Muriel Spark
Träume und Wirklichkeit
Film-Regisseur Tom Richards, Anfang Sechzig, verunglückt während Dreharbeiten und...
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Muriel Spark
Träume und Wirklichkeit
Film-Regisseur Tom Richards, Anfang Sechzig, verunglückt während Dreharbeiten und kommt ins Krankenhaus. Auch hier kann er sich von der selbstherrlichen Manie, jeden Menschen seiner Umgebung auf seine Rollentauglichkeit hin zu prüfen, nicht befreien. Claire, mit allen Vorzügen einer liebenden, toleranten Ehefrau ausgestattet, und die schöne Tochter Cora aus erster Ehe lassen ihn gewähren. Nicht so die abstoßend wirkende, geniale Tochter Marigold... Sie wird zu einer gefährlichen Gegenspielerin. Eine lakonisch-böse Gesellschaftssatire, die zeigt, wie Menschen aus der Rolle fallen, wenn sie aus irgendwelchen Gründen zur Arbeitslosigkeit verurteilt werden.
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Muriel Spark
Träume und Wirklichkeit Roman Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Diogenes
Titel der 1996 bei Constable and Company Ltd., London, erschienenen Originalausgabe: ›Reality and Dreams‹ Copyright © 1996 by Muriel Spark Die Zitate wurden entnommen aus: ›Der Tag entschwand‹ in
Sämtliche poetische Werke in zwei Bänden von Henry Wadsworth Longfellow, übersetzt von Hermann Simon, Reclam Verlag, Leipzig o. J., ›J. Alfred Prufrocks Liebesgesang‹ in Ausgewählte Gedichte. Englisch und Deutsch von T. S. Eliot, übertragen von Klaus Günther Just, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1951 Umschlagfoto von Franco Pinna
2004
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1998 Diogenes Verlag AG Zürich ISBN 3 257 06186 2
1 Er fragte sich oft, ob wir etwa alle Figuren in einem von Gottes Träumen sind. Als er das Bewußtsein wiedererlangte, war das erste, was er sah, eine Frau in Weiß. Dieser Engel sprach ihn, obwohl sie einander noch nie vorgestellt worden waren, mit Vornamen an: Tom. »Sind Sie Nonne?« fragte er. »Nein, ich heiße Jasmine. Ich bin Krankenschwester. Kommen Sie, Tom, ich muß Sie wecken. Ich muß Ihnen das andere Kissen unterschieben. Und das Kopfteil von Ihrem Bett hochstellen. So …« Mit dem Fuß drückte sie auf einen Hebel des Krankenhausbetts, so daß Tom leicht angehoben wurde. »Sonst fühlen Sie sich womöglich erschöpft«, sagte sie. Bevor er etwas entgegnen konnte, schob sie ihm ein Thermometer in den Mund und griff nach seinem Handgelenk. Dabei schaute sie auf ihre Uhr. Er sah, daß es zwanzig nach zwölf war. Durch die Vorhänge schien die Sonne, demnach war es Tag. Während sie seinen Puls fühlte, nickte er ein. Als er, wie es ihm vorkam, eine halbe Stunde später wieder erwachte, war es dunkel. Wie er von der neuen Schwester erfuhr – einer Nachtschwester namens Edna, wie sie ihm verriet –, war es zwanzig vor elf – abends. So lenkt unser Gewerbe also unsere Wahrnehmungen und unsere Träume, dachte er: Tom war Filmregisseur von Beruf. Überblendete die Morgenszene mit der Abendszene. Dieselbe Schwester, aber war es wirklich dieselbe? Jedenfalls war es Edna und dieselbe Szene. »Wo steckt der Arzt?« fragte Tom. 4
»Er hat heute nachmittag hereingeschaut. Waren Sie wach?« »Vielleicht.« Tom war sich nicht sicher. Er meinte, sich undeutlich an das über ihn gebeugte Gesicht eines Arztes erinnern zu können. Edna ließ sein Bett herab, indem sie den Hebel betätigte. Sein Fuß war an einen Tropf angeschlossen, den er im Wachzustand zwar bemerkt, aber noch nicht hatte kommentieren können. Edna hatte nahezu schwarze Hautfarbe. »Wo stammen Sie her, Edna?« – »Aus Ghana«, antwortete sie, oder verwechselte er sie mit jemand anderem? Als er aufwachte, war es frühes Morgenlicht. Auftritt eine Dame in Weiß, diesmal mit Schleier. »Sind Sie eine von den Nonnen?« So war es. Schwester Felicitas war gekommen, ihm eine Blutprobe zu entnehmen. »Man hat mir bereits Blut entnommen«, sagte er. »Das war Ihr Urin.« »Was wollen Sie mit meinem Blut anfangen?« »Es trinken«, sagte sie. »Wieviel Uhr ist es?« »Sieben.« »Wie können Sie so früh am Morgen schon so putzmunter sein?« »Es ist spät. Wir stehen bereits um fünf Uhr auf.« »Haben Sie da vorhin gesungen? Ich habe jemanden singen hören.« »Das waren wir in der Kapelle.« Im Nu war sie fortgehuscht, ein weißer Wisch. Herein kam sein Frühstückstablett, das die dunkelhäutige Edna zu stützen schien. »Nennen Sie so etwas Frühstück?« 5
»Nahrung bekommen Sie zu Anfang in flüssiger Form, danach als Brei und dann erst in fester Form.« Sie schenkte ihm milchigen Tee ein. Er schlug die Augen auf. Das Tablett war verschwunden. Ihm fielen die Pläne wieder ein, die er vor der Operation geschmiedet, das Gelübde, das er abgelegt hatte. Er hatte vor, es zu erfüllen. »Guten Morgen.« Zwei Frauen mit Putzlappen und Eimer traten herein. Die eine wischte Staub, während die andere den Boden scheuerte. Danach kamen zwei Schwestern, um sein Bett zu machen. Sie halfen ihm beim Aufstehen und führten ihn zum Badezimmer. Sie rasierten ihn mit kundiger Hand. Ach, rasieren Sie doch weiter, es ist so angenehm. Aber dann zogen sie den Stecker aus der Steckdose. Jemand hatte einen riesigen Blumenstrauß auf den hinteren Tisch gestellt, Rosen, Lilien und Astern, sehr auffällig und sehr teuer. Der Chirurg: Sie werden schon wieder auf die Beine kommen. Was meinte er damit, ich werde schon wieder auf die Beine kommen? Und so ernst. Ich hatte nie das Gegenteil angenommen. Neben seinem Bett ein Nachttisch auf Rädern, den er beliebig hin und her schieben konnte. Auf dem Nachttisch ein Telefon. Gut, ich warte, bis ich mich etwas kräftiger fühle, nach der Flüssignahrung und dem Brei. »Wann bekomme ich festes Essen, Edna?« »Ich bin nicht Edna, ich heiße Greta. Morgen erhalten Sie festes Essen.« »Greta, wo stammen Sie her?« »Aus Hamburg.« Er kam sich vor wie ein Besetzungschef. Greta ist für die Rolle genau richtig gebaut. Aber für welche Rolle? 6
Das Telefon klingelte. Er hatte Mühe, sich umzudrehen und den Hörer abzunehmen, aber Greta kam ihm zu Hilfe, indem sie den Tisch so hinstellte, daß sich das Telefon in greifbarer Nähe befand. »Ja?« Seine Stimme klang krächzend. »Tom, bist du’s? Tom, bist du’s?« »Ich denke schon. Morgen bekomme ich festes Essen.« Eigentlich war er um einiges wacher, als er sich anmerken lassen wollte. »Ich kann dich doch heute nachmittag besuchen kommen?« »Nein, morgen.« Claire, Toms Frau, fand sich am Nachmittag ein. Er hatte ihr noch nichts von den Plänen verraten, die er geschmiedet hatte. Sie würde neugierig sein, aber nicht beunruhigt. Das war ein Vorteil, wenn man eine sehr reiche Frau hatte. Man konnte Pläne schmieden, ohne daß sie sich sofort Sorgen darum machte, wie sie sich auf ihr Budget auswirkten. Früher einmal hatte Tom eine Frau gehabt, die jede seiner Handlungen, jeden seiner Gedanken immer nur auf ihr Budget bezog. Jetzt, wo sie geschieden war und eine eigene gutbezahlte Anstellung hatte, war sie um vieles glücklicher. Er hatte Magenschmerzen. Schon kam Schwester Benedict mit ihrer Spritze. »Tom …! Tom …!« Claire stand lächelnd an seinem Bett und hielt seine Hand. »Du wirst schon wieder auf die Beine kommen«, sagte sie. Niemand hatte das Gegenteil behauptet. Er sagte: »Ich möchte Fortescue-Brown sprechen.« Das war sein Anwalt, voller Hektik und Geschäftigkeit. Nie kam man bei ihm zu Wort. Ich bleibe nur deswegen bei ihm, dachte 7
Tom, weil ich zuviel am Hals habe, um ihn zu wechseln. »Fortescue-Brown?« fragte Claire. »Ja, Fortescue-Brown«, antwortete er. »In einem solchen Augenblick willst du Fortescue-Brown sprechen?« »So ist es«, sagte er. Sie rückte einen Stuhl heran, setzte sich dicht an sein Bett und schob den Tisch auf Rädern zur Seite. Als er wieder aufsah, stand nur noch der Stuhl da, und eine Krankenschwester kam mit einem Tablett voll ekligen Abendessens herein. »Wie heißen Sie?« »Ruth.« »Also, Ruth, diese weiße Brühe kann ich unmöglich essen.« »Was würden Sie denn gerne essen? Ich kann Ihnen auch etwas anderes besorgen.« »Ich strenge jeden Muskel meiner Vorstellungskraft an, um mir etwas anderes auszudenken. Lassen Sie nur.« »Sie müssen bei Kräften bleiben«, sagte Ruth. Sie hatte eine Wespentaille und einen ausladenden Hintern. Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Sie war um die Dreißig, hatte strohblondes, zurückgekämmtes Haar und ein blasses Gesicht. In Filmen aus längst vergangenen Zeiten hätte sie eine gute deutsche Spionin abgegeben. Sie verschwand, und zu seiner Überraschung kam sie mit einem weichgekochten Ei zurück, das er geistesabwesend verzehrte. »Erwarten Sie heute abend Besuch?« Ruth war gekommen, um sein Tablett wieder mitzunehmen. Ihre Uhr zeigte halb sieben an. »Meine Tochter Marigold, eine Frau, die aussieht wie ein Priester im Laienstand.« Plötzlich war Marigold da. 8
»Na, Papa, ich höre, du wirst schon wieder auf die Beine kommen«, sagte sie mit ihrem nach unten gezogenen Lächeln, ließ ihren schmächtigen Körper auf einen Stuhl gleiten und schlug ihren Mantel über die flache Brust. Sie hätte nie heiraten sollen. Kein Wunder, daß James, ihr Mann, beschlossen hatte, Reisebücher zu schreiben. »Wie geht’s James?« erkundigte sich Tom. »Soviel ich weiß, ist er in Polynesien.« »Ich habe nicht gefragt, wo er sich befindet, sondern wie.« »Sprich nicht so viel, sonst überanstrengst du dich noch«, sagte sie. »Ich hab dir Trauben gekauft.« Sie sagte »gekauft«, nicht »mitgebracht«. Sie warf eine Plastiktüte auf den Nachttisch. »Das ist ja eine wunderbare Klinik«, sagte sie. »Ich schätze, der Aufenthalt kostet ein Vermögen. Natürlich sollte man in einem Fall wie dem deinen an nichts sparen.« Man glaube nur nicht, daß Marigold sonderlich benachteiligt war. Am Morgen rief Tom seinen Anwalt an und machte mit ihm einen Termin um drei Uhr nachmittags in der Klinik aus. Liebe und Sparsamkeit, sinnierte Tom. Ich habe sie stets als Gegensätze angesehen, dachte er. Weshalb werden sie dauernd im selben Atemzug genannt, als wären es benachbarte Themen? Sollte es möglich sein, daß das, was ich Liebe nenne, gar keine Liebe ist? Er war gerührt, weil Cora, seine bildhübsche Tochter aus erster Ehe, eigens nach London geflogen war, um ihn zu besuchen. Sie hatte sich aus diesem Anlaß Urlaub von irgendeiner Tätigkeit für Channel Four in Lyon genommen. Ihre ersten Worte waren: »Papa, du wirst schon wieder auf die Beine kommen.« Weiter sagte sie, ihr Mann Johnny habe seine Stelle als Sachbearbeiter bei Parsimmons & Gould, der 9
Farbenfirma, verloren – sei überflüssig geworden. Sie habe sich einen billigen Flug erschwindelt, um Tom sehen zu können. Und was, dachte er, hat Johnnys Entlassung mit mir und meinen Knochenbrüchen zu tun? Und ihr billiger Flug? War sie nun aus Liebe gekommen oder was? Und ich freue mich, fuhr er in Gedanken fort, daß Johnny seinen Arbeitsplatz verloren hat. Ich freue mich mit der Freude eines, der die Wahrheit liebt: Der Mann ist schon immer überflüssig gewesen. Er sagte: »Marigold war hier.« »Ich weiß«, erwiderte Cora. »Sie hat mir Weintrauben mitgebracht«, fügte er versuchshalber hinzu. »Ich weiß«, antwortete Cora. »Willst du dir nicht die Nachrichten ansehen?« Auf einer Konsole in der Ecke stand ein Fernsehgerät, auf dem Nachttisch lag die Fernbedienung. Tom schaltete ein. Ein nigerianischer Politiker wurde interviewt. »Demokratie«, sagte er, »ist keine Ein-Mann-Show.« Tom schaltete wieder aus. »Haben Sie Schmerzen?« fragte Fortescue-Brown. »Ja, Mr. Brown, die habe ich in der Tat.« »Nun, Tom«, sagte Fortescue-Brown, »denken Sie mal nach. Sie werden ja schon wieder böse. Böse und hochmütig. Es war nun wirklich nicht nötig, daß Sie auf den Kran kletterten. Für die Regie eines Filmes reicht ein gewöhnlicher Kamerawagen heute doch völlig aus. Aber nein, Sie müssen natürlich eine Extrawurst gebraten kriegen, Sie müssen ganz oben neben dem Kameramann stehen, zusammengepfercht und ohne Sicherheitsgurt. Sie wollen unbedingt Gott sein.« »Wollen Sie damit sagen, daß Gott einen Sicherheitsgurt trägt?« 10
»Nach zwanzig Jahren Anwaltstätigkeit für Sie würde mich nichts, aber auch gar nichts mehr wundern. Wann kommen Sie denn aus dieser Besserungsanstalt heraus?« »Nächste Woche, aber ich muß zwei Krankenschwestern mit nach Hause nehmen.« »Gleich zwei?« »Eine für tagsüber und eine für nachts. Ist es Ihr Geld oder meins?« »Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Sie eine Versicherung abschließen sollen.« »Habe ich aber nun mal nicht. Treiben Sie Geld auf. Kratzen Sie’s zusammen.« Kaum war er aus der Tür, schleuderte Tom ein gefülltes Wasserglas gegen die Tür, so daß Fortescue-Brown es hören konnte. Überall Glassplitter und Wasser. Da war doch noch etwas gewesen, was er dem Anwalt hatte sagen wollen. War da nicht ein Gelübde? Aber was für ein Gelübde? Tom lächelte den Reinemachfrauen freundlich zu, während sie aufwischten. »Es ist mir aus der Hand gerutscht, als ich mich aufsetzen wollte.« »Versuchen Sie nur nicht, sich allein aufzusetzen, Mr. Richards. Klingeln Sie doch.« Tom lag da und dachte nach … Ja, dort oben auf dem Kran habe ich mich gefühlt wie Gott. Es war wunderbar, Befehle durchs Megaphon zu rufen und gottgleich zuzuschauen, wie sich die Schauspieler unten auf meine Anweisungen hin immer wieder neu gruppierten. Besonders die beiden großen Stars und die kleinen Sternchen, die viel zuviel Gage erhalten und sich einbilden, sie selbst könnten besser Regie führen. Da oben gab’s kein »Einen Moment bitte, könnte ich vielleicht vorschlagen …«, das am Boden meine Arbeit ständig verzögert hat. Dort oben brauchte ich nicht eine ganze Minute lang zu unterbrechen und mir ihre Vorschläge 11
anzuhören. Was glauben sie denn, was Dreharbeiten sind? Eine Übung in Demokratie oder was? Ich bereue den Kran keinen Augenblick. Ich will nur wissen, wer mir alles versaut hat. Wer ist schuld daran, daß sich die Räder in dem Kabelgewirr verfangen haben, so daß ich Knall auf Fall abgestürzt bin. Zwölf Rippen und eine Hüfte gebrochen, und ein Riesenglück, daß ich noch am Leben bin.
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2 Als Tom Richards ins Obergeschoß seines Hauses getragen wurde, ließ er die Krankenträger einen Augenblick anhalten. Von unten drangen Stimmen herauf. »Fünf, das macht also fünf in der Familie.« »Ja, wenn du es so betrachtest …« »Ja, fraglos ein Rekord. Wie diese Familien, die sämtliche Söhne im Krieg verloren haben, ein halbes Dutzend Männer, und bei allen war Nachlaßsteuer fällig.« »Ach, wir sind schon besser dran als Kriegerwitwen.« Das war die Stimme seiner Frau. »Entlassen werden ist schließlich was anderes als auf dem Schlachtfeld fallen.« »Fühlt sich aber ähnlich an«, entgegnete Toms Bruder. Auf diese Weise fand Tom heraus, daß seit seinem Sturz außer Coras Gatten Johnny zwei weitere Männer und zwei Frauen in seiner Familie ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Wie er später zufällig entdeckte, hatte eine andere Familienangehörige, die Personalchefin war, ihrerseits achtundzwanzig Männer in ihrem Büro entlassen. Tom vertraute sich Krankenschwester Julia an: »Ich verliebe mich leicht und oft. Wenn ich von Liebe überwältigt werde, befinde ich mich in einem Zustand völliger Verzauberung und vergesse all die anderen Male, da ich wegen einer Frau in Verzückung geraten bin. In dieser Situation spielt es keine Rolle, wer meine Frau ist, was sie weiß, was sie glaubt. Nichts zählt außer der Frau meiner gegenwärtigen Leidenschaft, meiner Träume.« Es war vier Uhr nachmittags. Julia machte Anstalten, nach 13
Hause zu gehen. Die Nachtschwester trat ihren Dienst um acht an. »Und wer ist die Glückliche diesmal?« erkundigte sich Julia. »Niemand. Mit einem beschädigten Rückgrat, einer gebrochenen Hüfte und zerschmetterten Rippen werde ich vielleicht nie wieder lieben können.« »Bei all den glamourösen Filmstars in Ihrem Leben?« fragte Julia. »Das glaube ich nicht.« Sie räumte sein Serviertablett fort. »Vielleicht kann ich nie wieder Regie führen. Glauben Sie, irgend jemand würde sein Geld in einen überflüssig gewordenen Regisseur investieren?« »Persönlichkeit ist alles«, meinte Julia. »Ich nehme an, Sie haben einen Mann«, sagte Tom. »Ja, und drei Kinder.« »Drei hübsche Kinder.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Sie sind die einzige junge Mutter, die ich kenne, die das nicht gesagt hat. Was ist Ihr Mann von Beruf?« »Mechaniker in einer Autowerkstatt.« »Hat er einen sicheren Arbeitsplatz?« »Ach, ich glaube schon. Man hält große Stücke auf ihn.« Ihre Tracht war malvenfarben, mit zarten weißen Streifen, ihre Haare blond, an den Wurzeln nachgedunkelt. Sie hatte eine hübsche, nicht allzu schlanke Figur, die erkennen ließ, daß sie drei Kinder zur Welt gebracht hatte. Ihre Augen waren hellblau. Sie war nichts Besonderes. Gerade deshalb gefiel sie ihm. So, wie er an dem Mädchen in Frankreich Gefallen gefunden hatte, das auf einem Campingplatz Hamburger und Sandwiches verkauft hatte. Sie hatte seine Einbildungskraft so anhaltend beschäftigt, daß sie ihm wochenlang nicht aus dem Sinn gegangen war. Er skizzierte 14
ein Exposé über sie. Er nannte sie Jeanne. Er zog einen Filmautor heran, der ein erstes Drehbuch verfaßte. Er beschaffte Geld. Abgestürzt war er bei den Dreharbeiten zu diesem Film. All das hatte mit dem Anblick eines Mädchens in einem rosa Kittel begonnen, das für die Zeltbewohner eines sommerlichen Campingplatzes in Hochsavoyen Sandwiches zubereitete und auf einem behelfsmäßigen Spirituskocher Hamburger grillte – in einem so winzigen Kabuff, daß nur Franzosen es fertigbrachten, darin zu kochen. Mit Ausnahme dieses ersten Anblicks hatte Tom an dem Mädchen kein weiteres Interesse. Sie würde nie erfahren, daß sie einen Film inspiriert hatte, der erst in den Händen des einen, dann in denen eines anderen Regisseurs lag. Julia war nach Hause gegangen. Tom blieb zurück, grübelte über seinen Film in den Händen eines anderen Regisseurs und steigerte sich allmählich in eine Wut hinein. Er mußte an die Pläne denken, die er geschmiedet, an das Gelübde, das er abgelegt hatte, ehe er sich dem Eingriff unterzog, der auf seinen Sturz folgte. Die Pläne, das Gelübde – sie waren aberwitzig. Er hatte seine Vorhaben unter Schockeinwirkung gefaßt. Kein Wunder, daß sie ihm nicht einfallen wollten, als er mit Fortescue-Brown sprach. Sie bestanden darin, mit Fortescue-Browns Hilfe das Hamburger-Mädchen auf dem Campingplatz aufzuspüren und ihm anonym ein ungeheures Vermögen zu vermachen – als unverhofftes Geschenk. Mit Fortescue-Browns Hilfe würde er schnellstmöglich ein Vermögen auftreiben müssen, am besten vermutlich, indem er klammheimlich seine Frau Claire ermordete und ihr Geld erbte. Tom war entsetzt. Das Drehbuch, das ein Element dieses Szenarios enthielt, war eine Sache, das wirkliche Leben eine andere. Das Neue an Toms dunklen Plänen war natürlich der Mord. Der Wohltäter des Mädchens im Film war schon reich. 15
Habe ich im Krankenhaus bei den Nonnen wirklich ein solches Gelübde abgelegt, solche Pläne geschmiedet? fragte er sich. Ich muß unter Schockeinwirkung gestanden haben, dachte er, unter Drogeneinfluß. Schuldbewußt dachte er an Claire, seine nette, gütige Frau. Was hätte wohl FortescueBrown davon gehalten, wenn er ihm den Plan auseinandergesetzt hätte? Er hätte Tom für verrückt erklärt. Aber der Film war natürlich nicht realistisch, es wimmelte darin von Bildern des alten Mannes in den Jahren, die auf jene Geste folgten – er versucht, seine natürlichen Ängste zu überwinden und dem jungen Mädchen nachzuspüren, aus Liebe, einzig aus Liebe … Die Tür ging auf. Claire kam herein, in hautengen Blue jeans, einer Bluse und zwei Perlenketten, gefolgt von Johnny Carr, seinem Schwiegersohn, der soeben von seiner Farbenfirma auf die Straße gesetzt worden war. »Johnny wollte dich besuchen, Tom«, sagte Claire. »Er wird nicht lange bleiben.« »Falls du der Meinung bist, du solltest nichts unversucht lassen, vergeudest du deine Zeit«, entgegnete Tom. »Tom, wie fühlst du dich?« fragte Johnny. »Alles andere zählt doch nicht.« »Ach.« Dabei wollte Johnny Carr mit seinem Besuch bei Tom tatsächlich die Lage sondieren, und er war außer sich, daß man ihn so taktlos mit der Wahrheit konfrontiert hatte. Er hätte sich denken können, daß Coras Vater der letzte war, der sich durch Leiden erweichen ließ. Und außerdem hatte Claire ihn viel zu früh zu dem Besuch gedrängt: »Er könnte dir bestimmt helfen, Johnny. Er kennt so viele Leute.« So aber sagte Tom: »Mit Entlassungen ist es ganz einfach: Niemand feuert einen Angestellten, der ausgesprochen gut ist, es sei denn, der ganze Laden macht dicht. Geht dein 16
Farbenkonzern etwa pleite?« »Nein, es wird nur umstrukturiert. Aber laß gut sein, Tom …« »Wie du willst.« Johnny hatte seinen besten Straßenanzug angezogen, den er für Einstellungsgespräche in erstklassigem Zustand erhalten wollte. Nach seinem Besuch bei Tom fuhr er nach Hause, legte seinen guten Anzug ab und schlüpfte in seine Alltagskleider. »Wie geht’s Papa?« fragte Cora. »Es scheint ihm einigermaßen gut zu gehen.« »Einigermaßen!« rief Cora aus, die ihren Vater gern hatte. »Was soll das heißen, einigermaßen? Schließlich hat er sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Dreiundsechzig Jahre alt und Pflegerinnen bei Tag und bei Nacht. Armer Papa, er hat Glück, daß er noch am Leben ist. Er schuftet so hart, alles, was er hat, investiert er in Filme. Filme sind sein ganzes Leben. Wie kann es ihm da einigermaßen gut gehen?« »Er möchte dich sehen«, sagte Johnny. »Hat er das gesagt?« »Ja.« »Soll ich einfach hinfahren oder einen Termin vereinbaren?« fragte Cora. »Mach einen Termin mit seiner Sekretärin aus«, schlug Johnny vor. »Im Geist ist er schon wieder bei der Arbeit.« Cora fuhr einfach hin. Ihre Tätigkeit in Frankreich war beendet, und sie saß wieder in ihrem Büro bei Channel Four. Sie war hochgewachsen, hatte hellbraunes Haar und trug zuweilen eine große Brille mit Goldrand. Sie hatte lange Beine und schmale Hüften, und als sie Tom besuchte, trug sie einen kurzen Rock und einen Pullover, beide türkisfarben. Cora war neunundzwanzig. Mit ihrer Mutter Katia, einer ganz andersartigen Schönheit 17
bulgarisch-polnischer Herkunft, hatte sie keinerlei Ähnlichkeit. Katia war dunkelhaarig und unerschrocken. Sie lebte längst in zweiter Ehe. Sie habe »ihre Strafe abgebüßt«, sagte sie; ihre Schuld der Gesellschaft gegenüber hatte sie beglichen, indem sie mit dem Filmregisseur Tom Richards zusammenlebte; jetzt konnte sie wieder Atem schöpfen bei dem hochbezahlten Geschäftsführer einer Bausparkasse. Der war gewiß kein Genie, dafür aber, anders als Tom, auch kein großer Geldverschwender. Cora saß auf einem Stuhl am Krankenbett, während Krankenschwester Julia Toms Laken glattstrich und die Kopfkissen aufschüttelte. »Wir hätten gern Tee«, sagte Tom. Julia sah auf ihre Uhr. »Die Uhrzeit interessiert doch gar nicht. Wir hätten gern Tee.« Cora war so schön, daß Tom wünschte, sie wäre nicht seine Tochter. Er konnte sich an ihr nicht satt sehen. Cora hatte ihn stets geblendet, stets betört. Aus Fürsorglichkeit war er stets zurückhaltend gewesen, so daß er sich über jeden anderen Mann ärgerte, der sich bei Cora nicht zurückhielt. Die Männer standen bei ihr Schlange. Die Krönung war Johnny, den sie geheiratet hatte, die Närrin. Wegen seines guten Aussehens, zugegebenermaßen das eines Filmstars. Aber die Ehe war kein Film und Cora keine Regisseurin; sie hatte ihm die Rolle eines Ehemannes zugewiesen, und er spielte sie hundsmiserabel. In Spielfilmen hat der Ehemann ein Drehbuch, an das er sich halten kann. Johnny hatte fast nichts. »Jetzt ist er arbeitslos«, sagte Tom. »Wer ist arbeitslos?« »Johnny.« »Ach, Johnny. Er schaut sich gerade nach einer anderen 18
Stelle um. Millionen sind arbeitslos.« »Wie kommt ihr mit euerm Budget zurecht?« »Du klingst wie Mama. Wir haben nicht viel Zeit gehabt, eines aufzustellen.« »Ach, Cora, komm mir nicht auf die Idee, einen Mann finanziell auszuhalten. Ich bitte dich inständig, fang mir bloß nicht damit an.« »In frohen wie in kummervollen Tagen …«, erwiderte Cora. »Man heiratet, was immer daraus werden wird. Ich wollte sehen, wie’s dir geht. Ich wollte nicht über Geldangelegenheiten reden, Papa.« Julia brachte ein Tablett mit Tee, gefolgt von Claire. »Du hast ja einen ganzen Harem, der dich umsorgt, Tom«, sagte sie. »Was willst du mehr?« »Meine Arbeit«, antwortete Tom. »Ich will meinen Film zu Ende drehen, aber ich kann nicht. Das wird ein anderer übernehmen. Ich bin bettlägerig. Ich bin arbeitslos.« »Es wird schon noch andere Filme geben«, meinte Claire. »Das war doch bisher auch so.« »Mein Film ist unersetzlich«, sagte Tom. »Kein Kunstwerk ist zu ersetzen. Ein Kunstwerk ist wie ein lebendiger Mensch.«
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3 Es blieb Cora, der Familienschönheit, überlassen, ihrem Vater schonend beizubringen, daß er erneut ins Krankenhaus müsse, um sich einer Rückenmarkoperation zu unterziehen. Cora hielt sich inzwischen in England auf und wohnte bei Claire. Es bestand keine Aussicht auf einen neuen Vertrag mit Channel Four, und ihr Mann, der gutaussehende Johnny, hatte sich drei Wochen nach der Bekanntgabe seiner Entlassung mitsamt seiner Abfindung nach Indien abgesetzt. Cora rechnete nicht damit, ihn jemals wiederzusehen. Bevor Cora ihm eröffnete, was der Facharzt ihr zu seinen letzten Röntgenaufnahmen gesagt hatte (»Wir müssen ihn am Rückgrat operieren«), erzählte sie Tom von der Fahnenflucht ihres Mannes. Sie kannte die Gefühlsausbrüche ihres Vaters, solche der Frustration wie solche der Empörung, und kam zu dem Schluß, daß letztere, war die Wut erst einmal verraucht, erstere abmildern mochten. In nüchternen Augenblicken war sich Tom mit Claire über sein aufbrausendes Temperament einig. Kurz nach ihrer Heirat, bemerkte Claire: »Manchmal führst du dich auf wie ein vergewaltigtes Igelweibchen oder Stachelschwein. Dann rennst du mit aufgestellten Stacheln umher. Ein geschändetes Stachelschwein, so kommst du mir dann vor.« »Ich weiß«, sagte er. Claire befürchtete einen derartigen Wutanfall, als sie Cora in sein Schlafzimmer schickte, um ihm ausrichten zu lassen, daß er wieder ins Krankenhaus müsse. Seine Frustration stand ohnehin schon wieder kurz vor dem Siedepunkt, weil er immer noch nicht richtig gehen konnte. An einer Unterarmstütze schleppte er sich langsam im Zimmer umher. Am meisten erzürnte ihn, daß der Arzt ihm bei seiner 20
Visite gesagt hatte, welch ein Glück er habe, noch am Leben zu sein, und ihn an seinen schlimmen Sturz erinnerte. Cora hatte einen weiteren Auftrag: Tom mitzuteilen, daß seine Geldgeber sich aus dem Filmprojekt zurückgezogen hatten. Die Sache war geplatzt. Die Schauspieler waren abgereist, und Toms mehrfach überarbeitetes Drehbuch (er hatte fast nie einen richtigen Drehbuchautor, sondern verfaßte für viele Filme, bei denen er Regie führte, das Drehbuch selbst) lag unten in seinem Arbeitszimmer. Er war immer noch nicht imstande hinunterzugehen, aber Claire hatte das Gefühl, ihn früher oder später über das seltsame Schweigen, das sein provisorisch Das Hamburger-Mädchen betiteltes Filmprojekt umgab, unterrichten zu müssen. Der provisorische Titel galt allgemein als mißverständlich, und Tom hatte gewiß vor, ihn abzuändern. Allmählich wunderte er sich über den Mangel an Neuigkeiten aus der Filmbranche – von freundlichen Kartengrüßen und Blumen einmal abgesehen. Cora wußte, daß er vor Wut ersticken würde, wenn er erführe, daß die Dreharbeiten abgebrochen worden waren. Aus diesem Grund zog sie es vor, seinen Zorn wenigstens teilweise auf seine Frustration umzulenken. »Papa«, sagte sie geradeheraus, »du mußt dich nächste Woche am Rückgrat operieren lassen, oder du wirst nie wieder gehen können. Wir haben einen Termin für dich in der Klinik.« Er stand mitten in seinem riesigen Schlafgemach und lehnte sich auf zwei Unterarmstützen. Zu ihrer Verwunderung sagte er: »Na schön.« Und als sie ihn des weiteren von der Einstellung der Dreharbeiten an seinem Film unterrichtete, sagte er: »Gut. Ohne mich, Cora, hätten sie doch nur alles verhunzt.« Claire und Schwester Julia, die draußen vor der Schlafzimmertür lauschten, waren ebenso erstaunt. »Erzähl mir mal«, sagte Tom, »wie Johnny nach Indien 21
gekommen ist. Wer ist für die Fahrtkosten aufgekommen? Du etwa?« »Nein, er hat seine Abfindung mitgenommen. Eine stattliche Summe. Mehrere tausend Pfund. Papa, ich wollte es dir ja nicht sagen, aber er ist fort.« »Wieviel hat er dir abgegeben, bevor er verschwunden ist?« »Nichts. Er hat sich einfach abgesetzt.« Jetzt mußte Cora weinen. »Laß ihn nur«, sagte ihr Vater. »Nimm ihn ja nie wieder bei dir auf. Du kannst dich scheiden lassen. Er war sowieso nicht dein Typ, und jetzt weißt du’s. Die selbstsüchtige kleine Ratte.« »Johnny sah so gut aus«, sagte Cora. »Wir haben ein hübsches Paar abgegeben, machen wir uns nichts vor.« »So gut wie du wird er nie aussehen. Machen wir uns nichts vor«, sagte Tom zu seiner nun wirklich schönen Tochter. Allein zuzusehen, wie sie sich durchs Zimmer bewegte, war ein ästhetischer Genuß. »Indien«, sagte sie. »Ich habe ihn gefragt: ›Wieso ausgerechnet Indien?‹ Er hat geantwortet: ›Um meinen Guru und ein paar Tempel im Süden zu sehen und um dieser materialistischen Hölle zu entfliehen. Das ist ein Abschied auf immer‹, hat er gesagt. ›Ich kehre nie mehr zurück. Den Saphirring kannst du verkaufen. Wir können uns jederzeit scheiden lassen, ganz wie du willst. Es ist ein Lebewohl.‹« »Warum weinst du?« fragte Tom. »Bei einem solchen Kerl ist überflüssig genau das richtige Wort. Er ist ein überflüssiger Mensch.« »Er hat nur ein paar Klamotten mitgenommen«, sagte Cora. »Und ich habe den Rest genommen und im Garten ein großes Feuer veranstaltet. Seine Schuhe habe ich weggeschenkt, die waren noch ganz anständig.« »Recht so. Er wird wiederkommen wollen. Aber laß dich 22
nicht auf ihn ein. Hat er den Hausschlüssel mitgenommen?« »Ich denke schon.« »Laß das Schloß auswechseln. Wenn ihm das Geld ausgegangen ist, wird er versuchen zurückzukommen.« »Ach, das glaube ich nicht.« »Laß dir einen Rat geben«, sagte Tom. »Ich bin alt und erfahren. Jedenfalls alt. Als ich zur Premiere der Mausefalle gegangen bin, war ich schon zwanzig. Nicht nur bin ich alt genug, dein Vater zu sein, ich bin dein Vater. Du solltest auf mich hören.« Als der Tag langsam zur Neige ging, machte Cora Anstalten aufzubrechen. Seit seinem Unfall war dies die schlimmste Tageszeit für Tom. Um seine abendliche Stimmung zu schildern, zitierte er Longfellow: Ach! Traurigkeit, bange Sehnsucht, Die nicht den Kummer erreicht, Die nur dem Kummer so ähnlich Wie der Nebel dem Regen gleicht. »Früher habe ich diese Tageszeit geliebt«, sagte er, bevor Cora aufbrach. »Die Arbeiter und Angestellten gingen nach Hause, und die Hauptdarsteller und die Regisseure versammelten sich zu einem Umtrunk, besprachen die getane Arbeit und planten für den nächsten Tag. Jetzt gibt es nur noch niederschmetternde Nachrichten im Fernsehen. Claire kommt mit einem Tablett voll widerlichem Essen. Sie findet die neue Köchin wunderbar. Sie heißt ebenfalls Claire. Diese Köchin sollte man aus der Küche hinauswerfen, mit dem Allerwertesten zuerst. Die mit ihren prätentiösen Gerichten und ihrem Schweinefraß, Gulasch und Crème-Caramels aus dem Supermarkt. Aber Claire läßt auf ihre ungarische Köchin nichts kommen. Es ist mir gleichgültig, wie sie gelitten hat. 23
Einmal Kommunist, immer Kommunist. Sie bildet sich ein, sie sei unseresgleichen und wir sollten ihr dankbar dafür sein, daß sie unter unserem Dach lebt.« Cora setzte sich wieder. »Ich bleibe noch ein bißchen. Komm, trinken wir ein Gläschen«, sagte sie. »Ich darf nichts trinken, wegen der vielen Antibiotika.« »Ein Gläschen kannst du dir ruhig gönnen«, meinte Cora. »Der Arzt hat’s Claire gesagt und Claire mir.« »Meine Frau hat einen Hausfreund«, sagte Tom. »Claire hat einen Hausfreund? Wen denn?« »Ich weiß nicht.« »Aber selbst wenn es stimmen sollte, kannst du es ihr verdenken?« sagte Cora. »Du hast so viele Frauen gehabt.« »Das gehört zu meinem Beruf«, entgegnete Tom. »Ihr Beruf ist Ehefrau.« »Du klingst nicht gerade überzeugend.« »Nun ja, eigentlich bin ich auch nicht überzeugt. Ich halte nichts von Überzeugungen. Meistens sind sie nur geheuchelt.« Claire sprach übers Haustelefon mit Tom. »Eben ist ein Fax für dich gekommen. Sie wollen die Dreharbeiten fortsetzen. Stan Shephard soll Regie führen. Sie müssen Geld aufgetrieben haben.« »Soll er nur Regie führen, ich habe das Interesse verloren«, sagte Tom. »Nun warte doch«, sagte Claire, die den Eindruck hatte, daß er auflegen wollte. »Sie wollen den Titel ändern: Wenn du stirbst, bring ich dich um. Ich finde ihn ziemlich …« »Nein«, erwiderte Tom. »Der provisorische Titel des Films lautet Das Hamburger-Mädchen. Mir gefällt Wenn du stirbst, bring ich dich um nicht. Er bezieht sich nur auf einen 24
einzigen Zwischenfall, eine einzige Episode des Films. Sag ihnen: nein.« »Es klingt so, als wollten sie den Film in diesem Sinne umarbeiten. Soll ich dir das Fax hochbringen?« »Nein. Antworte ihnen einfach: nein.« »Nein wozu? Nein zu dem ganzen Film, nein zu dem neuen Regisseur oder nur nein zu dem Titel?« »Nein zu allem.« »Das kannst du nicht machen. Sie haben die Filmrechte. Die Rechte am Skript, am Titel und am Regisseur. Das weißt du doch.« »Erkundigen sie sich nach meinem Befinden?« »Aber ja, sie hoffen, daß du dich auf dem Weg der Besserung befindest.« »Wenn sie sämtliche Rechte haben, weshalb schicken sie mir dann ein Fax?« »Aus Höflichkeit, nehme ich an«, antwortete Claire. »O nein, ganz und gar nicht. O nein. Ich hab’s mir anders überlegt, antworte ihnen gar nicht. Antworte nicht. Falls sie wirklich sämtliche Rechte haben, werden sie mich nicht mehr damit behelligen. Falls nicht, werden sie sich noch einmal melden. In jedem Fall solltest du Fortescue-Brown, den Anwalt, fragen. Er hat den Vertrag aufgesetzt, soll er sehen, wie er damit zurechtkommt.« Diesmal legte er auf, ehe Claire ein Wort einwerfen konnte. Schwester Julia setzte ein breites Lächeln auf, bei dem sie ihre Zähne entblößte. »Die gute Nachricht ist, daß Sie sich doch keiner weiteren Operation zu unterziehen brauchen«, sagte sie. »Es war eine Fehldiagnose, ein voreiliger Schluß, glücklicherweise hat der Chirurg es noch rechtzeitig gemerkt. Es ging dabei um die Röntgenaufnahmen.« »Ist es dieses Gespenst von einem Chirurgen, der ein Zimmer nicht betritt oder verläßt, sondern urplötzlich 25
erscheint und sich ebenso plötzlich wieder in Luft auflöst?« »Ebender. Mr. Gladstone Smith.« »Oh, ein Mr. Smith. Weiß er, wovon er redet?« »Aber gewiß. Sie brauchen nicht wieder ins Krankenhaus. Sie werden schon wieder auf die Beine kommen.« »Sobald ich dieser Tage eine Neuigkeit höre«, sagte Tom, »kommt jemand des Wegs und widerspricht ihr. Mein Film war abgeblasen, jetzt wird doch weitergedreht. Mein Schwiegersohn hat sich nach einer Stelle umgesehen, aber jetzt hat er meine Tochter sitzenlassen und macht in Indien Urlaub. Erst sollte ich wieder ins Krankenhaus und nun mit einem Mal doch nicht.« »So ist das Leben eben«, erwiderte Julia. »Nein, das gewöhnliche Leben ist nicht so. Aber eines will ich Ihnen sagen. Für die Leute im Filmgeschäft ist das Leben so. Bei uns ist alles widersprüchlich.«
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4 Marigold, Toms Tochter aus zweiter Ehe, und ihr Mann James wohnten (wenn er nicht gerade auf literarischen Reisen war) in einem geräumigen Cottage in einem Dorf in Surrey. Beide waren sehr ernste Menschen – für Toms Geschmack zu ernst, aber wer wollte behaupten, daß er über anderer Leute Charakter gerecht urteilte? Nur weil er stets bereit war, diesen Part zu übernehmen, und andere Menschen nur zu willig, ihm wie überwältigt zuzuhören, hieß noch längst nicht, daß Tom immer recht hatte (obwohl an dem, was er von sich gab, im allgemeinen etwas dran war). Wenn James unterwegs war, wohnte Marigold allein, doch zur Zeit waren James’ älterer Bruder Ralph und dessen Frau Ruth zu Besuch. Ralph und Ruth waren auf Marigolds Einladung hin aus London angereist, um über das Trauma seiner Entlassung hinwegzukommen und sich über sich selbst klarzuwerden. Sie waren Anfang Dreißig und hatten zwei Kinder, die aufs Internat gingen. Weil die Schulferien nahten und die Kinder bald nach Hause kommen würden, war Marigold zuversichtlich, daß die beiden nicht so lange bei ihr bleiben würden, wie sie ansonsten versucht gewesen wären. Unterdessen gab Marigold ihrem Hang zum Philosophieren, um nicht zu sagen: zum Predigen, nach. Bereits am ersten Abend des Besuchs ergriff sie gleich nach dem Abendessen das Wort. Die beiden angeheirateten Verwandten saßen Seite an Seite auf einem trübseligen blauen Sofa. Marigold, würdig wie eine Figur in den Werken George Eliots, reizlos, ungraziös, saß ihnen auf einem Stuhl gegenüber. (Wie hatte Tom es nur geschafft, sie zu zeugen? Und Claire, die ein so reiches Gefühlsleben hatte?) Marigold also ergriff das Wort: 27
»Vielleicht sollte niemand Verpflichtungen übernehmen«, sagte sie, »die an Auslagen mehr erfordern, als was man vom Arbeitsamt und an Einkommensbeihilfen erhält. Ein volles Gehalt enthält immer einen Überschuß, der nicht für notwendige Posten wie Hauskauf oder Schulgeld draufgehen sollte, es sei denn, diese Ausgaben lassen sich aus einem Privatvermögen bestreiten. Mit anderen Worten, wenn alle sparsam lebten, wäre eine Entlassung weder für den Betreffenden noch für seine Familie ein Schock. Mein zweiter Punkt: Abhängig Beschäftigte sollten über eine zusätzliche Einnahmequelle verfügen, etwa über ein Einkommen, das sich aus dem angelegten Überschuß eines guten, nicht zur Gänze ausgegebenen Gehalts ableitet. Mein dritter Punkt: Jeder Hauptverdiener sollte eine solide zweite Laufbahn wenn schon nicht zur Hand, so doch vor Augen haben, die er einschlägt, falls er in der ersten scheitert.« (Vielleicht ähnelte Marigold Tom nur darin, daß sie sich Monologen hingab. War dies jedoch ererbt oder nur nachgeahmt?) Ralph erwiderte: »In meinem Fall kommen deine guten Ratschläge zu spät.« Er war Leiter des Außendiensts in der riesigen Zweigstelle eines internationalen Elektronikunternehmens gewesen. Zusammen mit dreiundzwanzig anderen Angestellten war er abgebaut worden. Ralph blickte auf seine Uhr, sah, daß es sechs war, Zeit für ein Gläschen, ging zur Hausbar und goß sich einen Gin Tonic ein. Er fragte: »Kann ich euch Frauen etwas einschenken?« »Scotch mit Soda«, sagte Ruth. »Eine Cola light«, sagte Marigold, die entschieden so aussah, als sei sie über Ralphs selbstherrliches Gebaren verärgert. »Ich hoffe«, sagte sie, »du hast dich für ABM angemeldet und dein CV mit einem Antrag auf AFQ eingereicht.« 28
»Was heißt das, ABM und AFQ?« fragte Ruth. »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Anerkennung früherer Qualifikationen, CV heißt Curriculum vitae, das heißt …« »Diesen Ausdruck kenne ich«, versetzte Ruth. »Ich auch«, sagte Ralph. »Falls du damit fragen willst, ob ich mich auf andere Stellen beworben habe oder mich danach umschaue, ja, das tue ich, wenigstens habe ich es vor.« »Du mußt das AA deiner BV ausfindig machen und womöglich FBM beantragen.« »Na klar«, sagte Ralph. »Jederzeit.« Marigold sah enttäuscht drein. »Weißt du, was diese Abkürzungen bedeuten? Natürlich nicht. BV heißt Bezirksverwaltung, AA ist das Arbeitsamt deiner BV. FBM sind Fortbildungsmaßnahmen, auf die du zweifellos angewiesen sein wirst, falls du dich auf einen neuen Beruf umstellen mußt. Diese Begriffe sollten dir geläufig sein. Schließlich sind sie mir geläufig, warum also nicht auch dir?« Ruth entgegnete: »Man lernt eben nie aus. In der Zwischenzeit können wir von meinem Gehalt leben.« »Trotzdem solltet ihr einen SEZ beziehen.« (Damit meinte Marigold einen Staatlichen Einkommenszuschuß, doch Ralph und Ruth fragten nicht nach.) »Ich habe in der Zeitung gelesen«, sagte Ruth, »daß dein Vater gestürzt ist. Wie geht es ihm?« »Physisch ist er noch nicht wieder auf der Höhe, aber ansonsten geht er einem genauso auf den Geist wie immer. Er ist wieder zu Hause, muß aber fürs erste auf seinem Zimmer bleiben. Ich schätze, das Krankenhaus war froh, ihn loszuwerden. Den jüngeren Krankenschwestern gegenüber ist er zudringlich geworden und zu den älteren frech gewesen. Ich war dabei, als eine von den älteren Frauen hereinkam, um seine Temperatur zu messen und dergleichen. Sie fragte ihn: ›Haben Sie Stuhlgang gehabt?‹ Er entgegnete: ›Ja, Sie 29
auch?‹ So hat er sich aufgeführt. Mir tut meine Mutter leid, die sich zu Hause mit ihm abplagen muß. Natürlich ist da auch eine Pflegerin, die das Familienvermögen aufzehrt. Meine Halbschwester Cora stachelt ihn an. Sie hat bei mir angerufen und gemeint: ›Ich habe Papa gesagt, wenn er will, soll er auch die Nachtschwester dabehalten. Zu so etwas ist Geld schließlich da.‹« »Wird er wieder Regie führen können?« erkundigte sich Ralph. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Zur Zeit schreibt er viel. Vermutlich an einem Filmdrehbuch. Aber man kann nie wissen, ob seine Fähigkeiten durch den Schock nicht beeinträchtigt sind. Ich hoffe, er ist versichert und bezieht EUR, andernfalls …« »EUR?« fragte Ruth. »Erwerbsunfähigkeitsrente«, erklärte Marigold. Sie sprach langsam, als wäre Ruth eine Vollidiotin. »Andernfalls muß meine Mutter ihn unterstützen.« »Aber sie ist doch so wohlhabend«, wandte Ralph ein. »Du wärst überrascht«, sagte Marigold, »wenn du wüßtest, wie sehr die abhängigen Mitglieder einer Familie ein Vermögen dezimieren können.« »Offensichtlich«, erwiderte Ruth. »Aber hör mal, den Blantyres aus dem Hinterland von New York geht’s doch nun wirklich sehr, sehr gut.« »Geradezu prächtig«, sagte Ralph. »Blantyre Biscuits Inc. immer an führender Stelle. Deine Mutter hat doch wegen ihrer Heirat bestimmt keinen Verlust hinnehmen, keine Not leiden müssen. Sie ist noch immer eine Blantyre mit dem Geld der Blantyres und einem berühmten Gemahl.« »Es kommt jedoch einmal eine Zeit«, entgegnete Marigold, »es kommt eine Zeit, da man die Dinge sub specie aeternitatis betrachten muß. Soll heißen«, sagte sie, zu Ruth gewandt, 30
»unter dem Aspekt der Ewigkeit. Genau das werden meine Eltern jetzt tun müssen. Ihre Nützlichkeit, Tauglichkeit, Verantwortlichkeit prüfen, ihre Aufgaben und Verpflichtungen statt dieser ständigen Frauen- und Männergeschichten, wie sie es in der Vergangenheit getan haben, es immer noch tun und zweifellos auch weiterhin zu tun gedenken.« »Was sollten sie denn sonst tun?« fragte Ruth. »Zum Beispiel könnten sie sich scheiden lassen«, antwortete Marigold. »O nein«, wandten Ralph und Ruth wie aus einem Mund ein. »Meine Mutter hat einen Hausfreund«, sagte Marigold. »Ich glaube, er heißt Charlie. Als ich da war, klingelte mehrere Male das Telefon. Einmal ist meine Mutter hingestürzt, um abzuheben, und sagte: ›Das ist Charlie.‹ Offensichtlich war es Charlie, und als ich sie fragte, woher sie denn wüßte, daß Charlie anruft, erwiderte sie: ›Ich kenne seinen Klingelton.‹ Das heißt, sie ist in ihn vernarrt.«
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5 Toms Schlafzimmer ging auf einen Garten mit verschlungenen Kieswegen, Rasen, Gesträuch und Bäumen hinaus. Blumenbeete gab es nicht. Toms Möbel und ein Teil des Fußbodens waren mit Büchern und Papieren übersät. Es war ein großzügiges Zimmer, für ihn und Claire gedacht. Seit Toms Unfall hatte sie einer Nachtschwester Platz machen müssen, die nebenan im Ankleidezimmer wohnte. Jetzt, wo die Nachtschwester nicht länger benötigt wurde, hatte wieder Claire das Ankleidezimmer bezogen. Das riesige Schlafgemach allerdings stand Tom allein zur Verfügung – für seine Übungen und für die Massagen der Krankenpflegerin Julia. In einer Ecke des geräumigen Zimmers standen ein Sofa, ein paar bequeme Sessel, ein Tisch mit Getränken und andere, kleinere Tischchen. Hier empfing Tom seine Besucher, die über die Bücher treten mußten, wenn sie ihn begrüßen, ihm die Hand schütteln oder ihn umarmen wollten, je nachdem. Je mehr seine Verletzungen verheilten, desto häufiger hielt er Hof. »Mein Schlafzimmer«, prahlte er vor Claire, »ist zur Zeit ganz schön in.« Einmal, als Tom allein war, zählten zu seinen Besuchern auch Marigolds Schwager Ralph und dessen Frau Ruth. Sie befanden sich auf der Heimreise, nachdem sie ihren Aufenthalt bei Marigold auf eine Nacht verkürzt hatten. Tom hatte sie mindestens zwei Jahre lang nicht gesehen, seit Marigolds Hochzeit. Er selbst hatte Marigold zum Altar geführt und in den Kirchenbänken James’ Sippe bemerkt. Später, bei der Hochzeitsfeier, hatte er sie alle kennengelernt und festgestellt, daß sie ziemlich beschlagen waren. Er mochte Marigolds Mann, damals noch Journalist, und hoffte nur, daß er Marigold dabei helfen würde, weniger verspannt zu sein. Jetzt arbeitete er als Reiseschriftsteller – nicht, daß er 32
Marigold je auf Reisen mitgenommen hätte. Es machte sich nicht gut. Doch ein Familienmitglied, das er liebenswürdig fand und bei dem er sich wohl fühlte, war James’ Bruder Ralph. Claire wiederum war seiner Gattin Ruth zugetan, einer wohlproportionierten jungen Frau. Claire geleitete sie in Toms Zimmer. Tom hob zur Begrüßung die Unterarmstütze und schaltete das Fernsehgerät aus. Es war genau sechs Uhr abends. »Trinkt doch ein Gläschen«, sagte Tom. »Claire, gib ihnen was zu trinken.« Claire strahlte Charme aus. Sie war stets äußerst gepflegt – glänzendes blondes Haar, geschwungene Augenbrauen und ein ovales, geschminktes Gesicht. Ihr elegantes Kostüm war dunkel, ihre Seidenbluse weiß. Die Getränke schenkte sie mit einem Aufblitzen ihrer langen silbernen Fingernägel ein. »Du hast wohl Ärger«, sagte Tom zu Ralph. »Ich höre, du hast deine Stelle verloren.« »Du hast doch noch viel mehr Ärger«, sagte Ralph. »Erzähl uns, wie’s dir geht.« »An manchen Tagen besser als an anderen. Ich muß Pillen schlucken. Es kommt eine Krankengymnastin. Ich mache Übungen. Früher oder später werde ich wieder auf dem Damm sein. In meinem Alter vielleicht eher später als früher.« »Es muß ein furchtbarer Schock gewesen sein«, meinte Ruth. »Er hat Glück gehabt, daß er noch am Leben ist«, sagte Claire. »Am Leben zu sein heißt nicht immer, Glück gehabt zu haben. Aber in meinem Fall schon, denn ich genieße mein Leben. Könnt ihr zwei ein paar Nächte bleiben?« »Natürlich können sie das«, sagte Claire. »Wir haben es schon abgesprochen.« 33
»Weil ich nämlich früh ins Bett muß«, erklärte Tom. »Ich nehme mein Abendessen im Bett ein. Julia, meine Pflegerin, muß um halb acht zu Hause sein. Sie hat drei Kinder und einen netten Ehemann, die auf sie warten. Aber ich hätte gern Gelegenheit, mich morgen im Lauf des Tages mit euch zu unterhalten.« »Wir könnten doch alle später noch einmal hereinschauen«, sagte Claire. »Nein. Nach den Nachrichten schlafe ich ein.« »Ach, Tom«, erwiderte Claire, »du mußt dir abgewöhnen, so früh schlafen zu gehen. Das macht dich alt. Schau dir die Politiker an, mit dreiundsechzig sind sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.« »Die sorgen nur dafür, daß ich noch früher schlafen gehen will, besonders mit ihren Interviews. Keine Eloquenz, nicht das geringste bißchen Talent. Und die Talkshows sind meistens so schäbig produziert. Schlechte Beleuchtung, unschmeichelhafte Nahaufnahmen und dergleichen. Wie ich mich nach kultivierter Unterhaltung sehne! Früher kannte ich jede Menge ältere Schriftsteller, Intellektuelle und Theaterleute. Jetzt sind sie alle tot oder doch fast tot. Das Jahrhundert wird alt, sehr alt. Alt mit allen Schwächen des Alters, besonders was Eliot den ›verzweifelten Einsatz nachlassender Kräfte‹ genannt hat. Man sieht es allenthalben. Es ist grotesk.« »Haben Sie eine Ahnung«, fragte er Julia, als sie ihm auf einem Tablett sein Abendessen brachte, »wer heute abend unten speist?« »Die beiden neuen Gäste«, antwortete Julia. »Und Claire und Charlie.« »Beschreiben Sie mir Charlie. Ist er klein und dick?« »Nein, groß und männlich. Sogar sehr gut aussehend. 34
Ereifern Sie sich nicht, Tom. Ich bin sicher, er ist nur ein Freund.« »Bleibt er über Nacht?« »Ich glaube nicht.« In der Küche erörterten Claire, die Köchin, und Dollie, das Dienstmädchen, genau die gleiche Frage. Im Gästezimmer war kein Bett bezogen, für sein Frühstück nichts gerichtet. »Wir haben den Eindruck, daß er nur zum Abendessen hier ist, als Tischherr sozusagen.« »Wie nett von Ihnen, daß Sie mir alle diese Informationen geben«, sagte Tom. »Hat er ihr Blumen mitgebracht?« »Nein, keine Blumen. Vielleicht schickt er ihr morgen welche. Nach einer Abendgesellschaft lassen sie oft Blumen vorbeibringen.« »Scheint er denn so viel Sinn und Verstand zu haben?« »Ich weiß nicht. Ich hatte keine Gelegenheit, ihn aus der Nähe zu beurteilen«, erwiderte Julia, die sich ihre Straßenkleider anzog. »Soll ich auf das Tablett warten?« fragte sie. »Nein, Claire kommt später noch mal hoch und bringt es weg. Gute Nacht, Julia.« »Bis morgen dann.« Toms erster Besucher am anderen Morgen war Ralph. Es war halb zehn. Das Bett war gemacht, und Tom saß in seinem Sessel und hatte die Beine auf eine Fußstütze gelegt. »Unabhängig von meiner Gehbehinderung«, sagte Tom, »wollen wir im Haus einen Fahrstuhl einbauen, damit wir leichter hinauf und hinunter können. So wie’s jetzt aussieht, denke ich, daß ich die Treppen innerhalb von vier bis sechs Wochen wieder bewältigen kann. Hat man mir jedenfalls gesagt.« »Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Nichts, danke. Ich nehme an, du hast genug damit zu tun, 35
dich nach einer anderen Stelle umzuschauen?« »Ich werde auf dem Gebiet tätig werden. Ich finde, es ist anstrengender, Arbeit zu suchen, als sie zu tun.« »Hat dich deine Entlassung schwer getroffen?« »Ja. Auch wenn ich halbwegs damit gerechnet hatte. Sie hat mich wirklich schwer getroffen. Immerhin habe ich einen gewissen Status genossen und über ein regelmäßiges Einkommen verfügt, und dann von einem Augenblick auf den andern – nichts. Aber ich habe mich zusammengerissen und mit der Firma ein Abkommen getroffen. Dazu gehörten die Abfindung und das Schweigegeld.« »Was für ein Schweigegeld?« »Ich mußte mich verpflichten, meinem nächsten Arbeitgeber gegenüber keine Firmengeheimnisse preiszugeben.« »Das Versprechen zu halten dürfte dir schwerfallen. In einer neuen Stellung müßtest du deine Kenntnisse natürlich voll zur Anwendung bringen.« »Ja, das Versprechen läßt sich unmöglich halten. Es ist nur so, wenn man eine Abmachung unterschrieben hat, darf man nicht hausieren gehen und sein Wissen gesondert verkaufen. Wissen ist Macht, besonders in der Elektronikbranche.« »Wissen ist immer Macht«, sagte Tom. Er betrachtete Ralph mit neuen Augen: kariertes Hemd, elegantes, locker fallendes Tweedjackett, enge Köperhose, gutes Schuhwerk. Ein offenes, leicht gerötetes Gesicht, große, graue Augen, eine Fülle glatten, dunklen Haars, schön geformte Hände. Ralphs Bruder, Toms Schwiegersohn, hatte ihn um seine Erwerbsfähigkeit beneidet. Er schrieb Reisebücher, lebte jedoch über seine Verhältnisse und hielt sich jetzt vor allem mit Marigolds Vermögen über Wasser, welches, dank Claire, nicht unbeträchtlich war. Inzwischen war Ralph alles andere als ein finanzielles Wunderkind. Er war – vermutlich für lange Zeit, womöglich für immer – arbeitslos. 36
»Du hast die Jugend auf deiner Seite«, sagte Tom. »Du meinst, ich kann noch einmal umsatteln?« fragte Ralph. »Ja, unter anderem meine ich das.« »Aus persönlicher Erfahrung kann ich dir sagen, daß Arbeitslosigkeit sexuelle Katastrophen auslöst«, erklärte Ralph. »Sie verursacht Existenzangst und Erektionsstörungen.« »Es ist noch zu früh am Tage«, erwiderte Tom. »In ein paar Wochen wirst du über solche Komplexe hinweggekommen sein.« »Der Statistik zufolge nicht. Anscheinend geht mit dem Phänomen männlicher Arbeitslosigkeit häufig ein drastischer Rückgang an sexuellen Aktivitäten einher. Die Begierde ist beeinträchtigt, eine vollständige Erektion ein Ding der Unmöglichkeit. Ich habe einen Artikel darüber gelesen, und jetzt muß ich feststellen, daß er zutrifft.« »Es wird sich schon geben. Das ist eine Folge der Schockwirkung. Laß es vorerst bleiben.« »Ruth sagt das gleiche. Sie ist sehr verständnisvoll.« »Du Glückspilz.« Julia mit ihrem zähnebleckenden Lächeln trat ein. In ihrer malvenfarbenen Tracht mit den weißen Streifen wirkte sie ausgesprochen frisch. In der einen Hand hielt sie ein kleines Arzneifläschchen mit Antibiotika, in der anderen ein Glas Wasser. Tom schluckte die Pillen und spülte sie hinunter. »Widerliches Zeug«, sagte er. Julia schenkte Ralph im Hinausgehen ein Lächeln. »Nicht übel«, sagte Ralph. »Pferdegebiß.« »Frauen mit Pferdegebiß sollen sexy sein.« »Woher soll ich das wissen? Sie hat einen Mann und drei 37
Kinder. Zur Zeit bin ich sexuell nicht aktiv, aber ich verspüre das heftigste Verlangen. Normalerweise habe ich Frauen in Mengen.« »Ist mir schon zu Ohren gekommen. Sollte ich nicht lieber gehen?« »Nein, bleib noch. Die Vormittage sind für mich am langweiligsten. Nachmittags lese ich, und abends sehe ich mir irgend etwas in der Glotze an, so dämlich es auch ist, oder ein Video, manchmal zusammen mit Claire. Es sei denn, du bist in Eile …« »Nein, durchaus nicht. Eigentlich bin ich nur gekommen, um dir zu sagen, daß Claire ungeheuer nett zu uns gewesen ist. Gestern abend hat sie Ruth einen Scheck über fünftausend Pfund überreicht. Momentan leiden wir noch keine Not, aber er kommt uns gelegen, und es ist hochanständig von Claire, wenn man bedenkt, daß wir nicht eben eng miteinander verwandt sind.« »Claire ist sehr reich«, sagte Tom. »Und ich darf zu meiner Freude sagen, daß sie mit ihrem Geld sehr freigiebig ist.« »Ich wollte nur sichergehen, daß du das Geschenk billigst.« »Oh, ich billige alles, was Claire tut. Ich bringe mein ganzes Leben damit zu, Claire zu billigen. Wir sind seit mehr als einem Vierteljahrhundert miteinander verheiratet.« »Du scheinst dein Leben eher damit zugebracht zu haben, ein Erfolgsmensch zu sein.« »Es hat nicht gereicht«, entgegnete Tom. »Jetzt bin ich arbeitslos, überflüssig.« »Aber doch nicht für immer. Ein Mann in deiner Position – das muß dir doch große Genugtuung verschaffen«, sagte Ralph. Er stand auf und trat ans Fenster, offenbar, um einen Blick nach unten in den Garten zu werfen. Es war ein schöner Tag, ein Umstand, der, wie Tom dachte, Ralph keinen rechten Trost zu spenden schien; vielleicht sogar im 38
Gegenteil. »Als ich ein junger Schriftsteller war«, erzählte Tom, »als ich zum ersten Mal Drehbücher schrieb und Regie führte, hatte ich sehr viele Freunde, die älter waren als ich, einige nur ein wenig, andere um vieles älter. Jetzt, wo ich darauf angewiesen bin, daß sie mich besuchen kommen, daß sie vorbeischauen und sich mit mir unterhalten, sind die meisten von ihnen tot. Wenn Auden noch lebte, hätte er mich in seinen abgetragenen Kleidern besucht. Wystan sagte, er habe stets das Gefühl gehabt, seine Eltern müßten ihn einkleiden, und dieses Gefühl habe er selbst als Erwachsener nicht mehr abschütteln können. Er hat sein Geld gern fürs Essen aufgewandt. Wystan gab gute Diners. Ich weiß noch, was für herrliche Mahlzeiten er einem in den sechziger Jahren vorsetzte, als er in Manhattan lebte, in einer Slum-Gegend am St. Mark’s Place. Gewöhnlich wurden diese köstlichen Gerichte von seinem Geliebten Chester Kallman zubereitet. Wystan bewahrte seine neuen Arbeiten immer unter dem Sofa auf. Dann kroch er unters Sofa, um ein Bündel Gedichte hervorzuholen, aus denen er mir vorlesen wollte. Die Küchenschürze umgebunden, kam Chester mit hochrotem Gesicht aus der Küche ins Wohnzimmer. Eigentlich habe ich Chester nur selten ohne Schürze gesehen. Selbst in Österreich, wo ich die beiden das letzte Mal besuchte, hatte Chester die große Küchenschürze umgebunden. Er bereitete österreichische Speisen zu – Knödel, aber was für welche! Aber er war mehr als ein Koch, er war ein guter Librettist. Wenn Graham Greene noch am Leben wäre, hätte er vorbeigeschaut, vielleicht nicht unbedingt im Krankenhaus, aber ganz gewiß hier bei mir zu Hause. Sein wichtigstes Gesprächsthema, wenn man mit ihm zusammentraf, war Sex, zumindest am Anfang. Er hatte eine Vielzahl von Frauen und litt die ganze Zeit unter Schuldgefühlen. Ohne Frauen hätte er, glaube ich, nicht arbeiten können. Er brauchte sie für seine Schriftstellerei. Graham hätte mir ein Dutzend Flaschen 39
erlesener Weine oder Champagner geschickt. Wenn er gewußt hätte, daß ich in diesem Schlafzimmer eingesperrt bin, wäre er am Abend zu einem Gespräch und einem Drink vorbeigekommen. Er hätte unaufhörlich von Sex geredet, als wäre Sex die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Sex und Begehren und die damit verbundenen Gefahren wie Scheidung und Geschlechtskrankheiten. Ich habe versucht, ihn auf das Thema Religion zu bringen, aber was den Katholizismus anging, war er sehr zurückhaltend. Er war gläubig, ohne deswegen gleich alles zu schlucken – was durchaus möglich ist und jedenfalls sehr viel verbreiteter, als man annimmt. Er mußte einfach glauben, bei ihm war es etwas Unwillkürliches. Soweit seine Überzeugungen. Aber in einiger Hinsicht hatte er eine bürokratische Vorstellung von der katholischen Glaubenslehre, aber die haben ja viele Katholiken, einschließlich des jetzigen Papstes. Greene nannte mich übrigens nicht Tom. Bei ihm hieß ich immer ›Richards‹. Aber Claire nannte er natürlich ›Claire‹. Dabei fällt mir Allen Tate ein, noch so ein Katholik, der scharf auf Frauen war. Hast du schon einmal von Tate gehört?« »Nein«, erwiderte Ralph. »Es sei denn, du meinst einen amerikanischen Schriftsteller, der mir bekannt vorkommt …« »Er kommt dir zu Recht bekannt vor. Ein amerikanischer Dichter und Kritiker, ein richtiger Englandnarr. 1957 hatte er eine Audienz bei Pius XII. Er erzählte mir, wie sie verlief. Allen sagte: ›Eure Heiligkeit, den englischen und den amerikanischen Bischöfen ist unwohl bei dem Gedanken an das Verzeichnis der verbotenen Bücher. Angesichts der Zensur in den totalitaristischen Staaten fordern die intelligenten katholischen Laien größere demokratische Freiheiten.‹ ›Ach ja‹, sprach der Papst, ›letzte Woche war Maritain in dieser Angelegenheit hier. Kürzlich kam auch Greene 40
deswegen. Wie viele Kinder – Neffen haben Sie?‹ Allen nannte ihm die Zahl. Der Papst sagte: ›Hier sind vier Rosenkränze. Die schwarzen sind für die Buben, die weißen für die Mädchen.‹ Ende der Audienz.« »War das der Papst vor dem jetzigen?« »Nein, das war vor fünf Päpsten.« »Rufen deine Freunde nicht an?« »Doch, schon. Claire nimmt ihre Anrufe entgegen. Mir ist nicht immer nach Sprechen zumute. Sie können mir ein Fax schicken. Das tun sie auch, ziemlich oft sogar. Ich will nicht immer darauf eingehen. Sie wollen wissen, ob ich damit einverstanden bin, in sechs Monaten an irgendeiner Universität einen Vortrag über Filmregie zu halten, sie wollen wissen, ob sie einige Absätze in meinem Drehbuch umschreiben dürfen, sie wollen wissen, ob sie mich besuchen dürfen. Was soll ich antworten? Ich könnte sagen: ›Ich habe Rückenschmerzen. Ich zersetze mich. Ich falle tot um. Macht doch, was ihr wollt.‹ Wenn es Louis MacNeice wäre, würde ich ihn zu mir kommen lassen. Ich habe einige Male im Dritten Programm mit ihm zusammengearbeitet, als das Programm und der Rundfunk insgesamt noch etwas bedeuteten. Aber Louis ist tot.« »Findest du nicht, daß du deine Memoiren schreiben solltest?« »Mit dreiundsechzig bin ich zu jung, um meine Memoiren zu schreiben. Ich bin immer noch dabei, Memoirenwürdiges zu schaffen, was auch richtig ist. Aber wie du dir vorstellen kannst, sind meine Erfahrungen mit historischen Augenblicken zur Zeit begrenzt, wenn nicht gar gleich Null. Natürlich weiß man das nie genau, bis man zurückblickt.« Ralph sah immer noch aus dem Fenster. »Da kommt ein überaus schönes Mädchen den Gartenweg heraufgelaufen«, 41
sagte er. »Das dürfte Cora sein, meine Tochter aus erster Ehe. Marigolds Halbschwester. Man vermutet es kaum. Cora wird mit jedem Jahr schöner. Solltest du dich nicht lieber den anderen zugesellen?« Ralph ging ziemlich rasch aus dem Zimmer; offenbar hoffte er, Cora zu begegnen. Das Mädchen kam jedoch über die Hintertreppe in Toms Schlafzimmer. In einer schlanken Vase hielt sie eine einzelne Blume, ein großes gelbes Maßliebchen, ihre Gabe für den Tag. »Kann ich mit dir zu Mittag essen, Papa?« »Schön. Sag Claire, daß ich es auf dem Sèvres-Porzellan serviert haben möchte.« »O nein, das wird sie nicht tun.« Cora sah zu einem Tisch hinüber, auf dem bereits ein Dutzend gewöhnlicher Teller gestapelt war. »Die kannst du jederzeit zerschlagen«, sagte sie. »Ich will dieses gräßliche Geschirr nicht zerschlagen. Um mich abzureagieren, will ich das beste Porzellan im Haus.« Julia trat ein, ein Thermometer und einige Pillen in der Hand. »Bis später«, sagte Cora. Tom verspürte eine innere Unruhe. Er hatte das Gefühl, daß Cora auf Ralph treffen würde und sich daraus ein Drama entwickeln könnte. Er wußte, daß er Coras wegen eifersüchtig sein konnte, und die Vorstellung, daß sie die sexuellen Probleme des arbeitslosen und überflüssigen Ralph lösen könnte, behagte ihm gar nicht. »Machen diese Pillen impotent?« fragte er Julia. »Impotent? Nicht, daß ich wüßte.« »Mir fehlt der Sex.« »Sie dürfen sich nicht überanstrengen. Denken Sie an etwas anderes.« 42
6 In den ersten neunzehn Jahren war Coras Leben recht reibungslos verlaufen. Wegen ihres guten Aussehens und ihrer Geschicklichkeit im Reiten, Schwimmen und Tennisspielen brachte man ihr stets große Bewunderung entgegen. In der Schule gehörte sie zum Durchschnitt. Als ihr Vater auszog, war sie noch zu jung, um seine Abwesenheit zu bemerken – abwesend war er ohnehin ständig. Die Schwierigkeiten begannen in ihrem neunzehnten Lebensjahr. Es lag auf der Hand, daß sie sich als Schauspielerin versuchen würde, und dank Toms Beziehungen erhielt sie zahlreiche Chancen. Sie hatte das Aussehen, war fotogen, doch zur Schauspielerin fehlte es ihr an Vorstellungsvermögen. Diesen Umstand behandelte sie wie die meisten Schwierigkeiten – als ein Hindernis, das es zu überwinden galt: Das machte, neben ihrer Schönheit, ihre Stärke aus. Sie hatte eine vollkommene Figur, ein frisches, reizendes Gesicht, schön geformte Hände, graugrüne Augen und eine Mähne brünetten Haars. Sie schritt geschmeidig wie ein Leopard dahin. Tom liebte sie abgöttisch. »Wie schade, daß sie nicht schauspielern kann«, hörte man ihn sagen. »Sie hat so viel zu bieten. Aber die Schauspielerei ist eine Kunst, die sich nicht erlernen läßt. Ein gewisses Maß an Ausbildung mag die Darstellungskunst eines Schauspielers zwar verbessern, aber zum Schauspieler muß man geboren sein – mit allem, was dazugehört. Im Grunde ist die Schauspielkunst die Kunst der Heuchelei. So etwas läßt sich nicht beibringen. Cora taugt ja nicht einmal für die Fernsehwerbung. Ihr Mienenspiel ist immer so unwillkürlich, sie kann einfach nichts vortäuschen. Kunst ist etwas, das man fertig auf die Welt mitbringt, so wie Cora ihre Schönheit.« 43
Die Kunst der Verstellung war Cora so fremd, daß sie in einigen ihrer Beziehungen, besonders mit Männern und Arbeitgebern, entschieden im Nachteil war. Sie konnte sich nicht heftig oder ausdauernd genug verlieben, um das Verlangen, das sie in Männern weckte, auch zu erwidern. Aus Langeweile hielt sie es in keiner Stellung lange aus, selbst wenn sie für Illustriertencover abgelichtet wurde. Inzwischen war sie neunundzwanzig, stellungslos und von schönerem Äußeren denn je, der Liebling ihres Vaters. Es war Marigold, die Claire und Tom schadenfroh die Nachricht hinterbrachte, daß Cora und Ralph eine Affäre hätten. Dabei waren nicht einmal zwei Wochen vergangen, seit Ralph von Toms Schlafzimmerfenster aus Cora zum ersten Mal gesehen hatte. Claire, Tom und Marigold nahmen in dem Wohnteil von Toms Schlafzimmer Drinks zu sich, als Marigold mit der Neuigkeit herausplatzte. »Aber als Folge seiner Entlassung hat Ralph doch einen sexuellen Komplex«, sagte Tom ungestüm, fast hoffnungsfroh. »Ein anscheinend in ganz Europa verbreitetes Phänomen.« »Bei Cora hat er durchaus keinen sexuellen Komplex, das weiß ich«, entgegnete Marigold. Marigold weiß in allem Bescheid, dachte Tom. Wie schafft sie das nur? Offensichtlich, indem sie es sich zur Aufgabe macht, Bescheid zu wissen. Nur so wissen die Leute Bescheid. »Und er hat Cora eine goldene Uhr gekauft, ein ungeheuer kostspieliges Modell«, setzte Marigold hinzu. »Er hat sie mit einem Teil des Geldes bezahlt, das Mutter ihm gegeben hat, das weiß ich.« (Das weiß sie … ) »Wenn es ihm dabei hilft, über den Berg zu kommen, kann ich ihm keinen Vorwurf machen«, sagte Claire. »Dazu war das Geld schließlich da.« »Es ist nicht Coras Aufgabe, irgend jemandem über den 44
Berg zu helfen«, sagte Tom. »Was ist mit seiner Frau?« fragte Claire. »Weiß Ruth Bescheid?« »Das weiß ich nicht«, sagte Marigold. (Etwas, das sie nicht weiß … Noch nicht.) »Noch nicht«, fügte Marigold unschuldig hinzu. Soviel Mühe er sich auch gab, Tom konnte die Tochter, die Claire ihm geschenkt hatte, nicht lieben. Selbst Claire zeigte sich gelegentlich beunruhigt, wie Marigold sich entwickelt hatte. »Bestimmt ahnt Ruth etwas«, fuhr Marigold fort. »Er kann seine Abwesenheit nicht immer damit erklären, daß er auf Stellensuche ist.« »Die Sache geht sicher vorbei«, sagte Tom. »Das wird sich schon wieder geben. Wahrscheinlich findet er eine Stellung. Er ist ein sehr fähiger junger Mann.« »Fähige junge Männer gibt’s wie Sand am Meer«, sagte Marigold. »Und solange Mutter ihm einen dicken Scheck nach dem andern ausschreibt, wird Ralph keine Stellung finden.« »Schließlich ist es mein Geld, nicht deins«, sagte Claire ohne jede Heftigkeit. Sie war es gewohnt, ihrer Familie gegenüber sich dieses Ausdrucks zu bedienen. Sie verwendete ihn häufig. »Es dreht sich darum, was für Ralph gut ist. Seine Ehe. Und darum, was für Cora gut ist«, sagte Marigold. »Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich um eine moralische Frage.« Früher oder später, dachte Tom, mußte Marigold natürlich eine moralische Frage daraus machen. Früher oder später. »Ich verstehe nichts von moralischen Fragen«, sagte Claire, »aber Cora sollte ein junges Ehepaar nicht entzweien. So viel Verstand sollte sie haben, sie ist alt genug.« »Cora ist so unwiderstehlich hübsch«, sagte Tom, »daß 45
Versuchung für sie etwas anderes, etwas Dringlicheres ist als für euch beide. Ihr könnt Cora unmöglich einen Vorwurf daraus machen, daß sie einem Mann den Kopf verdreht.« Claire sah auf ihre Uhr. »Es ist Zeit für deine Spritze«, sagte sie. Sie ging zur Tür des Nebenzimmers, und als sie öffnete, sah sie, daß Julia die Injektion schon vorbereitete. Zu Marigold gewandt, sagte sie: »Komm, wir gehen hinunter.« »Legen Sie eine CD auf«, sagte Tom zu Julia. »Suchen Sie Mahlers Erste Symphonie mit den New Yorker Philharmonikern heraus.« Sie gab ihm seine Spritze, fand die CD und legte sie auf. Am nächsten Morgen, Sonntag, kam die Aushilfsschwester. Telefonate für Tom wurden von den übrigen Hausbewohnern entgegengenommen, damit er nicht von unerwünschten Anrufern belästigt wurde, doch hatte er eine Direktschaltung nach draußen. Als er Coras Nummer wählte, wurde er nur mit dem Anrufbeantworter verbunden. Er hinterließ die Nachricht, sie möge ihn bitte zurückrufen. Er hatte Schuldgefühle, weil er sich in Coras Leben einmischen wollte, doch sein Wunsch war stärker als seine Schuldgefühle. Er war sich nicht sicher, was er Cora wegen ihrer vermeintlichen Affäre mit Ralph sagen würde. Wollte er sich nur danach erkundigen, sie warnen oder sie tadeln? Sie wollte sich von Johnny scheiden lassen. Sie war frei. Sie war neunundzwanzig. »Was geht unten vor sich?« fragte er die Schwester. Sie machte gerade sein Bett, die geblähten Laken sahen aus wie ein Schiff mit vollen Segeln. »Ihre Frau putzt Gemüse, weil heute Sonntag ist und die Köchin Ausgang hat.« »Sie kocht gern.« »Sie sagte mir, sie haßt es, Gemüse zu putzen, aber wie Sie 46
sagen, kocht sie gern. Ich habe ihr meine Hilfe angeboten, schließlich geht es auch um Ihre Mahlzeiten, aber davon wollte Claire nichts wissen.« Mit ausgestreckten Armen warf die Schwester das letzte Laken in die Luft und ließ es säuberlich aufs Bett herniedersinken. »Kommt irgend jemand zum Mittagessen?« »Ich weiß nicht. Aber es sieht so aus, als rechne man mit Gästen.« »Finden Sie’s heraus«, sagte Tom. Es klopfte an der Tür. Der Masseur, ein vierschrötiger, kräftiger Grieche, kam mit einer Tasche voller Salben herein. Er hieß Ron. Tom legte sich auf die orthopädische Liege. Während Ron eine Dreiviertelstunde lang knetete, trommelte und rubbelte, vergaß Tom, über Coras Liebschaft nachzubrüten und über die Frage, wer mit Claire zu Mittag aß. »Diese körperliche Erfahrung ist fast eine geistige«, bemerkte er zu Ron. »Das bekomme ich oft zu hören, das ist weithin bekannt«, sagte Ron. »Viele Leute haben das Gefühl, sich während der Massage geistig zu entspannen.« »Worin besteht dann der Unterschied zwischen Körper und Geist?« fragte Tom. »Es gibt wohl einen Unterschied, aber die beiden sind einander sehr ähnlich, wissen Sie«, erwiderte Ron. »Oder zumindest aufeinander angewiesen, denke ich«, sagte Tom. Es war nicht zu erwarten, daß Tom dem Regisseur, der ihn bei den Dreharbeiten ablösen sollte, gewogen gewesen wäre. Der Mann suchte Tom auf, um ihm seine Arbeitsweise auseinanderzusetzen. Daß er von seiner »ästhetischen Strategie« sprach, empörte Tom von Anfang an. Überdies 47
war der neue Regisseur erst um die Fünfunddreißig, in Toms Augen viel zu jung. Alles ging jetzt in einem selbst für die Filmindustrie riskanten Tempo vonstatten, offenbar, um den Schaden wettzumachen, den Toms Sturz dem Projekt zugefügt hatte. Inzwischen sollte der Film weder Das Hamburger-Mädchen noch Wenn du stirbst, bring ich dich um heißen, sondern Die Hundertfünfzigprozentigen, ein Titel, dem Tom sich aus unerfindlichen Gründen widersetzte. Er faßte den Titel, die atemberaubend rasche Folge der Ereignisse und die periodisch wiederkehrende Formel »kosteneffektiv« als persönliche Kränkung auf. »Das geht zu weit«, sagte Tom. »Erst letzte Woche ein neuer Titel und diese Woche schon wieder ein anderer. Ich bin mir bewußt, daß wir in einer schnellebigen Zeit leben. Letzte Woche erst beschwerte sich meine Frau darüber, daß ihre Anteile an der Barings Bank zum Fenster hinausgeworfenes Geld seien, und diese Woche sind sie es doch nicht. Aber das geht zu weit. Sie können den Titel nicht ändern, ohne den ganzen Film zu ändern. Ich verweigere meine Zustimmung. Richten Sie ihnen aus, daß ich klagen werde.« Es ist überflüssig, an dieser Stelle den Namen dieses neuesten Regisseurs zu nennen, denn nach weniger als einem Monat war er hinausgeflogen, allerdings erst, nachdem sich Tom über die Vertragsaufkündigung für zwei junge Schauspieler empört hatte. »Die habe ich wegen ihres Aussehens ausgesucht«, sagte Tom in schrillem Tonfall. »Pah«, erwiderte der Parvenü, »Sie können Schauspieler doch nicht in erster Linie wegen ihres Aussehens engagieren.« Unterstützung suchend blickte er zu der Besetzungschefin, einer Frau reifen Alters, die er zu dieser Gelegenheit mitgebracht hatte. Doch die Besetzungschefin hatte nur Augen für Tom, den sie anhimmelte. »Als Schauspieler sind sie passabel«, sagte Tom, »aber was wichtiger ist, sie gleichen den Schauspielern, die die Rollen 48
ihrer jeweiligen Eltern spielen.« »Eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit«, sagte die Besetzungschefin. »Als Grundlage eines Films strebt man Plausibilität an, mein Lieber«, sagte Tom. »Hat man das erst einmal erreicht, kann man machen, was man will. Man zieht das Publikum mit, ganz gleich, wohin. Es ist äußerst schwierig, die Rollen von Eltern und ihren erwachsenen Kindern zu verteilen, außer in einer homogenen Gesellschaft. Mir genügt es eben nicht«, polterte er weiter, mit berechtigtem Stolz und ohne Taktgefühl, »die Rollen von Söhnen und Töchtern mit Schauspielern zu besetzen, die anders aussehen als auch nur ein Elternteil, oder die Rollen von Eltern mit Darstellern, die sich nicht einmal den Anschein einer Familienähnlichkeit mit ihren Kindern geben, wie man es in so vielen Filmen sieht. In Skandinavien ist es natürlich viel leichter, Rollen zu besetzen. Bergmans Blutsverwandte zum Beispiel sehen immer aus wie Blutsverwandte.« Als sich der neue Regisseur kurz darauf als Niete herausstellte, setzte Tom alles daran, seine ursprünglichen »Blutsverwandten« wieder mitmachen zu lassen. Er hatte keinen Erfolg, weil das Drehbuch inzwischen umgeschrieben worden war, um sie loszuwerden. Sie waren überflüssig. Tom hatte Geld in den Film investiert. »Ruf FortescueBrown an«, sagte er Claire. »Ich möchte mich aus dem Film ganz zurückziehen. Es ist nicht mehr mein Film. Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben. Ich ziehe meinen Namen zurück. Ich will mein Geld wiederhaben.« »Du könntest doch vom Rollstuhl aus Regie führen«, schlug Claire vor. »Über kurz oder lang wirst du dich im Rollstuhl bewegen. Wir könnten veranlassen, daß du jeden Tag ein paar Stunden bei den Dreharbeiten verbringst.« »Ich denke nicht im Traum daran«, erwiderte Tom. Dabei dachte er durchaus im Traum daran. Inzwischen 49
durfte er sein Zimmer verlassen und sich zu dem neuen Lastenaufzug schieben lassen. Claire machte viel Aufhebens, wenn sie ihn ins Auto bugsierte und den zusammenklappbaren Rollstuhl im Fond verstaute. Der Chauffeur. Die Wegbeschreibung. Er hatte den Verdacht, daß Claire froh war, ihn stundenlang aus dem Haus zu haben. »Wo ist mein großer Kran?« erkundigte sich Tom. »Was habt ihr mit unserem Chapman-Kran angestellt?« »Tom«, antwortete sein Assistent, »du kannst nicht mehr auf diesen Kran hinauf.« »Ich will wissen, wo er ist.« »Wir haben ihn vermietet. Du kannst doch noch nicht einmal den Kamerawagen benutzen. Meinst du im Ernst, die würden dich in einem solchen Neigungswinkel sitzen lassen?« »Es heißt, die Tatsache, daß der Kran bis zum Anschlag gekippt gewesen sei, habe mir bei meinem Sturz das Leben gerettet. Ist wissenschaftlich erwiesen, hat irgendwas mit dem Fallwinkel zu tun. Schließlich fliegen Piloten nach einem Absturz ja auch wieder. Der Kran …« »O nein, Tom, der Kran ist nicht mehr da. Du kannst ihn nicht mehr besteigen. Die Versicherung würde es dir niemals erlauben, selbst wenn wir es täten.« »Wer ist wir?« »Wir alle. Die Crew. Das Produktionsteam. Kein Kran. Um ehrlich zu sein, wir haben ihn verkauft.« »Ich brauche ein Megaphon. Ich brauche eine Menge Handkameras und Stative. In diesem Film wird häufig auf einen Gegenstand zugerannt. Ich will nicht, daß ihr Angst davor habt, die Kameras zu ruinieren. Der Kameramann muß sprinten und darf nur wenige Zentimeter davon entfernt anhalten.« »Das ist alles schon arrangiert, Tom. Zumindest teilweise. Es gibt jede Menge Kameras.« 50
»Zwischen einem Kameramann und einem engagierten Kameramann besteht ein himmelweiter Unterschied«, fuhr Tom fort. »Ihr braucht Inspiration. Wie weit sind wir gekommen?« »Wir müssen das Drehbuch gehörig umschreiben, Tom. Wir befinden uns in einem Übergangsstadium.« »Ich will das Drehbuch, mein Drehbuch«, sagte Tom. »Ich möchte es mit nach Hause nehmen und herausfinden, welche Änderungen ihr vorgenommen habt. Ich möchte, daß es wenigstens Anzeichen für Inspiration gibt. Weißt du, was Inspiration ist? Es ist die Ausgießung des Heiligen Geistes. Kürzlich habe ich mich mit einem Kardinal unterhalten. Er sagte, es gebe eine Theorie, wonach das Zeitalter des Vaters und das des Sohnes vorüber seien und wir uns dem Zeitalter des Heiligen Geistes näherten. Das Jahrhundert ist alt, sehr alt. Ruf mir meinen Wagen.« »Das Drehbuch, Tom«, sagte sein Regieassistent, »steckt im Augenblick noch im Versuchsstadium.« Aber er reichte Tom ein Exemplar mit vielen Eselsohren. Tom winkte den versammelten Crewmitgliedern zu, als er hinausgeschoben wurde. »Nur keine Bange, Tom.« – »Schön, dich zu sehen, Tom.« – »Kopf hoch, Tom.« »Ich komme morgen wieder«, sagte Tom. »Schlag acht.«
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7 Ein auf Erfahrung beruhender sechster Sinn sagte Claire, Tom werde zu der Überzeugung gelangen, er müsse Ruth zu Hilfe eilen, solange sich deren Mann Ralph mit Cora abgab. Bis zu seinem Unfall hatte er sich, ob bewußt oder unbewußt, besonders der Ehefrauen entlassener Männer angenommen und in der Hälfte aller Fälle Erfolg gehabt. Bei der Zusammenstellung dieser Statistik hatte Claire berücksichtigt, daß ein Filmregisseur auf Frauen besondere Anziehungskraft ausübt. Und um ehrlich zu sein, dachte Claire, halte ich es ja auch nur deshalb bei ihm aus, weil er ein interessanter Filmregisseur ist. Sie war Mitte Fünfzig. Die meisten ihrer Freunde, Männer wie Frauen, waren bereits die dritte Ehe eingegangen. Tom war ihr erster Mann, und obwohl sie wußte, weshalb sie ihm noch immer zugetan war, fragte sie sich nie, aus welchem Grund er bei ihr blieb. Sie war reich, diskret, was ihre Männerfreundschaften anging, tolerant, was seine Frauengeschichten betraf, eine gute Gastgeberin und attraktiv. Weshalb sollte ein Ehemann über sechzig sie verlassen? In der Tat hegte Tom keine derartige Absicht. Er machte Ruth, die von der Affäre ihres Mannes mit Cora immer noch nichts mitbekommen hatte, nur den Hof. Sie wußte lediglich, daß Ralph häufig auf Stellensuche war und im ganzen Land Einstellungsgespräche führte und daß Tom überaus freundlich und hilfsbereit war. Zum eigentlichen, dem physischen Teil einer Liebesaffäre war Tom noch gar nicht in der Lage, was sie einigermaßen in die Irre führte und sentimentale Gefühle in ihr wachrief. Seine Besuche im Rollstuhl und seine Blumengeschenke stimmten sie froh. Er brachte ihr ein in Weiß-, Rot- und Gelbgold gearbeitetes Armband mit. Sie trug hautenge Jeans und hatte langes 52
blondes Haar. Tom stellte sie sich als das HamburgerMädchen vor. Er schätzte sie auf Anfang Zwanzig, dabei war sie längst in den Dreißigern. Über ihre Tochter Marigold bekam Claire bald Wind von dem Flirt. Wie gewöhnlich versetzte Claire ihre Tochter in Wut, indem sie die Neuigkeit höchst geistesabwesend aufnahm. »Ist dir das denn völlig egal?« fragte Marigold mit einem schrillen Akzent auf dem Wort »egal«. »Nein«, antwortete Claire. »Das weißt du doch.« »Es ist eine Familienangelegenheit«, entgegnete Marigold. »Deswegen langweilt sie mich noch mehr als die anderen Affären deines Vaters.« »Weshalb läßt du dich nicht von ihm scheiden?« intonierte Marigold. »Das fragst du mich jedesmal. Und ich frage dich meinerseits, weshalb du dich nicht von deinem eigenen Mann scheiden läßt. Er ist nie zu Hause.« »Er kann nicht Reisebücher schreiben und gleichzeitig zu Hause bleiben.« »Er kann doch gar keine Reisebücher schreiben«, sagte Claire. »Jedenfalls keine guten. Sie sind zu verschwommen. Warum begleitest du ihn nicht auf seinen Reisen, wenn er nur reisen möchte?« Marigold ging. Es war erstaunlich, wie sauertöpfisch sie geworden war. Weder Claire noch Tom konnten es begreifen. Es traf zu, daß er an diesem Tag mit Ruth zu Mittag gegessen hatte. Claire hatte ihn einfach zur Rede gestellt. »Wie kommst du darauf?« fragte er. »Ich habe gehört«, sagte Claire, »daß Versicherungsgesellschaften ihre Vertreter in Gegenden schicken, wo entlassene Arbeiter wohnen, in der Hoffnung, von ihren Abfindungen zu profitieren.« 53
Tom brauchte nicht lange, um die Analogie zwischen sich und den Versicherungsagenten zu finden, und er erhob Einspruch: »Wir mußten die Zahl der Schauspieler tatsächlich von elf auf sieben verringern.« »Darunter wie viele Männer?« fragte Claire. »Drei.« »Sind sie verheiratet?« »Zwei sind verheiratet. Ihre Frauen sind sehr fade. Einer der entlassenen Schauspieler ist Jonathan Slaker, der andere Wolfgang Hertz. Mrs. Slaker ist nicht mehr die Jüngste, und Mrs. Hertz ist eine entsetzliche junge Buchhalterin. Mein Typ sind sie nicht. Außerdem übertreibst du. Ich bin zu Hause vollkommen glücklich. Was ist mit Charlie?« »Charlie?« sagte sie und war einen Augenblick wirklich verblüfft. »Ja, Charlie.« »Ach, Charlie. Das ist doch Schnee von gestern.« »Überflüssig«, meinte Tom. »So könnte man es ausdrücken«, sagte Claire. Tom fragte sich oft, ob wir etwa alle Figuren in einem von Gottes Träumen sind. Für einen Ungläubigen hätte das bedeutet, etwas Unwirkliches in einen ohnehin schon unwirklichen Zusammenhang zu stellen. Tom war gläubig. Er meinte das genaue Gegenteil. Unsere Träume sind in der Tat unwirklich; die Träume Gottes nicht. Sie sind wirklich, furchterregend wirklich. Sie strotzen von Fleisch, sie triefen von Blut. Meine eigenen Träume sind Schatten, sagte sich Tom, meine Streitereien – alles Schatten. Tom begann, nachts in einem Taxi herumzufahren, mit dessen Fahrer er sich angefreundet hatte. Ihm stand der Sinn nach Fortbewegung. Sie fuhren kreuz und quer und 54
überraschten viele Teilnehmer nächtlicher Straßenszenen. Dave, der Chauffeur, ein karibischer Einwanderer in der zweiten Generation, hatte volles Verständnis für Tom. Er verstand nicht, weswegen Tom in den Bezirken kreuzen wollte, in denen sich das Nachtleben abspielte, ohne irgendwelches Interesse an Sex zu zeigen; da er aber ein im biblischen Sinne gläubiger Mann war, hatte er seine helle Freude an Toms religiösen Überlegungen bei diesen Ausflügen. »Sind Sie verheiratet?« hatte Tom ihn gefragt. »Ja, meine Frau hat eine Halbtagsstelle in der Strumpfwarenabteilung von Harrods. Wir haben drei Kinder, einen sechzehnjährigen Jungen und zwei Mädchen, vierzehn und acht Jahre alt.« Das Taxi wartete mit eingeschaltetem »Besetzt«-Zeichen im Dämmerlicht vor der Tür. Tom bewegte sich mit wunderbarer Behendigkeit die Freitreppe hinunter. Claire sah ihm vom Eßzimmerfenster aus zu, wie er sich neben den Fahrer setzte und die Tür zuschlug.
Komm, wir gehen, du und ich … »Hat Ihre Frau nichts dagegen, daß Sie einfach so umhergondeln?« »Nein, nicht das mindeste. Sie weiß, daß ich mich gern fortbewege.« »Meine Frau hätte was dagegen«, sagte Dave. »Vielleicht hätte sie einen Grund. Claire mischt sich nicht ein. Eigentlich hat alles, was ich unternehme, mit meiner Arbeit zu tun«, sagte Tom. »Alles.« »Claire ist reich, sie ist Millionärin, ich habe in einer Illustrierten etwas über sie gelesen«, bemerkte Dave. »Amerikanische Kekse. Sie ist in diese fabelhafte Familie hineingeboren worden, wie hieß sie doch gleich noch …« In all den Jahren, in denen er sie kannte, hatte Tom noch 55
nie einen Artikel über Claire gelesen, der sie nicht nach ihrem Reichtum bemaß, als sei er ihr hervorstechendstes Merkmal. Sie ärgerte sich über dieses Image durchaus nicht. Fast an jedem Wochentag brachte sie etliche Stunden mit zwei altmodischen ledergebundenen Hauptbüchern zu, in denen ihre finanziellen Transaktionen zu Wohltätigkeitszwecken verzeichnet waren; diese wurden in einen Computer eingegeben und von ihrer tüchtigen Sekretärin schleunigst einem ihrer Anwälte zur Bearbeitung übermittelt. Claire nahm sämtliche Bittschreiben ernst; zwischen arglistigen Versuchen, ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen, und echten Bittgesuchen wußte sie sehr gut zu unterscheiden. Nur in diesem Sinne akzeptierte sie, ohne sich deswegen zu ärgern, die Unterstellung, ihrem Wesen nach ein Geldmensch zu sein. Obwohl es also zutraf, daß Geld einen integralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit bildete, war Claire daneben doch noch vieles andere. Tom war sich dessen voll bewußt. Was ihn immer wieder zu ihr hinzog, war ihre Loyalität ihm gegenüber, die stets die Oberhand über ihre Seitensprünge behielt; letztere fielen kaum ins Gewicht. Wenn Tom also von Zeit zu Zeit vor sich hin murmelte oder einer seiner Geliebten anvertraute: »Meine Frau hat einen Hausfreund«, war seine Bemerkung keine düstere Prophezeiung, sondern verriet höchstens einen Anflug von Ungeduld. Wenn sie in den hellerleuchteten Straßen umherkurvten, saß Tom neben seinem Chauffeur und äußerte sich nur selten über seine Umgebung. An den Verkehrsampeln stierten Gesichter durchs Fenster. Vielleicht fragten sich die Leute, was sie kaufen wollten oder zu verkaufen hatten – Sex, Drogen, was auch immer. Aber im großen und ganzen verschmolzen sie unbeachtet mit dem übrigen Verkehr. »In der Bibel steht geschrieben: ›Denn Sklaverei und Schande und Schmach ist es, wenn eine Frau ihren Mann ernähren soll‹«, sagte Dave. 56
»Wo in der Bibel steht das?« »Bei Jesus Sirach.« »Die Bibel lehrt keinen christlichen Glauben. Sie illustriert ihn nur. Die Bibel geht der Christenheit Hunderte von Jahren voraus. Das ist Geschichte.« »Wirklich? Das glaube ich nicht.« »Ganz wie Sie wünschen. Meine Frau würde nie Schmach empfinden, selbst wenn sie mich ernähren müßte, was sie nicht tut.« Neben einem hellerleuchteten Elektronikwarenhaus, in dem sich die Kunden drängten – die meisten davon sahen sehr jung und nicht sehr wohlhabend aus –, gerieten sie in einen Stau. »Je weniger Geld sie haben«, sagte Tom, »desto mehr Videokameras kaufen sie. Ich verstehe nicht, wieso.« »Die verderben Ihnen noch das Geschäft«, sagte Dave. »Auf mich machen sie den Eindruck, als wären sie arbeitslos«, erwiderte Tom. »Zöllner und Sünder.« »Woher wissen Sie das? Es hat sie niemand gedingt. In der Bibel heißt es, daß Jesus an dem Markte Männer müßig stehen sah, die Arbeit suchten. Er sagte, daß sie gleich wie die, die Arbeit hätten, entlohnt werden sollten. Sie warteten den ganzen Tag darauf, gedingt zu werden, und am Ende des Tages sagten sie: ›Es hat uns niemand gedingt.‹ Jesus zufolge hatten sie Anspruch auf den gleichen Lohn wie jene, die ihr Tagwerk verrichtet hatten.« »Mein Schwager hat keine Arbeit mehr«, sagte Dave. »Er hat in einer Pizzeria gearbeitet, und man hat ihn an die Luft gesetzt und für weniger Lohn einen anderen eingestellt. Er ist vors Arbeitsgericht gegangen, aber was soll in der Zwischenzeit aus ihm werden? Dabei verbringt er mehr Zeit mit der Stellensuche, schöpft mehr Möglichkeiten aus als so 57
manch einer, der Arbeit hat. Die Arbeitslosigkeit macht mir Sorgen; sie schwebt über uns allen.« »Für einen Fahrer gibt’s doch immer Stellen, besonders für einen Taxifahrer.« »Sollte man meinen. Aber so funktioniert es nicht.«
Komm, wir gehen, du und ich … »Kennen Sie die Verse des Dichters T. S. Eliot? Komm, wir gehen, du und ich, Wenn der Abend ausgestreckt ist am Himmelsstrich Wie ein Kranker äthertaub auf einem Tisch; …« »Nein, noch nie gehört.« »Was, glauben Sie, bedeutet das?« »Sagen Sie sie noch einmal.« Tom wiederholte sie. »Ich würde sagen, es bedeutet, daß da zwei Leute einen Abendspaziergang machen und über einen Dritten reden wollen, jemand, der nicht anwesend ist. Und diese beiden unterhalten sich nun über den Dritten, den Patienten.« »Sie analysieren ihn, zerpflücken ihn?« »So ähnlich. Wissen Sie denn, was es bedeutet?« »Das weiß keiner so recht.« Als Tom nach Hause kam, weckte er Claire, die gerade eingeschlafen war. Er reichte ihr sein Brillenetui. »Stell dir vor«, sagte er, »es befände sich darin ein Geschenk. Zeig mir mal, wie du es entgegennehmen würdest.« Claire zögerte, lächelte, streckte die Hand aus und nahm das Geschenk. »Genau so!« sagte Tom. »Es gibt eine ganz bestimmte Art, ein Geschenk anzunehmen. Die Hand muß zaudern. Es hat 58
mir den ganzen Tag zugesetzt. Die Darstellerin, die Nora spielt, reißt es an sich, als würde man ihr das Geschenk wegnehmen wollen. Aber du hast es richtig gemacht, Claire. Die Hand muß zaudern. Den ganzen Tag hat mir das keine Ruhe gelassen. Zeig mir’s noch einmal, laß mal sehen …« »Es kann gut sein, daß meine Nichte aus dem Film aussteigt«, sagte Mrs. Woodstock zu dem jungen Alec, dem führenden Modeschöpfer bei Blue Moon’s. »Sie sagt, seit seiner Genesung von dem Unfall sei er einfach unausstehlich. Er sei schon immer ein launisches Schwein gewesen, aber jetzt sei er unerträglich. Rose kann täglich, ja stündlich kündigen. Seien Sie nicht erstaunt, wenn Sie davon hören.« »Um etwas zu erreichen, darf man jedenfalls keine Szenen machen«, bemerkte Alec und trat einen Schritt zurück, um die Wirkung einiger Stecknadeln zu begutachten, die er in Elena Woodstocks Kleid gesteckt hatte. Er ging wieder auf sie zu und änderte zwei Nadeln unter ihren Achselhöhlen. »Er ist bekannt dafür«, sagte Alec und legte den Kopf schief, erst auf die eine Seite, dann auf die andere. »Rose wird kündigen«, sagte ihre Tante. »Wissen Sie, was er gestern von ihr verlangt hat? Sie mußte eine Szene wiederholen, in der sie von einem Liebhaber ein Geschenk empfängt. Nun, Rose spielte sie erwartungsvoll. Sie riß die Schmuckschatulle an sich und klappte sie, wie sie mir sagte, mit einem Japser auf. War das für Tom Richards etwa gut genug? Nein, natürlich nicht. ›Du mußt zaudern‹, hat er gesagt, als würde sie die Rolle der Liebhaberin nicht schon seit drei, vier Jahren spielen. ›Laß deine Hand zaudern. Grapsch nicht so.‹ Rose hatte nun wirklich nicht danach gegrapscht, sie wollte nur zeigen, wie gespannt sie war, was für ein Schmuckstück ihr Geliebter ihr mitgebracht hatte. Und da sagt doch Tom vor versammelter Mannschaft: ›Rose, ich muß mit dir reden. Heute abend, bevor du nach Hause gehst. Ich möchte gern, daß wir uns auf einen Drink 59
zusammensetzen, denn ich muß dir was erklären.‹ Rose sagte: ›Den Teufel wirst du tun, Tom. Vielleicht kannst du mir erklären, warum du so auf mir herumhackst. Und heute abend wirst du es mir schon gar nicht erklären, weil ich bereits eine Verabredung habe.‹ In Wahrheit hat er sich heftig in Rose verliebt, Alec, und ist so frustriert, daß er herumbrüllt. Er fing wieder an zu zetern, aber Rose ist einfach weggegangen. Wenn er sich heute nicht beruhigt, wird sie sich aus dem Film zurückziehen. Können Sie’s ihr verdenken?« »Ich kann’s ihr nicht verdenken«, antwortete Alec. »Aber Sie wissen ja, wie’s geht.« »Die Rolle ist Rose wie auf den Leib geschnitten«, sagte Mrs. Woodstock. »Ah, sie ist einfach hinreißend«, erwiderte der Damenschneider.
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8 Es wird Zeit, daß ich beschreibe, wie Tom sechs Monate nach seinem Unfall aussah, damals, als er wegen Rose Woodstock den Kopf verlor, jener Schauspielerin, die sich ihm in der Frage, wie man in einem Film ein wichtiges Geschenk entgegennimmt, widersetzt hatte. Der Sturz hatte Toms äußeres Erscheinungsbild zwar beeinträchtigt, jedoch beileibe nicht ruiniert. Er war hochgewachsen, hatte schöne, ebenmäßige Gesichtszüge und weit auseinanderliegende mandelförmige, dunkle Augen, um die sich einige Lachfältchen eingegraben hatten. Seit seinem Sturz hatte er sich einen stacheligen graumelierten Bart wachsen lassen. Obwohl es oft hieß, Tom habe seinen Sturz nur durch ein Wunder überlebt, hatten in Wahrheit mehrere Umstände dazu beigetragen, daß der Unfall weniger tragisch ausging, als er hätte ausgehen können. So war der Kran zum Beispiel nicht in voller Höhe ausgefahren, sondern wurde gerade herabgelassen, und im Augenblick seines Sturzes war Toms Sitz womöglich nicht mehr als zweieinhalb Meter vom Fußboden entfernt; darüber hinaus schlug Tom infolge des Neigungswinkels auf der Seite und nicht auf dem Rücken auf, und sein Kopf blieb verschont. Er landete auf einem Haufen leerer Packkisten – Teil einer Szene, die das Hinterzimmer eines Frisiersalons darstellen sollte. Um ein Haar wäre er auf ein Arrangement von Spiegeln gestürzt. In dem Fall hätte er sich schwere, ja tödliche Verletzungen zugezogen. Auf die eine oder andere Weise hatte Tom Glück gehabt. Allerdings hatte er sich sämtliche Rippen auf der rechten Seite und die rechte Hüfte gebrochen, und der Aufprall hatte ihn sechs Monate seines Lebens gekostet. Er ging noch immer am 61
Stock. Er war so attraktiv wie eh und je, will sagen: sehr attraktiv, und selbst im Alter von dreiundsechzig Jahren war seine Leidenschaft für Rose Woodstock, eine junge Achtunddreißigerin, durchaus nicht deplaziert – der Altersunterschied spielte keine Rolle. Tom wollte aus ihr eine erstklassige Schauspielerin machen und ärgerte sich, weil er wußte, daß sie nie erstklassig sein würde. Sie war ein Star – das war etwas anderes. Mit ihrer Verachtung für »elitäres Denken«, mit der sie nur ihre eigenen schauspielerischen Schwächen zu kaschieren suchte, trieb sie ihn zur Verzweiflung. Tom wollte eigentlich nur erfolgreich mit ihr ins Bett. Aber in der Liebe war er jetzt zu schnell. Er konnte die Sache nicht in die Länge ziehen. Ohne jede Verlegenheit oder auch nur das leiseste Zartgefühl beklagte sich Rose darüber, daß er auf eine Art liebe, als habe er es eilig, nach Hause zu kommen. Tom dachte an das Hamburger-Mädchen, das auf dem Campingplatz grillte. Wie zärtlich, wie französisch charmant und geduldig sie gewesen wäre. Rose hatte den Part des Hamburger-Mädchen übernehmen wollen, der aber nicht zu ihr paßte. Außerdem handelte es sich nur um eine relativ kleine Rolle. Ausgebildet auf einer Schauspielakademie, war Rose vom Scheitel bis zur Sohle Akademieschauspielerin. Äußerst kompetent, äußerst »akademisch«. An ihrer Darstellungsweise konnte jeder Zuschauer, der sich etwas auskannte, ihre Ausbildungsstätte ablesen. Ein Glas hob sie so vom Tisch, wie man es ihr auf der Akademie beigebracht hatte; schlechte Nachrichten nahm sie im Stil der Akademie auf. Sie entsprach nicht im geringsten dem Hamburger-Mädchen, wie es Tom ursprünglich vor Augen gestanden hatte. Seit kurzem lautete der Titel des Films Warme Würstchen. Insgeheim war Tom der Meinung, daß Rose Woodstock als Darstellerin eher ein armes Würstchen war. (Aber die Schwulenbewegung, die die Bedeutung des Titels, als er 62
bekanntgegeben wurde, vollkommen mißverstand, hatte ohnehin dagegen Protest erhoben, so daß der Titel zurückgezogen und bereits etliche neue Vorschläge gemacht wurden.) Toms Leidenschaft für Rose steigerte sich, je schlechter ihr Spiel wurde. Die Mitwirkenden büßten all ihre Spontaneität ein, so viel Streit und Zank entbrannte zwischen dem Regisseur und dem Star. Ihre Schauspielkunst verschlechterte sich in dem Maße, je weniger Tom zu einer dauerhaften Erektion in der Lage war, wenn er mit ihr ins Bett ging. Außerdem beschwerte sie sich darüber, daß sein stacheliger Bart ihr den Teint verderbe. Das nahm er, des Filmes wegen, ernst: Sie war unglaublich fotogen. Claire blieb nie auf, um auf ihn zu warten. Weshalb nicht? fragte er sich in seiner Wut und rief mehrere Male um halb sechs morgens seine Tochter Marigold an, um sie mit Beleidigungen wegen ihres flachbrüstigen Puritanismus und höhnischen Bemerkungen über die ehelichen Pflichtvermeidungen ihres Mannes zu überschütten. »Papa, ich schreibe an einem Buch. Ich bin spät zu Bett gegangen, und du hast mich aufgeweckt«, sagte Marigold. »Wovon handelt das Buch? Von den Scheußlichkeiten einer sexuell erfüllten Ehe?« »Es heißt Die Selbständigen und die Arbeitslosigkeit.« Sie fügte hinzu: »Im Grunde bezieht sich das auf Leute wie dich, Papa. Und wo wir schon einmal von persönlichen Dingen reden – deine Nase ist viel zu lang, ein regelrechter Zinken. Wenn ich eine Künstlerin wäre, die dein Porträt malen müßte, würde ich sie wie einen Partygast abbilden, der sich verspätet zu den übrigen Zügen gesellt hat. Unter Kleidern machen sich schmale Brüste sehr gut.« »Manchmal hörst du dich ganz intelligent und beinahe menschlich an«, entgegnete er. »Ich will damit nicht sagen, daß du’s bist, aber immerhin hörst du dich so an. Und auch nur gelegentlich. Du brauchst einen Mann, der dich 63
wachküßt, und das ist die nackte Wahrheit, Marigold.« Tom brauchte seine Pflegerin nicht mehr. Zweimal in der Woche unterwarf er sich eine Dreiviertelstunde lang einer Krankengymnastin, die ihn bei seinen Übungen anleitete. Jeden Samstagmorgen kam Ron, der griechische Masseur. Tom vermißte seine Fürsorgerinnen und Vertrauten. Ihre Lebensgeschichten, an denen er so großen Anteil genommen hatte, waren ihm jetzt auf immer abhanden gekommen – wie Fernsehserien, die aus dem Programm genommen und nie wieder gezeigt werden. Als letzte der Krankenpflegerinnen ging Julia. Er hatte sich an die Fortsetzungsgeschichten von ihren drei Kindern und ihrem Mann gewöhnt. Julia selbst hatte eine andere Stellung gefunden; ihr Mann dagegen, zweiter Mechaniker in einer Autowerkstatt, dessen Arbeitsplatz so sicher schien, wurde in der Woche vor der Beendigung ihrer Tätigkeit bei Tom entlassen. Tom hatte sie gebeten, mit ihm in Kontakt zu bleiben und ihn darüber auf dem laufenden zu halten, wie es ihrer Familie erging. Er hörte nie wieder etwas von ihr. Er hatte das Gefühl, als habe er während seiner Genesung von den Unfallfolgen Regie bei einem Film geführt, mit einer Mischung aus scharf prüfenden Blicken, Zynismus und aufrichtiger Anteilnahme unzählige Kandidaten vorsprechen lassen, was für ihn sechzig Prozent der Arbeit an einem Film ausmachte. Es war ein surrealer Prozeß, Rollen zu besetzen und sich dabei kreativ vorzukommen. In den Anfangsstadien beeinflußten Physiognomie und Körperwuchs die Gestalt seiner Filme stärker als das Drehbuch. Solange ein Film nicht zu drei Vierteln unter Dach und Fach war, lachte er den Leuten einfach ins Gesicht, wenn sie ihn fragten, wovon der Film denn handele. Tom sann nach: »Ich bin von meinem hohen Roß gestürzt. Jetzt will ich mich von meinen früheren Vorstellungen trennen. Wie bringe ich das zuwege?« 64
Komm, wir gehen, du und ich … Dave, der Taxifahrer, teurer, aber treuer Freund, der er war, saß auf dem Fahrersitz und bewegte sich durch den Straßenverkehr. Tom, reich wie er war, saß demokratisch neben ihm. »Sie sagen nie, wovon Ihr Film handelt«, bemerkte Dave. Tom lachte. »Warum lachen Sie? Das ist eine ernsthafte Frage. Sie sprechen von Ihrem Film, von diesem Bild und jenem Eindruck und so weiter und so fort. Sie schneiden, Sie billigen und Sie verwerfen. Aber wovon handelt er?« »Von einem Mädchen«, antwortete Tom. »Von einem Mädchen, das ich einmal auf einem Campingplatz in Frankreich gesehen habe. Ich hielt an einem Stand am Rande des Zeltplatzes an, um Kaffee zu trinken. Ein Mädchen grillte Hamburger. Sie war nichts Besonderes, einfach nur ein Mädchen. Aber ich nahm sie wie durch das Objektiv einer Kamera wahr. Wenn ich Leute wie durch ein Objektiv wahrnehme, weiß ich, daß ich daraus einen Film machen möchte.« »Versteckte Kamera«, sagte Dave. »Mehr läßt sich dazu wirklich nicht sagen«, erwiderte Tom. »Der derzeitige Titel des Films lautet Die Pauschalsumme …« Die Pauschalsumme … Tom wußte, daß er diesen Titel nicht beibehalten würde. Aber wie sehr sehnte er sich in seinem Wunschtraum doch danach, diesem armen jungen Hamburger-Mädchen eine Pauschalsumme zu vermachen. Und zwar anonym, so daß sie niemals erfahren würde, wie oder weshalb ihr dieses Vermögen zugefallen sei. Nie dürfte sie den edlen Spender aufspüren. Was für Folgen hätte das für sie? Anfangs wäre sie schockiert, ungläubig, dann allmählich gleichgültig. Ihr riesiges Vermögen (unter künstlerischen 65
Gesichtspunkten müßte es ungeheuerlich sein) würde sie annehmen, ohne nach seiner Herkunft zu fragen. War sie erst einmal überzeugt, daß es wirklich ihr, ganz allein ihr gehörte, würde sie womöglich mühelos in die Rolle schlüpfen, ihre Verwandten und Freunde versorgen, ihnen entfliehen (ihren Ehemann abfinden, falls sie einen hatte) und ein neues Leben beginnen. Oder aber sie wäre wißbegierig, beunruhigt. Sie könnte mit der Suche beginnen, so daß der anonyme Wohltäter Gegenstand einer langwierigen Verfolgungsjagd würde; er wäre ständig auf der Flucht, immer kurz davor, gefaßt zu werden, auch wenn es nie dazu käme (es sei denn vielleicht am Ende). Das Hamburger-Mädchen könnte die kostspieligsten Detektive engagieren, ein computerisiertes Netz von Spurensuchern, unfehlbar, weltumspannend. Wie verschenkt man ein richtiggehendes finanzielles Imperium (es mußte ein Imperium sein), ohne sich dabei ertappen zu lassen? Tom erinnerte sich voller Wehmut seines Traumes im Krankenhaus, als er unter dem Einfluß von Medikamenten und Injektionen seelenruhig mit dem Gedanken gespielt hatte, Claire zu ermorden, damit er ihr Geld erben und es dem Hamburger-Mädchen vermachen könne. (Doch selbst damals hatte er gewußt, daß Claires beträchtliches Vermögen, rein künstlerisch betrachtet, nicht ausreichen würde.) Angenommen, er würde jetzt zu seiner Frau sagen: »Claire, ich brauche soundso viele Millionen, um sie an ein Mädchen zu verschenken – ein Experiment«, was würde sie tun? Ihre Antwort würde so ausfallen wie damals, als er sie in einem Anfall von Wut um das Sèvres-Service bat, weil er die Teller zerschlagen wollte. Sie hatte einen Stoß Teller aus dem Supermarkt auf sein Zimmer bringen lassen, die für seine Zwecke völlig unbrauchbar waren. So würde sie auch diesmal reagieren. Statt soundso vieler Millionen würde Claire für sein Experiment vielleicht soundso viele Hundert 66
herausrücken; interessant, aber doch etwas ganz anderes, eine bloße Freundlichkeit, die mit der Sache selbst nichts zu tun hatte. Was er brauchte, waren sämtliche Millionen Claires, jede einzelne von ihnen. Natürlich würde das Hamburger-Mädchen den Beweggrund des Spenders mißverstehen. Sie würde sich einbilden, der anonyme Multimillionär habe an ihren körperlichen Reizen Gefallen gefunden. Wahrscheinlich würde sie sich im Spiegel betrachten und eine Schönheit erblicken, dabei war sie durchaus keine Schönheit, sondern nur ein recht ansehnliches, schlankes junges Mädchen, das Hamburger grillte. Würde sie es allen ihren Freunden erzählen? Oder nur einigen von ihnen? Die Steuerfrage – würde sie Kapitalertragssteuer zahlen müssen? Die Rechtsfrage – alles müßte klar geregelt sein, um ihr die Angst zu nehmen. Vielleicht hätte das Hamburger-Mädchen das Gefühl, dies alles eines Tages mit sexuellen Gefälligkeiten vergelten zu müssen, und würde einen Nervenzusammenbruch erleiden, wenn sie vor der Entscheidung stünde, ob sie auf das Vermögen verzichten oder den Fall vor Gericht ausfechten solle – aber welchen »Fall«? Vielleicht würde sie auch sehr knauserig werden, ein Geizhals, der Angst hätte, daß alle nur hinter seinem Geld her wären. Vielleicht wären ja tatsächlich alle hinter ihr her, besonders ihre Familienangehörigen, die mit ihr befreundeten Männer. Das Mädchen auf dem Campingplatz trug keinen Ehering. Sie sah nicht so aus, als wäre sie verheiratet. Vielleicht würde sie bei diesem gewaltigen Reichtum eine standesgemäße Ehe eingehen. Vielleicht würde sie eine gute Partie machen. Ihr Mann würde dafür sorgen, daß sie Fahrstunden nähme und Englisch lernte (denn sie war ja immer noch eine Französin auf einem Campingplatz). Sie würde es sich leisten können, ihr Geld einer endlosen Folge von Mitgiftjägern in den Rachen zu 67
werfen, bis sie, falls überhaupt, den Richtigen fände. »Glauben Sie«, fragte Tom seinen Fahrer, »sie wüßte etwas anzufangen mit so viel Geld? Würde sie es je lernen?« »Das kommt ganz auf das Mädchen an«, sagte David. »Ich habe den Eindruck, als wäre Ihnen entfallen, daß das Mädchen, noch ehe Sie es Hamburger verkaufen sahen, bereits einen Charakter hatte, eine Persönlichkeit. Sie war schon eine Person. Es hängt von ihr ab, was sie tun würde.« »Der Reiz dieses Mädchens liegt darin, daß sie keine Vorgeschichte hat«, entgegnete Tom. »Dann ist sie nicht wirklich.« »Nein, sie ist nicht wirklich. Noch nicht.«
Wie ein Kranker äthertaub auf einem Tisch; … Rose Woodstock, die Schauspielerin, die sich hatte überreden lassen, im Film die Rolle der Freundin des reichen und exzentrischen Wohltäters zu übernehmen, hatte sich bei der Entgegennahme des Geschenks immer noch nicht geschickter angestellt, jedenfalls nicht sehr. Schließlich akzeptierte Tom die letzten paar Aufnahmen, auf denen zu sehen war, wie sie die Schatulle mit dem Collier zur Hand nahm und öffnete. Ihre Hand zitterte etwas mehr als beim ersten Mal, doch Tom merkte, daß dies das Äußerste war, was er aus ihr herausholen konnte. Als erfahrener Regisseur wußte er, wann er bei einem Schauspieler mit seinen Forderungen nicht weiterkam. Außerdem reichte es aus, daß Rose plausibel wirkte. Sie war ein Star ohne große Qualitäten. Sie war ein Zugpferd, und nur aus diesem Grund hatte er in den Film eine Rolle für sie eingearbeitet. Das Hamburger-Mädchen selbst war eigentlich nur eine Nebenrolle. Die Schauspielerin hieß sowohl im Film wie in Wirklichkeit Jeanne. Der ganze Film drehte sich darum, daß das Hamburger-Mädchen kein Star sein durfte. Jeanne sollte 68
immer nur beiläufig, aus einem bestimmten Winkel zu sehen zu sein. Tom redete sich ein, das sei ausreichend. In Wirklichkeit war nichts ausreichend. Wegen seines Unfalls hatten sich die Dreharbeiten verzögert. Der Film war auf Eis gelegt, auf die lange Bank geschoben, dann wieder hervorgekramt worden; danach, als er wieder genas, entstaubt und neu begonnen worden. Jetzt wo die Dreharbeiten ihren Fortgang nahmen, hatte er sich in die strahlende Schönheit Rose Woodstock verliebt – ein Umstand, der Jeanne, den sehr attraktiven knabenhaften Niemand, schreckte. Jeanne mit ihren hohen Wangenknochen und ihrem strubbeligen Haar spielte die untergeordnete Rolle des Hamburger-Mädchens ausgezeichnet. Aber Toms Gleichgültigkeit ihr gegenüber außerhalb der Dreharbeiten schreckte sie nicht nur; sie brachte sie zur Raserei. Sie wußte, eigentlich war sie die wichtigste Figur des Films. Jeanne ärgerte sich über die glühende Aufmerksamkeit, die Tom Rose zukommen ließ, wann immer diese zu den Dreharbeiten erschien oder auch außerhalb. Rose hatte darauf gebaut, daß das Drehbuch abgeändert würde, so daß sie nicht mehr den Status einer Geliebten hätte. Wenn der Wohltäter im Film ab und zu schwitzend und schmatzend mit ihr ins Bett ging, »sah« er das Hamburger-Mädchen. Rose Woodstocks Mann im wirklichen Leben war ein junger Fernsehregisseur, der zur Zeit ohne Anstellung war. Tom bezahlte ihn eine Zeitlang. Er bildete sich ein, daß Rose nichts davon wußte, doch dem war nicht so. Im Verlauf der Filmaufnahmen verliebte sie sich zwar aus kommerziellen Gründen, aber doch aufrichtig in Tom. In ihrem Fall war das möglich. Unterdessen wollten die Produzenten Jeanne zu einer prominenteren Rolle verhelfen. Toms Beteiligung an der Finanzierung des Film zusammen mit seinem Ruf sicherte 69
ihm ein Mitspracherecht bei der künstlerischen Gestaltung des Films. Es wurde eine Besprechung anberaumt. Sie fand in der beigen Suite im obersten Geschoß eines Londoner Hotels statt. Insgesamt fünf Personen, von denen zwei, ein Mann und eine Frau, schwiegen. »Jeanne ist nichts. Rein gar nichts. Sie ist etwas Beiläufiges. Man sieht sie nur aus einem bestimmten Winkel. Sie ist eine Idee«, sagte Tom. »Wenn ihr aus ihr einen Jemand macht, zerfließt mir der Film. Dann ist er nichts. Rein gar nichts.« Er ging einen Kompromiß ein, indem er zusagte, mehr Nahaufnahmen von Jeanne zu machen. »Ich muß einen Blick in Roses Vertrag werfen. Sie wird außer sich sein. Ich werde mehr Nahaufnahmen von Rose einfügen müssen.« »Nahaufnahmen von Rose bedeuten, daß die Kassen klingeln«, bemerkte ein Teilnehmer der Besprechung tiefsinnig. Am Abend fuhr Tom mit Dave umher. »Das Problem mit Produzenten ist«, sagte Tom, »daß sie sowohl einen Kunstfilm als auch einen Kassenerfolg haben wollen. Sie wollen Empfindsamkeit, Gefühle und die höhere Stimmung des inneren Abstands. Verdammt, sie wollen einfach alles. Glücklicherweise habe ich mein eigenes Geld in den Film gesteckt, was meinen Ansichten ein gewisses Gewicht verleiht. Aber ich bin sowohl Regisseur als auch Drehbuchautor, das heißt, ich muß mir den Anschein geben, als hörte ich mir jedermanns Ideen an, während ich sie in Wahrheit nicht weiter beachte.« »Folgen Sie Ihrem Instinkt«, riet Dave. »Ignorieren Sie alles andere.« »Aber ich liebe Rose«, versetzte Tom. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr. Wenn wir nicht gerade drehen, ist sie einfach herrlich.« »Das klingt unprofessionell.« 70
»O nein, das ist nicht unprofessionell«, erwiderte Tom. »Aber das größte Problem ist Jeanne. Sie argwöhnt, daß ich eine Affäre mit Rose habe. Sie verübelt mir die scheinbar unbedeutende Rolle, die sie in dem Film spielt. Dabei ist sie das wichtigste Element im Film. Das ganze Milieu der Filmwelt ist schlecht für Jeannes Schauspielkunst. Es setzt ihr einen Floh ins Ohr.« Kurz darauf rief Jeanne um etwa neun Uhr abends bei Tom an. Wie sie es sich gedacht hatte, war Tom nicht zu Hause. »Könnte ich bitte mit Mrs. Richards sprechen? Ich bin Jeanne, das Hamburger-Mädchen«, sagte Jeanne. »Ach, hallo, Jeanne. Mein Mann ist nicht hier. Wahrscheinlich ist er noch im Atelier, im Vorführraum oder bei einer Probe.« »O nein, er ist nicht im Atelier«, sagte Jeanne. »O nein.« »Na, vielleicht ist er in einer Konferenz, dann wird er erst spät heimkommen. Kann ich ihm etwas ausrichten?« »Nein«, antwortete Jeanne. »Aber ich kann Ihnen verraten, wo Tom steckt, Mrs. Richards. Er ist bei Rose Woodstock in ihrer Londoner Wohnung. Deren Mann hält sich auf dem Land auf.« »Warum rufen Sie dann hier an? Ich schätze, die beiden bereden den Film – warum versuchen Sie ihn nicht dort zu erreichen?« fragte Claire. »Das heißt, falls Sie die Nummer haben. Ich fürchte, ich habe sie nicht. Aber falls etwas Dringendes anliegt, werde ich es Tom ausrichten. Er erhält die Nachricht gleich als erstes.« »Gleich morgen früh, Mrs. Richards?« »Könnte sein«, antwortete Claire. »Aber wissen Sie, Tom kann jeden Augenblick zurück sein. Er hat immer noch Therapie und muß sich in acht nehmen …« »Er ist in Rose Woodstock verliebt. Verstehen Sie denn nicht?« sagte Jeanne. Sie klang erschöpft, verzweifelt. 71
»O nein, das ist ganz und gar nicht der Fall«, erwiderte Claire. »Er denkt nur an Sie, Jeanne. Wissen Sie denn nicht, wie’s steht? Tag und Nacht redet er von seinem HamburgerMädchen. Von dem Vorbild, das er auf einem Campingplatz in Frankreich sah. Ich war damals dabei. Er ist ganz besessen von Ihnen, Jeanne.« »Er behandelt mich so schlecht«, sagte Jeanne. Sie hatte angefangen zu weinen. Anscheinend hatte sie ganz vergessen, daß sie mit seiner Frau sprach. Claire bekundete ihr weiterhin ihr Mitgefühl. Sie gab sich aufgeschlossen. Endlich gelang es ihr, Jeanne abzuwimmeln. Danach kritzelte sie eine Notiz für Tom: »Jeanne sucht Dich!« und legte sie auf den Tisch in der Diele. Anschließend setzte sie ihre Fernsehbrille auf und sah sich wieder ihre Sendung an.
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9 »Mein Vater hat angeregt, daß ich Sie interviewe«, erklärte Marigold. »Wie gesagt, ich schreibe an einem Buch über Entlassungen. Könnten Sie mir ein wenig über Ihre Erfahrungen als entlassener Fernsehprogrammchef berichten? Was für Empfindungen hatten Sie als erstes, als man Sie für überflüssig erklärte?« »Das können Sie sich gar nicht vorstellen«, antwortete Kevin Woodstock. »Und ob ich das kann«, entgegnete Marigold. »Ich bin eine überflüssig gewordene Ehefrau. Wurde mir gesagt. Einfach so.« »Ich war wie gelähmt.« Der Regen prasselte gegen die kleinen Fenster von Marigolds Cottage in Surrey. »Ich auch. Nach einer Weile erkannte ich, daß ich eigentlich damit gerechnet hatte. Aber im ersten Augenblick war ich wie gelähmt«, erzählte ihm Marigold. »Ja, ich hätte auch damit rechnen sollen. Ich hatte Programme vorgeplant. Sie mußten gestrichen werden. Crow Television mußte einen ordentlichen Batzen Geld ausbezahlen. Man bot mir eine einmalige Abfindung, aber mein Anwalt hat Klage eingereicht.« »Sind Sie der einzige, der entlassen wurde?« »Nein, insgesamt mußten sieben ihren Hut nehmen.« Er stürzte sein Bier hinunter. Marigold nippte an ihrer kalorienarmen Cola. »Haben Sie daran gedacht, auszuwandern?« erkundigte sie sich. »Ja«, antwortete er. »Aber wohin? Was Filmrollen betrifft, ist meine Frau in Großbritannien und den Staaten sehr 73
begehrt. Auf mich wartet im Ausland nichts. Und selbst wenn, Rose würde niemals emigrieren.« »Haben Sie schon mal an Fernsehwerbung gedacht? An Werbespots?« »Das würde Rose nicht zusagen. Es wäre ein Abstieg. Ihre Karriere als Schauspieler (sie verbittet sich nämlich die Bezeichnung Schauspielerin) würde darunter leiden, wenn ich im Fernsehen Reklame für Turnschuhe, Mountainbikes, Ferienhäuser oder was weiß ich machte.« »Hat sich Ihre Entlassung auf Ihr Eheleben ausgewirkt?« »Die Gefahr besteht durchaus«, gab Kevin Woodstock zur Antwort. »Aber in dieser Frage dürfen Sie mich nicht, namentlich zitieren.« Aus unerfindlichen Gründen fügte er hinzu: »Wir sind seit elf Jahren verheiratet. In ihrem Beruf verwendet Rose ihren Ehenamen.« Marigold versicherte ihm, für ihre Zwecke sei er ein anonymes Fallbeispiel. Sie fand ihn reizend, hatte sich aber vorgenommen, sich von derlei persönlichen Erwägungen nicht beeinflussen zu lassen. Als er freilich sagte: »Ich hoffe, als überflüssig gewordene Ehefrau sind Sie so frei, mit mir zu Abend zu essen«, nahm sie die Einladung an. Sie brachen in Marigolds Wagen von Surrey auf. Weil es jedoch schwierig sein würde, einen Parkplatz zu finden, fuhr Marigold zur Privatgarage ihrer kleinen Wohnung in einer umgebauten Stallung in der Nähe der Brompton Road. Dort stellte sie den Wagen ab, und sie nahmen ein Taxi nach Soho, wo sie gegen neun Uhr vor einem indischen Restaurant namens Dish Delhi eintrafen. Kurz nach halb zwölf verließen sie das Lokal. Marigold fuhr mit einem Taxi nach Hause. Er lief eine kurze Strecke zu Fuß, bis ein Taxi vorüberkam, von dem er sich heimbringen ließ, nach Camden Town. Ende September – die Dreharbeiten waren seit drei Wochen abgeschlossen und der Film ihm aus den Händen 74
genommen – sagte Tom zu Claire: »Hast du in letzter Zeit Marigold gesehen?« Hatte sie nicht. Auch sonst hatte niemand, den sie kannten, sie gesehen oder von ihr gehört, schon seit Wochen nicht. Das war an sich nichts Außergewöhnliches, doch daß sie nun schon so lange nicht mehr angerufen hatte oder zu Besuch gekommen war, wurde langsam unheimlich. Wenn man sie anrief, hob sie nicht ab. Ihre Putzfrau machte gerade in Spanien Urlaub, und als sie nach ihrer Rückkehr nicht in die Wohnung konnte, nahm sie an, daß Marigold irgendwohin verreist war. Auch die Putzfrau in ihrem Cottage in Surrey hatte sie nicht zu Gesicht bekommen. So oder so, inzwischen war Marigold nun schon seit fast fünf Wochen verschwunden. Marigold war die einzige feste Größe, die Claire und Tom gemein hatten. Immer wieder versuchte sie ihren Eltern einzureden, sie hätten nichts gemein und sollten sich scheiden lassen. Sie wollte nicht begreifen, daß sie selbst – die abstoßende Natur dieses einzigen Nachkommen – schuld daran war, daß Claire und Tom sich nicht trennten. Sie fühlten sich zueinander hingezogen, weil sie sich um Marigold Sorgen machten und ihr gegenüber Schuldgefühle hegten. Gerade ihr unschönes Gesicht hielt sie beieinander, als wären sie Vögel in einem Sturm. Marigold hatte einen Videofilm zum Thema Arbeitslosigkeit hergestellt. In einem simulierten Einstellungsgespräch spielte sie die Rolle des potentiellen Arbeitgebers. Sie schickte sie Tom »zur Kenntnisnahme«, sollte heißen: zur Billigung. Zusammen mit Claire schaute er sich die Videokassette an und fand die dilettantische Produktion entsetzlich komisch. Auf dem Bildschirm wirkte Marigolds Gesicht aufgedunsen und fleckig, sie hatte zu viele depressive Kummerfalten. Irgendwie waren ihre Augen blasser geworden. (Bestimmt war sie von dieser oder jener Droge abhängig, zumindest gewesen.) Tom und Claire 75
wälzten sich auf dem Sofa vor Heiterkeit. Marigolds Stimme krächzte gebieterisch, gehässig. »Aus welchen Gründen sind Sie entlassen worden? War es eine Massenentlassung? Geschah es wegen Ihrer persönlichen Arbeitsleistung?« Der dümmliche Schauspieler, der da interviewt wurde, fingerte nervös an seiner Krawatte und sagte, dem gräßlichen Skript folgend: »Eigentlich war es letzteres Kriterium, das in meinem Fall zur Anwendung gelangte.« »Das spricht gegen Sie«, sagte Marigold. »Zumindest ein Argument, das gegen Sie spricht.« Sie schalteten aus, bevor der Film zu Ende war. Tom nahm die Kassette aus dem Gerät. »Mein Gott«, sagte er, »was haben wir da nur in die Welt gesetzt?« Claire, die sich immer noch vor Lachen krümmte, betupfte sich buchstäblich die Augenwinkel. Das war ungefähr drei Wochen nach jenem Abend, an dem Kevin Woodstock Marigold in dem Taxi, in dem sie davongefahren war, zum letzten Mal gesehen hatte. Tom hatte die Kassette beiseite gelegt und im Geist einen taktvollen Brief an Marigold aufgesetzt oder sich eine Antwort zurechtgelegt, falls sie plötzlich auftauchen sollte, um ihn nach seiner Meinung zu fragen. »Marigold, ich hätte den Film für dich doch professionell produzieren können. Er ist eine Spur zu dilettantisch. Natürlich, ich verstehe schon, er wendet sich an Berufsberater, ja, ja, ich verstehe schon …« Die Kassette blieb dort liegen, wo er sie hingelegt hatte. Als er sie später wiederfand, reichte er sie Claire. Inzwischen waren sie kinderlos und überwältigt von Schuldgefühlen. Claire erinnerte sich an eine ihrer letzten Begegnungen mit Marigold. Diese hatte über Toms Affäre mit Rose gelästert und über die, wie sie es nannte, niederträchtige Behandlung, die er Jeanne angedeihen ließ. Marigold hatte sich die Mühe 76
gemacht, auf die Gerüchte zu hören, die im Studio umliefen, wo sich die Dreharbeiten zu Das Hamburger-Mädchen (so inzwischen wieder der Titel) ihrem Ende zuneigten. »Aber dein Stolz. Wie hältst du das nur aus?« hatte Marigold gefragt. »Dir muß doch furchtbar zumute sein.« »Und wie ist dir zumute? Schließlich hat er dich sitzenlassen«, sagte Claire. »Das ist etwas ganz anderes«, kreischte Marigold. »Eine Mutter sollte mit ihrer Tochter nicht so reden.« Die gräßliche Marigold. Immer so negativ. Ihre Eltern hatten die Vergangenheit gründlich durchleuchtet, Psychiater konsultiert, jeden Augenblick analysiert. Ihre Seele ließ sich einfach nicht zergliedern. Der zweite Psychiater hatte sogar ein Gespräch mit Marigold geführt. »Schauen Sie«, sagte er zu Claire, »es handelt sich um eine Art Cocktail. Jede Persönlichkeit ist ein Gengemisch. Daran läßt sich nichts ändern. Sie können nicht etwas hineingeben, wofür es keinen Platz gibt, und Sie können nichts herausnehmen, das nicht eine Lücke hinterläßt. Sie müßte sich selbst ändern wollen.« »Das wird sie nie«, sagte Tom. »Sie nicht.« Insgeheim mußte er immer wieder an Cora denken, die liebevolle, schöne Cora. Auch Claire hatte Zuneigung zu Cora gefaßt. Auf ihre Weise verstand sich selbst Marigold recht gut mit ihrer älteren Halbschwester. Sie hatte noch nie Anzeichen von Eifersucht gezeigt. Tatsächlich war Marigold noch nie auf irgend jemanden eifersüchtig gewesen. Sie war viel zu selbstzufrieden, um Neid, Eifersucht oder dergleichen zu verspüren. »Wenn es Cora gewesen wäre, wäre ich, glaube ich, nicht so entsetzt«, sagte Tom kurz nach Marigolds Verschwinden zu Claire. Sie versuchten, mit der Lage fertig zu werden. »Ich würde das gleiche empfinden«, sagte Claire. »Bei Marigold habe ich das Gefühl der Frustration, unerledigter Angelegenheiten. Ich muß an ihr Gesicht denken, diese 77
tragische Maske. Warum nur?« »Du sagst es«, erwiderte Tom. »Genau so ist es. Es handelt sich um unerledigte Angelegenheiten.« Ob unbewußtes Echo ihrer Worte oder nicht – in der darauffolgenden Woche ließ Tom den Titel seines Films endgültig zu Unerledigte Angelegenheiten ändern. Er merkte es kaum. Er war vollauf damit beschäftigt, den Film zu vervollkommnen; er ließ Rose Woodstock als Geliebte fallen. Aber er konzentrierte sich auf sie, Jeanne und den Schauspieler, der in Marigolds Video über Arbeitslosigkeit eine Rolle gespielt hatte: Kamen sie bei ihrem Verschwinden als Komplizen in Frage? War sie ermordet worden? Seine Gefühle waren verworren. »Das Jahrhundert ist alt«, sagte Tom in einem seiner lichteren Augenblicke zu Claire. »Sehr alt.«
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10 Die Auskunft, die Marigolds Angehörige und Freunde der Polizei über ihre Gewohnheiten, ihre möglichen Schritte, ihren Verbleib zu erteilen vermochten, bestätigte nur, wie wenig ein jeder sie kannte. Vor lauter Entrüstung und Schuldgefühlen lockte Tom die Ermittlungsbeamten auf eine völlig falsche Fährte. Er war nicht davon überzeugt, daß sie entführt und ermordet worden sei – etwas, was die Polizei für durchaus denkbar hielt. Claire klammerte sich an die Theorie, daß sich Marigold schlichtweg aus dem Staub gemacht hatte, vielleicht um ein neues Leben zu beginnen. Es ließ sich unmöglich feststellen, ob sie Geld oder Wertgegenstände, etwa Schmuck, mitgenommen hatte. Niemand wußte etwas über ihr Geld und Gut. Jetzt erst kam zum Vorschein, daß Marigold ihr ganzes Leben lang übermäßig verschwiegen gewesen war. Cora sagte: »Ich finde, wir hätten mehr Interesse an Marigold zeigen sollen.« »Ich auch«, erwiderte Tom. »Aber wie? Wie?« Tom dachte an die Zeiten zurück, als er noch versucht hatte, Marigold in die Familie zu integrieren. Sie hatte sich abscheulich aufgeführt. Auf jeder Party, bei der Freunde ihrer Eltern zugegen waren, hatte sie diese ausgesprochen blamiert. Deutlich wurde das bereits vor ihrem fünfzehnten Lebensjahr, als man sie als »schwierig« einstufen konnte. Doch kaum war ihre Adoleszenz ausgestanden, wurde sie nur noch aggressiver. Es wurde immer schwieriger, sie in einem Haus zu haben, in dem man auf Dienstpersonal angewiesen war, und sie war immer weniger willkommen. Anfangs neigten Tom und Claire dazu, sich selbst die Schuld zu geben. Doch hatten sie keineswegs Schuld daran. Marigold 79
war einfach eine wandelnde Katastrophe. Ihre Ehe war prekär gewesen. Ihre Immobilien – das Haus in Surrey und die Wohnung in London – zusammen mit ihrer überaus wohlhabenden Mutter sorgten dafür, daß sie eine gute Partie war. Aber die Ehe konnte nicht von Dauer sein. Als sie sich wieder einmal über sie unterhielten, sagte Claire zu Tom: »Was ich an Marigold auch nicht verstehe – sie kann so ordinär sein. Woher hat sie nur diese vulgäre Ader? Von wem von uns beiden, von welcher Seite der Familie kommt dieses Gassenjungenhafte?« Auf diese Frage wußte niemand Antwort. Zu dem Ermittlungsbeamten, der sich nach ihrem Charakter erkundigte, sagte Tom: »Darüber weiß ich zuwenig. Sie ähnelt weder meiner Frau noch mir, außer daß sie, wie ich, sexy ist.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie mit jemandem durchgebrannt sein könnte?« »Vielleicht, falls sie von dem Mann angetan ist. Oder von der Frau.« »Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie sie an ihr Geld herankommt?« »Nein, wir wissen nicht, wo sie ihr Geld verwahrt. Sie hat eine ganze Menge Geld von ihrer Mutter. Sie könnte es überall deponiert haben, überall und nirgendwo.« Der Kriminalbeamte war in Zivil. Grauer Anzug, graue Krawatte. Tom hätte ihm die Rolle eines Polizisten nicht anvertraut. Er fand sein Gesicht zu weich, zu sehr das Gesicht eines Mannes, der mehr seiner Mutter glich als seinem Vater. Und doch, sinnierte Tom, könnte es sich um die Idealbesetzung handeln. Er entsprach überhaupt nicht dem Klischee eines Polizeibeamten. Ja, in der Rolle wäre er interessant. (Aber in welcher Rolle?) 80
»Haben Sie sich mit der Möglichkeit befaßt, daß sie tot sein könnte?« fragte der Polizist. »Sie meinen, ermordet?« »Ja.« »Davon bin ich nicht überzeugt. Das habe ich nicht einmal als Möglichkeit in Betracht gezogen«, sagte Tom. »Sollte ich das denn?« »Immerhin ist es eine Möglichkeit«, erwiderte der Mann. »Und gehen Sie dieser Möglichkeit nach?« »O ja.« »Sie könnte jederzeit hereinspaziert kommen«, sagte Tom. »Jederzeit. Sie kann sich doch denken, was für Sorgen sie uns bereitet.« Die Zeitungen hatten ausführlich über Marigolds Verschwinden berichtet, besonders als sie erstmals als vermißt gemeldet wurde. »Dann wieder bin ich mir nicht sicher, ob sie sich etwas daraus macht, wie wir uns fühlen«, setzte Tom hinzu. »Auf eine gewisse Art ist das ein hoffnungsvolles Zeichen.« Tom hatte einen überaus unloyalen Gedanken: »Warum sollte sich irgend jemand damit abgeben, Marigold zu ermorden?« »Vielleicht ist sie nur fortgegangen, um einen Roman zu schreiben«, sagte er zu dem Beamten. »Hat sie einen derartigen Wunsch geäußert?« »Nein. Aber alle Welt schreibt Romane, weshalb nicht auch Marigold?« »Sie haben also das Gefühl, daß sie am Leben ist?« »Ich habe so eine Ahnung, mehr nicht.« »Versuchen Sie, diese Ahnung zu befragen«, sagte der Polizist. »Falls Sie auf irgend etwas stoßen, auf irgendeinen Anhaltspunkt, lassen Sie es uns wissen. Wir selbst haben 81
keine Ahnungen.« Die Polizei war Marigolds Tagebuch durchgegangen und hatte neunzehn Personen verhört, die Marigold im Laufe ihrer Recherchen zum Thema Entlassungen interviewt hatte. »Sie sagten, sie komme Ihnen exzentrisch vor.« »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, sie sei eine eigenartige Frau.« »Attraktiv?« »Eigentlich nicht. Aber für ein paar Stunden im Bett nicht schlecht.« »Warum haben Sie mit ihr Verkehr gehabt?« »Sie hat mich dazu aufgefordert. Kam gleich heraus damit – einfach so. Kein Herumreden um den heißen Brei.« »Warum haben Sie angenommen?« »Ich hatte den Eindruck, es gehöre mit zum Interview, und ich hatte Lust. Wenn Sie Ihren Arbeitsplatz verloren haben, brauchen Sie etwas, um sich gut zu fühlen.« Ein anderer Mann erklärte: »Ich wußte, daß sie die Tochter von Tom Richards, dem Filmregisseur, ist. Mit so ’nem Namen ist sie doch ’ne flotte Nummer, oder nicht?« Eine der Frauen, die von der Polizei verhört wurden, machte die folgende Aussage: »Sie wollte unbedingt wissen, wieviel Geld ich für Kleider und Kosmetika ausgäbe und wie sehr ich auf so etwas angewiesen sei, um meine Stelle zu halten.« »Finden Sie nicht, daß das eine normale Frage ist für jemanden, der die Wirtschaftlichkeit von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit untersucht?« »Ja, aber sie hat gar nicht mehr damit aufhören wollen.« »Hat Sie Ihnen eine lesbische Beziehung nahegelegt?« »Nein. Sie wollte alles über die Männer in dem Büro, in dem ich gearbeitet hatte, wissen, immer nur über die 82
Männer. Ob ›überflüssig‹ bedeute, daß man nicht mehr mit ihnen schläft, und so weiter.« »Und in Ihrem Fall, bedeutete ›überflüssig‹ das?« »Nein. Es bedeutete nur, daß acht von uns ihren Arbeitsplatz eingebüßt haben.« »Offenbar benutzte sie nicht ihren Ehenamen. Würden Sie sagen, daß Marigold Richards eine Abneigung, einen Groll gegen Männer hegte?« »Vielleicht ein bißchen. Sie sah nicht so aus, als ob sie einen Mann an sich binden könnte. Aber sie war mehr an Sex interessiert. Ihre Fragen brachten mich ziemlich in Verlegenheit. Glauben Sie nur nicht, ich sei verklemmt …« »Ich auch nicht«, sagte der Polizeibeamte. »Ohne Sex wäre keiner von uns hier. Aber wir versuchen, eine Frau aufzuspüren, die verschwunden ist, und eine Art Motiv …« Cora erwog die Möglichkeit, daß Johnny, ihr BeinaheExmann, Marigold überredet haben könnte, ihm nach Indien zu folgen, wo er, wie sie annahm, noch immer auf der Flucht vor dem Materialismus war. »Und warum das?« »Er machte eine Phase durch, in der er konventionelle Vorstellungen von Schönheit verwarf«, sagte Cora. Der Polizist betrachtete verwundert die schöne Cora. »Wir werden der Sache nachgehen«, sagte er. Sehr weit nachzugehen brauchten sie ihr nicht. Der gutaussehende Johnny Carr war aus Indien zurückgekehrt und tröstete Rose Woodstock in Toms Abwesenheit. Als sie durch die hellerleuchteten Straßen fuhren, vertraute Tom sich Dave, seinem Taxifahrer, an. »Marigold muß immer alles zerstören«, sagte er. »Aber eigentlich bin ich meiner Frau Claire näher denn je zuvor. Claire fühlt sich 83
elend – ihr einziges Kind! Ich habe ja wenigstens noch Cora. Und ich kann mir nicht helfen, aber ich muß sagen: Gott sei Dank schwebt nicht Cora in Gefahr.« »Meinen Sie, Marigold muß immer alles zerstören, oder meinen Sie, sie ist ein Opfer – was denn nun?« fragte Dave. »Ich meine gar nichts«, antwortete Tom. »Aber ich kann Marigold nicht die Rolle des Opfers zuweisen.« »Einige Leute haben Sie im Verdacht«, sagte Dave. »Ich weiß. Ich kann ihn förmlich riechen. Weshalb sollte ich Marigold aus dem Weg schaffen, möchte ich gern mal wissen?« »Erpressung, heißt es. Man flüstert, sie habe zuviel gewußt.« »Zuviel worüber gewußt?« »Über Sie und Rose Woodstock und diese kleine Schauspielerin Jeanne Soundso.« »Ich habe keine Geheimnisse dieser Art. Jeanne ist ein Giftzwerg. Mit Rose ist es übrigens vorbei. Bei all den Sorgen ist mir die Lust auf sie vergangen. Und wissen Sie was? Sie hat ihren Mann verlassen und ist mit Coras Mann Johnny zusammengezogen.« »Ja, ich habe sie gesehen, in einer Illustrierten. Ein hübsches Paar.« »Was für Gefühle soll sie ihrem Mann auch entgegenbringen, wo er doch keine Arbeit hat?« »Er war doch schon arbeitslos, als sie noch mit Ihnen zusammen war.« »Danke, daß Sie mich daran erinnern. Soviel wir wissen, hat er Marigold als letzter gesehen. Für ihre Studie zur Arbeitslosigkeit hatte sie ein Interview mit ihm aufgenommen. Sie sind gemeinsam essen gegangen. Dann – dann nichts. Kein Bett, kein Sex. Anscheinend kam das Thema nicht einmal zur Sprache – nicht zu glauben. Der Rest 84
ist Schweigen. Und wo sind meine Freunde? Wo sind sie nur?« »Sind Sie sicher, daß Sie nicht halluzinieren?« fragte Dave. »Nicht alle tratschen über Sie. Nicht alle schenken Gerüchten Glauben. Weit gefehlt.« Nach einer Weile fügte Dave hinzu: »Wie auch immer, vielleicht ist es so, daß sie aus freien Stücken gegangen ist, um von Ihnen loszukommen. Allein Ihr Name ist erdrückend. Denken Sie doch mal nach.« Die Presse hatte viel Aufhebens um die »Beziehungen« zwischen Marigold und Tom gemacht. »Alle meine sogenannten Freunde haben mit Reportern gesprochen«, sagte Tom. »Früher hätten viele Freunde nach all dem Getue und Gerede in der Presse und im Fernsehen bei mir vorbeigeschaut. Von wo auch immer – sie hätten bei mir angerufen. Jetzt suchen sie nur Publicity für sich selbst, indem sie Interviews geben. ›Die Marigold, die ich kannte‹, ›Marigold hat etwas zu befürchten‹, ›Hat sie ihr Gedächtnis verloren?‹ Und so weiter und so fort. Wenn Binkie Beaumont noch am Leben wäre, hätte er mich angerufen und mich auf einen Drink eingeladen. Er war ein einflußreicher Theaterproduzent, Tennent’s. Der größte Schwule der Welt, aber von einer geradezu überströmenden Gastlichkeit dort in der Lord North Street. Er war überzeugt, sein Haus sei ein Bordell gewesen, das beide Kammern des Parlaments versorgte. In einigen Räumen gab es kleine Waschbecken, die Binkie einfach daließ, und es waren einige Klingeln installiert worden, die die Abgeordneten zur Abstimmung riefen. Ich nehme an, er hatte recht. Es war ein Bordell oder das Haus einer Mätresse. Dort traf sich alle Welt. Aber Binkie fürchtete sich vor dem Tod. Er mochte das Thema nicht, nicht einmal das Wort. Das schränkte seine Stückewahl bisweilen sehr ein. Trotzdem, Binkie hätte mich angerufen und sich solidarisch gezeigt. Aber Binkie ist tot. Ein Mensch, Dave, besteht im wesentlichen aus Erinnerungen.« 85
»Kommen wir mit Erinnerungen zur Welt?« fragte Dave. »Da gibt es so eine Theorie. Vielleicht ist es so.« »Ich frage mich nur. Manchmal habe ich den Eindruck, über Dinge Bescheid zu wissen, die ich unmöglich erlebt haben kann. Und manchmal geben Kinder Dinge von sich, daß man sich fragt: Wo haben sie das aufgeschnappt? Als ob sie etwas aus der Zeit vor ihrer Geburt wüßten.« »Kinder sind ziemlich hellsichtig«, sagte Tom. »Sehr intuitiv. Sie können sich in unsere Gedanken einfühlen, es ist fast ein bißchen beunruhigend. Man sollte stets versuchen, ihnen zu glücklichen Erinnerungen zu verhelfen. Das ist das einzige, was man seinen Kindern mit einiger Bestimmtheit hinterlassen kann – glückliche Erinnerungen.« »Ich habe eine Menge Freunde verloren«, sagte Dave. »Und jetzt, wo sie tot sind, leben sie nur noch in der Erinnerung. Und ich habe die Gelegenheit verpaßt, mich mit ihnen über eine Vielzahl von Themen zu unterhalten. In meinem Beruf begegnet man Menschen. Jetzt ist es zu spät.« »Lernen Sie denn keine neuen Freunde kennen?« erkundigte sich Tom. »Nein, anscheinend nicht, Tom. Sie sind eine Ausnahme. Die Leute, die in ein Taxi einsteigen, selbst die Stammkunden, wollen nicht reden. Sie lehnen sich zurück und schotten sich ab.« Auch Tom schottete sich jetzt ab. Er dachte daran, wie sehr sich jeder seit Marigolds Verschwinden fürchtete, in die Sache mit hineinverwickelt zu werden. Für alle Fälle … Tennessee Williams, dachte er, hätte mich aus den Staaten angerufen. Er pflegte oft anzurufen, sehr, sehr oft. Er wäre mir ein treuer Freund gewesen. Tom erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit Tennessee auf einer Party in New York in den sechziger Jahren, in der Wohnung von Edward Albee. Die Party war für das Russische Ballett gegeben worden, das jedoch nicht erschien. Keine Einreisegenehmigung. Noël 86
Coward, damals noch springlebendig, kam schlangenartig auf ihn zugeglitten. »Verstehst du Albees Stücke?« hatte er Tom fast in Hörweite seines Gastgebers gefragt. Tom hatte erwidert: »Ja, ich bin von Albee fasziniert.« – »Ach nein, wirklich, Liebling?« Tom sagte zu Dave: »Auden hätte mich zum Abendessen eingeladen, ohne Marigold mit einem Wort zu erwähnen. Er hätte sich jede erdenkliche Mühe gegeben. Auden sah ich zum letzten Mal in seinem Haus in Kirchstetten bei Wien. Wystan ging damals verschiedene Ausgaben der Bücher von Agatha Christie durch und markierte die Stellen, wo sie im Laufe der Jahre ihren Rassismus getilgt oder ihren Antisemitismus abgeschwächt hatte. Wir spielten mit dem Gedanken, Proust zu verfilmen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Einmal hat es einen Film gegeben, aber der taugte nichts. Es war nicht Proust. Haben Sie jemals Proust gelesen?« »Nein«, antwortete Dave. »Versuchen Sie’s mal«, ermunterte ihn Tom. »Viele Leute behaupten, die englische Übersetzung sei besser als das französische Original. Ich bringe Ihnen einen Band mit. Auden stimmte mir darin zu, daß Prousts Roman in zwölf Bänden im Vergleich zu Joyces Finnegans Wake oder Ulysses sparsam war. Er fand Joyce weitschweifig und dem Publikum gegenüber ungehobelt. Auden selbst hatte wunderbare Manieren. Außer natürlich, wenn man ihn bedrängte.« »Sie sollten Ihre Memoiren schreiben«, sagte Dave. »Ich habe es vor, sobald wir zuverlässige Nachricht von Marigold haben. Bis dahin kann ich mit meinen Erinnerungen nichts anfangen, höchstens die Leute Revue passieren lassen, die ich in letzter Zeit gesehen habe, die Welt, in der ich seit neuestem lebe.« »Das ist eine Idee«, sagte Dave. »Vielleicht stoßen Sie dabei auf einen Hinweis, wo sie sich aufhält. Das Gedächtnis ist eine wunderbare Sache.« 87
»Manchmal fühle ich mich wie ein Ertrinkender«, sagte Tom. »Die Ereignisse meines Lebens huschen vor meinem geistigen Auge vorüber. Vielleicht fällt mir ohne größere Anstrengung etwas Nützliches ein.« »Grüßen Sie Mrs. Richards von mir«, sagte Dave. »Das werde ich tun.« Jeden Morgen um vier Uhr wachte Claire mit einer plötzlichen Erleuchtung auf, wo Marigold sich aufhalten mochte. War sie zum Bergsteigen nach Nepal gereist? War sie in das Häuschen in der Provence zurückgekehrt, das sie einmal in den Ferien gemietet hatte? Oder hielt sie sich auf einem Campingplatz in Hochsavoyen auf und gab vor (oder bildete sich ein), Toms Hamburger-Mädchen zu sein? Claire nahm sich vor, allen Möglichkeiten, die ihr mitten in der Nacht in den Sinn kamen, nachzugehen, und verfiel in einen unruhigen Schlaf, doch am Morgen, wenn sie wieder erwachte, fühlte sie sich gelähmt von der Unwahrscheinlichkeit, der Vergeblichkeit ihrer Einfälle. Der Gedanke, daß Marigold den Verstand verloren haben könnte, hatte von Tom Besitz ergriffen. Er war überzeugt, daß sie, falls sie noch am Leben war, ihr Gedächtnis verloren hatte. Eines Morgens sagte Claire: »Mitten in der Nacht kam mir der Gedanke, daß Marigold vielleicht nach deinem Hamburger-Mädchen sucht, nach dem echten, sich vielleicht als dieses ausgibt. Aber wie könnte sie?« »Wieso nicht?« sagte Tom. »Wieso nicht? Über diesen Traum von mir hat sie sich schon immer geärgert. Vielleicht treibt sie Verbitterung. Komm, wir fahren zu dem Campingplatz und sehen nach.« Es war Ende September. »Komm, wir sehen nach«, sagte Tom. In seinem Film befand sich der Campingplatz in Schottland. Es hatte nur weniger Aufnahmen bedurft. In dem Film hatte Jeanne hinter ihrem behelfsmäßigen 88
Spirituskocher gestanden und gleichmütig Hamburger gegrillt. Nur einmal hatte sie den Blick gehoben. Nämlich als sie den älteren Mann bemerkte, der sie betrachtete, beobachtete. Sie hatte die Augen wieder niedergeschlagen und sich auf ihre Hamburger konzentriert, sie den Urlaubern gereicht, die vor ihrem winzigen Kiosk Schlange standen. Der Campingplatz in Hochsavoyen war noch da. Am unteren Ende des Feldes stand eine Reihe von Wohnwagen. Jeannes Kiosk war ebenfalls da, mit geschlossenen Läden. Der Zeltplatz selbst war auch geschlossen. In dem nahegelegenen Hotel, wo sie übernachteten, zeigte Tom ein Foto von Marigold. Der Besitzer an der Rezeption schüttelte den Kopf, doch seine Gattin, eine korpulente Frau, die ihm über die Schulter blickte, sagte: »Einen Moment. Vielleicht … Vor kurzem, ich weiß nicht … Wir haben so viele Gäste, ein ständiges Kommen und Gehen …« Im Register suchten sie nach ihr, sowohl unter ihrem Mädchen- wie unter ihrem Ehenamen. Keine Spur von ihr. Nichts war gewiß. Nichts war gelöst. Tom und Claire nahmen in dem Hotel eine köstliche Mahlzeit zu sich, die ihnen trotz ihrer Besorgnis mundete. »Warum in aller Welt quälen wir uns so?« fragte Tom. »Was haben wir getan?« »Das frage ich mich auch: Was tun wir hier?« sagte Claire. Sie verspeisten ihr schmackhaftes französisches Abendessen in besserer Stimmung. Beide hatten sie das Gefühl, ihren Pflichten mit dem Besuch des Zeltplatzes zur Genüge nachgekommen zu sein. Die hochgestochene Speisekarte war in ein Englisch übersetzt, dessen Lektüre ihnen einiges Vergnügen bereitete. Das Hauptgericht war »Steak in Begleitung grüner Stangenbohnen mit einer Fanfare gesottener roter Paprika«.
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11 Die Belustigung, die Tom und Claire angesichts der Formulierung der Speisekarte empfanden, war eine Kleinigkeit, verglichen mit der Erheiterung Marigolds und ihres neuen Liebhabers. Sie waren in einen der verlassenen Wohnwagen auf dem Campingplatz gezogen, genau da, wo ihre Eltern gestanden und die trostlose Szene gemustert hatten. »Sie hatten eine Eingebung, daß ich hier bin«, platzte Marigold heraus, »und ich hatte eine Eingebung, daß sie diese Eingebung haben würden. Er ist geradezu besessen von diesem Hamburger-Mädchen, und da standen sie nun und haben genau zu uns herübergeschaut.« »Warum haben sie sich nicht gründlich umgesehen? Sie hätten uns doch mühelos finden können. Und überhaupt, weshalb dürfen wir eigentlich nicht hier sein?« »Sie wollen mich nicht finden«, sagte Marigold. Sie setzte ihr grimmiges Lächeln auf. »So ist es doch. Im Grunde ihres Herzens wollen sie mich nicht um sich haben.« »Das war vielleicht komisch! Sie da so herumstehen zu sehen … Wirst du es ihnen erzählen?« »Ja, irgendwann einmal.« Sie hatten sich drei Tage in dem Wohnwagen aufgehalten und wollten gerade aufbrechen. Marigold hatte also nicht nur geträumt, daß Tom und Claire ihr zu der Stelle folgen würden, von der sie in der Vorankündigung des Films gelesen hatte. Seit mehr als einem Jahr hatte er sich mit dem Ort beschäftigt. »Die Idee zu dem Film kam Tom Richards, als er auf einem Campingplatz Rast machte …« Der Campingplatz selbst war auf dem Höhepunkt 90
hochsommerlichen Rummels fotografiert worden. Eimer und Wäsche und Kinderschaukeln. Leute in Shorts. Überall Kinder. Am Eingang ein kleiner Kiosk mit einem Mädchen, das Hamburger verkauft und der Kamera den Rücken zukehrt. Es war ein x-beliebiger Campingplatz, doch befand er sich in der Nähe des Dorfes, das Tom so oft erwähnt hatte. Dies war die Wirklichkeit, aus der Toms Traum hervorgegangen war. Inzwischen standen die Wohnwagen leer, waren abgekoppelt. »Laß uns hier warten«, hatte Marigold gesagt. »Ich bin mir sicher, das ist die Stelle. Ob er wohl kommt und nach mir sucht? Es ist nur eine vage Vermutung, aber wir könnten ja mal abwarten.« Ihr Begleiter wurde sich mit dem Besitzer des Wohnwagens handelseinig, einem Bruder des Mannes, dem das Hotel gehörte. Und am dritten Tag, nachmittags um zwanzig nach fünf, siehe da: »Da sind meine Eltern«, sagte sie und spähte ungläubig aus dem Fenster. »Du bist mir vielleicht ein Aas!« sagte der Mann. Mit dieser Bemerkung schien Marigold sehr zufrieden. Die Produzenten von Toms Film machten sich Sorgen um die Folgen, die Marigolds Verschwinden haben würden. Inzwischen ging die Polizei von Selbstmord aus. Alle Szenarien schienen zu passen: Weil ihr Mann sie verlassen hatte, litt sie unter solchen Depressionen, daß sie in die Alpen gefahren war und sich von einer Felsenklippe gestürzt hatte; sie war aufs Meer hinausgefahren und über Bord gesprungen (aber von welchem Boot?); ihr Leichnam lag auf dem Grund eines tiefen schottischen Sees. Dann wieder wurde sie in New Orleans gesichtet, wo sie sich in einer Diskothek vergnügte; in einer spanischen Kathedrale, wo sie, in eine schwarze Mantilla gehüllt, zur Beichte ging; in Neu-Delhi, wo sie sich eine Armspange mit Rubinen und Diamanten kaufte. Interpol kam nicht vom Fleck, so oft war Marigold an den 91
unterschiedlichsten Orten gesehen worden. Es war schwer zu sagen, ob der Film Schaden nahm. Gewiß, Toms persönliche Popularität war gesunken, denn unterdessen hatten Rose Woodstock und Jeanne aus dem brenzligen Ereignis soviel Publicity wie möglich für sich herausgeholt, als griffen sie mit langen Feuerzangen hinein. Rose gestand ihre Affäre mit Tom: »Bis zu ihrem Verschwinden war er wahnsinnig verliebt in mich. Ich bin überzeugt, daß Marigold gekränkt war, und manchmal mache ich mir deshalb Vorwürfe. Tom hat seine Tochter vernachlässigt, ich weiß. Sie war nicht schön, es fehlte ihr an Glamour. Ja, ich weiß, ich rede in der Vergangenheitsform. Das ist mir durchaus bewußt. Aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß Marigold nicht mehr unter uns weilt. Nein, um ehrlich zu sein, Tom konnte Marigold nicht leiden. Sie war die erste, die ihn nach seinem kürzlichen Unfall besucht hatte – er war im Studio von einem Kran gestürzt (ich war dabei). Marigold hätte alles für ihn getan. Ihre Mutter Claire war für eine Mutter ziemlich kalt, finde ich. Die arme Marigold, sie tat, was in ihrer Macht stand, um ihre Familie zusammenzuhalten. Sie hat eine Halbschwester, Cora. Cora war immer das Hätschelkind. Ich weiß nicht, ich bezweifle, ob Tom je wieder einen Film drehen wird. Als wir im Laufe der Dreharbeiten zusammenkamen, lag ihm nichts mehr an Jeanne, dem Original des Mädchens, das in einem Ferienlager Hamburger gegrillt hatte. Jeanne, die kleine Schauspielerin, die die Rolle dieses Mädchens übernommen hat, war wirklich verblüfft, glaube ich, daß Tom keine Leidenschaft für sie empfand außer für ihre Rolle als Schauspielerin, für die er sich natürlich begeisterte. Aber Jeanne als Person – nein. Ich glaube, Jeanne hatte Marigold kennengelernt, und es könnte sein, daß Marigold ihren Vater überreden wollte, sich darum zu kümmern, daß Jeanne nach Abschluß der Dreharbeiten eine andere Arbeit fände. Sie war arbeitslos. Aber Tom war einfach nicht interessiert. Falls er – wie einige 92
von uns vermuten – wirklich weiß, wo Marigold sich aufhält, sollte er es geradeheraus sagen. Als Freundin von Tom hat die Sache in meinem Leben sehr viel verändert, wie in dem aller anderen auch. Wir alle sind sehr bestürzt.« Jeannes ausführlichstes Interview, das von einer Wochenzeitung veröffentlicht wurde, lautete folgendermaßen: »Als Jeanne, Namensvetterin des Mädchens, das ich in dem Film darstelle, hatte ich das Gefühl, es endlich geschafft zu haben. Eigentlich war es die wichtigste Rolle und meine erste große Chance. Tom Richards bedeutete mir alles. Er hat mich inspiriert und gelenkt. Als er seinen Unfall hatte, war mir, als könnte ich nie für jemand anderen spielen, aber ich wurde unter Druck gesetzt, vor allem von Claire, Toms Frau. Sie versicherte mir, Tom wünsche, daß ich weitermache, bis er wieder auf den Beinen sei. Erst wurde uns gesagt, der Film sei gestorben; dann sollte es wieder weitergehen. Nun, ich wußte, daß er verheiratet ist und zwei Töchter hat, Cora und Marigold. Die anderen Schauspieler in dem Film interessierten mich nicht allzusehr, obwohl sie schrecklich nett waren und sehr, sehr kompetent. Ich gab mir Mühe, das Beste aus meiner Rolle zu machen, aber laut Toms Drehbuch war ich nur ein zweitrangiger Star, Rose Woodstock dagegen die Hauptdarstellerin, obwohl die Handlung eigentlich eine ganz andere, ja die gegenteilige Gewichtung verlangt. Ich durfte im Film nur dastehen und, aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen, Hamburger grillen. Nach dieser Chance möchte ich mich wirklich in einer bedeutenderen Rolle behaupten. Ich bin arbeitslos, überflüssig. Ich habe sogar mit Marigold Kontakt aufgenommen, sie ist eine Art Beraterin. Ich persönlich glaube, daß Marigold noch lebt. Nur hat sie sich, wie ich, von Tom Richards vernachlässigt gefühlt. Ich glaube, Rose Woodstock interessiert ihn inzwischen nur noch am Rande, weil er ganz von Marigolds Verschwinden in Anspruch 93
genommen wird. Es ist ein Rätsel, in das ich persönlich nicht verwickelt sein möchte.« Der Postbote brachte anonyme Briefe für Tom, die entweder »Hinweise« auf Marigolds Verbleib enthielten oder Anschuldigungen: »WAS HABEN SIE MARIGOLD ANGETAN?« Tom leitete sie alle an die Polizei weiter. Sein Leben hatte sich von Grund auf verändert. Im Verlauf der Wochen ergab sich, daß Marigold nicht entführt worden war. Verschiedentliche Versuche, Claire auf dieser Grundlage zu erpressen, waren mühelos als Schwindel entlarvt worden. »Sie ist mündig. Sie kann kommen und gehen, wie es ihr beliebt«, setzte der Polizeibeamte, der die Ermittlungen leitete, Tom auseinander. »Aber wir müssen alle Möglichkeiten offenlassen. Wir haben noch nicht aufgegeben.« Tom spürte einen Anflug von Ungeduld Menschen gegenüber, deren Lebensführung es ihnen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erlaubte, nicht ermordet oder entführt worden zu sein – Menschen, die einfach aus einem Leben in ein anderes überwechseln können. Claire hatte einen Privatdetektiv engagiert. »Halten Sie es für möglich, daß sie eine Überdosis genommen hat? War sie drogensüchtig?« »Oh, durchaus möglich«, sagte Tom. »Das sind sie doch alle.« »Aber glauben Sie selbst daran?« »Nein, ich glaube es nicht. Das Mädchen ist sehr puritanisch.« »Das will nicht viel sagen …«, bemerkte der Detektiv. »Wohl wahr. Aber Sie könnten sie immer noch finden, oder?« Eine Zeitlang starrte Marigolds furchterregendes Gesicht von den Seiten der Hochglanzmagazine, begleitet von 94
Unterschriften wie »Marigold: War sie in den Augen ihrer glamourösen Eltern ein Drop-out?« Eingefügt war ein Bild, das Claire und Tom, ein strahlendes Paar, auf Liegestühlen zeigte. Oder ein Bild der herrlichen Cora: »Die Schwester, an deren gutes Aussehen Marigold nie heranreichte.« »Dabei könnte Marigold eigentlich ganz hübsch aussehen«, sagte Tom zu Claire. »Es ist ihr Gesichtsausdruck, der so scheußlich ist, nicht ihre Gesichtszüge. Wenn sie nur diesen Ausdruck loswerden könnte, sähe sie gar nicht so übel aus. Ich weiß nicht, welche Rolle man ihr zuteilen sollte, aber irgendeinen Part gibt es für sie bestimmt.« »Den Part eines entsetzlichen Langweilers«, meinte Claire. »Da hast du ausnahmsweise mal recht«, erwiderte er. »Sie ist die Nemesis in Frauenkleidern. Sie ist das Jüngste Gericht. Ob lebend oder tot, genau das ist sie und nichts anderes. Und unterdessen habe ich eine schlechte Presse. Du und Cora, ihr habt ebenfalls eine schlechte Presse, obwohl ihr sie überhaupt nicht verdient.« »Du auch nicht«, sagte Claire. »Vielleicht ja doch, aber ich wüßte nicht, wieso«, entgegnete Tom. »Ich weiß nur, wenn wir ihretwegen einen schlechten Ruf bekämen, wäre es das Beste, was Marigold zustoßen könnte, es würde sie glücklich machen. Du weißt, daß ich recht habe.« »Ihrem Verschwinden haftet ein Hauch von Erpressung an.« »Mehr als nur ein Hauch.« Claires Privatdetektiv Ivan Simpson, ein junger, gutaussehender Mann von noch nicht dreißig Jahren, ließ sich von Coras Schönheit dazu verleiten, freiwillig mehr Stunden zu arbeiten, als ihm bei der Suche nach einem Vermißten normalerweise abverlangt wurden. Er wandte sich 95
an Cora: »Als ihre Schwester – nun ja, Halbschwester – wäre Ihre Hilfe unverzichtbar. Ich habe ein paar Ideen, wohin wir fahren könnten – einige Orte, die in Frage kämen, wo man nach ihr suchen könnte. Ich werde mit Ihrer Stiefmutter darüber reden. Wollen Sie mir helfen?« Cora antwortete: »Gern. Aber wenn sie mich sieht, wird sie sich nicht erst recht verstecken?« »Sie wird Sie schon nicht sehen. Überlassen Sie das nur mir.« »Wenn sie nicht will, daß man sie findet, sollte man sie vielleicht in Ruhe lassen …« »Kommen Sie doch mit«, sagte er zu der bildhübschen jungen Frau. Er fand, daß sie den reinsten Teint hatte, die klarsten Augen und die weißesten Zähne, die man sich vorstellen konnte. Er bemerkte ihre vollkommenen Gesichtszüge und ihre bezaubernde Figur. Sie trug kurze Röcke oder hautenge Blue Jeans. Die braunen Haare fielen ihr über die Schultern. Er ging zu Claire, die mit ihren guten Werken – ihren Hauptbüchern und Verzeichnissen – beschäftigt war, und unterbreitete ihr seinen Plan: Frankreich, die Vereinigten Staaten – er habe Hinweise, denen er nachgehen müsse, und er wolle Cora dabeihaben. »Und Cora?« fragte Claire. »Sie wird schon mitkommen.« »Fragen Sie ihren Vater«, sagte Claire. »Wenn Tom einverstanden ist, bin ich es auch. Wir kommen für alle anfallenden Kosten auf. Wenn Marigold nicht zurückkehren will – in Ordnung. Wir wollen es nur wissen. Alle Welt will es wissen.« Als Tom den jungen Mann sah, sagte er: »Ich habe Marigold verloren – ich will nicht auch noch Cora verlieren.« »Sie werden Cora nicht verlieren«, erwiderte der junge 96
Mann. »Es ist nur eine Erkundungsreise. Ich habe ein paar Anhaltspunkte.« Am nächsten Tag rief Cora spätabends von Paris aus an. »Es kann gut sein, daß man sie gesehen hat«, sagte sie. »Mehr können wir euch nicht sagen.« »Wo?« fragte Tom. »Das darf ich nicht verraten.« »Laß wieder von dir hören. Moment!« Er wandte sich zu Claire. »Sie glauben, daß jemand sie gesehen hat.« Dann sprach er wieder in die Muschel. »Wenn das stimmt, wäre das eine solche Erleichterung. Claire sagt, du sollst dich wieder melden. Melde dich wieder, hörst du?« »Täglich«, versprach Cora. »Ich hoffe, die beiden vergnügen sich, solange sie miteinander zu tun haben«, sagte Claire zu Tom. »Ich auch.« Wenn sie in England waren, wohnten Tom und Claire in einem großen Haus in Wimbledon mit einem vier Morgen großen Garten, weitab von der Straße. Es war 1932 erbaut und schon immer von Leuten aus der Filmbranche bewohnt worden – Produzenten, Magnaten, berühmte und vermögende Stars. Jeanne, die von ihrem unerforschlichen Feldzug gegen Tom immer noch nicht abgelassen hatte, empfand das Haus als Provokation. In Wahrheit fühlte sie sich bei den wenigen Gelegenheiten, da ihr aufgemacht wurde, geängstigt – von seiner Größe, von der Stille hinter den Gardinen und den verschlossenen Türen und von der hohen Decke in der kreisrunden Eingangshalle. »Ich möchte Mr. Richards sprechen.« Jedesmal, wenn sie klingelte, kam jemand anders an die 97
Haustür. Eine Reihe junger Männer, Sekretärinnen, Helferinnen der Familie Richards, je nachdem, wer gerade angewiesen wurde, die Tür zu öffnen. Bis auf die Köchin, die ebenfalls Claire hieß, hatte Claire keine Bediensteten, die im Haus wohnten. Aber in der Welt des Films hingen ständig irgendwelche netten jungen Mädchen, irgendwelche netten jungen Männer herum. »Ich glaube, Tom Richards ruht sich gerade aus. Sie wissen doch, daß er sich ausruhen muß.« »Ich bin Jeanne.« »O ja, ich habe Sie erkannt. Möchten Sie Mrs. Richards sprechen?« »Nein, mit der habe ich bereits gesprochen.« »Setzen Sie sich. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann, Jeanne.« Endlich erschien Claire, ganz wie Jeanne vorhergesehen hatte. »Treten Sie ein und nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas zu trinken?« Sie gingen in ein kleineres Zimmer. Auf dem Beistelltisch standen alkoholische Getränke, auf dem Boden lagen die verstreuten Seiten einer Zeitung. »Wissen Sie, Jeanne, wir machen uns Sorgen um Marigold. Tom hat eine Menge Ärger. Ihr letztes Interview war nicht eben nett. Warum haben Sie das gemacht? Was haben wir Ihnen getan?« »Ich bin ausgenutzt worden«, sagte Jeanne. »Wir werden alle ausgenutzt«, entgegnete Claire. »Ach, wirklich? Dann erklären Sie mir doch bitte, wieso ich in dem Film die Hauptfigur bin und trotzdem nicht als Star genannt werde.« »Weil Sie nicht der Star sind«, antwortete Claire. »Rose Woodstock ist der Star.« »Die Hauptfigur in der Geschichte bin ich, und ich habe 98
nicht einmal drei Nahaufnahmen. Ich bin die Geschichte.« »Das ist ein künstlerisches Problem«, sagte Claire. »Sie haben Gelegenheit gehabt, mit Tom darüber zu reden.« »Nein.« »Nun, Sie wissen, daß Tom einen Unfall gehabt hat. Haben Sie denn nie die Schnellkopien gesehen?« »Nein. Die Direktoren waren offensichtlich der Meinung, daß es sich nicht lohnt, mich zu fragen.« Claire wies Jeanne darauf hin, daß sie einen Vertrag hatte. Wenn sie daran etwas auszusetzen habe, solle sie damit zu ihrem Agenten oder Anwalt gehen. Claire wies auf alles mögliche hin, nur darauf nicht, daß Jeanne im Film mit der kleinen Nebenrolle der »Jeanne« betraut worden war. Ein kurzer Auftritt hier, ein kurzer Auftritt da, und weg war sie. Es fiel Claire schwer, so deutlich zu werden. Es hörte sich herablassend an. Wie erklärt man eine künstlerische Entscheidung? Das Zugpferd des Films war natürlich Rose Woodstock mit ihrem Namen, ihrem Aussehen und ihrer hervorragenden Präsenz. Nie hatte Jeanne eine Rivalin für Rose darstellen sollen. Die Geschichte handelte nicht davon, daß zwei Frauen um die Gunst des männlichen Hauptdarstellers buhlten. Jeanne war eine Idee. Ein Hamburger-Mädchen, das der Kamera häufig den Rücken zukehrte und dessen Rolle im Film von vornherein die eines Niemand war. »Aber ich bin diejenige, die das Erbe antreten, die es zur Millionärin bringen wird«, beharrte Jeanne. Claire hielt das Mädchen für verrückt. Sein Gesicht war ausgezehrt. Es bot nicht mehr den hübschen Anblick wie im Film, sondern wirkte leicht gequält. Claire hatte den Verdacht, daß sie Drogen genommen hatte. Jeanne war zur Biennale in Venedig gereist und hatte hilflos versucht, soviel Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken. Aber gegen Rose Woodstock kam sie nicht an. Sie fand nicht einmal 99
einen Sitzplatz an dem Tisch im Café, an dem der glamouröse männliche Hauptdarsteller mit den blendendweißen Zähnen saß, der es im Film so gut verstanden hatte, wie man einer jungen Frau (Rose Woodstock) ein Geschenk überreicht, und der Jeanne in Venedig nicht einmal wiedererkannte. Claire stellte fest, daß Jeanne dringend psychiatrische Hilfe brauchte. »Ich sollte Millionen erben.« »Jeanne, Sie sind nicht die Jeanne des Films.« »Ach nein?« fragte Jeanne. »Ach nein?« Ihre Stimme hatte einen drohenden Beiklang. Daraufhin entschloß sich Claire, ihr doch kein Geld zu geben, wie sie es nämlich zunächst vorgehabt hatte. »Sie haben einen Vertrag unterschrieben«, sagte sie ziemlich schroff. »Vermutlich haben Sie einen Agenten und sind bezahlt worden. Gehen Sie und erzählen Sie das alles Ihrem Agenten, Jeanne. Wir wollen Sie nicht hier.« »Und die ganze Zeit bin ich nur im Halbprofil aufgenommen worden, damit ich nicht zu erkennen bin«, fuhr Jeanne fort, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Die Beleuchtung war immer, aber auch immer so, daß ich halb im Schatten stand.« »Bei Außenaufnahmen stellen die Lichtverhältnisse für jeden Regisseur ein Problem dar«, meinte Claire. »Tag für Tag braucht man dieselben Lichtverhältnisse, um Kontinuität herzuzustellen. Außerdem sollten Sie ja auch halb im Schatten sein. So will es der Film. Wenn Sie damit nicht zufrieden sind, könnten Sie einen Anwalt zu Rate ziehen. Aber dafür ist es nun schon reichlich spät. Warum haben Sie nicht rechtzeitig Einspruch erhoben?« »Weil ich unerfahren bin. Weil ich nicht gemerkt habe, was vor sich ging. Ich bin ausgebeutet worden.« 100
Claire, die nicht wußte, ob Tom mit dem Mädchen geschlafen hatte oder nicht, gab sich den Anschein kühler Freundlichkeit und anderer wunderbar widersprüchlicher Eigenschaften, die sie sich im Verlauf ihres Zusammenlebens mit Tom zu eigen gemacht hatte: mütterliche Fremdheit, professioneller Dilettantismus, Verständnis und Unverständnis, Ja und Nein. Als sie Jeanne entschlossen zur Tür begleitete, fragte sie: »Haben Sie Angehörige?« »Meine Mutter war mit mir in Venedig. Wir haben Marigold gesehen.« »Wirklich? Wo?« »In einer von diesen Gassen. Sie war mit einem Mann zusammen.« »Können Sie ihn beschreiben?« »Ziemlich alt. Wie Tom. Was für Männer kann sie schon erwarten? Mit ihrer Visage?« »Sie hätten es sofort der Polizei melden sollen«, sagte Claire. »Die Interpol fahndet nach Marigold.« »Das ist nicht meine Sache.« »Da haben Sie recht.« Instinktiv hatte Claire allen Liebhabern abgeschworen, bis Marigold wiedergefunden wäre. Wie Tom hatte sie das Gefühl, daß Marigold irgendwo noch am Leben war. Cora rief sie an. Nach der ersten möglichen »Sichtung« auf dem Montmartre hatten sie und der gescheite junge Ivan, wie Cora sich ausdrückte, nur noch undeutliche »Signalisierungen« empfangen. Mittlerweile hatte Ivan in einer kleinen Seitenstraße der Rue de Rivoli ein Büro eingerichtet. Er war der Meinung, daß man auf jeden Fall nichts falsch machte, wenn man für ein bestimmtes Projekt ein Büro in Paris eröffnete: Räume, Computer, Faxgerät, zwei 101
Telefone (eins mit Geheimnummer, das andere nicht). Jetzt konnten sie vertrauliche Mitteilungen von jeder beliebigen Quelle entgegennehmen. Marigolds Foto, aus den unterschiedlichsten Winkeln aufgenommen, war an Taxifahrer, Barmänner, Studenten und Lehrer verteilt worden, an zahlreiche Universitäten, besonders an die wenigen, wo die Studenten kein Schulabschlußzeugnis vorlegen mußten, um sich einschreiben zu können. Unterdessen wohnten Cora und Ivan in einer Mietwohnung am Boulevard St. Germain. Cora bummelte in den Boutiquen und Kaufhäusern umher. Ivan, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ging jeden Tag in sein Büro, um die vielen, wenn auch meist aussichtslosen Nachrichten zu überprüfen, die von einer Vielzahl von Informanten eingingen. Claire bezahlte Ivan und war mit seinen Bemühungen sehr zufrieden. Sie war sicher, daß er die Sache professionell, anging. Sie war sicher, daß diese ihn voll in Anspruch nahm. Aber war Marigold noch in Europa? Sie konnte überall sein, überall … »Sie ist in Europa«, sagte Ivan mit Bestimmtheit. Woher wußte er das? Er sagte es nicht. Er wußte es einfach. »Ich möchte gar nicht so sehr wissen, wo sie ist«, sagte Claire zu Cora. »Ich möchte nur wissen, ob sie noch lebt.« »Oder tot ist«, sagte Cora. Claire hatte die Alternative eigentlich nicht aussprechen wollen. Sie hatte den Verdacht, daß auch Tom seine Geliebten aufgegeben hatte. In seinem Leben schien es derzeit keine Frauen zu geben, doch Claire maß dieser Seite seines Charakters ohnehin keine Bedeutung bei. Es war eine außergewöhnliche Ehe, und Claire dachte nur kurz darüber nach, was Marigold ihr einmal bei einem Besuch gesagt hatte: »Warum trennt ihr euch nicht, du und Papa? Warum laßt 102
ihr euch nicht scheiden wie andere Paare in eurer Lage?« Vielen Dank, Marigold. Wir sind einander näher denn je zuvor, dachte Claire grüblerisch. Mit Tom war sie zum Filmfestival nach Venedig gefahren. Die Reporter fragten Tom nach Marigold: »Ihre Tochter. Deren Verschwinden. Welcher Art waren Ihre Beziehungen zu Marigold? Wohl nicht gar so gut?« »Daß sie meine Tochter ist, ist eine Sache«, antwortete Tom einmal auf eine solche Frage. »Meine Beziehungen zu ihr sind eine andere. Es ist meine Tochter, nach der ich suche. Aus meinen Beziehungen halten Sie sich besser heraus.« Und Claire sagte ihnen: »Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Marigolds Aufenthalt herauszufinden. Es steht ihr frei, dahin zu gehen, wohin sie möchte. Aber ihr Verschwinden bereitet uns Sorge.« Toms Film Unerledigte Angelegenheiten war ein eindeutiger Erfolg. »Aber ich habe nicht dieselbe Wärme, dieselbe Kameradschaft angetroffen wie sonst«, sagte Tom zu Dave. »Man sollte meinen, die Filmleute würden auf mich zukommen und mich nach Marigold fragen, nicht wahr? Na ja, eins wenigstens muß ich zugeben. Zeffirelli rief mich an. ›Tom‹, sagt er, ›ich habe die Sache mit Marigold gelesen. Gib nicht auf. Laß den Mut nicht sinken. Irgendwo muß sie ja sein. Falls ich irgend etwas für dich tun kann …‹ Sehen Sie«, sagte Tom, »so etwas nenne ich einen Freund. Franco Zeffirelli ist menschlich und kann sich in Leute einfühlen. Aber die Briten, die Amerikaner – sie sind so was von argwöhnisch. Glauben sie im Ernst, ich hätte Marigold ermordet, hätte sie umbringen lassen? Verfahren sie vielleicht mit ihren eigenen Töchtern so?« »Das setzen ihnen die Zeitungen in den Kopf. Die Kolumnisten machen Andeutungen, wie Sie sehen.« 103
»Aber warum nur?« »Mir kommt es so vor«, sagte Dave, »als würde Marigold selbst den Ton angeben.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie in Kontakt mit Journalisten steht?« »Das weiß ich nicht. Aber sie könnte auf mehrere Arten den Ton angeben, Tom. Flüsterpropaganda ist die wirksamste Methode, die ich kenne, das war schon immer so.« »Demnach glauben Sie, daß meine Tochter noch lebt?« »Sie ist gesund und munter«, sagte Dave. »Weshalb will sie mich so unflätig beschimpfen?« fragte Tom. »Sie mag Sie nicht.« Dave traf die Feststellung so sachlich, daß Tom sich fragte, ob er eine sichere Informationsquelle besaß. »Dave«, sagte er, »wenn Sie einen Verdacht hegen, wenn Sie mir sagen könnten, wo sie steckt, oder mir auch nur einen Anhaltspunkt geben könnten …« Doch Dave schüttelte den Kopf.
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12 Komm, wir gehen, du und ich … »Sie sollten Ihre Memoiren schreiben.« »Ich weiß«, sagte Tom. »Aber Sie glauben ja nicht, wie viele Gelegenheiten ich verpaßt habe, meine Erinnerungen niederzuschreiben. So viele Gespräche! Alles vergessen, und inzwischen sind so viele Menschen verstorben. John Braine kannte sich bei Filmen ziemlich gut aus, er wußte einiges dazu zu sagen, besonders zur Verfilmung von Büchern. Aber ich kann mich nicht an ein einziges Wort davon erinnern, nicht an einen Punkt, den er ansprach. Zu John Braine fällt mir lediglich ein, daß er mir riet, Earl Grey zu trinken. Widerwärtiges Zeug, für meinen Geschmack. Dann war da Mary McCarthy. Sie sprach weitschweifig, aber ich habe mir nichts notiert, erinnere mich an nichts. Ich kann mich nur noch erinnern, wie förmlich und konventionell sie war. Auf einer Cocktailparty trug sie immer ein korrektes Kleid, manchmal schwarz, manchmal rot, sehr elegant, mit Diamantbrosche und weißen Glacéhandschuhen. Immer diese weißen Glacéhandschuhe, die sie zusammen mit ihrer Handtasche trug. Aber wen interessieren solche Einzelheiten schon?« »Mich«, sagte Dave. »Tatsächlich? Ernstlich? Wie kommt’s?« »Einzelheiten wie Earl Grey und weiße Glacéhandschuhe sagen etwas über die betreffende Person aus.« »Da haben Sie recht«, erwiderte Tom. »Da haben Sie wahrhaftig recht. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, daß Sie so denken. Ich glaube sogar, auf diese Weise wollten sie uns bestimmte Erinnerungen hinterlassen – Earl Grey und 105
weiße Glacéhandschuhe.« Zwei Tage danach, als Dave allein in seinem Taxi saß – er hatte in Holborn einen Fahrgast abgesetzt –, hielt vor einer Verkehrsampel ein Auto neben ihm an, ein BMW. Während Dave wartete, blickte er flüchtig zu seinem Nachbarn hinüber, einem unauffälligen jungen Mann mit Sonnenbrille, der ein unscheinbares langhaariges Mädchen zur Beifahrerin hatte. Als er wieder auf die Ampel schaute, die eben umsprang, nahm er wahr, wie aus dem Fenster des BMW ein Arm heraus gestreckt wurde, danach nahm er kaum noch etwas wahr, höchstens das Gehupe hinter sich, mit dem man ihn zur Weiterfahrt drängte – bis er in einem Krankenhaus wieder zu sich kam. Dave hatte ein winziges Bruchstück seiner Schädeldecke eingebüßt und sich das Kinn an Glassplittern der zerschmetterten Fensterscheibe aufgeschnitten, er hatte einen Schock und eine Gehirnerschütterung davongetragen, ansonsten aber blieb er ungeschoren. Man sagte ihm, daß er um ein Haar ums Leben gekommen wäre. Er konnte der Polizei den Killer und seine Begleiterin nur ungefähr beschreiben. Das Auto dagegen, das wußte er, hatte schwarz geglänzt, ein drei Jahre altes Modell. Hatte er irgendwelche Feinde, Schulden? Nein, hatte er nicht. Zum großen Ärger seiner Frau stellte man sein Haus auf den Kopf: »Wir sind die Opfer, und man behandelt uns wie Verbrecher.« Die Polizei fand weder Drogen noch irgendwelche Beweise für Drogenhandel – sie fand nichts. Nachdem Dave mit immer noch verbundenem Kopf entlassen worden war, suchte ihn ein Kriminalbeamter in Zivil auf. Der Mann setzte seine Brille ab, behauchte beide Gläser, putzte sie mit seinem Taschentuch und setzte sie wieder auf. »Sie sind ziemlich gut befreundet mit Tom Richards, nicht wahr?« fragte der Polizist. 106
»Stimmt«, antwortete Dave. »Sicher haben Sie sich gefragt, ob Ihr Mißgeschick mit ihm zu tun haben könnte?« »Das habe ich mich in der Tat gefragt«, antwortete Dave. »Und er sich auch. Aber wir wollten nicht, daß die Presse und das Fernsehen davon Wind bekommen.« »Nun«, sagte der Mann, »es handelt sich um einen jener Fälle, wo es sich als nützlich erweisen könnte, wenn die Presse davon erführe.« »Es hätten alle möglichen Leute sein können«, sagte Dave. »Was kostet denn so ein Killer?« »Viel«, erwiderte der Polizist. »Dann fallen eine Menge Leute schon mal weg«, sagte Dave. »Falls sie es in Wahrheit auf Tom abgesehen hatten, ist die Zahl der Verdächtigen begrenzt. Falls sie es nur auf einen Taxifahrer abgesehen hatten, einen x-beliebigen Verkehrsteilnehmer, wie es mitunter vorkommt, das wissen Sie ja, sind dem Täterkreis keine Grenzen gesetzt.« »Wer sind Tom Richards’ Feinde?« »Das müssen Sie ihn schon selber fragen. Spinner, die Berühmtheiten umlegen wollen, gibt’s immer.« »Aber die wollten Sie umlegen.« »Vielleicht wollten sie Tom einen Denkzettel verpassen, vielleicht auch nicht.« »Wie geht’s Ihnen?« »Ziemlich mies. Ich habe Kopfschmerzen. Aber ich träume vom Krankenhaus. Von den hübschen Schwestern.« Die Presse hatte Anteilnahme, Entrüstung, Verblüffung bekundet. Tom sagte zu Claire: »Wir haben zuviel Geld. Das erlaubt uns zu viele Möglichkeiten, endlose Alternativen. Es könnte auch Marigold dahinterstecken, wäre ja denkbar. Daß es Jeanne war, ist unwahrscheinlich, obwohl sie so etwas wie 107
ein Tatmotiv hätte. Jeanne könnte es sich auch gar nicht leisten. Marigold schon.« »Und Rose Woodstock?« fragte Claire. »Rose kannst du vergessen. Die hat schließlich in Venedig ihren Preis bekommen, oder etwa nicht?« »Ja, aber du bist nicht bis zur Preisverleihung dageblieben.« Der Polizei erzählte Tom: »Die Vorstellung, daß die Kugel, die Dave getroffen hat, mich einschüchtern sollte, erfüllt mich mit Entsetzen, aber ich finde sie unwiderstehlich. Aus welchem Grund sonst sollte er Schlagzeilen machen? Damit wollen sie sagen: ›Nächstes Mal bist du dran, wir erwischen dich schon noch.‹ Aber warum? Angenommen, Dave wäre dabei draufgegangen. Wem würde es nützen? Cui bono, wie schon Cicero sagte.« »Ciceros Zeit liegt lange zurück. Wahrscheinlich hat er über Verbrechen ohne Tatmotiv nicht viel nachgedacht. Ich kenne mich bei Cicero nicht aus«, sagte der Kriminalbeamte. »Eine grundlose Geste? Meinen Sie so etwas?« fragte Tom. »Nicht auszuschließen.« Sie sprachen es nicht aus, aber der Tatverdacht richtete sich eindeutig gegen Marigold. »Können Sie Ihre Tochter wirklich nicht dazu bewegen, mit der Sprache herauszurücken? Sie braucht Hilfe. Wahrscheinlich ist sie gemeingefährlich.« »Vielleicht, wenn ich mich von Claire trennen würde. Wenn wir die Scheidung einreichen würden, käme sie vielleicht aus ihrem Versteck hervor, falls sie sich in einem solchen aufhält. Doch selbst dann wäre sie nicht überzeugt. Wissen Sie, wir sind uns beide nicht ganz sicher, aber womöglich hat Marigold den Killer in dem BMW angeheuert.« »Ist die Polizei noch einmal bei Ihnen gewesen?« erkundigte sich Dave am Telefon bei Tom. 108
»Ja.« »Was haben sie gesagt?« »Nichts. Die Beamten bewegen sich nur im Kreis.« »Sie wollen Ihnen eine Falle stellen«, sagte Dave. »Beim zweiten oder dritten Mal müssen Sie sich ja widersprechen.« Er wäre so gern wieder mit Tom in der Stadt herumgekurvt. »Warten wir ein Weilchen«, sagte Tom. Er haßte es, Angst zu haben. Tom holte einige Fotos von Marigold hervor. Marigold mit sechzehn in Tenniskleidern. Marigold auf einem Ball, in weißem Rüschenkleid. Marigold, ein Würstchen verzehrend, an einem Swimmingpool im Staat New York. »So gräßlich ist sie doch gar nicht«, sagte Tom zu Claire. »Sie hat eine ziemlich gute Figur«, sagte Claire und besah sich die Fotos, die Tom ihr reichte. »Es ist nur ihr Gesichtsausdruck.« »Nach modernen Maßstäben hat sie eigentlich ein ziemlich interessantes Gesicht«, sagte Tom. »Sie ist keine Schönheit. Aber interessant, fotogen. In einem harten Film wäre sie nicht schlecht. Sagen wir, Ibsen; sagen wir, eine IbsenVerfilmung. Sagen wir, Thomas Hardy. Ich wünschte, ich hätte die Idee früher gehabt.« »Hat sie je eine Probeaufnahme gemacht?« »Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Tom. »Jedenfalls nicht bei mir. Diese kleinen Augen …« »Meiner Meinung nach machen sie in modernen Kinound Fernsehfilmen wegen der Augen zuviel Aufhebens«, meinte Claire. »Sie bekommen keine anständigen Drehbücher, also gleichen sie es mit großen, wäßrigen, glänzenden Augen aus, die vor lauter Gefühlen überfließen. Zuviel, zu viele …« »Da magst du recht haben.« 109
Jeannes Rechtsanwalt schrieb. Tom, teilte er mit, habe Unerledigte Jeanne versprochen, sie werde in Angelegenheiten eine größere Rolle übernehmen. Er habe es sogar schriftlich festgehalten: ›Von größter Bedeutung.‹ Statt dessen habe sie nur eine Nebenrolle gehabt. Und so weiter. »Meine Klientin verdient eine Erklärung und eine angemessene Entschädigung für die beruflichen Einbußen, die sie erlitten hat.« Es handelte sich um einen bekannten und teuren Anwalt, der sich eines so zweifelhaften Falles ohne eine üppige Anzahlung niemals angenommen hätte. Wo hatte Jeanne das Geld her? »Vielleicht von Marigold«, sagte Claire. »Es war ein Fehler meinerseits, ihr jemals Geld zu vermachen. Aber da sie nun einmal meine Tochter ist …« Im Laufe ihrer Nachforschungen über den Anschlag auf Dave tauchte ein ehemaliger Freund von Marigold auf. Es war derselbe Mann, der sich mit ihr in dem Wohnwagen versteckt hatte, als Tom und Claire in Hochsavoyen nach ihr gesucht hatten. Das war inzwischen vier Monate her, und sie hatte ihn sitzenlassen. Der junge Mann berichtete von seinen Erlebnissen mit Marigold, sagte jedoch aus, daß sie sich kurz darauf getrennt hätten. Er schloß nicht aus, daß Marigold durchaus in der Lage wäre, einen Killer anzuheuern, wenn es ihr in den Kram paßte. Schließlich glaubte die Polizei dem jungen Mann, dessen Name für den vorliegenden Zweck unerheblich ist, und ließ ihn laufen. Wo aber steckte Marigold? Niemand wußte es mit Bestimmtheit. Unterdessen hatten Cora und Ivan in Paris tatkräftig ein Büro eingerichtet und es mit komplizierten Ermittlungs- und Empfangsgeräten versehen, mit deren Hilfe sie eine Fülle von Hinweisen, Anhaltspunkten und möglichen Begegnungen mit Marigold aufzeichneten. Ivan behauptete nicht länger, daß sie sich noch in Europa aufhielt. Sie war in Peru, in 110
Cochin und in anderen Gegenden Südindiens gesehen worden, man hatte sie in Georgetown, Washington und Pakistan gesichtet. Coras kurze Affäre mit Marigolds Schwager Ralph war aus und vorbei. Irgendwie hatte Claire ihm eine leitende Position verschafft, besser als die vorherige. Er war zu seiner Frau Ruth zurückgekehrt, die keine Ahnung von seiner Affäre mit Cora hatte und sich weigerte, es zu glauben, als Jeanne sie anrief, um ihr davon zu erzählen. »Wieder auf dem Boden der Tatsachen«, sagte Ralph, als sich mit Ruth wieder seine Impotenz einstellte. Ruth war gekränkt. Cora war ganz hingerissen von ihrem neuen Freund, Ivan dem Privatdetektiv, und von ihrem Appartement in Paris. Marigold war Teil ihrer Karriere geworden. Tom führte ein Treffen mit dem Freund vom Campingplatz herbei, der Marigold offenbar als letzter leibhaftig gesehen und gesprochen hatte. »Sagen Sie allen«, bat ihn Tom, »daß ich vorhabe, ihr die Hauptrolle in einem Film zu geben, wenn sie sich meldet. Ich glaube, sie hat das Zeug zum Filmstar. Sie ist fotogen. Ich habe es lange nicht gemerkt, aber so ist es. Sagen Sie es weiter. Ich werde Aufnahmen von ihrem Gesicht zeigen. Nicht aus väterlicher Fürsorge. Aus künstlerischen Gründen.« »Wem weitersagen?« fragte der junge Mann. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wo sie sich aufhält.« »Versuchen Sie’s«, sagte Tom und reichte ihm einen Umschlag. Der junge Mann nahm das Geld kommentarlos entgegen und steckte es in die Tasche seiner Jeans. Vielleicht würde es ja Früchte tragen, vielleicht aber auch nicht. »Falls sie auftaucht, werde ich alles tun, was sie verlangt«, sagte Tom, »nur Drogenhandel oder terroristische Machenschaften werde ich nicht unterstützen.« »Wie kommen Sie denn darauf?« 111
»Ich schulde Ihnen keine Rechenschaft.« Cora schickte ein Fax, wonach Marigold mit Bestimmtheit in einer brasilianischen Klinik für plastische Chirurgie gesehen worden war. »Macht schnell«, schrieb Cora, »sie ist zweifellos da und läßt sich ihr Gesicht verschönern.« Wie die anderen »Sichtungen« erwies sich auch diese als falscher Alarm. »Marigold würde sich ohnehin nie das Gesicht verschönern lassen«, bemerkte Tom zu Claire. »Wenn sie in den Spiegel schaut, nimmt sie nicht das interessante Gesicht wahr, das sie hat, sondern makellose Schönheit, davon bin ich überzeugt. Liebe macht blind.« Er wußte, es war durchaus möglich, daß einige der »Sichtungen« – darunter eine sehr wahrscheinliche in Cork – echt waren. Doch stets trafen die Detektive einen Tag zu spät ein. Sie war dagewesen, ja. Aber sie war schon wieder fort. Toms Anwalt Fortescue-Brown war am Telefon. »Können Sie in meiner Kanzlei vorbeischauen, oder können Sie es so einrichten, daß ich zu Ihnen komme?« »Worum geht es?« fragte Tom. »Um die Abänderung Ihres Testaments. Seit einigen Monaten ruht es.« »Was für eine Testamentsabänderung?« »Sie hatten mich deswegen angerufen, als Sie im Krankenhaus lagen. Es ging um ein Mädchen. Ich hoffe, Sie haben sich die Sache noch einmal überlegt.« »Ein Mädchen?« Er mußte wohl das Hamburger-Mädchen meinen. Tom wunderte sich über seinen Traum von damals, den er längst ausgeträumt hatte, weil der Film Wirklichkeit geworden war und die wirkliche Jeanne, fade wie sie war, ihn langweilte. »Vergessen Sie die Testamentsabänderungen«, sagte er. »Soll ich sie alle ignorieren?« 112
»Alle. Sie gehören der Vergangenheit an.« Tatsächlich war Tom mit einem ganz neuen Filmplot befaßt.
Komm, wir gehen, du und ich … Er gab sich einem seiner Lieblingsträume hin: »Wenn Julius Caesar wieder zum Leben erweckt würde, und man ließe ihn in einem Fahrstuhl fahren oder in einem Flugzeug fliegen, wie würde er reagieren? Ascot könnte er nachvollziehen, aber bei einem elektrischen Wasserkessel wäre er baff. Man bringe die Brontës zurück und veranstalte vor ihrem Haus in Haworth ein Rockkonzert. Wie würden sie reagieren? Man bringe Sophokles zurück und spiele ihm Mahlers Erste Symphonie vor …« »Die Reihe läßt sich beliebig fortsetzen«, sagte Dave. »Beliebig.« In Toms Vorstellung begannen historische Verschiebungen Gestalt anzunehmen. »Mein neuer Film spielt im Britannien des fünften Jahrhunderts nach Christus, gegen Ende der Besetzung durch die Römer«, sagte er schließlich zu Dave. »Ich habe da einen Zenturio, der seine Zelte partout nicht abbrechen will. Seit mehr als zwei Jahrhunderten ist Britannien die Heimat seiner Familie. Seine Brüder und seine Vettern sind meist Staatsbeamte und dürfen bleiben. Aber mein Held dient im Heer, er muß gehen. Befehl aus Rom. Um diese Zeit benötigt man die Legionen zur Verteidigung Roms, verstehen Sie?« »Ich schlage besser im Konversationslexikon nach. Wie soll er heißen?« fragte Dave. »Ich weiß es noch nicht. Nennen wir ihn Paulus. Geben wir ihm irgendeinen Namen. Er ist verheiratet, hat Kinder. Er hat einen Diener, einen Kelten, einen britannischen Eingeborenen. Die Geschichte dreht sich vor allem darum.« »Ist er schwul?« 113
»Nein. Aber er hängt an seinem Kelten, einem höchst exzentrischen Kerl. Seine Frau duldet ihre Freundschaft, seine Tochter hingegen nicht. Sie ist ein grimmiges Frauenzimmer. Sieht bemerkenswert aus, nicht hübsch, im Grunde sogar ziemlich häßlich. Aber bemerkenswert. Eifersüchtig, grimmig, durch und durch nachtragend.« »Hört sich an wie Marigold«, bemerkte Dave. »Jetzt, wo Sie es sagen, ja«, erwiderte Tom. »Ich würde Marigold sogar die Rolle anbieten, wenn ich sie je wieder zu Gesicht bekäme.« »Würde sie sie annehmen?« Tom schwieg und dachte ziemlich lange darüber nach. Schließlich sagte er: »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht nicht.« Tom griff nach dem Foto von Marigold, das er Dave gegeben hatte, damit er es im Taxi vorn anbrachte, für den Fall, daß Dave ihr im Laufe seines Arbeitstages begegnete. »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, daß Marigold ein psychisches Problem haben könnte?« fragte Dave. »Im Ernst, Tom, sie ist bestimmt nicht ganz richtig im Kopf.« »Daran habe ich eigentlich noch nie gedacht«, sagte Tom und betrachtete das Foto. »Es heißt, daß man bei seinen nächsten Verwandten nie von selbst drauf kommt. Daran denkt man zuallerletzt. Erst allmählich dämmert es einem.« »Ich werde mit Claire darüber reden. Es könnte sein. Wissen Sie, ich frage mich, ob sie am Leben ist, und wenn ja, wo.« Tom legte das Foto wieder aus der Hand. Marigold wirkte nicht ganz ausgeglichen; irgend etwas stimmte mit ihren Augen nicht. »Zu reich«, meinte Dave. »In Fernsehshows sieht man Leute, die vermißte Angehörige suchen. Fast immer sind sie 114
arm. Vermißte werden auf Bahnhöfen, in Cafés und Bars, an Haltestellen wiedergefunden. Normalerweise sieht man sie an solchen Orten. Aber Marigold … Hat sie ihr Geld angetastet?« »Nicht, daß wir wüßten. Aber wir wissen nichts von all den Orten, all den Ländern, wo sie ihr Geld aufbewahren könnte.« Der Zenturio und der Kelte nahmen in Toms Gedanken immer mehr Raum ein. Das Plot glich bereits einem Baum: Es verzweigte sich und trieb Knospen. Cedric (der provisorische Name des Kelten – Tom machte sich eine Notiz: »Namen nachschlagen, nachsehen, ob Cedric für diesen Zeitraum der passende Name ist«) besaß die Gabe des zweiten Gesichts. Er konnte in die Zukunft schauen, nicht nur in die nahe Zukunft, um seinen hellseherischen Fähigkeiten Plausibilität zu verleihen, sondern auch in die ferne Zukunft, was sich ziemlich verrückt anhörte und ihm zu einer Zeit, als das Volk mißtrauisch und abergläubisch war, besonders gefährlich werden konnte. So »sah« Toms Kelte etwa das Camp du Drap d’or, auf dem Heinrich VII. von England mit Franz I. von Frankreich zusammentraf, den Bau von Versailles, die Entdeckung Floridas. Am tollsten aber war, daß er Menschen auf dem Mond umherspazieren sah. Diese letzte Vision wurde nicht gut aufgenommen. Diana, die Mondgöttin, war im Römischen Reich und darüber hinaus noch immer eine nicht zu unterschätzende politische Kraft. Und hier in Britannien herrschten die Druiden über das Volk. Toms Kelte schwätzte etwas von Motorrädern daher. Er konnte auch das Wetter des folgenden Tages mit einer Genauigkeit voraussagen, die die Druiden erzürnte. Je deutlicher der Zenturio und der Kelte sich als Figuren herausschälten, desto begeisterter wurde Tom. Er war überzeugt, daß er die Idee zu einem erstklassigen Film hatte. Er mußte die Geschichte noch ausarbeiten, ein Treatment 115
verfassen, Geld auftreiben und sich die Besetzung überlegen. Tom war sehr froh, wieder einmal ganz in seinem Beruf aufgehen zu können. »Ich brauche eine starke, unerbittliche Frau. Grimmig.« (Die Geliebte seines Kelten.) »Jemanden wie Marigold«, sagte er zu Dave. »Drehen muß ich in Northumberland und in Italien«, sagte er zu Claire. »Der italienische Teil dürfte dir zusagen.« »Ich komme mit«, sagte Claire. Manchmal hatte Tom das Gefühl, daß Marigold ganz in der Nähe weilte. Laut Cora und Ivan, die in Paris geblieben waren, liefen in ihrem Nachrichtennetz noch immer Meldungen ein, daß Marigold gesehen worden sei. Sie war in Griechenland, in Puerto Rico und in Wien »gesichtet« worden, all das innerhalb einer Woche. Seit dem Anschlag auf Dave hatte die Interpol ein Interesse daran, sie zu finden; wie weit ihre Nachforschungen gingen, wußte niemand. »Sie sollten das Büro in Paris schließen«, sagte Tom zu Claire. »Es ist die reinste Geldverschwendung.« »Laß sie doch, sollen sie sich ruhig noch ein bißchen länger vergnügen.« Er wußte, dies war als Bitte gemeint: Tom solle kein Spielverderber sein.
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13 In seiner Ungewißheit, ob Marigold nun tot war oder noch am Leben, erzählte ihr Mann James allen, die es hören wollten, daß ihm nicht danach zumute sei, auf Scheidung zu drängen. Einmal kam er spätnachmittags zu Claire. Sie schenkte ihm einen Drink ein. Sie betrachtete ihn und fragte sich: »Hat er sie vielleicht ermordet?« Als sie verschwand, hatte er sich, wie es hieß, auf dem amerikanischen Kontinent aufgehalten. Diese Frage kam ihr unweigerlich in den Sinn, wann immer sie jemanden sah oder auch nur an jemanden dachte, der mit Marigold zu tun gehabt hatte. James war neununddreißig und klug, er hatte schütteres Haar, eine große Brille mit dunklem Gestell und den Anflug eines Bartes. Neuerdings wirkte er auf Claire weniger anziehend als früher. Allerdings hielt sie es für unwahrscheinlich, daß er seine Frau umgebracht hatte, wo er doch auf jede andere Art an ihr Geld herankommen konnte. Tom hatte Vertrauen in James’ Gelehrtheit. Erst kürzlich hatte er ihn für seinen neuen Film zum Fachberater für frührömische Stätten bestellt. Claire sagte: »Hast du in letzter Zeit mit der Polizei gesprochen, James?« Er antwortete nicht gleich. Dann: »Ach, du meinst wegen Marigold? Nein, mich haben sie in Ruhe gelassen.« Aus irgendeinem Grund behagte Claire der Klang dieses »Nein, mich haben sie in Ruhe gelassen« nicht. Ebensowenig gefiel ihr die Antwort auf ihre nächste Frage: »Bist du bereit, es noch einmal mit Marigold zu versuchen?« Er sah verwirrt aus. »Es noch einmal mit Marigold zu versuchen?« 117
»Wenn sie zurückkommt.« »Ach, wenn sie zurückkommt. Hör mal, Claire, ich glaube nicht, daß sie je zu mir zurückkommen wird.« »Willst du damit sagen, du glaubst nicht, daß sie überhaupt je zurückkommen wird?« »Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich rätsele doch genauso wie du, was ihr zugestoßen sein mag. Woher soll ich das wissen, ich habe keine Ahnung.« Claire merkte, daß sie zu weit gegangen war. Es war nicht recht, daß jeder, der mit Marigold zu tun gehabt hatte, alle anderen verdächtigen mußte. »Wenn sie uns das mutwillig antut«, sagte Claire, »werde ich nie wieder mit ihr reden. Wenn sie mit jemandem in Konflikt geraten und tot ist, werde ich es mir nicht verzeihen.« »Weshalb wirst du es dir nicht verzeihen?« »Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht«, sagte Claire. »Es kann einem passieren, daß man einem anderen Menschen gegenüber Schuldgefühle hat, ohne ihm etwas getan zu haben.« Sie war erleichtert, als er sagte: »Ich weiß, was du meinst. Genau dieselben Gefühle habe ich Marigold gegenüber. Vielleicht möchte sie ja, daß wir Schuldgefühle haben.« »Vielleicht. Tom weigert sich, Schuldgefühle zu haben. Wir können nicht mehr tun, als wir schon tun, um Marigold zu finden. Tom sagt, er weigert sich, seine Seele zu quälen, indem er seine wirklichen Erfahrungen mit seiner Tochter unterdrückt, nur um den Schein zu wahren.« »Das freut mich«, versetzte James. »Ich freue mich, daß er mir diese wunderbare Stelle gegeben hat. Man könnte es mir als Treulosigkeit gegen Marigold auslegen. Alle Welt weiß, daß unsere Ehe in die Brüche gegangen ist.« »Tom ist sehr professionell«, sagte Claire. »Für seine Filme will er immer nur die besten Leute. Und für seinen 118
kommenden Film bist du nun einmal der beste historische Rechercheur, der zu haben ist. Außerdem ist er überzeugt, daß Marigold den Killer angeheuert hat.« »Ja, das kann ich mir vorstellen.« »Meinst du wirklich?« »Ja«, erwiderte James. »Ich war ja nur sehr kurz mit ihr verheiratet, aber ich habe gelernt, mich nicht auf ihr seelisches Gleichgewicht zu verlassen.« Beide fragten sich: Was würde sie als nächstes tun? Der Film sollte den Titel Watling Street haben; dies war der Name der alten Römerstraße, die quer durch den Südwesten Englands verlief. Obwohl der Name selbst nicht römischen Ursprungs war, vermochte Toms Kelte doch vorherzusehen, daß die berühmte Straße vom 9. Jahrhundert an unter dänischer Besatzung den reizenden Namen Watling Street erhalten würde. Die Straße selbst erstreckte sich von Hyde Park Corner in London bis Wroxeter in der Nähe von Shrewsbury. Zu der Zeit, da Toms Zenturio lebte, hieß Wroxeter noch Viroconium; Überreste dieser Stadt haben sich bis heute erhalten. Wann immer der Kelte sich einstimmte, »sah« er im vorhinein alles, was sich auf der Watling Street, wie er sie nannte, abspielte. Er brabbelte etwas von einem »Waschsalon in Maida Vale« daher, von der »Schlacht von Bosworth Field zwischen Tamworth und Hinckley«, er phantasierte von den Vorfällen im »Schwarzen Schwan« zu Grendon. Er behauptete, im fünf Kilometer von der Watling Street entfernten Lichfield unter schwarzen und grauen Wölkchen sei es kalt. Es handele sich um eine lastende Hügellandschaft. In Whipsnade gebe es einen Park mit wilden Tieren. Tom machte sich ausführliche Notizen darüber, was der Kelte »für das Jahr 433 n. Chr. dort, wo künftig die Watling Street verlaufen würde«, vorhersah. Er war fest entschlossen, 119
wenigstens das Rohdrehbuch zu schreiben. Unter »mögliche Namen früher Britannier« führte er auf: »Morgan, Bronwyn, Iolo, Huffa, Cedric, Gareth.« Was den Zenturio angine, so blieb er bei seinem ersten Einfall: »Paulus Aurelius.« Den Namen des Kelten hingegen änderte er von Cedric zu Dennis, dann wieder zu Cedric. Cedric der Kelte mußte ein Star sein, aber einer mit einem markanten, wilden Gesicht, dem Gesicht eines jungen Mannes, den seine umfassende Kenntnis der Zukunft in den Wahnsinn treibt und der doch wenig Kontrolle über sein eigenes Leben ausübt, da er seinem Zenturio angehört. Und der Zenturio selbst, Paulus Aurelius? Tom tat sein Bestes, ihn nicht der eigenen Person, zumindest nicht seinem Selbstbild nachzuempfinden, doch als sich herausstellte, daß es nicht anders ging, gab er nach und fand, daß er besser schreiben konnte, wenn er selbst das Vorbild für Paulus Aurelius abgab – und wenn schon? Dann konnte Tom nachts nicht schlafen. Eine Woche lang zerbrach er sich den Kopf, wen er mit der Rolle Cedrics des Kelten betrauen sollte. Nacht für Nacht und selbst morgens noch, wenn er im Bett lag, sah er Marigold vor sich, ihr dunkles, mißmutiges, häßliches Gesicht – sie blickte ihn an, stierte … »Ich kenne keinen Star, der ihr gleicht«, sagte er zu Claire, »aber sie geistert durch meine Träume als Cedric der Kelte, der Magier. Ich habe das Gefühl, daß er ihr ähnlich gesehen hat. Es ist lächerlich, daß es keine Schauspielerinnen mit Starqualitäten gibt, die aussehen wie sie.« »Besorg dir jemanden, irgend jemanden, irgendeinen Knaben«, sagte Claire, »und mach einen Schauspieler aus ihm.« »Leichter gesagt als getan«, sagte Tom.
Komm, wir gehen, du und ich … Er erklärte Dave, was er suchte. »Einen vierschrötigen, dunkelhaarigen Kerl. Wenn möglich fast nackenlos. 120
Tiefsitzende winzige schwarze Augen. Er könnte eine gewisse Güte ausstrahlen, aber die tragische Zukunft steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er gehört der Welt der Sage an und ist doch lebendig, eine Gestalt des 5. Jahrhunderts.« »Ich werde Ausschau halten«, sagte Dave. »Es ist unwahrscheinlich, daß Sie so jemanden finden«, sagte Tom. »Aber denken Sie an Marigolds Foto. Sie müssen es immer vor sich haben.« »Vielleicht ist es doch nicht so unwahrscheinlich«, entgegnete Dave. »Wissen Sie, es gibt ein paar Jugendliche, die genau so aussehen, wie es Ihnen vorschwebt. Mehr, als Sie meinen.« »Sie müßten schauspielern können«, wandte Tom ein. »Das liegt an Ihnen«, bemerkte Dave weltklug. Charlie Good, Claires früherer und letzter Geliebter, nahm in einem Pub in Gloucestershire einen kleinen Imbiß zu sich, als er Marigold das gleiche tun sah. Charlie war freiberuflicher Physiotherapeut. Als Tom außer Gefecht gesetzt war, hatte er die ganze Zeit über in ihrem geräumigen Haus in Wimbledon mit Claire zusammengelebt. Tom hatte das erste Mal Verdacht geschöpft, daß Charlie sich in seinem Haus aufhielt, weil dieser immer, wenn Toms Krankengymnastin und Masseur aus irgendeinem Grund verhindert waren oder sich verspäteten, umgehend aufkreuzte. »Ich hole Charlie«, sagte Claire dann wohl, und im Handumdrehen erschien Charlie mit seinen Riechfläschchen an Toms Krankenbett oder neben seinem Sessel. Claire hatte sich kaum mehr bemüht, Charlies Gegenwart als ständiger Gast zu verheimlichen. Als Tom sich wieder bewegen konnte, hatte sie sich von Charlie einvernehmlich und auf eine Weise, die ihm entgegenkam, getrennt. Als er Marigold begegnete, war Charlie Good freilich wieder einmal knapp bei Kasse – ein mehr oder weniger 121
chronischer Zustand bei ihm. Vielleicht schärfte der Geldmangel seinen Blick: Zuerst fiel ihm an einem Tisch in der Ecke ein mürrisch dreinblickender Jugendlicher auf. Kein gutes Gesicht, dachte er, dem würde ich nicht über den Weg trauen. Der Jugendliche trug eine braune Lederjacke über einem grauen Pullover und einem karierten Hemd, Blue Jeans und schwere, schwarze, verdreckte Stiefel. Aber irgend etwas stimmte mit den Händen nicht, mit den Händen … Charlie betrachtete ihn genauer und erkannte Marigold. Er sah weg und tat so, als sei er in Träumereien versunken; er starrte in sein Bier. Er bestellte sich noch eins und machte dem Wirt gegenüber eine Bemerkung über das scheußliche Wetter. Dann trank er sein Bier aus und verließ den Pub. Er ging zu seinem uralten Rover, und dort, zwischen den anderen Wagen, die vor dem Pub parkten, insgesamt fünf, wartete er. Es regnete heftig. Marigold kam heraus. Charlie duckte sich. Sie lief auf ein Wohnmobil zu, warf einen schwermütigen Blick um sich, stieg ein und fuhr davon. Charlie folgte ihr und sah, wie sie auf ein ödes, neben einem Friedhof gelegenes Feld fuhr.
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14 Die Berichte der Pariser »Organisation« oder des Pariser »Netzwerks«, wie Cora und Ivan ihre Unternehmung nannten – Marigold war in Honolulu gesehen worden, im Amazonasgebiet oder wo auch immer –, gab Tom regelmäßig an die Polizei weiter. Vielleicht hatten diese schillernden Ortsnamen die gelangweilten Ermittlungsbeamten daran gehindert, sich Marigold in einem Versteck ganz in der Nähe vorzustellen. Töchter mit einem Millionenerbe hausen nicht in schmutzig-feuchter Unannehmlichkeit, und wenn sie sich als Knaben verkleiden, leben sie vermutlich mit einem anderen Transvestiten oder dergleichen zusammen, nicht allein. Claire hatte Toms Wunsch, Marigold mit Hilfe der Polizei aufzuspüren, von jeher abgelehnt, und jetzt, wo man sie wegen des Anschlags auf Dave ins Verhör nehmen wollte, war sie von der Idee noch weniger angetan. Sie wollte nicht wahrhaben, daß Marigold zu einer verbrecherischen Gewalttat imstande wäre, und sagte zu Tom: »Du würdest damit deine eigene Tochter belasten, noch ehe du die Tatumstände kennst.« »Aber sie ist verrückt, begreifst du das denn nicht?« Tom dachte an Dave, der im Krankenhaus gelegen hatte, an seinen bandagierten Kopf, sein braunes, ausgemergeltes Gesicht auf dem Kissen, das sich weder Schmerz noch Furcht anmerken lassen wollte. »Um ein Haar wäre es Mord gewesen, es hat nicht viel gefehlt«, sagte Tom. Charlie Good, der Marigold aufgespürt hatte, ging weder zu ihren Eltern noch zur Polizei. Statt dessen wandte er sich an eine Fernsehanstalt und führte die Reporter gegen ein angemessenes Honorar zu dem Feld, auf dem Marigold 123
kampierte. Um diese Stunde hielt sich Tom in Daves Wohnzimmer in Camberwell auf und trank eine Tasse Tee, wie er es vor oder nach einer beschaulichen Rundfahrt zuweilen tat. Daves Frau, schlank, hellhäutig und stets ausgesprochen liebenswürdig zu Tom, den sie sehr ins Herz geschlossen hatte, schaltete die Fernsehnachrichten ein. Tom sah sich gern die Nachrichten an. Eine Schar aufgeregter Journalisten, eine Anzahl Umstehender … Der Name »Marigold« … Ein Streifenwagen … Die Nahaufnahme eines jungen Mannes, ja, aber es konnte auch ein Mädchen sein – jedenfalls war es Marigold. Sie machte eine Aussage. »Ich kann tun, was mir beliebt, wohnen, wo ich will. Ich weiß nichts von einer Schießerei. Ich lebe in diesen Umständen, um am eigenen Leib zu erfahren, was es heißt, mittellos zu sein. Nach meiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Arbeitslosigkeit habe ich beschlossen, ein Buch zu schreiben. Nur wenige wissen, wohin es führen kann, wenn man überflüssig wird. Der Verlust eines Dachs über dem Kopf, der Verlust der gesellschaftlichen Stellung. Völlige Verarmung. Einige Leute, die ich kenne, wohnen in ihren Fahrzeugen. Nur mit ihren Hunden als Schutz und als Gesellschaft. Die Leute hier sind sehr gut zu mir gewesen. Sie bringen mir Lebensmittel und sogar Butangas.« Die Kamera richtete sich auf eine junge Frau, sie hielt eine weiße Plastiktüte in der Hand, aus der ein Laib Brot herausschaute. »Ich hatte keine Ahnung, daß Jimmy Marigold ist. Wir kannten sie nur unter dem Namen Jimmy. Aber sie tut niemandem was und lebt in Ehren. Gerade wollte ich ihr ein paar Nahrungsmittel bringen.« Daraufhin wurde Marigold, wenn auch sanft, zu dem Streifenwagen abgeführt. »Wo spielt sich das alles ab? Haben Sie das gehört?« fragte Tom. »Ich hab’s nicht mitgekriegt«, antwortete Dave. »Jedenfalls 124
wissen Sie jetzt, daß sie am Leben ist, und sie hat sich ganz gut gerechtfertigt.« Tom erhob sich langsam von dem Sofa, denn wenn er niedrig saß, schmerzte ihn immer noch sein Rücken. »Ich sollte besser Claire anrufen«, sagte er. Binnen weniger Tage war Marigold zu einer Volksheldin aufgestiegen. Die Zeitungen verkündeten: Marigold
gefunden! Tochter des millionenschweren Filmmagnaten führt aus Solidarität mit den Arbeitslosen ein Vagabundenleben. Die Polizei fand keinerlei Beweise, um Marigold die Schüsse auf Dave anzuhängen. Sie gewährte Interviews, für die Tom und Claire sie nur bewundern konnten: Weshalb gab sie sich als Mann aus? Teilweise aus Selbstschutz, sagte sie. Teilweise, weil sie nicht erkannt und weil sie in Ruhe gelassen werden wolle. »Außerdem leiden Männer unter Entlassungen am meisten. Ich wollte ihre Lage wirklich nachempfinden. Irgendwie muß die Kluft zwischen arm und reich, zwischen Stelleninhabern und Stellenlosen überbrückt werden. Wachsende Arbeitslosigkeit führt das Land in die Katastrophe.« »Sie meint es ernst«, sagte Claire. »Ich bin sicher, daß sie jedes Wort ernst meint. Ich hatte eine lange Unterredung mit ihr.« Cora kehrte nach London zurück und erklärte, niemals in ihrem Leben so hart geschuftet zu haben. »Ivan wird das Büro weiterbetreiben. Es gibt so viele Vermißte, und wo er nun schon mal die ganze Ausstattung hat, wäre es unsinnig, sie zu vergeuden.« »Bei Marigold ist er aber nicht sehr weit gekommen«, bemerkte Tom. »Ach, am Ende hätte er es geschafft, da bin ich mir sicher«, erwiderte Cora. Aber sie war froh, wieder in ihrer Londoner Wohnung zu weilen. Sie erzählte Claire, daß sie es satt hatte, 125
mit Ivans elektronischer Ausrüstung zu leben, die sich bis in ihr Appartement ausgebreitet hatte. Das hieß, daß sie Ivan satt hatte. Bald würde er Teil jener unerwünschten Ausrüstung sein, ein Relikt der Vergangenheit. Marigold war wieder in ihrem Haus. »Ich habe Dave gegenüber immer noch Schuldgefühle«, sagte Tom. »Bestimmt hatte der Anschlag etwas mit mir zu tun.« Während er sprach, war Claire anderweitig beschäftigt. Plötzlich empfand er eine tiefe Zuneigung zu ihr. Was würde er ohne Claire tun, fragte er sich, ohne Claire mit ihrer Wohltätigkeit, ihren altmodischen Hauptbüchern und ihren Karteikarten, ihren Kostümen von Chanel und ihrem Parfüm von Worth (Je reviens)? Claire zuliebe duldete er sogar jene andere Claire, die Köchin mit ihren unsäglichen Gerichten, ihrer Roten Bete, ihrem Bœuf Stroganoff und ihren entsetzlichen Semmelknödeln. Marigold hatte das große Cottage in Surrey in Besitz genommen, das sie während ihrer kurzen Ehe mit James geteilt hatte. Wenn er nicht auf literarischen Reisen war, hatte er die Angewohnheit, das Cottage als sein Hauptquartier zu benutzen, und nun, da Marigold wieder aufgetaucht war, schien es nur billig, daß das Cottage bei ihrer unvermeidlichen Scheidung unter die Güterteilung fallen würde. Das Haus war ein Hochzeitsgeschenk gewesen, das Claire ihnen beiden gemacht hatte. Marigold, die sich inzwischen mit Hilfe eines Ghostwriters ihren jüngsten Erlebnissen als Arbeits- und Obdachlose widmete, hatte nichts dagegen, James seinen Anteil am Haus und an anderen wichtigen gemeinsamen Besitztümern, die sie im Verlauf ihrer Ehe angeschafft hatten, auszuzahlen. Allerdings war zwischen ihnen ein heftiger Streit darüber entbrannt, wer von ihnen Eigentümer der Poetischen Werke von Samuel Coleridge, Bd. 1und 2, sei. Marigold behauptete, 126
es handele sich um ein allein für sie bestimmtes Geschenk einer Schulfreundin, während James darauf beharrte, es gehöre zum Bestand gemeinsamer Hochzeitsgaben. Der Streit, der sich daraufhin entspann, so widersinnig er in Anbetracht des geringen Werts des Buches war, drang bis an die Ohren des Ghostwriters, der zwei Zimmer weiter saß. All das Gift, das sich in ihnen angesammelt hatte, verspritzten die beiden Menschen einem durchaus nicht unersetzlichen Buch zuliebe, das keine der streitenden Parteien wirklich wertschätzte. Ohnehin verlor sich die Gedichtsammlung schon bald unter der wachsenden Halde wechselseitiger Anschuldigungen. »Miststück, Hermaphrodit!« »Frauenausbeuter!« »Mordanstifterin!« »Gescheiterter Schriftsteller! Jetzt mußt du angekrochen kommen und eine Stelle von meinem Vater erbetteln.« »Er kann sich glücklich schätzen, daß er mich kriegt. Und was ist mit dir? Ausgerechnet du mußt reden! Bekommst eine wichtige Rolle, nur damit du den Mund hältst. Welche Chance hättest du schon gehabt, in einem Film zu glänzen, wenn du nicht Tom Richards’ Tochter wärst?« »Rolle? Ich habe keine Rolle in einem Film.« Dennoch erfuhr Marigold auf diese Weise, daß Tom mit dem Gedanken gespielt hatte, ihr eine Rolle zu überlassen. »Papa, ist es wahr, daß du eine Rolle für mich hast?« fragte sie später am Telefon. »Ja, eine männliche Rolle.« Er wollte nicht mehr, daß Marigold eine »starke, harte Frau« mimte. Er wollte sie in der Rolle Cedrics des Kelten. »Auf dem Campingplatz bist du so überzeugend aufgetreten, daß ich nicht einsehe, weshalb du nicht genauso überzeugend für mich auftreten könntest. Ich hatte sogar schon daran gedacht, als du noch nicht 127
wiederaufgetaucht warst.« »Eine männliche Rolle? Für was hältst du mich, für einen Hermaphroditen?« »Sei nicht albern. Ich kenne dich seit deiner Geburt. Aber denk daran, daß Shakespeare Frauenrollen mit Männern besetzt hat. Ich sehe nicht ein, weshalb ein Mädchen nicht einen Jungen spielen könnte, einen ganz besonderen Burschen, einen keltischen Briten. In einem Film aus den dreißiger Jahren hat Elisabeth Bergner den Knaben David gespielt. Sie war großartig.« Mit Hilfe des Ghostwriters aus der Agentur, die sie eingeschaltet hatte, schloß Marigold ihr Buch ab. Sie war wieder in ihre umgebaute Stallung in London gezogen. Außer den Poetischen Werken von Samuel Coleridge, Bd. 1 und 2, hatte sie nichts weiter mitgenommen. Alles andere im Cottage in Surrey überließ sie James. Er war ungeheuer aufgebracht, doch blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Anzüge zu packen, die Möbelwagen vorfahren zu lassen und seine Anwälte zu konsultieren. Zu Tom sagte er: »Marigold treibt mich zur Weißglut.« »Ich weiß«, erwiderte Tom. »Sie hat zuviel Geld, das ist das Problem. Aber sie wird einen wunderbaren keltischen Propheten abgeben. Gott sei Dank versteht sie zu arbeiten und arbeitet gern.« Es war typisch für Tom und gehörte in gewisser Weise zu dem Sittenkodex jener Welt aus Traum und Wirklichkeit, in der er zu Hause war, der Welt der Filmszenen, der Rollenbesetzungen, der Vermengung von Personen und Schatten, von Tatsachen und Illusionen, daß er nicht differenzierte zwischen den bereits geschiedenen und den noch verheirateten Mitgliedern seiner Familie. Daß James und Marigold sich trennten, war ohne Bedeutung, verglichen mit James’ Wert als Drehortrechercheur. Marigolds dramatisches Verschwinden und die Sorge, die sie damit 128
ausgelöst hatte, gingen in der Begeisterung, die Tom seinem hermaphroditischen Kelten der Jahre um 436 n. Chr. entgegenbrachte, völlig unter. Rose Woodstock beanspruchte die Hauptrolle für sich. Für ihren Part in Toms letztem Film hatte sie eine wichtige Auszeichnung eingeheimst. Sie war ein Kassenerfolg. Tom und seine Produzenten engagierten sie umgehend für die Rolle der Gemahlin des Zenturio, die möglicherweise die Geliebte des Kelten werden sollte. In Toms Augen sah Rose wieder einmal hinreißend aus. Und was Jeanne anging – sein Hamburger-Mädchen, das ihn nicht länger verfolgte, es sei denn über die Kanzlei ihres Rechtsanwalts –, so hatte Claire einen guten Einfall, wie man sie zum Schweigen bringen konnte. »Gib ihr doch einen kurzen Auftritt in einer der Vorausblenden. Zu mehr taugt sie nicht, aber; darin wäre sie ziemlich wirkungsvoll. Warum richtest du es nicht so ein, daß der Kelte die Französische Revolution vorhersieht? Jeanne könnte Marie-Antoinette spielen. Das würde ihr schmeicheln. Marie-Antoinette auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung mit eingeblendetem Schafott? Jeanne würde sich sehr gut machen!« Jeanne nahm die Rolle bereitwillig an, geradeso als hätte sie Tom niemals über ihren hartgesottenen Anwalt gerichtliche Schritte androhen lassen. Das war die Welt, in der sie lebten. In der Vorbereitungsphase des Films wurde Marigold zu Werbezwecken abkonterfeit. Sie war ins Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen. Häufig raunte man sich hinter vorgehaltener Hand zu, daß ihr Verschwinden ein Werbegag gewesen sei, um das Interesse an Watling Street anzufachen. Doch als dies öffentlich in einer Talkshow geäußert wurde, bestritt sie es heftig. Ihre Erfahrungen seien eine wirkliche Leidensgeschichte gewesen, führte sie aus, ihr Buch erkläre alles weitere. Was es auch tat. Es erreichte mehrere hohe Auflagen. Stellungslos in einem Wohnwagen verlieh Marigold einen Glanz, den Tom nur bewundern 129
konnte. »Ich glaube, sie ist ehrgeiziger als ich«, sagte Tom zu Dave. »Können Sie ihr vertrauen?« fragte Dave. »Das weiß ich nicht.« Im Film hatten sie einen Punkt erreicht, wo diese Frage normalerweise unerheblich war. In diesem Stadium waren Schauspieler weder vertrauenswürdig noch das Gegenteil. Sie kamen ihrer Aufgabe nach, oder sie taten es nicht. Aber Marigold? Tom sah sich an, wie Marigold in einer mitternächtlichen Talkshow ihr Buch vorstellte. In dieser professionell gestalteten Sendung nahm sie sich ganz anders aus als damals auf ihrem entsetzlichen Video. Er bewunderte ihre Ausstrahlung, und es spielte keine Rolle mehr, daß sie als Frau abscheulich aussah – anscheinend war es Absicht. Mit erbitterter Leidenschaft schilderte sie ihre Abenteuer bei der Stellensuche, die Beleidigungen, die sie und die Leute, die sie »vertrat«, hatten einstecken müssen, die anmaßenden, verhörartigen Einstellungsgespräche. Ob dies alles nun echt war oder erfunden, es ergab gutes Fernsehen. Selbst wenn sie ihre trivialsten Gemeinplätze von sich gab, hörte sie sich recht fachmännisch an: »Von Psychiatern wissen wir, daß Entlassungen nach schlechten Leistungen oft zu Schuldgefühlen oder gar zum Suizid führen.« Die Art, wie sie das Wort »Suizid« aussprach – mit einem unterdrückten Grinsen, bei dem sie ihr Zahnfleisch entblößte –, löste in Tom die Überlegung aus, ob Marigold es in seinem Film lange aushalten würde. Sie war imstande, aufs neue unterzutauchen. Er beschloß, sämtliche erforderlichen Aufnahmen von Marigold vorab zu machen – bei Dreharbeiten keine ungewöhnliche Methode. Nur wenige Regisseure drehten einen Film in der vom Plot vorgesehenen Szenenfolge. Wenn ein Schauspieler bereits für einen anderen Film engagiert oder eine Schauspielerin schwanger war, wenn 130
bei Außenaufnahmen besondere Lichtverhältnisse zu beachten waren oder aus Ersparnisgründen – in solchen Fällen kam es vor, daß ein Regisseur nicht in chronologischer Ordnung von Anfang bis Ende filmte. Um sicherzugehen, beschloß Tom, die Szenen, in denen Marigold zu sehen war, sofort abzudrehen. Am Ende des Films wurde der Kelte von abergläubischen Eiferern ermordet. Tom stellte sich vor, wie gut Marigold tot aussehen würde. Er betrachtete ihr Gesicht in dem rechteckigen Rahmen seines Fernsehgeräts. Ohnehin vergegenwärtigte er sich seine Schauspieler stets durch das Objektiv der Kamera, so wie es am Ende geschähe. Vielleicht konnte er Marigold dazu bringen, wieder jenes unterdrückte Lächeln zu zeigen, das sie aufgesetzt hatte, als sie das Wort »Suizid« aussprach. Das würde zu ihrem »toten« Aussehen passen. Derlei Gedanken hing Tom nach, während sich Marigold in der nächtlichen Talkshow über »UKS« (Umschulungskurse, wie Sie sicherlich geraten haben) und den »NVWGS« (Normvertrag zum Werkstattgespräch über Stellensuche) ausließ. Am folgenden Tag begann Tom in aller Herrgottsfrühe mit den Dreharbeiten und filmte Marigold als den Kelten in sämtlichen Phasen der Handlung. »Hast du Angst, daß ich dir durchbrenne, Papa?« fragte sie. »Ja.« In zehn Tagen war die Arbeit getan. Endlich lag Marigold als Cedric der Kelte mit verdrehten Augen da, drei Dolche in der blutbefleckten Tunika, und formte mit den Lippen ein unterdrücktes Lächeln um das unausgesprochene Wort »Suizid«. Tom war erleichtert, daß er wenigstens die allernotwendigsten Filmmeter sicher im Kasten hatte. Dennoch bat er sie (beziehungsweise befahl er ihr, wie es seine Art war), »sich am Drehort verfügbar zu halten, da es eine ganze Menge Wiederholungsaufnahmen geben wird«. Wenn Rose Woodstock einen Film drehte, war sie nie sehr 131
zufrieden, es sei denn, sie schlief mit dem Regisseur. Das war ihre Art, die Regie zu übernehmen, jedenfalls kam es ihr so vor. Zwei Wochen nach Beginn der Dreharbeiten zu Watling Street war Tom Richards wieder einmal von Rose bezaubert. Für ihre Rolle als britannische Gemahlin des römischen Zenturio hatte sie sich die Haare blondiert. Ihre neue Haarfarbe verlieh ihr neuen Glanz. Er versuchte sie nicht von der Vorstellung abzubringen, daß sie in seinem Film ein entscheidendes Wörtchen mitzureden habe. Als Rose seinetwegen Kevin Woodstock verlassen hatte, hatte Tom Gewissensbisse verspürt. Zwar war Rose mit Kevin elf Jahre verheiratet gewesen – eine Zeitspanne, nach der man mit einer Trennung rechnen mußte, zumal in der Welt des Films. Doch Tom respektierte Kevin als professionellen, wenn auch mittelmäßigen Fernsehregisseur, der sich vor allem auf ungewöhnliche Tonsynchronisation spezialisierte. Allerdings hatte Rose von Kevin zu Johnny Carr gewechselt, offenbar ein vorläufiges Arrangement, so daß Tom überhaupt keine Skrupel zu haben brauchte, wenn er Rose mit Beschlag belegte. Tom betrachtete Johnny Carr als gutaussehenden Verlierer. Er war nicht sonderlich überrascht, als sich seine schöne Cora, nachdem sie ihren Pariser Abenteuern entsagt hatte, wieder mit Johnny zusammentat, noch während ihre Scheidungsklage lief. Sie zog beiläufig und wie selbstverständlich bei Johnny ein. Vermutlich wartete sie nur ab, bis sie sich für den nächsten Mann entschieden hatte. Tom verwunderte sich noch immer über Coras Schönheit. Manchmal erinnerte er sich daran, wie er seine beiden Töchter zum Altar geführt hatte. Und was war daraus geworden? Claire und er hatten sich standesamtlich trauen lassen und waren immer noch zusammen. Keiner hatte sich vom anderen zu einer Trennung hinreißen lassen. 132
»Hast du schon einmal daran gedacht, Claire zu verlassen?« fragte ihn Rose. »Ja, gedacht habe ich daran schon. Aber die Antwort lautet nein.« Als Marigold untergetaucht war, hatte die Polizei Kevin Woodstock streng ins Verhör genommen. Damals galt er als derjenige, der Marigold als letzter gesehen hatte. Als Dave von dem unbekannten Killer angeschossen wurde, unterzog man ihn einem neuerlichen Verhör. Dave selbst hatte auf der Möglichkeit bestanden, daß Kevin schuldig war. »Wieso Kevin Woodstock?« »Weil Tom Richards was mit seiner Frau hat.« Aber Rose selbst hatte der Polizei gesagt: »Das ist lächerlich. Ich habe Kevin aus eigenem Antrieb verlassen. Wir haben uns gütlich getrennt.« Tom sagte zu Dave: »Selbst wenn Marigold mich jetzt im Stich lassen sollte, kann sie den Film nicht mehr sabotieren. Alle Szenenfolgen, in denen sie vorkommt, sind im Kasten. Ich werde sicher noch welche drehen, aber wenigstens habe ich Vorkehrungen getroffen. So, wie man es mit sehr alten Schauspielern hält.« »Sie haben gut daran getan«, sagte Dave. »Hoffentlich denken Sie nicht, ich hätte das Mädchen auf dem Kieker.« »Nun ja, ein bißchen schon. Aber man kann Ihnen keinen Vorwurf machen. Sie ist unzuverlässig.« »Ich hätte es gern, daß sie als Cedric noch ein paar Dinge mehr vorhersieht. Szenen aus dem Alltag. Einen Budapester Journalisten des 20. Jahrhunderts, der zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wird. Mein Kelte könnte eine Vision von Marcel und Odette haben, wie sie im Bois de Boulogne Spazierengehen, aber das sind ja Romanfiguren, keine 133
tatsächlichen Gestalten, sondern frei erfunden. Schade, das hätte eine reizende Szene ergeben.« »Halten Sie sich an die Tatsachen«, sagte Dave. »Bremsen Sie sich!« »Ein guter Ratschlag«, erwiderte Tom. »Ich möchte, daß der Kelte Charlie Chaplin vorhersieht.« Inzwischen hatte Tom Schwierigkeiten mit Jeanne, die von Toms Interpretation ihrer Rolle als Marie-Antoinette auf dem Weg zum Schafott, gesehen durch die Augen Cedrics, durchaus nicht angetan war. Die Einblendung der Zukunftsszene zeigte Jeanne im Schinderkarren. Sie hatte Ähnlichkeit mit der Zeichnung der verzweifelten Königin von der Hand des Malers David – ohne Perücke, der Bubikopf zerzaust, das Antlitz vorzeitig gealtert. Beinahe wie das Hamburger-Mädchen von einst. Dagegen hatte sich Jeanne eine formvollendete Sterbeprozession mit hochgestecktem Haar, seidenen Kleidern und Rüschen ausbedungen. Eine hochbedeutende, eine glamouröse Hinrichtung. Am Ende hatte Jeanne die Rolle so gespielt, wie Tom sie wünschte; ja, da sie nun einmal mächtig schmollte, hatte sie sie sehr überzeugend gespielt. Doch als sie die Schnellkopien sah, war sie ziemlich empört. Kurz nachdem Tom seine Liebesaffäre mit Rose wiederaufgenommen hatte, sagte Dave: »Ich kann sie nicht länger herumfahren, Tom. Rose Woodstock ist gefährlich. Kevin Woodstock ist immer noch ihr Ehemann. Ich traue ihm nicht über den Weg, und ich möchte nicht noch eine Kugel in den Kopf kriegen. Meine Frau möchte, daß ich aufhöre, Sie dauernd herumzukutschieren. Vielleicht hat sie recht.« »Aber Rose lebt schon seit fast einem Jahr nicht mehr mit Kevin zusammen. Vielleicht schon seit über einem Jahr, ich weiß es nicht. Sie ist einige Zeit mit dem Exmann meiner Tochter, Johnny Carr, zusammengewesen. Ich bin sicher, daß 134
sich Rose von Kevin scheiden lassen wird. Sie verdient etwas Besseres als diese beiden. Carr ist ein geborener Aussteiger und Kevin Woodstock Mittelmaß.« »Reden Sie, soviel Sie wollen«, sagte Dave, »aber es hat jemand auf mich geschossen, offenbar, um Ihnen einen Denkzettel zu verpassen, und der Mann ist noch nicht gefaßt. Für mich kommt Kevin Woodstock als Täter in Frage. Ich fahre jetzt los, Tom.« Als er ernsthaft darüber nachdachte, schien es auch Tom, als ob Kevin als Täter in Frage käme. Er war ohne Arbeit und brauchte Geld. Angenommen, Marigold hatte ihn beauftragt, diesen Gewaltakt durchzuführen. Kevins Tatmotive wären Eifersucht, Groll und Geldmangel. Was Marigold anging, dachte man nicht an Motive; sie war ein schwieriger Fall. Schon allein an sie zu denken war Tom sehr lästig, nun, da er ihren Part in Watling Street aufgezeichnet hatte und damit beschäftigt war, mit Rose, dem irischen Schauspieler, der den Zenturio darstellte, und einem zahlreichen Ensemble den Film zu drehen. Ebenso lästig war es ihm, sich mit Jeanne und ihren Klagen befassen zu müssen; widerstrebend hatte er ihren Part ausgebaut, um einige Aufnahmen von MarieAntoinette in ihrer Glanzzeit mit einzubeziehen, in denen Jeanne sich recht gut machte, mehr aber auch nicht. Toms Affäre mit Rose Woodstock war derzeit für ihn die Quelle süßer Freuden. Er hatte eigens eine längere neue Rolle für sie ins Skript aufnehmen lassen, die mehr Großaufnahmen beinhaltete, als Tom normalerweise lieb war. Hin und wieder ließ Tom sich in seinem Haus in Wimbledon blicken, besonders jetzt, da er nicht mit Dave umherfuhr. Manchmal traf er Claire zu Hause an und verbrachte einen Abend mit ihr. »Marigold schreibt wieder an einem Buch. Es soll Schock
und Verzweiflung. Eine Untersuchung zur zeitgenössischen Arbeitslosigkeit heißen«, sagte Tom. 135
»Ich hoffe, diesmal hat sie einen besseren Ghostwriter.« »Sie kommt fast jeden Tag ins Studio. Glaubst du, sie ist glücklich?« »Himmel, nein«, sagte Claire. »Sie wäre arm dran, wenn sie glücklich wäre. Sie hat versucht, Jeanne gegen dich aufzubringen.« »Hab ich’s mir doch gedacht«, sagte Tom. »Ich mußte Jeannes Rolle der Marie-Antoinette ausbauen, aber vielleicht schneide ich sie am Ende wieder raus. Ich will, daß Cedric der Kelte nicht nur wichtige geschichtliche Ereignisse vorhersieht, sondern auch Bruchstücke der Zukunft, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. So hat er zum Beispiel einen hellseherischen Moment, in dem er sieht, wie Michelangelo letzte Hand an seine Skulptur des Moses anlegt. Der Überliefung zufolge redete Michelangelo sein Standbild mit den Worten an: ›Sprich zu mir.‹ Solche Vignetten möchte ich einbauen. Ich brauche mir von Jeanne mit ihren vulgären Marie-Antoinette-Rüschen nicht sagen zu lassen, wie man einen Film macht.« »Tom, du weißt doch, wie es ist. Pflichte allen bei, aber am Ende setz deinen Willen durch.« »O ja. Aber es ermüdet. Ich hasse es, Feinde zu haben.« »Ich glaube nicht, daß du Feinde hast«, sagte Claire. »Nein? Wer hat dann auf Dave geschossen und weshalb?«
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15 »Für spektakuläre Aufnahmen benötige ich einen Kamerakran«, sagte Tom. »Es gibt doch diese wunderbaren neuen Kameras«, entgegnete einer der Kameramänner. »Kräne sind nun wirklich passé, Tom.« »Unsinn, ich brauche einen Kran. Ich muß die Schlacht von Agincourt filmen. Ich muß Aufnahmen von den Hubschraubern machen, die Cedric in seinen Träumen sieht. Ich muß von einer Anhöhe, von einem Berg aus sehen, was unten in dem Fort am Hadrianswall vor sich geht, wo sie das Korn auslesen und sieben.« »Tom, ich finde, du solltest von Kränen eigentlich genug haben.« »Diesmal lege ich den Sicherheitsgurt an. Ich habe mir einen beweglichen Kran geliehen, ganz wie der alte, der verkauft worden ist, einen Chapman. Ich hoffe, die Techniker sind in der Lage, ihn zu bedienen. Wenn nicht, heuerst du eben Fachleute an.« Tom befand sich zu Außenaufnahmen in Northumberland, wo er eine Szenenfolge in einem römischen Fort am Hadrianswall abdrehte, eine betriebsame Szene im Hof eines eigens zu diesem Zweck erbauten Gasthauses und danach eine lärmende Szene auf einem Markt. Zwischen einer Melkerin, die quer über den Schultern eine Stange mit einem Eimer Milch auf jeder Seite trug, und einem Knaben, der in säuberlichen Reihen Hölzer schichtete, durchquerte Rose Woodstock als britannische Gemahlin des Zenturios, hochgewachsen, blond und wunderschön, den Hof. Als nächstes sah man sie auf dem Markt, wo sie von Obststand zu Obststand schritt, und beim Konditor. In knielanger 137
grober Tunika, in Sandalen mit kreuzweise um die Waden gebundenen Riemen und mit mürrisch funkelnden Augen lehnte Marigold als Cedric an einem Baum und betrachtete die schöne Frau des Zenturios. Letztere wendet den Kopf und fängt den Blick, des dunkelhaarigen Wahrsagers auf. (Eine Wiederholungsaufnahme, denn Marigold hatte bereits unter einem Baum posiert und – »für alle Fälle« – ins Leere gestarrt). »In Ordnung. Schnitt.« Sie hörten früh mit den Dreharbeiten auf. Morgens fingen sie früh an, die Lichtverhältnisse waren gerade richtig, um durcharbeiten zu können. Bereits um sechs Uhr drängten sich die Schauspieler in dem langgestreckten Schuppen, der als Hauptquartier diente, und bereiteten sich auf die Aufnahmen vor. Gleich darauf traf Tom ein. In dieser Phase des Films war er kein Gegenstand heiliger Scheu mehr. Wenn er in den Schuppen trat, empfing ihn keine ehrfürchtige Stille, was ihm große Genugtuung bereitete. Bedeutete es doch, daß die Arbeit deutliche Fortschritte machte. Vor lauter Gedränge konnte man sich im Schuppen kaum umdrehen. Es hatte den Anschein, als zögen sich alle gleichzeitig um oder würden, im Falle kleiner Kinder, von ihren Müttern oder anderen Aufsichtspersonen angekleidet. An einem Tisch in der Ecke saß der Filmkomponist, der eine Musiknummer ausfeilte. Auf einer Seite dieses behelfsmäßigen Studios hatte man eine Reihe von Frisiertischen aufgestellt, jeder mit einem von grellen Lichtern umrahmten Spiegel. Die Maskenbildner und bildnerinnen machten sich an den Schauspielern zu schaffen, tupften Licht und Schatten auf ihre Gesichter, bespritzten sie mit künstlichem, kosmetischem Kot, malten ihnen tiefe Wunden oder Pockennarben auf, kämmten ihnen die Haare, verwandelten sie in römische Soldaten oder keltische Briten. »Sie sehen zu sauber, zu gut ernährt aus«, sagte Tom oft. »Im römischen Britannien waren die Kinder oft schmutzig, bestanden aus Haut und Knochen, hatten schlechte Zähne. 138
Könnt ihr ihnen nicht wenigstens schlechte Zähne verpassen?« Er wußte, daß sie es konnten, daß sie die gesunden Zähne der Nebendarsteller mit einem Anflug von »Fäulnis« versehen konnten. Das reichte fürs erste! Nach dem britannischen Fort kam eine französische Massenszene dran. »Mein Kolossalfilm«, sagte Tom, wenn er von seinem Film sprach. Dabei verabscheute er Massenszenen. Aber er hatte sich nun einmal entschlossen, in Northumberland, wo er ein riesiges Gelände gemietet hatte, so viele wie möglich davon zu drehen. Das Ensemble war in der Tat kolossal, aber er liebte seine hohe, lange Scheune und die Wohnwagen, von denen aus er und die Hauptdarsteller arbeiteten. Cedric der Kelte darf einen »Hubschrauber« sehen und beschreiben, von dem aus (nämlich Toms Kran) ein Grenzscharmützel gefilmt werden kann – mit einer kleinen Gruppe marodierender Dänen. Toms Kran, der behutsam nach Northumberland geschafft worden war, bereitete ihm an diesem Drehort wahre Freude. Er mußte sich mit seinen Produzenten, den Geldgebern, in London besprechen; am Wochenende fuhr er hin, begleitet von Rose Woodstock. Rose, als das große Zugpferd des Films, nahm an der Besprechung, die an einem Samstagnachmittag stattfand, zusammen mit ihrem Anwalt teil. Tom hatte sich darauf gefreut, den Abend allein mit Rose zu verbringen, in einem vornehmen Nachtlokal zu speisen, in dem sie sich gern bewundern ließ, und sich anschließend für die Nacht in ihre Wohnung zurückzuziehen. Tatsächlich hatte sie sich mit dem Gedanken anfreunden können. Aber immer wenn er an derartigen Finanzberatungen teilnahm, wenn er sah und hörte, wie die Spitzenstars um ihre Prozente an den Einspielergebnissen feilschten, verging Tom die Lust auf die romantische Seite des Lebens. Rose war alles andere als erfreut, als er ihr mitteilte, er müsse am Abend mit Claire »etwas besprechen«. »Aber ich wollte mit dir eine neue Rolle besprechen, die ich gern eingefügt hätte.« 139
Tom wußte, sie würde sich sofort einen anderen schnappen, mit dem sie ausgehen könnte, vielleicht jemanden, der jünger und anregender war. Aber er war nun einmal Tom Richards; er konnte nichts für seine Stimmungsschwankungen. Claire war nicht zu Hause. Sie war essen gegangen. Tom machte es sich mit einem Sandwich und einem Glas Wein bequem. Was bin ich doch für ein Narr! dachte er, als er erkannte, daß er seiner Liebesaffäre mit der herrlichen Rose wahrscheinlich irreparablen Schaden zugefügt hatte. Gleichzeitig aber wußte er, daß er nichts hätte tun können, um den Gang der Ereignisse aufzuhalten. Er war von einem moralischen Widerwillen gegen Rose Woodstock erfaßt worden, und vermutlich war selbst das ungerecht. Sie hatte durchaus Anspruch darauf, einen Vertrag zu ihren Gunsten abändern zu wollen; sie hatte das gute Recht, einen Anwalt an ihrer Seite zu haben, wenn sie etwas Geschäftliches besprach. Aber es hatte Tom abgestoßen; er konnte nun mal sein Naturell nicht verleugnen. Claire, die Köchin, behandelte er mit eisiger Freundlichkeit, als sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. »Ich habe Bœuf Bourguignon gekocht«, sagte sie und leckte sich dabei fast die Lippen. »Mein Neffe ist zu Besuch da.« »Ich möchte ein Sandwich und ein Glas Rotwein. Ein Schinken-Sandwich. Wirklich, das ist alles.« Seine Frau Claire, sinnierte er düster, war mit Claridges und dem Pariser Ritz aufgewachsen. Claire war eine Frau mit Stil. Elegant gekleidet. Weniger denn je konnte er verstehen, weshalb sie so an ihrer ungarischen Köchin hing. »Die mit ihren kommunistischen Würsten, ihrem Kohl und Kartoffelbrei. Jede ihrer Mahlzeiten ist ein Akt der Sabotage.« Tom sehnte sich nach Dave, vielleicht auch nach Daves Frau, als Gesprächspartner. Er rief Cora an und war erleichtert, sie anzutreffen. Sie war 140
Balsam für seine Seele. Marigolds blaurotgoldener Schauspielerwohnwagen war behaglich eingerichtet und an kühleren Abenden gut geheizt. Vorn befand sich eine Garderobe mit einem großen Spiegel, in dem Marigold. wenn sie ihre blaue Tunika für die Aufnahmen trug, mehr Ähnlichkeit mit einem Renaissancegemälde hatte als mit einem keltischen Briten – das von Lichtergirlanden gerahmte Gemälde eines dunkelhaarigen Jugendlichen mit feurigen Augen (von Ghirlandaio selbst?). Vielleicht hatte sie durch das zeitweise Leben auf dem Lande ihr aufgeschwemmtes Aussehen verloren. Sie hatte sich entschlossen, übers Wochenende in Northumberland zu bleiben und statt in dem Hotelzimmer, das für sie reserviert war, in ihrem Wohnwagen zu übernachten. Sie liebte Wohnwagen. Nicht nur aus diesem Grund war Tom schon so manches Mal der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß Marigold Nomadenblut in den Adern haben könnte. Wie es dazu gekommen sein mochte, wagte er nicht zu sagen, war er selbst doch, soviel er wußte, nicht dieser Herkunft, und Claire vermutlich auch nicht. Es war ein Gedanke, den man am besten ungedacht ließ, und wiewohl Tom zum Grübeln neigte, war dies doch kein Thema, dem er nachhängen wollte. Der Wohnwagen war einer von vieren – je einer für den Tagesaufenthalt von Tom, Rose, Marigold und Brian (dem Schauspieler, der Paulus den Zenturio spielte). Er bestand aus einer Garderobe, einer Schlafnische, einem bequemen Lehnsessel, einer Waschgelegenheit, einem breiten Flur mit Telefon und Faxgerät, einer kleinen Küche und einem hinteren Zimmer mit einer runden Sitzbank um einen runden Tisch. Schlag zwei Uhr nachmittags fuhr ein Wagen vor. Kevin 141
Woodstock. Marigold erwartete ihn. »Eine schlechte Nachricht«, sagte sie. »Die Versicherungsgesellschaft verlangt, daß jeder, der das Studio betritt und verläßt, wenn nicht gefilmt wird, einen Paß vorzeigt. Es gibt Tag und Nacht zwei Wachtposten, vor allem wegen des großen Krans, denke ich mir.« »Aber du hast doch einen Paß«, sagte er. »Ich schon. Aber ich werde ihn doch wohl nicht dazu benutzen, dich hereinzulassen. Für wie dumm hältst du mich eigentlich?« »Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?« fragte Kevin. »Ich hab’s erst herausgefunden, als du schon aus London abgefahren warst.« Er blickte über das Feld zu der großen Scheune, wo ein paar Lichter brannten. »Vermutlich könnte ich mir unbemerkt Zutritt verschaffen«, sagte er, »aber ich will’s nicht drauf ankommen lassen. Mir ist immer noch die Polizei auf den Fersen. Wiedersehen, Liebling.« In der Tat war es ein gefährlicher Augenblick für Kevin Woodstock. Rose und Tom hatten wieder ein Verhältnis miteinander, und ohne Frage war er eifersüchtig. »Wieso kann er immer, wenn es ihm paßt, meine Frau entführen?« hatte er Marigold gefragt und dabei übersehen, daß Rose nun schon seit fast zwei Jahren von ihm getrennt lebte, daß ihr Scheidungsprozeß sich in einem vorgerückten Stadium befand und Rose in der Zwischenzeit mit Johnny Carr zusammengelebt hatte. Kevin benötigte Geld. Er brauchte es jetzt, so wie er es gebraucht hatte, als er Dave so hübsch angeschossen hatte. Wie Marigold gesagt hatte, war es einfach eine »schlechte Nachricht«, daß er nicht unbemerkt mit ihr ins Studio gelangen und Sabotage an dem Kran begehen konnte. Marigold sah ihm zu, wie er den Wagen wendete und wieder nach London zurückfuhr. In diesem Augenblick traf 142
ein Fax von Claire ein. Sie wollte unbedingt Tom sprechen. Marigold beantwortete ihren Anruf. Claire war nicht zu Hause, nur Tom. »Ich habe ein Fax erhalten. Mama möchte dringend mit dir reden.« »Danke. Sie ist gerade nicht zu Hause, aber ich werde auf sie warten. Was treibst du? Wo steckst du?« »Ich bin übers Wochenende in meinem Wohnwagen.« »Ganz wie du willst, aber ich finde, du bist ganz schön verrückt. Gib acht, wem du aufmachst.« »Sorg dich nur nicht um mich.« Marigold studierte noch einmal das Fax und sah, daß es nicht von Claires Haus, sondern von einer anderen Nummer aus abgeschickt worden war. Sie faxte zurück: »Papa ist zu Hause. Marigold.« Claire, die bei einer Freundin zu Abend aß, bemerkte: »Manchmal ist Marigold richtig anständig zu uns, richtig zivilisiert.« »Warum ist sie es denn nicht immer?« fragte ihre Freundin. »Sie hat sich die Mühe gemacht, auf mein Fax zu antworten. Ich hatte ihre private Faxnummer, verstehst du …« Die Freundin seufzte. Sobald sie sich von dem Abendessen bei ihrer Freundin fortstehlen konnte, ohne unhöflich zu sein, fuhr Claire nach Hause. Tom war noch auf. »Tom, ich hatte einen Traum«, sagte sie. »Einen sehr eindringlichen Traum. Zuerst wollte ich ihn ja nicht erwähnen, aber im Laufe des Tages kam es mir so vor, als müßte ich es. Er war so deutlich. Normalerweise vergesse ich meine Träume, aber diesen nicht.« »Du hörst dich schon genauso an wie mein Kelte.« 143
»Mag sein. Caesars Frau hatte auch Träume. Es geht um den Kamerakran. Mir träumte, du wärest hinaufgeklettert und zehn Meter in die Tiefe gestürzt. Jemand hatte sich daran zu schaffen gemacht. Du weißt, es gibt eine Stelle, wo der Kran sich nach vorn kippen läßt, und da war eine Schraube gelockert worden.« »Seltsam. Mit dem Kameramann bin ich doch schon oben gewesen, und wir haben ihn mühelos wieder nach unten geschwenkt. Ziemlich erfrischend da oben. Kein Regisseur sollte ohne großen Kran auskommen.« »Ich möchte, daß du ihn untersuchen läßt. Nimm dich in acht.« »Mache ich. Wo stand denn der Kran in deinem Traum?« »In einer riesigen Scheune in Northumberland, einer Art Studio. Deinem eigentlich ganz ähnlich. Die gesamte Crew war da, dein Kran wurde elektronisch bedient.« »Um Sabotage an einem großen Kran zu verüben, muß man technisch ganz schön versiert sein.« »Ich würde es mir zutrauen«, entgegnete Claire. »Es geht doch nur darum, Schrauben zu lockern, das ist alles.« »Na schön, bevor ich ihn benutze, werde ich ihn genau inspizieren lassen. Montagmorgen bin ich wieder bei den Filmbauten. Es ist wunderschön in Northumberland.« »Marigold ist heute schon dort«, sagte sie. »Ich konnte sie über Fax erreichen.« »Ich weiß. Sie kommt an die Geräte nicht heran, ohne aufzufallen. Ich habe ein Ausweissystem eingeführt, aus Versicherungsgründen. Erzähl mir mehr von deinem Traum. In allen Einzelheiten.« »Ich weiß nur noch, daß einige Leute oben auf der Hebebühne waren, die heimlich die Arme, die Gelenke und einen Kippzapfen gelockert haben. Ich weiß nicht, wer sie waren. Aber sie wollten dir etwas antun.« 144
»Es ist gar nicht so leicht, zu merken, wann man sich andere Menschen zu Feinden macht«, sagte Tom, »besonders in der eigenen Familie. Es ist so unwirklich.«
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16 »Was wir hier tun«, sagte Tom zu seiner Crew, »ist wirklich und unwirklich zugleich. Wir leben in einer Welt, in der Träume Wirklichkeit sind und die Wirklichkeit aus Träumen besteht. In unserer Welt beginnt alles mit einem Traum.« Er hatte mit Claire telefoniert. »An dem Kran ist alles in Ordnung. Es ist wunderbar. Wir haben alle Hände voll zu tun.« Ein dunkler Volkswagen kam die Auffahrt heraufgefahren, der Claire irgendwie vertraut vorkam. Als sie aus dem Küchenanbau hinaussah, wo sie die Blumen sortierte, beschlich sie ein leicht unangenehmes Gefühl. Den Grund hatte sie bald heraus. Es war Jeanne. »O Gott!« dachte Claire. »Welchem Umstand verdanke ich diesen Besuch, was ist jetzt schon wieder mit ihr los?« Was mit ihr los war? Nachdem sie ihre Rolle als MarieAntoinette bis zur Neige erfüllt hatte, war Jeanne entlassen worden. Dies teilte sie Claire mit, ohne auch nur »Guten Morgen« zu sagen. Claire wußte längst, daß Jeanne von Natur aus unfähig war, auf die Probleme anderer Rücksicht zu nehmen. Wenn sie sich mit ihrem Genörgel in 10 Downing Street hätte Zutritt verschaffen können, hätte sie ebenfalls geglaubt, Anspruch auf ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben. Weshalb hatte Tom sie überhaupt ausgewählt? Claire erinnerte sich, daß Tom sich nach seinem Sturz in einem Anfall von Gemütsverwirrung nach der Originalgestalt des Hamburger-Mädchens gesehnt hatte. Er hatte das Gefühl, daß die Schauspielerin, die deren Rolle spielte, eben Jeanne, sein wahres Hamburger-Mädchen sei, seine wahre 146
Leidenschaft. Er hatte sogar davon geträumt, sein Testament zu ihren Gunsten abzuändern, ohne innezuwerden, daß sie nur eine Rolle in einem Film spielte. Aber wie und warum nur war er auf diese durch und durch unangenehme Nervensäge verfallen? »Ich kann nicht für Tom sprechen«, sagte Claire. »Aber mir steht ein äußerst hektischer Tag bevor.« Sie fuhr fort, die Stengel ihrer Blumen anzuschneiden, um sie in Vasen zu stellen. Jeanne rückte sich einen Stuhl heran und setzte sich. »So leicht wird Tom mich nicht los«, sagte das Mädchen. Claire hatte den Eindruck, als würde Jeanne jeden Augenblick ohnmächtig. Ihr Gesicht war kalkweiß; sie zitterte. »Sie sehen krank aus«, sagte Claire. »Sie sollten einen Arzt aufsuchen.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Jeanne. »Was haben Sie eingenommen? Was für Pillen?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Sie sehen schlecht aus. Warum lassen Sie mich nicht beim Arzt einen Termin für Sie ausmachen?« »Ich werde meinen Anwalt aufsuchen.« »Vielleicht sollten Sie das wirklich. Zahlt Ihnen Marigold die Anwaltskosten?« »Nein. Sie denken immer nur ans Geld. Weshalb sollte Marigold für mich aufkommen?« Claire glaubte ihr einfach nicht. Schließlich wurde sie Jeanne los, indem sie ihr versprach, »mit Tom zu reden«. Später war sie froh, daß sie Jeanne in freundlichem Tonfall nachgerufen hatte: »Versuchen Sie, etwas zu schlafen. Sie brauchen Ruhe.« Als Jeanne am folgenden Tag zu den Aufbauten kam, war Marigold in ihrem Wohnwagen nicht aufzufinden. Tom, der 147
im Freien beschäftigt war, bemerkte sie und fragte sich zerstreut, was sie dort zu suchen hatte. Sie schien so selbstzufrieden. War sie nicht ausbezahlt worden? Tom hatte vieles zu bedenken. Er und die wichtigsten Mitglieder der Crew würden jetzt zwar in seiner befestigten Römerstadt drehen, doch in der großen Scheune ging es nach wie vor zu wie im Taubenschlag. Man hatte den Kran dorthin geschafft und herabgelassen. Jeanne schritt so entschlossen und beschwingt auf ihn zu, daß es niemandem einfiel, sie anzuhalten. Soviel schien klar, daß sie einen Auftrag ausführte; und in gewissem Sinne war es ja auch so. Es war eine von Marigolds bitter-vertraulichen Mitteilungen gewesen. »Ich möchte, daß er wieder auf den Kran klettert und diesmal endgültig auf den Boden plumpst. Er braucht den Kran nicht. Heutzutage ist ein Kran doch nur ein teures Spielzeug für den Regisseur. Ich möchte es ihm ein für allemal austreiben und ihn gleich mit.« Das hatte auf Jeannes drogenumnebeltes Hirn gewirkt. Sie kletterte auf die Hebebühne und betätigte den Hebel. Auf der nach oben ausfahrenden Plattform kippte sie den Schwenkarm bis zum Anschlag, beugte sich ungeschickt nach vorn und stürzte beinahe sieben Meter in die Tiefe. Mit einem häßlichen Geräusch schlug sie auf dem Betonfußboden auf. Sie war auf der Stelle tot. Tom blickte auf ihr verzerrtes Gesicht hinab. Vor dem Studio hielt mit quietschenden Reifen der Rettungswagen. »Wer hat ihr erlaubt, den Kran anzurühren?« »Wir konnten sie nicht aufhalten … Wir dachten, Sie wüßten, daß sie hier ist …« »Wo ist Marigold?« Jemand antwortete ihm: »Sie war heute nachmittag nicht hier. Sie dachte, sie würde nicht gebraucht. Sie ist fort.« Ein Techniker nahm den Kran in Augenschein. »Das Gerät funktioniert einwandfrei. Sie wußte nur nicht, wie man es 148
bedient. Weshalb wollte sie überhaupt hinauf?« »Vielleicht wollte sie es unbrauchbar machen«, sagte Tom. »Vielleicht wollte sie auch nur herausfinden, wie es sich anfühlt, auf eine Menschenmenge hinabzublicken.« Später in London sagte er zu Claire: »Ich freue mich, daß der Film bald abgedreht ist. In Kürze sind wir soweit, daß wir ihn erfolgreich abschließen können.« Cora kam zu Besuch, entsetzt über das Unglück. »Wer hat sie nach Northumberland geschickt, Papa? Woher wußte sie von dem Kran? Hat Marigold ihr davon erzählt?« »Ach, ich weiß nicht. Der Kamerakran war doch kein Geheimnis. Ich wollte ihn, ich brauchte ihn, und ich habe ihn mir beschafft.« Marigold war in die Vereinigten Staaten aufgebrochen. Am Flughafen hatte sie Fernsehen und Presse ein Interview gewährt. »Der große Kran war für den Film überhaupt nicht nötig. Es war nur das Spielzeug meines Vaters.« Cora war so schön, daß es ausgeschlossen schien, sie könnte einen häßlichen Verdacht hegen. Claire schenkte allen ein. Tom und Cora spürten beide, daß Claires Stärke und Mut ihnen Kraft gab, hier in dem Stückchen Niemandsland zwischen Träumen und Wirklichkeit, Wirklichkeit und Träumen.
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