Constanze Rossmann Fiktion Wirklichkeit
Constanze Rossmann
Fiktion Wirklichkeit Ein Modell der Informationsverarbeit...
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Constanze Rossmann Fiktion Wirklichkeit
Constanze Rossmann
Fiktion Wirklichkeit Ein Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15575-3
Danksagung
Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Februar 2007 an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen wurde. Es wäre vermessen zu sagen, dass ein Buch wie dieses, die Dissertation, ohne die Hilfe anderer Menschen zustande kommen könnte. Selbst wenn es keine Hilfe ist, die direkt mit der Arbeit zu tun hat, so nötigt man durch Zeitmangel, schlechtes Gewissen und Launenhaftigkeit letztlich sein gesamtes Umfeld, vor allem aber das nähere, einem Geduld und Nachsicht entgegenzubringen. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius. Er hat mir durch seine unterstützende und integrierende Art schon während des Studiums und somit lange vor Beginn der Dissertation die nötige Motivation und das nötige Vertrauen geschenkt, um mich an dieses Projekt heranzuwagen. Auch wenn die Anzahl seiner Mitarbeiter am Lehrstuhl und damit die Zahl derer, die Anspruch auf seine Zeit erheben, im Laufe meiner Dissertationsphase von vier auf 16 Personen angestiegen ist, so stand er für wissenschaftliche Fragen und Anregungen doch stets hilfreich zur Verfügung. Des Weiteren danke ich Sibylle Endres und Vera Peine, die mich vor allem während der Anfangszeit als Hilfskräfte mit Recherchen unterstützt haben. Beatrice Dossi, Johanna Hartmann, Constanze Mayer, Katharina Rajewski, Raphael Rossmann und Christine Wedler danke ich für ihre kurzfristige und schnelle Hilfe beim Korrekturlesen. Gudrun Heyduck hat die gesamte Arbeit Korrektur gelesen, das Schlusskapitel sogar noch im Krankenhaus. Ich hoffe, die Arbeit hat sie weder ins Krankenhaus gebracht noch den Genesungsprozess gehemmt. Mein werter Kollege Dr. Olaf Jandura hat mich nicht nur mit seiner nichtversiegenden Kaffeequelle unterstützt, sondern vor allem mit letzten wertvollen Anregungen kurz vor dem Disputationsvortrag. Meine geschätzte Kollegin Katja Schwer hat sich die Mühe gemacht hat, die Arbeit zu lesen, um danach mit zahlreichen Anregungen und Hinweisen Licht in das Dunkel allzu verschlungener Gedankengänge zu bringen. Allen vielen Dank für die umsichtige und wichtige Hilfe. Ganz besonders hervorheben möchte ich die Unterstützung von Stefanie Heyduck: Sie hat mir mit Formatierungsarbeiten genauso geholfen wie mit ihrer
sprachlichen Kreativität. Fast noch wichtiger aber waren ihr geduldiges Ohr, Kartenspiele, Kinobesuche und „Gilmore Girls“ zur Ablenkung und nicht zuletzt Putenfleisch mit Austernsoße. Vielen Dank dafür! Schlussendlich danke ich meiner Familie – meinem Bruder Raphael für seine Unterstützung, wann immer ich sie brauchte, meinen Eltern Almuth und Heinrich für ihre Gene, ein immer geborgenes Nest und die durch die Promotion noch länger währende finanzielle Stütze. Und nicht zuletzt danke ich meiner Großmutter Gertraud Rossmann. Sie hat trotz ihres stolzen Alters von 94 Jahren die Arbeit gelesen – nicht, um sie zu korrigieren, sondern aus schlichtem Interesse und um nachvollziehen zu können, womit sich ihre Enkelin die letzten Jahre beschäftigt hat. Ich verneige mich mit dem größten Respekt vor dieser Ausdauer und diesem nicht zu stillenden Wissensdurst.
München, im August 2007
Inhalt
1
Einführung............................................................................................. 15
2
Die Ursprünge der Kultivierungsforschung .......................................... 21 2.1
Anlass und Hintergründe.............................................................................21
2.2
Vorläufer.........................................................................................................22
2.2.1 Einfluss des Kinos auf Kinder (Die Payne-Fund-Studien) ....................22 2.2.2 Einfluss des Fernsehens auf Kinder...........................................................23 2.3
Cultural Indicators: Die Begründung der Kultivierungsforschung .......26
2.3.1 Grundannahmen ...........................................................................................27 2.3.2 Grundhypothese............................................................................................28 2.3.3 Traditionelles Untersuchungsdesign ..........................................................29 2.3.4 Pionierstudie ..................................................................................................29 2.3.5 Mainstreaming und Resonanz .....................................................................30 2.4
Klassische Kritik............................................................................................31
2.4.1 Fehlgeschlagene Replikationen ...................................................................32 2.4.2 Interpretation der Fernsehbotschaft ..........................................................32 2.4.3 Mangelnde Kontrolle von Drittvariablen..................................................34 2.4.4 Operationalisierung der Realitätseinschätzung.........................................36 2.4.5 Nonlinearität der Zusammenhänge............................................................45 2.4.6 Zusammenhänge entgegen der erwarteten Richtung ..............................50 2.4.7 Asymmetrische Zusammenhänge...............................................................52 2.4.8 Kausalschluss .................................................................................................54 2.5
Metaanalyse von Morgan und Shanahan (1997).......................................63
8
Inhalt
2.6
Eigene Metaanalyse.......................................................................................64
2.6.1 Stichprobe ......................................................................................................65 2.6.2 Analyse............................................................................................................69 2.6.3 Überblick über die Studien ..........................................................................70 3
Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess.................................... 77 3.1
Kultivierung als Zwei-Stufen-Prozess........................................................77
3.1.1 Lernen und Konstruktion............................................................................78 3.1.2 Kultivierung erster und zweiter Ordnung .................................................80 3.1.3 Lernen und Konstruktion von Einschätzungen und Einstellungen .....86 3.2
Kultivierung als Drei-Stufen-Prozess.........................................................87
3.3
Resümee: Subprozesse der Kultivierung ...................................................91
3.3.1 Zusammenfassung der vorgestellten Studien ...........................................91 3.3.2 Diskussion auf Basis aktuellerer Studien ...................................................95 4
Die Bedeutung der Fernsehbotschaft.................................................... 99 4.1
Differenziertheit der Fernsehbotschaft .....................................................99
4.1.1 Genreübergreifende Botschaften..............................................................100 4.1.2 Genrespezifische Botschaften...................................................................103 4.1.3 Metabotschaften und themenspezifische Differenziertheit..................118 4.2
Darstellungsmerkmale ................................................................................135
4.2.1 Episodische versus kontextreiche themenzentrierte Darstellung........136 4.2.2 Akteursmerkmale (Identifikation) ............................................................137 4.2.3 Bewertung.....................................................................................................139 4.2.4 Realitätsgrad .................................................................................................140 4.2.5 Glaubwürdigkeit ..........................................................................................142 4.2.6 Humor...........................................................................................................146 4.2.7 Auffälligkeit..................................................................................................148 4.2.8 Weitere Darstellungsmerkmale .................................................................150 4.3
Zusammenfassung ......................................................................................152
9
Inhalt
5
Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption .................... 155 5.1
Selektion .......................................................................................................155
5.1.1 Selektive Fernsehnutzung ..........................................................................155 5.1.2 Selektivität und Kultivierung: Operationalisierung................................161 5.2
Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess........166
5.2.1 Der Uses-and-Gratifications-Ansatz........................................................166 5.2.2 Nutzungsmotive und Kultivierung...........................................................174 5.2.3 Zusammenfassung ......................................................................................182 5.3
Parasoziale Interaktion und Parasoziale Beziehungen...........................184
5.3.1 Grundkonzept .............................................................................................184 5.3.2 Parasoziale Interaktion und Kultivierung................................................186 5.4
Identifikation................................................................................................192
5.5
Involvement .................................................................................................195
5.5.1 Allgemeines Begriffsverständnis ...............................................................195 5.5.2 Themeninvolvement...................................................................................197 5.5.3 Prozessinvolvement und Transportation ................................................200 5.5.4 Zusammenfassung ......................................................................................204 5.6
Wahrgenommener Realitätsgrad...............................................................206
5.6.1 Hintergrund..................................................................................................206 5.6.2 Konzeptionalisierung..................................................................................207 5.6.3 Wahrgenommener Realitätsgrad und Kultivierungseffekte..................210 5.7
Zusammenfassung ......................................................................................215
5.7.1 Selektion .......................................................................................................215 5.7.2 Aktive Rezeption.........................................................................................216 6
Psychische Prozesse............................................................................. 223 6.1
On-line-Urteile und erinnerungsgestützte Urteilsbildung.....................224
6.2
Kultivierung erster Ordnung.....................................................................226
6.2.1 Heuristische Informationsverarbeitung ...................................................226 6.2.2 Systematische Informationsverarbeitung ................................................239 6.2.3 Spreading Activation und chronisch verfügbare Konstrukte...............248 6.2.4 Zusammenfassung: Kultivierung erster Ordnung .................................256
10
Inhalt
6.3
Kultivierung zweiter Ordnung ..................................................................260
6.3.1 Entstehung während der Rezeption (on-line).........................................261 6.3.2 Erinnerungsgestützte Einstellungsbildung..............................................271 6.3.3 Zusammenfassung: Kultivierung zweiter Ordnung...............................275 6.4
Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells ............................................................................................278
6.4.1 Darstellungsmerkmale ................................................................................278 6.4.2 Merkmale der Rezeption und Urteilsbildung..........................................283 7
Zusammenfassung und Diskussion .................................................... 291 7.1
Hintergrund..................................................................................................291
7.1.1 Die Anfänge .................................................................................................291 7.1.2 Defizite .........................................................................................................292 7.1.3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess .....................................295 7.2
Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses ......297
7.2.1 Informationsaufnahme...............................................................................297 7.2.2 Informationsspeicherung ...........................................................................303 7.2.3 Informationsabruf und Urteilsbildung.....................................................308 7.3
Empirische Umsetzung des Modells........................................................311
7.3.1 Mikroprozesse..............................................................................................311 7.3.2 Makroprozess...............................................................................................316 7.4
Anwendbarkeit auf andere Medienwirkungstheorien............................322
7.4.1 Fallbeispieleffekt..........................................................................................322 7.4.2 Agenda-Setting.............................................................................................327 7.5
Limitationen.................................................................................................328
7.5.1 Modell des Kultivierungsprozesses oder allgemeines Informationsverarbeitungsmodell?...........................................................329 7.5.2 Überprüfbarkeit des Modells.....................................................................331 7.5.3 Mikro- und Makroebene ............................................................................332 7.6
Schluss...........................................................................................................334
Literatur ....................................................................................................... 337
Abbildungen
Abbildung 1:
Prozessmodell und Bedingungen von Kultivierung........................17
Abbildung 2:
Visualisierung zur „offenen“ Abfrage von Prozentanteilen...........39
Abbildung 3:
Struktur der Antwortvorgaben zu Kultivierungsfragen erster Ordnung.................................................................................................40
Abbildung 4:
Kausalitätsproblem ...............................................................................55
Abbildung 5:
Logik der Kreuzkorrelation.................................................................60
Abbildung 6:
Anzahl von Kultivierungsstudien im Zeitverlauf.............................72
Abbildung 7:
Theoretische Perspektive der Kultivierungsstudien........................73
Abbildung 8:
Bestätigung des Kultivierungseffektes nach Zeitabschnitten ........74
Abbildung 9:
Prozessmodell zur Kultivierung erster und zweiter Ordnung .......81
Abbildung 10: Zusammenhang zwischen Kultivierung erster und zweiter Ordnung.................................................................................................84 Abbildung 11: Allgemeines Modell als Grundlage für Potters (1988b) Studie......86 Abbildung 12: Ergebnisse der Studie Potters (1988b) ..............................................87 Abbildung 13: Prozessmodell der Kultivierung (Potter, 1991a)..............................88 Abbildung 14: Ergebnisse der Studie Potters (1991a)...............................................90 Abbildung 15: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses I............................95 Abbildung 16: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses II ..........................97 Abbildung 17: Unterschiedliche Aggregationsniveaus am Beispiel der Darstellung von Attraktivität und Schönheitsoperationen...........125 Abbildung 18: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses III – Fernsehbotschaft und wahrgenommene Fernsehbotschaft.........153 Abbildung 19: Uses and Effects-Modell ...................................................................172 Abbildung 20: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses IV – Selektion und Rezeption....................................................................221
12
Abbildungen
Abbildung 21: Verfügbare Beispiele für Ärzte im Langzeitgedächtnis von Viel- und Wenigsehern von Arztserien (Prinzip des Storage Bin-Modells) ........................................................................................231 Abbildung 22: Flussdiagramm des Modells heuristischer Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess (Shrum, 2002)...................238 Abbildung 23: Modell heuristischer und systematischer Urteilsbildung im Kultivierungsprozess..........................................................................247 Abbildung 24: Konzeptionelles Modell des Kultivierungsprozesses: Hauptphasen und Einflussfaktoren (Tapper, 1995)......................255 Abbildung 25: Modell des Kultivierungsprozesses erster Ordnung: Speicherung und Urteilsbildung .......................................................257 Abbildung 26: Ausschnitt aus dem assoziativen Netzwerk des Langzeitgedächtnisses – Aktivierungsschritte bei der erstmaligen Einstellungsbildung ............................................................................265 Abbildung 27: Schematische Darstellung der Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Einstellung, Intention und Verhalten..................272 Abbildung 28: Modell des Kultivierungsprozesses zweiter Ordnung: Online- und erinnerungsgestützte Urteilsbildung..........................277 Abbildung 29: Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess..........................................................................298
Tabellen
Tabelle 1:
Methodenexperiment I: offene vs. geschlossene Abfrage der Realitätseinschätzung (Mittelwertvergleich) ............................................42
Tabelle 2:
Methodenexperiment I: offene vs. geschlossene Abfrage der Realitätseinschätzung (Partialkorrelationen) ...........................................43
Tabelle 3:
Methodenexperiment II: offene vs. geschlossene Abfrage der Realitätseinschätzung (Partialkorrelationen) ...........................................44
Tabelle 4:
Top Ten der internationalen allgemein-kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften im Social Sciene-Index ..............66
Tabelle 5:
Europäische und deutsche kommunikationswissenschaftliche Fachzeitschriften in der Stichprobe..........................................................67
Tabelle 6:
Verteilung der Studien auf die einzelnen Zeitschriften .........................71
Tabelle 7:
Häufigkeit der untersuchten Realitätsbereiche .......................................73
Tabelle 8:
Überblick über die Befunde zu den Subprozessen ................................92
Tabelle 9:
Häufigkeit der untersuchten Genres in Kultivierungsstudien............118
Tabelle 10: Einfluss aktiver und passiver Fernsehrezeption auf Kultivierungseffekte: chronologischer Forschungsüberblick.....................................176 Tabelle 11: Einfluss parasozialer Beziehungen: Kultivierungseffekte erster Ordnung .....................................................................................................190 Tabelle 12: Einfluss parasozialer Beziehungen: Kultivierungseffekte zweiter Ordnung .....................................................................................................191 Tabelle 13: Einfluss von Involvement auf Kultivierungseffekte: Überblick ........205 Tabelle 14: Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades auf Kultivierungseffekte (chronologischer Forschungsüberblick) ...................................210 Tabelle 15: Darstellungsmerkmale im Kontext des Prozesses ...............................282 Tabelle 16: Darstellungsmerkmale im Kontext des Prozesses ...............................289 Tabelle 17: Phase 1 – Determinanten der Informationsaufnahme und Wahrnehmung von Fernsehinhalten......................................................303
14
Abbildungen
Tabelle 18: Phase 2 – Determinanten der Speicherung von Fernsehinformationen ............................................................................................307 Tabelle 19: Phase 3 – Urteilsabruf und Urteilsbildung ............................................310
1
Einführung
Beeinflusst das Fernsehen die Realitätswahrnehmung und Einstellungen der Zuschauer? Diese kommunikationswissenschaftliche Gretchen-Frage wird seit der Einführung des Fernsehens debattiert, seit 1976 im Rahmen der Kultivierungshypothese. Vor gut dreißig Jahren begründeten George Gerbner und Larry Gross diese Hypothese. Sie untersuchten den Einfluss des Fernsehens auf verbrechensbezogene Realitätsurteile und stellten fest, dass Vielseher die Welt gefährlicher wahrnahmen und die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden, höher einschätzten als Wenigseher (Gerbner & Gross, 1976). Daher geht die Kultivierungshypothese davon aus, dass Vielseher die Realität eher so wahrnehmen, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, während Wenigseher in ihrer Realitätswahrnehmung der tatsächlichen Realität näher kommen. Mehr als einhundert in den wichtigsten Fachzeitschriften veröffentlichte Studien haben sich mit der Kultivierungshypothese auseinandergesetzt. Forscher wandten die These auf die verschiedensten Themenbereiche an, prüften Einflüsse von Rezipientenmerkmalen, Rezeptionsmodalitäten und Selektivität und fanden immer wieder Kritik am Grundgedanken des Ansatzes. Noch immer ist die Kultivierung umhüllt vom Schleier der mangelnden Erklärungskraft auf der einen Seite und des Ungeklärten auf der anderen: Die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung sind meist klein, weshalb die Fernsehnutzung nur minimale Varianzanteile an der Realitätswahrnehmung der Zuschauer erklärt. Ungeklärt blieb lange, wie der Kultivierungsprozess überhaupt zu erklären ist: Was passiert in den Köpfen der Zuschauer, wenn sie fernsehen? Was geht im Gedächtnis der Menschen vor, wenn sie Realitätsurteile fällen? Und wie kommt es zu Kultivierungseffekten, wo doch jedes Kind weiß, dass das Fernsehen die Realität nicht widerspiegelt? „Das Schönste, was wir entdecken können, ist das Geheimnisvolle.“ Albert Einstein (1879-1955)
Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Geheimnisvollen. Sie beschäftigt sich mit jenen Prozessen, die sich während und nach der Fernsehrezeption im Gedächtnis der Zuschauer abspielen und dazu führen, dass Kultivierungseffekte entstehen. Es
16
1 Einführung
handelt sich um eine theoretische Arbeit, denn ab einem gewissen Punkt kommt die Wissenschaft nicht mehr weiter, wenn eine empirische Studie auf die andere folgt und alle doch wieder nur Einflüsse von einzelnen mehr oder weniger bedeutsamen Faktoren untersuchen. Die Kultivierungsforschung hat den Punkt erreicht, an dem es sich lohnt, die bisherigen Befunde zu erfassen, zu überdenken und mit Befunden aus anderen Disziplinen zu vergleichen. Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem empirische Studien weniger dazu beitragen, Kultivierungseffekte zu erklären, als eine Systematisierung der bisherigen Forschung. Grundsätzlich bieten sich zwei Traditionen an, aus deren Blickwinkel sich die Kultivierungsforschung betrachten lässt. Der ursprüngliche Kultivierungsansatz ist eher soziologisch geprägt, betrachtet die Zusammenhänge zwischen Fernsehinhalten und Realitätswahrnehmung als gesamtgesellschaftlichen Prozess, also aus einer Makroperspektive (vgl. Morgan & Shanahan, 1997) und konzentriert sich dabei auf unterhaltungsorientierte Fernsehinhalte. Auch wohnt der traditionellen Kultivierungsforschung eine gewisse medienkritische Haltung inne, die dem Fernsehen die Macht zuschreibt, soziale Wertvorstellungen zu verändern: „The ‚Cultural Revolution’ is not only a Chinese slogan. It is also a fact of social life whenever a particular political-industrial order permeates the sphere of public message production. A change in the social bases and economic goals of message massproduction leads, sooner or later, to a transformation of the common symbolic environment that gives public meaning and sense of direction to human activity.” (Gerbner, 1969: S. 138)
Eine logische Weiterführung dieser Grundgedanken findet sich in den Cultural Studies wieder, die sich ebenfalls mit populärkulturellen Erzeugnissen, deren Bedeutungszuweisungen und ihrem Einfluss auf die soziale Umwelt beschäftigen (vgl. Fiske, 1987; Jäckel, Peter, 1997; Hepp, 1999). „Neben der Grundannahme, dass durch Sprache und ‚Text’ (=Medieninhalt) Realität konstruiert wird, spielt die Frage nach der bedeutungsgenerierenden Macht einen zentrale Rolle.“ (Wimmer, 2006: S. 35) Die zweite Tradition hat sich Anfang der achtziger Jahre herausgebildet und versucht, Kultivierungseffekte als psychologischen Prozess zu verstehen, gerade weil die in der soziologischen Tradition der Kultivierungsforschung entstandenen Studien methodisch stark angreifbar waren und es meist noch immer sind (vgl. Kapitel 2.4). Die vorliegende Arbeit reiht sich daher in die Tradition derer ein, die die Kultivierung psychologisch zu erklären versuchen. Denn wenn wir verstehen, was in den Köpfen der Zuschauer vor sich geht, wenn wir zeigen können, dass das Fernsehen im Gedächtnis der Zuschauer Spuren hinterlässt, ist auch die Annahme
17
1 Einführung
gesamtgesellschaftlicher Wirkungen nicht mehr so angreifbar (vgl. Hawkins & Pingree, 1990). Als Ergebnis der Arbeit wird ein Prozessmodell vorgestellt, welches die Determinanten des Kultivierungseffekts bei der Selektion, Rezeption, Informationsaufnahme und -speicherung und bei der Urteilsbildung erfasst, und welches die psychischen Pfade aufzeigt, die zu mehr oder weniger starken Kultivierungseffekten führen. Ausgangspunkt und Grundlage für die Gliederung der Arbeit bildet das erste Modell des Kultivierungsprozesses von Hawkins und Pingree (1982, vgl. Abbildung 1):
Abbildung 1: Prozessmodell und Bedingungen von Kultivierung
LERNEN Fernsehkonsum
Zufälliges Behalten von Information
Aufmerksamkeit, Aufnahmefähigkeit, Konzentration, Involvement
KONSTRUKTION Soziale Realität
Verhalten
Inferenz-Fähigkeit, Sozialer Hintergrund, andere Erfahrungen
Quelle: Hawkins & Pingree, 1982: S. 244.
Es gliedert sich in drei Schritte: Der erste Schritt umfasst Fernsehbotschaft, Fernsehkonsum und zufälliges Behalten von Fernsehinformationen. Dabei werden Einflussfaktoren wie Aufmerksamkeit, Aufnahmefähigkeit und Involvement wirksam. Die eigentliche Konstruktion der sozialen Realität findet im zweiten Schritt statt, bei dem die Rezipienten aus den zufällig behaltenen Fernsehinformationen ihre soziale Realität rekonstruieren. Die konstruierte Realität beeinflusst im dritten Schritt das Verhalten der Zuschauer. Auf diesen Schritt gehen die Autoren jedoch nicht näher ein. Auch diese Arbeit lässt den Aspekt außen vor, um den Kultivierungsansatz, der die Beeinflussung des Verhaltens eigentlich nicht impliziert, nicht unnötig zu verwässern. Die Arbeit gliedert sich gedanklich in zwei Teile. Kapitel zwei und drei stellen Ursprünge und Grundüberlegungen zum Kultivierungsprozess vor. Kapitel vier bis sechs beschreiben die einzelnen Bestandteile des Kultivierungsprozesses. Diese orientieren sich in ihrem Aufbau an den Hauptbestandteilen des von Hawkins und Pingree (1982) vorstellten Modells. So gehen sie zunächst auf die Bedeutung der
18
1 Einführung
Fernsehbotschaft (Kapitel vier), auf Prozesse der Selektion und Rezeption (Kapitel fünf) sowie auf die Informationsspeicherung und Urteilsbildung (Kapitel sechs) ein. Konkret gliedert sich die Arbeit wie folgt: Kapitel zwei stellt die Anfänge und Hintergründe der Kultivierungsforschung vor, erklärt die Grundgedanken der Hypothese und setzt sich mit den klassischen Kritikpunkten des Kultivierungsansatzes auseinander. Den Abschluss des Kapitels bilden zwei Metaanalysen: zum einen die vielzitierte Metaanalyse von Morgan und Shanahan (1997), zum anderen eine qualitative Metaanalyse, die für diese Arbeit durchgeführt wurde. 109 Kultivierungsstudien, die von 1976 bis 2005 in den wichtigsten internationalen und deutschsprachigen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, wurden nach ausgewählten Kriterien exzerpiert und tabellarisch zusammengefasst. Ziel war es, einen systematischen Überblick über die Kultivierungsforschung zu liefern. Daraus resultierende allgemeine Befunde werden noch im zweiten Kapitel vorgestellt. Weitere Analysen, etwa zum Einfluss von Rezeptionsmerkmalen, folgen im jeweils relevanten Kapitel. Kapitel drei setzt sich mit den ersten Überlegungen zum Kultivierungsprozess auseinander. Dazu gehören u.a. die Arbeiten von Hawkins et al. (1987) und Potter (1991a; 1991c). Sie konnten ihre Modellannahmen nur bedingt belegen. Theoretisch waren die Überlegungen jedoch gar nicht so verkehrt. Einen wichtigen Beitrag leisteten Hawkins und Pingree (1982) durch die Unterscheidung von demographischen und wertebezogenen Maßen. Diese führte später zur Aufgliederung der Einflüsse in Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung (vgl. Gerbner et al., 1986). Hawkins et al. (1987) vermuteten, dass es sich dabei um zwei aufeinanderfolgende Schritte handelt und Kultivierungseffekte erster Ordnung einen Zwischenschritt zwischen Fernsehnutzung und Einstellungen darstellen. Diese Annahme greift das hier entwickelte Modell zumindest in Teilen wieder auf. Kapitel vier setzt sich mit der Fernsehbotschaft auseinander. Es geht auf die Bedeutung genreübergreifender und genrespezifischer Kultivierung ein, diskutiert die mangelnde Auseinandersetzung mit den Metabotschaften des Fernsehens und setzt sich mit dem Einfluss von Darstellungsmerkmalen auseinander. Hintergrundgedanke ist, dass es nicht die dargebotene Fernsehbotschaft ist, die unsere Realitätswahrnehmung determiniert, sondern die wahrgenommene Fernsehbotschaft. Kapitel fünf arbeitet die Befunde zur selektiven und aktiven Fernsehrezeption auf. In diesem Kontext wird zunächst diskutiert, weshalb Genres oder auch andere Aggregierungsniveaus als unabhängige Variable von Kultivierungseffekten meist besser geeignet sind als die allgemeine Fernsehnutzung. In den weiteren Abschnitten des Kapitels werden Rezeptions- und Rezipientenmerkmale, die die Wahrnehmung, Interpretation und Speicherung von Fernsehinformationen beeinflussen,
1 Einführung
19
behandelt: konkret Nutzungsmotivation, parasoziale Beziehungen, Identifikation, Involvement und wahrgenommener Realitätsgrad. Kapitel sechs geht auf die Bedeutung psychischer Prozesse bei der Informationsspeicherung und Urteilsbildung ein. Da Kultivierungsurteile erster und zweiter Ordnung zumindest teilweise auf unterschiedlichen psychischen Prozessen basieren, werden die entsprechenden Prozesse getrennt dargestellt. Dabei geht das Kapitel jeweils auf psychologische Hintergründe ein und auf aktuelle empirische Belege aus der Kultivierungsforschung. Im letzten Abschnitt des Kapitels werden die Einflüsse von Darstellungs- und Rezeptionsmerkmalen nochmals vor dem Hintergrund der psychischen Prozesse diskutiert und ihr Einfluss in das Gesamtmodell eingeordnet. Kapitel sieben fasst die dargestellten Überlegungen zusammen und stellt als Ergebnis ein Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess vor. Daran anschließend werden Operationalisierungsvorschläge erarbeitet (Mikro- und Makroebene) bzw. zusammengefasst: Vor allem im Zusammenhang mit der Bedeutung der dargebotenen und wahrgenommenen Fernsehbotschaft und bei der Selektion von Fernsehinhalten lassen sich theoretische Überlegungen und Operationalisierung nur schwer getrennt behandeln. Deshalb werden diese Aspekte bereits in den jeweiligen Kapiteln dargestellt. Zum Schluss des siebten Kapitels wird das Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess schließlich im Kontext anderer Medienwirkungstheorien verortet und seine Anwendbarkeit auf weitere kommunikationswissenschaftliche Wirkungstheorien diskutiert.
2
2.1
Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Anlass und Hintergründe
1941 wurde das Fernsehen in den USA eingeführt. In den fünfziger Jahre verbreitete es sich so rapide, dass im Jahr 1960 bereits rund 150 Mio. US-Amerikaner ein Fernsehgerät besaßen. Mit dem Erfolg des neuen Mediums wuchs die Sorge um seine negativen Einflüsse. Dabei galt die Sorge zunächst hauptsächlich den Kindern. Die Dominanz gewalthaltiger Fernsehinhalte schürte die Sorge, dass die Rezeption medialer Gewalt Einstellungen und Verhalten negativ beeinflusst. Das erste große Forschungsprojekt, das sich in den USA der Frage nach dem Einfluss des Fernsehens auf Kinder annahm, wurde von Schramm, Lyle und Parker (1961) durchgeführt. Knapp zehn Jahre später erregte die ansteigende Gewalt in der amerikanischen Gesellschaft, vor allem nach den Attentaten auf Martin Luther King und Robert Kennedy, erneut die Befürchtungen um negative Einflüsse von Gewaltdarstellungen im Fernsehen auf die Bevölkerung (vgl. Baker & Ball, 1969). Vor diesem Hintergrund wurde Ende der sechziger Jahre die „National Commission on the Causes and Prevention of Violence“ gegründet, die die Verbreitung von Gewalt in Gesellschaft und Medien untersuchen sollte. Ein Teil dieser Forschungsprojekte war das „Cultural Indicators“-Projekt unter der Federführung von George Gerbner. Es untersuchte die institutionellen Prozesse, die der Produktion von medialen Inhalten vorgeschaltet sind, die Fernsehinhalte selbst und die Zusammenhänge zwischen Fernsehrezeption und Einstellungen der Rezipienten, woraus schließlich der Kultivierungsansatz hervorging. Bevor jedoch auf die Entwicklung des Kultivierungsansatzes selbst eingegangen wird, sollen zunächst zwei Forschungsprogramme beleuchtet werden, die der Kultivierungsforschung nicht nur zeitlich vorausgehen, sondern in einigen Punkten als direkte Vorläufer der Kultivierungsforschung aufgefasst werden können. In manchen Aspekten erscheinen sie sogar fortschrittlicher als die anfänglichen Kultivierungsstudien selbst, weshalb ihre Überlegungen heute noch Aktualität besitzen und für die vorliegende Arbeit fruchtbare Ideen liefern.
22 2.2 2.2.1
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Vorläufer Einfluss des Kinos auf Kinder (Die Payne-Fund-Studien)1
Die Situation nach der Einführung des Fernsehens war den zwanziger Jahren nicht unähnlich, als sich die Öffentlichkeit mit den negativen Einflüssen des damals neuen Mediums Kino konfrontiert sah. Schon damals hatte sich – angeregt durch die amerikanische Regierung und finanziell unterstützt von der „Private Philantrophic Foundation“ (Payne Fund) – ein großes Forschungsprojekt diesen Befürchtungen angenommen und die Einflüsse von Kinofilmen auf Gesundheit, Einstellungen, Moral, Emotionen und Verhalten von Kindern in 13 Teilprojekten untersucht. Heute gelten die sogenannten „Payne Fund Studies“ als Meilenstein der Kommunikationsforschung. Das Forschungsprogramm war nicht nur eines der größten Projekte, das jemals durchgeführt wurde, um den Zusammenhang zwischen einem Medium und einem bestimmten Publikum zu untersuchen (Lowery & De Fleur, 1995), sondern zeichnet sich auch dadurch aus, dass ihm theoretische Überlegungen, methodische Herangehensweisen und Themen zugrunde liegen, die noch heute Gültigkeit und Relevanz besitzen: „The Payne Fund studies were clearly the pioneer efforts that established the field of media research within the perspectives of science. They anticipated contemporary interest in meaning theory and the influence of models and focused the new field on such topics as attitude change, the sleeper effect, uses and gratifications, content analysis, modelling influences, and the social construction of reality. They placed an emphasis on quantitative, experimental, and survey methodologies, but they still made use of more qualitative approaches. (…) In these senses, the Payne Fund studies will remain one of the most significant milestones in the development of mass communication as a scientific field of study.” (Lowery & De Fleur, 1995: S. 42, Hervorh. d. d. Verf.)
Die 13 Teilstudien lassen sich grob in zwei Hauptbereiche untergliedern: (1) Studien, die den Inhalt der Filme sowie Größe und Zusammensetzung des Publikums untersuchten, und (2) Studien zum Einfluss der Kinofilme auf Informationsverarbeitung, Einstellungen, Emotionen, Gesundheit, Moral und Verhalten. Da sich die Kultivierungsforschung mit Realitätswahrnehmung und Einstellungen beschäftigt, seien an dieser Stelle lediglich die Studien von Peterson und Thurstone (1933, wiederabgedruckt 1970) zur Einstellungsänderungen durch Kinofilme herausgegriffen. Konkret untersuchten die Autoren den Einfluss kommerzieller Kinofilme auf die Einstellungen von Kindern und Jugendlichen gegenüber verschiedenen Nationalitäten und zu sozialen Themen wie Alkoholverbot, Krieg, 1
Für eine Zusammenfassung der Payne-Fund-Studien vgl. Lowery & De Fleur (1995: S. 21-43).
2.2 Vorläufer
23
Verbrechen, Behandlung von Verbrechern und die Todesstrafe. Methodisch fußen die Studien auf Feldexperimenten: Im ersten Schritt wurde eine Nullmessung der Einstellungen durchgeführt. Danach erhielten die Versuchspersonen jeweils Kinokarten für 16 auswählte Filme. Etwa zwei Wochen nach der Nullmessung und in der Regel einen Tag nach der Filmrezeption wurden die Einstellungen erneut gemessen. Mit dieser Vorgehensweise wurden insgesamt 24 Experimente durchgeführt, die in Bezug auf die Anzahl der gezeigten Filme (einzelne vs. kumulative Effekte)2 und den zeitlichen Abstand der Nachhermessung (zwischen zwei und 19 Monaten) variierten. Auf diese Weise konnten bereits zu diesem Zeitpunkt Hinweise darauf gefunden werden, dass einzeln gezeigte Filme kaum, zwei oder mehrere Filme aber durchaus einen Einfluss auf die Einstellungen der jungen Rezipienten ausübten. Die Wiederholungsmessungen deuteten darauf hin, dass die Einstellungsänderungen teils noch eineinhalb Jahre später stabil blieben. Auch wenn die Sozialforschung damals noch in ihren Kinderschuhen steckte und die Ergebnisse keinesfalls überinterpretiert, geschweige denn auf die heutige Situation übertragen werden dürfen, finden sich in den Payne-Fund-Studien durchaus fruchtbare Hinweise für die Messung des Einflusses von filmischen Unterhaltungsangeboten auf Einstellungen.3
2.2.2
Einfluss des Fernsehens auf Kinder
Knapp 30 Jahre später sah sich die amerikanische Bevölkerung erneut mit der Befürchtung negativer Einflüsse durch ein neues Medium konfrontiert: das Fernsehen. Hier waren es Schramm, Lyle und Parker (1961), die sich in den Jahren 1958 bis 1960 in einem großen Forschungsprojekt der Frage annahmen, wie das Fernsehen das Leben der Kinder in den USA beeinflusst.4 Das Forschungsprogramm 2
3
4
Somit kann man in diesen Studien sogar die ersten Prolonged-Exposure-Experimente (vgl. z.B. Zillmann, 1989; Rössler & Brosius, 2001a; 2001b) wiederfinden. Methodisch waren diese der Kultivierungsforschung also weit voraus, die durch die mehrheitliche Anwendung korrelativer Querschnittdesigns stets unter dem Kausalitätsproblem leidet (vgl. Rossmann & Brosius, 2004; siehe auch Kapitel 2.4.8). Thurstone nutzte die Experimente auch dazu, seine Skalen zur Einstellungsmessung weiterzuentwickeln. Einige Skalen entwickelte er speziell für diese Experimente neu, wie etwa die „paired comparison schedules“ zur Messung der Einstellungen gegenüber anderen Nationalitäten und Verbrechen. Nicht zuletzt entwickelte Thurstone innerhalb der Payne Fund Studien somit auch jene Skalen weiter, aus denen später die sogenannten Thurstone-Skalen hervorgehen sollten (vgl. Peterson & Thurstone, 1933; zur Skalenkonstruktion siehe auch Thurstone, 1959, insbes. S. 282-303). Ähnliche Befunde und theoretische Perspektiven lieferten britische Studien aus derselben Zeit (vgl. Himmelweit, Oppenheim & Vince, 1958; Himmelweit, 1977). Exemplarisch sollen hier aber nur die Studien von Schramm et al. (1961) vorgestellt werden.
24
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
„Television in the Lives of our Children” bestand aus insgesamt elf Teilstudien.5 Methodisch reichten sie von Inhaltsanalysen des Kinderprogramms im Fernsehen über Befragungen und physiologische Messungen bis hin zu ‚Vocabulary Tests’ von insgesamt 5.991 Schülern, 1.958 Eltern und mehreren hundert Lehrern, Beamten u.ä. (vgl. Lowery & De Fleur, 1995). Untersuchungsgegenstand waren die Programminhalte selbst, die Medien- und Fernsehnutzung der Kinder (Fernsehnutzungsdauer, Programmpräferenzen), ihre Nutzungsmotive, emotionale Reaktionen, Einstellungen und Wissensstand. Noch vor der Begründung des Uses & Gratifications-Ansatzes (vgl. z.B. Blumler & Katz, 1974; Rosengren, 1974; siehe auch Kapitel 5.2.1) zogen die Autoren die Bedeutung von Nutzungsmotiven für die Medienwirkung in Betracht. Den Begriff des Einflusses fanden sie dabei missverständlich, denn „ (...) it suggests that television ‘does something’ to children. The connotation is that television is the actor; the children are acted upon. Children are thus made to seem relatively inert; television relatively active. Children are sitting victims; television bites them. Nothing can be further from the fact. It is the children who are most active in this relationship. It is they who use television, rather than television that uses them.“ (Schramm, Lyle & Parker, 1961: S. 1)
Die Befunde zum Inhalt des Fernsehprogramms lesen sich ähnlich wie spätere Befunde der Cultural Indicators-Studien (Gerbner, 1969): Im Kinderprogramm (16 bis 21 Uhr) waren elf Prozent der Fernsehsendungen dem Krimigenre zuzuordnen. Zu sehen waren in der Zeit im Durchschnitt zwölf Morde, 16 größere Schießereien, 21 erschossene Personen, 21 kleinere Schießereien, 37 Raufereien, eine Stichverletzung mit einem Schlachtermesser, vier versuchte Selbstmorde, drei erfolgreiche etc. (Schramm et al., 1961: S. 139f.). In mancher Hinsicht dachten die Autoren dieser Studie fortschrittlicher als später die Begründer der Kultivierungsforschung. So bezogen Schramm et al. (1961) die Nutzungsmotive der Kinder in die Analysen mit ein. Dabei identifizierten sie Motive wie Eskapismus, Identifikation mit aufregenden und attraktiven Menschen sowie das klassische Informationsmotiv – über Mode, Hairstyling und Kosmetik bei Mädchen, über Outfit und sportliche Tricks bei den Jungen. Auch wurden bereits Motive des sozialen Nutzens beobachtet wie Fernsehen als Gelegenheit, den Freunden näher zu kommen, Fernsehinformationen als Basis für Gespräche sowie – wenn auch damals noch nicht so bezeichnet – parasoziale Interaktionen bzw. Beziehungen (vgl. z.B. Horton & Wohl, 1956; Giles, 2002; Hartmann, Schramm & Klimmt, 2004; ausführlicher hierzu vgl. Kapitel 5.3): „It‘s 5
Für eine Zusammenfassung der Payne-Fund-Studien vgl. auch Lowery & De Fleur (1995: S. 239-263).
2.2 Vorläufer
25
just as if they were your friends or your family. You miss them when you don‘t see them.“ (Schramm et al., 1961: S. 59) Auch erkannten die Autoren bereits damals, dass eine Sendung je nach Persönlichkeit unterschiedliche Funktionen erfüllen und unterschiedlich interpretiert werden kann, und erklärten dies am Beispiel eines Filmes über einen Mordversuch: Den einen diente der Film der reinen Unterhaltung, für die anderen bedeutete er die Darstellung realer Zustände, wiederum andere konnten (im schlechtesten Fall) aus dem Film lernen, wie man jemanden umbringt (vgl. ebd.: S. 60). Rezeptionsstil und Wahrnehmung der Inhalte dürften, so die Annahme der Autoren, auch deren Wirkung beeinflussen (vgl. ebd.: S. 143f.). Unterschiede in der Rezeption wurden daher in Abhängigkeit von unterschiedlichen Altersgruppen, von Intelligenz, sozioökonomischem Hintergrund und eben Nutzungsmotiven untersucht. Auch bildeten die Autoren unterschiedliche Nutzergruppen und unterschieden zum einen Viel- und Wenigseher („high users“, “low users“), zum anderen informationsorientierte („reality oriented“) und unterhaltungsorientierte („fantasy oriented“) Nutzer.6 Der Einfluss des Fernsehens variierte je nach Untersuchungsebene: So stellten die Autoren nur geringe physiologische Einflüsse fest, beobachteten aber deutliche emotionale Folgen – positive Erregung genauso wie Angst – sowie kognitive Effekte. Letztere können auch als Kultivierungseffekte interpretiert werden: Die Kinder lernen aus dem Fernsehen, wie das Leben von Erwachsenen ist, was ihnen ohne das Medium verborgen bliebe. Aufgrund der vermuteten verzerrten Darstellung des Erwachsenenlebens im Fernsehen – z.B. „an abnormally high proportion of sexy women, violent acts, and extra-legal solutions to legal problems“ (ebd.: S. 155) – befürchteten die Autoren, dass das verzerrte Bild der Fernsehwelt einen negativen Einfluss auf den Sozialisationsprozess haben könne: „If this is the case – if a child is absorbing a markedly erroneous picture of adult life – then obviously this is no positive contribution to socializing him“ (ebd.: S. 155). Damit formulierten die Autoren bereits einen der Grundgedanken der Kultivierungshypothese. Den Mechanismus, der hinter diesen Effekten steckt, erklärten die Autoren mit „incidental learning“, also „learning that takes
6
Den entscheidenden Schritt, Fernsehnutzungsdauer und Nutzungsmotive für die Bildung der Nutzergruppen zu kombinieren, um die Einflüsse in Abhängigkeit von Nutzungsmotiven und Nutzungsdauer zu untersuchen, machten die Autoren empirisch nicht. Allein die Formulierung der Zusammenhänge zeugt jedoch gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die statistischen Möglichkeiten noch in den Kinderschuhen steckten, von der Fortschrittlichkeit der Studien.
26
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
place when a viewer goes to television for entertainment and stores up certain items of information without seeking them.“ (Schramm et al., 1961: S. 75)7 Insgesamt können somit Teile des dargestellten Forschungsprogramms von Schramm et al. (1961) als Vorläufer für die wenige Jahre später begründete Kultivierungshypothese gelten. Nicht nur Anlass und Hintergründe waren dieselben (erhöhte Gewaltanteile im Fernsehen und Verbrechenszahlen in der Realität); es finden sich auch methodische Parallelen (Kombination von Inhaltsanalyse und Befragung, Trennung von Viel- und Wenigsehern). Der Untersuchungsgegenstand war zumindest im Zusammenhang mit der Untersuchung von Realitätswahrnehmung und Einstellungen derselbe, und beide Forschergruppen versuchten, die Effekte mit „incidental learning“ zu erklären. Zusätzlich kann man den Vorläuferstudien eine gewisse Vorreiterrolle zuschreiben, da sie bereits Aspekte einbezogen, die sich im Zusammenhang mit der Kultivierungshypothese erst später wiederfinden, etwa wenn es um die Berücksichtigung von Nutzungsmotiven (vgl. Kapitel 5.2) oder die Bedeutung unterschiedlicher Fernsehgenres (vgl. Kapitel 4.1.2) geht.
2.3
Cultural Indicators: Die Begründung der Kultivierungsforschung
Die Kultivierungsforschung wurde von der Gruppe um George Gerbner an der Annenberg-School of Communications theoretisch begründet und nahm mit dem „Cultural Indicators Projekt“ in den USA ihren Ursprung. Anlass des Projekts war eine Auftragsstudie für die „National Commission on the Causes and Prevention of Violence“ – in den USA nach der Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy gegründet (vgl. Baker & Ball, 1969) – weshalb zunächst auch hier die Darstellung (vgl. Gerbner, 1969) und Wirkung (Gerbner & Gross, 1976) von Gewalt im Fernsehen im Zentrum des Forschungsinteresses stand. Auffallende Unterschiede zwischen Fernsehdarstellung und objektiver Realität bei zahlreichen weiteren Themen (z.B. Darstellung von Geschlechter- oder Berufsrollen) veranlassten die Gruppe um George Gerbner in der Folgezeit, ein breiteres Themenspektrum in die Studien mit einzubeziehen: z.B. Geschlechterrollen (vgl. Morgan, 1982; Signorielli, 1989a), Altersgruppen (vgl. Gerbner, Gross, Signorielli & Morgan, 1980b), Gesundheit (vgl. Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1981d; Gerbner, Morgan & Signorielli, 1982), Wissenschaft (vgl. Gerbner, Gross, Morgan & Signo-
7
Die Autoren konkretisierten dabei Faktoren, die einen solchen Lernprozess begünstigen, womit sie wiederum Aspekte nannten, die in der Kultivierungsforschung erst später Berücksichtigung fanden: z.B. Alter, Intelligenz, wahrgenommene Realität der Fernsehinhalte und Identifikation mit den Fernsehcharakteren (Schramm et al., 1961: S. 78ff.)
2.3 Cultural Indicators: Die Begründung der Kultivierungsforschung
27
rielli, 1981c), Erziehung (vgl. Morgan & Gross, 1982) und Politik (vgl. Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1982; 1984). Zur Geschichte der Kultivierungsforschung vgl. z.B. Weimann (2000) und Morgan (2002).
2.3.1
Grundannahmen
Der Kultivierungsansatz geht von der Annahme aus, dass die moderne Gesellschaft einen Großteil ihrer Erfahrungen aus der Medienwelt zieht und aus den medial vermittelten Botschaften ihre Realität rekonstruiert (vgl. Weimann, 2000). Nach Ansicht Gerbners nimmt das Fernsehen unter den Massenmedien eine Sonderstellung ein (vgl. z.B. Gerbner, Gross, Signorielli, Morgan & Jackson-Beeck, 1979; Kliment, 1994): Es zeichnet sich durch seine hohe Reichweite und zeitliche Inanspruchnahme aus, die sich darauf zurückführen lässt, dass das Fernsehen allgegenwärtig verfügbar ist, auditive und visuelle Sinne gleichzeitig anspricht und ohne spezielle Kompetenzen (Literalität) verstanden werden kann. Zudem nutzen die Zuschauer, so die Annahme, das Fernsehen nonselektiv und werden über alle Sendungen und Sender hinweg mit den gleichen Botschaften konfrontiert. Auf diese Weise verbreitet das Fernsehen „from penthouse to tenement“ (vgl. Gerbner & Gross, 1976: S. 177) dieselben Bilder und Botschaften an seine Zuschauer. Stärker als alle anderen Medien durchdringt die Fernsehrealität alle Gruppen, Schichten und Klassen der Gesellschaft: „What makes television unique, however, is its ability to standardize, streamline, amplify and share common cultural norms with virtually all members of society.“ (Morgan & Signorielli, 1990: S. 14) Nicht zuletzt zeichnet sich das Fernsehen durch seine Realitätsnähe aus, mit der es diese Botschaften präsentiert: Im Fernsehen verschwimmen die Grenzen zwischen Nachrichten und Unterhaltung sowie Fakten und Fiktion, so dass fiktionale Sendungen als Realität interpretiert werden: „The premise of realism is a Trojan horse which carries within it a highly selective, synthetic, and purposeful image of the facts of life.“ (Gerbner & Gross, 1976: S. 178) Eine zentrale Rolle nehmen jene Botschaften ein, die im realen Leben nicht direkt erfahrbar sind. Es ist sogar der Großteil der Realität, zu dem wir keinen direkten Zugang haben. Walter Lippmann thematisierte dies schon im Jahr 1922: „Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht so ausgerüstet, dass wir es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen könnten. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einfacherem Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können.“ (Lippmann, 1990: S. 18)
28
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Auch thematisierte Lippmann, „daß die Presse das Hauptkontaktmittel zur ungesehenen Umwelt ist. Und praktisch überall wird die Meinung vertreten, daß die Presse (...) uns täglich und sogar zweimal am Tag ein getreues Bild der ganzen äußeren Welt entwerfen“ (ebd.: S. 219) soll. Dabei erkannte Lippmann bereits, „daß Nachrichten und Wahrheit nicht dasselbe sind und klar voneinander geschieden werden müssen.“ (ebd.: S. 243) Lippmann konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal erahnen, dass seine Abhandlung vor dem Hintergrund der rasanten technischen Entwicklung, mit der Verbreitung von Hörfunk und Fernsehen in einem so großen Ausmaß an Relevanz gewinnen sollte. Seine Beobachtung, dass ein Großteil der Realität lediglich aus den Bildern der Medien rekonstruiert werden kann, findet sich in der Kultivierungsforschung wieder: „How many of us have ever been in an operating room, a criminal courtroom, a police station or jail, a corporate board room, or a movie studio? How much of what we know about such diverse spheres of activity, about how various kinds of people work and what they do – how much of our real world has been learned from fictional worlds?“ (Gerbner & Gross, 1976: S. 179)
Die Kultivierungsforschung hebt sich nach Ansicht ihrer Begründer in einem wesentlichen Punkt von der traditionellen Medienwirkungsforschung ab. Anstatt kurzfristige Wirkungen in künstlichen Laborsituationen zu messen, impliziert der Kultivierungsansatz die Annahme, dass das Fernsehen Weltbilder, Normen und Werte der Gesellschaft langfristig formt. Das Fernsehen ist nach Ansicht der Gerbner-Gruppe also sekundäre Sozialisationsinstanz: „Television is a centralized system of storytelling. Its drama, commercials, news, and other programs bring a relatively coherent system of images and messages into every home. (...) Transcending historic barriers of literacy and mobility, television has become the primary common source of socialization and everyday information (mostly in the form of entertainment) of otherwise heterogeneous populations.“ (Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1986: S. 18)
2.3.2
Grundhypothese
Aus diesen Annahmen leitet sich die Grundhypothese ab, dass Rezipienten, die viel fernsehen, ihre soziale Realität aus der fiktiven Realitätsdarstellung des Fernsehens rekonstruieren. Sie schätzen die Realität, so die Annahme, eher so ein, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, während Rezipienten, die wenig fernsehen, in ihrer Realitätswahrnehmung der tatsächlichen Realität näher kommen. Als Hilfskonstruktion dient der Vergleich von Viel- und Wenigsehern. Während sich Wenigseher aus
2.3 Cultural Indicators: Die Begründung der Kultivierungsforschung
29
vielen verschiedenen Quellen (sowohl medialer als auch interpersonaler Art) informieren, stellt das Fernsehen bei den Vielsehern die dominierende Informationsquelle dar. Dabei gehen Vielseher bei der Fernsehrezeption weniger selektiv vor, so dass sie über alle Programminhalte, Formate und Sendungen hinweg denselben Botschaften ausgesetzt sind (vgl. Morgan & Signorielli, 1990: S. 17). Diese Annahmen werden in der Regel wie folgt empirisch umgesetzt.
2.3.3
Traditionelles Untersuchungsdesign
Kultivierungsanalysen basieren traditionsgemäß auf zwei Untersuchungsschritten, die Gerbner und Kollegen „message system analysis“ und „cultivation analysis“ nennen. Im ersten Schritt, der message system analysis, werden wiederkehrende Fernsehinhalte, d.h. dargestellte Bilder, Normen und Werte, die genreübergreifend stabil bleiben, identifiziert und mit Realitätsdaten verglichen, um somit Diskrepanzen zwischen den Fernsehinhalten und der Realität aufzudecken. Im zweiten Schritt, der cultivation analysis, werden die Zusammenhänge von Fernsehrezeption und Realitätswahrnehmung beim Publikum untersucht, indem die in standardisierten Befragungen ermittelten Antworten von Viel- und Wenigsehern einander gegenübergestellt werden. Ziel der Gerbner’schen Kultivierungsanalysen ist der Nachweis, dass die Vielseher eher die „Fernsehantwort“ geben, die den konstanten Mustern im Fernsehen entspricht, während Wenigseher in ihren Antworten den Realitätsdaten näher kommen (vgl. Morgan & Signorielli, 1990). Am Beispiel der Pionierstudie von Gerbner & Gross (1976) sei diese Vorgehensweise verdeutlicht.
2.3.4
Pionierstudie
Im ersten Schritt wurde das Fernsehprogramm auf seine Gewalthaltigkeit hin untersucht. Als Stichprobe diente jährlich eine Programmwoche, beginnend im Jahr 1967, in der alle fiktionalen Sendungen analysiert wurden, die zur Prime Time, am Wochenende auch tagsüber, ausgestrahlt worden waren. Die dargestellten Gewalthandlungen wurden auf jeweils drei Analyseebenen (Sendung, gewalthaltiger Akt, Akteur) erfasst. Daraus errechneten Gerbner und Gross (1976) drei Gewaltmaße: (1) Anteil gewalthaltiger Sendungen, (2) Häufigkeit und Anteil gewalthaltiger Szenen und (3) Anzahl von Akteuren, die eine Opfer- oder Täterrolle (oder beides) einnahmen. Die Befunde deuteten auf hohe Gewaltanteile hin: Acht von zehn Sendungen enthielten Gewalt, pro Stunde waren acht Gewaltakte zu sehen, 60 bis
30
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
70 Prozent aller Akteure hatten mit Gewalthandlungen zu tun, zehn bis 20 Prozent mit Morden (vgl. ebd.: S. 187ff.). Die über Jahre hinweg konstant hohen Gewaltanteile führten zu der Vermutung, dass das Fernsehen beim Zuschauer auf lange Sicht Misstrauen und Angst schüren könne. Dieser Frage gingen die Autoren in der „cultivation analysis“ nach. In Befragungen wurden zunächst Realitätseinschätzungen zu Verbrechensbekämpfung, Vertrauen und Viktimisierungsangst erhoben. Die Befragten konnten jeweils zwischen zwei Antwortvorgaben wählen, wobei eine der Antworten in etwa der Fernsehantwort entsprach, die andere eher den Verhältnissen in der Realität.8 Die Ergebnisse zeigten, dass die Vielseher eher die Fernsehantwort gaben als die Wenigseher. Vergleiche der Unterschiede zwischen Viel- und Wenigsehern mit Gruppenunterschieden, die auf Alter, Bildung, Geschlecht und Zeitungsnutzung basierten, deuteten darauf hin, dass das Fernsehen oder die Nutzung anderer Medien für die Erklärung von Realitätswahrnehmung und Weltsicht des Publikums genauso wichtig sei wie soziodemographische Merkmale und andere Faktoren der Alltagserfahrung (Gerbner & Gross, 1976: S. 193). Daraus schlossen die Autoren: „Our chief instrument of enculturation and social control, television may function as the established religion of the industrial order, relating to governance as the church did to the state in earlier times.” (ebd.: S. 194).
2.3.5
Mainstreaming und Resonanz
In zahlreichen weiteren Studien replizierten Gerbner und seine Kollegen diese Befunde und zeigten, dass das Fernsehen eine Überschätzung des Ausmaßes von Gewalt in der Realität kultiviert (vgl. Gerbner, Gross, Eleey, Jackson-Beeck, Jeffries-Fox & Signorielli, 1977; Gerbner, Gross, Jackson-Beeck, Jeffries-Fox, & Signorielli, 1978; Gerbner, Gross, Signorielli, Morgan & Jackson-Beeck, 1979; für einen Überblick vgl. Morgan, 2002). Dennoch konnte sich die Gruppe um Gerbner dem Vorwurf, Artefakte zu messen, nicht entziehen. Häufig wurde kritisiert, dass die beobachteten Zusammenhänge auch durch andere Merkmale bedingt sein könnten. Doob & Macdonald (1979) zeigten beispielsweise, dass der Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Viktimisierungsangst nach Kontrolle des Merkmals „Wohngegend“ (Stadt- vs. Vorstadtbezirke) in fast allen Gruppen
8
Konkret fragten die Autoren: „What proportion of people are employed in law enforcement?” (Antwortvorgaben „five percent“ als Fernsehantwort und „one percent“ als Realitätsantwort). Oder: „During any given week, what are your chances of being involved in some type of violence?” (Vorgaben: „one in ten” als Fernsehantwort und „one in a hundred” als Realitätsantwort) (ebd.: S. 191f.).
2.4 Klassische Kritik
31
verschwand: Menschen, die in gefährlichen Wohngegenden lebten, waren ängstlicher, sahen gleichzeitig aber auch mehr fern als Menschen aus den sichereren vorstädtischen Wohnbezirken. Daraus schlossen die Autoren, dass die unterschiedliche Ängstlichkeit von der Wohngegend, allgemein ausgedrückt vom Einfluss verschiedener Drittvariablen, und nicht von der Fernsehnutzung herrührte (Doob & Macdonald, 1979). Dieser Vorwurf veranlasste Gerbner und seine Kollegen, die Theorie zu modifizieren und die unterschiedlichen Zusammenhänge in verschiedenen Rezipientengruppen anhand von zwei Prozessen zu erklären: Mainstreaming und Resonanz (vgl. Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1980a; Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1986; Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1994). Die erste Erklärung resultierte aus der Beobachtung, dass sich Menschen aus verschiedenen Einkommensgruppen im Hinblick auf ihre Verbrechensangst unterschieden, die Differenzen bei Vielsehern aber geringer waren als bei Wenigsehern (vgl. Gerbner et al., 1980a: S. 15f.). Daraus schlossen die Autoren auf das sogenannte Mainstreaming: Unterschiedliche, durch soziale Voraussetzungen bedingte Vorstellungen werden durch die intensive Fernsehnutzung absorbiert und zu einer gemeinsamen Auffassung, dem Mainstream, homogenisiert. Die zweite Erklärung beschreibt die entgegengesetzte Beobachtung: So maßen Menschen in unterschiedlichen Wohngegenden der Angst vor Verbrechen unterschiedliche Bedeutung bei, wobei die Ansichten der Vielseher sogar noch stärker divergierten als die der Wenigseher. Dies erklärten Gerbner et al. (1980a) mit der Realitätserfahrung der Rezipienten: Wenn Vielseher die Realität so erleben, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, wirkt die konsonante Fernsehbotschaft wie eine „Doppel-Dosis“ und verstärkt den Kultivierungseffekt. Diesen Prozess nannten Gerbner et al. (1980a: S. 15f.) Resonanz. Mit diesen Erweiterungen sah die Forschergruppe „the theory of pervasive cultivation of mistrust, apprehension, danger, and exaggerated ‚mean world‘ perceptions“ (ebd.: S. 25) weiterhin bestätigt.
2.4
Klassische Kritik
Die Kultivierung ist eine der bekanntesten Medienwirkungshypothesen geworden, gleichzeitig aber auch eine der umstrittensten. Neben die Kritik von Doob und Macdonald (1979) reihten sich zahlreiche weitere Kritikpunkte, die im Folgenden vorgestellt werden (für einen umfassenden Überblick vgl. z.B. Morgan & Shanahan, 1979; Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1981b; Rubin, Perse & Taylor, 1988). Die einzelnen Aspekte sollen jedoch nicht nur repliziert werden. Vielmehr werden sie vor dem Hintergrund aktueller Erkenntnisse diskutiert.
32 2.4.1
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Fehlgeschlagene Replikationen
Einer der zentralen Vorwürfe bestand darin, dass andere Studien die Kultivierungseffekte nicht bestätigen konnten. So untersuchte Wober (1978) in England die Kultivierungshypothese anhand ähnlicher Fragen, wie Gerbner sie in seinen Kultivierungsstudien verwendet hatte, fand aber keine Effekte. Allerdings lassen sich die Divergenzen damit erklären, dass England und USA in kultureller und institutioneller Hinsicht nicht vergleichbar sind und somit fehlgeschlagene Replikationen in England nichts über die Validität der These in den USA aussagen (vgl. Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1979; Morgan & Shanahan, 1997). Vielmehr sei die Tatsache, dass das britische Fernsehprogramm größtenteils gewaltfreie Sendungen enthält – nur 38 von 380 untersuchten Sendungen wurden als gewalthaltig identifiziert (vgl. Wober, 1978: S. 318) – und somit beim Vielseher konsequenterweise keine erhöhte Viktimisierungsangst auslöst, eher eine Bestätigung der Kultivierungshypothese als eine Widerlegung (vgl. Gerbner et al., 1979: S. 123f.). Gerbner und seine Kollegen kritisierten die Qualität der englischen Studie: Die von der „Independent Broadcasting Authority“ finanzierte Studie wurden den Befragten als Umfrage zur Einstellung britischer Bürger zum Rundfunk präsentiert (vgl. Wober, 1978: S. 317), womit den Befragten das Thema Fernsehen von Anfang an präsent war (vgl. Morgan & Shanahan, 1997: S. 11). Gerbner hatte die Fernsehnutzung dagegen grundsätzlich erst nach Messung der Einstellungen und Meinungen abgefragt, um auszuschließen, dass die Probanden das Untersuchungsziel durchschauten und die Fragen im Bewusstsein des Fernsehens beantworteten (z.B. Gerbner & Gross, 1976, vgl. hierzu auch Shrum, Wyer & O’Guinn, 1998).
2.4.2
Interpretation der Fernsehbotschaft
Schon früh nach Veröffentlichung der ersten Kultivierungsstudie machte Newcomb (1978) auf einen Kritikpunkt aufmerksam, der sich bis heute als relevant erweist, wenn es um die Wirkung medialer Botschaften geht. Unter dem Stichwort „humanistic critique“ bemängelte er die Grundannahmen der Kultivierungsforschung vor dem Hintergrund eines zentralen Problems: die unterschiedliche Wahrnehmung und Interpretation der Fernsehbotschaften durch Forscher und Zuschauer. Durch die Identifikation gemeinsamer Metabotschaften des Fernsehens lässt die Kultivierungsforschung die unterschiedlichen symbolischen Bedeutungen der Botschaften außer Acht: „The implications are that all viewers are ‚getting’ similar messages and that they get certain messages rather than others“ (Newcomb,
2.4 Klassische Kritik
33
1978: S. 268). Dabei wird vernachlässigt, dass die Botschaften des Fernsehens von den Zuschauern nicht zwangsläufig gleich aufgefasst, verstanden und interpretiert werden. Keine Sendung, geschweige denn alle Sendungen, kann nur die eine unumstößliche Bedeutung haben, die von allen Zuschauern identisch wahrgenommen wird. Dieses Problem zieht sich durch alle Stufen des Kultivierungsprozesses und zeigt sich bereits bei der Definition der relevanten Konstrukte (als Beispiel verweist Newcomb, 1978, auf Gerbners Gewaltdefinition9), bei der Interpretation und Identifikation der Fernsehbotschaften, genauso aber bei der Kultivierungsanalyse, in der die erhobenen Konstrukte unterschiedlich verstanden werden können. Die Tatsache, dass mediale Botschaften oder ganz allgemein Texte unterschiedliche Bedeutung haben können, ist nicht neu. Die gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften haben mit dieser Tatsache zu kämpfen. Letztlich müssen wir uns als Wissenschaftler zum einen darauf einigen, einen gewissen Grundkonsens an Bedeutungszuweisungen vorauszusetzen, wenn wir pragmatisch forschen wollen, müssen dabei aber zum anderen darauf achten, dass wir dort, wo Bedeutungszuweisungen unklar sind, durch Definitionen und adäquate Operationalisierungen der Konstrukte einen breiten und nachvollziehbaren Verständniskontext schaffen. Spezifisch für die Kultivierungsforschung ist jedoch das Problem der übergreifenden Botschaften im Fernsehen. Newcomb (1978) appellierte in diesem Zusammenhang an die Kultivierungsforscher, die Fernsehbotschaften genauer zu analysieren und bei der Identifikation und Interpretation der Botschaften Unterschiede zwischen Sendungen und Genres zu berücksichtigen. Wenn man bedenkt, dass in der neueren Kultivierungsforschung fast ausschließlich genrespezifische Kultivierungseffekte untersucht werden (vgl. Kapitel 4.1.2), so wird deutlich, dass diese Anregung durchaus richtungsweisend war. Im Zusammenhang mit der Analyse der Wahrnehmung der Zuschauer forderte Newcomb (1978): „ (…) we should all be open to the possibility that different members of the mass audience will attach different meanings to the same messages.” (S. 280) Methodisch liegt die Lösung für Newcomb in qualitativen Techniken (z.B. Ethnographie). Quantitative Umfragen sind für ihn nicht in der Lage, diese komplexen Informationen adäquat zu erfassen. Newcomb geht konform mit jenen, die fordern, Medienwirkungen mit den Mitteln der Triangulation zu erforschen, sprich in Mehrmethodendesigns, die quantitative und qualitative Verfahren verknüpfen, an die Fragen heranzugehen (vgl. z.B. Paus-Haase, Hasebrink, Mattusch, Keuneke & Krotz, 1999; vgl. auch Kapitel 2.4.7). Generell wird 9
Gerbner und Gross (1976) definierten Gewalt als „overt expression of physical force against self or other, compelling action against one’s will on pain of being hurt or killed, or actually hurting or killing.” (S. 184)
34
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
der Interpretation der Fernsehbotschaft bis heute jedoch nur wenig Beachtung geschenkt. Kapitel 4 setzt sich eingehend mit diesem Problem auseinander. Der qualitative Forschungsansatz zeigt jedoch nur einen möglichen Lösungsweg auf. Morgan und Shanahan (1997: S. 11) deuten einen anderen Ansatz an, der dem Problem der unterschiedlichen Bedeutungszuweisung Rechnung trägt: „The key distinction is not ‚humanism’ versus ‚social science’, or even ‚qualitative’ versus quantitative’; more simply, it is macro versus micro.” Obwohl Morgan und Shanahan (1997) somit gleichsam eine neue Differenzierungsdimension einführen (Makro- versus Mikroebene), brechen sie an dieser Stelle ihre Argumentation ab, vermutlich weil sie vorher deutlich gemacht hatten, dass sie sich für die Mikroebene letztlich nicht interessieren. Vielmehr geht es ihnen, bzw. den Kultivierungsforschern in der Tradition Gerbners, um die Makroebene, denn „Individual programs and variations in interpretation are intersting things to study, but cultivation research tries to illuminate broad patterns across large groups of people.” (ebd.: S. 11) Es ist jedoch nicht mehr neu, dass einige Kultivierungsforscher einen Lösungsansatz für diverse Probleme der Kultivierungsforschung genau darin sehen, sich mit der Mikroebene auseinander zu setzen und die dem Kultivierungseffekt zugrunde liegenden psychischen Prozesse zu erklären (vgl. z.B. Hawkins & Pingree, 1982; Hawkins, Pingree & Adler, 1987; Potter, 1991a; Shrum & O’Guinn, 1993; für eine detaillierte Ausführung vgl. Kapitel 3 und 6).
2.4.3
Mangelnde Kontrolle von Drittvariablen
Obwohl Gerbner et al. (1980a) ihre Befunde auch nach Konstanthalten diverser Rezipientenmerkmale bestätigt glaubten und die Kultivierungshypothese zur Abmilderung der Kritik von Doob und Macdonald (1979) um Mainstreaming und Resonanz erweiterten, war das Problem der mangelnden Kontrolle von Drittvariablen nicht aus der Welt. Kritisiert wurde zweierlei: Zum einen wurde den Autoren vorgeworfen, mit den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bildung lange nicht alle relevanten Drittvariablen kontrolliert zu haben. So zeigte Hughes (1980), dass die Kultivierungseffekte unter Einbeziehung der ethnischen Zugehörigkeit, der täglichen Arbeitszeit, des Einkommens, freiwilliger Vereinsmitgliedschaften, von Kirchenbesuchen und Einwohnerzahl der Heimatstadt nur in Einzelfällen stabil blieben, meist aber verschwanden oder sich gar umkehrten. Zum anderen sah sich die Gruppe um Gerbner aber auch mit dem Vorwurf konfrontiert, den Einfluss relevanter Drittvariablen nicht gemeinsam in multivariaten Analysen überprüft zu haben (vgl. Hughes, 1980). Stattdessen verglichen sie die
2.4 Klassische Kritik
35
Antworten der Viel- und Wenigseher jeweils einzeln innerhalb verschiedener soziodemographischer Gruppen (z.B. innerhalb zweier Altersgruppen; vgl. z.B. Gerbner & Gross, 1976: S. 192) oder ermittelten den Einfluss der Drittvariablen jeweils einzeln (!) in Partialkorrelationen (Gerbner, Gross, Eleey, Jackson-Beeck, Jeffries-Fox & Signorielli, 1977: S. 177). Hirsch (1980; 1981a; 1981b) und Hughes (1980) fanden durch die Verwendung multipler Regressionen heraus, dass die Kultivierungseffekte stark reduziert wurden oder sogar ganz verschwanden, wenn die Drittvariablen nicht einzeln, sondern in multivariaten Regressionen gleichzeitig konstant gehalten wurden. Gerbner reagierte insofern auf die Kritik, als er in weiteren Analysen sowohl weitere Drittvariablen mit einbezog als auch Partialkorrelationen für alle Kontrollvariablen zusammen rechnete oder gar Strukturgleichungsmodelle bemühte (s.u.). Vor allem aber sprachen die nach Kontrolle soziodemographischer Merkmale durchaus unterschiedlich ausfallenden Differenzen zwischen Viel- und Wenigsehern nach Gerbner nicht gegen die Kultivierungshypothese, sondern für die neu eingeführten Spezifizierungen Mainstreaming und Resonanz (vgl. Gerbner et al., 1980a). Insgesamt kann man der frühen Kultivierungsforschung nur bedingt vorwerfen, den Einfluss der Drittvariablen unzureichend kontrolliert zu haben. Multivariate statistische Verfahren waren durch mangelnde technische Möglichkeiten und den immensen Aufwand, der mit hierarchischen Regressionen verbunden war, noch weitaus weniger verbreitet, als das heute der Fall ist. Aus heutiger Sicht kann diese Kritik sicher als ausgeräumt gelten: Die Kontrolle soziodemographischer Variablen wie Alter, Geschlecht, Bildung, meist auch ethnische Zugehörigkeit (in US-Studien) und sozialer Status mittels hierarchischer Regressionen gehört zum Standardrepertoire von Kultivierungsstudien: In der Regel zeigt sich, dass multivariate Kontrollen die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung zwar schmälern, aber nicht vollkommen auslöschen (vgl. z.B. Davis & Mares, 1998; Cohen & Weimann, 2000; Rossmann, 2002). Auch hat sich das Repertoire kontrollierter Drittvariablen im Laufe der Zeit erweitert. Je nach Thema wurden zusätzliche Drittvariablen wie politisches Interesse (vgl. z.B. Atkin & Garramone, 1984; Mendelsohn & Nadeau, 1996; Schulz, 1998), politische Orientierung (vgl. z.B. Morgan, 1986; Romer, Jamieson & Aday, 2003) oder politische Einstellungen (vgl. z.B. Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1982; Mendelsohn & Nadeau, 1996), Religiosität (vgl. z.B. Kottak, 1991; Sparks, Nelson & Campbell, 1997; Cohen & Weimann, 2000), Familienstand (z.B. Morgan, 1983), Erziehungsstil der Eltern (z.B. Singer, Singer & Rapaczynski, 1984) oder Persönlichkeitsstruk-
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2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
tur (Tins, 2006) kontrolliert.10 Auch wurden zunehmend Drittvariablen einbezogen, die sich auf Fernsehnutzung und Wahrnehmung des Fernsehens beziehen, wie wahrgenommener Realitätsgrad, Glaubwürdigkeit, parasoziale Interaktion, Nutzungsmotive etc. Auf diese Merkmale gehen spätere Kapitel genauer ein.
2.4.4
Operationalisierung der Realitätseinschätzung
Ein weiterer Aspekt, der häufig diskutiert wurde, bezieht sich auf die Operationalisierung der Realitätseinschätzung. Häufigkeitseinschätzungen werden in Kultivierungsstudien auf unterschiedlichste Weise operationalisiert: Vorgabe zweier Antwortmöglichkeiten, bei Gerbner häufig Forced-Error-Fragen (keine der Antwortvorgaben entspricht der Realität oder Fernsehantwort), Vorgabe von mehr als zwei Antwortmöglichkeiten oder offene Abfrage ohne Antwortvorgaben. Die Diskussion um die validere Operationalisierung nahm ihren Ursprung mit einer Studie von Fox und Philliber (1978), die den Einfluss des von wohlhabenden Charakteren dominierten Fernsehens auf die Wahrnehmung von Reichtum in den USA untersuchten. Hierfür baten sie 595 Erwachsene einzuschätzen, wie viele Amerikaner ein Luxusauto besitzen, Mitglied in einem „Country Club“ sind oder sich einen eigenen Swimmingpool leisten können. Anders als Gerbner und Gross (1976) gaben sie keine Antwortmöglichkeiten vor, sondern ließen die Befragten offen einschätzen, auf wie viele von hundert Amerikanern die verschiedenen Aspekte zutreffen. Die Befunde zeigten zwar höhere Einschätzungen bei den Vielsehern, nach Kontrolle von sozialem Status und Bildungsgrad verschwanden diese jedoch, woraus die Autoren den Schluss zogen, dass das Fernsehen die Wahrnehmung von Reichtum nicht beeinflusse. Neben anderen Aspekten wurde an der Studie vor allem die Validität der offenen Abfrage der abhängigen Variablen kritisiert (vgl. Morgan & Shanahan, 1997: S. 14f.): Die auffallend hohen Einschätzungen deuten, so Morgan und Shanahan (1997: S. 14), auf die Antworttendenz hin, bei offenen Prozentfragen überdurchschnittlich hohe (oder niedrige) Antworten zu geben. Menschen mit niedriger Bildung und Vielseher geben grundsätzlich höhere Antworten, weshalb das Verschwinden der Kultivierungseffekte nach Kontrolle des Bildungsstandes nur konsequent sei. Als Beleg hierfür führen die Autoren eine Studie von Shrum,
10
Eine ausführliche Darstellung jedes dieser Merkmale würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. So wird etwa der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen in der vorliegenden Arbeit weitgehend ausgespart, um sich mehr auf die für die Informationsverarbeitung relevanten Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale kontrollieren zu können. Dies bedeutet nicht, dass die Merkmale keinen Einfluss haben.
2.4 Klassische Kritik
37
O’Guinn, Semenik und Faber (1991) an, die sowohl die Anzahl von Millionären als auch die Anzahl derer, die weniger als 15 000 Dollar verdienen, offen abfragten. Ein erhöhter Fernsehkonsum ging hier mit einer Überschätzung beider Indikatoren einher: „consistent with the notion that television portrays a world of extremes, high television viewers gave higher estimates for both the number of households making less than $15,000 as well as the number of millionaires.“ (ebd.: S. 760) Es ist also durchaus denkbar, dass die Überschätzung beider Indikatoren nicht auf die Darstellung im Fernsehen zurückgeht, sondern ein Indiz dafür ist, dass es den Befragten generell schwer fällt, Häufigkeitsangaben ohne eine gewisse Stütze durch Antwortvorgaben einzuschätzen. Die Schwierigkeit, alltägliches Verhalten offen einzuschätzen, zeigt sich auch in anderen Kontexten. So haben Rezipienten nachweislich Probleme damit, ihre Umschalthäufigkeit zu benennen (vgl. Ferguson, 1994), weshalb die in Umfragen ermittelte Umschalthäufigkeit im Vergleich zu valideren Messverfahren wie Selective-Exposure-Designs verzerrte Ergebnisse liefern (Rossmann, 2006). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Befragte sich ebenso schwer damit tun, die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, in ein Verbrechen involviert zu werden (Potter, 1994: S. 12). Dennoch zieht Potter (1991b; 1994) eine offene Abfrage den ursprünglich auf zwei Antwortvorgaben begrenzten geschlossenen Fragen vor: „This decision to use dichotomous measures of cultivation serves to obscure the underlying relationship“, so Potter (1991b: S. 567). Die Vorgabe lediglich zweier Antwortmöglichkeiten garantiere geradezu eine Antwortverzerrung. Nur Befragte, deren Einschätzung mit einer der beiden Antworten übereinstimme, können ihre tatsächliche Wahrnehmung angeben. Alle anderen müssen sie an eine der beiden Antwortvorgaben anpassen: „This can be easily avoided by leaving the answer choices open-ended, thus resulting in a continuous distribution, one that would be able to provide a clearer indicator of the nature of the underlying cultivation relationship.” (Potter, 1991b: S. 568) Noch kritischer als die Vorgabe von nur zwei Antwortmöglichkeiten ist die Verwendung falscher Antwortvorgaben, wie dies Gerbner und seine Kollegen in ihren Ursprungsstudien praktizierten. So fragten Gerbner et al. (1978) beispielsweise nach der Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden. Die Befragten hatten die Möglichkeit zwischen den beiden Antwortvorgaben „ungefähr 1 von 10“ und „ungefähr 1 von 100“ zu wählen.11 Die inhaltsanalytisch ermittelte Fernsehantwort belief sich jedoch auf 30 bis 64 Prozent, die auf Zahlen des „U.S. Census“ basierende Realitätsantwort auf lediglich 0,3 Prozent (vgl. Gerbner et al., 11
Die Formulierung im Original: „During any given week, what are your chances of being involved in some kind of violence? About one in ten? About one in a hundred?” (Gerbner et al., 1978 : S. 195)
38
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
1978: S. 194). Eine Begründung für die Verwendung solcher „forced-error questions“ (vgl. Morgan & Shanahan, 1997: S. 8) blieben die Forscher dem Leser jedoch schuldig.12 Dies erscheint auch deshalb seltsam, weil sie die Ermittlung der Fernsehantwort nachgerade minutiös darstellen. „If the researchers brought their cultivation categories more in line with the results of their content analysis, the closer correspondence would provide greater credibility to their categories.” (Potter, 1991b: S. 568) Potter (1991b; 1994) bevorzugt daher die Verwendung offener Fragen. Auch viele andere Kultivierungsforscher haben sich dazu entschieden, die Einschätzungen der Rezipienten offen abzufragen. So fragten Hawkins et al. (1987) etwa, wie hoch auf einer Skala von 1 bis 100 die Wahrscheinlichkeit ist, in ein Verbrechen verwickelt zu werden (ähnlich Fox & Philliber, 1978; vgl. auch Potter, 1986) und wie viel Prozent aller berufstätigen Männer in der Verbrechensbekämpfung arbeiten. Perse (1986) fragte in ihrer Studie zum Einfluss von Soap Operas auf die Realitätswahrnehmung, wie viele von 100 Frauen bzw. Männern Ärzte oder Rechtsanwälte sind, wie viele den Haushalt machen, geschieden sind oder uneheliche Kinder haben (vgl. auch Buerkel-Rothfuss & Mayes, 1981; Carveth & Alexander, 1985). Pfau, Mullen, Deidrich & Garrow (1995a) und Pfau, Mullen & Garrow (1995b) baten die Befragten in ihren Kultivierungsstudien zum Bild von Ärzten und Rechtsanwälten einzuschätzen, wie viel Prozent aller Ärzte bzw. Rechtsanwälte männlich, weiß und unter 37 Jahre alt sind und wie viel Prozent der sozialen Oberschicht angehören. Auch im Zusammenhang mit anderen Wirkungstheorien ist die offene Abfrage von Prozentzahlen verbreitet. So wird etwa das wahrgenommene Meinungsklima in der Fallbeispielforschung (vgl. auch Kapitel 7.4.1) in der Regel offen abgefragt: z.B. „Was glauben Sie, wie viel Prozent der Studenten sind mit dem Service der UB unzufrieden?“ oder auch „Wieviel Prozent der Studenten, meinen Sie, finden es schlecht, daß neue Literatur nicht verfügbar ist?“ (vgl. Daschmann, 2001: S. 181) Auch einzuschätzende Häufigkeit, die den üblichen Kultivierungsfragen noch ähnlicher sind, werden hier meist offen abgefragt. So bat Daschmann (2001: S. 292) seine Probanden beispielsweise, die monatlich durchschnittliche Häufigkeit von Reisebusunfällen auf italienischen Straßen einzuschätzen (offene Abfrage absoluter Zahlen) und anzugeben, wie viel Prozent der Unfälle durch Übermüdung der Fahrer verursacht werden. Zillmann, Perkins und Sunar (1992) baten ihre Befragten, den Anteil der Personen zu schätzen, die nach einer Diät wieder zu12
Morgan & Shanahan (1997: S. 8) verweisen zwar auf die lange Tradition solcher Maße in der sozialpsychologischen Forschung, liefern jedoch ebenfalls keine klare Begründung, warum dieses Maß sich gerade für die Kultivierungsforschung eignet.
2.4 Klassische Kritik
39
nehmen. Gibson und Zillmann (1994: S. 13) forderten die Probanden auf einzuschätzen, wie viele von hundert Leuten, die in Autoentführungen verwickelt sind, keine/kleinere/ernsthafte Verletzungen davontragen oder sterben, wobei die Gesamtsumme dieser Antworten insgesamt 100 ergeben musste. Einige deutsche Studien aus der Fallbeispielforschung präsentierten den Probanden im Fragebogen ein Maßband, das ähnlich der Skalierung eines Meterstabs von 0 bis 100 reichte und die Zehnerschritte graphisch hervorhob (vgl. Abbildung 2). Diese Visualisierung sollte es den Probanden ermöglichen, intuitiv zu urteilen. Zudem sollte damit verhindert werden, dass die Varianz, die ohne Visualisierung durch Auf- oder Abrunden der Antworten eher entstünde, verloren geht (vgl. z.B. Daschmann, 2001: S. 181f.). Diese Vorgehensweise wäre bei offener Abfrage von Einschätzungsmerkmalen auch für Kultivierungsfragen hilfreich und würde vermutlich zu valideren Ergebnissen führen.
Abbildung 2: Visualisierung zur „offenen“ Abfrage von Prozentanteilen
Quelle: Eigene Darstellung.
Eine weitere Möglichkeit, die Abfrage der Realitätseinschätzung zu verbessern, liegt in einem Mittelweg zwischen der Vorgabe zweier Antwortmöglichkeiten und offenen Fragen: So konstruierte Rossmann (2002) in ihrer Studie zum Einfluss von Krankenhausserien auf die Wahrnehmung von Ärzten, Pflegepersonal, Patienten und Krankheiten aus den inhaltsanalytisch ermittelten Fernsehantworten und den aus Realitätsdaten ermittelten Realitätsantworten fünf- bis sechsstufige Skalen. Mit diesen Skalen waren die Rezipienten in ihren Antworten weitaus weniger eingeschränkt, als dies bei nur zwei Antwortvorgaben der Fall ist, gleichzeitig setzten die Vorgaben einen gewissen Rahmen, wodurch die Einschätzungen nicht allzu weit am realistischen Maß vorbeigehen und unverhältnismäßig weit streuen würden. Die Abstände der Zahlenvorgaben wurden dabei bewusst gleich gehalten, damit die Skalen dennoch als quasimetrisch aufgefasst werden konnten. Zudem wurden die Vorgaben so gewählt, dass sie weder die Realitätsantwort noch die Fernsehantwort begünstigten, um möglichen Antwortverzerrungen vorzubeugen. Die Zahlen, die der Realität entsprachen, und die, die der Fernsehdarstellung entsprachen, wurden
40
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
also jeweils symmetrisch angeordnet und waren somit gleich weit vom Skalenmittelpunkt entfernt. Abbildung 3 stellt diese Vorgehensweise am Beispiel zweier Kultivierungsfragen dar (vgl. Rossmann, 2002: S. 95).
Abbildung 3: Struktur der Antwortvorgaben zu Kultivierungsfragen erster Ordnung Realitätsantwort
TV-Antwort
Nun geht es um Patienten in deutschen Krankenhäusern ganz allgemein. Dabei geht es mir nicht darum, ob Sie die richtige Antwort wissen. Sie sollen einfach schätzen. Was glauben Sie also, wie viele Patienten sind Männer? Sie haben mehrere Möglichkeiten zur Auswahl. Kreuzen Sie bitte in dem grauen Feld die Zahl an, die Ihrer Meinung nach am ehesten zutrifft. Von 100 Patienten in deutschen Krankenhäusern sind... 30 ------ 40 ------ 50 ------ 60 ------ 70 ------ 80
männlich.1
Was schätzen Sie, wie alt sind Krankenhauspatienten durchschnittlich? Kreuzen Sie bitte wieder die Zahl an, die Ihrer Einschätzung nach am ehesten zutrifft. Krankenhauspatienten sind durchschnittlich... 30 ------ 35 ------ 40 ------ 45 ------ 50 ------ 55
Jahre alt.2
1
Die Realitätsantwort lag bei 45 Prozent, die Fernsehantwort bei 63 (vgl. Rossmann, 2002: S. 79). Die Realitätsantwort lag bei 48 Jahren, die Fernsehantwort bei 36 (vgl. ebd.: S. 78). Quelle: Rossmann, 2002: S. 95.
2
Die Ergebnisse der Studie deuteten darauf hin, dass diese Operationalisierung Kultivierungseffekte möglicherweise vermindert. So zeigte sich lediglich bei einer von elf Kultivierungsfragen erster Ordnung13 ein signifikanter Kultivierungseffekt (Einschätzung des Patientenalters), während die Zusammenhänge bei den restlichen zehn Items zwar der erwarteten Richtung entsprachen, aber zu schwach waren, um einen signifikanten Effekt nachzuweisen. Dennoch wurde diese Vorgehensweise in einigen weiteren Studien beibehalten (vgl. z.B. Minkewitz, 2003). Auch hier zeigten sich jedoch nur vereinzelt signifikante Zusammenhänge der 13
Kultivierung erster Ordnung bezieht sich auf die Einschätzung von Häufigkeiten verschiedener Ereignisse (z.B. Verbrechen, Morde, Krankheiten) oder soziodemographischer Merkmale (z.B. Geschlechtsverteilung, Alter). Kultivierung zweiter Ordnung bezieht sich auf die Kultivierung von Einstellungen, Bewertungen und Wertvorstellungen (hierzu ausführlicher Kapitel 3.1.2).
2.4 Klassische Kritik
41
Genrenutzung mit den verschiedenen Einschätzungsmerkmalen wie Geschlechterverteilung bei Ärzten, Soziodemographie der Patienten und Krankheitshäufigkeiten (vgl. Minkewitz, 2003: S. 84). Auch Thym (2003) griff bei der Operationalisierung der Kultivierungsfragen erster Ordnung in ihrer Studie zur Kultivierung durch Gerichtsshows auf jeweils fünf Antwortvorgaben zurück. Anders als in den beiden vorhergehenden Studien decken die Antwortvorgaben die Realitätsantwort nicht mit ab, sondern stellen jeweils eine Überschätzung oder Unterschätzung der realen Verhältnisse dar, da verhindert werden sollte, dass den Befragten durch zu große Antwortdifferenzen eine der Möglichkeiten als besonders wahrscheinlich erschien (vgl. Thym, 2003: S. 56). Dennoch zeigt sich auch hier nur bei einem von fünf erhobenen Einschätzungsmerkmalen ein signifikanter Kultivierungseffekt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die beiden klassischen Varianten zur Ermittlung der Realitätseinschätzung („forced choice“ genauso wie die offene Abfrage) Kultivierungseffekte eher begünstigen: die Vorgabe von nur zwei Antwortmöglichkeiten etwa dadurch, dass die Zuschauer möglicherweise leichter in eine bestimmte Richtung gelenkt werden können, die offene Abfrage durch eine im Vergleich zu mehreren (realistischen) Antwortvorgaben erhöhte Antwortvarianz. Deshalb wurden am Institut für Kommunikationswissenschaft in München im Rahmen zweier Kultivierungsstudien Methodenexperimente durchgeführt, die diese Vermutung im Split-Ballot-Verfahren überprüfen sollten. Die erste der beiden Studien wurde im Rahmen einer Lehrveranstaltung zur Kultivierungsforschung im Wintersemester 02/03 unter der Leitung der Verfasserin durchgeführt und befasste sich mit dem Einfluss von Genres bzw. Sendungen, die häufig von Jugendlichen rezipiert werden (Gerichtsshows, Talkshows, Castingshows, Daily Soaps und die Simpsons14) auf ihre Realitätswahrnehmung. Insgesamt 510 Jugendliche im Alter von 13 bis 20 Jahren wurden hierfür an Haupt-, Real- und Berufsschulen sowie Gymnasien und Universitäten rekrutiert und mit einem standardisierten Fragebogen schriftlich befragt. Für das Methodenexperiment wurden zwei Fragebogenversionen erstellt, von denen die eine die Einschätzungsfragen offen erfasste, die andere jeweils fünf Antwortvorgaben vorgab.15 Die Interviewer waren angehalten, die beiden Versionen abwechselnd auszuteilen, so dass die Experimentalgruppen jeweils exakt 50 Prozent der Gesamtstichprobe (n=255) repräsentieren.
14
15
Die Serie „Die Simpsons“ wurde bewusst als einzelne Sendung mit einbezogen, da sie sich weder inhaltlich noch in Bezug auf ihr Zielpublikum in ein Genre wie Zeichentrick-Serien einordnen lässt. So wurde beispielsweise gefragt: „Wie hoch ist der Anteil berufstätiger Frauen in Deutschland? Von 100 Frauen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren sind ungefähr ... Frauen berufstätig.“, wobei die geschlossene Version anstelle der Punkte fünf Antwortvorgaben präsentierte (20, 30, 40, 50, 60), während in der offenen Version ein Feld zum freien Eintragen der Antwort eingefügt war.
42
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Bereits der Vergleich der Mittelwerte zeigt deutliche Unterschiede in den Antworten. So ist nicht nur die Streuung bei der offenen Abfrage deutlich höher. Auch die Mittelwerte liegen bei der offenen Abfrage fast durchgängig signifikant über den Antwortmittelwerten der geschlossenen Abfrage (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Methodenexperiment I: offene vs. geschlossene Abfrage der Realitätseinschätzung (Mittelwertvergleich) geschlossen (n=255) Std.AM Abw. Berufstätige in der Justiz (v. 100) Wahrscheinlichkeit v. Gewalttaten (v. 100) gewalttätige Straftaten (v. 100) verurteilte Angeklagter (v. 100) Körperverletzungen an Anklagen (v. 100) berufstätige Frauen (v. 100) berufstätige Männer (v. 100) Bierkonsum BRD (0,5l/ Woche) Bierkonsum USA (0,5l/ Woche) TV-Konsum BRD (St./ Werktag) TV-Konsum USA (St./ Werktag) Berufstätige in Medienberufen (v. 100) Berufstätige in Musikbranche (v. 100) Berufstätige in Handwerksberufen (v. 100) Anteil geschiedener Ehepaare (v. 100) Homosexuelle (v. 100) Schwangere Teenager (v. 1 000) Transsexuelle (v. 100 000)
3,35 3,42 31,60 63,90 32,21 44,58 80,98 7,20 6,33 3,35 4,05 28,10 32,73 2,91 41,51 9,65 16,98 3,34
3,23 1,35 11,51 10,15 10,20 9,63 9,65 6,46 10,00 1,07 1,05 6,49 6,33 2,85 11,82 5,09 15,78 1,29
offen (n=255) Std.AM Abw. 19,31 35,48 46,32 59,23 46,48 53,53 76,97 13,85 8,15 4,18 6,24 26,40 39,80 18,30 49,92 21,24 274,05 5987,35
18,88 29,74 26,72 22,06 22,64 16,51 14,91 64,31 12,62 3,08 4,23 21,87 23,05 23,22 19,41 18,26 684,30 17138,68
t-Wert 13,04** 17,03** 8,01** 3,05* 9,09** 7,42** 3,57** 1,61 1,78 3,86** 7,64** 1,18 4,69** 10,40** 5,88** 9,69** 5,91** 5,50**
Basis: n=510, * p< 0,05; ** p<0,01
Nun ist dieses Ergebnis an sich noch nicht besonders aussagekräftig, wenn es um die Frage geht, ob eine der beiden Versionen die Messung von Kultivierungseffekten begünstigt. Tatsächlich zeigt aber auch eine Gegenüberstellung der Partialkorrelationen (Alter, Geschlecht und Bildung auspartialisiert) deutlich abweichende Zusammenhänge zwischen Realitätseinschätzung und Genrenutzung. Insgesamt lassen sich bei der offenen Version bei fünf von 20 Items signifikante Kultivierungseffekte erster Ordnung nachweisen, bei der geschlossenen Abfrage ist nur einer von 20 Zusammenhängen signifikant (vgl. Tabelle 2).
43
2.4 Klassische Kritik
Tabelle 2: Methodenexperiment I: offene vs. geschlossene Abfrage der Realitätseinschätzung (Partialkorrelationen) Version geschlossen (r =)
Version offen (r =)
Gerichtsshows Anteil Berufstätiger in der Justiz (von 100) Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten (von 100) Anteil gewalttätiger Straftaten an Gewalttaten (von 100) Anteil verurteilter Angeklagter (von 100) Anteil Köperverletzungen an Anklagen (von 100)
0,03 0,11 -0,02 0,05 -0,01
0,20 ** 0, 06 0,16 ** 0,06 0, 22**
Simpsons Anteil berufstätiger Frauen (von 100) Anteil berufstätiger Männer (von 100) Bierkonsum BRD (0,5l/ Woche) Bierkonsum USA (0,5l/ Woche) TV-Konsum BRD (St./ Werktag) TV-Konsum USA (St./ Werktag)
0,08 0,09 0,07 -0,01 0,07 0,05
-0,02 -0,13 -0,12 0,09 -0,02 0,07
Anteil berufstätiger Frauen (von 100) Anteil berufstätiger Männer (von 100) Anteil Berufstätiger in Medienbranche (von 100) Anteil Berufstätiger in Handwerksberufen (von 100)
0,04 0,03 -0,04 -0,05
-0,02 0,07 0,20** 0,08
Castingshows Anteil Berufstätiger in Musikbranche (von 100)
0,11
0,11
0,07 0,10 -0,02 0, 24**
0,16* 0,17* 0,06 0,09
Daily Soaps
Talkshows Anteil geschiedener Ehepaare (von 100) Homosexuelle (von 100) Schwangere Teenager (von 1 000) Transsexuelle (von 100 000)
Basis: geschlossen (n=243-247), offen (n=204-237), * p< 0,05; ** p<0,01, zweiseitige Partialkorrelationen: Alter, Geschlecht, Bildung auspartialisiert, fett markiert: signifikante Zusammenhänge in der erwarteten Richtung
Auch Schoenwald (2003) integrierte in ihre Studie zum Einfluss des Fernsehens auf die Einstellung zu Schönheitsoperationen ein Methodenexperiment, um zu überprüfen, ob die Art der Fragestellung bei der Erhebung der Einschätzungsfragen die Ergebnisse beeinflusst. Im Einzelnen sollten die Befragten die Anzahl jährlich in Deutschland durchgeführter Schönheitsoperationen, den Anteil männlicher Patienten, die sich einer Schönheitsoperation unterziehen, und den Anteil derer, die mit dem Behandlungsergebnis unzufrieden sind, je nach Fragebogenversion entweder offen oder geschlossen beantworten. Die Mittelwertvergleiche zeigen ein weniger klares Bild als in der ersten Studie: So lässt sich kein Mittelwertunterschied beim
44
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Anteil männlicher und beim Anteil unzufriedener Patienten feststellen. Nur die Einschätzungen der Operationshäufigkeiten wichen je nach Art der Fragestellung signifikant voneinander ab: Hier sind es jedoch diejenigen, die die Frage offen beantworteten, die deutlich unter dem Mittelwert liegen. Offenbar fällt es den Rezipienten schwer, bei hohen Zahlen im sechsstelligen Bereich überhaupt eine valide Einschätzung anzugeben: Die Antworten auf die offen gestellte Frage rangierten zwischen 1 000 und drei Millionen schönheitschirurgische Eingriffe pro Jahr (vgl. Schoenwald, 2003: S. 60). Dieses Bild bestätigt sich, wenn man die Korrelationen mit der Fernsehnutzung (hier Nutzung von Magazinsendungen und der Beautyklinik) getrennt für beide Gruppen ausweist (vgl. Tabelle 3).16
Tabelle 3:
Methodenexperiment II: offene vs. geschlossene Abfrage der Realitätseinschätzung (Partialkorrelationen)
Kultivierung erster Ordnung
Version geschlossen (r =)
Version offen (r =)
0,04 0,12 -0,03
0,01 0,10 -0,04
Beautyklinik Anzahl: Schönheitsoperationen Anteil männlicher Patienten Anteil unzufriedener Patienten Magazin-Index Anzahl: Schönheitsoperationen Anteil männlicher Patienten Anteil unzufriedener Patienten
0,22** 0,07 0,05
0,01 0,12 0,04
zweiseitige Partialkorrelationen: Alter, Geschlecht, Bildung auspartialisiert Basis: geschlossen (n= 151), offen (n=123), * p< 0,05; ** p<0,01; fett markiert: signifikante Zusammenhänge in der erwarteten Richtung
In diesem Fall ist es nicht die offene Fragestellung, die einen signifikanten Zusammenhang begünstigt, sondern die geschlossene Version. Somit lässt sich aus den beiden dargestellten Studien kein endgültiger Schluss ziehen. Gerade die letzte Studie deutet jedoch darauf hin, dass die Validität der Angaben gerade bei sehr hohen Zahlen, die über den Prozentbereich hinausgehen, deutlich abnimmt. In diesem Fall scheint es angebracht, den Antwortbereich auf ein gewisses Maß einzuschränken. Abgesehen davon deutet das erste der beiden Methodenexperimente tatsächlich darauf hin, dass die offene Abfrage Kultivierungseffekte begüns16
Schoenwald (2003) weist in ihrer Arbeit zwar den Mittelwertvergleich aus, nicht jedoch einen Vergleich der Korrelationskoeffizienten, weshalb die Daten für die vorliegende Diskussion sekundäranalysiert wurden.
2.4 Klassische Kritik
45
tigt; anders ausgedrückt: die Beschränkung der Antwortvorgaben auf einen zu niedrigen Bereich könnte dazu führen, dass die Varianz zu niedrig ist, um Unterschiede zwischen Viel- und Wenigsehern festzustellen. Außer Frage steht zumindest, dass die offene Abfrage (zumindest bei einem auf einhundert beschränkten Bereich) im Vergleich zur Vorgabe von nur zwei Antwortmöglichkeiten, zumal solchen, die die Befragten zu falschen Angaben zwingt, das validere Maß darstellt. Ohnehin kann man gegen Antwortvorgaben einwenden, dass die offene Abfrage in ihrer Bedeutung für den Lebensalltag letztlich vielleicht das einzig valide Maß darstellt. Schließlich gibt es auch dann keine Antwortvorgaben, wenn wir uns im Alltag darüber Gedanken machen, wie häufig in unserer Nachbarschaft Raubüberfälle verübt werden, wie hoch die Anteile von Männern und Frauen in verschiedenen Berufen wohl sein mögen oder wie häufig bestimmte Krankheiten auftreten.
2.4.5
Nonlinearität der Zusammenhänge
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf den statistischen Umgang mit der Fernsehnutzungsvariable. Während Gerbner und Kollegen die Rezipienten aufgrund ihrer Fernsehnutzung in der Regel in zwei, später in drei annähernd gleich große Gruppen unterteilten und die Antworten der Wenig- und Vielseher miteinander verglichen, bildete Hirsch (1980) mehr als drei Gruppen. So konnte er zeigen, dass die Gruppe der Extrem-Vielseher weniger ängstlich war als die Gruppe der Vielseher und die Gruppe der Nichtseher ängstlicher als die der Wenigseher. Ein streng linearer, monotoner Zusammenhang konnte nicht nachgewiesen werden. Problematisch ist, dass die Unterteilung in mehr als drei Gruppen sehr kleine Fallzahlen zur Folge hatte (jeweils vier Prozent der Stichprobe in den Extremgruppen Nichtseher und Extrem-Vielseher). Hawkins und Pingree (1982) wiesen zudem darauf hin, dass sich die Personen der beiden Extremgruppen ganz generell von der restlichen Stichprobe abhoben17 und sich deshalb auch in einigen relevanten Drittvariablen von den anderen Gruppen unterscheiden dürften. Sie folgerten, „that ascribing their scores to a failure of the television influence hypothesis seems to us unreasonable.“ (Hawkins & Pingree, 1982: S. 235). Hughes (1980) zeigte jedoch genauso wie Hawkins und Pingree (1982), dass die Zusammenhänge nach Kontrolle von Drittvariablen schon bei drei Gruppen nicht monoton waren. 17
So verfügen Nichtseher, die es auch heute in jeder Gesellschaft gibt, über besondere Merkmalskombinationen, durch die sie sich auch in sämtlichen anderen Merkmalen von den Fernsehzuschauern unterscheiden (vgl. Sicking, 2000; Hintz, 2003).
46
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Potter (1991b) setzte sich in weiteren Analysen mit dem Linearitätsproblem auseinander und kritisierte, dass die Frage, ob bei drei Gruppen monoton lineare Verläufe zu beobachten sind, allein von der Grenzziehung zwischen den Gruppen abhängen kann: Gerbner und seine Kollegen betrachteten die Fernsehnutzung als relatives Maß, weshalb sie Wenig-, Mittel- und Vielseher jeweils auf Basis einer groben Einteilung in Drei-Stunden-Schritte für jede Stichprobe neu bestimmten: „What is important is that there are basic differences in viewing levels, not the actual or specific amount of viewing.“ (Morgan & Signorielli, 1990: S. 20). Dadurch verschiebt sich jedoch, so Potter (1991b), die Grenzziehung zwischen den Gruppen für jede Stichprobe erneut: Während in der einen Studie diejenigen, die vier Stunden und mehr fernsahen, als Vielseher aufgefasst wurden, waren dies in einer nächsten Studie diejenigen, die sechs Stunden und mehr fernsahen; in einer dritten Studie schließlich wurden einfach jene als Vielseher verstanden, die angaben, „häufig“ fernzusehen (ebd.: S. 566). Tatsächlich muss man der Gerbner’schen Argumentation Recht geben, wenn er konstatiert, dass jeder Versuch, absolute Grenzen für Vielseher zu ziehen oder absolute Stichprobenanteile anzugeben, zum Scheitern verurteilt ist, wenn diese Standards auf Stichproben verschiedener Altersgruppen angewendet werden (Gerbner, Gross, Morgan & Signorielli, 1981a: S. 46). Spätestens wenn man an Kultivierungsstudien zum Einfluss einzelner Genres wie etwa Soap Operas, Talkshows, Gerichtsshows etc. denkt (vgl. Kapitel 4.1.2), wird offensichtlich, dass eine Festlegung einer Mindestanzahl gesehener Stunden für die Definition von Vielsehern vollkommen unpraktikabel ist. So schließen Gerbner et. al (1981a): „In any case, we see self-reported viewing primarily as a useful ranking device and do not focus on specific hours of exposure.” (S. 46) Dennoch, die jeweils neue Einteilung in Wenig-, Mittel- und Vielseher mit dem Argument, dass ohnehin nur der Vergleich, nicht aber absolute Stundenzahlen zählen, ist letztlich nur unter der Voraussetzung zulässig, dass es einen monoton linearen Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung gibt. Sonst bleibt der Verdacht der Willkür (vgl. Potter, 1991b: S. 567). Eine Lösung des Problems scheint darin zu liegen, die unabhängige Variable nicht zu gruppieren, sondern als metrische Variable in die Rechnung einfließen zu lassen: „The groupings are helpful for illustrative purposes, and our increasing use of continuous data bypasses the problem completely.” (Gerbner et al., 1981a: S. 46) Eine Reihe von Forschern sah dies genauso und operationalisierte die Fernsehnutzung als metrische Variable. So entfiel nicht nur die Problematik der Gruppeneinteilung. Es waren auch weitaus elaboriertere statistische Verfahren wie Regressionen einsetzbar. Voraussetzung für die Zulässigkeit dieses Verfahrens ist, dass die beteiligten Variablen normalverteilt sind (was bei der Fernsehnutzung problema-
2.4 Klassische Kritik
47
tisch ist; vgl. z.B. Potter, 1991b). Zum anderen basieren die Pearson’schen Korrelationen ebenfalls auf der Annahme, dass die beteiligten Variablen lineare Zusammenhänge aufweisen. Ist dies nicht der Fall, fallen die Korrelationskoeffizienten sehr klein aus – was evtl. die signifikanten, aber kleinen Kultivierungszusammenhänge erklären könnte (vgl. Potter, 1991b: S. 570). Vor diesem Hintergrund überprüfte Potter (1991b) die Linearität der Zusammenhänge. Stichprobe waren 308 Schüler der achten bis zwölften Klasse, die im November 1987 einen ersten Fragebogen zur Erfassung psychologischer Variablen und ihres Fernsehnutzungsverhalten erhielten. Drei Monate später wurden in einem zweiten Fragebogen Einschätzungen und Einstellungen zu Gesetz, Reichtum, Gesundheit und berufstätigen Frauen erhoben. Sowohl die Kultivierungsmaße als auch die Fernsehnutzung wurden zunächst auf ihre Normalverteilung hin getestet – mit dem Ergebnis, dass nur zwei der abhängigen Variablen (Reichtum und berufstätige Frauen) normalverteilt waren, wohingegen v.a. die Verteilung der Fernsehnutzung deutlich davon abwich. Für die weiteren Tests wurden daher gruppierte Maße eingeführt: Für die unabhängige Variable wurden Perzentile, Quintile, Standardabweichung und eine konkrete Stundenangabe (0 bis 17,5 Stunden pro Woche: Wenigseher, 17,6 bis 24,5: Mittelseher und 24,6 und mehr: Vielseher) als Gruppierungskriterien festgelegt. Die abhängigen Variablen wurden auf Basis von Perzentilen, Quintilen, Staninen und Standardabweichung gruppiert. Für jede abhängige Variable wurden anschließend die Mittelwerte zwischen den verschiedenen Gruppen und Gruppierungsarten verglichen, im nächsten Schritt jeweils die Korrelationskoeffizienten innerhalb der verschiedenen Gruppen und Gruppierungsarten gerechnet sowie multiple Regressionen zur Kontrolle der soziodemographischen Merkmale. Der Vergleich der Mittelwerte über die verschiedenen Gruppen hinweg zeigt insgesamt deutliche Abweichungen von monoton linearen Zusammenhängen. Auch die Koeffizienten innerhalb der einzelnen Gruppen wichen zum Teil sehr stark von den Zusammenhängen der Gesamtstichprobe ab oder kehrten sich sogar um: „This leads to the conclusion that either the cultivation effect is substantially random because the research has been able to explain so little of the variance or the cultivation effect operates according to a pattern more complex than we have been able to document with the methods used to date.” (Potter, 1991b: S. 580)
Potter (1991b) stellt den Kultivierungseffekt aber nicht grundsätzlich in Frage: „There is a consistent pattern of weak relationships between television exposure (regardless of how it is measured) and cultivation (on many different topics and regardless of how it is measured.” (ebd.: S. 581) Er plädiert aber dafür, dass einige
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2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
konzeptuelle Perspektiven und methodische Vorgehensweisen geändert werden müssen, um das Phänomen besser zu erklären: Kultivierungsforscher sollten akzeptieren, dass die Zusammenhänge nicht linear sind, und daher versuchen, andere Muster zu identifizieren und diese zu erklären.18 Einer der wenigen Versuche, diese theoretisch zu erklären, findet sich in dem von Tapper (1995) entwickelten Modell „The Ecology of Cultivation“, welches in Kapitel 6.2.3 genauer vorgestellt wird. Wie Potter (1991b) ging der Autor davon aus, dass viele der beobachteten Anomalien (nonlineare Zusammenhänge, Zusammenhänge in der entgegengesetzten Richtung, vgl. auch Kapitel 2.4.6, asymmetrische Zusammenhänge, vgl. auch Kapitel 2.4.7) von einer Unterspezifizierung der Kultivierungshypothese herrühren, sich aber durch Berücksichtigung einiger psychologischer Variablen wie Involvement erklären ließen (Tapper, 1995: S. 51). Am Beispiel von Polizeiserien verdeutlicht er, wie sich nonlineare Zusammenhänge durch die Einbeziehung verschiedener Involvementgrade erklären lassen (zur Bedeutung des Involvement vgl. auch Kapitel 5.5): Nach der Kultivierungshypothese überschätzen Vielseher von Polizeiserien das Gewaltpotenzial ihrer Umwelt, Wenigseher unterschätzen es. Das Involvement könnte auch umgekehrte Effekte erklären: Rezipienten, die sich grundsätzlich für die Arbeit der Polizei interessieren und die Serien mit hohem Involvement rezipieren, werden die Inhalte ganz anders verarbeiten als uninvolvierte Rezipienten, die Polizeiserien oberflächlich als Reflexion der gefährlichen Realität wahrnehmen und somit das Gewaltpotenzial überschätzen: Involvierte Rezipienten dürften den Kontext der Serien verstehen und 18
Auch Potters (1991b) Studie ist allerdings in mehreren Punkten angreifbar. (1) Potter fragte zunächst die Fernsehnutzung der Schüler ab, wodurch den Schülern bei der Abfrage ihrer Realitätsurteile das Fernsehen als relevante Quelle gegenwärtig gewesen sein dürfte. Zwar lagen zwischen Erhebung von Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung drei Monate, doch dürfte dieser Abstand kaum ausreichen, um sicher zu stellen, dass die Schüler die Fragen des ersten Fragebogens bereits vergessen hatten. (2) Auch die Erhebung der allgemeinen Fernsehnutzung selbst ist nicht ganz unkritisch: Die Schüler sollten angeben, wie viele Stunden pro Woche sie zwölf bestimmte Genres sahen: Sitcoms, Action und Abenteuer, Serien im Abendprogramm, Serien im Nachmittagsprogramm, Nachrichten, Spielfilme, Sport, Talkshows, Musik, Gameshows, Zeichentrick und andere. Die gesamte Fernsehnutzung wurde aus der Summe der Genrenutzung errechnet, was ein durchaus problematisches Maß darstellen dürfte: Die Liste ist durch die Restkategorie zwar vollständig, aber dadurch, dass nicht alle Genres explizit genannt werden (z.B. Dokumentarfilme) und die Kategorien nicht trennscharf sind (z.B. Action und Abenteuer und Spielfilme), sind Verzerrungen sehr wahrscheinlich. Gerade in einer Studie, in der der statistische Umgang mit der unabhängigen Variablen eine zentrale Rolle spielt, sollte doch auf die Erhebung derselben erhöhter Wert gelegt werden. (3) Die Berechnung von Korrelationen innerhalb von Gruppen, die bei einer Stichprobe von n=308 und einer Unterteilung in neun Subgruppen im Durchschnitt nur 34 Befragte enthielten, ist nicht unproblematisch. Die Abweichungen der Korrelationskoeffizienten dürften nicht nur darauf zurückzuführen sein, dass die Zusammenhänge nicht monoton sind, sondern größtenteils darauf, dass die Vielzahl der Korrelationen, von der Alpha-Fehler-Inflationierung ganz zu schweigen, auf Basis so kleiner Fallzahlen häufig nur zufällige Ergebnisse produzieren.
2.4 Klassische Kritik
49
die in Polizeiserien eingesetzte Gewalt als Mittel gegen die Kriminalität interpretieren und somit das Gewaltpotenzial in der Realität letztlich unterschätzen. Die Zusammenführung beider Prozesse – positive Zusammenhänge aufgrund der Nutzungshäufigkeit, negative Zusammenhänge aufgrund des Involvement – könnte die beobachteten kurvilinearen Zusammenhänge erklären. Tappers (1995) Modell ist bisher nicht empirisch überprüft worden, es gibt aber zahlreiche Hinweise darauf, dass psychologische Faktoren wie Involvement eine zentrale Rolle dabei spielen, die Prozesse, die dem Kultivierungseffekt zugrunde liegen, und ihre Anomalien zu erklären. Kapitel 6 geht auf diese Aspekte genauer ein. Ein weiteres Problem, das sich im Zusammenhang mit der Anwendung von Pearson’schen Korrelationen und linearen Regressionen für normalverteilte Variablen in der Kultivierungsforschung stellt, ist die Tatsache, dass die beteiligten Variablen (Fernsehnutzung und Realitätsurteile) häufig nicht normalverteilt sind. Dieses Problem berücksichtigten etwa Diefenbach und West (2001), die in ihrer Kultivierungsstudie zum Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung auf die Wahrnehmung von Verbrechenshäufigkeiten auf Basis herkömmlicher Regressionsanalysen zunächst keinen Zusammenhang feststellen konnten. Eine Linearitätsanalyse der abhängigen Variablen zeigte, dass beide Merkmale (geschätzte Anzahl ermordeter Personen und von Einbrüchen; offene Abfrage) signifikant von einer Normalverteilung abwichen und eine rechtssteile Verteilung aufwiesen – eine Verteilung, die typisch ist für Häufigkeitsmerkmale, die nach unten begrenzt (Null) und nach oben offen sind (Poisson-Verteilung). Daher überprüften die Autoren die Zusammenhänge mit Regressionsgleichungen nach der Maximum-Likelihood Methode, die geeignet ist, Zusammenhänge zwischen Poisson-verteilten Variablen zu testen. Diese Methode zeigte, dass die Fernsehnutzung über die soziodemographischen Merkmale hinaus die Einschätzung von Verbrechensraten signifikant beeinflussen: Je mehr die Leute fernsahen, desto höher schätzten sie die Häufigkeit von Morden ein und desto niedriger die Anzahl von Einbruchsdiebstählen. Sowohl Potter (1991b) als auch Diefenbach und West (2001) zeigten somit, dass es nicht unproblematisch ist, zum einen von linearen Zusammenhängen auszugehen, zum anderen von normalverteilten Merkmalen. Dennoch lässt sich bei den meisten Kultivierungsstudien feststellen, dass diese Probleme weitgehend unberücksichtigt bleiben. Um weitreichendere Informationen über die Art der Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung zu erhalten, sollten diese Probleme mehr berücksichtigt werden, z.B. dadurch, dass die Zusammenhänge sowohl in Kreuztabellen als auch mittels metrischer Verfahren betrachtet werden und die Verteilung der Merkmale stärker berücksichtigt wird.
50 2.4.6
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Zusammenhänge entgegen der erwarteten Richtung
Über die Linearität der Zusammenhänge hinaus spielt aber auch die Frage nach der Zusammenhangsrichtung eine Rolle. Je nach untersuchtem Bereich und je nach dominierender Metabotschaft des Fernsehens lassen sich einmal positive Zusammenhänge prognostizieren, einmal negative. Liegt etwa die Häufigkeit eines Themas im Fernsehen über seiner Auftretenshäufigkeit in der Realität – wie dies beim Thema Gewalt der Fall ist – so versuchen Kultivierungsstudien nachzuweisen, dass Vielseher die Häufigkeit von Verbrechen überschätzen. Studien, die sich beispielsweise mit der Häufigkeit von Krankheiten beschäftigen und inhaltsanalytisch feststellen, dass gewisse Krankheitsbilder im Fernsehen unterrepräsentiert sind, prognostizieren demgegenüber eine Unterschätzung der Auftretenswahrscheinlichkeit dieser Krankheit (z.B. Krebserkrankungen). Tatsächlich stellen Kultivierungsstudien bisweilen nicht nur keine Zusammenhänge fest, sondern finden sogar signifikante Zusammenhänge in entgegengesetzter Richtung. So führten Tamborini und Choi beispielsweise zwei Studien zur Rolle interkultureller Unterschiede im Kultivierungsprozess durch (zusammenfassend vgl. Tamborini & Choi, 1990). Einmal untersuchten sie den Einfluss des Fernsehens auf Viktimisierungsangst und Einschätzung von Verbrechenshäufigkeiten bei in die USA immigrierten Koreanern, einmal bei koreanischen Studenten. In keiner der beiden Studien konnte die Kultivierungshypothese eindeutig bestätigt werden. In der zweiten Studie fanden die Autoren, dass koreanische Studenten umso weniger Angst davor hatten, nachts allein durch die Straßen zu laufen, je mehr verbrechensbezogene Fernsehunterhaltung sie gesehen hatten, und dass sie Amerikaner umso freundlicher und warmherziger wahrnahmen, je mehr verbrechensbezogene Nachrichten sie gesehen hatten. Betrachtet man allein diese Studien, so könnte man annehmen, dass interkulturelle Unterschiede Kultivierungseffekte mal begünstigen, abschwächen, aber auch umkehren können, wie dies etwa Wober (1978) in England festgestellt hatte (vgl. auch Kapitel 2.4.1). Doch sind umgekehrte Zusammenhänge zwischen Fernsehbotschaft und Realitätswahrnehmung in Kultivierungsstudien keine Seltenheit. Auch Tapper (1993)19 und Shapiro (1991) fanden umgekehrte Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Wahrnehmung von Verbrechen, die darauf hindeuteten, dass die untersuchten Studenten ihre Umwelt umso weniger gefährlich wahrnahmen, je mehr sie fernsahen. Vor diesem Hintergrund kann man 19
Tapper, J. M. (1993). Can multiple-trace theory be used to explain the cultivation phenomenon? An examination and replication of research into a psychological model. Unpublished master’s thesis. University of Wisconsin-Madison (zitiert nach: Tapper, 1995).
2.4 Klassische Kritik
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annehmen, dass bestimmte Subgruppen wie koreanische Immigranten oder junge Erwachsene und Studenten unterschiedlich auf hohen Fernsehkonsum reagieren. Darauf deuten auch Befunde von Slater und Elliott (1982) hin, die den Einfluss der Nutzung von Sendungen über Verbrechensbekämpfung (law enforcement programs) auf die wahrgenommene Sicherheit bei Jugendlichen untersucht haben. Auch sie fanden der Kultivierungshypothese widersprechend heraus, dass sich Jugendliche umso sicherer fühlten, je mehr Sendungen über Verbrechensbekämpfung sie gesehen hatten (Slater & Elliott, 1982: S. 75). Hielten die Jugendlichen diese Sendungen jedoch für realistisch, so nahmen sie ihre Umwelt wiederum umso gefährlicher wahr; unter bestimmten Bedingungen bestätigte sich die klassische Kultivierungshypothese also wieder. Hawkins und Pingree (1980) und Potter (1986) zeigten demgegenüber, dass die Kultivierungseffekte gerade unter Einbeziehung der wahrgenommenen Realitätsnähe teils in umgekehrter Richtung verliefen (zum Einfluss wahrgenommener Realitätsnähe vgl. auch Kapitel 5.6). Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung, die genau entgegengesetzt zur erwarteten Richtung verlaufen, lassen sich nicht nur im Kontext von verbrechensbezogenen Indikatoren feststellen. Auch Rossmann (2002) fand in ihrer Studie zum Einfluss von Krankenhausserien signifikante Zusammenhänge, die sich durch die Darstellung in den Serien nicht erklären ließen. So wurde aus der Darstellungsweise in den Serien geschlossen, dass die Rezipienten mit steigendem Krankenhausserienkonsum umso weniger glauben, dass Ärzte sich an die Schweigepflicht halten. Der vergleichsweise starke und signifikante Zusammenhang zeigte jedoch das Gegenteil: Je mehr die Patienten Krankenhausserien sahen, desto mehr glaubten sie, dass Ärzte die Schweigepflicht einhalten. Möglicherweise spielten hier Transfereffekte eine Rolle: Fast in allen Punkten beurteilten die Vielseher von Krankenhausserien Ärzte positiver als Wenigseher. Dies schlug sich möglicherweise auf ein insgesamt positiveres Gesamtbild nieder und bedingte die Beurteilung der Schweigepflicht (ebd.: S. 121). Doch auch bei der Frage, ob Ärzte und Pflegekräfte intrigant sind, zeigte sich ein gegenläufiger Effekt. So hielten Patienten, die häufig Krankenhausserien sahen, Pflegekräfte und tendenziell Ärzte für intriganter, obwohl die Ergebnisse der Inhaltsanalyse darauf hingedeutet hatten, dass Vielseher von Krankenhausserien den Anteil intriganter Ärzte und Pflegekräfte unterschätzen. Als Ursache für diesen Zusammenhang wurde vermutet, dass intrigantes Verhalten im Gegensatz zu allen anderen erhobenen Professionalitätsattributen ein nicht-erwartungskonformes Verhalten darstellt. Von Pflegekräften erwartet man beispielsweise, dass sie kompetent, souverän, fürsorglich und aufrichtig sind, intrigantes Verhalten passt dagegen nicht in das gängige Bild von Krankenschwestern. Möglicherweise wird ein solches
52
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Verhalten daher während der Rezeption stärker wahrgenommen als erwartungskonformes Verhalten. Allgemein ausgedrückt: Die Befunde deuteten darauf hin, dass nicht allein häufig gezeigte Merkmale oder Verhaltensweisen Kultivierungseffekte bedingen, sondern auch weniger häufig gezeigte Merkmale, die aufgrund ihrer Auffälligkeit einen stärkeren Eindruck hinterlassen (ebd.: S. 124).20 Insgesamt lässt sich also festhalten, dass Zusammenhänge, die nicht der Erwartungsrichtung entsprechen, häufig unter bestimmten Bedingungen aufzutreten scheinen – seien es ausländische oder jugendliche Stichproben, der Einfluss wahrgenommener Realitätsnähe oder distinktiver Merkmale. Ein klares Muster zeichnet sich jedoch nicht ab. So liefern etwa zahlreiche andere Kultivierungsstudien mit Jugendlichen durchaus hypothesenkonforme Befunde (vgl. Shapiro, 1991: S. 17). Die Tatsache, dass entgegengesetzt verlaufende signifikante Zusammenhänge sich durch die Literatur ziehen, macht jedoch auch hier – genauso wie bei den nonlinearen Zusammenhängen – deutlich, dass neue Denkansätze vonnöten sind, die solche Anomalien zu erklären vermögen.
2.4.7
Asymmetrische Zusammenhänge
Dies gilt auch für die dritte Anomalie, die Potter (1993) als asymmetrische Zusammenhänge beschreibt. Die durchwegs kleinen Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung lassen sich demnach dadurch erklären, dass Kultivierungsstudien fälschlicherweise symmetrische Zusammenhänge prüfen, die die Natur der Zusammenhänge nicht träfen. Stattdessen seien die Zusammenhänge zwischen Fernsehen und Weltsicht asymmetrisch, d.h. das Fernsehen sei eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Kultivierungseffekt. Wenn von 100 Befragten 40 als Vielseher identifiziert werden, aber – vereinfacht ausgedrückt – nur 25 die Fernsehantwort geben, resultiert dies nach herkömmlicher Betrachtungsweise in kleinen symmetrischen Zusammenhängen, die darauf hindeuten, dass der Kultivierungseffekt klein ist oder nicht vorhanden. Anders betrachtet ließe sich jedoch feststellen, dass alle 25 Befragten, die hohe Kultivierungswerte aufweisen, auch Vielseher sind. Um die Fernsehantwort zu geben, müssen die Befragten vorher viel ferngesehen haben. Fernsehen ist also eine notwendige Bedingung dafür, dass die Zuschauer kultiviert werden, aber keine hinreichende Bedingung, da – bei diesem Beispiel bleibend – 15 Befragte zwar viel ferngesehen haben, aber nicht beeinflusst wurden (vgl. Potter, 1993: S. 583f.).
20
Auf diesen Aspekt wird in Kapitel 4.2.7 noch genauer eingegangen.
2.4 Klassische Kritik
53
Davis und Mares (1998) wandten diese Logik in ihrer Studie zur Kultivierung durch Talkshows auf das Kausalitätsproblem (vgl. Kapitel 2.4.8) an und überprüften, wie viele der Vielseher eher im Sinne der Fernsehantwort antworten, und wie viele von denen, die die Realität so einschätzen wie sie in den Talkshows dargestellt ist, Vielseher sind. Die Befunde deuteten darauf hin, dass die Fernsehrezeption insgesamt ein stärkerer Prädiktor für die Realitätswahrnehmung ist als umgekehrt. Den Einfluss konkreter Variablen, die eine hinreichende Bedingung für den Kultivierungseffekt sein könnten, prüften sie jedoch nicht. Weitere empirische Evidenzen für asymmetrische Zusammenhänge zwischen Fernsehen und Realitätswahrnehmung fehlen bislang. Doch auch diese Überlegungen machen das Potenzial von Drittvariablen deutlich. Die Bedeutung asymmetrischer Zusammenhänge lässt sich durch die Einbeziehung von Drittvariablen ganz einfach erklären. So wäre es etwa denkbar, dass nicht nur das Fernsehen eine notwendige Bedingungen für Kultivierungseffekte darstellt, sondern auch ein gewisser Grad an parasozialer Interaktion mit den Protagonisten, d.h. das Fernsehen würde dann nur in Kombination mit einem hohen Grad an Interaktion eine hinreichende Bedingung für das Auftreten von Kultivierungseffekten darstellen. Um bei Potters (1993) Beispiel zu bleiben: Jene 25 Befragte, bei denen sich ein Kultivierungseffekt nachweisen lässt, sind also nicht nur Vielseher, sondern haben auch hohe parasoziale Interaktionswerte. Die restlichen 15 Vielseher, bei denen sich kein Kultivierungseffekt beobachten lässt, zeigen nur eine geringe oder keine parasoziale Interaktion mit den Protagonisten, weshalb sich die Fernsehbotschaften, die diese Protagonisten vermitteln, nicht in ihrer Realitätswahrnehmung niederschlägt. Für die Gruppe der Vielseher mit hoher parasozialer Interaktion ließen sich dann wiederum simple bivariate und symmetrische Zusammenhänge nachweisen (zum Einfluss parasozialer Interaktion vgl. auch Kapitel 5.3). Auch Tapper (1995) beschreibt, wie sich mit Hilfe seines Modells unter Einbeziehung weiterer psychologischer Konstrukte asymmetrische Zusammenhänge erklären lassen: Angenommen eine Gruppe von Vielsehern sieht unter LowInvolvement-Bedingungen fern und bei manchen zeigen sich sehr starke Kultivierungseffekte, während sich bei den anderen kein Zusammenhang nachweisen lässt. In diesem Fall wäre es denkbar, dass bei denen, die von den Fernsehbotschaften beeinflusst wurden, „chronisch verfügbare Konstrukte“ vorhanden waren, die bei den anderen Vielsehern fehlten (vgl. Tapper, 1995: S. 53; zu diesem Konstrukt vgl. auch Kapitel 6.2.3).
54 2.4.8
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Kausalschluss
Nach Potter (1993: S. 585) müssen in der Kultivierungsforschung vier Voraussetzungen erfüllt sein, um eindeutig von einem Kultivierungseffekt sprechen zu können: (1) Es muss einen statistisch belegbaren Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung geben, (2) die Zusammenhänge müssen der durch die Fernsehdarstellung vorhergesagten Richtung entsprechen (vgl. Kapitel 2.4.6), (3) mögliche weitere Ursachen (Drittvariablen) müssen ausgeschlossen werden können (vgl. Kapitel 2.4.3) und (4) die Ursache muss der Wirkung zeitlich vorausgehen. Die vierte der genannten Bedingungen deutet auf die Kausalitätsproblematik hin. Schon Doob und Macdonald (1979) haben darauf hingewiesen, dass durch Querschnittanalysen, d.h. die jeweils einmalige Erfassung der Botschaften des Fernsehens und der Realitätswahrnehmung der Zuschauer, eine kausale Interpretation nicht zwingend ist. So ist die Gewalthaltigkeit des Fernsehens im Fernsehen nicht notwendigerweise die Ursache und die in Richtung Furcht verzerrte Realitätssicht die Folge. Ebenso sind der Umkehrschluss oder Alternativerklärungen denkbar, bisweilen sogar plausibler. So ist es beispielsweise durchaus nachvollziehbar, dass Menschen, die ängstlich sind und sich vor der Welt draußen fürchten, weniger aus dem Haus gehen und – weil sie mehr Zeit zu Hause verbringen als andere – auch mehr fernsehen. Minnebo (2000) argumentierte auf der Basis des Uses-and-GratificationsAnsatzes ebenfalls für diese Zusammenhangsrichtung: Menschen, für die Angst vor Verbrechen eine erhöhte Relevanz besitzt – etwa aufgrund von Realitätserfahrungen – und die auch ängstlicher sind, nutzen demnach bewusst solche Medieninhalte, die ihnen helfen, ihre Angst zu reduzieren, was durch Krimisendungen geschieht, in denen in der Regel die Gerechtigkeit siegt. Auf Basis von Strukturgleichungsanalysen überprüfte er diesen Zusammenhang und konnte ihn für belgische Studierende bestätigen. Ebenso plausibel ist es, dass Drittvariablen, wie das Alter, für den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Viktimisierungsangst verantwortlich sind: Ältere Menschen sind von vornherein ängstlicher als jüngere, sind aber auch häufiger zu Hause und sehen mehr fern (vgl. Abbildung 4). Neben dem Alter sind zahlreiche Variablen ähnlicher Art denkbar. Bei einigen haben Gerbner und seine Mitarbeiter zwar nachgewiesen, dass der Kultivierungseffekt auch nach ihrer Auspartialisierung erhalten bleibt, konsistent sind diese Ergebnisse jedoch nicht. Die mangelnde Nachweisbarkeit des Kausalschlusses in Querschnittanalysen macht es notwendig, alternative Forschungsdesigns anzuwenden, die im Folgenden diskutiert werden sollen (für eine umfassende Darstellung der Kausalitätsproblematik in der Kultivierung vgl. Rossmann & Brosius, 2004).
2.4 Klassische Kritik
55
Abbildung 4: Kausalitätsproblem
Quelle: Rossmann und Brosius, 2004: S. 383.
2.4.8.1
Experimentelle Ansätze
Der Königsweg für Kausalanalysen ist das Experiment (vgl. Parducci & Sarris, 1986). Auch im Rahmen der Kultivierungsforschung sind experimentelle Ansätze denkbar, doch diese haben ihre Grenzen. Es existieren Studien, die Kultivierungseffekte im klassischen Laborexperiment untersucht und nachgewiesen haben (Tan, 1979; Tamborini, Zillmann & Bryant, 1984; Rossmann & Brosius, 2005). Dennoch ist das klassische Laborexperiment, welches den Stimulus nur einmal präsentiert und Realitätsurteile kurz danach misst, für die Untersuchung langfristiger Kultivierungseffekte eigentlich ungeeignet (vgl. Morgan & Signorielli, 1990). Entsprechend zeigte sich bei Tamborini et al. (1984), dass die beobachteten Effekte nach kurzer Zeit wieder verschwanden. Auch existiert streng genommen keine identifizierbare Kontrollgruppe, weil alle Mitglieder einer Gesellschaft durch die Fernsehbotschaften kultiviert sind (Gerbner & Gross, 1976: S. 180f.; vgl. auch Morgan & Signorielli, 1990: S. 17ff.). Nichtseher können nicht als Kontrollgruppe gelten, weil sie über Merkmalskombinationen verfügen, die sie auch in sämtlichen anderen Merkmalen von den Fernsehzuschauern unterscheiden (vgl. Sicking, 2000; Hintz, 2003).
56
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Eine bessere Annäherung an die Rahmenbedingungen von Kultivierungseffekten bietet das sequentielle Experiment (vgl. Iyengar & Kinder, 1987), welches Stimuli über einen längeren Zeitraum hinweg mehrmals präsentiert.21 Auch in diesem Bereich war die Forschung nicht untätig (Bryant, Carveth & Brown, 1981; Zillmann & Bryant, 1982; Zillmann, 1989; Rössler & Brosius, 2001a; 2001b). Der Vorteil sequentieller Experimente liegt nicht nur in der nachweisbaren Kausalität. Sie können auch genutzt werden, andere Randbedingungen von Kultivierungseffekten zu prüfen. So kann man die Linearität der Zusammenhänge durch kontrollierte Variation der Stimulusmenge untersuchen. Bisher wurden hierfür nur Befragungsstudien eingesetzt (vgl. z.B. Hirsch, 1980; Potter, 1991b; zur Linearitätsproblematik generell vgl. Kapitel 2.4.4). Der Vorteil sequentieller Experimente liegt aber gerade darin, dass die Menge des präsentierten Stimulus systematisch variiert werden kann. Auch könnte man die Stabilität der Effekte messen, indem man die Zeitspanne zwischen Präsentation und Messung variiert (vgl. hierzu Iyengar & Kinder, 1987, die verschiedene Randbedingungen, Linearität und Stabilität von Agenda-Settingund Priming-Effekten im Rahmen mehrere sequentieller Experimente prüften). Eine Pauschallösung bietet das Untersuchungsdesign nicht, weil es sich immer nur für ein begrenztes Stimulusspektrum eignet. Genrespezifische Kultivierungseffekte können damit sehr gut untersucht werden (z.B. Talkshows, Pornographie, Actionfilme), für den Einfluss von genreübergreifenden Botschaften auf die Realitätswahrnehmung eignet sich dieser Ansatz jedoch nur bedingt. Das soziale Experiment stellt eine sehr gute Möglichkeit zur Untersuchung von Kultivierungseffekten dar. Es nutzt natürliche Veränderungen der Lebensbedingungen, um Experimental- und Kontrollgruppen herzustellen. Die Einführung des Fernsehens in ähnlichen Regionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten stellt eine solche Möglichkeit dar. Schramm et al. (1961), Payne und Peake (1977), Donsbach et al. (1985) und Williams (1986) nutzten diese und konnten so gleichsam unter experimentellen Bedingungen Einflüsse des Fernsehens nachweisen. In ähnlicher Weise nutzten Kliment (1994) und Etzkorn und Stiehler (1998) die durch die Einführung des West-Fernsehens bedingten Veränderungen der Fernsehlandschaft in den neuen Bundesländern und fanden zumindest teilweise Kultivierungseffekte. Soziale Experimente wurden auch bei der Einführung privater Fernsehprogramme in den sogenannten Kabelpilotprojekten realisiert. In diesen Gebieten gab es die Möglichkeit, Rezipienten, die bereits an das Kabel angeschlossen waren, mit solchen zu vergleichen, die entweder demnächst einen Kabelanschluss bekommen 21
Alternativ wird das sequentielle Experiment in der Literatur als „longitudinal-exposure experiment“ (vgl. Bryant & Zillmann, 1981), „prolonged-exposure experiment“ (vgl. Zillmann, 1989) oder „Intensiv-Experiment“ (vgl. Rössler & Brosius, 2001b) bezeichnet.
2.4 Klassische Kritik
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sollten oder keine Möglichkeit hatten, sich anschließen zu lassen (vgl. z.B. NoelleNeumann und Schulz, 1989, zum Kabelpilotprojekt Ludwigshafen; allgemein Becker & Schönbach, 1989). Das soziale Experiment zeichnet sich vor allem durch seine hohe externe Validität aus und kann der postulierten Langfristigkeit gerecht werden. Problem ist aber, dass es vergleichbare Orte geben muss, die sich in ihrer Mediensituation unterscheiden. In der heutigen Medienlandschaft wird dies zunehmend unwahrscheinlich.
2.4.8.2
Korrelative Analyseverfahren (Querschnitt)
Experimentelle Designs sind in der Kultivierung also nur bedingt einsetzbar. Alternativ können verschiedene korrelative Analyseverfahren angewandt werden, die über die herkömmlichen Partialkorrelationen oder Regressionen hinausgehen. Potter (1991c) und Davis und Mares (1998) wandten die Logik asymmetrischer Zusammenhänge auf dieses Problem an. Dabei geht es darum festzustellen, wie viele von denen, die die Realität so wahrnehmen, wie sie im Fernsehen darstellt wird, Vielseher sind, und umgekehrt, wie viele von denen, die viel fernsehen, die Realität so wahrnehmen, wie sie im Fernsehen ist. Die wahrscheinlichere Einflussrichtung ist die, in der der Anteil größer ist. Davis und Mares (1998) stellten mit dieser Logik fest, dass die Fernsehrezeption insgesamt ein stärkerer Prädiktor für die Realitätswahrnehmung war als umgekehrt. Dennoch ermöglicht auch diese Lösung keine Kausalinterpretation (vgl. zur Diskussion der Vorgehensweise Rössler & Brosius 2001a; 2001b). Zwar können die Zusammenhänge hier genauer erfasst und interpretiert werden, doch werden Einstellungen, Einschätzungen und Rezeption zum selben Messzeitpunkt erfasst. So geht weder die Ursache der Wirkung zeitlich voraus noch können weitere Ursachen (Einflüsse von Drittvariablen) ausgeschlossen werden. Damit werden zwei von vier Voraussetzungen, die Potter (1993) für nach Nachweis von Kausalzusammenhängen in der Kultivierungsforschung formuliert hat, nicht erfüllt. Etabliertere statistische Methoden zur korrelativen Überprüfung kausaler Zusammenhänge sind Pfadanalysen und Strukturgleichungsmodelle. Pfadanalysen wurden bereits in den zwanziger Jahren entwickelt (vgl. Wright, 1921). Sie können kausale Beziehungen zwischen direkt beobachtbaren Variablen prüfen. Strukturgleichungsmodelle ermöglichen zusätzlich die Einbeziehung latenter Variablen, die nicht direkt messbar sind (z.B. Einstellungen; vgl. Bortz, 1993: S. 436ff.). Letztere integrieren regressionsanalytische Verfahren, Aspekte der Faktorenanalyse und die Pfadanalyse (vgl. Bortz, 1993; Kaplan, 2000) und basieren auf der statistischen
58
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Überprüfung hypothetischer (Kausal-)Beziehungen zwischen abstrakten Konstrukten (vgl. Brandl, 2004). Auf diese Weise überprüfen sie statistisch komplexe Modelle, die die Zusammenhänge zwischen Konstrukten zunächst theoretisch abbilden. Einige Kultivierungsstudien wandten Pfadanalysen (Barth, 1988; Shrum, 1996; Tan, Nelson, Dong & Tan, 1997; Nabi & Sullivan, 2001; Segrin & Nabi, 2002; Holbert, Shah & Kwak, 2004), wenige auch Strukturgleichungsmodelle (Rouner, 1984; Nisbet et al., 2002; van den Bulck, 2004) an, um die kausalen Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung unter Einbeziehung von Drittvariablen zu prüfen. Genauso wie asymmetrische Zusammenhänge können auch diese Verfahren eine Kausalität streng genommen nicht beweisen, denn durch den Nachweis eines überprüften Modells wird eine Kausalrichtung lediglich nicht zurückgewiesen. Sind bereits die theoretischen Vorüberlegungen falsch, erkennt dies auch ein Strukturgleichungsmodell nicht. Hinzu kommt, dass auch hier die Daten zu einem Messzeitpunkt erhoben werden und somit Aussagen über zeitlich vorausgehende oder folgende Variablen nicht möglich sind. Auch die Verwendung komplexer statistischer Verfahren kann Kausalaussagen nur dann ermöglichen, wenn sie über Querschnittanalysen hinausgehen.
2.4.8.3
Korrelative Analyseverfahren (Längsschnitt)
Der Nachweis von Kausalität setzt voraus, dass abhängige und unabhängige Variablen zu mehreren Messzeitpunkten gemessen werden. Werden Pfadanalysen und Strukturgleichungsmodelle in Längsschnittanalysen eingesetzt, eignen sie sich besser, um sich dem Kausalitätsproblem zu nähern. Auch für dieses Verfahren lassen sich bereits Beispiele finden (z.B. Groebel, 1981; Kazee, 1981). Selbst Gerbner wandte Strukturgleichungsmodelle an, um den Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung anhand zweier Messzeitpunkte zu prüfen (vgl. Gerbner et al., 1980a). Die Autoren erfassten Fernsehdarstellung, Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung zu zwei Messzeitpunkten und setzten sie zueinander in Beziehung. Sie fanden signifikante Zusammenhänge sowohl zwischen der Fernsehnutzung zum ersten Messzeitpunkt und der Realitätswahrnehmung zum zweiten Messzeitpunkt als auch zwischen Realitätswahrnehmung zum ersten und der Fernsehnutzung zum zweiten Messzeitpunkt, und schlossen auf einen unabhängigen Einfluss des Fernsehens auf spätere Einstellungen (vgl. zur Interpretation der Befunde auch Gerbner et al., 1986: S. 24). Vernachlässigt wurde allerdings der stärkere Einfluss der Realitätswahrnehmung zum ersten Messzeitpunkt auf die spätere Fernsehnutzung, der
2.4 Klassische Kritik
59
gemäß der Logik der Kreuzkorrelation (s.u.) darauf hindeutet, dass die Einstellung eher die Fernsehnutzung bedingt als umgekehrt. Das klassische statistische Verfahren, mit dem Kausalschlüsse korrelativ gezogen werden können, beruht auf Zeitreihenanalysen. Inhaltsanalyse und Befragungen werden zu mehreren, mindestens jedoch zu zwei Messzeitpunkten durchgeführt, so dass der zeitlich-dynamische Aspekt sichergestellt ist. Bei zwei Messzeitpunkten und einer Panel-Befragung lassen sich Kreuzkorrelationen nach dem in Abbildung 5 dargestellten Muster berechnen. O’Keefe und Reid-Nash (1987) wandten diese Logik auf die Kultivierung an und fanden heraus, dass die Aufmerksamkeit bei der Fernsehnutzung die verbrechensbezogene Realitätswahrnehmung beeinflusste und zwar so, dass die Aufmerksamkeit der Realitätswahrnehmung vorausging. In diesem Fall kann man von einem kausalen Nachweis sprechen. Genauere Aussagen sind jedoch möglich, wenn die Messzeitpunkte auf mehr als zwei erweitert werden. In diesem Fall beruhen die Analysen auf Zeitreihenverfahren. Ohne auf die statistischen Voraussetzungen und die einzelnen Verfahren detailliert einzugehen (vgl. hierzu Scheufele, 1999; 2004), soll kurz die Analyselogik für Kultivierungsstudien dargestellt werden. Dies kann am besten mit der sogenannten Granger-Kausalität erläutert werden, die im Kern auf Kreuzkorrelationen beruht, es aber zusätzlich erlaubt, die wechselseitige Dynamik zweier Zeitreihen zu erfassen. Dabei wird zunächst die Realitätswahrnehmung (yt0) durch die vergangenen Werte der Realitätswahrnehmung (yt-1, yt-2,...) in einem multiplen Regressionsmodell geschätzt und die erklärte Varianz ausgewiesen. Je stabiler die Realitätswahrnehmung ist, desto höher ist die Erklärungskraft der vergangenen Werte. Danach erfolgt in einem zweiten Regressionsmodell die Erfassung des zusätzlichen Beitrags, den die unabhängige Variable (also die kultivierenden Medienbotschaften) zur Vorhersage der Realitätswahrnehmung leistet. In das Regressionsmodell werden zusätzlich die Terme xt-1, xt-2, ... aufgenommen. Der Gewinn an erklärter Varianz kann auf Signifikanz geprüft werden. In diesem Fall würde die vergangene Fernsehdarstellung einen eigenständigen Beitrag zur Erklärung der Realitätswahrnehmung besitzen, wohlgemerkt nachdem der Einfluss vergangener Realitätswahrnehmungen kontrolliert wurde. Um zu prüfen, ob beide Reihen sich wechselseitig beeinflussen, muss das Verfahren auch umgekehrt gerechnet werden: Zunächst muss also der Einfluss vergangener Medienbotschaften auf gegenwärtige geprüft werden und dann im zweiten Schritt der zusätzliche Einfluss vergangener Realitätswahrnehmungen der Bevölkerung (vgl. zum Einsatz der Granger-Kausalität in der Kommunikationswissenschaft Brosius & Kepplinger, 1990).
60
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Abbildung 5: Logik der Kreuzkorrelation
Fernsehrezeption (t1)
Fernsehrezeption (t2)
Realitätswahrnehmung (t1)
Realitätswahrnehmung (t2)
Zeit (t)
Korrelationen zwischen Fernsehrezeption t1 und Realitätswahrnehmung t1 bzw. Fernsehrezeption t2 und Realitätswahrnehmung t2: zeitbezogene Kultivierungseffekte Korrelationen zwischen Fernsehrezeption t1 und t2 bzw. Realitätswahrnehmung t1 und t2: Stabilität von Fernsehrezeption und Realitätswahrnehmung der Rezipienten Korrelationen zwischen Fernsehrezeption t1 und Realitätswahrnehmung t2 bzw. Realitätswahrnehmung t1 und Fernsehrezeption t2: zeitversetzte Zusammenhänge Kultivierungseffekt: r (Fernsehrezeption t1; Realitätswahrnehmung t2) > r (Realitätswahrnehmung t1; Fernsehrezeption Quelle: Rossmann und Brosius, 2004: S. 390.
Längsschnittanalysen sind jedoch auch nicht ohne Probleme durchführbar. Eines der zentralen Probleme der diesem Verfahren zugrunde liegenden Paneldaten wird in der Literatur häufig im Zusammenhang mit der Kontrolle von Erziehungsprogrammen mit dem Begriff „Regression to the Mean“ diskutiert (vgl. Van den Bulck, 2003): Wird z.B. bei einer Gruppe von Personen zweimal ein Intelligenztest durchgeführt, so schneiden Befragte, die beim ersten Mal extrem gut abgeschnitten haben, im Durchschnitt beim zweiten Mal schlechter ab, Befragte, die beim ersten Mal extrem schlecht waren, schneiden später im Durchschnitt besser ab. Dies lässt sich allerdings häufig auf zufällige Effekte zurückführen. So ist es denkbar, dass ein Teil der Leute, die gut abgeschnitten haben, einfach einen besonders guten Tag
2.4 Klassische Kritik
61
oder Glück hatten, wohingegen Leute, die schlecht waren, teilweise möglicherweise nur einen schlechten Tag hatten, krank, müde oder gelangweilt waren. Im zweiten Test werden hingegen eher diejenigen wieder gut abschneiden, die wirklich intelligent sind, wohingegen jene, die einfach Glück hatten, beim zweiten Mal schlechter abschneiden. Das Ergebnis ist jedoch, dass die Befunde darauf hindeuten, dass sich die Gruppen einander annähern. Hirsch (1981b) führt diese Beobachtung als Beleg dafür an, dass der Mainstreaming-Effekt lediglich auf ein statistisches Artefakt zurückgehe. Diesen Schluss räumte Van den Bulck (2003) zwar aus22, dennoch weist er darauf hin, dass auch Panelstudien und Längsschnittanalysen nicht immer die Lösung aller Probleme darstellen. Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit Zeitreihenverfahren ergibt sich aus der Tatsache, dass ihre Verwendung vor allem im Bereich der Kultivierungsforschung an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft ist. Zunächst einmal müssten die Daten in der entsprechenden Form vorliegen. Das bedeutet, dass in regelmäßigen Zeitabständen Befragungsergebnisse zur Realitätswahrnehmung erhoben werden müssten. Parallel dazu wäre zu den gleichen Messzeitpunkten eine Inhaltsanalyse der kultivierenden Fernsehbotschaften durchzuführen. Neben dem immensen Aufwand, den ein solches Verfahren mit sich bringt, ist dennoch nicht sicher, dass sich Kultivierungseffekte auf diese Weise besser nachweisen ließen: Wenn sich etwa die Mediennutzungsmuster kaum ändern (und darauf deuten empirische Befunde auch hin, vgl. z.B. Klövekorn, 2002) und gleichzeitig das mediale Angebot relativ stabil bleibt, ist der Nachweis von Kultivierungseffekten mit Zeitreihenverfahren nur schwer möglich. Veränderungen der Realitätswahrnehmung sind letztlich nur dann zu erwarten, wenn sich Intensität und Richtung kultivierender Botschaften verändern. Da es sich aber häufig um gleichbleibende Metabotschaften handelt, müsste diese Möglichkeit erst noch einmal systematisch beleuchtet werden. Denn allein das Aufkommen neuer Genres oder Formate stellt noch nicht sicher, dass tatsächlich andere Kultivierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Am wahrscheinlichsten wäre die Anwendbarkeit von Zeitreihenanalysen, wenn Sendungen ein ganz neues Thema auf die Medienagenda brächten, das bis dahin für das Publikum nur von untergeordneter Bedeutung gewesen sein dürfte und bis dahin auch in Fernsehsendungen kein Thema war. So wäre beispielsweise die erstmalige Ausstrahlung der Serie „Six feet under – Gestorben wird immer“ (ab 22
(1) Gerbners Studien beruhen auf Querschnittanalysen, womit das spezifisch bei Panelanalysen auftretende Problem hier nicht gilt; (2) „Regression to the Mean“ tritt dann auf, wenn Extremgruppen (z.B. hochintelligente Menschen versus dumme Menschen) verglichen werden. Gerbners Studien basieren jedoch nicht auf dem Vergleich von Extremgruppen, sondern untersucht Gruppen als Ganzes (z.B. alle Frauen, alle Männer); (3) Gerbners Analysen basieren in der Regel auf Mittelwertvergleichen, bei denen ein Regressions-Effekt per se ausgeschlossen ist (vgl. Van den Bulck, 2003).
62
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
April 2003 zunächst nur für Pay-TV-Abonnenten über Premiere zu sehen, ab Mai 2004 auch auf Vox) ein guter Anlass gewesen, Kultivierungseffekte unter günstigen Bedingungen zu untersuchen. Die Serie kreist um Arbeit und Leben einer Leichenbestatter-Familie und behandelt daher ein Thema, das bis dahin nur äußerst selten in attraktiven Fernsehangeboten präsent war.23 Auch ist davon auszugehen, dass die Zuschauer sich bis dahin nur wenig Gedanken über Leichenbestatter gemacht haben und ein Großteil der Zuschauer dürfte auch wenig Realitätserfahrung mit Leichenbestattern haben. Hier wäre es also durchaus sinnvoll gewesen, vor und in regelmäßigen Abständen nach Einführung der Serie die Zuschauer nach ihrer Wahrnehmung von Leichenbestattern zu fragen. Einschränkend wäre jedoch auch hier zu bemerken, dass die Messung von Kultivierungseffekten im Zusammenhang mit diesem Thema mehr theoretische Zwecke erfüllen würde, ist die gesellschaftliche Relevanz eines solchen Randthemas doch durchaus fraglich.
2.4.8.4
Mehrmethodenansatz
Zusammenfassend kann man festhalten, dass es die eine Methode zur Erfassung von Kultivierungseffekten nicht geben wird. Vielmehr ist es ratsam, einen Mehrmethodenansatz wählen, der die Vorteile der verschiedenen Verfahren kombiniert und die entsprechenden Nachteile ausräumt. Sowohl korrelative als auch experimentelle Verfahren haben ihre Grenzen, die nur in einer Mehrmethodenkombination überwunden werden können. Hierauf haben Autoren schon relativ früh hingewiesen (vgl. Cronbach, 1957; Hovland, 1959). Bezogen auf den Kultivierungsansatz bedeutet dies auch, dass die bisherige Querschnittmethode mit der Korrelation von Mediennutzung und Realitätswahrnehmung durchaus ihre Berechtigung hat. Die generell nur schwachen Zusammenhänge könnten aber durch Heranziehung anderer Methoden besser aufgeklärt werden. Mehrmethodenansätze können in verschiedenen Varianten realisiert werden. Zunächst ist an das Verfahren der Triangulation zu denken, d.h. eine groß angelegte Studie verwendet mehrere aufeinander bezogene Methoden, die sich auf die gleiche Grundgesamtheit und die gleiche Fragestellung beziehen (vgl. Abel, Möller & Treumann, 1998; Paus-Haase, 1998). So kombinierten Paus-Haase et al. (1999) zur Untersuchung des Einflusses von Talkshows auf die Realitätswahrnehmung Jugendlicher Produktanalyse (Themen-, Format- und Feinanalyse) mit qualitativen 23
Eine der wenigen Ausnahmen dürfte der Spielfilm „My Girl“ (1991, Regie: Howard Zieff, Produktion: Columbia/Tristar) darstellen, welcher das Leben von Vada Sultenfuss, Tochter eines Bestattungsunternehmers, beschreibt.
2.5 Metaanalyse von Morgan und Shanahan (1997)
63
Befragungen (Gruppendiskussionen, Einzelinterviews) und einer quantitativen Repräsentativbefragung. Rossmann und Brosius (2005) untersuchten den Einfluss des Fernsehens auf die Einstellung zu Schönheitsoperationen mit einer Kombination von Inhaltsanalyse, Befragung und Experiment. Der Vorteil liegt hier in der großen Kohärenz einzelner Teilstudien, der Nachteil im hohen Aufwand. Organisatorisch einfacher, aber oft auch weniger kohärent ist die Möglichkeit, dass mehrere unabhängige Studien gleiche Gegenstandsbereiche mit unterschiedlichen Methoden abdecken. Dies haben Davis und Mares (1998; Querschnittbefragung) und Rössler und Brosius (2001a; 2001b; sequentielles Experiment) für den Bereich Kultivierung durch Talkshows vorgenommen. Erst das Zusammenspiel von Inhaltsanalysen, Befragungen, Tiefeninterviews und eben auch verschiedenen Formen von Experimenten führt zu einer abgerundeten Vorstellung möglicher Kultivierungseffekte des Fernsehen. Dieser Weg ist langfristiger angelegt und erfordert Beharrungsvermögen und Kooperationsbereitschaft. Er muss jedoch gegangen werden, wenn man den Kultivierungsansatz wirklich ausschöpfen will.
2.5
Metaanalyse von Morgan und Shanahan (1997)
Die angeführten Aspekte deuten auf Schwächen hin, die die Kultivierungsforschung zumindest teilweise noch heute angreifbar machen. In erster Linie haben sie jedoch dazu beigetragen, dass sich die Kultivierungsforschung weiterentwickeln konnte und klarere Erkenntnisse über Voraussetzungen, Drittvariablen etc. gewonnen werden konnten. Gänzlich widerlegt wurde der Kultivierungseffekt nie. Darauf deutet auch eine Metaanalyse von 82 Kultivierungsstudien hin, die Morgan und Shanahan (1997) nach zwei Jahrzehnten Kultivierungsforschung durchgeführt haben. Die Forscher fanden einen Gesamteffekt von r=0,09 (Basis: K=52), der einen zwar kleinen, aber beständigen Kultivierungseffekt verdeutlicht. Morgan und Shanahan (1997) interpretieren ihre Befunde wie folgt: „Certainly not all of the issues are resolved, but, taken as a whole, the data show that cultivation theory has amply demonstrated the nature, importance, and resilience of its findings.“ (S. 38) Zu berücksichtigen ist bei dem Ergebnis, dass der Auswahl der Studien, auf der die Metaanalyse basiert, einige Selektionskriterien zugrunde liegen, die für die Größe des Effektes durchaus bedeutsam sind. Zunächst wurden mit Hilfe von Datenbanken all jene Studien identifiziert, die (1) einen Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und einer als Fernsehantwort verstehbare Antwort maßen, die (2) die Kultivierungshypothese entweder stützend oder kritisierend als Erklärung heranzogen, dabei (3) Personen als Untersuchungsobjekt heranzogen, (4) diese
64
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
befragten und (5) schließlich auch veröffentlicht wurden. Da in den so identifizierten 82 Studien insgesamt 5633 Effekte beschrieben werden, wurden weitere Einschränkungen vorgenommen. So beschränkt sich die Auswahl auf Studien, die den Einfluss des Fernsehens auf Gewalt, Geschlechterrollen oder politische Einstellungen untersuchten, auf Ergebnisse, die mit Korrelationen ermittelt und in Form von Korrelationskoeffizienten präsentiert wurden (in Varianzanalysen ermittelte Ergebnisse wurden ausgeschlossen). Die bedeutendste Einschränkung ist jedoch die Beschränkung auf einfache Korrelationskoeffizienten: Partialkorrelationen oder hierarchische Regressionen wurden mit dem Argument fehlender Unabhängigkeit der Tests von vornherein ausgeschlossen (ebd.: S. 24). Es ist durchaus richtig, dass die Ergebnisse nur bedingt vergleichbar sind, wenn sie unterschiedliche Kontrollvariablen in ihre Tests einbeziehen (Geschlecht, Bildung, Einkommen, Alter, Nutzung anderer Medien, teilweise einzeln, teilweise zusammen), doch muss dabei berücksichtigt werden, dass die Metaanalyse letztlich genau auf den Zusammenhängen basiert, die bereits Anfang der achtziger Jahre von Hirsch (1980; 1981a; 1981b) kritisiert wurden (vgl. Kapitel 2.4.3). Auch die Erfassung einfacher Korrelationen getrennt für einzelne soziodemographische Gruppen (Geschlecht, Bildung, Alter) – wie in der vorliegenden Metaanalyse geschehen – löst das Problem nur bedingt. So fand Hirsch (1980; 1981a; 1981b) – wie oben dargestellt – heraus, dass die Kultivierungseffekte stark reduziert waren oder sogar ganz verschwanden, wenn die Drittvariablen nicht einzeln, sondern mittels multivariater Regressionen gleichzeitig konstant gehalten wurden. Da nun auch die Metaanalyse wiederum genau auf den hier kritisierten einfachen Zusammenhängen basiert, muss davon ausgegangen werden, dass der tatsächliche Gesamteffekt deutlich niedriger ausfällt. Gerade vor diesem Hintergrund ist Morgan und Shanahan (1997) jedoch wiederum zuzustimmen, wenn sie konstatieren: Die in der Metaanalyse präsentierten Ergebnisse ... „… only begin to scratch the surface of the full body of cultivation analysis and the issues it raises. But given our review of the theory and methods of cultivation research and the results of our meta-analysis, we would like to emphasize the necessity to move ‘forward.’ We interpret our data as a kind of closing chapter in the methodological conflicts of the past 20 years, and as the opening chapter in a new book.” (S. 37f.)
2.6
Eigene Metaanalyse
Neben der Tatsache, dass die Validität der Ergebnisse von Morgan und Shanahan (1997) aufgrund der reduzierten Basis (s.o.) relativ eingeschränkt ist, ist festzustel-
2.6 Eigene Metaanalyse
65
len, dass der Einfluss zahlreicher Drittvariablen, deren Bedeutung in späteren Kapiteln noch näher vorgestellt wird, nicht untersucht wurde. Bei vielen intervenierenden Variablen ist trotz dreißigjähriger Kultivierungsforschung immer noch unklar, ob sie Kultivierungseffekte beeinflussen oder nicht und in welche Richtung dieser Einfluss geht (verstärkend oder abschwächend). Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Einfluss solcher Merkmale tatsächlich unterschiedlich ist. Denkbar ist, das bestimmte Merkmale nur unter bestimmten Bedingungen, bei bestimmten Teilstichproben, bei bestimmten Themen, Realitätsbereichen oder Fernsehgenres eine Rolle spielen. Dieser Frage sollte mit einer neuen Metaanalyse nachgegangen werden, die die für diese Arbeit relevanten Merkmale erfasst und auch die aktuellen Studien der letzten zehn Jahre mit berücksichtigt. Da es jedoch nicht darum ging, erneut quantifizierte Aussagen zu machen, deren Validität doch wieder eingeschränkt ist, sondern das Zusammenspiel verschiedener Variablen detailliert zu erfassen, wurde eine ‚qualitative Metaanalyse’ durchgeführt. Ähnlich wie bei Hawkins und Pringree (1982) wurden Kultivierungsstudien in einer tabellarischen Synopse zusammengefasst. Anders als bei der früheren Synopse wurden jedoch deutlich mehr Drittvariablen erfasst.
2.6.1
Stichprobe
Die inzwischen unüberschaubare Masse an Kultivierungsstudien machte es notwendig, die Stichprobe einzugrenzen. Als Kriterium wurde die Veröffentlichung einer Studie in einer der ‚wichtigsten’ Fachzeitschriften (s.u.) gewählt. Somit sollte gewährleistet sein, dass all jene Kultivierungsstudien erfasst werden, die einen gewissen Qualitätsstandard haben, der durch Peer-Review-Verfahren gesichert wird. Bei Studien, die als Monographien oder Beiträge in Sammelbänden veröffentlicht werden, ist dies nicht immer zwangsläufig gegeben. Studien, die als Monographien veröffentlicht sind und den Qualitätsstandards von Fachzeitschriften gerecht werden, werden aber häufig auch zusätzlich in Fachzeitschriften veröffentlicht, weshalb davon auszugehen ist, dass nur ein geringer Teil der relevanten Kultivierungsstudien durch diese Eingrenzung nicht berücksichtigt wird. Für die Auswahl der Fachzeitschriften galt, dass es sich um allgemeine kommunikationswissenschaftliche Zeitschriften handelt; themenspezifische Fachzeitschriften wie etwa „Journal of Health Communication“ oder „Journal of Advertising“ wurden ausgeschlossen. Auch in diesen Fachzeitschriften sind häufig Studien veröffentlicht, die in den allgemeinen kommunikationswissenschaftlichen Journals wieder auftauchen. Aufgrund der höheren Bedeutung allgemeiner internationaler
66
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Fachzeitschriften kann aber davon ausgegangen werden, dass Autoren eher versuchen, ihre Studien dort unterzubringen. Die Auswahl der internationalen kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften erfolgte auf Basis des „Essential Science Indicators“ der sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften (ISI Web of Knowledge, 2005). Auf Basis der Häufigkeit, mit der die Zeitschrift bzw. in der Zeitschrift veröffentlichte Aufsätze in anderen Publikationen zitiert werden, wird hier untersucht, welche Zeitschriften wörtlich übersetzt „essentielle Wissenschaft“ liefern und welche nicht. Somit liefert der Index quasi ein Maß für die Qualität und Relevanz einer Zeitschrift innerhalb eines bestimmten Segments. Die Datenbank internationaler sozialwissenschaftlicher Fachzeitschriften umfasst 600 Fachzeitschriften, die nach den Kriterien Zitationen pro Zeitschrift und Zitationen pro Beitrag im Zeitraum von 1. Januar 1995 bis 31. April 2005 untersucht wurden. Aus dieser Datenbank wurden die allgemein-kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften ausgewählt. Die zehn ranghöchsten Fachzeitschriften gingen in die Stichprobe ein (vgl. Tabelle 4).
Tabelle 4: Top Ten der internationalen allgemein-kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften im Social Sciene-Index Rang1 Rang2 Zeitschrift 1
137
2 3
Zitationen (Zeitschrift)
Zitationen Zeitraum (Artikel) (… - 2005)
Public Opinion Quarterly
1.998
7,27
1976
154
Journal of Communication
1.789
4,73
1976
170
Communication Research
1.665
5,88
1976
4
195
Human Communication Research
1.511
6,22
1976
5
209
Journalism & Mass Communication Qu.
1.441
2,94
1976
6
269
Journal of Broadcasting & Electronic M.
1.168
3,28
1984
7
418
Communication Monographs
762
3,79
1976
8
496
Critical Studies in Media Communication
583
1,68
1991
9
503
Communication Theory
572
3,01
1976
10
556
International Journal of Public Opinion R.
483
2,10
1989
Basis: n=600 sozialwissenschaftliche Fachzeitschriften ; Erhebungszeitraum: 01.01.1995 bis 31.04.2005 1 Rangplatz innerhalb der allgemein-kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften 2 Rangplatz innerhalb der erfassten sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften 3 aufgeführt sind die aktuellen Zeitschriftennamen: Critical Studies in Media Communication (früher: Critical Studies in Mass Communication); Journal of Broadcasting & Electronic Media (früher: Journal of Broadcasting), Journalism & Mass Communication Quarterly (früher: Journalism Quarterly) Quelle: ISI Web of Knowledge (2005)
67
2.6 Eigene Metaanalyse
Neben internationalen bzw. US-amerikanischen Fachzeitschriften wurden auch europäische und deutsche Fachzeitschriften aufgenommen, wobei hier aufgrund der geringen Anzahl verfügbarer Fachzeitschriften die Auswahl nicht weiter eingegrenzt werden musste. So wurden die beiden bedeutendsten europäischen Fachzeitschriften „Communications – European Journal of Communication Research“ und „European Journal of Communication“ in die Stichprobe aufgenommen. Die analysierten deutschen Fachzeitschriften waren „Medien & Kommunikationswissenschaft“, „Publizistik“ und „Zeitschrift für Medienpsychologie“ (vgl. Tabelle 5).
Tabelle 5: Europäische und deutsche kommunikationswissenschaftliche Fachzeitschriften in der Stichprobe Zeitschrift
Erhebungszeitraum (… - 2005)
Communications, European Journal of Communication Research
2002
European Journal of Communication
1986
Medien & Kommunikationswissenschaft (ehemals Rundfunk & Fernsehen)
1976
Publizistik
1976
Zeitschrift für Medienpsychologie (ehemals Medienpsychologie)
1986
Der Erhebungszeitraum bestimmte sich durch die Pionierstudie der Kultivierungsforschung von Gerbner & Gross (1976). Alle Zeitschriftenausgaben seit 1976 bildeten die Grundlage für die Recherche. Da nicht alle Zeitschriften schon 1976 existieren, schränkt sich der Zeitraum bei manchen zwangsläufig ein (siehe hierzu jeweils rechte Spalte in Tabelle 1 und 2). Insgesamt 15 Zeitschriften wurden im Zeitraum von 1976 bis 2005 nach Kultivierungsstudien durchsucht. Folgende Kriterien entschieden über die Aufnahme einer Studie in die Untersuchung: (1) (2)
Es musste sich um eine empirische „Primär“-Studie handeln (theoretische Aufsätze, Buchkritiken und Metaanalysen wurden nicht mit aufgenommen). Die Studie musste den Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung und/oder Einstellungen untersuchen. Studien, die lediglich Fernsehinhalte untersuchen, ohne auch den Einfluss auf die Realitätswahrnehmung zu messen, wurden ausgeschlossen (vgl. z.B. Signorielli, 1989b). Auch wurden solche Studien nicht mit berücksichtigt, die ausschließlich den Einfluss der Presse analysier-
68
(3)
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
ten (z.B. Bauer, 2005). Einige Studien wurden auch deshalb ausgeschlossen, weil sie als abhängige Variable Selbstwahrnehmung untersuchten. Grund hierfür war die Überlegung, dass mit großer Wahrscheinlichkeit andere Informationsverarbeitungsprozesse zum Tragen kommen, wenn es um die Vorstellungen von sich selbst geht als um Vorstellungen von der Umwelt (z.B. Baran, 1976: Einfluss von Sexualität im Fernsehen auf die Selbstwahrnehmung Jugendlicher; Korzenny & Neuendorf, 1980: wahrgenommene Darstellung von älteren Menschen im Fernsehen und Selbstwahrnehmung Älterer; Stroman, 1986: Selbstwahrnehmung farbiger Kinder; Myers & Biocca, 1992: Einfluss von Werbung auf das eigene Körperimage). Es sollte sich Studien handeln, bei denen Kultivierung zumindest einen Teil der theoretischen Basis bildet. Dies wurde durch das Kriterium operationalisiert, dass eine Studie andere Kultivierungsstudien (z.B. in der Regel eine der Kultivierungsstudien von Gerbner und Kollegen) zitiert. Da sich jedoch in den Anfangsjahren einige Studien fanden, die inhaltlich als Kultivierungsstudien begriffen werden können, jedoch nicht auf Gerbner verweisen, wurde dieses Kriterium spezifiziert: Somit wurden alle inhaltlich als Kultivierungsstudien verstehbare Untersuchungen (siehe 1 und 2) bis einschließlich 1985 auch dann in die Stichprobe aufgenommen, wenn sie keinen Verweis auf andere Kultivierungsstudien enthielten.24
Im Hinblick auf das untersuchte Thema, zugrunde liegende Fernsehgenres, Methode und Untersuchungsanlage sowie datenanalytische Vorgehensweise wurden hingegen keine Einschränkungen vorgenommen. Gerade die Varianz der unterschiedlichen Themen und methodischen Vorgehensweisen sollte Aufschluss darüber geben, wie Kultivierungseffekte unter welchen Bedingungen ablaufen und welche Rolle die empirische Umsetzung für die Ergebnisse spielt. Auf der Grundlage dieser Kriterien wurden somit jeweils 39 Jahrgänge (außer die Zeitschrift erschien erst später) der genannten 15 Fachzeitschriften nach Kultivierungsstudien durchsucht. Dies erfolgte anhand der Jahresregister der einzelnen Fachzeitschriften bzw. der Inhaltsverzeichnisse der einzelnen Jahrgänge oder Hefte. Zwar stellte dies sicher die mühsamste Möglichkeit dar, doch erschien sie im Vergleich mit ökonomischeren Verfahren deutlich sicherer. Zum einen sind nicht alle Fachzeitschriften, ganz zu schweigen von den frühen Jahrgängen aller Fachzeitschriften, online verfügbar, weshalb diese Option ausfiel. Zum anderen 24
Dies trifft auf die folgenden Studien zu: Payne & Peake (1977), Berman & Stookey (1980), BuerkelRothfuss, Greenberg, Atkin & Neuendorf (1982), Reeves & Garramone (1982), Atkin, Greenberg & McDermott (1983) und Surette (1985).
2.6 Eigene Metaanalyse
69
erschien auch die Recherche in Literaturdatenbanken als nicht praktikabel, da in den verfügbaren Literaturdatenbanken nicht gewährleistet ist, dass alle relevanten Fachzeitschriften darin berücksichtigt werden und Schlagworte und Studientitel nicht immer so umfassend sind, dass auf diesem Wege sichergestellt war, auch alle Studien zu finden. Somit fiel die Wahl auf die aufwändigere, aber meines Erachtens sicherste Variante, um möglichst alle Kultivierungsstudien zu erfassen. Zur Kontrolle, ob alle Kultivierungsstudien identifiziert wurden, wurden zum Schluss drei Bibliographien (University of Massachusetts, 1999; Wulff, 1999; Weimann, 2000) herangezogen, um zu vergleichen, ob dort aufgeführte Kultivierungsstudien aus den relevanten Fachzeitschriften auch gefunden worden waren. Insgesamt wurden 109 Studien identifiziert, die die Basis für die Metaanalyse bilden.
2.6.2
Analyse
Für die Analyse der 109 Studien musste zunächst festgelegt werden, ob diese quantitativ im Sinne klassischer Metaanalysen erfolgen sollte oder qualitativ. Vorteil einer quantitativen Analyse ist die Tatsache, dass die Gesamtmenge aller Befunde auf einzelne Kennwerte reduzierbar ist und somit knapp zu veranschaulichen ist. Einige wenige statistische Kennzahlen stellen zum Schluss konkret dar, welchen Gesamteffekt die Studien liefern und welche Effekte unter bestimmten Bedingungen zu beobachten sind (vgl. z.B. den Gesamteffekt von 0,09 bei Morgan & Shanahan, 1997). Dabei ist es jedoch notwendig, sich auf einzelne Indikatoren und datenanalytische Vorgehensweisen zu beschränken, damit die Studien vergleichbar sind (vgl. Morgan & Shanahan, 1997, die sich auf Studien beschränkten, die Kultivierungseffekte mit einfachen Korrelationen berechneten). Damit geht gerade das verloren, was für diese Arbeit entscheidend ist: Die Erfassung der Studien in ihrer ganzen Bandbreite, d.h. mit dem gesamten Spektrum unterschiedlicher Methoden, unterschiedlicher Fernsehnutzungsmaße, abhängiger Variablen, Drittvariablen und Datenanalyseverfahren, um auf diese Weise mögliche Muster zu entdecken, die bisher unerkannt blieben. Deshalb fiel die Wahl auf eine qualitative Analyse des Studienpools: Anstatt quantitative Kennzahlen festzuhalten, wurden die relevanten Merkmale jeder Studie tabellarisch in Textform erfasst. Folgende Merkmale wurden dabei festgehalten:
theoretische Basis Untersuchungsland Untersuchungsthema Inhaltsanalyse oder theoretische Fundierung der Kultivierungsannahmen
70
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Untersuchungsanlage und Methode: experimentelles Design; Querschnittoder Längsschnittanalyse; Befragung/Beobachtung; Stichprobe unabhängige Variablen (Fernsehnutzung, Genrenutzung) abhängige Variablen (getrennt nach Kultivierung erster und zweiter Ordnung; nahmen die Autoren diese Trennung selbst nicht vor, wurde dies im Nachhinein zugeordnet) Drittvariablen: soziodemographische Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildung, sozialer Status, ethnische Zugehörigkeit, sonstige Merkmale), Realitätserfahrung, Nutzung anderer Medien, Nutzungsmotive/-aktivität, parasoziale Interaktion, Identifikation, Involvement, Interesse, wahrgenommener Realitätsgrad, Glaubwürdigkeit, Quellenverwechslung, Informationsverarbeitung
Für die erhobenen unabhängigen, abhängigen und Drittvariablen wurde festgehalten, wie sie gemessen und datenanalytisch behandelt wurden und welche Befunde sich jeweils beobachten ließen. Zuletzt wurde jede Studie nochmals grob zusammengefasst, um ihre wichtigsten Ergebnisse und untersuchten Merkmale jeweils im Überblick erfassen zu können.
2.6.3
Überblick über die Studien
Der folgende Abschnitt soll einen kurzen Überblick über die Studien geben.25 Zunächst zur Verteilung der Studien auf die Fachzeitschriften (vgl. Tabelle 6). 25 der insgesamt 109 Studien erschienen im Journal of Communication, was nicht verwundert, da ein Großteil der Studien der Gerbner-Gruppe darin veröffentlicht wurde und die Diskussion zwischen Hirsch und Gerbner darin ausgetragen wurde. Ein Großteil der weiteren Aufsätze fand sich in den Zeitschriften „Journal of Broadcasting & Electronic Media“, „ Journalism & Mass Communication Quarterly“, „Communication Research“ und „Human Communication Research“, also in den Zeitschriften, die laut Social Science Indicator die wichtigsten darstellen. Eine Ausnahme bildet die Zeitschrift „Public Opinion Quarterly“, die im Citation Index führend ist (vgl. Tabelle 1), aber zur Kultivierung wenig liefert. Dies lässt sich relativ einfach durch die thematische Ausprägung der Zeitschrift erklären, behandelt sie doch eher Themen aus dem Bereich nonfiktionaler Berichterstattung und zum Bereich „Öffentliche Meinung“.
25
Die gesamte und detaillierte tabellarische Zusammenstellung der Studien kann online unter der Adresse www.constanze-rossmann.de abgerufen werden.
71
2.6 Eigene Metaanalyse
Tabelle 6: Verteilung der Studien auf die einzelnen Zeitschriften Zeitschriften Journal of Communication Journal of Broadcasting & Electronic Media Journalism & Mass Communication Quarterly Communication Research Human Communication Research Medien & Kommunikationswissenschaft Public Opinion Quarterly Communications, European Journal of Communication Research Communication Monographs Zeitschrift für Medienpsychologie European Journal of Communication Publizistik International Journal of Public Opinion Research Critical Studies in Media Communication Communication Theory
Anzahl 25 19 17 16 11 5 5 4 3 1 1 1 1 0 0
Basis: 109 Kultivierungsstudien, 15 Fachzeitschriften, 1976-2005
Im nächsten Schritt soll auf die zeitliche Verteilung der Kultivierungsstudien eingegangen werden. Abbildung 6 stellt diese Entwicklung in Fünfjahresschritten dar. Es werden zwei Höhepunkte deutlich, die auch als Abbildung verschiedener Phasen der Kultivierungsforschung verstanden werden können: Die ersten fünf Jahre bilden die Pionierzeit der Kultivierungsforschung ab, die hauptsächlich durch die Studien der Gerbner-Gruppe geprägt ist, Anfang der achtziger Jahre folgt dann der erste Höhepunkt. Zum einen dürfte hierfür die intensive Diskussion zwischen Hirsch und Gerbner verantwortlich zeichnen (z.B. Hirsch, 1981b). Zum anderen wurden zu dieser Zeit Diskussionen angeregt, die die ursprünglichen Annahmen der Kultivierungsforschung in Frage stellen und sich bis in die heutige Zeit ziehen: etwa die Auseinandersetzung mit den psychischen Prozessen (z.B. Hawkins & Pingree, 1981a; 1981b; Pingree, 1983; Rouner, 1984), die Untersuchung genrespezifischer Kultivierungseffekte (z.B. Buerkel-Rothfuss & Mayes, 1981; Alexander, 1985; Carveth & Alexander, 1985) und die Ausweitung der Kultivierungsforschung auf andere Realitätsbereiche. Danach nahm die Diskussion bis in die neunziger Jahre ab, bis im neuen Jahrtausend ein neuer Forschungshöhepunkt folgte, der sich zumindest teilweise auf die Suche nach neuen Erklärungswegen für den Kultivierungseffekt und die Einbeziehung neuer Theorien zurückführen lässt (z.B. heuristi-
72
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
sche Informationsverarbeitung, vgl. Shrum, 2001; Shrum & Bischak, 2001; Theory of Reasoned Action, vgl. Nabi & Sullivan, 2001).
Abbildung 6: Anzahl von Kultivierungsstudien im Zeitverlauf Anzahl 30 26 25 21 20 18 16 15 15 13
10
5
0 1 7 9 6 b is 1 9 8 0
1 9 8 1 b is 1 9 8 5
1 9 8 6 b is 1 9 9 0
1 9 9 1 b is 1 9 9 5
1 9 9 6 b is 2 0 0 0
2 0 0 1 b is 2 0 0 5
Basis: 109 Kultivierungsstudien, 15 Fachzeitschriften, 1976-2005
Diese Interpretation bestätigt sich, wenn man die jeweils dominierende Perspektive im Zeitverlauf betrachtet. Die Herangehensweise Gerbners und seiner Kollegen war von einer soziologischen Sichtweise geprägt, welche sich weniger für den Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung des Einzelnen interessierte, als mehr für gesamtgesellschaftliche Prozesse (vgl. z.B. Morgan, 2002). Selektive Fernsehnutzung, Nutzungsmotivation und psychologische Determinanten spielten für Gerbner keine Rolle. Diese Sicht änderte sich mit Beginn der achtziger Jahre, als Kultivierungsforscher begannen, die psychologischen Determinanten des Kultivierungsprozesses zu hinterfragen (vgl. Abbildung 7).26
26
Einige Kultivierungsstudien ordnen sich selbst nicht klar einer theoretischen Perspektive zu. Als soziologisch wurden Studien dann eingeordnet, wenn sie sich auf die Kultivierungshypothese stützen und in ihrem Forschungsdesign den klassischen Kultivierungsstudien folgen. Berücksichtigten die Studien hingegen psychische Prozesse oder Merkmale der Rezeption und Informationsverarbeitung (z.B. Aufmerksamkeit, Involvement, Nutzungsmotivation), so wurden sie der psychologischen Perspektive zugeordnet.
73
2.6 Eigene Metaanalyse
Abbildung 7: Theoretische Perspektive der Kultivierungsstudien Anzahl 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1976 bis 1980
1981 bis 1985
1986 bis 1990
S o zio lo gisch e P ersp ektive
1991 bis 1995
1996 bis 2000
2001 bis 2005
P sych o lo gisch e P ersp ektive
Basis: 109 Kultivierungsstudien, 15 Fachzeitschriften, 1976-2005
Betrachtet man des Weiteren die in der Kultivierungsforschung untersuchten Themen, so findet man eine erwartbare Verteilung. Entsprechend dem Realitätsbereich, aus dem die Kultivierung entstanden ist, bilden Kultivierungsstudien zu Gewalt, Verbrechen und Mean-World-Syndrom den Schwerpunkt. An zweiter Stelle stehen Studien zum Einfluss des Fernsehens auf politische Einstellungen, Orientierungen und zur politischen Wirksamkeit, an dritter Stelle Studien zu allgemeinen Wert- und Moralvorstellungen. Weitere Themen lassen sich nur vereinzelt finden. Eine Vielzahl der Studien ist multithematisch angelegt und deckt mehrere Realitätsbereiche ab (vgl. Tabelle 7). Entscheidend ist nun die Frage, ob die in der Metaanalyse betrachteten Studien die Kultivierungshypothese bestätigen. Kurz zusammengefasst lässt sich festhalten, dass dies in großer Mehrheit der Fall ist. Insgesamt 89 der 109 Studien finden signifikante Zusammenhänge, die der Kultivierungshypothese entsprechen. Dieser Schnitt ändert sich auch im Zeitverlauf nicht (vgl. Abbildung 8).
74
2 Die Ursprünge der Kultivierungsforschung
Tabelle 7: Häufigkeit der untersuchten Realitätsbereiche Realitätsbereich
n=
Gewalt, Verbrechen, Mean World Politische Einstellung, Orientierung, Efficacy Wertvorstellungen, Moralvorstellungen, Gesellschaft Wahrnehmung fremder Kulturen (Ost-/Westdeutschland, USA etc.) Wahrnehmung ethnischer Minderheiten (vorwiegend Afroamerikaner) Beziehungen, Ehe, Familie Ärzte Sonstige Themen (z.B. Wissenschaft, Glaube an Übernatürliches, Sexualität) Multithematisch
38 11 8 7 7 3 3 11 21
Basis: 109 Kultivierungsstudien, 15 Fachzeitschriften, 1976-2005
Abbildung 8: Bestätigung des Kultivierungseffektes nach Zeitabschnitten Anzahl 25
20
15
10
5
0 1 9 7 6 b is 1 9 8 0
1 9 8 1 b is 1 9 8 5
1 9 8 6 b is 1 9 9 0
K u ltiv ie ru n g se ffe k t b e stä tig t
1 9 9 1 b is 1 9 9 5
1 9 9 6 b is 2 0 0 0
2 0 0 1 b is 2 0 0 5
K u ltiv ie ru n g se ffe k t n ic h t b e stä tig t
Basis: 107 Kultivierungsstudien, 15 Fachzeitschriften, 1976-2005; fehlende Werte aufgrund nicht ausgewiesener Effekte
Freilich muss man konstatieren, dass diese Zahl nicht unbedingt ausschließt, dass eine Vielzahl von Kultivierungsstudien den Einfluss des Fernsehens nicht bestätigte. Es ist anzunehmen, dass Studien eher zur Veröffentlichung eingereicht und
2.6 Eigene Metaanalyse
75
akzeptiert werden, wenn sie signifikante Ergebnisse präsentieren. Doch auch wenn man die Dunkelziffer der Studien berücksichtigt, die in den akademischen Schubladen landen, darf man bei dieser deutlichen Überzahl an Studien mit signifikanten Ergebnissen doch annehmen, dass es Kultivierungseffekte gibt. Diese sind jedoch klein und unterliegen einer Vielzahl von Einschränkungen (vgl. Kapitel 2.4). Solange man sich nicht genau erklären kann, wie der Kultivierungsprozess abläuft, werden die Stimmen derjenigen, die die Kultivierung als Artefakt abtun, daher nie ganz verstummen: „Even though years of research have provided considerable evidence of a small but consistent relationship between television viewing and beliefs about the social world that are similar to or plausibly implied by the images in television programs (...), the research community still does not understand how this relationship occurs. And since most evidence of cultivation is based on cross-sectional survey research (although supported by an occasional experiment or panel survey), as long as these effects occur within a ‚black box‘, the whole enterprise remains vulnerable to questions of spuriousness.” (Hawkins & Pingree, 1990: S. 36, Hervorh. d. d. Verf.)
3
Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
In den ersten Jahren der Kultivierungsforschung standen zum einen empirische Studien im Vordergrund, die schlicht die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung untersuchten. Zum anderen ging es in der Regel um eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Studien und um die Frage, ob Kultivierungseffekte nun tatsächlich existieren oder lediglich Messartefakte darstellen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage war von einer soziologischen Betrachtungsweise dominiert (vgl. Kapitel 2.6.2; Morgan, 2002). Die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse blieben meist unberücksichtigt oder wurden lediglich allgemein unter dem Begriff Lernen subsumiert. Wie dieser Prozess jedoch abläuft, wurde zunächst nicht hinterfragt. Anfang der achtziger Jahre setzte eine Entwicklung ein, die nicht mehr die allgemeine Suche nach Zusammenhängen zwischen Fernsehkonsum und Realitätswahrnehmung in den Vordergrund stellt, sondern vielmehr die Frage nach den Bedingungen, Drittvariablen und zugrunde liegenden Wirkungsprozessen. Hawkins und Pingree (1981b; 1982) waren die ersten, die sich mit der Frage auseinandersetzten, wie sich die Entstehung von Kultivierungseffekten psychologisch erklären lässt.
3.1
Kultivierung als Zwei-Stufen-Prozess
Hawkins und Pingree (1981b; 1982) nannten fünf Faktoren, die die Verarbeitungsmechanismen im Kultivierungsprozess determinieren. Das Auftreten von Kultivierungseffekten ist demnach abhängig von (1) der Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, und anderen kognitiven Randbedingungen, (2) von kritischer Fernsehrezeption, (3) persönlicher Realitätserfahrung und anderen Informationsquellen, (4) sozialen Einflüssen und (5) von spezifischen Fernsehinhalten und selektiver Fernsehnutzung anstatt übergreifender Fernsehbotschaften und nonselektiver Fernsehnutzung. Diese Faktoren integrierten sie in ein Prozessmodell, welches bereits in der Einführung vorgestellt wurde (vgl. Abbildung 1; Kapitel 1).
78 3.1.1
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Lernen und Konstruktion
Kern des Modells ist die Annahme eines zweistufigen Prozesses: Im ersten Schritt werden verschiedene Arten von Fernsehinhalten (Handlungen, Eigenschaften etc., ihre Verknüpfung untereinander und ihre Auftretenshäufigkeiten) gelernt, wobei die Autoren von einem zufälligen Behalten von Fernsehinformationen ausgingen. Bei diesem Schritt werden Einflussfaktoren wie Aufmerksamkeit bei der Fernsehnutzung, Lernfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit und Involvement wirksam. Die eigentliche Konstruktion der eigenen sozialen Realität glaubten die Autoren in einem zweiten Schritt zu finden, bei dem die Rezipienten aus den zufällig behaltenen Fernsehinformationen ihre soziale Realität rekonstruieren, wobei die Fähigkeit, aus Informationen Schlüsse zu ziehen, der soziale Hintergrund und andere Realitätserfahrungen eine Rolle spielen. 1987 legten Hawkins, Pingree und Adler eine Studie vor, die die Annahme prüfte, dass das Erlernen von Fakten aus der Fernsehwelt (also die Wahrnehmung der Fernsehwelt) einen Zwischenschritt zwischen Fernsehnutzung und Konstruktion sozialer Realität darstellt (Hawkins et al., 1987: S. 556-560). Grundlegende Überlegung war, dass der Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung geringer werden müsste, wenn die Fernsehwahrnehmung kontrolliert wird. Bleibt der Kultivierungseffekt bei Kontrolle der Fernsehwahrnehmung unverändert, war davon auszugehen, dass die Fernsehwahrnehmung keinen Einfluss auf die Konstruktion sozialer Realität aus der Fernsehwelt hat und somit keinen Zwischenschritt im Kultivierungsprozess darstellt. Eine zufällige Stichprobe 100 Erwachsener aus Madison, Wisconsin, wurde telefonisch befragt. Nach den üblichen Fragen von allgemeiner Fernsehnutzung und klassischen Realitätsurteilen im Kontext von Gewalt, Verbrechen und Verbrechensbekämpfung wurden die Befragten gebeten, auch die Verteilungen in der Fernsehwelt einzuschätzen. Die Fragen zur Realitäts- und Fernsehwahrnehmung waren identisch formuliert, so dass sie in der Auswertung direkt aufeinander bezogen werden konnten. Nach Auspartialisierung von Alter und Bildung zeigten sich bei zwei von vier Realitätsurteilen signifikante Kultivierungseffekte: Vielseher schätzten die Opferwahrscheinlichkeit höher ein und die Wahrscheinlichkeit, dass Verbrechen eher an Fremden ausgeübt werden als an Verwandten oder Freunden. Die Kontrolle der Fernsehwahrnehmung reduzierte die Zusammenhänge nur marginal, so dass die Erwartung eines reduzierten Zusammenhangs zwischen Fernsehen und sozialer Realität bei Kontrolle der Fernsehwahrnehmung nicht bestätigt werden konnte. Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Fernsehwahrnehmung, fällt jedoch auf, dass die beiden Merkmale, bei
3.1 Kultivierung als Zwei-Stufen-Prozess
79
denen Kultivierungseffekte auftraten, gar nicht korrelierten. Stattdessen fanden sich bei den beiden anderen Items signifikante Zusammenhänge, die darauf hindeuteten, dass Vielseher den Anteil von Männern in der Verbrechensbekämpfung und den Anteil gewalttätiger Verbrechen im Fernsehen unterschätzten, d.h. die Zusammenhänge verliefen in der dem Kultivierungseffekt entgegengesetzten Richtung. Die Autoren erklärten dies damit, dass Wenigseher möglicherweise stereotype Vorstellungen von der Fernsehwelt anwenden. Klar ist jedoch, dass die Befunde nicht auf einen simplen Lernprozess der Fernsehverhältnisse schließen lassen. Trotz der unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Wahrnehmungsebenen ließen sich signifikante Zusammenhänge zwischen Fernseh- und Realitätswahrnehmung – also unabhängig von der Fernsehnutzung – feststellen. So fanden sich bei drei der vier Items jeweils signifikant positive Zusammenhänge zwischen Fernsehwahrnehmung und Realitätseinschätzung. Diese lassen sich möglicherweise jedoch damit erklären, dass die Abfrage der beiden Wahrnehmungsebenen relativ kurz aufeinander folgte. Somit können möglicherweise Konsistenzeffekte für die Zusammenhänge verantwortlich gemacht werden (ebd.). Denkbar ist auch, dass die Abfrage der Fernsehnutzung vor der Realitäts-und Fernsehwahrnehmung eine entscheidende Rolle gespielt hat. Den Befragten war die Rolle des Fernsehens möglicherweise von Anfang an bewusst, womit auch das Antwortverhalten verzerrt gewesen sein kann. Die Autoren zogen den Schluss, dass die Realitätswahrnehmung nicht aus ihrer Fernsehwahrnehmung konstruiert wird. Gegen die Annahme, dass die Zuschauer aus dem Fernsehen Informationen lernen und diese als Rohmaterial für ihre Realitätswahrnehmung heranziehen, spreche dies jedoch nicht. Hätte man keinen Interaktionseffekt mit der Fernsehwahrnehmung gefunden, jedoch für beide Wahrnehmungsebenen signifikante Zusammenhänge mit der Fernsehnutzung, müsste man von zwei völlig unabhängigen Prozessen ausgehen. Die Tatsache, dass sich zwar kein Interaktionseffekt bestätigen ließ, jedoch auch jeweils unterschiedliche Zusammenhänge mit der Fernsehnutzung, kann dagegen die ursprüngliche Hypothese nicht widerlegen. Vielmehr deute sie darauf hin, dass sich die Wahrnehmung der Fernsehwelt ganz anders erklärt, vielleicht mit Prozessen, die mit der Fernsehwelt gar nichts zu tun haben (Hawkins et al., 1987: S. 560). Trotz der widersprüchlichen Befunde hielten die Autoren weiter an dem Gedanken fest, dass das Erlernen von Fernsehinformationen einen Zwischenschritt zwischen Fernsehnutzung und Realitätskonstruktion darstellt. Diese Überlegung lässt sich auch in Untersuchungen anderer Autoren wiederfinden. So ging Shapiro (1991) auf Basis der Multiple Trace-Theorie (z.B. Zechmeister & Nyberg, 1982) davon aus, dass jedes Ereignis eine eigene Erinnerungsspur im Gedächtnis hinter-
80
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
lässt. Bei der Beantwortung von Fragen zur sozialen Realität, so die Annahme, werden die entsprechenden Erinnerungen aktiviert und bilden die Basis für Realitätsurteile. Auch in den Studien von Shrum und Kollegen (z.B. Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum, 1996) lässt sich die Idee gespeicherter Fernsehinformationen als Basis für die Realitätskonstruktion wiederfinden. Da an dieser Stelle jedoch lediglich die ersten Grundgedanken zum Kultivierungsprozesses vorgestellt werden, soll hier nicht weiter auf die späteren Überlegungen eingegangen werden. Kapitel 6 stellt die Weiterentwicklung vor.
3.1.2
Kultivierung erster und zweiter Ordnung
Ein weiterer Schritt in der Auseinandersetzung mit der Frage, welche Prozesse den Kultivierungseffekt erklären, lag in der Differenzierung in Kultivierung erster und zweiter Ordnung. Zunächst bezog sich dies lediglich auf eine genauere Betrachtung der abhängigen Variablen. So unterschieden Hawkins und Pingree (1982) in ihrem Überblick über die bis dahin verfügbaren Kultivierungsstudien zwischen „demographic measures“ (S. 228) und „value system measures“ (S. 233). Erstere umfassten Einschätzungen von Häufigkeiten, die eng an Fernsehinhalte gebunden sind, wie etwa Verbrechenshäufigkeiten oder Geschlechterverteilungen in Berufen. Die sogenannten „value system measures“ gehen einen Schritt weiter und messen die Bedeutung von Handlungen und Ereignissen als Indikatoren für zugrunde liegende Einstellungen und Werte wie z.B. Viktimisierungsangst, Ergreifung von Schutzmaßnahmen, Entfremdung oder persönliches Misstrauen. Gerbner et al. (1986) griffen diese Unterscheidung auf: „Our investigation of the cultivation process is not limited to the lessons of television facts compared to real-world statistics. Some of the most interesting and important topics and issues for cultivation analysis involve the symbolic transformation of message system data into hypotheses about more general issues and assumptions.” (S. 28)
Die demographischen Einschätzungsmaße finden bei Gerbner et al. (1986) ihre Entsprechung in der Bezeichnung Kultivierung erster Ordnung, während die Herausbildung von Einstellungen und Werten als Kultivierung zweiter Ordnung verstanden wird. Dahinter steckt, wenn auch nicht weiter ausgeführt, die Annahme, dass das Erlernen der Häufigkeiten von Ereignissen oder demographischer Verteilungen aus dem Fernsehen die Basis für die Herausbildung genereller Wertvorstellungen und Einstellungen darstellt:
81
3.1 Kultivierung als Zwei-Stufen-Prozess
„The facts (which are evidently learned quite well) are likely to become the basis for a broader world view, thus making television a significant source of general values, ideologies, and perspectives as well as specific assumptions, beliefs and images. This extrapolation beyond the specific facts derived from message system analysis can be seen as second-order cultivation analysis.“ (ebd.: S. 28)
Damit deuten die Autoren bereits die Vorstellung an, dass es sich hierbei um einen zweistufigen Prozess handelt, bei dem zunächst die Häufigkeitsverteilungen gelernt werden und aus ihnen im zweiten Schritt Werte und Einstellungen gebildet werden. Entsprechend vermuten Hawkins et al. (1987): „demographic beliefs are an intermediate step to the implied or second-order beliefs, and thus they should be stronger predictors of second-order beliefs than television viewing itself.” (S. 561) Abbildung 9 veranschaulicht diese Annahme.
Abbildung 9: Prozessmodell zur Kultivierung erster und zweiter Ordnung
Fernsehkonsum
Einschätzung von soziodemographischen Verteilungen und Ereignishäufigkeiten in der Realität (Kultivierung 1. Ordnung)
Einstellungen und Wertvorstellungen (Kultivierung 2. Ordnung)
Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Hawkins et al., 1987.
Zur Untersuchung dieser Annahme zogen Hawkins et al. (1987) die Daten dreier Befragungen für eine Sekundäranalyse heran. In allen drei Studien wurde die allgemeine Fernsehnutzungsdauer von Jugendlichen (aus Australien bzw. USA) mittels Tagebuchbefragungen ermittelt. Zusätzlich wurden einander ähnliche Kultivierungsmaße erster und zweiter Ordnung abgefragt. Die Fragen zur Kultivierung erster Ordnung umfassten Einschätzungen von Verbrechenswahrscheinlichkeiten, Häufigkeitsfragen zur Polizeiarbeit, zu Geschlechterrollen und Geschlechterverteilungen in verschiedenen Berufen und zu Familienrollen. Kultivierungsmaße zweiter Ordnung waren Einstellungen wie Entfremdung und Misstrauen, Viktimisierungsangst, Einstellungen zur Bestrafung von Verbrechen, zur Kompetenz von Frauen sowie Geschlechter- und Familienrollen. Als ersten Schritt zur Überprüfung der Modellannahme wurden die klassischen Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung analysiert. Dabei zeigten sich auffällige Unterschiede zwischen den Wahrnehmungsebenen: Während sich Kultivierungseffekte erster Ordnung eher auf die Bereiche Gewalt-, Verbrechens-
82
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
wahrnehmung und Polizeiarbeit konzentrierten, ließen sich bei den Kultivierungsmaßen zweiter Ordnung auch in Bezug auf Einstellungen zu Frauen, Geschlechterund Familienrollen Zusammenhänge finden. Anders als bei den Einschätzungsmaßen traten Kultivierungseffekte zweiter Ordnung eher bei älteren Jugendlichen auf, was die Vermutung nahelegt, dass hier etwas andere, geistig fortgeschrittenere Prozesse beteiligt sein könnten. Die konkrete Analyse eines Interaktionseffektes zwischen Kultivierung erster und zweiter Ordnung bestätigt den fehlenden Zusammenhang bei der Gesamtstichprobe: So reduzierten sich die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Einstellungen nach Auspartialisierung der Häufigkeitseinschätzungen nur unmerklich. Da die Einschätzungsmaße mit den Einstellungen unabhängig von der Fernsehnutzungsdauer ebenfalls kaum korrelierten, ist dies jedoch nicht verwunderlich. Von 19 Zusammenhängen waren lediglich sechs auf dem 10%-Niveau signifikant. Auch der dritte Test bestätigte, dass die Kultivierungsurteile zweiter Ordnung nicht aus den Kultivierungsurteilen erster Ordnung konstruiert worden waren: Hawkins et al. (1987) teilten hierfür die Befragten in zwei Gruppen: Gruppe 1 umfasste die Befragten, deren Einschätzungsurteile in Richtung Fernsehantwort verzerrt waren, Gruppe 2 jene, deren Einschätzungen sich eher an der Realität orientierten. Um die Annahme zu bestätigen, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung aus den Einschätzungen erster Ordnung gebildet werden, dürfen Kultivierungseffekte zweiter Ordnung nur bei den Befragten zu finden sein, deren Einschätzungen der Fernsehwelt entsprachen. Auch diese Annahme ließ sich nicht bestätigen. Stattdessen deuteten die Befunde sogar darauf hin, dass Kultivierungseffekte zweiter Ordnung eher bei denen auftreten, die realistischere Einschätzungen abgegeben hatten. Nach Überprüfung, ob sich die beiden Gruppen auch hinsichtlich anderer Variablen unterscheiden, zeigte sich, dass die Gruppe mit den realistischeren Antworten auch die intelligentere Gruppe war, was ebenfalls die Vermutung stützt, dass für die Herausbildung von Einstellungen aus dem Fernsehen bestimmte mentale Fähigkeiten notwendig sind, die erst bei älteren Jugendlichen auftreten (s.o.). In Bezug auf das prognostizierte Prozessmodell, das Kultivierungseffekte zweiter Ordnung auch im Prozess nachgeschaltet sieht, schließen die Autoren jedoch: „In fact, we can now say that second-order beliefs are not second for the viewers; they are apparently cultivated from the same raw material as the demographic beliefs rather than second-hand.“ (Hawkins et al., 1987: S. 573) Potter (1991c) hielt dennoch an der Annahme fest, dass Kultivierung erster und zweiter Ordnung zusammenhängen: „It is too early to abandon their [Hawkins & Pingree’s, Anm. d. Verf.] subprocess model, especially the notion that viewers may construct their second-order beliefs from first-order estimates.” (S. 95) Daher
3.1 Kultivierung als Zwei-Stufen-Prozess
83
überprüfte er den Zusammenhang zwischen den Kultivierungsmaßen in einer weiteren Studie. Er ging von der Überlegung aus, dass der fehlende Zusammenhang zwischen Kultivierung erster und zweiter Ordnung bei Hawkins et al. (1987) nicht unbedingt bedeutet, dass es gar keinen Zusammenhang gibt. Stattdessen sei dies lediglich ein Hinweis darauf, dass es keine symmetrischen Zusammenhänge zwischen den Wahrnehmungsebenen gebe. Durchaus seien aber asymmetrische Zusammenhänge denkbar (Potter, 1991c). Dies verdeutlichte Potter (1991c: S. 98) mit folgendem Beispiel: Von 100 Befragten beantworten 45 die Einschätzungsfragen (1. Ordnung) mit der Fernsehantwort, 25 davon haben auch eine in Richtung Fernsehen verzerrte Einstellung (2. Ordnung), während die Einstellungen der restlichen 20 eher an der Realität orientiert sind. Eine Überprüfung symmetrischer Zusammenhänge würde hier sehr niedrige Werte liefern und dazu führen, einen Zusammenhang zwischen den Wahrnehmungsebenen abzulehnen. Bei genauerer Betrachtung der asymmetrischen Zusammenhänge würde man allerdings erkennen, dass alle jene, die vom Fernsehen geprägte Einstellungen haben, auch die Realität so einschätzen, wie sie im Fernsehen dargestellt ist: „A high first-order score is a necessary condition for a high second-order score to occur; that is, if we know a respondent has a high second-order score, we can predict with 100% accuracy that he or she also has a high first-order score.“ (ebd.: S. 98)
Dabei legte sich Potter (1991c) allerdings nicht darauf fest, welche Wahrnehmungsebene im Prozess vorgelagert ist. Während Gerbner et al. (1986) und Hawkins et al. (1987) das Erlernen von Häufigkeitsverteilungen aus dem Fernsehen als Zwischenschritt zur Einstellungsbildung sehen, hält Potter auch die umgekehrte Reihenfolge für denkbar. So sei es auch möglich, dass Befragte, die Fragen über die Häufigkeiten bestimmter Ereignisse oder soziodemographische Verteilungen beantworten müssen, zunächst an ihre generellen Einstellungen denken und sich an ihnen orientieren, um sich ein Bild über bestimmte Verteilungen zu machen. Denkt man etwa an Geschlechterrollen, so ist diese Überlegung durchaus naheliegend. So ist es denkbar, dass Zuschauer, die generell der Ansicht sind, dass Frauen sich für akademische Berufe weniger eignen als Männer, den Anteil von Frauen, die als Ärzte, Rechtsanwälte oder Architekten arbeiten, unterschätzen. In diesem Fall ginge die generelle Einstellung der Einschätzung voraus. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung legte Potter (1991c) sich zunächst auf keine der beiden Zusammenhangsrichtungen fest (vgl. Abbildung 10).
84
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Abbildung 10: Zusammenhang zwischen Kultivierung erster und zweiter Ordnung
Kultivierung
?
erster Ordnung
Kultivierung zweiter Ordnung
?
Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Potter, 1991c.
Zur Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Kultivierung erster und zweiter Ordnung führte Potter (1991c) eine schriftliche Befragung unter 308 Schülern durch. Die Befragung erfolgte zu zwei Messzeitpunkten: Der erste Fragebogen erfasste die Fernsehnutzung sowie diverse Drittvariablen. Drei Monate später wurden die abhängigen Merkmale abgefragt. Inhaltlich ging es um drei Themen (Berufstätigkeit von Frauen, Scheidungen und Affären sowie Reichtum), zu denen jeweils mehrere Einschätzungs- und Einstellungsfragen gestellt wurden. Die Fernsehnutzung wurde zwar erhoben, in der Auswertung aber nicht berücksichtigt, da in dieser Studie lediglich der Zusammenhang zwischen Einschätzungen und Einstellungen untersucht werden sollte. Anders als Hawkins et al. (1987) brachte die Betrachtung der bivariaten Zusammenhänge zwischen den beiden Wahrnehmungsebenen für alle drei Themen signifikante Ergebnisse. Keiner der Koeffizienten war jedoch höher als r=0,18, weshalb davon ausgegangen wurde, dass auch asymmetrische Zusammenhänge vorliegen. Dies wurde mit dem „Somer’s D Test für Ordinaldaten“ überprüft, dessen Koeffizient anzeigt, wie gut sich durch Kenntnis einer unabhängigen Variable eine abhängige Variable vorhersagen lässt. Ein Vergleich der Koeffizienten für beide Zusammenhangsrichtungen (Kultivierung erster Ordnung als unabhängige Variable, Kultivierung zweiter Ordnung als abhängige und umgekehrt) zeigte für das Thema Berufstätigkeit von Frauen keinen Unterschied, weshalb dahinter doch eher symmetrische Zusammenhänge vermutet wurden. Bei den Themen Reichtum und Scheidungen/Affären jedoch waren die Koeffizienten jeweils höher, wenn die Einstellungen aus den Einschätzungen vorhergesagt wurden. Somit deuten die Befunde auf die ursprüngliche Vermutung hin, dass Einstellungen aus Einschätzungen konstruiert werden und nicht umgekehrt. Die Natur dieses Zusammenhangs lässt sich durch die zweite Analyse besser veranschaulichen. Hierfür wurden die Befragten auf Basis ihrer Antworten gruppiert in Personen mit hohen und niedrigen Werten bei den Einschätzungsfragen
3.1 Kultivierung als Zwei-Stufen-Prozess
85
und mit hohen und niedrigen Werten bei den Einstellungsfragen. Für jedes Thema und beide Zusammenhangsrichtungen wurden Prozentanteile gebildet, die zeigen, wie viele der Befragten, die hohe Werte bei den Einschätzungsfragen erzielten, auch hohe Werte bei den Einstellungsfragen hatten und umgekehrt. Wie aufgrund des vorherigen Tests vermutet waren die Prozentanteile beider Zusammenhangsrichtungen beim Thema Berufstätigkeit von Frauen recht ähnlich. Beim Thema Reichtum wichen sie voneinander ab. Von denjenigen, die hohe Werte bei den Einschätzungsfragen aufwiesen, hatten 88 Prozent auch hohe Werte bei den Einstellungsfragen, umgekehrt hatten nur 24 Prozent der Personen mit hohen Werten bei den Einstellungsfragen auch hohe Werte bei den Einschätzungsfragen. Ähnlich verhielt es sich beim Thema Scheidungen/Affären (68 % versus 28 %). Während die Kontrolle soziodemographischer und psychologischer Variablen keine Unterschiede aufzeigte, ließ sich im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit von Frauen ein Interaktionseffekt mit dem Geschlecht beobachten. In den Geschlechtergruppen zeigten sich asymmetrische Zusammenhänge in entgegengesetzter Richtung. Während bei Männern das bekannte Muster zu beobachten war, nach dem die Einstellungen aus den Einschätzungen gebildet wurden und nicht umgekehrt, war das bei den weiblichen Schülerinnen anders: Hier ließen sich die Einschätzungen aus den Einstellungen besser vorhersagen als umgekehrt. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Zum einen bestätigen die Ergebnisse der Studie die ursprüngliche Annahme, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung aus den Einschätzungen erster Ordnung rekonstruiert werden und unterstützen somit die von Hawkins und Pingree (1982) und Hawkins et al. (1987) vorgeschlagenen Prozessmodelle. Zum anderen ist jedoch denkbar, dass das Thema bzw. die Relevanz eines Themas für die Befragten eine Rolle spielt: So deuten die Befunde im Zusammenhang mit der Genderfrage darauf hin, dass bei Befragten, die zu einem Thema etwa aufgrund von persönlicher Betroffenheit eine feste Meinung haben, die entsprechende Einstellung Oberhand gewinnt und die Antworten auf Häufigkeitsfragen determiniert. Potter (1991c) schließt aus diesen Befunden: „Until researchers are able to determine what types of topics, subgroups of respondents, and orders of measures interact, it will be best to include both orders so that the results of that research can contribute to our inventory of knowledge about this problem.“ (S. 111)
86 3.1.3
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Lernen und Konstruktion von Einschätzungen und Einstellungen
Hawkins et al.’s (1987) Überlegungen wurden von Potter (1988b) auch auf andere Weise fortgeführt. So untersuchte er in einer weiteren Studie erneut die Subprozesse Lernen und Konstruktion und bezog dabei zusätzlich die Unterscheidung von Kultivierungseffekten erster und zweiter Ordnung mit ein (vgl. Abbildung 11). Abbildung 11: Allgemeines Modell als Grundlage für Potters (1988b) Studie
LERNEN Fernsehkonsum
KONSTRUKTION Wahrnehmung der Fernsehwelt
Einschätzungen von Häufigkeiten in der Realität (Kultivierung 1. Ordnung) Einstellungen und Wertvorstellungen (Kultivierung 2. Ordnung)
Quelle: Potter, 1988b: S. 939.
Zur Prüfung des Modells befragte Potter (1988b) 252 Schüler zu zwei Messzeitpunkten. Der erste Fragebogen erhob die allgemeine Fernsehnutzung, der zweite (zwei Wochen später) die Realitätswahrnehmung der Schüler und diverse Drittvariablen. Abhängige Variablen bildeten Häufigkeitseinschätzungen verschiedener Verbrechensarten in der Realität (Kultivierung erster Ordnung) und im Fernsehen (Wahrnehmung der Fernsehwelt) sowie die Angst, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen (Kultivierung zweiter Ordnung). Partialkorrelationen bestätigten einen generellen Kultivierungseffekt erster Ordnung. Die Schüler schätzten also die Häufigkeit verschiedener Verbrechensarten umso höher ein, je mehr sie fernsahen. Mehr Angst vor Verbrechen hatten sie durch einen erhöhten Fernsehkonsum nicht. Ein Kultivierungseffekt zweiter Ordnung ließ sich also nicht bestätigen. Bei Betrachtung der Subprozesse zeigten sich interessante Unterschiede. Der Lernprozess konnte bestätigt werden: Die Schüler überschätzten mit zunehmenden Fernsehkonsum auch die Verbrechenshäufigkeiten im Fernsehen. Der Konstruktionsprozess bestätigte sich nur für das Einstellungsmaß. Während die Einschätzung der Verbrechenshäufigkeit nicht aus der Fernsehwahrnehmung rekonstruiert wurde, schien dies bei der Viktimisierungsangst der Fall zu sein (vgl. Abbildung 12).
87
3.2 Kultivierung als Drei-Stufen-Prozess
Abbildung 12: Ergebnisse der Studie Potters (1988b)
Einschätzungen von Häufigkeiten in der Realität (Kultivierung 1. Ordnung)
LERNEN Fernsehkonsum
Wahrnehmung der Fernsehwelt
KONSTRUKTION Einstellungen und Wertvorstellungen (Kultivierung 2. Ordnung)
Zusammenhang signifikant kein Zusammenhang bzw. nicht signifikant
Quelle: Orientiert an Potter (1988b: S. 939).
Um Aufschluss über die Art der Zusammenhänge zu erhalten, führte Potter (1988b) weitere Analysen durch. Zunächst überprüfte er – wie Hawkins et al. (1987) – die Frage, ob die Wahrnehmung der Fernsehwelt eine intervenierende Variable im Kultivierungsprozess darstellt. Eine Auspartialisierung der Fernsehwahrnehmung in den Korrelationen zwischen Fernsehkonsum und Kultivierungsmaßen erster und zweiter Ordnung reduzierte die Effekte allerdings auch hier nur marginal, was die Befunde von Hawkins et al. (1987) bestätigt. Die Fernsehwahrnehmung scheint also keinen Zwischenschritt zwischen Fernsehnutzung und Kultivierung erster und zweiter Ordnung darzustellen. Auch eine jeweils getrennte Auswertung für jene, die die Verbrechenszahlen im Fernsehen hoch einschätzten, und jene, die sie niedrig einschätzten, zeigte keine weiteren Unterschiede. Die Wahrnehmung der Fernsehwelt ist demnach zwar eine im Kultivierungsprozess vorangestellte Variable, jedoch keine intervenierende: „Therefore it must be concluded that estimates of violent acts on TV is an antecedent variable, not an intervening, distorter or component variable“ (Potter, 1988b: S. 935).
3.2
Kultivierung als Drei-Stufen-Prozess
Bis dahin hatte die Aufteilung des Kultivierungsprozesses in die Subprozesse Lernen und Konstruktion keine wirklich befriedigenden Ergebnisse gebracht. Dennoch griff Potter (1991a) das Modell abermals auf und spezifizierte es weiter (vgl. Abbildung 13).
88
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Abbildung 13: Prozessmodell der Kultivierung (Potter, 1991a)
LERNEN
Wahrnehmung der Fernsehwelt: Einstellungen (2. Ordnung)
KONSTRUKTION 2. ORDNUNG
GENERALISIERUNG Fernsehkonsum
Einstellungen und Wertvorstellungen (2. Ordnung)
GENERALISIERUNG KULTIVIERUNG
LERNEN
Wahrnehmung der Fernsehwelt: Einschätzungen (1. Ordnung)
KONSTRUKTION 1. ORDNUNG
Einschätzungen von Häufigkeiten in der Realität (1. Ordnung)
Quelle: Potter, 1991a: S. 82.
Wie die vorherigen Modelle unterteilt auch dieses Modell den Kultivierungsprozess, also die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung erster und zweiter Ordnung, in Subprozesse. Wie bei den früheren Modellen sind die Subprozesse Lernen und Konstruktion beteiligt. Lernen meint den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und wahrgenommener Fernsehwelt – unterteilt in Einschätzungen über Häufigkeitsverteilungen in der Fernsehwelt (Fernsehwahrnehmung erster Ordnung) und generelle Vorstellungen von der Fernsehwelt (Fernsehwahrnehmung zweiter Ordnung). Aus der Fernsehwahrnehmung wird die soziale Realität konstruiert, wobei Konstruktion erster Ordnung die Herausbildung von Einschätzungen der Häufigkeiten in der Realität meint, Konstruktion zweiter Ordnung die Konstruktion von Einstellungen und Wertvorstellungen aus den entsprechenden Vorstellungen über die Fernsehwelt. Hinzu kommt ein dritter Subprozess, den Potter (1991a) „Generalisierung“ nennt. Dieser beschreibt den Zusammenhang zwischen Fernsehwahrnehmung und Realitätswahrnehmung erster und zweiter Ordnung. Entsprechend den bisherigen Befunden geht Potter (1991a) davon aus, dass die Wahrnehmungen zweiter Ordnung jeweils aus den Einschätzungen erster Ordnung generalisiert werden. Anders als bei den früheren Modellen wird hier auch die Bedeutung der Fernsehnutzung explizit diskutiert. So geht Potter (1991a) davon aus, dass der Fernsehkonsum allen anderen Subprozessen und beteiligten Merkmalen vorausgeht. Wie
3.2 Kultivierung als Drei-Stufen-Prozess
89
im Modell sichtbar trifft dies sowohl auf den Konstruktionsprozess erster Ordnung als auch auf die Konstruktion zweiter Ordnung zu. Beiden Subprozessen ist jeweils der Lernprozess durch den Fernsehkonsum vorgeschaltet. Dies trifft auch zu auf die Generalisierung genereller Vorstellungen über die durchs Fernsehen vermittelten Werte, die aus den wahrgenommenen Ereignishäufigkeiten im Fernsehen generalisiert werden. Lediglich der Generalisierung von Einstellungen und Wertvorstellungen aus den Häufigkeitseinschätzungen über die soziale Realität ist der Fernsehkonsum nicht direkt vorgeschaltet. Somit bildet der Fernsehkonsum die antezendierende Variable für alle beteiligten Subprozesse mit Ausnahme der Generalisierung von Vorstellungen über die soziale Realität. Stichprobe für die Untersuchung des Modells waren 308 Schüler, die zweimalig befragt wurden. Der erste Fragebogen erfasste die Fernsehnutzung der Schüler, der zweite (drei Monate später) die abhängigen Variablen, also Fernsehwahrnehmung und Realitätswahrnehmung. Soziodemographische Merkmale wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Haushaltseinkommen, IQ sowie Bildungsstand und Berufe der Eltern wurden den Schulakten entnommen. Untersucht wurden Einschätzungen und Einstellungen zu fünf Themenbereichen: Verbrechen, Berufstätigkeit von Frauen, Reichtum, Scheidung/Affären und Gesundheit. Zu jedem Thema wurden jeweils äquivalente Fragen für die Fernsehwahrnehmung und die Wahrnehmung der sozialen Realität gestellt, jeweils wiederum unterteilt in Einschätzungen und generelle Vorstellungen bzw. Einstellungen, woraus für jedes Thema den Subprozessen entsprechend jeweils vier Indices gebildet wurden. Zur Überprüfung der einzelnen Subprozesse, wurden zunächst Partialkorrelationen gerechnet. Der Kultivierungseffekt bestätigte sich, wobei die Kultivierungseffekte erster Ordnung stärker ausgeprägt waren als die Effekte zweiter Ordnung. Alle Zusammenhänge verliefen entsprechend der durch die Darstellung im Fernsehen vorhergesagten Richtung. Ein Lernprozess ließ sich indes nicht eindeutig nachweisen: Die Einschätzungen über die Fernsehwelt korrelierten nur beim Thema Gesundheit signifikant mit der Fernsehnutzung, einige verliefen in der entgegengesetzten Richtung. Bei den generellen Vorstellungen über die Fernsehwelt waren zwei der Zusammenhänge signifikant, jedoch wichen beide von der vorhergesagten Richtung ab. Die Konstruktion sozialer Realität aus der Fernsehwahrnehmung ließ sich hingegen zumindest für die Konstruktion erster Ordnung bestätigen. Auf der Einschätzungsebene fanden sich die stärksten Zusammenhänge überhaupt, wonach bei allen Themen die Häufigkeitseinschätzungen über die Realität mit der entsprechenden Fernsehwahrnehmung korrelierten. Für die Konstruktion von Einstellungen aus den Vorstellungen über die Fernsehwelt allerdings fand sich kein Hinweis, hier war keiner der Zusammenhänge signifikant.
90
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Zuletzt wurde die Frage nach einem Generalisierungsprozess betrachtet. Dieser ließ sich für beide Wahrnehmungsebenen bestätigen. Genauso wie die Vorstellungen über die Fernsehwelt signifikant mit den entsprechenden Einschätzungen korrelierten (bei drei Themen), hingen auch die Einstellungen bei den meisten Themen (vier von fünf) signifikant mit den Häufigkeitseinschätzungen über die Realität zusammen (Abbildung 14 veranschaulicht diese Befunde). Abbildung 14: Ergebnisse der Studie Potters (1991a)
LERNEN
Wahrnehmung der Fernsehwelt: Einstellungen (2. Ordnung)
KONSTRUKTION 2. ORDNUNG
GENERALISIERUNG Fernsehkonsum
Einstellungen und Wertvorstellungen (2. Ordnung)
GENERALISIERUNG
KULTIVIERUNG
LERNEN
Wahrnehmung der Fernsehwelt: Einschätzungen (1. Ordnung)
KONSTRUKTION 1. ORDNUNG
Einschätzungen von Häufigkeiten in der Realität (1. Ordnung)
Zusammenhang bestätigt Zusammenhang schwach bestätigt Zusammenhang nicht bestätigt
Eigene Darstellung basierend auf Potter, 1991a: S. 82.
Im nächsten Schritt wurde die Hypothese geprüft, dass das Fernsehen die antezendierende Variable für die Subprozesse darstellt. Die rechnerische Vorgehensweise beruhte auf dreierlei Annahmen: Für die Bestätigung der Hypothese müsste die Fernsehnutzung zunächst mit den jeweiligen am Subprozess beteiligten Variablen korrelieren (beim Konstruktionsprozess erster Ordnung z.B. mit der Einschätzung der Häufigkeiten im Fernsehen und der Häufigkeitseinschätzung über die Realität), zudem müssten die Zusammenhänge zwischen den beteiligten Variablen nach Kontrolle der Fernsehnutzung bestehen bleiben, während der Zusammenhang
3.3 Resümee: Subprozesse der Kultivierung
91
zwischen abhängiger Variable (Einschätzung der Realität) und Fernsehnutzung verschwindet, wenn die unabhängige Variable (Einschätzung des Fernsehens) kontrolliert wird. Diese Überlegung ließ sich nur für zwei von insgesamt 20 Zusammenhängen belegen, weshalb davon auszugehen ist, dass das Fernsehen keine antezendierende Bedingung darstellt. Dies bestätigt die Ergebnisse von Hawkins et al. (1987). Es bedeutet aber nicht, dass das Ausmaß der Fernsehnutzung keinen Einfluss auf die Subprozesse hat. Dies zeigen Kontingenzanalysen, für die die Befragten in drei Fernsehnutzungsgruppen (Vielseher, Mittel- und Wenigseher) aufgeteilt wurden. Konstruktions- und Generalisierungsprozesse wurden jeweils für die einzelnen Nutzergruppen überprüft. Beim Konstruktionsprozess zweiter Ordnung zeigt sich auch hier kein systematisches Muster, die Ergebnisse zur Konstruktion erster Ordnung und zu den Generalisierungsprozessen weisen dagegen darauf hin, dass die einzelnen Subprozesse bei Nutzergruppen mit erhöhtem Fernsehkonsum stärker ausgeprägt sind. Je höher der Fernsehkonsum ist, desto eher scheinen die Zuschauer ihre Einschätzungen über die Realität aus den wahrgenommenen Fernsehinhalten zu rekonstruieren und desto stärker sind auch die Generalisierungsprozesse ausgeprägt, bei denen die Zuschauer ihre generellen Vorstellungen über die Fernsehwelt oder die Realität aus den entsprechenden wahrgenommenen Häufigkeiten bilden.
3.3 3.3.1
Resümee: Subprozesse der Kultivierung Zusammenfassung der vorgestellten Studien
Hawkins et al. (1987) und Potter (1988b; 1991a; 1991c) haben sich ausführlich mit den Subprozessen der Kultivierung beschäftigt. Tabelle 8 zeigt diese im Überblick und verdeutlicht die zum Teil starken Abweichungen der Befunde.
92
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Tabelle 8: Überblick über die Befunde zu den Subprozessen Stichprobe
Kultivierung
Lernen
Konstruktion Generalisierung
Hawkins et al. (1987)
Erwachsene (n=100)
ja (1)
nein
ja (1)
-
Hawkins et al. (1987)
Kinder / Jugendliche (n=1280/378/171)
ja (1 & 2)
-
-
nein (R)
Potter (1991c)
Jugendliche (n=308)
-
-
-
ja (R)
Potter (1988b)
Jugendliche (n=252)
ja (nur 1)
ja
ja (nur 2)
-
Potter (1991a)
Jugendliche (n=308)
ja (1), tlw. (2)
nein
ja (nur 1)
ja (TV & R)
Anmerkung: 1 = Prozesse erster Ordnung, 2 = Prozesse zweiter Ordnung, TV = Fernsehwahrnehmung, R = Realitätswahrnehmung, nein = nicht bestätigt, ja = bestätigt, - = nicht erfasst
Relativ eindeutig scheint zu sein, dass die Konstruktion von Realitätsurteilen aus der Fernsehwahrnehmung auf irgendeine Art und Weise am Kultivierungsprozess beteiligt ist. Alle drei Studien, die diese Frage untersucht haben, bestätigen dies (Hawkins et al., 1987; Potter, 1988b; 1991a). Potter (1991a) konnte allerdings nur einen Konstruktionsprozess erster Ordnung nachweisen. Hawkins et al. (1987) hatten nur diesen untersucht und bestätigten ihn ebenfalls. Auch wenn Potter (1988b) nur einen Konstruktionsprozess zweiter Ordnung, d.h. die Konstruktion von generellen Vorstellungen über die Realität aus der Wahrnehmung der Fernsehwelt, bestätigte, lässt sich in der Gesamtschau der Studien davon ausgehen, dass ein Konstruktionsprozess der Realitätseinschätzung aus der Einschätzung der Fernsehwelt eher dem Kultivierungseffekt erster Ordnung vorausgeht. Weniger eindeutig sind die Befunde zum Lernen. Während Potter (1988b) zunächst einen Lernprozess bestätigen konnte, gelang ihm dies in seiner späteren Studie (1991a) genauso wenig wie Hawkins et al. (1987). Dies kann zweierlei bedeuten. Zum einen könnte die Wahrnehmung der Fernsehwelt vollkommen unabhängig sein von der Fernsehnutzung, weil sie eher auf externen Quellen über das Fernsehen beruht als auf der tatsächlichen Nutzung von Sendungen. Zum anderen kann dies aber auch ein Hinweis darauf sein, dass die Wahrnehmung der Fernsehwelt unabhängig ist von der Höhe des Fernsehkonsums. So ist denkbar, dass bereits eine sehr geringe Fernsehnutzung ausreicht, um Vorstellungen vom Fernsehen zu prägen, die bei der Abfrage aktiviert werden, weshalb wir bei Vielsehern einen Deckeneffekt beobachten, der aber nicht bedeutet, dass die Vorstellun-
3.3 Resümee: Subprozesse der Kultivierung
93
gen über die Fernsehwelt nichts mit der Fernsehnutzung zu tun haben. Hawkins et al (1987) schlossen aus den Befunden: „In fact, perhaps we should begin to question whether learning is an appropriate term for the processes involved in cultivation at all. Learning may not be necessary. It may be time to pay attention to the reinforcement aspects of cultivation that are central to it as a social system process, and ask whether we can locate psychological reinforcement explanations as well. While we know of no studies testing this, the argument would be that we all learn the full array of norms and stereotypes television might cultivate, perhaps partly from television but most centrally from being a part of this culture. The role of continued heavy exposure to television would then not be learning of the stereotypes, but the repeated instantiation of some stereotypes by their exemplars. Because television content is biased in certain ways, some norms and stereotypes would be instantiated more often than others, which would lead to these becoming more accessible, more elaborated, more identified as one‘s own, and so on.“ (Hawkins et al., 1987: S. 575)
Bevor der Blick vollkommen vom Lernprozess abgewendet wird, sollte man bedenken, dass die direkte Abfrage der Fernsehwahrnehmung in Kultivierungsstudien methodisch nicht einwandfrei ist, da die Befragungssituation auf diese Weise von dem, was sich bei der Herausbildung von Realitätsurteilen tatsächlich abspielt, zu stark abweicht. Die Abfrage der Fernsehwahrnehmung, die in allen vorgestellten Studien vor den Fragen zur Realitätswahrnehmung erfolgte, kann dazu führen, dass den Befragten bewusst wird, worum es geht, zumal wenn die Fragen zur Fernsehund Realitätswahrnehmung – wie es hier der Fall war – fast identisch sind. Dies dürfte nicht nur die Befunde zu der Frage verzerren, ob die Befragten Fernsehinhalte in irgendeiner Art und Weise gelernt haben, sondern auch die Ergebnisse zu den weiteren beteiligten Subprozessen. In Alltagssituationen fragen wir uns schließlich auch nicht, wie wir die Fernsehwelt wahrnehmen, bevor wir unsere Meinungen und Einstellungen bilden. Daher sollte man die Möglichkeit, dass eine Art von Lernen an der Kultivierung beteiligt ist, nicht unbedingt ausschließen. Vermutlich handelt es sich dabei jedoch eher um unbewusste Prozesse, die auf andere methodische Weise aufgedeckt werden müssen. Die bereits erwähnten Autoren Shapiro (vgl. z.B. 1991) und Shrum (vgl. z.B. Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum, 1996) liefern hierfür vielversprechende methodische Ansätze und empirische Evidenzen. Kapitel 6 wird diese genauer vorstellen. Die Frage nach einem Generalisierungsprozess von Einstellungen aus Häufigkeitseinschätzungen – wenn man von dem grundsätzlichen Problem einmal absieht, dass auch diese Befunde unter der methodisch diskussionswürdigen Vorgehensweise leiden – lässt sich auf Basis der vorgestellten Studien eher bejahen. Während Hawkins et al. (1987) diesen nicht bestätigten, fand Potter (1991a; 1991c) in zwei Studien Belege für einen Generalisierungsprozess. Demnach ist zu vermu-
94
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
ten, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung (Einstellungen und Wertvorstellungen) aus Kultivierungsurteilen erster Ordnung gebildet werden. Wie Potter (1991c) zeigte, kann es bei einzelnen Themen auch zum umgekehrten Effekt kommen, wonach Einstellungen die Realitätseinschätzungen beeinflussen. Zu vermuten ist, dass dies bei solchen Themen der Fall ist, zu denen die Befragten bereits stabile Einstellungen gebildet haben, auf die sie sich bei der Frage nach Einschätzungen dann beziehen. In der zuletzt vorgestellten Studie fand Potter (1991a) auch Belege für einen Generalisierungsprozess der Fernsehurteile, wonach die Befragten aus der Einschätzung von Häufigkeitsverteilungen im Fernsehen auch generelle Vorstellungen über die Fernsehwelt bilden. Die Relevanz dieser Frage lässt sich jedoch in zweierlei Hinsicht anzweifeln: Eine Generalisierung der Vorstellungen über die Fernsehwelt aus den Einschätzungen über die Fernsehwelt wäre nur dann von Relevanz, wenn es einen Zusammenhang zwischen den generellen Vorstellungen über das Fernsehen und den generellen Vorstellungen über die Realität (Konstruktion zweiter Ordnung) gäbe. Dies konnte nicht belegt werden (vgl. Potter, 1991a). Wenn wir zudem davon ausgehen, dass die Fernsehwahrnehmung keine bewusste intervenierende Variable im Kultivierungsprozess darstellt, sondern dass sie die Realitätswahrnehmung eher unbewusst über gelernte Fallbeispiele beeinflusst, muss auch davon ausgegangen werden, dass generelle Vorstellungen über die Fernsehwelt keine Rolle spielen. Somit kann bislang keiner der Subprozesse als vollständig belegt gelten, für die einen gibt es jedoch stärkere Hinweise, für die anderen schwächere. Zu berücksichtigen ist, dass keine der fünf Studien, die sich mit den Prozessen auseinandergesetzt haben, auf alle Fernsehzuschauer übertragbar ist. Nur eine der Studien untersuchte Erwachsene (Hawkins et al., 1987: Studie 1), während alle anderen Studien mit Kindern und Jugendlichen arbeiteten. Was es also bei Erwachsenen mit den Subprozessen auf sich hat, muss zunächst dahingestellt bleiben. Ein weiteres methodisches Problem stellt die Tatsache dar, dass die Studien von Potter (1988b; 1991a; 1991c) die Fernsehnutzung jeweils vor der Realitätswahrnehmung abgefragt haben. Zwar wurde Letztere teils erst drei Monate später abgefragt, doch ist zumindest nicht erwiesen, dass die Jugendlichen die beiden Befragungen nicht in Verbindung brachten. Hinzu kommt, dass es letztlich wenig sinnvoll ist, das Vorhandensein bestimmter Subprozesse zu prüfen, wenn der Hauptprozess, also ein Kultivierungseffekt, nicht nachgewiesen werden kann. Dies war zumindest im Zusammenhang mit der Kultivierung von Einstellungen und Wertvorstellungen in manchen Studien der Fall (vgl. Potter 1988b; 1991a), weshalb es nicht verwundert, dass die Befunde zu den an der Kultivierung zweiter Ordnung beteiligten Subprozessen kein klares Muster ergeben.
95
3.3 Resümee: Subprozesse der Kultivierung
Dennoch scheint sich aus den bisherigen Befunden zu den psychologischen Subprozessen der Kultivierung ein Muster herauszukristallisieren. Während die Autoren im Hinblick auf die Kultivierung erster Ordnung Subprozesse beschreiben, die sich in weiten Teilen bestätigen lassen, sind die Befunde zur Kultivierung zweiter Ordnung – vielleicht auch nur aufgrund der beschriebenen methodischen Schwächen – weitgehend unklar. Auf Basis der Studien von Potter (1991a; 1991c) wäre es denkbar, dass Kultivierungseffekte zweiter Ordnung den Kultivierungseffekten erster Ordnung nachgeschaltet sind und aus diesen generalisiert werden. Die Herausbildung von Kultivierungseffekten erster Ordnung basiert vermutlich auf einem Lernprozess von Fernsehbeispielen, aus denen die Einschätzungen über die Realität konstruiert werden. Diese Überlegungen soll das folgende Modell veranschaulichen (vgl. Abbildung 15).
Abbildung 15: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses I
Fernsehkonsum
Wahrnehmung der Fernsehwelt (unbewusst)
Einschätzung von soziodemographischen Verteilungen und Ereignishäufigkeiten in der Realität
Einstellungen und Wertvorstellungen
(Kultivierung 1. Ordnung) UNBEWUSSTES LERNEN
KONSTRUKTION
(Kultivierung 2. Ordnung)
GENERALISIERUNG
Quelle: Eigene Darstellung.
3.3.2
Diskussion auf Basis aktuellerer Studien
Die bisher dargestellten Überlegungen zu den am Kultivierungseffekt beteiligten psychologischen Prozessen basieren ausschließlich auf den Studien von Potter, Hawkins und Pingree. Ein Blick in neuere Studien zeigt, dass sich auch hier Hinweise auf die vermuteten Prozesse finden. Sotirovic (2001) führte eine Studie durch, die den Einfluss verschiedener Fernsehgenres auf die Wahrnehmung von Sozialhilfeempfängern und der Ausgaben für die Sozialhilfe (Kultivierung erster Ordnung) sowie Einstellungen zur Sozialhilfe untersuchte. Die Befunde bestätigten überwiegend einen Kultivierungseffekt erster Ordnung. Dieser hing auch mit der Einstellung zur Sozialhilfe zusammen: So deuten hierarchische Regressionen, die den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Einstellungen unter Kontrolle
96
3 Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
soziodemographischer Merkmale untersuchen zumindest bei drei von acht Items auf einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Sozialhilfeempfängern und der Einstellung zur Sozialhilfe hin. Diejenigen, die glaubten, dass die meisten Sozialhilfeempfänger arbeitsunfähig sind, unterstützten Sozialhilfeprogramme eher als diejenigen, die die Verantwortung mehr bei den Sozialhilfeempfängern sahen. Auf dieser Basis kann über die Richtung der Zusammenhänge zwar nichts ausgesagt werden, dennoch lassen die Befunde die Vermutung zu, dass Generalisierungsprozesse beteiligt sind. So wie Hawkins et al. (1987) lieferten auch andere Forscher Hinweise darauf, dass Kultivierungseffekte zweiter Ordnung zumindest nicht ausschließlich auf einem Generalisierungsprozess von Einstellungen aus Einschätzungen basieren. So fanden einige Studien Kultivierungseffekte zweiter Ordnung, aber keine Effekte erster Ordnung: Sparks und Ogles (1990) etwa untersuchten den Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung auf die Einschätzung von Verbrechenshäufigkeiten, den wahrgenommenen Sicherheitsgrad der eigenen Wohngegend (Kultivierung erster Ordnung) und die persönliche Angst vor Verbrechen (Kultivierung zweiter Ordnung). Sie konnten keine Kultivierungseffekte erster Ordnung, aber Effekte zweiter Ordnung bestätigen. Genauso verhielt es sich bei Taschler-Pollacek und Lukesch (1990), die den Einfluss des Fernsehens auf wahrgenommene Verbrechenswahrscheinlichkeiten, Angst vor Verbrechen, Ergreifen von Schutzmaßnahmen und Einstellungen zur Bestrafung von Verbrechen untersuchten. Während sich kein Zusammenhang der Fernsehnutzungshäufigkeit mit der Einschätzung von Verbrechenswahrscheinlichkeiten feststellen ließ, bestätigten sich Kultivierungseffekte zweiter Ordnung für Viktimisierungsangst, Ergreifen von Schutzmaßnahmen und Einstellungen zur Bestrafung von Verbrechen. In beiden Studien hätte man annehmen können, dass die Viktimisierungsangst aus der Wahrnehmung einer gefährlichen Umwelt, also einer Überschätzung der Verbrechenszahlen, generalisiert wird. Dies bestätigte sich jedoch weder bei Sparks und Ogles (1990) noch bei Taschler-Pollacek und Lukesch (1990), was darauf hindeutet, dass die Prozesse in manchen Fällen korrelieren bzw. hintereinander geschaltet sein könnten, dies aber nicht immer so ist. Einige Befunde bestätigen also einen Generalisierungsprozess, andere sprechen dagegen. Insofern ist es denkbar, dass Einstellungen in manchen Fällen aus der Realitätswahrnehmung generalisiert werden, dies aber nicht zwangsläufig so sein muss. Abbildung 16 fasst das vorangegangene Kapitel in einem vorläufigen Modell zusammen. Entsprechend den diskutierten Befunden lässt es eine Herausbildung von Einstellungen aus der Realitätswahrnehmung zu, schließt einen direkten Zusammenhang von Fernsehkonsum und Einstellungen jedoch nicht aus.
97
3.3 Resümee: Subprozesse der Kultivierung
Abbildung 16: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses II
KULTIVIERUNG ERSTER ORDNUNG
UNBEWUSSTES LERNEN
KONSTRUKTION Einschätzung von soziodemographischen Verteilungen und Ereignishäufigkeiten in der Realität
Wahrnehmung der Fernsehwelt (unbewusst)
Fernsehkonsum
GENERALISIERUNG
KULTIVIERUNG ZWEITER ORDNUNG ?
Quelle: Eigene Darstellung.
?
Einstellungen und Wertvorstellungen
4
Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Kapitel 2 und 3 stellten die Grundlagen der Kultivierungsforschung und erste Überlegungen zum Prozess vor. Im Folgenden sollen die verschiedenen am Kultivierungsprozess beteiligten Elemente näher beleuchtet werden. Das am Ende von Kapitel 3 dargestellte Modell wird auf dieser Basis sukzessive um weitere Komponenten erweitert.
4.1
Differenziertheit der Fernsehbotschaft
Während Gerbner und Kollegen davon ausgehen, dass das Fernsehen über alle Genres und Sendungen hinweg die gleichen Botschaften präsentiert, wurden bereits zu Beginn der achtziger Jahre Stimmen laut, die sich für eine Unterscheidung spezifischer Fernsehinhalte aussprechen. Einer der ersten, der dies erkannt hatte, war Hughes (1980). Er hatte eine Sekundäranalyse der General Social SurveyDaten von 1975 und 1977 (jene Daten, auf denen auch die Kultivierungsstudien der Gerbner-Gruppe basieren) durchgeführt und durch gleichzeitige Kontrolle von Drittvariablen einige Kultivierungseffekte widerlegt. Er konstatierte: „While it may be very useful to know what total television watching is related to, some of the more subtle effects might be more apparent only if we knew precisely what people watched and were able to control for predetermined personality and other characteristics which are related to the selection of certain kinds of programs.“ (Hughes, 1980: S. 300)
Auch Hawkins und Pingree (1981b; 1982) bemerkten bereits sehr früh, dass man nicht von einem generellen Einfluss des Fernsehens ausgehen dürfe, sondern spezifische Fernsehinhalte unterscheiden müsse. In der Folge untersuchten zahlreiche Kultivierungsstudien den Einfluss einzelner Fernsehgenres oder einzelner Sendungen auf die Realitätswahrnehmung, anstatt das Fernsehen wie Gerbner und Kollegen generell zu betrachten. Die Frage nach der Differenziertheit der Fernsehbotschaft soll im Folgenden näher erläutert werden. Freilich kann die Differenziertheit der Fernsehbotschaft nicht unabhängig von der Selektivität der Fernsehnutzung betrachtet werden. Sie spielt auch in der Argumentation Gerbners und
100
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
seiner Kollegen, die von einer nonselektiven Fernsehnutzung ausgehen, eine grundlegende Rolle (vgl. z.B. Gerbner et al., 1978). Daher werden einige Grundüberlegungen zur Selektivität in diesem Kapitel mitbehandelt. Eingehender wird sich dann Kapitel 5 mit der Frage der selektiven Fernsehnutzung beschäftigen.
4.1.1
Genreübergreifende Botschaften
Gerbner und Kollegen gehen davon aus, dass sich das Fernsehen von anderen Medien gerade dadurch unterscheidet, dass es über alle Genres und Sendungen hinweg die gleichen Botschaften präsentiert. Dabei betonen die Autoren, dass sie die Bedeutung spezifischer Genres und Sendungen sowie selektiver Aufmerksamkeit und Wahrnehmung im Rahmen der Erforschung kurzfristiger Medieneffekte auf Einstellungen und Verhaltensänderung durchaus nicht ignorieren. Jedoch entspreche dies nicht ihrer Definition von Kultivierung: „Television differs from other media in its centralized mass production and ritualistic use of a coherent set of images and messages produced for total populations. Therefore, exposure to the total pattern rather than only to specific genres or programs is what accounts for the historically new and distinct consequences of living with television, namely, the cultivation of shared conceptions of reality among otherwise diverse publics.” (Gerbner et al. 1986: S. 19)
Grundgedanke dahinter ist die Annahme, dass alle größeren Sender innerhalb desselben gesellschaftlichen Systems auf denselben Markt- und Sendungsstrategien basieren (Gerbner & Gross, 1976: S. 177). Daher liefere das Fernsehen über alle Sendungen und über Jahre hinweg einheitliche Botschaften. Manche dieser Botschaften werden so oft wiederholt, dass die Zuschauer sie als Wirklichkeit wahrnehmen. Auch wenn diese Botschaften, so die Autoren, dadurch verstärkt werden können, dass Zuschauer etwa Krimi- oder Polizeisendungen präferieren, dürfen sie nicht auf spezifische Elemente einzelner Sendungen zurückgeführt werden: „They can and should be seen as generalized responses to the central dynamics of the world of television drama“ (Gerbner et al., 1978: S. 205)27
27
Bemerkenswert ist dabei, dass Gerbners Kultivierungsstudien diese Prämisse bisweilen selbst missachten. So werteten Gerbner et al. (1978) im Rahmen der 9. Cultural Indicators-Studie CPSDaten der „American National Election Study“ aus, die nicht die allgemeine Fernsehnutzung abfragte, sondern die Nutzungshäufigkeit von Polizei- und Krimisendungen. Im Vergleich mit anderen Daten, die die allgemeine Fernsehnutzung zugrunde legen, zeigen sich hier – gerade bei der Analyse einzelner Untergruppen – durchaus unterschiedliche Effekte (vgl. Gerbner et al., 1978: S. 198ff.)
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
101
Auch Unterschiede zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Fernsehinhalten spielen für Gerbner und seine Kollegen keine Rolle. So meint Gerbner (1969), „that in the general process of image-formation and cultivation, fact and fable play equally significant and interrelated roles“ (p. 142) Zwar mögen die Zuschauer den Unterschied zwischen Fakt und Fiktion durchaus erkennen und nonfiktionalen Inhalten mehr Glaubwürdigkeit zuschreiben, doch beeinflusse dies den Kultivierungseffekt nicht: „Television, the flagship of industrial mass culture, now rivals ancient religions as a purveyor of organic patterns of symbols – news and other entertainment – that animate national and even global communities’ senses of reality and value.” (Gerbner & Gross, 1976: S. 177; Hervorh. d. d. Verf.) Wenn man allerdings genauer betrachtet, welche Sendungen im Rahmen des Cultural-IndicatorsProjektes inhaltsanalytisch untersucht wurden, so fällt auf, dass Gerbner und Kollegen keineswegs das gesamte Fernsehangebot analysiert haben: Die Inhaltsanalysen basieren auf bestimmten Zeitschienen (Prime-Time, später Abend, am Wochenende auch tagsüber) und in der Regel ausschließlich auf „dramatic programs“. Eine genauere Definition der „dramatic programs“ fehlt in den meisten Veröffentlichungen der Gerbner-Gruppe, in einer Studie von 1980 liefern sie diese jedoch: „Dramatic programs include television plays, movies shown on television, and cartoons with a fictional story line, as well as situation comedies and crimeaction shows.“ (Gerbner et al., 1980b: S. 38) Gerbner hat also keineswegs das gesamte Fernsehprogramm untersucht, sondern lediglich Unterhaltungssendungen. Wenn also in den Kultivierungsanalysen nach der gesamten Fernsehnutzung gefragt wird und Kultivierungseffekte auf das Fernsehen generell zurückgeführt werden, so kann dies streng genommen nicht eindeutig auf die inhaltsanalytischen Befunde zurückgeführt werden. Vor allem aber kann so über den Einfluss von nonfiktionalen Fernsehinhalten nichts ausgesagt werden. Neben der Annahme gleichförmiger Fernsehbotschaften über alle Fernsehgenres hinweg geht Gerbner zudem davon aus, dass mögliche Unterschiede zwischen Genres allein deshalb keine Rollen spielen, weil die Zuschauer nicht selektiv fernsehen: „Viewers do not watch just violence (or any other abstracted element) per se. Typically, they do not even watch selected plays, as such. They watch television, and watch it by the clock rather than by the program. Most viewers watch non-selectively what is on when they habitually turn on the television set.” (Gerbner et al., 1978: S. 202)
Selbst wenn sich bestimmte Genres inhaltlich unterscheiden und weniger Gewalt zeigen als etwa Krimisendungen, so spielt das nach Ansicht Gerbners keine Rolle, da Zuschauer, die viel fernsehen, nach dem Motto ‚Wer viel sieht, sieht alles’ gar
102
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
keine Möglichkeit haben zu selektieren: „the average to heavy viewer (about 3 consecutive prime-time hours or more per day) cannot escape repetitive exposure to the same thematic and dramatic program elements day after day” (Gerbner, 1990: S. 254) Zu diesem Schluss kommt auch Signorielli (1986), die sich in einem Aufsatz mit dem Titel „Selective Television Viewing: A Limited Possibility“ explizit mit der Frage der selektiven Fernsehnutzung beschäftigt hat. Hierfür analysierte sie Ausstrahlungshäufigkeit, Sendezeit und Inhalte von Sitcoms, Action- und Abenteuersendungen und ernsten Dramen, die zur Prime-Time 1970, 1975, 1980 und 1985 ausgestrahlt worden waren. Erwartungsgemäß zeigte sich, dass der Gewaltanteil von Genre zu Genre variierte. So enthielten nur rund 37 Prozent der Sitcoms Gewalt, aber über 80 Prozent der Action- und Abenteuersendungen. Wenn man wie Gerbner und seine Kollegen davon ausgeht, dass Action- und Abenteuersendungen das Fernsehangebot dominieren, so dürften diese inhaltlichen Unterschiede nur bedingt eine Rolle spielen. Tatsächlich machen Action- und Abenteuersendungen den größten Anteil an Sendungen aus, allerdings je nach Sendezeit mehr oder weniger deutlich. So waren beispielsweise im Jahr 1985 zwischen 20 und 21 Uhr von 20 Sendungen der Stichprobenwoche 15 Action- und Abenteuersendungen, anders ausgedrückt: Zwei der drei Sender zeigten die ganze Woche hindurch um 20 Uhr Action- und Abenteuersendungen, wohingegen zu dieser Zeit nur vier Sitcoms und ein Drama pro Woche gezeigt wurden. Zwischen 21 und 22 Uhr war die Verteilung jedoch ganz anders und von 20 Sendungen pro Woche waren nur noch acht Sendungen aus dem Actiongenre im Vergleich zu sieben Dramen und fünf Sitcoms. Eine Stunde später war die Genreverteilung sogar recht gleich. „The findings indicate, first, that during prime time the availability of particular types of programs depends primarily upon the specific time that a viewer sits down to watch television.“ (Signorielli, 1986: S. 68) Wenn also Gerbner damit argumentiert, dass die Fernsehzuschauer nicht selektiv fernsehen, weil sie nach der Uhr entscheiden, nicht nach der Sendung (s.o.), so zeigen diese Befunde, dass gerade auch die zeitspezifische Fernsehnutzung einen Einfluss darauf hat, was gesehen wird. So hatten die Zuschauer zwar um 20 Uhr nahezu keine Möglichkeit, etwas anderes als Actionsendungen zu sehen, eine Stunde später jedoch durchaus. Dennoch schloss Signorielli (1986) aus ihren Befunden: „Thus, given the current network programming practices in the United States, it is almost impossible to find a heavy viewer who is not exposed to a substantial amount of violence and action-adventure programming. In this sense, television programming is necessarily a relatively non-selective activity.” (S. 75)
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
103
Dieser Schluss mag in Anbetracht von drei verfügbaren Fernsehsendern noch eher schlüssig sein als in den darauffolgenden Jahren, in denen die Einführung von Kabelfernsehen und Videorekordern das Programmangebot und damit auch die Auswahlmöglichkeiten der Zuschauer deutlich erweitert hat. Auch diese Entwicklung spielt jedoch nach Ansicht Gerbners keine Rolle: „our studies have shown that the mix of programs and the relative coherence of the television world, including cable and even most video cassettes, is such that the average heavy viewer (about three consecutive prime-time-hours or more per day) cannot escape repetitive exposure to the same thematic and dramatic program elements day after day.” (Gerbner, 1990: S. 254)
Er geht noch einen Schritt weiter: „For most viewers, new types of delivery systems (e.g., cable, satellite, and cassette) signal even further penetration and integration of established viewing patterns into everyday life.” (Gerbner et al., 1986: S. 17) Fernsehnutzungsmuster, die bei einem hohen Fernsehkonsum die Rezeption von Gewalt ausschließen, werden als selten und „freakish“ abgetan: „except for rare and freakish viewing patterns, those who watch three or more hours of prime time (i.e., the majority of regular viewers) see much of the same mix of basic dramatic ingredients whether they say they prefer comedy, crime or news.” (Gerbner, 1990: S. 255) Trotz neuerer Fernsehtechnologien, die Programmangebot und Selektionsmöglichkeiten unumstritten erweitert haben (siehe folgendes Kapitel), blieben Gerbner und Kollegen somit weiterhin der Ansicht, dass die Messung von Kultivierungseffekten nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Fernsehnutzung sinnvoll und konsequent ist.
4.1.2
Genrespezifische Botschaften
Spätestens seit der Entwicklung neuerer Technologien wie Kabel- und Satellitenfernsehen, Videorekorder usw. und der damit einhergehenden Vervielfachung von Kanälen und Sendungen lassen sich Gerbners Annahmen gleichförmiger Botschaften über alle Genres hinweg und der ritualisierten und nonselektiven Fernsehnutzung durch die Zuschauer zunehmend hinterfragen. So forderte Potter (1993: S. 572f.): „the assumptions of uniform messages and nonselective viewing are capable of being tested and therefore should not be treated as axioms.” Im Folgenden sollen diese Annahmen diskutiert werden. Zwei Entwicklungen stellten die Annahme nonselektiver Nutzung und gleichförmiger Fernsehbotschaften in Frage: Die gestiegene Genrevielfalt in Folge der Vervielfachung von Sendern und Sendungen und die Feststellung, dass – zum Teil
104
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
auch durch die Einführung neuer Genres – ein Großteil der in der Kultivierungsforschung untersuchten Themen durchaus nicht über alle Genres hinweg gleichförmig dargestellt wird.
4.1.2.1
Vielfalt des Programmangebots
Durch die Entwicklung neuerer Technologien wie Kabel- und Satellitenfernsehen, Videorekorder usw. haben sich Kanäle, Sendungen und Genres vervielfacht, womit zusätzlich eine deutliche Ausdifferenzierung der Genres und Themen im Fernsehen einherging. Wie eine Analyse der Angebotsstruktur deutscher Fernsehsender zeigt, führte die Vervielfachung des Senderangebots (von drei bis fünf Kanälen vor 1984 auf mehr als 30) zwar auch zu „more of the same“, doch erhöhte sie durchaus die Auswahlmöglichkeiten der einzelnen Zuschauer – nicht nur insgesamt betrachtet, sondern auch zu jeder einzelnen Sendeminute (vgl. Rossmann, Brandl & Brosius, 2003; Fahr, Rossmann & Brosius, 2005). Im Jahr 2001 etwa wurde die Anzahl verfügbarer Genres in hohem Maße ausgeschöpft und die Zuschauer konnten zu jeder Zeit zwischen rund neun von elf möglichen Genres auswählen. Freilich reduzierten sich die Selektionsmöglichkeiten während der Prime-Time, doch nicht in einem so starken Maße, dass die Zuschauer nicht mehr frei wählen konnten (zwischen 19 und 23 Uhr hatten die Fernsehzuschauer immer noch die Wahl zwischen 8,37 verschiedenen von elf möglichen Programmgenres). Betrachtet man zudem die Chance, zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein bestimmtes Genre zu sehen, so wird noch deutlicher, dass die Rezipienten keineswegs an einzelne Inhalte gebunden sind. Als Beispiel seien hierzu Befunde dargestellt, die auf einer inhaltsbezogenen Klassifikation basieren, da diese für die Kultivierung am naheliegendsten sind. Hier lässt sich beobachten, dass die Zuschauer über den gesamten Tag hinweg Musik und Sendungen zum Thema Mensch/Gesellschaft/Soziales sehen konnten (Genrekontaktwahrscheinlichkeit von 100 Prozent). Auch Sport, Politik/Recht/Wirtschaft und unterhaltungsbetonte Spielhandlungen waren nahezu uneineingeschränkt zu jeder Tageszeit zu sehen. Spannungsbetonte Spielhandlungen erreichten eine Abdeckung von rund 90 Prozent. Im Mittelfeld (zwischen 40 und 70 Prozent Genrekontaktwahrscheinlichkeit) bewegten sich Kunst/Kultur/Bildung/Sprachen, Natur/Wissenschaft/Technik/Verkehr und realitätsbezogene Spielhandlungen. Die Chance, mit den Inhalten Kirche und Religion in Kontakt zu kommen, war mit unter zehn Prozent hingegen sehr gering (Fahr et al., 2005: S. 113f.).
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
105
Dies macht deutlich, dass fiktionale Gewaltsendungen (die unter den Bereich der spannungsbetonten Spielhandlungen fallen) von Vielsehern zwar sehr häufig gesehen werden konnten, jedoch nicht rund um die Uhr. Dies belegt auch ein Vergleich mit dem Programmangebot von 1995 und 1998. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, mit Krimiserien in Kontakt zu kommen, im Laufe der letzten Jahre von 81 auf unter 50 Prozent der Sendezeit zurückgegangen (vgl. Rossmann et al., 2003: S. 444). Selbst Vielseher, die – so die Annahme Gerbners – nicht selektiv fernsehen, finden also durchaus eine hohe Varianz vor und sehen nicht ausschließlich Gewaltsendungen. Aber vor allem werden Selektivität und aktive Rezeption unterstützt: „Die Fülle der Sender ermöglicht es jedenfalls heute besser als früher, dass jeder Fernsehen nach seinen Vorlieben zusammenstellen kann.“ (Fahr et al., 2005: S. 121) Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt auch Potter (1993) die Annahme gleichförmiger Botschaften in Frage: „During prime time, the range of messages still includes sitcoms and action/adventure shows, but it is also composed of music videos, sports, home shopping, headline news, in-depth documentaries, stand-up comedy, school board meetings, cartoons, low-budget science fiction, and fundamentalist preachers. What is the ‘uniformity’ across these messages? Perhaps there is some superordinate narrative that is uniformly shared by all television programs, but the theoreticians have not articulated it. Instead, they focus on the content of messages.” (Potter, 1993: S. 573)
4.1.2.2
Genrespezifische Inhalte
Wie oben dargestellt beharren Gerbner und Kollegen auf dem Standpunkt, nur genreübergreifende Kultivierungseffekte zu untersuchen. Genau genommen zeigen aber selbst Gerbners jährliche Cultural Indicators-Analysen, dass die Gewaltmenge je nach Sender und Tageszeit variiert (vgl. z.B. Gerbner et al., 1979). Auch die Studie von Signorielli (1986) belegt, dass sich verschiedene Genres inhaltlich durchaus unterscheiden: So ließ sich wenig überraschend beobachten, dass Actionund Abenteuersendungen mehr Gewalt enthielten als Sitcoms und Dramen, während Sitcoms mehr Humor darstellten als die anderen Genres. Auch andere Inhaltsanalysen deuteten schon sehr früh auf die Verschiedenheit von Genres hin. So stellten Greenberg, Edison, Korzenny, Fernandez-Collado und Atkin (1980) im Vergleich zwischen Action- und Krimisendungen, Familienserien und Sitcoms (jeweils Prime-Time) sowie Zeichentrick- und NichtZeichentrickserien (Samstag Vormittag) ebenfalls deutliche Unterschiede in der Darstellung antisozialen Verhaltens fest: „Program types differ dramatically in their composition of antisocial acts.” (ebd.: S. 118) Dabei spielt die Art der antisozialen
106
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Handlung eine wichtige Rolle: Während physische Gewalt erwartungsgemäß in Action- und Krimisendungen sehr präsent ist und in Zeichentrickserien sogar noch häufiger vorkommt, sind Sitcoms von verbaler Aggression geprägt. Dies bestätigten in einer ähnlichen Analyse auch Potter und Ware (1987a; 1987b). Zusammen mit Warren legte Potter 1998 erneut eine Studie vor, die sich mit der Gewalthaltigkeit unterschiedlicher Genres auseinandersetzte (Potter & Warren, 1998). Zentrales Augenmerk lag darauf, die Gewaltdarstellung in humoristischen Kontexten zu erfassen. Auf Basis inhaltsanalytischer Daten einer künstlichen Woche des Abendprogramms fanden die Forscher heraus, dass knapp ein Drittel der Gewaltakte in einem humorvollen Kontext präsentiert wurden, knapp ein Drittel davon in Comedy-Sendungen. Letztere waren mit 50 Gewaltakten pro Stunde violenter als andere Sendungen. Die Art der dargestellten Gewalt war zwar einerseits in Comedy-Sendungen meist harmloser als in ernsthaften Genres, andererseits wurden Gewalthandlungen in den humorvollen Sendungen auch seltener bestraft. Somit betreffen genrespezifische Unterschiede in der Darstellung von Gewalt nicht nur die Häufigkeit dargestellter Gewaltakte, sondern auch ihren Kontext. Dies ist auch deshalb relevant, weil davon auszugehen ist, dass Darstellungsart und Kontext von Fernsehbotschaften die Wahrnehmung der Zuschauer und somit auch Kultivierungseffekte beeinflussen können (vgl. hierzu Kapitel 4.2). Nicht nur im Hinblick auf die Darstellung antisozialen Verhaltens lassen sich inhaltliche Unterschiede zwischen den Genres feststellen. Dies gilt auch für andere Themenbereiche. Greenberg und Kollegen stellten in umfangreichen Analysen von fiktionalen Fernsehsendungen bereits 1980 – also noch zu einer Zeit, in der in den USA nur drei Fernsehkanäle verfügbar waren – zahlreiche genrespezifische Unterschiede fest (vgl. Greenberg, 1980). So unterschieden sich die Genres im Hinblick auf die Verteilung von Altersgruppen und der Repräsentation älterer Charaktere (vgl. Greenberg, Korzenny & Atkin, 1980; Greenberg, Simmons, Hogan & Atkin, 1980) genauso wie im Hinblick auf Geschlechterverteilung (Greenberg, Richards & Henderson, 1980; Henderson, Greenberg & Atkin, 1980) und Alkoholkonsum (Greenberg, Fernandez-Collado, Graef, Korzenny & Atkin, 1980). In den letzten Jahren hat sich die Fernsehwelt noch weiter ausdifferenziert. So entstanden zahlreiche neue Sendungsformate und Genres, die sich an ganz spezifische Zielpublika richten, etwa Doku-Soaps zu speziellen Themen (wie Erziehungs- und Einrichtungsfragen, z.B. „Mein Baby“, „Die Super-Nanny“, „Unsere erste gemeinsame Wohnung“), Wissensmagazine (z.B. „Galileo“, „Willi will’s wissen“) oder Fernsehserien mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und Themen (wie Serien über das Leben von Leichenbestattern, z.B. „Six feet under“, oder Serien über das Leben Homosexueller, z.B. „The L-Word“, „Queer as Folk“).
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
107
Damit liegt es umso näher, von inhaltlichen Unterschieden in Fernsehgenres auszugehen. Denkbar ist durchaus, dass es bestimmte Metabotschaften gibt, die über alle Genres hinweg identisch sind, jedoch müssen diese erst identifiziert werden (darauf geht Kapitel 4.1.3 näher ein). Doch im Hinblick auf den Großteil der in Kultivierungsanalysen untersuchten Themen liegt die Betrachtung von Inhalt und Einfluss einzelner Genres näher. Dies sei an zwei Beispielen expliziert: Ein Thema, das vor allem in amerikanischen Studien häufiger aufgegriffen wird, ist die Darstellung von Afroamerikanern im Fernsehen. Dabei belegen die Studien, dass sich Unterhaltungssendungen und nonfiktionale Sendungen in der Darstellung von Afroamerikanern deutlich unterscheiden (für einen Überblick vgl. Fujioka, 1999; Busselle & Crandall, 2002; Greenberg, Mastro & Brand, 2002).28 Sitcoms stellen Afroamerikaner sehr positiv dar: Sie sind erfolgreich, erreichen durch harte Arbeit, Talent und Disziplin ihre Ziele und sind sozial an die weiße Bevölkerung angeglichen und integriert (MacDonald, 1992; Gray, 1996). Meist sind sie gar von ihrem weißen Gegenüber nur noch durch ihre Hautfarbe zu unterscheiden (Bramlett-Solomon & Farwell, 1996) Auch Dates und Stroman (2001) untersuchten die Darstellung von Afroamerikanern in Sitcoms und fiktionalen Dramen und zeigten, dass sie als kompetente Mitglieder der Mittelklasse dargestellt werden. Diskriminierung, Armut und Verbrechen werden geradezu ignoriert. Umso negativer wird das Bild des Afroamerikaners in Nachrichtensendungen gezeichnet. Afroamerikaner sind hier größtenteils arm und faul, sie werden seltener im Kontext ihrer Arbeit gezeigt als in Verbindung mit anderen Tätigkeiten (vgl. Gilens, 1996). Doch vor allen Dingen bringen Nachrichtensendungen sie häufig mit Verbrechen, Gewalt und Drogenmissbrauch in Verbindung (Cosby, 1994; Gray, 1996), wobei sie meist als Täter gezeigt werden, selten als Polizisten (Dixon & Linz, 2000). Somit wird deutlich, dass die Botschaften des Fernsehens – zumindest bei den meisten Themen – deutlich davon abhängen, welche Genres in Betracht gezogen werden. Nachrichten vermitteln ein negatives Bild von Afroamerikanern, während in Sitcoms das Gegenteil der Fall ist. Eine ähnliche Divergenz zeigt sich, wenn man die Darstellung von Ärzten in unterschiedlichen Genres betrachtet. Inhaltsanalysen belegen wiederholt, dass (gerade deutsche) Arzt- und Krankenhausserien die Ärzteschaft sehr idealisiert darstellen. Die Fernsehärzte gleichen meist einem immer kompetenten, attraktiven und sympathischen Wunderheiler, der jeden Patienten heilt und trotz zunehmenden Zeit- und Geldmangels auch Zeit findet, sich nicht nur um die physischen 28
Die Gemeinsamkeit fiktionaler und nonfiktionaler Fernsehangebote besteht lediglich darin, dass sie Afroamerikaner quantitativ inzwischen sehr viel häufiger zeigen. Noch vor ein paar Jahrzehnten waren Afroamerikaner im Fernsehen generell kaum vertreten (vgl. z.B. Greenberg et al., 2002).
108
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Probleme seiner Patienten zu kümmern, sondern auch um die psychischen (vgl. Weiderer, 1995; Rosenthal & Töllner, 1999; Rossmann, 2002; 2003). Wie eine Inhaltsanalyse der Darstellung von Ärzten in nonfiktionalen Unterhaltungssendungen (Boulevard-, Trend- und Lifestylemagazine, Reportagen, Gesundheitsmagazine und Reality-Dokus) zeigt, ist die Darstellung hier divergent (vgl. Minkewitz, 2003). Gesundheitsmagazine und Reality-Formate zeigen die Ärzte ebenfalls sehr positiv, wohingegen Reportagen, Boulevard-, Trend- und Lifestyle-Magazine die Ärzteschaft durchaus kritischer darstellen. Ähnliche Divergenzen fanden Chory-Assad und Tamborini (2001), die das Arztbild im amerikanischen Fernsehen untersuchten. Demnach scheint die Darstellung von Ärzten im US-Fernsehen in den letzten Jahren generell – also auch in fiktionalen Fernsehsendungen – negativer zu sein als noch vor 20 Jahren, womit sich auch ein Unterschied zu den deutschen Arztserien offenbart (vgl. hierzu auch Pfau et al., 1995b). Zudem stellten Chory-Assad und Tamborini (2001) genrespezifische Unterschiede fest, wonach die Fernsehärzte des Nachmittagsprogramms attraktiver sind als in allen anderen Genres und Ärzte in fiktionalen Prime-Time-Sendungen attraktiver als in den Nachrichten. Im Gegensatz zu den Befunden der deutschen Studien (s.o.), wurden Ärzte in Nachrichtensendungen als kompetenter und mit einem höheren Grad an sozialer Kompetenz charakterisiert als Ärzte in nonfiktionalen Sendungen. Auch hier lässt sich somit kein genreübergreifend einheitliches Fernsehbild finden. Zumindest müssen Genre – und auch Produktionsland – unterschieden werden.
4.1.2.3
Selektivität der Fernsehnutzung
Die Frage genrespezifischer Kultivierungseffekte hängt nicht nur von den Fernsehbotschaften ab, sondern auch von der Fernsehnutzung. Selbst wenn man für jedes Thema genrespezifische Unterschiede feststellt, spielen diese für die Kultivierung nur dann eine Rolle, wenn die Zuschauer das Fernsehen selektiv nutzen. Würden Zuschauer kein bestimmtes Genre bevorzugen, würde Gerbners Annahme genreübergreifender Kultivierungseffekte wieder gelten, selbst wenn sich bestimmte Genres in ihren Botschaften unterscheiden. Wie die Forschung zur Fernsehnutzung gerade seit der Vervielfachung des Programm- und Senderangebots gezeigt hat, ist die Annahme der nonselektiven Fernsehnutzung aber genauso wenig haltbar, wie die Annahme gleicher Botschaften über alle Genres hinweg. Die Zuschauer sehen selektiv fern und dürften somit auch Fernsehangebote mit unterschiedlichen Botschaften präferieren (Kapitel 5 geht ausführlich auf die Bedeutung der aktiven Fernsehnutzung im Sinne von
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
109
Selektion, Nutzungsmotiven usw. ein, weshalb diese Frage an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird). Wenn man von einer selektiven Fernsehnutzung durch die Zuschauer ausgeht, so lassen sich genrespezifische Kultivierungseffekte jedoch wiederum nur dann beobachten, wenn die Selektion auch tatsächlich auf einer Ebene stattfindet, die unterschiedliche Botschaften liefert. So argumentierten Hawkins und Pingree (1981a: S. 292): „Such selectivity could of course occur on any number of dimensions irrelevant to symbolic messages: actors, settings, and so on. But if selectivity occurs on some dimension of programming that also locates differences in symbolic messages, then this selection will result in different social realities.”
So ist das Auftreten genrespezifischer Kultivierungseffekte an drei Bedingungen geknüpft: (1) genrespezifische Botschaften, (2) selektive Fernsehnutzung und (3) ein Zusammenspiel der beiden ersten Bedingungen, das dazu führt, dass die selektive Fernsehnutzung der Zuschauer sich genau dort äußert, wo auch unterschiedliche Botschaften feststellbar sind. Wenn man also davon ausgeht, dass die Darstellung bestimmter Themen je nach Genre variiert, so beeinflussen diese unterschiedlichen Genres den Zuschauer nur dann in verschiedene Richtungen, wenn der eine ein Genre bevorzugt, das ein Thema etwa negativ darstellt, der andere ein Genre, welches dasselbe Thema positiv darstellt. Trifft aber nur eine der Bedingungen zu, so treten keine genrespezifischen Kultivierungseffekte auf. Zwei Arten des Zusammenspiels sind möglich: (1)
(2)
Beide Genres werden von allen Zuschauern gleichermaßen genutzt. In diesem Fall ist es nach den ursprünglichen Annahmen der Kultivierung denkbar, dass sich die Botschaft in der Realitätswahrnehmung niederschlägt, welche häufiger im Fernsehen vertreten ist und somit häufiger gesehen wird.29 Man hätte es hier – im Sinne der empirischen Umsetzung – eher mit einem Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung zu tun. Zwei Zuschauergruppen nutzen unterschiedliche Genres, aber beide Genres stellen ein gewisses Thema negativ dar. In diesem Fall spielt die selektive Nutzung keine Rolle.
Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Oben wurde aufgezeigt, dass die Darstellung von Afroamerikanern nicht über alle Programmgenres hinweg einheitlich ist. Der Hauptunterschied zeigt sich im Vergleich zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Programmangeboten: Afroamerikaner in fiktionalen Programmangeboten 29
Es ist auch denkbar, dass nicht die Quantität allein eine Rolle spielt, sondern etwa auch die Auffälligkeit von Botschaften im Vergleich zu anderen (vgl. hierzu näher Kapitel 4.2.7 und 6.2.1).
110
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
sind erfolgreiche und gleichberechtigte Mitglieder der weißen Gesellschaft, wohingegen sie in nonfiktionalen Sendungen erfolglos, arm und häufig in Verbindung mit Kriminalität gezeigt werden. Vergleicht man in diesem Fall Zuschauer, die fast ausschließlich nonfiktionale Programmangebote sehen, mit Zuschauern, die meist fiktionale Sendungen sehen, so werden sich unterschiedliche Kultivierungseffekte zeigen: Zuschauer fiktionaler Sendungen dürften ein positiveres Bild von Afroamerikanern haben als Zuschauer nonfiktionaler Sendungen. In den folgenden Szenarien wäre dies nicht der Fall: (1)
(2)
Zuschauer sehen sowohl nonfiktionale als auch fiktionale Sendungen. Sie dürften ein differenzierteres Bild von Afroamerikanern entwickeln, wobei unklar ist, in welche Richtung die Kultivierungseffekte in diesem Fall gehen. Klare genrespezifische Effekte werden sich jedoch nicht zeigen. Die einen Zuschauer sehen etwa hauptsächlich Sitcoms, die anderen hauptsächlich Spielfilme. Beide Genres stellen Afroamerikaner überwiegend erfolgreich und positiv dar, weshalb die Selektivität hier keine Rolle spielt. Bei beiden Zuschauergruppen äußern sich Kultivierungseffekte vermutlich dahingehend, dass sie Afroamerikaner positiver wahrnehmen.
Hawkins und Pingree (1981a) fassen dies wie folgt zusammen: „If viewing differences exist, then the relevant patterns of action for symbolic messages lie not in the sum of what is presented, but in the sum of what is viewed.“ (S. 292) Tatsächlich treffen die oben beschrieben Bedingungen für das Auftreten genrespezifischer Kultivierungseffekte meist zu. So treten bei den meisten Themen genrespezifische Kultivierungseffekte eher auf als genreübergreifende. Der folgende Abschnitt verdeutlicht dies anhand einiger Studien.
4.1.2.4
Genrespezifische Kultivierungseffekte
Eine der ersten Kultivierungsstudien, die den unterschiedlichen Einfluss verschiedener Genres untersuchte, führten Hawkins und Pingree (1980; 1981a) in Australien durch. Thematisch lässt sich die Studie in die klassischen Gewaltstudien Gerbners einordnen, die die Einschätzung verschiedener Verbrechenszahlen (Kultivierung erster Ordnung) abfragten sowie verschiedene Einstellungen, die den
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
111
Mean World-Index bilden (Kultivierung zweiter Ordnung).30 Anders als die klassischen Kultivierungsstudien erhob diese Studie nicht nur die allgemeine Fernsehnutzung, sondern auch die Nutzung einzelner Genres. Die Zusammenhänge mit der allgemeinen Fernsehnutzung waren für beide Bereiche (Verbrechenszahlen und Mean World) signifikant. Partialkorrelationen zwischen Genrenutzung und abhängigen Variablen – die Nutzung der jeweils anderen Genres wurde dabei kontrolliert – zeigten, dass die Einschätzung der Verbrechenswahrscheinlichkeiten hauptsächlich auf die Nutzung von Krimisendungen, Game Shows und Cartoons zurückging. Wurde die allgemeine Fernsehnutzung in den Partialkorrelationen kontrolliert, um den Beitrag der Genrenutzung über die allgemeine Fernsehnutzung hinaus zu messen, zeigten sich noch deutlichere Unterschiede. Häufige Nutzung von Game Shows und Cartoons führte zu einer Überschätzung der Verbrechenszahlen, wohingegen die Nutzung von Dramen, Musiksendungen und Nachrichten eher eine Unterschätzung der Verbrechenszahlen nach sich zog. Insgesamt trug die Genrenutzung, wie hierarchische Regressionen belegen, dabei mehr zur Erklärung der Einschätzung von Verbrechenszahlen bei als die allgemeine Fernsehnutzung. Hier dürfte es sich also um genrespezifische Kultivierungseffekte handeln. „Thus, for violence in society, and perhaps for other social reality beliefs as well, using total television viewing as a predictor probably produces consistent underestimates of the strength of the relationship.” (Hawkins & Pingree, 1981a: S. 297) Etwas anders verhielt es sich beim Mean World-Index. Mit Ausnahme von Krimisendungen hing hier keines der Genres signifikant mit der Einstellung zusammen. Auch die erklärte Gesamtvarianz durch die Genrenutzung war nur bedingt höher als die der allgemeinen Fernsehnutzung, weshalb die Autoren zunächst eher auf genreübergreifende Kultivierungseffekte schlossen: „The very uniformly small positive correlations with all other viewing partialled out suggest that television’s relationship to a Mean World bias is relatively uniform across content types” (Hawkins & Pingree, 1980: S. 216) Nach Kontrolle der allgemeinen Fernsehnutzung zeigte sich jedoch bei einem Genre sogar der gegenteilige Effekt: Zuschauer, die häufig Dramen sahen, nahmen die Welt weniger gefährlich und böse wahr als Zuschauer, die diese selten sahen. So konstatierten die Autoren: „The evidence presented here on selection and habit in viewing counters a ‚purely ritual’ overstatement of the cultural indicators assumption and provides a begin-
30
Mean World-Index (6 Items): 1) If they got the chance, most people would try to cheat me. 2) You can never be too careful in dealing with people. 3) Most of the time, people try to be helpful. 4) Most people can be trusted. 5) Most people try to be fair. 6) Mostly people are just looking for themselves. (Hawkins & Pingree, 1980: S. 203) Gerbner et al. (1977) verwendeten eine 3-Item-Skala, welche je Dimension lediglich ein Item vorgab.
112
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
ning toward evaluating the relative contributions of habit and selection.“ (Hawkins & Pingree, 1981a: S. 299)31 Noch deutlicher wurde der genrespezifische Einfluss des Fernsehens in einer Studie von Rubin et al. (1988). Die Studie fokussierte nicht auf ein Thema, sondern untersuchte verschiedene gesellschaftliche Einstellungen wie Vertrauen in andere, Selbstbestimmtheit und Lebenszufriedenheit, soziale Vernetzung, politische Wirksamkeit und Sicherheit. Neben der allgemeinen Fernsehnutzung wurde wiederum die Nutzung verschiedener Genres erhoben: Action- und Abenteuersendungen, Nachmittagsserien, Dramen am Abend, Nachrichten und Sitcoms. In hierarchischen Regressionen war bis auf eine Ausnahme bei keiner der abhängigen Variablen ein signifikanter Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung zu beobachten, stattdessen ließen sich die Einstellungen durch einzelne Genres vorhersagen. Lediglich im Zusammenhang mit der wahrgenommenen Sicherheit fand sich ein signifikanter Zusammenhang mit der Fernsehnutzung, wonach allgemeine Vielseher sich weniger Sorgen um ihre Sicherheit machten, wohingegen Vielseher von Action- und Abenteuersendungen sich erwartungsgemäß weniger sicher fühlten. Dies macht erneut deutlich, „that television affects personal perceptions, not from inordinate exposure levels, but from content selectivity tempered by individual differences and audience attitude and activities” (Rubin et al., 1988: S. 128). Genrespezifische Kultivierungseffekte dürften mit der Einführung neuer Fernsehtechnologien und den daraus resultierenden Selektionsmöglichkeiten noch deutlicher werden. Perse, Ferguson und McLeod (1994) führten vor diesem Hintergrund eine Studie zum Einfluss neuer Fernsehtechnologien (Kabelfernsehen, Videorecorder und Fernbedienung) auf Kultivierungseffekte durch. Dabei zeigte sich, dass Besitz und Nutzung neuer Technologien den Einfluss des Fernsehens auf Viktimisierungsangst und Misstrauen modifizierten. Die Autoren rechneten hierarchische Regressionen, die nach Kontrolle der soziodemographischen Merkmale und der allgemeinen Fernsehnutzung die zusätzlich erklärte Varianz durch neue Technologien prüften, im Einzelnen Kabelanschluss, Besitz eines Videorekorders, Besitz einer Fernbedienung, Umschaltverhalten und Senderrepertoire (Kabelkanäle vs. terrestrisch). Die allgemeine Fernsehnutzung verstärkte die Viktimisierungsangst, Besitz eines Videorekorders und Nutzung von Kabelfernsehen schwächten diese ab. Ähnlich konträr waren die Einflüsse auf das Misstrauen. 31
Etwa gleichzeitig mit Hawkins und Pingree (1980; 1981a) begannen weitere Forscher, genrespezifische Kultivierungseffekte durch Fernsehserien zu untersuchen: Buerkel-Rothfuss und Mayes (1981) thematisierten die Frage genrespezifischer Kultivierungseffekte theoretisch nicht, sondern setzten sie lediglich in der Operationalisierung um, weshalb auf diese Studie nicht genauer eingegangen wird. Folgestudien zum Einfluss der Seriennutzung bestätigten stärkere Kultivierungseffekte durch die Seriennutzung (vgl. Alexander, 1985; Carveth & Alexander, 1985; Perse, 1986).
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Die allgemeine Fernsehnutzung hatte keinen Einfluss, verstärkt wurde das Misstrauen durch Kabelanschluss und die Nutzung terrestrischer Kanäle, abgeschwächt durch die Nutzung von Kabelfernsehen. Wenn auch auf anderer Ebene belegt diese Studie erneut, dass Kultivierungseffekte durch die selektive Fernsehnutzung, die sich hier etwa im Kanalrepertoire und in der Nutzung von Videorekordern niederschlägt, beeinflusst werden: „When viewers are exposed to ‘more of the same’ programming, relationships between television exposure and fear and mistrust are consistent with previous research. But cable television does not carry only broadcast-type channels. Cable offers new sorts of channels that present specialized and alternative programming. (…) consistent with expectations, higher cable channel repertoire, or watching channels that carry programming that differs from the networks’ prime-time dramatic offerings, was related negatively to cultivated perceptions.” (S. 97)
Zahlreiche Studien bestätigten daraufhin, dass die Genrenutzung einhergehend mit den divergierenden Botschaften die Realitätswahrnehmung stärker und häufig auch anders beeinflussen als die allgemeine Fernsehnutzung. Zu Anfang dieses Kapitels wurden exemplarisch genrebedingte Unterschiede in der Darstellung dreier Realitätsbereiche vorgestellt: Gewalt, Darstellung von Afroamerikanern und Darstellung von Ärzten. Für diese Bereiche seien nun auch Studien vorgestellt, die genrespezifische Kultivierungseffekte untersuchten. Weaver und Wakshlag (1986) verglichen den Einfluss von Krimisendungen (fiktional und nonfiktional) und anderen Genres auf die Wahrnehmung von Verbrechenshäufigkeit und Viktimisierungsangst. Dabei zeigte sich jeweils ein klares Muster. Während die Zusammenhänge mit der Nutzung von Krimisendungen die klassischen Kultivierungseffekte bestätigten, fanden sich keine signifikanten Zusammenhänge mit der Nutzung anderer Genres. Ähnliches beobachtete auch Barth (1988), der zusätzlich zum Einfluss verschiedener Genres auf die Wahrnehmung von Verbrechenshäufigkeit und Verbrechensarten, auf Viktimisierungsangst, Misstrauen und die Forderung nach härteren Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung bei österreichischen Erwachsenen auch den Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung erfasste. Mit Pfadanalysen bestätigte der Autor, dass die Genrenutzung einen stärkeren Einfluss auf die Realitätswahrnehmung hatte als die allgemeine Fernsehnutzung. Je nach Genre gingen die Kultivierungseffekte in unterschiedliche Richtungen. Je mehr die Befragten leichte Unterhaltungs- und Informationsprogramme sahen, desto höher schätzten sie die Anzahl von Österreichern, die einem Verbrechen zum Opfer fallen, und desto mehr forderten sie stärkere Mittel in der Verbrechensbekämpfung. Sahen die Befragten hingegen häufig anspruchsvolle Spielfilme, forderten sie weniger harte Mittel.
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4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Cohen und Weimann (2000) bestätigten diese Beobachtung in Israel. In einer umfangreichen Befragung von 4840 Jugendlichen jüdischer Highschools erhoben die Autoren Verbrechenswahrscheinlichkeiten, Anzahl von in der Verbrechensbekämpfung Beschäftigten sowie Einstellungen des Mean World-Index. Multiple Regressionen zeigten auch hier stärkere und divergierende Einflüsse der Genrenutzung, wobei nicht alle Genres eine negative Weltsicht prägten, im Gegenteil: „some genres, especially sit-coms and news, may be associated with a rosier picture of reality.“ (Cohen & Weimann, 2000: S. 108) Holbert et al. (2004) stellten in ihrer recht aktuellen Studie zum Einfluss verschiedener Genres auf Viktimisierungsangst, Einstellung zu Polizei, Todesstrafe und Waffenbesitz zwar keinen Vergleich mit dem Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung an. Sie verglichen aber den Einfluss verschiedener verbrechensbezogener Genres (Nachrichten, Polizei-Reality-Shows und Krimisendungen), die sich inhaltlich in der Darstellung von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung unterschieden. Während Nachrichten die Aktivitäten der Polizei negativ darstellten, lieferten Polizei-Reality-Shows ein positives Bild. Das Bild in Krimisendungen schien gemischt, jedoch überwog auch hier die Abbildung fragwürdiger Taktiken in der Verbrechensbekämpfung. Dies führte zu der Annahme, dass Fernsehnachrichten und Krimisendungen das Vertrauen in die Polizei untergraben, während Polizei-Reality-Shows ein positives Bild beim Zuschauer wecken. Alle drei Genres dürften die Viktimisierungsangst verstärken. Die Hypothesen bestätigten sich größtenteils. Es zeigte sich kein Zusammenhang der Nachrichtennutzung mit der Akzeptanz von Polizeigewalt, die Zusammenhänge mit Krimisendungen und Reality-Shows waren hypothesenkonform. Auch die Rezeption von Nachrichten und Reality-Shows führte zu einer höheren Verbrechensangst. Die Einstellungen zu Todesstrafe und Waffenbesitz beeinflussten die Genres unterschiedlich. Am deutlichsten war der Einfluss der RealityShows, welche diese Einstellungen direkt und indirekt (über die Angst vor Verbrechen und die Akzeptanz von Polizeigewalt) determinierten. Den Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung prüften die Autoren zwar nicht. Allein die divergierenden Befunde der drei Genres zeigen jedoch, dass die ausschließliche Betrachtung der allgemeinen Fernsehnutzung als Einflussvariable zumindest im Zusammenhang mit spezifischeren Einstellungen nur oberflächliche Erkenntnisse liefert. Eine Gesamtschau aller in der Metaanalyse (vgl. Kapitel 2.6) erfassten Kultivierungsstudien im Gewaltbereich, die den Einfluss von gewaltbezogenen Genres mit dem Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung verglichen, stützt die Annahme genrespezifischer Kultivierungseffekte. Neben den oben skizzierten Studien
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
115
unterstützen auch die Studien von Singer et al. (1984), Surette (1985), TaschlerPollacek (1990), Shrum und O’Guinn (1993) und Shrum (1996) diese Beobachtung. Eine Ausnahme bildet die Studie von Bilandzic (2002), die den Einfluss von allgemeiner Fernsehnutzung und Krimirezeption (Fernsehen, Kino und Literatur) auf wahrgenommenes Gewaltrisiko, Mean World-Einstellungen, Viktimisierungsangst und Tolerierung legitimierter Gewalt untersuchte. Die Befunde scheinen auf den ersten Eindruck gegen genrespezifische Kultivierungseffekte zu sprechen, da die Kriminutzung vor allem bei den Kultivierungsindikatoren zweiter Ordnung einen schwächeren Einfluss auf die Realitätswahrnehmung hatte als die Gesamtfernsehnutzung. Allerdings beeinflussten Fernseh- und Kriminutzung die Kultivierungsindikatoren teils in unterschiedlicher Richtung, weshalb die Befunde darauf hindeuten, dass eine inhaltliche Differenzierung der Fernsehnutzung wichtig ist: „Wäre es unwichtig, welche Inhalte die Zuschauer nutzen, müssten alle Nutzungsindikatoren zumindest in die gleiche Richtung gehen.“ (Bilandzic, 2002: S. 66) Da dies nicht der Fall ist, kann der durch die allgemeine Fernsehnutzung hervorgerufene Kultivierungseffekt nicht klar bestimmt werden, da der Einfluss unterschiedlicher Genres, die der allgemeinen Fernsehnutzung zugrunde liegen, divergiert und somit nur oberflächlich gemessen wird. Der Befund, dass Krimisendungen, die gewaltbezogene Botschaften in höherem Maße liefern als die weniger verdichtete allgemeine Fernsehnutzung, aber einen geringeren oder negativen Einfluss auf die Realitätswahrnehmung haben, stärkt vielmehr den Verdacht, dass hier Drittvariablen wirksam werden, die einen intensiven allgemeinen Fernsehkonsum begleiten (ebd., vgl. auch Kapitel 2.4.8 zum Kausalitätsproblem in der Kultivierungsforschung). Die Studie sollte daher keineswegs als Widerspruch gegen genrespezifische Kultivierungseffekte aufgefasst werden, sondern vielmehr als weiterer Beleg. Auch im Zusammenhang mit der Darstellung von Afroamerikanern lassen sich Unterschiede zwischen verschiedenen Fernsehgenres finden, wonach Afroamerikaner in fiktionalen Fernsehgenres eher positiv dargestellt werden, in nonfiktionalen hingegen negativ. Busselle und Crandall (2002) untersuchten den divergierenden Einfluss verschiedener Fernsehgenres auf die Wahrnehmung von Bildung, Sozialstatus, Einkommen und beruflichen Erfolgschancen von Afroamerikanern. Die inhaltsanalytisch festgestellten Darstellungsunterschiede der Genres schlugen sich auch in den Kultivierungseffekten nieder. So trugen fiktionale Genres, Sitcoms und Spielfilme, zu einem positiveren Bild des beruflichen Erfolgs von Afroamerikanern bei, im Zusammenhang mit der Nutzung von Fernsehnachrichten zeigte sich kein Einfluss. In Bezug auf die Verantwortlichkeit für den beruflichen Erfolg divergierten die Zusammenhänge noch deutlicher. Je mehr die Befragten Nachrich-
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4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
ten sahen, umso mehr machten sie (auch nach Kontrolle von Alter, Geschlecht und Haushaltseinkommen) die Afroamerikaner selbst für ihre geringeren beruflichen Erfolgschancen verantwortlich und schrieben ihnen eine geringere Motivation zu. Befragte, die häufiger Spielfilme sahen, schrieben die geringeren Berufschancen eher der Diskriminierung von Afroamerikanern zu. Der Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung wurde hier lediglich in separaten Regressionen überprüft, nicht zusammen mit der Genrenutzung, weshalb über den Einfluss der Genrenutzung über die Fernsehnutzung hinaus nichts ausgesagt werden kann. Die Tatsache, dass die allgemeine Fernsehnutzung lediglich mit dem wahrgenommen Bildungsstand von Afroamerikanern und ihrem wahrgenommenen Einkommen korrelierte, spricht jedoch dafür, dass die Betrachtung der Genres auch bei diesem Thema genauere Ergebnisse liefert als die Betrachtung der unspezifischen Fernsehnutzung. Dies belegt auch eine Studie von Armstrong, Neuendorf und Brentar (1992). Auch hier konnten entgegengesetzte Einflüsse von nonfiktionalen und fiktionalen Fernsehgenres auf die Wahrnehmung von Afroamerikanern festgestellt werden. So zeigten hierarchische Regressionen nach Kontrolle des Einflusses soziodemographischer Merkmale einen negativen Einfluss der Nachrichtennutzung auf den wahrgenommenen sozioökonomischen Erfolg von Afroamerikanern, aber einen positiven Einfluss von Unterhaltungssendungen. Zuletzt seien genrespezifische Kultivierungseffekte auch am Beispiel der Darstellung und Wirkung von Ärzten im Fernsehen verdeutlicht. Rossmann (2002; 2003), die den Einfluss von Krankenhausserien auf das Bild von Ärzten bei Patienten untersuchte, zeigte, dass die überaus idealisierte Darstellung im Fernsehen das Realitätsbild der Patienten beeinflusste: Vielseher von Krankenhausserien nahmen Ärzte positiver wahr als Wenigseher. Minkewitz (2003), die Unterschiede in der Darstellung von Ärzten in Gesundheitsmagazinen, Reality-Formaten und Boulevardmagazinen gefunden hatte, stellte auch divergierende genrespezifische Kultivierungseffekte fest. So bewerteten die Rezipienten von Gesundheitsmagazinen und Reality-Formaten, also von Sendungen, die ein eindeutig positives Bild von Ärzten vermittelten, Ärzte deutlich positiver als Rezipienten, die diese Sendungen nicht oder selten sahen. Bei Boulevardmagazinen, die Ärzte eher kritisch darstellten, war der Einfluss weniger eindeutig, teils auch negativ. So schätzten Vielseher von Boulevardmagazinen die Wahrscheinlichkeit von Behandlungsfehlern durch Ärzte höher ein als Wenigseher dieser Sendungen. Nach Kontrolle der allgemeinen Fernsehnutzung blieben diese Zusammenhänge meist stabil, weshalb auch hier von stärkeren und divergierenden genrespezifischen Kultivierungseffekten ausgegangen werden kann.
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
117
Dies wird noch deutlicher, wenn man die Befunde mit denen amerikanischer Kultivierungsstudien zur Darstellung und Wirkung von Fernsehärzten vergleicht. So deuten amerikanische Studien (Pfau et al, 1995b; Chory-Assad & Tamborini, 2001) darauf hin, dass das Bild von amerikanischen Fernsehärzten generell etwas negativer ist als im deutschen Fernsehen. Entsprechend zeigten Pfau et al. (1995b), dass amerikanische Fernsehzuschauer Ärzte zumindest teilweise auch umso negativer beurteilten, je mehr sie amerikanische Prime-Time-Serien sahen, teilweise aber auch positiver. Konkretere genrespezifische Unterschiede fanden Chory-Assad und Tamborini (2003). In Inhaltsanalysen hatten die Autoren festgestellt, dass Ärzte in Nachrichtensendungen kompetenter waren und einen höheren Grad an sozialer Kompetenz aufwiesen als die Ärzte in fiktionalen Fernsehserien (Chory-Assad & Tamborini, 2001). Dementsprechend zeigten die Autoren in ihrer Kultivierungsstudie, dass die amerikanischen Fernsehzuschauer Ärzte bezüglich ihres Charakters, ihrer Fürsorge und Gelassenheit umso schlechter bewerteten, je häufiger sie Arztserien sahen. Vielseher von Nachrichtenmagazinen hingegen bewerteten Ärzte zum Teil positiver. Die allgemeine Fernsehnutzung hingegen hatte keinen Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung von Ärzten. Anhand dieser drei Realitätsbereiche ließ sich veranschaulichen, dass das Fernsehen durchaus divergierende Botschaften liefert und sich diese in unterschiedlichen Kultivierungseffekten niederschlagen. In der Regel ist der Einfluss einzelner oder mehrerer Genres dabei stärker als der Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung. Dies lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass die allgemeine Fernsehnutzung den Einfluss einzelner Genres verwischt. Wenn Genre A einen bestimmten Realitätsbereich positiv darstellt und die Wahrnehmung positiv beeinflusst, Genre B diesen aber negativ dargestellt und die Wahrnehmung negativ beeinflusst, werden die Zusammenhänge mit der allgemeinen Fernsehnutzung sehr gering sein oder ganz verschwinden. In jedem Fall aber werden sie den Einfluss der einzelnen Genres verwischen. Entsprechend hat sich die Untersuchung genrespezifischer Kultivierungseffekte inzwischen weitgehend durchgesetzt, und es finden sich Studien zu allen denkbaren Genres. Zur Veranschaulichung stellt Tabelle 9 die Häufigkeit untersuchter Genres der in der Metaanalyse betrachteten Studien dar: Entsprechend der ursprünglichen Annahme, dass Kultivierungseffekte auf die allgemeine Fernsehnutzung zurückgehen, unterschieden zahlreiche, vor allem ältere Studien nicht zwischen einzelnen Genres, sondern untersuchten den Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung. Die Mehrheit der Studien untersuchte genrespezifische Effekte, wobei die meisten den Einfluss mehrerer Genres auf einzelne Realitätsbereiche prüften.
118
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Tabelle 9:
Häufigkeit der untersuchten Genres in Kultivierungsstudien
Genre
n=
Allgemeine Fernsehnutzung Nachrichten und Politinformation Fernsehserien (außer Krimiserien) Action-/Krimisendungen Sendungen über Afroamerikaner Länderspezifische Sendungen (z.B. US-Fernsehen) Talkshows Sonstige Genres (z.B. Werbung, Pornographie, Wissenschaft, Boulevardmagazine) Mehrere Genres/Genrevergleich
29 9 9 8 5 5 3 11 30
Basis: 109 Kultivierungsstudien, 15 Fachzeitschriften, 1976-2005
Einige konzentrierten sich auf einzelne Genres, am häufigsten auf Nachrichten und Politinformation (z.B. Mendelsohn & Nadeau, 1996; Gross & Aday, 2003; Romer et al., 2003), Fernsehserien (z.B. Buerkel-Rothfuss & Mayes, 1981; Alexander, 1985; Perse, 1986), Action- und Krimisendungen (z.B. Bonfadelli, 1983; Weaver & Wakshlag, 1986; Bilandzic, 2002), Sendungen mit Afroamerikanern (z.B. Allen & Hatchett, 1986; Armstrong et al., 1992; Fujioka, 1999), länderspezifische Sendungen (Payne & Peak, 1977; Tan & Suarchavarat, 1988; Zhang & Harwood, 2002) und Talkshows (z.B. Davis & Mares, 1998; Rössler & Brosius, 2001a; 2001b; Woo & Dominick, 2001). Einzelne setzten sich mit sexorientierten Sendungen auseinander (z.B. Zillmann & Bryant, 1982; Aubrey, Harrison, Kramer & Yellin, 2003), mit Familiensendungen (z.B. Buerkel-Rothfuss et al., 1982), Wissenschaftssendungen (z.B. Nisbet et al., 2002), Boulevardmagazinen (Rossmann & Brosius, 2005), Werbung (z.B. Tan, 1979) oder Sendungen über übernatürliche Phänomene (z.B. Sparks et al., 1997; Sparks & Miller, 2001).
4.1.3
Metabotschaften und themenspezifische Differenziertheit
Auch wenn Kultivierungsforscher sich weitgehend darauf geeinigt haben, eher den Einfluss spezifischer Genres zu untersuchen als den der allgemeinen Fernsehnutzung, so ist auch dies nicht der Königsweg. Zu bedenken ist zweierlei: (1)
Genrespezifische Kultivierungseffekte lassen sich zwar meist bestätigen, sie hängen aber stark vom untersuchten Realitätsbereich bzw. den untersuchten Metabotschaften ab. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass sich genrespezi-
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
(2)
119
fische Kultivierungseffekte feststellen lassen, räumt nicht die Möglichkeit aus, dass es genreübergreifende Fernsehbotschaften gibt, die genreübergreifende Kultivierungseffekte auslösen. Diese müssen jedoch erst identifiziert werden. Der Begriff der „genrespezifischen Kultivierung“ hat sich weitgehend etabliert, doch auch dieser ist kritisch zu betrachten. Zu hinterfragen ist, welche Aggregierungsebene die richtige ist. So hat sich gezeigt, dass Ärzte nicht in allen Arztserien einheitlich dargestellt werden, da es innerhalb des Genres länderspezifische Unterschiede zu geben scheint (z.B. Deutschland vs. USA). Auch am Beispiel der Darstellung von Afroamerikanern wurde oben gezeigt, dass die ausschlaggebende Messebene nicht das Genre ist, sondern die Unterscheidung nonfiktionaler und fiktionaler Sendungen. Das Aggregierungsniveau des Genres scheint daher nicht immer geeignet.
Die Voraussetzung für die Lösung beider Fragen liegt darin, mehr Wert auf die Identifikation der Fernsehbotschaften zu legen. Dies erschließt die Möglichkeit, auf der einen Seite tatsächlich genreübergreifende Botschaften des gesamten Fernsehangebots zu finden und auf der anderen Seite definieren zu können, welche Aggregierungsebene für welchen Untersuchungsgegenstand relevant ist. Dies soll im Folgenden im Zusammenhang mit der Frage nach den Metabotschaften des Fernsehens und der Wahrnehmung der Fernsehbotschaften durch die Rezipienten erörtert werden.
4.1.3.1
Metabotschaften des Fernsehens: Hintergrund und Definitionen
Eine Vielzahl von Studien zu genrespezifischen Kultivierungseffekten belegt, dass die Genrenutzung – bzw. eine Ebene mit höherem Differenzierungsgrad als die allgemeine Fernsehnutzung – meist eine höhere Erklärungskraft besitzt als die allgemeine Fernsehnutzung. Dies schließt jedoch genreübergreifende Kultivierungseffekte nicht grundsätzlich aus. Es ist durchaus denkbar, dass es bestimmte Metabotschaften gibt, die das Fernsehen generell und über alle Sendungen, Genres oder Formate hinweg vermittelt. So argumentiert Potter (1993: S. 589): „Empirical tests have continually demonstrated that when exposure is defined in terms of genre viewing, the evidence for a cultivation effect is as strong or stronger than when it is conceptualized globally. (...) If theoreticians want to maintain cultivation at the highest level of generality and therefore keep the global exposure construct, they must provide a more compelling reason for doing so. That is, they must demonstrate convincingly that there is some type of uniform narrative across all types of programs.“
120
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Zur Veranschaulichung dieser Überlegung vergleicht Potter (1993) den Unterschied zwischen genrespezifischen und genreübergreifenden Botschaften mit den Bäumen im Wald. Während die Bäume für Fernsehsendungen stehen, repräsentiert der Wald das Fernsehen. Potters (1993) Überlegung ist nun, dass sich Spaziergänger auf ihrem Weg durch die Bäume ein Bild davon machen, wie der Wald aussieht. Genauso wie dies aber nicht möglich ist, ohne die Gesamtheit aller verschiedenen im Wald vorhandenen Baumarten zu kennen, lassen sich die Fernsehbotschaften nicht durch einzelne Sendungen allein erkennen, sondern nur durch Botschaften die alle Programmtypen durchziehen, wie allgemeine Themen und Lehren des Lebens (ebd.: S. 587). Diese Analogie lässt sich noch weiter führen, wenn wir die Selektivität der Spaziergänger respektive Zuschauer mit einbeziehen. Spaziergänger, die bestimmte Bereiche im Wald bevorzugen oder gewohnheitsgemäß bestimmte Wege gehen, sehen dabei möglicherweise andere Bäume und somit andere Baumarten als Spaziergänger, die andere Bereiche bevorzugen. Für die einen Zuschauer mag es sich dann vielleicht um einen Tannenwald handeln, für die anderen um einen Fichtenwald. Für alle aber handelt es sich um einen Nadelwald. Und dies ist die Metabotschaft, die Bäume und Wald gleichermaßen vermitteln. Wie lassen sich die Metabotschaften des Fernsehens nun definieren? In der Kultivierungsforschung hat man sich mit dieser Frage bislang nur unzureichend beschäftigt. Meist wird der Identifikation der Fernsehantwort überhaupt nur oberflächlich Beachtung geschenkt, weshalb es zahlreiche Kultivierungsstudien gibt, die lediglich auf der Annahme des Forschers basieren, was die richtige Fernsehantwort ist. Kultivierungsforscher machen sich häufig nicht einmal die Mühe, überhaupt Inhaltsanalysen vorzuschalten, um die Fernsehantwort zu identifizieren. Dies hat auch Potter (1994) kritisiert. Wenn aber Inhaltsanalysen vorgeschaltet werden, so basieren sie in der Regel auf einem eingeschränkten Programmangebot, einzelnen Sendungen oder Genres, anhand derer dann Häufigkeiten bestimmter Akteure (z.B. Berufsgruppen, ethnische Gruppen), ihre Eigenschaften (z.B. Kompetenz, Geschlecht, Erfolg) oder Häufigkeiten von Handlungen oder Ereignissen (z.B. Gewaltakte, Krankheitsfälle, Schönheitsoperationen) festgestellt werden. Die Frequenz einzelner Aspekte wird meist gleichgesetzt mit der Botschaft, die das Fernsehen im Rahmen bestimmter Themen vermittelt. Klassisches Beispiel hierfür ist die im Rahmen des Cultural Indicators Projekts festgestellte Dominanz von Gewaltakten im Fernsehen, aus denen die Forscher darauf schließen, die Fernsehwelt sei gewalthaltig. Selten wird jedoch in Frage gestellt, ob diese Häufigkeiten mit den vermittelten Botschaften gleichzusetzen sind. Um in der oben angeführten Analogie zu bleiben: Die gängige Praxis läuft Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen.
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
121
Gegen diese Vorgehensweise spricht, dass die erfasste Fernsehbotschaft im Kontext von Wirkungsstudien letztlich nur dann Relevanz besitzt, wenn sie von den Zuschauern auch entsprechend wahrgenommen wird. Diese Kritik wurde bereits von Newcomb (1978) thematisiert (vgl. hierzu auch Kapitel 2.4.2). Es stellt sich also die Frage, welcher Differenzierungsgrad angemessen ist und welche Genauigkeit vom Rezipienten wahrgenommen wird. Hierzu ein Beispiel: Der Befund, dass sich Krankenschwestern in Krankenhausserien in 99 Prozent aller Fälle nicht intrigant verhalten (Rossmann, 2002: S. 73f.), ist als empirisches Ergebnis einer Inhaltsanalyse von Krankenhausserien zunächst einmal unstrittig. Als Indikator für den Einfluss von Krankenhausserien auf die Wahrnehmung des Pflegepersonals in der Realität jedoch stellt sich die Frage, ob die Zuschauer die FernsehKrankenschwestern tatsächlich als nicht intrigant wahrnehmen. Denkbar ist, dass bereits die eine Krankenschwester, die gegen ihre Kolleginnen und Kollegen intrigiert (und in fast jeder Serie vorkommt32), das Bild des Zuschauers prägt. Tatsächlich zeigte Rossmann (2002) in ihrer Kultivierungsstudie, dass Patienten das Pflegepersonal umso intriganter wahrnahmen, je häufiger sie Krankenhausserien sahen (vgl. Rossmann, 2002: S. 124f.). Geht man rein von der Häufigkeit gezeigter intriganter Krankenschwestern aus, so wäre dieses Ergebnis nicht zu erwarten. Auch Vlasic (2004) thematisierte dieses Problem im Rahmen der Frage, wie sich die Integrationsfunktion der Massenmedien empirisch messen lässt: Die direkte Verknüpfung der datenanalytischen Befunde mit der Wahrnehmung durch den Rezipienten impliziere, so der Autor, „dass in der Wahrnehmung der Rezipienten die unterschiedlichen Medienbotschaften analog zur datenanalytischen Aggregierung verdichtet werden.“ (S. 204) Wie das obige Beispiel zeigt, lässt sich dies bezweifeln. Es geht also darum, dass ein zu hoher Differenzierungsgrad der erfassten Medienbotschaften an der Wahrnehmung der Zuschauer vorbeigeht, weshalb die Ermittlung grundlegender Lehren und Wertvorstellungen des Fernsehens im Rahmen singulärer, über Akteure, Handlungsstränge oder Aussagen identifizierter Botschaften nur schwer möglich ist. Entscheidend sind vielmehr Kumulation und Konsonanz einzelner Botschaften mit gleich lautendem Tenor. So forderte Dahlgren (1983) im Zusammenhang mit der Frage nach dem Einfluss von Fernsehnachrichten, eher nach übergreifenden Mustern zu suchen, anstatt einzelne Informationen zu erfassen: „while the output of television news does convey ‚information’, some of which is certainly retained by viewers, it is not the discrete units of information per se – the daily variation in content – which are at the core of the broadcasts’ role in orienting the 32
Diese Wahrnehmung findet sich auch in der Presseberichterstattung über Arzt- und Krankenhausserien wieder (vgl. o.V., 1998; Wystrichowski, 2000).
122
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
audience to the social world. Rather, it is the recurring, stable features of the programming (that is to say the generic conventions, the structure and thematic content of TV news) as a cultural form which, over time, are the most significant.” (ebd.: S. 6)
Diese Haltung lässt sich auch in Frühs (2001a; 2002) molarer Perspektive wiederfinden. Sie fordert die „sinnhafte Komplexion von Variablen“ (Früh, 2002: S. 70), wonach Wirkungszusammenhänge nicht isoliert betrachtet werden sollen, sondern eingebettet in ihren jeweils relevanten Kontext. Auch die beteiligten Variablen sind dabei nicht einzeln zu behandeln, sondern zu Klumpen, Syndromen oder Gestalten gruppiert. Im Wirkungsprozess können diese dann Effekte hervorbringen, die über die Wirkung ihrer einzelnen Bestandteile hinausgehen, ohne sie aufzuheben. Diese Sichtweise erinnert stark an die Überlegungen der Gestalttheorie, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (vgl. z.B. King & Wertheimer, 2004) – ebenso wie ein Wald mehr ist als die Gesamtheit seiner Bäume. Wenden wir uns von der abstrakten Sichtweise wieder hin zu der eigentlichen Fragestellung. Gibt es mediale Botschaften, die über die Vermittlung einzelner Häufigkeiten in einzelnen Sendungen oder Genres hinausgehen, die mehr sind als eine ungenaue Zusammenfassung der Inhalte einzelner Sendungen, Genres und Formate? Vlasic (2004) sagt, dass im Hinblick auf die Praxis kommunikationswissenschaftlicher Forschung gute Gründe dafür sprechen, „bei der Erfassung von Medieninhalten den Blick nicht noch detaillierter auf die mikroskopische Struktur der Untersuchungsgegenstände zu richten, sondern nach geeigneten, abstrahierenden Aggregierungsniveaus zu suchen“ (S. 207). Dabei erscheint das Konzept der Metabotschaften hilfreich, da es sich nicht für einzelne Häufigkeitsverteilungen in verschiedenen Genres oder Sendungen interessiert und somit nicht die unterschiedlichen Einflüsse einzelner Genres erfasst, sondern die übergreifenden Muster, die über die Genres hinausgehen. Und gerade wenn es um die Analyse des Einflusses des gesamten Programmangebots im Fernsehen geht, das über die singulären Effekte einzelner Häufigkeitsverteilungen und einzelner Sendungen hinausgeht, ist die Identifikation von Metabotschaften naheliegend. Doch wie lassen sich diese Metabotschaften beschreiben, wie lassen sie sich identifizieren? Hier soll ein Blick in die Erforschung der Nachrichtenvermittlung der achtziger Jahre helfen. Gurevitch und Levy (1986) haben in diesem Zusammenhang den Begriff der „metamessages“ definiert: „By metamessages, we mean those latent meanings that are embedded in audience decodings of mass media messages and that link the aggregated structure of individually created meanings to macrosocial phenomena. Metamessages inhere in the meanings attributed to mass media messages by individuals who are trying to make sense of those messages. In short, the notion of metamessages is an audience-centered concept.” (S. 162)
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
123
In einer explorativen Studie versuchten die Autoren, solche rezipientenorientierten Metabotschaften zu identifizieren. Hierfür wurden Befragte mit offenen Fragen zu ihren Einschätzungen und Erwartungen in Bezug auf zwei politische Themen (die Wahrscheinlichkeit eines bevorstehenden Krieges und Arbeitslosigkeit) befragt. Die Antworten wurden systematisiert und zu groben Antwortbereichen zusammengefasst. Im zweiten Schritt untersuchten die Autoren, wie die identifizierten Antwortkategorien mit der Fernsehnutzung der Befragten korrelierten. Die Zusammenhänge deuteten auf jeweils unterschiedliche Metabotschaften in unterschiedlichen Informationsquellen hin, jedoch wurden die medialen Quellen selbst nicht untersucht, weshalb sich Wirkung und Wahrnehmung von Fernsehinhalten nicht trennen lassen. Es ist fraglich, ob diese Vorgehensweise für die Kultivierung fruchtbar gemacht werden kann. Auch Früh (2001a) beschreibt das Problem, wenn die objektive Medienrealität zu sehr verschwindet und hinter das Publikum zurücktritt. So ist die Einbeziehung des Publikums nur bis zu einem gewissen Grad sinnvoll. Wenn die Medienangebote vollständig ignoriert werden und von einer vollkommen eigenständigen Publikumskreation ausgegangen wird (wie dies von radikal-konstruktivistischen Positionen vertreten wird), kehrt sich die Kausalbeziehung um: „Medienangebote werden vom Publikum als fast austauschbares Mittel und Objekt genutzt, um eigenes Wissen zu projizieren oder Gefühle auszuleben“ (S. 16). Gurevitch und Levy (1986) erkannten das Problem zwar selbst, griffen es aber empirisch nicht auf: „As stated above, a full understanding of metamessages also requires evidence about media portrayals of reality and social issues.“ (S. 163) Vlasic (2004) rekurriert in seinem Verständnis von Metabotschaften primär auf die Medien selbst. Die Metabotschaften dienen nach seinem Verständnis zunächst der Reduktion von Kanal- und Quellenvielfalt. Es geht ihm darum, die Medieninhalte, die von den individuellen Akteuren rezipiert werden, für den Nachweis integrierender Effekte angemessen zu erfassen (ebd.: S. 201). So drücke das Konzept der Metabotschaften vereinfacht gesagt aus, „dass bei der Untersuchung des komplexen Zusammenspiels von Medienangebot, Rezeption und Verhalten der Individuen erstens größere, abstrahierende Muster untersucht werden sollten, die zweitens im Hinblick auf ihre Anbindung an die Wahrnehmung der Individuen überprüft werden müssen.“ (ebd.: S. 208)
124 4.1.3.2
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Identifikation von Metabotschaften und Differenzierungsgrad
Wenn also die Metabotschaften auf Basis der Fernsehinhalte identifiziert werden, so geht es zunächst um die Frage, welcher Differenzierungsgrad angemessen ist. Die mögliche Spannweite im Fernsehen reicht von einzelnen Informationen über Akteure, Sendungen und Genres bis hin zum gesamten Fernsehangebot. Letztlich lassen sich Botschaften – wie mehrmals gezeigt wurde – auf allen möglichen Abstraktionsniveaus feststellen. Entsprechend konstatiert Vlasic (2004: ebd.): „Eine vollständige bzw. letztgültige Festlegung von Metabotschaften ist freilich nicht möglich, da die relevanten Botschaften, genauer gesagt: ihr angemessenes Aggregierungsniveau, immer durch die Analyseperspektive bestimmt wird.“ Als Beispiel für die Verdichtung einzelner Botschaften zu Metabotschaften skizziert Vlasic (2004) die Identifikation von Metabotschaften anhand der Darstellung von Schönheitsoperationen im Fernsehen. So thematisieren manche Fernsehbeiträge die Gefahren des operativen Eingriffs, während andere die positiven psycho-sozialen Folgen thematisieren. Auch wenn die Darstellung auf einem hochdifferenzierten Niveau unterschiedlich ist, ist es denkbar, dass sich beide Informationen, so sie in der Fernsehberichterstattung häufig vorkommen, zu einer gemeinsamen Botschaft verdichten: etwa die Botschaft, dass Schönheitsoperationen nicht mehr selten sind, sondern weit verbreitet. Die ursprünglich also unterschiedlichen Informationen vermitteln auf einer höheren Ebene ein und dieselbe Botschaft: Schönheitsoperationen sind eine weit verbreitete Handlungsoption, die in der Gesellschaft zunehmend Akzeptanz findet. Nun lässt sich aber die Darstellung von Schönheitsoperationen im Fernsehen zusammen mit anderen Informationen wie etwa Diätratgeber, Modetrends, Schmuck etc. noch weiter verdichten, etwa dahingehend, dass die generelle Beschäftigung mit Attraktivität die Bedeutung des Aussehens für den sozialen Erfolg unterstreicht (vgl. Vlasic: S. 208ff.). Abbildung 17 veranschaulicht dies. Das geeignete Messniveau für Kultivierungsbotschaften siedelt sich auf unterschiedlichen Differenzierungsgraden an: Auf einem sehr differenzierten Niveau lassen sich unterschiedliche Bewertungen von und Perspektiven auf Schönheitsoperationen finden, etwa in unterschiedlichen Sendungen (z.B. die Serie „Nip/Tuck“, die das Leben zweier Schönheitschirurgen beschreibt, oder Doku-Soaps über Schönheitsoperationen wie „Die Beautyklinik“ oder „The Swan“) oder gar Beiträgen (z.B. einzelne Beiträge aus den Boulevardmagazinen „taff“, „Explosiv“ etc.). Die stärker aggregierte Botschaft („Schönheitsoperationen sind gang und gäbe“) siedelt sich schon auf einem höheren Niveau an, hier auf dem Niveau von Fernsehgenres, denn am häufigsten werden kosmetischchirurgische Eingriffe in Boulevardmagazinen und Dokus-Soaps thematisiert. Die
125
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
Frage nach der Bedeutung von Attraktivität in der Gesellschaft dürfte in diesem Zusammenhang die Botschaft sein, die bezogen auf das Fernsehen das höchste Aggregierungsniveau aufweist, da sich diese Botschaft nicht mehr nur in nonfiktionalen Unterhaltungsgenres (Boulevardmagazine, Fitness-Sendungen, RealityDokus) wiederfindet, sondern auch über fiktionale Programmangebote (Serien, Spielfilme) und über die Fernsehwerbung vermittelt wird.
Abbildung 17: Unterschiedliche Aggregationsniveaus am Beispiel der Darstellung von Attraktivität und Schönheitsoperationen Gesamtes Fernsehangebot „Schönheits-OPs sind gang und gäbe“
Fiktionale Sendungen
Beautyklinik
FitnessSendungen
Mein Baby
Doku-Soaps „Schönheits-OPs sind riskant“
The Swan Serien
Beiträge über Schönheits-OPs
Nip/Tuck „SchönheitsOPs sind toll/risikolos/..“
Nonfiktionale Sendungen
Boulevardmagazine taff
Spielfilme
K1 Journal
„Attraktivität ist wichtig“ Werbung
Quelle: Eigene Darstellung.
Wenn wir uns nun die Ausgangsfrage vor Augen führen, wie sich die Metabotschaften des gesamten Fernsehangebots identifizieren lassen, so erscheint es wenig gewinnbringend, vom Medium selbst auszugehen. Nach der skizzierten Vorge-
126
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
hensweise würde dies bedeuten, zunächst sämtliche singulären Informationen zu allen Themenbereichen zu erfassen, diese Schritt für Schritt zu verdichten, um somit eine Idee von den übergreifenden Metabotschaften zu bekommen. Es ist unschwer zu erkennen, dass dies kein Forscher ernsthaft leisten kann. Sinnvoller dürfte es sein, vom Thema selbst auszugehen. Durch Beobachtung der Realität oder Medienrealität identifiziert der Forscher ein Phänomen, das es zu untersuchen gilt. Die Identifikation der untersuchungsrelevanten Botschaften des Fernsehens erfolgt nun theorie- und empiriegeleitet. So ist zunächst theoretisch zu bestimmen, welche Informationen generell den untersuchungsrelevanten Realitätsbereich beschreiben, womit sich bereits ein gewisser Aggregierungsgrad bestimmen lässt. Empirisch lässt sich in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung dann herausfinden, welche unterschiedlichen Informationen das Fernsehen in Bezug auf dieses Phänomen liefert, auf welcher Messebene sie sich unterscheiden und zu welchen Metabotschaften sie sich verdichten lassen. Dies bringt zwangsläufig mit sich, dass man bei bestimmten Themen keine gleichförmigen Botschaften des gesamten Fernsehangebots feststellen wird, da die Metabotschaft auf einem niedrigeren Aggregierungsniveau liegt. Interessiert man sich etwa für die Darstellung von Schönheitsoperationen, so ist es wenig sinnvoll, Informationen dazu in Horrorfilmen oder Politmagazinen zu suchen. Sie werden dort nun einmal nicht thematisiert, weshalb genrespezifische Kultivierungseffekte hier immer stärker sein werden (dies belegt auch die Studie von Rossmann & Brosius, 2005). Geht es dagegen um Kultivierungseffekte im Zusammenhang mit den größeren Fragen des Lebens (Wertvorstellungen u.ä.), so sind Metabotschaften auf der Ebene des Mediums Fernsehen eher denkbar. Entsprechend stellt Vlasic fest (2004: S. 209): „Das Aggregationsniveau der Meta-Botschaften variiert in Abhängigkeit von der Fragestellung und Perspektive des Forschers“ (S. 209) Vor diesem Hintergrund sei im Folgenden nun eine Kultivierungsstudie skizziert, die diese Überlegung zumindest in Ansätzen praktisch aufgreift. Shanahan, Morgan und Stenbjerre (1997) gingen von der Frage aus, welchen Einfluss das Fernsehen auf Wissen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft zum Umweltschutz hat. Der Tradition Gerbners folgend argumentierten sie: „Cultivation sees the totality of television's programs as a coherent (though not invariant) system of messages, and asks whether that system might promote stability (or generational shifts) rather than change in individuals. Cultivation analysis is thus not concerned with the impact of any particular program, genre, or episode. It does not address questions of style, artistic quality, aesthetic values, or specific, selective ‘readings’ or interpretations of messages. Rather, cultivation researchers are interested in the aggregate patterns of images and representations to which entire communities are exposed - and which they absorb - over long periods of time.” (ebd.: S. 309)
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
127
Die Autoren versuchten zunächst, die Metabotschaften des Fernsehens in Bezug auf Fragen des Umweltschutzes zu identifizieren. Hierfür analysierten die Autoren Fernsehmaterial aus vier Jahren (1991, 1993, 1994 und 1995) in einer Länge von insgesamt 317 Stunden. Dabei war die ganze Bandbreite von Genres vertreten, sowohl nonfiktionale Sendungen wie Nachrichten und Magazinsendungen als auch fiktionale Unterhaltungssendungen. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Umweltfragen im Fernsehen generell kaum thematisiert werden. Wenn Umweltfragen vorkamen, dann in der Regel im Kontext anderer Themen wie Religion, Wissenschaft und Erziehung, selten im Kontext von Lifestyle und wirtschaftlichen Fragen. Daraus schlossen die Autoren, das Fernsehen sei „a- or anti-environmental“ (ebd.: S. 312), weshalb es beim Zuschauer eine entweder apathische oder antipathische Haltung gegenüber der Umwelt kultivieren dürfte. Auf Basis eines repräsentativen General Social Survey-Samples (GSS) des National Opinion Research Centers (NORC) untersuchten die Autoren diese Annahme. Entgegen der Erwartung waren die Zusammenhänge mit der allgemeinen Fernsehnutzung mit Einstellungen und Wissen über Umweltschäden nicht eindeutig: Zwar zeigte sich hypothesenkonform, dass Vielseher weniger bereit sind, für den Umweltschutz Opfer zu bringen; auch wussten Vielseher weniger über Umweltfragen. Bei den anderen Fragen zeigten sich dagegen keine Zusammenhänge oder sogar entgegengesetzte. Hier sind verschiedene Gründe denkbar (vgl. ebd.: S. 319). Entscheidend ist an dieser Stelle, dass eine mögliche Erklärung darin besteht, dass die von Forscherseite identifizierte Botschaft von den Rezipienten anders wahrgenommen wurde. Aus der insgesamt geringen Frequenz der Thematisierung von Umweltfragen, schlossen die Autoren darauf, das Fernsehen ignoriere Umweltfragen oder sei sogar umweltfeindlich. Denkbar ist aber auch, dass die sporadische, aber sehr alarmierende Berichterstattung über Umweltfragen (ebd.: S. 319) die Wahrnehmung der Rezipienten nicht durch die Häufigkeit der Darstellung beeinflusst hat, sondern durch ihre Auffälligkeit (vgl. Shapiro & Fox, 2002; Näheres dazu siehe Kapitel 4.2.6).
4.1.3.3
Einbeziehung der Rezipientenwahrnehmung
Das macht deutlich, dass es für die Identifikation von Metabotschaften nicht ausreicht, nur Medieninhalte zu betrachten. Es stellt sich immer die Frage, ob die vom Forscher identifizierten Metabotschaften auch der Wahrnehmung der Rezipienten entsprechen. Diese Überlegung ist nicht neu und wurde im Zusammenhang mit verschiedenen Medienwirkungstheorien und -ansätzen thematisiert (z.B.
128
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Agenda-Setting, vgl. Rössler, 1997; oder dynamisch-transaktionaler Ansatz und Molare Theorie, vgl. Schönbach & Früh, 1984; Früh, 1991; Früh, 2001a; 2002). Entsprechend konstatiert Vlasic (2004: S. 210), dass eine angemessene Erfassung der Medienbotschaften die Perspektive der Rezipienten nicht außen vor lassen darf, sondern die theoretisch abgeleiteten Metabotschaften empirisch auf ihre Existenz bzw. Relevanz für die Individuen hin überprüfen muss. Dafür eignen sich qualitative Methoden und quantitative. Potter (1990) ist dieser Überlegung schon einmal nachgegangen. Ausgangspunkt war auch hier die Frage nach den allgemeinen Lehren des Fernsehens: „the question is, ‚What are the general lessons of television content?’ If television is the ‚common storyteller of our age’ and if those stories rely on ‚relatively stable and common images’ [Gerbner et al., 1986: S. 19] then there should be a dominant lesson woven into that common pattern.“ (S. 844)
Eine Studie, die versucht hat, diese allgemeinen Lehren des Fernsehens inhaltsanalytisch zu identifizieren und auf die Potter (1990) hier zurückgreift, stammt von Selnow (1986). Er untersuchte insgesamt 222 Handlungsstränge aus 66 fiktionalen Prime-Time-Sendungen danach, ob sich gemeinsame Problemlösungsformeln finden lassen. Tatsächlich identifizierte er sieben Regeln, die zusammen 96 Prozent aller Geschichten im Fernsehen ausmachten: Am häufigsten waren (1) das Gute besiegt das Böse, (2) am Ende siegt die Ehrlichkeit/Aufrichtigkeit ist die beste Taktik, (3) Scharfsinn findet eine Lösung, (4) harte Arbeit wird belohnt. Etwas weniger bedeutende Lehren waren (5) Glück ist wichtig, (6) die Macht bestimmt das Gesetz und (7) das Böse besiegt das Gute. Zusammen erklärten diese sieben Regeln 96 Prozent der untersuchten Handlungen. „Thus, it appears that television audiences cannot escape the repetition of a limited repertoire of moral lessons.” (ebd.: S. 70) Diese Lehren dürften gleichsam die Metabotschaften des (fiktionalen Prime-Time-) Fernsehens darstellen. Potter (1990) ging nun von der Überlegung aus, dass Rezipienten die Metabotschaften des Fernsehens eventuell anders wahrnehmen als Forscher. Dies prüfte er mit einer Stichprobe von 308 Schülern im Alter von 11 bis 18 Jahren. Zur Erhebung der wahrgenommenen Lehren des Fernsehens wurden die sieben oben genannten Regeln den Schülern vorgelegt. Die Schüler sollten drei davon auswählen, die ihrer Meinung im Fernsehen am wichtigsten seien. Dabei zeigte sich, dass die Wahrnehmung der Schüler mit den inhaltsanalytisch erfassten Themen sehr gut übereinstimmten. So nahmen auch sie die Botschaften ‚Ehrlichkeit siegt’, ‚Das Gute besiegt das Böse’ und ‚Harte Arbeit wird belohnt’ als die wichtigsten wahr. Korrelationen und Regressionen (Kontrolle soziodemographischer Merkmale) mit
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
129
der allgemeinen Fernsehnutzung zeigten genau für diese drei Themen signifikante Zusammenhänge, wobei diese beim Thema „Das Gute siegt über das Böse“ negativ waren. Die Zusammenhänge mit der Genrenutzung waren dabei stärker ausgeprägt. Entscheidende Ursache dürfte hier sein, dass Selnow (1986) diese Regeln ja nicht auf Basis des gesamten Fernsehangebotes identifiziert hatte, sondern lediglich auf Basis fiktionaler Prime-Time-Sendungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich bei Prime-Time-Soaps und Sitcoms die stärksten Zusammenhänge beobachten ließen, wohingegen die Nutzung von Nachrichtensendungen nur mit einer der Botschaften schwach korrelierte. Wenn man die Befunde Selnows (1986) als Metabotschaften versteht, die auf dem Aggregierungsniveau von fiktionalen Prime-Time-Sendungen angesiedelt sind, so kann man schlussfolgern, dass die vom Forscher identifizierten Metabotschaften die Wahrnehmung der Rezipienten durchaus widerspiegeln. Im Sinne der Kultivierungsforschung wäre nun anzunehmen, dass sich im Zusammenhang mit diesen allgemeinen Lehren des Lebens entsprechende Kultivierungseffekte durch fiktionale Prime-Time-Sendungen zeigen. Dies wurde allerdings nicht geprüft. Dennoch verdeutlicht diese Studie, dass es durchaus gewinnbringend ist, zu untersuchen, ob die inhaltsanalytisch identifizierten Metabotschaften der Rezipientenwahrnehmung entsprechen. Die Zusammenhänge mit der Genrenutzung zeigen bei dieser Vorgehensweise jedoch, dass man Gefahr läuft, wahrgenommene Botschaften nicht eindeutig auf das (in diesem Fall) interessierende Genre zurückführen zu können. Ein anderer Ansatz zur Überprüfung der Rezipientenwahrnehmung in Kultivierungsstudien findet sich bei den im Zusammenhang mit den ersten psychologischen Überlegungen dargestellten Studien (vgl. Kapitel 3). Eine der Grundannahmen war, dass Lernprozesse an der Kultivierung beteiligt sind, die sich in der Wahrnehmung der Fernsehwelt äußern. Die Wahrnehmung, wie häufig Verbrechen in der Fernsehwelt vorkommen, müsste, so die Annahme der Forscher, bei Vielsehern eher der tatsächlichen Fernsehwelt entsprechen als bei Wenigsehern. Hawkins et al. (1987) und Potter (1988b; 1991a) hatten dies geprüft, indem sie neben den üblichen Kultivierungsfragen zur Erfassung der Realitätswahrnehmung auch analoge Fragen zur Wahrnehmung der Fernsehwelt stellten. Diese hier als Operationalisierung des Lernprozesses verstandene Vorgehensweise ließe sich auch als Operationalisierung der Rezipientenwahrnehmung verstehen. Da jedoch bei keiner der Studien Inhaltsanalysen vorgeschaltet worden waren, lassen sich die Befunde zur Fernsehwahrnehmung der Rezipienten letztlich nicht explizit auf das Fernsehen beziehen. Auch ist problematisch, diese Vorgehensweise zur Erfassung der Rezipientenwahrnehmung heranzuziehen, weil die Studien Fernseh- und
130
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Realitätswahrnehmung in einem Fragebogen erheben, was aufgrund von Konsistenz- oder Kontrasteffekten zu Verzerrungen im Antwortverhalten führen kann. Eine validere Möglichkeit, dies zu prüfen, findet sich in Frühs (1995) funktionaler Inhaltsanalyse zur Wahrnehmung von Gewalt im Fernsehen. Ausgangspunkt seiner Studie waren dieselben Überlegungen wie hier: Er kritisierte die Praxis von Gewaltforschern, Gewalt normativ und universell zu bestimmen. Dies impliziere die Annahme, dass Rezipienten Gewalt genauso definieren und jeden Gewaltakt genauso wahrnehmen, wie Forscher dies tun. Früh (1995) prüfte das mit einer funktionalen Inhaltsanalyse. Zunächst führte er eine klassische Inhaltsanalyse auf Basis normativer Gewaltdefinitionen durch. Darauf folgte eine Rezeptionsstudie, um herauszufinden, welche Mediengattungen von den Rezipienten als gewalthaltig identifiziert werden und welchen Einfluss Rezipientenmerkmale auf die Wahrnehmung haben. Hiefür sahen 176 Versuchspersonen 44 Filmszenen, die aus sämtlichen unterschiedlichen Fernsehformaten (außer Werbung, Trailer und sonstigen nichtredaktionellen Beiträgen) zusammen gestellt worden waren. 41 davon wurden so ausgewählt, dass sie sich in ihrer Gewalthaltigkeit unterschieden und das gesamte Spektrum typischer Gewaltdarstellungen abdeckten. Unmittelbar nach der Rezeption einer Filmszene sollten die Versuchspersonen beurteilen, wie gewalthaltig sie die Filmszenen fanden. So konnte Früh (1995) zeigen, dass Rezipienten Gewaltszenen durchaus unterschiedlich wahrnehmen.33 Sechs Jahre später legte Früh (2001b) erneut eine Studie vor, die die Wahrnehmung von Gewaltdarstellungen in einer Rezeptionsstudie prüfte und mit inhaltsanalytischen Befunden abglich. Diesmal sahen 921 Versuchspersonen jeweils 27 bis 41 Gewaltszenen. Ähnlich wie in der früheren Studie wurden die Gewaltszenen systematisch variiert, um den Einfluss unterschiedlicher Gewaltarten und Kontextmerkmale messen zu können.34 Die Rezipienten mussten die gesehenen Gewaltszenen nach Gewalthaltigkeit, Angsterregung, Empathie, Faszination und intellektuellem Nutzen (Interesse) beurteilen. Die Befunde der Rezeptionsstudie replizierten die Ergebnisse der früheren Studie (Früh, 1995). Zusätzlich konnten Einflüsse weiterer Darstellungsmerkmale festgestellt werden: So reduziert die 33
34
Im Einzelnen zeigte sich: 1) Direkt dargestellte Gewalt (meist in fiktionalen Filmen) wird gewalthaltiger wahrgenommen als verbal berichtete (meist in Nachrichten); 2) Physische Gewalt wird stärker erlebt als psychische; 3) Reale Gewalt wird etwas stärker erlebt als fiktionale; 4) Gewalt gegen Personen enthält für das Publikum deutlich mehr Gewalt als Gewalt gegen Sachen; 5) Jüngere Personen und Männer nehmen in denselben Medienangeboten weniger Gewalt wahr als ältere Personen und Frauen (Früh, 1995: S. 178). Früh (2001b) variierte 13 Dimensionen von Gewalt: Realitätsbezug, Gewalttyp, Tätertyp, Opfertyp, Stärke, Relativierung durch gesetzliche Legitimation, Relativierung durch psychische Legitimation, Relativierung durch Humor, Tatmotivation, Tatwerkzeuge, Täter/Opfer-Beziehung sowie Intensität und Brutalität der Darstellung.
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
131
gesetzliche Legitimation von Gewalt (z.B. Gewaltausübung durch die Polizei im Rahmen der Verbrechensbekämpfung) die Gewaltwahrnehmung deutlich, während eine psychologische Legitimation (etwa dadurch, dass positiv bewertete Motive für die Tat genannt werden) die Gewaltwahrnehmung nur marginal beeinflusst. Auch zeigte sich, dass humoristisch dargestellte Gewalt als weniger gewalthaltig wahrgenommen wird als Gewalt ohne humoristischen Kontext (vgl. zum Einfluss von Humor auch Kapitel 4.2.6). Früh (2001b) ging jedoch noch einen Schritt weiter und kombinierte die Befunde aus Inhalts- und Rezeptionsanalyse, um das „zielgruppenspezifische Stimuluspotenzial“ (ebd.: S. 67) zu ermitteln. Hierfür wies er jeder Gewaltvariante einen spezifischen in der Rezeptionsstudie ermittelten „Rezeptionswert“ (ebd.: S. 182) zu, mit dem die inhaltsanalytisch identifizierten Gewaltakte nun je nach Gewaltvariante gewichtet wurden. Auf diese Weise konnte „das Mischungsverhältnis stärkerer und schwächerer Gewaltszenen in den einzelnen Programmen“ (ebd.) ermittelt und für jedes Programm der durch das Publikum wahrgenommene Gewaltgehalt vorhergesagt werden. Dieser wurde im nächsten Schritt mit den tatsächlichen Einschaltquoten im betreffenden Zeitraum gewichtet. Auf diese Weise erfahren wir, so der Autor, „erstens, wieviel Gewalt gemäß der normativen Definition von Gewalt im untersuchten Medienangebot enthalten war, zweitens wie aus Sicht des Publikums das Mischungsverhältnis ,starker‘ und ,weniger starker‘ Gewaltvarianten in den Programmen gewesen ist, drittens wieviel Gewalt die Publika von Sendungstypen, Programmen etc. an einem bestimmten Tag oder durchschnittlich tatsächlich wahrgenommen haben (...); stellen wir schließlich noch in Rechnung, daß die verschiedenen Programme von unterschiedlich vielen Personen genutzt wurden (Einschaltquoten/Reichweite), wissen wir dann auch noch viertens, wieviel Gewalt jeder Sender im gegebenen Zeitabschnitt mit seinem Hauptprogramm in die Gesellschaft vermittelt hat.“ (ebd.: S. 183)
Dies ermöglicht es nun auch, die Gewalthaltigkeit verschiedener Genres im Hinblick auf die tatsächliche Wahrnehmung durch die Zuschauer zu erfassen. So zeigte sich durch die Kombination von Inhaltsanalyse- und Rezeptionsdaten, dass Sport und Nachrichten vom Publikum gewalthaltiger wahrgenommen werden als Filme und Serien. Vor allem bei Sportsendungen weicht diese Wahrnehmung ganz deutlich von den inhaltsanalytisch ermittelten Befunden ab, wonach Sportsendungen zusammen mit Shows und Quizsendungen am wenigsten Gewalt enthielten. Somit belegt auch diese Studie auf eindrucksvolle Weise, dass das häufig praktizierte Auszählen von Gewaltakten als Basis für Wirkungsstudien nur ungenaue Schlüsse zulässt, denn „beim Rezipienten wirkt nicht das, was der Inhaltsanalytiker, sondern das, was er selbst als Gewalt interpretiert.“ (ebd.: S. 215).
132
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Dasselbe gilt für die Identifikation von Metabotschaften. Auch hier darf die Rezipientenwahrnehmung nicht außen vor gelassen werden. Frühs (1995; 2001b) Vorgehensweise ließe sich auch im Rahmen von Kultivierungsstudien gewinnbringend einsetzen. Idealvorstellung einer Kultivierungsstudie wäre vor diesem Hintergrund der Einsatz folgender Untersuchungsschritte: (1)
(2)
(3)
(4)
Identifikation der relevanten Metabotschaften des Fernsehens auf Basis herkömmlicher
inhaltsanalytischer Verfahren: Das relevante Fernsehmaterial wird zunächst in der bekannten Weise inhaltsanalytisch (also nach normativen theoretisch und empirisch abgeleiteten Kriterien) untersucht. Dabei sollte Wert darauf gelegt werden, die Metabotschaften auf unterschiedlichen Ebenen zu identifizieren. Es geht also zunächst darum, herauszufinden, auf welcher Ebene sich welche Aussagen zum Untersuchungsgegenstand machen lassen, ob sich diese zu wenigen Aussagen auf der Ebene des gesamten Fernsehangebots verdichten lassen oder ob sich die allgemeinsten Aussagen auf der Genreebene befinden. Identifikation der Rezipientenwahrnehmung: Im nächsten Schritt ist die Wahrnehmung der Rezipienten zu prüfen, indem Filmsequenzen ausgesucht werden, die ein möglichst breites Spektrum identifizierter Botschaften enthalten (je nach Vorkommen des Themas müssen dies dann Sequenzen aus dem gesamten Fernsehangebot sein oder Sequenzen aus einem begrenzten Genrespektrum). Diese wären dann analog zu Früh (1995; 2001b) in einer Rezeptionsstudie zu prüfen.35 Gewichtung und Aggregierung der inhaltsanalytisch erfassten Fernsehdarstellung auf Basis der Rezipientenwahrnehmung (vgl. Früh, 2001b). Aus den Befunden lassen sich dann sehr viel konkretere Hypothesen über den Einfluss des Fernsehens generieren, als dies bisher möglich ist. Kultivierungsstudie: Die Erfassung der Realitätswahrnehmung basiert schließlich auf den herkömmlichen Vorgehensweisen. In der Auswertung von Zusammenhängen können dann Befunde aus der Rezeptionsstudie verwendet werden, um den Einfluss von Genres unterschiedlich zu gewichten.
Freilich erfordert dies vom Forscher einen unermesslichen Arbeitsaufwand, der nicht in jeder Kultivierungsstudie neu geleistet werden kann. Wie die bisherige Forschungslage verdeutlicht, scheitern die meisten Studien schon daran, überhaupt eigene Inhaltsanalysen vorzuschalten. Gewinnbringend wäre es daher, langfristig
35
Optimal wäre hier sicherlich die Kombination unterschiedlicher Methoden zur Erfassung der Rezipientenwahrnehmung: Einsatz von Befragungen jeweils nach einer Filmsequenz, Erfassung der Wahrnehmung während der Filmsequenz (Realtime-Response-Measurement, vgl. z.B. Früh, 2005; Früh & Fahr, 2006) oder auch Verbalisationstechniken (vgl. z.B. Bilandzic & Trapp, 2000).
4.1 Differenziertheit der Fernsehbotschaft
133
für die einzelnen Themenbereiche funktionale Inhaltsanalysen durchzuführen, um so die bisherigen Befunde zur Gewaltwahrnehmung auch auf andere Themen auszuweiten. So möchte Früh (2001b) auch seine Befunde zur Gewaltwahrnehmung als Grundlage für die Gewaltforschung verstanden wissen: „Ziel muß es sein, valide Rezeptionsparameter für Gewaltrezeption dauerhaft zur Verfügung zu stellen, so daß dann eine Inhaltsanalyse genügt, um über eine einfache Gewichtungsprozedur zum zielgruppenspezifisch tatsächlich wahrgenommenen oder wahrnehmbaren Gewaltangebot des Fernsehens zu gelangen.“ (ebd.: S. 216) Dies lässt sich auch für andere Themenbereiche verwirklichen. Auf diese Weise kann die Einbeziehung der Rezipientenwahrnehmung auch das Problem lösen, dass die Forschung Gefahr läuft, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Denn das, was die Rezipienten wahrnehmen, richtet sich nicht nach den notwendigerweise vom Forscher zu definierenden Analyseeinheiten und Kategorien der normativen Inhaltsanalyse. Ihre Wahrnehmung gleicht der Situation, in der ein Spaziergänger aus dem Wald heraustritt und ihn aus einer gewissen Entfernung betrachtet. Es wird ihm gleichgültig sein, welche Baumarten das Bild des Waldes ausmachen, er nimmt andere Dinge wahr, etwa, dass ein Nadelwald dunkler ist als ein Mischwald oder welche Form er hat, wie groß er ist und wie die Grenzen verlaufen. Er nimmt also nicht mehr nur die Summe der Einzelteile wahr, sondern die Gestalt als Ganzes. Bezogen auf die Kultivierung bedeutet dies, der Zuschauer weist in der Rezeptionsstudie dem Forscher den Weg, welche Aspekte die Wahrnehmung bestimmen und welche nicht.
4.1.3.4
Messebene
Eingangs dieses Unterkapitels wurden zwei Thesen aufgeworfen. (1) Es dürfte möglich sein, Kultivierungseffekte zu messen, die sich durch die allgemeine Fernsehnutzung erklären lassen; (2) Das Genre als Kategorie für Kultivierungseffekte, die auf einem höheren Differenzierungsgrad liegen, ist nicht immer richtig. Beide Fragen lassen sich nun über die Identifikation von Metabotschaften lösen. Halten wir uns die Vorgehensweise noch einmal vor Augen: Ausgangspunkt ist ein bestimmtes Thema, bei dem wir einen Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung der Rezipienten erwarten. Als Beispiel dient die Frage nach dem Einfluss des Fernsehens auf die Wahrnehmung von Homosexualität. Der erste Schritt wäre also die Identifikation möglicher Botschaften des Fernsehens mit einer Inhaltsanalyse, welche die Darstellung von Homosexualität im gesamten Fernsehangebot ermittelt. Wie sich dabei zeigen wird, kommt Homosexualität in
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4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
bestimmten Sendungen vor, in anderen nicht. So gibt es in den klassischen Daily Soaps des deutschen Fernsehens (z.B. „Marienhof“, „Verbotene Liebe“, „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“) regelmäßig ein schwules oder lesbisches Pärchen. In amerikanischen Sitcoms tauchen vereinzelt homosexuelle Pärchen auf (z.B. „Will & Grace“), in den Daily Talkshows werden sie häufig thematisiert und bisweilen lassen sie sich auch in bekannten Spielfilmen finden (z.B. „Brokeback Mountain“, „Der bewegte Mann“, „Philadelphia“, „Der Schuh des Manitu“, „(T)Raumschiff Suprise“). Auch in Comedy-Sendungen kommen sie (als Witzfiguren) häufiger vor (z.B. „Die Bully-Parade“). Anfang 2006 zeigte ProSieben die US-Serie „Queer as Folk“, die sich die Darstellung homosexueller Männer zum zentralen Thema gemacht hat, und im Sommer 2006 die Serie „The L-Word“, deren Protagonisten größtenteils lesbische Frauen waren. Führt man sich nun allein die Häufigkeit der Darstellung homosexueller Frauen und Männer im Fernsehen vor Augen, so lässt sich feststellen, dass diese im gesamten Fernsehangebot generell zugenommen hat (dies bestätigte Gross, 2001; 2005 für die USA; vgl. im Überblick Shanahan, 2004). Eine mögliche Metabotschaft des gesamten Fernsehensangebots wäre daher die zunehmende Anzahl homosexueller Frauen und Männer. Denkbar ist auch, dass sich daraus die Metabotschaft ableiten lässt, dass die Gesellschaft im Umgang mit Homosexualität liberaler wird. Wie Nisbet und Shanahan (2005) in einer Kultivierungsstudie in der Tradition Gerbners feststellten, hat sich die generelle Einstellung von USAmerikanern zwischen 1973 und 2003 tatsächlich merklich gewandelt. So deuten verschiedene Indikatoren aus Gallup-Umfragen darauf hin, dass moralische und politische Akzeptanz von Homosexualität in diesem Zeitraum deutlich gestiegen sind (vgl. auch Yang, 1997). In Anbetracht der Beobachtung, dass Homosexuelle im Fernsehen zunehmend an Präsenz gewonnen haben, vermuteten die Autoren, dass Vielseher dem kulturellen Trend stärker folgen als Wenigseher. Dies bestätigten sie auf der Basis von jährlichen Inhaltsanalyse-Daten (Cultural Indicators) und Gallup-Daten: „the mean tolerance score of heavy television viewers tracks the frequency of homosexuality on television much closer than the mean scores of light or medium viewers.” (ebd.: S. 17) Interessiert man sich nun aber für die Frage, welche Botschaften über Homosexualität konkret vermittelt werden, etwa um den Einfluss des Fernsehens auf stereotype Vorstellungen beim Publikum zu messen, so wird man hier einen höheren Differenzierungsgrad anlegen müssen. Eine denkbare Forschungsfrage wäre hier, wie homosexuelle Menschen rein äußerlich dargestellt werden. Entsprechen homosexuelle Frauen immer noch dem Vorurteil, sie hätten kurze Haare, seien eher unattraktiv und burschikos? Werden homosexuelle Männer immer noch
4.2 Darstellungsmerkmale
135
überzogen weiblich dargestellt? Hier dürfte nun keine gleichförmige Metabotschaft des gesamten Fernsehangebotes zu finden sein. Auch lassen sich hier meist keine genrespezifischen Metabotschaften festmachen: Während Comedy-Sendungen und humoristische Spielfilme häufig eher mit den Klischees arbeiten und schwule Männer – salopp formuliert – ‚tuntig’ darstellen, lassen sie sich in anderen Spielfilmen (z.B. „Philadelphia“) oder der Serie „Queer as Folk“ rein äußerlich nicht von heterosexuellen Männern unterscheiden. Damit lassen sich auf Basis der von Programmmachern definierten Genres (Spielfilme, Serien, Talkshows etc.) keine einheitlichen Metabotschaften festmachen. Die geeignete Messebene ist nicht das Genre. Hier sind andere Aggregationsmerkmale ausschlaggebend, etwa eine Zusammenfassung von Comedy-Sendungen und humoristischen Filmen (dies bestätigt auch Langer, 2006; vgl. auch Rossmann, Früh, Kris & Langer, 2007). In der Praxis bedeutet dies: Je nach Thema ist zunächst zu untersuchen, welche Sendungen ein Thema wie darstellen, um auf dieser Basis das ausschlaggebende Aggregationsniveau festmachen zu können. Bei spezifischen Fragen, wie der Darstellung von Aussehen, Eigenschaften und Verhalten homosexueller Menschen im Fernsehen, werden die Metabotschaften auf einem hohen Differenzierungsniveau liegen, möglicherweise sogar auf Sendungsebene. Es kann also durchaus vorkommen, dass es eben nicht Genres sind, die die gleichen Metabotschaften vermitteln, sondern Genregruppen oder Sendungsgruppen, die nicht den klassischen Genreklassifikationen entsprechen. Allerdings sind so auch Metabotschaften identifizierbar, die durch das Fernsehangebot insgesamt vermittelt werden.
4.2
Darstellungsmerkmale
Rezipienten nehmen die Botschaften des Fernsehens unterschiedlich wahr. Hierfür dürften auch Darstellungsmerkmale verantwortlich sein. Diese Überlegung ist nicht neu und wurde im Zusammenhang mit verschiedenen Medienwirkungstheorien bereits thematisiert. So wurden im Zusammenhang mit Agenda-Setting etwa Einflüsse von Platzierung, Personalisierung und anderen aus der Nachrichtenwertforschung bekannten Botschaftsmerkmalen nachgewiesen (vgl. Iyengar & Kinder, 1987; Iyengar & Simon, 1993; Rössler, 1997), im Zusammenhang mit der Gewaltforschung spielen sie eine Rolle (vgl. z.B. Früh, 1995; für einen Überblick vgl. Kunczik, 1998) genauso wie in der Fallbeispielforschung (vgl. Daschmann, 2001). Beim Framing sind sie generischer Bestandteil (vgl. z.B. Scheufele, 2003) ebenso wie in der Persuasions- (vgl. Hovland, Janis & Kelly, 1953; Hovland, 1959) und Werbewirkungsforschung (vgl. Brosius & Fahr, 2006).
136
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Hoffmann (2003) zeigte in ihrer Untersuchung zur Klassifikation verbrechensbezogener Fernsehgenres aus Zuschauersicht, dass bestimmte Darstellungsmerkmale auch die Wahrnehmung von Sendungen und somit ihre Klassifikation beeinflussen. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war die Überlegung, dass die Klassifikation einer Sendung beeinflusst, wie sie bewertet wird, was wiederum auch ihr Wirkungspotenzial bedingt (Hoffmann, 2003: S. 9). Mit einer Kombination aus schriftlicher Befragung und freier Sendungsgruppierung erstellte die Autorin eine rezipientenorientierte Klassifikation verbrechensbezogener Genres. Diese macht deutlich, dass Rezipienten Genres sehr heterogen wahrnehmen. Wenn also die Genrenutzung wie üblich in Kultivierungsstudien nur oberflächlich und auf Basis normativ bestimmter Genreklassifikationen abgefragt wird, geht dies an der Wahrnehmung der Zuschauer vorbei. „Vor allem in Gewaltwirkungs- und Kultivierungsstudien könnten zuschauerorientierte Untergliederungen dieser Genres detailliertere und validere Ergebnisse ermöglichen, da einige Aspekte, die für die Befragten bei der Einordnung verbrechensbezogener Sendungen besonders wichtig sind, auch die Wirkung der dargestellten Gewalt beeinflussen können.“ (Hoffmann, 2003: S. 128)
So spielten unter anderem Gewalthaltigkeit, Humorgehalt und auch Realitätsgrad bei der Klassifikation der Sendungen durch die Zuschauer eine Rolle. Auf diese Aspekte wird das vorliegende Kapitel genauer eingehen. Der Gedanke ist also nicht neu, dass auch in der Kultivierungsforschung nicht nur die Häufigkeit bestimmter Inhalte im Fernsehen die Realitätswahrnehmung beeinflusst, sondern auch Art und Weise und Kontext ihrer Darstellung.
4.2.1
Episodische versus kontextreiche themenzentrierte Darstellung
Sotirovic (2001) widmete sich der Frage, ob ereignis- und personenzentrierte episodische Darstellung eines Themas versus kontextreiche themenzentrierte Darstellung die Realitätswahrnehmung der Zuschauer unterschiedlich beeinflusst (vgl. ebenso wie Iyengar & Simon, 2003, dies im Zusammenhang mit AgendaSetting bzw. Framing untersucht haben). Thema der Untersuchung waren Wahrnehmung von und Einstellungen zu Sozialhilfeempfängern und zur Sozialhilfe. Operationalisiert wurde diese Frage anhand der Nutzung unterschiedlicher Fernsehgenres, die auf theoretischer Basis als eher episodisch und kontextarm oder themenzentriert und kontextreich eingestuft worden waren. Unterhaltungssendungen und Nachrichten im Kabelfernsehen tendierten demnach dazu, Themen eher ereignis- bzw. personenzentriert darzustellen, als sie in ihrer ganzen Komplexität zu
4.2 Darstellungsmerkmale
137
erläutern. Nationale Fernsehnachrichten, Reportagen über Sozialhilfethemen und die einstündige Nachrichtensendung „Newshour with Jim Lehrer“ hingegen berichteten ausführlicher, zögen verschiedene Quellen heran und lieferten so mehr Hintergründe zu einem Thema. Um nun den Einfluss der unterschiedlichen Genres auf die Realitätswahrnehmung zu messen, wurde die Genrenutzung in Form der Nutzungshäufigkeit und des Aufmerksamkeitsgrades während der Rezeption erfasst. Die Befunde zeigten, dass die Zusammenhänge zwischen Genrenutzung und Wahrnehmung verschiedener soziodemographischer Merkmale, ethnischer Zugehörigkeit und Arbeitsfähigkeit von Sozialhilfeempfängern, sowie die Aufwendung für und Dauer von Sozialhilfeprogrammen je nach Genre divergierten. Die Nutzer kontextarmer episodischer Unterhaltungs- und Nachrichtensendungen im Kabelfernsehen hatten im Hinblick auf die soziodemographischen Merkmale von Sozialhilfeempfängern ein verzerrtes Bild, wohingegen die Nutzung kontextreicherer Sendungen wie Fernsehreportagen und der „Newshour with Jim Lehrer“ zu einer korrekteren Wahrnehmung beitrug. Zusammenhänge mit der Nutzung von Tageszeitungen und Zeitungsreportagen bestätigten ebenfalls, dass die themenzentrierte und kontextreiche Darstellung von Inhalten, welche prinzipiell in der Presseberichterstattung eher zu finden ist, zu einer korrekteren Wahrnehmung führt. Insgesamt deutet die Studie somit darauf hin, dass genrespezifisch unterschiedliche Effekte nicht nur auf die Inhalte zurückzuführen sind, sondern auch auf den Charakter der Darstellung: „The pattern of relationship between media use and perceptions that emerged points toward structural characteristics of media messages, which make certain information and images more salient in the middle of audiences as sources of influence on individuals’ perceptions.“ (Sotirovic, 2001: S. 766)
4.2.2
Akteursmerkmale (Identifikation)
Auch der Einfluss von Akteursmerkmalen wurde untersucht. Wie die Theorie des sozialen Vergleichs (Festinger, 1954) und die soziale Lerntheorie Banduras (2001) nahelegen scheint die Ähnlichkeit zwischen Fernsehakteuren und Zuschauern die Stärke der Zusammenhänge zwischen Medieninhalten und Nachahmungstaten zu beeinflussen: So geht Festinger (1954) davon aus, dass Menschen ihre eigenen Meinungen und Fähigkeiten permanent bewerten. Bei der Umsetzung dieses Bestrebens werden intersubjektiv überprüfbare Informationen (z.B. physikalische Daten) herangezogen. Sind solche Wertungsstandards nicht vorhanden, orientieren sich Personen an den Meinungen und Fähigkeiten anderer. Übertragen auf die
138
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Kultivierungsforschung könnte dies bedeuten, dass die mediale Darstellung einen Vergleichsmaßstab liefert, anhand dessen soziale Vergleichsprozesse erfolgen. Festinger konnte feststellen, dass (ähnlich wie das Bandura später theoretisch fundiert hat, vgl. Bandura, 2001) Vergleichsprozesse vor allem mit solchen Personen vorgenommen werden, die als relativ ähnlich zur eigenen Person wahrgenommen werden. Soziale Vergleichsprozesse finden also vor allem dann statt, wenn im Fernsehen Personen präsentiert werden, die dem Rezipienten ähnlich erscheinen, ähnliche Probleme haben und sich zu einem Thema ähnlich äußern. Wie einzelne Studien zeigen, lässt sich der Einfluss der Ähnlichkeit mit den Fernsehakteuren auch bei Kultivierungseffekten nachweisen. Morgan (1983) untersuchte dies im Zusammenhang mit der Ähnlichkeit von Zuschauern mit dargestellten Tätern oder Opfern. Zugrunde liegende Annahme war, dass die Zuschauer stärkere Kultivierungseffekte zeigen, wenn sie den häufiger als Verbrechensopfer gezeigten Fernsehakteuren ähnlich sind. Inhaltsanalysen der Cultural Indicators Daten hatten gezeigt, dass im Fernsehen vorwiegend Frauen, ältere Menschen, Personen aus niedrigen sozialen Schichten und Menschen anderer Hautfarbe Opfer von Verbrechen werden, weshalb bei diesen Gruppen auch stärkere Kultivierungseffekte bei der Frage nach der Wahrscheinlichkeit, in einen Gewaltakt verwickelt zu werden, zu erwarten waren. Partialkorrelationen innerhalb der einzelnen soziodemographischen Subgruppen unter Kontrolle von Zeitungsnutzung, Wohnort und soziodemographischen Merkmalen (mit Ausnahme des Merkmals, das eine bestimmte Subgruppen bildete) bestätigten diese Annahme. So waren die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommener Wahrscheinlichkeit, in Gewalthandlungen verwickelt zu werden, bei den Zuschauern am stärksten, die im Fernsehen häufiger als Opfer und seltener als Sieger gezeigt wurden. Kurz: Zuschauer mit hoher Ähnlichkeit zu Fernsehcharakteren, die häufiger Opfer von Verbrechen werden, zeigten stärkere Kultivierungseffekte. Rossmann und Brosius (2005) konnten dies im Zusammenhang mit der Darstellung und Wirkung von Schönheitsoperationen im Fernsehen replizieren. Eine Inhaltsanalyse von Schönheitsoperationen in Boulevardformaten im Fernsehen (Magazinsendungen und Reality-Soaps) hatte gezeigt, dass Schönheitsoperationen generell häufig vorkommen und als probates Mittel zur Steigerung der Attraktivität dargestellt werden. Am häufigsten waren es jüngere und weibliche Personen, die sich Schönheitsoperationen unterzogen. Vor diesem Hintergrund wurde der Einfluss der Nutzung von Magazinsendungen und der Reality-Soap „Die Beautyklinik“ auf die Wahrnehmung von Häufigkeiten bestimmter Schönheitsoperationen sowie auf Einstellung und Handlungsbereitschaft nicht nur für die Gesamtstichprobe ausgewertet, sondern auch für die Gruppe der jungen weiblichen Zuschauer.
4.2 Darstellungsmerkmale
139
Vor allem bei der Einstellung zu Schönheitsoperationen und der eigenen Handlungsbereitschaft stiegen die Zusammenhänge mit der Nutzung der „Beautyklinik“ daraufhin deutlich an: Die erklärte Varianz durch die „Beautyklinik“ stieg bei der Einstellung zu Schönheitsoperationen von sieben auf 22 Prozent, bei der Handlungsbereitschaft von 13 auf 22 Prozent. Die stärkere Ähnlichkeit mit den im Fernsehen gezeigten Personen scheint Kultivierungseffekte im Einklang mit der Theorie des sozialen Vergleichs von Festinger (1954) zu verstärken.
4.2.3
Bewertung
Rossmann und Brosius (2005) fanden Hinweise auf die Bedeutung eines weiteren Botschaftsmerkmals: die Bewertung eines Sachverhaltes. Neben Inhaltsanalyse und Befragung führten die Autoren ein Laborexperiment durch, um den Einfluss von Magazinbeiträgen auf Wahrnehmung von und Einstellung zu Schönheitsoperationen unter Kausalbedingungen zu prüfen. Eine Experimentalgruppe sah einen Beitrag über Lippenvergrößerung aus der Sendung „taff“, der positiv auf den Eingriff einging, die andere Experimentalgruppe sah einen „taff“-Beitrag über Lippenvergrößerung, deren Behandlungsergebnis negativ ausfällt. Die Kontrollgruppe sah einen „taff“-Beitrag über Kleidung für Afterworkpartys. Nach Präsentation des Stimulus wurden Wahrnehmung, Einstellung und Handlungsbereitschaft der Versuchspersonen erfasst. Während sich auf der Ebene von Einstellungen und Handlungsbereitschaft keine Kultivierungseffekte zeigten, konnte auf der Wahrnehmungsebene ein Kultivierungseffekt festgestellt werden, der die Bedeutung der Bewertung des Themas deutlich macht: Die Häufigkeit von Lippenvergrößerungen wurde höher eingeschätzt, wenn die Versuchspersonen einen Beitrag mit positiver Tendenz gesehen hatten. Die Rezeption des Beitrags mit negativer Tendenz und des Kontrollbeitrags führte zu einer niedrigeren Häufigkeitseinschätzung. Die Effekte auf Wahrnehmungsebene deuten darauf hin, dass die Bewertung eines Sachverhaltes einen Einfluss auf die Häufigkeitsurteile hat. Möglicherweise lässt sich dies mit psychologischen Erkenntnissen zu Wahrnehmung und Lernen von Informationen erklären. Nach Banduras Lerntheorie (vgl. z.B. Bandura, 2001) beruht der Lernprozess unter anderem darauf, dass wir durch Nachahmung von Modellen lernen. Dieses Modelllernen wird nicht nur durch Ähnlichkeit mit dem Modell (s.o.) verstärkt, sondern auch dadurch, dass das Modell für sein Verhalten belohnt wird – womit eine positive Bewertung des Verhaltens einhergeht. In der dargestellten Studie endete der positive Beitrag über Lippenvergrößerung damit,
140
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
dass die Patientinnen ihre Zufriedenheit mit dem Behandlungsergebnis äußerten. Dies ließe sich auch als Belohnung der gezeigten Modelle interpretieren.
4.2.4
Realitätsgrad
Ein weiteres Darstellungsmerkmal, das in Kultivierungsstudien untersucht wurde, ist der Realitätsgrad von Sendungen. Singer et al. (1984) untersuchten in einer fünfjährigen Längsschnittstudie den Einfluss von Actionfilmen mit variierendem Realitätsgrad auf Viktimisierungsangst und Verhalten von (anfänglich) vierjährigen Kindern. Fernsehnutzung und andere Drittvariablen wurden in den ersten drei Jahren der Untersuchung durch Tagebuch-Befragung der Eltern erfasst, die Realitätswahrnehmung wurde im letzten Untersuchungsjahr durch Befragung der dann neunjährigen Kinder erhoben, aggressives Verhalten und andere Variablen durch Befragung der Eltern. Schrittweise Regressionen zeigten, dass die Nutzung realistischer Actionsendungen (hauptsächlich Polizei- und Detektivsendungen) während der ersten drei Untersuchungsjahre die spätere Realitätswahrnehmung signifikant und deutlich stärker beeinflusste als die Nutzung von weniger realistischen, stilisierten ‚Phantasie-Actionsendungen’. Ähnliche Unterschiede zeigten sich auch im Zusammenhang mit dem späteren Verhalten der Kinder. 20 Jahre später legten Holbert et al. (2004) eine weitere Studie vor, die den divergierenden Einfluss von Sendungen mit unterschiedlichem Realitätsgrad auf Viktimisierungsangst, Einstellungen zu Polizei, Todesstrafe und Waffenbesitz und die Wahrscheinlichkeit, selbst eine Waffe zu besitzen, untersuchte (Kapitel 4.1.2 stellte diese Studie bereits ausführlich vor). Die Rezeption von realistischeren Genres wie Nachrichten und Reality-Shows führte zu einer größeren Angst vor Verbrechen, die Nutzung von Krimisendungen nicht. Auch deuteten die Befunde zum Einfluss der drei Genres auf Einstellungen zu Todesstrafe und Waffenbesitz und tatsächlichen Waffenbesitz auf genrespezifische Unterschiede hin. Am deutlichsten war der Einfluss der Reality-Shows. Auch Raupach (2006) untersuchte in ihrer Magisterarbeit den Einfluss verbrechensbezogener Fernsehsendungen mit unterschiedlichem Realitätsgrad auf die Realitätswahrnehmung der Zuschauer und konnte Holbert et al.’s (2004) Befunde bestätigen. Konkret verglich sie fiktionale Krimisendungen mit verbrechensbezogenen Reality-Sendungen (Fahndungssendungen, Polizei-Doku-Serien und Reality-Krimiserien). Hierarchische Regressionen zeigten, dass die Befragten (nach Kontrolle soziodemographischer Merkmale, der allgemeinen Fernsehnutzung und der eigenen Realitätserfahrung) die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines
4.2 Darstellungsmerkmale
141
Verbrechens zu werden, umso höher einschätzten, je häufiger sie (realistisch aufgemachte) Fahndungssendungen sahen, tendenziell auch, je häufiger sie PolizeiDoku-Serien sahen. Der Einfluss der Krimiserien war gegenläufig, sie führten zu einer niedrigeren Einschätzung der Verbrechenswahrscheinlichkeit.36 Bei Viktimisierungsangst und Mean World-Wahrnehmung (Kultivierung zweiter Ordnung) zeigten sich in dieser Studie kaum signifikante Zusammenhänge, tendenziell bleibt die Richtung aber gleich: stärkere Kultivierungseffekte durch realitätsnähere Genres, die tendenziell zu erhöhter Angst und größerem Misstrauen führen; gegenläufige Effekte durch die Nutzung von Krimiserien. Die Rezipienten scheinen einen (vermeintlich) höheren Realitätsgrad von Sendungen tatsächlich wahrzunehmen. Dies konnte Raupach (2006) bestätigen. Fahndungssendungen und Polizei-Reality-Dokus wurden deutlich realistischer wahrgenommen als Krimiserien. Eine Ausnahme bilden Reality-Krimiserien (z.B. „Niedrig und Kuhnt – Kommissare ermitteln“, „Lenßen und Partner“, „K 11 – Kommissare im Einsatz“). Ihr Einfluss läuft exakt parallel zum Einfluss fiktionaler Krimiserien. Offenbar haben Rezipienten bei diesen Sendungen verstanden, dass sie zwar als Reality-Sendungen bezeichnet werden, aber tatsächlich ebenso fiktional sind wie Krimiserien. Dies schlägt sich auch im wahrgenommenen Realitätsgrad nieder, der hier genauso niedrig ist wie der der Krimisendungen. Denkbar ist zudem, dass die Rezipienten die vermeintlich realistischen Reality-Krimiserien, die in der Regel sehr billig produziert sind, nicht glaubwürdig finden. Darauf geht das folgende Kapitel genauer ein. Der Einfluss von Fahndungssendungen und RealityDokus bestätigt jedenfalls die Vermutung, dass eine realistische Aufmachung von Sendungen Kultivierungseffekte verstärkt und Rezipienten diese realistischere Aufmachung auch wahrnehmen. Früh (1995) bestätigte dies in seiner funktionalen Inhaltsanalyse zur Wahrnehmung von Gewalt (vgl. Kapitel 4.1.3): Reale Gewalt wurde stärker erlebt als fiktionale. Andererseits wurde direkt dargestellte Gewalt gewalthaltiger wahrgenommen als verbal berichtete. Dies könnte den stärkeren Einfluss von RealitySendungen im Vergleich zu Krimisendungen und Nachrichten (vgl. Holbert et al., 2004) erklären. Die neuen Reality-Formate bedienen beide Voraussetzungen: Sie erwecken den Anschein, reale Gewalt zu zeigen, und stellen diese in der Regel direkt dar. Dies vermuten auch Früh, Kuhlmann und Wirth (1996), die sich in einer 36
Eine mögliche Erklärung für den gegenläufigen Einfluss von Krimisendungen ist, dass die Verbrecher zum Schluss in der Regel gefasst und bestraft werden. Dies kann dazu beitragen, dass die Zuschauer die Realität nicht als gefährlich empfinden, sondern ein erhöhtes Sicherheitsempfinden entwickeln (vgl. für diese Interpretation auch Bilandzic, 2002). Raupachs (2006) Befunde untermauern diese Erklärung, da die Nutzer von Krimiserien die Opferwahrscheinlichkeit unterschätzten und gleichzeitig die Anzahl aufgeklärter Fälle höher einschätzen. Dies war bei den anderen Genres nicht der Fall.
142
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
experimentellen Studie mit dem Einfluss von Reality-TV auf die wahrgenommene Informations- und Unterhaltungsqualität beschäftigten. Hintergrund der Studie war unter anderem die Annahme, dass „die dramatisch aufbereitete Welt voller Unglücke und Verbrechen in einzelnen Aspekten als authentisches Abbild der Realität übernommen werden (...). Während die Wirkung der negativen Welt des Spielfilms noch durch dessen fiktionalen Charakter potenziell aufgefangen werden kann, geht bei Reality-TV auch dieser Schutzfilter verloren, wodurch sich Kultivierungseffekte verstärken dürften.“ (ebd.: S. 430) Für die Untersuchung wurden 151 Versuchspersonen jeweils zwei von insgesamt sechs Filmversionen vorgeführt, die zwei Faktoren variierten: Den Realitätsgrad in Form der Ankündigung als real oder fiktional und den Dramatisierungsgrad. Die reale wenig dramatisierte Form entsprach einem gängigen Nachrichtenbeitrag, die reale stärker dramatisierte Form entsprach einer Reality-Sendung und die als fiktional angekündigte Version mit starken dramaturgischen Elementen glich am ehesten einem Spielfilm. Die Autoren zeigten, dass der subjektive Informationswert ansteigt, wenn die Filme als real angekündigt werden. Zudem zeigte sich ein Interaktionseffekt mit der dramaturgischen Gestaltung. Mit Ausnahme der wenig dramatisierten Nachrichtensendungen, die generell am informativsten wahrgenommen wurden, stieg die wahrgenommene Informationsqualität mit zunehmendem Dramatisierungsgrad an. Von den dramatisch aufbereiteten Sendungsausschnitten wurden also die als Reality-TV gestalteten Filmbeiträge am informativsten empfunden. Entsprechend konstatierten Früh et al. (1996: S. 446): „Die Rezipienten glauben, durch Reality-TV genauso gut über bestimmte Aspekte der Wirklichkeit informiert zu werden wie durch klassische Nachrichten.“ Auch dies kann die stärkeren Kultivierungseffekte durch Reality-Sendungen erklären, zumindest belegen die Befunde erneut, dass der Realitätsgrad sich in der Rezipientenwahrnehmung niederschlägt.
4.2.5
Glaubwürdigkeit
Oben wurde bereits angedeutet, dass nicht nur der Realitätsgrad einer Sendung Kultivierungseffekte beeinflussen kann, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit. So sind stärkere Effekte durch nonfiktionale oder Reality-Genres auch damit zu erklären, dass ihnen zumindest teilweise eine höhere Glaubwürdigkeit zugeschrieben wird als fiktionalen Sendungen (oder wie oben beschrieben billig produzierten Reality-Krimiserien). Der Gedanke, dass die Glaubwürdigkeit einer Botschaft den persuasiven Einfluss verstärkt, ist keineswegs neu. Bereits Hovland et al. (1953)
4.2 Darstellungsmerkmale
143
schenkten diesem Quellenmerkmal in ihrem Grundlagenwerk zur Persuasionsforschung Beachtung und zeigten, dass glaubwürdige Kommunikatoren Einstellungen und Urteile von Rezipienten stärker beeinflussen als weniger glaubwürdige. Spätere Modellannahmen wie das Elaboration-Likelihood-Modell (vgl. z.B. Petty & Cacioppo, 1986) oder das Modell der heuristisch-systematischen Informationsverarbeitung (vgl. z.B. Chaiken, 1980) gehen davon aus, dass Quellenmerkmale wie die Glaubwürdigkeit besonders dann wirksam werden, wenn Informationen auf der peripheren Route bzw. heuristisch verarbeitet werden. Wie schon mehrfach angedeutet können wir davon ausgehen, dass die Kultivierung zumindest teilweise auf heuristischer Informationsverarbeitung basiert, weshalb es naheliegend ist, anzunehmen, dass die Glaubwürdigkeit der Botschaft auch hier wirksam werden kann. Slater (1990) untersuchte den Einfluss unterschiedlich glaubwürdiger Prosatexte über soziale Gruppen auf die Wahrnehmung dieser sozialen Gruppen in der Realität. Die Glaubwürdigkeit der Texte wurde operationalisiert, indem sie als fiktional oder nonfiktional beschrieben wurden: „Messages believed to be nonfictional should be perceived as somewhat more credible with respect to their portrayals of people than are fictional messages.“ (Slater, 1990: S. 329) Zudem postulierte er einen Interaktionseffekt zwischen Glaubwürdigkeit und Bekanntheit einer sozialen Gruppe. So dürfte eine unbekannte soziale Gruppe bei der kognitiven Verarbeitung der Informationen mehr Kapazität in Anspruch nehmen als eine bekannte, für die bereits Vorwissen und somit kognitive Strukturen vorhanden sind, anhand derer diese bewertet und eingeordnet werden können. Nimmt die Verarbeitung von Informationen über eine unbekannte soziale Gruppe nun viel Kapazität in Anspruch, so dürfte, so die Annahme, weniger Kapazität übrig sein, um fiktionale und nonfiktionale Botschaften unterscheiden zu können. In der Folge müsste der Einfluss der Glaubwürdigkeit dann bei Informationen über unbekannte Gruppen geringer sein als bei Informationen über bekannte Gruppen. Diese Überlegung setzte Slater (1990) in einem zweifaktoriellen experimentellen Design mit Messwiederholung um. Variiert wurden das Genre der Prosatexte (fiktional vs. nicht fiktional) und die Bekanntheit der darin beschriebenen sozialen Gruppen (bekannt vs. unbekannt). Insgesamt 24 Probanden lasen mehrere Prosatexte und bewerteten danach verschiedene Statements zu sozialen Gruppen (z.B. Bergleute leben meist in Großfamilien). Wie erwartet zeigte sich, dass die Vorstellungen der Leser stärker von nonfiktionalen Prosatexten beeinflusst wurden als von fiktionalen. Überraschenderweise traf dies allerdings nur dann zu, wenn die Probanden über Vorwissen verfügten. Wussten die Leser vorher nichts über die beschriebenen sozialen Gruppen, so verschwand der Einfluss der Glaubwürdigkeit nicht etwa, sondern kehrte sich um: In dem Fall war der Einfluss der als fiktional
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4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
gelabelten Texte größer. Der Autor konstatiert selbst, dass der größere Einfluss fiktionaler Texte bei Unbekanntheit möglicherweise zufällig ist und weiter untersucht werden sollte (ebd.: S. 338). Trifft diese Beobachtung jedoch zu, so ist es denkbar, dass dies unter anderem die bisweilen stärkeren Kultivierungseffekte durch fiktionale Fernsehinhalte erklärt. Denn diese sind in der Regel dann am stärksten, wenn die Rezipienten über wenig Vorerfahrung mit den dargestellten Realitätsbereichen verfügen, was zumindest in Ansätzen der Bekanntheit einer sozialen Gruppe in der vorgestellten Studie entspricht. Slater und Rouner (1992) untersuchten in einer weiteren Studie den Einfluss der Glaubwürdigkeit von Botschaften in Abhängigkeit von der Diskrepanz der Botschaften mit bereits existierenden Vorstellungen. Als Stimulus wurden Auszüge aus Büchern und Zeitschriftenartikeln über Frauen aus unterschiedlichen Kulturen vorgelegt. Über die Beschreibung des Autors wurde die Glaubwürdigkeit variiert. Abhängige Variablen waren Urteile der Probanden über die Eigenschaften der beschriebenen sozialen Gruppen sowie das Vertrauen in das eigene Urteil, welche direkt nach der Stimuluspräsentation, zehn bis 14 Tage später und sechs Wochen später erhoben wurden. Die Befunde zeigten zunächst, dass sowohl Glaubwürdigkeit als auch Diskrepanz das Vertrauen in das eigene Urteil verstärkten. Pfadanalysen zeigten zudem, dass das Vertrauen in das eigene Urteil, Quellenerinnerung und Quellenbewertung wiederum die Urteilsbildung beeinflussten. Ein direkter Einfluss dieser drei Faktoren auf die Stabilität des Urteils fand sich allerdings nicht, stattdessen beeinflussten diese die Stabilität des Urteils indirekt über die anfängliche Urteilsänderung. Die hier relevante Frage, ob die Glaubwürdigkeit der Botschaft soziale Urteile beeinflusst, bestätigt sich in dieser Studie erneut, wobei es nicht nur einen direkten Zusammenhang der Quellenbewertung mit der Urteilsbildung zu geben scheint. Die Glaubwürdigkeit der Quelle scheint die Urteilsbildung auch indirekt über ein höheres Vertrauen in das eigene Urteil zu beeinflussen. Die Befunde der vorgestellten Studien sind nicht direkt auf die Kultivierung übertragbar, da beide mit schriftlichen Stimuli arbeiten – die erste Studie legte zumindest enger verwandte narrative Texte vor. Die untersuchten abhängigen Variablen – Urteile und Vorstellungen über soziale Gruppen – sind jedoch den in der Kultivierungsforschung üblicherweise abgefragten Realitätsvorstellungen sehr ähnlich, weshalb es denkbar ist, dass hier ähnliche Informationsverarbeitungsprozesse zum Tragen kommen. Eine der wenigen Studien, die den Einfluss der Glaubwürdigkeit explizit im Kontext von Kultivierungseffekten untersucht hat, stammt von Mares (1996). In Anlehnung an Shapiro und Lang (1991) vermutet sie, dass sich das Auftreten von Kultivierungseffekten dadurch erklären lässt, dass die Fernsehzuschauer die Quelle
4.2 Darstellungsmerkmale
145
ihrer aus dem Fernsehen gelernten Informationen und damit die mangelnde Glaubwürdigkeit von Fernsehinformationen schlichtweg vergessen: „Television’s effects on social reality might be the result of individuals mistakenly remembering that something depicted on television was actually experienced.“ (Mares, 1996: S. 280) Wie Slater (1990) ging die Autorin davon aus, dass sich ein ähnlicher Effekt auch im Zusammenhang mit Nachrichten und fiktionalen Fernsehinhalten zeigen müsste. Die Glaubwürdigkeit von Nachrichtensendungen dürfte generell höher sein als die Glaubwürdigkeit fiktionaler Fernsehinhalte. In Verbindung mit der Überlegung, dass Rezipienten die Quelle ihrer Informationen möglicherweise vergessen oder den Informationen eine falsche Quelle zuschreiben, könnte dies folgendes bedeuten: Glauben Rezipienten fälschlicherweise, ihre Informationen stammen aus Nachrichtensendungen, obwohl sie sie in fiktionalen Fernsehsendungen gesehen hatten, so müsste der Einfluss dieser Informationen auf die Realitätsvorstellungen stärker sein. Umgekehrt müsste die Verwechslung von fiktionalen Sendungen mit Nachrichten zu einem geringeren Einfluss auf die Realitätsvorstellungen führen. Diese Überlegungen erinnern stark an die ursprünglichen Annahmen zum Sleeper-Effekt durch Hovland et al. (1953: S. 254): „To explain the finding (…) of a sleeper effect (…), one of the hypotheses advanced was that the increase in agreement with the communication might be due to the disappearance of initial scepticism with the passage of time.” Der Effekt geht auf die Beobachtung zurück, dass persuasive Effekte nach einem gewissen Zeitraum nicht etwa abgeschwächt wurden, sondern stärker. Dies führten Hovland et al. (1953) darauf zurück, dass Quelleninformationen im Laufe der Zeit vergessen werden, weshalb anfänglich aufgrund unglaubwürdiger Quellenmerkmale skeptisch betrachtete Botschaften nach einer gewissen Zeit stärker wirken als am Anfang (vgl. ausführlicher zum Sleeper-Effekt auch die Metaanalyse von Allen & Stiff, 1989). Vor diesem Hintergrund vermutete auch Mares (1996), dass die Gefahr, Informationsquellen zu verwechseln, nach einen gewissen Zeitraum ansteigt. Diese Annahmen prüfte die Autorin in einem Experiment, das 160 Probanden mehrere Nachrichtenbeiträge und einen Spielfilm-Trailer zeigte. Der relevante Nachrichtenbeitrag berichtete über anhaltende Grenzstreitigkeiten zwischen Libyen und Tschad. Der Trailer kündigte einen Spielfilm über die Verwicklung der amerikanischen Ma-rine in politische Streitigkeiten im Mittleren Osten an. Nach der Stimuluspräsentation wurden Fernsehnutzungsgewohnheiten, soziodemographische Merk-
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4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
male, Quellenerinnerung37 sowie Vorstellungen über die Häufigkeiten von Gewalttaten, Mean-World-Einstellungen und sozioökonomische Einschätzungen abgefragt. Die Hälfte der Probanden wurde direkt im Anschluss an die Stimuluspräsentation befragt, die andere Hälfte eine Woche später. Die Befunde bestätigten die Annahme, dass das Vergessen bzw. Verwechseln der Quelle Kultivierungseffekte beeinflusst. So führte die Erinnerung von in fiktionalen Programmen gesehenen Inhalten als Nachrichten zu einem stärkeren Einfluss des Fernsehens auf die Realitätsurteile, während die Erinnerung von in nonfiktionalen Programmen gesehenen Inhalten als Fiktion diese tendenziell abschwächte. Auch der Sleeper-Effekt wurde bestätigt: Bei der Gruppe, die erst eine Woche nach der Stimuluspräsentation befragt wurde, war die Quellenverwechslung stärker ausgeprägt als bei denjenigen, die direkt im Anschluss befragt worden waren. Die Kultivierungsforschung hat sich mit der Bedeutung der Glaubwürdigkeit von Fernsehbotschaften für Kultivierungseffekte bislang nur eingeschränkt beschäftigt. Auch Mares (1996) misst die Glaubwürdigkeit von Fernsehinformationen hier nicht direkt, sondern lediglich indirekt über die Operationalisierung als Nachrichten oder Fiktion. Ob nun Realitätsnähe oder Glaubwürdigkeit ausschlaggebend dafür sind, dass sich Urteile verändern, wenn die weniger glaubwürdige oder weniger realitätsnahe Quelle vergessen wird und nur noch die Information selbst behalten wird, lässt sich hier nicht nachweisen. Die vorgestellten Studien legen jedoch nahe, dass es durchaus sinnvoll sein dürfte, den Einfluss der Glaubwürdigkeit auf Kultivierungseffekte weiterzuverfolgen.
4.2.6
Humor
Hoffmann (2003) weist in ihrer Untersuchung zur Wahrnehmung von Verbrechensgenres darauf hin, dass auch der Humorgehalt von Sendungen aus Sicht der Zuschauer ein entscheidendes Kriterium für die Unterscheidung verbrechensbezogener Sendungsarten ist. Wie Potter und Warren (1998) inhaltsanalytisch zeigten, wird Gewalt in der Tat sehr häufig humorvoll dargestellt (Kapitel 4.1.2 stellte diese Studie bereits vor). Zwar untersuchten die Autoren den Einfluss humoristisch dargestellter Gewalt auf die Wahrnehmung der Gewalthaltigkeit nicht, aus ihren Befunden folgerten sie jedoch, dass die Kombination von Humor mit unbedeuten37
Die Quellenerinnerung wurde über 24 Informationselemente operationalisiert, von denen acht im Nachrichtenbeitrag vorkamen, acht im Trailer und acht in keinem von beiden. Die Probanden mussten zu jeder Information angeben, aus welcher Quelle sie stammte: aus den Nachrichten, dem Trailer, aus beiden oder keiner von beiden. Aus den Antworten wurden zwei Indices gebildet: Verwechslung von Nachrichten mit Fiktion und Verwechslung von Fiktion mit Nachrichten (vgl. Mares, 1996).
4.2 Darstellungsmerkmale
147
den Gewaltakten ihre Präsenz trivialisieren würde: „In sum, violence is trivialized across the television landscape, but even more so within comedy programs. This content pattern leads us to speculate that viewers’ schema for comedy uses humor primarily to camouflage the violence.“ (vgl. Potter & Warren, 1998: S. 54) Früh (2001b) konnte in seiner Rezeptionsstudie nachweisen, dass die Verwendung von Humor in medialen Gewaltdarstellungen die Gewaltwahrnehmung der Zuschauer beeinflusst: Humoristisch verfremdete Gewaltvarianten wurden von den Probanden weniger gewalthaltig wahrgenommen als humorlose Gewaltszenen. Auch lösten humoristische Gewaltdarstellungen weniger Angst aus. Vielmehr hemmten sie das Mitgefühl mit dem Opfer. In fiktionalen Gewaltgenres führte die Verwendung von Humor sogar dazu, dass der positive Erlebensaspekt stärker in den Vordergrund rückte, so dass das Publikum die Gewalt gar faszinierend fand: „Dabei mag zusammenspielen, dass ein Teil der humoristisch verfremdeten Gewalt kognitiv erst gar nicht als solche identifiziert [wird], und wenn sie doch erkannt wird, die hemmende Wirkung des schlechten Gewissens entfällt: Man darf das Faszinierende auch wirklich als faszinierend empfinden.“ (Früh, 2001b: S. 121f.) Die Verwendung von Humor scheint die Wahrnehmung von Fernsehinhalten also durchaus zu beeinflussen. Es ist daher naheliegend, dass humoristisch dargestellte Inhalte die Realitätswahrnehmung der Zuschauer ebenfalls anders beeinflussen als solche, die in ernstem Kontext präsentiert werden. Im Rahmen von Kultivierungsstudien wurde der Bedeutung von Humor bisher wenig Beachtung geschenkt. Hinweise darauf, dass er auch die Wirkung von Fernsehinhalten modifiziert, finden sich jedoch in der Gewaltforschung. So untersuchte King (2000) den Einfluss von Humor in gewalttätigen Actionfilmen auf die Wahrnehmung der Gewalthaltigkeit des Films und den Grad der Beunruhigung durch den Film. Hierfür zeigte sie 160 Studierenden vier Versionen eines gewalthaltigen Films: Eine Gruppe sah einen Film mit einem humorvollen Helden, die zweite einen Film mit einem humorvollen Bösewicht, bei der dritten Gruppe waren beide humorvoll dargestellt, bei der Kontrollgruppe keiner von beiden. Danach sahen alle Gruppen Videoausschnitte, die reale Gewaltakte enthielten. Der Humor im fiktionalen Gewaltfilm beeinflusste sowohl den Grad der Beunruhigung als auch die Gewaltwahrnehmung. Vor allem die weiblichen Probanden waren beim humorvollen Helden stärker beunruhigt und sie nahmen den Helden als grausamer und weniger sympathisch wahr. Bei Männern waren die Unterschiede weniger deutlich. Der humorvoll dargestellte Bösewicht wurde hingegen von Frauen und Männern gewalttätiger wahrgenommen als der ernsthaft dargestellte. Zudem gab es einen Transfereffekt der fiktionalen Gewaltfilme auf die Wahrnehmung der realen Gewaltszenen. Frauen, die den humoristisch dargestellten Filmhelden gesehen
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4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
hatten, waren auch durch die realen Gewaltszenen weniger beunruhigt als die anderen Frauen. Bei Männern zeigte sich allerdings der gegenteilige Effekt. Zwar waren die Effekte hier sehr kurzlebig und sie sind sicherlich weiter zu untersuchen, doch verdeutlicht diese Studie zusammen mit den Befunden von Früh (2001b), dass der Einsatz von Humor Wahrnehmung und Einfluss von Fernsehinhalten durchaus beeinflussen kann. In welche Richtung dieser Einfluss geht, ist aufgrund der divergierenden Forschungslage bislang noch unklar. Kunczik und Zipfel (2004) konstatieren, dass auf Basis der bisherigen Forschungslage zum Humor in Gewaltdarstellungen zwei Schlussfolgerungen möglich sind. So kann es sein, „dass Humor Aggression durch Ablenkung und Stimmungsverbesserung reduziert, als auch dass Humor erregend wirkt und auf diese Weise aggressive Handlungen fördert, den Täter attraktiver erscheinen lässt und so die Identifikation mit ihm erhöht bzw. zur Verharmlosung von Gewalt beiträgt und so die Hemmschwelle zur eigenen Gewaltanwendung senkt.“ (ebd.: S. 132) Somit lässt sich auch in Bezug auf Kultivierungseffekte nicht vorhersagen, welchen Einfluss die Verwendung von Humor hat.
4.2.7
Auffälligkeit
Shrum (z.B. 1995; 2001) geht davon aus, dass der Kultivierungseffekt auf heuristischen Informationsverarbeitungsprozessen beruht (Kapitel 6.2.1 geht darauf ausführlicher ein). Dahinter steht die Annahme, dass die Einschätzung der Häufigkeit eines Sachverhaltes in der Realität auf Verfügbarkeitsheuristisken (availability heuristic, vgl. Kahnemann & Tversky, 1973a; Tversky & Kahnemann, 1974) basiert, konkret auf der Leichtigkeit, mit der Konstrukte aktiviert werden können: Je leichter die Erinnerung an Beispiele ist, desto höher wird ihre Auftretenshäufigkeit eingeschätzt. Die Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit von Konstrukten (construct accessibility) hängt von verschiedenen Faktoren ab, relevant für die Kultivierung dürften u.a. frequency, recency und distinctiveness (vgl. z.B. Tversky & Kahnemann, 1974; Shrum, 1995) sein. So ist die Verfügbarkeit von Konstrukten umso höher, je häufiger sie präsentiert und aktiviert werden (frequency), je weniger Zeit seit der letzten Aktivierung vergangen ist (recency) und je auffälliger ein Konstrukt ist (distinctiveness). Die ersten beiden Faktoren werden in der Kultivierung durch die Häufigkeit gezeigter Botschaften abgebildet und entsprechen dem, was traditionelle Inhaltsanalysen im Vorfeld von Kultivierungsstudien erfassen: Je häufiger bestimmte Sachverhalte im Fernsehen gezeigt und rezipiert werden und je kürzer der Zeitraum ist, seitdem entsprechende Sachverhalte zuletzt gesehen wurden,
4.2 Darstellungsmerkmale
149
desto höher ist die Verfügbarkeit solcher Beispiele im Gedächtnis, desto leichter werden sie erinnert und desto höher schätzen Rezipienten die Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens in der Realität ein. Hinzu kommt nun die Auffälligkeit bestimmter Sachverhalte im Fernsehen. Die Kultivierungsforschung hat die Bedeutung dieses Faktors bislang weitgehend außer Acht gelassen. Hinweise auf die mögliche Relevanz der Auffälligkeit für Kultivierungseffekte fand Rossmann (2002). Wie oben bereits dargestellt zeigte sich in ihrer Kultivierungsstudie zum Einfluss von Krankenhausserien, dass Vielseher von Krankenhausserien die Anzahl intriganter Krankenschwestern überschätzten, obwohl Krankenhausserien – wie sich inhaltsanalytisch gezeigt hatte – sie in 99 Prozent aller Fälle nicht intrigant darstellten. Denkbar ist, dass dieses Bild aus der gängigen Darstellung überaus fürsorglicher und freundlicher Krankenschwestern so heraussticht, dass es sich in der Wahrnehmung der Rezipienten verstärkt niederschlägt. Diese Beobachtung bildete die Ausgangsbasis für die Untersuchung von Siebels (2004), die den Einfluss der Auffälligkeit auf Kultivierungseffekte untersuchte. Hierfür legte sie 120 Studierenden die Beschreibung einer vorgeblich neuen Krankenhausserie vor, die neben dem generellen Setting als entscheidenden Stimulus vier Rollenbeschreibungen von Krankenschwestern enthielt. Diese unterschieden sich in ihrem Auffälligkeitsgrad: So wurden die Krankenschwestern entweder dem prototypischen Bild der Krankenschwester entsprechend als freundlich, fürsorglich etc. beschrieben oder als intrigant und dem prototypischen Bild widersprechend. Der Faktor wurde dreistufig variiert: Einer Experimentalgruppe wurde eine Version mit drei typischen Krankenschwestern und einer intriganten Krankenschwester vorgelegt (3:1), bei der zweiten Gruppe war das Verhältnis umgekehrt (1:3) und bei der dritten waren typische und intrigante Krankenschwestern zu gleichen Teilen vertreten (2:2). Nach der Stimuluspräsentation wurden die Probanden jeweils zweimal befragt: direkt nach der Stimuluspräsentation und eine Woche später. Die Fragebögen erfassten als Kultivierungsindikatoren Einschätzungs- und Einstellungsfragen zu den Charaktereigenschaften von Krankenschwestern der Realität, Mediennutzungsgewohnheiten und verschiedene Drittvariablen. Um auch die zeitliche Stabilität möglicher Kultivierungseffekte zu messen, wurden die zentralen abhängigen Variablen (Kultivierungsfragen) bei der Hälfte der Befragten zweimal also zu beiden Befragungszeitpunkten erfasst. Die andere Hälfte erhielt die Kultivierungsfragen lediglich zum zweiten Messzeitpunkt, um auch Messwiederholungseffekte kontrollieren zu können. Die Ergebnisse der Untersuchung deuteten auf einen Einfluss der Auffälligkeit von Fernsehbeispielen hin, die sich allerdings mit der Häufigkeit der vorgeleg-
150
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
ten Beispiele vermischt. Häufigkeit und Auffälligkeit wurden gleichermaßen wirksam. Zwar waren die Gruppenunterschiede nur gering und selten signifikant, doch ließen sie ein durchgängiges Muster erkennen. Probanden, denen drei prototypische Beispiele und nur ein untypisches (3:1) vorgelegt worden waren, schätzten den Anteil intriganter (also untypischer) Krankenschwestern in der Realität höher ein als die Gruppe mit ausgeglichenem Verhältnis. Probanden, die drei untypische Rollenbeschreibungen und nur ein typisches (1:3) gelesen hatten, taten dies ebenso. Bei der ersten Gruppe scheint also die Auffälligkeit des untypischen Beispiels ausschlaggebend gewesen zu sein, bei der anderen Gruppe die Häufigkeit. Wäre ausschließlich die Auffälligkeit eines Beispiels wirksam geworden, hätten Letztere die Häufigkeit intriganter Krankenschwestern niedriger einschätzen müssen. Somit können distinktive Verhältnisse offenbar nicht ohne Weiteres umgekehrt werden. Vermutlich werden die Beispiele nur dann als distinktiv wahrgenommen, wenn „sie sich nicht nur einfach von ihrem Umfeld abheben, sondern auch den prototypischen Erwartungen wiedersprechen [sic]“ (Siebels, 2004: S. 115). Allerdings scheinen die beobachteten Effekte nicht sehr stabil zu sein. So verschwand der Einfluss der distinktiven Beispiele nach einer Woche wieder. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Probanden nur einmal mit dem Stimulus konfrontiert worden waren und lediglich die schriftliche Beschreibung einer Sendung gelesen hatten. Eine Übertragbarkeit auf die Kultivierung ist daher freilich nur beschränkt gegeben. Geht man aber davon aus, dass Kultivierung auf heuristischen Informationsverarbeitungsmechanismen beruht, so ist es durchaus naheliegend anzunehmen, dass Botschaftsmerkmale, die die heuristische Informationsverarbeitung beeinflussen, auch in der Kultivierung wirksam werden. In Bezug auf die Stabilität der Befunde wäre es denkbar, dass auffällige Sachverhalte im Fernsehen genauso langfristig wirken wie Sachverhalte, die häufig gezeigt werden, wenn auch die auffälligen Sachverhalte häufig rezipiert werden – genauso wie Vielseher von Krankenhausserien regelmäßig und dauerhaft mit einer intriganten unter vielen prototypisch dargestellten Krankenschwestern konfrontiert werden.
4.2.8
Weitere Darstellungsmerkmale
Zieht man die Befunde aus anderen Medienwirkungstheorien heran, so sind zahlreiche weitere Darstellungsmerkmale denkbar, die einen Einfluss auf die Wahrnehmung von medialen Botschaften und damit ihren Einfluss auf Vorstellungen und Einstellungen von Rezipienten haben. Die vorgestellten Darstellungsmerkmale erheben daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auf jedes Merkmal
4.2 Darstellungsmerkmale
151
einzugehen, würde den Rahmen der Arbeit jedoch sprengen, im Folgenden werden mögliche weitere Merkmale daher lediglich kurz erwähnt. Petty und Cacioppo (1996) wiesen in ihrem Elaboration-Likelihood-Modell darauf hin, dass bei der Verarbeitung von Informationen über die periphere Route (was der heuristischen Informationsverarbeitung entspricht, die für die Kultivierung angenommen wird), generell die oberflächlichen Botschaftsmerkmale die persuasive Wirkung am deutlichsten beeinflussen. Unter anderem nennen Petty und Cacioppo (1996) dabei Emotionalisierung und Dramatisierung von Botschaften. Früh et al. (1996) stützen die Vermutung, dass nicht nur der Realitätsgrad die wahrgenommene Informationsqualität von Filmbeiträgen beeinflusst, sondern auch ihr Dramatisierungsgrad (Kapitel 4.2.4 stellte die Studie bereits vor). Bei allen Genres außer Nachrichten verbesserte sich die Einschätzung der Informationsleistung mit zunehmendem Einsatz dramaturgischer Mittel. So waren die Befragten der Ansicht, dass „die dramaturgisch stark aufbereitete Reality-Version (R4) am besten über Polizeiarbeit und Polizeiprobleme (...) informiert, am meisten Einsicht in tragische Schicksale vermittelt und – nach der Nachrichtenversion (R1) – am wirklichkeitsgetreuesten ist“ (ebd.: S. 439). Als weiteres Botschaftsmerkmal, das auch für die Kultivierung relevant sein könnte, ist die Lebhaftigkeit der Fernsehbotschaften zu nennen. So gehen Sherman, Cialdini, Schwartzmann & Reynolds (1985) davon aus, dass die Verfügbarkeit von Konstrukten nicht nur von der Häufigkeit ihrer Aktivierung, dem zeitlichen Abstand zur letzten Aktivierung und ihrer Auffälligkeit, sondern auch von ihrer Lebhaftigkeit abhängig ist. Auch in der Gewaltforschung wurden weitere Darstellungsmerkmale thematisiert, die für die Kultivierungsforschung fruchtbar gemacht werden könnten. Im Zusammenhang mit dem Identifikationspotenzial, welches Imitationseffekte verstärkt (s.o.), spielt nicht nur die Ähnlichkeit zwischen Zuschauer und Fernsehfigur eine Rolle, sondern auch die Attraktivität der Fernsehhelden (vgl. z.B. Kunzcik & Zipfel, 2004). Emotionalisierung, Dramatisierung, Lebhaftigkeit und Attraktivität der Fernsehakteure sind also weitere Darstellungsmerkmale, die die Kultivierung möglicherweise beeinflussen. Da diese gerade für fiktionale Fernsehinhalte kennzeichnend sind, könnten sie ebenfalls zur Erklärung beitragen, weshalb fiktionale Fernsehinhalte häufig stärker wirken als nonfiktionale.
152 4.3
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die genreübergreifende Kultivierung, so wie Gerbner und Kollegen sie ursprünglich operationalisiert haben, der inhaltlichen Vielfalt im Fernsehen und der Selektivität der Fernsehzuschauer nicht gerecht werden kann. In der Regel lässt sich die Realitätswahrnehmung der Zuschauer durch die Nutzung bestimmter Genres, Genregruppen oder auch einzelner Sendungen besser erklären als durch die allgemeine Fernsehnutzung. Dies liegt jedoch auch daran, dass die Kultivierungsforschung es bislang versäumt hat, die Metabotschaften des Fernsehens akkurat zu messen. Die Identifikation von Metabotschaften setzt voraus, dass sich Forscher theoretisch und empirisch genauer mit der Frage auseinandersetzen, welche Botschaften auf welchem Aggregationsniveau einheitlich dargestellt werden. Je nach Thema und Fragestellungen können die Metabotschaften auf einem sehr hohen oder niedrigen Aggregierungsniveau angesiedelt sein. Ausschlaggebend für die Identifikation der Metabotschaften ist jedoch nicht nur die Messung des Forschers, sondern auch die Wahrnehmung der Rezipienten. Denn es ist denkbar, dass diese den empirisch erfassten Botschaften des Forschers gar nicht entspricht. Das schlägt sich dann auch in einer anderen Realitätswahrnehmung nieder als auf Basis rein inhaltsanalytisch erfasster Erkenntnisse angenommen. Dafür können etwa Botschaftsmerkmale verantwortlich sein, die die Wahrnehmung der Fernsehwelt und damit auch Kultivierungseffekte beeinflussen. Aus Persuasionsforschung, Lerntheorie und Medienwirkungstheorien (Agenda-Setting, Fallbeispieleffekt) sind die folgenden Merkmale bekannt, die einen Einfluss auf Wahrnehmung und/oder Einfluss von Botschaften haben: episodische versus kontextreiche Darstellung, Akteursmerkmale (aufgrund unterschiedlicher Identifikationsmöglichkeiten der Zuschauer), Bewertung der dargestellten Akteure, Verhaltensweisen und Themen, Realitätsgrad, Glaubwürdigkeit und Humorgehalt der Sendungen sowie die Auffälligkeit dargestellter Akteure, Akteursmerkmale und Themen. Die Bedeutung dieser Merkmale wurde auch im Kontext von Fernsehbotschaften untersucht, weshalb anzunehmen ist, dass diese Merkmale Kultivierungseffekte beeinflussen. Aus der Literatur lassen sich einige weitere Merkmale ableiten, die die Wahrnehmung von Fernsehbotschaften beeinflussen können (z.B. Emotionalisierung, Dramatisierung, Lebhaftigkeit und Attraktivität der Fernsehakteure). Auf jedes Merkmal genauer einzugehen, würde den Rahmen der Arbeit jedoch sprengen, weshalb sich das Modell auf die oben beschriebenen Merkmale konzentriert. Abbildung 18 integriert die Überlegungen in das Prozessmodell.
153
4.3 Zusammenfassung
Abbildung 18: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses III – Fernsehbotschaft und wahrgenommene Fernsehbotschaft
KULTIVIERUNG ERSTER ORDNUNG
Fernsehbotschaft • Metabotschaften auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen: Fernsehen, Genres, Sendungen (themenspezifische Aggregate)
WAHRNEHMUNG
• Verstärkende Darstellungsmerkmale: - episodische Darstellung - Ähnlichkeit: Rezipient/ Akteur - positive Bewertung - hoher Realitätsgrad - hohe Glaubwürdigkeit - Humor - Auffälligkeit
KONSTRUKTION Wahrgenommene Fernsehbotschaft
Einschätzung von soziodemographischen Verteilungen und Ereignishäufigkeiten in der Realität
GENERALISIERUNG
KULTIVIERUNG ZWEITER ORDNUNG
Einstellungen und Wertvorstellungen
Quelle: Eigene Darstellung.
Der aufmerksame Leser mag nun einen Widerspruch erkennen. So steht auf der einen Seite die Forderung, sich bei der Identifikation von Metabotschaften vom Auszählen einzelner Häufigkeiten zu lösen, um Makrostrukturen zu finden, die über die Summe ihrer Einzelteile hinausgehen und der Rezipientenwahrnehmung gerecht werden. Auf der anderen Seite wird gefordert, den Einfluss von auf der Mikroebene liegenden Botschaftsmerkmalen auf die Wahrnehmung der Rezipienten zu untersuchen. Nun liegen diese Forderungen zwar auf unterschiedlichen Ebenen, doch scheint dies der einzig fruchtbare Weg zu sein, der Erklärung von Bedingungen, unter denen Kultivierungseffekte entstehen, näher zu kommen. Zudem ist diese Vorgehensweise nur auf den ersten Blick problematisch. Das verbindende Element liegt genau darin, der Rezipientenwahrnehmung Aufmerksamkeit zu schenken. Diese verbindet die auf der Makroebene liegenden Metabotschaften mit den auf der Mikroebene angesiedelten Botschaftsmerkmalen. Die Wahrnehmung wird beeinflusst von den Botschaftsmerkmalen und ihren Inhalten,
154
4 Die Bedeutung der Fernsehbotschaft
sie geht aber darüber noch hinaus und weist dem Forscher den Weg, die entscheidenden Botschaften und Aggregierungsebenen zu erkennen. Der Gedanke ist nicht neu. Früh (2002) formulierte ihn in seiner molaren Theorie im Zusammenhang mit der sinnhaften Komplexion von Variablen. So können die zu kohärenten Klumpen, Syndromen oder Gestalten gruppierten Variablen als Einheiten höherer Ordnung im Wirkungsprozess Effekte hervorbringen, „die über die Wirkungen ihrer einzelnen Bestandteile hinausgehen, ohne sie aufzuheben. Dies eröffnet die Möglichkeit, Mikro- und Makroansätze zu verbinden.“ (Früh, 2002: S. 70) Die Wahrnehmung der Rezipienten, die nicht an einzelne Kategorien und Analyseeinheiten gebunden ist, vermag es, das zu verbinden, was der Forscher inhaltsanalytisch identifiziert und was die Realitätswahrnehmung der Rezipienten beeinflusst. Somit kann sie auch die in Einzelstudien gefundenen Einflüsse von Botschaftsmerkmalen mit dem verbinden, was letztlich als Botschaft beim Rezipienten hängen bleibt und seine Realitätswahrnehmung beeinflusst. Freilich hängt die Rezipientenwahrnehmung nicht nur davon ab, was inhaltlich gezeigt wird und wie es dargestellt wird. Die Wahrnehmung der Rezipienten kann nicht unabhängig davon betrachtet werden, was der Rezipient sieht (und was er nicht sieht), aus welchen Gründen er fernsieht, was ihn besonders interessiert usw. Kurz: Auch Selektions- und Rezeptionsmodalitäten entscheiden darüber, wie der Rezipient die Fernsehwelt wahrnimmt. Mit diesen Aspekten setzt sich das folgende Kapitel auseinander.
5
Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, kann man zumindest bei den meisten Themen und Fragestellungen nicht davon ausgehen, dass diese im Fernsehen über alle Sendungen und Genres hinweg gleichförmig dargestellt werden. Je spezifischer die Fragestellung ist, desto mehr Unterschiede wird es geben. Dies spielt jedoch für die Kultivierung nur dann eine Rolle, wenn die Fernsehzuschauer selektiv fernsehen und durch die Präferenz unterschiedlicher Sendungen, Genres oder Genremenüs unterschiedlichen Botschaften ausgesetzt sind. Anders ausgedrückt: Für den Einfluss der Fernsehbotschaften auf Wahrnehmung und Einstellungen des Publikums spielen inhaltliche Unterschiede nur dann eine Rolle, wenn sie mit unterschiedlichen Selektionsmustern des Publikums einhergehen. Neben der reinen Selektivität ist es auch denkbar, dass die Gründe, weshalb überhaupt ferngesehen wird, die Kultivierungseffekte beeinflussen. Werden Fernsehinhalte genutzt, um sich zu informieren, so dürften diese aktiver verarbeitet werden, als wenn die Fernsehnutzung der reinen Ablenkung und Berieselung dient (vgl. z.B. Levy & Windahl, 1984). In engem Zusammenhang damit steht die Frage, wie instrumentelle und ritualisierte Fernsehnutzung die Kultivierungseffekte beeinflussen. Neben Selektion und Nutzungsmotiven dürften aber auch Merkmale der Rezeptionshaltung einen Einfluss auf die Verarbeitung der Fernsehinformationen haben. Von zentraler Bedeutung sind dabei parasoziale Interaktion, Identifikation, Involvement und wahrgenommener Realitätsgrad.
5.1 5.1.1
Selektion Selektive Fernsehnutzung
Gerbner und seine Kollegen gingen davon aus, dass die Fernsehzuschauer, zumal Vielseher, überwiegend nicht selektiv fernsehen; wenn überhaupt, so wählen sie ihre Sendungen aufgrund zeitlicher Aspekte aus, weniger aufgrund inhaltlicher (vgl. Gerbner et al., 1978: S. 202; siehe auch Kapitel 4.1.1). Technische Ausstattung der
156
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Haushalte und wachsende Anzahl verfügbarer Kanäle haben die Selektionsmöglichkeiten der Zuschauer jedoch zunehmend erhöht.
5.1.1.1
Fernsehnutzung in einer veränderten Fernsehlandschaft
Vor der Einführung des dualen Rundfunksystems standen deutschen Zuschauern zwischen drei und fünf Fernsehkanäle zur Verfügung, 1990 waren es durchschnittlich acht Kanäle, Anfang 2003 im Durchschnitt 38. Seitdem ist die Anzahl verfügbarer Kanäle vor allem durch die Digitalisierung der Verbreitungswege noch mal um neun Kanäle gestiegen, so dass deutsche Fernsehhaushalte seit Ende 2004 durchschnittlich 47 Fernsehkanäle zur Verfügung haben (vgl. Gerhards & Klingler, 2005). Dies schlägt sich auch in einer höheren Fernsehnutzungsdauer nieder, die seit 1970 von 113 auf 220 Minuten pro Tag angestiegen ist und sich somit nahezu verdoppelt hat. Auch im Tagesverlauf hat sich die Fernsehnutzung verändert. Freilich liegt die Nutzungsspitze nach wie vor in der Zeit zwischen 20 und 22 Uhr. Doch werden die Unterschiede zwischen Nachmittag, spätem Abend und PrimeTime geringer (vgl. auch die Befunde von Hasebrink, 1994). Während 1970 kaum jemand nachmittags fernsah, schalten inzwischen bis zu 20 Prozent der Deutschen (ab 14 Jahren) ihr Fernsehgerät schon am Nachmittag ein. Auch zieht sich die Fernsehnutzung länger in den Abend hinein, so dass rund ein Fünftel der Deutschen noch um 23 Uhr fernsieht (van Eimeren & Ridder, 2005). Insgesamt dürfte dies zu höheren Selektionsmöglichkeiten beitragen, da das Programmangebot außerhalb der Prime-Time nicht nur andere Genres zeigt, sondern auch vielfältiger ist. Am frühen Nachmittag ist fast die gesamte Bandbreite an politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Inhalten und Spielhandlungen anzutreffen. Während der Prime-Time nimmt die Vielfalt deutlich ab, steigt dann aber im Verlauf des restlichen Abends wieder stetig an (Fahr et al., 2005). Die Zuschauer weichen also zunehmend auf Fernsehzeiten aus, die ihnen eine höhere Genrevielfalt bieten. Zusätzlich hat sich die technische Ausstattung der Zuschauer verändert. Inzwischen haben 45 Prozent aller deutschen Haushalte zwei oder mehr Fernsehgeräte. Die einzelnen Haushaltsmitglieder haben auch dadurch bessere Möglichkeiten, ihr bevorzugtes Programm auszuwählen (van Eimeren & Ridder, 2005). Die Ausstattung mit Aufzeichnungs- und Abspielgeräten ermöglicht es, zeitversetzt fernzusehen sowie durch Kaufvideos und DVDs das im Fernsehen angebotene Programm nach eigenem Gusto zu erweitern. Die Mehrheit der Deutschen nutzt diese Möglichkeit: Drei Viertel aller deutschen Haushalte besitzen einen Videore-
157
5.1 Selektion
korder, knapp zwei Drittel einen DVD-Player, 15 Prozent einen DVD-Rekorder. So schließen van Eimeren und Ridder (2005: S. 503): „Bestand bisher die Freiheit des Mediennutzers darin, vor dem heimischen Bildschirm zwischen 20 und 50 linear ausgestrahlten Programmen zu wählen, hat er nun die Möglichkeit, zeitversetzt fernzusehen, sich ‚sein’ Programm aus einer ungleich höheren Vielfalt selbst zusammenzustellen und über mobile Endgeräte jederzeit und überall auf mediale Inhalte zugreifen zu können.“
5.1.1.2
Fernsehnutzungsmuster
Zahlreiche Studien haben sich in der Folge mit der Frage auseinandergesetzt, wie die veränderten Empfangsmöglichkeiten die Fernsehnutzung der Zuschauer beeinflusst. Heeter, Greenberg und McVoy (1988) untersuchten etwa, ob ein höheres Kanalrepertoire in Folge der Einführung von Privatfernsehen in den USA auch ein höheres Kanalrepertoire bei den Zuschauern nach sich zieht. Dabei zeigte sich, dass Kabelhaushalte generell mehr Kanäle nutzten und fragmentiertere Nutzungsmuster aufwiesen als Haushalte mit terrestrischem Empfang (ebd.: S. 61). Hasebrink und Krotz (1993) stellten auch in Deutschland einen deutlichen Einfluss des Privatfernsehens auf die Fernsehnutzungsmuster fest: Kabelhaushalte nutzten im Durchschnitt sechs verschiedene Kanäle pro Tag, Haushalte ohne Kabelfernsehen nur 3,4. Zusätzlich zum Kanalrepertoire konnten Unterschiede in den Genrepräferenzen der Zuschauer festgestellt werden, womit die Ergebnisse „die enormen und offenbar stabilen interindividuellen Unterschiede im Umgang mit dem Fernsehen“ (S. 526) bestätigen. Ein Jahr später veröffentlichte Hasebrink (1994) einen weiteren Aufsatz, der auf die zunehmende Ausdifferenzierung des Fernsehpublikums hinwies. Das Publikum hat sich seinen Beobachtungen zufolge in mehrfacher Hinsicht verstreut: Die Nutzung verteilt sich gleichmäßiger über den Tag und stärker auf die Angebote. Die Zuschauer nutzen mehr Kanäle und schalten häufiger um (ebd.: S. 282). Auch Berens, Kiefer und Meder (1997) stellten fest, dass die Veränderungen seit den achtziger Jahren eine deutliche Spezialisierung in der Fernsehnutzung nach sich zog. Vor allem war eine Spezialisierung auf unterhaltende Medienangebote zu beobachten: Die Anzahl primär unterhaltungsorientierter Rezipienten hat zwischen 1985 und 1995 zugenommen, die Anzahl informationsorientierter Rezipienten hat sich entsprechend minimiert. Unterhaltungsorientierte Rezipienten zeichnen sich durch eine überdurchschnittliche Fernsehnutzungsdauer und Nutzungshäufigkeit aus. Auch im Hinblick auf die Sendernutzung ist eine Spezialisierung zu erkennen: Kernpublika des öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehens nutzen Medien nach Umfang und Inhalt völlig unterschiedlich.
158
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Je größer die Anzahl zur Verfügung stehender Kanäle ist, desto stärker scheinen sich die Einstellungen der Fernsehzuschauer in ihrer Nutzung niederzuschlagen. Dies konnten Webster und Wakshlag (1983) bereits in den frühen achtziger Jahren auf der Basis von Befragungs- und Tagebuchdaten nachweisen. So ließ sich das Auswahlverhalten in konkreten Auswahlsituationen zu einem großen Teil durch individuelle Einstellungen gegenüber Sendungstypen erklären. Dies traf vor allem auf Personen mit Kabelanschluss zu (dies bestätigten später auch Hasebrink & Doll, 1990, sowie Youn, 1994).38
5.1.1.3
Vielseher und andere Zuschauertypen
Zahlreiche Studien beschäftigten sich mit der Frage, welche Zuschauertypen sich auf der Basis von Programm- oder Genrepräferenzen identifizieren lassen. Espe, Seiwert und Lang (1985) bildeten auf Basis mündlicher Befragungsdaten eine Typologie deutscher Fernsehzuschauer. Mit Clusteranalysen identifizierten sie fünf Programminteressentypen und beschrieben diese anhand von Soziodemographie, Fernsehnutzungsdauer, Nutzungsmotiven und generellen Einstellungen.39 Ein Jahr später veröffentlichten Espe und Seiwert (1986) eine ähnliche Typologie für europäische Fernsehnutzer. Sie identifizierten sechs Nutzertypen und charakterisierten diese auf der Basis ihrer Fernsehnutzungsdauer, ihrer Soziodemographie,
38
39
Trotz unterschiedlicher Präferenzen und Loyalitäten ist die Programmauswahl freilich nicht unabhängig von der Struktur des verfügbaren Programmangebots. Vor diesem Hintergrund untersuchte Klövekorn (2002) anhand einer Sekundäranalyse von GfK-Daten den Einfluss von Sender- und Genrepräferenzen auf die Programmauswahl in Abhängigkeit von der Struktur des aktuellen Programmangebots. Dabei zeigte sich, dass die Präferenz bestimmter Genres wie Nachrichten, Sport oder Serien die aktuelle Nutzung stärker beeinflusst als die Präferenz anderer Genres. Der Einfluss von Senderpräferenzen war hingegen gering, zeigte sich vor allem aber dann, wenn mehrere Sender zu einem Zeitpunkt dasselbe Genre anboten. Im Einzelnen identifizierten sie die folgenden fünf Typen: (1) Film: Nutzung des Fernsehens zur Unterhaltung, hoher täglicher Fernsehkonsum, Fernsehen als ”heile Scheinwelt”, (2) Info: selektive Nutzung des Fernsehens hauptsächlich zu Informationszwecken, niedriger täglicher Fernsehkonsum, aktiver, gebildeter Personenkreis aus höheren sozialen Schichten, (3) Sport: überdurchschnittliche Nutzung von Sportsendungen, Lebenszufriedenheit und politische Einstellung, eher Mittelschicht, (4) Alles: sehr hohe durchschnittliche Fernsehnutzungsdauer, Interesse an allen Fernsehinhalten, eher passiver Personenkreis aus der unteren sozialen Schicht, (5) Wenig: Fernsehnutzungsdauer weit unter dem Durchschnitt, unterdurchschnittliches Interesse an allen Inhalten, insgesamt unauffälliger, zufriedener Personenkreis (vgl. Espe et al., 1985).
5.1 Selektion
159
ihres politischen Interesses und ihrer Wertvorstellungen.40 Bemerkenswert ist hier, dass zwei Typen von Vielsehern identifiziert wurden: der Typ „all“, der alle vier Genrebereiche (Film und Serie, Unterhaltungsshows, Quiz-/Gameshows, Information und Sport) nutzt, eher älter ist, männlich und weniger gebildet, und ein zweiter Vielseher-Typ, der sich für Unterhaltung, Filme, Serien und Information, nicht aber für Sport interessiert. Diesen Typ bildeten ebenfalls ältere Zuschauer mit niedriger Bildung, im Gegensatz zum ersten gehörten diesem Typ aber vor allem Frauen an. Vielseher ist also keineswegs gleich Vielseher. Im selben Jahr veröffentlichten Peterson, Bates und Ryan (1986) ebenfalls eine Studie, die belegt, dass Vielseher sich keineswegs als eine homogene Zuschauergruppe begreifen lassen. Auch zeigten sie, dass Vielseher, die passiv und nonselektiv fernsehen, in der Minderheit sind. Die Autoren führten eine Sekundäranalyse einer 1982 in den USA landesweit durchgeführten Befragung durch. Vielseher wurden auf der Basis der täglichen Fernsehnutzungsdauer identifiziert. Als Selektionskriterium diente eine Nutzungsdauer von vier und mehr Stunden pro Tag. Gut ein Fünftel der Stichprobe erfüllte dieses und wurden somit als Vielseher identifiziert. Gefragt nach den Genrepräferenzen gaben nur 20 Prozent der Vielseher an, keine besondere Präferenz für ein bestimmtes Genre zu haben. Eine deutliche Mehrheit der Vielseher äußerte hingegen ganz bestimmte Vorlieben. Auf der Basis ihrer Programmpräferenzen wurden im nächsten Schritt verschiedene VielseherTypen identifiziert und nach soziodemographischen Merkmalen und politischen Einstellungen verglichen. Dabei zeigte sich, dass Vielseher auch in persönlicher Hinsicht keineswegs eine homogene Masse darstellen. Während die passiven Vielseher in ihren Merkmalen dem klassischen Vielseher am ehesten entsprechen, weichen die aktiven Vielseher-Gruppen von diesem Bild deutlich ab. Auch gibt es deutliche Unterschiede zwischen den aktiv fernsehenden Vielseher-Gruppen, die teilweise sogar größer sind als die Unterschiede zu den Wenigsehern. Auch Weimann, Wober und Brosius (1992) identifizierten unterschiedliche Vielseher-Typen, bezogen dabei aber genauere Fernsehnutzungsmaße mit ein. Die Daten stammten aus einer umfangreichen Tagebuchbefragung eines Panels briti40
Das Bestehen verschiedener Zuschauertypen wurde in zahlreichen weiteren Studien repliziert (vgl. z.B. Kliment, 1997; Mayer, Meinzolt, Rossmann & Brosius, 1999). In diesem Zusammenhang entzündete sich bald eine lang anhaltende Debatte darüber, ob sich Fernsehnutzungs- oder Mediennutzungstypen besser durch ihre soziodemographischen Merkmale erklären lassen oder durch ihre generellen Wertvorstellungen, ihr Freizeitverhalten, ihren Lebensstil oder ihr Milieu. Aktuellere Studien belegen, dass wider des (u.a. auch werbewirtschaftlich geprägten) Trends, Lebensstilkonzepte und Milieus zur Erklärung von Nutzungsmustern heranzuziehen, Alter, Geschlecht und Bildung doch am meisten Erklärungskraft besitzen (vgl. z.B. Mayer et al., 1999; Haas, 2004). Die Debatte ist für das vorliegende Thema jedoch von untergeordneter Bedeutung, weshalb es nur der Vollständigkeit halber an dieser Stelle erwähnt sei.
160
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
scher Fernsehzuschauer ab zwölf Jahren. Ihre Typologie bestimmten die Autoren auf der Basis der Anzahl gesehener Sendungen in einer Programmwoche und der Genrebindung (Summe der Differenzen zwischen individuellen Genreanteilen und Genreanteilen der Gesamtstichprobe). Auf diese Weise wurden vier Nutzertypen gebildet: „light mixers“ (Wenigseher, hohe Genrevielfalt), „high mixers“ (Vielseher, hohe Genrevielfalt), „light devoted“ (Wenigseher, geringe Genrevielfalt), „heavy devoted“ (Vielseher, geringe Genrevielfalt). Bereits hier lässt sich wieder feststellen, dass Fernsehzuschauer sich auch dann in ihrer Genrenutzung unterscheiden, wenn sie viel fernsehen. Mit rund 30 Prozent ist die Gruppe der Vielseher, die eher eine starke Bindung an einzelne Genres haben, sogar deutlich größer als die Gruppe der Vielseher, die alle Genres mischen (9 Prozent). Noch deutlicher wird dies, wenn man die Nutzungsmuster der Typen näher betrachtet. So wurden die Typen auf der Basis der genrespezifischen Nutzungsdauer, des Anteil eines Genres an der Gesamtfernsehnutzung, der Sendungsbewertung und der Konsistenz ihrer Genrenutzung näher beschrieben. Wie erwartet sehen die „Heavy Mixers“ viele Sendungen aus verschiedenen Genres, wobei Spielfilme, leichte Unterhaltung, aber auch Nachrichten und Dokumentationen in ihrem Programmmenü enthalten sind. Im Gegensatz dazu nutzen die „Heavy Devoted“ entweder Unterhaltung oder Informationssendungen. Die einen nutzen etwa Dramen, Spielfilme, leichte Unterhaltung, Musik und Kunst, andere nutzen Nachrichten, Dokumentationen u.ä. Auffällig ist, dass die Zuschauer sich auch in der Konsistenz ihres Nutzungsverhaltens unterscheiden. Vielseher mit hoher Programmbindung weisen im Vergleich mit den anderen drei Nutzertypen die stärkste Konsistenz auf: Bei ihnen ist es am wahrscheinlichsten, dass sie das, was sie an einem Tag sehen, auch am nächsten Tag wieder auswählen werden. Bei Vielsehern mit niedriger Genrebindung ist die Nutzung weniger konsistent. Vielseher, denen Gerbner und Kollegen aufgrund ihrer hohen Rezeptionsdauer zuschreiben, passiv und nicht selektiv fernzusehen, nutzen und präferieren also durchaus unterschiedliche Genres.
5.1.1.4
Zusammenfassung
Insgesamt zeigt sich, dass die Annahme nonselektiver Fernsehnutzung, wie Gerbner et al. sie propagierten, nicht mehr haltbar ist. Gestiegenes Kanalangebot und technische Neuerungen wie Video-, DVD-Recoder etc. haben die Fernsehgewohnheiten der Zuschauer verändert und ihre Selektionsmöglichkeiten erhöht. Es wird nicht nur mehr ferngesehen, sondern auch zu anderen Zeiten. Auch wird das Fernsehrepertoire aus mehr Kanälen zusammengestellt. Das Fernsehpublikum als
161
5.1 Selektion
passiv rezipierende Masse ist obsolet: Die durch das geringe Angebot bedingte nonselektive Konsumhaltung ist zu großen Teilen einer aktiven und selektiven Rezeptionshaltung gewichen. Zunehmend ließen sich interindividuelle Unterschiede in den Nutzungsmustern der Zuschauer feststellen. Beim Einzelnen bleiben diese jedoch relativ konstant. Auch im Fernsehnutzungsverhalten der Vielseher schlugen sich diese Veränderungen nieder. Zwar scheint es nach wie vor Vielseher zu geben, die sich passiv von einer Vielzahl unterschiedlicher Sendungen berieseln lassen, doch sind diese in der Minderheit. Die meisten Vielseher präferieren und nutzen ganz bestimmte Genremenüs – genauso wie Zuschauer mit einer geringeren Fernsehnutzungsdauer (vgl. z.B. Peterson et al., 1986; Weimann et al., 1992).
5.1.2
Selektivität und Kultivierung: Operationalisierung
Oben wurde bereits ausführlich diskutiert, warum es vor diesem Hintergrund angemessen ist, Kultivierungseffekte auf einer spezifischeren Ebene zu messen als der allgemeinen Fernsehnutzung. Es wurde auch gezeigt, dass das Gros der Kultivierungsstudien, die genrespezifische Kultivierungseffekte untersuchten, belegt, dass die Genrenutzung die Realitätswahrnehmung der Zuschauer besser erklärt als die allgemeine Fernsehnutzung (vgl. Kapitel 4.1.2). Deshalb soll auf diese Frage nicht erneut eingegangen werden.
5.1.2.1
Operationalisierung der Genrenutzung
Bisher ungeklärt blieb jedoch das Problem, wie die Genrenutzung angemessen operationalisiert werden kann. In der Regel fragen Kultivierungsstudien bei der Erhebung der Genrenutzung nach Nutzungshäufigkeit oder Nutzungsdauer. Einige fragen auch nach der Anzahl gesehener Sendungen eines Genres pro Woche (z.B. Chory-Assad & Tamborini, 2003) oder pro Monat (z.B. Nisbet et al., 2002) oder fragen die gesehenen Sendungen eines Genres explizit offen ab (z.B. Fujioka, 1999). Bisweilen wird die Genre- oder Sendungsnutzung auch aus Tagebuchdaten errechnet (Hawkins & Pingree, 1980; 1981a). Fast nie wird die Genrenutzung jedoch auf die Gesamtfernsehnutzung oder die Nutzung anderer Genres bezogen. Es ist jedoch denkbar, dass es nicht nur die explizite Nutzung eines Genres ist, welche die Realitätswahrnehmung beeinflusst; diese wird von Dauer, Anzahl und Häufigkeit der Nutzung anderer Genres möglicherweise mit beeinflusst.
162
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Dies illustrierten Potter und Chang (1990: S. 317) wie folgt: Angenommen, Person A sieht 30 Stunden pro Woche fern, davon zehn Stunden Krimisendungen (der Anteil von Krimisendungen an der Gesamtfernsehnutzung liegt bei 33 Prozent); Person B sieht zehn Stunden pro Woche fern, davon acht Stunden Krimisendungen (Genreanteil: 80 Prozent). Die Kultivierungshypothese würde klassischerweise davon ausgehen, dass Person A stärker kultiviert wird, da sie mehr mit Krimisendungen konfrontiert wird als Person B. Allerdings nutzt Person A zu einem größeren Teil (20 Stunden) andere Genres, deren Botschaften möglicherweise konträr zu Krimisendungen sind. Diese könnten dann einen inhibierenden Einfluss auf verbrechensbezogene Kultivierungseffekte haben und Person B könnte stärker kultiviert werden. Vor diesem Hintergrund haben Potter und Chang (1990) den Einfluss vier verschiedener Genrenutzungsmaße auf die Realitätswahrnehmung geprüft. Als abhängige Variablen dienten Einschätzungen von verbrechensbezogenen Zahlen, Scheidungsraten und Anteilen berufstätiger Frauen. Indikatoren für Kultivierungseffekte zweiter Ordnung waren Einstellungen zur Bestrafung von Verbrechen, zu Beziehungen und zur Berufstätigkeit von Frauen. Bei den Genrenutzungsmaßen handelte es sich um Folgende: (1) (2) (3) (4)
Klassische Genrenutzung: Nutzungsdauer von Fernsehgenres pro Woche Genrenutzung unter Kontrolle des Einflusses der allgemeinen Fernsehnutzung Genreanteil: Nutzungsdauer eines Genres geteilt durch die Nutzungsdauer aller Genres Gewichteter Genreanteil: Genreanteil multipliziert mit der Gesamtfernsehnutzung41
Mit Partialkorrelationen und hierarchischen Regressionen wurde nun geprüft, welches Fernsehnutzungsmaß die beste Erklärungskraft besitzt. Zunächst zeigte sich erneut, dass die allgemeine Fernsehnutzung eindeutig der schlechteste Prädiktor für die Realitätswahrnehmung der Rezipienten ist. Die Zusammenhänge mit den verschiedenen Genrenutzungsmaßen waren durchweg stärker, wobei die Genreanteile die stärkste Erklärungskraft besaßen. Dies galt jedoch lediglich auf Basis der Partialkorrelationen, die nur die soziodemographischen Merkmale kontrollierten. Nach verschiedenen hierarchischen Regressionen (unter Kontrolle von Soziodemographie, allgemeiner Fernsehnutzung und den jeweils anderen Nutzungsmaßen) war das Bild weniger klar. Erneut zeigte sich zwar, dass die allgemei41
Hintergrund dieses Maßes ist folgende Überlegung: Zwei Zuschauer, deren Genreanteil von Krimisendungen bspw. bei 50 Prozent liegt, können diese aufgrund einer unterschiedlichen Fernsehnutzungsdauer dennoch unterschiedlich oft sehen. Sieht ein Zuschauer wöchentlich 40 Stunden fern, so bedeutet ein Genreanteil von 50 Prozent 20 Stunden, bei einer wöchentlichen Nutzungsdauer von vier Stunden, sind dies hingegen nur zwei (Potter & Chang, 1990: S. 317).
5.1 Selektion
163
ne Fernsehnutzung am wenigsten Erklärungskraft besitzt. Auch trugen die gewichteten Genreanteile nur wenig zur Erklärung der Realitätswahrnehmung bei. Der Vergleich zwischen Genrenutzung, kontrollierter Genrenutzung und Genreanteilen brachte jedoch keine eindeutigen Unterschiede. Die drei Nutzungsmaße waren in ihrem Erklärungsbeitrag etwa gleich. Die Frage, ob Genreanteile mehr dazu beitragen, die Realitätswahrnehmung der Zuschauer zu erklären, musste auf dieser Basis also noch offen bleiben. Eine der wenigen Studien, die ebenfalls Genreanteile als Fernsehnutzungsmaße heranzog, stammt von Woo und Dominick (2001). Sie untersuchten den Einfluss von Daily Talks auf die Wahrnehmung von zwischenmenschlichen Beziehungen und die Einschätzung der Häufigkeiten verschiedener ‚unerwünschter’ Verhaltensweisen oder Ereignisse (z.B. Untreue, Schwangerschaft von Jugendlichen, vorehelicher Sex). Stichprobe waren amerikanische und internationale Studierende einer US-amerikanischen Universität. Die Autoren verglichen den Einfluss zweier Genrenutzungsmaße: Nutzungshäufigkeit von Talkshows pro Woche und Anteil der Talkshownutzung an der gesamten Fernsehnutzungsdauer (hier: „viewing dominance“, ebd.: S. 603). In Regressionsanalysen wurde (unter Kontrolle der Soziodemographie) der Erklärungsbeitrag aller drei Nutzungsmaße untersucht. Auch hier waren die Ergebnisse nicht eindeutig: Bei den amerikanischen Studierenden trug die Nutzungshäufigkeit von Talkshows am meisten zur Erklärung bei (signifikanter Beitrag für alle abhängigen Variablen), während bei allgemeiner Fernsehnutzung und Genreanteil jeweils nur zwei von 13 Zusammenhängen signifikant waren. Bei den internationalen Studierenden kehrten sich die Verhältnisse um: Hier waren die Zusammenhänge mit Genreanteil und allgemeiner Fernsehnutzung am stärksten. Möglicherweise lag dies daran, dass die Genreanteile bei den internationalen Studierenden generell höher waren als bei amerikanischen. Die durchschnittliche Nutzungshäufigkeit von Talkshows war in beiden Stichproben gleich, doch sahen die jungen Amerikaner über die Talkshows hinaus deutlich mehr fern. Auch auf Basis dieser Befunde bleibt somit noch unklar, welches Genrenutzungsmaß sich am besten eignet. Dennoch sollte man den Hinweisen aus den beiden Studien nachgehen, die darauf hindeuten, dass die Genreanteile zumindest teilweise mehr erklären können als die bloße Nutzungshäufigkeit oder -dauer von Genres. Zukünftige Kultivierungsstudien sollten daher beide Maße weiterverfolgen.
164 5.1.2.2
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Metabotschaften und Genremenüs
Um in der oben begonnenen Argumentation zur Identifikation von Metabotschaften zu bleiben, muss man bei der Operationalisierung der Genrenutzung jedoch einen Schritt weitergehen. Operationalisiert man die Genrenutzung wie eben beschrieben, so wird man – egal, ob Nutzungshäufigkeiten oder Nutzungsanteile bemüht werden – nie ein vollständiges Bild der Zusammenhänge erhalten können. In Anbetracht der oben diskutierten Metabotschaften und ihrer methodischen Umsetzung bleibt die Erfassung der Fernsehnutzung über einzelne Genres in der Regel unzulänglich. Freilich sind sie dann das richtige Maß, wenn es darum geht, den Einfluss von Botschaften zu ermitteln, die ausschließlich in einem bestimmten Genre vorkommen. Gilt es jedoch, Metabotschaften einer höheren Ebene zu erfassen, die über mehrere Genres vermittelt werden, so kann die Nutzung einzelner Genres immer nur einen Teil des Ganzen erfassen. Schließlich präferieren und nutzen die Zuschauer selbst nur selten ein Genre oder gar nur einen bestimmten Sender. Vielmehr stellen sie vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Präferenzen ihre eigenen Genremenüs zusammen (vgl. z.B. Hasebrink & Krotz, 1993). Frühs (2002) Forderung nach einer „sinnhaften Komplexion von Variablen“ kann hier erneut fruchtbar gemacht werden. Nicht nur im Zusammenhang mit den Botschaften selbst, sondern auch im Zusammenhang mit der Rezeption dieser Botschaften geht es darum, die beteiligten Variablen (hier Genres oder Sendungen) nicht einzeln zu betrachten, sondern zu einem größeren Ganzen zu gruppieren. Die Erfassung der Genrenutzung über Genreanteile (vgl. Potter & Chang, 1990; Woo & Dominick, 2001), die zumindest sehr grob die Nutzung anderer Fernsehangebote mit abbilden, kommt an diese Forderung schon näher heran als die separate Erfassung einzelner Genres. Die Fernsehnutzung, die über die direkt abgefragten Genres hinausgeht, wird jedoch in Genreanteilen nur sehr ungenau abgebildet. Inhaltlich lässt sich über die übrige Fernsehnutzung nichts aussagen. Vlasic (2004) schlägt im Zusammenhang mit der Operationalisierung der Mediennutzung für die Untersuchung der Integration durch Massenmedien vor, die Mediennutzung über Medienmenüs zu erfassen. Analog lässt sich für die Kultivierung argumentieren, dass es Fernsehnutzungsmenüs sind, die sich zur Erfassung der Fernsehnutzung eignen. Wie zahlreiche Studien zeigten, nutzen die Zuschauer bestimmte Genres häufiger, andere nur selten. Diese Präferenzen bleiben in der Regel über eine längere Zeit hinweg stabil (vgl. z.B. Brosius, Wober & Weimann, 1992). Sie ändern sich allenfalls beim Übergang in eine neue Lebensphase (Berufsleben, Familiengründung, Ruhestand), die das Freizeitbudget und somit auch Fernsehnutzungszeiten
5.1 Selektion
165
und Präferenzen verändern (Karnowski, 2003). Präferenzen und Fernsehnutzungsverhalten lassen sich daher gut in Genremenüs abbilden. Für die konkrete Umsetzung ist es also notwendig, nicht nur die Nutzung einzelner Genres zu erfassen, sondern das gesamte Genrespektrum. So einfach das zunächst klingen mag – bereits hier steht der Forscher wieder vor einer Frage: Wie lassen sich die Genres sinnvoll kategorisieren? Dies hängt wieder vom Aggregierungsniveau der Studie ab. Geht es um die Erfassung von Botschaften auf einem hochdifferenzierten Niveau, etwa Genreebene, so lässt sich dieses freilich sehr genau, über die Nutzung einschlägiger Sendungen erfassen. Wenn die Fernsehnutzung jedoch auf einem sehr hohen Aggregierungsniveau erfasst werden soll, um den Einfluss von Metabotschaften des Fernsehens generell zu messen, so stellt sich die Frage nach einer geeigneten Genreklassifikation. Wie einige Inhaltsanalysen zur Analyse der Genrevielfalt des Fernsehens gezeigt haben, beeinflusst die Klassifikationsart von Genres die Befunde sehr deutlich (vgl. Rossmann et al., 2003). Ebenso wird die Genreeinteilung das Antwortverhalten der Zuschauer beeinflussen. Brosius und Zubayr (1996) verwendeten in ihrer Vielfaltstudie neben einer klassischen programmorientierten Kategorisierung eine rezipientenorientierte Klassifikation, die aus einer Studie der MediaGruppe München (1994) hervorgegangen war. Sie hatte die durch Zuschauer wahrgenommenen Ähnlichkeiten zwischen 123 Sendungen ermittelt und so eine zuschauerorientierte Klassifikation erstellt.42 Diese wich deutlich von gemeinhin verwendeten Klassifikationen ab: So wurden etwa Spielfilme, Serien und Kindersendungen, aber auch Heimat- und Erotiksendungen als eigenständige Genres wahrgenommen. Vorteil dieser Klassifikation ist die Tatsache, dass sie die Nutzung der Zuschauer besser abbildet, als die von Programmmachern oder Forschern entwickelten Kategorisierungen, die oft an der Wahrnehmung der Zuschauer vorbeigehen. Ähnliches gilt für die Identifikation der Fernsehbotschaften. Nur die Verbindung mit der Rezipientenwahrnehmung ergibt ein vollständiges Bild. Nun ist die oben beschriebene Studie, auf der die dargestellte rezipientenorientierte Klassifikation beruht, recht veraltet. Reality-Formate gab es noch nicht, Casting-Sendungen fehlten, stattdessen waren Daily Talks gerade auf dem Vormarsch, die heute nach und nach wieder in der Versenkung verschwinden. Aktuelle Untersuchungen der Genrewahrnehmung sind rar. Hoffmann (2003) wandte ein 42
Im Rahmen eines sogenannten Image-Kongruenz-Tests wurden 400 Personen zwischen 14 und 49 Jahren gebeten, aus 123 Sendungen, die in ARD, ZDF, RTL, Sat.1, ProSieben und Kabel1 ausgestrahlt worden waren und eine Reichweite von mindestens einem Prozent hatten, diejenigen auszuwählen, die ihnen bekannt waren. In einem weiteren Schritt sollten sie diese Sendungen nach ihrer Ähnlichkeit in Gruppen aufteilen. Auf Basis dieser Ähnlichkeitsurteile wurde die rezipientenorientierte Klassifikation erstellt (MediaGruppe München, 1994).
166
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
ähnliches Verfahren zur Kategorisierung von gewaltspezifischen Fernsehgenres aus Zuschauersicht an. Umfassende Einteilungen über das gesamte Genrespektrum hinweg fehlen jedoch. Es wäre daher auch für Kultivierungsstudien sinnvoll, erneut eine solche Klassifikation zu erstellen. Nach angemessener Abfrage der Genrenutzung ließe sich diese nun zu einzelnen Genremenüs verdichten. Oben wurden bereits einige Studien beschrieben, die Rezipienten auf Basis ihrer Fernsehnutzungsmuster, beispielsweise Nutzungsdauer, Genrepräferenzen, Senderpräferenzen, typologisiert haben (vgl. z.B. Kliment, 1997: S. 415f.; Espe, Seiwert & Lang, 1985; Espe & Seiwert, 1986). Dies wäre auch hier ein angemessenes Verfahren. Etwa über Clusteranalysen, in die allgemeine Fernsehnutzung und Genrenutzung eingehen, ließen sich Zuschauertypen bilden, die über die reine Unterscheidung von generellen Viel- und Wenigsehern genauso hinausgeht wie über die Unterscheidung von Zuschauern, die ein bestimmtes Genre präferieren oder nicht. Und das würde dem bisherigen Manko von Kultivierungsstudien in beiden Richtungen gerecht: (1)
(2)
5.2 5.2.1
Selektivität und Genrepräferenzen der Zuschauer werden erfasst: Damit wird der Forderung nach einer Identifikation der Fernsehnutzung Rechnung getragen, die nicht nur die allgemeine Fernsehnutzung erfasst, sondern spezifische Präferenzen berücksichtigt. Gleichzeitig zollt diese Vorgehensweise der häufig von Gerbner und Kollegen geäußerten Kritik Tribut, dass die reine Abfrage der Genrenutzung den eigentlichen Grundgedanken der Kultivierungshypothese als Sozialisationsinstanz aushebelt. Die Erfassung von Genre- oder Fernsehnutzungsmenüs wahrt diesen Grundgedanken, indem sie die Genrenutzung nicht kleinteilig berücksichtigt, sondern zu übergreifenden Genremenüs verdichtet.
Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess Der Uses-and-Gratifications-Ansatz
Die Akzeptanz der Fernsehzuschauer als aktive Rezipienten äußerte sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit Nutzungsmustern und -typologien. Auch der Usesand-Gratifications-Ansatz begreift die Rezipienten als aktiv und fragt, aus welchen Gründen und mit welcher Motivation sie sich den Medien zuwenden (vgl. z.B. Blumler & Katz, 1974; Rosengren, 1974; Rosengren, Wenner & Palmgreen, 1985; im Überblick vgl. Rubin, 2002). Blumler beschrieb das Ziel des Uses-andGratifications-Ansatzes so (1979: S. 10):
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
167
„It sought to replace the image of the audience member as a passive victim, thought to be implicit in effective studies, with one person who could actively bend programmes, articles, films, and songs, to his own purposes. It rested on the assumption that interesting and important differences of orientation to mass media fare obtained between different audience members.”
5.2.1.1
Grundkonzept des Uses-and-Gratifications-Ansatzes
Katz, Blumler und Gurevitch (1974) formulierten die drei grundlegenden Fragen des Uses-and-Gratifications-Ansatzes: (1) Wie nutzen Rezipienten die Medien, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen? (2) Welche Nutzungsmotive liegen ihrem Nutzungsverhalten zugrunde? (3) Welche Konsequenzen ergeben sich aus Bedürfnissen, Motiven und Verhalten? Zunächst konzentrierte sich die Forschung primär auf die zweite Frage. Es ging also darum, die Bedürfnisse und Gratifikationen zu identifizieren, die dem Nutzungsverhalten zugrunde liegen. Die zentralen Bedürfnisse seien im Folgenden aufgeführt (vgl. Kunzcik & Zipfel, 2001: 345):
kognitive Bedürfnisse: Information, Wissenserweiterung, Orientierung, Umwelt-
kontrolle
affektive Bedürfnisse: Entspannung, Erholung, Ablenkung, Eskapismus, Suche
integrative Bedürfnisse: Empathie, Identifikation, Bestärkung von Werthaltungen,
Selbstfindung, Vermittlung oder Bestätigung von Verhaltensmodellen interaktive Bedürfnisse: Medieninhalte als Gesprächsstoff in der Anschlusskommunikation, parasoziale Interaktion
nach emotionaler Erregung
Nachdem Rosengren (1974), Katz und Kollegen (Katz et al., 1974) den Grundstein für den Uses-and-Gratifications-Ansatz gelegt hatten,43 wurden ihre Annahmen in zahllosen Studien und theoretischen Auseinandersetzungen untersucht, reflektiert und überarbeitet. Der aktuelle Forschungsstand lässt sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Rubin, 2002: S. 527f.):
43
Allerdings muss konstatiert werden, dass die Beschäftigung mit Nutzungsmotiven eine deutliche längere Tradition hat, die einige Jahrzehnte zurückreicht. So hatte sich Herta Herzog bereits in den 40er Jahren mit der Frage beschäftigt, welche Gratifikationen die Nutzung verschiedener Radiosendungen mit sich bringt. Dabei zeigte sich, dass die Nutzung der Hörfunk-Quizsendung „Professor Quiz“ Bedürfnisse nach sozialem Vergleich, nach Einstufung der eigenen Leistung, sportlichem Wettbewerb und Bildung befriedigte (Herzog, 1940). Radio-Seifenopern dagegen schienen eher emotionale Bedürfnisse anzusprechen wie die Erfüllung von Wunschvorstellungen, emotionale Entlastung und Rat für den Umgang mit Alltagsproblemen (vgl. Herzog, 1944).
168 (1)
(2)
(3)
(4)
(5)
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Auswahl und Nutzung von Medien sind zielgerichtet, zweckbestimmt und motivational. Die Rezipienten wählen Medien oder Medieninhalte bewusst aufgrund bestimmter Bedürfnisse und Motive aus. Es geht nicht darum, was die Medien mit Menschen machen, sondern was Menschen mit den Medien machen: Anstatt von den Medien bestimmt zu werden, selektieren und nutzen Rezipienten die Medien, um ihre Bedürfnisse und Motive zu befriedigen. Der Aktivitätsgrad des Publikums ist dabei keine Konstante, sondern variiert je nach Nutzungssituation. Das Mediennutzungsverhalten wird von zahlreichen sozialen und psychologischen Faktoren bestimmt, gefiltert und beeinflusst. Voreinstellungen, soziale Umwelt und interpersonale Interaktionen formen Erwartungen an Medien und Medieninhalte. Die Medien konkurrieren mit anderen Formen der Kommunikation oder funktionalen Alternativen wie interpersonale Kommunikation um Selektion, Aufmerksamkeit und Nutzung. Wie gut die Medien die Motive und Bedürfnisse befriedigen, ist von Individuum zu Individuum unterschiedlich und hängt von sozialen und psychologischen Umständen ab. In der Regel haben die Rezipienten mehr Einfluss auf diesen Prozess als die Medien. Dabei beeinflusst die Initiative der Rezipienten nicht nur ihre Nutzungsmuster, sondern auch die Konsequenzen ihrer Mediennutzung. Dadurch können die Medien die Rezipienten selbst, aber auch soziale, politische, kulturelle oder ökonomische Strukturen der Gesellschaft beeinflussen.
Die Begriffe Bedürfnis und Motiv sind eng miteinander verknüpft, bedeuten jedoch nicht dasselbe. Meyen (2005) grenzt die beiden Begriffe voneinander ab, indem er sie in eine zeitliche Abfolge bringt. Das Bedürfnis ist zuerst da. Es beschreibt ein allgemeines Mangelgefühl, welches uns in Handlungsbereitschaft versetzt. „Ein Motiv ist dann gewissermaßen ein gezieltes ‚Mangelgefühl’ – gerichtet auf einen bestimmten Zustand“ (ebd.: S. 18). Es setzt unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Handeln in Gang. Im Zusammenhang mit dem Einfluss von Nutzungsdeterminanten auf Kultivierungseffekte sind also weniger die Bedürfnisse als mehr die Nutzungsmotive von Bedeutung. Wie sich weiter unten zeigen wird, unterscheidet die Literatur der Uses-and-Gratifications-Forschung die Begriffe nur selten. Die für den Kultivierungsprozess entscheidenden Überlegungen der Usesand-Gratifications-Forschung (Nutzungsaktivität, Einfluss von Nutzungsmotiven auf Medienwirkungen) seien im Folgenden erläutert.
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
5.2.1.2
169
Das aktive Publikum
Das Konzept des aktiven Publikums spielt im Uses-and-Gratifications-Ansatz eine zentrale Rolle (Rubin, 1993). Allerdings wird der Begriff der Aktivität häufig recht vage gebraucht. Blumler (1979) machte einen ersten Schritt, um diesen genauer zu definieren und unterschied vier Dimensionen von Aktivität: (a) Nutzen: Gründe und Motivation für die Mediennutzung, (b) Intention: absichtsvolle und geplante Mediennutzung, (c) Selektivität: Auswahl des Kommunikationsmittel basierend auf früheren Interessen und Bedürfnissen und (d) Anfälligkeit für Medieneinflüsse: geringe Anfälligkeit bei hoher Aktivität. Windahl (1981) kritisierte das Verständnis des Publikums als „superrational and very selective“ (S. 176) Dennoch würde niemand leugnen, so Windahl (ebd.), dass Rezipienten mit einem gewissen Aktivitätsgrad existieren. Wie spätere Untersuchungen zeigten, ist beiden Sichtweisen in gewisser Weise Recht zu geben: Der Aktivitätsgrad variiert – von Rezipient zu Rezipient und bei jedem einzelnen Rezipienten. Die Rezipienten sind also nicht entweder aktiv oder passiv, sondern bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen aktiv und passiv. Entsprechend variiert der Medienkonsum und damit auch seine Folgen (Rubin, 1993; 2002).
5.2.1.3
Instrumentelle und ritualisierte Mediennutzung
Das aktive und selektive Publikum wurde häufig der früheren Annahme einer ritualisierten Fernsehnutzung gegenübergestellt. Die Uses-and-GratificationsForschung sah die Rezipienten als aktiv, während die Kultivierungsforschung sie als passiv, nonselektiv und ritualisiert auffasste (vgl. Rubin, 1984). Hawkins und Pingree (1981a) schlugen bereits zu Beginn der achtziger Jahre vor, die Auffassung aufzugeben, dass sich habitualisierte und selektive Nutzungstypen gegenseitig ausschließen. Sie gingen davon aus, dass beide Nutzungstypen existieren, diese aber unterschiedliche Programminhalte nutzen: In ihrer Kultivierungsstudie mit Kindern fanden sie heraus, dass die Nutzung von Abenteuersendungen und Cartoons nicht nur mit der Realitätswahrnehmung korrelierte, sondern auch mit der restlichen Fernsehnutzung. Diese Befunde deuten, so die Autoren, zunächst darauf hin, dass es die „allesfressenden Gewohnheiten der Vielseher sind“ (ebd.), die für die Zusammenhänge verantwortlich sind. Dennoch hing die Nutzung anderer Genres, z.B. Comedy- und Nachrichtensendungen, zwar mit der allgemeinen Fernsehnutzung zusammen, aber nicht mit der Realitätswahrnehmung. Habitualisierte Fernsehnutzung allein kann also die Kultivierungseffekte nicht erklären: „The evidence
170
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
presented here on selection and habit in viewing counters a ‚purely ritual’ overstatement of the cultural indicators assumption and provides a beginning toward evaluating the relative contributions of habit and selection.” (ebd.: S. 299) Auch Rubin untersuchte – unabhängig von Kultivierungseffekten – in mehreren Studien die Unterschiede zwischen aktiver und passiver Fernsehnutzung. In seiner Studie zur Nutzung der in den USA populären Reportagen-Reihe „60 Minutes“ identifizierte er zwei Zuschauertypen: Die einen sahen die Informationssendung eher selektiv und nicht zum Zeitvertreib, sahen generell relativ wenig fern, hatten aber eine hohe Affinität zur Sendung. Die Nutzung von „60 Minutes“ erfüllte für diese Zuschauer sowohl Unterhaltungs- als auch Informationsbedürfnisse. Die andere Gruppe sah generell viel fern, hatte eine geringere Affinität zur Sendung und nutzte diese ausschließlich, um das Informationsbedürfnis zu befriedigen und sich die Zeit zu vertreiben (Rubin, 1981a). Ein Jahr später veröffentlichten Rubin und Rubin (1982) eine Studie zu den Nutzungsmotiven älterer Zuschauer und zeigten ebenfalls, dass habitualisierte und selektive Nutzer unterschiedliche Nutzungsmuster und Motivprofile haben: (1) Habitualisierte Nutzer haben eine hohe Bindung zum Fernsehen und sehen sehr viel fern, etwa, um sich die Zeit zu vertreiben, nicht allein zu sein, sich zu entspannen und der Realität zu entfliehen; (2) Selektive Nutzer sehen fern, um sich zu informieren, und nutzen hauptsächlich Nachrichten, Talkshows und Magazinsendungen. Diese Nutzertypen konnte Rubin (1983) in einer dritten Studie bestätigen (für einen Überblick über die Studien vgl. Rubin, 1984: S. 68f.). Eine vierte Studie des Autoren untersuchte schließlich erneut die Frage, ob sich Nutzertypen mit unterschiedlichem Selektivitäts- und Habitualisierungsgrad identifizieren lassen (Rubin, 1984). Er fragte 300 Amerikaner nach Fernsehnutzung und Nutzungsmotiven. Es zeigten sich erneut die zwei typischen Muster, habitualisierte und selektive Nutzung: (1) Ritualisierte Fernsehnutzung zeichnet sich durch habitualisierte und häufige Nutzung des Fernsehens aus und deutet auf eine hohe Bindung an das Fernsehen hin. (2) Instrumentelle Fernsehnutzung ist zweckbestimmt, selektiv und zielgerichtet, findet weniger häufig und ohne spezielle Bindung an das Fernsehen statt (Rubin, 1984: S. 75). In Bezug auf die Aktivität des Publikums schließt Rubin (1984: S. 76): Ritualisierte Fernsehnutzung drückt sich durch motivbedingte Fernsehnutzung, aber geringe Intentionalität und Selektivität aus, instrumentelle Fernsehnutzung umfasst sowohl motivbedingte Fernsehnutzung als auch Intentionalität und Selektivität. Allerdings ist Aktivität nicht eindeutig dichotom: Genauso wie Rezipienten nicht immer das gleiche Aktivitätsniveau aufweisen, sind sie nicht grundsätzlich ritualisierte oder instrumentalisierte Nutzer, sondern ändern ihr Verhalten zeit- und situationsbedingt (ebd.).
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
171
Auch Levy und Windahl (1984) lieferten Hinweise auf die Zusammenhänge zwischen unterschiedlich aktiver Fernsehnutzung und Programmpräferenzen. So zeigten sie, dass Intention und Unterhaltungsmotivation nur schwach zusammenhängen, während die Suche nach Information mit einem hohen Grad an Intentionalität einhergeht. Offenbar werden Nachrichtensendungen von Zuschauern aktiv ausgewählt, die sich informieren wollen, wohingegen Unterhaltungssendungen weniger aktiv von jenen rezipiert werden, die Zerstreuung suchen. Zahlreiche weitere Studien haben sich mit dem unterschiedlichen und variierenden Aktivitätsgrad von Zuschauern befasst und die oben beschriebenen Befunde repliziert (vgl. z.B. Levy & Windahl, 1985; Rubin & Perse, 1987a; 1987b). Ritualisierte und instrumentelle Fernsehnutzung lassen sich den Forschungsstand zusammenfassend so definieren (vgl. Rubin, 2002: S. 535):
Ritualisierte Nutzung drückt sich darin aus, dass ein Medium habitualisiert genutzt wird, zum Zeitvertreib oder zur Zerstreuung. Ritualisierte Nutzung ist somit zwar motiviert, aber eher passiv und wenig zielgerichtet.
Instrumentelle Nutzung ist die zielgerichtete Suche nach bestimmten Medieninhalten, um sich zu informieren. Sie drückt sich in einer stärkeren Nutzung von Nachrichten und informierenden Inhalten aus, die als realistisch wahrgenommen werden. Somit ist instrumentelle Nutzung aktiv und zielgerichtet und impliziert Motivation, Intention und Selektivität.
5.2.1.4
Der Uses-and-Effects-Ansatz
Nutzungsmotive, Aktivität, ritualisierte und instrumentelle Fernsehnutzungsmuster sind nicht nur für Fernsehnutzung und Auswahl von Programminhalten von Bedeutung, sie dürften auch Medienwirkungen determinieren. So vermutete Blumler (1979: S. 19), dass das Bedürfnis nach Unterhaltung, Langeweile und Eskapismus Kultivierungseffekte verstärkt: „Media consumption for purposes of diversion and escape will favour audience acceptance of perceptions of social situations in line with portrayals frequently found in entertainment materials.“ Das Bedürfnis nach Ablenkung und Unterhaltung verhindere, so seine Annahme, eine aktive und bewusste kognitive Reflektion der Inhalte. Damit werde eine unkritische Aufnahme der Medieninhalte in die eigenen Ansichten der Zuschauer gefördert: „when a person’s perceptual guard has been lowered, he will be more open to influence by the frames of reference embedded in the materials he has been attending.“ (ebd.) Der oben dargestellten Kultivierungsstudie von Hawkins und Pingree (1981a) liegt ein ähnlicher Gedanke zugrunde. Auch sie gingen davon aus, dass
172
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Selektivität und Rezeptionshaltung Kultivierungseffekte beeinflussen: entweder als Drittvariablen, d.h. Nutzungsmotive beeinflussen die Realitätswahrnehmung direkt, oder als Interaktionsvariablen, d.h. Nutzungsmotive und Selektion bedingen unterschiedliche Aufmerksamkeit und damit unterschiedliche Einflüsse von Medieninhalten: „Thus, selecting cartoons may reflect close attention to them rather than habitual viewing and minimal attention, so that the violence of the cartoons is more likely to be retained and used in constructing social reality. Or, selecting serial drama may reflect a preference for the different (and arguably more realistic) symbolic messages of drama based on beliefs in a less violent and mean world.” (Hawkins & Pringree, 1981a: S. 300)
Auch Windahl (1981) beschäftigte sich sehr früh mit der Frage, wie Nutzungsmotive und Medienwirkungen zusammenhängen. Er entwickelte ein Modell, welches beide Seiten verknüpft: das Uses-and-Effects-Modell (vgl. Abbildung 19).
Abbildung 19: Uses and Effects-Modell GESELLSCHAFT Kommunikator: intra- und extra-individuelle Eigenschaften wie Bedürfnisse, Interessen, gesellschaftliche Verbindungen, etc. Wahrnehmung alternativer Botschaften, Medien und des Publikums
Kommunikator: Wahl von Botschaft, Form und Inhalt, Publikum und Medium
Rezipient: intra- und extraindividuelle Eigenschaften wie Bedürfnisse und Interessen
Zugang, Wahrnehmung, Erwartungen an Kommunikator, Medien und Medieninhalte
Entscheidung, funktionale Alternativen zu nutzen
Eigenschaften von Medien und Inhalten
Eigenschaften von Medien und Inhalten
Entscheidung, Medieninhalte zu nutzen
Mediennutzung des Rezipienten 1: genutzte Menge (z.B. Fernsehnutzungsdauer) 2: genutzte Inhalte (z.B. Genres) 3: Bezug zu Inhalten (z.B. Identifikation)
EINFLÜSSE AUF INDIVIDUALEBENE „Effects“: Primär verursacht durch Eigenschaften der Medien und Medieninhalte
„Consequences“: Primär verursacht durch die Mediennutzung
„Conseffects“: Mehr oder weniger simultan verursacht durch Medieninhalte und Mediennutzung
EINFLÜSSE AUF ANDEREN EBENEN (z.B. Gesellschaft)
Quelle: Windahl (1981: S. 183)
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
173
Von der bisherigen Uses-and-Gratifications-Forschung grenzte er sich insofern ab, als er Bedürfnissen und Mediennutzung ebensoviel Bedeutung beimaß wie Kommunikator und medialer Botschaft. Er unterschied dabei drei Wirkungsarten. „The traditional effects researcher may be more interested in behavioral and attitudinal change. His fellow colleague, working within the gratifications approach, directs his attention to the question of whether a sought gratification is obtained or not or if an audience becomes dependent on a special medium.” (S. 177)
Letztere bezeichnete Windahl (1981) als consequences. Diese beschreiben die Folgen des Medienkonsums, also die Befriedigung von Bedürfnissen durch die Mediennutzung, die Entstehung einer Abhängigkeit von einem Medium oder die Herausbildung von Wissensklüften. Der Begriff effects steht hingegen für Effekte, die primär durch die Medien, ihre Inhalte oder Botschaftsmerkmale verursacht werden, also etwa Einflüsse auf Wahrnehmung und Einstellungen. Um conseffects handelt es sich nach Windahl (1981), wenn Einflüsse von Medieninhalten (Effekte) und Einflüsse der Mediennutzung (Folgen) mehr oder weniger simultan ablaufen und zum selben Ergebnis führen. Diese treten beispielsweise durch die Rezeption von Bildungssendungen auf: Auf der einen Seite ermutigen sie Rezipienten zum Lernen (Folge der Sendungsnutzung), auf der anderen Seite liefern sie spezifische Inhalte, die gelernt werden (Effekt der Sendungsnutzung). Windahls (1981) Verständnis der Mediennutzung selbst war vom Blickpunkt der damaligen Zeit betrachtet recht fortschrittlich. So forderte er, dass neben der generellen Mediennutzung (z.B. allgemeine Fernsehnutzung) und der Nutzung spezifischer Medieninhalte (z.B. Genrenutzung) auch der Bezug von Rezipienten zu den Medieninhalten (z.B. Identifikation) erfasst wird: „A given amount of ‚use’ of violent drama looked at by someone strongly identifying with the aggressors of the plays is probably more likely to result in an overt aggression than the same amount of use without the relation in question.“ (ebd.: S. 180; vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.2) In Bezug auf die Auswirkung des Aktivitätsgrades auf Medieneffekte folgte Windahl (1981: S. 181) auf der einen Seite den Ausführungen von Blumler (1979) und prognostizierte stärkere Effekte durch ritualisierte Mediennutzung: Mediennutzung aus eskapistischen Motiven und zur Zerstreuung dürften den Einfluss der Medien verstärken, weil die Rezipienten weniger aufmerksam sind und somit leichter überzeugt und beeinflusst werden können. Auf der anderen Seite ist es nach Windahl (1981) auch denkbar, dass die instrumentelle Mediennutzung einen verstärkenden Einfluss auf Medienwirkungen hat, weil sie mit größerer Motivation und höherem Involvement (siehe Kapitel 5.5) einhergeht: Involvement impliziert
174
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
eine Bereitschaft zu selektieren, zu interpretieren und auf Botschaften zu reagieren, wobei häufig jene Botschaften ausgewählt werden, die den eigenen Ansichten und Werten entsprechen. Dies kann letztlich einen Verstärkereffekt auslösen. Auch Rubin (1993) stellte die Sichtweise in Frage, dass lediglich passive Rezipienten für Medienwirkungen anfällig sind. Seiner Ansicht nach beeinflussen die Medien passive Rezipienten zwar stärker, jedoch können aktive Rezipienten ebenfalls beeinflusst werden. Die Einflüsse fallen in diesem Fall lediglich schwächer aus, weil die aktiven Rezipienten rational darüber entscheiden, ob sie eine Botschaft akzeptieren oder zurückweisen (vgl. auch Rubin, 2002). In welche Richtung der Einfluss von Motiven, ritualisierter oder instrumenteller Mediennutzung auch gehen mag, festzuhalten bleibt, dass die Rezeptionshaltung Medienwirkungen zu beeinflussen scheint. Dieser Tatsache waren sich einige Forscher bereits in den achtziger Jahren bewusst. In der Folge haben sich auch Kultivierungsforscher mit der Frage beschäftigt, ob und wie die Rezeptionshaltung Kultivierungseffekte beeinflusst. Darauf geht der folgende Abschnitt ein.
5.2.2
Nutzungsmotive und Kultivierung
Korzenny und Neuendorf (1980) waren wohl die ersten, die den Einfluss von Nutzungsmotiven auf die Realitätswahrnehmung untersuchten. Die Autoren zogen die Kultivierungshypothese zwar nicht als theoretische Grundlage heran, doch kann die Studie aufgrund ihrer Forschungsfragen und Operationalisierung durchaus als solche begriffen werden. Konkret wurde der Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung, der Genrenutzung und der Nutzungsmotivation auf die Wahrnehmung von Älteren und die Selbstwahrnehmung bei Menschen ab 60 Jahren untersucht. Einen Einfluss der Fernsehnutzung konnten die Autoren zwar nicht nachweisen, aber sie konnten Zusammenhänge der Nutzungsmotivation mit der Realitätswahrnehmung feststellen. Beide Motivdimensionen (Information und Eskapismus) hatten einen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung: Sowohl eine ausgeprägte Eskapismusneigung (also eher passive Fernsehnutzung) als auch ein erhöhtes Bedürfnis, sich aus dem Fernsehen zu informieren (also aktive Fernsehnutzung), führten wie es die Darstellung von Älteren im Fernsehen vermuten lässt, zu einer negativeren Selbstwahrnehmung. Auch Atkin, Greenberg & McDermott (1983) hatten in ihrer Studie zur Wahrnehmung von Afroamerikanern den Einfluss aktiver Fernsehnutzung geprüft. Sie fragten 316 Schüler nach ihrer Fernsehnutzung, Wahrnehmung von Afroamerikanern und Motivation, aus dem Fernsehen zu lernen. Die Studie bestätigte klassi-
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
175
sche Kultivierungseffekte, wonach Anteile von Afroamerikanern in bestimmten Bevölkerungsgruppen überschätzt wurden. Auch das Bedürfnis, aus dem Fernsehen zu lernen, führte dazu, dass die Schüler die Anzahl von Afroamerikanern höher einschätzten. Über den Einfluss aktiver Fernsehnutzung im Vergleich zu passiver lässt sich jedoch auf Basis dieser Studie nichts aussagen, da die Aktivität nur sehr eingeschränkt abgefragt worden war. Bonfadelli (1983) dürfte wohl der erste gewesen sein, der den Einfluss von Nutzungsmotiven explizit im Rahmen der Kultivierungshypothese untersucht hat. In seiner Studie zum Einfluss von allgemeiner Fernsehnutzung und Krimisendungs-Nutzung auf die Wahrnehmung von Verbrechen bezog er auch Nutzungsmotive (informationsorientierte Nutzung, Modelllernen oder selbstbezogenes Lernen, affektive und unterhaltungsbezogene Nutzung, Eskapismus, habituelles Fernsehen) mit ein. So konnte er die klassischen Kultivierungseffekte auch für Jugendliche aus der Schweiz bestätigen und fand zudem Einflüsse von Nutzungsmotiven. In Partialkorrelationen zwischen Nutzungsmotiven und Kultivierungsindikatoren stellte Bonfadelli (1983) fest, dass Nutzungsmotive die Realitätswahrnehmung sogar stärker beeinflussten als die Fernsehnutzung. In gruppierten Tests zur Analyse von Interaktionseffekten zeigten sich differenziertere Befunde: Informationsorientierung spielte demnach nur bei Wenigsehern eine verstärkende Rolle, Eskapismus und habituelle Nutzung verstärkten die Kultivierung nur bei Vielsehern, Modelllernen hatte bei beiden Nutzergruppen einen verstärkenden Effekt. Inzwischen lassen sich rund 20 Kultivierungsstudien zum Einfluss von Nutzungsmotivation und Nutzungsaktivität auf die Realitätswahrnehmung bzw. Kultivierungseffekte finden, weshalb es wenig sinnvoll ist, jede einzelne Studie vorzustellen. Tabelle 10 liefert einen tabellarischen Überblick. Dieser macht zweierlei deutlich: (1) Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen Nutzungsmotivation und Kultivierungseffekten. (2) In welche Richtung dieser Zusammenhang geht, d.h. ob eine hohe oder eher niedrige Aktivität die Kultivierungseffekte verstärkt, ist ob der divergierenden Befunde unklar. Betrachtet man den Einfluss der Nutzungsmotivation im Gesamtüberblick, so scheint kein eindeutiges Muster erkennbar. Möglicherweise lassen sich aber bestimmte Bedingungen festmachen, unter denen der Einfluss der Nutzungsmotivation in eine bestimmte Richtung geht. Diese sollen nun diskutiert werden.
176
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Tabelle 10: Einfluss aktiver und passiver Fernsehrezeption auf Kultivierungseffekte: chronologischer Forschungsüberblick Autoren (Jahr) Korzenny & Neuendorf (1980)
Thema
Messung der Nutzungsaktivität
Einfluss auf K1
Einfluss auf K2
Wahrnehmung von Älteren
Motive: Information, Eskapismus
-
A/P, P stärker (UV)
Atkin et al. (1983)*
Wahrnehmung von Schwarzen
Motiv: Fernsehnutzung, um zu lernen
A (UV)
k.E.
Bonfadelli (1983)*
Verbrechen
Motive: Information, Lernen, affektive Unterhaltung, Eskapismus, habituelle Nutzung
A bei WS, P bei VS (UV/IV)
A bei WS, P bei VS (UV/ IV)
Rouner (1984)*
Verbrechen
Aktivität: kognitiv, affektiv
-
P (UV)
Alexander (1985)*
Beziehungen
-
P (UV, IV)
Carveth & Alexander (1985)*
Berufe
P (IV)
-
Perse (1986)*
Berufe, Verbrechen, Scheidung, uneheliche Kinder
k.E. (UV) A (IV)
-
Rubin et al. (1988)*
prosoziale Einstellungen
-
A (UV)
Barth (1988)*
Verbrechen
Motive: Information, Entspannung, Realitätsvermittlung
k.E.
A/P (IV)
Potter (1991c)*
Berufe, Scheidung, Reichtum
Fähigkeit, Information zu verarbeiten; Informationssuche
Zusammenhang K1 und K2: A (IV)
Wahrnehmung von Westdeutschen Verbrechen, Scheidung, Berufe
Motive: Information/Lernen, habituelle Nutzung, Unterhaltung/Eskapismus
-
P (UV)
Nutzungsverhalten: Aufmerksamkeit, Intention
A (IV)
-
Nutzungsverhalten: Motive, Selektivität, Aufmerksamkeit, Involvement, Vermeidung, Ablenkung, Skeptizismus
A (UV/IV)
-
Kliment (1994)* Shrum (1996)* Kim & Rubin (1997)*
Verbrechen
Aktivität: Unterhaltung, Vermeidung (ritualisiert), Realität (instrumentell) Motive: Unterhaltung, Langeweile, Realitätserkundung, Eskapismus, Identifikation Motive: Aufregung, Gewohnheit, Information, Entspannung/Eskapismus, Voyeurismus, Affinität Nutzungsverhalten: Intention, Aufmerksamkeit, wahrgenommener Realitätsgrad
(Fortsetzung auf der nächsten Seite)
177
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
(Fortsetzung: Tabelle 10) Autoren (Jahr) Valkenburg & Patiwael (1998)
Thema
Verbrechen
Messung der Nutzungsaktivität Motive: Voyeurismus, Vermeidung von Langeweile, Entspannung, Information, Unterhaltung
Einfluss auf K1
Einfluss auf K2
-
A (UV)
Paus-Haase et al. (1999)
Beziehungen
Motive
-
P (UV)
Aubrey et al. (2003)*
Beziehungen (Sexualität)
Motiv: Fernsehen, um zu lernen
-
A (UV) k.E. (IV)
Schoenwald (2003)
Schönheitsoperationen
Motive, Involvement, Aufmerksamkeit
P (UV) A/ P (IV)
P (UV) A/ P (IV)
Thym (2003)
Verbrechen
Motive, wahrgenommener Realitätsgrad
A (UV) A bei WS (IV)
A (UV) A bei WS (IV)
Trapp (2004)
Beziehungen
Rezeptionshaltung: aktiv/instrumentell, passiv/ ritualisiert
A (UV)
A (UV)
Tiggemann (2005)
Körperwahrnehmung
Motive: Unterhaltung, Eskapismus, Lernen
-
A (UV)
Anmerkung:
5.2.2.1
K1 = Kultivierung erster Ordnung, K2 = Kultivierung zweiter Ordnung, A = stärkerer Einfluss aktiver Fernsehrezeption, P = stärkerer Einfluss passiver Fernsehrezeption, k.E. = kein Einfluss, (UV) = Rezeptionshaltung als unabhängige Variable, (IV) = Rezeptionshaltung als intervenierende Variable (zwischen TV und Realitätswahrnehmung), - = nicht gemessen, * Studie in Metaanalyse
Thema bzw. Realitätsbereich
Zunächst ist es naheliegend anzunehmen, dass der Einfluss der Nutzungsmotivation themenbedingt ist. Die untersuchten Themen dürften für die Zuschauer unterschiedlich relevant sein und somit ein unterschiedliches Aktivitätsniveau erzeugen. Verbrechensbezogene Kultivierungsurteile haben beim Gros der Bevölkerung ein höheres Relevanzniveau als Schönheitsoperationen. Deshalb kann es sein, dass bei Ersteren eher eine instrumentelle Nutzungsaktivität Kultivierungseffekte verstärkt, bei Letzteren eine ritualisierte. Einzelne Studien stützen diese Vermutung: Schoenwald (2003) untersuchte den Einfluss von Nutzungsmotiven im Kontext der Wahrnehmung von Schönheitsoperationen. Ihre Befunde deuten
178
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
darauf hin, dass die Wahrnehmung von Schönheitsoperationen durch eine passive Rezeptionshaltung beeinflusst wird. Verbrechensbezogene Kultivierungsurteile werden nach den Befunden einiger Studien (Kim und Rubin, 1997; Valkenburg und Patiwael, 1998; Thym, 2003) dagegen eher durch aktive Rezeption verstärkt. Andere verbrechensbezogene Kultivierungsstudien deuteten jedoch auf einen verstärkenden Einfluss passiver Fernsehrezeption hin (Bonfadelli, 1983; Rouner, 1984). Diese Diskrepanz lässt sich auch innerhalb der anderen Realitätsbereiche feststellen: So sind bei jedem Thema Studien zu finden, die auf einen verstärkenden Einfluss instrumenteller Nutzung hindeuten, genauso wie solche, die einen verstärkenden Einfluss ritualisierter Nutzung feststellen. Auf Basis dieser Untersuchungen lässt sich somit keine Aussage darüber treffen, ob der Einfluss von aktiver oder passiver Rezeptionshaltung themenabhängig ist. Weiter unten wird der Einfluss des Themas bzw. der Themenbetroffenheit nochmals aufgegriffen, wenn es explizit um den Einfluss von Involvement auf Kultivierungseffekte geht (vgl. Kapitel 5.4). 5.2.2.2
Einschätzungen von Häufigkeiten vs. Einstellungen
In engem Zusammenhang mit dem Thema steht die Art der abgefragten Realitätsurteile. Auch hier sind unterschiedliche Einflüsse instrumenteller und ritualisierter Fernsehnutzung denkbar. Dabei lässt sich zweierlei vermuten: (1)
(2)
Es könnte sein, dass Kultivierungsurteile erster Ordnung (Einschätzungen von Häufigkeiten, Anteilen, Raten) für die Befragten eine geringere Relevanz besitzen als Kultivierungsurteile zweiter Ordnung (Einstellungen, Wertvorstellungen). Die Einschätzung von Häufigkeiten dürfte für die meisten wenig greifbar und somit wenig relevant sein. Außerdem dürften bei der Aneignung von Häufigkeiten durch das Fernsehen unbewusste Lerneffekte eine Rolle spielen (vgl. Kapitel 3). Dies könnte zur Folge haben, dass eher eine passive Rezeptionshaltung, bei der die Fernsehinhalte unbewusst aufgenommen werden, ohne sie zu bewerten oder zu hinterfragen, die Kultivierungsurteile erster Ordnung verstärkt. Umgekehrt ist auch denkbar, dass für Kultivierungsurteile erster Ordnung ein gewisser höherer Aktivitätsgrad notwendig ist. Die Einschätzung von Ereignishäufigkeiten dürfte für die Befragten eine ungewohnte Aufgabe darstellen, die sich im bewussten Lebensalltag selten – zumindest nicht bewusst – stellt. Somit wäre es denkbar, dass eine höhere Aufmerksamkeit und Aktivität erforderlich ist als bei der Herausbildung von Einstellungen – ein vergleichsweise alltäglicher, somit eventuell weniger aktivierender Mechanismus.
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
179
Tabelle 10 (s.o.) zeigt den Einfluss aktiver und passiver Nutzungsaktivität getrennt nach Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung. Sechs der insgesamt 20 Studien zum Einfluss der Nutzungsmotivation fragten Kultivierungsurteile erster und zweiter Ordnung ab. Nur bei zwei Studien war der Einfluss der Nutzungsmotivation unterschiedlich. Aktin et al. (1983) stellten einen Einfluss aktiver Fernsehnutzung auf die Kultivierungsurteile erster Ordnung fest, aber nicht auf Kultivierungsurteile zweiter Ordnung. Barth (1988) hingegen konnte einen Einfluss passiver und aktiver Nutzungsmotivation auf Kultivierungsurteile zweiter Ordnung, nicht aber erster Ordnung feststellen. Bei den vier anderen Studien fiel der Einfluss der Nutzungsaktivität bei Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung jeweils identisch aus (Bonfadelli, 1983; Thym, 2003; Schoenwald, 2003; Trapp, 2004). Auch bei den restlichen Studien lässt sich kein eindeutiges Muster erkennen. Tendenziell zeigt sich jedoch, dass der verstärkende Einfluss aktiver Rezeption bei Kultivierungsurteilen erster Ordnung klarer ausfällt als bei denen zweiter Ordnung. So deuteten vier von fünf Studien, die den Einfluss der Nutzungsmotivation auf Kultivierungseffekte erster Ordnung untersucht hatten, auf einen verstärkenden Einfluss instrumenteller Nutzungsaktivität hin. Studien zum Einfluss der Nutzungsaktivität auf Kultivierungsurteile zweiter Ordnung lieferten ein deutlich gemischteres Bild. Hier deuteten vier Studien auf einen verstärkenden Einfluss instrumenteller Nutzungsaktivität hin, vier auf einen verstärkenden Einfluss ritualisierter Nutzungsaktivität, bei einer waren die Befunde gemischt. Die bisherige Forschungslage stützt somit tendenziell die zweite Vermutung, wonach Kultivierungseffekte erster Ordnung durch eine aktive Nutzungsmotivation verstärkt werden – möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass das unbewusste Erlernen von Anteilen und Häufigkeiten aus dem Fernsehen einen gewissen Aktivitätsgrad erfordert, um Kultivierungseffekte hervorzubringen. Bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung bleiben die Befunde vor dem Hintergrund der bisherigen Studien weiterhin unklar.
5.2.2.3
Genre
Wie zahlreiche Studien zum Uses-and-Gratifications-Ansatz gezeigt haben, gehen unterschiedliche Nutzungsmotive und unterschiedliche Aktivitätsgrade auch mit einer unterschiedlichen Genrepräferenz einher (vgl. hierzu Kapitel 5.2.1). Eine instrumentelle Nutzungshaltung drückt sich etwa in einer stärkeren Nutzung von Nachrichten und anderen informierenden Inhalten aus, während eine ritualisierte Nutzungshaltung häufiger mit der Auswahl von Unterhaltungsangeboten korreliert.
180
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Es ist auch denkbar, dass der unterschiedliche Einfluss von Nutzungsmotiven auf die Realitätswahrnehmung genrebedingt ist. Die meisten Studien, die den Einfluss der Nutzungsmotivation berücksichtigten, untersuchten den Einfluss von Fernsehserien auf die Realitätswahrnehmung. Grundsätzlich ist bei Fernsehserien davon auszugehen, dass diese eher habituell und ritualisiert genutzt werden und somit mit einem tendenziell geringeren Aktivitätsniveau einhergehen. Dies scheint sich jedoch nicht in einem stärkeren Einfluss einer habitualisierten Nutzungshaltung auf die Realitätswahrnehmung niederzuschlagen. Nur zwei Studien deuten darauf hin, dass eine passive Seriennutzung Kultivierungseffekte verstärkt. Dem stehen fünf Studien gegenüber, die zeigen, dass eine aktive Nutzungshaltung Kultivierungseffekte verstärkt. Damit ist der Einfluss der Nutzungsaktivität bei Serien und anderen Genres recht ähnlich. Auch die vier Studien, die den Einfluss nonfiktionaler Genres auf die Realitätswahrnehmung untersucht haben, deuten größtenteils darauf hin, dass es eher eine aktive Rezeptionshaltung ist, welche die Kultivierungseffekte verstärkt. Somit ist nicht davon auszugehen, dass das Genre den Einfluss der Nutzungsaktivität bedingt.
5.2.2.4
Viel- und Wenigseher
Bonfadelli (1983) hatte im Rahmen seiner Kultivierungsstudie beobachtet, dass sich die Nutzungsmotivation bei Viel- und Wenigsehern unterschiedlich auf die Realitätswahrnehmung auswirkt. Während bei den Vielsehern eine passive Rezeptionshaltung die Kultivierungseffekte verstärkte, zeigte bei Wenigsehern eine aktive Rezeptionshaltung einen verstärkenden Effekt. Zum einen bestätigt dies die ursprüngliche Annahme, dass der klassische, für Kultivierung anfällige Vielseher das Fernsehen passiv und ritualisiert nutzt. Zum anderen zeigt dies aber auch, dass Kultivierungseffekte auch dann möglich sind, wenn jene, die seltener fernsehen, dies mit einem höheren Aufmerksamkeitsgrad tun, etwa, um sich zu informieren. Auch Thym (2003) fand in ihrer Studie zum Einfluss von Gerichtsshows Hinweise darauf, dass ein hoher Aufmerksamkeitsgrad bei niedriger Fernsehnutzung Kultivierungseffekte verstärken kann. Nachdem sie festgestellt hatte, dass die Kultivierungseffekte sich vor allem bei jenen Rezipienten zeigten, die Gerichtssendungen sahen, um sich zu informieren, ging sie einen Schritt weiter, um den Einfluss der Nutzungsmotivation differenzierter zu erfassen. Durch Clusteranalysen, die die Zuschauer auf Basis ihrer Fernsehnutzung, Nutzungsmotive und wahrgenommenen Realitätsnähe drei Typen von Gerichtsshownutzern zuordneten, konnte sie quasi Interaktionseffekte messen. Auffällig war dabei, dass die Orientie-
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
181
rungssuchenden, die Gerichtsshows weniger häufig als die anderen Typen nutzten, dies aber taten, um sich zu informieren, ein stärker verzerrtes Realitätsbild aufwiesen. Auch hier zeigte sich also, dass auch eine geringere Fernsehnutzung Kultivierungseffekte hervorbringen kann, wenn sie mit einer instrumentellen Nutzungshaltung einhergeht. Die Beobachtung, dass bei Vielsehern eher eine passive Nutzungsaktivität verstärkend auf Kultivierungseffekte wirkt, lässt sich auch in anderen Studien wiederfinden. Anders als Bonfadelli (1983) prüfte Rouner (1984) den Einfluss der Nutzungsaktivität nicht als intervenierende, sondern als unabhängige Variable, jedoch ausschließlich bei regelmäßigen Fernsehnutzern. Dabei zeigte sich, dass eine hohe kognitive Aktivität zu geringerem Misstrauen führte. Eine hohe kognitive Aktivität verminderte bei den regelmäßigen Fernsehnutzern also die Kultivierungseffekte. Auch Alexander (1985) und Carveth und Alexander (1985) stellten in ihren Studien fest, dass eine passive Nutzungshaltung (als intervenierende Variable) zusammen mit häufiger Seriennutzung die Kultivierungseffekte verstärkte. Jedoch lässt sich aus diesen Studien nicht zwangsläufig schließen, dass bei Vielsehern lediglich ein geringes Aktivitätsniveau Kultivierungseffekte hervorbringen kann. Zwar deuteten einige Studien auf diesen Zusammenhang hin, doch zeigten andere Studien, dass ein hoher Aktivitätsgrad auch bei intensiver Fernsehnutzung stärkere Kultivierungseffekte mit sich bringen kann. Dies belegen etwa die Befunde zur intervenierenden Wirkung der Nutzungsaktivität von Perse (1986), Barth (1988), Kim und Rubin (1997) und Schoenwald (2003). Während es also relativ konsistente Belege dafür gibt, dass ein hoher Aktivitätsgrad auch bei einem geringeren Fernsehkonsum Kultivierungseffekte hervorbringen kann, ist bei einem hohen Fernsehkonsum vor diesem Hintergrund beides denkbar: (1) Auch hier führt ein hoher Aktivitätsgrad zu einem stärkeren Einfluss der Fernsehnutzung, oder (2) bei intensivem Fernsehkonsum ist es eher die ritualisierte Fernsehnutzung, die Kultivierungseffekte verstärkt.
5.2.2.5
Nutzungsmotivation als intervenierende oder unabhängige Variable
An die interagierende Wirkung der Nutzungsmotivation mit der Fernsehnutzung schließt nahtlos eine weitere Frage an. Der Einfluss der Nutzungsmotivation wurde in den dargestellten Studien rechnerisch sehr unterschiedlich gehandhabt. Während einige den Interaktionseffekt zwischen Fernsehnutzung und Nutzungsmotivation untersuchten und die Nutzungsmotivation als intervenierende Variable zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung begriffen, untersuchten andere den
182
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Einfluss der Nutzungsmotivation unabhängig von der Fernsehnutzung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich im Vergleich zwischen diesen beiden Wegen systematische Unterschiede zeigen. Auch hier sind die Unterschiede jedoch nur marginal, wobei sich eine leichte Tendenz dahingehend erkennen lässt, dass die aktive Rezeption als unabhängige Variable eine größere Rolle spielt als als intervenierende Variable. So zeigte die Hälfte der Studien, die die Aktivität als unabhängige Variable betrachteten, dass ein höherer Aktivitätsgrad die Realitätswahrnehmung in der Richtung beeinflusste, wie durch die Fernsehdarstellung vermutet war. Als intervenierende Variable betrachtet waren es nur rund ein Drittel der Studien (vier von elf Studien) die zeigten, dass eine höhere Aktivität die Kultivierungseffekte verstärkte. Tendenziell bestätigt dies wieder die Vermutung, dass die Fernsehnutzung bei einem hohen Aktivitätsgrad eine geringere Rolle spielt. Es ist denkbar, dass allein das Bedürfnis ausreicht, sich aus dem Fernsehen informieren zu wollen, um Kultivierungseffekte hervorzubringen, auch wenn dann gar nicht so viel ferngesehen wird. In Verbindung mit einer hohen Fernsehnutzung bleibt vor diesem Hintergrund beides denkbar: eine verstärkende Wirkung von aktiver oder passiver Rezeption.
5.2.3
Zusammenfassung
Zusammenfassend muss man erkennen, dass eine Differenzierung der Einflüsse von Aktivität und Passivität nach Thema, Kultivierung erster und zweiter Ordnung, Genre, Viel- und Wenigsehern, unabhängige und intervenierende Variable nur wenig neuen Erkenntnisgewinn bringt. Weder Thema noch Genre scheinen für den Einfluss der Nutzungsmotivation einen Unterschied zu machen. Bei der Differenzierung nach Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung lässt sich eine leichte Tendenz dahingehend festmachen, dass eine aktive Rezeptionshaltung vor allem Kultivierungseffekte erster Ordnung verstärkt, während bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung sowohl eine passive als auch eine aktive Rezeptionshaltung verstärkend wirken kann. Ähnlich verhält es sich bei einer Differenzierung nach Viel- und Wenigsehern und wenn Nutzungsmotive als unabhängige oder intervenierende Variable betrachtet werden. Tendenziell deuten die Befunde hier darauf hin, dass bei einem hohen Aktivitätsgrad die Fernsehnutzung weniger entscheidend ist: So zeigte sich bei Betrachtung des Aktivitätsniveaus als unabhängige Einflussvariable, dass bei der Mehrheit der Studien ein hoher Aktivitätsgrad die Realitätswahrnehmung beeinflusste. In der Interaktion mit der Fernsehnutzung belegten manche Studien zudem, dass selbst ein niedriger Fernsehkonsum bei
5.2 Die Bedeutung von Nutzungsmotiven im Kultivierungsprozess
183
hohem Aktivitätsniveau Kultivierungseffekte hervorbringt. Weniger eindeutig fällt der Einfluss der Nutzungsmotivation bei Vielsehern aus: Hier deuten die Studien teils auf einen verstärkenden Einfluss instrumenteller Fernsehnutzung hin, teils auf einen verstärkenden Einfluss ritualisierter Fernsehnutzung. Betrachtet man zuletzt die Studien in chronologischer Reihenfolge (vgl. Tabelle 10, s.o.), so fällt eine weitere Tendenz auf. Es sind vor allem ältere Studien, die herausfanden, dass eine passive Rezeptionshaltung Kultivierungseffekte verstärkt. Bei Studien neueren Datums (etwa ab Ende der achtziger Jahre) gibt es nur noch vereinzelte Hinweise auf einen (zumindest alleinigen) Einfluss passiver Rezeption, wohingegen sich die Hinweise darauf mehren, dass eine aktive Rezeptionshaltung Kultivierungseffekte verstärkt. Möglicherweise hat diese Beobachtung mit einer generell veränderten Rezeptionsweise der Zuschauer zu tun. Durch das geringe Kanalangebot zu Beginn der achtziger Jahre waren die Zuschauer noch nicht gezwungen, aktiv und selektiv zu fernsehen. Es gab kaum Auswahlmöglichkeiten, weshalb sich – zumal bei Vielsehern – häufiger eine habituelle Fernsehnutzung eingestellt haben dürfte. Im Laufe der achtziger Jahre änderten sich diese Bedingungen und somit auch das Fernsehverhalten (vgl. hierzu auch Kapitel 5.1.1). Eine aktivere Nutzung, etwa durch höhere Selektivität und Aufmerksamkeit, setzte sich durch. Möglicherweise wirkt sich diese generell unterschiedliche Rezeptionshaltung auch darauf aus, welchen Einfluss die Rezeptionshaltung auf die Realitätswahrnehmung und andere mediale Einflüsse hat. Fasst man dies nun noch mal zusammen, so findet man insgesamt mehr (aktuelle) Belege dafür, dass eine aktive und instrumentelle Fernsehnutzung die Kultivierungseffekte verstärkt. Wie die differenzierten Betrachtungen oben zeigen, wirkt sich diese vor allem auf Kultivierungseffekte erster Ordnung aus. Dabei kann eine aktive Rezeptionshaltung die Realitätswahrnehmung auch unabhängig von der Fernsehnutzung bzw. bei einem geringen Fernsehkonsum beeinflussen. Bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung und Vielsehern ist es vor dem Hintergrund dieser Befunde denkbar, dass sowohl aktive als auch passive Fernsehnutzung verstärkend wirken. In gewisser Weise besitzt Rubins (1993) vor 13 Jahren getroffene Aussage immer noch Aktualität: „We need to examine elaborated models of media effects that consider social and psychological attributes, motivation, attitudes, behavior, and outcomes. Media effects don’t typically occur just from media exposure. All effects, though, are not the same. Some may follow a less instrumental path and be less contingent upon the influence of utility, intention, and selection. To date, we have just touched the surface on understanding the role and outcomes of mediated communication for individuals and societies.” (Rubin, 1993: S. 103)
184 5.3
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Parasoziale Interaktion und Parasoziale Beziehungen
Im Folgenden seien weitere Indikatoren der Rezeptionshaltung vorgestellt, die Kultivierungseffekte beeinflussen können. Bisweilen wurden diese oben bereits erwähnt. Sie sollen nun nochmals genauer behandelt werden. Zunächst geht es um den Einfluss von parasozialen Interaktionen und Beziehungen.
5.3.1
Grundkonzept
Das Konzept wurde bereits in den fünfziger Jahren geprägt. Horton und Wohl (1956) und Horton und Strauss (1957) gingen davon aus, dass die Zuschauer während der Fernsehrezeption mit den Akteuren in eine gewisse Interaktion treten. Das Fernsehen vermittelt, so die Annahme, die Illusion einer Face-to-FaceInteraktion zwischen Zuschauern und Fernsehakteuren. Entscheidend ist dabei, dass es sich aufgrund der fehlenden Reziprozität lediglich um die Illusion einer Interaktion handelt. Die Fernsehakteure können nicht auf die Zuschauer reagieren, die Zuschauer können es, ihre Reaktionen erreichen die Fernsehakteure aber nicht, sie „prallen gewissermaßen an der Mattscheibe ab“ (Schramm et al., 2002: S. 438). Schramm et al. (2002: S. 439) beschreiben dieses Phänomen daher als „asymmetrische Interaktionsform“, die zwar einige, jedoch nicht alle Komponenten einer Face-to-Face-Interaktion aufweist. Seit ihrer Prägung in den fünfziger Jahren wurden parasoziale Interaktionen höchst unterschiedlich verstanden und eingesetzt (vgl. hierzu Schramm et al., 2002: S. 437). Sprechen manche von einer eigenständigen Theorie, so sehen andere darin ein Konzept der Fernsehrezeption. Häufig werden parasoziale Interaktionen auch als Gratifikation im Rahmen des Uses-and-Gratifications-Ansatzes verstanden (vgl. hierzu auch Kapitel 5.2.1): Wie andere Gratifikationen stellen auch parasoziale Interaktionen nach diesem Verständnis eine funktionale Alternative dar, in diesem Fall eine funktionale Alternative zu realen Interaktionen (vgl. z.B. Rosengren & Windahl, 1972; Rubin & Rubin, 1985). Andere wiederum sehen die parasoziale Interaktion als eine von mehreren Erklärungsvariablen für Nutzungsmotive. So stellten Conway und Rubin (1991) fest, dass ein höherer Grad an parasozialer Interaktion mit einer stärkeren Ausprägung der Motive Zeitvertreib, Unterhaltung, Information und Entspannung einhergeht. „This suggests that parasocial interaction is a salient component of viewing intention and selection.“ (ebd.: S. 458) Die frühen Aufsätze zur parasozialen Interaktion bezogen sich meist auf Personality-Shows, aber bald weitete sich die Forschung auf alle möglichen Fernseh-
5.3 Parasoziale Interaktion und Parasoziale Beziehungen
185
genres aus, vor allem auf fiktionale Angebote (vgl. Vorderer, 1998). Entsprechend erweiterte sich auch das Verständnis jener Fernsehakteure, mit denen Rezipienten in eine parasoziale Interaktion treten können, die sogenannten „Personae“. Waren es früher meist Nachrichtensprecher oder Moderatoren, die im Zentrum des Interesses standen, so ist sich die Forschung inzwischen darin einig, dass grundsätzlich alle im Fernsehen auftretenden Personen als Persona fungieren können (vgl. Kronewald, 2007).44 Darunter fallen neben Charakteren aus Serien oder Spielfilmen auch Politiker, Sportler, Musiker oder Trickfilmfiguren. Aufgrund der Verschiedenheit möglicher parasozialer Interaktionspartner legte Giles (2002) eine Kategorisierung vor, die parasoziale Interaktionen (PSI) in Interaktionen erster, zweiter und dritter Ordnung unterteilt: (1) First-Order-PSI beziehen sich auf Fernsehpersonen, die real existieren, sich im Fernsehen selbst repräsentieren und die Zuschauer direkt ansprechen. (2) Second-Order-PSI beziehen sich auf Fernsehcharaktere (z.B. Figuren einer Fernsehserie), sprich die dargestellten Rollen eines Schauspielers, die so in der Realität nicht existieren. (3) Third-Order-PSI beschreiben die mögliche Interaktion mit Phantasie- und Comicfiguren, die man in der Realität konsequenterweise gar nicht antreffen kann. In Bezug auf den Prozess oder die Dauerhaftigkeit herrscht weitgehend Einigkeit, dass parasoziale Interaktionen sich auf den Augenblick der Rezeption beziehen und damit eher von kurzer Dauer sind. Hartmann et al. (2004: S. 30) verstehen bereits die „Auseinandersetzung mit einer Persona nach der ersten Eindrucksbildung bzw. Wiedererkennung“ als parasoziale Interaktion. Vor diesem Hintergrund gehen die Autoren davon aus, dass bei Anwesenheit einer Persona „immer (irgendwie geartete) PSI-Prozesse ablaufen, man also mit einer ’anwesenden’ Persona nicht nicht parasozial interagieren kann.“ (ebd.; Hervorh. im Original) Davon abzugrenzen sind parasoziale Beziehungen, die zeitlich überdauernder sind und sich erst im Laufe der Zeit aus den parasozialen Interaktionen entwickeln (Gleich & Burst, 1996; Hartmann et al., 2004). Wenn es um die Illusion der Interaktion mit Nachrichtensprechern oder Moderatoren geht, so hat man es in der Regel eher mit parasozialen Interaktionen zu tun, während sich Untersuchungen über das Verhältnis von Rezipienten zu Serienfiguren, Talkmastern oder beliebten Schauspielern auf parasoziale Beziehungen konzentrieren (vgl. Vorderer, 1998). Während es sich anders ausgedrückt also bei der parasozialen Interaktion um ein rezeptionsgebundenes Phänomen handelt, lassen sich parasoziale Beziehungen als
44
Aktuelle Forschungsbefunde legen es nahe, dass Rezipienten auch mit den unterschiedlichsten Figuren aus anderen Medienangeboten parasozial interagieren können, z.B. mit Comicfiguren, Hörspielcharakteren oder Akteuren in Computerspielen (vgl. Schramm et al., 2002: S. 442).
186
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
„eine durch Gewohnheit, kognitive Operationen und Emotionen vermittelte situationsübergreifende Bindung“ (Krotz, 1996: S. 80) davon abgrenzen.
5.3.2
Parasoziale Interaktion und Kultivierung
In seinem Aufsatz über die Bedeutung des aktiven Publikums für die Mediennutzung thematisierte Rubin (1993) bereits den möglichen Einfluss von parasozialer Interaktion auf Kultivierungseffekte. Conway und Rubin (1991) hatten festgestellt, dass die parasoziale Interaktion ein wichtiger Faktor im Zusammenhang mit Nutzungsmotivation, Intentionalität und Selektivität ist. Daher vermutete Rubin (1993), dass parasoziale Interaktionen auch mediale Einflüsse determinieren könnten und stellte die Frage: „How does parasocial interacion affect media orientation and outcomes such as modeling and cultivation? Do, for example, parasocial interaction and identification lead to stronger cultivation and modeling effects?” (ebd.: S. 102) Auch 2002 formulierte Rubin nochmals die These, dass parasoziale Interaktionen Medienwirkungen beeinflussen: „As affective and emotional involvement, parasocial interaction affects media attitudes, behaviors, and expectations and should accentuate potential effects.” (Rubin, 2002: S. 541) Kim und Rubin (1997) fanden in einer Studie indirekte Hinweise darauf, dass parasoziale Interaktionen Kultivierungseffekte determinieren können. In ihrer Studie untersuchten die Autoren den Einfluss der Fernsehnutzung und verschiedener Aktivitätsindikatoren nicht nur auf die Realitätswahrnehmung, sondern auch auf das Ausmaß parasozialer Interaktion.45 In Pfadmodellen fanden sie heraus, dass einer hoher Grad an Involvement und selektiver Wahrnehmung Kultivierungseffekte und parasoziale Interaktion verstärkte: „Both selective perception and involvement positively influenced parasocial interaction and cultivation effects. By selectively perceiving portrayals in support of one's beliefs, and by focusing on and relating to the stories, viewers have greater empathy, attraction, and feelings of similarity with characters. They also accept messages that are consonant with their own beliefs, such as fearing violence.” (ebd.: S. 128)
Da beide Konstrukte als abhängige Variablen betrachtet wurden, werteten die Autoren keine Interaktionseffekte zwischen Kultivierung und parasozialen Interaktionen und Beziehungen aus. Doch die sehr ähnlich verlaufenden Prozesse führten 45
Operationalisiert wurden parasozialen Interaktionen über die Kurzversion der PSI-Skala von Rubin, Perse und Powell (1985; vgl. für die Kurzfassung Rubin & Perse, 1987a), weshalb streng genommen nicht nur parasoziale Interaktionen erfasst wurden, sondern auch parasoziale Beziehungen. Die mangelnde Trennschärfe der Skala wurde beispielsweise von Schramm et al. (2002: S. 440) kritisiert.
5.3 Parasoziale Interaktion und Parasoziale Beziehungen
187
zu der Vermutung, dass parasoziale Interaktion Kultivierungseffekte determiniert: „These results suggest the possibility that higher levels of parasocial interaction might lead to increased cultivation because of a reliance on social reality definitions shared by a favored personality.“ (ebd.) Einschlägige Untersuchungen zum Einfluss parasozialer Interaktion auf Kultivierungseffekte gibt es trotz dieser Hinweise kaum. Einige Studien, die nicht im Kontext der Kultivierungshypothese durchgeführt wurden, liefern jedoch weitere Hinweise auf den potenziellen Einfluss parasozialer Interaktion. So untersuchten Brown und Basil (1995) den Einfluss von emotionalem Involvement mit einer prominenten Person aus den Medien im Kontext von Gesundheitsbotschaften. Sie fanden heraus, dass das emotionale Involvement den Einfluss der Gesundheitsbotschaften verstärkte, so dass die Rezipienten die Gesundheitsbotschaften und die Folgen eines riskanten Sexualverhaltens ernster nahmen. Ähnliche Hinweise fand Harrison (1997) in ihrer Studie zum Einfluss der Medien auf Essstörungen von Studentinnen. Sie bezog sich in ihrer Studie nicht explizit auf parasoziale Interaktionen, sondern befasste sich mit dem Einfluss der interpersonalen Anziehungskraft schlanker Medienfiguren auf Studentinnen, was zumindest eingeschränkt auch als parasoziale Interaktion zu verstehen ist. Dabei zeigte sich, dass eine interpersonale Anziehungskraft die Wahrscheinlichkeit von Essstörungen in Folge des Medienkonsums bei den Studentinnen erhöhte. Hinweise auf ähnliche Zusammenhänge im Hörfunk lieferten Rubin und Step (2000). Sie fanden heraus, dass Hörer, die mit dem Moderator einer Radio-Talksendung parasozial interagierten, die Sendung häufiger nutzten, den Moderator als wichtige Informationsquelle sahen und eher der Meinung waren, dass er einen Einfluss darauf hat, wie seine Hörer über bestimmte gesellschaftliche Themen denken (für einen Überblick vgl. Rubin, 2002). Im Zusammenhang mit der Kultivierungshypothese wurde der Einfluss parasozialer Interaktionen und Beziehungen bislang nicht explizit untersucht. Es lassen sich zwar Studien finden, die parasoziale Interaktionen oder Beziehungen im Rahmen von Nutzungsmotiven abfragten (z.B. Rouner, 1984; Alexander, 1985; Carveth & Alexander, 1985). Die Verdichtung der einzelnen Items zu Motivfaktoren macht es jedoch meist nicht möglich, den singulären Einfluss parasozialer Interaktionen oder Beziehungen auf Kultivierungseffekte herauszufiltern. Einzige Ausnahme bildet die Studie von Carveth und Alexander (1985). Die Autoren untersuchten in ihrer Studie den Einfluss von Nutzungsmotiven auf Kultivierungseffekte verschiedener Realitätsbereiche und erfassten diese auf der Basis von 31 Items, die sie faktorenanalytisch zu fünf Dimensionen verdichteten. Eine Dimension umfasste die Nutzung der Lieblings-Soap, „to relate to the characters on soap operas (…); because the characters on soap operas are like [my] human friends
188
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
(…); to see how others deal with problems” (Carveth & Alexander, 1985: S. 272). Die Autoren nannten diese Dimension „character identification” (ebd.). Folgt man der PSI-Skala von Rubin et al. (1985), so lassen sich alle Items in dieser Skala wiederfinden, wohingegen gängige Indikatoren für Identifikation (z.B. Ähnlichkeit) fehlen. Die identifizierte Motivdimension kann also eher als parasoziale Interaktion bzw. Beziehung verstanden werden. Zur Analyse des Einflusses der Nutzungsmotive auf Kultivierungseffekte führten die Autoren Kontingenzanalysen durch, d.h. sie werteten die Zusammenhänge zwischen der Nutzung von Soaps mit der Realitätswahrnehmung getrennt für Gruppen mit jeweils hoher oder niedriger Ausprägung des jeweiligen Nutzungsmotivs aus. In Bezug auf parasoziale Beziehungen zeigten sich nur geringe Unterschiede, die jedoch durchwegs darauf hindeuteten, dass eher ein niedriger PSB-Grad Kultivierungseffekte begünstigt. In Anbetracht des mageren Forschungsstandes zum Einfluss von parasozialen Interaktionen und Beziehungen auf Kultivierungseffekte wurde eine eigene Studie durchgeführt, die den Einfluss parasozialer Interaktionen und Beziehungen auf Kultivierungseffekte untersuchte. Kapitel 2.4.4 stellte die Studie bereits vor. Sie wurde im Rahmen einer Lehrveranstaltung zur Kultivierungsforschung im Wintersemester 02/03 unter Leitung der Verfasserin durchgeführt und befasste sich mit dem Einfluss von verschiedenen Genres oder Sendungen, die häufig von Jugendlichen rezipiert werden (Gerichtsshows, Talkshows, Castingshows, Daily Soaps und die Simpsons), auf die Realitätswahrnehmung der jungen Rezipienten. Hierfür wurden insgesamt 510 Jugendliche im Alter von 13 bis 20 Jahren befragt. Parasoziale Beziehungen wurden für jedes der fünf Genres erfasst, wenn die Befragten angegeben hatten, dieses zumindest manchmal zu nutzen. Da der Fragebogen mit fünf Realitätsbereichen recht umfangreich war, basierte die Abfrage parasozialer Interaktionen bzw. Beziehungen auf einer auf sieben Items reduzierten Version der PSI-Skala von Rubin et al. (1985: S. 273ff.).46 Der Definition von Schramm et al. (2002) folgend wurden damit eigentlich parasoziale Beziehungen erfasst. Reliabilitätsanalysen der Skala zeigten bei allen Genres zufriedenstel-
46
Konkret baten wir die Befragten, die Zustimmung zu den folgenden Items auf einer fünfstufigen Likert-Skala anzugeben (Beispiel: Daily Soaps): (1) Ich fühle mit meiner Lieblings-Soapfigur mit. (2) Ich freue mich schon, meine Lieblings-Soapfigur heute Abend wieder zu sehen. (3) Mit den SoapFiguren fühle ich mich wohl, wie wenn ich unter Freunden bin. (4) Ich vermisse meine LieblingsSoapfigur, wenn sie in der Serie aussetzt. (5) Wenn ein Bericht über meinen Lieblingsdarsteller in anderen Medien (z.B. Zeitschrift/ Boulevardsendung im TV) erscheint, lese/schaue ich diesen auch. (6) Ich würde meine Lieblings-Soapfigur gerne einmal persönlich treffen. %ei den Talkshows bezogen sich die Items auf den Moderator, bei Gerichtsshows auf den Richter, bei Casting-Shows auf die Kandidaten, bei den Simpsons auf die Lieblingsfigur.
5.3 Parasoziale Interaktion und Parasoziale Beziehungen
189
lende Cronbach’s Alpha-Werte zwischen 0,85 und 0,87, so dass die sieben Items jeweils zu einer Dimension „parasoziale Beziehung“ verdichtet werden konnten.47 Wurde der Einfluss parasozialer Beziehungen (PSB) auf die Realitätswahrnehmung nun in Regressionsmodellen zusammen mit den anderen unabhängigen Variablen (Soziodemographie, Genrenutzung, allgemeine Fernsehnutzung, wahrgenommener Realitätsgrad, Nutzungsmotivation) geprüft, so konnte durchweg kein Einfluss festgestellt werden. Als reine unabhängige Variable scheinen parasoziale Beziehungen somit also keinen Einfluss auf die Realitätswahrnehmung zu haben. Theoretisch angenommen wurde jedoch vielmehr ein interagierender Einfluss parasozialer Beziehungen auf Kultivierungseffekte, d.h., dass ein hoher Fernsehkonsum bzw. die intensive Nutzung eines bestimmten Genres bei einem hohen PSB-Grad stärkere Kultivierungseffekte hervorruft. Um dies zu analysieren, wurden die Jugendlichen basierend auf dem Median in Zuschauer mit einem hohen PSB-Grad und Zuschauer mit einem niedrigen PSB-Grad gruppiert (für jedes Genre einzeln). Für jede Gruppe wurden dann Partialkorrelationen gerechnet, die den Zusammenhang zwischen Genrenutzung und Realitätswahrnehmung nach Kontrolle von Soziodemographie und allgemeiner Fernsehnutzung anschaulich in einem Wert ausdrücken. Tabelle 11 und 12 stellen diese Zusammenhänge für Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung dar. Die Befunde sind nicht ganz eindeutig. Dies mag jedoch auch daran liegen, dass generell nur wenig signifikante Kultivierungseffekte beobachtbar waren (siehe rechte Spalte der Tabellen). Betrachtet man jedoch die Höhe der hypothesenkonformen Korrelationskoeffizienten unabhängig vom Signifikanzniveau, so zeigt sich, dass in der Gruppe der Zuschauer mit einem hohen PSB-Grad tendenziell mehr Zusammenhänge der Erwartungsrichtung entsprachen und diese meist größer waren als in der Gruppe mit einem niedrigen PSB-Grad. Dies deutet zumindest tendenziell darauf hin, dass ein höherer Grad an parasozialen Beziehungen den Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung verstärken könnte. Zukünftige Studien sollten sich daher ebenfalls mit dem potenziellen Einfluss parasozialer Interaktionen und Beziehungen auseinandersetzen.
47
Die Cronbach’s Alpha-Werte im Einzelnen: Daily Soaps: 0,86; Simpsons: 0,86; Casting-Shows 0,87; Gerichtsshows: 0,87; Talkshows: 0,85.
190
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Tabelle 11:
Einfluss parasozialer Beziehungen: Kultivierungseffekte erster Ordnung
Kultivierung erster Ordnung
PSB niedrig (r =)
Gerichtsshows
n = 122 0,05 0,04 0,07 0,09 0,04
Berufstätige in der Justiz (von 100) Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten (von 100) Gewalttätige Straftaten/Gewalttaten (von 100) Verurteilter Angeklagter (von 100) Köperverletzungen/Anklagen (von 100) Simpsons
PSB hoch (r =) n= 96 -0,13 -0,06 -0,12 0,11 -0,03
Gesamt (r=) n=465 0,05 0,02 0,04 0,12* 0,06
Berufstätige Frauen (von 100) Berufstätige Männer (von 100) Bierkonsum BRD (0,5l/ Woche) Bierkonsum USA (0,5l/ Woche) TV-Konsum BRD (St./ Werktag) TV-Konsum USA (St./ Werktag)
n =100 0,03 -0,10 -0,19* 0,14 -0,10 0,03
n=160 0,04 -0,13 0,09 0,06 -0,01 0,04
n=434 0,03 -0,02 -0,08 0,03 -0,03 0,04
Berufstätiger Frauen (von 100) Berufstätiger Männer (von 100) Berufstätige in Medienbranche (von 100) Berufstätige in Handwerksberufen (von 100)
n =148 -0,06 0,04 -0,10 -0,10
n=114 0,07 0,17 -0,20* -0,15
n=461 -0,02 0,04 -0,02 -0,07
Berufstätiger in Musikbranche (von 100)
n =129 -0,22*
n=131 -0,13
n=458 -0,05
Geschiedene Ehepaare (von 100) Homosexuelle (von 100) Schwangere Teenager (von 1 000) Transsexuelle (von 100 000)
n =99 -0,14 -0,22* -0,03 -0,23*
n=94 0,06 0,16 0,02 0,02
n=458 0,07 0,09 0,01 0,01
Daily Soaps
Castingshows Talkshows
Basis: n=434 bis 465; * p< 0,05 Zweiseitige Partialkorrelationen: Alter, Geschlecht, Bildung, allgemeine Fernsehnutzung auspartialisiert Fett markiert: Zusammenhänge mit einem Korrelationskoeffizienten > 0,10 in der erwarteten Richtung
191
5.3 Parasoziale Interaktion und Parasoziale Beziehungen
Tabelle 12: Einfluss parasozialer Beziehungen: Kultivierungseffekte zweiter Ordnung
Kultivierung zweiter Ordnung
PSB niedrig (r =)
PSB hoch (r =)
Gesamt (r=)
Gerichtsshows Mean World 1: Beziehungspessimismus Mean World 2: Kommunikation Viktimisierungsangst Gerichtsverhandlungen (Merkmale)
n = 122 0,17 0,13 -0,13 0,05
n= 92 -0,18 0,12 -0,05 0,05
n=455 0,13* 0,05 0,03 0,14**
Simpsons Beruf 1: Frauen machen Haushalt, Kinder Beruf 1: Attraktivität schafft Erfolg Beruf 1: solide Ausbildung und Social Skills Schule 1: Beliebtheit Schule 1: Erfolg schafft Freunde
n =102 0,03 0,12 0,00 0,02 -0,05
n=167 0,02 0,19* 0,03 0,08 0,12
n=443 0,05 0,12** -0,00 0,03 0,03
Daily Soaps Beruf 1: Frauen machen Haushalt, Kinder Beruf 1: Attraktivität schafft Erfolg Beruf 1: solide Ausbildung und Social Skills Schule 1: Beliebtheit Schule 1: Erfolg schafft Freunde
n =140 0,05 0,10 -0,02 -0,01 0,03
n=110 -0,04 0,14 -0,01 0,08 -0,14
n=443 0,08 0,12* 0,05 0,04 -0,05
Castingshows Musikalität ist unwichtig Ein Augenblick entscheidet über Erfolg schnelle Karriere möglich
n =126 -0,08 -0,05 -0,11
n=130 -0,08 0,11 -0,07
n=451 -0,11* -0,05 -0,05
Mean World 1: Beziehungspessimismus Mean World 2: Kommunikation
n =98 -0,03 -0,07
n=92 -0,23* 0,22*
n=455 0,08 -0,00
Talkshows
Basis: n=443 bis 455; * p< 0,05; ** p< 0,01 Zweiseitige Partialkorrelationen: Alter, Geschlecht, Bildung, allgemeine Fernsehnutzung auspartialisiert Fett markiert: Zusammenhänge mit einem Korrelationskoeffizienten > 0,10 in der erwarteten Richtung
192 5.4
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Identifikation
Ein weiterer Faktor, der Kultivierungseffekte determinieren dürfte, ist die Identifikation mit Fernsehakteuren. Diese Frage wird bewusst getrennt von parasozialer Interaktion betrachtet, obwohl die beiden Begriffe in der Literatur bisweilen vermischt werden. So fügten etwa Rubin et al. (1985: S. 156) dem Konstrukt der parasozialen Interaktion auch Phänomene wie „interaction, identification and longterm identification with television characters“ hinzu, wodurch das Verständnis von parasozialer Interaktion recht unscharf wurde (vgl. Schramm et al., 2002: S. 440). Anders als parasoziale Interaktionen oder Beziehungen hängt die Identifikation mit Akteuren jedoch in einem hohen Maße davon ab, dass Rezipienten und Fernsehakteure sich ähnlich sind. Dies ist aber keine Voraussetzung für den Aufbau parasozialer Beziehungen. Möglicherweise können sich Identifikation und parasoziale Beziehungen jedoch gegenseitig beeinflussen. So ist es denkbar, dass parasoziale Beziehungen die Wahrnehmung einer Ähnlichkeit mit einem Fernsehakteur möglicherweise verstärken (vgl. Kim & Rubin, 1997). Umgekehrt kann es auch sein, dass der Aufbau parasozialer Beziehungen dadurch begünstigt wird, dass Rezipienten sich mit Fernsehakteuren identifizieren können. Theoretisch verankern lässt sich die Bedeutung der Identifikation mit Fernsehakteuren für Medienwirkungseffekte in der Theorie des sozialen Vergleichs (Festinger, 1954) und der sozialen Lerntheorie Banduras (2001). Kapitel 4.2.2 stellte dies bereits im Zusammenhang mit Botschaftsmerkmalen dar. So legen beide Theorien nahe, dass die Ähnlichkeit zwischen Fernsehakteuren und Zuschauern die Stärke der Zusammenhänge zwischen Medieninhalten und Nachahmungstaten beeinflusst: Festinger (1954) folgend ist es denkbar, dass medial dargestellte Personen einen Vergleichsmaßstab liefern, anhand dessen soziale Vergleichsprozesse erfolgen. Vergleichsprozesse werden vor allem mit solchen Personen vorgenommen, die die Rezipienten als ähnlich zur eigenen Person wahrnehmen. Somit finden soziale Vergleichsprozesse vor allem dann statt, wenn im Fernsehen Personen präsentiert werden, die dem Rezipienten ähnlich erscheinen, ähnliche Probleme haben und sich zu einem Thema ähnlich äußern. Kapitel 4.2.2 hatte beispielhaft zwei Studien vorgestellt, die darauf hinweisen, dass die Identifikation mit Fernsehakteuren im Kultivierungsprozess eine Rolle spielen könnte. Beide haben die Identifikation allerdings nicht direkt erhoben, sondern aus den Befunden indirekt auf die Bedeutung der Identifikation geschlossen, weshalb sie hier nochmals kurz referiert werden sollen. Morgan (1983) konnte belegen, dass Zuschauer stärkere Kultivierungseffekte zeigen, wenn sie den häufiger als Verbrechensopfer gezeigten Fernsehakteuren ähnlich waren: Die Zusam-
5.4 Identifikation
193
menhänge zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommener Wahrscheinlichkeit, in Gewalthandlungen verwickelt zu werden, war bei den Zuschauern am stärksten, die im Fernsehen häufiger als Opfer und seltener als Sieger gezeigt wurden. Anders ausgedrückt: Zuschauer mit hoher Ähnlichkeit zu Fernsehcharakteren, die häufiger Opfer von Verbrechen werden, zeigten stärkere Kultivierungseffekte. Auch Rossmann und Brosius (2005) konnten den Einfluss der Identifikation auf Kultivierungseffekte belegen (die Studie wurde ebenfalls in Kapitel 4.2.2 näher vorgestellt): Im Zusammenhang mit der Darstellung von Schönheitsoperationen stellten sie fest, dass sich im Fernsehen am häufigsten junge weibliche Akteure einer Schönheitsoperation unterziehen. Konsequenterweise waren die Kultivierungseffekte bei den Zuschauern am stärksten, die weiblich und jung waren, sich also mit den Protagonisten am ehesten identifizieren konnten. Auch hier schien also eine hohe Identifikation mit den im Fernsehen gezeigten Personen die beobachteten Kultivierungseffekte zu verstärken. Andere Studien untersuchten ebenfalls den Einfluss des Identifikationspotenzials auf die Realitätswahrnehmung, bezogen sich jedoch theoretisch nicht auf die Kultivierungshypothese. Reeves and Garramore (1982) hatten sich in ihrer Studie bereits Anfang der achtziger Jahre mit dieser Frage beschäftigt. Sie gingen nicht von der Kultivierungshypothese aus, sondern bezogen sich auf Banduras soziale Lerntheorie (z.B. 2001), weshalb die Einbeziehung der Identifikation als Drittvariable naheliegend war. Da die Studie den Einfluss spezifischer Fernsehsendungen auf die Wahrnehmung von Klassenkameraden untersuchte, liefert sie auch Hinweise für die Kultivierungshypothese. Konkret fragten die Autoren 172 Schüler nach der Häufigkeit, mit der sie bestimmte Charaktere aus bestimmten Fernsehsendungen sehen. Als abhängige Variable wurde die Wahrnehmung von zwölf zufällig ausgewählten Klassenkameraden erhoben, etwa wie lustig, attraktiv oder hilfsbereit diese nach Meinung des Befragten waren. Daraus wurden zwei Indices gebildet: (1) das durchschnittliche Urteil eines Befragten über alle zwölf Klassenkameraden hinweg, (2) die Varianz der Urteile eines Befragten. Die Stärke der Identifikation wurde anhand einer Liste mit 20 Charakteren erfasst, zu denen die Schüler angeben sollten, ob sie so sein wollten wie sie oder nicht. Regressionen (Kontrolle von Alter, Geschlecht und allgemeiner Fernsehnutzung) zeigten je nach Index unterschiedliche Befunde. So hing die Varianz in der Wahrnehmung der Klassenkameraden signifikant mit der Häufigkeit zusammen, mit der die Schüler bestimmte Fernsehcharaktere sahen, nicht aber mit der Identifikation. Die absolute Wahrnehmung der Klassenkameraden schien hingegen von der Fernsehnutzung unbeeinflusst, hing aber signifikant mit der Stärke der Identifikation zusammen. So erhöhte die Identifikation mit Fernsehcharakteren die
194
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Wahrscheinlichkeit, dass die Attribute der Fernsehcharaktere auch den Klassenkameraden zugeschrieben werden. Auch Atkin et al. (1983) untersuchten Effekte, für die sich die Kultivierung interessiert, bezogen sich aber auf lerntheoretische Ansätze. Konkret ging es um den Einfluss der Nutzung von Fernsehsendungen mit afroamerikanischen Protagonisten auf die Wahrnehmung von Afroamerikanern durch amerikanische Schüler. Dabei wurden die Schüler nach verschiedenen Häufigkeitseinschätzungen gefragt (z.B. Wie viele von zehn Männern in diesem Land sind Schwarze?) genauso wie nach wahrgenommenen Eigenschaften von Afroamerikanern. Neben anderen Drittvariablen erfassten die Autoren auch die Identifikation mit schwarzen Charakteren, indem sie den Schülern eine Liste mit 37 Charakteren vorlegten (darunter zehn Schwarze), zu denen die Schüler angeben sollten, ob sie so sein wollten wie sie. Die Studie bestätigte Kultivierungseffekte erster Ordnung, wonach die Vielseher der relevanten Fernsehsendungen die Anteile von Afroamerikanern in bestimmten Bevölkerungsgruppen überschätzten. Bei der Wahrnehmung der Eigenschaften von Afroamerikanern (Kultivierung zweiter Ordnung) konnte ähnlich wie bei Reeves und Garramore (1982) kein Einfluss der Fernsehnutzung festgestellt werden, aber ein starker Einfluss der Identifikation mit afroamerikanischen Charakteren. So nahmen Schüler, die sich mit farbigen Charakteren stärker identifizierten, Afroamerikaner generell positiver wahr als die restlichen Schüler. Auch wenn der Einfluss der Identifikation mit Fernsehcharakteren auf Kultivierungseffekte bislang nur sehr spärlich untersucht worden ist, machen die dargestellten Studien deutlich, dass eine genauere Betrachtung dieses Zusammenhangs lohnenswert ist. Alle aufgeführten Studien deuten darauf hin, dass eine höhere Identifikation mit Fernsehcharakteren die Realitätswahrnehmung beeinflusst, entweder als unabhängige Variable, z.B. Merkmale der Fernsehcharaktere werden auf die Wahrnehmung bestimmter Personengruppen übertragen (Reeves & Garramore, 1982; Atkin et al., 1983), oder als intervenierende Variable, wodurch der Einfluss bestimmter Fernsehinhalte durch ein höheres Identifikationspotenzial verstärkt wird (Morgan, 1983; Rossmann & Brosius, 2005). Genauso wie der Einfluss parasozialer Beziehungen sollte daher auch der Einfluss der Identifikation in Zukunft weiter untersucht werden. Bislang deuten die Befunde darauf hin, dass ein höherer Identifikationsgrad und starke parasoziale Beziehungen Kultivierungseffekte eher verstärken.
5.5 Involvement
5.5 5.5.1
195
Involvement Allgemeines Begriffsverständnis
Auch das Involvement dürfte für die Kultivierung von Bedeutung sein. Allerdings muss hier zunächst deutlich gemacht werden, von welchem Begriffsverständnis ausgegangen wird, da Involvement in der Literatur höchst unterschiedlich verstanden wird. So werden für das Involvement zahlreiche Formulierungen verwendet wie etwa Betroffenheit, Ich-Beteiligung, Interesse, Issue-Involvement und viele andere (vgl. Donnerstag, 1996: S. 238ff.). Als entscheidendes Definitionsmerkmal lässt sich jedoch festhalten, dass die Rezipienten aufgrund des Involvement unterschiedlich motiviert sind, persuasive Botschaften zu verarbeiten. Somit handelt es sich beim Involvement um einen zentralen Faktor der Publikumsaktivität (vgl. z.B. Levy & Windahl, 1985; Donnerstag, 1996). Entscheidendes Kriterium ist dabei die persönliche Relevanz oder Wichtigkeit von Themen, Objekten oder Ereignissen (Donnerstag, 1996: S. 31). Als Forschungskonsens lässt sich nach Donnerstag (1996: S. 46f.) Folgendes festhalten:
Involvement wird meist als persönliche Relevanz oder persönliche Wichtigkeit verstanden. Die Stärke des Involvement wird von vielen weiteren Faktoren beeinflusst, z.B. Persönlichkeit, Situation oder Stimulus. Stärker involvierte Individuen sind in der Informationsverarbeitung aktiver als Individuen mit einem geringen Involvement. Medienwirkungen können unter Low und High Involvement-Bedingungen auftreten.
Mit dieser Definition deckt Donnerstag (1996) jedoch nur eine Art des Involvement ab, nämlich jene, die zwar im Kommunikationsprozess wirksam wird, aber schon vorher z.B. durch persönliche Erfahrungen entsteht: das Themeninvolvement. Rubin und Perse (1987a) beschreiben diese Involvementform als Voreinstellung, die Rezipienten in die Kommunikationssituation mitbringen: „When faced with messages about important topics, people are motivated to pay attention to informational message elements and process them more intensely“ (ebd.: S. 247). Ähnlich beschreibt Perse (1990: S. 53) dieses Involvement als „sense of importance attached to an object, person, or issue“. Davon abzugrenzen ist eine andere Involvementform, die erst während der Rezeption entsteht: das prozessuale Involvement. Diese Form impliziert Anteilnahme, Aufmerksamkeit, emotionale Beteiligung und Partizipation: Rezipienten konzentrieren sich auf die Botschaft und reagieren emotional darauf. Sie sind aufmerksa-
196
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
mer, denken über die Botschaften nach, sie identifizieren sich mit den Charakteren (Rubin und Perse, 1987a; Perse, 1990; Rubin, 1993) und sind „caught up in the action of the drama“ (Bryant & Cominksy, 1978: S. 65). Im Zusammenhang mit der Wirkung narrativer Botschaften ist das Prozessinvolvement von besonderer Bedeutung. Somit dürfte es auch für die Kultivierung eine Rolle spielen, da sie sich ebenfalls meist mit dem Einfluss narrativer und fiktionaler Botschaften beschäftigt. Untersuchungen zum Einfluss von Narrationen nennen das Konzept nur anders: Graesser (1981) nennt das Prozessinvolvement bei narrativen Inhalten „absorbtion“, Gerrig (1993) und Green und Brock (2000) verwenden den Begriff „transportation“. Slater und Rouner (2002) sprechen von „engagement or absorption in the narrative“ (S. 179). Alle drei Begriffe beschreiben jedoch dasselbe Phänomen: „Each concept is the degree to which a message recipient is cognitively and affectively invested in a narrative. By invested we mean that attention is fully engaged and emotional responses are occurring consistent with the vicarious experience of the fictional events.” (ebd.) Die Autoren beschreiben somit letztlich nichts anderes als das prozessuale Involvement, wie es etwa bei Perse (1990) oder Rubin (1993) definiert wird.48 Beide Involvementarten dürften für die Kultivierung von Bedeutung sein. Auf der einen Seite ist es naheliegend, dass das Themeninvolvement eine Rolle spielt, da Rezipienten nicht nur persuasive Botschaften, sondern Fernsehinhalte im Allgemeinen anders verarbeiten werden, wenn das dargestellte Thema für sie von besonderer Bedeutung ist. Zudem handelt es sich bei Kultivierungseffekten um langfristige Wirkungen, weshalb das generelle und langfristig vorhandene Interesse relevant sein dürfte (vgl. Lücke, 2006: S. 66). Auf der anderen Seite untersuchen Kultivierungsstudien häufig gerade den Einfluss narrativer Inhalte (z.B. den Einfluss von Serien, Spielfilmen), weshalb es auf der Hand liegt, in Anlehnung an die Literatur zur Wirkung von Narrationen den Einfluss des während der Rezeption entstehenden Involvement zu untersuchen (Prozessinvolvement, Transportation). Im Folgenden sollen daher beide Phänomene näher beleuchtet werden.49 48
49
Ähnliche Konstrukte, die das Versinken in die mediale Welt beschreiben, sind Präsenz (z.B. Slater & Wilbur, 1997; Hartmann, Böcking, Schramm, Wirth, Klimmt & Vorderer, 2005) und Immersion (z.B. Biocca & Delaney, 1995), eng verwandt damit ist auch das Konzept der Suspension of Disbelief (im Überblick vgl. Böcking, Wirth & Risch, 2005). Zu beachten ist, dass es an dieser Stelle lediglich um das Involvement in der Rezeptionsphase geht. Eine Reihe von Studien hat sich mit dem Involvement während der Urteilsbildung (im Sinne der Operationalisierung gesprochen: bei der Abfrage von Kultivierungsurteilen) beschäftigt und gezeigt, dass bei Kultivierungsurteilen erster Ordnung ein hohes Involvement respektive eine systematische Informationsverarbeitung Kultivierungseffekte vermindert, während ein niedriges Involvement Kultivierungseffekte erster Ordnung verstärkt (vgl. Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum 1995; 2001; 2004). Kapitel 6 geht darauf im Kontext der zugrunde liegenden psychischen Prozesse genauer ein.
5.5 Involvement
5.5.2
197
Themeninvolvement
Das wohl berühmteste Konzept zum Einfluss des Involvement auf die Informationsverarbeitung ist das Elaboration-Likelihood-Modell (Petty & Cacioppo, 1986a; 1986b; im Überblick vgl. Petty & Cacioppo, 1996; Petty, Priester & Brinol, 2002). Die Autoren beziehen sich dabei explizit auf das Themeninvolvement (oder „issue involvement“, vgl. Petty & Cacioppo, 1990) und gehen davon aus, dass das Ausmaß des Themeninvolvement einen Einfluss darauf hat, wie persuasive Botschaften verarbeitet werden. Das Elaboration-Likelihood-Modell (ELM) unterscheidet zwei Routen der Informationsverarbeitung: eine periphere und eine zentrale:
Die periphere Route wird bei niedrigem Involvement eingeschlagen (unter LowInvolvement-Bedingungen). Der Einfluss der Botschaft auf die Einstellung der Rezipienten hängt dabei von oberflächlichen Botschaftsmerkmalen ab (z.B. Anzahl der Argumente, Erscheinung des Moderators). Die Wirkung ist eher kurzfristiger Natur.
Die zentrale Route wird bei hohem Involvement eingeschlagen (unter HighInvolvement-Bedingungen). In diesem Fall ist es die Qualität der Argumente, welche eine Einstellungsänderung bei den Rezipienten hervorzurufen vermag. Diese ist in der Regel dann langfristiger Natur.
In ähnlicher Weise beschreibt das Modell der heuristisch-systematischen Informationsverarbeitung (HSM) den Einfluss des Involvement auf die Informationsverarbeitung (vgl. Chaiken, 1980; Chaiken & Eagly, 1983; Chaiken, Liberman & Eagly, 1989). Informationsverarbeitung bei niedrigem Involvement nennen die Autoren heuristische Informationsverarbeitung: Die Informationen werden auf einem verkürzten Weg und somit schneller verarbeitet. Es kommt nur zu kurzfristigen Einstellungsänderungen. Bei hohem Involvement sprechen die Autoren von einer systematischen Informationsverarbeitung, die die Informationen genau evaluiert und langfristige Einstellungsänderungen hervorrufen kann. Beide Modelle gehen davon aus, dass persuasive Botschaften durchaus unter beiden Bedingungen (High- und Low-Involvement) Einstellungsänderungen hervorrufen können. Bei der Kultivierung stellt sich die Frage, ob eine der Bedingungen besonders geeignet ist, um Kultivierungseffekte zu verstärken, handelt es sich hier doch nicht um intendierte Einstellungsänderungen persuasiver Botschaften, sondern gleichsam um den Begleiteffekt jeglicher Fernsehrezeption. Denkbar ist zweierlei: (1) Folgt man den Grundannahmen des ELM und HSM, so wäre es einerseits denkbar, dass Kultivierungseffekte von einem niedrigen Involvement begüns-
198
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
tigt werden. Ein hohes Involvement dürfte beim Fernsehen, zumal bei narrativen Fernsehinhalten, dazu führen, dass sich die Zuschauer der Verzerrung und größtenteils Fiktionalität der Botschaften bewusst sind und sich somit weniger beeinflussen lassen. Bei einem niedrigen Involvement hingegen werden die Zuschauer die Glaubwürdigkeit der Fernsehbotschaften nicht hinterfragen und dürften somit leichter beeinflussbar sein. (2) Rubin (1993) vermutete hinter dem Involvement andererseits einen Indikator aktiver Fernsehrezeption. Ein hohes Involvement dürfte demnach aufgrund eines höheren Aktivitätsniveaus bei der Fernsehrezeption und dadurch bedingt etwa größere Aufmerksamkeit und Behaltungsleistung Kultivierungseffekte verstärken. Studien zum Einfluss des Themeninvolvement auf Kultivierungseffekte sind rar. Im Folgenden seien zwei Studien vorgestellt, die sich mit dem Einfluss von Themeninvolvement beschäftigt haben. Schoenwald (2003) untersuchte die Bedeutung des Themeninvolvement im Rahmen ihrer Studie zum Einfluss von Boulevardmagazinen und Reality-Formaten auf die Einstellung zu Schönheitsoperationen. Das Involvement wurde sehr ausführlich darüber erfasst, wie wichtig den Befragten Aussehen, Mode und Styling, Figur und Gewicht sind und wie viel Zeit sie in Fitness und Körperpflege investieren. Der Einfluss des Involvement wurde zunächst in zweiseitigen Korrelationen mit den Realitätswahrnehmungsindikatoren geprüft. Dabei zeigten sich vor allem im Zusammenhang mit den Einstellungen positive Zusammenhänge. Befragte, die einem guten Aussehen mehr Bedeutung beimaßen, hatten also eine positivere Einstellung zu Schönheitsoperationen und waren auch eher bereit, sich selbst einer solchen Operation zu unterziehen. Im Gegensatz zu Kim und Rubin (1997) betrachtete Schoenwald (2003) im zweiten Schritt auch den intervenierenden Einfluss des Involvements. Auf Basis der verschiedenen Involvementindikatoren wurden zunächst clusteranalytisch drei Typen gebildet (Die Zufriedenen, Die Schönheitsfans und Die Faulen), für die die Kultivierungseffekte jeweils getrennt berechnet wurden. Dabei zeigten sich bei den Zufriedenen die erwarteten Kultivierungseffekte: Ein höherer Konsum von RealitySendungen ging bei ihnen mit einer positiveren Einstellung zu Schönheitsoperationen einher. Bei den anderen beiden Gruppen hingegen brachte die Nutzung von Reality-Sendungen eher einen gegenläufigen Effekt mit sich. Die Schönheitsfans zeigten insgesamt die schwächsten Kultivierungseffekte. Die Befragten, für die das Thema generell eine besonders hohe Relevanz besaß, schienen sich vom Fernsehen also weniger stark beeinflussen zu lassen als die anderen Gruppen. Dies geht konform mit den Annahmen des ELM: Während die weniger involvierten Rezipienten die Informationen offenbar nur oberflächlich
5.5 Involvement
199
verarbeiteten und somit eher beeinflussbar waren, schienen die stark involvierten Rezipienten die Informationen genauer zu hinterfragen und zu evaluieren, was in diesem Fall zu einer Reduzierung der potenziellen Effekte führte. Auch Lücke (2006) untersuchte in ihrer Studie zum Einfluss des Fernsehens auf ernährungsbezogene Kultivierungseffekte die Bedeutung vom Themeninvolvement (persönliche Wichtigkeit bzw. Interesse, Vertrautheit mit Einkauf und Kochen, Wissen über Ernährung). Dabei entpuppte sich das Themeninvolvement bei den 1060 Personen als eine der stärksten Erklärungsvariablen. In hierarchischen Regressionen war der Einfluss des Involvement bei acht von 16 Kultivierungsindikatoren signifikant. Anders als bei den vorherigen Studien verlief der Einfluss jedoch in der Regel entgegengesetzt zur Kultivierungsrichtung: Personen mit einem hohen Involvement hatten etwa eine deutlich positivere Einstellung gegenüber gesunder Ernährung, wohingegen die Befragten mit steigendem Fernsehkonsum erwartungsgemäß eine negativere Einstellungen zu gesunder Ernährung entwickelten. Gerade dieses Thema macht deutlich, dass es im Kontext von Kultivierungseffekten ganz entscheidend ist, wie das Involvement rechnerisch betrachtet wird. Es scheint fast banal, dass eine hohe Involviertheit in Ernährungsfragen (als unabhängige Variable) auch eine grundsätzliche Bejahung gesunder Ernährung mit sich bringt. Entscheidend ist jedoch, welchen Einfluss dies auf die Anfälligkeit für Kultivierungseffekte hat. Dies untersuchte Lücke (2006) durch getrennte Auswertung der Kultivierungseffekte für Personen mit geringem, durchschnittlichem und hohem Involvement. Dabei zeigte sich, dass die Kultivierungseffekte bei hoch involvierten Personen stärker ausfielen als bei durchschnittlich oder wenig involvierten: Ein hohes Involvement verstärkte die Kultivierungseffekte. Auf Basis der beiden vorgestellten Studien ist es schwer, ein endgültiges Fazit zu ziehen, in welche Richtung der Einfluss des Themeninvolvement im Zusammenhang mit Kultivierungseffekten geht. Betrachtet man das Involvement als unabhängige Variable, so deuten die Befunde beider Studien darauf hin, dass eine hohe Involviertheit in ein bestimmtes Thema auch dazu führt, dass seine Bedeutung in Einschätzungs- und Einstellungsfragen höher gewertet wird. Doch erscheint dieser Zusammenhang recht banal. Betrachtet man das Involvement als intervenierende Variable, so sind die Befunde unklar: Schoenwalds (2003) Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein hohes Involvement Kultivierungseffekte zweiter Ordnung abschwächt, während Lücke (2006) herausfand, dass ein hohes Involvement Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung verstärkt. In beiden Fällen lassen sich die beobachteten Befunde jedoch theoretisch erklären. Die Befunde von Schoenwald (2003) stützen die Überlegungen des ELM, wonach eine hohe Involviertheit dazu führt, dass Argumente, Botschaftsmerkmale
200
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
und die Qualität der Botschaft aufmerksam evaluiert werden (vgl. z.B. Petty & Cacioppo, 1986a; 1986b). Dies dürfte im Kontext des Fernsehens dazu führen, dass die Zuschauer die gesehenen Informationen abwerten, weil es sich um generell wenig glaubwürdige Fernsehinformationen handelt. Stärker involvierte Zuschauer dürften sich daher vom Fernsehen nicht beeinflussen lassen. Die Befunde von Lücke (2006) stützen demgegenüber die Interpretation des Involvement als Merkmal aktiver Fernsehrezeption (vgl. Rubin, 1993): Involvierte Zuschauer verfolgen die Fernsehinhalte demnach aufmerksamer und rezipieren sie mit einem höheren kognitiven Einsatz. Dadurch besteht eher die Chance, dass die Zuschauer die dargebotenen Inhalte auch im Gedächtnis behalten und als Basis für Kultivierungsurteile heranziehen. Es ist denkbar, dass beide Prozesse wirksam sind. Zuschauer, die sich für ein Thema besonders interessieren oder von einem Thema besonders betroffen sind, dürften dieses bei der Fernsehrezeption generell aktiver verfolgen als Zuschauer, für die es keine Relevanz besitzt. Genauso wie es die Befunde zum Einfluss von Nutzungsmotiven auf Kultivierungseffekte nahelegen, dürfte diese aktivere Rezeptionshaltung eine Speicherung der dargebotenen Informationen eher ermöglichen und somit Kultivierungseffekte eher verstärken. Es ist jedoch denkbar, dass dies nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist. Wenn man davon ausgeht, dass die Fernsehinhalte bei bewusster Evaluierung der Botschaftsqualität als wenig glaubwürdig oder verzerrt erkannt werden (vgl. hierzu auch Kapitel 6.2.2), so dürfte ab einem gewissen Involvementgrad ein Deckeneffekt einsetzen, der die Kultivierungseffekte dann abschwächt.
5.5.3
Prozessinvolvement und Transportation
Eine weitere Form ist das prozessuale Involvement, d.h. jenes Involvement, welches erst während der Rezeption entsteht. Das Prozessinvolvement spielt vor allem bei der Rezeption narrativer Botschaften eine Rolle, da diese am ehesten das Potenzial haben, es hervorzurufen. Es ist naheliegend, dass sich Modelle wie das ELM, die im Kontext informativer und persuasiver Botschaften entstanden sind, nur bedingt auf den Einfluss narrativer Botschaften anwenden lassen. Slater und Rouner (2002) machten die Grundgedanken des ELM dennoch fruchtbar für den Einfluss narrativer Botschaften. Dabei wiesen sie zunächst auf zwei entscheidende Unterschiede zwischen klassischen persuasiven und narrativen Botschaften hin:
5.5 Involvement
201
(1) Motivation und Bedürfnisse, mit denen sich die Rezipienten den Inhalten zuwenden: Bei Narrationen geht es nicht primär um persuasive oder informative Inhalte, aufgrund derer die Zuwendung stattfindet, sondern um die Möglichkeit, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen (bei Bedarf nach Unterhaltung dadurch, dass ein Film oder eine Serie unterhaltsam ist). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um narrative Botschaften mit intendierten Persuasionseffekten handelt (wie im Entertainment-Education-Ansatz, vgl. z.B. Lampert, 1006; 2007) oder ob es um die zufälligen persuasiven Effekte von Narrationen geht (wie im Kultivierungsansatz) (ebd.: S. 175). (2) Art des Involvement: Im ELM ist die Überzeugungskraft der Botschaften davon abhängig, ob das Thema die Interessen des Rezipienten anspricht. Entscheidend ist also das Themeninvolvement. Bei narrativen Inhalten ist dagegen das Prozessinvolvement entscheidend und dieses hängt davon ab, wie gut die Bedürfnisse und Ziele der Zuschauer bedient werden und die Zuschauer in den Inhalten versinken können. Die Persuasivität bestimmt sich dann dadurch, wie offensichtlich der persuasive Inhalt ist und wie sehr den Rezipienten die Persuasivität bewusst ist. Dies bedeutet nicht, dass die Rezipienten gar nicht spüren dürfen, dass eine persuasive Absicht hinter den Botschaften steckt, oder nicht merken dürfen, dass sie möglicherweise nicht-intendierten Einflüssen unterliegen, „but simply that the drama must be compelling enough to cause such awareness to fade into background while reading or viewing the story.“ (ebd.: S. 176). Generell ist es naheliegend, dass Narrationen eine gute Chance haben, Menschen zu beeinflussen. So sind wir es gewohnt, soziale Informationen zu verarbeiten und lernen dies, bevor wir Fakten, Zahlen und logische Argumente verarbeiten können. Narrationen enthalten soziale Informationen, sie enthüllen menschliche Beziehungen und Ereignisse. Die Verarbeitung narrativer Informationen ist daher zu einem großen Teil automatisiert (vgl. ebd.: S. 179). Der entscheidende Aspekt in der Anwendung des ELM auf den Einfluss narrativer Botschaften ist, dass das Themeninvolvement durch Prozessinvolvement ersetzt wird. Slater und Rouner (2002) verwenden hierfür die Begriffe „engagement or asorbtion“ (ebd. S. 177), andere nennen das Phänomen „transportation“ (z.B. Green & Brock, 2000). Gemeint ist der Grad, mit dem Rezipienten in eine Botschaft kognitiv und affektiv versinken. Während das Themeninvolvement bei persuasiven Botschaften für eine größere Aufmerksamkeit gegenüber botschaftsrelevanten Argumenten und für längerfristigere Einstellungsänderungen sorgt, hat das Themeninvolvement, so Slater und Rouner (2002), bei Narrationen eine geringere Bedeutung. Entscheidend ist hier die Absorbtion in die Geschichte, da sie von vornherein verhindert, dass die Rezipien-
202
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
ten Gegenargumente entwickeln können: Wenn Rezipienten mit Gegenargumenten auf narrative Botschaften reagieren, sind sie nicht absorbiert oder transportiert. Die besondere Stellung von Narrationen resultiert anders ausgedrückt also daraus, dass sie in der Lage sind, Gegenargumente auszuschalten. Barth (1988) war wohl einer der ersten, der den Einfluss von Prozessinvolvement im Rahmen seiner oben bereits dargestellten österreichischen Kultivierungsstudie untersucht hat. Er definierte Involvement als „gefühlsmäßige Beteiligung beim Fernsehen“ (ebd.: S. 72) und erfasste dieses neben den üblichen Fernsehnutzungs- und Kultivierungsindikatoren und zahlreichen weiteren Drittvariablen. In Pfadmodellen zeigte sich, dass das Involvement die Wahrnehmung der Opferwahrscheinlichkeit in Österreich verstärkte. Das prozessuale Involvement beeinflusste die Realitätswahrnehmung also in derselben Richtung wie das Fernsehen selbst. Ob das Involvement jedoch einen intervenierenden Einfluss auf die Kultivierungseffekte hatte, lässt sich auf dieser Basis nicht feststellen. Ähnlich verhält es sich bei der Studie von Perse (1990) zum Einfluss von Lokalnachrichten und allgemeiner Fernsehnutzung auf das wahrgenommene Sicherheitsrisiko in verschiedenen Situationen. Sie ging von einem sehr detaillierten Verständnis von Involvement aus. So verstand Perse (1990: S. 54) Involvement als: „information-processing response to messages that has two dimensions: orientation and intensity. Orientation marks the direction of the cognitive-emotional processing. People may become involved with any aspect of the message: issue information, personalities, plot, music, or audience. Intensity marks the depth of the processing. As people become more involved, they process the information more deeply, moving from paying attention to the information, categorizing it as familiar of unfamiliar, relating the information to prior knowledge, and reacting emotionally to it.”
Dementsprechend operationalierte Perse (1990) das Involvement anhand mehrerer Dimensionen: Aufmerksamkeit, Erinnerung, Elaboration und emotionale Reaktion (Freude, Ärger, Traurigkeit). In Korrelationen und Partialkorrelationen zeigte sich zunächst ein positiver Einfluss von Aufmerksamkeit, Elaboration und emotionalen Reaktionen auf das wahrgenommene Risiko (der Kultivierungsrichtung entsprechend) und ein negativer Einfluss der Erinnerung. In hierarchischen Regressionen blieb jedoch lediglich der Einfluss der Aufmerksamkeit stabil: „the results demonstrate that only attention to the news is a significant positive contributor to the cultivation of perceptions of personal safety“ (ebd.: S. 62). Somit zeigt sich auch hier, dass das Prozessinvolvement in der Rezeptionssituation, hier konkret die Aufmerksamkeit, einen Einfluss auf die Realitätswahrnehmung hat. Interaktionseffekte mit der Fernsehnutzung wurden jedoch auch hier nicht ausgewertet.
5.5 Involvement
203
Kim und Rubin (1997) untersuchten in ihrer Studie zum Einfluss der Fernsehnutzung auf die Viktimisierungsangst in Anlehnung an Perse (1990) ebenfalls den Einfluss von Prozessinvolvement (vgl. zur Studie auch Kapitel 5.2.2). In Pfadmodellen zeigte sich, dass Involvement und selektive Wahrnehmung die Realitätswahrnehmung direkt und positiv (in der Kultivierungsrichtung) beeinflussten. Die Studie spricht also dafür, dass das Involvement hier im Kontext einer höheren Nutzungsaktivität Kultivierungseffekte begünstigt. Eine eindeutige Aussage über den intervenierenden Einfluss des Involvement lässt die Studie jedoch auf Basis der vorliegenden Auswertung ebenfalls nicht zu. Bilandzic (2002) untersuchte den Einfluss des Involvement auf die verbrechensbezogene Realitätswahrnehmung im Kontext der Aktivität bei der Kriminutzung. Diese umfasste Aktivitäten nach der Krimirezeption und das Involvement während der Krimirezeption (z.B. Wenn ich einen Krimi meines Lieblingsgenres sehe/lese, verliere ich das Gefühl für die Zeit“, S. 63). Da die Items in einem Index zusammengefasst wurden, lässt sich streng genommen nichts über den Einfluss des Prozessinvolvement aussagen. Dennoch seien die Befunde hier kurz erwähnt. Der Einfluss der Aktivität wurde in hierarchischen Regressionen geprüft, konnte aber nicht bestätigt werden. Es ist jedoch denkbar, dass das prozessuale Involvement während der Krimirezeption und Aktivitäten nach der Krimirezeption die Realitätswahrnehmung unterschiedlich beeinflussen und sich die Effekte durch die Zusammenfassung in einem Index gegenseitig aushebeln. Shrum (2006) legte eine der wenigen Studien vor, die explizit den Einfluss des Prozessinvolvement (Transportation) auf Kultivierungseffekte untersuchte. Er führte ein Experiment durch, welches einer Gruppe von Versuchspersonen einen Ausschnitt aus dem Spielfilm „Wall Street“ zeigte, einer zweiten Gruppe den Film „Gorillas im Nebel“ und einer dritten Gruppe gar keinen Film. Abhängige Variablen waren Einstellungen zum Materialismus und eigene finanzielle Ambitionen. Diese dürften, so die Annahme, bei der „Wall Street“-Gruppe stärker ausgeprägt sein als bei den restlichen Probanden. Als intervenierende Variable erfasste Shrum (2006) den Grad der Transportation während der Filmrezeption. Varianzanalysen zeigten erwartungsgemäß, dass die Probanden, die den Film „Wall Street“ gesehen hatten, stärker materialistisch geprägte Einstellungen hatten als die beiden anderen Gruppen. Dabei konnte ein Interaktionseffekt mit dem Grad der Transportation nachgewiesen werden: Bei einem geringen Transportationsgrad war kein signifikanter Unterschied zwischen der „Wall-Street“-Gruppe und denjenigen, die „Gorillas im Nebel“ gesehen hatten, festzustellen. Bei einem hohen Transportationsgrad dagegen fielen die Unterschiede deutlicher aus.
204
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Wenn die Forschungslage zum Einfluss von Prozessinvolvement, resp. Absorbtion oder Transportation, bislang auch recht spärlich ist, so deuten die dargestellten Befunde doch darauf hin, dass das Prozessinvolvement Kultivierungseffekte verstärkt. Jedoch lässt sich das Experiment, das explizit Interaktionseffekte zwischen Prozessinvolvement und Kultivierungseffekte gemessen hat (Shrum, 2006), nur bedingt auf Kultivierungseffekte übertragen, da es nur kurzfristig angelegt war. Bevor also endgültig etwas über den Einfluss des Prozessinvolvement ausgesagt werden kann, sollte dieser in weiteren und längerfristig angelegten Studien untersucht werden. Bislang gibt es jedoch gute Hinweise darauf, dass das Prozessinvolvement in der Lage ist, die Kultivierungseffekte zu verstärken.
5.5.4
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es deutliche Hinweise darauf gibt, dass das Involvement einen Einfluss auf die Verarbeitung der Fernsehinhalte und somit auf Kultivierungseffekte hat (vgl. für einen Überblick über die Forschungslage Tabelle 13). Aus der Vielzahl verschiedener Formen von Involvement kommen zwei in Frage, die im Kontext von Kultivierungseffekten besonders wichtig sind: Themen- und Prozessinvolvement. Obwohl es naheliegend ist, dass das Themeninvolvement im Kultivierungsprozess eine Rolle spielt, sind der Verfasserin bislang nur zwei Kultivierungsstudien bekannt, die sich explizit mit seinem Einfluss beschäftigt haben (Studien zum Einfluss des Themeninvolvement während der Urteilsbildung ausgenommen, vgl. Kapitel 6). Beide Studien deuten darauf hin, dass das Themeninvolvement als unabhängige Variable Häufigkeitsvorstellungen und Einstellungen positiv beeinflusst. Wird es als intervenierende Variable betrachtet, zeigen die Studien einen gegenläufigen Effekt. Während Schoenwald (2006) beobachtete, dass ein hohes Themeninvolvement die Kultivierungseffekte abschwächte, stellte Lücke (2006) fest, dass es die Effekte verstärkte. Es ist denkbar, dass das Themeninvolvement Kultivierungseffekte in zweierlei Hinsicht beeinflusst. So wirkt es zum einen als aktivierende Variable, die eine aufmerksamere Auseinandersetzung mit den Fernsehinhalten mit sich bringt, wodurch diese eventuell eher erinnert werden und eher als Basis für Kultivierungsurteile herangezogen werden. Zum anderen ist es denkbar, dass es dabei zu einem Deckeneffekt kommt: Das Involvement wird so stark, dass sich die Rezipienten bewusst mit den Fernsehinhalten auseinandersetzen, so dass ihnen Verzerrungen in der Darstellung bewusst werden. In diesem Fall ist eine Abschwächung von Kultivierungseffekten zu erwarten.
205
5.5 Involvement
Tabelle 13: Einfluss von Involvement auf Kultivierungseffekte: Überblick Autoren (Jahr)
Thema
Operationalisierung von Involvement
Einfluss auf K1
Einfluss auf K2
Themeninvolvement Schoenwald Schönheits(2003) operationen
Wichtigkeit von Aussehen, Mode etc., Zeit für Fitness und Körperpflege
k.E.
+ (UV), ª (IV)
Lücke (2006)
persönliche Wichtigkeit, Vertrautheit mit Einkauf und Kochen, Wissen
+ (UV), © (IV)
+ (UV), © (IV)
Ernährung
Prozessinvolvement Barth (1988)*
Verbrechen
gefühlsmäßige Beteiligung beim Fernsehen
+ (UV)
---
Perse (1990)
Sicherheitsrisiko
Aufmerksamkeit, Erinnerung, Elaboration, emotionale Reaktionen
---
+ (Aufmerksamkeit, UV)
Kim & Rubin (1997)*
Verbrechen
Involvement während der Rezeption
+ (UV)
---
Bilandzic (2002)*
Verbrechen
Aktivitätsindex: Verlust des Zeitgefühls, k.E. Aktivitäten nach der Rezeption
k.E.
Shrum (2006)
Materialismus
Transportation
© (IV)
---
Anmerkung: K1 = Kultivierung erster Ordnung, K2 = Kultivierung zweiter Ordnung, + (UV) = positiver Zusammenhang zwischen Involvement und Kultivierungsindikatoren, ©(IV) verstärkender Einfluss von Involvement auf Kultivierungseffekte, ª (IV) abschwächender Einfluss von Involvement auf Kultivierungseffekte, k.E. = kein Einfluss, --- = nicht gemessen, * Studie in Metaanalyse
Im Zusammenhang mit dem Prozessinvolvement ist der Forschungsstand etwas dichter, wobei die meisten Studien das Prozessinvolvement lediglich als unabhängige Variable betrachtet haben. Auch hier zeigt sich, dass das Prozessinvolvement grundsätzlich einen positiven Einfluss auf die Kultivierungsurteile hat. Die Forschungslage zum intervenierenden Einfluss des Prozessinvolvement bzw. von
206
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Absorbtion oder Transportation auf Kultivierungseffekte ist bislang noch dünn. So untersuchte lediglich Shrum (2006) konkret Interaktionseffekte zwischen Kultivierungsurteilen und Transportation. Dabei konnte er experimentell einen deutlichen Einfluss der Transportation nachweisen, insofern als ein hoher Transportationsgrad die Kultivierungseffekte verstärkte. Wie der Einfluss des Prozessinvolvement jedoch in längerfristig angelegten Studien ist, bleibt zu prüfen. Bislang jedoch gibt es gute Hinweise darauf, dass das Prozessinvolvement in der Lage ist, Kultivierungseffekte zu verstärken.
5.6
Wahrgenommener Realitätsgrad
Im Rahmen einer aktiven Fernsehrezeption, die Nutzungsmotivation, parasoziale Interaktion, Identifikation und Involvement umfasst, dürfte auch der wahrgenommene Realitätsgrad eine Rolle für Kultivierungseffekte spielen (für einen zusammenfassenden Überblick zum wahrgenommenen Realitätsgrad vgl. Busselle & Greenberg, 2000; Rothmund, Schreier & Groeben, 2001a; 2001b).
5.6.1
Hintergrund
Das Konstrukt des wahrgenommenen Realitätsgrades wurde in den sechziger Jahren im Rahmen der Gewaltforschung eingeführt. Man ging davon aus, dass aggressive Fernsehinhalte, die als realitätsnah eingestuft werden, aggressives Verhalten eher auslösen als Fernsehinhalte, die als realitätsfern wahrgenommen werden. Anlagen für diese Überlegung lassen sich bereits in den frühen Gewaltexperimenten finden. Bandura, Ross & Ross (1963) zeigten Kindern eine reale Gewaltszene, eine filmische Gewaltszene mit einem Menschen oder eine filmische Gewaltszene mit einer Zeichentrickfigur. Feshbach (1972) präsentierte seinen Probanden einen Dokumentarfilm oder einen fiktionalen Film. Beide fanden keine Unterschiede im aggressiven Verhalten der Kinder. In einem weiteren Experiment konnte Feshbach (1972) jedoch einen Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades feststellen. Hier wurde allen Probanden dieselbe Gewaltszene gezeigt. Eine Gruppe erhielt vorher die Information, dass es sich um eine reale Szene handelt, während die andere Gruppe den Hinweis bekam, es handele sich um den Ausschnitt aus einem Hollywood-Film. In einer anschließenden Spielsituation verhielt sich die Gruppe, die den vermeintlich realen Filmbeitrag gesehen hatte, aggressiver als die anderen Probanden. Ähnliche Gewaltexperimente bestätigten dies. So
5.6 Wahrgenommener Realitätsgrad
207
stellten etwa auch Berkowitz und Alioto (1973), Feshbach (1976) und Aktin (1983) fest, dass diejenigen, die reale gewalthaltige Filminhalte gesehen hatten, aggressiver waren, als jene, die fiktionale Inhalte gesehen hatten. Neben den Studien zum Einfluss von medialer Gewalt beschäftigten sich auch andere Forschungsbereiche mit dem wahrgenommenen Realitätsgrad. Ein Großteil der Forschung setzte sich mit der Frage auseinander, wie sich der wahrgenommene Realitätsgrad im Laufe der kognitiven Entwicklung von Kindern verändert. Hawkins (1979) zeigte in diesem Zusammenhang, dass der wahrgenommene Realitätsgrad (zumindest in den meisten Dimensionen) mit zunehmendem Alter abnimmt. Potter (1992) konnte dies einige Jahre später bestätigen. Andere Studien beschäftigen sich mit dem Zusammenhang des wahrgenommenen Realitätsgrades mit der Bewertung von Sendungen (vgl. z.B. Greenberg & Busselle, 1992) oder mit Nutzungsmotiven (Rubin, 1981b; 1983). Nicht zuletzt spielte der wahrgenommene Realitätsgrad auch in Studien zur Konstruktion sozialer Realität eine Rolle. Schon sehr früh deuteten Studien darauf hin, dass der wahrgenommene Realitätsgrad Realitätsurteile zu beeinflussen vermag. So stellten Slater und Elliott (1982) fest, dass der wahrgenommene Realitätsgrad der wichtigste Prädiktor für die Einschätzung verbrechensbezogener Realitätsurteile war. Perse (1986) zeigte, dass der wahrgenommene Realitätsgrad von Soap Operas einen Einfluss auf verschiedene Realitätsurteile hatte. Rubin et al. (1988) stellten Einflüsse des wahrgenommenen Realitätsgrades auf prosoziale Einstellungen fest. Die zugrunde liegende Annahme für diese Zusammenhänge formulierte Reeves (1978: S. 682): „Perceiving program content to be realistic is assumed to make TV information more socially useful and more likely to be assimilated equitably with information form non-television sources.“ Daher liegt die Annahme nahe, dass der wahrgenommene Realitätsgrad auch Kultivierungseffekte determiniert.
5.6.2
Konzeptionalisierung
Vor über 25 Jahren bemerkte Hawkins (1979: S. 5): „While researchers have been actively exploring the role of perceived reality, relatively little effort has gone toward an explification of the concept.“ In der Folge wurden mehrere Versuche unternommen, das Konzept des wahrgenommenen Realitätsgrades greifbar zu machen. Allen gemein ist die Beobachtung, dass der wahrgenommene Realitätsgrad mehrdimensional ist. Hawkins (1979) fand zwei Dimensionen: (1) Magic Window und (2) Soziale Erwartungen („social expectations“). Zusätzlich variierte der
208
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
wahrgenommene Realitätsgrad in Abhängigkeit vom Bezugsobjekt (Ereignisse vs. Familien). Potter (1988a; 1992) bezog sich ebenfalls auf die Dimension Magic Window und fand zusätzlich die Dimensionen Funktionalität („utility“) und Identifikation („identity“). Busselle und Greenberg (2000) folgend umfasst das Konzept des wahrgenommenen Realitätsgrades fünf Dimensionen: (1) Magic Window: Fernsehen als Fenster zur Realität, durch das Menschen und Ereignisse der Realität betrachtet werden können (vgl. Hawkins, 1979; Potter, 1988a; 1992). (2) Ähnlichkeit zur realen Welt: Ausmaß, mit dem Bilder im Fernsehen mit den Bildern der Realität korrespondieren. Hawkins (1979) nannte diese Dimension „social expectations“, definiert als „degree to which people and events on television are similar to those in the real world.“ (S. 10f.) (3) Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit: Möglichkeit, dass Ereignisse in der Realität auftreten, und Wahrscheinlichkeit, mit der sie auftreten können (vgl. Dorr, Graves & Phelps, 1980). (4) Identifikation: Wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen Personen und Ereignissen im Fernsehen mit Personen und Ereignissen der Realität. Potter (1992) beschrieb diese Dimension als „feeling of closeness to television characters and television shows. (…) People who closely follow a character on television might feel about that character like they feel about a close friend.“ (S. 28) (5) Nützlichkeit: Grad, mit dem Zuschauer aus der Darstellung im Fernsehen Nutzen für das eigene Leben ziehen. Potter (1988a) nannte diese Dimension „instruction“ oder „perceived utility” und definierte sie als „the belief in the applicability of television-conveyed lessons to a viewer’s own life” (S. 28; vgl. auch Potter, 1992). Spätestens bei den beiden letzten Definition wird die schwache Abgrenzung zwischen Dimensionen des wahrgenommenen Realitätsgrades und anderen Konstrukten aktiver Fernsehrezeption deutlich. So deckt sich die Dimension „Identifikation“ mit dem allgemeinen Begriffsverständnis von parasozialer Interaktion (vgl. Kapitel 5.3). Das Verständnis von „Nützlichkeit“ stimmt mit einem der klassischen Nutzungsmotive aus der Uses-and-Gratifications-Forschung überein (sozialer Nutzen, vgl. Kapitel 5.2). Ein weiteres Problem, das sich bei der Konzeptionalisierung des wahrgenommenen Realitätsgrades stellt, ist, dass Forscher sehr unterschiedliche Bezugsebenen und Bezugsobjekte betrachten. Reeves (1978) zeigte bereits sehr früh, dass der wahrgenommene Realitätsgrad je nach Untersuchungsebene (Fernsehen allgemein, spezifische Personengruppen, einzelne Charaktere) stark variiert. Haw-
5.6 Wahrgenommener Realitätsgrad
209
kins (1979) fand neben den Dimensionen Magic Window und Ähnlichkeit zur realen Welt zwei weitere, die sich im Bezugsobjekt unterschieden. Generell betrachten Studien zum wahrgenommenen Realitätsgrad sehr unterschiedliche Bezugsebenen. Während Reeves (1978) etwa in einen Index sechs Fragen zusammenfasste, die sich lediglich in der Bezugsebene unterschieden, benutzte Potter (1986) unterschiedliche Items, die sich einmal auf das Fernsehen bezogen und einmal auf Charaktere spezifischer Sendungen. Busselle und Greenberg (2000) weisen darauf hin, dass mindestens vier Ebenen zu unterscheiden sind, um den wahrgenommenen Realitätsgrad systematisch zu erfassen: (1) Fernsehen (globale Ebene), (2) Genre, (3) Serie bzw. spezifische Sendung, (4) Episode oder einzelne Szenen, Ereignisse oder Personen. Ähnlich disparat sind die Objekte, auf die sich Fragen zum wahrgenommenen Realitätsgrad beziehen. Manche fragten etwa nach dem Realitätsgrad von Polizisten oder Lehrern (z.B. Greenberg & Reeves, 1976; Potter, 1986; 1992), andere nach dem Realitätsgrad von Familien (z.B. Greenberg & Reeves, 1976; Hawkins, 1979; Potter, 1986; 1992), von Sportereignissen oder Geschichten im Fernsehen (Potter, 1992) oder von Verhalten (Hawkins, 1979; Reeves, 1978). Meist fassen Forscher Items zu verschiedenen Objekten in einem einzigen Index zusammen (z.B. Potter, 1992). Betrachtet man die aktuellere Literatur zum wahrgenommenen Realitätsgrad wie Aufätze von Busselle und Greenberg (2000) oder Rothmund et al. (2001a; 2001b), so wird noch immer der Bedarf deutlich, das Konzept zu überarbeiten. Obwohl sich die Forschung der Notwendigkeit einer besseren Konzeptionalisierung schon früh bewusst war (vgl. etwa Hawkins, 1979), wurde der wahrgenommene Realitätsgrad weiterhin sehr unterschiedlich operationalisiert. Dies wird nicht zuletzt deutlich, wenn man die Kultivierungsstudien betrachtet, die den Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades untersuchten. Fox und Philliber (1978), Bonfadelli (1983) und Tan et al. (1997) fragten den wahrgenommenen Realitätsgrad mit einem Item ab. Rubin et al. (1988) und Segrin und Nabi (2002) erhoben die Realitätsnähe des Fernsehens mit fünf Items, Aubrey et al. (2003) mit neun. Alle fassten die Items in einem Index zusammen. Andere extrahierten mehrere Dimensionen, die einmal den oben beschriebenen Dimensionen ähneln (Hawkins & Pingree, 1980; Potter, 1986; Davis & Mares, 1998; Raupach, 2006), sich das andere Mal thematisch unterscheiden (vgl. Busselle, 2001). Die einen fragten nach dem Realitätsgrad des Fernsehens (Hawkins & Pingree, 1980; Rubin et al., 1988; Segrin & Nabi, 2002; Aubrey et al., 2003), die anderen nach dem Realitätsgrad ausgewählter Sendungen (Slater & Elliott, 1982), einzelner Genres (Bonfadelli, 1982; Perse, 1986; Davis & Mares, 1998) oder mehrerer (Raupach, 2006).
210
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Bereits an dieser Stelle ist unschwer zu erkennen, dass eine letztgültige Aussage zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades auf Kultivierungseffekte nur schwer möglich sein wird. Die Befunde beruhen schlicht auf einem allzu disparaten Verständnis und Umgang mit dem Konzept des wahrgenommenen Realitätsgrades.
5.6.3
Wahrgenommener Realitätsgrad und Kultivierungseffekte
Tabelle 14 fasst die Kultivierungsstudien, die den Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades auf soziale Realitätsurteile untersuchten, zusammen. Die Operationalisierung des wahrgenommenen Realitätsgrades ist stichpunktartig festgehalten, genauso wie das Thema und der rechnerische Umgang mit dem Konstrukt als unabhängige oder intervenierende Variable. Tabelle 14: Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades auf Kultivierungseffekte (chronologischer Forschungsüberblick) Autoren (Jahr) Fox & Philliber (1978) Hawkins & Pingree (1980) BuerkelRothfuss et al. (1982)* Reeves & Garramone (1982)* Slater & Elliott (1982)
Thema
Reichtum
Gewalt
Familienrollen
Messung des wahrg. Realitätsgrades „How accurately do you believe TV programs to show American life?” (1 Item) Realitätsnähe des Fernsehens (8 Items, 2 Dimensionen: Magic Window, Social Expectations) Sind Familienmitglieder im TV wie im wirklichen Leben? (7 Items, 1 Index)
Einfluss auf K1
Einfluss auf K2
k.E. (UV/ IV)
---
k.E. (UV) ª (IV)
k.E. (UV) ª (IV)
© (IV)
---
---
k.E. (UV)
Personen
Anzahl Charaktere (von 19), die realitätsnah sind (additiver Index)
Gewalt
Wirklichkeitsgrad von 6 ausgewählten – (UV) Sendungen (je 1 Item, Index)
---
Atkin et al. (1983)*
Afroamerikaner
Realitätsgrad der Darstellung von Afroamerikanern (5 Items, 1 Index)
ª (IV)
k.E.
Bonfadelli (1983)*
Gewalt
Realitätsnähe von Krimis (1 Item)
© (IV)
---
Perse (1986)*
verschiedene Themen
Realitätsnähe von Serien (4 Items, 1 Index)
+ (UV)
---
(Fortsetzung auf der nächsten Seite)
211
5.6 Wahrgenommener Realitätsgrad
(Fortsetzung: Tabelle 14) Autoren (Jahr)
Thema
Messung des wahrg. Realitätsgrades
Einfluss auf K1 Magic Window ©, Instruction, Identity ª (IV)
Einfluss auf K2
Potter (1986)*
Gewalt
Realitätsnähe des Fernsehens (20 Items, 3 Dimensionen: Magic Window, Instruction, Identity)
Rubin et al. (1988)*
prosoziale Einstellungen
Realitätsnähe des Fernsehens (5 Items, 1 Index)
---
+ (UV)
Tan & Suarchavat (1988)*
Amerikaner
Realistische Darstellung der USA, verschiedene Sendungen (1 Item pro Sendung, Gesamtindex)
---
k.E. (UV)
Shrum (1996)*
verschiedene Themen
Realitätsnähe des Fernsehens (5 Items, 1 Index)
k.E. (UV)
---
Tan et al. (1997)*
Wertvorstellungen
Fernsehen ist wie das wirkliche Leben --(1 Item)
Davis & Mares (1998)*
Mitmenschen, Gesellschaft
Busselle (2001)
verschiedene Themen
Segrin & Nabi (2002)*
Ehe, Hochzeit
Realitätsnähe des Fernsehens (5 Items, 1 Index)
---
– (UV)
Aubrey et al. (2003)*
Beziehungen (sexuelle Erwartungen)
Realitätsnähe des Fernsehens (9 Items, 1 Index)
---
k.E. (UV)
Gewalt
Realitätsnähe Fernsehen, Fandungssendungen, Polizei-Dokus, Krimiserien (je 7 Items, 2 Dimensionen: PSI, Realitätsabbild Æ 1 Index basierend auf 5 Items)
k.E. (UV), Fahndungssendungen, Dokus ª Krimiserien © (IV)
Raupach (2006)
Realitätsgrad von Talkshows (9 Items: 3 Dimensionen: Identity, Instruction, Glaubwürdigkeit der Gäste) Realitätsnähe von Serien und Nachrichten (16 Items, 3 Dimensionen: Realitätsnähe von Verbrechen und Notfällen, Fernsehnachrichten, von Beziehungen im Fernsehen)
Identity © (IV)
---
k.E. (UV/IV) Identity © (IV)
Realitätsnähe von Ver--brechen + (UV)
k.E. (UV), Dokus © (IV)
Anmerkung: K1 = Kultivierung erster Ordnung, K2 = Kultivierung zweiter Ordnung, (UV) = wahrgenommener Realitätsgrad als unabhängige Variable, (IV) = wahrgenommener Realitätsgrad als intervenierende Variable (zwischen TV und Realitätswahrnehmung), + Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades als UV in Kultivierungsrichtung, – Einfluss als UV in entgegengesetzter Richtung, © stärkere Kultivierungseffekte bei hohem wR, ª stärkere Kultivierungseffekte bei niedrigem wR, k.E. = kein Einfluss, --- = nicht gemessen, * Studie in Metaanalyse
212
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Greift man die Befunde zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades als unabhängige Variable heraus, so lassen sich drei Studien finden, die feststellten, dass der wahrgenommene Realitätsgrad die Realitätsurteile in Kultivierungsrichtung beeinflusst (Perse, 1986; Rubin et al., 1988; Busselle, 2001). Zwei Studien fanden, dass der wahrgenommene Realitätsgrad Realitätsurteile entgegengesetzt zur Kultivierungsrichtung beeinflusst: Segrin und Nabi (2002) beispielsweise zeigten, dass das Fernsehen idealistische Vorstellungen von einer Ehe und die Heiratsabsicht der Zuschauer verstärkte, während der wahrgenommene Realitätsgrad eher negative Vorstellungen prägte und die Heiratsabsicht abschwächte (ähnlich verhielt es sich bei Slater & Elliott, 1982). Immerhin acht Studien konnten keinen Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades als unabhängige Variable feststellen (Fox & Philliber, 1978; Hawkins & Pingree, 1980; Reeves & Garramone, 1982; Tan & Suarchavat, 1988; Shrum, 1996; Tan et al., 1997; Aubrey et al., 2003; Raupach, 2003). Dies deutet darauf hin, dass der wahrgenommene Realitätsgrad als unabhängiger Faktor keinen systematischen Einfluss auf Realitätsurteile hat. Betrachtet man den wahrgenommenen Realitätsgrad als intervenierende Variable, ist das Muster weniger eindeutig. Zwei Studien konnten keine Interaktionseffekte zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommenem Realitätsgrad feststellen (Fox & Philliber, 1978; Tan et al., 1997), acht Studien fanden Interaktionseffekte. Diese fielen unterschiedlich aus: Hawkins und Pingree (1980) und Atkin et al. (1983) stellten fest, dass der wahrgenommene Realitätsgrad Kultivierungseffekte abschwächte. Buerkel-Rothfuss et al. (1982), Bonfadelli (1983) und Davis und Mares (1998) konnten die ursprüngliche Erwartung bestätigen, dass der wahrgenommene Realitätsgrad als Verstärker in den Kultivierungsprozess eingreift. Bei Atkin et al. (1983) und Raupach waren die Befunde gemischt. Bei Potter (1986) hingen die Ergebnisse von der jeweiligen Dimension des wahrgenommenen Realitätsgrades ab: Die Kultivierungseffekte wurden verstärkt, wenn die Zuschauer das Fernsehen als Fenster zur Welt sahen (Magic Window), die Dimensionen Nützlichkeit und Identifikation schwächten die Kultivierungseffekte hingegen ab. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass der wahrgenommene Realitätsgrad unter verschiedenen Involvement-Bedingungen unterschiedlich in den Kultivierungsprozess eingreift. Die Dimension Magic Window dürfte eher auf eine passive Rezeptionshaltung mit geringem Involvement hinweisen, in der die Zuschauer sich wenig Gedanken über Richtigkeit und Realitätsgrad von Fernsehinformationen machen. Sie akzeptieren das Fernsehen als Fenster zu Welt und denken nicht weiter darüber nach. Nützlichkeit und Identifikation könnten dagegen Symptome für eine aktive Rezeptionshaltung mit hohem Involvement sein (vgl. Rubin & Perse, 1987a).
5.6 Wahrgenommener Realitätsgrad
213
Um den divergierenden Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades zu verdeutlichen, ist es notwendig, einmal mehr ein paar Gedanken zu den psychischen Prozessen vorwegzunehmen (ausführlicher hierzu vgl. Kapitel 6). Treten Kultivierungseffekte unter Low-Involvement-Bedingungen auf und basieren somit auf heuristischen Informationsverarbeitungsprozessen, so ist davon auszugehen, dass die Menschen bei der Urteilsbildung nicht nach erschöpfenden Informationen suchen, sondern die Informationen als Grundlage nehmen, die ihnen zuerst einfallen (Verfügbarkeitsheuristik; vgl. z.B. Wyer & Srull, 1989). Dies kann mehrere Konsequenzen haben: Shrum et al. (1991) argumentieren, dass der wahrgenommene Realitätsgrad dann keinen Einfluss auf Kultivierungsurteile hat, da lediglich die Verfügbarkeit von Informationen für das Entstehen von Realitätsüberschätzungen verantwortlich ist, ungeachtet dessen, ob die Informationen nun als real oder irreal eingestuft werden: „Thus, more accessible information, even though it is not necessarily more believable, may be used as basis for judgment.“ (S. 756) Nun zeigten Wyer und Hartwick (1980), dass sich Personen an unplausible, also unrealistische, Informationen besser erinnerten. Die Probanden zogen diese unplausiblen, aber leichter zu rekrutierenden Informationen eher als Grundlage für Urteile heran als andere plausiblere Informationen. Daher ließe sich auch argumentieren, dass eher als irreal wahrgenommene Informationen – vermutlich aufgrund von Auffälligkeitsheuristiken – in die Realitätsurteile einfließen, also eher ein niedriger wahrgenommener Realitätsgrad die Kultivierungseffekte verstärkt. Andere Studien wiederum deuten darauf hin, dass Informationen dann verfügbarer sind, wenn sie als real eingestuft werden (vgl. z.B. Potts, St. John & Kirson, 1989; Busselle, 2001). Dies würde der ursprünglichen Sichtweise Rechnung tragen, dass ein hoher wahrgenommener Realitätsgrad Kultivierungseffekte verstärkt. Unter der Bedingung einer heuristischen Informationsverarbeitung lässt sich der Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades somit theoretisch kaum vorhersagen, was mit den divergierenden Einflüssen der Kultivierungsstudien konform geht. Mit welcher Konsequenz auch immer – bei jeder dieser Annahmen ist davon auszugehen, dass der wahrgenommene Realitätsgrad sich nicht direkt auf die Herausbildung von Kultivierungsurteilen auswirkt, sondern indirekt, über die verstärkte oder abgeschwächte Abspeicherung von Informationen im Gedächtnis. Basieren die Kultivierungsurteile hingegen auf systematischen Informationsverarbeitungsprozessen (bei hohem Involvement), wird der Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades nicht mehr indirekter Natur sein, sondern direkt bei der Herausbildung von Kultivierungsurteilen herangezogen werden. Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Realitätsgrad der Informationen werden dann direkt beurteilt und somit der Realitätsgrad von Informationen bewusst abgewogen (Busselle &
214
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Greenberg, 2000). Bei einem hohen Realitätsgrad dürfte dies dann zu einer Verstärkung von Kultivierungseffekten führen. Umgekehrt dürften dann bei niedrigem Realitätsgrad die Kultivierungseffekte schwächer ausfallen oder verschwinden. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Kultivierungseffekte sowohl durch heuristische als auch systematische Informationsverarbeitung entstehen können (vgl. hierzu Kapitel 6.2), so sind die disparaten Befunde zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades durchaus erklärbar. Um letztgültige Aussagen zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades machen zu können, sind jedoch weitere Studien notwendig, die die Zusammenhänge zwischen wahrgenommenem Realitätsgrad und Kultivierungseffekten untersuchen. Mindestens zwei Punkte sollten dabei zukünftig Berücksichtigung finden: (1) Die Studien sollten sich genauer damit beschäftigen, ob die Kultivierungseffekte unter Low- oder High-Involvement-Bedingungen entstehen und auf heuristischen oder systematischen Informationsverarbeitungsprozessen basieren, um so die oben vermuteten Interaktionseffekte aufdecken zu können. (2) Dabei ist es ratsam, das Begriffsverständnis des wahrgenommenen Realitätsgrades zu überdenken (vgl. Busselle, Ryabovolova, Wilson, 2004). Es dürfte hilfreich sein, das Konstrukt eng zu fassen und sich ausschließlich auf die Dimensionen Magic Window, Ähnlichkeit zur realen Welt sowie Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit (vgl. Kapitel 5.6.2) zu konzentrieren. Die generelle Forschung zum wahrgenommenen Realitätsgrad definiert das Konstrukt sehr breit (vgl. z.B. Busselle & Greenberg, 2000), wodurch es sich in einigen Dimensionen mit anderen Merkmalen der Rezeptionshaltung überschneidet (z.B. parasoziale Interaktion, Nützlichkeit von Informationen). Dies dürfte für eine umfassende Analyse des Einflusses verschiedener Rezeptionsmerkmale auf Kultivierungseffekte eher hinderlich sein, da die verschiedenen Interaktionseffekte dann nicht mehr eindeutig auf die Rezeptionsmerkmale zurückführbar sind. Auf diese Weise ließen sich dann sicherlich genauere Erkenntnisse zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades auf Kultivierungseffekte gewinnen. Auf Basis der bisherigen Kultivierungsstudien lässt sich lediglich festhalten, dass der wahrgenommene Realitätsgrad keinen unabhängigen Einfluss auf die Realitätsurteile zu haben scheint. Zudem weist die Mehrheit der Studien darauf hin, dass es einen Interaktionseffekt zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommenen Realitätsgrad gibt, der die Realitätsurteile determiniert. In welche Richtung der Einfluss dann jedoch geht, muss auf Basis des bisherigen Forschungsstandes und auch aufgrund der theoretischen Überlegungen offen bleiben.
5.7 Zusammenfassung
5.7
215
Zusammenfassung
Das vorangegangene Kapitel beschreibt den ersten Schritt der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess: Selektions- und Rezeptionsmerkmale. Es wurden Bedingungen und Merkmale der Fernsehnutzung betrachtet, Operationalisierungsfragen der unabhängigen Variable diskutiert und Merkmale der aktiven Rezeption unter die Lupe genommen, namentlich Nutzungsmotive, parasoziale Interaktion, Identifikation, Involvement und wahrgenommener Realitätsgrad. Betrachtet man die Ausführungen im Überblick, so kann man nur schwer der Versuchung widerstehen, Cohen und Weimann (2000) zu zitieren. Sie fassten den Status der Kultivierungsforschung einmal so zusammen: „The viewing of some genres by some viewers has some effects on some beliefs.“ (S. 109) Hat man vor der eingehenden Betrachtung der beteiligten Rezeptionsmerkmale noch erwartet, in der Gesamtschau der Publikationen Muster aufzudecken, die aufzeigen, unter welchen Bedingungen Kultivierungseffekte verstärkt auftreten und wann sie abgeschwächt werden, so steht man nun enttäuscht vor den disparaten Befunden und muss einmal mehr eingestehen, dass die Zusammenhänge nicht so einfach zu greifen sind. Der Versuchung widerstehend, das Kapitel mit dem zitierten Allgemeinplatz enden zu lassen, seien die diskutierten Zusammenhänge im Folgenden zusammengefasst.
5.7.1
Selektion
Zunächst bleibt festzuhalten, dass die generelle Annahme der nonselektiven Fernsehnutzung nicht mehr haltbar ist. Gestiegenes Kanalangebot und technische Neuerungen haben Fernsehgewohnheiten verändert und Selektionsmöglichkeiten erhöht. Es wird mehr ferngesehen und zu anderen Zeiten, Fernsehrepertoires bestehen aus mehr Kanälen und die durch das geringe Angebot bedingte passive nonselektive Konsumhaltung ist zu großen Teilen einer aktiven selektiven Rezeptionshaltung gewichen. Dies betrifft nicht nur die wenig sehenden Zuschauer, sondern genauso die Vielseher. Nach wie vor lassen sich zwar einzelne Vielseher passiv von einer Vielzahl unterschiedlicher Sendungen berieseln, doch sind diese in der Minderheit. Die meisten Vielseher nutzen ganz bestimmte Genremenüs. Aufgrund unterschiedlicher Metabotschaften bedeutet das für die meisten Realitätsbereiche, dass einzelne Genres die Realitätswahrnehmung der Zuschauer besser erklären als die gesamte Fernsehnutzung (vgl. Kapitel 4). Wie Potter und Chang (1990) und Woo und Dominick (2001) zeigten, ist es für die empirische
216
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Umsetzung jedoch ratsam, nicht nur die bloße Genrenutzungshäufigkeit abzufragen, sondern Genreanteile zu ermitteln, d.h. den Anteil der Nutzung bestimmter Genres an der Gesamtfernsehnutzung. Zumindest teilweise erklärt diese Operationalisierung mehr als die bloße Nutzungshäufigkeit. Geht es nun aber darum, die Fernsehnutzung umfassend zu erheben, um Einflüsse genreübergreifender Metabotschaften zu untersuchen, so muss das ganze Genrespektrum erfasst und sinnvoll zu einem größeren Ganzen zusammengefasst werden. Hierfür eignen sich Genremenüs. Diese bleiben in der Regel über Jahre hinweg stabil (vgl. z.B. Brosius et al., 1992; Karnowski, 2003) und bilden somit die langfristigen Fernsehnutzungsgewohnheiten der Zuschauer in ihrer Ganzheit ab. Mit dieser Vorgehensweise wird zwei Sichtweisen Rechnung getragen: (1) Sie wird der Forderung gerecht, dass die Fernsehnutzung genauer zu betrachten ist, als es die allgemeine Nutzungsdauer zulässt. (2) Genauso wird sie der Forderung Gerbners und seiner Kollegen gerecht, die Sozialisationsfunktion des Fernsehens nicht in kleinteilige Wirkungszusammenhänge zu untergliedern, sondern ganzheitlich zu betrachten.
5.7.2
Aktive Rezeption
In Folge der zunehmenden Selektionsmöglichkeiten verschwand das Bild des rein passiven Rezipienten bald in der Versenkung. Er wurde verdrängt vom aktiven Rezipienten, der bewusst bestimmte Fernsehinhalte auswählt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.
5.7.2.1
Nutzungsmotive
So dauerte es nicht lange und die Kultivierungsforschung erkannte das Potenzial, die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung unter Berücksichtung der Nutzungsaktivität besser zu erklären. Von Anfang an konkurrierten zwei gegensätzliche Sichtweisen: Auf der einen Seite ging man davon aus, dass eine passive und ritualisierte Fernsehnutzung Kultivierungseffekte verstärkt, weil die Rezipienten weniger aufmerksam sind und somit leichter überzeugt und beeinflusst werden können (z.B. Blumler, 1979). Rubin (1993) vermutete, dass passive Rezipienten stärker beeinflusst werden als aktive, weil Letztere rational darüber entscheiden, ob sie eine Botschaft akzeptieren oder zurückweisen. Auf der anderen Seite nahm man an, dass eine instrumentelle Fernsehnutzung die Kultivierungseffekte verstärkt, weil sie mit einer größeren Motivation und Bereitschaft
5.7 Zusammenfassung
217
einhergeht, zu selektieren, zu interpretieren und auf Botschaften zu reagieren (z.B. Windahl, 1981). Fasst man die rund 20 Kultivierungsstudien zum Einfluss von ritualisierten oder instrumentellen Nutzungsmotiven zusammen, so ist nur sehr schwer ein eindeutiges Muster zu erkennen. Ob man die Befunde nun nach Thema, Genre, Kultivierung erster und zweiter Ordnung, Viel- und Wenigsehern klassifiziert, die Ergebnisse bleiben ähnlich disparat. Weder Thema noch Genre scheinen für den Einfluss der Nutzungsmotivation einen Unterschied zu machen. Ähnlich verhält es sich mit Differenzierungen nach Viel- und Wenigsehern oder bei Betrachtung der Nutzungsmotive als unabhängige oder intervenierende Variable. Lediglich die Differenzierung nach Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung lässt eine leichte Tendenz dahingehend erkennen, dass eine aktive Rezeptionshaltung vor allem Kultivierungseffekte erster Ordnung verstärkt, während bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung sowohl eine passive als auch eine aktive Rezeptionshaltung verstärkend wirken kann. Eine weitere Tendenz lässt sich in der Chronologie der Studien erkennen. So fanden vor allem ältere Studien heraus, dass eine passive Rezeptionshaltung Kultivierungseffekte verstärkt, während Studien neueren Datums – vermutlich aufgrund der generell veränderten Rezeptionsweise der Zuschauer – nur noch vereinzelt Hinweise auf einen verstärkenden Einfluss passiver Rezeption finden. Insgesamt finden sich etwas mehr Belege dafür, dass eine aktive, instrumentelle Fernsehnutzung Kultivierungseffekte verstärkt. Dies wirkt sich vor allem auf Kultivierungseffekte erster Ordnung aus. Möglicherweise lässt sich das dadurch erklären, dass eine aktive und aufmerksame Nutzung (ähnlich wie ein hohes Prozessinvolvement) die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Informationen aus dem Fernsehen im Gedächtnis gespeichert werden. Bei der Abfrage von Kultivierungsurteilen erster Ordnung sind diese – folgt man dem Modell der heuristischen Informationsverarbeitung von Shrum (2004) – schneller verfügbar und erhöhen somit die Wahrscheinlichkeit, dass die darauf basierenden Realitätsurteile der Fernsehdarstellung entsprechen. Davon ausgehend, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung nicht erinnerungsgestützt gebildet werden, sondern während der Rezeption, kann eine aktive Rezeptionshaltung hinderlich sein, weil Fernsehinhalte, die den eigenen bereits vorhandenen Einstellungen widersprechen, schwerer im eigenen Einstellungsspektrum aufgenommen werden (ebd., vgl. zu diesen Modellannahmen Kapitel 6.3).
218 5.7.2.2
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Parasoziale Beziehungen
Zum Einfluss von parasozialen Beziehungen lässt sich auf Basis der bisherigen Kultivierungsforschung bislang wenig aussagen. Einzelne Kultivierungsforscher formulierten die Vermutung, dass parasoziale Beziehungen einen verstärkenden Einfluss auf Kultivierungseffekte haben (Conway & Rubin, 1991; Rubin, 1993; Kim & Rubin, 1997). Auch gibt aus angrenzenden Forschungsbereichen, etwa aus der Gesundheitskommunikation, Hinweise darauf, dass parasoziale Beziehungen den Einfluss des Fernsehens auf Realitätsurteile oder Verhalten verstärken (Brown & Basil, 1995; Harrison, 1997; Rubin & Step, 2000). Im Zusammenhang mit der Kultivierungshypothese wurde dies bislang nicht explizit untersucht. Eine im Rahmen einer Lehrveranstaltung am IfKW durchgeführte Studie (s.o.) deutet darauf hin, dass ein hoher Grad an parasozialen Beziehungen Kultivierungseffekte verstärkt. Diese Befunde bedürfen jedoch weiterer Replikation.
5.7.2.3
Identifikation
Ähnlich spärlich wurde bislang der Einfluss der Identifikation untersucht. Die wenigen Studien machen jedoch deutlich, dass eine genauere Betrachtung des Merkmals durchaus lohnenswert ist. Alle aufgeführten Studien zeigen, dass die Identifikation mit Fernsehcharakteren die Realitätswahrnehmung beeinflusst, sei es als unabhängige Variable (Reeves & Garramore, 1982; Atkin et al., 1983) oder als intervenierende Variable (Morgan, 1983; Rossmann & Brosius, 2005). Dabei wurden Kultivierungseffekte von einem hohen Identifikationsgrad verstärkt.
5.7.2.4
Involvement
Des Weiteren gibt es Hinweise dafür, dass das Involvement der Zuschauer einen Einfluss auf Kultivierungseffekte hat. Zwei Arten des Involvement sind zu unterscheiden: Themeninvolvement und Prozessinvolvement. Den Einfluss des Themeninvolvement haben bislang nur zwei Kultivierungsstudien untersucht. Beide Studien deuten darauf hin, dass das Themeninvolvement als unabhängige Variable Häufigkeitsvorstellungen und Einstellungen positiv (also in Kultivierungsrichtung) beeinflusst. Als intervenierende Variable betrachtet zeigen die Studien jedoch einen gegenläufigen Effekt. Während Schoenwald (2006) beobachtete, dass ein hohes Themeninvolvement die Kultivierungseffekte abschwächte, stellte Lücke (2006)
5.7 Zusammenfassung
219
fest, dass das Themeninvolvement die Effekte verstärkte. Es ist denkbar, dass das Themeninvolvement Kultivierungseffekte in zweierlei Hinsicht beeinflusst. So wirkt es zum einen vermutlich als aktivierende Variable, die eine aufmerksamere Auseinandersetzung mit den Fernsehinhalten mit sich bringt. Dadurch werden diese Informationen besser erinnert und somit eher als Basis für Kultivierungsurteile herangezogen. Zum anderen kann es sein, dass es zu einem Deckeneffekt kommt, wenn das Involvement so stark ist, dass sich die Rezipienten bewusst mit den Fernsehinhalten auseinandersetzen und somit Verzerrungen in der Darstellung deutlich werden. In diesem Fall ist eine Abschwächung von Kultivierungseffekten zu erwarten. Im Zusammenhang mit dem Prozessinvolvement ist der Forschungsstand etwas dichter, wobei die meisten Studien das Prozessinvolvement lediglich als unabhängige Variable betrachtet haben. Auch hier zeigt sich, dass das Prozessinvolvement grundsätzlich einen positiven Einfluss auf die Kultivierungsurteile hat. Lediglich Shrum (2006) untersuchte jedoch Interaktionseffekte zwischen Kultivierungsurteilen und Prozessinvolvement. Er konnte einen deutlichen Einfluss nachweisen, wonach ein hoher Grad an Involvement während der Rezeption die Kultivierungseffekte verstärkte.
5.7.2.5
Wahrgenommener Realitätsgrad
Zuletzt seien nochmals die Befunde zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades zusammengefasst. Trotz einer dichten Forschungslage sind die Befunde recht disparat. Betrachteten die Studien den wahrgenommenen Realitätsgrad als unabhängigen Faktor, so fanden sie mehrheitlich keine signifikanten Zusammenhänge mit der Realitätswahrnehmung. Untersuchten sie den intervenierenden Einfluss des Realitätsgrades, so zeigt die Mehrheit der Studien zumindest, dass es einen Interaktionseffekt zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommenen Realitätsgrad gibt. In welche Richtung der Einfluss jedoch geht, muss auf Basis der Studien und aufgrund theoretischer Überlegungen offen bleiben. Argumentiert man mit dem Modell der heuristischen Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess, so sind theoretisch mehrere Zusammenhänge möglich. Shrum et al. (1991) konstatierten, dass der wahrgenommene Realitätsgrad keinen Einfluss auf Kultivierungsurteile hat, da lediglich die Verfügbarkeit von Informationen für das Entstehen von Realitätsüberschätzungen verantwortlich ist, ungeachtet dessen, ob die Informationen als real eingestuft werden oder nicht. Wyer und Hartwick (1980) zeigten dagegen, dass sich Personen an unplausible
220
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Informationen besser erinnern. So ließe sich auch argumentieren, dass eher als irreal wahrgenommene Informationen in die Realitätsurteile einfließen und daher ein niedriger wahrgenommener Realitätsgrad die Kultivierungseffekte verstärkt. Andere Studien wiederum deuten darauf hin, dass Informationen verfügbarer sind, wenn sie als real eingestuft werden (vgl. z.B. Potts, St. John & Kirson, 1989; Busselle, 2001). Dies würde der Sichtweise Rechnung tragen, dass ein hoher wahrgenommener Realitätsgrad Kultivierungseffekte verstärkt. Unter der Bedingung einer heuristischen Informationsverarbeitung lässt sich der Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades somit theoretisch kaum vorhersagen. Basieren die Kultivierungsurteile hingegen auf systematischen Informationsverarbeitungsprozessen, wird der Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades nicht mehr indirekter Natur sein, sondern direkt bei der Herausbildung von Kultivierungsurteilen herangezogen werden. Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Realitätsgrad der Informationen werden dann direkt beurteilt und der Realitätsgrad von Informationen bewusst abgewogen (Busselle & Greenberg, 2000). Bei einem hohen Realitätsgrad verstärkt das die Kultivierungseffekte. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Kultivierungseffekte sowohl durch heuristische als auch systematische Informationsverarbeitung entstehen können (vgl. hierzu Kapitel 6.2), so sind die disparaten Befunde zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades durchaus erklärbar. Um letztgültige Aussagen zum Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades machen zu können, sind jedoch weitere Studien notwendig.
5.7.2.6
Zusammenfassung: Aktive Rezeption
Insgesamt lässt sich auf Basis der bisherigen Erörterungen vermuten, dass parasoziale Beziehungen, Identifikation und Prozessinvolvement einen verstärkenden Einfluss auf Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung haben. In Bezug auf eine instrumentelle oder ritualisierte Nutzungsmotivation ist davon auszugehen, dass Kultivierungseffekte erster Ordnung durch eine instrumentelle Nutzung verstärkt werden, wohingegen bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung ein verstärkender Einfluss instrumenteller und ritualisierter Nutzungsmotive denkbar ist. Ähnlich verhält es sich beim wahrgenommenen Realitätsgrad und beim Themeninvolvement. Bei beiden Merkmalen deuten theoretische Überlegungen und empirische Befunde darauf hin, dass sie Kultivierungseffekte verstärken oder abschwächen. Abbildung 20 fügt diese Überlegungen in das Prozessmodell ein.
Quelle: Eigene Darstellung.
Fernsehbotschaft
• Darstellungsmerkmale
REZEPTION • Nutzungsmotive: aktive oder passive Nutzung + • Parasoziale Beziehungen: + • Identifikation: + • Themeninvolvement: +/• Prozessinvolvement: + • Wahrgenommener Realitätsgrad: +/-
KULTIVIERUNG ZWEITER ORDNUNG
Einstellungen und Wertvorstellungen
GENERALISIERUNG
Einschätzung von soziodemographischen Verteilungen und Ereignishäufigkeiten in der Realität
KULTIVIERUNG ERSTER ORDNUNG
• Metabotschaften SPEICHERUNG KONSTRUKTION auf unterschiedlichen WAHRNEHMUNG Aggregierungsebenen: Zufällig Fernsehen, Genres, gespeicherte Wahrgenommene Sendungen, themenFernsehFernsehbotschaft spezifische Aggregate, informationen Genremenüs
REZEPTION • Nutzungsmotive: aktive Nutzung + • Parasoziale Beziehungen: + • Identifikation: + • Themeninvolvement: +/• Prozessinvolvement: + • Wahrgenommener Realitätsgrad: +/-
5.7 Zusammenfassung
221
Abbildung 20: Vorläufiges Modell des Kultivierungsprozesses IV – Selektion und Rezeption
SELEKTION
222
5 Die Bedeutung selektiver und aktiver Fernsehrezeption
Die Selektion der Fernsehinhalte setzt dabei vor der Fernsehbotschaft an, da sie darüber entscheidet, welche Fernsehbotschaften überhaupt rezipiert werden. Die Merkmale der Rezeption sind kreisförmig dargestellt, um ihre Prozesshaftigkeit zu veranschaulichen. Sie wirken sich sowohl auf die Wahrnehmung der Fernsehinhalte aus als auch auf die Speicherung von Fernsehinformationen. Rezeptionshaltung, Selektion und nicht zuletzt die dargebotenen Fernsehinhalte beschreiben damit den ersten Schritt im Kultivierungsprozess, den Tapper (1995) als „content acquisition“ beschreibt: “The first part of the process (content acquisition) concerns the information to which viewers are exposed. In the content acquisition phase viewers select and interpret incoming television information at different levels of various types of activity. The factors that influence the level and type of active participation in the content acquisition phase determine in large part which information the viewer will store in long-term memory.” (Tapper, 1995: S. 40)
Der Frage, wie es auf dieser Basis zur Speicherung der Fernsehinformationen im Gedächtnis kommt und wie die gespeicherten Informationen die Realitätswahrnehmung beeinflussen, widmet sich das folgende Kapitel.
6
Psychische Prozesse
Die ersten Forscher, die sich empirisch damit auseinandergesetzt haben, wie man die Kultivierung psychologisch erklären kann, waren Hawkins et al. (1987) und Potter (1988b; 1991a; 1991c). Kapitel 3 stellte dies bereits eingehend dar, weshalb ihre Annahmen und Befunde an dieser Stelle nur knapp rekapituliert werden. Die Autoren gingen davon aus, dass der Kultivierungseffekt auf einem Lernprozess basiert: Zuschauer lernen die rezipierten Fernsehinhalte und konstruieren daraus ihre Realitätswahrnehmung. Einen solchen Lernprozess konnten die Autoren jedoch nicht nachweisen. Belege für einen Konstruktionsprozess, bei dem Kultivierungsurteile aus dem Gedächtnis konstruiert werden, fanden sie. Sie stellten aber noch keine genaueren Annahmen über die zugrunde liegenden psychischen Prozesse und die Struktur der Gedächtnisinhalte an. Ähnlich verhält es sich mit der Generalisierung von Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung. Potter (1988b; 1991a) fand signifikante Zusammenhänge zwischen Einschätzungen und Einstellungen, die auf einen Generalisierungsprozess hindeuten. Auch aktuellere Studien liefern Hinweise auf einen solchen Zusammenhang. Andere Studien deuten darauf hin, dass es Situationen gibt, in denen Einstellungen unabhängig von den Einschätzungen über die Realität gebildet werden. So lassen sich Kultivierungseffekte zweiter Ordnung häufig auch dann nachweisen, wenn gar keine Kultivierungseffekte erster Ordnung vorhanden sind (vgl. Kapitel 3.3.2). Die Autoren konnten ihre Modellvorstellungen nicht vollständig untermauern, aber die Befunde zur Konstruktion und Generalisierung weisen auf unterschiedliche psychische Prozesse bei Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung hin: (1) Kultivierungsurteile erster Ordnung scheinen aus dem Gedächtnis konstruiert zu werden. Ungeklärt ist, wie Fernsehinformationen im Gedächtnis gespeichert werden und wie es zur Konstruktion der Realitätswahrnehmung aus den gespeicherten Informationen kommt. (2) Kultivierungsurteile zweiter Ordnung können aus Kultivierungsurteilen erster Ordnung konstruiert werden. Dies ist nicht immer der Fall. Es ist anzunehmen, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung auf irgendeine Art und Weise auch direkt aus dem Fernsehen gebildet werden. Auch hier bleibt zu klären, wie die beiden Prozesse ablaufen.
224 6.1
6 Psychische Prozesse
On-line-Urteile und erinnerungsgestützte Urteilsbildung
Das Phänomen, dass Urteile auf der Basis gespeicherter Informationen gebildet werden oder bereits während der Informationsaufnahme (z.B. Fernsehrezeption), ist in der Psychologie unter den Begriffen erinnerungsgestützt (memory based) und online bekannt. Erinnerungsgestützte Urteile werden erst dann gebildet, wenn sie benötigt werden, z.B. bei der Abfrage von Realitätsurteilen: Früher gespeicherte Informationen werden in der Befragungssituation rekrutiert und auf deren Basis ein Urteil gefällt (Hastie & Park, 1986; im Überblick vgl. Hertel & Bless, 2000). Die Unterscheidung von On-line-Urteilen und erinnerungsgestützten Urteilen ermöglicht es, divergierende Zusammenhänge zwischen Urteilen und verfügbaren Gedächtnisinhalten zu erklären. Wie bei Hawkins et al. (1987) und Potter (1991a; 1991c) zeigte sich in der Psychologie bisweilen, dass manche Urteile mit Gedächtnisinformationen zusammenhingen und andere nicht (Hertel & Bless, 2000). In dem einen Fall handelt es sich um erinnerungsgestützte Urteile, im anderen um On-line-Urteile. Letztere werden gespeichert und können zu einem späteren Zeitpunkt unabhängig von vorhandenen Einzelinformationen abgerufen werden (Sherman, Zehner, Johnson & Hirt, 1983; Hastie & Park, 1986). Korrelationen zwischen on-line gebildeten Urteilen und gespeicherten Gedächtnisinformationen sind daher nicht zu erwarten. Eine der folgenden drei Bedingungen muss gegeben sein, damit Urteile on-line gebildet werden (vgl. Hertel & Bless, 2000): (1) (2) (3)
Zum Zeitpunkt der Enkodierung von Informationen ist bekannt, dass ein Urteil benötigt wird (Hastie & Park, 1986). Die Wahrnehmungsobjekte sind besonders relevant (Involvement) und die Aufmerksamkeit wird nicht abgelenkt (z.B. Newman & Uleman, 1989). Es existieren bereits Urteile zu ähnlichen Wahrnehmungsobjekten. Diese dienen als Urteilsanker und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass neue Informationen vor dem Hintergrund bekannter Urteile verarbeitet werden (Hastie & Pennington, 1989).
Umgekehrt werden Urteile folglich dann erinnerungsgestützt gefällt, wenn zum Zeitpunkt der Informationsaufnahme kein Anlass für ein Urteil besteht, wenn die Informationen keine Relevanz besitzen und wenn keine verwandten Urteile vorhanden sind, die die Urteilsbildung erleichtern. Shrum (2004) geht davon aus, dass Kultivierungsurteile erster Ordnung erinnerungsgestützt gebildet werden und Kultivierungsurteile zweiter Ordnung, z.B. Einstellungen, bereits während der Rezeption, also on-line. Die Befunde von Hawkins et al. (1987) und Potter (1991a ; 1991c) bekräftigen diese Vermutung. So stellten sie bei Kultivierungsurteilen erster
6.1 On-line-Urteile und erinnerungsgestützte Urteilsbildung
225
Ordnung Zusammenhänge mit den gespeicherten Fernsehinformationen fest, bei Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung nur vereinzelt. Auch die Bedingungen für die Entstehung von On-line-Urteilen lassen vermuten, dass Kultivierungseffekte erster Ordnung eher erinnerungsgestützt gebildet werden: Von uns aus denken wir generell wenig über typische Kultivierungsfragen erster Ordnung nach. Wann fragen wir uns im Alltag schon, wie viele Krankenschwestern intrigant sind (vgl. Rossmann, 2002), bei wie vielen Verbrechen Täter und Opfer verwandt sind (z.B. Hawkins & Pingree, 1980; Bilandzic, 2002) oder wie viele Männer als Rechtsanwalt tätig sind (Buerkel-Rothfuss & Mayes, 1981; Carveth & Alexander, 1985)? Dementsprechend dürfte uns selten bereits während der Informationensaufnahme klar sein, dass wir ein solches Urteil fällen werden (Bedingung 1). Auch besitzen die Fragen für uns in der Regel keine persönliche Relevanz (Bedingung 2) und wir haben vorher keine ähnlichen Häufigkeitsurteile gebildet (Bedingung 3). Es ist also unwahrscheinlich, dass Kultivierungsurteile erster Ordnung on-line gebildet werden: „In fact, it may be the case that such integration of television information does not occur until such a question is asked by the experimenter.“ (Shrum, 1995: S. 419; Hervorh. im Original) Bei Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung verhält es sich anders. Wir sind es gewohnt, uns im Alltag zu den verschiedensten Personen, Themen und Ereignissen eine Meinung zu bilden – zumindest dann, wenn ein Thema für uns relevant ist (hohes Involvement). Sehen wir im Fernsehen beispielsweise einen Beitrag über einen Fleischskandal in unserer Stadt, ist das für die meisten von uns ein relevantes Thema, weil es möglich ist, dass wir unbewusst bereits Fleisch gegessen haben, dass nicht mehr frisch war, oder dies noch tun werden. Wir werden uns daher bereits während der Rezeption ein Urteil über dieses Thema bilden. Die Einstellung entsteht on-line. Dies entspricht den Befunden von McConnell, Rydell und Leibold (2002), wonach Einstellungen und Werturteile typischerweise on-line gebildet werden. Es gibt aber auch Themen, die für uns von untergeordneter Bedeutung sind (niedriges Involvement). Für einen Handwerker dürfte es beispielsweise relativ irrelevant sein, ob Studiengebühren eingeführt werden oder nicht. Wenn er im Fernsehen mit diesem Thema konfrontiert wird, entwickelt er zunächst keine Einstellung dazu. Wird er aber später nach seiner Meinung zur Einführung von Studiengebühren gefragt, bildet er dieses erinnerungsgestützt aus den Informationen, die er unbewusst gespeichert hat. Die Urteilsbildung bei Kultivierung erster und zweiter Ordnung dürfte also zumindest teilweise auf unterschiedlichen psychischen Prozessen basieren (vgl. Shrum, 2004). Aus diesem Grund setzt sich das vorliegende Kapitel separat mit der Entstehung von Kultivierungseffekten erster und zweiter Ordnung auseinander.
226 6.2
6 Psychische Prozesse
Kultivierung erster Ordnung
Shrum et al. (1991), Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) waren unter den ersten, die explizite Überlegungen darüber anstellten, was sich bis zur Herausbildung von Realitätsurteilen im Gedächtnis der Rezipienten abspielt. Empirisch am besten belegt sind die Überlegungen von Shrum und Kollegen (Shrum et al., 1991; Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum, 1996; Shrum et al., 1998; Shrum, 2001), weshalb Shrum’s „Heuristic Processing Model of Television Effects” (z.B. Shrum, 2002) zuerst vorgestellt wird.
6.2.1
Heuristische Informationsverarbeitung
Im Zentrum der Überlegungen von Shrum und Kollegen steht die Verfügbarkeit von Konstrukten oder Beispielen (construct accessiblity und exemplar accessiblity). Diese sind von Bedeutung, weil Individuen bei der Urteilsbildung häufig nicht das ganze Gedächtnis nach Informationen absuchen. Sie greifen vielmehr auf wenige Informationen zurück, die für die Urteile ausreichen. Brosius (1995) beschreibt diese Vorgehensweise als „alltagsrational“, da Menschen bei der Vielzahl an Entscheidungen, die sie im Alltag treffen, schlichtweg überfordert wären, würden sie jedes Mal alle verfügbaren Informationen heranziehen. Stattdessen treffen sie einen Großteil ihrer Entscheidungen heuristisch, also über verkürzte Entscheidungswege. Eine dieser Abkürzungen beruht auf der Verwendung von Informationen, die am schnellsten verfügbar sind (vgl. z.B. Sherman & Corty, 1984; Bargh & Thein, 1985; Wyer & Srull, 1986; 1989). Die construct accessibility, also die Verfügbarkeit von Informationen, kann unter der Bedingung einer heuristischen Urteilsbildung darüber entscheiden, welche Informationen die Basis für die Herausbildung unserer Urteile bilden.
6.2.1.1
Speicherung der Informationen: Storage Bin-Modell
Um die Wirksamkeit verfügbarer Konstrukte nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, sich bildlich vor Augen zu führen, wie Informationen im Gedächtnis gespeichert werden. Verschiedene Modelle sind denkbar und tatsächlich scheint jeder Forscher, der sich mit psychischen Prozessen in der Kultivierung beschäftigt, ein anderes Modell zu bevorzugen. Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) beziehen sich auf die Multiple Trace-Theorie (vgl. z.B. Hintzman & Block, 1971),
6.2 Kultivierung erster Ordnung
227
Tapper (1995) verweist auf die Adaptive Thought of Control-Theorie (vgl. Anderson, 1976; 1983a) und Shrum rekurriert auf das Storage Bin-Modell von Wyer und Srull (1986; 1989). Allen Modellen gemein ist, dass sie Metaphern benutzen, um die Vorgänge im Gedächtnis zu verdeutlichen (z.B. Spuren, Netze, Speicherbehälter). Auch lässt sich der Wirkungsmechanismus verfügbarer Konstrukte mit allen Modellen veranschaulichen (s.u.). Das Modell von Wyer und Srull (1986; 1989) eignet sich für den Anfang besonders gut, weil es die Bedeutung von Häufigkeit (frequency) und Aktualität (recency) für die Konstruktverfügbarkeit integriert und somit den entscheidenden Anknüpfungspunkt zur Kultivierung vorstellbar macht. Nach Wyer und Srulls (1986) Modell besteht das Langzeitgedächtnis aus einer Sammlung von unterschiedlichen Speicherbehältern (storage bins): (1) Der semantische Behälter ist das Wörterbuch des Langzeitgedächtnisses. Er kommt in den frühen Phasen des Informationsverarbeitungsprozesses zum Einsatz und dient dazu, wahrgenommene Informationen zu interpretieren und einzuordnen. (2) Referenzbehälter sind kognitive Lexika. Jeder Behälter enthält eine oder mehrere Informationen über ein bestimmtes Bezugsobjekt (z.B. mein Arzt, das Münchner Oktoberfest) oder über eine Gruppe von Bezugsobjekten (Ärzte, Jahrmärkte). Referenz-Behälter kommen in den anspruchsvolleren Phasen des Informationsverarbeitungsprozesses zum Tragen, z.B. bei der Urteilsbildung. (3) Eine spezifische Form des Referenzbehälters ist der Ziel-Behälter. Er enthält kognitive Repräsentationen von Abläufen, die spezifizieren, welche Schritte notwendig sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Aus den Definitionen ist unschwer zu erkennen, welche Form des Langzeitgedächtnisses entscheidend ist, wenn es um die Herausbildung von Kultivierungsurteilen geht. Es handelt sich um die Referenzbehälter, die das gesammelte Wissen über spezifische Personen, Objekte, Ereignisse und Verhaltensweisen oder generelle Personen, Objekte, Ereignisse und Verhaltensweisen (d.h. Prototypen, Stereotypen, Schemata) enthalten. Die Metapher der Vorratsbehälter macht es möglich, die Verfügbarkeit von Informationen zu veranschaulichen. Wyer und Srull (1986) postulieren, dass neue oder kürzlich aktivierte Informationen im Behälter an oberster Stelle liegen. Neue, gerade verarbeitete Informationen werden im relevanten Referenzbehälter so abgelegt, dass sie in dem Behälter ganz oben liegen. Dasselbe geschieht, wenn Informationen aus dem Gedächtnis hervorgeholt werden, z.B. bei der Urteilsbildung: Die relevanten Informationen werden kopiert und im Arbeitsspeicher weiterverarbeitet. Nach Beendigung des kognitiven Prozesses legt sich die kopierte Information im
228
6 Psychische Prozesse
entsprechenden Referenzbehälter an oberster Stelle ab. Kürzlich gespeicherte Informationen und Informationen, die häufig aktiviert und in Kopie erneut abgelegt werden, befinden sich somit an oberster Stelle. Für die Urteilsbildung sind die kürzlich gespeicherten oder häufig aktivierten Informationen von besonderer Bedeutung. Denn Wyer und Srull (1986) gehen davon aus, dass die relevanten Gedächtnisspeicher bei der Rekrutierung von Informationen in einem Top-Down-Prozess, von oben nach unten, durchsucht werden. Die Informationen, die im Gedächtnis an oberster Stelle liegen, sind also bei der Rekrutierung von Informationen am leichtesten zugänglich und am schnellsten verfügbar. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass genau diese Informationen für Urteile herangezogen werden: „Information stored more recently stands a greater probability of being retrieved first, and the information first retrieved in turn stands a greater probability of being used as a basis for judgment.“ (Shrum & O’Guinn, 1993: S. 442)
6.2.1.2
Abruf der Informationen: Verfügbarkeitsheuristiken
Einer der konsistentesten Befunde aus der sozialkognitiven Forschung ist, dass Individuen für die Urteilsbildung überraschend wenig Informationen heranziehen (vgl. Taylor & Fiske, 1978; Wyer & Srull, 1989; Shrum & O’Guinn, 1993). Meist suchen wir das Gedächtnis nicht nach allen denkbaren Informationen ab, sondern geben uns mit einer begrenzten Informationsmenge zufrieden. Angenommen wir werden gebeten, den Anteil geschwätziger Putzkräfte an allen deutschen Putzkräften einzuschätzen. Shrum (1995) folgend gibt es dann vier Möglichkeiten, dieses Häufigkeitsurteil zu bilden: (1) Vollständige Suche nach allen relevanten Informationen: Wir versuchen uns an jede Putzkraft zu erinnern, die uns im Gedächtnis ist und bewerten ihre Geschwätzigkeit. Aus der Gesamtheit der gefundenen Informationen errechnen wir quasi ein Gesamturteil. Dieser Prozess kostet Energie, Kapazität und Zeit, weshalb er nur dann vollzogen wird, wenn die Motivation, das „richtige“ Urteil zu fällen, hoch ist. Dies dürfte bei diesem Beispiel eher selten der Fall sein. (2) Es ist daher denkbar, dass wir den Anteil geschwätziger Putzkräfte auf der Basis eines oder weniger Beispiele aus dem Gedächtnis bilden: Haben wir etwa die Erfahrung gemacht, dass alle Putzkräfte, die wir kennen, viel reden, so wird das Urteil über den Anteil redseliger Putzkräfte hoch ausfallen. (3) Eine andere Möglichkeit bietet die Urteilsbildung auf der Basis der Anzahl verfügbarer Beispiele: In diesem Fall geht es nicht mehr um eine genaue Evaluie-
6.2 Kultivierung erster Ordnung
229
rung der verfügbaren Beispiele, sondern um die benötigte Zeit für die Erstellung einer kognitiven Liste mit geschwätzigen Putzkräften. Fällt dies sehr leicht, hat man in kurzer Zeit eine lange Liste mit geschwätzigen Putzkräften erstellt. Das Realitätsurteil wird entsprechend hoch ausfallen. (4) Einen noch kürzeren Weg können wir gehen, wenn wir das Urteil auf Basis der Leichtigkeit fällen, mit der nur ein Beispiel aus dem Gedächtnis rekrutiert werden kann: Entscheidend ist hier die Schnelligkeit, mit der ein Beispiel erinnert wird. Die Anzahl geschwätziger Putzfrauen wird umso höher eingeschätzt, je schneller wir ein Beispiel aus dem Gedächtnis rekrutieren. Die beschriebenen Strategien unterscheiden sich in ihrem kognitiven Aufwand, der von der ersten bis zur vierten Strategie abnimmt. Je nachdem, ob wir in ein Thema involviert sind, ob wir motiviert sind, das richtige Urteil zu fällen und wie viel Zeit für die Urteilsbildung zur Verfügung steht, wählen wir Wege, die einen höheren oder niedrigeren kognitiven Aufwand erfordern. Sind wir aufgrund starker Betroffenheit hochmotiviert, das richtige Urteil zu fällen, so werden wir die erste Strategie wählen. Gehen wir mit einer sehr geringen Motivation an die Urteilsbildung heran, so werden wir den Weg eher abkürzen und den vierten Weg wählen (vgl. Chaiken, 1980; Petty & Cacioppo, 1986a; Shrum, 1995). Die drei letzten Möglichkeiten der Urteilsbildung beschreiben Heuristiken, die auf der Verfügbarkeit von Beispielen basieren. Es handelt sich um Verfügbarkeitsheuristiken (vgl. Tversky und Kahneman, 1973a; Schwarz et al., 1991; Manis, Shedler, Jonides & Nelson, 1993). Tversky und Kahneman (1973a) definieren diese als „judgmental heuristic in which a person evaluates the frequency of classes or the probability of events by availability, i.e., by the ease with which relevant instances come to mind.” (S. 207) Neben Verfügbarkeitsheuristiken sind der sozialkognitiven Forschung auch andere Heuristiken bekannt: So beeinflusst die Leichtigkeit, mit der man sich ein Beispiel oder Ereignis vorstellen kann, das Urteil über die Auftretenshäufigkeit dieser Beispiele oder Ereignisse (simulation heuristic, vgl. Kahneman & Tversky, 1982; Sherman et al., 1985). Alternativ können auch representativeness heuristics wirksam werden, durch die die Häufigkeit von Ereignissen höher eingeschätzt wird, wenn sie mit bestehenden übergeordneten Vorstellungen (z.B. Prototypen) übereinstimmen (vgl. Kahnemann & Tversky, 1972; Kahneman & Tversky, 1973b). Sherman und Corty (1984) gehen von einer hierarchischen Abstufung der verschiedenen Heuristiken aus: Wenn ein relevantes Beispiel verfügbar ist, kommt die Verfügbarkeitsheuristik zur Anwendung. Ist dies nicht der Fall, aber das Bewertungsobjekt passt zu einem gespeicherten Prototyp, schlägt die Repräsentativitätsheuristik zu.
230
6 Psychische Prozesse
Erst wenn weder Beispiel noch Prototyp vorhanden sind, wird das Urteil auf Basis der Simulationsheuristik gebildet. Verschiedene Faktoren können die Verfügbarkeit von Informationen im Gedächtnis beeinflussen (Bruner, 1957; Higgins & King, 1981). Wyer und Srull (1986) stellen in ihrem Modell die Bedeutung von Häufigkeit und Kürzlichkeit in den Vordergrund (vgl. auch Higgins & King, 1981): Am stärksten verfügbar sind die Informationen, die häufig aktiviert werden oder erst vor kurzer Zeit aktiviert wurden. Auch die Lebhaftigkeit (vividness; vgl. Reyes, Thompson & Bower, 1980) und Auffälligkeit (distinctiveness; vgl. Higgins & King, 1981) von Informationen verstärkt ihre Verfügbarkeit. Schließlich kann auch die Relevanz von Informationen (Gregory, Cialdini & Carpenter, 1982) und ihr Bezug zu anderen Konstrukten (Higgins & King, 1981) zur höheren Konstruktverfügbarkeit beitragen.
6.2.1.3
Kultivierung als Ergebnis heuristischer Informationsverarbeitung
Anhand der Faktoren, die die Verfügbarkeit von Konstrukten im Gedächtnis verstärken, lässt sich nun verdeutlichen, wie sich die dargestellten Überlegungen in den Kultivierungsprozess einfügen (vgl. z.B. Shrum, 1995):
Frequency: Menschen, die viel fernsehen, sind bestimmten medialen Personen und Ereignissen, die in den rezipierten Genres mehrheitlich vertreten sind, häufig ausgesetzt. Während der Fernsehnutzung werden die Konstrukte (Personen, Ereignissen), die noch nicht vorhanden sind, neu im Gedächtnisspeicher abgelegt. Konstrukte, die bereits vorhanden sind, werden durch die Fernsehrezeption wiederholt aktiviert und gelangen so immer wieder an die oberste Stelle des Speichers. Fernsehbeispiele werden stärker verfügbar. Bei Vielsehern wiederholt sich dieser Vorgang häufiger. Recency: Durch die häufige Fernsehnutzung ist die Aktivierung bestimmter Fernsehbeispiele jeweils noch nicht lange her: „Perhaps simply due to higher probability of recently encountering a televised portrayal, such portrayals are more frequently represented, making their retrieval more probable.“ (Shrum, et al., 1991: S. 756) Auch der Einflussfaktor Aktualität wird somit durch die häufige Fernsehrezeption bedient. Vividness: Grundsätzlich stellt das Fernsehen im Vergleich zu den meisten anderen Medien Ereignisse sehr lebhaft dar, weil es bewegte Bilder, Sprache und Musik vereint. Auch durch die Lebhaftigkeit der Fernsehbeispiele wird sich somit die Verfügbarkeit der entsprechenden Konstrukte verstärken.
231
6.2 Kultivierung erster Ordnung
Die Zusammenhänge, die wir zwischen Fernsehnutzung und Einschätzung bestimmter Personengruppen oder Ereignishäufigkeiten messen, gehen also auf die stärkere Verfügbarkeit der Fernsehbeispiele zurück. Abbildung 21 stellt dies am Beispiel von Ärzten dar: Vielseher von Arztserien haben mehr Beispiele im relevanten Referenzbehältern gespeichert. Durch die häufige und dadurch bedingte aktuelle Rezeption von Arztserien sind viele Fernsehbeispiele vorhanden, die an oberster Stelle liegen. Arztserien-Wenigseher kennen weniger Beispiele und diese stammen mehrheitlich aus nicht-medialen Quellen.
Abbildung 21: Verfügbare Beispiele für Ärzte im Langzeitgedächtnis von Viel- und Wenigsehern von Arztserien (Prinzip des Storage Bin-Modells) Langzeitgedächtnis: ArztserienVielseher
Langzeitgedächtnis: ArztserienWenigseher
Ref. Z Wörterbuch
Ref. Z Wörterbuch
Ziele
Ziele
Ref. Y
Ref. Y
Carter (TV)
Ref. Ärzte
Kovec (TV) Sommerfeld (TV) Frank (TV) Brinkmann (TV) Hausarzt (R) Cardiologe (IPK)
Ref. X
Ref. Ärzte
Hausarzt (R)
Ref. X
Orthopäde (R) Chirurg (IPK) Brinkmann (TV)
Abkürzungen: TV = Beispiel aus dem Fernsehen, R = Beispiel aus direkter Realitätserfahrung, IPK = Beispiel aus interpersonaler Kommunikation Quelle: Eigene Darstellung.
Auf der Basis von Verfügbarkeitsheuristiken ist es auch möglich, in Kultivierungsstudien beobachtete Unregelmäßigkeiten zu erklären. Der Kultivierungsidee und dem Einfluss von Häufigkeit und Aktualität auf die Konstruktverfügbarkeit folgend, wird die Häufigkeit bestimmter Beispiele oder Ereignisse in der Realität nur dann überschätzt, wenn diese im Fernsehen auch häufig präsent sind. Bisweilen zeigt sich aber auch, dass bestimmte auffällige Charaktere im Fernsehen ebenfalls
232
6 Psychische Prozesse
zu einer Überschätzung ihres Vorkommens in der Realitätswahrnehmung führen (z.B. die intrigante Krankenschwester, vgl. Rossmann, 2002; Kapitel 4.2.7). Dies lässt sich über die Auffälligkeit dieses Beispiels und die daraus resultierende Verfügbarkeit dieses Beispiels erklären (vgl. Siebels, 2004, s.u.). Verfügbarkeitsheuristiken beeinflussen unsere Urteile nur dann, wenn wir diese heuristisch fällen. Es gibt mehrere Argumente dafür, dass Kultivierungsurteile erster Ordnung meist heuristisch gefällt werden. So geht Shrum (1995) davon aus, dass Kultivierungseffekte erster Ordnung allein deshalb auf Heuristiken basieren, weil die Befragungssituation eine heuristische Informationsverarbeitung induziert:
Das Involvement ist bei einer Befragung meistens gering, v.a. wenn es sich um schriftliche Befragungen handelt. Wie die Metaanalyse zeigt, sind diese in der Kultivierungsforschung in der Mehrzahl. In der Regel besteht für die Befragten also kein Risiko, die falsche Antwort zu geben, da das Urteil keine Folgen für sie hat. Dies wird in Befragungsinstruktionen üblicherweise betont. Auch wird in Fragebögen in der Regel darauf hingewiesen, nicht allzu lange über eine Frage nachzudenken und spontan zu antworten. Auch die Befragten selbst wollen meistens schnell fertig werden, so dass ein gewisser Zeitdruck entsteht, der eine heuristische Urteilsbildung wahrscheinlich macht.
Hinzu kommt, dass typische Kultivierungsurteile erster Ordnung für uns in der Regel eher eine untergeordnete Bedeutung haben. Wir fragen uns im Alltag selten, wie wahrscheinlich es ist, dass bestimmte Ereignisse eintreten, und wie häufig die Menschen in diesen und jenen Berufen arbeiten (vgl. Kapitel 6.1) Auch deshalb sind wir bei der Herausbildung von Kultivierungsurteilen erster Ordnung in der Regel nur wenig involviert und fällen Realitätsurteile heuristisch.
6.2.1.4
Empirische Belege
Shrum hat seine Überlegungen zu den psychologischen Wirkungsmechanismen von Verfügbarkeitsheuristiken im Kultivierungsprozess in zahlreichen Studien geprüft und belegt. 1991 führten Shrum et al. zwei Kultivierungsstudien durch, die die Antwortgeschwindigkeit der Probanden bei Kultivierungsfragen erster Ordnung maßen (Shrum et al., 1991). Damit bedienten sich die Autoren einer der gebräuchlichsten Vorgehensweise, um die Wirksamkeit von Verfügbarkeitsheuristiken zu messen (vgl. z.B. Fazio, 1990). Die Studie zeigte nicht nur, dass Vielseher die Anzahl von Leuten, die reich sind und sich mit Luxusgütern umgeben, überschätzen. Sie zeigte auch, dass Vielseher schneller antworteten als Wenigseher. Offenbar
6.2 Kultivierung erster Ordnung
233
konnten die Vielseher schnell auf relevante Beispiele im Gedächtnis zugreifen, wodurch das Häufigkeitsurteil schneller gefällt wurde und höher ausfiel. Shrum und O’Guinn (1993) konnten diese Beobachtung replizieren. Die Probanden mussten Einschätzungsfragen zu Verbrechen und unmoralischem Verhalten computergestützt beantworten, so dass auch hier die Antwortgeschwindigkeit gemessen werden konnte. Wie in der ersten Studie antworteten Vielseher der jeweils relevanten Genres (eine vorgeschaltete Inhaltsanalyse gab Auskunft darüber, welche Themen welche Genres dominierten) deutlich schneller und überschätzten hypothesenkonform die Auftretenswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Ereignisse und Verhaltensweisen. Wurde die Antwortgeschwindigkeit in Partialkorrelationen kontrolliert, verschwanden die Zusammenhänge. 1996 bestätigte Shrum dies erneut. Zusätzlich zu Fernsehnutzung (Serien), Realitätswahrnehmung und Antwortgeschwindigkeit wurden verschiedene Kontrollvariablen (Lesegeschwindigkeit, Need for Cognition, Intention, Aufmerksamkeit und wahrgenommener Realitätsgrad) erfasst. Abermals konnten genrespezifische Kultivierungseffekte auf Verfügbarkeitsheuristiken zurückgeführt werden: Diejenigen, die sehr häufig Serien sahen, antworteten schneller und schätzten die Häufigkeiten höher ein. Pfadanalysen zeigten bei zwei von drei Realitätsbereichen, dass die Seriennutzung die Realitätswahrnehmung lediglich indirekt über die Antwortgeschwindigkeit beeinflusste. Der direkte Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Kultivierungsurteil verschwand nach Kontrolle der Antwortgeschwindigkeit. Need for Cognition und wahrgenommener Realitätsgrad hatten keinen Einfluss auf diese Zusammenhänge. Auch dies deutet darauf hin, dass die Urteile heuristisch gebildet werden. Aufmerksamkeit und Intentionalität beeinflussten die Realitätswahrnehmung nicht direkt, sondern über die Antwortgeschwindigkeit (Shrum, 1996). Diese Beobachtung lässt sich leicht erklären: Es ist anzunehmen, dass höhere Aufmerksamkeit und Intentionalität bei der Fernsehnutzung die Wahrnehmung und Speicherung von Fernsehbeispielen verstärkt. Die Rezeptionsmerkmale erhöhen also die Wahrscheinlichkeit, dass Fernsehbeispiele im Gedächtnis verfügbar sind. Da die spätere Urteilsbildung heuristisch erfolgt, spielen Aufmerksamkeit und Intentionalität dann keine Rolle mehr. Die beschriebenen Befunde belegen relativ eindeutig, dass die Bildung von Kultivierungsurteilen erster Ordnung häufig heuristisch erfolgt. Ob es sich dabei nun um Verfügbarkeitsheuristiken oder andere Heuristiken handelt (Repräsentativität, Simulation), kann damit noch nicht eindeutig gesagt werden. Busselle und Shrum (2003) führten eine Studie durch, die den Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und der Leichtigkeit, mit der ein Beispiel für bestimmte soziale Ereignisse aus dem Gedächtnis rekrutiert werden kann, untersuchte. Studierende wurden hierfür gebeten,
234
6 Psychische Prozesse
jeweils an ein Beispiel für Ereignisse wie Morde, Gerichtsverhandlungen, Operationen, Verabredungen etc. zu denken. Die Geschwindigkeit, mit der Beispiele erinnert wurden, wurde per Computer erfasst. Zusätzlich wurde die subjektiv empfundene Leichtigkeit, ein Beispiel zu finden, abgefragt. Danach wurden die Probanden gebeten, die Quelle ihrer Beispiele anzugeben. Tatsächlich zeigte sich, dass die genannten Beispiele für Ereignisse, die häufig in den Medien präsent sind, meist aus medialen Quellen stammten (z.B. Gerichtsverhandlung, Mord). Beispiele aus direkter Realitätserfahrung wurden eher rekrutiert, wenn es sich um Realitätsbereiche handelte, die im alltäglichen Leben häufiger vorkommen (z.B. Autounfälle auf der Autobahn, Verabredungen), auch wenn sie in den Medien häufig gezeigt werden. Dies lässt sich mit den Annahmen des Resonanz-Konzeptes (vgl. Gerbner et al., 1980a) vereinbaren. Einhergehend mit den Überlegungen zur Wirkung von Verfügbarkeitsheuristiken zeigte sich, dass den Probanden die Rekrutierung von Beispielen umso leichter fiel, je häufiger sie Fernsehsendungen gesehen hatten, in denen die abgefragten Ereignisse vorkamen. Die Studie fragte zwar keine Realitätsurteile ab, um zu prüfen, ob die erinnerten Beispiele Kultivierungseffekte tatsächlich erklären. Im Verbund mit den bereits dargestellten Studien von Shrum lässt sich jedoch ein klares Muster erkennen, das mit den Vorstellungen heuristischer Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess einhergeht. Kultivierungsurteile erster Ordnung werden durch heuristische Urteilsbildung begünstigt. Busselle und Shrum (2003) zeigten nun, dass dabei Verfügbarkeitsheuristiken wirksam werden: Denn Vielsehern fiel es bei sozialen Ereignissen, die in den Medien präsent sind, leichter, Beispiele zu rekrutieren. Auch nannten sie dann eher mediale Beispiele.50 Die bisherigen Studien hatten die heuristische Urteilsbildung lediglich indirekt über die Antwortgeschwindigkeit und Leichtigkeit der Rekrutierung von Beispielen operationalisiert. Es ist jedoch denkbar, dass Vielseher generell schneller antworten als Wenigseher. Shrum (2001) prüfte daher in einer weiteren Studie direkt den Einfluss von heuristischer versus systematischer Informationsverarbeitung. Es handelte sich um ein Befragungsexperiment mit drei Experimentalgruppen: Die erste Gruppe (heuristisch) erhielt die Information, dass die Forscher an spontanen Antworten interessiert seien, und wurden aufgefordert, jeweils die erste Antwort zu notieren, die ihnen ins Gedächtnis kam: „give the first answer that occurs to you, (...) of the top of your head.“ (ebd.: S. 102). Die zweite Gruppe (systematisch) wurde aufgefordert, möglichst 50
Auch Shapiro und Lang (1991) zeigten in ihrer Studie, dass Rezipienten sehr gut in der Lage sind, Beispiele für verschiedene Realitätsbereiche zu nennen und ihre Quelle anzugeben. Die Anzahl genannter Fernsehbeispiele stieg mit zunehmendem Fernsehkonsum: Vielseher nannten also eher Fernsehbeispiele als Wenigseher. Da Shapiro und Lang (1991) von einer anderen Modellvorstellung des Kultivierungsprozesses ausgehen, stellt erst Kapitel 6.1.2 diese Studie vor.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
235
genau zu antworten, da die Interviewer ihre Antworten im Anschluss bewerten und mit ihnen diskutieren würden. Die Kontrollgruppe erhielt einfach die Anweisung, die folgenden Fragen zu beantworten. Kontrollfragen zum Involvement bei der Urteilsbildung zeigten, dass die Manipulation gelungen war. Kultivierungseffekte konnten nur in der heuristischen und in der Kontrollgruppe festgestellt werden. Eine systematische Urteilsbildung verhinderte die Kultivierungseffekte: Waren die Probanden angehalten, genau über ihre Urteile nachzudenken, evaluierten sie die im Gedächtnis verfügbaren Beispiele offenbar genauer als bei heuristischer Urteilsbildung. Es ist denkbar, dass den Vielsehern in diesem Fall bewusst wurde, dass einige der verfügbaren Beispiele aus dem Fernsehen stammten, so dass sie diese dann nicht mehr als Basis für ihr Urteil heranzogen. Shrum et al.’s (1998) Experiment zum Priming der Informationsquelle bestätigt die Vermutung, dass die Wirksamkeit verfügbarer Fernsehbeispiele nachlässt, wenn sich die Rezipienten der Tatsache bewusst sind, dass ihre Urteile durch das Fernsehen determiniert sind: Drei Experimentalgruppen erhielten unterschiedliche Hinweise auf die Bedeutung des Fernsehens. Bei einer Gruppe wurde das Fernsehverhalten vor den Realitätsurteilen abgefragt, wodurch indirekt ein Prime auf das Fernsehen als Quelle verfügbarer Beispiele gesetzt wurde (source priming). Die zweite Gruppe wurde vor der Befragung auf die möglichen Einflüsse des Fernsehens hingewiesen (relational priming). Bei der dritten Gruppe wurde die Befragung ohne Fernseh-Prime durchgeführt (das Fernsehnutzungsverhalten wurde nach den Realitätsurteilen abgefragt). Nur in dieser Gruppe konnten Kultivierungseffekte nachgewiesen werden. Offenbar werden Fernsehbeispiele nicht für das Realitätsurteil herangezogen, wenn die Quelle berücksichtigt wird. Dieser Prozess scheint aber unbewusst abzulaufen, denn im Debriefing gaben die Probanden an, bei der Urteilsbildung keine bestimmten Informationen ausgeklammert zu haben. Auch Zhang und Krcmar (2004) untersuchten den Einfluss von PrimingProzeduren auf Kultivierungseffekte. Ausgehend von der Theorie of Reasoned Action (Fishbein & Ajzen, 1975; siehe Kapitel 6.3.2) vermuteten sie, dass sich die unterschiedlichen Priming-Situationen auch auf Einstellungen und Verhaltensintentionen auswirken würden. Die Manipulation der Gruppen erfolgte genauso wie bei Shrum et al. (1998) (EG1: source priming, EG2: relational priming, KG: no priming). Im Zusammenhang mit Realitätsurteilen erster Ordnung konnten die Autoren die Ergebnisse von Shrum et al. (1998) replizieren. Auch hier wurden Kultivierungseffekte erster Ordnung nur in der Kontrollgruppe beobachtet. Im Zusammenhang mit Einstellungen und Verhaltensintentionen zeigten sich hingegen keine Unterschiede. Die Überlegungen zur heuristischen Urteilsbildung im Kultivierungsprozess scheinen nur auf Kultivierungseffekte erster Ordnung zuzutreffen.
236
6 Psychische Prozesse
Einstellungen und Verhaltensintentionen werden wohl bereits vor der Abfrage gebildet, weshalb unterschiedliche Bedingungen bei der Urteilsbildung, wie z.B. eine unterschiedliche Motivation, dann nicht mehr greifen. Bislang wenig untersucht wurde die Frage, wie es dazu kommt, dass bestimmte Fernsehbeispiele im Gedächtnis verfügbar sind. Aus der sozialkognitiven Forschung ist bekannt, dass bestimmte Faktoren wie Häufigkeit, Aktualität und Lebhaftigkeit die Verfügbarkeit von Beispielen fördern (s.o.). Die grundlegende Annahme ist, dass das Fernsehen bei häufig dargestellten Objekten oder Ereignissen die Verfügbarkeit entsprechender Beispiele im Gedächtnis von Vielsehern verstärkt. Durch die häufige Aktivierung von Beispielen greift auch der Faktor Aktualität (recency). Möglich ist aber auch, dass bestimmte Fernsehbeispiele durch ihre Auffälligkeit verfügbar werden. Siebels (2004) untersuchte dies, indem sie 120 Studierenden die Beschreibung einer vorgeblich neuen Krankenhausserie vorlegte (vgl. Kapitel 4.2.7). Die beschriebenen Rollen der Serie unterschieden sich in ihrem Auffälligkeitsgrad: So wurden Krankenschwestern entweder dem prototypischen Bild der Krankenschwester entsprechend als freundlich, fürsorglich etc. beschrieben oder – dem prototypischen Bild widersprechend – als intrigant. Der Faktor wurde dreistufig variiert: Einer Experimentalgruppe wurde eine Version mit drei typischen Krankenschwestern und einer intriganten vorgelegt (3:1), bei der zweiten Gruppe war das Verhältnis umgekehrt (1:3) und bei der dritten waren typische und intrigante Krankenschwestern zu gleichen Teilen vertreten (2:2). Die Ergebnisse der Untersuchung deuteten auf einen Einfluss von Auffälligkeit und Häufigkeit der Fernsehbeispiele hin: Probanden, denen drei prototypische und ein untypisches Beispiel vorgelegt worden waren (3:1), schätzten den Anteil intriganter (also untypischer) Krankenschwestern in der Realität höher ein, als die Gruppe mit ausgeglichenem Verhältnis. Probanden, die drei untypische Rollenbeschreibungen gelesen hatten und nur ein typisches (1:3), taten dies ebenso. Bei der ersten Gruppe scheint die Auffälligkeit des untypischen Beispiels ausschlaggebend gewesen zu sein, bei der anderen Gruppe die Häufigkeit. Freilich sind diese Befunde zunächst nur eingeschränkt auf Kultivierungseffekte übertragbar, da den Probanden keine Fernsehinhalte, sondern lediglich die Beschreibung einer fiktiven Serie vorgelegt wurde. Valider, aber auch deutlich aufwändiger wäre es, ein ähnliches Experiment mit Filmmaterial zu wiederholen. Generell besteht vor allem im Zusammenhang mit der Frage, welche Fernsehbeispiele im Gedächtnis wie gespeichert werden und verfügbarer sind als andere Beispiele, im Rahmen des Kultivierungsprozesses noch großer Forschungsbedarf. Davon abgesehen deuten die dargestellten Studien insgesamt doch auf eine recht konsistente Vorstellung davon hin, wie Kultivierungseffekte erster Ordnung zustandekommen.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
6.2.1.5
237
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich an diesem Punkt festhalten, dass Kultivierungseffekte erster Ordnung durch heuristische Urteilsbildung begünstigt werden. Die Realitätsurteile werden zum Zeitpunkt der Abfrage auf Basis von Verfügbarkeitsheuristiken aus dem Gedächtnis gebildet. Wird häufig ferngesehen, sind es vorwiegend Fernsehbeispiele, die im Gedächtnis verfügbar sind, da diese häufig aktiviert werden, wodurch sie in der Regel immer auch erst kürzlich aktiviert wurden. Auch die generelle Lebhaftigkeit des Fernsehens und auffällige Beispiele tragen dazu bei, dass Fernsehbeispiele bei Vielsehern im Gedächtnis besonders verfügbar sind. Bei der Abfrage der Realitätsurteile sind es dann genau diese Beispiele, die den Rezipienten am schnellsten einfallen, so dass sie als Grundlage für Realitätsurteile herangezogen werden. Eine Reihe von Studien hat sich mit diesem Prozess auseinandergesetzt und einige Aspekte, die die Wirksamkeit dieser Überlegungen unterstützen, belegt:
Vielseher antworten schneller. Sie können offenbar schneller auf verfügbare Beispiele im Gedächtnis zugreifen als Wenigseher (Shrum et al., 1991; Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum, 1996). Verfügbarkeitsheuristiken sind für Kultivierungseffekte erster Ordnung verantwortlich. Wird die Antwortgeschwindigkeit kontrolliert, so verschwinden die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Realitätsurteilen erster Ordnung (Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum, 1996). Vielsehern fällt es leichter, Beispiele für typische Fernsehereignisse zu rekrutieren als Wenigsehern. Vielseher nennen auch mehr Beispiele aus dem Fernsehen als Wenigseher (Busselle & Shrum, 2003). Urteile erster Ordnung werden in der Regel heuristisch gefällt. Werden Rezipienten gebeten, über ihre Antworten genauer nachzudenken (systematische Urteilsbildung), verschwindet der Kultivierungseffekt (Shrum, 2001). Die Quelle erinnerter Beispiele wird bei heuristischer Urteilsbildung vermutlich nicht berücksichtigt. Denken die Rezipienten über die Quelle nach, wird ihnen bewusst, dass ihre Urteile auf Fernsehbeispielen beruhen, und die Kultivierungseffekte verschwinden (Shrum et al., 1998; Zhang & Krcmar, 2004). Die Überlegung, dass das Fernsehen die Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen über Häufigkeit und Aktualität (Darstellung und Rezeption) sowie Lebhaftigkeit und Auffälligkeit (Darstellung) verstärkt, wurde im Zusammenhang mit der Kultivierungshypothese bislang nicht explizit geprüft. Eine Ausnahme bietet das Experiment von Siebels (2004): Häufigkeit und Auffälligkeit beschriebener Fernsehbeispiele beeinflussen nach ihren Befunden die Urteile über ihre Häufigkeit in der Realität.
238
6 Psychische Prozesse
Shrum (2002: S. 87) fasste seine Befunde und Überlegungen im „Heuristic Processing Model of Television Effects“ (vgl. Abbildung 22) zusammen.
Abbildung 22: Flussdiagramm des Modells heuristischer Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess (Shrum, 2002) Abfrage eines Kultivierungsurteils
Vielseher Massenmedien
Direkte Realitätserfahrung Gedächtnissuche
Wenigseher
Interpersonale Kommunikation
Motivation zur Verarbeitung?
nein
ja
Fähigkeit zur Verarbeitung?
nein
Heuristische Urteilsbildung
ja Systematische Urteilsbildung
ja Quellenbewertung
Quellen-Prime vorhanden?
nein Kein Kultivierungseffekt
Kultivierungseffekt
Anmerkung: Ellipsen verdeutlichen mentale Prozesse. Der dickere Pfeil vom Vielseher zur Gedächtnissuche verdeutlicht den stärkeren Einfluss des Fernsehens bei Vielsehern. Quelle: Shrum, 2002: S. 87.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
239
Die Anlehnung an das Elaboration-Likelihood-Modell (ELM) von Petty und Cacioppo (1986a; 1986b) ist unschwer zu erkennen. Wie im ELM entscheidet zunächst die Motivation zur Urteilsbildung darüber, ob Urteile heuristisch gefällt werden oder systematisch, also auf der Basis einer umfassenden Suche nach allen verfügbaren Informationen. Bei hoher Motivation wird der systematische Weg eingeschlagen. Fehlt dann aber die kognitive Fähigkeit, alle verfügbaren Informationen zu evaluieren (z.B. wegen Zeitmangels), kommt es wieder zur heuristischen Urteilsbildung. Danach ist entscheidend, ob die Quelle der verfügbaren Informationen evaluiert wird. Die systematische oder – wie Petty und Cacioppo (1986) sie nennen – zentrale Route führt dazu, dass verfügbare Information im Gedächtnis nach ihrer Quelle evaluiert werden. Dies hebelt die Möglichkeit eines Kultivierungseffekts bei Vielsehern aus. Sie würden in diesem Fall erkennen, dass eine Vielzahl erinnerter Informationen aus dem Fernsehen stammt, und diese nicht in ihr Realitätsurteil einbeziehen. Nach Shrum (2002) kommt es infolgedessen zu keinem Kultivierungseffekt. Auf der heuristischen bzw. peripheren Route wird die Quelle der Informationen (z.B. Fernsehen) nur dann berücksichtigt, wenn sie durch bestimmte Bedingungen aktiviert wird (z.B. die Reihenfolge der Fragen im Fragebogen, bestimmte Instruktionen). Ist dies der Fall, werden Kultivierungseffekte ebenfalls verhindert. Zum Kultivierungseffekt kommt es also bei geringer Motivation und mangelnder kognitiver Fähigkeit (beides führt zur heuristischen Urteilsbildung) und, wenn das Fernsehen als Informationsquelle nicht aktiviert wird.
6.2.2
Systematische Informationsverarbeitung
Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991), die zeitgleich mit L. J. Shrum begannen, psychische Erklärungsmöglichkeiten für den Kultivierungsprozess zu suchen, sind anderer Meinung. Folgt man ihren Überlegungen, so evaluieren die Menschen alle verfügbaren Informationen und berücksichtigen die Informationsquelle. Zum Kultivierungseffekt kommt es, weil bei der Quellenbewertung Fehler gemacht werden.
6.2.2.1
Speicherung der Informationen: Multiple Trace-Theorie
Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) gehen nicht von Wyer und Srulls (1986) Storage Bin-Modell aus, sondern beziehen sich auf die Multiple Trace-Theorie
240
6 Psychische Prozesse
(Hintzman & Block, 1971; Zechmeister & Nyberg, 1982). Diese postuliert, dass jedes Ereignis im Gedächtnis eine Spur hinterlässt (memory trace). Die wiederholte Aktivierung desselben Ereignisses führt dazu, dass eine neue Gedächtnisspur angelegt wird, „no matter how similar it may be to an earlier one.“ (Hintzman, 1986: S. 412) Für Ereignisse, die wiederholt erlebt oder wahrgenommen werden, existiert eine zahllose Ansammlung von Gedächtnisspuren: „each trace coexists with traces of other repetititions of the event“ (Hintzman & Block, 1971: S. 297). Jedes Ereignis wird mit Kontextinformationen gespeichert, jede Gedächtnisspur mit Kontextinformationen verknüpft (Hintzman & Block, 1971). Diese können emotionaler oder kognitiver Natur sein: So wird die Stimmung während eines Ereignisses (vgl. Blaney, 1986) oder der Ereignisort (vgl. Godden & Baddeley, 1975; Smith, Glenberg & Björk, 1978) als Kontextinformation gespeichert. Auch die Informationsquelle ist eine mögliche Kontextinformation: Wenn man ein Ereignis im Fernsehen gesehen hat, ist die Gedächtnisspur mit der Kontextinformation Fernsehen verknüpft (vgl. Shapiro, 1991).51
6.2.2.2
Abruf der Informationen: Reality Monitoring
Genauso wie das Storage Bin-Modell ist die Multiple Trace-Theorie in der Lage, die Wirksamkeit von Verfügbarkeitsheuristiken zu erklären. Je häufiger wir ein Ereignis erleben, desto mehr Gedächtnisspuren sind für dieses Ereignis vorhanden. Eine Person, die eine Schwäche für Arztserien hat, wird deutlich mehr Gedächtnisspuren über Ärzte haben als andere. Möchte sich diese Person ein Urteil darüber bilden, wie viele Ärzte es gibt, so ist bei heuristischer Informationsverarbeitung die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie bei der Suche nach relevanten Informationen im Gedächtnis sehr schnell eine relevante Gedächtnisspur findet. Das Urteil fällt entsprechend hoch aus. Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) postulieren, dass Kultivierungseffekte auch unter der Bedingung systematischer Urteilsbildung entstehen können. „When trying to answer a social-reality question, a person may try to retrieve all relevant event memories and use them to form a picture of what the world is like.” (Shapiro. 1991: S. 5) Nicht allen Erinnerungen wird dabei dasselbe Gewicht beige51
Die Multiple Trace-Theorie macht grundsätzlich keine Aussage darüber, ob das Gedächtnis assoziativ oder nicht-assoziativ arbeitet (vgl. Hintzman & Block, 1971). Das Bild multipler Ereignisspuren im Gedächtnis mag dazu verleiten, an neuronale Netzwerke und assoziative Gedächtnismodelle zu denken (z.B. Adaptive Control Theory oder allgemeiner Spreading Activation Modelle, vgl. Anderson, 1976; Ratcliff & McKoon, 1981; Anderson, 1983a; 1983b). Diese Interpretation ist in der Multiple TraceTheorie nicht ausgeschlossen, aber auch nicht a priori festgelegt.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
241
messen, denn nur eine begrenzte Anzahl von Ereignissen ist für ein Realitätsurteil geeignet. Um die Relevanz einer Erinnerung zu bewerten, werden ihre Kontextinformationen herangezogen. Die Bewertung, ob ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat oder nicht, nennen Johnson und Kollegen „Reality Monitoring“ (vgl. z.B. Johnson, Taylor & Raye, 1977; Johnson & Raye, 1981; Johnson, Raye, Foley & Foley, 1981). Konkret meinen sie damit die Unterscheidung von Erinnerungen, die man erlebt hat, von denen, die man sich lediglich vorgestellt hat. Beide Vorgänge legen Gedächtnisspuren an. Will man wissen, wie wahrscheinlich das Eintreten eines Ereignisses ist, ist es notwendig, die Gedächtnisspuren tatsächlich erlebter Ereignisse von den restlichen zu unterscheiden: „reality monitoring refers to the process of distinguishing a past perception from a past act of imagination, both of which resulted in memories.“ (Johnson & Raye, 1981; Hervorh. im Original) Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) übertragen diesen Vorgang auf die Beurteilung, ob gespeicherte Ereignisse direkt erlebt wurden oder aus medialen Quellen stammen. Ein Beispiel: Max Mustermann und Otto Normalverbraucher sollen die Wahrscheinlichkeit einschätzen, in Deutschland Opfer eines Verbrechens zu werden. Sie durchforsten ihr Gedächtnis nach relevanten Erinnerungen. Relevanz bedeutet zum einen, dass sie nur Erinnerungen an Verbrechen in Deutschland berücksichtigen, zum anderen, dass sie Verbrechen, die aus fiktionalen Medieninhalten stammen (etwa aus Krimiserien, Thrillern im Kino, Kriminalromanen), nicht in das Realitätsurteil einbeziehen. Max Mustermann sieht selten fern und hatte noch nie mit einem Verbrechen zu tun. Ab und zu liest er Berichte darüber in der Zeitung. Er schätzt die Wahrscheinlichkeit eher niedrig ein. Otto Normalverbraucher liest keine Zeitung, hat wenig soziale Kontakte und keine Erfahrung mit Verbrechen. Jeden Sonntag schaut er den „Tatort“, und auch sonst sieht er häufig Krimiserien. Entsprechend viele Beispiele findet er, doch diese bezieht er nicht in sein Urteil ein (Reality Monitoring), weil er anhand der Kontextinformationen feststellt, dass diese für ein Realitätsurteil nicht relevant sind. Das Urteil fällt deshalb sogar niedriger aus als das von Max. Kultivierungseffekte dürften demnach gar nicht auftreten. Oder doch?
6.2.2.3
Kultivierung als Ergebnis von Reality Monitoring-Fehlern
Das beschriebene Beispiel stellt den optimalen Verlauf einer systematischen Urteilsbildung unter Berücksichtigung von Kontextinformationen dar. Bis zu diesem Punkt stützen die Überlegungen das Modell von Shrum (2002), wonach
242
6 Psychische Prozesse
Kultivierungseffekte unter systematischen Bedingungen ausgeschlossen sind. Nach Shapiro und Lang (1991) entstehen Kultivierungseffekte dadurch, dass beim Reality Monitoring Fehler passieren: „People are generally very good at using contextual information to judge the relevance of event memories. But people do make mistakes.” (ebd.: S. 697) Dafür sind vorwiegend zwei Gründe verantwortlich:
Kontextinformationen werden nach längerer Zeit vergessen: Wer hat nicht schon einmal Sätze gehört wie „Das hab ich schon mal irgendwo gehört.“, „Wer hatte mir das noch erzählt?“ „Wo hab ich das gelesen?“ Die Erinnerung bleibt, die Quelle ist vergessen. Genauso kann man sich vielleicht an ein im Krimi gesehenes Ereignis erinnern, doch die Kontextinformation „Fernsehen/fiktional“ wird vergessen – ein Phänomen, das durch den Sleeper-Effekt hinlänglich bekannt ist (vgl. z.B. Hovland et al., 1953; Allen & Stiff, 1989).
Kontextinformationen relevanter Ereignisse werden fälschlicherweise mit irrelevanten Ereignissen verknüpft. Dieser Vorgang wird dadurch begünstigt, dass sich Kontextinformationen überschneiden (vgl. Johnson et al., 1981).
Wenn es um Erinnerungen an Fernsehereignisse geht, ist das Reality Monitoring besonders schwierig. Fernsehereignisse sind an sich schon schwer von der Realität zu unterscheiden: Die realistische Darstellungsweise von Fernsehereignissen führt dazu, dass viele Kontextinformationen von direkt erfahrenen und im Fernsehen rezipierten Ereignissen gleich sind (Klang, bewegte Bilder etc.). Auch können medial dargestellte Ereignisse dieselben Emotionen auslösen wie reale (z.B. Trauer, wenn eine Fernsehfigur stirbt). Hinzu kommt, dass es beim Fernsehen nicht ausreicht, das Medium als Kontextinformation zu berücksichtigen. Reale Ereignisse werden im Fernsehen genauso dargestellt (Nachrichten, autobiographische Verfilmungen etc.) wie fiktionale. Fernsehinformationen sind also nicht per se irrelevant. Das Fernsehen ist daher mehr als die meisten anderen Medien in der Lage, Fehler im Reality Monitoring auszulösen.
6.2.2.4
Empirische Befunde
Belege für die vorliegenden Annahmen sind rar. Shapiro (1991) führte eine Befragung durch, bei der 156 Studierende Beispiele für verschiedene Realitätsbereiche (Verbrechen, Verbrechensopfer, alte Leute, Leute zwischen 25 und 45 Jahren etc.) auflisten mussten. Sie wurden aufgefordert, alle Beispiele aufzuschreiben, die ihnen einfielen, egal aus welcher Quelle sie stammten. Im Anschluss an diese Aufgabe mussten sie die Quelle ihrer Beispiele kategorisieren, wobei als Kategorien fiktio-
6.2 Kultivierung erster Ordnung
243
nale Fernsehsendungen, Fernsehnachrichten, andere Fernsehinhalte, Zeitungen, Bücher, Filme, direkte Realitätserfahrung und Erfahrungen anderer Personen zur Verfügung standen. Zusätzlich wurde die Mediennutzung der Befragten erfasst und ihre Realitätswahrnehmung: verbrechensbezogene Realitätsurteile erster und zweiter Ordnung und bevölkerungsbezogene Realitätsurteile erster und zweiter Ordnung (z.B. Anzahl von Amerikanern, die als Ärzte arbeiten, Anzahl von Amerikanern unter 21 Jahren, „Es gibt heutzutage weniger alte Menschen“; ebd.: S. 20). Kultivierungsurteile erster und zweiter Ordnung wurden in beiden Realitätsbereichen jeweils in einem Index zusammengefasst. Erwartungsgemäß nannten die Befragten umso mehr mediale Beispiele, je häufiger sie die entsprechenden Medien nutzten. Auch bestätigte sich die Hypothese, dass die erinnerten Beispiele einen signifikanten Einfluss auf die Realitätsurteile haben. Dieser war stärker als der Einfluss von Mediennutzung und Drittvariablen (Notendurchschnitt und Wohngegend). Überraschenderweise waren die Zusammenhänge zwischen der Beispielanzahl einzelner Kategorien und der Realitätswahrnehmung jedoch fast durchweg negativ: Je mehr die Befragten beispielsweise Verbrechensbeispiele aus Filmen nannten, desto niedriger fielen ihre Antworten zur verbrechensbezogenen Realitätswahrnehmung aus. Der fehlende Einfluss der Mediennutzung und der negative Einfluss der Beispielanzahl machen es schwer, die Befunde im Rahmen der Kultivierungshypothese zu interpretieren (vgl. Shrum & O’Guinn, 1993). Wie Busselle & Shrum (2003) bestätigt zwar auch diese Studie, dass Rezipienten in der Lage sind, Beispiele für verschiedene Realitätsbereiche aufzulisten und die Quelle anzugeben. Die negativen Zusammenhänge zwischen Beispiel-Verfügbarkeit und Realitätswahrnehmung sind jedoch rätselhaft. Es sind keineswegs nur Fernsehbeispiele, die negativ mit der Realitätswahrnehmung korrelieren, sondern auch Beispiele aus zuverlässigen Quellen (z.B. Realitätserfahrung, Zeitung). Reality Monitoring und Kontexteffekte (Informationsquelle) können diese Zusammenhänge also nicht erklären. Gibt es methodische Ursachen für die Befunde?
Reihenfolge der Fragen I: Shapiro (1991) fragte die Mediennutzung vor der Realitätswahrnehmung ab. Wie bei Shrum et al. (1998) und Zhang und Krcmar (2004) wurden die Medien somit vor der Realitätsabfrage „geprimed“. Die Befragten fällten ihre Realitätsurteile in dem Bewusstsein, dass Zusammenhänge mit ihrer Mediennutzung aufgedeckt werden können. Dies dürfte Kultivierungseffekte a priori verhindert haben. Reihenfolge der Fragen II: Die Aufgabe, Beispiele aus verschiedenen Realitätsbereichen aufzulisten, folgte nach der Abfrage von Mediennutzung und Realitäts-
244
6 Psychische Prozesse
wahrnehmung. Vermutlich führten Reihenfolgeeffekte dazu, dass auch die Auflistungsaufgabe nicht unbeeinflusst erledigt wurde. Indexbildung: Shapiro (1991) fasste Kultivierungsurteile erster und zweiter Ordnung in einem Index zusammen. Kultivierungseffekte zweiter Ordnung basieren vermutlich auf ganz anderen psychischen Prozessen als Kultivierungseffekte erster Ordnung. Es ist nicht zu erwarten, dass eine höhere Beispielzahl auch Kultivierungseffekte zweiter Ordnung erklärt (siehe Kapitel 6.3). Die Indizes haben vermutlich eindeutigere Befunde zur Kultivierung erster Ordnung verdeckt.
Es kann also sein, dass methodische Ursachen für die Befunde verantwortlich sind. Die vorliegende Studie kann die theoretischen Überlegungen zur Bedeutung von Kontextinformationen somit weder vollständig untermauern noch widerlegen. Anders verhält es sich bei der Studie von Mares (1996). Sie untersuchte die Vermutung, dass es bei der Rekrutierung von Beispielen zu Quellenverwechslungen kommt (Reality Monitoring). Die Annahme war dabei, dass Kultivierungseffekte stärker werden, wenn Personen glauben, dass Informationen, die sie in einem Spielfilm gesehen haben, aus einem Nachrichtenbeitrag stammen (fiction-to-newsconfusion). Umgekehrt müssten sie schwächer werden, wenn Informationen aus den Nachrichten fälschlicherweise für Informationen aus dem Spielfilm gehalten werden (news-to-fiction-confusion). In einem Experiment zeigte sie ihren Probanden einen Nachrichtenbeitrag und einen Spielfilmtrailer. Vier Faktoren wurden variiert: Reihenfolge der Beiträge (Nachrichten/Spielfilm vs. Spielfilm/Nachrichten), visuelle Ähnlichkeit der Beiträge, Zeitpunkt der Nachherbefragung (unmittelbar nach der Stimuluspräsentation vs. eine Woche später) und Alter der Probanden (Schüler der 12. Klasse/Senioren). In der Nachherbefragung wurden Realitätsurteile (Einschätzung von Verbrechenszahlen und sozioökonomischen Maßen, Mean World-Einstellungen, die Informationsquelle vorgegebener Beispiele (Nachrichtenbeitrag/Spielfilmtrailer), das Vertrauen in die eigene Erinnerung, Fernsehnutzung und Einkommen erfasst. Die Annahmen bestätigten sich: Fiction-to-news-confusions führten zu höheren Realitätsurteilen und erklärten zwischen 22 und 33 Prozent der Urteilsvarianz. Interaktionseffekte zwischen Fernsehnutzung und Quellenverwechslung zeigten, dass die fälschliche Einstufung fiktionaler Informationen als Fakten Kultivierungseffekte verstärkte. News-to-fiction-confusions führten hypothesenkonform zu niedrigeren Realitätsurteilen. Diese Effekte verstärkten sich, wenn sich die Probanden sicher waren, die richtige Informationsquelle angegeben zu haben, wenn Nachrichtenbeitrag und Spielfilmtrailer visuell ähnlich gestaltet waren und wenn zwischen Rezeption und Urteilsabfrage eine Woche vergangen war.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
245
Diese Befunde lassen sich mit den Überlegungen von Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) gut erklären. Mares (1996) konnte belegen, dass Kultivierungseffekte auch dann auftreten, wenn die Informationsquelle berücksichtigt wird. Informationen, die die Probanden in einem fiktionalen Filmbeitrag gesehen hatten, schrieben sie dem ebenfalls gesehenen Nachrichtenbeitrag zu. Sie hatten die eigentlich unzuverlässigen fiktionalen Informationen offenbar mit der falschen Kontextinformation verknüpft und sie somit für relevant gehalten. Waren Nachrichten- und Filmbeitrag visuell ähnlich gestaltet, verstärkte sich dieser Effekt. Dies lässt sich mit dem Reality Monitoring erklären: Abgesehen von der Informationsquelle waren viele Kontextinformationen der verschiedenen Beiträge ähnlich. Wie oben dargestellt erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von Reality Monitoring-Fehlern (vgl. z.B. Johnson et al., 1981). Auch die Beobachtung, dass der Einfluss der Quellenverwechslung stärker wird, wenn seit dem Zeitpunkt der Rezeption eine Weile vergangen ist, geht konform mit den Annahmen des Reality Monitoring. Kontextinformationen werden mit der Zeit vergessen. Informationen werden somit zunehmend falsch eingeordnet (vgl. Sleeper-Effekt, z.B. Allen & Stiff, 1989). Nun stellt sich die Frage, ob diese Befunde die Annahmen von Shrum (z.B. 2002) widerlegen. Mares (1996) ist dieser Ansicht: „The results of this study (...) run counter to Shrum and O’Guinn’s (1993) suggestion that individuals rarely, if ever, consider the source of their information when making judgments.” (ebd.: S. 294) Auch geht sie davon aus, dass Individuen ihre Urteile nicht grundsätzlich heuristisch und auf der Basis verfügbarer Beispiele fällen, sondern dass sie, wie die Studie zeigte, zumindest in Experimentalsituationen Zeichen eines rationalen Entscheidungsverhaltens zeigen (vgl. ebd.: S. 295) Dies schließt jedoch nicht aus, dass Rezipienten Kultivierungsurteile erster Ordnung in anderen und vielleicht sogar mehr Fällen heuristisch fällen. Es ist denkbar, dass die Untersuchungsanlage eine systematische Urteilsbildung begünstigt hat (vgl. Shrum, 1997):
Mares (1996) befragte die Probanden einzeln und mündlich. Das Involvement der Versuchsteilnehmer dürfte somit höher gewesen sein als in – in der Kultivierung üblichen – gruppenweise und schriftlich durchgeführten Befragungen. Stichprobe der Studie waren Schüler und Senioren. Es ist denkbar, dass auch die Stichprobenauswahl eine systematische Urteilsbildung begünstigt hat. Beide Gruppen sind vermutlich eher involviert und motiviert, die Untersuchung so gut wie möglich abzuschließen, als dies bei studentischen Stichproben der Fall wäre, die häufig bereits mehrere Befragungen und Experimente mitgemacht haben.
246
6 Psychische Prozesse
Es lässt sich daher vermuten, dass die Untersuchungsanlage per se eine systematische Urteilsbildung begünstigt hat. Somit widersprechen die Befunde von Mares (1996) nicht der Annahme, dass Kultivierungseffekte erster Ordnung unter der Bedingung einer heuristischen Urteilsbildung auftreten können. Sie widersprechen jedoch den Befunden von Shrum et al. (1998) und Zhang & Krcmar (2004), wonach Kultivierungseffekte ausgeschlossen sind, wenn die Urteile systematisch gefällt werden und die Informationsquelle berücksichtigt wird. Es ist denkbar, dass die divergierenden Befunde auf die Stichprobe zurückzuführen sind. Mares (1996) befragte Schüler und Senioren, Shrum et al. (1998) und Zhang und Krcmar (2004) Studierende. Ältere Menschen haben möglicherweise mehr Probleme, die Kontextinformationen zu behalten. Auch bei High-School-Schülern sind Quellenverwechslungen aufgrund ihrer zumindest teilweise geringen Intelligenz wahrscheinlicher als bei Studierenden (vgl. Shrum, 1997).
6.2.2.5
Zusammenfassung
Die Stringenz der theoretischen Überlegungen von Shapiro (1991) und Shapiro und Lang (1991) und die Studie von Mares (1996) deuten darauf hin, dass eine heuristische Urteilsbildung keine notwendige Voraussetzung für Kultivierungseffekte erster Ordnung ist. Die Befunde von Shrum (vgl. Kapitel 6.2.1) lassen vermuten, dass die Effekte stärker sind, wenn sie heuristisch entstehen und die Quelle nicht berücksichtigt wird. Sie sind jedoch nicht ausgeschlossen, wenn die Quelle berücksichtigt wird und die Urteilsbildung systematisch verläuft. Shrums (2002) Modell sollte daher modifiziert werden (vgl. Abbildung 23). Der Kultivierungsprozess erster Ordnung stellt sich vor dem Hintergrund der Multiple Trace-Theorie wie folgt dar: Vielseher rezipieren im Fernsehen häufig gezeigte Ereignisse häufiger als Wenigseher. Die wiederholte Aktivierung eines Ereignisses legt immer wieder neue Gedächtnisspuren an. Somit haben Vielseher für Ereignisse, die im Fernsehen häufig und im eigenen Alltag selten vorkommen (z.B. Herzoperation), deutlich mehr Gedächtnisspuren als Wenigseher. Diese Gedächtnisspuren sind mit Kontextinformationen verknüpft, die Auskunft darüber geben, wo ein Ereignis stattgefunden hat (z.B. im Krankenhaus), welche Gefühle damit verknüpft waren (z.B. Angst, Nervosität), oder ob man das Ereignis tatsächlich erlebt hat oder nur im Fernsehen gesehen.
247
6.2 Kultivierung erster Ordnung
Abbildung 23: Modell heuristischer und systematischer Urteilsbildung im Kultivierungsprozess Abfrage eines Kultivierungsurteils
Vielseher Massenmedien
Direkte Realitätserfahrung Gedächtnissuche
Wenigseher
Interpersonale Kommunikation
Motivation zur Verarbeitung?
nein
ja
Fähigkeit zur Verarbeitung?
nein
Heuristische Urteilsbildung
ja Systematische Urteilsbildung
ja Quellenbewertung richtig
Quellen-Prime vorhanden?
fehlerhaft nein
Kein Kultivierungseffekt
Kultivierungseffekt
Kultivierungseffekt
Anmerkung: Ellipsen verdeutlichen mentale Prozesse. Der dickere Pfeil vom Vielseher zur Gedächtnissuche verdeutlicht den stärkeren Einfluss des Fernsehens bei Vielsehern. Quelle: Modifizierte Darstellung, basierend auf Shrum, 2002: S. 87.
Sollen Personen einschätzen, wie häufig Herzoperationen vorkommen, fällen sie dieses Urteil eher heuristisch. In Befragungen wird dies meist dadurch begünstigt, dass die Probanden darauf hingewiesen werden, nicht zu lang über ein Urteil nachzudenken, da keine negativen Konsequenzen zu erwarten sind, wenn die
248
6 Psychische Prozesse
Antwort falsch ist. Generell hat die Frage für die meisten eher eine untergeordnete Bedeutung. Die Motivation, sich für das Urteil Zeit zu nehmen und alle erdenklichen Informationen zu evaluieren, ist gering. Das Urteil wird auf der Basis von Verfügbarkeitsheuristiken gefällt. Da Vielseher von Arztserien deutlich mehr Gedächtnisspuren für Herzoperationen im Kopf haben als Wenigseher, finden sie leichter und schneller ein Beispiel, so dass ihr Urteil höher ausfällt. Kontextinformationen (Quelle) bleiben aufgrund der fehlenden Motivation unberücksichtigt. In manchen Fällen kann es aber sein, dass Personen die Frage systematisch beantworten. Vielleicht betrifft sie das Thema, weil sie selbst an einer Herzerkrankung leiden. Oder Befragungen werden mündlich und einzeln durchgeführt und Fragen so formuliert, dass sie eine systematische Informationsverarbeitung induzieren (z.B. Ankündigung einer Bewertung der Antworten). Involvement und Motivation, die richtige Einschätzung abzugeben, sind hoch – somit fällen Personen ihr Urteil systematisch. Sie suchen also nach allen relevanten Gedächtnisspuren. Vielseher finden mehr davon als Wenigseher. Entscheidend ist aber nicht nur die Anzahl verfügbarer Beispiele, wichtig sind auch ihre Kontextinformationen, die herangezogen werden, um die Relevanz der Erinnerungen für das Realitätsurteil zu beurteilen. In vielen Fällen führt dies dazu, dass Vielseher die mangelnde Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen (Quelle: Fernsehen) erkennen, wodurch es zu keinem Kultivierungseffekt kommt. In einigen Fällen kann es aber sein, dass bei der Quellenbewertung ein Fehler passiert, weil die Erinnerungen an das Beispiel alt sind oder das Fernsehereignis einem realen sehr ähnlich war, wodurch Kontextinformationen vergessen oder verwechselt wurden. Auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale dürften sich begünstigend auf Fehler bei der Quellenbewertung auswirken, etwa hohes Alter, geringe Intelligenz etc.; in diesem Fall können auch bei systematischer Urteilsbildung Kultivierungseffekte entstehen.
6.2.3
Spreading Activation und chronisch verfügbare Konstrukte
Die bisherigen Überlegungen erklären einen Großteil des Kultivierungsprozesses erster Ordnung. Sie unterliegen aber einer entscheidenden Einschränkung: Es lassen sich kurzfristige Effekte ableiten, nicht aber die in der Kultivierung postulierten langfristigen. Führen wir uns nochmal Wyer and Srulls (1986) Storage BinModell vor Augen: Die Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen basiert darauf, dass diese häufig aktiviert werden. Sie gelangen dadurch immer wieder an die Spitze des Gedächtnisspeichers. Voraussetzung dafür, dass ein Konstrukt an der Spitze und somit verfügbar bleibt, ist seine stetig wiederkehrende Aktivierung: „frequency of
6.2 Kultivierung erster Ordnung
249
construct use has an effect on accessibility only through its effect on recency of use: The more frequently a construct is activated, the greater is the likelihood that it has been used recently.“ (Bargh, Bond, Lombardi & Tota, 1986: S. 876) Wird es über einen längeren Zeitraum nicht mehr aktiviert, rutscht es im Gedächtnisspeicher nach unten und ist weniger verfügbar – egal, ob es vorher nur einmal aktiviert wurde oder mehrere tausend Mal. Wenn eine Person also seit fünf Jahren keine Arztserie mehr gesehen hat, vorher aber zehn Jahre lang jede Woche mindestens eine, dürfte sie nach diesem Modell keine Kultivierungseffekte zeigen. Sie würde sich von denjenigen, die noch keine Arztserie gesehen haben, nicht unterscheiden. Das ist fraglich. Shrum (1996) thematisierte das Problem, lieferte aber nur eine recht oberflächliche Erklärung für langfristige Kultivierungseffekte. So postulierte er, „that eventually the images and information will become ingrained to the extent that they become difficult to eradicate.” (ebd.: S. 502) Der Ansatz ist richtig, muss aber spezifiziert werden. Eine Erklärung liefern die Überlegungen und Befunde zu chronisch verfügbaren Konstrukten.
6.2.3.1
Chronisch verfügbare Konstrukte
Zum ersten Mal tauchte der Begriff wohl bei Kelly (1955) auf, der sich schon sehr früh damit beschäftigt hat, dass Personen durch die häufige Erfahrung mit bestimmten sozialen Verhaltensweisen Konstrukte entwickeln. Je nach ihrem Erfahrungsschatz haben die Menschen unterschiedliche Konstrukte gespeichert: Habituell oder chronisch nutzen sie daher, so der Autor, bestimmte soziale Konstrukte mehr als andere. Higgins und King (1981) entwickelten den Begriff weiter und bestimmten Faktoren, die die Verfügbarkeit von Konstrukten beeinflussen (vgl. Kapitel 6.2.1). Außerdem konstatierten sie, dass bestimmte Faktoren einen kurzfristigen Einfluss auf die Konstruktverfügbarkeit haben, andere einen langfristigen. Der entscheidende Faktor, der Konstrukte chronisch verfügbar macht, ist die Dauer, mit der Konstrukte wiederholt aktiviert werden. Je größer der Zeitraum ist, in dem sie häufig aktiviert werden, desto länger bleibt das Konstrukt verfügbar (Higgins & King, 1981, S. 79; vgl. auch Bargh, Lombardi & Higgins, 1988: S. 599). Bargh et al. (1988) untersuchten, ob kurzfristig und chronisch verfügbare Konstrukte kognitive Prozesse unterschiedlich beeinflussen. Der Einfluss kurzfristig verfügbarer Konstrukte war für kurze Zeit stärker, doch dieser Unterschied verschwand sehr schnell. War seit der letzten Aktualisierung eine gewisse Zeit vergangen, so wurden eher die chronisch verfügbaren Konstrukte zur Urteils-
250
6 Psychische Prozesse
bildung herangezogen: „recency of activation gives a construct relatively greater accessibility or likelihood of utilization for a brief amount of time, but frequency of activation gives a more durable advantage in accessibility that eventually overtakes the advantage of recency.“ (Bargh et al., 1988: S. 600) Chronisch verfügbare Konstrukte sind also stabiler und haben in der Regel einen stärkeren Einfluss auf die Urteilsbildung als kurzfristig verfügbare Konstrukte. Wie verschiedene Studien gezeigt haben, beeinflussen sie aber auch die Informationsaufnahme (Bargh, 1982; Bargh & Thein, 1985; Bargh et al., 1986). So werden Informationen leichter gespeichert, wenn sie in den Kontext chronisch verfügbarer Konstrukte passen. Dies ist auch dann der Fall, wenn das chronisch verfügbare Konstrukt vorher lange nicht aktiviert wurde und die Aufmerksamkeit bei der Informationsaufnahme niedrig ist: „Constructs that have accrued a longterm accessibility enable one to capture relevant social input as construct instances, even when such constructs are dormant, and even when conscious attention is devoted elsewhere.“ (Bargh et al., 1986)
6.2.3.2
ACT-Theory of Spreading Activation
Die Befunde zu chronisch verfügbaren Konstrukten gehen konform mit den grundlegenden Aussagen der Adaptive Thought of Control-Theorie (kurz: ACT; vgl. Anderson, 1976; 1983a; 1983b; Best, 1992). Wie Storage Bin-Modell und Multiple Trace-Theorie erklärt ACT unter anderem die Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis. Die ACT-Theorie unterscheidet zwei Wissensarten: Deklaratives und prozeduales Wissen. Deklarative Informationen werden im Langzeitgedächtnis gespeichert und bilden die Basis für Spreading-ActivationProzesse. Das prozeduale Gedächtnis speichert die Regeln, mit denen das Wissen aus dem Langzeitgedächtnis weiterverarbeitet wird. Für die Kultivierung relevant ist das im Langzeitgedächtnis gespeichert deklarative Wissen. Die Theorie ist hochkomplex und liegt in zahlreichen Varianten vor (vgl. z.B. Anderson, 1996). Für das vorliegende Problem ist es aber nicht notwendig, die Theorie in ihrer ganzen Bandbreite darzustellen. Relevant ist vor allem die Spreading Activation-Theorie, die im Rahmen der ACT-Theorie realisiert wurde (Anderson, 1983b; Anderson & Pirolli, 1984). So teil sich das deklarative Wissen im Langzeitgedächtnis in kognitive Einheiten (z.B. Propositionen, d.h. kleinste Wissenseinheiten, Bilder, Wörter), die untereinander über Gedächtnisspuren verknüpft sind (vgl. hierzu auch Anderson, 1988). Zwei entscheidende Vorstellungen unterscheiden die ACT-Theorie von der Multiple Trace-Theorie:
6.2 Kultivierung erster Ordnung
(1)
(2)
251
Die Multiple Trace-Theorie macht keine Aussagen darüber, ob die Wissenseinheiten assoziativ oder nicht-assoziativ verknüpft sind (s.o.). Die Spreading Activation-Theorie geht davon aus, dass alle kognitiven Einheiten in einem assoziativen Netzwerk verknüpft sind. Die wiederholte Aktivierung bestimmter Gedächtnisspuren führt nach den Überlegungen der Multiple Trace-Theorie dazu, dass immer wieder neue Gedächtnisspuren angelegt werden. Die Spreading Activation-Theorie postuliert, dass sich Gedächtnisspuren in ihrer Stärke unterscheiden: Jede neue Aktivierung erhöht die Stärke der Verbindung zweier kognitiver Einheiten, sprich, sie erhöht die Stärke der Gedächtnisspuren. Werden Gedächtnisspuren über einen längeren Zeitraum nicht aktiviert, werden sie zwar schwächer, bleiben aber vorhanden.
Sollen bestimmte Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden, etwa um ein Realitätsurteil zu fällen, aktiviert der Arbeitsspeicher eine kognitive Einheit aus dem Langzeitgedächtnis, die für dieses Realitätsurteil zentral ist. Diese kognitive Einheit ist mit weiteren kognitiven Einheiten verknüpft, über die die Suche nach weiteren relevanten Informationen fortgesetzt wird. Dabei werden vor allem jene kognitiven Einheiten aktiviert, die besonders stark mit der vorhergehenden Einheit verknüpft sind. Entscheidend für das Ausmaß der Informationssuche sind die Motivation und die dadurch vorhandene Energie. Jeder Schritt von einer zur nächsten kognitiven Einheit verbraucht Energie. Ist die Motivation sehr hoch, reicht die Energie, um das ganze Gedächtnis zu durchsuchen (dies entspricht den Annahmen der systematischen Urteilsbildung). Bei geringer Motivation (heuristische Urteilsbildung), wird die Suche abgebrochen, sobald die Energie aufgebraucht ist. Sehr stark verknüpfte kognitive Einheiten – sprich, Einheiten, die sehr häufig aktiviert wurden – haben daher eher die Chance, für ein Realitätsurteil herangezogen zu werden als weniger stark verknüpfte: „the critical factor determining retrieval dynamics is the strength of the indiviual nodes. The strength of a node is a function of its frequency of exposure.“ (Anderson, 1983b: S. 266) Verfügbarkeitsheuristiken lassen sich somit auch mit der ACT-Theory of Spreading Activation veranschaulichen. Wenn für die Urteilsbildung nur wenig Energie vorhanden ist, werden die kognitiven Einheiten herangezogen, die am leichtesten zugänglich sind, sprich die, die am stärksten verknüpft sind. Entsprechend sagt Anderson (1983b: S. 263): „ACT clearly makes the prediction that overlearning will increase the probability of retention and speed of retrieval – predictions which are equally clearly confirmed.“
252
6 Psychische Prozesse
Die Stärke einer Gedächtnisspur beeinflusst aber nicht nur den Abruf von Informationen, sondern auch ihre Aktivierbarkeit. Hat eine Gedächtnisspur einmal einen hohen Stärkegrad erreicht, so ist nur wenig Energie notwendig, um diese wieder zu aktivieren. Somit beeinflusst die bereits vorhandene Stärke gespeicherter Informationen auch die Enkodierung neuer Informationen. Stoßen wir etwa bei der Fernsehnutzung auf Konstrukte, die sehr häufig aktiviert wurden und im Gedächtnis stark verknüpft sind, so ist nur ein sehr geringer Aufmerksamkeitsgrad notwendig, um dasselbe Konstrukt erneut zu aktivieren und somit wieder zu stärken. Die Wahrscheinlichkeit, dass stark verknüpfte Konstrukte erneut aktiviert werden und somit noch stärker verknüpft werden, steigt somit zunehmend (Anderson, 1983b). Chronisch verfügbare Konstrukte sind im Sinne der ACT-Theory of Spreading Activation genau diejenigen, die sehr stark mit anderen Konstrukten verknüpft sind. Die langfristig häufige Aktivierung dieser Konstrukte hat ihre Gedächtnisspuren zunehmend gestärkt. Genauso wie es die ACT-Theorie nahelegt, sind diese Informationseinheiten somit schneller verfügbar, werden weniger schnell vergessen und bedürfen eines geringeren Aufmerksamkeitsgrades, um erneut aktiviert zu werden.
6.2.3.3
Kultivierung und chronisch verfügbare Konstrukte
Der Weg von diesen Überlegungen zur Entstehung von Kultivierungseffekten ist nicht weit. Das Fernsehen präsentiert bestimmte Beispiele, Bilder oder Ereignisse häufiger als andere. Vielseher speichern die entsprechenden kognitiven Einheiten. Durch die häufige Rezeption und die immer wiederkehrende Darstellung derselben Beispiele, Bilder und Ereignisse im Fernsehen werden die Verknüpfungen mit den entsprechenden kognitiven Einheiten zunehmend stärker. Geht es nun darum, ein Realitätsurteil über die Häufigkeit bestimmter Beispiele zu fällen, durchsuchen die Befragten ihr Gedächtnis nach relevanten kognitiven Einheiten. Fällen sie ihr Urteil aufgrund mangelnder Motivation oder Zeit heuristisch, so ist nur wenig Energie für die Gedächtnissuche vorhanden. Es werden daher die Informationen herangezogen, die im assoziativen Netzwerk am stärksten mit dem Stimulus verknüpft sind, somit also am stärksten verfügbar sind. Zur Aktivierung weiterer Informationen kommt es nicht mehr, da nach Aktivierung weniger kognitiver Einheiten keine Energie mehr vorhanden ist. Die Urteile werden auf der Basis der verfügbarsten Konstrukte gefällt.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
253
Wenn die Motivation bei der Urteilsbildung hoch ist (systematisch), reicht die Energie aus, um beim Durchsuchen des Gedächtnisses weitere kognitive Einheiten zu aktivieren. Im Sinne des Reality Monitoring (vgl. Kapitel 6.2.2) dürften dabei etwa auch Informationen über die Quelle kognitiver Einheiten aktiviert werden. Denkbar ist aber auch die Aktivierung weniger stark verknüpfter kognitiver Einheiten aus anderen Quellen (z.B. andere Medien, interpersonale Kommunikation etc.). Zum Kultivierungseffekt kommt es, weil auch nach dem Spreading ActivationModell Fehlverknüpfungen zu erwarten sind, die zu Fehlern im Reality Monitoring führen. Kultivierungseffekte bei systematischer Urteilsbildung basieren somit auch nach dieser Vorstellung auf verfügbaren Fernsehinformationen, die aufgrund von Fehlverknüpfungen als reale Beispiele eingestuft werden. Egal ob Kultivierungsurteile erster Ordnung heuristisch oder systematisch gefällt werden – zu langfristigen Effekten kommt es, weil Fernsehbeispiele im Gedächtnis der Vielseher über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder aktiviert werden. Die entsprechenden Gedächtnisspuren sind so stark ausgeprägt, dass die Fernsehbeispiele chronisch verfügbar sind. Für die Realitätsurteile folgt daraus: (1)
(2)
Die Fernsehbeispiele sind stabiler und die Stärke der Verknüpfung bleibt länger erhalten: Jemand, der zehn Jahre lang regelmäßig Arztserien gesehen hat, danach für eine gewisse Zeit nicht mehr, wird dennoch stärker verknüpfte Fernsehbeispiele gespeichert haben als jemand, der nie Arztserien sieht. Kultivierungseffekte werden sich bei Vielsehern von Arztserien auch dann zeigen, wenn sie schon länger keine Arztserie mehr gesehen haben. Die chronisch verfügbaren Konstrukte beeinflussen Realitätsurteile stärker als kurzfristig verfügbare, es sei denn Letztere wurden kurz vor der Realitätsabfrage aktiviert. Das erklärt, weshalb auf lange Sicht nur die dominanten Fernsehbeispiele unser Realitätsurteil beeinflussen. Wäre der Einfluss kurzfristig verfügbarer Konstrukte genauso stark, hinge die Realitätswahrnehmung bei den Rezipienten davon ab, was sie am Vortag gesehen haben bzw. welche Fernsehbeispiele kürzlich präsentiert wurden, nicht aber von den Beispielen, die langfristig dominant sind. Experimentell angelegte Kultivierungsstudien, die ihren Probanden kurz vor der Abfrage der Realitätsurteile Fernsehausschnitte zeigen, können Einflüsse nachweisen, die unabhängig von der generellen Fernsehnutzung sind. In diesem Fall macht der Stimulusbeitrag bestimmte Fernsehbeispiele kurzfristig verfügbar. Werden die Realitätsurteile direkt im Anschluss abgefragt, so haben die kurzfristig verfügbaren Fernsehbeispiele einen stärkeren Einfluss auf die Realitätsurteile als chronisch verfügbare (vgl. z.B. Rossmann & Brosius, 2005). Dieser Einfluss verschwindet jedoch nach kurzer Zeit wieder.
254
6 Psychische Prozesse
Wie oben dargestellt determinieren chronisch verfügbare Konstrukte nicht nur den Abruf von Informationen, sie beeinflussen auch die Wahrnehmung neuer Informationen. Bei chronisch verfügbaren Konstrukten reicht ein geringerer Aufmerksamkeitsgrad aus, um diese erneut zu aktivieren. Die notwendige Aufmerksamkeit, um verfügbare Beispiele im Gedächtnis zu aktivieren, ist bei Vielsehern somit deutlich geringer. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die verfügbaren Fernsehbeispiele bei Vielsehern aktiviert und somit wieder gestärkt werden. Umgekehrt lässt sich daraus schließen, dass bei Wenigsehern, die keine chronisch verfügbaren Fernsehbeispiele gespeichert haben, ein höherer Aufmerksamkeitsgrad notwendig ist, um wahrgenommen und enkodiert zu werden. Dies lässt sich mit den Befunden zum Einfluss aktiver und passiver Fernsehnutzung gut vereinbaren. Bonfadelli (1983) hatte im Rahmen seiner Kultivierungsstudie festgestellt, dass sich die Nutzungsmotivation bei Viel- und Wenigsehern unterschiedlich auf die Realitätswahrnehmung auswirkte. Während bei den Vielsehern eine passive Rezeptionshaltung ausreichte, um Kultivierungseffekte hervorzubringen, zeigten Wenigseher nur bei einer aktiven Rezeptionshaltung Kultivierungseffekte. Auch Thym (2003) fand in ihrer Studie Hinweise darauf, dass ein hoher Aufmerksamkeitsgrad bei niedriger Fernsehnutzung Kultivierungseffekte hervorbringt (ausführlich dazu vgl. Kapitel 5.2).
6.2.3.4
Tappers (1995) Modell des Kultivierungsprozesses
Tapper (1995) integrierte die ACT-Theorie und das Konzept chronisch verfügbarer Konstrukte in ein Prozessmodell (vgl. Abbildung 24). Mit Verweis auf die Arbeiten von Shapiro (1991) sowie Shrum und O’Guinn (1993) betonte er die Bedeutung des Langzeitgedächtnisses für die Erklärung von Kultivierungseffekten. Er kritisierte aber, dass Merkmale, die die Wahrnehmung und Erfassung von Fernsehbotschaften beeinflussen, bislang weitgehend missachtet wurden. Sein Modell unterscheidet zwei Phasen: Phase 1 beschreibt die Wahrnehmung und Aufnahme von Informationen (content acquisition), Phase 2 ihre Speicherung (storage):
Phase 1 – Informationsaufnahme: In dieser Phase ist zunächst relevant, welchen Informationen die Rezipienten ausgesetzt sind. Tapper (1995) geht hier auf die Bedeutung selektiver Fernsehnutzung und genrespezifischer Fernsehbotschaften ein. Auch diskutiert er den Einfluss von Nutzungsmotiven, Nutzungsaktivität, parasozialer Interaktion und wahrgenommenem Realitätsgrad. Nutzungsmotive und Selektivität wirken sich darauf aus, was rezipiert wird.
255
6.2 Kultivierung erster Ordnung
Abbildung 24: Konzeptionelles Modell des Kultivierungsprozesses: Hauptphasen und Einflussfaktoren (Tapper, 1995)
Nutzung Genre A Faktoren, die gesehene Inhalte beeinflussen: - Selektivität - Chronisch affektiver Zustand
Nutzung Genre B
- Nutzungsmotive
Langzeitgedächtnis Faktoren, die die Interpretation beeinflussen: - Aktivität während der Rezeption - Chronisch affektiver Zustand
Input Energie Attentionale Voraussetzung
Chronisch verfügbares Konstrukt
- Wahrgenommener Realitätsgrad Nutzung Genre C
Phase 1: Informationsaufnahme
Phase 2: Speicherung
Quelle: Tapper, 1995: S. 51.
Nutzungsaktivität, parasoziale Interaktion und wahrgenommener Realitätsgrad beeinflussen den Rezeptionsvorgang. Sie wirken sich zum einen auf die Interpretation der Fernsehbotschaft aus und zum anderen auf die vorhandene Aufmerksamkeit.52 Neben diesen bekannten Merkmalen diskutiert Tapper (1995) den Einfluss chronisch affektiver Zustände (chronic affective states). Gemeint sind chronische Angstzustände (vgl. z.B. Spielberger, Gorsuch & Lushene, 1970), die die Interpretation von Fernsehinhalten beeinflussen. Personen, die chronisch ängstlich sind, dürften gewalthaltige Fernsehinhalte stärker als angsterregend wahrnehmen als Personen, die nicht ängstlich sind. Anzunehmen ist aber auch, dass sich chronisch affektive Zustände einhergehend mit den Annahmen des Mood Management-Ansatzes (vgl. z.B. Zillmann & Bryant, 1985) bereits auf die Selektion von Fernsehinhalten auswirken.53
52
53
Kapitel 4 und 5 setzen sich ausführlich mit diesen Merkmalen auseinander, weshalb sie hier nicht erneut diskutiert werden. Studien zum Einfluss affektiver Zustände auf Kultivierungseffekte sind der Verfasserin nicht bekannt, weshalb dieser Aspekt nicht näher behandelt wird. Hinweise auf einen Einfluss dieses Faktors liefert jedoch die Studie von Tins (2006), die feststellte, dass das eng verwandte Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus einen Einfluss auf Kultivierungseffekt hat.
256
6 Psychische Prozesse
Phase 2 – Informationsspeicherung: Die zweite Phase beschreibt die Stufen der Informationsspeicherung. Wie oben dargestellt werden Informationen in einem assoziativen Netzwerk gespeichert, wobei häufiger aktivierte Konstrukte stärker verknüpft sind als Konstrukte, die selten aktiviert werden. Bei Vielsehern sind Fernsehbeispiele stärker verknüpft als bei Wenigsehern, sie sind somit leichter zugänglich. Durch die langfristig häufige Aktivierung werden sie chronisch verfügbar. Auch bei Tapper (1995) zeichnen also chronisch verfügbare Konstrukte für den Kultivierungseffekt verantwortlich. Zur Speicherung von Informationen kommt es jedoch nur dann, wenn eine gewisse Aufmerksamkeitsschwelle überschritten wird. Dies hängt von den oben beschriebenen Merkmalen ab: Eine instrumentelle Nutzung führt etwa dazu, dass der Aufmerksamkeitsgrad höher ist. Informationen gelangen dann eher ins Langzeitgedächtnis und werden gespeichert als bei einem geringem Aufmerksamkeitsgrad. Chronisch verfügbare Konstrukte setzen die notwendige Aufmerksamkeitsschwelle herab. So werden chronisch verfügbare Konstrukte auch dann aktiviert, wenn der Aufmerksamkeitsgrad unterschwellig ist.
Konkrete Aussagen darüber, wie Realitätsurteile aus dem Gedächtnis gebildet werden, macht Tapper (1995) nicht. Auch gibt es bislang keine Kultivierungsstudien, die sich empirisch mit der Wirksamkeit chronisch verfügbarer Konstrukte auseinandergesetzt haben. Sie lassen sich lediglich aus den Forschungsergebnissen bisheriger Studien herleiten. Hier besteht noch Forschungsbedarf.
6.2.4
Zusammenfassung: Kultivierung erster Ordnung
Abbildung 25 fasst die Überlegungen und Befunde zum Kultivierungsprozess erster Ordnung in einem Modell zusammen. In Anlehnung an Tappers (1995) Modell, werden drei Phasen unterschieden, die zur Entstehung von Kultivierungseffekte führen: Rezeption und Informationsaufnahme, Speicherung von Informationen und Urteilsbildung. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich auf die Prozesse nach der Informationsaufnahme, sprich Informationsspeicherung und Urteilsbildung. Konkret werden hier zunächst die Prozesse der Urteilsbildung erster Ordnung veranschaulicht.
Quelle: Eigene Darstellung.
Rezeption und Informationsaufnahme
Speicherung
Kontextinformation
Chronisch verfügbare Konstrukte
Verfügbare Konstrukte
Langzeitgedächtnis
richtig
Kein Kultivierungseffekt
Kultivierungseffekt
Urteilsbildung: Einschätzungen von Verteilungen und Ereignishäufigkeiten
Zeit Motivation Fähigkeit hoch
SYSTEMATISCH
Quellenbewertung
falsch
HEURISTISCH
Zeit Motivation Fähigkeit niedrig
Quellenprime
• Darstellungsmerkmale
WAHRNEHMUNG • Metabotschaften auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen: Wahrgenommene Fernsehen, Genres, Fernsehbotschaft Sendungen, themenspezifische Aggregate, Genremenüs
Fernsehbotschaft
Rezeptionsmerkmale
6.2 Kultivierung erster Ordnung
257
Abbildung 25: Modell des Kultivierungsprozesses erster Ordnung: Speicherung und Urteilsbildung
SELEKTION
258
6 Psychische Prozesse
6.2.4.1
Speicherung von Informationen
Entscheidend für Kultivierungseffekte erster Ordnung ist die Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen im Gedächtnis. Es sind zahlreiche Faktoren bekannt, die die Verfügbarkeit beeinflussen. Im Zusammenhang mit der Fernsehnutzung sind vor allem die Faktoren Häufigkeit, Aktualität, Lebhaftigkeit und Auffälligkeit relevant.
Häufigkeit: Bestimmte Ereignisse, Berufe, Verhaltensweisen etc. sind im Fernsehen überrepräsentiert. Sie kommen häufiger vor als andere Ereignisse, Berufe oder Verhaltensweisen. Rezipienten, die häufig fernsehen, nehmen diese wiederholt wahr, die entsprechenden Konstrukte im Gedächtnis werden häufig aktiviert und sind somit verfügbarer als andere Beispiele. Aktualität: Dadurch, dass Vielseher dieselben Fernsehbeispiele regelmäßig sehen, ist die Aktivierung der entsprechenden Konstrukte immer wieder erst kürzlich vergangen. Dadurch erhöht die Aktualität der Aktivierung eines Beispiels seine Verfügbarkeit. Lebhaftigkeit: Grundsätzlich ist die Darstellungsweise des Fernsehens sehr lebhaft. Musik, bewegte Bilder etc. tragen somit ebenfalls dazu bei, dass die Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen erhöht wird. Auffälligkeit: Bisweilen kann eine höhere Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen auch ausgelöst werden, wenn die Beispiele im Fernsehen unterrepräsentiert sind. Dies ist dann der Fall, wenn sie bestimmten prototypischen Vorstellungen widersprechen. Auch die Auffälligkeit von Fernsehbeispielen kann somit die Verfügbarkeit entsprechender Konstrukte im Gedächtnis erhöhen.
Sind bestimmte Konstrukte einmal verfügbarer als andere, so bedeutet das nicht zwangsläufig, dass es so bleibt. Gerade der Einfluss einer kürzlichen Aktivierung von Beispielen bleibt nicht lange erhalten. Werden Beispiele jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg häufig aktiviert, so werden sie chronisch verfügbar. Sie bleiben damit länger verfügbar und haben in der Regel einen stärkeren Einfluss auf darauffolgende kognitive Prozesse (z.B. Urteilsbildung) als kurzfristig verfügbare Konstrukte. Zudem beeinflussen sie die Wahrnehmung entsprechender Beispiele im Fernsehen. Konstrukte, die einmal chronisch verfügbar sind, werden bei einem geringen Aufmerksamkeitsgrad erneut aktiviert, wodurch ihre Stabilität wiederum gestärkt wird.
6.2 Kultivierung erster Ordnung
6.2.4.2
259
Urteilsbildung
Die klassischen Kultivierungsfragen erster Ordnung fragen Aspekte ab, über die wir uns im Alltag meist keine Gedanken machen. Daher entstehen diese Realitätsurteile in der Regel erst während der Urteilsbildung (z.B. in der Befragungssituation), also auf der Basis im Gedächtnis gespeicherter Informationen (memory-based). Kultivierungseffekte erster Ordnung können unter heuristischen oder systematischen Bedingungen entstehen. Welcher Weg eingeschlagen wird, hängt von der Motivation ab, uns mit einem Realitätsurteil eingehend zu beschäftigen, von der Fähigkeit, uns ein systematisches Urteil zu bilden, und – in engem Zusammenhang damit – von der Zeit, die für die Urteilsbildung zur Verfügung steht. Eine heuristische Urteilsbildung dürfte im Rahmen von Kultivierungsstudien häufiger zum Tragen kommen:
Fragen nach der Häufigkeit von Berufen oder nach der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen sind für unseren Alltag in der Regel relativ unbedeutend. Durch mangelndes Involvement ist die Motivation bei der Urteilsbildung meist recht gering. Die üblichen Befragungsinstruktionen machen darauf aufmerksam, dass es keine falschen Antworten gibt und dass die Antworten nicht bewertet werden. Auch dies senkt die Motivation, über ein Urteil lange nachzudenken. Die Befragungsinstruktionen weisen in der Regel auch darauf hin, dass spontane Antworten erwartet werden und nicht zu lange über eine Antwort nachgedacht werden soll. Die Urteile werden also unter einem gewissen Zeitdruck gefällt. Die Fähigkeit, sich ein umfassendes Urteil zu bilden, sinkt.
Bei heuristischer Urteilsbildung werden Verfügbarkeitsheuristiken wirksam. Die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses wird umso höher eingeschätzt, je schneller ein entsprechendes Beispiel für dieses Ereignis aus dem Gedächtnis rekrutiert werden konnte. Da Ereignisse, die im Fernsehen häufig gezeigt werden, bei Vielsehern verfügbarer sind als bei Wenigsehern, antworten sie schneller und fällen ein höheres Realitätsurteil. Informationen über die Quelle verfügbarer Beispiele werden dabei in der Regel nicht berücksichtigt. Führen bestimmte Bedingungen dazu, dass die Quelle doch bewertet oder der mögliche Einfluss des Fernsehens berücksichtigt wird (z.B. Reihenfolgeeffekte), wird der systematische Urteilsweg eingeschlagen. Kultivierungseffekte basieren dann auf demselben Mechanismus wie Urteile, die von vornherein systematisch gefällt werden.
260
6 Psychische Prozesse
Bestimmte Bedingungen können aber auch zu einer systematischen Urteilsbildung führen. So kann es sein, dass bestimmte Personen in ein Thema besonders involviert sind und daher motiviert sind, das richtige Urteil zu fällen. Auch erhöhen bestimmte Befragungssituationen (z.B. mündliche Einzelinterviews) die Wahrscheinlichkeit, dass über die Urteile genauer nachgedacht wird. In diesem Fall durchsuchen die Befragten ihr Gedächtnis genauer und brauchen länger, um ihr Urteil zu fällen. Das Urteil hängt davon ab, wie viele Beispiele für ein bestimmtes Ereignis gefunden werden, und wie relevant diese Beispiele für das Urteil sind. Relevanz wird auf der Basis von Kontextinformationen beurteilt. Auch die Informationsquelle ist eine solche Kontextinformation. Vielseher finden zwar mehr Beispiele für ein typisches Fernsehereignis, beziehen diese jedoch nicht in ihr Urteil ein, weil sie mit Hilfe der Kontextinformation „Fernsehen/fiktional“ als irrelevant erkannt werden. Kultivierungseffekte entstehen dadurch, dass die Rezipienten dabei Fehler machen: zum einen, weil die Kontextinformationen im Laufe der Zeit vergessen werden; zum anderen, weil viele Kontextinformationen von fiktionalen Fernsehereignissen den Kontextinformationen von nonfiktionalen Fernsehereignissen oder realen Ereignissen sehr ähnlich sind. Auch dürften mangelnde kognitive Fähigkeiten (hohes Alter oder geringe Intelligenz) die Wahrscheinlichkeit von Quellenverwechslungen erhöhen. Da Kultivierungseffekte bei systematischer Urteilsbildung nur unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Subgruppen zu erwarten sind, werden sie insgesamt kleiner ausfallen als Kultivierungseffekte, die durch heuristische Urteilsbildung entstehen.
6.3
Kultivierung zweiter Ordnung
Es gibt einige Hinweise darauf, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung anders entstehen als Kultivierungsurteile erster Ordnung. Wie oben bereits dargestellt ist anzunehmen, dass sie größtenteils on-line, also bereits während der Rezeption, entstehen (vgl. Shrum, 2004; siehe Kapitel 6.1). Im Allgemeinen werden Urteile dann on-line gebildet, wenn man sich in der Rezeptionssituation der Tatsache bewusst ist, dass man ein Urteil später einmal brauchen wird, wenn man von einem Thema betroffen ist oder wenn bereits ähnliche Urteile vorhanden sind (vgl. Hertel & Bless, 2000). Im Vergleich zu Kultivierungsurteilen erster Ordnung, bei denen diese Bedingungen selten erfüllt werden, treffen sie auf die Einstellungsbildung eher zu. Wir sind es gewohnt, uns im Alltag zu allen möglichen Themen eine Meinung zu bilden und tun dies eher on-line (vgl. McConnell et al., 2002).
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
261
Auch die Studie von Zhang und Krcmar (2004) deutet darauf hin, dass an den Urteilen erster und zweiter Ordnung unterschiedliche psychische Prozesse beteiligt sind: Wie oben bereits dargestellt (vgl. Kapitel 6.2.1) wiesen sie einen Teil ihrer Probanden darauf hin, dass das Fernsehen Realitätsurteile beeinflussen kann. Bei einer zweiten Gruppe fragten sie die Fernsehnutzung vor den Realitätsurteilen ab, wohingegen die Kontrollgruppe keine Hinweise bekam und die Realitätsurteile vor der Fernsehnutzung beantwortete. Anders als Shrum et al. (1998) fragten sie nicht nur Realitätsurteile erster Ordnung ab, sondern auch Einstellungen und Verhaltensintentionen. Werden die Urteile erst in der Befragungssituation gebildet, so müssten Hinweise auf den Einfluss des Fernsehens die Kultivierungseffekte abschwächen. Dies war bei Realitätsurteilen erster Ordnung der Fall. Bei Einstellungen und Verhaltensintentionen fanden sich keine Unterschiede. Die Realitätsurteile zweiter Ordnung waren offenbar bereits schon vor der Befragung gebildet worden und wurden daher durch die sogenannte Priming-Prozedur (vgl. Shrum et al., 1998) nicht mehr beeinträchtigt. Diese Beobachtung ist nicht verwunderlich, denn Zhang und Krcmar (2004) fragten sexuelle Einstellungen (z.B. Sex vor der Ehe, Verhütung etc.) ab – einen Bereich also, der für das Gros der Bevölkerung von großer Relevanz ist. Erstaunlich wäre es eher, wenn sexuelle Einstellungen nicht schon vorher gebildet worden wären. Kein Mensch schreibt jedoch jedem Thema die gleich hohe Relevanz zu. Für jeden gibt es eine Reihe von Themen, die ihn nur peripher interessieren. In diesem Fall kann es durchaus sein, dass auch ein Kultivierungsurteil zweiter Ordnung erst während der Urteilsbildung – erinnerungsgestützt – entsteht. Mit beiden Wegen der Urteilsbildung setzt sich dieses Kapitel auseinander.
6.3.1
Entstehung während der Rezeption (on-line)
Kultivierungseffekte zweiter Ordnung beschreiben den Einfluss des Fernsehens auf die Einstellungen von Zuschauern. Einstellungen bestehen nach Fazio (1995) aus einem Objekt und seiner Bewertung. Entstehung und Speicherung im Langzeitgedächtnis lassen sich am besten mit assoziativen Netzwerken (z.B. Anderson, 1983a) beschreiben.
262
6 Psychische Prozesse
6.3.1.1
Speicherung von Einstellungen im Gedächtnis
Wie oben bereits dargestellt gehen assoziative Netzwerk-Modelle wie das Spreading Activation Modell (z.B. Anderson, 1983a) davon aus, dass Informationen (z.B. über ein Objekt) in Form von kognitiven Einheiten und ihren Verbindungen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Vor diesem Hintergrund konzipierte Fazio (1989; 1995) eine Einstellung als „association in memory between a given object and a given summary evaluation of the object.“ (Fazio, 1995: S. 247) Bewertungsobjekt und Bewertung stellen jeweils kognitive Einheiten dar, die über Gedächtnisspuren miteinander verknüpft sind. Für die Betrachtung von Einstellungen ist nicht nur die Bewertungstendenz von Bedeutung, sondern auch die Stärke. Diese hängt einhergehend mit den generellen Annahmen der Spreading Activation-Theorie von der Stärke der Verknüpfung zwischen Objekt und Bewertung ab (vgl. Anderson, 1983a). Je häufiger ein Bewertungsobjekt und eine bestimmte Bewertung aktiviert werden, desto stärker wird die Verknüpfung zwischen den beiden Elementen und desto größer wird die Einstellungsstärke. Die Stärke einer Einstellung bewegt sich auf einem Kontinuum zwischen ‚keine Einstellung’ und ‚starke Einstellung’ (vgl. Fazio, 1989; Fazio, Powell & Williams, 1989), an dem sich auch die Entstehung von Einstellungen veranschaulichen lässt:
Am unteren Ende ist das Objekt ist mit keiner Bewertung verknüpft, es ist noch keine Einstellung zu diesem Objekt vorhanden. Wird eine Person nach ihrer Einstellung gefragt, so muss sie diese erst konstruieren. Sie wird in diesem Fall auf andere Gedächtnisinhalte zurückgreifen, die Hinweise auf das Bewertungsobjekt geben (s.u., vgl. auch Kapitel 6.3.2). Als Ergebnis der Einstellungsbildung wird die neu entstandene Bewertung direkt mit dem Objekt verknüpft. An allen anderen Punkten des Kontinuums ist das Objekt mit einer Bewertung verknüpft. Es ist eine mehr oder weniger starke Einstellung verfügbar. Am oberen Ende des Kontinuums „is a well-learned, strong association – sufficiently strong that the evaluation is capable of automatic activation from memory upon mere observation or mention of the object.” (Fazio et al., 1989: S. 281) Die Bewertung eines Objektes kann hier automatisch aktiviert werden, sobald man nur das Bewertungsobjekt selbst wahrnimmt (vgl. hierzu auch Anderson, 1983a; Laroche, Cleveland, Maravelakis, 2002).
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
263
Die Einstellungsstärke (attitude strength) hat einen Einfluss darauf, wie leicht Einstellungen im Gedächtnis verfügbar sind bzw. wie schnell auf sie zugegriffen werden kann. Einstellungen werden also leichter abrufbar, wenn Objekt und Bewertung stark miteinander verknüpft sind, d.h. mit der Einstellungsstärke steigt auch die Einstellungsverfügbarkeit (attitude accessibility) (vgl. z.B. Fazio, 1989; 1995). Diese ist abhängig von der Häufigkeit, mit der die Objekt-Bewertungs-Relation aktiviert wird: Einstellungsverfügbarkeit und -stärke werden also umso größer, je häufiger Objekt und Bewertung aktiviert werden. Es gibt jedoch eine Reihe weiterer Attribute, die die Einstellungsstärke determinieren. Nach Krosnick und Petty (1995) lassen sich diese in vier Dimensionen aufteilen: (1) (2) (3) (4)
Attribute der Einstellung selbst: Extrem der Bewertungstendenz Einstellungsstruktur: Wissensmenge, Konsistenz des Wissens Prozess der Einstellungsbildung: Elaboriertheit Subjektive Wahrnehmung: persönliche Wichtigkeit, Einstellungssicherheit
Alle Attribute gehen mit einer stärkeren Einstellung einher, d.h. eine Einstellung ist umso stärker, je extremer die Bewertungstendenz ist, je mehr man zum Bewertungsobjekt weiß, je konsistenter diese Informationen sind, je elaborierter die Auseinandersetzung mit dem Bewertungsobjekt ist, je wichtiger die Einstellung ist und je sicherer man sich der Einstellung ist. Damit ist aber nichts über die Einflussrichtung ausgesagt, denn die meisten Faktoren können zu stärkeren Einstellungen führen oder aus ihnen resultieren.54 Eine starke Einstellung hat zweierlei zur Folge: Zum einen ist die Einstellung stabil, sie ist beständig und resistent gegen konträre Ansichten und Persuasionsversuche (Krosnick & Petty, 1995). Zum anderen beeinflusst sie die spätere Informationsaufnahme. So zeigten Roskos-Ewoldsen und Fazio (1992), dass Objekte, für die Einstellungen verfügbar waren, die Aufmerksamkeit stärker auf sich lenkten als andere Objekte: „objects that are likely to activate an associated evaluation from memory are themselves more likely to be noticed when presented in a visual display.“ (ebd.: S. 208)
54
Eine Ausnahme bildet die Wichtigkeit einer Einstellung. Bizer und Krosnick (2001) zeigten, dass die Wichtigkeit die Einstellungsstärke erhöht: Sobald eine Person einem Objekt eine gewisse Bedeutung zuschrieb, dachte sie genauer über das Objekt nach, „building bridges to related imformation in memory, which increases the accessibility of the attitude.“ (ebd.: S. 578) Umgekehrt stieg die Wichtigkeit in Folge einer stärkeren Einstellung nicht an.
264
6 Psychische Prozesse
6.3.1.2
Einstellungsverfügbarkeit und Kultivierung
Die Kultivierungshypothese geht davon aus, dass das Fernsehen die Einstellungen der Zuschauer prägt. Dies lässt sich vor dem Hintergrund der dargestellten Überlegungen zur Einstellungsbildung erklären. Bestimmte Themen, Personen, Ereignisse – also Bewertungsobjekte – kommen im Fernsehen oder in bestimmten Fernsehgenres häufiger vor als andere. Dabei dominieren ganz bestimmte Botschaften, so dass die Art, wie diese Themen, Personen oder Ereignisse dargestellt werden, nicht unendlich vielfältig ist (vgl. Kapitel 4). Es werden ganz bestimmte Bewertungen transportiert. Der Prozess, wie es zur Einstellungsbildung kommt, sei auf der Basis der Darstellung von Ärzten in Krankenhausserien verdeutlicht. Krankenhausserien stellen Ärzte in der Regel kompetent, aufrichtig und fürsorglich dar (vgl. Rossmann, 2002). Nur manchmal werden Ärzte gezeigt, die Fehler machen oder gegen ihre Kollegen intrigieren. Im assoziativen Netzwerk des Langzeitgedächtnisses wird die kognitive Einheit „Arzt“ mit diesen Attributen verknüpft. Kompetenz, Aufrichtigkeit und Fürsorge werden häufiger aktiviert, weshalb diese Gedächtnisspuren stärker ausgeprägt sind als die Verknüpfungen mit Intriganz und Kunstfehlern (in der Abbildung durch dickere Linien verdeutlicht). Sollen Ärzte erstmalig bewertet werden, ist der Ablauf wie folgt (vgl. Abbildung 26): (1)
(2)
(3)
Die entsprechende kognitive Einheit „Arzt“ wird aktiviert, diese aktiviert weitere damit verknüpfte Einheiten. Bei stärker verknüpften Einheiten ist die Wahrscheinlichkeit, aktiviert zu werden, höher. In unserem Beispiel sind das die Attribute fürsorglich, aufrichtig, kompetent. Diese Attribute sind wiederum mit der Konnotation „positiv“ verknüpft, so dass sich als Ergebnis der Einstellungsbildung eine positive Bewertung von Ärzten ergibt. Das assoziative Netzwerk verknüpft das Ergebnis der Urteilsbildung nun direkt mit der entsprechenden kognitive Einheit: Es entsteht eine neue Gedächtnisspur zwischen „Arzt“ und der Bewertung „positiv“.
Die zukünftige Rezeption von Ärzten in Krankenhausserien aktiviert nun nicht mehr nur die kognitive Einheit „Arzt“ und bestimmte Attribute, sondern auch seine Bewertung. Im Gedächtnis der Zuschauer wird die Objekt-Bewertungsrelation ‚Arzt-positiv’ zunehmend gestärkt: „The more often individuals note and rehearse the object-evaluation association, the stronger it becomes.” (Shrum, 1999: S. 252) Werden Rezipienten nun in einer Kultivierungsstudie gebeten, Ärzte zu bewerten, so ist es nicht mehr notwendig, alle verfügbaren Informationen für
265
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
dieses Urteil heranzuziehen. Denn das Urteil, nämlich die positive Bewertung, ist im Gedächtnis bereits vorhanden und muss nur noch abgerufen werden. Je häufiger die Objekt-Bewertungsrelation vorher aktiviert wurde, desto leichter und schneller wird diese Bewertung abgerufen.
Abbildung 26: Ausschnitt aus dem assoziativen Netzwerk des Langzeitgedächtnisses – Aktivierungsschritte bei der erstmaligen Einstellungsbildung
Kunstfehler Krankenhaus intrigant
Arzt
M
M
aufrichtig
fürsorglich O
M N
N
Bewertung: positiv
N
kompetent
Kognitive Einheit Starke Verknüpfung Schwache Verknüpfung
Quelle: Eigene Darstellung.
M, N, O Aktivierungsschritte bis zur Einstellungsbildung
Krosnick und Petty (1995) nannten verschiedene Faktoren, die die Einstellungsstärke determinieren. Neben der Aktivierungshäufigkeit dürften vor allem Merkmale der Einstellungsstruktur (Wissensmenge, Konsistenz des Wissens) im Kultivierungsprozess eine Rolle spielen. Vielseher von Krankenhausserien häufen im Laufe der
266
6 Psychische Prozesse
dauerhaften Nutzung dieser Serien mehr Wissen über Verhalten, Kompetenz und Charaktereigenschaften von Ärzten an als Wenigseher. Dadurch, dass Krankenhausserien ein recht gleichförmiges Bild von Ärzten vermitteln, ist dieses Wissen konsistent. Ambivalenzen, die die Einstellungsstärke schwächen, werden somit geringer. In der Folge werden die fernsehkonsistenten Einstellungen zunehmend stabiler und resistenter gegenüber Botschaften, die eine andere Bewertungstendenz vermitteln (ebd.). Sieht der langjährige Krankenhausserien-Fan gelegentlich eine der neuen amerikanischen Arztserien, die ein weniger idealistisches Bild vermitteln (vgl. z.B. Chory-Assad & Tamborini, 2001), so wird dies seine stark ausgeprägte positive Einstellung zu Ärzten nicht mehr so leicht verändern. Außerdem lenkt eine starke Einstellung zu einem Objekt die Aufmerksamkeit bei der späteren Informationsaufnahme automatisch und unbewusst wieder auf dieses Objekt (vgl. RoskosEwoldsen & Fazio, 1992). Sieht ein Vielseher von Krankenhausserien nebenbei einmal einen Werbespot, in dem als Experte ein Arzt auftaucht, wird er den Arzt eher wahrnehmen als Menschen, deren Einstellungen zu Ärzten weniger stark sind. Die Objekt-Bewertungsrelation wird beim Vielseher somit unbewusst erneut gestärkt, wohingegen Wenigseher den Arzt vielleicht gar nicht wahrnehmen. Kurz: Das Fernsehen erhöht bei Vielsehern durch die Gleichförmigkeit seiner Botschaften die Stärke und somit die Verfügbarkeit fernsehspezifischer Einstellungen. Bei einer späteren Urteilsabfrage sind die entsprechenden Objekt-BewertungsRelationen verfügbarer als andere und werden daher in Befragungen schneller wiedergegeben. Shrum (1999) prüfte diese Überlegung, indem er in einer Kultivierungsstudie zum Einfluss von Soap-Operas auf verschiedene Einstellungen (Reichtum, Ehe, Misstrauen) auch die Einstellungsverfügbarkeit erfasste. Dies lässt sich genauso wie die Konstruktverfügbarkeit durch die Antwortgeschwindigkeit messen (Fazio, 1995). Die Einstellungen wurden daher am Computer abgefragt, der die Antwortgeschwindigkeit automatisch dokumentierte. Anschließend füllten die Studierenden schriftlich einen Fragebogen aus, der die Fernsehnutzung und verschiedene Drittvariablen erhob. Die übliche Auswertung zum Einfluss der Soap-Nutzung bestätigte die erwarteten Kultivierungseffekte bei zwei von drei Themen. Vielseher von SoapOperas standen einer Ehe kritischer gegenüber und waren ihren Mitmenschen gegenüber misstrauischer. Wie postuliert unterschieden sich Viel- und Wenigseher aber nicht nur in der Ausprägung ihrer Einstellung, sondern auch in der Einstellungsverfügbarkeit: Die Vielseher antworteten schneller. Vielseher äußerten also nicht nur fernsehkonforme Einstellungen, sondern hatten auch stärkere Einstellungen als Wenigseher.
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
267
Beim dritten Thema (Reichtum) konnte Shrum (1999) keinen Einfluss auf die Einstellungstendenz nachweisen. Dennoch antworteten die Vielseher schneller. Der Einfluss des Fernsehens äußerte sich hier also nicht in der Einstellung selbst, sondern in ihrer Stärke. Es ist denkbar, dass Soaps in Bezug auf dieses Thema ähnliche Botschaften vermitteln wie andere Medien oder der Lebensalltag der Studierenden. Bei Vielsehern wird die entsprechende Einstellung durch die ständige Seriennutzung häufiger aktiviert, weshalb sie schneller verfügbar ist. Zukünftige Kultivierungsstudien sollten daher nicht nur die Einstellungstendenzen ermitteln, sondern auch ihre Verfügbarkeit. Damit lassen sich möglicherweise Kultivierungseffekte nachweisen, die in der Einstellungstendenz gar nicht sichtbar werden, aber durch die Konsistenz unterschiedlicher Botschaften gleichsam als Verstärker auf Einstellungen wirken.
6.3.1.3
Elaboration und Transportation
Nach den Erkenntnissen zur Einstellungsverfügbarkeit hängt die Einstellungsstärke auch mit der Elaboriertheit, mit der Botschaften verarbeitet werden, zusammen (vgl. Krosnick & Petty, 1995). Wenn Informationen elaboriert verarbeitet werden, sind die daraus resultierenden Einstellungen stabiler und resistenter (vgl. z.B. Petty & Cacioppo, 1986b), die Einstellungsstärke ist größer. Umgekehrt werden einstellungsrelevante Botschaften auch umso elaborierter verarbeitet, je stärker die entsprechende Einstellung im Gedächtnis ist (vgl. Roskos-Ewoldsen, 1997). Was bedeutet das für die Kultivierung? Einerseits legen die Befunde zur Einstellungsverfügbarkeit nahe, dass Kultivierungseffekte stärker ausfallen, wenn sich die Rezipienten elaboriert mit Fernsehinhalten auseinandersetzen. Andererseits ist anzunehmen, dass Rezipienten, die sich intensiv mit den Botschaften auseinandersetzen, diese auch eher hinterfragen und somit erkennen, dass es sich bei den meisten Fernsehbotschaften um unzuverlässige Inhalte handelt. Sie dürften dann eher Gegenargumente erzeugen, was Kultivierungseffekte eigentlich vermindert. Shrum, Burroughs und Rindfleisch (2005) untersuchten den Einfluss von Aufmerksamkeit und Elaboration. Sie befragten 314 Amerikaner und erfassten Einstellungen zum Materialismus, Fernsehnutzung und Nutzung anderer Medien, Aufmerksamkeit während der Rezeption und Elaboration (Shrum et al., 2005: Studie 1). Elaboration wurde indirekt über Cacioppo und Petty’s (1982) „Need for Cognition“-Skala (kurz: NFC) erfasst: NFC reflektiert die generelle Bereitschaft eines Individuums, Informationen elaboriert zu verarbeiten. Hierarchische Regressionen prüften den Einfluss der Fernsehnutzung und der Interaktionsterme ‚Fern-
268
6 Psychische Prozesse
sehnutzung und Aufmerksamkeit’ sowie ‚Fernsehnutzung und Elaboration’. Beide Interaktionsterme hatten einen signifikanten Einfluss auf die Einstellungen: Aufmerksamkeit und NFC verstärkten die Kultivierungseffekte. Dies deutet darauf hin, dass eine elaborierte Auseinandersetzung mit Fernsehinhalten nicht unbedingt damit einhergehen muss, dass die Botschaften hinterfragt werden. Allerdings ist die Validität der Befunde fraglich, da die Elaboriertheit nur indirekt über die generelle Veranlagung, Informationen intensiv zu verarbeiten (NFC), gemessen wurde. Shrum et al. (2005, Studie 2) bemerkten diese Einschränkung und führten eine zweite Studie durch, um festzustellen, wie die Elaboriertheit bei der Rezeption von Fernsehinhalten genau beschaffen ist. Es handelte sich um ein Experiment mit 101 Probanden, welches einer Gruppe den Ausschnitt aus dem Film „Wall Street“ zeigte und der anderen Gruppe einen Ausschnitt aus „Gorillas im Nebel“. Alle Probanden mussten kurz nach der Rezeption die Gedanken auflisten, die ihnen während der Rezeption in den Sinn gekommen waren. Damit sollte der Elaborationsgrad während der Rezeption gemessen werden. Je mehr Gedanken die Probanden aufgelistet hatten, desto höher wurde ihr Elaborationsgrad eingestuft. Zusätzlich wurde die Art der Elaboration erfasst, um herauszufinden, ob sich die Probanden während der Rezeption positive Gedanken gemacht hatten oder negative und ob sie Gegenargumente entwickelt hatten. Hierfür mussten die Probanden die Wertung ihrer Gedanken einstufen. Ein abschließender Fragebogen erfasste Fernsehnutzung, NFC und Transportation. Wie erwartet zeigte sich, dass Probanden mit einem hohen NFC-Grad mehr Gedanken aufgelistet hatten. Ein hoher NFC-Grad hängt also mit einer stärkeren Elaboration der Inhalte zusammen. Dabei handelte es sich überwiegend um eine, wie Shrum et al. (2005) sie nennen, ‚positive Elaboration’, d.h. ein hoher NFCGrad ging auch mit mehr positiven Gedanken einher. Die in Studie 1 beobachteten Zusammenhänge können vor diesem Hintergrund so interpretiert werden, dass sich Vielseher elaborierter mit Fernsehinhalten auseinandersetzen. Ihre Gedanken sind dabei nicht kritischer Art (z.B. keine Gegenargumente, keine Abwertung der Quelle), wodurch die stärkere Elaboration der Fernsehinhalte die vermittelten Einstellungen und somit Kultivierungseffekte verstärkt. Ein weiterer Befunde von Shrum et al. (2005) kann dies erklären. Vielseher mit einem hohen NFC-Grad verarbeiteten die Informationen nicht nur elaborierter, sondern wurden auch stärker transportiert: Vielseher versanken also mehr in der Handlung, was verhinderte, dass sie Gegenargumente erzeugten (vgl. hierzu Kapitel 5.5.3). Entsprechend schlossen Shrum et al. (2005), dass Vielseher mit einem hohem NFC-Grad die Fernsehnutzung eher genießen, sich stärker in die Sendungen vertiefen und weniger Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit haben.
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
269
Eine elaborierte Auseinandersetzung mit Informationen kann somit auch im Zusammenhang mit den meist unzuverlässigen Fernsehinhalten die Einstellungsstärke erhöhen. Vielseher tauchen stärker in die Handlungen des Fernsehens ein und vergessen dabei, dass sie Fernsehinformationen verarbeiten (die entspricht im Wesentlichen auch den Überlegungen und Befunden zum Konzept der Suspension of Disbelief, vgl. z.B. Böcking et al., 2005). Sind bereits Einstellungen zu den präsentierten Botschaften vorhanden, verarbeiten sie die Handlung elaborierter. Aufgrund der starken Transportation führt dies aber nicht dazu, dass Gegenargumente entwickelt werden, so dass einstellungskonforme Fernsehinhalte die vorhandenen Einstellungen weiter stärken.
6.3.1.4
Zusammenfassung
Kultivierungseffekte zweiter Ordnung entstehen größtenteils on-line, also während der Rezeption. Konkret ist dies dann der Fall, wenn die Einstellung für den Rezipienten eine hohe Relevanz besitzt oder wenn bereits Einstellungen zu ähnlichen Themen vorhanden sind (vgl. Hertel & Bless, 2000). Im assoziativen Netzwerk des Langzeitgedächtnisses lassen sich Einstellungen beschreiben als Verknüpfung eines Objektes mit seiner Bewertung (Fazio, 1995). Entscheidend für das Verständnis des Kultivierungsprozesses zweiter Ordnung ist, dass sich Einstellungen nicht nur in ihrer Tendenz (z.B. positiv, negativ) unterscheiden, sondern auch in ihrer Stärke. Denn Bewertungsobjekte können im Gedächtnis durchaus mit unterschiedlichen Bewertungen verknüpft sein, entscheidend für Realitätsurteile zweiter Ordnung sind jedoch diejenigen, die am stärksten miteinander verknüpft sind. Denn diese sind, wie alle anderen Konstrukte, verfügbarer als andere. Die Einstellungsstärke korreliert mit der Häufigkeit, mit der Objekt und Bewertung aktiviert werden. Zudem hängt sie mit weiteren Faktoren zusammen (Krosnick & Petty, 1995), von denen vor allem Wissensmenge, Konsistenz des Wissens und Elaboriertheit für die Kultivierung von Bedeutung sein dürften. Im Fernsehen dominieren ganz bestimmte Botschaften, d.h. bei der Darstellung bestimmter Bewertungsobjekte dominieren bestimmte Bewertungen. Bei Vielsehern werden die entsprechenden Einstellungen im Gedächtnis somit häufiger aktiviert als bei Wenigsehern. Zudem sammeln Vielseher durch die häufige Rezeption zunehmend mehr Wissen über die entsprechenden Bewertungsobjekte an. Durch die Gleichförmigkeit der Botschaften des Fernsehens ist dieses Wissen nicht
270
6 Psychische Prozesse
endlos vielfältig, sondern eher konsistent. Die Einstellungen werden also durch Häufigkeit, Wissensmenge und Konsistenz gestärkt. Auch eine elaborierte Auseinandersetzung mit Botschaftsinhalten erhöht die Einstellungsstärke (Krosnick & Petty, 1995). Umgekehrt hat eine hohe Einstellungsstärke auch eine stärkere Elaboration der relevanten Botschaftsmerkmale zur Folge, d.h. die Botschaft wird intensiver verarbeitet, sie wird eher hinterfragt etc. (vgl. Roskos-Ewoldsen, 1997). Diese Beobachtung mag zu der Annahme verleiten, dass sich Kultivierungseffekte zweiter Ordnung irgendwann selbst aushebeln, weil eine intensive Auseinandersetzung mit Fernsehinhalten auch dazu führen dürfte, dass die Quelle der Botschaften kritisch betrachtet wird. Vor dem Hintergrund der Befunde von Shrum et al. (2005) lässt sich jedoch anderes vermuten: Ein hoher Elaborationsgrad geht auch mit einer starken Transportation einher, d.h. Vielseher, die sich elaboriert mit den Botschaftsmerkmalen auseinandersetzen, tauchen in die Handlung ein. Sie verfolgen die Handlung aufmerksam, sind hochinvolviert, aber sie hinterfragen sie nicht. Eine starke Elaboration erzeugt somit zwar eine intensive Auseinandersetzung mit der Botschaft, nicht aber ein Hinterfragen im Sinne einer Evaluation der Informationsquelle. Empirische Belege zur Wirksamkeit verfügbarer Einstellungen im Kultivierungsprozess sind rar. Lediglich Shrum (1999) führte eine Studie zu dieser Fragestellung durch. Seine Ergebnisse zeigten, dass Vielseher bei zwei von drei Themen nicht nur mehr kultiviert waren (im Sinne der fernsehkonformen Einstellungstendenz) als Wenigseher, sondern dass sie diese Einstellungen auch schneller äußerten. Ihre Einstellungen waren also verfügbarer. Beim dritten Thema ließ sich kein Kultivierungseffekt im Sinne der Einstellungstendenz nachweisen (Viel- und Wenigseher äußerten dieselben Einstellungen), wohl aber Unterschiede in der Antwortgeschwindigkeit: Vielseher antworteten auch hier schneller als Wenigseher. Offenbar vermittelt das Fernsehen hier Botschaften, die mit anderen Erfahrungen der Rezipienten einhergehen (Realitätserfahrung, andere Medien etc.). Die bloße Abfrage der Einstellungstendenzen hätte nicht offengelegt, was die Einstellungsstärke zeigt: Kultivierungseffekte zweiter Ordnung können sich nicht nur darin äußern, dass Viel- und Wenigseher unterschiedliche Einstellungen entwickeln, sondern auch darin, dass die Einstellungen der Vielseher stärker ausprägt und somit verfügbarer sind als die von Wenigsehern.
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
6.3.2
271
Erinnerungsgestützte Einstellungsbildung
Kein Mensch hat zu allem und jedem eine Einstellung. Jeder interessiert sich für bestimmte Themen mehr, für andere weniger. So gibt es Menschen, die keine Meinung dazu haben, ob Rechtsanwälte rechtschaffen sind, ob die Regierung gut ist oder wie sich Politiker verhalten – alles Themen, die Kultivierungsstudien abfragen (vgl. Berman & Stookey, 1980; Donsbach et al., 1985; Pfau et al., 1995a). Keiner dieser Bereiche ist für jeden Rezipienten von Relevanz, nicht jeder hat bereits Urteile zu ähnlichen Themen gebildet und nicht jeder wird einen Anlass haben, zu dem er eine entsprechende Einstellung benötigt. Manche haben mit Rechtsanwälten schlichtweg nichts zu tun und glauben auch nicht, dass das einmal der Fall sein wird. Andere interessieren sich nicht für das politische Geschehen, gehen nicht wählen und bilden sich daher auch keine politische Meinung. Werden solche Einstellungen in Kultivierungsstudien abgefragt, müssen sie erinnerungsgestützt gebildet werden. Hinweise darauf lieferten schon Hawkins et al. (1987) und Potter (1991a; 1991c). Wie in Kapitel 3 ausführlich dargestellt untersuchten sie in mehreren Studien die Zusammenhänge zwischen Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung. Hawkins et al. (1987) fand keine Zusammenhänge. Potter (1991a; 1991c) konnte Zusammenhänge nachweisen, die darauf hindeuten, dass Realitätsurteile zweiter Ordnung unter bestimmten Umständen aus Realitätsurteilen erster Ordnung gebildet werden, etwa dann, wenn die Befragten nicht schon eine stabile Einstellung gebildet hatten. Im Rahmen der Kultivierung wurde die Möglichkeit einer erinnerungsgestützten Entstehung von Kultivierungseffekten zweiter Ordnung zwar bereits angedeutet (vgl. Shrum, 2004), aber nicht spezifiziert.
6.3.2.1
Theory of Reasoned Action
Werden Einstellungen erinnerungsgestützt gebildet, so ist es denkbar, dass Realitätsurteile erster Ordnung die Basis für die Urteile zweiter Ordnung bilden. Dies legen Fishbein und Ajzen (1975) in ihrer Theory of Reasoned Action (TRA) nahe (vgl. Abbildung 27 für ein vereinfachtes Modell). Nach dieser Theorie ist das Verhalten der Menschen (behavior) zu großen Teilen von Verhaltensintentionen (intentions) in Bezug auf ein bestimmtes Objekt abhängig. Diese sind abhängig von den Einstellungen (attitudes), Einstellungen wiederum entstehen aus der Wahrnehmung der Objekte (beliefs).
272
6 Psychische Prozesse
Abbildung 27: Schematische Darstellung der Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Einstellung, Intention und Verhalten
Wahrnehmung von Objekt X
Intentionen in Bezug auf Objekt X
Verhalten in Bezug auf Objekt X
1.
Einstellung zu Objekt
1.
1.
2.
X
2.
2.
3.
3.
3.
...
...
...
N.
N.
N.
Einfluss
Quelle: Fishbein & Ajzen, 1975: S. 15.
Feedback
Die in der TRA behandelten Einstellungen sind mit Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung vergleichbar, die Wahrnehmung von Objektmerkmalen mit Kultivierungsurteilen erster Ordnung (vgl. Nabi & Sullivan, 2001; Zhang & Krcmar, 2004). In der Kultivierung sind daher die Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Einstellungen und Wahrnehmung von Objektmerkmalen entscheidend. Fishbein und Ajzen (1975) verdeutlichen diesen anhand eines Beispiels: Die Einstellungen einer Person zur Kirche ist eine Funktion der wahrgenommenen Eigenschaften der Kirche. Personen nehmen diese Eigenschaften durch direkte Beobachtung oder über indirekte Quellen (z.B. Medien) wahr und speichern sie im Gedächtnis. Die Kirche ist somit im Gedächtnis mit verschiedenen begünstigenden und verschiedenen nachteiligen Attributen verknüpft. Je nachdem, welche Attribute dominieren, ist die Einstellung zur Kirche eher positiv oder negativ: „It can thus be seen that a person’s attitude toward some object is determined by his beliefs that the object has certain attributes and by his evaluations of those attributes.” (ebd. S. 14) Nabi und Sullivan (2001) wendeten diese Überlegungen auf die Kultivierungshypothese an. Sie fragten 257 Studierende nach verbrechensbezogenen Einschätzungen (Häufigkeit bestimmter Verbrechensarten, gewalttätige Verbrecher, ungelöste Morde etc.), klassischen Mean-World-Einstellungen (Vertrauen in Mitmenschen, Hilfsbereitschaft von Menschen etc.), nach der Absicht, Schutzmaßnahmen zu ergreifen (Verhaltensintention) und nach dem tatsächlichen Ergreifen von Schutzmaßnahmen (Verhalten). In Pfadmodellen überprüften sie die Annahme, dass Realitätsurteile erster Ordnung die Einstellungen beeinflussen,
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
273
diese die Verhaltensintention und diese wiederum das tatsächliche Verhalten. Die Befunde bestätigten die Annahmen. Entscheidend ist hier: Die Autoren zeigten, dass Kultivierungsurteile erster Ordnung Urteile zweiter Ordnung determinierten.
6.3.2.2
Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis
Die Annahmen der TRA, wonach Einstellungen zu bestimmten Objekten aus ihrer Wahrnehmung gebildet werden, lässt sich mit den Vorstellungen eines assoziativen Netzwerks im Langzeitgedächtnis gut veranschaulichen. Kapitel 6.3.1 stellte bereits dar, wie es zur Einstellungsbildung kommt: Solange ein bestimmtes Bewertungsobjekt keine große Relevanz besitzt und keine Einstellung gebraucht wird, ist das Objekt mit keiner Bewertung verknüpft. Das Objekt wird im Gedächtnis lediglich zusammen mit verschiedenen Attributen gespeichert. Möchte eine Person nun eine Einstellung bilden – ob on-line oder erinnerungsgestützt – sucht sie das Gedächtnis nach relevanten Informationen ab, aktiviert dabei das Bewertungsobjekt (z.B. Arzt) und mit ihm verknüpfte Attribute (z.B. fürsorglich, kompetent etc.). Über die in diesem Beispiel positive Konnotation der Attribute gelangt sie zu einer positiven Bewertung. Die im Gedächtnis gespeicherten Objekte und ihre Attribute entsprechen dem, was die TRA mit Wahrnehmung von Objekten meint und die Kultivierung mit Urteilen erster Ordnung. Personen stützen sich bei der erstmaligen Einstellungsbildung also genau auf die Informationen, die auch die Grundlage für Kultivierungsurteile erster Ordnung bilden: auf die mehr oder weniger stark verknüpften kognitiven Einheiten im Gedächtnis. Anders ausgedrückt: Bei der erinnerungsgestützten Bildung von Realitätsurteilen zweiter Ordnung bilden wir im Gedächtnis zunächst Realitätsurteile erster Ordnung. Somit dürften dabei auch dieselben Mechanismen wirksam werden.
6.3.2.3
Mechanismen der erinnerungsgestützten Einstellungsbildung
Grundsätzlich gehen wir bei der Einstellungsbildung ja davon aus, dass diese dann erinnerungsgestützt ist, wenn das Thema keine hohe Relevanz besitzt. Das bedeutet, Personen sind bei der Urteilsbildung recht unmotiviert, so dass sie ihr Urteil heuristisch fällen (vgl. Kapitel 6.2.1). Wenn es nun darum geht, die Einstellung zu bilden, wird das Gedächtnis auch hier nicht nach allen relevanten Informationen durchsucht. Vielmehr werden die Informationen herangezogen, die am stärksten
274
6 Psychische Prozesse
mit dem Bewertungsobjekt verknüpft und somit am schnellsten verfügbar sind: Bei Vielsehern von Krankenhausserien ist die kognitive Einheit „Arzt“ stark mit den Attributen „Fürsorge“, „Kompetenz“, „Aufrichtigkeit“ verknüpft, weniger mit den Attributen „Kunstfehler“ oder „intrigant“. Durch die schnellere Verfügbarkeit der stärker verknüpften Attribute bilden Vielseher das Urteil, dass fürsorgliche, kompetente und aufrichtige Ärzte in der Mehrzahl sind (Kultivierungsurteil erster Ordnung). Dadurch, dass diese Attribute mit einer positiven Bewertung verknüpft sind, gelangen die Vielseher zu einem positiven Gesamturteil. Nun können bestimmte situationsbedingte Faktoren dazu führen, dass erinnerungsgestützte Einstellungen systematisch gebildet werden, beispielsweise wenn eine Einstellung mündlich abgefragt wird, wenn sie später evaluiert werden soll oder wenn es externe Hinweise auf Faktoren gibt, die die Einstellung beeinflussen (z.B. Einflussquelle; vgl. Kapitel 6.2.2). In diesem Fall werden nicht nur die Informationen berücksichtigt, die am schnellsten verfügbar sind, sondern auch alle anderen relevanten Informationen. Es werden daher auch Kontextinformationen berücksichtigt wie die Quelle der Informationen. Die aus dem Fernsehen stammenden Informationen werden somit größtenteils als irrelevant erkannt. Dadurch, dass die Kontextinformationen aber bisweilen fehlerhaft sind, kann es dennoch zu (insgesamt geringeren) verzerrten Realitätsurteilen erster Ordnung kommen, auf deren Basis wiederum Urteile zweiter Ordnung gebildet werden.
6.3.2.4
Empirische Belege und Indikatoren
Studien, die die erinnerungsgestützte Einstellungsbildung in der Kultivierung untersucht haben, sind rar. Der Verfasserin sind lediglich die bereits dargestellten Studien von Hawkins et al. (1987), Potter (1991a; 1991c), Nabi und Sullivan (2001) und Zhang und Krcmar (2004) bekannt, die sich mit der Entstehung von Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung aus den Urteilen erster Ordnung beschäftigt haben. Diese deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen den Urteilen erster und zweiter Ordnung gibt, wenn das Thema keine hohe Relevanz besitzt, sprich, wenn nicht schon vor der Urteilsabfrage eine stabile Einstellung vorhanden ist. Dies ist nur ein Indikator dafür, dass Kultivierungseffekte zweiter Ordnung erinnerungsgestützt entstehen. Weitere Faktoren sind die Relevanz des Themas und das Vorhandensein einer Einstellung zum Zeitpunkt der Abfrage. Die Relevanz lässt sich über Indikatoren wie Interesse und Betroffenheit ermitteln. Auch die Frage, ob zu einem Thema schon vorher eine Einstellung vorhanden war, lässt sich relativ direkt abfragen (z.B. „Haben Sie sich zum Thema XY früher schon einmal Gedanken
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
275
gemacht?“). Ein weiterer Indikator für den Zeitpunkt der Einstellungsbildung ist die Antwortgeschwindigkeit. Wenn Einstellungen bereits vor der Urteilsabfrage gebildet wurden, antworten die Befragten schneller als wenn die Einstellungen erst in der Befragungssituation gebildet werden, denn die erinnerungsgestützte Urteilsbildung erfordert aufgrund des erforderlichen Zwischenschrittes (Urteile erster Ordnung) mehr Zeit. Zuletzt müssten bei der erinnerungsgestützten Einstellungsbildung auch all diejenigen Faktoren wirksam werden, die die Entstehung von Kultivierungseffekten erster Ordnung beeinflussen (heuristische versus systematische Urteilsbildung, Priming der Quelle, Beispiellisten als Indikator für gespeicherte Gedächtnisinhalte etc.). Diese Faktoren sind in zukünftigen Studien zu prüfen.
6.3.3
Zusammenfassung: Kultivierung zweiter Ordnung
Kultivierungsurteile zweiter Ordnung beschreiben den Einfluss des Fernsehens auf die Einstellungen der Zuschauer. Einstellungen lassen sich im assoziativen Netzwerk des Langzeitgedächtnisses (vgl. z.B. Anderson, 1983a) als eine Verknüpfung zwischen zwei kognitiven Einheiten, dem Objekt und seiner Bewertung, beschreiben (vgl. Fazio, 1995). Vor der erstmaligen Einstellungsbildung ist diese Verknüpfung nicht vorhanden. In diesem Fall dienen Attribute, die zusammen mit dem Bewertungsobjekt gespeichert sind, dazu, die Einstellung zu bilden. Kurz gesagt: Die Einstellung wird auf Basis der Informationen gebildet, die durch die Aktivierung des Bewertungsobjekts mit aktiviert werden. Sind dies Attribute, die eine positive Bewertung nahelegen, fällt das Urteil positiv aus, legen sie eine negative Bewertung nahe, fällt es negativ aus. Diese Bewertung bildet die neue Einstellung. Sie wird als neue Gedächtnisspur zwischen Objekt und Bewertung gespeichert. Der erste Prozess bis zur Einstellungsbildung kann erinnerungsgestützt oder on-line ablaufen. In der Regel ist davon auszugehen, dass er on-line abläuft, d.h. bereits während der Informationsaufnahme, da Menschen es gewohnt sind, zu verschiedenen Themen Einstellungen zu bilden (vgl. McConnell et al., 2002). Konkret ist dies vor allem dann der Fall, wenn das entsprechende Thema von Relevanz ist. Bei der Urteilsbildung wird die Einstellung dann nur noch abgerufen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass im Gedächtnis nicht nur eine Bewertung für ein Objekt gespeichert ist, sondern mehrere. Entscheidend für die Urteilsbildung ist dann die Einstellung, die am stärksten ist und somit am schnellsten verfügbar. Zu starken Einstellungen kommt es durch häufige Aktivierung derselben ObjektBewertungs-Relation. Aber auch Attribute wie die Wissensmenge zu einem Objekt, die Konsistenz des Wissens und die Elaboriertheit der Auseinandersetzung mit
276
6 Psychische Prozesse
relevanten Informationen tragen dazu bei, dass eine Einstellung stark ausgeprägt ist (vgl. Petty & Krosnick, 1995). Die Konsequenz starker Einstellungen ist, dass sie stabil sind und relativ resistent gegenüber widersprüchlichen Informationen. Sie beeinflussen aber auch die Informationsaufnahme: zum einen dadurch, dass Objekte, zu denen starke Einstellungen verfügbar sind, eher wahrgenommen werden, zum anderen dadurch, dass Informationen elaborierter verarbeitet werden. Bei der Fernsehrezeption wäre anzunehmen, dass allzu starke Einstellungen Kultivierungseffekte verhindern, weil eine elaborierte Auseinandersetzung mit den Fernsehinformationen dazu führen könnte, dass die Informationsquelle hinterfragt wird. Dies könnte zur Folge haben, dass aus dem Fernsehen gebildete Einstellungen revidiert werden. Wie Shrum et al. (2005) zeigten, geht eine elaborierte Auseinandersetzung mit Fernsehinhalten jedoch damit einher, dass die Vielseher stärker in das Fernsehgeschehen eintauchen: Sie werden stärker transportiert, Botschaftsmerkmale werden nicht weiter hinterfragt. Handelt es sich also um Themen, für die sich die Rezipienten interessieren und von denen sie betroffen sind, so sind die diesbezüglichen Einstellungen bei der Urteilsabfrage bereits im Gedächtnis gespeichert. Kultivierungseffekte entstehen dadurch, dass das Fernsehen bei Vielsehern ganz bestimmte Objekt-Bewertungs-Relationen häufiger aktiviert als bei Wenigsehern. Die den Fernsehbotschaften entsprechenden Einstellungen sind bei Vielsehern verfügbarer, sie antworten somit schneller (vgl. Shrum, 1999). Bei Themen, die für die Rezipienten keine Relevanz besitzen, werden Einstellungen erst dann gebildet, wenn danach gefragt wird, z.B. in der Befragungssituation. Die Herausbildung einer Einstellung beruht dann auf den Informationen, die im Gedächtnis mit dem Bewertungsobjekt verknüpft sind und Auskunft darüber geben, wie häufig Personen, über die ein Urteil abgegeben werden soll, etwa bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen. Anders ausgedrückt: Die erinnerungsgestützt gebildeten Kultivierungsurteile zweiter Ordnung beruhen auf Kultivierungsurteilen erster Ordnung. Daraus lässt sich zweierlei ableiten:
Es setzen dieselben Mechanismen ein, die auch zu Kultivierungsurteilen erster Ordnung führen: Stärkere Kultivierungseffekte bei heuristischer Urteilsbildung, schwächere Kultivierungseffekte bei systematischer. Erinnerungsgestützt gebildete Kultivierungsurteile zweiter Ordnung hängen mit Kultivierungsurteilen erster Ordnung zusammen. Lassen sich diese Zusammenhänge nachweisen, ist davon auszugehen, dass die Einstellungen erinnerungsgestützt gebildet wurden (z.B. Potter, 1991a; 1991c; Nabi und Sullivan, 2001). Fehlen sie, wurden die Einstellungen bereits früher gebildet, weshalb zusätzliche Informationen (Einschätzungen, Häufigkeiten) nicht mehr benötigt werden (z.B. Hawkins et al., 1987; Zhang & Krcmar, 2004).
Quelle: Eigene Darstellung.
Rezeption und Informationsaufnahme
Speicherung
ON-LINE Relevanz hoch
ON-LINE
Verfügbare Einstellungen
Kontextinformation
Chronisch verfügbare Konstrukte
Verfügbare Konstrukte
Langzeitgedächtnis
Urteilsbildung
Zeit Motivation Fähigkeit hoch
SYSTEMATISCH richtig
Quellenbewertung
falsch
HEURISTISCH
Zeit Motivation Fähigkeit niedrig
Quellenprime
• Darstellungsmerkmale
Fernsehen, Genres, Sendungen, themenspezifische Aggregate, Genremenüs
Fernsehbotschaft WAHRNEHMUNG • Metabotschaften auf Wahrgenommene unterschiedlichen Fernsehbotschaft Aggregierungsebenen:
Rezeptionsmerkmale
Kein Kultivierungseffekt zweiter Ordnung
Kultivierungseffekt zweiter Ordnung
Kein Kultivierungseffekt erster Ordnung
Kultivierungseffekt erster Ordnung
Relevanz niedrig
6.3 Kultivierung zweiter Ordnung
277
Abbildung 28 stellt den Kultivierungsprozess zweiter Ordnung im Modell dar. Der Anschaulichkeit halber sind auch hier nur die neuen Bestandteile schwarz gedruckt.
Abbildung 28: Modell des Kultivierungsprozesses zweiter Ordnung: Onlineund erinnerungsgestützte Urteilsbildung
ERINNERUNGSGESTÜTZT
SELEKTION
278
6 Psychische Prozesse
6.4
Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells 6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells Kapitel 4.2 und Kapitel 5 beschrieben die bisherigen Befunde zum Einfluss von Botschafts- und Rezeptionsmerkmalen auf Kultivierungseffekte. Aufgrund der disparaten Befunde zum Einfluss der einzelnen Merkmale und der fehlenden Kenntnisse über den Ablauf des Kultivierungsprozesses konnten die Einflussrichtung der Merkmale und der Zeitpunkt ihrer Wirkung bislang nur relativ oberflächlich dargestellt werden. Dieses Kapitel holt dies nach. Es diskutiert den Einfluss der Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale vor dem Hintergrund der psychischen Prozesse und ordnet sie den Phasen der Informationsaufnahme, Informationsspeicherung und Urteilsbildung zu.
6.4.1
Darstellungsmerkmale
Das Fernsehen beeinflusst die Realitätswahrnehmung nicht nur dadurch, dass es bestimmte Inhalte häufiger präsentiert, andere seltener, sondern auch dadurch, dass Inhalte unterschiedlich dargestellt werden. Aus Medienwirkungstheorien und Persuasionsforschung sind einige Darstellungsmerkmale bekannt, die die Wirksamkeit der Botschaften determinieren. Wie Kapitel 4.2 zeigte dürften beim Kultivierungsprozess vor allem episodische versus kontextreiche Darstellung, Ähnlichkeit zwischen Zuschauer und Fernsehakteur, Bewertung, Realitätsgrad, Glaubwürdigkeit, Humor und Auffälligkeit eine Rolle spielen. Bislang wurde konstatiert, dass diese Merkmale die Wahrnehmung der Fernsehbotschaft beeinflussen. Sie spielen jedoch teilweise auch an anderen Punkten des Prozesses eine Rolle.
6.4.1.1
Episodische versus kontextreiche Darstellung
Studien zum Agenda-Setting und Framing zeigten, dass es einen Unterschied macht, ob Themen episodisch (also ereignis- und personenzentriert) dargestellt werden oder kontextreich (z.B. Iyengar & Simon, 2003). Sotirovic (2001) untersuchte dieses Darstellungsmerkmal in einer Kultivierungsstudie. Wie sich zeigte, schrieben Zuschauer die Schuld am Sozialhilfe-Status den Betroffenen selbst zu, wenn sie episodische Fernsehinhalte gesehen hatten. Hatten sie kontextreiche Fernsehinhalte gesehen, suchten sie die Schuld eher in der Gesellschaft (ebd.). Diese Effekte dürften darauf zurückzuführen sein, dass die Art, wie das Fernsehen
6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells
279
Inhalte vermittelt, die Wahrnehmung der Fernsehbotschaft beeinflusst. Ordnet man dies dem Prozessmodell zu, so ist die Wirkung episodischer versus kontextreicher Darstellung im Bereich der Wahrnehmung der Fernsehbotschaft anzusiedeln.
6.4.1.2
Akteursmerkmale: Ähnlichkeit zwischen Akteur und Rezipient
Aus der Theorie des sozialen Vergleichs (Festinger, 1954) und aus der sozialen Lerntheorie Banduras (2001) ist bekannt, dass die Ähnlichkeit zwischen Fernsehakteuren und Zuschauern die Stärke der Zusammenhänge zwischen Medieninhalt und Wirkung beeinflussen. Verschiedene Kultivierungsstudien konnten nachweisen, dass dies auch einen Einfluss auf Kultivierungseffekte hat und diese stärker ausfallen, wenn Rezipienten sich mit den relevanten Akteuren identifizieren können (Morgan, 1983; Rossmann & Brosius, 2005). Werden Inhalte im Kontext von Akteuren präsentiert, die uns ähnlich sind, werden sie nach Banduras (2001) Lerntheorie besser erinnert. Das bedeutet, die Ähnlichkeit zwischen Akteur und Rezipient verstärkt die Aufnahme von Informationen und ihre Speicherung.
6.4.1.3
Bewertung
Bedeutsam dürfte auch die Bewertung eines Sachverhaltes sein. Diese schlägt sich auf Kultivierungseffekte zweiter Ordnung dadurch nieder, dass sie eine bestimmte Objekt-Bewertungsrelation aktiviert und die entsprechende Einstellung verstärkt. Bewertungen können aber auch Kultivierungseffekte erster Ordnung beeinflussen. So stellten Rossmann und Brosius (2005) fest, dass die Häufigkeit von Lippenvergrößerungen nur dann überschätzt wurde, wenn Rezipienten einen Beitrag gesehen hatten, der diesen Eingriff positiv dargestellt hatte. Im Sinne von Banduras Lerntheorie (2001) lässt sich dies damit erklären, dass Verhaltensweisen besser gelernt werden, wenn das Modell für sein Verhalten belohnt wird. Die entsprechende Verhaltensweise wird somit eher im Gedächtnis gespeichert. Auch dieses Merkmal wird also bei der Informationsaufnahme und -speicherung wirksam.
6.4.1.4
Realitätsgrad
Kultivierungsstudien zeigten, dass realistisch dargestellte Ereignisse, Akteure oder Verhaltensweisen Kultivierungseffekte verstärken (Singer et al., 1984; Holbert et
280
6 Psychische Prozesse
al., 2004; Raupach, 2006). Dies kann entweder dadurch erklärt werden, dass realistisch dargestellte Inhalte eher wahrgenommen werden, aber auch dadurch, dass sie eher gespeichert werden. Früh (1995) wies in seiner funktionalen Inhaltsanalyse von Gewaltsendungen nach, dass reale Gewalt stärker wahrgenommen wird als fiktionale (Wahrnehmung). Wyer und Hartwick (1980) fanden zwar Hinweise darauf, dass sich Personen an unplausible, also unrealistische, Informationen besser erinnern können als an realistische (Speicherung). Mehr Belege gibt es jedoch dafür, dass Informationen verfügbarer sind, wenn sie als real eingestuft werden (vgl. Potts et al., 1989; Busselle, 2001).
6.4.1.5
Glaubwürdigkeit
Bereits Hovland et al. (1953) zeigten in ihrem Grundlagenwerk zur Persuasionsforschung, dass glaubwürdige Kommunikatoren Einstellungen und Urteile von Rezipienten stärker beeinflussen als weniger glaubwürdige. Explizite Untersuchungen zum Einfluss der Glaubwürdigkeit auf Kultivierungseffekte gibt es nicht. Slater (1990) und Slater und Rouner (1992) fanden aber heraus, dass glaubwürdige Prosatexte einen stärkeren Einfluss auf Realitätsurteile hatten als unglaubwürdige. Es ist daher anzunehmen, dass die Glaubwürdigkeit auch einen Einfluss auf Kultivierungseffekte hat. Streng genommen handelt es sich bei der Glaubwürdigkeit nicht um ein Darstellungsmerkmal. Die Literatur zur Persuasionsforschung behandelt dieses Konstrukt jedoch häufig in diesem Zusammenhang, weshalb es auch in der vorliegenden Arbeit an dieser Stelle diskutiert wird. Eigentlich handelt es sich bei der Glaubwürdigkeit um ein vom Rezipienten zugeschriebenes Merkmal. Anders als die anderen Darstellungsmerkmale greift es – wie die Befunde zur systematischen Urteilsbildung zeigen – weniger bei der Wahrnehmung der Fernsehbotschaft ein als mehr bei der Urteilsbildung. Die Bedeutung der Glaubwürdigkeit wird hier indirekt über die Quellenbewertung sichtbar. So zeigte Mares (1996), dass fiktionale Fernsehinhalte die Realitätswahrnehmung bei systematischer Urteilsbildung dann beeinflussen, wenn sie als nonfiktionale Inhalte erinnert werden und somit als glaubwürdig wahrgenommen werden. Dies entspricht auch den Überlegungen von Shapiro und Lang (1991), wonach Kultivierungsurteile bei systematischer Urteilsbildung entstehen, obwohl das Fernsehen grundsätzlich als unglaubwürdig erkannt wird. Die Kontextinformation „Fernsehen/unglaubwürdig“ wird in diesem Fall zwar zunächst gespeichert, jedoch entweder vergessen oder mit Inhalten, die ähnliche Kontextinformationen aufweisen, verwechselt.
6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells
281
Anzunehmen ist auch, dass das Fernsehen nicht grundsätzlich als unglaubwürdige Informationsquelle wahrgenommen wird. Bestimmte Genres oder Sendungen, gerade nonfiktionale, werden als glaubwürdig empfunden, die Kontextinformation „Fernsehen“ bei diesen Informationen somit mit der Bewertung „glaubwürdig“ verknüpft. Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass nicht allein eine fehlerhafte Kontexterinnerung Kultivierungseffekte hervorbringt, sondern auch eine fehlerlose Erinnerung an Kontextinformationen, die Informationen als relevant markieren.
6.4.1.6
Humorgehalt
Der Humorgehalt, mit dem Gewalt präsentiert wird, hat einen Einfluss darauf, wie sie wahrgenommen wird: Früh (2001b) zeigte, dass humoristisch verfremdete Gewaltvarianten von den Probanden weniger gewalthaltig wahrgenommen werden als humorlose Gewaltszenen. King (2000) fand hingegen, dass humoristisch dargestellte Gewalt stärker wahrgenommen und als beunruhigender empfunden wird als ernsthaft dargestellte. Welchen Einfluss der Humorgehalt hat, ist daher unklar. Dass Humor die Wahrnehmung von Fernsehinhalten beeinflusst, ist jedoch denkbar.
6.4.1.7
Auffälligkeit
Die Bedeutung auffälliger Fernsehinhalte wird vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Verfügbarkeitsheuristik deutlich. Neben Häufigkeit und Aktualität der Aktivierung ist die Auffälligkeit von Beispielen nach Higgins und King (1981) ein Faktor, der die Verfügbarkeit der Beispiele im Gedächtnis beeinflusst. Siebels (2004) zeigte, dass die Auffälligkeit auch in der Kultivierung eine Rolle spielt. Demnach beeinflussen auffällige Beispiele, die den prototypischen Vorstellungen widersprechen, Realitätsurteile auch dann, wenn sie nur einmal vorkommen. Es ist anzunehmen, dass auffällige Beispiele eher Aufmerksamkeit erzeugen als altbekannte häufiger präsentierte Beispiele. Daher werden sie auch eher gespeichert.
6.4.1.8
Zusammenfassung
Es sind zahlreiche weitere Merkmale denkbar, die einen Einfluss auf Kultivierungseffekte haben (z.B. Emotionalisierung, Lebhaftigkeit, Attraktivität). Sich mit allen
282
6 Psychische Prozesse
auseinanderzusetzen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Eines sollte jedoch deutlich geworden sein: Die Art, wie das Fernsehen bestimmte Inhalte darstellt, beeinflusst die Realitätswahrnehmung genauso wie die Inhalte dies tun. Zu differenzieren ist dabei, an welcher Stelle die Darstellungsmerkmale im Kultivierungsprozess wirksam werden. Tabelle 15 resümiert die dargestellten Befunde und liefert einen Überblick darüber, welchen Einfluss die Darstellungsmerkmale haben und an welcher Stelle sie vornehmlich in den Kultivierungsprozess eingreifen.
Tabelle 15: Darstellungsmerkmale im Kontext des Prozesses Informationsaufnahme
Speicherung
Urteilsbildung
Episodische Darstellung
Verzerrte Wahrnehmung (z.B. personenzentrierte Schuldzuweisung)
-
-
Ähnlichkeit
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
-
Positive Bewertung
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
-
Hoher Realitätsgrad
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
-
Hohe Glaubwürdigkeit
-
-
K1/K2 systematisch: verstärkend K1/K2 heuristisch: k.E. K2/on-line: k.E.
Humor
Verzerrte Wahrnehmung: Richtung unklar
-
-
Auffälligkeit
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
-
Abkürzungen: K1 = Kultivierung erster Ordnung, K2 = Kultivierung zweiter Ordnung, k.E. = kein Einfluss
6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells
6.4.2
283
Merkmale der Rezeption und Urteilsbildung
Im Kultivierungsprozess ist nicht nur entscheidend, was selektiert und rezipiert wird, sondern auch wie Fernsehinhalte rezipiert werden. Dies beeinflusst vor allem die Wahrnehmung und Speicherung von Fernsehinhalten. Rezeptionsmerkmale bilden gleichsam die Schnittstelle zwischen Informationsaufnahme und Speicherung. Konkret handelt es sich um Nutzungsmotive bzw. Nutzungsaktivität, parasoziale Beziehungen, Identifikation, Themeninvolvement, Prozessinvolvement und wahrgenommenen Realitätsgrad. Die meisten sind reine Rezeptionsmerkmale, die während der Informationsaufnahme in den Prozess eingreifen. Andere beeinflussen auch die Urteilsbildung.
6.4.2.1
Nutzungsmotivation/Nutzungsaktivität
Nutzungsmotive beeinflussen zunächst die Auswahl von Fernsehinhalten. Im Zusammenhang mit der Kultivierung spielen sie einhergehend mit Windahls (1981) Uses-and-Effects-Modell jedoch vor allem als Indikator für die Nutzungsaktivität eine Rolle. Zahlreiche Kultivierungsstudien haben sich damit beschäftigt, welchen Einfluss Nutzungsmotive auf die Realitätswahrnehmung haben, und untersuchten ihren unabhängigen oder intervenierenden Einfluss. Fasst man die bisherigen Befunde zusammen, so lassen sich die folgenden Schlüsse ziehen:
Tendenziell deuten etwas mehr und vor allem aktuellere Studien darauf hin, dass eine aktive Nutzungshaltung Kultivierungseffekte verstärkt. Differenziert man die Befunde jedoch nach Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung, so lässt sich eine Tendenz dahingehend festmachen, dass eine aktive Rezeptionshaltung vor allem Kultivierungseffekte erster Ordnung verstärkt, während bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung sowohl eine passive als auch eine aktive Rezeptionshaltung verstärkend wirken kann. Auch eine Differenzierung nach Viel- und Wenigsehern zeigte unterschiedliche Muster. So kann auch ein geringer Fernsehkonsum Kultivierungseffekte verursachen, wenn er mit einem hohen Aktivitätsgrad einhergeht.
Die psychischen Prozesse bei der Urteilsbildung helfen, dies zu erklären. Kultivierungseffekte erster Ordnung werden ausschließlich erinnerungsgestützt gebildet. Entscheidend ist hier also, welche Informationen wahrgenommen und gespeichert werden. Informationen werden aber nur dann wahrgenommen, wenn sie eine gewisse Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten und sie werden besser gespeichert,
284
6 Psychische Prozesse
wenn sie aufmerksam rezipiert werden. In diesem Fall trägt eine aktive Nutzungshaltung während der Rezeption zu stärkeren Kultivierungseffekten bei. Dasselbe gilt für Kultivierungseffekte zweiter Ordnung, wenn sie erinnerungsgestützt gebildet werden. In der Regel entstehen Kultivierungseffekte zweiter Ordnung aber on-line, also während der Rezeption (vgl. Shrum, 2004). Die Fernsehinhalte aktivieren bestimmte Objekt-Bewertungsrelationen, so dass entsprechende Einstellungen stärker und verfügbarer werden und bei der Urteilsabfrage eher abgerufen werden. Hier ist denkbar, dass sowohl eine aktive als auch eine passive Nutzungshaltung verstärkend wirkt: Auf der einen Seite kann dasselbe gelten wie für die erinnerungsgestützte Urteilsbildung – Aktivität erhöht Aufmerksamkeit und damit Wahrnehmung und Speicherung von Informationen. Auch kann eine aktive Rezeption mit einer stärkeren Elaboration der Inhalte einhergehen, die die Einstellungsverfügbarkeit ebenfalls verstärkt (vgl. Krosnick & Petty, 1995). Auf der anderen Seite kann eine aktive Rezeptionshaltung dazu führen, dass während der Informationsverarbeitung die Quelle berücksichtigt wird. In diesem Fall würde die Erkenntnis, dass es sich um Fernsehinformationen handelt – geringe Glaubwürdigkeit und niedriger wahrgenommener Realitätsgrad vorausgesetzt – eher verhindern, dass Einstellungen verstärkt werden. Auch die Befunde zur Bedeutung der Nutzungsaktivität bei Viel- und Wenigsehern lassen sich über die Wahrnehmung und Speicherung von Inhalten erklären. Bei Vielsehern ist der Aufmerksamkeitsgrad grundsätzlich nicht so wichtig. Sie rezipieren bestimmten Inhalte so häufig, dass es nichts ausmachen dürfte, wenn sie bestimmte Informationen aufgrund der passiven Rezeptionshaltung einmal nicht wahrnehmen. Sie werden die Fernsehbeispiele immer noch häufiger wahrnehmen als die meisten Wenigseher. Hinzu kommt, dass mit zunehmender Verfügbarkeit von Konstrukten die Leichtigkeit steigt, diese wieder zu aktivieren, so dass die notwendige Aufmerksamkeitsschwelle sinkt (z.B. Bargh et al., 1986). Bei Wenigsehern sind die Fernsehbeispiele weniger verfügbar, weshalb ein höherer Aufmerksamkeitsgrad notwendig ist, um Inhalte wahrzunehmen und zu speichern. Wenn Wenigseher nun selten, aber stets aufmerksam fernsehen, ist es denkbar, dass auch die selteneren Begegnungen mit dem Stimulus ausreichen, um bestimmte Konstrukte im Gedächtnis verfügbarer zu machen.
6.4.2.2
Parasoziale Beziehungen
Ein weiteres Merkmal, das im Kultivierungsprozess eine Rolle spielen dürfte, sind parasoziale Beziehungen. Es gibt bislang nur wenig einschlägige Studien zur
6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells
285
Bedeutung parasozialer Beziehungen für Kultivierungseffekte. Allerdings deuten andere Medienwirkungsstudien, v.a. im Zusammenhang mit Gesundheitsbotschaften, darauf hin, dass parasoziale Beziehungen mit Fernsehakteuren die Einflüsse auf Risikowahrnehmung und Einstellungen verstärkten. Dies stützt auch eine eigene Studie, die im Rahmen einer Lehrveranstaltung durchgeführt wurde. Zumindest tendenziell verstärkten parasoziale Beziehungen den Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung der Jugendlichen. Auch wenn der Forschungsstand im Zusammenhang mit Kultivierungseffekten mager ist, so deuten die vorhandenen Studien und empirische Befunde aus anderen Kontexten darauf hin, dass parasoziale Beziehungen die Wahrnehmung und Speicherung von Fernsehinformationen verstärken.
6.4.2.3
Identifikation
Für die Identifikation mit Fernsehcharakteren gilt im Prinzip das, was auch für das oben diskutierte Darstellungsmerkmal Ähnlichkeit gilt. Letztlich stellt Ähnlichkeit eine Voraussetzung für die mögliche Identifikation mit Fernsehcharakteren dar. Die soziale Lerntheorie (Bandura, 2001) postuliert, dass Inhalte besser gelernt werden, wenn Rezipienten sich mit den Akteuren identifizieren. Auch Kultivierungsstudien zum Einfluss von Ähnlichkeit und Identifikation deuten einhellig darauf hin, dass ein hoher Identifikationsgrad Kultivierungseffekte verstärkt (vgl. Reeves & Garramone, 1982; Atkin et al., 1983; Morgan, 1983; Rossmann & Brosius, 2005). Es ist davon auszugehen, dass die Identifikation über eine verstärkte Wahrnehmung und Speicherung von Fernsehinformationen wirksam wird.
6.4.2.4
Involvement
Die Literatur kennt zahlreiche Involvementformen und -definitionen (vgl. Donnerstag, 1996). Relevant für die Kultivierung sind vor allem Themen- und Prozessinvolvement sowie das situative Involvement während der Urteilsbildung. Die Bedeutung des Prozessinvolvement (oder Transportation; vgl. z.B. Slater & Rouner, 2002) lässt sich im Kultivierungsprozess leicht zuordnen. Es spielt per definitionem bei der Rezeption der Fernsehbotschaft eine Rolle und beeinflusst die Informationsaufnahme. Ein hoher Transportationsgrad bedeutet, dass die Zuschauer während der Rezeption in die Handlung eintauchen, wodurch Gegenargumente (z.B. die Tatsache, dass es sich um fiktionale Inhalte handelt) ausgeschaltet
286
6 Psychische Prozesse
werden. Shrum (2006) untersuchte den Interaktionseffekt zwischen Kultivierungsurteilen und Transportation. Er konnte einen deutlichen Einfluss nachweisen, der darauf hindeutet, dass ein hoher Transportationsgrad Kultivierungseffekte verstärkt. Es ist davon auszugehen, dass der Transportionsgrad vor allem bei Kultivierungseffekten zweiter Ordnung eine Rolle spielt, und zwar dann, wenn Einstellungen on-line gebildet werden. Bereits bei der Aufnahme von Informationen ist wichtig, dass diese nicht sofort als unzuverlässig abgetan werden. Werden Urteile hingegen erinnerungsgestützt gebildet, so spielt es bei der Informationsaufnahme keine Rolle, mit welcher Quelle die Informationen verknüpft werden. Die Quelle wird dann zwar auch gespeichert, aber im Regelfall bei der (heuristischen) Urteilsbildung ohnehin nicht berücksichtigt. Die Frage, wie stark Rezipienten in die Fernsehinhalte eintauchen und dabei Gegenargumente ausschalten, dürfte somit bei der erinnerungsgestützten Urteilsbildung keine Rolle spielen. Das Themeninvolvement greift zu verschiedenen Phasen des Kultivierungsprozesses unterschiedlich ein: (1)
(2)
Informationsaufnahme und -speicherung: Petty und Cacioppo (1996) verdeutlichten im Rahmen des Elaboration-Likelihood-Modells, dass das Themeninvolvement darüber entscheidet, welche Botschaftsmerkmale bei der Informationsverarbeitung berücksichtigt werden. Bei niedrigem Involvement lassen sich Rezipienten vor allem durch oberflächliche Botschaftsmerkmale beeinflussen, sie berücksichtigen etwa die Anzahl von Argumenten. Bei hohem Involvement ist die Qualität der Argumente entscheidend. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass das Themeninvolvement auch im Kultivierungsprozess einen Einfluss darauf hat, welche Informationen wahrgenommen werden: eher oberflächliche Merkmale wie Auftretenshäufigkeiten von Ereignissen oder inhaltliche wie ihre Darstellung. Von den wahrgenommenen Informationen hängt es ab, welche Informationen gespeichert werden. Denkbar ist zudem, dass das Themeninvolvement die generelle Aufmerksamkeit gegenüber Botschaftsmerkmalen erhöht. Die Folge wäre dann, dass Inhalte generell eher wahrgenommen und leichter gespeichert werden. Urteilsbildung erster Ordnung: Das Themeninvolvement kann aber auch darüber entscheiden, wie erinnerungsgestützte Realitätsurteile gefällt werden. Sind Rezipienten in ein Thema hoch involviert, so fällen sie ihr Urteil systematisch. Sie berücksichtigen dann nicht nur die Informationen, die im Gedächtnis am leichtesten zugänglich sind, sondern evaluieren sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen. Dabei berücksichtigen sie auch die Kontextinformationen, also die Herkunft der Informationen. Insgesamt führt dies zu geringen Kultivierungseffekten, weil Informationen dann häufig als fiktional er-
6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells
(3)
287
kannt werden und nicht für das Urteil herangezogen werden. Ist das Themeninvolvement hingegen niedrig, sinkt die Motivation bei der Urteilsbildung und sie werden heuristisch gefällt. Die stärkere Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen führt dann zu insgesamt stärkeren Kultivierungseffekten. Art der Urteilsbildung zweiter Ordnung: Zuletzt dürfte das Themeninvolvement auch einen Einfluss darauf haben, wie Kultivierungsurteile zweiter Ordnung gebildet werden. Die Literatur zu on-line- und erinnerungsgestützter Urteilsbildung nennt die Relevanz eines Themas als Faktor, der über den Urteilsweg entscheidet (vgl. Hertel & Bless, 2000). Relevant ist ein Thema dann, wenn Rezipienten von einem Thema betroffen sind, also auch dann, wenn sie involviert sind. Ein hohes Involvement führt also dazu, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung bereits während der Rezeption on-line gebildet werden. Bei niedrigem Involvement werden die Einstellungen erst dann gebildet, wenn sie nachgefragt werden, also beispielsweise in der Befragungssituation.
Bei der erinnerungsgestützten Urteilsbildung entscheidet das Involvement darüber, ob Urteile heuristisch oder systematisch gefällt werden (Shrum, 2001). Ein hohes Involvement während der Urteilsbildung kann entweder aufgrund einer starken Relevanz des Themas vorhanden sein (Themeninvolvement), es kann aber auch durch äußere Umstände zum Zeitpunkt der Urteilsbildung entstehen (z.B. in der Befragungssituation). So lässt es sich beispielsweise dadurch induzieren, dass den Befragten mitgeteilt wird, dass ihre Antworten im Anschluss an die Befragung bewertet werden oder dadurch, dass man sie auffordert, genau über ihre Urteile nachzudenken (ebd.). Bereits eine mündliche Befragungssituation kann dazu führen, dass Urteile systematisch verarbeitet werden (vgl. Shrum, 1997).
6.4.2.5
Wahrgenommener Realitätsgrad
Ein weiteres Merkmal, das die Wahrnehmung von Fernsehinhalten beeinflusst, ist der wahrgenommene Realitätsgrad. Dieser stellt kein reines Rezeptionsmerkmal dar, da er sich auch als stabile Einstellung gegenüber das Fernsehen begreifen lässt, also als Persönlichkeitsmerkmal. Er dürfte im Kultivierungsprozess als Rezeptionsmerkmal bei Informationsaufnahme und -speicherung wirksam werden und als Persönlichkeitsmerkmal bei der Urteilsbildung. Trotz einer dichten Forschungslage sind die Befunde recht disparat. Die Mehrheit der Studien zeigte, dass es einen Interaktionseffekt zwischen Fernsehnutzung und wahrgenommenem Realitätsgrad gibt. In welche Richtung der Einfluss jedoch geht, ist empirisch noch unklar.
288
6 Psychische Prozesse
Das kann daran liegen, dass der wahrgenommene Realitätsgrad an den verschiedenen Stellen im Prozess unterschiedlich eingreift. Bei der Informationsaufnahme dürfte sein Einfluss stark mit dem tatsächlichen Realitätsgrad der Botschaft (Darstellungsmerkmal) verknüpft sein. Fernsehbotschaften werden anders wahrgenommen, wenn man der Ansicht ist, dass das Fernsehen die Realität widerspiegelt, als wenn dies nicht der Fall ist. Es ist auch anzunehmen, dass die entsprechenden Informationen leichter gespeichert werden und verfügbarer sind als Informationen, die als unrealistisch empfunden werden (vgl. Potts et al., 1989; Busselle, 2001). Bei der Informationsaufnahme ist somit davon auszugehen, dass der wahrgenommene Realitätsgrad des Fernsehens einen verstärkenden Einfluss auf Kultivierungseffekte hat. Entsprechend dürfte er Kultivierungsurteile zweiter Ordnung, die on-line gebildet werden, insofern determinieren, als die durch das Fernsehen vermittelten Bewertungen eher in das eigene Einstellungsrepertoire aufgenommen werden, wenn der wahrgenommene Realitätsgrad hoch ist – es sei denn, der Transportationsgrad ist während der On-line-Urteilsbildung so hoch, dass Gegenargumente (z.B. niedriger Realitätsgrad) nicht berücksichtigt werden. Der wahrgenommene Realitätsgrad kann aber auch beim Abruf von Informationen, also bei der erinnerungsgestützten Urteilsbildung von Bedeutung sein. Werden die Urteile heuristisch gefällt, dürfte der wahrgenommene Realitätsgrad keine Rolle spielen, weil es gar nicht dazu kommt, Quelle und Validität der verfügbaren Konstrukte zu evaluieren. Einen Einfluss auf die Urteilsbildung hat der wahrgenommene Realitätsgrad dann, wenn die Urteile systematisch gefällt werden und Zeit ist, über die Informationsquelle und über ihren Realitätsgrad nachzudenken. In diesem Fall werden neben den verfügbaren Konstrukten selbst auch ihre Kontextinformationen zur Urteilsbildung herangezogen (vgl. Shapiro & Lang, 1991). Die Kontextinformationen enthalten Informationen über die Quelle der gespeicherten Konstrukte. Shapiro und Lang (1991) gehen davon aus, dass Kultivierungseffekte dadurch entstehen, dass es zu Fehlern bei der Quellenerinnerung kommt und Informationen deshalb für ein Urteil herangezogen werden, weil sie nicht als Fernsehinformation erkannt werden. Beziehen wir nun den wahrgenommenen Realitätsgrad in diesen Gedankengang mit ein: Die Kontextinformation Quelle ist im Gedächtnis mit einer Bewertung dieser Quelle verknüpft, also auch mit ihrem Realitätsgrad. Neben der Quelleninformation selbst, wird auch die Bewertung der Quelle berücksichtigt, weshalb Shapiro und Lang (1991) ja auch davon ausgehen, dass Fernsehinformationen zunächst einmal nicht berücksichtigt werden, weil sie als unrealistisch erkannt werden. Ist der wahrgenommene Realitätsgrad des Fernsehens jedoch hoch, so ist es durchaus denkbar, dass Fernsehinformationen ganz bewusst in das Realitätsur-
289
6.4 Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale im Kontext des Prozessmodells
teil einbezogen werden. Es kann also bei systematischer Urteilsbildung auch dann zu Kultivierungseffekten kommen, wenn bei der Quellenbewertung kein Fehler passiert, aber die Quelle als zuverlässig eingestuft wird. Genauso wie die Darstellungsmerkmale der Fernsehbotschaft greifen also auch die im Kontext der Rezeption diskutierten Merkmale an unterschiedlichen Punkten des Kultivierungsprozesses ein. Tabelle 16 liefert wieder einen systematischen Überblick über Phase und Richtung des Einflusses. Das endgültige Prozessmodell, das die dargestellten Einflüsse der Merkmale wieder aufgreift, wird im nächsten Kapitel zusammenfassend vorgestellt.
Tabelle 16: Darstellungsmerkmale im Kontext des Prozesses
Nutzungsmotivation/ Nutzungsaktivität
Informationsaufnahme
Speicherung
Urteilsbildung
Hohe Aktivität: Verstärkte Informationsaufnahme
K1/K2 (erinnerungsgest.) Aktivität verstärkt Speicherung
-
K2 (on-line) Aktivität verstärkt Speicherung oder
verhindert Einstellungsbildung aus dem TV aufgrund Quellenberücksichtung
Parasoziale Beziehungen
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
-
Identifikation
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
-
(Fortsetzung auf der nächsten Seite)
290
6 Psychische Prozesse
(Fortsetzung: Tabelle 16)
Themeninvolvement
Informationsaufnahme
Speicherung
Urteilsbildung
Wahrnehmung der Fernsehbotschaft (ELM)
K1 (erinnerungsgest.) Verstärkte Informationsaufnahme
K1/K2 (erinnerungsgest.) Niedriges Involvement: heuristisch, verstärkend
Verstärkte Informationsaufnahme
K2 Hohes Involvement: Einstellungsbildung on-line
Hohes Involvement: systematisch, abschwächend
Niedriges Involvement: Einstellungsbildung erinnerungsgestützt
Prozessinvolvement
K2 (on-line): Reduktion von Gegenargumenten
-
-
Situationsbedingtes Involvement (Befragungssituation)
-
-
K1/K2 (erinnerungsgest.) niedriges Involvement: heuristisch, verstärkend hohes Involvement: systematisch, abschwächend
Wahrgenommener Realitätsgrad
Verstärkte Informationsaufnahme
Verstärkte Speicherung
K1/K2 systematisch: verstärkend K1/K2 heuristisch: k.E. K2/on-line: k.E.
Abkürzungen: K1 = Kultivierung erster Ordnung, K2 = Kultivierung zweiter Ordnung, k.E. = kein Einfluss
7
Zusammenfassung und Diskussion
Vor genau dreißig Jahren begründeten Gerbner und Gross (1976) die Kultivierungshypothese mit ihrer Studie zum Einfluss des Fernsehens auf die verbrechensbezogene Realitätswahrnehmung. Sie verstanden das Fernsehen als sekundäre Sozialisationsinstanz, welche durch die Gleichförmigkeit ihrer Botschaften die Realitätswahrnehmung der Zuschauer prägt. Seitdem haben sich über einhundert in den wichtigsten Fachzeitschriften veröffentlichte Studien mit der Kultivierungshypothese auseinandergesetzt. Forscher wendeten die Hypothese auf die verschiedensten Themenbereiche an, prüften Einflüsse von Rezipientenmerkmalen, Rezeptionsmodalitäten und Selektivität und übten Kritik an den Grundgedanken des Ansatzes. Noch immer ist die Kultivierungsforschung nicht in der Lage, diese Kritik vollständig auszuräumen. Vor allem auch deshalb, weil man in gewisser Weise immer noch im Dunkeln tappt, wie der Kultivierungsprozess überhaupt zu erklären ist. Die vorliegende Arbeit widmete sich dieser Frage. Ziel war es, die Vielzahl veröffentlichter Kultivierungsstudien systematisch zu erfassen und in den empirischen Befunden Muster zu finden, die einen Beitrag zur Erklärung des Kultivierungseffekts leisten. Als Ergebnis der Arbeit wird ein Prozessmodell vorgestellt, welches die verschiedenen Determinanten bei der Selektion, Rezeption, Informationsaufnahme, Speicherung von Informationen und bei der Urteilsbildung umfasst. Bevor das endgültige Modell vorgestellt wird, seien als Hintergrund nochmals die Grundgedanken der Kultivierung, ihre zentralen Defizite und die ersten Überlegungen zum Kultivierungsprozess vorgestellt.
7.1 7.1.1
Hintergrund Die Anfänge
Nach Einführung des Fernsehens und zunehmenden Verbrechensraten in den USA stieg die Sorge, dass das Fernsehen durch die häufige Darstellung von Gewalt seine Zuschauer negativ beeinflussen würde. Gerbner und Gross (1976) untersuch-
292
7 Zusammenfassung und Diskussion
ten vor diesem Hintergrund die Frage, ob das Fernsehen die Realitätswahrnehmung der Zuschauer prägt. Durch Mittelwertvergleiche der Antworten von Vielund Wenigsehern zeigten sie, dass Vielseher verbrechensbezogene Realitätsurteile höher einschätzten als Wenigseher. Diesen Einfluss des Fernsehens bezeichneten sie als Kultivierungseffekt. Vielseher, so also die grundlegende Annahme, nehmen die Realität so wahr, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, wohingegen Wenigseher in ihren Vorstellungen der tatsächlichen Realität näher kommen. Diese Annahme wurde in zahlreichen Folgestudien bestätigt – im Zusammenhang mit verbrechensbezogenen Urteilen und vielen anderen Themen (im Überblick vgl. Morgan, 2002). Morgen und Shanahan (1997) bestätigten in ihrer Metaanalyse von 82 Kultivierungsstudien, dass es sich bei der Kultivierung um einen zwar kleinen, aber stabilen Effekt handelt. Auch die 109 Studien, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit in einer qualitativen Metaanalyse betrachtet wurden, bestätigten den Kultivierungseffekt mehrheitlich (vgl. Kapitel 2.6.2).
7.1.2
Defizite
Von Beginn an musste sich die Kultivierungshypothese jedoch gegen zahlreiche Kritiker behaupten. Kapitel 2.4 stellte die wichtigsten Kritikpunkte vor, die in der Literatur genannt werden, auch wenn nicht alle davon für die Entwicklung des Modells relevant sind. Schließlich will die Arbeit nicht nur ein Modell entwickeln, sondern auch einen systematischen Überblick über die Kultivierung liefern. Im Hinblick auf das darzustellende Modell seien an dieser Stelle jedoch nur jene Aspekte aufgegriffen, die im Modell eine Rolle spielen oder sich mit Hilfe der Modellüberlegungen erklären lassen.55
7.1.2.1
Interpretation der Fernsehbotschaft
Eines dieser Defizite benannte Newcomb (1978). Er kritisierte, dass sich Kultivierungsforscher nicht ausreichend mit der Interpretation der Fernsehbotschaft beschäftigten: Die für die Kultivierungsforschung typische Message System Analysis identifiziert durch quantitative Inhaltsanalysen Auftretenshäufigkeiten bestimm-
55
Kritikpunkte, die Kapitel 2.4 behandelt, aber hier nicht erneut ausgeführt werden, sind fehlgeschlagene Replikationen (vgl. z.B. Wober, 1978), die mangelnde Kontrolle von Drittvariablen (vgl. z.B. Hughes, 1980) und die Operationalisierung der Realitätseinschätzung (vgl. z.B. Potter, 1991b; Schoenwald, 2003).
7.1 Hintergrund
293
ter Charaktere, Ereignisse oder Verhaltensweisen im Fernsehen. Die daraus resultierende Hypothese ist, dass Vielseher die Häufigkeit jener Ereignisse überschätzen, die im Fernsehen häufig präsentiert werden. Dies berücksichtigt nicht, dass die Zuschauer das Fernsehen unterschiedlich wahrnehmen. Gerade im Zusammenhang mit medialer Gewalt gibt es jedoch Hinweise darauf, dass die Zuschauer Fernsehbotschaften ganz unterschiedlich interpretieren (vgl. z.B. Früh, 1995). Ihre Wahrnehmung ist abhängig von Rezipienten- (z.B. Alter, Geschlecht) und Darstellungsmerkmalen. Das entwickelte Modell zollt dieser Frage im Rahmen der ersten Phase (Informationsaufnahme) Tribut.
7.1.2.2
Anomalien der Zusammenhänge
Die häufig beobachteten Anomalien in den Zusammenhängen zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung sind ein weiteres Defizit der Kultivierung, das die Notwendigkeit deutlich macht, sich näher mit Rezeptionsmerkmalen und psychischen Prozessen auseinander zu setzen:
Nicht-Linearität: Dieses Problem entfachte die wohl berühmteste Debatte in der Kultivierungsforschung zwischen Gerbner und Hirsch (vgl. z.B. Hirsch, 1980; Gerbner et al., 1981a). Gerbner und Kollegen hatten die Fernsehnutzung stets in zwei bis drei Gruppen untergliedert. Hirsch (1980) bildete fünf Gruppen und stellte fest, dass die Zusammenhänge nicht linear waren: ExtremWenigseher hatten ein stärker verzerrtes Weltbild als Wenigseher, ExtremVielseher ein weniger verzerrtes als Vielseher. Potter (1991b) replizierte diese Beobachtung. Zusammenhänge entgegengesetzt zur Erwartungsrichtung: Die Kultivierung wurde auch dafür kritisiert, dass die Zusammenhänge bisweilen entgegengesetzt zur Erwartungsrichtung verlaufen. Einige Studien stellten fest, dass Personen die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen umso niedriger einschätzten, je mehr sie fernsahen (z.B. Tamborini & Choi, 1990; Bilandzic, 2002). Ein anderes Beispiel findet sich in der Studie von Rossmann (2002), die feststellte, dass intrigante Krankenschwestern in Arztserien selten vorkommen, ihre Häufigkeit in der Realität von Krankenhausserien-Vielsehern aber überschätzt wird. Asymmetrische Zusammenhänge: Diese Zusammenhänge sind nicht der Kritikpunkt selbst, sondern eine Erklärung für die kleinen Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Kultivierung. Potter (1993) war es, der postulierte, dass die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Weltsicht asymmetrisch sind: Das Fernsehen stelle eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedin-
294
7 Zusammenfassung und Diskussion
gung für Kultivierungseffekte dar. Dies lässt sich dadurch feststellen, dass nicht alle Rezipienten, die viel fernsehen, eine verzerrte Weltsicht entwickeln, aber alle, die eine verzerrte Weltsicht haben, Vielseher sind. Alle drei Anomalien lassen sich durch die Einbeziehung von Prozessvariablen (z.B. Involvement) und durch die Betrachtung der psychischen Prozesse erklären (vgl. Tapper, 1995). So können die nicht-linearen Zusammenhänge dadurch begründet sein, dass sich aktive und passive Rezeptionshaltung bei Viel- und Wenigsehern unterschiedlich auswirken. Bonfadelli (1983) stellte beispielsweise fest, dass Vielseher stärker kultiviert werden, wenn sie passiv fernsehen, während sich bei Wenigsehern eine aktive Rezeptionshaltung stärker auf die Realitätswahrnehmung auswirkt. Geht man nun davon aus, dass bestimmte Genres eher aktiv rezipiert werden, so kann man annehmen, dass die beobachteten Zusammenhänge mit diesem Genre nicht linear sind, da die aktive Rezeptionshaltung bei Wenigsehern verstärkend auf Kultivierungseffekte wirkt, bei Vielsehern aber keinen Einfluss hat. Zusammenhänge entgegengesetzt zur Erwartungsrichtung können entstehen, weil nicht ausschließlich die Häufigkeit, mit der das Fernsehen etwas präsentiert, ausschlaggebend für die Realitätswahrnehmung ist. So nehmen wir seltener präsentierte Beispiele auch dann wahr, wenn sie auffällig sind und unseren prototypischen Vorstellungen widersprechen. Durch Auffälligkeitsheuristiken kommt es zu Zusammenhängen, die wir auf Basis der Kultivierungshypothese nicht annehmen würden: Die auffälligen Beispiele werden überschätzt, obwohl sie im Fernsehen nicht oft präsentiert werden (vgl. Siebels, 2004). Asymmetrische Zusammenhänge sind denkbar, weil bestimmte Merkmale beeinflussen, wie es zu Kultivierungsurteilen kommt. Kapitel 6 stellte dar, dass Betroffenheit und Relevanz eines Themas darüber entscheiden, wie wir zu Realitätsurteilen kommen. Werden Kultivierungsurteile erster Ordnung aufgrund geringen Involvements unmotiviert gefällt, so ist davon auszugehen, dass Kultivierungseffekte stärker sind, weil die Informationsquelle nicht berücksichtigt wird. Ist die Motivation bei der Urteilsbildung hoch, kommt es aufgrund der systematischen Informationsverarbeitung, die die Quelle in der Regel berücksichtigt, nur in manchen Fällen zu einem Kultivierungseffekt. Und zwar dann, wenn die gespeicherte Informationsquelle falsch ist, also nicht als fiktional erkannt wird oder wenn der wahrgenommene Realitätsgrad hoch ist. Insgesamt fällt der Kultivierungseffekt kleiner aus. Die Fernsehnutzung ist in diesem Fall also die notwendige Bedingung, hinreichend ist sie jedoch erst unter Einbeziehung des Involvements während der Urteilsbildung.
7.1 Hintergrund
7.1.2.3
295
Kausalität
Auch die Kausalitätsfrage ist ein Problem, das von Beginn an thematisiert und diskutiert wurde. Ein Großteil der Kultivierungsstudien basiert auf Querschnittbefragungen, die Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung zum gleichen Zeitpunkt erheben. Dies lässt keinen Kausalschluss zu. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Krankenhausseriennutzung und idealistisch geprägten Vorstellungen von Ärzten kann auf einen Einfluss des Fernsehens auf die Wahrnehmung der Zuschauer hindeuten. Umgekehrt kann man auch annehmen, dass Zuschauer Krankenhausserien sehen, weil sie Ärzte gut finden. Es gibt verschiedene experimentelle und korrelative Ansätze, dieses Problem zu lösen. Jede Methode hat Vorteile, aber auch Grenzen: Laborexperimente, sequentielle Experimente oder soziale Experimente, asymmetrische Zusammenhänge, Pfadanalysen und Strukturgleichungsmodelle in Längsschnittanalysen oder Zeitreihenanalysen. Einige Studien haben solche Verfahren angewendet, auch sie haben jedoch Grenzen. Der fehlende Beweis für die Kausalität der Zusammenhänge haftet noch immer wie Klebstoff am Kultivierungsansatz. Das liegt auch daran, dass es lange Zeit keine zufriedenstellende Erklärung dafür gab, wie Kultivierungseffekte entstehen. Solange die psychischen Prozesse in einer Black Box versteckt bleiben, gräbt sich der Verdacht des Scheinzusammenhangs immer noch tiefer in die Kultivierung hinein (Hawkins & Pingree, 1990). Es war längst überfällig, das Kapitel zu schließen, welches versucht, die Kultivierung durch methodenkritische Manöver totzusagen (Morgan & Shanahan, 1997). Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
7.1.3
Erste Überlegungen zum Kultivierungsprozess
Hawkins und Pingree (1981b; 1982) waren wohl die ersten, die versuchten, den Kultivierungsprozess zu begreifen. Sie gingen von einem zweistufigen Prozess aus: Im ersten Schritt werden verschiedene Arten von Fernsehinformationen zufällig gelernt. Dabei werden Einflussfaktoren wie Aufmerksamkeit, Lernfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit und Involvement wirksam. Im zweiten Schritt kommt es zur Konstruktion sozialer Realität aus den aus dem Fernsehen gelernten Informationen. Hawkins et al. (1987) prüften diese Überlegungen, indem sie die Wahrnehmung der Fernsehwelt als Indikator für aus dem Fernsehen gelernte Informationen abfragten. Die Befunde belegten einen Konstruktionsprozess der Realitätswahrnehmung aus der Fernsehwahrnehmung. Einen Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Fernsehwahrnehmung (Lernprozess) fanden sie nicht.
296
7 Zusammenfassung und Diskussion
Einen wichtigen Schritt machten Hawkins und Pingree (1982), als sie die Realitätswahrnehmung in demographische und wertebezogene Maße unterteilten. Gerbner et al. (1986) hatten diese Unterscheidung aufgegriffen und fortan Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung unterschieden. Hawkins et al. (1987) vermuteten, dass es sich dabei um zwei aufeinanderfolgende Schritte handelt und Kultivierungseffekte erster Ordnung einen Zwischenschritt zwischen Fernsehnutzung und Einstellungen und Wertvorstellungen bilden. Wieder konnten die Autoren ihre Annahmen nur teilweise bestätigen, denn sie fanden keinen Zusammenhang zwischen Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung. Potter (1991c) hingegen konnte Zusammenhänge zwischen Kultivierung erster und zweiter Ordnung nachweisen. Im nächsten Schritt kombinierte Potter (1988b) die Idee des Lern- und Konstruktionsprozesses mit der Unterscheidung von Kultivierungseffekten erster und zweiter Ordnung. Er prüfte die Zusammenhänge zwischen Fernsehnutzung und Fernsehwahrnehmung (Lernprozess) und die Zusammenhänge zwischen Fernsehwahrnehmung und Kultivierungsurteilen erster bzw. zweiter Ordnung (Konstruktionsprozess). Auch seine Befunde bestätigten die Modellannahmen nicht vollständig. So bestätigte er Kultivierungseffekte erster Ordnung, Lernprozesse und den Konstruktionsprozess von Realitätsurteilen zweiter Ordnung. Nicht bestätigen konnte er Kultivierungseffekte zweiter Ordnung und einen Konstruktionsprozess von Realitätsurteilen erster Ordnung aus der Fernsehwahrnehmung. Potter (1991a) schlug schließlich ein dreistufiges Prozessmodell vor. Es integrierte ebenfalls die Logik von Lern- und Konstruktionsprozessen und Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung. Zudem untergliederte er die Fernsehwahrnehmung in zwei Stufen. Kultivierungsurteile erster Ordnung werden demnach aus der Fernsehwahrnehmung erster Ordnung konstruiert, Kultivierungsurteile zweiter Ordnung aus der Fernsehwahrnehmung zweiter Ordnung. Außerdem ging Potter (1991a) davon aus, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung aus den Urteilen erster Ordnung generalisiert werden. Empirisch konnte er auch dieses Modell nicht belegen. Er wies keine Lerneffekte nach, fand einen Konstruktionseffekt für Kultivierungseffekte erster Ordnung und einen Generalisationsprozess von Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung aus den Urteilen erster Ordnung. Zusammenfassend ließ sich aus den Befunden schließen, dass Kultivierungsurteile auf irgendeine Art und Weise aus dem Gedächtnis konstruiert werden und Kultivierungsurteile zweiter Ordnung aus Kultivierungsurteilen erster Ordnung entstehen können. Auch an einem wie auch immer gearteten Lernprozess lohnte es sich daher festzuhalten, obwohl die Autoren diesen nicht nachweisen konnten. Das kann auch daran liegen, dass die Autoren diesen falsch operationalisiert haben. Eine Abfrage der Fernsehwahrnehmung ist nicht gleichbedeutend damit, dass
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
297
bestimmte Fernsehinhalte im Gedächtnis zufällig gespeichert werden. Denn eine Wiedergabe der Fernsehwahrnehmung setzt voraus, dass sich die Rezipienten bei den im Gedächtnis gespeicherten Inhalten ihrer Quelle bewusst sind. Wie Kapitel 6 darstellte ist dies grundsätzlich möglich. Es setzt aber eine systematische Suche nach den relevanten Informationen im Gedächtnis voraus, die eher zu niedrigen Kultivierungseffekten führt. Um den Kultivierungsprozess vollständig zu verstehen, ist es notwendig, sich ausführlich mit den psychischen Prozessen auseinanderzusetzen, die im Gedächtnis der Rezipienten wirksam werden. Hawkins et al. (1987) und Potter (1991a; 1991c) leisteten dies noch nicht, was die divergierenden Befunde ihrer Studien erklärt. Dennoch waren ihre Überlegungen richtungsweisend: Das Modell, das die vorliegende Arbeit vorschlägt, integriert ebenfalls einen Lernprozess von Fernsehinhalten. Auch greift es die Überlegung auf, dass Kultivierungsurteile zweiter Ordnung auf zwei unterschiedlichen Wegen entstehen können, nämlich während der Fernsehrezeption oder erinnerungsgestützt.
7.2
Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
Abbildung 29 stellt das endgültige Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess vor. Es wird in diesem Abschnitt zusammenfassend beschrieben. Die Beschreibung gliedert sich in die drei Hauptphasen des Modells: Informationsaufnahme, Informationsspeicherung und Urteilsbildung bzw. Informationsabruf.
7.2.1 7.2.1.1
Informationsaufnahme Selektion
Noch vor der Informationsaufnahme ist die Selektion der Fernsehinhalte anzusiedeln. Gerbner und Kollegen gingen davon aus, dass Vielseher das Fernsehen nonselektiv nutzen, weshalb alle Vielseher denselben gleichförmigen Botschaften des Fernsehens ausgesetzt sind (vgl. z.B. Gerbner et al., 1978). Gestiegenes Kanalangebot und technische Neuerungen wie Video-, DVD-Recoder etc. haben die Fernsehgewohnheiten der Zuschauer aber verändert und ihre Selektionsmöglichkeiten erhöht. Es wird nicht nur mehr ferngesehen, sondern auch zu anderen Zeiten (vgl. van Eimeren & Ridder, 2005). Auch stellen die Zuschauer ihr Fernsehrepertoire aus mehr Kanälen zusammen (z.B. Hasebrink & Krotz, 1993). Die durch
Quelle: Eigene Darstellung.
Verzerrung
Rezeptionsmerkmale: Themeninvolvement
Rezeptionsmerkmale: Nutzungsaktivität, PSB, Identifikation, Themeninvolvement, Prozessinvolvement, wahrg. Realitätsgrad
Speicherung
Verstärkung
Verstärkung
Rezeption und Informationsaufnahme
Ähnlichkeit, positive Bewertung, hoher Realitätsgrad, Auffälligkeit
Darstellungsmerkmale:
Involvement Relevanz hoch/ Einstellung vorh.
Verfügbare Einstellungen
Kontextinformation
Chronisch verfügbare Konstrukte
Verfügbare Konstrukte
Langzeitgedächtnis
ON-LINE
Rezeptionsmerkmale: Prozessinvolvement, Elaboration, Themeninvolvement, Nutzungsaktivität, PSB, Identifikation, wahrg. Realitätsgrad
Urteilsbildung
Involvement Zeit, Motivation Fähigkeit hoch
SYSTEMATISCH
richtig/niedrig
Quellenbew./ wahrg. Realitätsgrad
falsch/hoch
HEURISTISCH
Involvement Zeit, Motivation Fähigkeit niedrig
Quellenprime
themenspezifische Aggregate, Genremenüs
Metabotschaften auf WAHRNEHMUNG unterschiedlichen Wahrgenommene Aggregierungsebenen: Fernsehbotschaft Fernsehen, INFORMATIONSAUFNAHME Genres, Sendungen
Fernsehbotschaft
Darstellungsmerkmale: Episodische Darstellung, Humor
Lebhaftigkeit, Auffälligkeit, Ähnlichkeit, positive Bewertung, hoher Realitätsgrad
Darstellungsmerkmale:
Kein Kultivierungseffekt zweiter Ordnung
Kultivierungseffekt zweiter Ordnung
Kein Kultivierungseffekt erster Ordnung
Kultivierungseffekt erster Ordnung
Involvement Relevanz niedrig/ keine Einstellung
298 7 Zusammenfassung und Diskussion
Abbildung 29: Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess
ERINNERUNGSGESTÜTZT
ON-LINE
SELEKTION
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
299
das geringe Kanalangebot bedingte passive und nonselektive Konsumhaltung ist größtenteils einer aktiven selektiven Rezeptionshaltung gewichen. Infolgedessen stellten Studien zunehmend interindividuelle Unterschiede in den Nutzungsmustern der Zuschauer fest (z.B. Espe & Seiwert, 1986). Das veränderte Nutzungsverhalten ging auch an den Vielsehern nicht spurlos vorüber. Zwar gibt es nach wie vor Vielseher, die sich passiv von einer Vielzahl unterschiedlicher Sendungen berieseln lassen, doch diese sind in der Minderheit. Vielseher selektieren ganz bestimmte Genremenüs – genauso wie Zuschauer, die weniger fernsehen (vgl. z.B. Peterson et al., 1986; Weimann et al., 1992).
7.2.1.2
Fernsehbotschaft
Nutzungsverhalten und mediales Angebot sind untrennbar miteinander verwoben. Das Fernsehnutzungsverhalten der Rezipienten konnte sich nur verändern, weil sich auch das Angebot verändert hat. Gerbner und Kollegen gingen grundsätzlich davon aus, dass das Fernsehen über alle Genres und Sendungen hinweg die gleichen Botschaften präsentiert (vgl. z.B. Gerbner & Gross, 1976). Sie untersuchten daher den Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung, ohne spezifische Programminhalte oder Genres zu unterscheiden. Vor dem Hintergrund von nur drei verfügbaren Sendern mag diese Annahme noch ihre Richtigkeit gehabt haben. Spätestens in Folge der Entwicklung neuerer Technologien wie Kabel- und Satellitenfernsehen und der damit einhergehenden Vervielfachung von Kanälen und Sendungen ist Gerbners Annahme in dieser Absolutheit nicht mehr haltbar. Kanäle, Sendungen und Genres haben sich im Laufe der Jahrzehnte vervielfacht, womit eine Ausdifferenzierung der Genres und Themen im Fernsehen einherging. Diese Vervielfachung hatte zwar teilweise auch ein Mehr des Gleichen zur Folge, aber insgesamt hat sich die inhaltliche Vielfalt deutlich erhöht – und zwar nicht nur insgesamt betrachtet, sondern auch zu jeder einzelnen Sendeminute (vgl. Rossmann et al., 2003; Fahr et al., 2005). Dabei kann keineswegs jedes Genre zu jeder Tageszeit rezipiert werden. Fiktionale Gewaltsendungen beispielsweise, die den Schwerpunkt der Gerbner’schen Kultivierungsstudien bilden, können häufig gesehen werden, jedoch nicht rund um die Uhr. Die Wahrscheinlichkeit, mit Krimiserien in Kontakt zu kommen, ist im Laufe der letzten Jahre von 81 auf unter 50 Prozent der Sendezeit zurückgegangen (vgl. Rossmann et al., 2003). Das Maß der allgemeinen Fernsehnutzung war in Studien, die den Einfluss des Fernsehens auf verbrechensbezogene Realitätsurteile untersuchen, somit vor einigen Jahren noch deutlich valider als heute. Eine Vielzahl an Inhaltsanalysen verdeutlicht, dass
300
7 Zusammenfassung und Diskussion
sich Genres in ihren Botschaften unterscheiden, z.B. wenn es um Gewalt, Afroamerikaner oder Ärzte geht:
Gewalt: Greenberg et al. (1980) stellten im Vergleich zwischen Action- und Krimisendungen, Familienserien, Sitcoms, Zeichentrick- und NichtZeichentrickserien fest, dass die Genres unterschiedlich viel antisoziales Verhalten präsentieren und sich in der Art der dargestellten Aggression (z.B. physisch vs. verbal) unterscheiden (vgl. auch Potter & Ware, 1987a; 1987b; Potter & Warren, 1998). Afroamerikaner: Afroamerikaner werden in Unterhaltungssendungen sehr positiv dargestellt, wohingegen nonfiktionale Formate wie Nachrichten sie häufig mit Verbrechen, Gewalt und Drogenmissbrauch in Verbindung bringen (für einen Überblick vgl. z.B. Greenberg et al., 2002). Ärzte: Das Bild von Ärzten ist je nach Genre und Produktionsland unterschiedlich. Fernsehserien in Deutschland zeichnen ein positiveres Bild von Ärzten als Boulevardmagazine (Minkewitz, 2003). Arztserien in den USA stellen Ärzte negativer dar als Nachrichtensendungen (vgl. Chory-Assad & Tamborini, 2001). Somit scheinen deutsche Arztserien Ärzte auch positiver darzustellen als amerikanische: Inhaltsanalysen amerikanischer Arztserien kommen zu dem Schluss, dass Ärzte heutzutage negativer dargestellt werden als früher (vgl. Pfau et al., 1995b; Chory-Assad & Tamborini, 2001), während eine Analyse von Krankenhausserien in Deutschland zeigte, dass Ärzte nach wie vor sehr idealisiert dargestellt werden (vgl. Rossmann, 2002).
Zahllose Kultivierungsstudien belegen daher, dass die Genrenutzung Kultivierungseffekte besser erklärt. Angesichts der Vielzahl von Belegen sei lediglich eines der oben dargestellten Beispiele herausgegriffen. Die nach Genre und Produktionsland unterschiedliche Darstellung von Ärzten schlägt sich auch in einem unterschiedlichen Einfluss auf die Realitätswahrnehmung nieder. Deutsche Fernsehserien haben einen positiven Einfluss auf das Arztbild (Rossmann, 2002), während Boulevardmagazine dieses eher negativ beeinflussen (vgl. Minkewitz, 2003). Amerikanische Arztserien beeinflussen das Arztbild zumindest teilweise negativ: ChoryAssad und Tamborini (2003) zeigten, dass amerikanische Fernsehzuschauer Ärzte bezüglich ihres Charakters, ihrer Fürsorge und Gelassenheit umso schlechter bewerteten, je häufiger sie Arztserien sahen (vgl. auch Pfau et al., 1995b). Vielseher von Nachrichtenmagazinen bewerteten Ärzte positiver. Die allgemeine Fernsehnutzung hatte hingegen keinen Einfluss auf die Wahrnehmung von Ärzten.
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
301
Genres sind also besser geeignet, um den Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung der Zuschauer zu erklären. Den einzig gültigen Weg stellen sie jedoch nicht dar. Zu bedenken ist zweierlei: (1)
(2)
Der Begriff der „genrespezifischen Kultivierung“ hat sich weitgehend etabliert. Ob es tatsächlich Genres sind, die gleichförmige Botschaften präsentieren, hängt aber vom Untersuchungsgegenstand ab. Manche Themen werden in einzelnen Sendungen unterschiedlich, andere in mehreren Genres gleich dargestellt. Sie unterscheiden sich auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen, z.B. fiktionale versus nonfiktionale Genres. Die Tatsache, dass sich genrespezifische Kultivierungseffekte meist bestätigen lassen, räumt nicht die Möglichkeit aus, dass es Fernsehbotschaften gibt, die über das gesamte Fernsehangebot hinweg gleichförmig dargestellt werden. Diese müssen jedoch erst identifiziert werden.
Je nachdem, um welches Thema es sich handelt, kann also entweder die gesamte Fernsehnutzung, die Nutzung von Genres oder Genremenüs oder die Nutzung einzelner Sendungen ausschlaggebend für Kultivierungseffekte sein. Dies ist abhängig davon, auf welchem Aggregierungsniveau die Botschaften des Fernsehens gleichförmig sind. Denken wir beispielsweise an die Darstellung von Homosexualität im Fernsehen. Verschiedene Botschaften zu dem Thema werden auf unterschiedlichen Aggregierungsniveaus gleichförmig transportiert. Auf der Ebene des gesamten Fernsehangebots zeigt sich, dass homosexuelle Frauen und Männer generell häufiger vorkommen als früher (vgl. Gross, 2001; 2005). Die Metabotschaft des Fernsehens ist also, dass die Anzahl von homosexuellen Frauen und Männern in der Bevölkerung zugenommen hat. Denkbar ist auch, dass Zuschauer daraus die Botschaft ableiten, dass die Gesellschaft im Umgang mit Homosexualität liberaler wird. Nisbet und Shanahan (2005) bestätigten dies. Im Hinblick auf detailliertere Informationen über Homosexualität unterscheiden sich die Botschaften jedoch auf einem niedrigeren Aggregierungsniveau. Während schwule Männer in Comedy-Sendungen und humoristischen Spielfilmen häufig eher klischeehaft ‚tuntig’ dargestellt werden, lassen sie sich in ernsthaften Spielfilmen (z.B. „Philadelphia“) oder in der Serie „Queer as Folk“ rein äußerlich nicht von heterosexuellen Männern unterscheiden. Es ist also weder das Fernsehen insgesamt noch sind es die von Programmmachern definierten Genres (Spielfilme, Serien, Talkshows etc.), die einheitliche Metabotschaften liefern.
302
7 Zusammenfassung und Diskussion
7.2.1.3
Informationsaufnahme und wahrgenommene Fernsehbotschaft
Entscheidend ist nicht allein, was präsentiert wird, sondern ob und wie das Publikum die Inhalte wahrnimmt. Es wäre falsch anzunehmen, dass die Fernsehbotschaft, so wie sie dargestellt wird, direkt unsere Realitätswahrnehmung beeinflusst. Schließlich können nur die Informationen gespeichert und für Realitätsurteile herangezogen werden, die wir wahrnehmen. Und sie werden so gespeichert, wie wir sie wahrnehmen. Newcomb (1978) thematisierte dieses Problem schon sehr früh und kritisierte, dass die Kultivierung nicht berücksichtigt, wie die Zuschauer Fernsehinhalte interpretieren. Das vorliegende Modell berücksichtigt dies. Nicht nur die Inhalte allein entscheiden also darüber, wie Fernsehinhalte wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung ist vorwiegend von drei Dimensionen abhängig: Darstellungsmerkmale, Rezeptionsmerkmale und chronische Konstruktverfügbarkeit:
Darstellungsmerkmale (vgl. Kapitel 6.4.1): Ähnlichkeit zwischen Rezipient und Fernsehakteuren, hoher Realitätsgrad und Auffälligkeit von Fernsehinhalten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Fernsehinhalte wahrgenommen werden. Andere Darstellungsmerkmale beeinflussen, wie sie wahrgenommen werden, z.B. episodische versus kontextreiche Darstellung von Informationen oder der Humorgehalt von Botschaften. Rezeptionsmerkmale (vgl. Kapitel 6.4.2): Werden Sendungen mit einer aktiven Nutzungshaltung und somit aufmerksam rezipiert, ist es wahrscheinlicher, dass viele der enthaltenen Botschaften wahrgenommen werden. Auch starke parasoziale Beziehungen, ein hohes Identifikationspotenzial und ein hoher wahrgenommener Realitätsgrad dürften die Informationsaufnahme und somit die wahrgenommene Fernsehbotschaft beeinflussen. Chronische Konstruktverfügbarkeit (vgl. Kapitel 6.2.3): Chronisch verfügbar werden Informationen dann, wenn sie über einen langen Zeitraum hinweg sehr häufig aktiviert werden. Sie sind im Gedächtnis so stark verknüpft, dass sie länger verfügbar bleiben, auch wenn sie nicht mehr aktiviert werden. Zudem beeinflussen sie die Informationsaufnahme. Im Fernsehen präsentierte Informationen, für die bereits chronisch verfügbare Konstrukte im Gedächtnis gespeichert sind, werden leichter wahrgenommen, auch dann, wenn die Aufmerksamkeit niedrig ist (vgl. z.B. Bargh et al., 1988).
Tabelle 17 stellt zusammenfassend dar, welche Merkmale Informationsaufnahme und Wahrnehmung der Fernsehbotschaft beeinflussen.
303
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
Tabelle 17: Phase 1 – Determinanten der Informationsaufnahme und Wahrnehmung von Fernsehinhalten Informationsaufnahme
Wahrnehmung
Darstellungsmerkmale Episodische Darstellung
Verzerrte Wahrnehmung
Ähnlichkeit
Verstärkte Informationsaufnahme
Positive Bewertung
Verstärkte Informationsaufnahme
Hoher Realitätsgrad
Verstärkte Informationsaufnahme
Humor
Verzerrte Wahrnehmung
Auffälligkeit
Verstärkte Informationsaufnahme Rezeptionsmerkmale
Nutzungsmotivation/ Nutzungsaktivität
Hohe Aktivität: Verstärkte Informationsaufnahme
Parasoziale Beziehungen
Verstärkte Informationsaufnahme
Identifikation
Verstärkte Informationsaufnahme
Themeninvolvement
Verstärkte Informationsaufnahme
Prozessinvolvement
Verstärkte Informationsaufnahme
Wahrg. Realitätsgrad
Verstärkte Informationsaufnahme
7.2.2
Verzerrte Wahrnehmung
Informationsspeicherung
Die Speicherung von Informationen bildet die zweite Phase im Kultivierungsprozess. Es gibt verschiedene Modelle, die die Informationsspeicherung im Langzeitgedächtnis veranschaulichen: z.B. Storage Bin-Modell (Wyer & Srull, 1986; 1989), Multiple Trace-Theorie (z.B. Zechmeister & Nyberg, 1982) oder Spreading Activation-Theorie (z.B. Anderson, 1983b). Letztere ist am besten geeignet, um die
304
7 Zusammenfassung und Diskussion
verschiedenen psychischen Determinanten und Abläufe bei der Entstehung von Kultivierungsurteilen zu veranschaulichen.
7.2.2.1
Verfügbarkeit von Fernsehinformation
Das für die Kultivierung entscheidende deklarative Wissen ist im Langzeitgedächtnis in Form von kognitiven Einheiten gespeichert, die untereinander über Gedächtnisspuren verknüpft sind. Die kognitiven Einheiten und ihre Verknüpfungen bilden ein assoziatives Netzwerk. Werden bestimmte kognitive Einheiten wiederholt aktiviert, so erhöht sich die Stärke der Verbindung zwischen kognitiven Einheiten. Stark verknüpfte kognitive Einheiten sind somit leichter verfügbar. Beim Informationsabruf werden sie schneller aktiviert als andere kognitive Einheiten. Werden kognitive Einheiten jedoch eine Weile lang nicht mehr aktiviert, so nimmt die Stärke der Verknüpfung und damit ihre Verfügbarkeit wieder ab. Auch kürzlich aktivierte Informationen sind also verfügbarer als andere. Während der Fernsehrezeption werden nun ganz bestimmte Informationen im Gedächtnis aktiviert und verstärkt. Bestimmte Ereignisse, Berufe, Verhaltensweisen etc. kommen im Fernsehen häufiger vor als andere. Vielseher nehmen diese überrepräsentierten Informationen somit häufiger wahr als andere, die entsprechenden kognitiven Einheiten im Gedächtnis werden häufiger aktiviert und sind somit verfügbarer. Es sind aber auch noch andere Faktoren bekannt, die die Verfügbarkeit kognitiver Einheiten im Gedächtnis erhöhen (vgl. z.B. Higgins & King, 1981): Im Zusammenhang mit der Fernsehnutzung sind neben der Häufigkeit vor allem die Faktoren Aktualität, Lebhaftigkeit und Auffälligkeit relevant.
Aktualität: Dadurch, dass Vielseher dieselben Fernsehinformationen regelmäßig sehen, ist die Aktivierung der entsprechenden Konstrukte auch immer wieder erst kürzlich vergangen. Somit erhöht auch die Aktualität der Aktivierung die Verfügbarkeit von Informationen im Gedächtnis. Lebhaftigkeit: Grundsätzlich ist die Darstellungsweise des Fernsehens sehr lebhaft. Musik, bewegte Bilder etc. tragen somit ebenfalls dazu bei, dass die Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen erhöht wird. Auffälligkeit: Bisweilen kann eine höhere Verfügbarkeit von Fernsehbeispielen auch ausgelöst werden, wenn Beispiele im Fernsehen unterrepräsentiert sind. Dies ist dann der Fall, wenn sie bestimmten prototypischen Vorstellungen widersprechen. Auch die Auffälligkeit bestimmter Fernsehbeispiele kann somit die Verfügbarkeit entsprechender Konstrukte im Gedächtnis verstärken.
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
305
Die Langfristigkeit von Kultivierungseffekten erklärt sich über die chronische Verfügbarkeit von Konstrukten. Kognitive Einheiten werden dann chronisch verfügbar, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt aktiviert werden. Die Folge ist, sie bleiben länger verfügbar (vgl. z.B. Higgins & King, 1981) und beeinflussen die Urteilsbildung in der Regel stärker als kurzfristig verfügbare Informationen (vgl. Bargh et al., 1988).
7.2.2.2
Kontextinformationen
Wichtig für das Verständnis von Kultivierungseffekten ist auch die Tatsache, dass kognitive Einheiten im Gedächtnis zusammen mit Kontextinformationen gespeichert werden. Im Sinne der Spreading Activation-Theorie: Informationen werden im assoziativen Netzwerk des Gedächtnisses mit anderen Informationen verknüpft, u.a. mit ihren Kontextinformationen. Entscheidend für den Kultivierungsprozess ist die Speicherung der Informationsquelle. Diese wird bei der Urteilsbildung berücksichtigt, wenn Kultivierungsurteile erinnerungsgestützt und systematisch gefällt werden.
7.2.2.3
Einstellungsverfügbarkeit
Kultivierungsurteile zweiter Ordnung werden im Gegensatz dazu größtenteils online gebildet, und zwar dann, wenn Relevanz bzw. Involvement mit einem Thema hoch sind (vgl. Hertel & Bless, 2000). Auch dies lässt sich im Rahmen der Spreading Activation-Theorie veranschaulichen. In ihrer einfachsten Form lassen sich Einstellungen beschreiben als Verknüpfung eines Objektes mit seiner Bewertung (vgl. Fazio, 1995). Grundsätzlich kann ein Bewertungsobjekt mit mehreren Bewertungen verknüpft sein, entscheidend für das Urteil ist aber wieder die stärkste Verknüpfung. Analog zur Konstruktverfügbarkeit erhöht die Stärke der ObjektBewertungsrelation, also die Einstellungsstärke, die Verfügbarkeit einer Einstellung. Zu Kultivierungseffekten kommt es, weil das Fernsehen ganz bestimmte Objektbewertungen häufiger vermittelt als andere. Die fernsehspezifischen ObjektBewertungsrelationen werden bei Vielsehern somit häufiger aktiviert als bei Wenigsehern. Die Stärke und Verfügbarkeit der entsprechenden Einstellung steigt, wodurch Vielseher bei der Urteilsabfrage eher fernsehkonforme Einstellungen wiedergegeben.
306
7 Zusammenfassung und Diskussion
Krosnick und Petty (1995) nannten verschiedene Faktoren, die die Einstellungsstärke determinieren. Neben der Aktivierungshäufigkeit dürften vor allem Merkmale der Einstellungsstruktur (Wissensmenge, Konsistenz des Wissens) im Kultivierungsprozess eine Rolle spielen. Vielseher häufen im Laufe der dauerhaften Fernsehrezeption mehr konsistentes Wissen über Verhalten und Eigenschaften von Menschen und Ereignissen an als Wenigseher. Dadurch, dass das Fernsehen (bzw. Genres oder andere Aggregierungseinheiten) die Dinge recht gleichförmig darstellen, ist dieses Wissen konsistent. Ambivalenzen, die die Einstellungsstärke schwächen, werden geringer. In der Folge werden die fernsehkonsistenten Einstellungen stabiler und resistenter gegenüber Botschaften, die eine andere Bewertungstendenz vermitteln (ebd.). Zeigt das Fernsehen bestimmte Aspekte einmal anders, so wird dies eine stark ausgeprägte Einstellung nicht mehr so leicht verändern. Außerdem lenkt eine starke Einstellung zu einem Objekt die Aufmerksamkeit bei der späteren Informationsaufnahme automatisch und unbewusst wieder auf dieses Objekt (vgl. RoskosEwoldsen & Fazio, 1992). Somit setzt in gewisser Weise ein Spiraleffekt ein: Vielseher nehmen einstellungskonforme Informationen eher wahr als Wenigseher, wodurch die Einstellungsverfügbarkeit bei Vielsehern – leichter als bei Wenigsehern – wieder gestärkt wird. Die Einstellungsstärke hängt aber auch mit der Elaboriertheit zusammen, mit der Botschaften verarbeitet werden (vgl. Krosnick & Petty, 1995). Wenn Informationen elaboriert verarbeitet werden, sind die daraus resultierenden Einstellungen stabiler und resistenter (vgl. z.B. Petty & Cacioppo, 1986b); die Einstellungsstärke wird größer. Umgekehrt werden einstellungsrelevante Botschaften auch umso elaborierter verarbeitet, je stärker die entsprechende Einstellung im Gedächtnis ist (vgl. Roskos-Ewoldsen, 1997). Diese Beobachtung mag zu der Annahme verleiten, dass sich Kultivierungseffekte zweiter Ordnung irgendwann selbst aushebeln, weil eine intensive Auseinandersetzung mit Fernsehinhalten auch dazu führt, dass die Quelle der Botschaften kritisch betrachtet wird. Vor dem Hintergrund der Befunde von Shrum et al. (2005) lässt sich jedoch anderes vermuten: Ein hoher Elaborationsgrad geht mit einem hohen Transportationsgrad einher, d.h. Vielseher, die sich elaboriert mit Botschaften auseinandersetzen, tauchen stark in die Handlung ein. Sie verfolgen die Handlung aufmerksam, sind hochinvolviert (Prozessinvolvement), aber sie hinterfragen sie nicht. Eine starke Elaboration erzeugt somit zwar eine intensive Auseinandersetzung mit der Botschaft, nicht aber ein Hinterfragen im Sinne einer Evaluation der Informationsquelle.
307
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
7.2.2.4
Einfluss von Darstellungs- und Rezeptionsmerkmalen
Es wurden bereits einige Faktoren dargestellt, die die Verfügbarkeit von Informationen im Gedächtnis beeinflussen. Es sind weitere Faktoren denkbar, die sich aus den Überlegungen zum Einfluss von Darstellungs- und Rezeptionsmerkmalen ableiten. Bei manchen dieser Merkmale gibt es empirische Hinweise darauf, dass sie die Speicherung von Informationen erleichtern (z.B. Realitätsgrad, vgl. Potts et al., 1989; Busselle, 2001; Ähnlichkeit/Identifikation; vgl. Bandura, 2001). Bei anderen leitet sich die Vermutung, dass sie die Speicherung von Informationen verstärken, daraus ab, dass sie die Wahrnehmung von Informationen erleichtern. Fernsehinformationen werden eher gespeichert, wenn sie auch wahrgenommen werden. Konkret ist also davon auszugehen, dass neben den oben dargestellten Merkmalen vor allem Realitätsgrad bzw. wahrgenommener Realitätsgrad, Ähnlichkeit und Identifikation, Bewertung, Nutzungsaktivität, parasoziale Beziehungen und Themeninvolvement die Speicherung von Informationen erleichtern. Tabelle 18 liefert einen Überblick über die Determinanten der Informationsspeicherung bei der Fernsehrezeption.
Tabelle 18: Phase 2 – Determinanten der Speicherung von Fernsehinformationen
Fernsehbotschaft y Konsistente Inhalte
Botschaftsmerkmale
Rezeption
Rezipienten-/ Rezeptionsmerkmale
y Lebhaftigkeit
y
Häufigkeit
y Prozessinvolvement
y Auffälligkeit
y
Aktualität
y Elaboration
y Ähnlichkeit
y Themeninvolvement
y Positive Bewertung
y Nutzungsaktivität
y Hoher Realitätsgrad
y Parasoziale Beziehungen y Identifikation y Wahrg. Realitätsgrad
308 7.2.3
7 Zusammenfassung und Diskussion
Informationsabruf und Urteilsbildung
Die dritte Phase des Kultivierungsprozesses umfasst den Abruf gespeicherter Informationen aus dem Gedächtnis und die Urteilsbildung.
7.2.3.1
On-line-Urteile zweiter Ordnung
Am leichtesten beschreiben lässt sich die Urteilsbildung bei Kultivierungsurteilen zweiter Ordnung, die für die urteilende Person von hoher Relevanz sind. In diesem Fall wurde die Einstellung bereits on-line gebildet (vgl. 7.2.2). Bei Bedarf wird die Einstellung abgerufen, die am stärksten und schnellsten verfügbar ist. Erkennen lässt sich das daran, dass das Urteil schnell gefällt wird (vgl. Shrum, 1999).
7.2.3.2
Erinnerungsgestützte Urteile zweiter Ordnung
Bei Themen, die für die Rezipienten keine Relevanz besitzen, werden Einstellungen erst dann gebildet, wenn danach gefragt wird, z.B. in der Befragungssituation. Die Einstellung beruht auf den Attributen, die im Langzeitgedächtnis mit dem Bewertungsobjekt verknüpft sind und Auskunft darüber geben, wie häufig Personen etwa bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen. Anders ausgedrückt: Erinnerungsgestützt gebildete Kultivierungsurteile zweiter Ordnung beruhen auf Kultivierungsurteilen erster Ordnung. Es setzen dieselben Mechanismen ein.
7.2.3.3
Erinnerungsgestützte Urteile erster Ordnung
Kultivierungsurteile erster Ordnung dürften fast immer erinnerungsgestützt gebildet werden, da es irrelevant für uns ist, welcher Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung einen bestimmten Beruf ausübt oder wie häufig Menschen ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Im Alltag gibt es keinen Grund, solche Urteile zu bilden, so dass sie erst dann entstehen, wenn danach gefragt wird. In Kultivierungsstudien ist das zum Zeitpunkt der Befragung (vgl. Shrum, 2004). Werden Kultivierungsurteile erinnerungsgestützt gebildet, so kann dies auf zwei Wegen geschehen: durch heuristische Urteilsbildung oder systematische. Welcher Weg eingeschlagen wird, hängt von der Motivation ab, sich mit einem Realitätsurteil zu beschäftigen, von der Fähigkeit, ein systematisches Urteil bilden
7.2 Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozesses
309
zu können, und von der Zeit, die für die Urteilsbildung zur Verfügung steht. Die Motivation ist hoch, wenn das Involvement hoch ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Thema relevant ist – dies gilt allerdings nur für Kultivierungseffekte erster Ordnung, Kultivierungsurteile zweiter Ordnung werden bei hoher Relevanz on-line gebildet – oder dadurch, dass situationsbedingte Faktoren bei der Urteilsbildung das Involvement verstärken (z.B. erwartete Bewertung des Urteils, mündliche Befragung, Befragungsinstruktionen etc.). Studien zeigen, dass Kultivierungsurteile systematisch gefällt werden, wenn es Hinweise darauf gibt, dass das Fernsehen als Einflussquelle eine Rolle spielt (vgl. z.B. Shrum et al., 1998). Wenn die Urteile aufgrund mangelnder Motivation, Zeit etc. heuristisch gefällt werden, hängt das Urteil davon ob, welche Information im Gedächtnis am verfügbarsten bzw. am leichtesten zugänglich ist. Personen denken dann nicht lange über ihr Urteil nach, sondern fällen es auf der Basis der Konstruktverfügbarkeit. Je leichter ein Beispiel für das gesuchte Urteil rekrutiert wird, desto höher fällt das Urteil aus. Da bestimmte Personen oder Ereignisse, die im Fernsehen häufig gezeigt werden, bei Vielsehern verfügbarer sind als bei Wenigsehern, antworten sie schneller und fällen ein höheres Realitätsurteil. Informationen über die Quelle verfügbarer Beispiele werden dabei nicht berücksichtigt – es sei denn, bestimmte Bedingungen führen dazu, dass die Quelle doch bewertet oder der mögliche Einfluss des Fernsehens berücksichtigt wird (z.B. Reihenfolgeeffekte). Hohes Involvement, hohe Motivation, Fähigkeit, Zeit oder Hinweise auf das Fernsehen als Einflussfaktor führen dazu, dass die Urteile systematisch gebildet werden. In diesem Fall hängen die Urteile davon ab, wie viele Beispiele für ein bestimmtes Ereignis gefunden werden und wie relevant die Beispiele für das Urteil sind. Relevanz bestimmt sich durch die Kontextinformationen. Auch die Informationsquelle ist eine solche Kontextinformation. Vielseher finden zwar mehr Beispiele für ein typisches Fernsehereignis, beziehen diese jedoch nicht in ihr Urteil ein, weil sie mit Hilfe der Kontextinformation „Fernsehen/fiktional“ als irrelevant erkannt werden. Kultivierungseffekte entstehen dadurch, dass die Rezipienten dabei Fehler machen. Zum einen, weil Kontextinformationen im Laufe der Zeit vergessen werden. Zum anderen, weil viele Kontextinformationen von fiktionalen Fernsehereignissen den Kontextinformationen von nonfiktionalen oder realen Ereignissen sehr ähnlich sind. Auch dürften mangelnde kognitive Fähigkeiten (hohes Alter, geringe Intelligenz) die Wahrscheinlichkeit von Quellenverwechslungen erhöhen. Eine andere Möglichkeit, wie es bei der systematischen Urteilsbildung zu Kultivierungseffekten kommt, ist, dass Personen die Informationsquelle zwar richtig einordnen, diese jedoch nicht als irrelevant einstufen. Dies ist dann der Fall, wenn der wahrgenommene Realitätsgrad oder die Glaubwürdigkeit hoch ist.
310
7 Zusammenfassung und Diskussion
Kultivierungseffekte bei systematischer Urteilsbildung sind also nur unter bestimmten Voraussetzungen zu erwarten. Sie werden deshalb insgesamt kleiner ausfallen als Kultivierungseffekte, die durch heuristische Urteilsbildung entstehen. Tabelle 19 fasst Bedingungen, relevante Informationen, Effektursache und Effektstärke der verschiedenen Wege der Urteilsbildung noch einmal zusammen.
Tabelle 19: Phase 3 – Urteilsabruf und Urteilsbildung Erinnerungsgestützte Urteilsbildung (Kultivierung erster und zweiter Ordnung) Heuristisch Bedingungen
Relevante Information
Effektursache
Abruf von On-lineUrteilen (Kultivierung zweiter Ordnung)
Systematisch
y
Niedriges Involvement (Situation, Thema)
y
Hohes Involvement (Situation, Thema)
y
Hohe Relevanz
y
Geringe Motivation
y
Hohe Motivation
y
Einstellung vorhanden
y
Unfähigkeit, Informationen zu verarbeiten
y
Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten
y
Zeitmangel
y
Viel Zeit
y
Kein Hinweis auf TVEinfluss (Quellenprime)
y
Verfügbarstes Beispiel
y
Alle verfügbaren Beispiele
y
Verfügbarste Einstellung
y
ggf. chronisch verfügbares Beispiel
y
u.a. chronisch verfügbare Beispiele
y
Kontextinformation (Quelle) y
Einstellung schnell verfügb.
y
Hoch
y
Fernsehinformationen y am schnellsten verfügbar y
Mehr TV-Informationen gespeichert Fehler bei der Quellenbewertung oder
Glaubwürdigkeit/ wahrgenommener Realitätsgrad der Quelle hoch Effektstärke
y
Hoch
y
Niedrig
7.3 Empirische Umsetzung des Modells
7.3
311
Empirische Umsetzung des Modells
Die Arbeit lieferte im Zusammenhang mit der Darstellung der Kritik am Kultivierungsansatz bereits einige methodische Anregungen (Kausalitätsfrage, Operationalisierung von Einschätzungen etc.; vgl. Kapitel 2.4). Diese sollen an dieser Stelle nicht erneut dargestellt werden. Das vorliegende Kapitel setzt sich damit auseinander, wie sich das vorgeschlagene Modell und seine Bestandteile operationalisieren lassen.
7.3.1
Mikroprozesse
Zunächst liegt es nahe, die Determinanten und Wege der Urteilsbildung experimentell untersuchen. Shrum legte eine Reihe von Studien vor, die als Beispiel dienen. Auch Mares (1996) trug mit einem Experiment dazu bei, den möglichen Ursachen des Kultivierungseffektes einen Schritt näher zu kommen. Dieser Abschnitt stellt die wichtigsten Möglichkeiten vor, die vorgeschlagenen Mikroprozesse empirisch zu operationalisieren.
7.3.1.1
Urteilsbildung
Bei der Urteilsbildung gilt es herauszufinden, unter welchen Bedingungen Kultivierungseffekte auftreten und wie stark die Effekte dann ausfallen. Kultivierungseffekte erster und zweiter Ordnung basieren auf unterschiedlichen psychischen Prozessen, weshalb sie zunächst einmal getrennt untersucht werden sollten. Der Forschungsstand zur Urteilsbildung erster Ordnung ist relativ dicht und liefert viele Vorschläge, psychische Prozesse zu untersuchen. Zu unterscheiden sind zwei verschiedene Wege der Urteilsbildung: der heuristische und der systematische. Dies lässt sich entweder experimentell induzieren oder durch Indikatoren messen. Der wichtigste Indikator für eine heuristische Urteilsbildung ist die Antwortgeschwindigkeit: Heuristiken sind verkürzte und somit schnellere Entscheidungswege. Im Falle der Kultivierung ist davon auszugehen, dass die Verfügbarkeitsheuristik die entscheidende Heuristik dargestellt. Das Realitätsurteil fällt umso höher aus, je schneller ein Beispiel rekrutiert werden kann. Das lässt sich messen (z.B. durch computergestützte Befragungen; vgl. Shrum et al., 1991; Shrum & O’Guinn, 1993; Shrum, 1996). Zusätzlich sollten zur Kontrolle der Faktoren, die eine heuristische oder systematische Urteilsbildung verursachen, auch diese mit erfasst und Interaktions-
312
7 Zusammenfassung und Diskussion
effekte gemessen werden (Themeninvolvement, situationsbedingtes Involvement bzw. Motivation, Fähigkeit). Indikator für eine systematische Urteilsbildung ist die langsame Antwortgeschwindigkeit und die Berücksichtigung von Botschaftsmerkmalen. Letzteres lässt sich nur schwer direkt prüfen. Eine Möglichkeit wäre, den Prozess der Urteilsfindung durch Verbalisationstechniken wie die Methode des lauten Denkens (vgl. z.B. Bilandzic, 2005) mit den Befragten nachzuvollziehen. Im ersten Schritt würden die Befragten einen standardisierten Fragebogen ausfüllen, der Fernsehnutzung, Realitätsurteile etc. abfragt. Im zweiten Schritt würde man mit den Probanden über die Urteile sprechen und fragen, was sie sich bei der Urteilsfindung gedacht haben. So ließe sich ermitteln, ob die Befragten über die Quelle ihrer gespeicherten Informationen nachdenken, ohne aber die Urteilsfindung selbst zu beeinflussen. Im Kontext der Quellenerinnung wäre auch zu untersuchen, ob Quellenverwechslungen unter der Bedingung systematischer Urteilsbildung für Kultivierungseffekte verantwortlich sind. Mares (1996) liefert hierzu ein Beispiel. Sie zeigte Probanden verschiedene Filmausschnitte (fiktional und nonfiktional). Die Probanden mussten hinterher angeben, an welche Informationen sie sich erinnerten und wo sie die Informationen gesehen hatten. So konnten Quellenverwechslungen aufgedeckt werden, die für Kultivierungseffekte verantwortlich waren. Dies wäre in weiteren Studien zu prüfen. Weiterer Indikator für eine systematische Urteilsbildung ist der wahrgenommene Realitätsgrad. Dieser Faktor dürfte nur bei systematischer Urteilsbildung eine Rolle spielen, da Quelleninformationen, so die Vermutung, bei heuristischer Urteilsbildung nicht berücksichtigt werden. Ein Indikator dafür, dass Urteile systematisch gefällt werden, wäre daher der vorhandene oder nicht vorhandene Einfluss des wahrgenommenen Realitätsgrades. Es gibt zudem mehrere Möglichkeiten, den einen oder anderen Weg der Urteilsbildung zu induzieren: Dies lässt sich am besten über die verschiedenen Involvementformen lösen. Bisherige Studien variierten das situationsbedingte Involvement, indem Befragungsinstruktionen entweder darauf hinwiesen, sich die Antworten genau zu überlegen, da sie im Anschluss bewertet würden, oder die Befragten anwiesen, möglichst schnell und spontan zu antworten (Shrum, 2001). Eine andere Möglichkeit wäre, den Befragten unterschiedlich viel Zeit für die Antworten zu geben, d.h. Befragte entweder unter Zeitdruck zu stellen oder ihnen viel Zeit zu lassen. Die Studie von Mares (1996) deutet darauf hin, dass bereits eine mündliche Befragungssituation die systematische Urteilsbildung begünstigt. Auch dies könnte experimentell untersucht werden.
7.3 Empirische Umsetzung des Modells
313
Auch das Themeninvolvement spielt nach dem vorliegenden Modell eine Rolle. Auch dieses lässt sich variieren. Hier wäre an die klassischen Methoden der Variation von Themeninvolvement zu denken, etwa durch räumliche Distanz oder Nähe von Ereignissen. So könnte man Personen bitten, die Eintretenshäufigkeit von Ereignissen in der eigenen Wohngegend oder Stadt einzuschätzen und die Eintretenshäufigkeit in anderen entfernteren Städten. Weniger empirische Beispiele gibt es bislang zur Urteilsbildung zweiter Ordnung. Hier wäre zunächst die These zu prüfen, dass Kultivierungseffekte durch on-line gebildete Einstellungen oder erinnerungsgestützte Urteile entstehen. Auch hierfür gibt es verschiedene Indikatoren, die messbar sind. Bei on-line gebildeten Urteilen sind die Einstellungen in der Befragungssituation schon vorhanden. Da davon auszugehen ist, dass fernsehinduzierte Einstellungen bei Vielsehern stärker und verfügbarer sind, bildet auch hier die Antwortgeschwindigkeit den entscheidenden Indikator (vgl. Fazio, 1995). Shrum (1999) wies nach, dass Vielseher Einstellungen schneller wiedergaben als Wenigseher. Dies kann nun aber streng genommen zweierlei bedeuten: die Einstellungen wurden on-line gebildet und waren damit verfügbarer – oder – sie wurden erinnerungsgestützt, aber auf heuristischem Wege gebildet. Wie oben dargestellt würden Vielseher auch im zweiten Fall schneller antworten. Es gibt verschiedene weitere Indikatoren, die auf verfügbare Einstellungen hindeuten und mit ihnen korrelieren (etwa Konsistenz des Wissens, wie sicher man sich der eigenen Einstellung ist, Elaboration, Themeninvolvement, vgl. Krosnick & Petty, 1995; Hertel & Bless, 2002). Diese Faktoren können zusätzlich gemessen werden (sie müssten dann mit der Antwortgeschwindigkeit korrelieren) oder experimentell variiert werden, um auf on-line gebildete oder erinnerungsgestützte Urteile zu schließen. Ein Indikator dafür, dass Einstellungen erinnerungsgestützt gebildet werden, ist, dass Einstellung, Kultivierungsurteil erster Ordnung und die für das Kultivierungsurteil erster Ordnung relevanten Gedächtnisinhalte (z.B. verfügbare Beispiele, s.u.) korrelieren. In diesem Fall bilden im Gedächtnis verfügbare Beispiele die Basis für die Einstellungen. Die Urteilsbildung basiert genau auf den Informationen, auf denen auch Kultivierungsurteile erster Ordnung basieren, und es ist denkbar, dass Kultivierungsurteile erster Ordnung selbst einen Zwischenschritt zur erinnerungsgestützten Einstellungsbildung darstellen. Daher sollten in diesem Fall die verschiedenen an der Einstellungsbildung beteiligten Informationen korrelieren.
314 7.3.1.2
7 Zusammenfassung und Diskussion
Informationsspeicherung
Bei der Informationsspeicherung geht es darum, die unterschiedliche Konstruktverfügbarkeit von Viel- und Wenigsehern herauszufinden. Busselle und Shrum (2001) und Shapiro (1991) zeigten bereits, wie sich dies operationalisieren lässt. Sie baten Personen, Beispiele bestimmter Kategorien (z.B. bestimmte Berufe, Menschen, die bestimmte Dinge erlebt haben, Ereignisse etc.) aufzulisten, wobei die Personen die Möglichkeit hatten, sämtliche Beispiele zu verwenden, unabhängig von ihrer Informationsquelle. Erst im zweiten Schritt sollten sie die Informationsquelle dann angeben. So konnte gezeigt werden, dass Vielseher mehr Fernsehbeispiele gespeichert hatten. Diese Vorgehensweise ist nicht ganz unproblematisch, weil allein die Auflistung von Beispielen möglicherweise dazu führt, dass Personen die ihnen verfügbaren Informationen genauer evaluieren. Auch der Hinweis, dass Beispiele aus den Medien genannt werden können, führt möglicherweise dazu, dass die Antworten verzerrt sind, weil Beispiele aus den Medien dann vielleicht bewusst nicht genannt werden (soziale Erwünschtheit). Eine andere Möglichkeit wäre, lediglich nach einem Beispiel zu fragen und dabei zu betonen, dass die Antwort möglichst schnell gegeben werden soll. Zum einen bildet dies den Wirkungsmechanismus von Verfügbarkeitsheuristiken besser ab, da hier nur das Beispiel relevant ist, das am schnellsten rekrutiert werden kann. Zum anderen dürfte die schnelle Nennung eines Beispiels verhindern, dass die eigene Antwort evaluiert und auf soziale Erwünschtheit hin geprüft wird. Es gibt verschiedene Faktoren, die die Verfügbarkeit von Beispielen beeinflussen. Neben der Fernsehnutzungshäufigkeit sind dies Aktualität der Aktivierung von Beispielen, Auffälligkeit von Beispielen (vgl. z.B. Higgins & King, 1981), aber auch Darstellungs- und Rezeptionsmerkmale (z.B. Realitätsgrad, Identifikation etc.; vgl. Kapitel 7.2.3). Die Merkmale und die Aktualität der Aktivierung lassen sich experimentell manipulieren. Man müsste unterschiedliche Filmausschnitte herstellen, die sich in einem oder wenigen Faktoren unterscheiden, und diese vorführen. Die unterschiedliche Verfügbarkeit entsprechender Fernsehinformationen wäre dann mit Beispiellisten zu prüfen. Ein weiterer Faktor, der im Zusammenhang mit Kultivierungseffekten eine Rolle spielt, ist die chronische Verfügbarkeit von Konstrukten (vgl. Tapper, 1995). Diese ist im Zusammenhang mit der Kultivierung bislang nicht gemessen worden, obwohl eigentlich nur sie in der Lage ist, die postulierte Langfristigkeit von Kultivierungseffekten zu erklären. Hinweise finden sich jedoch aus der Psychologie. So untersuchten Bargh et al. (1988), ob kurzfristige und chronisch verfügbare Konstrukte kognitive Prozesse unterschiedlich beeinflussen und fanden heraus, dass der
7.3 Empirische Umsetzung des Modells
315
Einfluss kurzfristig verfügbarer Konstrukte für kurze Zeit stärker war, dieser Unterschied aber sehr schnell verschwand. Nach einer gewissen Zeit wurden chronisch verfügbare Konstrukte wieder eher zur Urteilsbildung herangezogen. Dies ließe sich dadurch prüfen, dass man Probanden Filmausschnitte zeigt, die Informationen enthalten, die dem gängigen Fernsehbild widersprechen. Hintergrundannahme ist, dass Vielseher chronisch verfügbare Konstrukte haben, die der gängigen Fernsehbotschaft entsprechen. Folgt man den Befunden von Bargh et al. (1988) so müssten sich die kurzfristig aktivierten Beispiele (Beispiele aus dem Stimulusbeitrag) in einer Nachherbefragung (im Anschluss an die Stimuluspräsentation) durchsetzen. Einige Zeit später (z.B. eine Woche) müssten bei den Vielsehern aber wieder die alten – chronisch verfügbaren Konstrukte – dominieren.
7.3.1.3
Informationsaufnahme
In dieser Phase gilt es, zwei Stufen zu unterscheiden: die Fernsehbotschaft selbst und die wahrgenommene Fernsehbotschaft. Betrachten wir diese Faktoren aus dem Blickwinkel von Mikroprozessen, so sind die Operationalisierungsmöglichkeiten naheliegend. Denn aus der Mikroperspektive betrachtet ist nicht relevant, welche Botschaften das Fernsehen insgesamt vermittelt, sondern wie sich einzelne Fernsehbotschaften unter Berücksichtigung von Darstellungs- und Rezeptionsmerkmalen auf wahrgenommene Fernsehbotschaft, Informationsspeicherung und Realitätsbildung auswirken. Es ist in diesem Zusammenhang also nicht notwendig, das gesamte Programmangebot des Fernsehens auf seine Inhalte und Wahrnehmung hin zu untersuchen, da experimentell lediglich der Einfluss ausgewählter Filmbeiträge untersucht werden kann. Ihr Einfluss und die Bedeutung von Darstellungs-, Rezeptionsund Rezipientenmerkmalen lassen sich experimentell bzw. durch Rezeptionsstudien prüfen, indem einzelne Faktoren in Fernsehbeiträgen variiert werden und Rezipienten hinterher gefragt werden, wie sie die Stimulusbeiträge in Bezug auf bestimmte Aspekte wahrgenommen haben (z.B. Gewalthaltigkeit). Eine ähnliche Vorgehensweise stellen Frühs (1995; 2001) funktionale Inhaltsanalysen dar. Diese kombinierten normative Inhaltsanalysen von Gewaltszenen mit Rezeptionsstudien. Inhaltsanalysen dienten zunächst dazu, bestimmte Gewaltszenen auszuwählen, die sich im Hinblick auf bestimmte Merkmale unterschieden. Probanden sahen sich die ausgewählten Gewaltszenen an und bewerteten hinterher ihre Gewalthaltigkeit. Es zeigte sich, dass die Rezipienten die Szenen in Abhängigkeit von bestimmten Darstellungsmerkmalen unterschiedlich wahrnahmen (z.B. Humorgehalt). Auch
316
7 Zusammenfassung und Diskussion
konnten durch Abfrage weiterer Indikatoren Persönlichkeitsmerkmale festgemacht werden, die die Interpretation der Fernsehbotschaften beeinflussten (Früh, 1995, 2001b). Dies ließe sich auch darauf anwenden, die verschiedenen postulierten Rezeptionsmerkmale auf ihren Einfluss hin zu untersuchen (z.B. Themen- und Prozessinvolvement).
7.3.2
Makroprozess
Sollen Kultivierungseffekte jedoch makroskopisch untersucht werden – und dies ist ja die eigentliche Perspektive des Kultivierungsansatzes – so gilt es, besonders der Operationalisierung von Fernsehbotschaft, wahrgenommener Fernsehbotschaft und Fernsehnutzung Beachtung zu schenken.
7.3.2.1
Fernsehbotschaft und Fernsehwahrnehmung: Metabotschaft
Bisherige Kultivierungsstudien erfassten die Fernsehbotschaft – wenn überhaupt – meist durch quantitative Inhaltsanalysen, die die Häufigkeit verschiedener Personen, Ereignisse oder Verhaltensweisen auszählten. Dahinter steckt die Hypothese, dass Vielseher die Häufigkeit der Konstrukte überschätzen, die das Fernsehen dominieren. Je nach Thema werden bestimmte Genres inhaltsanalytisch untersucht oder – seltener – das gesamte Fernsehangebot. Diese Vorgehensweise ist in zweierlei Hinsicht problematisch: (1)
(2)
In Abhängigkeit von der Fragestellung sind verschiedene Aggregierungsniveaus angemessen, um Kultivierungseffekte zu untersuchen. Bisherige Kultivierungsstudien untersuchten entweder den Einfluss der allgemeinen Fernsehnutzung oder – wie in aktuelleren Studien meist der Fall – den Einfluss einzelner Genres. Selten machen sich Forscher jedoch die Mühe, das gesamte Programmangebot zu untersuchen, um herauszufinden, auf welcher Ebene die Botschaften gleichförmig sind und auf welcher Ebene unterschiedlich. Rezipienten nehmen Fernsehinhalte unterschiedlich wahr und interpretieren sie unterschiedlich (vgl. z.B. Newcomb, 1978). Als Forscher dürfen wir nicht davon ausgehen, dass die Kategorien, die wir unseren Inhaltsanalysen normativ zugrunde legen, auch den Wahrnehmungskategorien der Zuschauer entsprechen. Für die Analyse der Fernsehbotschaft reicht es daher nicht aus, lediglich Häufigkeiten normativ entwickelter Kategorien auszuzählen.
7.3 Empirische Umsetzung des Modells
317
Der Schlüssel für die Lösung beider Aspekte liegt in der Identifikation von Metabotschaften. Auf Seiten des Fernsehangebots bedeutet das, zunächst herauszufinden, welcher Differenzierungsgrad angemessen ist. Die mögliche Spannweite reicht von einzelnen Informationen über Akteure, Sendungen, Genres bis hin zum gesamten Fernsehangebot. Botschaften lassen sich auf allen möglichen Abstraktionsniveaus feststellen. Abhängig ist der Differenzierungsgrad vom Thema bzw. speziellen Aspekten des Themas. Interessieren wir uns beispielsweise für die Frage, welchen Einfluss das Fernsehen auf die Wahrnehmung von Homosexualität hat, so werden wir theoretisch zunächst herleiten, welche Indikatoren dieser Frage zugrunde liegen: z.B. liberale Einstellung zur Homosexualität, Einschätzung des Anteils von Homosexuellen in der Bevölkerung, Wahrnehmung ihres Aussehens und ihrer Eigenschaften. Im nächsten Schritt muss durch Inhaltsanalysen des gesamten Programmangebots festgestellt werden, wie diese Indikatoren im Fernsehen dargestellt werden. Dabei könnte sich zeigen, dass homosexuelle Frauen und Männer im gesamten Programmangebot des Fernsehen häufiger vorkommen als früher (dies bestätigte Gross, 2001; 2005). Eine mögliche Metabotschaft auf der Ebene des gesamten Fernsehangebots wäre also, dass die Anzahl von homosexuellen Frauen und Männern in der Bevölkerung zugenommen hat. Denkbar ist auch, dass Zuschauer daraus die Botschaft ableiten, dass die Gesellschaft im Umgang mit Homosexualität liberaler wird (vgl. Nisbet & Shanahan, 2005). Untersucht man jedoch konkretere Fragen, um etwa den Einfluss des Fernsehens auf stereotype Vorstellungen beim Publikum zu messen, so wird sich zeigen, dass hier ein höherer Differenzierungsgrad angemessen ist: Während Comedy-Sendungen und humoristische Spielfilme eher mit den Klischees arbeiten und schwule Männer recht ‚tuntig’ darstellen, lassen sie sich in anderen Spielfilmen (z.B. „Philadelphia“) oder der Serie „Queer as Folk“ rein äußerlich nicht von heterosexuellen Männern unterscheiden. Damit lassen sich auf Basis der von Programmmachern definierten Genres (Spielfilme, Serien, Talkshows etc.) keine einheitlichen Metabotschaften festmachen. Die geeignete Messebene ist nicht das Genre. Hier sind andere Aggregationsmerkmale ausschlaggebend, etwa eine Zusammenfassung von Comedy-Sendungen und humoristischen Filmen. Das bedeutet: Je nach Thema ist zunächst zu untersuchen, welche Sendungen ein Thema wie darstellen, um auf dieser Basis das ausschlaggebende Aggregationsniveau festmachen zu können. Bei recht spezifischen Fragen, wie der Darstellung von Aussehen, Eigenschaften und Verhalten homosexueller Menschen im Fernsehen, werden die Metabotschaften auf einem hohen Differenzierungsniveau liegen, möglicherweise sogar auf Sendungsebene. Es kann vorkommen, dass es eben nicht
318
7 Zusammenfassung und Diskussion
Genres sind, die die gleichen Metabotschaften vermitteln, sondern Genregruppen oder Sendungsgruppen, die nicht den klassischen Genreklassifikationen entsprechen. Nur so sind aber auch Metabotschaften identifizierbar, die das gesamte Fernsehangebot gleichförmig präsentiert. Die so identifizierten Botschaften des Fernsehens werden aber nicht dem Problem gerecht, dass sie vom Publikum unterschiedlich wahrgenommen werden. Folgt man Gurevitch und Levy (1986) und Vlasic (2004) so implizieren Metabotschaften die Wahrnehmung des Publikums. Gurevitch und Levy (1986: S. 62) definieren Metabotschaften als latente Inhalte, die in die Dekodierung massenmedialer Botschaften durch das Publikum eingebettet sind und die aggregierte Struktur individuell erzeugter Inhalte mit makrosozialen Phänomenen verknüpfen. Einfacher drückt das Vlasic (2004: S. 208) aus: Das Konzept der Metabotschaften umfasst demnach die Identifizierung größerer abstrahierender Muster aus den medialen Botschaften und ihre Anbindung an die Wahrnehmung der Zuschauer. Theoretisch abgeleitete und inhaltsanalytisch identifizierte Metabotschaften müssen also auf ihre Existenz bzw. Relevanz bei den Individuen hin überprüft werden. Ein fruchtbarer Ansatz findet sich in Frühs (2001b) Rezeptionsstudie zur Gewaltwahrnehmung. Diese ging nach der Feststellung, wie einzelne Gewaltszenen von den Rezipienten wahrgenommen werden (s.o.), einen Schritt weiter. Sie kombinierte die Befunde aus Inhalts- und Rezeptionsanalyse und ermittelte so das „zielgruppenspezifische Stimuluspotenzial“ (ebd.: S. 67). Jede Gewaltvariante erhielt einen spezifischen in der Rezeptionsstudie ermittelten „Rezeptionswert“ (ebd.: S. 182), mit dem die inhaltsanalytisch identifizierten Gewaltakte gewichtet wurden. Auf diese Weise konnte für jedes Programm der durch das Publikum wahrgenommene Gewaltgehalt vorhergesagt werden. Wie die Studie zeigte, können normative identifizierte und wahrgenommene Botschaft deutlich voneinander abweichen. So nahm das Publikum Sport und Nachrichten etwa gewalthaltiger wahr als Filme und Serien. Vor allem bei Sportsendungen wich diese Wahrnehmung ganz deutlich von den inhaltsanalytisch ermittelten Befunden ab. Diese ergab nämlich, dass Sport zu den Genres gehört, die am wenigsten Gewalt enthalten. Diese Befunde zeigen, wie wichtig es ist, die wahrgenommene Fernsehbotschaft zu identifizieren. Hypothesen über den Einfluss des Fernsehens auf die Realitätswahrnehmung, die auf Basis der klassischen normativ angelegten Inhaltsanalysen generiert werden, können nur defizitär sein, wenn sie nicht berücksichtigen, ob die Rezipienten die Fernsehinhalte genauso wahrnehmen, wie es die vom Forscher vorgegebenen Kategorien nahelegen. Eine angemessene Identifizierung der Fernsehbotschaft sollte also die folgenden Untersuchungsschritte umfassen.
7.3 Empirische Umsetzung des Modells
319
Identifikation der relevanten Metabotschaften des Fernsehens auf Basis herkömmlicher inhaltsanalytischer Verfahren: Das relevante Fernsehmaterial wird zunächst in der bekannten Weise inhaltsanalytisch untersucht. Dabei ist es entscheidend, zu identifizieren, welche Botschaften auf welchem Aggregierungsniveau einheitlich dargestellt werden und auf welchen Ebenen sie sich unterscheiden. Identifikation der Rezipientenwahrnehmung: Im nächsten Schritt ist die Wahrnehmung der Rezipienten zu prüfen, indem Filmsequenzen vorgeführt werden, die ein möglichst breites Spektrum identifizierter Botschaften enthalten, und diese von den Rezipienten im Hinblick auf die Wahrnehmung der relevanten Botschaften bewertet werden. Gewichtung und Aggregierung: Auf Basis der Rezipientenwahrnehmung lässt sich somit ein Rezeptionswert für einzelne Sendungen oder Genres ermitteln, mit dem Genres oder jeweils relevante Aggregierungsebenen gewichtet werden. Aus diesen Befunden lassen sich konkrete Hypothesen über den Einfluss des Fernsehens generieren. Kultivierungsstudie: Die Erfassung der Realitätswahrnehmung basiert auf den herkömmlichen Vorgehensweisen. In der Auswertung der Zusammenhänge jedoch werden die Befunde aus der Rezeptionsstudie verwendet, um den Einfluss von Genres oder anderen Aggregierungsebenen mit den Rezeptionswerten zu gewichten.
Diese Vorgehensweise ermöglicht es, Mikroebene (Einfluss einzelner Darstellungsmerkmale) und Makroebene zu verbinden. Das verbindende Element liegt in der Rezipientenwahrnehmung, die den Einfluss einzelner Darstellungsmerkmale impliziert und übergreifende Wahrnehmungs- und somit Botschaftsmuster abbildet. Auf diese Weise kann der Einfluss von Botschaftsmerkmalen auch in makroperspektivisch angelegten Kultivierungsstudien berücksichtigt werden.
7.3.2.2
Fernsehnutzung
Die Forderung, von der Identifizierung einzelner mikroskopischer Botschaften wegzukommen, impliziert auch, dass die Fernsehnutzung der Rezipienten nicht mehr mikroskopisch und nach Sendungen oder Genres getrennt erfasst wird, sondern sich an den Metabotschaften orientiert. Genres sind nur dann das richtige Maß, wenn es darum geht, den Einfluss von Botschaften zu ermitteln, die ausschließlich in einem bestimmten Genre vorkommen. Gilt es, Metabotschaften einer höheren Ebene zu erfassen, so kann die Nutzung einzelner Genres immer nur einen Teil des Ganzen erfassen.
320
7 Zusammenfassung und Diskussion
Früh (2002) fordert in seiner molaren Theorie eine sinnhafte Komplexion von Variablen. Dies lässt sich auf die Botschaften selbst genauso wie auf die Rezeption dieser Botschaften anwenden. Die beteiligten Variablen sind dabei nicht einzeln zu betrachten, sondern zu einem größeren Ganzen zu gruppieren. Anstatt lediglich die Genrenutzungshäufigkeit zu erfassen, kann man die Genreanteile (an der Gesamtfernsehnutzung, vgl. Potter & Chang, 1990; Woo & Dominick, 2001) messen. Dies wird der Forderung nach einer Betrachtung von größeren Mustern eher gerecht, als wenn man lediglich die Genrenutzungshäufigkeit abfragt. Fernsehinhalte, die über die direkt abgefragten Genres hinausgehen, werden jedoch in Genreanteilen nur ungenau abgebildet. Inhaltlich lässt sich über die übrige Fernsehnutzung nichts aussagen. Wie zahlreiche Studien zeigten, nutzen die Zuschauer bestimmte Genres häufiger, andere selten. Diese Präferenzen bleiben in der Regel über eine längere Zeit hinweg stabil (vgl. z.B. Brosius, Wober & Weimann, 1992). Präferenzen und Fernsehnutzungsverhalten lassen sich daher gut in Genremenüs abbilden. Für die konkrete Umsetzung ist es notwendig, nicht nur die Nutzung einzelner Genres zu erfassen, sondern das gesamte Genrespektrum oder sogar alle Sendungen. Die Botschaften können entweder auf Sendungs- oder Genreniveau oder auf anderen Aggregierungsebenen gleichförmig sein. Somit hängt die Kategorisierung zur Erfassung der Fernsehnutzung vom Aggregierungsniveau der Metabotschaften ab. Nach angemessener Abfrage der Fernsehnutzung lässt sich diese nun zu einzelnen Nutzungsmenüs verdichten. Etwa über Clusteranalysen, in die die allgemeine Fernsehnutzungsdauer und die Genrenutzung eingeht, ließen sich Zuschauertypen bilden, die über die reine Unterscheidung von Viel- und Wenigsehern genauso hinausgehen wie über die Unterscheidung von Zuschauern, die ein bestimmtes Genre präferieren oder nicht. Und dies würde dem bisherigen Manko von Kultivierungsstudien in beiden Richtungen gerecht. Denn auf diese Weise werden Selektivität und Genrepräferenzen der Zuschauer erfasst und es wird der Forderung nach einer Identifikation der Fernsehnutzung Rechnung getragen, die nicht nur die allgemeine Fernsehnutzung erfasst, sondern spezifische Präferenzen berücksichtigt. Gleichzeitig zollt diese Vorgehensweise der häufig von Gerbner und Kollegen geäußerten Kritik Tribut, dass die reine Abfrage der Genrenutzung den eigentlichen Grundgedanken der Kultivierungshypothese als Sozialisationsinstanz aushebelt. Die Erfassung von Genre- oder Fernsehnutzungsmenüs wahrt diesen Grundgedanken, indem sie die Genrenutzung nicht kleinteilig berücksichtigt, sondern zu übergreifenden Genremenüs verdichtet.
7.3 Empirische Umsetzung des Modells
7.3.2.3
321
Makroebene und psychische Prozesse
Die meisten im Modell vorgeschlagenen Determinanten und Prozesse lassen sich in mikroskopisch angelegten Studien besser untersuchen. Einzelne Aspekte können jedoch auch in makroskopisch angelegten Befragungen umgesetzt werden.
Konstruktverfügbarkeit: Indikatoren für die Verfügbarkeit von Informationen sind Antwortgeschwindigkeit und Beispiellisten. Die Antwortgeschwindigkeit lässt sich in groß angelegten Befragungen nicht messen, durchaus kann man die Personen aber bitten, ein oder mehrere Beispiele für bestimmte Konstrukte anzugeben, um den Einfluss verfügbarer Beispiele in größer angelegten Studien messen zu können. Häufigkeit und Aktualität als Determinanten der Konstruktverfügbarkeit: Die Häufigkeit der Aktivierung von Konstrukten im Gedächtnis wird in der Kultivierung über Fernsehbotschaft und Fernsehnutzung erfasst. Aber auch die Aktualität lässt sich messen, indem Rezipienten gefragt werden, was sie am Vortag gesehen haben. Signifikante Zusammenhänge der Fernsehnutzung am Vortag mit den Realitätsurteilen deuten dann darauf hin, dass die entsprechenden Konstrukte kurzfristig verfügbar sind. Wege der Urteilsbildung: Der beste Indikator für heuristische oder systematische und erinnerungsgestützte oder on-line gebildete Urteile ist die Antwortgeschwindigkeit, die sich wie bereits erwähnt in groß angelegten Studien nicht messen lässt. Dies kann lediglich über andere Indikatoren wie das Themeninvolvement oder Befragungsinstruktionen entweder induziert werden oder abgeleitet werden. Die Frage, ob Einstellungen on-line oder erinnerungsgestützt gebildet wurden, lässt sich ermitteln, indem Zusammenhänge zwischen Kultivierungsurteilen erster und zweiter Ordnung überprüft werden. Lassen sich keine Zusammenhänge feststellen, ist zu vermuten, dass die Einstellungen online gebildet wurden (s.o.). Einstellungen: Die Fernsehnutzung beeinflusst nicht nur die Ausprägung von Einstellungen, sondern auch ihre Stärke. Einstellungsstärke wiederum korreliert damit, wie sicher man sich der eigenen Einstellung ist. Somit bildet die Urteilssicherheit ebenfalls einen Indikator für on-line gebildete Kultivierungseffekte zweiter Ordnung.
In einer einzigen Studie lässt sich das vorgeschlagene Modell nicht prüfen, aber wie das vorangegangene Kapitel zeigt, gibt es zahlreiche Ansatzpunkte, die einzelnen dem Modell zugrunde liegenden Postulate in mehreren Studien zu prüfen. Nicht alle Möglichkeiten wurden diskutiert. Aber es sollte sich gezeigt haben, dass es
322
7 Zusammenfassung und Diskussion
möglich ist, die verschiedenen am Kultivierungseffekt beteiligten Prozesse zu prüfen. Ansatzpunkte für neue Studien sind in hoher Zahl vorhanden, bleibt zu hoffen, dass sie auch genutzt werden.
7.4
Anwendbarkeit auf andere Medienwirkungstheorien
Das dargestellte Modell der Informationsverarbeitung ist nicht allein beschränkt auf die Erklärung von Kultivierungseffekten. Es eignet sich auch dafür, andere Medienwirkungstheorien zu erklären, die auf (meist relativ undefinierten) lerntheoretischen Überlegungen basieren. Beispielhaft sei dies am Fallbeispieleffekt und am Agenda-Setting-Ansatz verdeutlicht.
7.4.1
Fallbeispieleffekt
Die naheliegendste Verwandtschaft besteht zwischen Kultivierungseffekten und dem Fallbeispieleffekt (vgl. Brosius, 1995; Zillmann & Brosius, 2000; Daschmann, 2001). Fallbeispiele beschreiben eine journalistische Darstellungsform, die abstrakte Sachverhalte mit der Beschreibung Betroffener oder beispielhaft wiedergegebener Meinungen von Außenstehenden veranschaulicht. Die auch als Interview mit dem „Mann auf der Straße“ bekannten Fallbeispiele werden eingesetzt, um beispielsweise einer Reportage Authentizität und Lebhaftigkeit zu verleihen. Die Wirkung von Fallbeispielen wird seit etwa Anfang der neunziger Jahre untersucht. Dabei wird der Einfluss der einzelnen Fallbeispiele experimentell mit dem Einfluss summarischer Realitätsbeschreibungen verglichen, die einen Sachverhalt mit Tatsachen, Zahlen und Fakten abstrakt und systematisch beschreiben. Man würde eigentlich annehmen, dass rational denkende Menschen den statistisch valideren Realitätsbeschreibungen mehr Bedeutung beimessen und von ihnen stärker beeinflusst werden. Tatsächlich aber beeinflussen Fallbeispiele, die auf den nicht repräsentativen Meinungen einzelner Personen beruhen, die Wahrnehmung eines Problems stärker als die summarischen Realitätsbeschreibungen. Diese Beobachtung wird als Fallbeispieleffekt bezeichnet. Fallbeispiele beeinflussen jedoch nicht nur Meinungen, sondern auch Realitätsvorstellungen, konkret: Ansichten über Häufigkeiten und Meinungsklimata, Einschätzungen von Risiken, Dringlichkeit von Problemen oder die Zuweisung von Schuld und Verantwortung (Daschmann, 2001: S. 325).
7.4 Anwendbarkeit auf andere Medienwirkungstheorien
323
Die abhängigen Variablen des Fallbeispieleffekts sind eng verwandt mit dem, was die Kultivierungsforschung unter dem Dach der Realitätswahrnehmung untersucht. Daher ist es naheliegend anzunehmen, dass die beiden Effekte auf ähnliche Wirkungsmechanismen zurückgehen. So ist im Zusammenhang mit dem Fallbeispieleffekt der folgende Prozess denkbar:
Die Rezipienten lesen einen Zeitungsartikel, beispielsweise über eine neu in Kraft tretende Prüfungsordnung für Magisterstudiengänge (vgl. Daschmann, 2001: S. 238ff.; Experiment 4). Der Artikel enthält Fallbeispiele, die die neue Studienordnung entweder gut finden oder sie ablehnen. Diese Beispiele werden im Gedächtnis als kognitive Einheiten (Studierende), die mit anderen kognitiven Einheiten verknüpft sind (Studienordnung; positive oder negative Bewertung), gespeichert. Je mehr Fallbeispiele präsentiert werden, die eine bestimmte Meinung zu dem Thema haben, desto häufiger werden die entsprechenden kognitiven Einheiten aktiviert und desto stärker wird ihre Verknüpfung: Diese Konstrukte sind dann schneller verfügbar als andere. Lesen die Rezipienten beispielsweise einen Artikel, der vier Fallbeispiele präsentiert, die gegen die Studienordnung sind, und nur eines, welches dafür ist, so wird die Verknüpfung „Student – Studienordnung – contra“ stärker sein als die Verknüpfung „Student – Studienordnung – pro“. Eine typische abhängige Variable aus Fallbeispielstudien ist das wahrgenommene Meinungsklima. Dieses wird abgefragt, indem Probanden etwa angeben, wie hoch sie den Anteil derer einschätzen, die die neue Studienordnung gut finden. Was passiert also? Die Probanden suchen im Gedächtnis nach relevanten Konstrukten. Bei Personen, die die Contra-Version gelesen haben, sind die Konstrukte „Student – Studienordnung – Contra“ am stärksten verknüpft, diese Verknüpfung ist schneller verfügbar. Der Anteil derjenigen, die gegen die Studienordnung sind, wird entsprechend hoch eingeschätzt. In der Pro-Version ist es genau umgekehrt. Häufig zeigen Fallbeispieleffekte auch einen Einfluss auf die persönliche Meinung (in dem zitierten Experiment konnte kein signifikanter Effekt, aber eine Tendenz festgestellt werden, ebd.: S. 247; eine Reihe anderer Untersuchungen bestätigen diesen Zusammenhang jedoch). Auch dies lässt sich mit den diskutierten psychischen Prozessen erklären. Die dargestellten Fallbeispiele aktivieren die Verknüpfung zwischen der kognitiven Einheit des Themas (Studienordnung) und ihrer Bewertung (Pro/Contra) im Gedächtnis der Leser. Damit steigt je nach Fallbeispielverteilung die Verfügbarkeit einer bestimmten Objekt-Bewertungsrelation. Die entsprechende Einstellung ist bei der Meinungsabfrage leichter verfügbar und wird als Meinung wiedergegeben.
324
7 Zusammenfassung und Diskussion
Dieser Prozess könnte auch erklären, weshalb Fallbeispieleffekt nicht für bestimmte Drittvariablen anfällig ist. So ist der Fallbeispieleffekt nicht abhängig vom zu beurteilenden Sachverhalt. Er kann bei unwichtigen, wenig relevanten und unstrittigen Themen genauso auftreten, wie bei bedeutsamen, gesellschaftlich relevanten und kontroversen Themen. Auch sind die Einflüsse weitgehend unabhängig von Rezipientenmerkmalen. Sie treten bei hoch und niedrig involvierten Rezipienten gleichermaßen auf. Dasselbe gilt im Prinzip für Kultivierungseffekte – auch sie treten bei allen denkbaren Themen auf, auch sie lassen sich beobachten, wenn das Thema relevant ist oder nicht, und wenn Rezipienten hoch involviert sind oder nicht. Entscheidend ist aber, dass je nach Bedingung Kultivierungseffekte auf unterschiedlichen Wegen entstehen – heuristisch oder systematisch, erinnerungsgestützt oder on-line. Es wäre zu prüfen, ob sich diese Überlegungen auch auf Fallbeispieleffekte anwenden lassen. So wäre denkbar, dass Fallbeispieleffekte bei niedrigem Involvement auf der Verfügbarkeitsheuristik basieren und bei hohem Involvement aus allen verfügbaren Beispielen quasi errechnet werden. Dies bleibt jedoch zu prüfen. Insgesamt jedoch lassen sich die psychischen Prozesse auch auf die Erklärung von Fallbeispieleffekten anwenden. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass Fallbeispieleffekt und Kultivierung gleichzusetzen sind. Daschmann (2001) nannte fünf Gründe, die gegen eine Gleichsetzung der beiden Ansätze sprechen. Diese sollen im folgenden vor dem Hintergrund der dargestellten Überlegungen zur Kultivierung erneut diskutiert werden: (1)
Wirkungsdauer: Fallbeispieleffekte sind kurzfristige Wirkungen, die in der Regel
spätestens nach zwei Wochen verschwinden und experimentell prüfbar sind. Bei der Kultivierung handelt es sich um langfristige Wirkungen, die sich experimentell nicht prüfen lassen. Die der Kultivierung zugrunde liegenden psychischen Prozesse lassen sich durchaus experimentell prüfen. Anders ausgedrückt: Kurzfristige ‚Kultivierungseffekte’ sind auch experimentell nachweisbar, diese verschwinden jedoch nach kurzer Zeit. Es handelt sich um eine Definitionsfrage, ob es sich dabei noch um Kultivierungseffekte handelt oder um Fallbeispieleffekte, die gemessen werden. Umgekehrt bedeutet die Tatsache, dass beim Fallbeispieleffekt bislang keine langfristigen Wirkungen gemessen wurden, nicht zwangsläufig, dass es sie nicht gibt. Kurzfristige Effekte lassen sich in beiden Ansätzen gleichermaßen erklären: Die kurzfristige Rezeption von Beispielen wirkt sich auf die Konstruktverfügbarkeit durch die Häufigkeit und die Aktualität der Aktivie-
7.4 Anwendbarkeit auf andere Medienwirkungstheorien
325
rung aus. Werden Konstrukte kurzfristig mehrmals aktiviert, dann aber lange Zeit nicht mehr, so nimmt ihre Verfügbarkeit wieder ab. Die Effekte verschwinden wieder – ob man sie nun als Fallbeispieleffekte misst oder als Kultivierungseffekte. Für die Kultivierung spezifisch ist nun, dass Vielseher bestimmter Genres den Beispielen häufig und langfristig ausgesetzt werden. Die Konstrukte werden chronisch verfügbar, d.h. sie bleiben auch dann länger verfügbar, wenn sie nicht mehr aktiviert wurden. Dieser Effekt wäre im Zusammenhang mit dem Fallbeispielansatz theoretisch genauso denkbar (vgl. Zillmann & Brosius, 2000). (2)
Fiktionalität: Die Kultivierungshypothese bezieht sich, so Daschmann (2001),
vor allem auf fiktionale Darstellungen. Fallbeispiele sind hingegen per se für nonfiktionale Settings definiert: „Wenn sämtliche Teile der Darstellung erfunden sind, kann kein Teil der Darstellung die Instrumentalisierung eines realen Einzelfalls darstellen.“ (ebd.: S. 322) Nach dem heutigen Forschungsstand ist die Kultivierung durchaus nicht mehr nur auf fiktionale Fernsehsendungen beschränkt. Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit von Kultivierungseffekten auch im Zusammenhang mit nonfiktionalen Fernsehsendungen. Der Unterschied liegt hier darin, dass sich die Fallbeispielforschung per definitionem auf nonfiktionale Inhalte beschränkt. (3)
Kumulation: Die Kultivierungshypothese beschreibt einen kumulativen Effekt, bei dem die Gleichartigkeit vieler Einzelfalldarstellungen als Auslöser vermutet wird. Eine kumulative Wirkung von Fallbeispielen ist hingegen bislang nicht geprüft worden.
Auf diesen Aspekt trifft die gleiche Argumentation zu wie im Zusammenhang mit der Langfristigkeit von Effekten. Dass kumulative Wirkungen nicht geprüft wurden, bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. (4)
Rezeption: Rezeption und Selektion stellen bei der Kultivierung intervenierende Variablen dar, die darüber entscheiden, welche Zusammenstellung von Einzelbeispielen die Zuschauer kumulativ wahrnehmen. Wendet sich ein Rezipient einem abgeschlossenen Beitrag zu, so kann er sich der Rezeption von Fallbeispielen nicht mehr entziehen. „Daraus folgt, dass sich die Zusammensetzung der wahrgenommenen Einzelfälle beim Kultivierungsansatz aus dem
326
7 Zusammenfassung und Diskussion
Handeln des Rezipienten, beim Fallbeispielansatz aus dem Handeln des Journalisten ergibt.“ (ebd.: S. 323) Dieses Argument ist diskussionsbedürftig: Denn der beschriebene Unterschied bezieht sich letztlich vorwiegend darauf, wie Kultivierungs- und Fallbeispieleffekte untersucht werden. Fallbeispieleffekte wurden bislang lediglich mikroperspektivisch untersucht, man legt Versuchspersonen beispielsweise einen Zeitungsartikel vor. Zwangsläufig folgt daraus, dass Rezipienten dann nicht mehr darüber bestimmen können, welche Fallbeispiele sie rezipieren. Kultivierungsstudien, die experimentell vorgehen, tun im Prinzip nichts anderes: Sie führen Fernsehmaterial vor, die bestimmte Beispiele zeigen, und der Rezipient hat nicht mehr die Wahl, ob er sie rezipiert oder nicht. Betrachtet man Fallbeispieleffekte jedoch im Kontext alltäglicher Medienrezeption, so passiert letztlich nichts anderes als in der Kultivierung. Im Kontext des Fallbeispieleffekts heißt das: Rezipienten bestimmten darüber, welche Zeitung sie lesen und welchen Artikel und werden mit dem in den Artikeln präsentierten Fallbeispielen konfrontiert. Im Kontext der Kultivierung ist es nicht anders: Rezipienten selektieren bestimmte Genres oder Sendungen und werden mit den darin enthaltenen Beispielen konfrontiert. (5)
Kontext der Fallbeispiele: Fallbeispiele, die im Fallbeispielansatz beschrieben
werden, werden stets im Zusammenhang mit generalisierenden Hinweisen präsentiert, die deutlich machen, dass die Aussagekraft der Einzelfälle über den Einzelfall hinausgeht. Bei Kultivierungsprozessen stehen die Einzelfälle nicht für generalisierende Aussagen, sondern sie stehen für sich. „Ob der Rezipient ihnen die Funktion eines Beispiels zuordnet, ist allein ihm anheim gestellt“ (ebd.: S. 324). Dies mag per definitionem einen Unterschied zwischen Kultivierung und Fallbeispieleffekt darstellen. Vor dem Hintergrund der psychischen Prozesse wird jedoch deutlich, dass es keine Rolle spielen dürfte, ob es solche Hinweise gibt oder nicht. Denn die Aktivierung von gespeicherten Konstrukten im Gedächtnis, die Fallbeispieleffekte genauso erklären dürfte wie Kultivierungseffekte, passiert unterbewusst. Egal, ob Rezipienten sich der Validität der Beispiele bewusst sind, ihre Wahrnehmung verstärkt ihre Verfügbarkeit im Gedächtnis so oder so.
7.4 Anwendbarkeit auf andere Medienwirkungstheorien
327
Nicht alle der genannten Gründe, Fallbeispieleffekt und Kultivierung nicht gleichzusetzen, sind nach dem aktuellen Forschungsstand zur Kultivierung durchschlagend. Dies bedeutet jedoch nicht, dass hier dafür plädiert wird, beide Ansätze zu vermischen. Es bestehen nach wie vor Unterschiede, die es zu verfolgen gilt. Die dargestellten Gemeinsamkeiten sind jedoch Rechtfertigung genug, die für die Kultivierung verantwortlichen psychischen Prozesse für den Fallbeispieleffekt fruchtbar zu machen.
7.4.2
Agenda-Setting
Agenda-Setting (vgl. Brosius, 1994; Eichhorn, 1996; Rössler, 1997) und Kultivierung haben auf den ersten Blick weniger gemein als Fallbeispieleffekt und Kultivierung. Wie der Fallbeispielansatz bezieht sich Agenda-Setting auf nonfiktionale Inhalte. Die Kultivierung impliziert auch nonfiktionale Inhalte, beschränkt sich aber nicht darauf. Vor allem aber unterscheiden sich die beiden Ansätze in der abhängigen Variable. Denn Agenda-Setting beschäftigt sich mit dem Einfluss der Medien auf die wahrgenommene Wichtigkeit eines Themas. Dennoch lassen sich beim Agenda-Setting ähnliche psychische Prozesse vermuten – sogar noch eher als beim Fallbeispieleffekt, da es sich beim AgendaSetting um einen makroperspektivisch angelegten Ansatz handelt. Zu AgendaSetting-Effekten kommt es dadurch, dass zu einem Zeitpunkt bestimmte Themen die Medien-Agenda dominieren. Rezipienten werden zu diesem Zeitpunkt vermehrt mit einzelnen Themen konfrontiert. Dies führt zunächst dazu, dass Rezipienten diese Themen im Gedächtnis speichern. Durch die häufige Präsenz dieser Themen in den Medien werden die entsprechenden Konstrukte im Gedächtnis immer wieder aktiviert, sie werden verfügbarer als andere Themen. Werden Rezipienten nun danach gefragt, welche Themen sie aktuell für wichtig halten, so werden auch sie auf die im Gedächtnis verfügbaren Konstrukte zurückgreifen und aufgrund von Verfügbarkeitsheuristiken das oder die Themen nennen, die am schnellsten verfügbar sind (für die Bedeutung verfügbarer Konstrukte für den Agenda-Setting Effekt vgl. auch Willnat, 2000). Second-Level Agenda Setting postuliert, dass die Dominanz von Themen in den Medien nicht nur einen Einfluss auf die wahrgenommene Wichtigkeit von Themen hat, sondern auch auf Meinungen wie die Beurteilung von Politikern. Iyengar und Simon (1993) führten Anfang der neunziger Jahre zur Zeit der Golfkrise ein soziales Experiment durch. Sie untersuchten die Berichterstattung der Fernsehnachrichten über einen Zeitraum von einem knappen Jahr (vor und wäh-
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7 Zusammenfassung und Diskussion
rend des Golfkrieges). Verschiedene Umfragen erfassten u.a. die BevölkerungsAgenda und die Beurteilung des amerikanischen Präsidenten. Einhergehend mit der Berichterstattung standen bis zum Ausbruch des Golfkriegs vor allem die Themen Verbrechen, Wirtschaft und Haushalt in der Bevölkerungs-Agenda ganz oben, nach Ausbruch des Golfkriegs bildete dieser das dominante Thema. Auch die Beurteilung des Präsidenten veränderte sich, denn er wurde nach Ausbruch des Krieges besser bewertet als vorher. Diese Beobachtung wird in der Literatur mit Priming-Effekten erklärt. Die Medien „primen“ bestimmte Themen, auf deren Basis der Präsident dann beurteilt wird. Dies lässt sich veranschaulichen, wenn wir uns einmal mehr in Erinnerung rufen, wie Gedächtnisinhalte gespeichert sind. Sie sind in einem assoziativen Netzwerk gespeichert, das kognitive Einheiten miteinander verknüpft. Werden Präsident und bestimmte Themen zusammen präsentiert, werden beide Einheiten im Gedächtnis aktiviert und miteinander verknüpft. Je nachdem, welches Thema die mediale Berichterstattung dominiert, ist die Verknüpfung zwischen Präsident und bestimmten Themen unterschiedlich stark ausgeprägt. Vor der Golfkrise wurde der Präsident häufiger im Kontext innenpolitischer Themen dargestellt, weshalb diese Themen bei der Frage nach dem Präsidenten schneller aktiviert wurden als andere. Nach der Golfkrise war die Verknüpfung zwischen Präsident und außenpolitischen Themen stärker, so dass er vor dem Hintergrund seines außenpolitischen Agierens beurteilt wurde. Wenn sich die vorgeschlagenen psychischen Prozesse auch auf andere Medienwirkungstheorien anwenden lassen, so soll damit nicht dafür plädiert werden, alle Ansätze in einen Topf zu schmeißen. Der Blick in die Informationsverarbeitungsprozesse bei der Kultivierung dürfte jedoch dazu beitragen, die Gültigkeit des Ansatzes zu unterstreichen. Genauso verhält es sich bei anderen Ansätzen. Erklärungskraft und Erklärbarkeit jeder Theorie stößt an ihre Grenzen, solange nicht geklärt ist, was sich im Gedächtnis der Rezipienten genau abspielt. Dies gilt für die Kultivierung genauso wie für alle anderen Medienwirkungstheorien.
7.5
Limitationen
„Der Vorhang fällt und alle Fragen offen“ – in mancher Hinsicht möchte man dies mit Bertold Brecht sagen, wenn man auf die Arbeit zurückblickt und sich mit ihren Limitationen beschäftigt. Das entstandene Modell erschließt sich logisch aus den bisherigen Erkenntnissen – der Kommunikationswissenschaft und der Psychologie. Doch es konnten nicht alle Fragen vollständig beantwortet werden und das Modell entbehrt ebenfalls nicht jeder Kritik.
7.5 Limitationen
329
Blicken wir zunächst einmal zurück auf die Kapitel zum Einfluss von Darstellungs- und Rezeptionsmerkmalen. Ausgangspunkt für eine erneute Auseinandersetzung mit Einflussfaktoren wie Nutzungsaktivität, Involvement etc. war die Beobachtung, dass die bisherigen Befunde zu disparat waren, um eindeutige Schlüsse auf ihre Wirksamkeit zu ziehen: Eine dominante Einflussrichtung ließ sich bei keinem der Merkmale festmachen. Ziel war es daher, Muster zu entdecken, die erkennen lassen, unter welchen Bedingungen, welche Einflussfaktoren wie wirksam werden. Sieht man sich die einzelnen Abschnitte zum Einfluss der Merkmale noch einmal rückblickend an, so stolpert man jedoch einmal mehr über eines der wohl meistbemühten Zitate der Literaturgeschichte: „Da steh ich nun, ich armer Thor, und bin so klug als wie zuvor!“ (J.W. Goethe) Erst die Einordnung der Darstellungsund Rezeptionsmerkmale in den größeren Kontext der Urteilsspeicherung und Urteilsbildung macht deutlich, weshalb es durchaus nachvollziehbar ist, weshalb die Befunde so disparat sind. Denn es gibt unterschiedliche Verarbeitungswege, über die Kultivierungseffekte zustande kommen können, und je nachdem, welcher Weg eingeschlagen wird, kommen einzelne Faktoren auch unterschiedlich zum Tragen. Daneben drängen sich jedoch im Zusammenhang mit dem Modell weitere Aspekte auf, die Diskussionsbedarf erzeugen. Diese seien im Folgenden angeführt.
7.5.1
Modell des Kultivierungsprozesses oder allgemeines Informationsverarbeitungsmodell?
Oben wurde gezeigt, dass sich das entwickelte Modell nicht nur eignet, um Kultivierungseffekte zu erklären. Es lässt sich auch für die Erklärung anderer Medienwirkungen (etwa Fallbeispieleffekt oder Agenda-Setting-Prozesse) heranziehen. Zwangsläufig stellt sich damit die Frage, ob wir es dann tatsächlich noch mit einem Modell des Kultivierungsprozesses zu tun haben oder eher mit einem allgemeinen Informationsverarbeitungsmodell. Dies würde am Ziel der vorliegenden Arbeit eigentlich vorbeigehen. In der Tat sind nicht alle dargestellten Prozesse spezifisch für die Kultivierung. Dies ergibt sich zwangsläufig aus der Tatsache, dass sich das Modell psychologisches Basiswissen über Wahrnehmung, Speicherung und Abruf von Informationen zunutze macht. Daraus resultierende Faktoren wie Verfügbarkeitsheuristiken, Einstellungsverfügbarkeit, erinnerungsgestützte Urteile versus on-line Urteile etc. sind dementsprechend nicht nur auf die Kultivierung anwendbar, sondern auch auf andere Medienwirkungen oder die Informationsverarbeitung generell, ganz unabhängig vom Einfluss der Medien.
330
7 Zusammenfassung und Diskussion
Dennoch gibt es Aspekte, die das Modell von einem allgemeinen Informationsverarbeitungsmodell unterscheiden. Es sind vor allem zwei Dinge, die spezifisch für Kultivierungseffekte sind: (1) Einfluss fiktionaler Fernsehinhalte: Kultivierungseffekte lassen sich bei nonfiktionalen und fiktionalen Fernsehinhalten beobachten. Der Einfluss fiktionaler Fernsehinhalte unterscheidet die Kultivierung von den meisten anderen Medienwirkungstheorien, die sich überwiegend mit dem Einfluss nonfiktionaler Medieninhalte beschäftigen (mit Ausnahme der Gewalttheorien). Gerade im Zusammenhang mit fiktionalen Fernsehinhalten stellt sich aber die Frage, weshalb sich diese ebenso auf die Realitätswahrnehmung der Zuschauer niederschlagen wie nonfiktionale, obwohl man eigentlich annehmen würde, dass sich die Zuschauer dessen bewusst werden, wenn sie Informationen aus fiktionalen Inhalten auf ihre Realitätswahrnehmung übertragen. Auf das Modell schlägt sich diese Tatsache in mehrerlei Hinsicht nieder: Spezifisch für fiktionale Fernsehinhalte, wie sie in Spielfilmen und Serien zu sehen sind, ist die Tatsache, dass es sich dabei um narrative Fernsehinhalte handelt. Dies bringt in der Regel einen hohen Transportationsgrad (bzw. ein hohes Prozessinvolvement) mit sich. Wie Shrum (2006) zeigte, verstärkt ein hoher Transportationsgrad Kultivierungseffekte, weil die Zuschauer in der Rezeptionssituation so stark in das Geschehen eintauchen, dass Gegenargumente ausgeschaltet werden. Fiktionale und narrativ aufbereitete Inhalte sind somit eher in der Lage, Einstellungen und Meinungen zu beeinflussen als nonfiktionale nicht-narrative Inhalte. Aber auch im Zusammenhang mit der Urteilsbildung geht das Modell auf die Besonderheit fiktionaler Fernsehinhalte ein: So würde man beim Abruf von Informationen zunächst annehmen, dass gespeicherte Gedächtnisinhalte, die aus fiktionalen Quellen stammen, als solche erkannt werden. Tatsächlich kommt es aber trotzdem zu Kultivierungseffekten, wofür zwei Gründe verantwortlich sind. Entweder die Urteile werden heuristisch gefällt – dies führt dazu, dass über die Quelle gespeicherte Gedächtnisinhalte gar nicht nachgedacht wird – oder systematisch. In letzterem Fall wird die Quelle gespeicherter Informationen zwar berücksichtigt. Da Menschen jedoch beim Reality Monitoring Fehler machen, können Informationen, die eigentlich aus fiktionalen Quellen stammen, fälschlicherweise für nonfiktional und somit urteilsrelevant gehalten werden. (2) Langfristigkeit der Wirkung: Ein zweiter Aspekt, der die Kultivierung von den meisten anderen Medienwirkungstheorien unterscheidet, ist die Annahme langfristiger Wirkungen. Dies berücksichtigt das Modell im Zusammenhang mit der chronischen Verfügbarkeit von Konstrukten. Die aktuelle oder einma-
7.5 Limitationen
331
lige Rezeption bestimmter Fernsehinhalte macht sie im Gedächtnis der Zuschauer kurzfristig verfügbar. Daraus resultierende Einflüsse auf die Realitätswahrnehmung sind folglich kurzfristiger Natur, wie es sich in Experimenten wiederholt gezeigt hat. Werden bestimmte Fernsehinhalte jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder rezipiert und somit entsprechende Konstrukte im Gedächtnis immer wieder aktiviert, so werden sie chronisch verfügbar. Sie beeinflussen Realitätsurteile in der Folge stärker als kurzfristig aktivierte Konstrukte, ihre Verfügbarkeit nimmt nur sehr langsam wieder ab und sie werden in der Folge auch leichter erneut aktiviert. Diese Aspekte machen deutlich, dass das dargestellte Modell zwar in seinen Grundzügen auf andere Medienwirkungseffekte anwendbar ist und für deren Erklärung einen fruchtbaren Beitrag liefern kann (vgl. Kapitel 7.4). Es handelt sich jedoch nicht um ein allgemeines Informationsverarbeitungsmodell, da Spezifika aufgegriffen werden, die nur für die Kultivierung gelten. Neben dieser theoretischen Frage müssen zwei weitere Aspekte thematisiert werden, die sich auf methodischer Ebene ansiedeln: Die generelle Operationalisierbarkeit des Modells und das Problem der Mikro- und Makroebene. Beide Aspekte wurden oben bereits angesprochen (vgl. Kapitel 7.3), sollen aber hier jedoch nochmals aufgegriffen werden.
7.5.2
Überprüfbarkeit des Modells
Es wäre unrealistisch anzunehmen, dass sich das Modell in einer einzigen Studie überprüfen lässt. Das ist nicht machbar, weil zu viele Faktoren und Bedingungen gleichzeitig zu prüfen oder zu kontrollieren sind. Man hat es mit ähnlichen Problemen zu tun, wie sie etwa im Zusammenhang mit dem dynamisch-transaktionalen Ansatz (DTA) (vgl. z.B. Schönbach & Früh, 1984; Früh, 1991) diskutiert werden. Denn das vorliegende Modell konstatiert nicht nur unidirektionale, sondern auch reziproke Wirkungen (z.B. Einfluss chronisch verfügbarer Konstrukte oder starker Einstellungen auf die Informationsaufnahme). Auch impliziert die Kultivierungshypothese genauso wie der DTA eine zeitlich-dynamische Perspektive, die sich grundsätzlich nur mit sehr aufwändigen Verfahren (z.B. Zeitreihenanalysen) messen lassen. Genauso wie im Zusammenhang mit dem DTA liegt die Lösung jedoch darin, die beteiligten Phasen und Einflussfaktoren schrittweise zu überprüfen (vgl. z.B. Brosius, Staab & Gassner, 1991 im Zusammenhang mit dem DTA), wie dies in Kapitel 7.3 bereits erläutert wurde.
332 7.5.3
7 Zusammenfassung und Diskussion
Mikro- und Makroebene
Ein spezifisches methodisches Problem stellt die Divergenz zwischen Mikro- und Makroebene dar. Studien, die auf Individual- und Aggregatebene messen, stellen häufig fest, dass Effekte, die auf Individualebene messbar sind, auf Aggregatebene verschwinden oder nur sehr gering ausfallen. Eine direkte Übertragung von Befunden der Mikroebene auf die Makroebene ist also nicht möglich (ökologischer Fehlschluss, vgl. z.B. Rössler, 1997). Vor diesem Hintergrund ließe sich nun argumentieren, dass ein Kultivierungsmodell, das auf Individualebene angesiedelt ist, wenig gewinnbringend ist, wenn es sich nicht ebenso auf der Makroebene prüfen lässt, auf der die Kultivierung aber eigentlich angesiedelt ist. Dieses Problem lässt sich nicht ganz ausräumen, annähern kann man sich ihm aber schon. Zunächst einmal stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es überhaupt notwendig ist, das Modell auf der Makroebene prüfen zu können. Ausgangspunkt der Argumentation dieser Arbeit, aber auch zahlreicher früherer Untersuchungen, war die Beobachtung, dass Kultivierungsstudien auf der Makroebene noch immer angreifbar sind. Selten sind sie methodisch in der Lage, die Kausalität der Zusammenhänge eindeutig zu klären, selten weisen sie Effekte nach, die über Korrelationskoeffizienten von 0,3 hinausgehen. Ausgangspunkt der Überlegungen zu den psychischen Prozessen war nun das Argument, dass die kritischen Stimmen erst dann verstummen, wenn sich die Prozesse, die der Kultivierung zugrunde liegen, erklären lassen. So ließe sich also argumentieren, dass Studien, die sich auf der Makroebene ansiedeln, dabei aber keine psychischen Prozesse prüfen, erst gar nicht so angreifbar wären, wüsste man nur, welche Prozesse – wenn auch auf Individualebene – dahinter stecken. Dies soll nicht davon ablenken, sich dennoch darüber Gedanken zu machen, wie man das Mikro-/Makroproblem dennoch lösen kann. Was sich zunächst anbietet, ist eine Vorgehensweise, die beide Untersuchungsebenen verknüpft – nicht in einer Studie, sondern in mehreren. Die beste Annäherung an eine Identifikation der „wahren“ Zusammenhänge dürfte wohl darin liegen, Kultivierungsstudien auf beiden Ebenen anzulegen, um durch einen Methoden-Mix und Untersuchungen auf Mikro- und Makroebene einen Überblick über die unterschiedlichen Effekte zu gewinnen und daraus schlussendlich Schlüsse auf den Einfluss des Fernsehens ziehen zu können. Eine weitere Annäherung an das Problem bietet die Integration von Indikatoren der Mikroebene in Studien auf höherer Aggregatebene (vgl. Kapitel 7.3.2.3). So lassen sich einzelne der im Modell vorgeschlagenen Determinanten und Prozesse auch in Befragungen auf höherer Aggregatebene prüfen. Dies gilt beispielsweise für
7.5 Limitationen
333
die Wirksamkeit von verfügbaren Konstrukten, die sich etwa über Beispiellisten kontrollieren lässt. Andere Indikatoren für im Modell relevante Determinanten sind Antwortgeschwindigkeit (als Indikator für Konstruktverfügbarkeit und den Urteilsbildungsweg), Einstellungssicherheit (als Indikator für die Einstellungsstärke). Wie oben bereits dargestellt lassen sich diese in Befragungen auf höherer Aggregatebene durchaus mit erfassen, um somit zumindest eher Aussagen über Einflüsse auf der Makroebene machen zu können. In Anlehnung an Esser (1993) sieht Jäckel (2001) die Lösung des Mikro-/ Makroproblems darin, Aggregationsregeln zu formulieren, über die sich die Makrophänomene aus dem Handeln einzelner Akteure erklären ließen. Vereinfacht ausgedrückt geht es um „die nachvollziehbare Zusammenführung individueller Ereignisse zu Strukturmerkmalen.“ (Jäckel, 2001: S. 53) Im einfachsten Fall kann eine solche Regel in der Aufsummierung von Einzelfällen bestehen oder in der Bildung von Durchschnittswerten (z.B. Einschaltquoten). Im Zusammenhang mit der Erklärung öffentlicher Meinung oder langfristiger Veränderungen von Einstellungen und Meinungen sind jedoch deutlich komplexere Regeln notwendig. Für die Übertragung der im Modell postulierten Mikrophänomene sind dementsprechend sehr komplexe Aggregationsregeln notwendig, um sie auf die Erklärung des Makrophänomens Kultivierung anwenden zu können. In ihrer Gesamtheit lassen sie sich daher zu diesem Zeitpunkt noch nicht formulieren, jedoch gibt es bereits Anhaltspunkte. Zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund. (1)
(2)
Tabelle 19 (s.o.) liefert einen Überblick über Bedingungen, Effektursachen, Wirkungsweise und Effektstärke der verschiedenen Wege der Urteilsbildung. Die Effektstärke liefert einen Anhaltspunkt für die Erklärung dessen, was sich auf der Makroebene beobachten lässt: stärkere Kultivierungseffekte bei heuristischer Urteilsbildung, geringere Effekte bei systematischer Urteilsbildung. Somit lassen sich Beobachtungen auf der Mikroebene leichter mit den Effekten auf der Makroebene verknüpfen. Den zweiten und vielleicht wichtigsten Anknüpfungspunkt stellt die chronische Verfügbarkeit von Konstrukten dar. Sie verbinden die Prozesse, die sich auf der Mikroebene zunächst abspielen (Urteilsbildung auf Basis kurzfristig gelernter Gedächtnisinhalte), mit dem, was sich langfristig abspielt. Durch häufiger wiederholte Aktivierung derselben Konstrukte werden diese chronisch verfügbar. Da häufig präsentierte Inhalte im Fernsehen nicht nur von einem Zuschauer häufig rezipiert werden, sondern von einer Vielzahl von Zuschauern, die ähnliche Rezeptionsmuster aufweisen, schlägt sich eine längerfristige Verfügbarkeit entsprechender Konstrukte und somit schließlich eine chronische
334
7 Zusammenfassung und Diskussion
Verfügbarkeit von Konstrukten nicht nur bei Einzelnen nieder sondern wird zu einem gesellschaftlich relevanten Makrophänomen. Diese Anknüpfungspunkte verdeutlichen, dass es durchaus gewinnbringend ist, sich auch bei Wirkungsannahmen, die sich ursprünglich auf der Makroebene ansiedeln, mit den Prozessen auf der Mikroebene zu beschäftigen. Endgültig standhalten wird das vorgeschlagene Modell des Kultivierungsprozesses jedoch erst, wenn sich neue empirische Studien einem Nachweis der postulierten Zusammenhänge annehmen.
7.6
Schluss
Die vorliegende Arbeit stellte ein Modell der Informationsverarbeitung im Kultivierungsprozess vor. Einige Annahmen des Modells sind bereits umfassend empirisch geprüft, andere bedürfen weiterer empirischer Prüfung. Einschränkend muss konstatiert werden, dass es nicht sämtliche denkbaren Merkmale einbezieht, sondern sich auf die wichtigsten für die Informationsverarbeitung relevanten Merkmale konzentriert. Gerade Eigenschaften des Rezipienten sind dabei weitgehend vernachlässigt worden. Hier besteht sicher noch Nachholbedarf. Nichtsdestotrotz dürfte das Modell schon jetzt die Fruchtbarkeit einer genaueren Betrachtung der psychischen Prozesse veranschaulichen. Der Kultivierungsansatz kann sich vom Vorwurf des Messartefaktes nur schwer befreien – auch löst man sich nur schwer von dem Begriff der Kultivierungshypothese, um sie Kultivierungstheorie zu nennen. Dies liegt zum einen an ihren methodischen Schwächen, was sich vor allem im Zusammenhang mit der Kausalitätsfrage zeigt. Zum anderen liegt es daran, dass die nachgewiesenen Effekte in der Regel sehr klein sind. Kleine Effekte jedoch bedeuten nicht, dass sie nicht da sind. Das Argument, dass die Realitätswahrnehmung von zu vielen weiteren medialen wie direkten Erfahrungen bedingt ist, ist nicht neu. Das vorliegende Modell liefert ein weiteres Argument: Es gibt verschiedene Wege, über die Kultivierungseffekte entstehen. Werden Kultivierungsurteile heuristisch gebildet, so sind die Effekte stärker, werden sie systematisch gebildet, sind sie schwächer. Die verschiedenen Wege der Urteilsbildung, die verschiedenen Bedingungen, die sie verstärken und abschwächen, fallen in den üblichen Befragungen, die Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung messen und relativ undifferenziert auswerten, in einen Topf. Im Durchschnitt ist der Effekt dann klein, obwohl er bei Teilen der Stichprobe größer wäre.
7.6 Schluss
335
Auch die Operationalisierung der Fernsehbotschaft dürfte ein zentraler Aspekt sein, der die kleinen Effekte verursacht – ein Problem, das nicht neu ist (vgl. Newcomb, 1978) und keineswegs allein für die Kultivierung gilt. Es kann gar nicht funktionieren, große Effekte zwischen Fernsehnutzung und Realitätswahrnehmung zu messen, wenn die Wahrnehmung der Fernsehbotschaft vollkommen außer Acht gelassen wird. Man mag dem Modell vorwerfen, dass es in seiner ganzen Komplexität niemals zu prüfen ist. Es gibt jedoch zahlreiche Ansatzpunkte, die einzelnen zugrunde liegenden Postulate in mehreren Studien zu prüfen. Das ist freilich mühsam. Gerade eine angemessene Operationalisierung der Metabotschaften erfordert einen immensen Aufwand. Der Begriff „kommunikationswissenschaftliche Herkulesaufgabe“, den Vlasic (2004: S. 215) im Zusammenhang mit der Untersuchung der Integrationsfunktion der Massenmedien verwendet, drängt sich hier ebenfalls auf. In Anbetracht der dargestellten Fortschritte in der Kultivierungsforschung darf man jedoch entgegnen, dass es sich zumindest nicht um Sisyphosarbeit handelt. Das Kapitel „Wie kommt es zum Kultivierungseffekt?“ ist nicht mehr nur aufgeschlagen. Viele Forscher haben bereits dazu beigetragen, das Kapitel zu füllen. Der Sisyphos der Kultivierungsforschung ist mit seinem Stein keineswegs wieder auf dem Weg nach unten, sondern der Spitze ein bisschen näher gekommen.
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