Generationen hinweg kopiert wird. Es ist wie »Stille Post«. Telefonsysteme mit Verstärkern, Tonbandkopien, Fotokopien von Fotokopien analoge Signale sind so anfällig für zunehmende Zerstörung, daß die Fortschreibung über eine begrenzte Anzahl von Generationen hinaus nicht mehr möglich ist. Gene dagegen können sich über Zigmillionen Generationen hinweg fortpflanzen und verändern sich dabei kaum. Nur wegen dieses fehlerlosen Kopiervorganges (abgesehen von abgegrenzten Mutationen, die von der natürlichen Selektion beibehalten oder ausgemerzt werden) kann der Darwinismus funktionieren. Unser digitales genetisches System ist in der Lage, den Darwinismus über die Äonen der Erdgeschichte aufrechtzuerhalten. Das Jahr 1953, das Jahr der Doppelhelix, wird eines Tages nicht nur als der Endpunkt der mystischen, vernebelten Sicht des Lebens gelten; die Darwinisten werden darin auch das Jahr sehen, in dem ihr Fachgebiet endgültig digitalisiert wurde. Der Fluß der rein digitalen Information, der majestätisch durch die Erdgeschichte fließt und sich in drei Milliarden Arme gabelt, ist ein machtvolles Bild. Aber wo bleiben dabei die vertrauten Eigenschaften des Lebendigen? Wo bleiben 32
Körper, Hände und Füße, Augen, Gehirn und Tasthaare, Blätter, Stämme und Wurzeln? Wo bleiben wir selbst und unsere Körperteile? Sind wir - wir Tiere, Pflanzen, Protozoen, Pilze und Bakterien - nur die Ufer, zwischen denen die Rinnsale der digitalen Daten fließen? In einem gewissen Sinne ja. Aber wie ich bereits angedeutet habe, ist das nicht alles. Gene stellen nicht nur Kopien von sich selbst her, die durch die Generationen fließen. In Wirklichkeit sind sie in Körpern zu Hause, und sie beeinflussen Gestalt und Verhalten der aufeinanderfolgenden Körper, in denen sie sich befinden. Die Körper sind ebenfalls wichtig. Der Körper eines Eisbären zum Beispiel bildet nicht nur zwei Uferböschungen, zwischen denen ein digitaler Bach verläuft. Er ist auch eine Maschine von bärenstarker Komplexität. Alle Gene der gesamten Eisbärenpopulation sind eine Gemeinschaft, gute Kameraden, die im Laufe der Zeit alle einmal aufeinandertreffen. Aber sie befinden sich nicht ständig in der Gesellschaft aller anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft, sondern tauschen innerhalb dieser Gruppe immer wieder die Partner. Die Gemeinschaft ist definiert als die Gruppe von Genen, die sich potentiell begegnen können (aber nicht den Mitgliedern einer der dreißig Millionen anderen Gemeinschaften auf der Erde). Das tatsächliche Zusammentreffen spielt sich immer in einer Zelle im Körper des Eisbären ab. Und dieser Körper ist kein passives Gefäß für die DNA. Zunächst einmal entzieht sich schon die reine Zahl der Zellen, von denen jede die komplette Genausstattung enthält, jeder Vorstellungskraft: Bei einem ausgewachsenen Bärenmännchen sind es etwa neunhundert Millionen Millionen. Eine Kette aus den hintereinander aufgereihten Zellen eines einzigen Bären würde ohne weiteres von der Erde zum Mond und wieder zurück reichen. Alle Zellen gehören zu ein paar hundert unterschiedlichen Typen, und diese Typen sind praktisch bei allen Säugetieren die gleichen: Muskelzellen, Ner33
venzellen, Knochenzellen, Hautzellen und so weiter. Gewebe bestehen jeweils aus einer großen Masse von Zellen eines solchen Typs: Muskelgewebe, Knochengewebe und so weiter. All diese verschiedenen Zelltypen enthalten die genetischen Anweisungen zur Herstellung sämtlicher einzelner Zelltypen, aber angeschaltet sind nur diejenigen Gene, die zu dem jeweiligen Gewebe gehören. Das ist der Grund, warum die Zellen der einzelnen Gewebe sich in Form und Größe unterscheiden. Und, was noch interessanter ist, die Gene, die in den Zellen eines bestimmten Typs angeschaltet sind, sorgen auch dafür, daß das betreffende Gewebe eine bestimmte Form annimmt. Knochen sind keine gestaltlosen Massen aus hartem, starrem Gewebe. Sie haben bestimmte Formen mit hohlen Schäften, Gelenkköpfen und Gelenkpfannen, Fortsätzen und Vorsprüngen. Die Zellen sind durch die in ihnen angeschalteten Gene darauf programmiert, sich so zu verhalten, als wüßten sie, wo sie im Verhältnis zu ihren Nachbarzellen stehen, und deshalb bauen sie Gewebe in der Form von Ohrläppchen oder Herzklappen, Augenlinsen oder Schließmuskeln auf. Die Komplexität eines Lebewesens wie des Eisbären ist vielschichtig. Der Körper ist eine komplexe Ansammlung präzise gestalteter Organe wie Leber, Nieren und Knochen. Jedes Organ ist ein komplexes Gebilde aus bestimmten Geweben, und die Bausteine der Gewebe sind die Zellen, die oft in Schichten angeordnet sind, vielfach aber auch feste Massen bilden. Im viel kleineren Maßstab besitzt jede Zelle eine höchst komplexe innere Struktur aus gefalteten Membranen. Diese Membranen und das Wasser in ihren Zwischenräumen sind der Schauplatz zahlreicher verschiedenartiger, komplizierter chemischer Reaktionen. In einer Chemiefabrik von ICI oder Union Carbide laufen vielleicht ein paar hundert verschiedene chemische Reaktionen ab, die durch die Wände von Flaschen, Röhren und so weiter voneinander getrennt sind. Ähnlich viele Reaktionen finden auch im Inneren einer leben34
den Zelle gleichzeitig statt. Die Membranen entsprechen dabei bis zu einem gewissen Grad den Glasgefäßen im Labor, aber der Vergleich hinkt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens spielen sich zwischen den Membranen zwar viele Reaktionen ab, aber nicht wenige ereignen sich auch innerhalb der Membransubstanz selbst. Zweitens werden die Reaktionen in der Zelle auf eine viel bedeutsamere Art und Weise getrennt: Jede von ihnen wird von einem eigenen Enzym katalysiert. Ein Enzym ist ein sehr großes Molekül, das aufgrund seiner dreidimensionalen Form eine bestimmte chemische Reaktion begünstigt: Es stellt eine Oberfläche zur Verfügung, an der die Umsetzung ablaufen kann. Da die Raumstruktur das Entscheidende an biologischen Molekülen ist, kann man ein Enzym als große Maschine betrachten, die genau darauf abgestimmt ist, Moleküle einer bestimmten Form zu produzieren. Deshalb können in jeder Zelle auf der Oberfläche der verschiedenen Enzymmoleküle Hunderte von chemischen Reaktionen gleichzeitig und getrennt ablaufen. Um welche Reaktionen es sich dabei in einer bestimmten Zelle im einzelnen handelt, hängt davon ab, welche Enzymmoleküle in großer Zahl vorhanden sind. Jedes Enzymmolekül mit seiner alles entscheidenden Form wird unter dem bestimmenden Einfluß eines bestimmten Gens aufgebaut. Genauer gesagt, legt die Reihenfolge mehrerer hundert Codebuchstaben im Gen nach einigen heute genau bekannten Regeln (dem genetischen Code) die Reihenfolge der Aminosäuren im Enzymmolekül fest. Jedes Enzymmolekül ist eine Kette aus Aminosäuren, und jede derartige Aminosäurekette verschlingt sich von selbst wie in einem Knoten zu einer charakteristischen, einzigartigen Raumstruktur, in der sich Querverbindungen zwischen verschiedenen Teilen der Kette ausbilden. Wie die dreidimensionale Struktur des Knotens im einzelnen aussieht, bestimmt die eindimensionale Abfolge der Aminosäuren, und damit ist sie abhängig von der ebenfalls eindimensionalen Sequenz der 35
Codebuchstaben im Gen. Über die chemischen Reaktionen in einer Zelle entscheiden also die jeweils angeschalteten Gene. Aber was entscheidet nun darüber, welche Gene in einer bestimmten Zelle angeschaltet sind? Die Antwort heißt: die Substanzen, die in der Zelle bereits vorhanden sind. Das Ganze hat etwas von dem Paradox mit der Henne und dem Ei, aber die Schwierigkeit ist hier nicht unüberwindlich. Die Lösung ist im Prinzip sogar recht einfach, im Detail allerdings kompliziert. In der Computertechnik kennt man die Lösung unter dem Namen Bootstrapping oder Ureingabe. Als ich in den sechziger Jahren zum ersten Mal Computer benutzte, mußte man alle Programme mit Hilfe von Papierstreifen laden. (Amerikanische Computer bedienten sich damals zu diesem Zweck häufig der Lochkarten, aber es war das gleiche Prinzip.) Bevor man den großen Streifen eines ernsthaften Programms laden konnte, mußte man ein kleineres Programm eingeben, das sogenannte Ureingabe-Ladeprogramm, das nur eine Aufgabe hatte: Es sagte dem Computer, wie er Papierstreifen laden sollte. Aber - und hier kommt wieder das Henne-Ei-Problem ins Spiel - wie wurde das Ureingabe-Ladeprogramm selbst geladen? In den heutigen Computern ist das entsprechende Programm fest verdrahtet, aber in jenen Frühzeiten mußte man dazu Schalter in einer festgelegten Abfolge betätigen. Diese Abfolge war für den Computer der Befehl, den ersten Teil des Streifens mit dem Ureingabe-Ladeprogramm zu lesen. Der erste Abschnitt des Programms gab dann ein paar weitere Befehle zum Lesen des nächsten Teils und so weiter. Wenn das gesamte Ureingabe-Ladeprogramm eingelesen war, wußte der Computer, wie er jeden beliebigen Papierstreifen lesen sollte, und damit war er zu einem nützlichen Computer geworden. Die Entwicklung eines Embryos beginnt mit der Zweiteilung einer einzelnen Zelle, des befruchteten Eies; aus den zwei Zellen werden durch Teilung vier, aus den vier werden 36
acht und so weiter. Nur wenige Dutzend Zellgenerationen sind notwendig, und schon geht die Zahl der Zellen in die Billionen - so wirksam ist exponentielle Vermehrung. Aber wenn das alles wäre, würden die Billionen Zellen einander genau gleichen. Statt dessen differenzieren sie sich (um den Fachausdruck zu gebrauchen) zu Leberzellen, Muskelzellen, Nierenzellen und so weiter, in denen jeweils andere Gene angeschaltet und andere Enzyme am Werk sind. Wie kommt es dazu? Durch Bootstrapping, und das funktioniert folgendermaßen. Die Eizelle sieht zwar wie eine Kugel aus, aber in Wirklichkeit hat sie im Inneren eine chemische Polarität. Es gibt ein Oben und Unten, und in vielen Fällen auch ein Vorn und Hinten (und demnach auch eine rechte und linke Seite). Diese Richtungen zeigen sich in Form chemischer Gradienten. Die Konzentration bestimmter Substanzen steigt von vorn nach hinten stetig an, für andere verläuft das Gefalle von oben nach unten. Diese Gradienten sind anfangs recht einfach, aber sie reichen aus, um das erste Stadium der Ureingabe zu bilden. Wenn aus der Eizelle beispielsweise zweiunddreißig Zellen geworden sind, also nach fünfmaliger Zellteilung, enthalten einige dieser Zellen eine größere Menge der Substanzen von der Oberseite, in anderen ist der Gehalt an Verbindungen von der Unterseite unverhältnismäßig hoch. Die Zellen können sich, was die Substanzen des Vorn-Hinten-Gradienten angeht, ebenfalls im Ungleichgewicht befinden. Diese Unterschiede genügen, damit in den einzelnen Zellen unterschiedliche Genkombinationen eingeschaltet werden, so daß in den verschiedenen Teilen des frühen Embryos jeweils eine andere Enzymausstattung vorliegt. Das wiederum führt dazu, daß in verschiedenen Zellen jeweils andere Kombinationen weiterer Gene eingeschaltet werden. Auf diese Weise gleichen die Abstammungslinien der Zellen im Embryo nicht mehr ihrem einzelnen Vorfahren, sondern sie entwickeln sich auseinander. 37
Es handelt sich aber um eine ganz andere Art der Auseinanderentwicklung als bei der zuvor beschriebenen Trennung verschiedener Arten. Der unterschiedliche Werdegang der Zellen ist programmiert und läßt sich in allen Einzelheiten vorhersagen, während die Auseinanderentwicklung der Arten die unberechenbare Folge geographischer Zufälligkeiten ist und deshalb nicht vorhersagbar. Außerdem entwickeln sich mit den Arten auch die Gene selbst auseinander, ein Vorgang, den ich überschwenglich als »langen Abschied« bezeichnet habe. Wenn die Abstammungslinien der Zellen innerhalb des Embryos sich auseinanderentwickeln, behalten die Teilgruppen - und zwar alle - die gleichen Gene. Unterschiedlich sind in den Zellen jedoch die Substanzen kombiniert, die verschiedene Genkombinationen anschalten, und manche Gene bewirken, daß andere Gene an- oder abgeschaltet werden. Damit setzt sich die Ureingabe fort, bis das gesamte Spektrum der verschiedenen Zelltypen vorhanden ist. Der Embryo differenziert sich aber in seiner Entwicklung nicht nur zu ein paar hundert verschiedenen Zelltypen. Er macht auch elegante, dynamische Veränderungen der inneren und äußeren Form durch. Der vielleicht spektakulärste derartige Vorgang ist auch einer der ersten: die Gastrulation. Der angesehene Embryologe Lewis Wolpert ging sogar so weit zu sagen: »Weder Geburt noch Heirat oder Tod, sondern vielmehr die Gastrulation ist das wirklich wichtige Ereignis in unserem Leben.« Was geschieht bei der Gastrulation? Eine Hohlkugel aus Zellen stülpt sich ein und bildet einen innen ausgekleideten Becher. Praktisch alle Embryonen im Tierreich machen diesen gleichen Vorgang der Gastrulation durch. Sie ist die einheitliche Grundlage, auf der die vielfältigen Wege der Entwicklung des Embryos aufbauen. Ich erwähne die Gastrulation hier nur als besonders augenfälliges Beispiel für die ruhelose, Origamiartige Bewegung ganzer Zellschichten, die man in der Entwicklung des Embryos häufig beobachtet. 38
Am Ende einer virtuosen Origami-Vorstellung, nach zahlreichen Vorgängen des Faltens, Nach-außen-Drückens, Ausbeulens und Dehnens von Zellschichten, nach umfangreichem, dynamisch koordiniertem, unterschiedlich starkem Wachstum von Teilen des Embryos auf Kosten anderer Teile, nach der Differenzierung zu Hunderten unterschiedlich spezialisierter Zelltypen - und wenn die Gesamtzahl der Zellen in die Billionen geht, ist das Baby endgültig gebildet. Nein, selbst das Baby ist nichts Endgültiges, denn auch das gesamte Wachstum des einzelnen über die Erwachsenenzeit bis ins hohe Alter wobei wiederum manche Teile sich schneller entwickeln als andere - sollte man eigentlich als Fortsetzung der Entwicklung des Embryos ansehen: Embryologie total. Die Unterschiede zwischen den Individuen beruhen auf quantitativen Unterschieden in ihrer gesamten Embryologie. Eine Zellschicht wächst ein wenig länger, bevor sie sich zurückfaltet, und das Ergebnis ist - was? - eine Adlernase anstelle eines Stupsnäschens; Plattfüße, die einem vielleicht das Leben retten könnten, weil sie einen vor dem Militärdienst bewahren; eine besondere Form des Schulterblattes, die zu einer besonderen Begabung für den Speerwurf führt (oder gegebenenfalls für das Werfen von Handgranaten oder Krikketbällen). Manchmal haben einzelne Abweichungen im Origami der Zellschichten tragische Folgen, zum Beispiel, wenn ein Baby mit Armstummeln und ohne Hände geboren wird. Nicht weniger wichtig sind die Folgen individueller Unterschiede, die sich nicht im Origami der Zellschichten, sondern rein chemisch zeigen: die Unfähigkeit, Milch zu verdauen, eine homosexuelle Veranlagung, eine Allergie gegen Erdnüsse oder die Empfindung, daß Mangos entsetzlich nach Terpentin schmecken. Die Entwicklung des Embryos ist ein höchst komplizierter chemischer und physikalischer Vorgang. Eine winzige Veränderung an einer beliebigen Stelle kann im weiteren Verlauf 39
beachtliche Folgen haben. Das ist nicht verwunderlich, wenn man daran denkt, wie stark alles von der Ureingabe abhängt. Viele Unterschiede in der Entwicklung des einzelnen Lebewesens gehen auf unterschiedliche Umweltbedingungen zurück, beispielsweise auf Sauerstoffmangel oder die Einwirkung von Thalidomid (Contergan). Eine Vielzahl weiterer Unterschiede beruhen auf genetischen Abweichungen - nicht nur in einzelnen Genen, sondern auch in ihren Wechselbeziehungen untereinander und mit der Umwelt. Ein derart komplizierter, kaleidoskopartiger, auf verzwickte Weise wechselseitig von Ureingaben abhängiger Vorgang wie die Entwicklung des Embryos ist robust und empfindlich zugleich. Robust ist er, weil er viele mögliche Veränderungen auffangen kann, so daß auch bei scheinbar übermächtigen Widrigkeiten noch ein lebendes Baby entsteht. Gleichzeitig ist er aber gegenüber Veränderungen so empfindlich, daß zwei Individuen, sogar eineiige Zwillinge, sich niemals in allen ihren Eigenschaften völlig gleichen. Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, um den es mir bei alledem geht. Soweit die Unterschiede zwischen Individuen auf die Gene zurückgehen (was in größerem oder geringerem Umfang der Fall sein kann), begünstigt die natürliche Selektion unter Umständen besondere Launen des embryologischen Origami oder der embryologischen Chemie, während andere beeinträchtigt werden. Soweit der Wurfarm von den Genen beeinflußt ist, kann die natürliche Selektion ihn bevorzugen oder benachteiligen. Wenn die Fähigkeit zum Werfen auch nur geringfügige Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit hat, daß das betreffende Individuum lange genug lebt, um Kinder zu haben, und wenn die Werferqualitäten in einem gewissen Umfang von den Genen bestimmt werden, haben diese Gene eine entsprechend größere Chance, in die nächste Generation zu gelangen. Jedes einzelne Individuum kann aus Gründen sterben, die nichts mit der Fähigkeit zu werfen zu 40
tun haben. Aber ein Gen, das, wenn es vorhanden ist, zu besseren Werferqualitäten führt, ist über viele Generationen hinweg in zahlreichen guten und schlechten Körpern zu Hause. Vom Standpunkt dieses einzelnen Gens heben sich die anderen Todesursachen gegenseitig auf. Aus seiner Perspektive gibt es nur die langfristige Aussicht auf den DNA-Fluß, der durch die Generationen fließt und nur vorübergehend in bestimmten Körpern verweilt, nur vorübergehend einen Körper mit Genkameraden teilt, die mehr oder weniger erfolgreich sein können. Auf lange Sicht füllt sich der Fluß mit Genen, die aus verschiedenen Gründen gut für das Überleben geeignet sind: weil sie die Fähigkeit zum Speerwerfen ein wenig verbessern, weil sie das Schmecken von Giften erleichtern, oder was es auch sonst sein mag. Gene, die im Durchschnitt weniger gut zum Überleben beitragen - vielleicht, weil sie zum Astigmatismus führen, so daß ihre aufeinanderfolgenden Körper schlechtere Speerwerfer sind, oder weil sie ihre aufeinanderfolgenden Körper weniger attraktiv machen, so daß sie schwerer einen Partner finden - werden aus dem Fluß der Gene verschwinden. Bei alledem muß man daran denken, was ich zuvor gesagt habe: In dem Fluß bleiben diejenigen Gene erhalten, die in der durchschnittlichen Umwelt der jeweiligen Art gut für das Überleben sind. Vielleicht der wichtigste Aspekt dieser Umwelt sind die anderen Gene der Art; Gene, mit denen ein Gen sich seinen Körper teilen muß; die anderen Gene, die mit ihm in demselben Fluß durch die geologischen Zeiträume schwimmen.
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Mutter Afrika und ihre Kinder
Oft hält sich jemand für besonders scharfsinnig, wenn er behauptet, die Wissenschaft sei nichts anderes als unser moderner Schöpfungsmythos. Die Juden hatten Adam und Eva, die Sumerer Marduk und Gilgamesch, die Griechen Zeus und und die olympischen Götter, die Nordländer Walhalla. Was ist die Evolution anderes, so sagen ein paar kluge Leute, als unser modernes Pendant zu Göttern und Helden, nicht besser und nicht schlechter, nicht richtiger und nicht falscher. Es gibt eine modische Salonphilosophie, die sich kultureller Relativismus nennt; in ihrer extremen Form behauptet sie, die Naturwissenschaft habe soviel Wahrheitsgehalt wie ein Stammesmythos: Sie sei schlicht der Mythos, den unser abendländischer Stamm bevorzuge. Einmal provozierte mich ein Anthropologe dazu, die Sache folgendermaßen auf den Punkt zu bringen: »Angenommen«, so sagte ich, »ein Naturvolk hält den Mond für eine alte Kalebasse, die in den Himmel geworfen wurde und knapp außerhalb der eigenen Reichweite über den Baumwipfeln hängt. Behaupten Sie wirklich, daß unsere wissenschaftliche Wahrheit - der Mond ist etwa 350.000 Kilometer entfernt und hat ein Viertel des Erddurchmessers - nicht wahrer ist als die Geschichte von der Kalebasse?« - »Ja«, sagte der Anthropo43
loge. »Nur sind wir in einer Kultur aufgewachsen, in der man die Welt mit wissenschaftlichen Augen sieht. Diese Leute haben gelernt, sie auf andere Weise zu betrachten. Keine der beiden Arten ist wahrer als die andere.« Zeige mir einen kulturellen Relativisten in zehntausend Metern Höhe, und ich zeige dir einen Heuchler. Flugzeuge, die nach wissenschaftlichen Prinzipien gebaut werden, funktionieren. Sie bleiben in der Luft, und man gelangt mit ihnen an den gewünschten Bestimmungsort. Flugzeuge, die nach Stammestraditionen oder mythischen Vorgaben gebaut werden wie die Flugzeugattrappen oder Südseekulturen auf Dschungellichtungen oder die mit Bienenwachs befestigten Schwingen des Ikarus, funktionieren nicht.* Wer zu einer Anthropologen- oder Literaturkritikertagung fliegt, kommt dort höchstwahrscheinlich auch an, und daß das geschieht und man nicht in den nächsten umgepflügten Acker stürzt, liegt nur daran, daß viele in westlicher Wissenschaft ausgebildete Ingenieure richtig gerechnet haben. Auf der Grundlage überzeugender Beweise, daß der Mond die Erde in einem Abstand von 350.000 Kilometern umkreist, und mit Hilfe im Abendland konstruierter Computer und Raketen ist es der abendländischen Wissenschaft gelungen, einen Menschen auf den Mond zu bringen. Die Wissenschaft der Naturvölker, für * Es war nicht das erste Mal, daß ich diese Holzhammermethode benutzt habe. Ich muß betonen, daß sie ausschließlich auf Leute gemünzt ist, die so denken wie der Anthropologe über die Kalebasse. Andere bezeichnen sich verwirrenderweise ebenfalls als Vertreter des kulturellen Relativismus, haben aber ganz andere und völlig vernünftige Ansichten. Für sie bedeutet kultureller Relativismus nur, daß man eine Kultur nicht verstehen kann, wenn man sie in den Begriffen des eigenen Kulturkreises interpretiert. Man muß die Überzeugungen jeder Kultur im Zusammenhang ihrer übrigen Überzeugungen betrachten. Diese vernünftige Form des kulturellen Relativismus ist nach meiner Vermutung die ursprüngliche, und was ich kritisiert habe, dürfte eine extreme, allerdings beunruhigend verbreitete Perversion davon sein. Vernünftige Relativisten sollten sich stärker darum bemühen, sich von dieser einfältigen Art zu distanzieren.
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die der Mond über den Baumwipfeln hängt, wird ihn außerhalb ihrer Träume nie erreichen. Ich halte kaum einmal einen öffentlichen Vortrag, ohne daß jemand aus dem Publikum sehr gescheit ähnliche Argumente anführt wie der genannte Anthropologe, und die Folge ist in der Regel ein Gemurmel und Nicken der Zustimmung. Die Nickenden halten sich zweifellos für gut und liberal und unrassistisch. Ein noch zuverlässigerer Nickauslöser ist der Satz »Im Grunde ist Ihre Überzeugung, daß es die Evolution gibt, eine Glaubensfrage, und deshalb ist sie nicht besser, als wenn ein anderer an das Paradies glaubt«. Jeder Kulturkreis hat seinen Schöpfungsmythos, seine Geschichte zur Erklärung von Universum, Leben und Menschheit. In einem gewissen Sinn bietet die Wissenschaft tatsächlich etwas Entsprechendes, zumindest für den gebildeten Teil unserer abendländischen Gesellschaft. Man kann die Naturwissenschaft sogar als Religion bezeichnen, und ich habe mich einmal, nicht nur im Spaß, in einer kurzen öffentlichen Erklärung dafür ausgesprochen, naturwissenschaftliche Themen im Religionsunterricht zu behandeln.* (In Großbritannien ist Religion ein reguläres Schulfach, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo man es aus Angst, die Vielzahl der unvereinbaren Glaubensrichtungen zu verletzen, verboten hat.) Die Naturwissenschaft hat mit der Religion eines gemeinsam: Beide erheben den Anspruch, die schwierigen Fragen nach Ursprung und Wesen des Lebendigen sowie nach dem Universum zu beantworten. Aber damit ist die Ähnlichkeit auch schon zu Ende. Naturwissenschaftliche Überzeugungen werden durch Beobachtungen gestützt und führen zu Ergebnissen. Bei Mythen und religiösem Glauben ist das nicht der Fall. Unter allen Schöpfungsmythen ist die jüdische Geschichte vom Garten Eden so tief in unserer Kultur verwurzelt, daß sie * The Spectator (London), 6. August 1994.
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auch einer wichtigen wissenschaftlichen Theorie über unsere Vorfahren den Namen gegeben hat: der Theorie von der »afrikanischen Eva«. Ihr widme ich dieses Kapitel, unter anderem, weil ich mit ihrer Hilfe den Vergleich mit dem DNA-Fluß weiterentwickeln kann, aber auch weil ich sie als naturwissenschaftliche Hypothese der mythischen Urmutter im Garten Eden gegenüberstellen will. Wenn das gelingt, wird die Wahrheit interessanter und vielleicht sogar poetisch bewegender erscheinen als der Mythos. Ich beginne mit einer Übung in reinem logischen Denken. Wozu sie gut ist, wird bald deutlich werden. Jeder Mensch hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern und so weiter. Die Zahl der Vorfahren verdoppelt sich mit jeder Generation. Geht man um g Generationen zurück, ist die Zahl der Vorfahren 2, g mal mit sich selbst multipliziert: 2 hoch g. Nur ist es so, daß man ohne viel Mühe erkennt: so kann es nicht sein. Um uns davon zu überzeugen, müssen wir nur ein wenig in der Zeit zurückgehen, beispielsweise bis in die Tage Jesu vor genau zweitausend Jahren. Unterstellt man vorsichtig vier Generationen je Jahrhunden - das heißt, die Menschen zeugen mit fünfundzwanzig Jahren ihre Nachkommen -, machen zweitausend Jahre gerade achtzig Generationen aus. In Wirklichkeit ist diese Zahl wahrscheinlich größer (bis vor kurzer Zeit bekamen Frauen in sehr jungen Jahren das erste Kind), aber es ist nur eine theoretische Berechnung, und das Entscheidende wird auch ohne solche Einzelheiten deutlich. Multipliziert man die Zwei achtzigmal mit sich selbst, gelangt man zu einer beeindruckenden Zahl, nämlich zu einer Eins mit 24 Nullen. Jeder von uns hatte zu Zeiten Jesu eine Million Millionen Millionen Millionen Vorfahren! Aber die gesamte Weltbevölkerung war zu jener Zeit nur ein Bruchteil eines winzigen Bruchteils der Zahl, die wir gerade für unsere Vorfahren berechnet haben. Irgendwo haben wir offensichtlich etwas falsch gemacht, aber wo? Wir haben richtig gerechnet. Der einzige Fehler liegt 46
in der Annahme, daß die Zahl sich in jeder Generation verdoppelt. Wir haben vergessen, daß auch Cousin und Cousine heiraten. Ich habe angenommen, daß wir acht Urgroßeltern haben, aber jedes Kind aus einer Ehe von Cousin und Cousine ersten Grades hat nur sechs Urgroßeltern, denn die gemeinsamen Großeltern der Eheleute sind auf zweierlei Weise die Urgroßeltern der Kinder. Jetzt fragt sich mancher vielleicht: »Na und?« Manche Leute heiraten ihre Cousine (Emma Wedgwood, Charles Darwins Frau, war seine Cousine ersten Grades), aber das kommt doch sicher nicht so oft vor, daß es eine große Rolle spielt? Doch, das tut es sehr wohl, denn »Cousin und Cousine« bedeutet in unserem Zusammenhang auch Cousin und Cousine zweiten Grades, fünften Grades, sechzehnten Grades und so weiter. Wenn man derart entfernte Verwandte mitzählt, ist jede Ehe eine Ehe zwischen Cousin und Cousine. Manchmal hört man, wie Leute sich brüsten, sie seien entfernte Verwandte der englischen Königin, aber das ist ziemliche Angeberei, denn wir sind alle entfernte Verwandte der Queen und auch jedes anderen Menschen, und zwar auf mehr Wegen, als daß man es jemals im einzelnen nachvollziehen könnte. Das einzige Besondere an Königshäusern und Adligen besteht darin, daß sie ihre Abstammung tatsächlich zurückverfolgen können. Als der vierzehnte Earl of Home wegen seines Titels von einem politischen Gegner verspottet wurde, erwiderte er: »Ich nehme an, wenn Mr. Wilson wirklich darüber nachdenkt, ist er der vierzehnte Mr. Wilson.« Die Quintessenz aus alledem lautet: Wir sind viel engere Cousins und Cousinen, als uns normalerweise klar ist, und wir haben viel weniger Vorfahren, als einfache Berechnungen vermuten lassen. Einmal wollte ich eine Studentin dazu bewegen, ihre Überlegungen in diese Richtung zu lenken, und bat sie um eine begründete Schätzung für die Zeit, als ihr und mein letzter gemeinsamer Vorfahr lebte. Sie sah mir unverwandt ins Gesicht und erwiderte, ohne zu zögern, in schlep47
pendem, bäuerlichem Tonfall: »Damals bei den Affen.« Das war zwar ein verzeihlicher spontaner Lapsus, aber sie lag damit um ungefähr zehntausend Prozent falsch. Es würde eine Trennung von mehreren Millionen Jahren bedeuten. Die Wahrheit ist, daß unser letzter gemeinsamer Vorfahr möglicherweise vor nicht mehr als ein paar Jahrhunderten gelebt hat, vermutlich ein gutes Stück nach Wilhelm dem Eroberer. Und außerdem sind wir mit Sicherheit auf vielerlei Weise Cousin und Cousine. Die Vorstellung von den Ahnen, die zu der fehlerhaft aufgeblähten Berechnung führte, gründet sich auf das Bild des Stammbaums, der sich immer und immer wieder verzweigt. Ebenso falsch ist das auf den Kopf gestellte Modell eines Baumes von Nachkommen. Ein Mensch hat im typischen Fall zwei Kinder, vier Enkel, acht Urenkel und so weiter bis hin zu den unmöglichen Billionen Nachkommen in ein paar Jahrhunderten. Ein viel realistischeres Bild von Vorfahren und Nachkommen ist das von dem Fluß der Gene, das ich im vorangegangenen Kapitel eingeführt habe. Die Gene sind ein ständig wogender Strom, der zwischen seinen Ufern durch die Zeit fließt. Wenn die Gene in ihm hin und her schwimmen, wirbeln die Strömungen auseinander und vereinigen sich wieder. An Stellen, die am Fluß entlang verteilt sind, holen wir immer wieder einen Eimer voll heraus. Die Molekülpaare in einem solchen Eimer waren auf ihrem Weg im Fluß schon früher Kameraden und werden es auch später wieder sein. Sie waren in der Vergangenheit auch schon weit getrennt, und auch das wird in Zukunft wieder eintreten. Die Berührungspunkte im einzelnen zurückzuverfolgen, ist schwierig, aber aus mathematischer Sicht können wir sicher sein, daß es solche Berührungen gibt. Wenn zwei Gene an einem bestimmten Punkt keinen Kontakt haben, ist mathematisch gesichert, daß wir in beiden Richtungen nicht allzuweit gehen müssen, bis sie sich wieder treffen. 48
Eine Frau weiß vielleicht nicht, daß sie die Cousine ihres Ehemannes ist, aber nach der statistischen Wahrscheinlichkeit müssen die beiden ihre Ahnenreihe nicht besonders weit zurückverfolgen, um auf eine Verbindung zu stoßen. Blickt man in die Zukunft, erscheint es offenkundig, daß die beiden mit großer Wahrscheinlichkeit gemeinsame Nachkommen haben werden. Aber hier gibt es einen viel interessanteren Gedanken. Wenn Sie das nächste Mal unter vielen Menschen sind - beispielsweise in einem Konzert oder bei einem Fußballspiel -, sehen Sie sich im Publikum um und überlegen Sie folgendes: Wenn Sie in ferner Zukunft überhaupt Nachkommen haben, sind in dem Konzert wahrscheinlich noch andere, denen Sie als Vorfahren gemeinsamer Nachkommen die Hand schütteln können. Die Großeltern wissen in der Regel, daß sie gemeinsame Enkelkinder haben, und es muß ihnen ein gewisses Gefühl der Verbundenheit vermitteln, ob sie nun persönlich gut miteinander auskommen oder nicht. Sie können sich ansehen und sagen: »Nun ja, ich mag ihn nicht besonders, aber seine DNA hat sich in unserem gemeinsamen Enkel mit meiner vermischt, und wir können hoffen, daß wir auch in Zukunft, wenn es uns längst nicht mehr gibt, gemeinsame Nachkommen haben. Das schafft sicher eine Verbindung zwischen uns.« Worauf ich aber hinauswill: Wenn man überhaupt mit entfernten Nachkommen gesegnet ist, wird irgendein völlig Fremder in dem Konzertsaal ebenfalls ein Vorfahr dieser Nachkommen sein. Man kann das Publikum mustern und darüber spekulieren, welche Männer oder Frauen dazu bestimmt sind, die Nachkommen mit einem selbst zu teilen. Sie und ich, wer Sie auch sind, welches Geschlecht und welche Hautfarbe Sie auch haben, könnten gemeinsame Vorfahren sein. Vielleicht ist Ihre DNA dazu bestimmt, sich mit meiner zu vermischen. Seien Sie gegrüßt! Reisen wir nun einmal mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit, vielleicht zu der Menschenmenge im Kolosseum, 49
zu einem Markt in Ur, oder noch weiter zurück. Sehen wir uns wieder die Menschen an, wie wir es mit dem Konzertpublikum in der Gegenwart getan haben. Machen wir uns klar, daß wir diese längst verstorbenen Menschen in zwei und nur zwei Gruppen einteilen können: diejenigen, die unsere Vorfahren sind, und diejenigen, von denen wir nicht abstammen. Das ist recht naheliegend, aber jetzt sind wir bei einer bemerkenswerten Tatsache. Hat die Zeitmaschine uns weit genug in die Vergangenheit befördert, können wir bei den Menschen unterscheiden zwischen denjenigen, die die Vorfahren aller 1995 lebenden Menschen sind, und jenen anderen, die 1995 die Vorfahren von niemandem sind. Dazwischen gibt es nichts. Jede Person, die man erblickt, wenn man aus der Zeitmaschine tritt, ist entweder ein Vorfahr aller Menschen oder kein Vorfahr von irgend jemandem. Das ist ein fesselnder Gedanke, der aber ganz einfach zu beweisen ist. Man muß sich mit der gedachten Zeitmaschine nur grotesk weit zurückversetzen, beispielsweise in die Zeit vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren, als unsere Vorfahren Fische mit lappenförmigen Flossen und einer Lunge waren, die aus dem Wasser stiegen und zu Amphibien wurden. Wenn ein bestimmter Fisch mein Vorfahr war, ist es unvorstellbar, daß er nicht auch der Vorfahr aller anderen Menschen ist. Wäre es anders, würde das bedeuten, daß die Abstammungslinien, die zu mir und zu einem anderen Menschen geführt haben, unabhängig voneinander und ohne Querverbindungen entstanden sind, vom Fisch über Amphibien, Reptilien, Säugetiere, Primaten, Menschenaffen und Hominiden, und am Ende wäre etwas so Ähnliches herausgekommen, daß wir miteinander reden und, wenn wir unterschiedlichen Geschlechts sind, uns miteinander paaren können. Und das gleiche gilt auch für jedes andere beliebige Paar von Menschen. Es ist also bewiesen: Wenn wir in der Zeit weit genug zurückgehen, muß jedes Individuum, auf das wir treffen, ent50
weder ein Vorfahr von uns allen oder von niemandem sein. Aber wie weit zurück ist weit genug? Offenbar brauchen wir nicht bis zu den Fischen mit lappenförmigen Flossen zurückzugehen - das war die reductio ad absurdum -, aber wie weit müssen wir uns wirklich in die Vergangenheit begeben, damit wir auf den allgemeinen Vorfahren aller 1996 lebenden Menschen treffen? Das ist eine viel schwierigere Frage, und ihr möchte ich mich als nächstes zuwenden. Sie läßt sich nicht theoretisch beantworten. Wir brauchen dazu echte Informationen, Messungen aus der nüchternen Welt bestimmter Tatsachen. Sir Ronald Fisher, der englische Genetiker und Mathematiker, in dem man sowohl Darwins wichtigsten Nachfolger im 20. Jahrhundert als auch den Vater der modernen Statistik sehen kann, traf 1930 die folgende Feststellung: Die geographischen und anderen Hindernisse für den Geschlechtsverkehr zwischen verschiedenen Rassen... sind das einzige, was verhindert hat, daß die gesamte Menschheit, von den letzten paar tausend Jahren abgesehen, die gleichen Vorfahren hat. Angehörige der gleichen Nation unterscheiden sich in ihrer Abstammung jenseits der letzten fünfhundert Jahre unter Umständen kaum; bei zweitausend Jahren bleiben offenbar als einzige Unterschiede die zwischen den ethnographischen Rassen; diese... dürften tatsächlich sehr alt sein; aber das war über so lange Epochen hinweg nur möglich, wenn es praktisch keine Vermischung des Blutes zwischen den getrennten Gruppen gab. Im Sinne unserer Flußanalogie bezieht Fisher sich eigentlich auf die Tatsache, daß die Gene aller Angehörigen einer geographisch zusammengehörenden Rasse in demselben Fluß schwimmen. Was aber die genauen Zahlen anging - fünfhundert Jahre, zweitausend Jahre, das enorme Alter der Trennung verschiedener Rassen -, so war Fisher auf begründete Vermutungen angewiesen. Die einschlägigen Tatsachen kannte 51
man zu seiner Zeit noch nicht. Heute, nach der molekularbiologischen Revolution, stehen sie in Hülle und Fülle zur Verfügung. Die Molekularbiologie hat uns die charismatische afrikanische Eva beschert. Man hat sich neben dem digitalen Fluß auch anderer Metaphern bedient. So liegt es nahe, die DNA jedes Menschen mit einer Familienbibel zu vergleichen. Die DNA ist ein sehr langer Text, der, wie wir gesehen haben, in einem Alphabet aus vier Buchstaben geschrieben ist. Diese Buchstaben wurden von unseren Vorfahren und nur von unseren Vorfahren peinlich genau abgeschrieben, mit bemerkenswerter Originaltreue sogar im Falle sehr weit entfernter Vorfahren. Durch den Vergleich der in verschiedenen Menschen erhalten gebliebenen Texte sollte es deshalb möglich sein, ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu rekonstruieren und einen gemeinsamen Vorfahren ausfindig zu machen. Entfernte Vettern, beispielsweise Norweger und australische Aborigines, deren DNA mehr Zeit für die Auseinanderentwicklung hatte, sollten sich in mehr Wörtern unterscheiden. Ähnlich verfahren die Gelehrten mit den verschiedenen Versionen biblischer Texte. Bei der DNA hat die Sache leider einen Haken, und der heißt Sexualität. Die Sexualität ist der Alptraum eines Archivars. Anstatt die alten Texte, mit Ausnahme eines gelegentlichen unvermeidlichen Fehlers, unverändert zu lassen, greift sie mutwillig und energisch ein und zerstört die Indizien. Kein Elefant hat jemals einen Porzellanladen so verwüstet wie die Sexualität die DNAArchive. In der Bibelwissenschaft gibt es so etwas nicht. Zugegebenermaßen merkt auch ein Gelehrter, der beispielsweise die Ursprünge vom Hohenlied Salomons aufspüren will, daß der Text nicht ganz das ist, was er zu sein scheint. Das Lied enthält seltsame, zusammenhanglose Stellen, die darauf schließen lassen, daß es sich in Wirklichkeit um Bruchstücke mehrerer verschiedener Gedichte handelt, von denen nur ein 52
Teil erotisch war und die zusammengeflickt wurden. Und es enthält Fehler - Mutationen -, insbesondere in der Übersetzung. »Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben« ist eine falsche Übersetzung, an deren sprachlichen Reiz aber das richtigere »Fangt uns die Fledermäuse, die kleinen Fledermäuse...« nicht heranreicht. Aber das sind kleinere Fehler, unvermeidliche geringfügige Verzerrungen, mit denen man immer rechnen muß, wenn Texte nicht tausendfach gedruckt oder in Computerdiscs geätzt, sondern von menschlichen Schreibern immer wieder von einem verschlissenen, verletzlichen Papyrus auf den anderen übertragen werden. Aber jetzt kommt die Sexualität ins Spiel. (Nein, in dem Sinne, der hier gemeint ist, kommt Sexualität im Lied der Lieder nicht vor.) Die Sexualität, die ich meine, bedeutet nichts anderes, als daß man ein Dokument zur Hälfte in kleine, zufällige Schnipsel zerreißt und mit der zweiten Hälfte eines ebenso kleingehackten Dokuments vermischt. So unglaublich und sogar barbarisch das klingt, nichts anderes geschieht bei der Entstehung einer Geschlechtszelle. Wenn sich beispielsweise in einem Mann eine Samenzelle bildet, paaren sich die Chromosomen, die er von seinem Vater und seiner Mutter geerbt hat, und große Brocken von ihnen tauschen die Plätze. Die Chromosomen eines Kindes sind ein unentwirrbarer Mischmasch aus den Chromosomen seiner Großeltern und weiter zurück bis zu denen der entferntesten Vorfahren. Von den künftig alten Texten können die Buchstaben und vielleicht die Wörter über die Generationen hinweg erhalten bleiben. Aber Kapitel, Seiten, sogar einzelne Abschnitte werden auseinandergerissen und mit einer so rücksichtslosen Effizienz neu zusammengesetzt, daß sie als Mittel zur historischen Spurensuche fast nutzlos sind. Was die Geschichte der Vorfahren angeht, ist Sexualität die große Verschleierung. 53
Man kann anhand der DNA-Archive immer dann die Vergangenheit rekonstruieren, wenn Sexualität mit Sicherheit nicht im Spiel war. Mir fallen dazu zwei wichtige Beispiele ein. Das eine ist die afrikanische Eva - auf sie komme ich noch zu sprechen. Das andere betrifft die Rekonstruktion der weiter zurückliegenden Abstammung, bei der man Verwandtschaftsverhältnisse nicht innerhalb einzelner Arten, sondern zwischen ihnen betrachtet. Wenn eine Ausgangsart eine neue Art hervorbringt, teilt sich der Genfluß in zwei Arme. Nachdem sie sich ausreichend lange voneinander entfernt haben, ist die sexuelle Vermischung innerhalb des Flusses keineswegs ein Hindernis für den genetischen Archivar, sondern sie hilft sogar bei der Rekonstruktion der Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Arten. Nur bei den Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb einer Art bringt Sexualität die Indizien durcheinander. Geht es dagegen um die Beziehungen zwischen verschiedenen Arten, ist sie eine Hilfe, denn sie sorgt ganz automatisch dafür, daß jedes Individuum genetisch ein repräsentatives Beispiel für die gesamte Art darstellt. Welches Wasser man mit dem Eimer aus einem gut durchgemischten Fluß schöpft, spielt keine Rolle: Es ist immer repräsentativ für alles Wasser dieses Flusses. Man hat tatsächlich die DNA-Texte von Vertretern verschiedener Arten Buchstabe für Buchstabe verglichen und auf diese Weise sehr erfolgreich Artenstammbäume konstruiert. Einer einflußreichen wissenschaftlichen Schule zufolge, kann man den Verzweigungsstellen sogar Zeitpunkte zuordnen. Diese Möglichkeit ergibt sich aus der allerdings noch umstrittenen Vorstellung von einer »molekularen Uhr«: Man nimmt an, daß Mutationen in jedem beliebigen Abschnitt des genetischen Textes sich mit gleichbleibender Häufigkeit pro Jahrmillion ereignen. Wir werden in Kürze auf die Hypothese von der molekularen Uhr zurückkommen. 54
Der »Abschnitt« in unseren Genen, der ein Protein namens Cytochrom c beschreibt, hat eine Länge von 339 Buchstaben. Das Cytochrom c des Menschen unterscheidet sich durch zwölf veränderte Buchstaben vom Cytochrom c der Pferde, die mit uns nur ziemlich entfernt verwandt sind. Nur die Veränderung eines Buchstabens trennt uns von den Affen (unseren recht nahen Verwandten), ein einziger anderer Buchstabe trennt auch Pferde und Esel (recht nahe Verwandte), und drei veränderte Buchstaben wiederum unterscheiden Pferde von Schweinen (ihren etwas entfernteren Verwandten). Zwischen Menschen und Hefe liegen fünfundvierzig veränderte Buchstaben, und die gleiche Zahl von Veränderungen trennt auch Schweine von Hefe. Daß diese beiden Zahlen gleich sind, ist nicht verwunderlich, denn wenn wir den zum Menschen führenden Fluß zurückverfolgen, vereinigt er sich zunächst mit dem zu den Schweinen führenden Strom, und erst in viel entfernterer Vergangenheit vereinigt sich dieser gemeinsame Fluß mit dem, der zur Hefe fließt. Dennoch gibt es in den Zahlen kleine Ungenauigkeiten. Vergleicht man das Cytochrom c von Pferden und Hefe, sind nicht fünfundvierzig, sonden sechsundvierzig Buchstaben anders. Das bedeutet nicht, daß Schweine mit der Hefe enger verwandt wären als Pferde. Der Abstand ist genau gleich groß, denn beide sind Wirbeltiere - und überhaupt Tiere. Die zusätzliche Veränderung hat sich in die Abstammungslinie der Pferde möglicherweise erst recht spät eingeschlichen, zur Zeit des letzten Vorfahren, den sie mit den Schweinen gemeinsam hatten. Aber das ist im Grunde nicht so wichtig. Insgesamt entspricht die Zahl der veränderten Buchstaben im Cytochrom c zwischen verschiedenen Lebewesen ziemlich genau dem, was man nach der zuvor beschriebenen Vorstellung von der Verzweigung des Evolutionsbaumes erwarten würde. 55
Wie bereits erwähnt, macht ein Textabschnitt nach der Theorie von der molekularen Uhr in einer Million Jahren immer ungefähr die gleiche Zahl von Veränderungen durch. Von den sechsundvierzig Buchstabenabweichungen im Cytochrom c, die Hefe und Pferde trennen, ist dieser Annahme zufolge die Hälfte während der Evolution vom gemeinsamen Vorfahren zu den heutigen Pferden entstanden, die andere Hälfte auf dem Weg vom gemeinsamen Vorfahren zur heutigen Hefe (zur Vollendung der beiden Evolutionswege war natürlich die gleiche Zahl von Jahrmillionen notwendig). Diese Annahme erscheint zunächst verblüffend. Immerhin ähnelte der gemeinsame Vorfahr der heutigen Hefe wahrscheinlich mehr als einem Pferd. Die Lösung liegt in einer Vermutung, die zuerst von dem angesehenen japanischen Genetiker Motoo Kimura vertreten wurde und sich mittlerweile allgemein durchgesetzt hat: Danach kann sich der größte Teil des genetischen Textes beliebig verändern, ohne daß das seine Bedeutung beeinflußt. Ein guter Vergleich ist die Abwandlung von Schriftarten in einem gedruckten Satz: »Ein Pferd ist ein Säugetier.« »Hefe ist ein Pilz.« Der Sinn dieser Sätze ist deutlich erkennbar, obwohl fast jedes Wort in einer anderen Schriftart gedruckt ist. Auch die molekulare Uhr tickt über die Jahrmillionen hinweg mit dem Äquivalent bedeutungsloser Schriftartveränderungen. Die Abwandlungen, die der natürlichen Selektion unterworfen werden und den Unterschied zwischen Pferd und Hefe bestimmen - die Veränderungen in der Bedeutung der Sätze - sind nur die Spitze des Eisbergs. Bei manchen Molekülen tickt die Uhr schneller als bei anderen. Das Cytochrom c entwickelt sich relativ langsam: Ungefähr alle fünfundzwanzig Millionen Jahre verändert sich ein Buchstabe. Das liegt wahrscheinlich daran, daß Cytochrom c für das Überleben eines Organismus unentbehrlich ist und seine Funktion entscheidend von der genauen Gestalt seiner 56
Moleküle abhängt. Die meisten Abwandlungen solcher »formkritischen« Moleküle werden von der natürlichen Selektion nicht toleriert. Andere Proteine, beispielsweise die sogenannten Fibrinopeptide, sind zwar ebenfalls wichtig, aber sie funktionieren in vielen verschiedenen Formen gleichermaßen gut. Die Fibrinopeptide wirken bei der Blutgerinnung mit und lassen sich in vielen Einzelheiten abwandeln, ohne daß das ihre nützliche Wirkung beeinträchtigt. Bei diesen Proteinen liegt die Mutationsrate bei einer einzigen Veränderung in sechshunderttausend Jahren, und damit ist sie um über vierzigmal schneller als beim Cytochrom c. Deshalb eignen sich die Fibrinopeptide nicht besonders zur Rekonstruktion alter Abstammungslinien; aber zum Nachzeichnen von Verwandtschaftsverhältnissen aus jüngerer Zeit - beispielsweise innerhalb der Gruppe der Säugetiere - waren sie sehr nützlich. Es gibt Hunderte verschiedene Proteine, die sich jeweils mit einer eigenen, charakteristischen Geschwindigkeit pro Jahrmillion verändern und sich unabhängig voneinander zur Rekonstruktion von Stammbäumen eignen. Dabei ergibt sich im wesentlichen immer das gleiche Bild von den Abstammungsverhältnissen - auch das übrigens ein recht guter Hinweis (falls er noch notwendig sein sollte), daß die Evolutionstheorie stimmt. Ausgangspunkt dieser Erörterung war die Erkenntnis, daß Sexualität die historischen Belege durcheinanderbringt. Wir haben zwei Wege aufgezeigt, wie man die Auswirkungen der Sexualität umgehen kann. Von einem davon war gerade die Rede - er ergibt sich aus der Tatsache, daß Sexualität nicht zum Genaustausch zwischen verschiedenen Arten führt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, mit Hilfe der DNA-Sequenzen den Stammbaum unserer weit entfernten Vorfahren zu rekonstruieren, die lange vor der Zeit lebten, als wir erkennbar menschliche Züge annahmen. Aber wenn man so weit in die Vergangenheit zurückgeht - darin waren wir uns schon 57
einig -, stammen alle Menschen ohnehin von ein und demselben Individuum ab. Wir wollten in Erfahrung bringen, welches der späteste Zeitpunkt ist, zu dem wir noch von einer gemeinsamen Abstammung aller Menschen ausgehen können. Um das festzustellen, müssen wir uns mit anderen Befunden beschäftigen, die sich aber ebenfalls auf die DNA gründen. Hier kommt nun die afrikanische Eva ins Spiel. Die afrikanische Eva wird manchmal auch Eva der Mitochondrien genannt. Mitochondrien sind winzige, bonbonförmige Körperchen, die zu Tausenden in jeder unserer Körperzellen herumschwimmen. Sie sind eigentlich hohl, aber in ihrem Inneren bilden Membranen ein kompliziertes System von Scheidewänden. Die Fläche dieser Wände ist insgesamt viel größer, als man nach der äußeren Form der Mitochondrien vermuten würde, und sie wird genutzt. Die Membranen sind die Fließbänder einer Fabrik - oder eigentlich eher eines Kraftwerkes. An ihnen entlang spielt sich eine genau gesteuerte Reaktionsfolge ab, die mehr Einzelstufen umfaßt als die Produktionsprozesse in jeder von Menschen konstruierten Fabrik. Das Endprodukt ist Energie, die aus den Nährstoffmolekülen stammt; sie wird in geregelten Portionen freigesetzt und in wiederverwendbarer Form gespeichert, so daß sie später bei Bedarf an jeder beliebigen Stelle im Organismus verwertet werden kann. Ohne Mitochondrien würden wir sofort sterben. Das ist die Tätigkeit der Mitochondrien, aber uns geht es hier mehr um ihre Herkunft. Ursprünglich, in der Frühzeit der Evolution, waren sie Bakterien - so die bemerkenswerte Theorie der redegewaltigen Lynn Margulis von der University of Massachusetts in Amherst, die für diese anfangs ketzerische Idee zunächst widerwilliges Interesse weckte und sie bis zur triumphalen und heute fast uneingeschränkten Anerkennung führte. Vor zwei Milliarden Jahren waren frei lebende Bakterien die entfernten Vorfahren der Mitochondrien. Zusammen 58
mit anderen Bakterienarten nisteten sie sich in größeren Zellen ein. Die so entstandene Lebensgemeinschaft »prokaryontischer« Bakterien wurde zu der heutigen großen »eukaryontischen« Zelle. Jeder von uns ist eine Gemeinschaft von hundert Millionen Millionen voneinander abhängigen Eukaryontenzellen, und jede dieser Zellen ist ihrerseits eine Gemeinschaft von Tausenden speziell gezähmter Bakterien, die völlig in der Zelle eingeschlossen sind und sich dort wie Bakterien vermehren. Einer Berechnung zufolge würden alle Mitochondrien eines einzigen Menschen, hintereinander aufgereiht, die Erde nicht einmal, sondern zweitausendmal umspannen. Jedes Tier und jede Pflanze ist eine riesige Gemeinschaft von Gemeinschaften, die in interagierenden Schichten angeordnet sind wie ein tropischer Regenwald. Und wie in einem Regenwald wimmelt es in dieser Lebensgemeinschaft von vielleicht zehn Millionen Arten von Organismen, wobei jedes Mitglied einer Art selbst wieder eine Gemeinschaft von Gemeinschaften domestizierter Bakterien darstellt. Dr. Margulis' Geschichte von den Ursprüngen - die Zelle als umfriedeter Bakteriengarten - ist nicht nur ungleich inspirierender, aufregender und erhebender als die Geschichte vom Garten Eden. Sie hat außerdem den Vorteil, daß sie mit ziemlicher Sicherheit wahr ist. Ich gehe heute wie die meisten Biologen von der Annahme aus, daß Margulis' Theorie stimmt; in diesem Kapitel erwähne ich sie nur, weil daraus etwas ganz Bestimmtes folgt: Mitochondrien besitzen ihre eigene DNA, die wie bei anderen Bakterien ein einziges ringförmiges Chromosom bildet. Und damit ist der Punkt erreicht, zu dem das alles hinführen sollte: Die Mitochondrien-DNA beteiligt sich an keinerlei sexueller Vermischung, weder mit der Hauptmenge der DNA in den Zellkernen noch mit der DNA anderer Mitochondrien. Die Mitochondrien vermehren sich wie viele Bakterien durch einfache Zweiteilung. Wenn aus einem von ihnen zwei gleichar59
tige Tochtermitochondrien werden, erhält jedes davon - abgesehen von der einen oder anderen seltsamen Mutation eine genaue Kopie des ursprünglichen Chromosoms. Jetzt erkennt man, wie schön das unter dem Gesichtspunkt der langfristigen Stammbaumforschung ist. Wie wir gesehen haben, werden die Indizien in unseren gewöhnlichen DNATexten in jeder Generation durch die Sexualität durcheinandergewürfelt, so daß die Beiträge der mütterlichen und väterlichen Linie nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Die Mitochondrien-DNA ist erfreulich zölibatär. Unsere Mitochondrien erhalten wir ausschließlich von der Mutter. Samenzellen sind sehr klein und enthalten nur wenige Mitochondrien, die gerade eben ausreichen, um auf dem Weg zur Eizelle die Energie für die Schwimmbewegungen des Schwanzes zu liefern; bei der Befruchtung, wenn der Kopf der Samenzelle in die Eizelle aufgenommen wird, gehen diese Mitochondrien zusammen mit dem Schwanz zugrunde. Die Eizelle ist im Vergleich dazu riesengroß; ihr gewaltiger, flüssigkeitsgefüllter Innenraum enthält eine Fülle von Mitochondrien, die in den Körper des Kindes gelangen. Die Mitochondrien von Männern und Frauen stammen also gleichermaßen von diesen anfänglichen, von der Mutter kommen Mitochondrien ab. Und ebenso sind bei Männern und Frauen alle Mitochondrien aus den Mitochondrien der Großmutter mütterlicherseits hervorgegangen. Keines davon kommt vom Vater, keines von einem der Großväter, keines von der Großmutter väterlicherseits. Die Mitochondrien sind eigenständige Zeugnisse der Vergangenheit, nicht verunreinigt durch die Hauptmenge der DNA im Zellkern, die mit gleicher Wahrscheinlichkeit von jedem der vier Großeltern stammen kann, und ebenso von jedem der acht Urgroßeltern und so weiter. Die Mitochondrien-DNA ist nicht verunreinigt, aber sie ist nicht immun gegen Mutationen, zufällige Kopierfehler. Ganz 60
im Gegenteil: Sie mutiert sogar häufiger als unsere »eigentliche« DNA, denn (wie bei allen Bakterien) fehlt ihr der hochentwickelte Apparat zur Fehlerkorrektur, den die Evolution im Laufe der Zeit in unseren Zellen hervorgebracht hat. In der Mitochondrien-DNA verschiedener Menschen gibt es einige Unterschiede, und ihre Zahl ist ein Maß dafür, in welch ferner Vergangenheit sich die jeweiligen Abstammungslinien der Vorfahren getrennt haben. Nicht aller Vorfahren, sondern der Vorfahren in der weiblichen, weiblichen, weiblichen... Linie. Wenn die Mutter eine reinerbige australische Ureinwohnerin oder eine reinerbige Chinesin oder eine reinrassige Angehörige der !Kung San aus der Kalahari ist, findet man in ihrer Mitochondrien-DNA eine ganze Reihe von Unterschieden zu der einer Europäerin. Wer der Vater ist, spielt dabei keine Rolle: Er kann ein englischer Lord oder ein Siouxhäuptling sein, die Unterschiede in den Mitochondrien sind immer die gleichen. Und das gleiche gilt für alle männlichen Vorfahren aller Zeiten. Es gibt also die eigenständigen Apokryphen der Mitochondrien, die zusammen mit der großen Familienbibel weitergegeben werden, aber mit der Besonderheit, daß die Vererbung nur über die weibliche Linie erfolgt. Das ist kein sexistischer Standpunkt; es wäre genausogut, wenn alles über die männliche Linie verliefe. Der Vorteil liegt darin, daß die DNA unversehrt bleibt und nicht in jeder Generation auseinandergerissen und vermischt wird. Zusammenhängende Vererbung über eines der beiden Geschlechter, aber nicht über beide: Genau das brauchen wir als DNA-Stammbaumforscher. Das YChromosom wird - wie bis vor einiger Zeit der Familienname - nur über die männliche Linie weitergegeben und würde sich deshalb theoretisch ebensogut eignen, aber es enthält zu wenig nützliche Information. Die mitochondrialen Apokryphen sind das ideale Mittel zur Datierung gemeinsamer Vorfahren innerhalb einer Art. 61
Mit der Mitochondrien-DNA beschäftigte sich ein Wissenschaftlerteam im kalifornischen Berkeley unter der Leitung des verstorbenen Allan Wilson. In den achtziger Jahren analysierte er zusammen mit seinen Kollegen die MitochondrienDNA aus einer Stichprobe von 135 Frauen aus der ganzen Welt, darunter australische Ureinwohnerinnen, Bewohnerinnen des Hochlandes von Neuguinea, Indianerinnen, Europäerinnen, Chinesinnen und Angehörige verschiedener afrikanischer Völker. Die Wissenschaftler untersuchten genau, wie viele unterschiedliche Buchstaben die einzelnen Frauen trennten. Diese Zahlen fütterten sie in einen Computer und wiesen ihn an, daraus den sparsamsten Stammbaum abzuleiten. »Sparsam« bedeutet in diesem Zusammenhang, daß man mit möglichst geringem Aufwand zur Übereinstimmung gelangt. Das erfordert ein wenig Erklärung. Denken wir noch einmal an die zuvor gegebene Beschreibung von Pferden, Schweinen und Hefe sowie an die Analyse der Buchstabenfolge im Cytochrom c. Wie ich dort erläutert habe, unterscheiden sich Pferde und Schweine nur in drei dieser Buchstaben, zwischen Schwein und Hefe liegen fünfundvierzig, zwischen Pferd und Hefe dagegen sechsundvierzig solche Unterschiede. Die theoretische Aussage, die wir daraus abgeleitet haben, lautete: Da Pferde und Schweine über einen gemeinsamen Vorfahren, der in relativ junger Vergangenheit gelebt hat, verwandt sind, sollten sie von der Hefe genau gleich weit entfernt sein. Der Unterschied zwischen fünfundvierzig und sechsundvierzig ist eine Anomalie, die es in einer idealen Welt nicht gäbe. Ihre Ursache kann eine zusätzliche Mutation auf dem Weg zu den Pferden oder eine umgekehrte Mutation auf dem Weg zu den Schweinen sein. Aber so absurd diese Möglichkeit in der Realität auch erscheinen mag: Theoretisch ist es denkbar, daß Schweine mit der Hefe näher verwandt sind als mit Pferden. Theoretisch wäre es möglich, daß die starke Ähnlichkeit zwischen Schwei62
nen und Pferden (ihre Cytochrom-c-Texte sind nur um drei Buchstaben voneinander entfernt, und ihr Körperbau ist entsprechend dem Grundmuster der Säugetiere fast identisch) sich durch einen riesigen Zufall entwickelt hat. Daß wir das nicht annehmen, hat einen ganz bestimmten Grund: Die Zahl der Ähnlichkeiten zwischen Schweinen und Pferden ist bei weitem größer als die der Übereinstimmungen zwischen Schweinen und Hefe. Zugegebenermaßen gibt es einen einzigen Buchstaben in der DNA, in dem die Schweine der Hefe offenbar näher sind als den Pferden, aber dagegen stehen Millionen von Übereinstimmungen in der anderen Richtung. Es ist ein Sparsamkeitsargument. Wenn man annimmt, daß Schweine den Pferden näher sind, muß man nur eine einzige zufällige Ähnlichkeit unterstellen. Wollte man jedoch eine engere Verwandtschaft zwischen Schweinen und Hefe postulieren, müßte man eine völlig unrealistische Kette unabhängig voneinander erworbener zufälliger Ähnlichkeiten voraussetzen. Bei Pferden, Schweinen und Hefe ist dieses Sparsamkeitsargument so übermächtig, daß man es nicht in Zweifel ziehen kann. In der Mitochondrien-DNA verschiedener Menschenrassen gibt es dagegen an den Ähnlichkeiten nichts Übermächtiges. Auch hier lassen sich Sparsamkeitsargumente anwenden, aber es sind schwächere, quantitative Argumente, die keineswegs alles andere vom Tisch wischen. Das ist, zumindest in der Theorie, die Aufgabe des Computers: Er stellt alle möglichen Stammbäume der 135 Frauen auf, vergleicht sie miteinander und sucht den sparsamsten heraus, das heißt denjenigen, der mit der geringsten Zahl zufälliger Ähnlichkeiten auskommt. Man muß anerkennen, daß auch der beste Stammbaum einige zufällige Ähnlichkeiten einschließt, genau wie wir hinnehmen mußten, daß die Hefe im Hinblick auf einen Buchstaben der DNA den Schweinen nähersteht als den Pferden. Aber zumindest theoretisch sollte der Computer in 63
der Lage sein, dies in Rechnung zu stellen und etwas darüber auszusagen, welcher der vielen möglichen Stammbäume der sparsamste, am wenigsten vom Zufall bestimmte ist. Soweit die Theorie. In der Praxis hat die Sache einen Haken. Die Zahl möglicher Stammbäume ist größer, als jeder von uns und jeder Mathematiker sich vorstellen können. Für Pferd, Schwein und Hefe sind nur drei Stammbäume möglich. Der offenkundig richtige lautet ([Schwein Pferd] Hefe): Schwein und Pferd gehören zusammen in die inneren Klammern, Hefe ist die entfernter verwandte »äußere Gruppe«. Die beiden anderen theoretischen Stammbäume lauten ([Schwein Hefe] Pferd) und ([Pferd Hefe] Schwein). Nehmen wir eine vierte Art (zum Beispiel den Tintenfisch) hinzu, steigt die Zahl der möglichen Stammbäume auf fünfzehn. Ich möchte sie hier nicht alle aufführen, aber der wirkliche (sparsamste) lautet ([[Schwein Pferd] Tintenfisch] Hefe). Auch hier stehen Schwein und Pferd als enge Verwandte nahe zusammen in den innersten Klammern. Als nächstes kommt der Tintenfisch hinzu, der mit der Abstammungslinie von Schwein und Pferd einen jüngeren gemeinsamen Vorfahren hat als die Hefe. Alle vierzehn anderen Stammbäume - zum Beispiel ([Schwein Tintenfisch] [Pferd Hefe]) - sind eindeutig weniger sparsam. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die vielen Ähnlichkeiten von Schwein und Pferd sich unabhängig voneinander entwickelt haben, wenn das Schwein tatsächlich ein näherer Verwandter des Tintenfisches und das Pferd ein näherer Verwandter der Hefe wäre. Wenn für drei Lebewesen drei und für vier Lebewesen fünfzehn Stammbäume möglich sind, wie viele Stammbäume kann man dann für 135 Frauen aufstellen? Die Antwort lautet: eine so gewaltig große Zahl, daß es keinen Sinn hätte, sie aufzuschreiben. Wenn der größte und schnellste Computer der Welt alle diese Stammbäume aufführen sollte, wäre das Ende der Welt da, bevor er mit seiner Aufgabe auch nur ein merkliches Stück vorangekommen wäre. 64
Dennoch ist die Sache nicht hoffnungslos. Wir sind es gewohnt, unmöglich große Zahlen mit Hilfe vernünftiger Stichproben in den Griff zu bekommen. Wir können die Insekten im Amazonasbecken nicht zählen, aber wir können ihre Zahl abschätzen, indem wir kleine, zufällig über den Regenwald verteilte Flächen untersuchen und annehmen, daß diese Stichproben repräsentativ sind. Unser Computer kann nicht alle Stammbäume analysieren, die die 135 Frauen verbinden, aber er kann Stichproben aus der Gesamtmenge der möglichen Stammbäume ziehen. Wenn man dann feststellt, daß die sparsamsten Stammbäume in jeder Stichprobe aus den Gigamilliarden möglicher Stammbäume jedesmal einige gemeinsame Eigenschaften haben, kann man schließen, daß vermutlich auch die sparsamsten aller Stammbäume diese Eigenschaften aufweisen. Genau das hat man getan. Aber wie man es am besten anfängt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Genau wie die Insektenforscher, die sich vielleicht nicht einig sind, wie man am besten Stichproben im brasilianischen Regenwald nimmt, haben auch die DNA-Stammbaumforscher ihre Stichproben mit unterschiedlichen Methoden gewonnen. Und die Ergebnisse stimmen leider nicht immer überein. Wegen ihres Wertes möchte ich dennoch die Befunde darstellen, zu denen die Arbeitsgruppe in Berkeley bei ihrer Analyse der menschlichen Mitochondrien-DNA gelangte. Ihre Schlußfolgerungen waren nämlich äußerst interessant und provozierend. Der sparsamste Stammbaum hat demnach seine festen Wurzeln in Afrika. Das bedeutet, daß manche Afrikanerinnen mit anderen Afrikanerinnen entfernter verwandt sind als mit sonst irgend jemandem auf der Welt. Die gesamte übrige Menschheit - Europäerinnen, Indianerinnen, australische Aborigines, Chinesinnen, Bewohner von Neuguinea, Inuit und alle anderen - bilden eine Gruppe relativ enger Verwandter. Auch manche Afrikanerinnen gehören in diese Gruppe, andere aber nicht. Nach 65
dieser Analyse sieht der sparsamste Stammbaum folgendermaßen aus: (manche Afrikanerinnen [andere Afrikanerinnen / [noch andere Afrikanerinnen [wieder andere Afrikanerinnen und alle anderen]]]). Die Wissenschaftler gelangten deshalb zu dem Schluß, die große Urmutter von uns allen müsse in Afrika gelebt haben: eine »afrikanische Eva«. Wie ich schon erwähnt habe, ist diese Aussage umstritten. Andere behaupteten, man könne ebenso sparsame Stammbäume finden, deren äußerste Äste außerhalb Afrikas liegen. Außerdem sei die Gruppe von Berkeley nur deshalb zu ihren Ergebnissen gelangt, weil der Computer die Stammbäume in einer bestimmten Reihenfolge untersucht habe. Natürlich sollte die Reihenfolge der Untersuchung keine Rolle spielen. Dennoch würden die meisten Experten auch heute noch ihr Geld dafür wetten, daß die Eva der Mitochondrien eine Afrikanerin war, aber sie würden es nicht mehr mit allzu großer Sicherheit tun. Weniger umstritten ist die zweite Schlußfolgerung der Berkeley-Gruppe. Unabhängig davon, wo die Eva der Mitochondrien lebte, können wir abschätzen, wann das war. Wie schnell die Mitochondrien-DNA sich verändert, weiß man, und deshalb kann man jedem Verzweigungspunkt in ihrem Evolutionsstammbaum einen Zeitpunkt zuordnen. Und der Zeitpunkt, der die gesamte weibliche Menschheit vereint - der Tag, an dem die Eva der Mitochondrien geboren wurde - liegt zwischen hundertfünfzigtausend und einer Viertelmillion Jahre zurück. Ob die Eva der Mitochondrien nun Afrikanerin war oder nicht, wichtig ist, daß man dies nicht mit etwas anderem durcheinanderbringt: In einem anderen Sinn gibt es nämlich keinen Zweifel, daß unsere Vorfahren aus Afrika stammen. Die Eva der Mitochondrien ist eine Vorfahrin aller heutigen Menschen und hat in recht junger Vergangenheit gelebt. Sie gehörte zur Spezies Homo sapiens. Fossilien des Homo erectus, einer viel älteren Hominidenart, hat man sowohl in Afrika als 66
auch auf anderen Kontinenten gefunden. Fossilien noch entfernterer Vorfahren wie Homo habilis und die verschiedenen Arten von Australopithecus (darunter eine neuentdeckte, die über vier Millionen Jahre alt ist) kennt man dagegen nur aus Afrika. Wenn wir also seit einer Viertelmillion Jahren die Nachkommen einer kleinen afrikanischen Menschengemeinde sind, dann war es die zweite kleine afrikanische Menschengemeinde. Schon früher, vor vielleicht eineinhalb Millionenjahren, gab es eine große Wanderung, und der Homo erectus besiedelte von Afrika aus auf verschlungenen Wegen Teile des Nahen Ostens und Asiens. Die Theorie von der afrikanischen Eva behauptet nicht, es habe diese früheren Asiaten nicht gegeben, sondern sie besagt nur, daß sie keine heute noch lebenden Nachkommen haben. Wie man es auch betrachtet: Wenn wir zwei Millionen Jahre zurückgehen, sind wir alle Afrikaner. Die Theorie von der afrikanischen Eva behauptet zusätzlich, man brauche nur ein paar hunderttausend Jahre in die Vergangenheit zu blicken, dann seien alle überlebenden Menschen Afrikaner. Es wäre, falls neue Befunde eine solche Ansicht stützen, durchaus möglich, die gesamte heutige Mitochondrien-DNA auf eine Quelle außerhalb Afrikas (beispielsweise eine »asiatische Eva«) zurückzuführen und gleichzeitig weiterhin die Meinung zu vertreten, daß unsere entfernteren Vorfahren ausschließlich in Afrika zu Hause waren. Nehmen wir einmal an, die Gruppe in Berkeley habe recht gehabt, und betrachten wir als nächstes, was ihre Erkenntnis bedeutet und was sie nicht bedeutet. Das Etikett »Eva« hat unglückselige Folgen. Manche Träumer kamen auf den Gedanken, sie sei eine einsame Frau gewesen, die einzige Frau auf Erden, das eigentliche genetische Nadelöhr, ja sogar eine Bestätigung der Genesis! Das ist ein völliges Mißverständnis. Postuliert wird nicht, daß sie die einzige Frau auf der Welt gewesen sei, nicht einmal, daß die Bevölkerung zu ihrer Zeit 67
besonders klein gewesen sei. Sie kann durchaus zahlreiche und fruchtbare Zeitgenossen beiderlei Geschlechts gehabt haben. Vielleicht leben sogar heute noch viele Nachkommen von ihnen. Aber alle Nachkommen ihrer Mitochondrien sind ausgestorben, weil ihre Verbindung zu uns zu irgendeinem Zeitpunkt über einen Mann verläuft. In ganz ähnlicher Weise kann auch ein adliger Familienname (Familiennamen sind in der Regel an das Y-Chromosom gekoppelt und werden, genau spiegelbildlich zu den Mitochondrien, über die männliche Linie vererbt) aussterben, aber das bedeutet nicht, daß die Träger dieses Namens keine Nachkommen haben. Die Nachkommen können über die weibliche Linie sogar zahlreich sein. Richtig ist nur, daß die Eva der Mitochondrien die letzte Frau ist, von der man sagen kann, daß alle heutigen Menschen in der weiblichen Linie von ihr abstammen. Es muß eine Frau geben, auf die diese Behauptung zutrifft. Fraglich ist nur, ob sie hier oder dort und zu dieser oder jener Zeit lebte. Die Tatsache, daß sie irgendwann irgendwo gelebt hat, ist gesichert. Hier gibt es ein zweites Mißverständnis, und zwar eines, das verbreiteter ist; ich habe gehört, wie sogar führende Wissenschaftler, die sich mit der Mitochondrien-DNA beschäftigen, es vertraten. Es ist die Ansicht, die Eva der Mitochondrien sei unsere jüngste gemeinsame Vorfahrin. Ursache ist die Verwechslung zwischen dem letzten gemeinsamen Vorfahren und der letzten gemeinsamen Vorfahrin in der rein weiblichen Linie. In der rein weiblichen Linie ist die Eva der Mitochondrien tatsächlich die jüngste gemeinsame Ahnin aller Menschen, aber man kann von Menschen außer in der weiblichen Linie auf vielerlei andere Arten abstammen. Auf Millionen andere Arten. Kehren wir noch einmal zur Berechnung der Zahl unserer Vorfahren zurück (und vergessen wir dabei die Komplikation durch die Heirat von Cousin und Cousine, die in der Argumentation zuvor der entscheidende 68
Punkt war). Man hat acht Urgroßeltern, aber nur eine dieser Personen steht in der rein weiblichen Linie. Man hat sechzehn Ururgroßeltern, aber auch hier gibt es nur eine rein weibliche Linie. Auch wenn man annimmt, daß die Zahl der Vorfahren in einer bestimmten Generation durch die Verwandtenheirat geringer wird, kann man immer noch nicht nur in der weiblichen Linie, sondern auf viel, viel mehr Arten zum Vorfahren werden. Wenn wir den genetischen Fluß durch die ferne Vergangenheit zurückverfolgen, gibt es vermutlich eine Menge Evas und eine Menge Adams - Menschen, die zu Ausgangspunkten wurden und über die man sagen kann, daß alle 1996 lebenden Menschen von ihnen abstammen. Die Eva der Mitochondrien ist nur eine davon, und für die Annahme, sie sei unter allen diesen Adams und Evas die jüngste, gibt es keinen besonderen Grund, ganz im Gegenteil. Allerdings ist sie auf besondere Weise definiert: Wir entstammen ihr mittels eines besonderen Weges durch den Fluß der Abstammung. Es gibt neben der rein weiblichen Linie eine Riesenzahl weiterer Abstammungswege, und deshalb ist es mathematisch höchst unwahrscheinlich, daß die Eva der Mitochondrien unter den vielen Evas und Adams die jüngste ist. Etwas Besonderes unter diesen vielen Möglichkeiten ist sie nur in einer Hinsicht (weil sie die rein weibliche Linie darstellt). Es wäre schon ein bemerkenswerter Zufall, wenn sie auch noch in anderer Hinsicht (nämlich weil sie die jüngste wäre) eine Sonderstellung unter diesen Möglichkeiten einnähme. Einigermaßen interessant ist auch, daß unser jüngster gemeinsamer Vorfahr mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit ein Adam und keine Eva war. Ein Harem aus Frauen ist wahrscheinlicher als ein Harem aus Männern, und sei es nur deshalb, weil Männer körperlich in der Lage sind, Hunderte oder sogar Tausende von Kindern zu zeugen. Das Guinness Buch der Rekorde gibt als Rekord eine Zahl von über tausend an, die Moulay Ishmael der Blutrünstige erreicht haben soll. (Neben69
bei bemerkt, könnten Feministinnen diesen Moulay Ishmael durchaus als Musterbeispiel für einen unangenehmen Macho anführen. Angeblich bestieg er ein Pferd, indem er das Schwert zog und in den Sattel sprang, wobei er, um schnell loszureiten, gleichzeitig den Sklaven köpfte, der den Zügel hielt. Das mag nicht ganz stimmen, aber die Tatsache, daß seine Legende überliefert ist, und zwar zusammen mit dem Ruf, er habe zehntausend Menschen mit eigener Hand umgebracht, gibt uns vielleicht eine Vorstellung von den Qualitäten, die man bei solchen Männern lange Zeit bewunderte.) Frauen dagegen können auch unter Idealbedingungen höchstens ein paar Dutzend Kinder haben. Bei einer Frau ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie die durchschnittliche Zahl von Kindern hat, viel größer als bei einem Mann. Einige Männer haben an den Kindern vielleicht einen grotesk großen Anteil, aber das heißt, daß andere Männer gar keine Kinder haben. Wenn ein Mensch sich überhaupt nicht fortpflanzt, handelt es sich mit größerer Wahrscheinlichkeit um einen Mann. Und wenn jemand eine unverhältnismäßig große Nachkommenschaft hervorbringt, ist es wahrscheinlich ebenfalls ein Mann. Das gilt auch für den jüngsten gemeinsamen Vorfahren aller Menschen, der demnach eher ein Adam als eine Eva war. Nehmen wir ein extremes Beispiel: Wer ist mit größerer Wahrscheinlichkeit der gemeinsame Vorfahr aller heutigen Marokkaner, Moulay Ishmael oder eine einzige Frau aus seinem unglückseligen Harem? Wir können also folgende Schlußfolgerungen ziehen: Erstens gab es mit unumstößlicher Sicherheit eine Frau, die wir Eva der Mitochondrien nennen können und die in der rein weiblichen Abstammungslinie die jüngste gemeinsame Vorfahrin aller heutigen Menschen ist. Sicher ist, zweitens, auch, daß es eine Person unbekannten Geschlechts gab, die wir »Ausgangspunkt-Vorfahr« nennen können und die auf allen Abstammungswegen den jüngsten gemeinsamen Vorfahren 70
aller heutigen Menschen darstellt. Und drittens wäre es zwar möglich, daß die Eva der Mitochondrien und der Ausgangspunkt-Vorfahr ein und dieselbe Person waren, aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist verschwindend gering. Viertens ist es ein wenig wahrscheinlicher, daß der Ausgangspunkt-Vorfahr ein Mann war. Fünftens lebte die Eva der Mitochondrien wahrscheinlich vor weniger als einer Viertelmillion Jahren. Sechstens gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Eva der Mitochondrien zu Hause war, aber die Mehrheit der begründeten Meinungen spricht immer noch für Afrika. Von wissenschaftlichen Belegen sind nur die Punkte fünf und sechs abhängig. Die ersten vier lassen sich allein durch logisches Folgern aus den allgemeinen Erkenntnissen ableiten. Aber wie ich schon gesagt habe, liegt in den Vorfahren der Schlüssel zum Verstehen des Lebens selbst. Die Geschichte von der Eva der Mitochondrien ist ein beschränkter, auf den Menschen bezogener Ausschnitt aus einem gewaltigeren und unvergleichlich viel älteren Epos. Wir werden wieder zu der Metapher vom Fluß zurückkehren, zu unserem Strom der Gene. Diesmal werden wir ihm in eine Zeit folgen, die unendlich viel weiter zurückliegt als die Jahrtausende der biblischen Eva oder die Jahrhunderttausende der Eva der Mitochondrien. Der DNA-Fluß fließt durch unsere Vorfahren in einer ununterbrochenen Linie, die nicht weniger als drei Milliarden Jahre umspannt.
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Heimlicher Nutzen
Der Kreationismus hat auch heute noch seinen Reiz, und nach den Gründen braucht man nicht lange zu suchen. Sie liegen - zumindest bei den meisten Menschen, die mir begegnen - nicht im Glauben an den wortwörtlichen Inhalt der Genesis oder an irgendeinen anderen überlieferten Schöpfungsmythos. Die Menschen entdecken vielmehr für sich selbst die Schönheit und Vielfalt der Lebewesen und gelangen zu dem Schluß, sie müßten »ganz offensichtlich« gezielt gestaltet worden sein. Manche Kreationisten erkennen auch, daß die Darwinsche Evolution zumindest eine Art Alternative zu ihrer biblischen Theorie darstellt, und greifen dann auf einen etwas raffinierteren Einwand zurück. Sie leugnen die Möglichkeit evolutionärer Zwischenformen. »X muß von einem Schöpfer gestaltet worden sein«, sagen solche Leute, »denn ein halbes X funktioniert nicht. Irgend jemand muß alle Teile von X gleichzeitig zusammengefügt haben; sie können nicht durch allmähliche Evolution entstanden sein.« So erhielt ich zum Beispiel zufällig gerade an dem Tag, als ich mit diesem Kapitel anfing, einen Brief. Er stammte von einem amerikanischen Geistlichen, der Atheist gewesen war und sich durch einen Artikel im National Geographic hatte bekehren lassen. Er schrieb unter anderem folgendes: 73
Der Artikel handelte von den verblüffenden Eigenschaften, mit denen Orchideen sich an ihre Umwelt angepaßt haben, um sich erfolgreich fortzupflanzen. Besonders beeindruckt war ich von der Reproduktionsstrategie einer Art, bei der eine männliche Wespe mitwirkt. Die Blüte ähnelt offensichtlich stark dem Weibchen dieser Wespenart; unter anderem hat sie an der richtigen Stelle eine Öffnung, so daß das Männchen durch Kopulation mit der Blume gerade eben den von der Blüte produzierten Pollen erreichen kann. Es fliegt zur nächsten Blüte, wo sich der Vorgang wiederholt, und dabei findet die Bestäubung statt. Die Blüte wird für das Wespenmännchen vor allem dadurch anziehend, daß sie Pheromone ausschüttet (chemische Lockstoffe, mit denen Männchen und Weibchen vieler Insektenarten einander anziehen), die denen der weiblichen Wespen dieser Spezies gleichen. Mit Interesse studierte ich etwa eine Minute lang die Abbildung dazu. Plötzlich wurde mir schockartig klar, daß diese Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionieren könne, wenn sie von Anfang an vollkommen war. Sie ließe sich nicht mit allmählichen Schritten erklären, denn wenn die Orchideenblüte nicht wie das Wespenweibchen aussähe und duftete, und wenn sie nicht eine für die Kopulation geeignete Öffnung besäße, die den Pollen genau in Reichweite des männlichen Begattungsorgans enthält, wäre das Ganze ein völliger Fehlschlag. Ich werde nie das beklemmende Gefühl vergessen, das mich dabei überfiel, denn in diesem Augenblick erkannte ich, daß es in irgendeiner Form einen Gott geben muß und daß dieser Gott ständig mit den Vorgängen verbunden ist, durch die alles entsteht. Oder kurz gesagt, daß der Schöpfergott kein vorzeitlicher Mythos, sondern etwas Wirkliches ist. Und höchst widerwillig erkannte ich auch sofort, daß ich mich auf die Suche begeben mußte, um mehr über diesen Gott zu erfahren. 74
Andere Menschen sind zweifellos auf anderen Wegen zur Religion gekommen, aber vielfach hatten sie sicher ähnliche Erlebnisse wie dieser Geistliche, dessen Leben sich dadurch völlig änderte (und dessen Namen ich hier anstandshalber nicht preisgeben möchte). Sie haben irgendein Wunder der Natur erlebt oder darüber gelesen. Das hat sie ganz allgemein mit Ehrfurcht und Staunen erfüllt, und daraus wurde Verehrung. Genauer gesagt, sind sie wie der Verfasser des Briefes zu dem Schluß gelangt, dieses besondere Naturphänomen - ein Spinnennetz, Augen oder Flügel eines Adlers oder was auch immer - könne nicht allmählich und schrittweise entstanden sein, weil die halbfertigen Zwischenstufen zu nichts nütze seien. Dieses Kapitel soll das Argument widerlegen, komplizierte natürliche Vorrichtungen müßten vollkommen sein, damit sie funktionieren. Zufällig waren die Orchideen eines von Darwins Lieblingsbeispielen. Ein ganzes Buch widmete er dem Nachweis, daß man »die verschiedenen Einrichtungen zur Befruchtung der Orchideen durch Insekten« höchst erfolgreich mit dem Prinzip der allmählichen Evolution durch natürliche Selektion erklären kann. Der entscheidende Punkt in der Argumentation des Geistlichen ist die Behauptung, »daß diese Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionieren könne, wenn sie von Anfang an vollkommen war«. Das gleiche Argument kann man - was auch häufig geschehen ist - auf die Evolution des Auges anwenden; ich werde später in diesem Kapitel darauf zurückkommen. Wenn ich solche Argumente höre, bin ich jedesmal beeindruckt davon, mit welcher Überzeugung sie vorgebracht werden. Wie, so würde ich den Geistlichen fragen, können Sie so sicher sein, daß die Orchidee, die eine Wespe nachahmt (oder das Auge oder was auch immer) nicht funktioniert, wenn nicht jeder Teil davon vollkommen gestaltet und an seinem Platz ist? Haben Sie überhaupt mal einen Augenblick lang über diese Frage nachgedacht? Wissen Sie denn Bescheid über Orchi75
deen, über Wespen oder über die Augen, mit denen ein Wespenmännchen sein Weibchen und die Orchideen betrachtet? Was gibt Ihnen den Mut zu der Behauptung, Wespen seien so schwer zu täuschen, daß die Ähnlichkeit der Orchidee vollkommen sein muß, damit sie wirkt? Erinnern Sie sich doch nur einmal daran, wie Sie das letzte Mal durch eine zufällige Ähnlichkeit getäuscht wurden. Vielleicht haben Sie auf der Straße jemanden gegrüßt, den Sie fälschlicherweise für einen Bekannten hielten. Filmstars haben Stuntmen und Doubles, die stellvertretend für sie von Pferden fallen oder von Klippen springen. Meist ähnelt der Stuntman dem Star nur sehr oberflächlich, aber bei schnellen Actionszenen reicht das aus, um die Zuschauer zu täuschen. Männer lassen sich durch Bilder in Magazinen sexuell anregen. Ein solches Bild ist nur Farbe auf einem Blatt Papier. Es ist nicht räumlich, sondern zweidimensional und meist nur ein paar Zentimeter groß. Vielleicht ist es noch nicht einmal eine lebensnahe Abbildung, sondern nur eine Karikatur aus ein paar Strichen. Und doch kann es bei einem Mann eine Erektion auslösen. Vielleicht kann eine schnell fliegende männliche Wespe nur mit einem flüchtigen Anblick des Weibchens rechnen, bevor es mit ihr kopuliert. Vielleicht nehmen Wespenmännchen immer nur wenige Schlüsselreize wahr. Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß Wespen noch leichter zu täuschen sind als Menschen. Für Stichlinge gilt das sicher, und Fische haben sowohl ein größeres Gehirn als auch bessere Augen als Wespen. Das Stichlingsmännchen hat einen roten Bauch und bedroht nicht nur andere Männchen, sondern auch rohe Attrappen, die eine rote »Bauchseite« zeigen. Mein alter Guru, der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Niko Tinbergen, erzählte eine berühmte Geschichte von einem roten Postauto, das vor dem Fenster seines Labors vorbeifuhr: Bei dem Anblick sausten alle Stichlingsmännchen zu der dem Fenster zugewandten Seite ihrer Aquarien und 76
machten heftige Drohgebärden. Bei weiblichen Stichlingen, deren Eizellen herangereift sind, ist der Bauch auffällig angeschwollen. Wie Tinbergen feststellte, ruft eine sehr grobe, leicht verlängerte, silbrige Attrappe, die für menschliche Augen in nichts außer dem geschwollenen »Bauch« einem Stichling ähnelt, bei den Männchen das voll ausgeprägte Paarungsverhalten hervor. Neuere Experimente der von Tinbergen begründeten Forschungseinrichtung zeigten, daß eine sogenannte Sexbombe - ein birnenförmiger Gegenstand, die rundliche Plumpheit in Reinkultur, aber nicht länglich und mit aller menschlichen Phantasie nicht fischähnlich zu nennen die Erregung der Stichlingsmännchen sogar noch wirksamer auslöste. Die »Sexbombe« der Stichlinge ist ein klassisches Beispiel für eine über das Normale hinausgehende Attrappe, die stärker wirkt als der eigentliche Reiz. Als weiteres Beispiel veröffentlichte Tinbergen das Bild eines Austernfischers, der versucht, sich auf einem Ei von der Größe eines Straußeneies niederzulassen. Vögel haben ein größeres Gehirn und können besser sehen als Fische, und erst recht gilt das natürlich im Vergleich zu Wespen; dennoch »denkt« der Austernfischer offenbar, das straußeneigroße Ei sei ein besonders gut geeignetes Objekt zum Brüten. Möwen, Gänse und andere am Boden nistende Vögel zeigen eine stereotype Reaktion, wenn ein Ei aus dem Nest gerollt ist. Sie strecken den Hals und rollen es mit der Unterseite des Schnabels wieder zurück. Wie Tinbergen und seine Schüler zeigen konnten, tun sie das nicht nur mit dem eigenen Gelege, sondern auch mit Hühnereiern, ja sogar mit Holzzylindern oder Coladosen, die Camper zurückgelassen haben. Junge Silbermöwen erbetteln Futter von den Eltern: Sie pikken an dem roten Punkt des Schnabels von Vater oder Mutter und regen damit den älteren Vogel dazu an, ein wenig Fisch aus dem gefüllten Kröpf hervorzuwürgen. Zusammen mit einem Kollegen wies Tinbergen nach, daß auch grobe Pappat77
trappen des Altvogelkopfes bei den Jungen sehr wirksam das Bettelverhalten auslösen. Dazu ist nur eines notwendig: der rote Fleck. Aus der Sicht des Möwenjungen bestehen seine Eltern aus einem roten Fleck. Wahrscheinlich erkennt es durchaus auch den übrigen Körper, aber er scheint nicht von Bedeutung zu sein. Diese offensichtlich eingeschränkte visuelle Wahrnehmung findet sich nicht nur bei jungen Möwen. Erwachsene Lachmöwen sind leicht an dem maskenartig dunkel gefärbten Gesicht zu erkennen. Der Tinbergen-Schüler Robert Mash wollte wissen, welche Bedeutung diese Färbung für die erwachsenen Artgenossen hat, und malte hölzerne Attrappen von Möwenköpfen schwarz an. Jeder dieser Köpfe war auf einem Holzstock befestigt und mit einem Elektromotor verbunden, so daß Mash die Köpfe ferngesteuert heben und senken, sowie nach rechts und links drehen konnte. Die ganze Anordnung vergrub er in der Nähe eines Möwennestes, und zwar so, daß auch der Kopf im Sand versteckt war. Dann versteckte er sich jeden Tag in Sichtweite des Nestes und beobachtete die Reaktion der Möwen, wenn der hölzerne Kopf auftauchte und sich in diese oder jene Richtung drehte. Die Vögel reagierten auf den Kopf und seine Bewegungen wie auf eine echte Möwe, obwohl es nur eine Attrappe auf einem Holzstock war, ohne Körper, ohne Beine, ohne Flügel oder Schwanz, stumm und mit einem leblosen, roboterhaften Heben, Drehen und Senken als einziger Bewegung. Für eine Lachmöwe, so scheint es, ist ein bedrohlicher Nachbar kaum mehr als ein körperloses schwarzes Gesicht. Körper, Flügel oder irgendwelche anderen Merkmale sind dazu offenbar nicht notwendig. Um in das Versteck zu gelangen und die Vögel zu beobachten, machte sich Mash wie viele Ornithologengenerationen vor ihm eine seit langem bekannte Einschränkung des Nervensystems von Vögeln zunutze: Vögel sind von Natur aus keine Mathematiker. Zwei Personen begeben sich in das Ver78
steck, und nur eine verläßt es wieder. Ohne diesen Trick wären die Tiere dem Versteck gegenüber argwöhnisch: Sie »wissen«, daß jemand hineingegangen ist. Sehen sie aber, daß eine Person wieder weggeht, »nehmen sie an«, daß beide verschwunden sind. Wenn schon ein Vogel den Unterschied zwischen einer und zwei Personen nicht kennt, ist es dann verwunderlich, daß die männliche Wespe von einer Orchidee getäuscht wird, die eine nicht ganz vollkommene Ähnlichkeit mit dem Wespenweibchen hat? Die nächste Vogelgeschichte ist eine Tragödie. Truthahnmütter beschützen ihre Jungen sehr energisch. Sie müssen sich gegen Nesträuber wie Wiesel oder Ratten zur Wehr setzen. Ob ein solcher Angreifer in der Nähe ist, erkennt das Truthahnweibchen nach einer entsetzlich brutalen Faustregel: Attackiere in der Nachbarschaft deines Nestes alles, was sich bewegt, es sei denn, es macht Geräusche wie ein Truthahnjunges. Dies entdeckte der österreichische Zoologe Wolfgang Schleidt. Er hatte einmal ein Truthahnweibchen, das blindwütig alle seine eigenen Jungen umbrachte. Der Grund dafür war bestürzend einfach: sie war taub. Für das Nervensystem eines Truthahns ist ein Feind schlicht ein beweglicher Gegenstand, der nicht die Schreie eines Jungen ausstößt. Diese Truthahnjungen sahen aus wie Truthahnjunge, bewegten sich wie Truthahnjunge und rannten vertrauensvoll zu ihrer Mutter wie Truthahnjunge, und doch fielen sie der eingeschränkten mütterlichen Definition des »Räubers« zum Opfer. Sie schützte die eigenen Jungen vor sich selbst und brachte sie alle um. Einen Anklang an diese traurige Geschichte von den Truthühnern findet man auch bei den Insekten: In den Antennen der Honigbiene gibt es Sinneszellen, die nur auf eine einzige chemische Verbindung ansprechen: auf Oleinsäure. (Weitere Zellen reagieren auf andere Substanzen.) Oleinsäure wird bei der Verwesung toter Bienen frei und löst das »Beerdigungs79
verhalten« aus, durch das tote Tiere aus dem Stock entfernt werden. Markiert man im Experiment eine lebende Biene mit einem Tropfen Oleinsäure, wird das arme Geschöpf weggezerrt: Obwohl es strampelt und kämpft und ganz offensichtlich sehr lebendig ist, wird es mit den Toten hinausgeworfen. Das Gehirn ist bei Insekten sehr viel kleiner als bei Truthühnern oder Menschen. Insektenaugen, selbst die großen Facettenaugen der Libellen, besitzen nur einen Bruchteil der Sehschärfe eines Menschen- oder Vogelauges. Und davon abgesehen, weiß man auch genau, daß Insekten die Welt optisch ganz anders wahrnehmen als wir. Wie der große österreichische Zoologe Karl von Frisch schon als junger Mann entdeckte, sind sie für rotes Licht blind, aber ultraviolettes Licht, für das wir unempfindlich sind, können sie sehen und als eigenen Farbton unterscheiden. Insektenaugen sind in erheblichem Umfang von einem »Flimmern« erfüllt, das - zumindest wenn das Tier sich schnell bewegt - teilweise an die Stelle dessen tritt, was wir »Form« nennen. Wie man beobachten konnte, »werben« Schmetterlingsmännchen manchmal um verwelkte Blätter, die von den Bäumen segeln. Für uns ist ein Schmetterlingsweibchen ein Paar großer Flügel, die auf- und zuklappen. Der fliegende männliche Schmetterling dagegen sieht es als Verdichtung von »Geflimmer« und macht ihm dann den Hof. Man kann das Männchen mit einer Stroboskoplampe täuschen, die sich nicht bewegt, sondern nur schnelle Lichtblitze aussendet. Stellt man die Geschwindigkeit richtig ein, greift der Schmetterling die Lampe an, als sei sie ein Artgenosse, der die Flügel entsprechend schnell bewegt. Streifen bilden für uns ein feststehendes Muster. Einem vorüberfliegenden Insekt erscheinen sie als »Flimmern«, so daß man sie mit einer im richtigen Tempo blitzenden Stroboskoplampe nachahmen kann. Durch Insektenaugen gesehen, ist die Welt für uns völlig fremdartig, und deshalb ist jede auf unsere eigene Erfahrung gegründete Behauptung darüber, wie »vollkommen« eine 80
Orchidee sein muß, damit sie das Wespenweibchen nachahmen kann, von menschlichen Vorurteilen geprägt. Die Wespen waren selbst der Gegenstand eines klassischen Experiments, das ursprünglich von dem großen französischen Naturforscher Jean-Henri Fabre ausgeführt und später von verschiedenen anderen Wissenschaftlern, darunter solchen aus der Tinbergen-Schule, wiederholt wurde. Die weibliche Dolchwespe kehrt mit ihrer Beute, die sie durch einen Stich gelähmt hat, zu ihrem Bau zurück. Sie läßt ihre Last zunächst außerhalb der Behausung und geht hinein, offenbar um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist, bevor sie die Beute hineinzerrt. Während sie im Bau ist, entfernt der Experimentator die Beute ein paar Zentimeter vom Nesteingang. Sobald die Wespe wieder herauskommt, bemerkt sie den Verlust und findet die Beute auch bald wieder. Erneut zieht sie das tote Tier zum Eingang des Baues. Seit sie sein Inneres inspiziert hat, sind nur wenige Sekunden vergangen. Nach unserer Vorstellung gibt es eigentlich keinen Grund, nicht zur nächsten Tätigkeit überzugehen, die Beute hineinzuziehen und die Angelegenheit abzuschließen. Aber das Verhaltensprogramm der Wespe wurde in ein früheres Stadium zurückgespult. Pflichtschuldigst läßt sie die Beute wieder draußen und inspiziert ihren Bau erneut. Der menschliche Beobachter kann die Prozedur vierzigmal wiederholen, bis es ihm zu langweilig wird. Die Wespe verhält sich wie eine Waschmaschine, deren Programmschalter man zurückgedreht hat und die nicht »weiß«, daß sie die Wäsche schon vierzigmal ununterbrochen gewaschen hat. Der angesehene Computerwissenschaftler Douglas Hofstadter hat für solche unflexiblen, geistlos-automatischen Vorgänge das neue Adjektiv »sphexisch« eingeführt. (Sphex ist der Name einer charakteristischen Dolchwespengattung.) Demnach lassen Wespen sich zumindest in manchen Dingen leicht hinters Licht führen. Es ist eine ganz andere Art der Täuschung als diejenige, deren sich die Orchi81
dee bedient. Dennoch müssen wir uns davor hüten, mit menschlicher Intuition den Schluß zu ziehen, »daß diese Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionieren könne, wenn sie von Anfang an vollkommen war«. Vielleicht habe ich jetzt zu überzeugend argumentiert, daß Wespen leicht zu täuschen sind. Möglicherweise habe ich damit einen Argwohn geweckt, der dem meines geistlichen Briefschreibers fast entgegengesetzt ist. Wenn Insekten so schlecht sehen und Wespen so leicht hinters Licht zu führen sind, warum macht sich die Orchidee dann überhaupt die Mühe, ihre Blüten so wespenähnlich zu gestalten? Nun, so schlecht sehen Wespen auch wieder nicht. In manchen Situationen haben sie offenbar einen recht guten Scharfblick, beispielsweise wenn sie nach einem langen Jagdflug ihren Bau finden müssen. Dies untersuchte Tinbergen am Bienenwolf (Philantus), der zu den bienenfressenden Grabwespen gehört. Er wartete, bis die Wespe im Bau war. Bevor sie wieder herauskam, stellte er in der Umgebung des Einganges schnell einige »Wegweiser« auf, zum Beispiel einen Zweig und einen Tannenzapfen. Dann zog er sich zurück und wartete, bis die Wespe wegflog. Dabei umkreiste sie zunächst zwei- oder dreimal im Flug den Bau, als ob sie sich die Gegend einprägen wollte, und ging dann auf Beutefang. In dieser Zeit nahm Tinbergen den Zweig und den Tannenzapfen weg und plazierte sie ein paar Meter entfernt. Als die Wespe zurückkam, verfehlte sie den Bau und grub statt dessen an der Stelle, die der neuen Position der »Wegweiser« entsprach, im Boden. Auch hier hatte der Mensch die Wespe in einem gewissen Sinne »getäuscht«, aber diesmal verdient sie unseren Respekt für ihr gutes Sehvermögen. Es schien, als habe sie sich tatsächlich bei ihrem anfänglichen Rundflug »ein Bild von der Gegend gemacht«. Offenbar erkannte sie die Gestalt von Zweig und Tannenzapfen. Tinbergen wiederholte das Experiment viele Male und mit unterschiedlichen Wegweisern, unter an82
derem mit einem Ring aus Tannenzapfen. Das Ergebnis war immer das gleiche. Der Tinbergen-Schüler Gerard Baerends machte ein Experiment, das in eindrucksvollem Gegensatz zu Fabres »Waschmaschinenversuch« steht. Die Sandwespe Ammophila campestris, mit der Baerends experimentiete (eine Art, die auch von Fabre untersucht wurde), hat eine ungewöhnliche Eigenschaft: sie ist ein »Dauerversorger«. Die meisten Wespen statten ihren Bau mit Nahrungsvorräten aus, legen ein Ei hinein, verschließen das Ganze und überlassen es dann der Larve, selbst zu fressen. Ammophila ist anders. Sie kehrt wie ein Vogel jeden Tag zu dem Nest zurück, sieht nach, ob es der Larve gutgeht, und füttert sie bei Bedarf. Das allein wäre noch nicht besonders bemerkenswert. Aber jedes AmmophilaWeibchen versorgt zwei oder drei Nester. In einem davon befindet sich eine relativ große, fast ausgewachsene Larve, im anderen ist die Larve gerade erst geschlüpft, und im dritten befindet sich vielleicht eine im mittleren Alter und von mittlerer Größe. Die drei Larven brauchen natürlich unterschiedlich viel Nahrung, und dementsprechend werden sie von der Mutter versorgt. Mit einer mühsamen Versuchsreihe, in der Baerends unter anderem den Inhalt der Nester vertauschte, konnte er schließlich zeigen, daß die Wespenmutter sich tatsächlich nach dem unterschiedlichen Nahrungsbedarf der einzelnen Nester richtet. Das erscheint ziemlich klug, aber wie Baerends feststellte, ist es auch wieder gar nicht so klug, und zwar auf eine sehr seltsame, fremdartige Weise. Die Wespenmutter macht jeden Morgen als erstes die Runde, um ihre Nester zu inspizieren. Der Zustand der Nester am frühen Morgen ist das, was das Weibchen wahrnimmt, und er beeinflußt ihr Verhalten während des ganzen Tages. Nach der morgendlichen Inspektion konnte Baerends den Inhalt der Bauten beliebig oft vertauschen, ohne daß die Wespenmutter ihr Fütterungsverhalten geändert hätte. Es war, als schaltete sie 83
ihren Mechanismus zur Nestbeurteilung nur bei der Besichtigungsrunde ein und dann wieder aus, um für den Rest des Tages Strom zu sparen. Einerseits läßt diese Beobachtung darauf schließen, daß es im Kopf der Wespenmutter einen raffinierten Apparat zum Zählen, Messen und sogar zum Rechnen gibt. Jetzt kann man sich leicht vorstellen, daß sich das Wespengehirn tatsächlich nur durch eine in alle Einzelheiten gehende Ähnlichkeit zwischen Orchidee und Weibchen täuschen läßt. Aber gleichzeitig sprechen Baerends' Befunde auch für die Fähigkeit zu selektiver Blindheit; die Wespe läßt sich ähnlich leicht täuschen wie in dem Waschmaschinenexperiment, und demnach kann man wieder daran glauben, daß eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Orchideenblüte und Weibchen ausreicht. Die allgemeine Lehre, die wir daraus ziehen sollten, lautet: Wende auf die Beurteilung solcher Fragen niemals menschliche Maßstäbe an. Sage niemals: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses oder jenes durch allmähliche Selektion entstanden ist«, und nimm auch niemanden ernst, der ähnliches äußert. Ich habe solche Fehler »Argumente aus persönlichem Unglauben« genannt. Sie waren immer wieder das Vorspiel zu einem intellektuellen Ausrutscher. Das Argument, das ich angreife, besagt: Die allmähliche Evolution kann bei dieser oder jener Sache nicht stattgefunden haben, weil diese oder jene Sache »ganz offensichtlich« vollkommen und vollständig sein muß, damit sie überhaupt funktioniert. Bisher habe ich mich in meiner Erwiderung vor allem auf die Tatsache gestützt, daß Wespen und sonstige Tiere die Welt ganz anders sehen als wir, und selbst uns zu täuschen, ist nicht besonders schwer. Aber ich möchte noch andere Argumente darlegen, die sogar noch überzeugender und allgemeingültiger sind. Dazu bezeichne ich Einrichtungen, die nur funktionieren, wenn sie perfekt sind - wie mein Briefschreiber es von den Wespen nachahmenden Orchideen glaubte -, als 84
»empfindlich«. Ich finde es bemerkenswert, daß man sich kaum einen ganz und gar empfindlichen Apparat vorstellen kann. Ein Flugzeug ist nicht empfindlich: Zwar vertraut jeder von uns sein Leben lieber einer Boeing 747 an, deren unzählige Teile fehlerlos zusammenarbeiten, aber auch ein Flugzeug, bei dem wichtige Teile - sogar ein oder zwei Triebwerke ausgefallen sind, kann noch fliegen. Ein Mikroskop ist nicht empfindlich: Ein schlechtes Gerät liefert zwar verschwommene, unvollständig ausgeleuchtete Bilder, aber man kann damit kleine Gegenstände immer noch besser sehen als ohne Mikroskop. Ein Radio ist ebenfalls nicht empfindlich: Hat es irgendeinen Defekt, verliert es vielleicht an Tonqualität, und der Klang ist dünn oder verzerrt, aber man kann die Worte einer Sendung immer noch verstehen. Ich habe zehn Minuten aus dem Fenster gestarrt und nach einem guten Beispiel für ein von Menschen erschaffenes empfindliches Gebilde gesucht, und mir ist nur ein einziges eingefallen: das Gewölbe. Ein Gewölbe ist nahezu völlig empfindlich. Wenn seine Seiten vereinigt sind, ist es sehr kräftig und stabil, aber bevor sie sich berühren, bleibt keine Seite allein bestehen. Jedes Gewölbe muß mit einer Art Gerüst gebaut werden, das vorübergehend eine Stütze bildet, bis das Ganze fertig ist; anschließend kann man es entfernen, und das Bauwerk bleibt über lange Zeit bestehen. In der Technik der Menschen gibt es keinen prinzipiellen Grund, warum ein Gerät nicht empfindlich sein sollte. Den Ingenieuren an ihren Zeichenbrettern steht es frei, Vorrichtungen zu entwerfen, die in halbfertigem Zustand überhaupt nicht funktionieren. Aber sogar auf dem Gebiet der Technik haben wir nur mit Mühe eine wirklich empfindliche Konstruktion gefunden. Nach meiner Überzeugung gilt das für lebende Gebilde in noch viel stärkerem Maße. Sehen wir uns einmal ein paar der angeblich empfindlichen Apparate aus der Welt des Lebendigen an, die uns die kreationistische Propaganda vorgehalten hat. Die Geschichte von der Wespe und der Or85
chidee ist nur ein Beispiel für das faszinierende Phänomen der Mimikry. Zahlreiche Tiere und auch manche Pflanzen ziehen einen Vorteil daraus, daß sie etwas anderem ähneln, und zwar oft anderen Tieren oder Pflanzen. An irgendeiner Stelle wurde fast jeder Aspekt des Lebendigen durch Mimikry gestärkt oder geschwächt: der Beutefang (Tiger und Leoparden sind fast unsichtbar, wenn sie sich in einem von der Sonne gesprenkelten Gehölz an ihre Beute anschleichen; die Anglerfische ähneln dem Meeresboden, auf dem sie stehen, und locken mit einer »Angelschnur«, die am Ende einen wurmähnlichen Köder trägt, ihre Beute an; die Weibchen einer Leuchtkäferart ahmen das Balzblinkmuster einer anderen Art nach und locken so deren Männchen an, die sie dann auffressen; Säbelzahn-Schleimfische ahmen andere Fischarten nach, die sich auf das Säubern größerer Fische spezialisiert haben, und wenn sie sich zu diesen ungehinderten Zugang verschafft haben, beißen sie ihnen Stücke der Flossen heraus); die Vermeidung des Gefressenwerdens (Beutetiere ähneln vielfach Baumrinden, Zweigen, frischen grünen Blättern, eingerollten verwelkten Blättern, Blüten, Rosendornen, Seetangwedeln, Steinen, Vogelexkrementen oder anderen Tieren, die bekanntermaßen giftig sind); die Ablenkung der Räuber von den Jungen (Säbelschnabler und viele andere am Boden nistende Vögel ahmen Haltung und Gang eines Vogels mit gebrochenem Flügel nach); das Erlangen von Brutpflege (Kuckuckseier ähneln den Eiern der Vögel, denen sie untergeschoben werden; die Weibchen mancher maulbrütenden Fische tragen an den Körperseiten eine ei-ähnliche Zeichnung und ziehen damit Männchen an, die dann die echten Eier ins Maul nehmen und ausbrüten). In allen diesen Fällen ist man versucht zu glauben, die Mimikry könne nur funktionieren, wenn sie vollkommen ist. In dem speziellen Zusammenhang mit der Wespe und der Orchidee habe ich besonders die unvollkommene Wahrneh86
mung der Wespen und anderer Opfer der Mimikry betont. In meinen Augen ähneln Orchideen gar nicht so sehr den Wespen, Bienen oder Fliegen. Viel größer ist die Ähnlichkeit für meine Wahrnehmung zwischen einem blattförmigen Insekt und einem Blatt, vielleicht weil mein Blickwinkel eher der eines Räubers (vermutlich eines Vogels) ist, gegen den sich die Mimikry richtet. Aber die Behauptung, Mimikry könne nur funktionieren, wenn sie perfekt sei, ist noch in einem allgemeineren Sinne falsch. So gut beispielsweise die Augen eines Verfolgers auch sein mögen, die Bedingungen für das Sehen sind nicht immer optimal. Außerdem existiert zwangsläufig immer das ganze Spektrum der Sichtbedingungen von sehr schlecht bis sehr gut. Man stelle sich beispielsweise einen Gegenstand vor, den man wirklich gut kennt, so daß man ihn wahrscheinlich nie für etwas anderes halten würde. Oder eine Person, zum Beispiel eine enge Freundin, die einem so lieb und vertraut ist, daß man sie nie für jemand anderen hält. Und nun malen wir uns einmal aus, sie käme aus großer Entfernung auf uns zu. Es gibt einen so großen Abstand, daß man sie überhaupt nicht erkennt, und einen so geringen, daß man alles sieht, jede Wimper, jede Pore. Bei einer mittleren Entfernung gibt es keinen plötzlichen Übergang, sondern eine allmähliche Zu- oder Abnahme der Erkennbarkeit. Sehr deutlich ist das in Armeehandbüchern über das Schießen formuliert: »Bei zweihundert Metern sind alle Körperteile einzeln zu erkennen. Bei dreihundert Metern zerläuft der Umriß des Gesichtes. Bei vierhundert Metern ist kein Gesicht zu erkennen. Bei sechshundert Metern ist der Kopf ein Punkt, und der Körper verschwimmt. Noch Fragen?« Bei der engen Freundin kommt es zugegebenermaßen vor, daß man sie plötzlich erkennt, aber dann ändert sich mit der Entfernung allmählich die Wahrscheinlichkeit, daß das geschieht. Auf die eine oder andere Weise ändert sich mit der Entfer87
nung die Erkennbarkeit, und zwar immer ganz allmählich. Bei jeder größeren oder geringeren, fast vollkommenen oder nahezu nicht vorhandenen Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Nachahmer muß es eine Entfernung geben, in der die Augen des Verfolgers getäuscht werden, und eine geringfügig kleinere, in der die Wahrscheinlichkeit einer solchen Täuschung geringer ist. Im Verlauf der Evolution kann die natürliche Selektion also eine immer perfektere Ähnlichkeit begünstigen, denn dabei wird die Entfernung, in der die Täuschung noch besteht, immer geringer. Wenn ich »Augen des Verfolgers« sage, meine ich damit die Augen von irgend jemandem, der getäuscht werden soll. Manchmal sind das auch die Augen der Beute, der Ersatzeltern, des Fischweibchens und so weiter. Ich habe diesen Effekt in öffentlichen Vorträgen vor Kindern deutlich gemacht. Mein Kollege Dr. George McGavin vom Oxford Universitv Museum stellte mir freundlicherweise das Modell eines Waldbodens mit Ästen, verwelktem Laub und Moos her. Darauf verteilte er kunstvoll Dutzende toter Insekten. Manche davon, beispielsweise ein metallisch blauer Käfer, fielen sofort auf; andere, so Gespenstheuschrecken und blattähnliche Schmetterlinge, waren hervorragend getarnt; und wieder andere, zum Beispiel eine braune Küchenschabe, befanden sich dazwischen. Ich forderte einige Kinder aus dem Publikum auf, langsam auf das Modell zuzugehen, nach Insekten Ausschau zu halten und mir laut zuzurufen, wenn sie eines entdeckt hatten. Waren sie weit genug entfernt, konnten sie auch die auffälligen Insekten nicht erkennen. Wenn sie näher kamen, sahen sie zuerst die ins Augen fallenden Tiere, dann solche wie die Küchenschabe, die mittelmäßig gut zu erkennen waren, und schließlich die gut getarnten Exemplare. Die am besten getarnten Insekten konnten die Kinder selbst dann nicht entdecken, wenn sie aus unmittelbarer Nähe auf sie starrten, und wenn ich schließlich darauf zeigte, waren sie völlig verblüfft. 88
Entfernung ist nicht die einzige stufenlos veränderliche Größe, auf die man eine solche Argumentation anwenden kann. Eine andere ist das Dämmerlicht. Mitten in der Nacht sieht man fast nichts, so daß selbst eine sehr grobe Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Nachahmer ihren Zweck erfüllt. In der Mittagssonne dagegen wird nur eine peinlich genaue Nachbildung der Entdeckung entgehen. Zwischen diesen Zeitpunkten, bei Tagesanbruch und gegen Abend, in der Dämmerung oder schlicht an einem düsteren, bewölkten Tag, in Nebel und Regen, gibt es ein ununterbrochenes Spektrum der besseren oder schlechteren Erkennbarkeit. Auch hier wird eine immer größere Ähnlichkeit von der natürlichen Selektion begünstigt, denn zu jedem Grad der Übereinstimmung gibt es einen Grad der Erkennbarkeit, bei dem gerade dieses Ausmaß der Ähnlichkeit den entscheidenden Unterschied darstellt. Im Laufe der Evolution verschafft die stetige Verbesserung der Ähnlichkeit einen Überlebensvorteil, weil die kritische Lichtintensität, bei der die Täuschung gerade noch gelingt, immer größer wird. Ganz ähnliche stufenlose Veränderungen gibt es auch beim Gesichtswinkel. Die Tarnung eines Insekts, ob gut oder schlecht, wird vom Verfolger manchmal aus dem Augenwinkel erkannt, manchmal in gnadenloser Frontalansicht. Es muß einen so stark seitlichen Blickwinkel geben, daß auch die schlechteste denkbare Nachahmung der Entdeckung entgeht, und ebenso muß eine genau ausgerichtete Ansicht existieren, bei der selbst die beste Tarnung in Gefahr gerät. Dazwischen liegt wiederum ein Kontinuum von Blickwinkeln mit unterschiedlicher Erkennbarkeit. Für jede Vollkommenheitsstufe der Mimikry gibt es einen kritischen Blickwinkel, bei dem eine geringe Verbesserung oder Verschlechterung entscheidend ist. Im Verlauf der Evolution wird die allmählich immer weiter verbesserte Ähnlichkeit begünstigt, weil der kritische Blickwinkel für eine Täuschung eine immer wichtigere Rolle spielt. 89
Als ein weiteres derartiges Spektrum, auf das ich in diesem Kapitel bereits hingewiesen habe, kann man die Qualität des Gehirns und der Augen des Verfolgers betrachten. Für jedes Ausmaß der Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Nachahmer gibt es wahrscheinlich ein Auge, das sich täuschen läßt, und ein anderes, bei dem die Täuschung nicht gelingt. Auch hier wird die stufenlos immer weiter verbesserte Ähnlichkeit von der Evolution begünstigt, weil immer raffinierter gebaute Augen der Verfolger getäuscht werden. Damit meine ich nicht, daß die Verfolger parallel zu der verbesserten Mimikry ebenfalls verbesserte Augen entwickeln, obwohl auch das geschehen kann. Ich meine vielmehr, daß es irgendwo Verfolger mit besseren und schlechteren Augen gibt. Sie alle stellen eine Gefahr dar. Ein schlechter Nachahmer kann nur Verfolger mit schlechten Augen täuschen, ein besserer dagegen fast alle. Dazwischen liegt wiederum ein bruchloses Kontinuum. Mit der Erwähnung von guten und schlechten Augen bin ich bei einem Lieblingsargument der Kreationisten. Wozu ist ein halbes Auge gut? Wie kann die natürliche Selektion ein Auge begünstigen, solange es noch nicht vollkommen ist? Ich habe mich schon früher ausführlich mit dieser Frage beschäftigt und eine ganze Reihe von Augenzwischenformen vorgeführt, wobei ich von Formen ausgegangen bin, die in den verschiedenen Stämmen des Tierreiches tatsächlich vorkommen. Hier möchte ich die Augen in meine Rubrik theoretischer bruchloser Abstufungen aufnehmen. Es gibt ein Spektrum oder Kontinuum von Aufgaben, für die man Augen gebrauchen kann. Derzeit benutze ich sie, um die Buchstaben des Alphabets zu erkennen, die auf meinem Computerbildschirm erscheinen. Dazu braucht man gute Augen, mit denen man scharf sehen kann. Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem ich ohne Brille nicht mehr lesen kann - zur Zeit ist es eine mit recht schwacher Vergrößerung. Wenn ich noch älter werde, wird man mir immer stärkere Gläser verschreiben. Ohne Brille 90
werde ich Einzelheiten aus der Nähe immer schwerer erkennen können. Damit sind wir bei einem weiteren Kontinuum: dem Kontinuum des Alters. Jeder gesunde Mensch, wie alt er auch sei, sieht besser als ein Insekt. Manche Aufgaben sind auch von Menschen mit relativ schlechtem Sehvermögen bis hin zur fast völligen Blindheit gut zu bewältigen. Auch wenn man nur recht verschwommen sieht, kann man Tennis spielen, denn ein Tennisball ist ein großer Gegenstand, dessen Position und Bewegung man auch dann wahrnimmt, wenn man ihn nicht scharf erkennt. Die Libelle hat nach unseren Maßstäben schlechte, für ein Insekt aber recht gute Augen und kann andere Insekten im Flug fangen, was sicher ebenso schwierig ist wie das Treffen eines Tennisballs. Noch viel schlechtere Augen kann man anwenden, um nicht gegen eine Wand zu rennen oder um nicht über den Rand eines Felsens in einen Fluß zu stürzen. Wenn das Sehvermögen noch geringer ist, kann man damit einen Schatten wahrnehmen, der eine Wolke oder aber auch einen in der Höhe lauernden Verfolger verrät. Und mit noch einfacheren Augen bemerkt man immer noch den Unterschied zwischen Tag und Nacht, was unter anderem nützlich ist, um die Paarungszeiten zu koordinieren und um zur richtigen Zeit zu schlafen. Man kann das Auge für ein Kontinuum von Aufgaben benutzen, so daß es für jede Qualität der Augen - von hervorragend bis miserabel - eine Aufgabe gibt, bei der eine geringfügige Verbesserung entscheidend ist. Deshalb ist die allmähliche Evolution des Auges von den primitiven, groben Anfängen über eine bruchlose Folge von Zwischenstufen bis zu der Vollkommenheit bei einem Falken oder einem jungen Menschen ohne weiteres zu verstehen. Die Frage der Kreationisten, wozu ein halbes Auge gut sei, ist also recht trivial, und läßt sich mit Leichtigkeit beantworten. Ein halbes Auge ist genau ein Prozent besser als 49 Prozent eines Auges, und das ist wiederum besser als 48 Prozent, und 91
der Unterschied ist von Bedeutung. Den Anschein einer viel bedeutungsschwereren Frage erweckt die unvermeidliche Ergänzung: »Als Physiker* kann ich nicht glauben, daß genügend Zeit zur Verfügung stand, damit sich ein so kompliziertes Organ wie das Auge aus dem Nichts entwickeln konnte. Glauben Sie wirklich, daß die Zeit lang genug war?« Beide Fragen entstammen den Argumenten aus persönlichem Unglauben. Dennoch freut sich das Publikum immer über eine Antwort, und ich habe mich deshalb in der Regel einfach auf die schiere Größe der erdgeschichtlichen Zeiträume berufen. Wenn ein Schritt ein Jahrhundert darstellt, schrumpft die gesamte Zeit seit Christi Geburt auf die Weite eines Kricketschlages zusammen. Um in dem gleichen Maßstab den Ursprung der vielzelligen Tiere zu erreichen, müßte man von New York nach San Francisco wandern. Aber mittlerweile sieht es so aus, als seien die gewaltigen Ausmaße der geologischen Zeiträume eine Kanone, mit der man auf Spatzen schießt. Die Wanderung von Küste zu Küste zeigt deutlich, welche Zeit für die Evolution des Auges zur Verfügung stand. Eine neuere Untersuchung der beiden schwedischen Wissenschaftler Dan Nilsson und Susanne Pelger läßt jedoch darauf schließen, daß ein lächerlich geringer Bruchteil dieser Zeit dafür mehr als genug gewesen wäre. Wenn man »das Auge« sagt, meint man damit, nebenbei bemerkt, das Wirbeltierauge, aber brauchbare Augen, die ein * Ich hoffe, das ist keine Beleidigung. Zur Unterstützung meines Arguments zitiere ich, was der Geistliche John Polkinghorne, ein angesehene Physiker, in Science and Christian Belief (1994, S. 16) geschrieben hat: »Jemand wie Richard Dawkins kann ein überzeugendes Bild davon zeichnen, wie sich durch Aussieben und Ansammlung kleiner Unterschiede große Entwicklungen ergeben, aber als Physiker wünscht man sich instinktiv eine Schätzung, und sei sie auch noch so grob, in bezug auf die Zahl der Schritte, die uns von einer schwach lichtempfindlichen Zelle zum voll ausgebildeten Insektenauge führen, und hinsichtlich der Zahl der Generationen, die für die dazu notwendigen Mutationen erforderlich sind.«
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Bild liefern, haben sich in vielen Gruppen der Wirbellosen etwa vierzig- bis sechzigmal von Grund auf neu entwickelt. In diesen über vierzig unabhängigen Entwicklungslinien wurden mindestens neun unterschiedliche Konstruktionsprinzipien entdeckt, darunter das der Lochkamerä, zwei Arten von Linsenkameras, Hohlspiegelaugen nach dem Prinzip der Satellitenschüssel und mehrere Typen von Komplexaugen. Nilsson und Pelger konzentrierten sich auf Augen nach dem Prinzip der Linsenkamera, wie sie bei Wirbeltieren und Tintenfischen gut entwickelt sind. Wie schätzt man nun die Zeit ab, die für ein bestimmtes Ausmaß entwicklungsgeschichtlicher Veränderung notwendig ist? Man muß eine Maßeinheit für die Größe der einzelnen Evolutionsschritte finden, und vernünftigerweise drückt man sie als prozentuale Veränderung des bereits Vorhandenen aus. Nilsson und Pelger benutzten die Zahl der aufeinanderfolgenden Veränderungen von jeweils einem Prozent als Einheit zur Messung quantitativer anatomischer Veränderungen. Es ist schlicht eine bequeme Einheit, ganz ähnlich wie die Kalorie, die als die zur Verrichtung einer bestimmten Arbeit erforderliche Energiemenge definiert ist. Am einfachsten läßt sich die Einheit von einem Prozent anwenden, wenn die Veränderung immer in derselben Richtung verläuft. Nehmen wir beispielsweise den unwahrscheinlichen Fall, daß die natürliche Selektion bei Paradiesvögeln immer längere Schwänze begünstigt. Wie viele Schritte wären dann erforderlich, damit der Schwanz sich von einem Meter zu einem Kilometer Länge entwickelt? Eine Längenzunahme von einem Prozent würde der Freizeitornithologe nicht bemerken. Um die Schwanzlänge auf einen Kilometer anwachsen zu lassen, sind dennoch nur erstaunlich wenige Schritte erforderlich, nämlich noch nicht einmal siebenhundert. Die Verlängerung eines Schwanzes von einem Meter auf einen Kilometer ist ja schön und gut (und schön absurd), aber 93
wie ordnet man die Evolution des Auges nach diesem Maßstab ein? Dabei stellt sich das Problem, daß beim Auge viele Dinge in vielen Teilen des Organs parallel geschehen müssen. Nilsson und Pelger konstruierten Computermodelle von Augen, die sich in der Entwicklung befanden, um damit zwei Fragen zu beantworten. Die erste ist im wesentlichen die gleiche, die wir auf den letzten Seiten immer und immer wieder gestellt haben, aber sie formulierten das Problem systematischer und mit Hilfe des Computers: Gibt es eine allmähliche Steigerung der Veränderung von der flachen Haut bis zum kameraähnlichen Auge, wobei jede Zwischenstufe eine Verbesserung darstellt? (Die natürliche Selektion kann sich im Gegensatz zu einem menschlichen Designer nicht bergab bewegen, auch dann nicht, wenn auf der anderen Seite des Tales ein verlokkender höherer Berg liegt.) Und zweitens stellten sie die Frage, mit der wir diesen Abschnitt begonnen haben: Wie lange würde die erforderliche Menge entwicklungsgeschichtlicher Veränderungen dauern? Nilsson und Pelger versuchten in ihren Computermodellen nicht, die Abläufe im Inneren der Zellen zu simulieren. Ihre Geschichte begann bei der Erfindung einer einzigen lichtempfindlichen Zelle - man kann sie ruhig Photozelle nennen. Hübsch wäre es, wenn man in Zukunft noch ein anderes Computermodell konstruierte, welches das Zellinnere simuliert und zeigt, wie die erste Photozelle durch schrittweise Abwandlung einer vorhandenen, allgemeinen Zwecken dienenden Zelle entstand. Aber irgendwo muß man anfangen, und Nilsson und Pelger begannen mit der Erfindung der ersten Photozelle. Sie arbeiteten auf der Ebene der Gewebe, also bei dem Stoff, der aus Zellen besteht, und nicht auf der Ebene der einzelnen Zellen. Haut ist ein Gewebe, die Darmschleimhaut ist ein anderes, und wieder andere sind Muskel und Leber. Gewebe können sich unter dem Einfluß zufälliger Mutationen in vielerlei Weise verändern. Gewebeschichten 94
können in ihrer Fläche wachsen oder schrumpfen, dicker oder dünner werden. Im speziellen Fall der durchsichtigen Gewebe, zum Beispiel der Augenlinse, kann sich in einzelnen Bereichen der Brechungsindex (die Fähigkeit, Licht zu brechen) verändern. Die Simulation eines Auges, beispielsweise im Unterschied zum Bein eines laufenden Gepards, ist deshalb so schön, weil man die Effizienz anhand der optischen Grundgesetze leicht messen kann. Das Auge wird zweidimensional im Querschnitt dargestellt, und der Computer kann sehr einfach die Sehschärfe, das heißt das räumliche Auflösungsvermögen, in Form einer einzigen Zahl berechnen. Die Effizienz von Beinen oder Wirbelsäule eines Gepards in ähnlicher Weise mit Zahlen wiederzugeben, wäre wesentlich schwieriger. Nilsson und Pelger begannen mit einer flachen Netzhaut über einer flachen Pigmentschicht, und das Ganze war von einer flachen, durchsichtigen Schutzschicht überzogen. In der durchsichtigen Schicht ließen sie Zufallsmutationen ablaufen, die zu örtlichen Veränderungen des Brechungsindex führten. Anschließend überließen sie es dem Zufall, das Modell zu verformen; die einzige Einschränkung war die Notwendigkeit, daß jede Veränderung klein und im Vergleich zum vorherigen Zustand eine Verbesserung sein mußte. Sehr rasch ergaben sich eindeutige Ergebnisse. Als das Augenmodell auf dem Computerbildschirm seine Form veränderte, führte ein Weg der ständig zunehmenden Sehschärfe ohne Verzögerung von der flachen Anfangsstruktur über eine flache Einbeulung zu einem immer tiefer werdenden Becher. Die durchsichtige Schicht verdickte sich, füllte den Becher aus und wölbte sich außen zu einer leicht gebogenen Oberfläche. Und dann, fast wie bei einem Zauberkunststück, verdichtete sich plötzlich ein Teil der durchsichtigen Füllung zu einem begrenzten, kugelförmigen Bereich mit höherem Brechungsindex. Er war nicht einheitlich höher, sondern veränderte sich 95
allmählich, so daß der kugelförmige Bereich eine hervorragende Gleitindex-Linse bildete. Gleitindex-Linsen sind menschlichen Linsenschleifern nicht vertraut, aber sie sind in lebenden Augen üblich. Wir stellen Linsen her, indem wir Glas in eine bestimmte Form schleifen. In zusammengesetzten Linsen, zum Beispiel in den teuren, bläulich vergüteten Kameraobjektiven, werden mehrere Linsen zusammenmontiert, aber jede einzelne davon besteht in ihrer ganzen Dicke aus einem einheitlichen Glas. Bei der Gleitindex-Linse dagegen ändert sich der Brechungsindex innerhalb ihrer eigenen Substanz. Am höchsten ist er in der Regel in der Mitte der Linse. Solche Linsen findet man zum Beispiel in den Augen der Fische. Wie man schon seit langen weiß, ergibt sich bei Gleitindex-Linsen die geringste Abbildungsverzerrung, wenn das Verhältnis zwischen Brennweite und Linsenradius einen theoretisch zu berechnenden Optimalwert erreicht. Diesen Wert nennt man auch Mattiessen-Verhältnis. Und das Computermodell von Nilsson und Pelger pendelte sich unweigerlich auf das Mattiessen-Verhältnis ein. Nun zu der Frage, wie lange dieser entwicklungsgeschichtliche Wandel gedauert haben könnte. Um sie zu beantworten, mußten Nilsson und Pelger einige Thesen über die Genetik natürlicher Populationen aufstellen. Sie mußten in ihr Modell plausible Werte für Größen wie die »Erblichkeit« eingeben. Erblichkeit ist ein Maß dafür, inwieweit Abweichungen durch die Vererbung bestimmt sind. Die beliebteste Methode ihrer Messung ist die Untersuchung der Ähnlichkeit eineiiger (das heißt »identischer«) Zwillinge im Vergleich zu zweieiigen. In einer solchen Studie stellte sich heraus, daß die Beinlänge bei Männern zu 77 Prozent erblich ist. Eine Erblichkeit von 100 Prozent würde bedeuten, daß man nur das Bein eines eineiigen Zwillings zu messen braucht, um genau zu wissen, wie lang die Beine bei dem anderen sind, und zwar auch dann, wenn beide getrennt aufgewachsen sind. Bei einer Erblichkeit 96
von 0 Prozent dagegen wären die Beine eineiiger Zwillinge einander nicht ähnlicher als die zweier zufällig ausgewählter Angehöriger einer bestimmten Population in einer bestimmten Umwelt. Als weitere Werte für die Erblichkeit hat man bei Menschen zum Beispiel 95 Prozent für die Kopfbreite gemessen, 85 Prozent für die Größe im Sitzen, 80 Prozent für die Armlänge und 79 Prozent für den Körperbau. Die Erblichkeit liegt häufig bei über 50 Prozent, und deshalb gingen Nilsson und Pelger bei ihrem Augenmodell von 50 Prozent Erblichkeit aus. Das war eine vorsichtige oder »pessimistische« Schätzung. Im Vergleich zu einer realistischeren Annahme von beispielsweise 70 Prozent führt ein solches pessimistisches Postulat zu einem längeren Schätzwert für die Evolutionszeit des Auges. Sie wollten lieber übervorsichtig sein und die Zeit zu lang schätzen, denn intuitiv ist jeder von uns skeptisch gegenüber einer Schätzung, nach der etwas so Kompliziertes wie das Auge sich in kurzer Zeit entwickelt haben sollte. Aus dem gleichen Grund wählten sie auch pessimistische Werte für den Variationskoeffizienten (das heißt für das typische Ausmaß der Variation in der Population) und für die Stärke der Selektion (das heißt für das Ausmaß des Vorteils, den das verbesserte Sehvermögen verschafft). Sie gingen sogar noch weiter und unterstellten, daß jede neue Generation sich von der vorherigen nur in einer Eigenschaft des Auges auf einmal unterschied: Gleichzeitige Veränderungen in mehreren Teilen, welche die Evolution stark beschleunigt hätten, wurden ausgeschlossen. Aber selbst unter diesen vorsichtig gewählten Voraussetzungen war die Evolutionszeit von der flachen Haut bis zum Fischauge extrem kurz: noch nicht einmal vierhunderttausend Generationen. Bei den kleinen Tieren, von denen hier die Rede ist, kann man von einer Generation pro Jahr ausgehen; es sieht also so aus, als dauerte die Evolution eines guten, kameraähnlichen Auges weniger als eine halbe Million Jahre. 97
Im Licht der Befunde von Nilsson und Pelger ist es kein Wunder, daß sich »das« Auge im Tierreich mindestens vierzigmal unabhängig entwickelt hat. Es hätte in der zur Verfügung stehenden Zeit in ein und derselben Abstammungslinie fünfzehnhundertmal aus dem Nichts entstehen können. Unterstellt man die für kleine Tiere typischen Generationszeiten, erscheint die für die Evolution des Augen benötigte Zeit aufgrund ihrer Länge keineswegs unglaubhaft; ganz im Gegenteil. Es stellt sich heraus, daß sie für Geologen zu kurz zum Messen ist. Geologisch gesehen, ist sie ein Augenblick. Heimlicher Nutzen. Ein entscheidendes Merkmal der Evolution ist die Allmählichkeit. Das ist weniger eine Tatsache als ein Prinzip. Daß es in manchen Phasen der Evolution zu plötzlichen Wendungen kommt, mag stimmen oder auch nicht. Vielleicht gibt es Unterbrechungen des Gleichgewichts, in denen die Evolution sich beschleunigt, oder vielleicht sogar plötzliche Makromutationen, größere Veränderungen, durch die ein Kind sich von seinen Eltern unterscheidet. Mit Sicherheit gibt es das plötzliche Aussterben, verursacht möglicherweise durch Naturkatastrophen wie den Einschlag eines Kometen auf der Erde; solche Ereignisse hinterlassen ein Vakuum, das neue Arten mit schnellen Verbesserungen füllen, wie die Säugetiere, die an die Stelle der Dinosaurier traten. Es ist durchaus möglich, daß die Evolution nicht in jedem Einzelfall allmählich verläuft. Aber sie muß allmählich verlaufen sein, wenn man mit ihr die Entstehung komplizierter, scheinbar gezielt konstruierter Gebilde wie der Augen erklären will. Wäre sie in solchen Fällen nicht allmählich abgelaufen, verlöre sie völlig den Charakter einer Erklärung. Dann wären wir wieder beim Wunder, was nichts anderes bedeutet, als daß es überhaupt keine Erklärung gibt. Augen und von Wespen bestäubte Orchideen beeindrukken uns vor allem deshalb so stark, weil sie so unwahrscheinlich sind. Die Möglichkeit, daß sie von selbst und durch einen 98
glücklichen Zufall entstehen, ist so gering, daß man sie in der realen Welt ausschließen kann. Des Rätsels Lösung ist die allmähliche Evolution in kleinen Schritten, von denen jeder ein glücklicher, aber nicht allzu glücklicher Zufall war. Verliefe sie nicht allmählich, wäre sie keine Lösung, sondern nur eine neue Formulierung des Rätsels. In manchen Fällen kann man sich nur schwer ausmalen, wie die abgestuften Zwischenformen ausgesehen haben könnten. So etwas ist eine Herausforderung an unser Vorstellungsvermögen, und wenn es versagt, um so schlechter für es. Das ist aber kein Indiz, daß es die Zwischenstufen nicht gegeben hat. Eine der größten Herausforderungen für unsere Phantasie bei der Vorstellung von Zwischenstufen ist die berühmte »Tanzsprache« der Bienen, dargelegt in dem klassischen Werk, mit dem Karl von Frisch bekannt wurde. Hier erscheint das Endprodukt der Evolution so kompliziert, so genial und so weit entfernt von allen Tätigkeiten, mit denen man bei Insekten normalerweise rechnet, daß man sich die Zwischenstufen kaum vorstellen kann. Honigbienen teilen einander die Lage von Blüten mit einem sorgfältig verschlüsselten Tanz mit. Befindet sich die Nahrungsquelle sehr dicht beim Bienenstock, tanzen sie den »Rundtanz«: Er regt andere Bienen nur an, auszuschwärmen und in der Nachbarschaft des Stockes zu suchen. Das ist noch nicht bemerkenswert. Sehr bemerkenswert ist aber, was geschieht, wenn das Futter weiter entfernt ist. Der Kundschafter, der es gefunden hat, führt den sogenannten Schwänzeltanz auf, dessen Form und Ablauf den anderen Bienen sowohl die Himmelsrichtung der Futterquelle als auch ihre Entfernung vom Stock signalisiert. Der Schwänzeltanz findet im Bienenstock auf der senkrechten Oberfläche der Waben statt. Dort ist es dunkel, so daß die anderen Bienen ihn nicht sehen können. Sie fühlen ihn und hören ihn auch, denn die tanzende Biene begleitet ihre Vorführung mit leisen, rhythmischen Pfeifgeräu99
schen. Der Tanz hat die Form einer Acht mit einer geraden Laufstrecke in der Mitte. Die Richtung dieser geraden Strecke gibt nach einem raffinierten Code die Himmelsrichtung der Nahrungsquelle an. Die gerade Linie der Tanzfigur zeigt aber nicht direkt in Richtung der Nahrung. Das ist gar nicht möglich, weil der Tanz auf den senkrechten Waben aufgeführt wird, und die Wabe ist unabhängig von der Richtung der Nahrung immer auf die gleiche Weise befestigt. Das Futter muß in der horizontalen geographischen Richtung geortet werden. Die senkrechte Wabe entspricht eher einer Landkarte an der Wand. Eine Linie, die man auf einer solchen Karte zeichnet, weist nicht unmittelbar auf einen bestimmten Punkt, aber man kann daraus die Richtung mit Hilfe einer willkürlichen Übereinkunft ablesen. Um die Übereinkunft der Bienen zu verstehen, muß man als erstes wissen, daß diese Tiere sich wie viele Insekten an der Sonne orientieren. Auch wir tun das in erster Näherung. Die Methode hat aber zwei Nachteile. Erstens ist die Sonne oft hinter Wolken versteckt. Dieses Problem lösen die Bienen mit einem Sinnesorgan, das wir nicht besitzen. Auch das entdeckte von Frisch: Bienen können die Polarisationsebene des Lichtes erkennen und damit die Richtung der Sonne auch dann feststellen, wenn sie nicht zu sehen ist. Das zweite Problem mit dem »Sonnenkompaß« besteht darin, daß die Sonne im Laufe des Tages über den Himmel »wandert«. Damit werden die Bienen mit Hilfe einer inneren Uhr fertig. Von Frisch beobachtete etwas nahezu Unglaubliches: Tanzende Bienen, die nach dem Erkundungsflug mehrere Stunden lang im Stock eingesperrt waren, drehten die gerade Strecke des Tanzes allmählich in eine andere Richtung wie den Zeiger einer Uhr mit 24Stunden-Einteilung. Sie konnten die Sonne im Stock nicht sehen, und doch richteten sie ihren Tanz so aus, daß er mit der Bewegung der Sonne übereinstimmte, die sich, wie ihnen die innere Uhr sagte, draußen abspielen mußte. Faszinierend ist 100
auch, daß Bienenrassen von der südlichen Erdhalbkugel das gleiche in umgekehrter Richtung tun, genau wie man es erwartet. Nun zur Bedeutung des Tanzes selbst. Weist die Tanzstrecke an der Wabe senkrecht nach oben, befindet sich die Nahrung in der gleichen Richtung wie die Sonne. Senkrecht nach unten gerichtet, gibt sie genau die entgegengesetzte Richtung an. Alle dazwischenliegenden Winkel signalisieren genau das, was man erwartet. Fünfzig Grad von der Senkrechten nach links bedeutet in der Horizontalen 50 Grad links von der Sonne. Der Tanz ist allerdings nicht aufs Grad genau. Warum sollte er auch, nur weil wir unseren Kompaß willkürlich in 360 Grad eingeteilt haben? Bienen unterteilen den Kompaß in ungefähr acht Bienengrad. Eigentlich tun wir das gleiche, wenn wir keine Berufsseeleute sind: Wir unterscheiden auf unserem informellen Kompaß die acht Quadranten N, NO, O, SO, S, SW, W und NW. Auch die Entfernung der Nahrungsquelle zeigt der Bienentanz an. Genauer gesagt, haben verschiedene Gesichtspunkte des Tanzes - die Drehgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit des Schwänzelns und die Abstände der Pfeiftöne - mit der Entfernung des Futters zu tun, so daß die anderen Bienen an jedem davon und an jeder Kombination die Entfernung ablesen können. Je näher die Nahrungsquelle, desto schneller der Tanz. Das ist zu erwarten, denn eine Biene, die in der Nähe des Stockes Futter gefunden hat, ist aufgeregter und weniger ermüdet als eine andere, die weiter entfernt eine Nahrungsquelle entdeckt hat. Aber das ist mehr als nur eine Eselsbrücke; wie wir noch sehen werden, bietet es auch einen Hinweis, wie sich der Tanz in der Evolution entwickelt hat. Fassen wir noch einmal zusammen: Eine Biene findet auf einem Erkundungsflug eine gute Nahrungsquelle. Mit Nektar und Pollen beladen, kehrt sie zum Stock zurück und übergibt ihre Fracht den Arbeiterinnen. Dann beginnt sie mit dem 101
Tanz: Irgendwo auf der vertikalen Wabe - wo genau, spielt keine Rolle - läuft sie immer wieder in einer Achterfigur herum. Um sie herum sammeln sich andere Arbeiterinnen, die sie spüren und ihr zuhören. Sie erfassen die Häufigkeit der Töne und vielleicht auch die Drehgeschwindigkeit. Während die Tänzerin mit dem Hinterleib wackelt, messen sie den Winkel der geraden Tanzstrecke relativ zur Senkrechten. Anschließend eilen sie zum Ausgang des Stockes und schwärmen aus der Dunkelheit ins Sonnenlicht. Sie beobachten, wo die Sonne steht - nicht die Höhe in der senkrechten, sondern die Himmelsrichtung in der horizontalen Ebene. Und dann fliegen sie in gerader Linie weg, wobei der Winkel relativ zur Sonne dem Tanzwinkel der Kundschafterin relativ zur Senkrechten auf der Wabe entspricht. In dieser Richtung fliegen sie nicht unendlich weit, sondern über eine Entfernung, die (dem Logarithmus) der Piepgeschwindigkeit der Tänzerin (umgekehrt) proportional ist. Wenn die Kundschafterin auf dem Weg zu der Nahrungsquelle einen Umweg geflogen ist, gibt sie verblüffenderweise nicht die Richtung dieses Umweges an, sondern die rekonstruierte direkte Himmelsrichtung zu der Futterquelle. Die Geschichte vom Bienentanz ist eigentlich kaum zu glauben, und manche Leute glauben sie tatsächlich nicht. Auf diese Skeptiker und auf die Experimente, die in jüngster Zeit die endgültige Entscheidung brachten, werde ich im nächsten Kapitel zurückkommen. Jetzt möchte ich die allmähliche Evolution des Bienentanzes erörtern. Wie könnten die entwicklungsgeschichtlichen Zwischenstadien ausgesehen haben, und wie funktionierten sie, als der Tanz noch nicht vollständig ausgebildet war? Nebenbei bemerkt, ist die Frage so nicht ganz richtig formuliert. Kein Geschöpf lebt davon, daß es »unvollständig« und ein »Zwischenstadium« ist. Die früheren, längst verstorbenen Bienen, deren Tänze man rückblickend als Zwischenstufen 102
auf dem Weg zum heutigen Tanz der Honigbienen betrachten kann, lebten ganz gut. Sie führten ein erfülltes Bienenleben und hatten keine Ahnung, daß sie »auf dem Weg« zu etwas »Besserem« waren. Auch der heutige Bienentanz dürfte nicht das letzte Wort sein: Er wird sich ebenfalls zu etwas noch Sensationellerem entwickeln, wenn wir und unsere Bienen längst nicht mehr da sind. Dennoch bleibt das Rätsel, wie sich der heutige Bienentanz in aufeinanderfolgenden Stufen entwickeln konnte. Wie könnten die abgestuften Zwischenformen ausgesehen habe, und wie funktionierten sie? Mit dieser Frage beschäftigte sich schon von Frisch selbst: Um sie anzugehen, sah er sich im Stammbaum um, bei den heutigen entfernten Vettern der Honigbienen. Sie sind nicht die Ahnen der Biene, sondern ihre Zeitgenossen, aber sie könnten Eigenschaften der Vorfahren behalten haben. Die Honigbiene selbst ist ein Insekt der gemäßigten Klimazonen und nistet in schützenden Baumstämmen oder Höhlen. Ihre engsten Verwandten sind tropische Bienen, die auch im Freien nisten können und ihre Waben an Ästen oder Felsvorsprüngen aufhängen. Sie können also während des Tanzes die Sonne sehen und müssen sich nicht mit der Übereinkunft behelfen, daß die Senkrechte »für die Richtung der Sonne steht«. Bei ihnen steht die Sonne für sich selbst. Einer dieser tropischen Verwandten, die Zwergbiene Apis florea, tanzt auf der waagerechten Fläche an der Oberseite der Wabe, und die gerade Linie der Tanzfigur zeigt unmittelbar zur Nahrungsquelle. Hier ist keine Übereinkunft im Sinne einer Landkarte erforderlich: Der unmittelbare Hinweis reicht aus. Ein plausibles Übergangsstadium auf dem Weg zur Honigbiene, ja, aber immer noch müssen wir nach den anderen Zwischenformen fragen, die diesem Stadium vorausgingen und nachfolgten. Was könnte der Vorläufer des Tanzes der Zwergbienen gewesen sein? Warum sollte eine Biene, die gerade Nahrung gefunden hat, immer wieder in einer Achter103
figur herumrennen, deren gerade Mittellinie zur Futterquelle zeigt? Einem Vorschlag zufolge handelt es sich um eine ritualisierte Form des Anlaufes zum Wegfliegen. Bevor sich der Tanz entwickelte, so von Frischs Idee, flog eine Kundschafterin, die ihre Fracht abgeliefert hatte, einfach wieder in derselben Richtung davon, um zur Nahrungsquelle zurückzukehren. Bevor sie abhob, drehte sie das Gesicht in die richtige Richtung, und gleichzeitig machte sie ein paar Schritte. Wenn dieser Anlauf die anderen Bienen zum Hinterherfliegen angeregt hätte, hätte die natürliche Selektion alles begünstigt, was zu seiner Verlängerung und Übertreibung führte. Vielleicht ist der Tanz eine Art rituell wiederholter Anlauf zum Abheben. Das ist plausibel, denn Bienen bedienen sich - unabhängig davon, ob sie einen Tanz aufführen - häufig einer unmittelbareren Methode; sie folgen ihren Artgenossen einfach zur Nahrungsquelle. Plausibel wird die Vermutung auch noch durch etwas anderes: Während des Tanzes spreizen die Bienen ihre Flügel ein wenig ab, als ob sie gleich losfliegen wollten, und lassen die Flugmuskeln vibrieren - zwar nicht so stark, daß es zum Abheben ausreicht, aber immerhin so, daß das Geräusch entsteht, das einen wichtigen Teil des Tanzsignals darstellt. Ein naheliegendes Mittel zur Verlängerung und Übertreibung des Anlaufes ist seine Wiederholung. Wiederholen heißt, daß man zum Ausgangspunkt zurückgeht und dann erneut ein paar Schritte in Richtung der Nahrungsquelle macht. Zurück zum Ausgangspunkt kann man auf zwei Wegen gelangen: Man wendet sich am Ende des Anlaufes nach rechts oder nach links. Wenn man sich immer wieder nur nach rechts oder nach links wendet, ist nicht eindeutig klar, in welche Richtung der Anlauf zielt und bei welcher Strecke es sich um den Rückweg zum Ausgangspunkt handelt. Am besten beseitigt die Biene diese Zweideutigkeit, indem sie sich am Ende des Anlaufes abwechselnd nach links und nach rechts dreht. So kam es zur natürlichen Selektion der Achterfigur. 104
Aber wie entwickelte sich die Beziehung zwischen der Entfernung der Nahrungsquelle und der Tanzgeschwindigkeit? Wäre die Geschwindigkeit der Entfernung direkt proportional, ließe sich das nur schwer erklären. Aber wie ich bereits erwähnt habe, ist es in Wirklichkeit anders herum: je näher das Futter, desto schneller der Tanz. Das legt sofort den Gedanken an einen plausiblen Evolutionsweg nahe. Bevor sich der eigentliche Tanz entwickelte, führten die Kundschafter ihren ritualisierten Anlauf ohne festgelegte Geschwindigkeit auf. Er war so schnell, wie es der Biene gerade beliebte. Aber wenn man, bis zum Stehkragen beladen mit Nektar und Pollen, mehrere Kilometer weit nach Hause geflogen ist, verspürt man dann wohl noch das Bedürfnis, mit großem Tempo über die Wabe zu rennen? Nein, man wäre vermutlich erschöpft. Hat man dagegen gerade ziemlich nahe beim Stock eine reichhaltige Nahrungsquelle entdeckt, ist man nach dem kurzen Rückflug noch frisch und energiegeladen. Man kann sich ohne weiteres vorstellen, wie die anfangs zufällige Beziehung zwischen entfernter Nahrungsquelle und langsamem Tanz zu einer formalen, verläßlichen Botschaft ritualisiert wurde. Damit sind wir bei dem Übergang mit dem größten Fragezeichen. Wie wurde aus einem Tanz, dessen gerade Linie unmittelbar zur Nahrungsquelle zeigte, eine Bewegung, bei der ein Winkel zur Senkrechten zum Code für den Winkel zwischen Richtung der Nahrung und Sonne wurde? Dieser Übergang war aus zwei Gründen notwendig: Erstens ist es im Bienenstock dunkel, und man kann die Sonne nicht sehen, und zweitens kann man mit dem Tanz auf einer senkrechten Wabe nicht unmittelbar in Richtung der Futterquelle zeigen, es sei denn, die Tanzfläche ist selbst zufällig in dieser Richtung orientiert. Aber nur zu erklären, daß der Übergang notwendig gewesen sei, reicht nicht. Man muß auch mit einer plausiblen Abfolge von Zwischenschritten darlegen, wie er zustande kam. Eine offenbar vertrackte Aufgabe, aber uns kommt dabei 105
eine Besonderheit im Nervensystem der Insekten zu Hilfe. Mit verschiedenen Insekten, von Käfern bis zu Ameisen, hat man folgendes bemerkenswerte Experiment gemacht: Man läßt einen Käfer zunächst bei elektrischem Licht auf einem waagerechten Holzbrett entlanglaufen. Dabei zeigt sich als erstes, daß das Insekt sich am Licht orientiert. Bewegt man die Lampe, ändert es auch seine Laufrichtung entsprechend. Lag sie bisher beispielsweise bei 30 Grad relativ zur Richtung der Lichtquelle, so bleibt dieser Winkel auch in der neuen Position der Lampe erhalten. Tatsächlich kann man den Käfer mit dem Lichtstrahl in jede beliebige Richtung steuern. Das war von den Insekten schon seit langem bekannt. Sie benutzen die Sonne (auch Mond oder Sterne) als Kompaß, und man kann sie mit einer Glühlampe leicht täuschen. So weit, so gut. Jetzt kommt das interessante Experiment. Man schaltet das Licht aus und kippt das Brett im gleichen Augenblick in die Senkrechte. Der Käfer läuft unbeirrt weiter. Aber, siehe da, er ändert die Laufrichtung so, daß sie zur Senkrechten jetzt den gleichen Winkel bildet wie zuvor zum Licht: in unserem Beispiel 30 Grad. Warum das so ist, weiß niemand, aber es ist so. Offenbar verrät sich hier eine seltsame Eigenschaft des Insektennervensystems: eine Verwirrung der Sinne, eine Überkreuzung der Verdrahtung für Gewichts- und Gesichtssinn, vielleicht ein wenig so ähnlich wie bei dem Blitz, den wir sehen, wenn man uns auf den Kopf schlägt. Jedenfalls war dies vermutlich in der Evolution die Brücke für die Botschaft »Senkrechte gleich Sonne« im Tanz der Honigbienen. Aufschlußreich ist das Verhalten der Honigbienen, wenn man in ihrem Stock eine Lampe einschaltet. In diesem Fall richten sie sich nicht mehr nach der Schwerkraft, sondern das Licht ist ihrem Code unmittelbar gleichbedeutend mit der Sonne. Diese seit langem bekannte Tatsache nutzte man in einem der genialsten Experimente aller Zeiten aus, und damit war endgültig der Nachweis erbracht, daß der Tanz der Honig106
bienen seinen Zweck tatsächlich erfüllt. Ich werde im nächsten Kapitel darauf zurückkommen. Einstweilen haben wir eine plausible Abfolge abgestufter Zwischenformen gefunden, über die der Tanz der Bienen aus einfachen Anfängen hervorgegangen sein könnte. Die Geschichte, wie ich sie erzählt habe, gründet sich auf von Frischs Gedanken und ist vielleicht nicht in allen Einzelheiten richtig. Aber etwas Ähnliches hat sich mit Sicherheit abgespielt. Ich wollte damit auf die natürliche Skepsis antworten - die Argumentation aus persönlichem Unglauben -, die sich einstellt, wenn man auf ein wirklich geniales oder kompliziertes Naturphänomen stößt. Der Skeptiker sagt: »Ich kann mir keine plausible Folge von Zwischenformen vorstellen, also gab es sie nicht, sondern das Phänomen ist von selbst und durch ein Wunder entstanden.« Von Frisch hat die plausible Folge der Zwischenstufen geliefert. Selbst wenn es nicht die richtige Folge sein sollte, widerlegt allein die Tatsache, daß sie plausibel ist, die Argumentation aus persönlichem Unglauben. Das gleiche gilt für alle anderen Beispiele, die wir betrachtet haben, von den Orchideen, die eine Wespe nachahmen, bis zum kameraähnlichen Auge. Wer dem gradualistischen Darwinismus skeptisch gegenübersteht, kann beliebig viele seltsame und verblüffende Tatsachen aus der Natur anführen. Man hat mich beispielsweise um eine Erklärung für die allmähliche Evolution jener Lebewesen gebeten, die in den Tiefseegräben des Pazifiks zu Hause sind, wo es kein Licht gibt und ein Wasserdruck von über tausend Atmosphären herrscht. Dort haben sich um heiße Vulkanquellen am Meeresboden ganze Lebensgemeinschaften von Tieren entwickelt. Bakterien nutzen die Wärme aus dem Erdinneren, setzen Schwefel statt Sauerstoff um und halten völlig andere biochemische Abläufe in Gang. Die Gemeinschaft der größeren Tiere ist letztlich von diesen Bakterien abhängig, genau wie das Leben an der Oberfläche auf die 107
grünen Pflanzen angewiesen ist, die die Sonnenenergie einfangen. Alle Tiere der auf Schwefel basierenden Lebensgemeinschaften sind Verwandte bekannterer Tiere, die anderswo leben. Wie und über welche Zwischenformen haben sie sich entwickelt? Nun, die Argumentation folgt genau dem gleichen Muster. Wir brauchen dazu nur mindestens einen natürlichen, stufenlosen Übergang, und solche Übergänge gibt es zur Genüge, wenn man im Meer immer weiter hinabsteigt. Tausend Atmosphären sind ein entsetzlich hoher Druck, aber er ist nur quantitativ größer als 999 Atmosphären, die nur quantitativ größer sind als 998 Atmosphären und so weiter. Der Meeresboden bietet Tiefenübergänge von 0 Meter über alle Zwischenwerte bis 11.000 Meter. Ebenso stufenlos schwankt der Druck zwischen einer Atmosphäre und tausend Atmosphären. Die Lichtintensität schwankt stufenlos vom hellen Tageslicht dicht unter der Oberfläche bis zur völligen Finsternis in größerer Tiefe, die nur gelegentlich von Ansammlungen leuchtender Bakterien in den Leuchtorganen von Fischen erhellt wird. Scharfe Abgrenzungen gibt es nicht. Für jedes Ausmaß von Druck und Dunkelheit, an das die Anpassung bereits vollzogen ist, gibt es einen Bauplan für ein Tier, der sich nur geringfügig von dem der vorhandenen Tiere unterscheidet und das Überleben einen Meter tiefer oder bei einem Lumen weniger Licht ermöglicht. Für jedes... aber dieses Kapitel ist schon mehr als lang genug. Sie kennen meine Methoden, Watson. Wenden Sie sie an!
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Gottes Nutzenfunktion
Mein geistlicher Briefschreiber aus dem letzten Kapitel hatte durch eine Wespe zum Glauben gefunden. Durch eine andere verlor Darwin den seinen: »Ich kann einfach nicht überzeugt sein«, schrieb er, »daß ein gütiger, allmächtiger Gott planvoll die Ichneumonidae geschaffen hat, und das ausdrücklich mit der Absicht, daß sie innerhalb des Körpers lebender Raupen fressen sollen.« In Wirklichkeit verlor Darwin seinen Glauben allmählich und aus komplexeren Gründen, und er spielte es herunter, weil er fürchtete, Emma, seine fromme Frau, werde sich darüber ärgern. Die Erwähnung der Ichneumonidae (Schlupfwespen) war als Aphorismus gemeint. Die makabre Lebensweise, von der er sprach, teilen sie mit ihren Vettern, den Dolchwespen, denen wir im letzten Kapitel begegnet sind. Die weibliche Dolchwespe legt ihre Eier nicht nur in einer Raupe (oder einer Heuschrecke oder einer Biene) ab, so daß die Larve sich von dieser ernähren kann, sondern nach den Beobachtungen von Fabre und anderen zielt sie mit dem Stich genau auf die Ganglien im Zentralnervensystem ihrer Beute, so daß diese gelähmt, aber nicht getötet wird. So bleibt das Fleisch frisch. Ob es sich bei der Lähmung um eine allgemeine Betäubung handelt oder ob sie dem Opfer wie Curare 111
nur die Bewegungsfähigkeit nimmt, ist nicht bekannt. Sollte das zweite zutreffen, bemerkt das Beutetier vielleicht, daß es von innen her aufgefressen wird, aber es kann keinen Muskel bewegen, um sich dagegen zu wehren. Das klingt entsetzlich grausam, aber wie wir noch sehen werden, ist die Natur nicht grausam, sondern nur mitleidlos gleichgültig. Das ist eine der Lektionen, die für uns Menschen am schwierigsten zu lernen sind. Wir können nicht eingestehen, daß etwas weder gut noch böse, weder grausam noch freundlich, sondern einfach nur gefühllos ist - gleichgültig gegenüber allem Leiden, ohne jeden Sinn. Wir Menschen sind zweckorientiert. Es fällt uns schwer, irgend etwas zu betrachten und nicht zu fragen, »wozu« es vorhanden ist, was die Beweggründe sind oder welcher Zweck dahintersteckt. Wird die Fixierung auf Absichten krankhaft, sprechen wir von Paranoia - man sieht hinter allem, was in Wirklichkeit nur zufälliges Pech ist, eine böse Absicht. Aber das ist nur die übertriebene Ausprägung einer fast ausnahmslos verbreiteten Täuschung. Sobald wir einen Gegenstand oder einen Vorgang sehen, können wir der Frage nach dem Warum kaum widerstehen - der Frage, »wozu es gut ist«. Der Wunsch, überall einen Zweck zu erkennen, ist nur natürlich bei einem Lebewesen, das von Maschinen, Kunstwerken, Werkzeugen und anderen planvoll gestalteten Dingen umgeben ist und dessen Gedanken außerdem von persönlichen Zielen beherrscht werden. Ein Auto, ein Dosenöffner, ein Schraubenzieher oder eine Mistgabel geben berechtigten Anlaß zu der Frage »Wozu ist es gut?«. Unsere bäuerlichen Vorfahren fragten das gleiche bei Donner, Sonnenfinsternis, Steinen und Flüssen. Heute sind wir stolz darauf, daß wir diesen primitiven Animismus abgelegt haben. Wenn ein Felsen in einem Bach als bequemer Trittstein dient, betrachten wir seinen Nutzen als zufälligen Vorteil, nicht als echten Zweck. Aber die alte Versuchung kehrt mit Macht zurück, 112
wenn das Unglück zuschlägt - schon in dem Wort »zuschlagen« hallt der Animismus nach: »Warum, ach warum nur mußte der Krebs/das Erdbeben/der Orkan ausgerechnet mein Kind treffen?« Im positiven Sinne finden wir an der gleichen Versuchung oftmals Geschmack, wenn es um den Ursprung aller Dinge oder und die Grundgesetze der Physik geht, und das Ganze gipfelt dann in der müßigen, existentiellen Frage: »Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?« Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft nach einem meiner öffentlichen Vorträge jemand aus dem Publikum aufstand und ungefähr folgendes sagte: »Ihr Wissenschaftler könnt die Fragen nach dem Wie gut beantworten, aber ihr müßt zugeben, daß ihr hilflos seid, wenn es um die Frage nach dem Warum geht.« Genau dieses Argument führte auch Prinz Philip an, der Duke of Edinburgh, der einmal bei einem Vortrag meines Kollegen Dr. Peter Atkins in Windsor unter den Zuhörern saß. Hinter der Frage steht immer die unausgesprochene und niemals gerechtfertigte Annahme, es müsse, da die Naturwissenschaft die Frage nach dem Warum nicht beantworten kann, eine andere Disziplin geben, die dazu in der Lage sei. Diese Vermutung ist natürlich völlig unlogisch. Ich fürchte, Dr. Atkins machte mit dem königlichen Warum kurzen Prozeß. Nur weil man eine Frage formulieren kann, ist sie noch nicht berechtigt oder sinnvoll. Man kann eine Menge Dinge fragen, zum Beispiel: »Wie warm ist dieses?« oder »Welche Farbe hat jenes?« Aber nach Temperatur oder Farbe würde man sich beispielsweise nicht im Zusammenhang mit der Eifersucht oder dem Gebet erkundigen. Genauso kann man zwar zu Recht bei den Schutzblechen eines Fahrrades oder beim Kariba-Staudamm nach dem Warum fragen, aber zumindest hat man nicht das Recht zu der Annahme, die gleiche Frage verdiene auch dann eine Antwort, wenn man sie im Zusammenhang mit einem Felsblock, einem unglücklichen Zufall, dem Mount Everest oder dem Universum stellt. 113
Fragen können einfach unangemessen sein, so sehr sie auch von Herzen kommen mögen. Irgendwo zwischen Scheibenwischern und Dosenöffnern auf der einen Seite und Steinen oder dem Universum auf der anderen stehen die Lebewesen. Lebende Körper und ihre Organe sind Gegenstände, die anders als Felsen von einem Zweck geprägt zu sein scheinen. Bekannt ist natürlich, daß die scheinbare Zweckbestimmung der Lebewesen die klassische Argumentation vom großen Plan beherrschte, welche die Theologen von Thomas von Aquin über William Paley bis zu den heutigen »wissenschaftlichen« Kreationisten immer wieder heraufbeschworen haben. Der Vorgang, der in Wirklichkeit Flügel und Augen, Schnäbel, Nistinstinkte und alle anderen Eigenschaften der Lebewesen mit der starken Illusion gezielter Planung ausstattete, ist heute gut bekannt. Es ist die Darwinsche natürliche Selektion. Wir haben diese Erkenntnis erst vor erstaunlich kurzer Zeit gewonnen, nämlich in den letzten hundertfünfzig Jahren. Vor Darwin hielten selbst gebildete Menschen, die Fragen nach dem Warum bei Steinen, Flüssen oder Mondfinsternissen aufgegeben hatten, solche Überlegungen weiterhin für berechtigt, wenn es um Lebewesen ging. Heute tun das nur noch die wissenschaftlich Unbeleckten. Allerdings verschleiert das Wort »nur« die unerträgliche Tatsache, daß es sich dabei um die absolute Mehrheit handelt. In Wirklichkeit formulieren auch die Darwinisten eine Frage nach dem Warum, aber in einem besonderen metaphorischen Sinn. Warum singen die Vögel, und wozu dienen Flügel? Solche Fragen würde ein moderner Darwinist als Kurzfassung durchaus akzeptieren, und er würde mit Blick auf die natürliche Selektion der Vorfahren unserer Vögel eine sinnvolle Antwort geben. Die Illusion des Zwecks ist so übermächtig, daß sogar die Biologen die Annahme einer guten Planung als Arbeitswerkzeug heranziehen. Karl von Frisch, 114
von dem im vorangegangenen Kapitel schon die Rede war, entdeckte lange vor seiner epochemachenden Arbeit über den Bienentanz, daß manche Insekten im Gegensatz zu der damals herrschenden Lehrmeinung durchaus Farben sehen können. Der Auslöser für die Experimente, mit denen er den Nachweis führte, war die einfache Beobachtung, daß die von Bienen bestäubten Blumen große Energie darauf verwenden, farbige Pigmente herzustellen. Warum sollten sie das tun, wenn Bienen farbenblind wären? Die Metapher vom Zweck oder genauer gesagt, die Annahme, daß Darwinsche Selektion beteiligt ist - dient hier dazu, eine begründete These über einen Sachverhalt aufzustellen. Ein Fehler wäre es gewesen, wenn von Frisch behauptet hätte: »Blüten sind farbig, also müssen Bienen auch Farben erkennen können.« Aber mit dem, was er tatsächlich sagte, hatte er recht: »Blüten sind farbig, also lohnt es sich zumindest, wenn ich mir eine Zeitlang viel Mühe gebe und mir neue Experimente ausdenke, mit denen ich überprüfen kann, ob Bienen tatsächlich Farben sehen können.« Als er nun die Angelegenheit im einzelnen untersuchte, stellte er fest, daß Bienen über ein gutes Farbensehen verfügen, wobei das Spektrum aber gegenüber unserem eigenen verschoben ist. Rotes Licht können sie nicht wahrnehmen (was wir Rot nennen, würden sie vielleicht als »Infragelb« bezeichnen). Dafür sind sie aber empfindlich für den Bereich, den wir Ultraviolett nennen; Ultraviolett ist für sie eine eigene Farbe, die deshalb manchmal auch »Bienenlila« heißt. Als von Frisch erkannt hatte, daß Bienen im ultravioletten Spektralbereich sehen können, bezog er in seine Überlegungen erneut die Metapher vom Zweck ein. Wozu, so fragte er sich, nutzen die Bienen ihre Ultraviolettwahrnehmung? Seine Gedanken kehrten zum Ausgangspunkt zurück: zu den Blumen. Wir Menschen können Ultraviolett zwar nicht sehen, aber wir können photographische Filme herstellen, die dafür 115
empfindlich sind, und wir haben Filter, die ultraviolettes Licht durchlassen und »sichtbare« Wellenlängen zurückhalten. Ausgehend von seinen Vorahnungen, machte von Frisch ein paar UV-Fotos von Blüten. Zu seinem Entzücken erkannte er darauf Flecken- und Streifenmuster, die noch kein menschliches Auge gesehen hatte. Blüten, die für uns weiß oder gelb aussehen, sind in Wirklichkeit mit ultravioletten Mustern geschmückt, die oft als »Landebahnmarkierung« dienen und die Bienen zum Nektar dirigieren. Wieder hatte sich die Vorstellung von einem scheinbaren Zweck ausgezahlt: Gut gestaltete Blüten nutzen die Tatsache aus, daß Bienen die ultravioletten Wellenlängen wahrnehmen können. Als von Frisch schon ein alter Mann war, stellte ein amerikanischer Biologe namens Adrian Wenner sein berühmtestes Werk - über den Bienentanz, das wir im vorangegangenen Kapitel diskutierten - in Frage. Glücklicherweise erlebte von Frisch noch, wie James L. Gould, ein anderer Amerikaner, der heute an der Princeton University arbeitet, seine Ergebnisse bestätigte, und zwar mit einem der intelligentesten Experimente der biologischen Forschung insgesamt. Ich möchte es kurz darstellen, denn es ist wichtig für meine Ansicht über das Gewicht der Voraussetzung »als wäre es geplant«. Wenner und seine Kollegen leugneten nicht, daß der Bienentanz sich abspielt. Sie leugneten noch nicht einmal, daß er alle Informationen enthält, die von Frisch gefunden hatte. Aber sie bestritten, daß die anderen Bienen den Tanz »interpretieren«. Ja, sagte Wenner, es stimme, daß im Schwänzeltanz die Richtung der geraden Linie relativ zur Senkrechten der Richtung der Nahrungsquelle relativ zur Sonne entspreche. Aber, so meinte er, die anderen Bienen entnähmen diese Information nicht dem Tanz. Ja, es stimme, daß man die Geschwindigkeit der verschiedenen Tanzbewegungen als Mitteilung über die Entfernung des Futters interpretieren könne. Aber es gebe keinen überzeugenden Beleg, daß die anderen 116
Bienen die Nachricht deuteten. Sie könnten den Tanz ignorieren. Von Frischs Belege waren nach Ansicht der Skeptiker fehlerhaft, und als sie seine Experimente mit geeigneten »Kontrollen« wiederholten (das heißt, sie bezogen auch andere Methoden ein, mit denen die Bienen vielleicht Nahrung finden konnten), wurde von Frischs Hypothese, daß es eine Tanzsprache gibt, von den Ergebnissen nicht mehr gestützt. An dieser Stelle hakte Jim Gould mit seinen genial gestalteten Versuchen ein. Er bediente sich dazu einer seit langem bekannten Eigenschaft der Honigbienen, von der im vorigen Kapitel bereits die Rede war. Obwohl sie gewöhnlich im Dunkeln tanzen und die senkrecht nach oben weisende Linie der vertikalen Ebene als Code für die Richtung der Sonne in der Horizontalen verwenden, schalten sie mühelos auf die entwicklungsgeschichtlich vermutlich ältere Verhaltensweise um, wenn man in dem Bienenstock Licht anschaltet. Dann vergessen sie sofort die Schwerkraft und benutzen die Lichtquelle als Sonnenersatz, an dem sie die Tanzrichtung unmittelbar ausrichten. Wenn die Tänzerin ihre Orientierung von der Schwerkraft zur Glühbirne verlegt, ergeben sich daraus glücklicherweise keinerlei Mißverständnisse. Die anderen Bienen, die den Tanz »interpretieren«, orientieren sich ebenfalls neu, so daß die Bewegungen ihre Bedeutung behalten: Die anderen Bienen schwärmen nach wie vor in der von der Tänzerin angegebenen Richtung aus. Jetzt kommt Jim Goulds Geniestreich. Er bemalte die Augen einer tanzenden Biene mit schwarzem Schellack, so daß sie die Glühbirne nicht sehen konnte und sich wie üblich an der Schwerkraft orientierte. Die anderen Bienen jedoch, die ihren Tanz verfolgten, konnten die Lichtquelle erkennen. Sie interpretierten den Tanz, als gelte nicht mehr die Schwerkraft als Maßstab, sondern die »Sonne«, die durch die Glühbirne verkörpert wurde. Sie maßen den Winkel des Tanzes relativ zum Licht, während die Tänzerin ihn an der Schwerkraft ausrich117
tete. Eigentlich zwang Gould die Biene dazu, über die Richtung der Nahrungsquelle zu lügen, und zwar nicht in einem allgemeinen Sinn, sondern indem sie genau die von Gould gewünschte Richtung angab. Natürlich machte er das Experiment nicht nur mit einer blinden Biene, sondern mit einer geeigneten statistischen Stichprobe von Bienen und mit unterschiedlich eingestellten Winkeln. Und es funktionierte. Von Frischs ursprüngliche Hypothese über den Bienentanz war glänzend bestätigt. Ich erzähle diese Geschichte nicht zum Spaß. Ich wollte damit sowohl auf die positiven als auch auf die negativen Gesichtspunkte bei der Unterstellung einer guten Planung hinweisen. Als ich die skeptischen Aufsätze von Wenner und seinen Kollegen las, neigte ich anfangs zu offenem Spott. Das war nicht gut, auch wenn sich schließlich herausstellte, daß Wenner unrecht hatte. Mein Hohn gründete sich ganz und gar auf die Annahme einer »guten Planung«. Wenner leugnete ja nicht, daß der Bienentanz stattfand und daß er alle Informationen über Richtung und Entfernung der Nahrungsquelle enthielt, die von Frisch behauptet hatte. Er glaubte nur nicht, daß die anderen Bienen diese Informationen aufnehmen. Und das konnte ich wie viele andere darwinistische Biologen einfach nicht schlucken. Der Tanz war so kompliziert, so reichhaltig ausgestattet, so genau auf seinen scheinbaren Zweck abgestimmt, andere Bienen über Richtung und Entfernung der Nahrung in Kenntnis zu setzen. Diese Feinabstimmung konnte nach unserer Überzeugung nur durch natürliche Selektion und durch nichts anderes entstanden sein. In gewisser Weise tappten wir in die gleiche Falle wie die Kreationisten, wenn sie über die Wunder des Lebens nachgrübeln. Der Tanz mußte einfach zu etwas nutze sein, und das bedeutete wahrscheinlich, daß er den Bienen half, Nahrung zu finden. Außerdem mußten genau die Aspekte des Tanzes, die so fein abgestimmt waren - die Beziehung von Winkel und Geschwindigkeit zu 118
Richtung und Entfernung der Futterquelle - eine nützliche Funktion erfüllen. Einfach deshalb konnte Wenner in unseren Augen nicht recht haben. Davon war ich so völlig überzeugt, daß ich, selbst wenn ich genial genug gewesen wäre, um mir Goulds Blindekuhexperiment auszudenken (was ich sicher nicht war), mir nicht die Mühe gemacht hätte, es auszuführen. Gould war nicht nur so scharfsinnig, daß ihm das Experiment einfiel, sondern er betrieb auch den Aufwand, es wirklich zu machen, denn er war nicht der Annahme von der guten Planung erlegen. Aber wir wandern dabei immer auf einem schmalen Grat, denn nach meiner Vermutung hatte Gould wie vor ihm von Frisch bei den Untersuchungen zum Farbensehen - so viel von dieser Annahme im Kopf, daß er seinem bemerkenswerten Experiment gute Erfolgsaussichten einräumte und ihm deshalb Zeit und Mühe widmete. Ich möchte jetzt die beiden Fachbegriffe reverse engineering und »Nutzenfunktion« einführen. Dieser Abschnitt steht stark unter dem Einfluß des hervorragenden Buches Darwin 's Dangerous Idea von Daniel Dennett. Als reverse engineering [eine deutsche Entsprechung zu diesem Begriff gibt es nicht] ist eine Denkmethode, die ungefähr folgendermaßen funktioniert: Ein Ingenieur hat einen Apparat gefunden, den er nicht versteht, und nimmt vorerst einmal an, daß er zu einem bestimmten Zweck konstruiert wurde. Er nimmt das Gebilde auseinander und analysiert es im Hinblick darauf, welche Aufgabe es vermutlich gut erfüllen könnte: »Wenn ich eine Maschine für diesen Zweck bauen wollte, würde ich es dann so machen? Oder läßt sich der Gegenstand besser als Maschine für jenen Zweck erklären?« Der Rechenschieber, bis vor einiger Zeit das Wahrzeichen der ehrenwerten Zunft der Ingenieure, ist im elektronischen Zeitalter ebenso veraltet wie ein Relikt aus der Bronzezeit. Ein Archäologe, der in ferner Zukunft einmal einen Rechenschieber findet, wird vielleicht feststellen, daß er sich gut dazu 119
eignet, gerade Linien zu ziehen oder Butter aufs Brot zu streichen. Aber die Annahme, eines davon sei sein ursprünglicher Zweck gewesen, verletzt das Sparsamkeitsgebot. Ein schlichtes Lineal oder ein Buttermesser braucht in der Mitte keine bewegliche Zunge. Und wenn man die Abstände der kleinen Striche untersucht, findet man logarithmische Skalen, die so peinlich genau eingeteilt sind, daß es kein Zufall sein kann. Jetzt würde dem Archäologen dämmern, daß dieses Muster in einer Zeit ohne elektronische Taschenrechner ein genialer technischer Trick zum schnellen Multiplizieren und Dividieren war. Damit wäre das Rätsel des Rechenschiebers durch reverse engineering gelöst, und zwar unter der Voraussetzung einer intelligenten, sparsamen Gestaltung. Der Fachbegriff »Nutzenfunktion« stammt nicht aus der Technik, sondern aus der Wirtschaftswissenschaft. Er bedeutet »das Maximierte«. Wirtschafts- und Sozialplaner ähneln Architekten und Ingenieuren insofern, als sie ebenfalls bestrebt sind, etwas zu maximieren. Im Utilitarismus maximiert man »das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl« (eine Formulierung, die, nebenbei bemerkt, intelligenter klingt als sie ist). Vor diesem Hintergrund räumen die Utilitaristen der langfristigen Stabilität vielleicht eine mehr oder weniger hohe Priorität gegenüber dem kurzfristigen Glück ein, wobei es Meinungsunterschiede gibt, ob sich »Glück« nach materiellem Wohlstand, beruflicher Erfüllung, kultureller Entfaltung oder zwischenmenschlichen Beziehungen bemißt. Andere bekannten sich offen dazu, daß sie ihr eigenes Glück auf Kosten des Allgemeinwohls maximieren wollen, und rechtfertigen ihren Egoismus möglicherweise mit der Philosophie, das allgemeine Glück werde maximiert, wenn jeder für sich selbst sorgt. Wenn man das Verhalten einzelner während ihres gesamten Lebens beobachtet, sollte man in der Lage sein, ihre Nutzenfunktion durch reverse engineering zu erkennen. Durch reverse engineering des Verhaltens einer Staatsregie120
rung könnte man zu dem Schluß gelangen, daß Beschäftigung und allgemeiner Wohlstand maximiert werden. In einem anderen Land könnte sich herausstellen, daß die Nutzenfunktion in der dauerhaften Herrschaft des Präsidenten, im Reichtum der Herrscherfamilie, in der Größe des Harems eines Sultans, in der Stabilität des Nahen Ostens oder in der Aufrechterhaltung des Ölpreises besteht. Entscheidend ist, daß man sich mehrere Nutzenfunktionen vorstellen kann. Was Einzelpersonen, Firmen oder Regierungen maximieren wollen, ist nicht immer ohne weiteres zu erkennen. Aber die Annahme, daß sie irgend etwas maximieren, ist höchstwahrscheinlich richtig. Es liegt daran, daß der Homo sapiens eine zutiefst von Absichten beherrschte Spezies ist. Das Prinzip gilt selbst dann noch, wenn sich herausstellt, daß die Nutzenfunktion einer Abwägung entspringt oder eine andere komplizierte Funktion mehrerer Einzelfaktoren ist. Kehren wir zu den Lebewesen zurück, und versuchen wir, ihre Nutzenfunktion aufzuspüren. Es könnte viele solche Funktionen geben, aber interessanterweise wird sich letztlich zeigen, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen. Um uns diese Aufgabe drastisch vor Augen zu führen, können wir uns vorstellen, die Lebewesen seien von einem göttlichen Ingenieur erschaffen worden, und nun versuchen wir durch reverse engineering herauszufinden, was dieser Ingenieur maximieren wollte: Was war Gottes Nutzenfunktion? Ein Gepard ist allen Anzeichen nach hervorragend zu einem Zweck gestaltet, und es müßte eigentlich einfach sein, ihn mit reverse engineering zu untersuchen und seine Nutzenfunktion herauszufinden. Offenbar ist er so gestaltet, daß er gut Antilopen töten kann. Zähne, Pranken, Augen, Nase, Beinmuskeln, Wirbelsäule und Gehirn eines Gepards sind genauso, wie man es erwarten würde, wenn Gott mit der Konstruktion des Gepards die Zahl der getöteten Antilopen maximieren wollte. Wendet man aber das reverse engineering auf 121
eine Antilope an, findet man ebenso eindrucksvolle Anzeichen für das genaue Gegenteil: das maximale Überleben der Antilopen und Unterernährung bei den Geparden. Es ist, als wäre der Gepard von der einen und die Antilope von einer anderen, konkurrierenden Gottheit gestaltet worden. Wenn es andererseits nur einen Schöpfer gibt, der den Tiger und das Lamm, den Gepard und die Gazelle gemacht hat, was für ein Spiel spielt Er dann? Ist Er ein Sadist, der Spaß an blutigen Wettkämpfen hat? Versucht Er, bei den Säugetieren in Afrika die Überbevölkerung zu vermeiden? Greift Er ein, um die Einschaltquoten für David Attenboroughs Tierfilme zu maximieren? Das alles sind nachvollziehbare Nutzenfunktionen, die theoretisch stimmen könnten. In Wirklichkeit stimmen sie natürlich nicht. Wir kennen heute die einzige Nutzenfunktion des Lebens ziemlich genau, und sie ist nichts derartiges. Welches die tatsächliche Nutzenfunktion ist, die in der Natur maximiert wird, dürfte im ersten Kapitel deutlich geworden sein: das Überleben der DNA. Aber die DNA schwimmt nicht frei herum; sie ist in lebende Körper eingeschlossen und muß aus den ihr zur Verfügung stehenden Machtmitteln das Beste machen. DNA-Sequenzen, die sich in einem Gepardkörper befinden, maximieren ihre Überlebenschancen, indem sie diesen Körper veranlassen, Gazellen zu töten. Sequenzen in Gazellenkörpern maximieren ihr Überleben, indem sie das entgegengesetzte Ziel verfolgen. Aber in beiden Fällen werden die Überlebenschancen der DNA maximiert. In diesem Kapitel möchte ich an ein paar Beispielen das reverse engineering praktizieren und zeigen, wie alles zusammenpaßt, wenn man von der Annahme ausgeht, daß das Überleben der DNA die maximierte Größe ist. Das Geschlechterverhältnis - das heißt der Anteil von Männchen und Weibchen - liegt in Wildpopulationen in der Regel bei 50:50. Bei den vielen Arten, bei denen eine Minderheit der Männchen einen Harem und damit ein Monopol auf 122
die Weibchen besitzt, scheint das ökonomisch nicht sehr sinnvoll zu sein. In einer gut untersuchten Population von SeeElefanten bestritten 4 Prozent der Männchen 88 Prozent aller Begattungsakte. Daß Gottes Nutzenfunktion hier so unfair gegenüber der Mehrheit der Jünglinge ist, macht nichts. Schlimmer ist etwas anderes: Eine kostenbewußte, auf Effizienz schielende Gottheit müßte feststellen, daß die zu kurz kommenden 96 Prozent die Nahrungsreserven der Population zur Hälfte verbrauchen (in Wirklichkeit brauchen sie sogar mehr als die Hälfte, denn männliche See-Elefanten sind wesentlich größer als die Weibchen). Die überzähligen Junggesellen tun nichts anderes als auf eine Gelegenheit zu warten, bei der sie einen aus der glücklichen Vier-Prozent-Gruppe der Harembesitzer verdrängen können. Wie läßt sich die Existenz dieser ungerecht behandelten Herden von Männchen rechtfertigen? Jede Nutzenfunktion, die auch nur entfernt die ökonomische Effizienz der Lebensgemeinschaft berücksichtigt, würde auf die Junggesellen verzichten. Statt dessen würden gerade so viele Männchen geboren, daß die Befruchtung der Weibchen gesichert ist. Auch diese scheinbare Anomalie läßt sich mit eleganter Einfachheit erklären, wenn man die tatsächliche darwinistische Nutzenfunktion versteht: die Maximierung des Überlebens der DNA. Ich möchte mich mit dem Beispiel des Geschlechterverhältnisses noch ein wenig näher beschäftigen, denn seine Nutzenfunktion eignet sich besonders gut für eine Betrachtung unter ökonomischen Gesichtspunkten. Darwin selbst räumte verblüfft ein: »Früher dachte ich, wenn das Bestreben, zwei Geschlechter in gleicher Zahl hervorzubringen, für eine Art vorteilhaft ist, müsse das eine Folge der natürlichen Selektion sein, aber wie ich jetzt sehe, ist das ganze Problem so verzwickt, daß ich seine Lösung lieber der Zukunft überlassen möchte.« Wie so oft war es der große Sir Ronald Fisher, der Darwins Zukunft verkörperte. Seine Überlegung sah folgendermaßen aus: 123
Jedes Individuum hat genau einen Vater und eine Mutter. Der gesamte Fortpflanzungserfolg, gemessen als Zahl der entfernten Nachkommen, muß deshalb für alle lebenden Männchen zusammen genauso groß sein wie für alle lebenden Weibchen. Damit meine ich nicht jedes einzelne männliche und weibliche Tier, denn manche Individuen haben eindeutig einen größeren Fortpflanzungserfolg als andere, und das ist auch wichtig. Ich spreche von der Gesamtheit aller Männchen, verglichen mit der Gesamtheit aller Weibchen. Diese gesamten Nachkommenschaft muß zwischen den einzelnen Männchen und Weibchen aufgeteilt werden - nicht gleichmäßig aufgeteilt, aber aufgeteilt. Der Fortpflanzungskuchen, der zwischen allen Männchen geteilt wird, ist ebenso groß wie der Kuchen, der zwischen allen Weibchen zu vergeben ist. Sind also beispielsweise in einer Population mehr Männchen als Weibchen vorhanden, erhält jedes einzelne Männchen im Durchschnitt ein kleineres Stück von dem Kuchen als ein einzelnes Weibchen. Daraus folgt, daß der durchschnittliche Fortpflanzungserfolg (das heißt, die zu erwartende Zahl der Nachkommen) eines Männchens im Vergleich zu dem eines Weibchens ausschließlich vom Geschlechterverhältnis bestimmt wird. Ein durchschnittliches Tier mit dem Geschlecht der Minderheit hat einen größeren Fortpflanzungserfolg als ein Tier, das zum mehrheitlich vorhandenen Geschlecht gehört. Nur wenn das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist, so daß es keine Minderheit gibt, erfreuen sich beide Geschlechter des gleichen Fortpflanzungserfolges. Diese bemerkenswert einfache Schlußfolgerung ergibt sich aus rein theoretischen Überlegungen. Sie ist von keinerlei empirischen Tatsachen abhängig, abgesehen von der grundlegenden Erkenntnis, daß jedes Kind einen Vater und eine Mutter hat. Das Geschlecht wird in der Regel bei der Befruchtung festgelegt, und deshalb könnte man annehmen, daß man oder 124
frau (die umständliche Formulierung ist hier kein Ritual, sondern eine Notwendigkeit) darauf keinen Einfluß hat. Unterstellen wir aber nun einmal wie Fisher, ein Elternteil habe die Macht, das Geschlecht seiner Nachkommen festzulegen. Mit »Macht« meine ich natürlich kein bewußtes oder absichtliches Eingreifen. Aber in der Scheide einer Mutter könnten beispielsweise aufgrund einer genetischen Veranlagung chemische Verhältnisse herrschen, die für Samenzellen mit den Anlagen für einen Sohn etwas ungünstiger sind als für Zellen, aus denen eine Tochter entsteht. Oder ein Vater produziert aufgrund einer genetischen Veranlagung etwas mehr Samenzellen, aus denen Töchter entstehen, als solche, aus denen Söhne hervorgehen. Wie es in der Praxis auch aussehen mag: Stellen wir uns einmal vor, man solle als Elternteil entscheiden, ob man einen Sohn oder eine Tochter haben will. Auch hier reden wir nicht von bewußten Entscheidungen, sondern über die Auswahl von Gengenerationen, die durch ihre Wirkung auf den Körper das Geschlecht der Nachkommen beeinflussen. Wenn man die Zahl der Enkelkinder maximieren will, soll man dann einen Sohn oder eine Tochter bekommen? Wie wir bereits gesehen haben, sollte das Kind dem Geschlecht angehören, das in der Population in der Minderheit ist, denn dann kann es mit einem größeren Anteil an der gesamten Fortpflanzungstätigkeit rechnen, und das führt zu einer relativ großen Zahl von Enkeln. Ist kein Geschlecht in kleinerer Zahl vertreten als das andere - liegt also das Verhältnis bei 50:50 -, nützt es nichts, eines der beiden Geschlechter zu bevorzugen. Ob man einen Sohn oder eine Tochter hat, spielt dann keine Rolle. Deshalb bezeichnet man ein Geschlechterverhältnis von 50:50 als entwicklungsgeschichtlich stabil, um einen von dem großen britischen Evolutionsbiologen John Maynard Smith geprägten Begriff zu verwenden. Nur wenn das bestehende Geschlechterverhältnis nicht 50:50 125
beträgt, zahlt sich eine einseitige Bevorzugung aus. Die Frage, warum ein Individuum die Zahl seiner Enkel und späteren Nachkommen maximieren soll, braucht man eigentlich kaum zu stellen. Gene, die ihren Körper dazu veranlassen, die Zahl der Nachkommen zu maximieren, verbreiten sich am stärksten. Die Tiere, die wir heute sehen, haben die Gene erfolgreicher Vorfahren geerbt. Man ist leicht versucht, Fishers Theorie so auszudrücken, daß man 50:50 als »optimales« Geschlechterverhältnis bezeichnet, aber das ist eigentlich nicht ganz richtig. Sind Männchen in der Minderheit, ist es für das Kind optimal, wenn es männlich ist, und bei weniger Weibchen ist das weibliche Geschlecht optimal. Ist kein Geschlecht in der Minderheit, gibt es auch kein Optimum. Dann üben gut gestaltete Eltern keinen Einfluß darauf aus, ob ein Sohn oder eine Tochter geboren wird. Das Verhältnis von 50:50 bezeichnet man als entwicklungsgeschichtlich stabil, weil die natürliche Selektion keine Abweichungen von diesen Zahlen begünstigt, und wenn solche Abweichungen auftreten, wirkt sie darauf hin, daß das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Wie Fisher außerdem erkannte, hält die natürliche Selektion die Zahl der Männchen und Weibchen nicht unbedingt genau bei 50:50, sondern den von ihm so genannten »Elternaufwand« für Söhne und Töchter. Der Elternaufwand ist das ganze hart erkämpfte Futter, das dem Kind ins Maul gestopft wird, die gesamte Zeit und Energie für seine Versorgung, die man auch für etwas anderes aufwenden könnte, beispielsweise für die Pflege eines weiteren Kindes. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, die Eltern wenden bei irgendeiner Robbenart in der Regel für die Aufzucht eines Sohnes doppelt soviel Zeit und Energie auf wie für eine Tochter. Robbenbullen sind im Vergleich zu den Weibchen so massig, daß man sich so etwas leicht vorstellen kann (auch wenn es in Wirklichkeit vermutlich nicht ganz stimmt). Überlegen wir nun, was 126
das bedeutet. Die Eltern stehen nicht vor der Wahl, einen Sohn oder eine Tochter zu haben, sondern die Alternative lautet: einen Sohn oder zwei Töchter. Der Grund ist, daß man mit der zur Aufzucht eines Sohnes notwendigen Nahrung und anderen Gütern auch zwei Töchter großziehen könnte. Das entwicklungsgeschichtlich stabile Geschlechterverhältnis, gemessen an der Zahl der Körper, liegt also bei einem Männchen zu zwei Weibchen. Mißt man es aber nicht an der Zahl der Individuen, sondern am Ausmaß des Elternaufwandes, beträgt das entwicklungsgeschichtlich stabile Geschlechterverhältnis immer noch 50:50. Fishers Theorie postuliert ein Gleichgewicht im Elternaufwand für beide Geschlechter, und das ist, wie sich herausstellt, oft gleichbedeutend mit einem ausgeglichenen Zahlenverhältnis bei den Individuen. Wie ich schon erwähnt habe, gibt es offenbar selbst bei Robben keinen großen Unterschied im Elternaufwand für Söhne und Töchter. Die großen Gewichtsunterschiede entstehen anscheinend erst, wenn die elterliche Fürsorge zu Ende ist. Die Frage für die Eltern lautet also immer noch: Soll ich einen Sohn oder eine Tochter haben? Auch wenn das Heranreifen bis zum Erwachsenenalter bei einem Sohn mehr Aufwand erfordert als bei einer Tochter, spielt das nach Fishers Theorie keine Rolle, solange die zusätzliche Belastung nicht von denen getragen wird, bei denen die Entscheidung liegt (also von den Eltern). Fishers Regel vom ausgewogenen Aufwand gilt auch dann, wenn ein Geschlecht eine wesentlich höhere Sterblichkeit hat als das andere. Nehmen wir beispielsweise einmal an, daß männliche Babys häufiger sterben als weibliche. Dann sind Frauen, wenn das Geschlechterverhältnis bei der Befruchtung genau 50:50 beträgt, im Erwachsenenalter in der Überzahl. Männer sind also die Minderheit, und nun würde man naiverweise erwarten, daß die natürliche Selektion Eltern begünstigt, die sich auf Söhne spezialisieren. Fisher würde ebenfalls 127
damit rechnen, aber nur bis zu einem bestimmten, genau festgelegten Punkt. Nach seinen Überlegungen würden die Eltern nicht so viele zusätzliche Söhne hervorbringen, daß die Säuglingssterblichkeit genau ausgeglichen wäre und im fortpflanzungsfähigen Alter Zahlengleichheit herrscht. Das Geschlechterverhältnis bei der Befruchtung wäre zwar etwas nach der männlichen Seite verschoben, aber nur so weit, daß für die Söhne mit einem ebenso großen Aufwand zu rechnen ist wie für die Töchter. Auch hier macht man sich die Sache am besten klar, wenn man sich in die Lage des Elternteils versetzt, der sich entscheiden muß. Man fragt: »Soll ich eine Tochter haben, die vermutlich überleben wird, oder einen Sohn, der möglicherweise als Säugling stirbt?« Die Entscheidung, Enkel auf dem Weg über einen Sohn hervorzubringen, ist mit der Wahrscheinlichkeit verbunden, daß man mehr Aufwand in einige zusätzliche Söhne investieren muß, welche die verstorbenen ersetzen. Man kann sich das so vorstellen, daß jeder überlebende Sohn die Geister seiner verstorbenen Brüder mit sich herumschleppt. »Herumschleppen« bedeutet: Die Entscheidung, zu den Enkeln den Weg über den Sohn einzuschlagen, belastet die Eltern mit zusätzlichem Aufwand, den sie auf tote männliche Säuglinge verschwendet haben. Fishers Grundregel gilt auch hier. Die Gesamtmenge an Material und Energie, die in Söhne investiert wird (einschließlich der Nahrung, mit der die Söhne, die sterben, bis zu ihrem Tod gefüttert werden) ist ebenso groß wie die Gesamtmenge, die den Töchtern gewidmet ist. Wie sieht es aus, wenn die Sterblichkeit unter den männlichen Nachkommen nicht bereits im Säuglingsalter höher ist, sondern erst später, wenn die Eltern keinen Aufwand mehr treiben müssen? Das ist tatsächlich oft der Fall, denn vielfach kämpfen die ausgewachsenen Männchen miteinander und verletzen sich dabei. Auch das führt in der fortpflanzungsfähi128
gen Generation zu einem Weibchenüberschuß. Vor diesem Hintergrund sieht es so aus, als wären Eltern, die sich auf Söhne spezialisieren, begünstigt, weil sie den Mangel an Männchen in der Population ausnutzen. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, daß diese Überlegung falsch ist. Die Eltern stehen vor folgender Entscheidung: »Soll ich einen Sohn haben, der wahrscheinlich im Kampf ums Leben kommt, nachdem ich ihn großgezogen habe, der aber andererseits mehr Enkel zeugt, falls er überlebt? Oder soll ich lieber eine Tochter haben, die mir mit ziemlicher Sicherheit die durchschnittliche Anzahl Enkel verschafft?« Die Zahl der Enkel, mit denen man mittels eines Sohnes rechnen kann, ist auch hier ebenso groß wie diejenige, die im Durchschnitt mit einer Tochter zu erwarten ist. Und der Aufwand für die Zeugung eines Sohnes bedeutet auch, ihn zu füttern und zu beschützen, bis er das Nest verläßt. Die Tatsache, daß er danach vermutlich stirbt, beeinflußt die Rechnung nicht. Bei allen diesen Überlegungen ging Fisher von der Annahme aus, daß die »Entscheidung« bei den Eltern liegt. Wird sie von einem anderen getroffen, ändert sich die Berechnung. Nehmen wir beispielsweise an, ein Individuum könne sein eigenes Geschlecht beeinflussen. Auch hier meine ich mit »beeinflussen« keine bewußte Absicht, sondern ich unterstelle hypothetisch Gene, welche die Entwicklung eines Individuums in die männliche oder weibliche Richtung lenken, je nachdem, welche Umwelteinflüsse auf sie wirken. Der bisherigen Übereinkunft folgend, bediene ich mich auch hier zur Vereinfachung der gleichen Ausdrucksweise wie bei der absichtlichen Entscheidung eines Individuums, das in diesem Fall sein eigenes Geschlecht bestimmt. Hätten Tiere wie die See-Elefanten, bei denen das Haremsystem gilt, diese Wahlmöglichkeit, wären die Folgen dramatisch. Jedes Individuum würde sich darum bemühen, zu einem männlichen Harembesitzer zu werden. Aber wenn das nicht gelänge, würde es 129
lieber zu einem Weibchen als zu einem männlichen Junggesellen werden. Das Geschlechterverhältnis in der Population würde sich stark zugunsten der Weibchen verschieben. Leider wird das Geschlecht der See-Elefanten aber bei der Befruchtung festgelegt, und sie können es sich später nicht anders überlegen. Bei manchen Fischen ist das jedoch möglich. Die großen, bunten Männchen des Blaukopfes aus der Gruppe der Lippfische halten sich einen Harem aus unauffällig gefärbten Weibchen. Manche Weibchen sind größer als andere, und unter ihnen gibt es eine Dominanzhierarchie. Stirbt das Männchen, nimmt das größte Weibchen sehr schnell seinen Platz ein und verwandelt sich in ein leuchtend gefärbtes männliches Tier. Diese Fische picken sich auf beiden Seiten die Rosinen heraus. Sie vergeuden ihr Leben nicht als Junggesellen, die auf den Tod des Harembesitzers warten, sondern sind in dieser Zeit als fruchtbare Weibchen tätig. Die Blauköpfe haben ein ausgefallenes System der Geschlechterverhältnisse; hier fällt Gottes Nutzenfunktion mit etwas zusammen, das ein Wirtschaftswissenschaftler als umsichtig bezeichnen würde. Jetzt haben wir uns mit den Eltern und dem Individuum selbst als Entscheidungsträger beschäftigt. Wer könnte sonst noch die Entscheidung treffen? Bei den staatenbildenden Insekten liegen Investitionsentscheidungen zu einem großen Teil bei den sterilen Arbeiterinnen, und die sind normalerweise ältere Schwestern (und bei den Termiten auch Brüder) der Jungen, die gerade großgezogen werden. Zu den bekannteren staatenbildenden Insekten gehören die Honigbienen. Die Imker unter meinen Lesern werden bereits erkannt haben, daß das Geschlechterverhältnis in einem Bienenstock auf den ersten Blick nicht Fishers Erwartungen zu entsprechen scheint. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, daß man die Arbeiterinnen nicht als Weibchen betrachten sollte. Biologisch gesehen, sind sie das zwar, aber sie pflanzen sich nicht fort; das Geschlechterverhältnis bestimmt sich also nach 130
Fishers Theorie durch die Zahl der Drohnen (Männchen) und der neuen Königinnen, die der Stock hervorbringt. Aus besonderen biologischen Gründen, die ich in Das egoistische Gen erörtert habe und hier nicht noch einmal wiederholen möchte, erwartet man bei Bienen und Ameisen ein Geschlechterverhältnis von 3:1 zugunsten der Weibchen. In Wirklichkeit ist es aber weit davon entfernt. Es bevorzugt, wie jeder Imker weiß, stark die Männchen. Ein gesunder Stock bringt in einer Saison vielleicht ein halbes Dutzend neue Königinnen hervor, aber Hunderte oder sogar Tausende von Drohnen. Was ist da los? Die Antwort verdanken wir, wie so oft in der modernen Evolutionstheorie, dem heute in Oxford tätigen W. D. Hamilton. Sie ist höchst aufschlußreich und faßt in gedrängter Form die gesamte auf Fisher zurückgehende Theorie der Geschlechterverhältnisse zusammen. Der Schlüssel zum Rätsel des Geschlechterverhältnisses bei Bienen liegt im Phänomen des Schwärmens. Ein Bienenstock verhält sich in vielerlei Hinsicht wie ein einzelnes Tier. Er reift heran, pflanzt sich fort und geht schließlich zugrunde. Das Produkt seiner Fortpflanzung ist ein Schwarm. Wenn ein Bienenvolk gut gedeiht, bringt es im Hochsommer eine Tochterkolonie hervor: den Schwarm. Die Produktion von Schwärmen entspricht beim Bienenvolk der Fortpflanzung. Wenn der Stock eine Fabrik ist, dann ist der Schwarm ihr Produkt, das die kostbaren Gene der Kolonie mitnimmt. Ein Schwarm besteht aus einer Königin und mehreren tausend Arbeiterinnen. Sie verlassen den elterlichen Bienenstock und sammeln sich in einer dichten Traube, die an einem Ast oder Felsen hängt. Das ist ihr vorübergehendes Lager, während sie nach einer neuen dauerhaften Unterkunft Ausschau halten. Innerhalb weniger Tage finden sie eine Höhle oder einen hohlen Baumstamm (oder sie werden, was heute häufiger der Fall ist, von einem Imker vielleicht ihrem ursprünglichen Besitzer - eingefangen und in einem neuen Stock untergebracht). 131
Ein gesundes Bienenvolk hat die Aufgabe, Tochterschwärme hervorzubringen. Der erste Schritt besteht dabei in der Aufzucht einer neuen Königin. Gewöhnlich wird etwa ein halbes Dutzend neue Königinnen produziert, von denen aber nur eine überlebt. Diejenige, die als erste schlüpft, sticht alle anderen tot. (Die überzähligen Königinnen sind vermutlich nur zur Sicherheit vorhanden.) Genetisch sind Königinnen und Arbeiterinnen nicht zu unterscheiden; aber die Königinnen werden in speziellen Weiselzellen großgezogen, die unter den Waben hängen, und erhalten eine besonders reichhaltige Ernährung. Zu ihrer Nahrung gehört auch das Gelée royale, jene Substanz, der die Schriftstellerin Dame Barbara Cartland romantischerweise ihr langes Leben und ihre königliche Haltung zu verdanken meint. Die Arbeiterinnen wachsen in kleineren Zellen heran, die später auch den Honig aufnehmen. Drohnen sind genetisch anders. Sie gehen aus unbefruchteten Eiern hervor. Bemerkenswerterweise liegt es an der Königin, ob ein Ei zu einer Drohne oder einem Weibchen (Königin/Arbeiterin) wird. Die Königin paart sich ausschließlich auf einem einzigen Hochzeitsflug zu Beginn ihres Erwachsenenalters und speichert den Samen während des ganzen restlichen Lebens in ihrem Körper. Wenn dann die Eizellen durch den Eileiter wandern, entläßt sie zur Befruchtung jeweils eine kleine Samenportion aus dem Speicher oder auch nicht. Die Königin bestimmt also bei den Eizellen das Geschlechterverhältnis. Später scheint aber alle Macht bei den Arbeiterinnen zu liegen, denn sie sorgen für die Ernährung der Larven. Sie könnten beispielsweise männliche Larven verhungern lassen, wenn die Königin (aus ihrer Sicht) zu viele produziert hat. Und ob aus einem weiblichen Ei eine Königin oder eine Arbeiterin wird, bestimmen ohnehin die Arbeiterinnen, denn das hängt ausschließlich von den Aufzuchtbedingungen und insbesondere von der Ernährung ab. Kehren wir nun zu der Frage des Geschlechterverhältnisses 132
zurück und sehen wir uns an, welche Entscheidung auf die Arbeiterinnen zukommt. Wie wir gesehen haben, bestimmen sie im Gegensatz zur Königin nicht darüber, ob sie Söhne oder Töchter hervorbringen, sondern ob sie Brüder (Drohnen) oder Schwestern (junge Königinnen) produzieren. Und damit sind wir wieder bei der Hauptfrage. Das tatsächliche Geschlechterverhältnis ist offenbar stark zugunsten der Männchen verschoben, was aus Fishers Sicht keinen Sinn ergibt. Sehen wir uns aber die Entscheidung der Arbeiterinnen einmal ein wenig genauer an. Sie haben, wie gesagt, die Wahl zwischen Brüdern und Schwestern. Aber Moment mal! Die Entscheidung, einen Bruder großzuziehen, ist genau das: sie verpflichtet den Stock, Nahrung und andere Ressourcen zur Aufzucht einer Drohne aufzuwenden. Aber die Entscheidung, eine neue Königin heranzuziehen, verpflichtet den Stock zu viel mehr als nur dazu, den Körper einer einzigen Königin zu ernähren. Sie bedeutet die Verpflichtung, einen Schwarm hervorzubringen. Der tatsächliche Aufwand für eine neue Königin besteht nur zu einem verschwindend geringen Teil aus dem bißchen Gelée royale und den übrigen Nährstoffen, die sie zu sich nimmt. Viel entscheidender ist der Aufwand zur Produktion der vielen tausend Arbeiterinnen, die dem Bienenstock verlorengehen, wenn der Schwarm sich von ihm trennt. Das ist mit ziemlicher Sicherheit die wahre Erklärung für das scheinbar anormale Übergewicht der Männchen beim Geschlechterverhältnis. Es handelt sich um ein Extrembeispiel für etwas, über das ich schon gesprochen habe. Nach Fishers Regel muß der Aufwand für Männchen und Weibchen gleich sein, nicht die Kopfzahl der männlichen und weiblichen Tiere. Der Aufwand für eine neue Königin schließt auch gewaltige Anstrengungen für Arbeiterinnen ein, die dem Volk sonst nicht verlorengehen würden. Es ist das gleiche Prinzip wie bei unserer hypothetischen Robbenpopulation, bei der 133
die Aufzucht des einen Geschlechts doppelt soviel »kostet« wie die des anderen, so daß dieses Geschlecht nur halb so zahlreich ist. Bei den Bienen erfordert eine Königin hundertoder tausendmal soviel Aufwand wie eine Drohne, denn mit ihr verbindet sich der Aufwand für alle zusätzlichen Arbeiterinnen, die für den Schwarm gebraucht werden. Deshalb sind Königinnen hundertmal weniger zahlreich als Drohnen. Und diese seltsame Geschichte hat noch einen weiteren Dreh: In dem Schwarm, der den Stock verläßt, befindet sich nicht die neue Königin, sondern die alte. Die Ökonomie bleibt aber die gleiche. Die Entscheidung, eine neue Königin heranzufüttern, beinhaltet die Entstehung eines Schwarms, der die alte Königin zu ihrem neuen Zuhause begleitet. Um unsere Erörterung des Geschlechterverhältnisses abzurunden, kehren wir noch einmal zu dem Rätsel des Harems zurück, von dem wir ausgegangen waren, jener verschwenderischen Situation, in der eine große Herde männlicher Junggesellen fast die Hälfte (oder sogar mehr als die Hälfte) der Nahrungsressourcen einer Population verbraucht, ohne sich jemals fortzupflanzen oder sonst etwas Nützliches zu tun. Das ökonomische Wohlergehen der Population ist hier ganz offensichtlich nicht maximiert. Was ist los? Versetzen wir uns noch einmal in die Lage dessen, der die Entscheidung zu treffen hat, beispielsweise einer Mutter, die »entscheidet«, ob sie die Zahl ihrer Enkel mit einem Sohn oder mit einer Tochter maximieren kann. Auf den naiven ersten Blick scheint die Lösung eindeutig zu sein: »Soll ich einen Sohn haben, der vermutlich Junggeselle bleibt und mir überhaupt keine Enkel schenkt, oder eine Tochter, die wahrscheinlich in einem Harem endet und mir eine beträchtliche Zahl von Enkeln verschafft?« Die richtige Antwort für eine solche Mutter in spe lautet: »Aber wenn du einen Sohn hast, könnte er sich einen Harem zulegen, und dann zeugt er dir viel mehr Enkel, als du mit einer Tochter jemals bekommen kannst.« Nehmen wir der Einfach134
heit halber einmal an, daß alle Weibchen sich mit der gleichen Durchschnittshäufigkeit fortpflanzen und daß neun von zehn Männchen niemals Nachkommen haben, während jedes zehnte Männchen das Monopol über die Weibchen besitzt. Wenn man eine Tochter hat, kann man mit der durchschnittlichen Zahl von Enkeln rechnen. Mit einem Sohn besteht eine Möglichkeit von neunzig Prozent, daß überhaupt keine Enkel entstehen, und eine Chance von zehn Prozent, daß er das Zehnfache der Durchschnittszahl von Nachkommen hervorbringt. Die durchschnittliche Zahl von Enkeln, mit der man rechnen kann, ist also mit Sohn und Tochter die gleiche. Deshalb begünstigt die natürliche Selektion ein Geschlechterverhältnis von 50:50, obwohl ökonomische Überlegungen auf der Ebene der Art einen Weibchenüberschuß verlangen. Fishers Regel gilt auch hier. Ich habe alle diese Überlegungen unter dem Gesichtspunkt von »Entscheidungen« einzelner Tiere dargelegt, aber - ich wiederhole es nochmals - das ist nur eine verkürzte Ausdrucksweise. In Wirklichkeit werden Gene »für« die Maximierung der Zahl von Enkeln im gesamten Genbestand immer häufiger. Die Welt füllt sich mit Genen, die sich über die Zeiten hinweg behauptet haben. Und wie soll ein Gen sich über die Zeiten hinweg behaupten, wenn es nicht die Entscheidungen der Individuen so beeinflußt, daß sie die Zahl ihrer Nachkommen maximieren? Fishers Theorie von den Geschlechterverhältnissen erklärt, wie diese Maximierung zustande kommt, und das geschieht ganz anders als die Maximierung des ökonomischen Wohlergehens einer Art oder einer Population. Es gibt eine Nutzenfunktion, aber sie sieht ganz anders aus als diejenige, die unserem menschlichen, ökonomisch orientierten Geist als erstes einfallen würde. Die Verschwendung bei der Haremswirtschaft läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Männchen beschäftigen sich nicht mit nützlichen Tätigkeiten, sondern vergeuden 135
Energie und Kraft in nutzlosen Konkurrenzkämpfen. Das stimmt, auch wenn man die Nützlichkeit im darwinistischen Sinne im Zusammenhang mit der Aufzucht von Nachkommen definiert. Würden die Männchen die Energie, die sie mit ihren Konkurrenzkämpfen vergeuden, in nützliche Kanäle lenken, könnte die Spezies insgesamt bei geringerem Kraft- und Nahrungsverbrauch mehr Junge großziehen. Ein Rationalisierungsexperte würde die Welt der See-Elefanten entgeistert anstarren. Man kann sich eine ungefähre Parallele ausmalen. Eine Werkstatt braucht für ihren Betrieb nicht mehr als zehn Leute, denn es gibt dort nur zehn Drehbänke. Aber die Firmenleitung stellt nicht zehn, sondern hundert Arbeitskräfte ein. Alle hundert kommen jeden Tag und kassieren ihren Lohn. Dann verbringen sie den Tag damit, um die Plätze an den zehn Drehbänken zu kämpfen. Dort werden dann auch Waren produziert, aber höchstens so viele, wie man auch mit zehn Leuten erzeugen könnte, und vermutlich sogar weniger, weil die hundert Angestellten so mit Kämpfen beschäftigt sind, daß sie die Drehbänke nicht mehr effizient nutzen können. Der Rationalisierungsexperte würde nicht lange zaudern. Da neunzig Prozent der Arbeitskräfte überflüssig sind, werden sie auch offiziell so bezeichnet und entlassen. Die männlichen Tiere verschwenden ihre Mühe nicht nur auf körperliche Auseinandersetzungen - wobei »Verschwendung« auch hier aus der Sicht des menschlichen Betriebswirts oder Rationalisierungsexperten definiert ist. In vielen Fällen gibt es auch eine Schönheitskonkurrenz. Damit sind wir bei einer anderen Nutzenfunktion, die wir Menschen zu würdigen wissen, obwohl sie wirtschaftlich nicht unmittelbar sinnvoll erscheint: beim ästhetischen Wert. Betrachtet man ihn, sieht es fast so aus, als wäre Gottes Nutzenfunktion manchmal an den Maßstäben der (inzwischen glücklicherweise aus der Mode gekommenen) Miss-World-Wettbewerbe ausgerichtet, nur daß hier die Männer über den Laufsteg schreiten. Am 136
deutlichsten erkennt man das an den Balzplätzen von Vögeln wie Waldhuhn oder Haustaube. Am Balzplatz zeigen sich die Männchen traditionell den weiblichen Vögeln. Die Weibchen suchen diesen Ort auf und beobachten das Renommiergehabe der Männchen, bevor sie sich eines aussuchen und mit ihm kopulieren. Die Männchen sind bei solchen Vogelarten oft bizarr geschmückt und zeigen das mit Verbeugungen und Tänzelbewegungen oder mit ebenso bemerkenswerten, seltsamen Geräuschen. Das Wort »bizarr« ist natürlich eine subjektive Werbung. Wahrscheinlich erscheinen die Männchen des nordamerikanischen Steppenhuhns, die sich bei der Balz aufplustern und Geräusche wie beim Ziehen eines Korkens von sich geben, ihren Weibchen durchaus nicht bizarr, und das ist das einzig Entscheidende. In manchen Fällen haben die Vogelweibchen offenbar zufällig die gleichen Vorstellungen von Schönheit wie wir, und dann ist die Folge ein Pfau oder ein Paradiesvogel. Der Gesang der Nachtigall, der Schwanz eines Fasans, das Aufblitzen der Glühwürmchen und die Regenbogenfarben der Fische an tropischen Korallenriffen - all das sind Maximierungen der Schönheit. Aber die Schönheit dient nicht - oder nur zufällig - dazu, die Menschen zu erfreuen. Wenn wir das Schauspiel genießen, ist das eine Zugabe, ein Nebeneffekt. Gene, die ein Männchen für das Weibchen attraktiver machen, werden automatisch mit dem digitalen Fluß in die Zukunft getragen. Es gibt nur eine Nutzenfunktion, durch die solche Schönheiten sinnvoll werden; es ist die gleiche, die auch das Geschlechterverhältnis der See-Elefanten bestimmt, Geparden und Antilopen scheinbar nutzlos um die Wette laufen läßt sowie dem Kuckuck und der Laus, den Augen und Ohren und Luftröhren, den sterilen Arbeiterinnen und den äußerst fruchtbaren Bienenköniginnen ihre Eigenschaften verleiht. Die große universelle Nutzenfunktion, die Größe, die in jedem Winkel der belebten Natur gewissenhaft maximiert wird, 137
ist in allen Fällen das Überleben der DNA, die für die fraglichen Eigenschaften verantwortlich ist. Der Pfau ist mit soviel schwerem, sperrigem Schmuck beladen, daß seine Möglichkeiten, etwas Nützliches zu tun, ernsthaft behindert wären, selbst wenn er sich zu nützlicher Tätigkeit bemüßigt fühlte - was im großen und ganzen nicht der Fall ist. Männliche Singvögel verwenden gefährlich viel Zeit und Energie auf das Singen. Das setzt sie mit Sicherheit einer Bedrohung aus, nicht nur weil es natürliche Feinde anlockt, sondern auch weil es Energie verbraucht und Zeit in Anspruch nimmt, die der Vogel sonst zum Auffüllen seiner Energiereserven nutzen könnte. Ein Biologe, der sich mit Zaunkönigen beschäftigt hatte, behauptete einmal, eines seiner wilden Männchen habe sich buchstäblich zu Tode gesungen. Jede Nutzenfunktion, die das langfristige Wohlergehen der Art oder auch das dauerhafte Überleben des jeweiligen Männchens zum Ziel hat, würde das Ausmaß des Gesanges, des Imponiergehabes oder der Kämpfe zwischen den männlichen Vögeln einschränken. In Wirklichkeit wird aber das Überleben der DNA maximiert, und deshalb kann nichts die Ausbreitung von DNA aufhalten, die keinen anderen Nutzeffekt hat als dafür zu sorgen, daß die Männchen den Weibchen schön erscheinen. Schönheit ist selbst keine absolute Tugend. Aber wenn ein paar Gene den Männchen irgendeine Eigenschaft verleihen, die für die Weibchen begehrenswert ist, werden diese Gene nolens volens überleben. Warum sind die Bäume im Wald so groß? Ganz einfach: um die konkurrierenden Bäume zu überragen: Eine »sinnvolle« Nutzenfunktion würde dafür sorgen, daß sie alle klein bleiben. Dann würden sie genau die gleiche Menge Sonnenlicht aufnehmen, und das mit wesentlich weniger Aufwand für dicke Stämme und gewaltige Stützstrukturen. Aber wenn sie alle kurz wären, müßte die natürliche Selektion zwangsläufig eine Variante begünstigen, die ein wenig länger wird. Und 138
wenn der Vorreiter größer ist, müssen die anderen ihm auf dem Fuße folgen. Das ganze Spiel der Eskalation setzt sich unaufhaltsam fort, bis schließlich alle Bäume lächerlich und verschwenderisch groß sind. Aber lächerlich und verschwenderisch ist es nur vom Standpunkt eines rational-wirtschaftlich planenden Denkens aus, bei dem es um die Maximierung der Effizienz geht. Durchaus sinnvoll ist es dagegen, wenn man die wahre Nutzenfunktion der Bäume versteht: Die Gene maximieren ihr eigenes Überleben. Vergleiche aus dem Alltagsleben gibt es zur Genüge. Auf einer Cocktailparty schreit man sich heiser. Warum? Weil alle anderen auch so laut wie möglich reden. Wenn alle Gäste sich darauf einigen könnten, nur noch zu flüstern, würden sie einander genausogut verstehen, und das mit wesentlich weniger Stimmanstrengung und Energieverbrauch. Aber solche Übereinkünfte funktionieren nur dann, wenn sie überwacht werden. Irgend jemand bringt sie immer zu Fall, indem er aus Egoismus ein wenig lauter redet, und nun müssen die anderen nacheinander mitziehen. Ein stabiles Gleichgewicht stellt sich erst dann ein, wenn alle so laut reden, wie es ihnen körperlich möglich ist, und dann ist die Lautstärke viel größer, als es unter »rationalen« Gesichtspunkten notwendig wäre. Immer wieder werden Beschränkungen, die der Kooperation dienen, Opfer ihrer inneren Instabilität. Gottes Nutzenfunktion erweist sich nur selten als größtmöglicher Nutzen für die größtmögliche Zahl. Gottes Nutzenfunktion verrät immer wieder ihre Herkunft aus einem unkoordinierten Durcheinander, in dem es um egoistischen Gewinn geht. Die Menschen neigen oft zu der liebenswerten Annahme, Wohlergehen bedeute Wohlergehen der Gruppe, »Gutes« sei gut für die Gesellschaft, für das zukünftige Wohl der Spezies oder sogar des Ökosystems. Aber Gottes Nutzenfunktion, die sich aus der Untersuchung aller Haken und Ösen der natürlichen Selektion ergibt, erweist sich leider als unvereinbar mit 139
solchen utopischen Vorstellungen. Sicher, in manchen Fällen maximieren die Gene das egoistische Wohlergehen auf ihrer eigenen Ebene, indem sie dafür sorgen, daß das Lebewesen auf seiner Ebene selbstlos kooperiert oder sich sogar opfert. Aber das Wohlergehen der Gruppe ist immer eine zufällige Folge und kein vorrangiger Antrieb. Das ist die Bedeutung des Begriffs vom »egoistischen Gen«. Ich möchte noch einen anderen Gesichtspunkt von Gottes Nutzenfunktion betrachten und beginne dazu mit einer Analogie. Der darwinistische Psychologe Nicholas Humphrey berichtete etwas Aufschlußreiches über Henry Ford. Er sagte, angeblich habe Ford, der Schutzheilige der Produktionseffizienz, einmal eine Untersuchung über Autopannen in den USA in Auftrag gegeben, um herauszufinden, ob es am Modell T Teile gab, die nie versagten. Seine Mitarbeiter lieferten Berichte über alle möglichen Pannenursachen: Achsen, Bremsen, Kolben - alles konnte kaputtgehen. Aber sie machten auch auf eine bemerkenswerte Ausnahme aufmerksam: Die Achsschenkelbolzen der defekten Autos hatten stets noch mehrere Lebensjahre vor sich. Mit erbarmungsloser Logik zog Ford daraus den Schluß, die Achsschenkelbolzen seien für ihre Aufgaben zu gut, und er ordnete an, daß ihre Herstellung von nun an geringeren Anforderungen genügen solle. Vielleicht wissen Sie, wie ich, nicht genau, was Achsschenkelbolzen sind, aber das spielt keine Rolle. Sie sind ein unentbehrlicher Teil eines Autos, und Fords angebliche Erbarmungslosigkeit war tatsächlich völlig logisch. Die Alternative hätte darin bestanden, alle anderen Bauteile zu verbessern, so daß sie dem Standard der Achsschenkelbolzen entsprachen. Aber dann hätte er kein Modell T hergestellt, sondern einen 140
Rolls-Royce, und das war nicht der Zweck der Übung. Einen Rolls-Royce herzustellen, ist eine ansehnliche Aufgabe, und das gleiche gilt für ein Modell T, aber der Preis ist ein anderer. Man muß dafür sorgen - und das ist der springende Punkt -, daß das ganze Auto entweder nach Rolls-Royce- oder nach Modell-T-Anforderungen gebaut wird. Produziert man ein Mischmodell, bei dem manche Teile die Qualität eines Modell T und andere die eines Rolls-Royce haben, bekommt man von beiden die schlechteste Seite, denn der Wagen wird verschrottet, wenn das schwächste Teil seinen Dienst versagt, und das Geld für die hochwertigeren Teile, die sich niemals bis zu Ende abnutzen, ist schlicht und einfach vergeudet. Fords Lehre trifft auf Lebewesen noch stärker zu als auf Autos, denn bei einem Auto kann man defekte Teile innerhalb gewisser Grenzen ersetzen. Kleinaffen und Gibbons suchen sich ihren Lebensunterhalt in den Baumkronen, und dabei besteht immer die Gefahr, daß sie herunterfallen und sich die Knochen brechen. Angenommen, wir geben eine Untersuchung an Affenleichen in Auftrag, weil wir wissen wollen, wie oft die wichtigsten Knochen im Körper gebrochen sind. Nehmen wir weiterhin an, es stellt sich dabei heraus, daß jeder Knochen irgendwann einmal bricht, mit einer Ausnahme: Das Wadenbein (das ist der Knochen im Unterschenkel, der parallel zum Schienbein verläuft) ist bei keinem der untersuchten Affen gebrochen. Henry Ford würde unverzüglich fordern, das Wadenbein nach Maßgabe geringerer Anforderungen zu konstruieren, und genau das würde auch die natürliche Selektion tun. Mutierte Individuen mit einem minderwertigen Wadenbein - es könnte entstehen, weil während des Wachstums kostbares Calcium aus diesem Knochen abgezogen wird könnten das eingesparte Material zur Verstärkung anderer Knochen verwenden und so den Idealzustand erreichen, in dem alle Knochen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit brechen. Oder die mutierten Individuen könnten das eingesparte 141
Calcium einsetzen, um mehr Milch zu produzieren und mehr Junge großzuziehen. Dem Wadenbein kann gefahrlos Knochensubstanz entzogen werden, jedenfalls so lange, bis es ebenso leicht bricht wie der zweithaltbarste Knochen. Die andere Möglichkeit - das Rolls-Royce-Prinzip, wonach alle anderen Teile auf den Qualitätsstandard des Wadenbeins gebracht werden - ist schwieriger zu verwirklichen. Ganz so einfach ist die Rechnung in Wirklichkeit nicht, denn manche Knochen sind wichtiger als andere. Ich nehme an, ein Klammeraffe kann mit einem gebrochenen Fersenknochen eher überleben als mit einem gebrochenen Arm, und deshalb sollte man nicht erwarten, daß die natürliche Selektion buchstäblich bei allen Knochen für die gleiche Bruchwahrscheinlichkeit sorgt. Aber die wichtigste Lehre, die wir aus der Geschichte von Henry Ford ziehen können, ist zweifellos richtig. Ein Körperteil eines Tiers kann durchaus zu gut sein, und dann sollte man erwarten, daß die natürliche Selektion eine Qualitätsabnahme begünstigt, allerdings nur bis zum Gleichgewicht mit der Qualität der anderen Teile und nicht darüber hinaus. Genauer gesagt, sorgt die natürliche Selektion in beiden Richtungen für einen Qualitätsausgleich, bis sich alle Körperteile in einem angemessenen Gleichgewicht befinden. Besonders einfach ist dieses Gleichgewicht zu erkennen, wenn es sich zwischen zwei recht unterschiedlichen Aspekten des Lebens einstellt, zum Beispiel zwischen dem Überleben des Pfauenmännchens und seiner Schönheit in den Augen des weiblichen Vogels. Nach Darwins Theorie ist das Überleben immer nur ein Mittel zum Zweck der Genfortpflanzung, aber das hält uns nicht davon ab, am Körper diejenigen Teile, die vorwiegend mit dem Überleben zu tun haben (zum Beispiel die Beine) von anderen zu unterscheiden, die wie der Penis vor allem der Fortpflanzung dienen. Oder wir nehmen Geweihe und ähnliche Gebilde, die im Konkurrenzkampf zwischen den Individuen eine Rolle spielen, von anderen, wie 142
Beinen oder Penis, aus, deren Bedeutung nicht davon abhängt, ob Konkurrenten vorhanden sind. Viele Insekten zeigen eine strenge Trennung zwischen ihren völlig unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Raupen sind darauf ausgerichtet, Nahrung aufzunehmen und zu wachsen. Schmetterlinge widmen sich wie die Blüten, die sie besuchen, der Fortpflanzung. Sie wachsen nicht und saugen den Nektar nur, um ihn sofort als »Flugbenzin« zu verbrennen. Wenn einem Schmetterling die Fortpflanzung gelingt, verbreitet er nicht nur die Gene für einen gut fliegenden und sich paarenden Schmetterling, sondern auch die für die wirksam fressende Raupe, die er früher war. Eintagsfliegen leben als Larven bis zu drei Jahre lang im Wasser. Wenn sie dann als ausgewachsene Fliegen schlüpfen, bemißt sich ihr Leben nur noch nach Stunden. Viele von ihnen werden von Fischen gefressen, aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, würden sie ohnehin bald sterben, denn sie können keine Nahrung aufnehmen, ja sie besitzen noch nicht einmal einen Darm (Henry Ford wäre von ihnen begeistert gewesen). Sie haben die Aufgabe, so lange zu fliegen, bis sie auf einen Paarungspartner treffen. Nachdem sie dann ihre Gene weitergegeben haben - einschließlich der Gene für die Larve, die unter Wasser sehr gut drei Jahre lang überleben kann -, sterben sie. Eine Eintagsfliege ist wie ein Baum, der jahrelang wächst, um dann einen einzigen herrlichen Tag lang zu blühen und anschließend abzusterben. Die erwachsene Eintagsfliege ist die Blüte, die am Ende des alten und Anfang des neuen Lebens kurze Zeit aufblüht. Ein junger Lachs schwimmt den Fluß, in dem er geboren wurde, stromabwärts und verbringt den größten Teil seines Lebens fressend und wachsend im Meer. Wenn er geschlechtsreif ist, sucht er - vermutlich anhand des Geruches - die Mündung seines Heimatflusses. In einer heldenhaften und oft gepriesenen Wanderung schwimmt er stromaufwärts, springt über Wasserfälle und Stromschnellen bis nach Hause zu dem 143
Oberlauf, aus dem er einst gekommen ist. Dort laicht er, und der Kreislauf beginnt von neuem. An dieser Stelle gibt es einen charakteristischen Unterschied zwischen Atlantik- und Pazifiklachsen. Der Atlantiklachs kann nach dem Laichen ins Meer zurückkehren, und es besteht eine gewisse Aussicht, daß er den Zyklus noch einmal durchmacht. Pazifiklachse sterben erschöpft wenige Tage nach der Eiablage. Der typische Pazifiklachs gleicht einer Eintagsfliege, nur zeigt er in seinem Lebenslauf nicht die klare anatomische Trennung zwischen Larven- und Erwachsenenstadium. Stromaufwärts zu schwimmen, ist so mühsam, daß er es kein zweites Mal schafft. Deshalb begünstigt die natürliche Selektion diejenigen Individuen, die jedes Gramm ihrer Ressourcen in die eine große Fortpflanzungsanstrengung stecken. Alle Vorräte, die danach noch übrigbleiben, sind verschwendet - ganz ähnlich wie Henry Fords zu gut konstruierte Achsschenkelbolzen. Die Evolution hat das Überleben der Pazifiklachse nach der Fortpflanzung bis auf Null zurückgeschraubt; ihre Ressourcen werden in Ei- oder Samenzellen umgeleitet. Die Atlantiklachse haben den anderen Evolutionsweg eingeschlagen. Bei ihnen können Individuen, die noch Ressourcen für einen zweiten Vermehrungszyklus zurückbehalten haben, gut zurechtkommen - vielleicht weil sie im allgemeinen kürzere Flüsse überwinden müssen, die in weniger hohen Gebirgen entspringen. Dafür zahlen die Atlantiklachse aber den Preis, daß sie sich nicht so gut um die Brut kümmern können. Es besteht eine Balance zwischen Lebensdauer und Fortpflanzung, und bei den einzelnen Lachsarten haben sich unterschiedliche Gleichgewichte eingestellt. Das besondere Kennzeichen des Lebenszyklus der Lachse ist die grausame Wanderung, die einen Bruch darstellt. Es gibt keinen allmählichen Übergang zwischen einer und zwei Paarungszeiten. Wer eine zweite auf sich nimmt, vermindert die Effizienz der ersten drastisch. Die Pazifiklachse sind durch die Evolution unwider144
ruflich auf eine Paarungszeit festgelegt; die Folge ist, daß ein Individuum unmittelbar nach seiner einzigen gigantischen Laichanstrengung unausweichlich zugrunde geht. Eine ähnliche Balance kennzeichnet alle Lebensformen, aber meist ist sie nicht so dramatisch. Unser eigener Tod ist wahrscheinlich in einem ähnlichen Sinn vorprogrammiert wie bei den Lachsen, nur nicht so offenkundig und eindeutig. Ein Eugeniker könnte zweifellos eine Rasse übermäßig langlebiger Menschen züchten. Dazu würde man solche Personen kreuzen, die den größten Teil ihrer Ressourcen auf Kosten ihrer Nachkommen in den eigenen Körper stecken, beispielsweise Menschen, deren Knochen besonders kräftig sind und die deshalb wenig Calcium für die Milchproduktion übrig haben. Ein wenig länger zu leben, ist einfach, wenn man sich auf Kosten der nächsten Generation hätscheln läßt. Der Eugeniker könnte das Hätscheln übernehmen und die Balance zugunsten einer höheren Lebensdauer ausnutzen. Die Natur hätschelt nicht auf diese Weise, denn Gene für Geiz gegenüber den Nachkommen gelangen nicht in die Zukunft. Die Nutzenfunktion der Natur wertet die Langlebigkeit nicht um ihrer selbst willen, sondern nur im Hinblick auf zukünftige Fortpflanzung. Für ein Tier, das sich wie wir, aber anders als der Pazifiklachs mehrmals fortpflanzt, besteht die Balance zwischen dem jetzigen Kind (oder Wurf) und zukünftigen Kindern. Ein Kaninchen, das seine gesamten Ressourcen seinem ersten Wurf widmet, hätte wahrscheinlich beim ersten Mal kräftigere Junge. Aber für das Austragen eines zweiten Wurfes wären dann keine Reserven mehr übrig. Deshalb breiten sich die Gene für eine Reserve im Körper der Tiere aus zweiten und dritten Würfen in der Kaninchenpopulation aus. In der Population der Pazifiklachse konnten sich solche Gene ganz offensichtlich nicht durchsetzen, weil zwischen einem und zwei Laichzyklen eine so große praktische Hemmschwelle steht. 145
Die Wahrscheinlichkeit, daß wir im kommenden Jahr sterben, nimmt im Laufe unseres Lebens zunächst ab, bleibt dann eine Zeitlang gleich und setzt schließlich zu einem langen Anstieg an. Was geschieht in dieser Phase der langsam wachsenden Sterblichkeit? Es ist im wesentlichen das gleiche Prinzip wie beim Pazifiklachs, nur ist es hier nicht auf eine kurze, überstürzte Sterbeorgie nach der kurzen Laichorgie zusammengedrängt, sondern über einen längeren Zeitraum verteilt. Der erste, der sich genauer mit der Evolution des Alterns beschäftigte, war Anfang der fünfziger Jahre der Nobelpreisträger und Medizinwissenschaftler Sir Peter Medawar; seine grundlegende Idee wurde später von den angesehenen Darwinisten G. C. Williams und W. D. Hamilton in verschiedenen Punkten abgewandelt. Im wesentlichen geht es dabei um folgende Überlegung: Wie wir im ersten Kapitel erfahren haben, wird jeder genetische Einfluß in der Regel zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Organismus wirksam. Viele Gene werden schon im jungen Embryo angeschaltet, aber andere - beispielsweise das Gen für Chorea Huntington, die Krankheit, die den Volksdichter und Sänger Woody Guthrie auf so tragische Weise dahinraffte - entfalten ihre Aktivität erst im mittleren Alter. Und zweitens können die Einzelheiten eines genetischen Einflusses, einschließlich des Zeitpunkts, zu dem er seine Wirkung entfaltet, von anderen Genen modifiziert werden. Ein Mensch, der das Gen für Chorea Huntington trägt, kann damit rechnen, an der Krankheit zu sterben, aber ob das mit vierzig oder mit fünfundfünfzig geschieht (so alt war Woody Guthrie), hängt wahrscheinlich von anderen Genen ab. Durch die Selektion solcher »Modifikationsgene« kann also die Wirkung eines bestimmten Gens in entwicklungsgeschichtlichen Zeiträumen verlangsamt oder beschleunigt werden. Ein Gen wie das für Chorea Huntington, das erst zwischen dem vierzigsten und fünfundfünfzigsten Lebensjahr ange146
schaltet wird, hat eine Menge Gelegenheiten, in die nächste Generation zu gelangen, bevor es seinen Besitzer umbringt. Würde es dagegen schon mit zwanzig Jahren aktiv, könnte es nur von Menschen weitergegeben werden, die sich in sehr jungen Jahren fortpflanzen, und deshalb wäre es in der Selektion stark benachteiligt. Und wenn es seine Tätigkeit bereits im zehnten Lebensjahr aufnimmt, wird es praktisch nie weitergegeben. Die natürliche Selektion begünstigt also Modifikationsgene, die den Zeitpunkt, zu dem das Gen für Chorea Huntington angeschaltet wird, möglichst weit hinausschieben. Nach der Theorie von Medawar und Williams ist das der Grund, warum die Krankheit erst im mittleren Alter ausbricht. Früher war es vielleicht ein Gen, das früh aktiv wurde, aber die natürliche Selektion begünstigte den Aufschub seiner tödlichen Wirkung auf ein mittleres Lebensalter. Zweifellos besteht ein geringer Selektionsdruck zugunsten der Verschiebung in ein noch höheres Alter, aber er ist nur schwach, weil nur wenige Betroffene sterben, bevor sie Nachkommen gezeugt und das Gen weitervererbt haben. Das Gen für Chorea Huntington ist ein besonders eindeutiges Beispiel für ein tödliches (»letales«) Gen. Viele andere Gene wirken selbst nicht tödlich, sorgen aber mit ihren Wirkungen dafür, daß man mit höherer Wahrscheinlichkeit aus anderen Ursachen stirbt. Solche Gene nennt man subletal. Auch bei ihnen dürften Modifikationsgene den Zeitpunkt der Aktivierung beeinflussen, so daß diese von der natürlichen Selektion entweder hinausgeschoben oder beschleunigt wird. Wie Medawar erkannte, sind die Verfallserscheinungen des fortgeschrittenen Lebensalters wahrscheinlich auf eine Anhäufung letaler und subletaler genetischer Effekte zurückzuführen, die im Lebenszyklus immer weiter nach hinten gedrängt wurden, so daß sie die Fortpflanzungsbarriere überwinden und in die nächste Generation gelangen können, einfach weil ihre Wirkung erst spät einsetzt. 147
G. C. Williams, der Altmeister der amerikanischen Darwinisten, gab der Geschichte 1957 eine weitere wichtige Wendung. Sie gründet sich auf die bereits erwähnten Überlegungen zur ökonomischen Balance. Um sie zu verstehen, brauchen wir ein paar zusätzliche Hintergrundinformationen. Ein Gen hat meist mehrere Wirkungen, und zwar oftmals auf Körperteile, die bei oberflächlicher Betrachtung sehr unterschiedlich sind. Diese »Pleiotropie« ist nicht nur eine Tatsache, sondern sie ist auch durchaus zu erwarten, denn Gene entfalten ihre Wirkung ja schon in der Entwicklung des Embryos, und die ist ein höchst komplizierter Vorgang. Jede neue Mutation wird also wahrscheinlich nicht nur einen Effekt haben, sondern mehrere. Einer davon könnte zwar nützlich sein, aber daß eine Mutation mehrere nützliche Wirkungen hat, ist unwahrscheinlich, einfach deshalb, weil die meisten Auswirkungen von Mutationen schädlich sind. Auch das ist eine Tatsache, steht andererseits aber auch zu erwarten: Wenn man von einem komplizierten, funktionierenden Mechanismus beispielsweise einem Radio - ausgeht, gibt es viel mehr Möglichkeiten, ihn schlechter zu machen, als solche, ihn zu verbessern. Wenn die natürliche Selektion ein Gen begünstigt, weil es in der Jugend einen nützlichen Effekt hat - beispielsweise indem es die sexuelle Anziehungskraft junger Männchen verstärkt -, dann gibt es meist auch eine Kehrseite. Vielleicht erzeugt es zum Beispiel im mittleren oder höheren Alter eine Krankheit. Theoretisch könnten die Wirkungen auch anders herum verteilt sein, aber nach Medawars Überlegung wird die natürliche Selektion eine Krankheit in jungen Jahren kaum begünstigen, nur weil dasselbe Gen sich in höherem Alter positiv auswirkt. Außerdem kann man auch hier die These von den Modifikationsgenen heranziehen. Für jeden Effekt eines Gens, gut oder schlecht, kann sich der Zeitpunkt der Aktivierung in der weiteren Evolution ändern. Nach dem Medawar148
Prinzip würde er sich bei nützlichen Wirkungen immer mehr in die frühe Lebenszeit verlagern, für schädliche Effekte würde er dagegen hinausgeschoben. Außerdem gäbe es in manchen Fällen eine unmittelbare Balance zwischen positiven und negativen Wirkungen. Das ergab sich schon aus der Geschichte von den Lachsen: Wenn ein Tier nur eine begrenzte Menge von Ressourcen verbrauchen kann, um beispielsweise kräftig zu werden, so daß es sich bei Gefahr mit einem Sprung retten kann, wird jede Neigung, diese Ressourcen frühzeitig zu verbrauchen, gegenüber ihrer späteren Verwendung begünstigt. Wer sie erst in höherem Alter einsetzt, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit aus anderen Ursachen sterben, bevor er seine Ressourcen nutzen kann. Medawars allgemeine Aussage läßt sich auch in einer Art Umkehrung der Begriffe fassen, die wir im ersten Kapitel eingeführt haben: Jeder entstammt einer ununterbrochenen Reihe von Vorfahren, die alle einmal jung waren, aber bei weitem nicht alle ein höheres Alter erreicht haben. So erben wir alles, was zum Jungsein notwendig ist, aber nicht unbedingt alle Voraussetzungen zum Altwerden. In der Regel erben wir Gene, die uns erst lange nach unserer Geburt sterben lassen, aber nicht solche, die schon nach kurzer Zeit den Tod herbeiführen. Kehren wir noch einmal zum pessimistischen Anfang dieses Kapitels zurück: Wenn die Nutzenfunktion - die Größe, die maximiert wird - das Überleben der DNA ist, so ist das kein Rezept für das Glück. Solange die DNA weitergegeben wird, spielt es keine Rolle, wer oder was dabei verletzt wird. Für Darwins Dolchwespen ist es besser, daß die Raupe am Leben bleibt und frisch ist, wenn sie gefressen wird, gleichgültig wie hoch dabei der Tribut des Leidens ist. Gene kümmern sich nicht um Leid, denn sie kümmern sich um überhaupt nichts. Wäre die Natur freundlich, würde sie zumindest ein kleines Zugeständnis machen und die Raupe betäuben, bevor sie bei lebendigem Leibe von innen heraus aufgefressen wird. Aber 149
die Natur ist weder freundlich noch unfreundlich. Sie interessiert sich weder auf die eine noch auf die andere Weise für Leid, solange das Überleben der DNA nicht beeinträchtigt wird. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen, das beispielsweise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödlichen Biß zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein solches Gen fördern? Nein, es sei denn, durch die Beruhigung der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Gen an zukünftige Generationen weitergegeben wird. Warum das geschehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir annehmen, daß Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste erdulden, wenn sie zu Tode gejagt werden - und dieses Schicksal steht den meisten von ihnen bevor. Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; wieder andere werden langsam und von innen heraus durch gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet; Tausende von Lebewesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten. Das muß so sein. Jedesmal, wenn es irgendwo einen Überfluß gibt, führt das automatisch zu einem Anstieg der Population, bis der natürliche Zustand von Hunger und Elend wiederhergestellt ist. Die Theologen quälen sich unaufhörlich mit dem »Problem des Bösen« und einem damit zusammenhängenden »Problem des Leidens« herum. An dem Tag, als ich diesen Abschnitt erstmals zu Papier brachte, stand in den britischen Zeitungen ein entsetzlicher Bericht über einen mit Kindern besetzten Bus einer römisch-katholischen Schule, der ohne ersichtlichen Grund verunglückt war. Der Unfall hatte viele Menschenleben gekostet. Und wieder einmal schlugen sich die Geistlichen mit der theologischen Frage herum, die der Korrespondent einer Londoner Zeitung (The Sunday Telegraph) so for150
mulierte: »Wie kann man an einen liebenden, allmächtigen Gott glauben, wenn Er eine solche Tragödie zuläßt?« In dem Artikel wurde auch die Antwort eines Priesters zitiert: »Die einfache Antwort ist, daß wir nicht wissen, warum es einen Gott geben sollte, der solche entsetzlichen Dinge geschehen läßt. Aber der schreckliche Unfall bestätigt für einen Christen die Tatsache, daß wir in einer Welt wirklicher Werte leben, positiver und negativer. Bestünde das Universum nur aus Elektronen, gäbe es kein Problem des Bösen oder des Leidens.« Im Gegenteil: Wenn das Universum nur aus Elektronen und egoistischen Genen bestünde, wären sinnlose Tragödien wie dieses Busunglück genau das, was wir erwarten würden, zusammen mit einem ebenso sinnlosen glücklichen Zufall. Ein solches Universum hätte weder gute noch schlechte Absichten. Es würde überhaupt keine Absichten zeigen. In einem Universum mit blinden physikalischen Kräften und genetischer Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, andere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Verstand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit. Oder, wie der unglückliche Dichter A. E. Housman es formulierte: Die geist- und herzlose Natur Wird weder wissen noch sich sorgen. Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife.
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Die Replikationsbombe
Die meisten Sterne - unsere Sonne ist ein typischer Vertreter scheinen mehrere Milliarden Jahre lang sehr gleichmäßig. In sehr seltenen Fällen jedoch flammt ein Stern irgendwo in der Milchstraße plötzlich ohne Vorwarnung auf und wird zur Supernova. Innerhalb weniger Wochen nimmt seine Helligkeit um das Milliardenfache zu; anschließend verlischt er und wird zu einem dunklen Überrest seiner selbst. In den wenigen Tagen als Supernova dürfte ein Stern mehr Energie abgeben als in den gesamten Hunderten von Jahrmillionen als gewöhnlicher Stern. Wenn unsere eigene Sonne zur Supernova würde, müßte das gesamte Sonnensystem in wenigen Augenblicken verdampfen. Glücklicherweise ist das sehr unwahrscheinlich. In unserer Galaxis mit ihren rund hundert Milliarden Sternen haben die Astronomen nur drei Supernovae beobachtet, und zwar in den Jahren 1054, 1572 und 1604. Der Krebs-Nebel ist das Überbleibsel des Ereignisses von 1054, das von chinesischen Astronomen aufgezeichnet wurde. (Wenn ich »das Ereignis von 1054« sage, meine ich natürlich das Ereignis, das man 1054 auf der Erde sehen konnte. Der Vorgang selbst spielte sich sechstausend Jahre früher ab, aber die Lichtwellen von dort erreichten uns in dem genannten Jahr.) 153
Seit 1604 hat man Supernovae nur noch in anderen Galaxien beobachtet. Ein Stern kann aber auch eine Explosion anderer Art durchmachen. Statt zur Supernova zu werden, wird er zur Information. Diese Explosion beginnt langsamer als eine Supernova und braucht unendlich viel länger, um sich zu entfalten. Man kann sie Informationsbombe oder aus Gründen, die im folgenden deutlich werden sollten, Replikationsbombe nennen. Während der ersten Jahrmilliarden ihrer Entwicklung bemerkt man die Replikationsbombe nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Später sickern geringfügige Anzeichen der Explosion auch in weiter entfernte Bereiche des Weltraumes, und zuletzt ist sie zumindest theoretisch auch in großem Abstand auszumachen. Wie eine solche Explosion zu Ende geht, wissen wir nicht. Vermutlich verlischt sie schließlich wie eine Supernova, aber wir haben keine Ahnung, wie weit sie sich zuvor im Normalfall aufbaut. Vielleicht bis zu einer gewalttätigen, selbstzerstörerischen Katastrophe. Vielleicht bis eher sanft und immer wieder Gegenstände ausgesandt werden, die sich nicht auf einer einfachen ballistischen Bahn, sondern gelenkt von dem Stern wegbewegen und in weiter entfernte Raumbereiche vordringen, wo sie vielleicht anderen Sternsystemen die gleiche Tendenz zur Explosion übertragen. Über die Replikationsbomben im Universum wissen wir so wenig, weil wir nur ein einziges Beispiel gesehen haben, und ein Beispiel reicht niemals aus, um über ein Phänomen allgemeine Aussagen zu machen. Und unsere einzige Fallgeschichte läuft noch. Sie spielt sich seit drei bis vier Milliarden Jahren ab und steht jetzt gerade an der Schwelle, aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Sterns auszubrechen. Dieser Stern ist Sol, ein gelber Zwerg, der sich eher am Rande unserer Galaxis in einem ihrer Spiralarme befindet. Wir nennen ihn Sonne. Die Explosion ging eigentlich von einem der Satel154
liten aus, die sie in geringem Abstand umkreisen, aber die Energie, welche die Explosion antreibt, stammt ausschließlich von der Sonne. Der Satellit ist natürlich die Erde, und die seit vier Milliarden Jahren andauernde Explosion, die Replikationsbombe, bezeichnen wir als Leben. Ein besonders wichtiger Ausdruck der Replikationsbombe sind wir Menschen, denn durch uns - unser Gehirn, unsere Kultur der Symbole und unsere Technik - kann die Explosion in das nächste Stadium eintreten und in den entfernteren Weltraum ausstrahlen. Wie bereits gesagt, unsere Replikationsbombe ist bisher die einzige, die wir im Universum kennen, aber das muß nicht bedeuten, daß solche Ereignisse seltener sind als Supernovae. Zugegeben, Supernovae wurden im Universum bis heute in unserer Galaxis dreimal häufiger entdeckt, aber schließlich sind sie wegen der riesigen Energiemengen, die sie abstrahlen, auch viel leichter über große Entfernungen hinweg zu sehen. Bis vor einigen Jahrzehnten, als die ersten von Menschen erzeugten Radiowellen von der Erde ausgingen, wäre unsere Lebensexplosion selbst Beobachtern auf recht nahe gelegenen Planeten verborgen geblieben. Ihr einziger auffälliger Ausdruck wäre bis vor kurzem wahrscheinlich das Große Barriereriff gewesen. Eine Supernova ist eine riesige und sehr plötzliche Explosion. Jede Explosion wird dadurch ausgelöst, daß irgendeine Größe einen kritischen Wert überschreitet; danach eskaliert alles und gerät außer Kontrolle, so daß die Folgen viel größer sind als der Auslöser. Das Ereignis, das eine Replikationsbombe auslöst, ist die spontane Entstehung sich selbst verdoppelnder (replizierender) und gleichzeitig wandelbarer Entitäten. Der Grund dafür, daß die Selbstverdoppelung ein potentiell explosives Phänomen ist, ist derselbe wie für jede andere Explosion: exponentielles Wachstum - je mehr vorhanden ist, desto mehr kommt hinzu. Aus einem selbstreplizierenden 155
Gegenstand werden schon nach kurzer Zeit zwei. Dann stellt jeder der beiden wieder eine Kopie von sich selbst her, und es sind vier. Dann acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig... Nach nur dreißig derartigen Generationen der Verdoppelung hat man schon mehr als eine Milliarde selbstreplizierende Gebilde... Nach fünfzig Generationen sind es tausend Millionen Millionen. Und nach zweihundert Generationen hat man eine Million Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen. Jedenfalls theoretisch. In der Praxis kann es nicht soweit kommen, denn diese Zahl ist größer als die Zahl der Atome im Universum. Der explosive Vorgang des Selbstkopierens muß begrenzt werden, lange bevor zweihundert Generationen der ungehinderten Verdoppelung abgelaufen sind. Für das Replikationsereignis, das die Vorgänge auf diesem Planeten in Gang setzte, haben wir keine unmittelbaren Indizien. Wir können nur schließen, daß es stattgefunden haben muß, weil sich die Explosion entfaltet hat, zu der auch wir gehören. Wie das entscheidende Anfangsereignis, der Beginn der Selbstverdoppelung, im einzelnen ausgesehen hat, wissen wir nicht genau, aber wir können schließen, was es für ein Vorgang gewesen sein muß. Es begann als ein chemisches Ereignis. Chemie ist ein Schauspiel, das in allen Sternen und auf allen Planeten gespielt wird. Seine Darsteller sind Atome und Moleküle. Selbst die seltensten Atome sind nach den uns geläufigen Maßstäben des Zählens äußerst zahlreich. Nach einer Berechnung von Isaac Asimov beträgt die Zahl der Atome des seltenen Elements Astat-215 in Nord- und Südamerika bis in eine Tiefe von zehn Meilen »nur eine Billion«. Die chemischen Grundbausteine wechseln ständig die Partner und bilden eine sich wandelnde, aber immer sehr große Population größerer Einheiten - der Moleküle. Trotz ihrer gewaltigen Zahl sind Moleküle - anders als beispielsweise Tiere einer bestimmten 156
Art oder Stradivari-Violinen - immer völlig identisch. Die atomaren Tanzfiguren der Chemie führen dazu, daß manche Moleküle auf der Welt häufiger und andere seltener werden. Als Biologe ist man natürlich versucht, die Moleküle, die in der Population zahlreicher werden, als »erfolgreicher« zu bezeichnen. Aber es ist nicht hilfreich, wenn man dieser Versuchung nachgibt. Erfolg im aufschlußreichen Sinn des Wortes ist eine Eigenschaft, die sich erst in einem späteren Stadium unserer Geschichte entwickelt. Was war also jenes folgenschwere kritische Ereignis, das die Explosion des Lebens auslöste? Ich habe schon gesagt, daß es in der Entstehung selbstverdoppelnder Entitäten bestand, aber ebensogut könnte man von der Entstehung der Vererbung sprechen, eines Vorganges nach dem Muster »Gleiches bringt Gleiches hervor«. Moleküle zeigen ein solches Verhalten in der Regel nicht. Wassermoleküle bilden zwar riesige Populationen, aber nichts an ihnen erinnert auch nur entfernt an echte Vererbung. Auf den ersten Blick könnte man so etwas annehmen. Die Population der Wassermoleküle (H2O) nimmt zu, wenn Wasserstoff (H) mit Sauerstoff (O) verbrennt, und sie schrumpft, wenn Wasser durch Elektrolyse in Wasserstoff- und Sauerstoffbläschen gespalten wird. Aber obwohl es unter den Wassermolekülen eine Art Populationsdynamik gibt, findet man keine Vererbung. Die Mindestbedingung für eine Art der Vererbung wären zwei verschiedene Arten von H2O-Molekülen, die jeweils Kopien ihres eigenen Typs hervorbrächten. Manche Moleküle kommen in zwei spiegelbildlichen Formen vor. Es gibt beispielsweise zwei Arten von Glucosemolekülen, in denen die gleichen Atome auf die gleiche Weise verknüpft sind, nur mit dem Unterschied, daß die Moleküle Spiegelbilder sind. Das gleiche gilt für andere Zuckermoleküle sowie für viele weitere Verbindungen einschließlich der lebenswichtigen Aminosäuren. Hier läge vielleicht eine Gelegenheit für das Prinzip »Gleiches bringt Gleiches hervor«, 157
also für chemische Vererbung. Könnten rechtshändige Moleküle rechtshändige Tochtermoleküle erzeugen, während linkshändige nur linkshändige »Nachkommen« erzeugen? Zunächst einmal ein paar Hintergrundinformationen über spiegelbildlich gebaute Moleküle. Entdeckt wurde das Phänomen im 19. Jahrhundert von dem großen französischen Wissenschaftler Louis Pasteur. Er nahm Kristalle des Tartrats, eines Salzes der Weinsteinsäure, die bei der Weinbereitung von großer Bedeutung ist. Ein Kristall ist ein festes Gebilde, groß genug, daß man es mit bloßem Auge sehen und in manchen Fällen als Schmuck am Hals tragen kann. Er entsteht, wenn gleichartige Atome oder Moleküle sich übereinandertürmen und eine feste Masse bilden. Sie lagern sich dabei nicht in einem wilden Durcheinander zusammen, sondern in geometrischer Anordnung wie perfekt gedrillte Wachsoldaten mit gleicher Körpergröße. Die Moleküle, die sich bereits im Kristall befinden, bilden eine Vorlage für die Anlagerung der neuen Moleküle, die aus einer wäßrigen Lösung stammen und sich genau einpassen. Auf diese Weise wächst der ganze Kristall als genau geordnetes geometrisches Gitter. Das ist der Grund, warum Kochsalzkristalle quadratische Flächen haben und Diamanten tetraedrisch (rautenförmig) geformt sind. Wenn eine Form als Vorlage zum Aufbau einer neuen, gleichartigen Form dient, haben wir einen Hauch von Selbstverdoppelung. Zurück zu den Tartratkristallen. Pasteur löste Tartrat in Wasser und bemerkte dann, daß zwei verschiedene Typen von Kristallen entstanden; sie waren völlig gleich, sahen aber aus wie Bild und Spiegelbild. Mühsam sortierte er die Kristalle auf zwei Haufen. Als er sie anschließend getrennt wieder auflöste, erhielt er zwei unterschiedliche Lösungen, zwei Arten von gelöstem Tartrat. Sie waren sich zwar in den meisten Eigenschaften sehr ähnlich, aber wie Pasteur herausfand, drehten sie polarisiertes Licht in unterschiedliche Richtungen. Des158
halb spricht man von rechts- und linksdrehenden Molekülen, die das polarisierte Licht im Gegenuhrzeigersinn (nach links) beziehungsweise im Uhrzeigersinn (nach rechts) drehen. Läßt man die Lösungen erneut kristallisieren, entstehen erwartungsgemäß jeweils Kristalle eines Typs, die sich zueinander spiegelbildlich verhalten. Solche spiegelbildlichen Moleküle sind tatsächlich unterschiedlich: Wie bei einem rechten und einem linken Schuh lassen sie sich auch mit noch soviel Mühe nicht so drehen, daß das eine an die Stelle des anderen treten könnte. Pasteurs ursprüngliche Lösung war eine gemischte Population aus beiden Molekültypen, und beim Kristallisieren lagerten sich jeweils nur gleiche Moleküle zusammen. Daß es zwei (oder mehr) unterschiedliche Varianten von etwas gibt, ist eine notwendige Voraussetzung für Vererbung, aber es reicht allein nicht aus. Echte Vererbung läge bei den Kristallen nur dann vor, wenn rechts- und linkshändige Kristalle sich bei einer bestimmten Größe jeweils in der Mitte teilten, so daß jede Hälfte als Vorlage dienen und wieder zur vollen Größe heranwachsen könnte. Dann hätten wir es wirklich mit einer wachsenden Population zweier konkurrierender Kristalltypen zu tun, und wir könnten von »Erfolg« sprechen: Beide Typen konkurrierten um dieselben Atome, aus denen sie sich aufbauen, und ein Typ könnte auf Kosten des anderen zahlreicher werden, weil er »besser« Kopien von sich selbst herstellen könnte. Leider haben Moleküle in ihrer überwältigenden Mehrzahl nicht diese einzigartige Eigenschaft der Vererbung. Ich sage »leider«, weil die Chemiker zu medizinischen Zwecken häufig Moleküle herstellen wollen, die beispielsweise ausschließlich linkshändig sind, und dazu würden sie die Moleküle sehr gerne »züchten«. Aber wenn Moleküle überhaupt als Vorlage für die Bildung neuer Moleküle dienen, dann in der Regel für ihr Spiegelbild, und nicht für die eigene Form. Das macht die Sache schwierig, denn wenn man von der 159
linkshändigen Form ausgeht, hat man am Ende wieder ein Gemisch aus gleichen Teilen links- und rechtshändiger Moleküle. Die auf diesem Gebiet tätigen Chemiker versuchen, die Moleküle zu überlisten, so daß sie Tochtermoleküle mit der gleichen Rechts-Links-Orientierung entstehen lassen, aber das ist nur sehr schwer zu schaffen. In einer Form, die allerdings nichts mit Rechts- oder Linkshändigkeit zu tun hat, dürfte die Natur diesen Trick schon vor vier Milliarden Jahren ganz von selbst geschafft haben, zu einer Zeit, als die Erde noch jung war, und als die Explosion, die zu Leben und Information führte, ihren Anfang nahm. Aber damit die Explosion wirklich ihren Lauf nehmen konnte, mußte mehr als nur einfache Vererbung stattfinden. Selbst wenn Moleküle zu echter Vererbung der rechts- oder linkshändigen Form in der Lage sind, kommt bei der Konkurrenz zwischen ihnen nichts Interessantes heraus, weil es nur zwei Molekültypen gibt. Hätte beispielsweise die linkshändige den Wettbewerb gewonnen, wäre die Angelegenheit damit zu Ende. Weiteren Fortschritt gäbe es nicht. Größere Moleküle können an verschiedenen Molekülteilchen eine unterschiedliche Rechts- oder Linksorientierung besitzen. Das Antibiotikum Momensin hat beispielsweise siebzehn solche Asymmetriezentren, und an jedem davon ist eine rechts- und eine linkshändige Form möglich. Multipliziert man zwei siebzehnmal mit sich selbst, erhält man 131.072, und in so vielen verschiedenen Formen kann das Molekül vorliegen. Besäßen diese 131.072 Versionen die Fähigkeit zu echter Vererbung, bei der jede Form nur Moleküle ihres eigenen Typs hervorbringt, könnte ein recht komplizierter Konkurrenzkampf einsetzen, wobei die erfolgreichsten der 131.072 Molekültypen im Laufe der Zeit in der Population immer zahlreicher würden. Aber auch das wäre nur eine eingeschränkte Form von Vererbung, denn 131.072 ist zwar eine große, aber doch begrenzte Zahl. In einer Explosion des 160
Lebens, die diesen Namen verdient, ist Vererbung zwar ebenfalls notwendig, aber in einer unbegrenzten Form, deren Ende offen ist. Mit dem Momensin haben wir, was die Vererbung der spiegelbildlichen Form angeht, das Ende der Fahnenstange erreicht. Aber Links- oder Rechtshändigkeit ist nicht der einzige Unterschied, der sich für das Kopieren im Rahmen der Vererbung eignet. Der Chemiker Julius Rebek und seine Kollegen vom Massachusetts Institute of Technology haben sich ernsthaft mit der Herstellung selbstverdoppelnder Moleküle beschäftigt. Bei den von ihnen benutzten Abwandlungen handelt es sich nicht um spiegelbildliche Formen. Sie nahmen zwei kleine Moleküle - die genauen Namen spielen keine Rolle, wir wollen sie einfach A und B nennen. Mischt man A und B in wäßriger Lösung, entsteht eine dritte Verbindung, die - richtig geraten - C heißt. Jedes Molekül von C dient als Matrize oder Gußform. Die frei in der Lösung schwimmenden A- und B-Moleküle passen in sie hinein. Jeweils ein A und ein B gelangen in der Gußform in die richtige Lage, so daß sie sich zu einem neuen Molekül von C verbinden, das genau wie das vorherige aussieht. Die C-Moleküle haften nicht aneinander sonst würde ein Kristall entstehen -, sondern trennen sich. Jetzt stehen beide C-Moleküle wiederum als Gußformen für die Bildung neuer C-Moleküle zur Verfügung, so daß ihre Zahl exponentiell anwächst. Bis hierher zeigt das System noch keine echte Vererbung, aber jetzt kommt's. Das Molekül B liegt in mehreren Formen vor, die sich alle mit A verbinden können und dabei jeweils eine andere Form von C entstehen lassen. Wir haben demnach die Verbindungen C1, C2, C3 und so weiter. Jede dieser Versionen von C dient als Vorlage für die Bildung weiterer CMoleküle des gleichen Typs. Die Population der C-Moleküle ist also uneinheitlich. Außerdem stellen die C-Moleküle ihre Tochtermoleküle nicht alle mit der gleichen Effizienz her, 161
sondern in der C-Population gibt es eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Versionen von C. Und, was noch besser ist, mit ultravioletter Strahlung kann man auch »Spontanmutationen« herbeiführen. Die neuen mutierenden Moleküle erwiesen sich als »reinerbig« und brachten Tochtermoleküle hervor, die ihnen genau glichen. Zur großen Zufriedenheit der Wissenschaftler überflügelte die neue Variante ihre Ausgangsmoleküle und gewann in der Reagenzglaswelt, in der diese Protolebewesen zu Hause waren, schnell die Oberhand. Und der Komplex aus A, B und C ist auch nicht die einzige Gruppe von Molekülen, die sich so verhält. Es gibt auch D, E und F, um ein vergleichbares Dreiersystem zu nennen. Rebeks Arbeitsgruppe konnte sogar selbstverdoppelnde Hybride aus Elementen der Gruppen A/B/C und D/E/F herstellen. Die sich wirklich selbstverdoppelnden Moleküle, die wir in der Natur kennen - die Nucleinsäuren DNA und RNA - haben weitaus reichhaltigere Variationsmöglichkeiten. Rebeks Replikator ist eine Kette aus nur zwei Gliedern, aber DNA ist ein Kettenmolekül von unbegrenzter Länge; jedes seiner vielen hundert Glieder gehört zu einem von vier Typen; und wenn ein bestimmter DNA-Abschnitt als Matrize für die Bildung eines neuen DNA-Moleküls dient, dient jeder dieser vier Bausteine als Vorlage für einen anderen der vier. Die vier Einheiten, Basen genannt, sind die Verbindungen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin, in der Regel abgekürzt als A, T, C und G. A dient immer als Matrize für T und umgekehrt, und das gleiche gilt für C und G. Für A, T, C und G ist jede nur denkbare Reihenfolge möglich, und immer wieder wird sie originalgetreu kopiert. Und da die Länge von DNA-Ketten keinen Beschränkungen unterliegt, gibt es auch unendlich viele Variationsmöglichkeiten. Das ist ein möglicher Ausgangspunkt für eine Informationsexplosion, deren Auswirkungen schließlich über ihren Heimatplaneten hinausgehen und die Sterne erreichen können. 162
Der Widerhall der Replikatorexplosion in unserem Sonnensystem beschränkte sich während des größten Teils der vier Milliarden Jahre, seit sie sich ereignete, auf ihren Heimatplaneten. Erst in der letzten Jahrmillion ist ein Nervensystem entstanden, das eine Funktechnik erfinden konnte. Und erst in den letzten Jahrzehnten hat es diese Technik tatsächlich entwickelt. Jetzt geht eine immer größer werdende Kugel aus informationstragenden Radiowellen mit Lichtgeschwindigkeit von dem Planeten aus. Ich sage »informationstragend«, weil auch schon vorher jede Menge Radiowellen durch den Kosmos vagabundierten. Sterne senden nicht nur in dem Frequenzbereich, den wir als sichtbares Licht bezeichnen, sondern auch im Bereich der Radiowellen Strahlung aus. Ein gewisses Hintergrundrauschen ist sogar vom Urknall übriggeblieben, der die Zeit und das Universum entstehen ließ. Aber diese Strahlung hat keine sinnvollen Muster. Sie trägt keine Information. Ein Radioastronom auf einem Planeten des Sterns Proxima Centauri würde das gleiche Hintergrundrauschen empfangen wie wir, aber er würde außerdem ein viel komplizierteres Muster von Radiowellen messen, das aus der Richtung unseres Sterns namens Sol kommt. Er würde darin kein Gemisch von vier Jahre alten Fernsehsendungen erkennen, aber er würde bemerken, daß es mehr Regelmäßigkeiten enthält und demnach informationsreicher ist als das übliche Hintergrundrauschen. Die Radioastronomen bei Proxima Centauri würden mit aufgeregtem Trara berichten, der Stern Sol sei in dem informationstragenden Äquivalent einer Supernova explodiert (und sie würden vermuten, daß die Explosion in Wirklichkeit von einem Planeten der Sonne ausgeht, könnten sich in dieser Frage aber nicht sicher sein). Wie wir gesehen haben, explodieren Replikationsbomben langsamer als Supernovae. Bei unserer eigenen hat es ein paar Milliarden Jahre gedauert, bis die Schwelle der Funkwellen 163
erreicht war, also der Augenblick, in dem ein Teil der Information den Ausgangsplaneten verläßt und benachbarte Sternsysteme mit Wellen der Bedeutung durchtränkt. Sollte unsere Informationsexplosion den typischen Verlauf genommen haben, kann man vermuten, daß der Vorgang eine abgestufte Reihe von Schwellen überschreitet. Die Schwelle der Funkwellen und davor die Schwelle der Sprachentwicklung werden während der Entfaltung der Replikationsexplosion erst relativ spät erreicht. Zuvor gab es - zumindest auf unserem Planeten - das, was man die Schwelle der Nervenzellen nennen könnte, und noch früher die Schwelle der Vielzeller. Die erste Schwelle, sozusagen die Urmutter aller weiteren, war die Schwelle des Replikators. Sie war der Auslöser, der die ganze Explosion überhaupt erst möglich machte. Was ist an Replikatoren so wichtig? Wie kann ein zufällig entstandenes Molekül mit der scheinbar harmlosen Eigenschaft, als Vorlage für die Herstellung eines gleichartigen Moleküls zu dienen, eine Explosion auslösen, deren Auswirkungen letztlich über den einzelnen Planeten hinausgehen? Wie wir gesehen haben, beruht die Durchschlagskraft der Replikatoren zum Teil auf dem exponentiellen Wachstum. Es ist an den Repikatoren besonders deutlich zu erkennen. Ein einfaches Beispiel ist der sogenannte Kettenbrief. Man erhält eine Postkarte mit folgendem Text: »Machen Sie sechs Kopien von dieser Karte und schicken Sie diese innerhalb einer Woche an sechs Bekannte. Wenn Sie das nicht tun, wird ein Fluch über Sie ausgesprochen, und Sie werden innerhalb eines Monats in einem entsetzlichen Todeskampf sterben.« Wer vernünftig ist, wirft so etwas in den Papierkorb. Aber ein erheblicher Prozentsatz der Menschen ist nicht vernünftig: Sie sind ein wenig verunsichert oder von der Drohung eingeschüchtert und schicken sechs Kopien an andere. Von diesen sechs fühlen vielleicht zwei sich wiederum bemüßigt, Kopien weiterzuschicken. Wenn im Durchschnitt ein Drittel der Personen, die 164
eine solche Karte bekommen, den Anweisungen folgen, verdoppelt sich die Zahl der umlaufenden Karten jede Woche. Theoretisch bedeutet das, daß nach einem Jahr 2 hoch 52 oder viertausend Billionen Karten unterwegs sind, genug, um jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf der Welt unter sich zu begraben. Exponentielles Wachstum, das nicht durch Ressourcenmangel begrenzt wird, führt immer in überraschend kurzer Zeit zu verblüffend großen Folgen. In der Praxis sind die Ressourcen begrenzt, und auch andere Faktoren tragen dazu bei, das exponentielle Wachstum einzuschränken. In unserem hypothetischen Beispiel werden die Leute wahrscheinlich nicht mehr mitmachen, wenn sie den Kettenbrief zum zweitenmal bekommen. In der Konkurrenz um die Ressourcen könnten Varianten des Replikators auftauchen, die es zufällig besser schaffen, sich vermehren zu lassen. Diese effizienteren Replikatoren werden auf die Dauer ihre weniger effizienten Rivalen verdrängen. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß keines der sich vermehrenden Gebilde ein bewußtes Interesse an seiner Vervielfältigung hat. Dennoch füllt die Welt sich ganz von selbst mit den effizientesten Replikatoren. Bei dem Kettenbrief könnte die höhere Effizienz zum Beispiel darin bestehen, daß eine bessere Formulierung auf dem Papier steht. Statt der ein wenig unglaubwürdigen Behauptung »Sie werden innerhalb eines Monats in einem entsetzlichen Todeskampf sterben« könnte die Botschaft zum Beispiel lauten: »Bitte, ich flehe Sie an, retten Sie Ihre und meine Seele und gehen Sie das Risiko nicht ein; auch wenn Sie Zweifel haben, folgen Sie den Anweisungen und schicken Sie den Brief an sechs weitere Personen.« Solche »Mutationen« können immer wieder vorkommen. Das Ergebnis ist eine uneinheitliche Population von Briefen, die alle im Umlauf sind, alle von dem gleichen gemeinsamen Vorfahren abstammen und sich dennoch in der Formulierung sowie in Stärke und Art der 165
jeweils angewandten Überredungskünste unterscheiden. Die erfolgreicheren Varianten werden sich auf Kosten ihrer weniger erfolgreichen Konkurrenten vermehren. Erfolg ist einfach gleichbedeutend mit der Zahl der in Umlauf befindlichen Kopien. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Erfolg ist der »Judasbrief«. Er hat die Welt schon mehrmals umrundet und sich dabei vermutlich vermehrt. Während ich dieses Buch schrieb, schickte mir Dr. Oliver Goodenough von der Universität Vermont die folgende Version (und wir verfaßten gemeinsam für die Fachzeitschrift Nature einen Artikel darüber, in dem wir ihn als »virus of the mind« (»Virus des Geistes«) bezeichneten): »MIT LIEBE IST ALLES MÖGLICH« Dieses Blatt wurde Ihnen um Ihres Glückes willen geschickt. Das Original befindet sich in Neuengland. Es wurde neunmal um die Welt geschickt. Ihnen wurde das Glück gesandt. Sie werden innerhalb von vier Tagen nach Erhalt dieses Briefes großes Glück haben, vorausgesetzt, Sie schicken ihn Ihrerseits weiter. Das ist kein Scherz. Das Glück wird mit der Post kommen. Schicken Sie kein Geld. Schicken Sie Kopien an Menschen, von denen Sie glauben, daß sie Glück brauchen. Schicken Sie kein Geld, denn Vertrauen kostet nichts. Behalten Sie diesen Brief nicht. Er muß Ihre Hände innerhalb von 96 Stunden verlassen. Ein Offizier der Luftabwehr namens Joe Elliott bekam 40 Millionen Dollar. George Welch verlor fünf Tage nach Erhalt dieses Briefes seine Frau. Er hatte ihn nicht weitergeschickt. Aber bevor sie starb, bekam er 75.000 Dollar. Bitte schicken Sie Kopien weiter und warten Sie ab, was in den nächsten vier Tagen geschieht. Der Kettenbrief kommt aus Venezuela und wurde verfaßt von Saul Anthony Degnas, einem Missionar aus Südamerika. Seither müssen Kopien um die Welt laufen. Sie müssen 20 Kopien machen und sie an 166
Freunde und Bekannte schicken, dann erleben sie in wenigen Tagen eine Überraschung. Das ist Liebe, auch wenn Sie nicht abergläubisch sind. Beachten Sie unbedingt folgendes: Cantonare Dias erhielt diesen Brief im Jahr 1903. Er bat seine Sekretärin, ihn abzuschreiben und weiterzuschicken. Ein paar Tage später gewann er 20 Millionen Dollar in einer Lotterie. Carl Dobbit, ein Büroangestellter, erhielt den Brief und vergaß, ihn innerhalb von 96 Stunden weiterzuschicken. Er verlor seine Stellung. Nachdem er den Brief wiedergefunden hatte, machte er 20 Kopien und schickte sie weiter. Ein paar Tage später erhielt er einen besseren Posten. Dolan Fairchild bekam den Brief, glaubte nicht daran und warf ihn weg. Neun Tage später starb er. Im Jahr 1987 kam der Brief zu einer jungen Frau in Kalifornien. Er war verblichen und kaum lesbar. Sie nahm sich vor, den Brief abzuschreiben und weiterzuschicken, aber sie legte ihn auf die Seite und verschob es auf später. Sie wurde von verschiedenen Schwierigkeiten heimgesucht, unter anderem von einem teuren Defekt an ihrem Auto. Dieser Brief verließ ihre Hände nicht innerhalb von 96 Stunden. Schließlich schrieb sie den Brief, wie versprochen, ab und bekam ein neues Auto. Denken Sie daran, schicken Sie kein Geld. Mißachten Sie es nicht - es funktioniert. St. Judas Dieses lächerliche Schriftstück trägt alle Kennzeichen dafür, daß es mehrere Mutationen durchgemacht hat. Es enthält zahlreiche Fehler und ungeschickte Formulierungen, und es ist bekannt, daß auch noch andere Versionen kursieren. Nachdem unser Aufsatz in Nature erschienen war, erhielt ich aus der ganzen Welt mehrere Fassungen, die sich deutlich voneinander unterschieden. In einer stand beispielsweise nicht »Offizier der Luftabwehr«, sondern »Offizier der britischen Luftwaffe«. Der Judasbrief ist bei der amerikanischen Postverwaltung bestens bekannt; nach ihren Berichten geht er auf die Zeit 167
vor Beginn der offiziellen Postaufzeichnungen zurück, und es kommt immer wieder zu einer plötzlichen epidemieartigen Verbreitung. Man beachte, daß die Liste der angeblichen Glücksfälle bei Gehorsamen und der Katastrophen bei Verweigerern nicht von den Betroffenen selbst in den Brief hineingeschrieben worden sein kann, denn das Glück trat erst ein, nachdem der Brief ihre Hände verlassen hatte, und die Ungehorsamen haben den Brief nicht weitergeschickt. Die Geschichten sind vermutlich schlicht erfunden - was man unabhängig davon auch wegen ihres wenig plausiblen Inhalts vermuten kann. Damit sind wir bei dem wichtigsten Unterschied zwischen Kettenbriefen und den natürlichen Replikatoren, von denen die Explosion des Lebens ausging. Kettenbriefe werden ursprünglich von Menschen abgeschickt, und die Veränderungen ihres Wortlauts werden ebenfalls in menschlichen Gehirnen erdacht. Zu Beginn der Explosion des Lebens gab es keinen Geist, keine Kreativität und keine Absichten, sondern nur Chemie. Aber nachdem die selbstreplizierenden Moleküle erst einmal durch Zufall entstanden waren, hatten die erfolgreicheren Varianten dennoch ganz automatisch das Bestreben, sich auf Kosten der weniger erfolgreichen zu vermehren. Wie bei den Kettenbriefen ist Erfolg auch bei chemischen Replikatoren schlicht und einfach gleichbedeutend mit der Zahl der im Umlauf befindlichen Exemplare. Aber das ist nur eine Definition und fast eine Tautologie. Erfolg bemißt sich nach praktischer Kompetenz, und praktische Kompetenz ist durchaus nichts Tautologisches, sondern etwas sehr Konkretes. Ein erfolgreiches Replikatormolekül besitzt alles, was es aus Gründen der chemischen Machbarkeit zur Verdoppelung braucht. In der Praxis kann das fast unendlich viel bedeuten, obwohl die Replikatoren selbst oft erstaunlich einheitlich wirken. 168
Die DNA ist sehr einheitlich: Sie besteht ausschließlich aus allen möglichen Sequenzen derselben vier »Buchstaben«: A, T, C und G. Wie wir aber in vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, bedienen die DNA-Sequenzen sich einer verwirrenden Vielfalt von Mitteln, um sich zu verdoppeln. Sie konstruieren beispielsweise bei Flußpferden ein leistungsfähigeres Herz, bei Flöhen sprungkräftigere Beine, bei Mauerseglern aerodynamisch wirksamere Flügel oder bei Fischen eine Schwimmblase, die mehr Auftrieb gibt. Alle Organe und Gliedmaßen der Tiere, alle Wurzeln, Blätter und Blüten der Pflanzen, alle Augen, Gehirne und geistigen Fähigkeiten, ja sogar Ängste und Hoffnungen sind Hilfsmittel, mit denen erfolgreiche DNA-Sequenzen sich in die Zukunft befördern. Die Hilfsmittel selbst sind fast unendlich wandlungsfähig, aber das Rezept zu ihrer Konstruktion ist im Gegensatz dazu fast lächerlich eintönig. Nur A, T, C und G in immer neuer Reihenfolge. Das war vielleicht nicht immer so. Wir haben keine Anhaltspunkte, ob der Ursprungscode zu Beginn der Informationsexplosion bereits in DNA-Buchstaben geschrieben war. Tatsächlich ist die ganze auf DNA und Protein basierende Informationstechnologie so raffiniert - der Chemiker Graham CairnsSmith bezeichnete sie als High-Tech -, daß man sich kaum vorstellen kann, wie sie durch puren Zufall und ohne ein anderes selbstverdoppelndes System als Vorläufer entstanden sein kann. Der Vorläufer war vielleicht die RNA; oder er ähnelte Julius Rebeks einfachen selbstreplizierenden Molekülen; vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes. Eine faszinierende Möglichkeit, die ich in meinem Buch Der blinde Uhrmacher genauer erörtert habe, ist der Vorschlag von Cairns-Smith selbst (siehe Seven Clues to the Origin of Life), anorganische Tonkristalle könnten die ersten Replikatoren gewesen sein. Mit Sicherheit werden wir es nie wissen. Immerhin können wir aber Vermutungen über den allge169
meinen Zeitplan anstellen, nach dem die Explosion des Lebens auf einem beliebigen Planeten im Universum abläuft. Welche Mechanismen dabei im einzelnen am Werk sind, hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Das System aus DNA und Protein kann sich in einer Welt aus eiskaltem flüssigen Ammoniak nicht entfalten, aber vielleicht wäre ein anderes System der Vererbung und Keimesentwicklung dazu in der Lage. Genau solche Einzelheiten möchte ich aber jetzt beiseite lassen und mich auf die vom einzelnen Planeten unabhängigen allgemeinen Prinzipien konzentrieren. Ich werde systematisch die Schwellen behandeln, die wahrscheinlich jede Replikationsbombe auf einem Planeten überschreiten wird. Manche davon sind wohl tatsächlich allgemeingültig, andere dürften auf unsere Erde beschränkt sein. Welche von ihnen universell gültig sind und welche nur lokale Bedeutung haben, ist nicht immer leicht zu entscheiden; diese Frage ist auch für sich gesehen sehr interessant. Schwelle Nummer l ist natürlich die Schwelle des Replikators selbst: Es muß ein selbstverdoppelndes System entstehen, in dem es zumindest in Ansätzen erbliche Abweichungen gibt und in dem beim Kopieren gelegentlich Fehler auftreten. Das Überschreiten der Schwelle Nummer l hat zur Folge, daß der Planet von einer gemischten Population bevölkert ist, deren Mitglieder um Ressourcen konkurrieren. Die Ressourcen sind knapp oder werden es, wenn sich die Konkurrenz verschärft. Manche leicht abweichenden Exemplare werden sich im Kampf um die knappen Ressourcen als besonders erfolgreich erweisen, andere dagegen werden wenig Erfolg haben. Damit haben wir also eine Grundform der natürlichen Selektion. Zunächst gründet sich der Erfolg der konkurrierenden Replikatoren ausschließlich auf die Eigenschaften der Replikatoren selbst, beispielsweise darauf, wie gut ihre Form sich als Vorlage für die Verdoppelung eignet. Aber jetzt, nach vielen 170
Generationen der Evolution, erreichen wir die Schwelle Nummer 2, die Phänotypschwelle. Die Replikatoren überleben nicht mehr aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften, sondern mit Hilfe von Wirkungen, die sie auf etwas anderes ausüben. Dieses andere nennen wir Phänotyp. Auf der Erde erkennt man den Phänotyp leicht: Er besteht aus denjenigen Teilen der Tiere und Pflanzen, die von den Genen beeinflußt werden, und das sind praktisch alle Körperteile. Man kann sich den Phänotyp als Machtmittel vorstellen, mit der erfolgreiche Replikatoren sich Zugang zur nächsten Generation verschaffen. Allgemeiner kann man den Phänotyp als Auswirkung eines Replikators definieren, die zum Erfolg des Replikators beiträgt, selbst aber nicht repliziert wird. So entscheidet zum Beispiel ein bestimmtes Gen bei einer auf den pazifischen Inseln beheimateten Schneckenart darüber, ob das Gehäuse links- oder rechtsherum gewunden ist. Das DNAMolekül selbst ist nicht links- oder rechtshändig, aber seine phänotypischen Wirkungen sind das sehr wohl. Möglicherweise erfüllen links- und rechtsgedrehte Schnekkenhäuser ihre Aufgabe, den Körper der Schnecke zu schützen, unterschiedlich gut. Da die Schneckengene in den Gehäusen liegen, deren Form sie beeinflussen, werden Gene, die erfolgreichere Gehäuse hervorbringen, zahlreicher werden als solche, die für die Konstruktion weniger wirksamer Gehäuse sorgen. Das Schneckenhaus ist ein Phänotyp und läßt selbst keine neuen Schneckenhäuser entstehen. Jedes Gehäuse wird von der DNA aufgebaut, und diese läßt neue DNA entstehen. DNA-Sequenzen beeinflussen ihren Phänotyp (zum Beispiel die Windungsrichtung von Schneckenhäusern) über eine mehr oder weniger komplizierte Reihe zwischengeschalteter Vorgänge, die man unter der allgemeinen Überschrift »Embryologie« zusammenfaßt. Auf der Erde ist der erste Schritt in diesem Ablauf immer die Synthese eines Proteinmo171
leküls, dessen Aufbau mit Hilfe des berühmten genetischen Codes in allen Einzelheiten durch die Anordnung der vier DNA-Buchstaben festgelegt ist. Aber solche Einzelheiten sind höchstwahrscheinlich nur von lokaler Bedeutung. Allgemeiner gesagt, wird es auf einem Planeten irgendwann Replikatoren geben, deren Auswirkungen (Phänotypen) den Vermehrungserfolg der Replikatoren verbessern, mit welchen Mitteln auch immer. Ist die Phänotypschwelle überschritten, überleben die Replikatoren mit Hilfe ihrer Stellvertreter, das heißt ihrer Folgen auf die Welt. Auf der Erde beschränken sich diese Folgen meist auf den Körper, in dem sich das Gen befindet. Aber das muß nicht so sein. Nach der Theorie vom erweiterten Phänotyp (der ich ein ganzes Buch mit diesem Titel gewidmet habe) müssen die phänotypischen Machtmittel, mit denen die Replikatoren für ihr langfristiges Überleben sorgen, nicht auf den »eigenen« Körper des Replikators beschränkt sein. Gene können auch über den einzelnen Körper hinaus die Welt als Ganzes, einschließlich anderer Körper, beeinflussen. Wie allgemeingültig die Phänotypschwelle ist, weiß ich nicht. Nach meiner Vermutung wurde sie auf allen Planeten überschritten, auf denen die Explosion des Lebens über ein sehr rudimentäres Stadium hinausgekommen ist. Und ich nehme an, daß das gleiche auch für die nächste Schwelle auf meiner Liste gilt. Schwelle Nummer 3 ist die Schwelle der Replikatorengruppen, die auf manchen Planeten vermutlich vor der Phänotypschwelle oder gleichzeitig mit ihr überschritten wurde. In der Anfangszeit sind die Replikatoren vermutlich selbständige Entitäten, die zusammen mit konkurrierenden einfachen Replikatoren im Oberlauf des genetisches Flusses treiben. Unser heutiges System der DNA-Protein-Informationstechnologie hat dagegen die charakteristische Eigenschaft, daß kein Gen allein etwas ausrichten kann. Das chemische Umfeld, in dem Gene wirken, besteht nicht aus den Stoffumsetzungen der Außenwelt, die ohne Hilfe ablaufen. Sie 172
bilden zwar den Hintergrund, aber der ist sehr weit entfernt. Der unmittelbare, lebensnotwendige chemische Zusammenhang, in dem der DNA-Replikator steht, ist ein viel kleinerer Beutel voller konzentrierter Substanzen: die Zelle. Eine Zelle als Beutel voller Chemikalien zu bezeichnen, ist eigentlich irreführend, denn viele Zellen haben in ihrem Inneren raffinierte Strukturen aus gefalteten Membranen, und in, an und zwischen diesen Membranen laufen lebenswichtige chemische Reaktionen ab. Der chemische Mikrokosmos der Zelle wird durch das Zusammenwirken von Hunderten - und in höher entwickelten Zellen Hunderttausenden - von Genen aufgebaut. Jedes Gen trägt zu diesem Umfeld bei, und alle nutzen es zum Überleben. Die Gene funktionieren in Gruppen. Das gleiche haben wir aus einem etwas anderen Blickwinkel auch im ersten Kapitel erfahren. Die einfachsten Systeme, die selbständig die DNA verdoppeln können, sind auf der Erde die Bakterienzellen. Sie brauchen mindestens ein paar hundert Gene, um die Bausteine herzustellen, die sie brauchen. Zellen, die keine Bakterien sind, bezeichnet man als eukaryontisch. Zu ihnen gehören unsere eigenen Zellen ebenso wie die aller Tiere, Pflanzen, Pilze und Protozoen. Eukaryontenzellen besitzen in der Regel Hunderte oder Tausende von Genen, die alle zusammenarbeiten. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, erscheint es heute durchaus möglich, daß die Eukaryontenzelle selbst ursprünglich eine Gruppe von vielleicht einem halben Dutzend zusammengeballter Bakterienzellen war. Aber das ist Teamwork höherer Ordnung, und darum geht es mir hier nicht. Ich spreche vielmehr von der Tatsache, daß alle Gene ihre Wirkungen in einem chemischen Umfeld entfalten, das durch die Gesamtheit der Gene in einer Zelle geschaffen wird. Wenn man begriffen hat, daß Gene im Team arbeiten, ist man natürlich versucht, einen Gedankensprung zu machen 173
und anzunehmen, die Selektion wähle heute unter konkurrierenden Gengruppen aus. Demnach hätte auch die Selektion sich auf eine höhere Organisationsebene begeben. Der Gedanke ist verlockend, aber nach meiner Überzeugung völlig falsch. Viel aufschlußreicher ist es, zu sagen: Die Darwinsche Selektion wählt nach wie vor unter konkurrierenden Genen aus, aber dabei haben diejenigen Gene einen Vorteil, die in Gegenwart der anderen Gene gut gedeihen, welche sich gleichzeitig gegenseitig nützen. Diese Aussage ist uns schon im ersten Kapitel begegnet. Dort war davon die Rede, wie Gene in demselben Arm des digitalen Flusses zu »guten Kameraden« werden. Die nächste wichtige Schwelle, die bei der weiteren Entfaltung der Replikationsbombe überschritten wird, ist die der Vielzeller, die ich als Schwelle Nummer 4 bezeichnen möchte. Wie wir gesehen haben, ist in unserer Lebenswelt jede Zelle eine kleine, räumlich begrenzte Ansammlung chemischer Verbindungen, in denen eine Gruppe von Genen eingebettet ist. Die Zelle enthält zwar die gesamte Gruppe, wird aber nur von einer Untergruppe hergestellt. Nun teilen sich die Zellen: Sie halbieren sich, und die Tochterzellen wachsen wieder zur vollen Größe heran. Gleichzeitig verdoppeln sich alle in der Zelle befindlichen Gene. Wenn die Tochterzellen sich nicht vollständig trennen, sondern aneinandergeheftet bleiben, können große Zellverbände aus vielen Einzelzellen entstehen. Die Fähigkeit, solche vielzelligen Gebilde hervorzubringen, dürfte in anderen Welten ebenso wichtig sein wie in unserer eigenen. Wenn die Vielzellerschwelle überschritten ist, können Phänotypen auftauchen, deren Formen und Funktionen in einem wesentlich größeren Maßstab von Bedeutung sind als bei Einzelzellen. Ein Geweih oder ein Blatt, die Linse des Auges oder das Gehäuse einer Schnecke - alle diese Formen werden von Zellen gebildet, aber die Zellen sind keine verkleinerten Ausgaben der großen Form. Mit anderen 174
Worten: Vielzellige Organe wachsen nicht nach Art der Kristalle. Zumindest auf unserem Planeten entstehen sie eher wie Gebäude, die ja auch nicht wie überdimensionale Backsteine aussehen. Eine Hand hat eine charakteristische Form, aber sie besteht nicht aus bandförmigen Zellen - das wäre nur dann der Fall, wenn Phänotypen wie Kristalle heranwüchsen. Vielzellige Organismen nehmen aber, wiederum wie Häuser, ihre charakteristische Form und Größe an, weil Schichten aus Einzelzellen (den Bausteinen) nach bestimmten Regeln im richtigen Augenblick das Wachstum einstellen. Die Zellen müssen also sozusagen »wissen«, wo sie sich im Verhältnis zu anderen Zellen befinden. Leberzellen verhalten sich, als ob sie wüßten, daß sie Leberzellen sind, ja, sie scheinen sogar zu wissen, ob sie am Rand oder in der Mitte eines Leberlappens liegen. Die Frage, wie ihnen das gelingt, ist schwer zu beantworten und wird intensiv untersucht. Die Antworten sind wahrscheinlich für unseren Planeten charakterististisch, und ich möchte mich hier nicht weiter damit befassen. Wir haben das Thema im ersten Kapitel bereits angerissen. Wie die Mechanismen auch im einzelnen aussehen mögen - sie wurden auf demselben allgemeinen Weg vervollkommnet wie alle anderen Verbesserungen des Lebendigen: durch das nicht zufällige Überleben erfolgreicher Gene, die aufgrund ihrer Wirkungen ausgewählt wurden - in diesem Fall aufgrund der Wirkungen, die sie auf das Verhalten der Zellen im Verhältnis zu den Nachbarzellen ausüben. Die nächste wichtige Schwelle möchte ich erörtern, weil ich annehme, daß sie ebenfalls nicht nur räumlich begrenzt für unseren Planeten von Bedeutung ist. Es ist die Schwelle der Hochgeschwindigkeits-Informationsverarbeitung. Diese Schwelle Nummer 5 wurde auf der Erde durch eine besondere Klasse von Zellen erreicht, die Neuronen oder Nervenzellen, und deshalb können wir sie für unseren lokalen Bereich auch als Nervensystemschwelle bezeichnen. Unabhän175
gig davon, wie sie auf einem Planeten erreicht wird, ist sie wichtig, denn nun können Tätigkeiten nach ganz anderen, viel schnelleren Zeitplänen ablaufen als bei der Aktivität der Gene mit ihrer chemischen Kraftübertragung. Raubtiere können auf ihr Abendessen springen, und die Beute kann um ihr Leben laufen. Der Muskel- und Nervenapparat, der das ermöglicht, agiert und reagiert weitaus schneller als das embryologische Origami, mit dem die Gene den ganzen Apparat erst einmal schaffen. Absolut gesehen, können Geschwindigkeit und Reaktionszeiten auf anderen Planeten sich stark von den unseren unterscheiden, aber immer wird eine wichtige Grenze überschritten, wenn die von den Replikatoren gebildeten Vorrichtungen zum erstenmal Reaktionszeiten haben, die um Größenordnungen unter den embryologischen Entwicklungszeiten der Replikatoren selbst liegen. Ob die dazu notwendigen Hilfsmittel unbedingt den Gebilden ähneln müssen, die wir auf der Erde Neuronen und Muskelzellen nennen, ist nicht so sicher. Aber wenn eine Grenze überschritten wird, die der Nervensystemschwelle entspricht, treten höchstwahrscheinlich weitere Folgen ein, und die Wirkungen der Replikationsbombe weiten sich aus. Eine dieser Folgen dürfte darin bestehen, daß Ansammlungen datenverarbeitender Einheiten entstehen, »Gehirne«, die komplizierte, von »Sinnesorganen« aufgenommene Datenmuster umsetzen und in einem »Gedächtnis« speichern können. Eine verwickeitere und rätselhaftere Folge nach dem Überschreiten der Neuronenschwelle ist die bewußte Wahrnehmung, und diese Bewußtseinsschwelle bezeichne ich als Schwelle Nummer 6. Wie oft sie auf der Erde überschritten wurde, wissen wir nicht. Nach Ansicht mancher Philosophen ist sie untrennbar an die Sprache geknüpft, die sich offenbar nur einmal entwickelte: bei der zweibeinigen Affenart Homo sapiens. Ob Bewußtsein nun Sprache erfordert oder nicht: Ich unterstelle, daß die Sprachschwelle wichtig ist, und nenne sie 176
Schwelle Nummer 7. Sie kann auf einem Planeten überschritten werden oder auch nicht. Die Einzelheiten, beispielsweise ob Sprache durch Schall oder andere physikalische Vorgänge übertragen wird, müssen lokalen Gegebenheiten vorbehalten bleiben. So betrachtet, ist die Sprache das System der Vernetzung, durch das die Gehirne (wie sie auf der Erde genannt werden) einen so intensiven Informationsaustausch pflegen, daß sie gemeinsam eine Technologie entwickeln können. Eine solche gemeinsame Technologie - vom Nachahmen bei der Entwicklung von Steinwerkzeug über die Erfindung des Metallschmelzens und des Rades bis zu Dampfkraft und Elektronik hat selbst viele Eigenschaften einer weiteren Explosion, und deshalb kann man ihren Beginn mit Fug und Recht als Technologieschwelle oder Schwelle Nummer 8 bezeichnen. Möglicherweise hat die menschliche Kultur sogar eine ganz eigene, neue Replikationsbombe gezündet, die von selbstverdoppelnden Entitäten eines ganz neuen Typs angetrieben wird. Diese Entitäten, die ich in Das egoistische Gen als Meme bezeichnet habe, vermehren sich in einem Strom der Kultur und unterliegen ebenfalls den darwinistischen Prinzipien. Vielleicht detoniert mittlerweile auch eine Membombe parallel zu der Genbombe, die zuvor mit Gehirn und Kultur die Voraussetzungen für die neue Explosion geschaffen hat. Aber auch das ist eine zu umfangreiche Frage für dieses Kapitel. Ich muß zu dem Hauptthema der planetaren Explosion zurückkehren und feststellen, daß nach Erreichen der Technologieschwelle höchstwahrscheinlich irgendwann auch die Fähigkeit entsteht, sich über den Heimatplaneten hinaus bemerkbar zu machen. Schwelle Nummer 9, die Schwelle der Radiowellen, wird überschritten, und nun können Beobachter von außen bemerken, daß die Replikationsbombe in einem weiteren Sonnensystem explodiert ist. Das erste Anzeichen, das ein äußerer Beobachter bemerken 177
wird, sind, wie wir gesehen haben, wahrscheinlich die Radiowellen, die als Nebenprodukt der internen Kommunikation auf dem Planeten nach außen dringen. Später werden dann die technologischen Erben der Replikationsbombe ihre Aufmerksamkeit wahrscheinlich selbst nach außen und zu den Sternen richten. Im Zuge unserer eigenen zögernden Schritte in dieser Richtung haben wir Botschaften in den Weltraum gesendet, die sich gezielt an fremde Intelligenzen richteten. Wie kann man eine Nachricht an eine fremde Intelligenz gestalten, von der man keine genaue Vorstellung hat? Das ist begreiflicherweise schwierig, und es wäre durchaus möglich, daß unsere Bemühungen einfach nicht verstanden wurden. Bisher hat man sich vor allem darauf konzentriert, fremde Beobachter überhaupt auf unsere Existenz aufmerksam zu machen, ohne daß die Botschaften einen wesentlichen Inhalt haben. Es ist die gleiche Aufgabe, der auch mein hypothetischer Professor Crickson im ersten Kapitel gegenüberstand. Er baute in den DNA-Code die Primzahlen ein, und ein entsprechendes Verfahren ist auch ein sinnvoller Weg, anderen Welten unser Vorhandensein anzuzeigen. Musik mag als bessere Werbung für unsere Spezies erscheinen, und selbst wenn die Zuhörer keine Ohren haben, können sie vielleicht auf ihre Weise etwas daraus entnehmen. Der berühmte Wissenschaftler und Schriftsteller Lewis Thomas hat vorgeschlagen, wir sollten Bach senden, alles von Bach und nichts als Bach; allerdings fürchtete er, das könne wie Prahlerei wirken. Aber ein fremdartiger Geist könnte Musik auch fälschlicherweise für die rhythmischen Signale eines Pulsars halten. Pulsare sind Sterne, die in Abständen von einigen Sekunden oder weniger rhythmische Stöße von Radiowellen aussenden. Als eine Gruppe von Radioastronomen in Cambridge sie 1967 entdeckte, gab es vorübergehend große Aufregung, weil man sich fragte, ob die Signale eine Botschaft aus dem Weltraum sein könnten. Bald erkannte man aber, daß es eine nüchter178
nere Erklärung gab: Ein kleiner Stern rotiert sehr schnell und läßt einen Strahl von Radiowellen kreisen wie ein Leuchtturm das Licht. Bis heute haben wir noch keine eindeutigen Nachrichten von außerhalb der Erde empfangen. Nach den Radiowellen können wir uns bisher bei der weiteren Ausbreitung unserer eigenen Explosion nur noch eine weitere Schwelle vorstellen: Schwelle Nummer 10 ist die Schwelle der Weltraumfahrt, der tatsächlichen Reise ins All. Science-fiction-Autoren träumen von interstellar verbreiteten Kolonien der Menschheit oder der von ihr erschaffenen Roboter. Solche Tochterkolonien kann man als Keime oder Infektionen betrachten, neue Zentren der sich selbst vermehrenden Information; sie können sich später selbst wieder explosionsartig ausweiten und zu neuen Replikationsbomben werden, die Gene und Meme aussäen. Wenn diese Vision jemals Wirklichkeit wird, ist es vielleicht nicht vermessen, sich einen zukünftigen Christopher Marlowe vorzustellen, der zu dem Bild des digitalen Flusses zurückkehrt: »Sieh nur, sieh, wie die Flut des Lebens durch die Himmel strömt!« Bisher haben wir kaum den ersten Schritt nach draußen getan. Wir waren auf dem Mond, aber so großartig diese Leistung auch ist - der Mond ist zwar keine Kalebasse, aber er liegt uns so nahe, daß wir kaum von einer Weltraumreise sprechen können, jedenfalls aus der Sicht fremder Wesen, mit denen wir vielleicht irgendwann kommunizieren. Wir haben ein paar unbemannte Sonden in den weiter entfernten Weltraum geschickt, auf Flugbahnen, die kein vorstellbares Ende haben. Eine davon hat, inspiriert von dem phantasievollen amerikanischen Astronomen Carl Sagan, eine Botschaft an Bord, die so gestaltet ist, daß sie möglicherweise von jeder fremden Intelligenz entziffert werden kann. Sie ist geschmückt mit einem Bild der Spezies, die sie geschaffen hat, den Zeichnungen eines nackten Mannes und einer nackten Frau. 179
Damit, so mag es scheinen, schließt sich der Kreis, und wir sind wieder bei den Schöpfungsmythen, von denen wir ausgegangen waren. Aber dieses Paar ist nicht Adam und Eva, und die Botschaft, die unter den anmutigen Gestalten eingraviert ist, legt von unserem Leben ein würdigeres Zeugnis ab als alles, was in der Genesis steht. In einer Bildersprache, die so gestaltet ist, daß sie im ganzen Universum verständlich sein soll, gibt die Metallplatte ihren eigenen Schöpfungsbericht über den dritten Planeten eines Sterns, dessen Koordinaten in der Galaxis genau angegeben sind. Als weitere Zeugnisse enthält sie einige bildliche Darstellungen grundlegender Prinzipien aus Chemie und Mathematik. Sollten intelligente Wesen jemals die Kapsel finden, werden sie der Zivilisation, die sie geschaffen hat, zumindest ein wenig mehr als nur primitiven Stammesaberglauben zuschreiben. Über die gewaltige Kluft des Raumes hinweg werden sie wissen, daß vor langer Zeit eine andere Explosion des Lebens stattgefunden hat und daß an ihrem Ende eine Zivilisation stand, mit der zu reden sich gelohnt hätte. Nun ja, die Aussichten, daß diese Sonde auch nur in die Nähe einer anderen Replikationsbombe gerät, sind verschwindend gering. Manche Kommentatoren sehen ihren Wert in der Inspiration für die Daheimgebliebenen. Die Abbildung eines nackten Paares, die Hände in einer Geste des Friedens gehoben, absichtlich auf eine endlose Reise zu den Sternen geschickt, die erste exportierte Frucht der Erkenntnis unserer eigenen Lebensexplosion - sicher wirkt sich das Nachdenken darüber positiv auf unseren normalerweise recht beschränkten kleinen Geist aus; ein Echo der poetischen Wirkung, die Newtons Standbild im Trinity College in Cambridge auf den zugegebenermaßen gewaltigen Geist von William Wordsworth ausgeübt hat:
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Von meinem Kissen in der Nacht im Licht des Mondes und geneigter Sterne erkannte ich die steinerne Gestalt des großen Newton, schweigend, mit dem Prisma in der Hand, marmorner Mahner eines ew'gen Geistes, einsamer Wanderer durch seltsame Gedankenwelten.
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