Terra lockt Malcom von Floyd Keene Leutnant Jegarow blickte durch die transparente Kuppel, die den Komplex baulicher un...
58 downloads
592 Views
5MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Terra lockt Malcom von Floyd Keene Leutnant Jegarow blickte durch die transparente Kuppel, die den Komplex baulicher und technischer Anlagen der Mondstation Dädalus, am Rande der Start- und Landerampen, überspannte. Abweisend kalt standen die Sterne über graufarbenem, totem Mondgestein in der Schwärze ewiger Mondnacht. Serge Jegarow holte seinen Blick von draußen zurück. Routinemäßig kontrollierte er die Radarschirme. Es gab ihm einen gehörigen Ruck. Er hatte einen blib aus dem interplanetaren Raum! In fieberhafter Eile ortete er den unbekannten Raumflugkörper auf der Basis von halbaktivem Radar und Interferometer- und Dopplermessungen, speiste Ortskoordinaten und Geschwindigkeitskomponente zur Datenauswertung in die Rechenanlage ein und überflog mit ungläubigem Staunen die Informationen aus dem Meßwertgeber. Er blickte nach links, wo Ruben Dolan, angestrahlt vom Grünlicht der Radarschirme und Monitoren der halbkreisförmigen Mittelkonsole mit geschlossenen Augen lustlos in seinem Kontursessel lag. »Kapitän«, rief er heiser. Sein Gesicht wirkte geisterbleich. »Wir stehen vor dem größten Ereignis der Menschheitsgeschichte. Fremde Intelligenzen sind auf dem Wege zu uns. Ein extraterrestrisches Raumfahrzeug nähert sich dem Mond!« Dolan öffnete die Augen, um einen Blick auf die Radarschirme zu werfen. »Jegarow, du bist verrückt«, sagte er träge. »Das Ding hat eine Annäherungsgeschwindigkeit von 80 000 km/h, bei einem Winkel von 220 Grad. So würde ein Raumschiff niemals Einflugfenster und Landekorridor irgendeiner Zielfläche auf dem Mond treffen. Es ist ein Meteorid aus dem interplanetarem Raum.« »Vermindern Meteoriten etwa ihre Bahngeschwindigkeit - und korrigieren sie mit Vertikalsprüngen?« stieß Jegarow zwischen den Zähnen hervor. »Ich werde...« Eine laut vernehmbare Männerstimme in bestem OxfordEnglisch drang aus den Lautsprechern. »Raumschiff CHIRON VI. Auf dem Wege von seinem Heimatpla-
neten Rigil im System Centauri zum Planeten Erde. Erbitte Landeerlaubnis auf Mondstation Dädalus. Kommen...« * Ruben Doliin erholte sich schnell von seiner erstaunlichen Ehrfurcht vor dem schier Unfaßbaren. An Stelle des völlig Kopflosen Jegarow trat er mit ruhig-sachlicher Stimme in den wechselseitigen Funksprechverkehr ein: »Anflugkontrolle Dädalus an Raumschiff CHIRON VI. Beziehen Sie bis auf Abruf stationäre Position in Perilune fünf-zero-zero, 75 WL. Falls Möglichkeiten einer BordBoden-TV-Übertragung vorhanden, bitten wir zur Eigenidentifizierung auf 18,002 MHz zu gehen. Kommen.« Dolan legte den Oberkörper nach rechts und schaltete drei Monitoren mit Aufzeichnungsgeräten und sensuellen Abtastern zur visuellen und spektrographischen Analyse der erwarteten Fernsehbilder ein. »Raumschiff CHIRON VI. Beziehe wie gewünscht bis auf Abruf stationäre Position in Perilune fünf-zero-zero, 75 Grad WL. Schalte Bord-TV zur erbetenen E. I. auf 18,002 MHz. Over...« »Verstanden, CHIRON VI. Wir melden uns in Kürze wieder...« Dolan unterbrach die Funksprechverbindung mit dem fremden Raumschiff. Im Augenblick zeigten die Monitoren noch »Schneegestöber«. Dolan sagte, während das Herz hart gegen seine Rippen schlug: »Was werden wir gleich zu sehen bekommen? Jedenfalls hat seine Stimme zuviel Volumen für die Hühnerbrust eines kleinen grünen Männchens. Vielleicht hat er Korkenzieherbeine mit der Elastizität von Matratzensprungfedern. Einen Pyramidenbauch, die Innereien in Schaltungen außen aufgedruckt. Einen Fledermauskopf mit Dipolohren, schillernde Facettenaugen und den reizenden Küß-mich-Mund eines blutsaugerischen Vampirs.« Dolan blickte auf den Bildschirm. Aber es tat sich noch nichts. »Vielleicht sind es martialische Insektizide. Riesige Kriegsameisen, darauf aus, uns vom Mond zu bomben oder uns mit ihren Strahlerwaffen in Protoplasmapfützen umzuwandeln.« »Beschwören Sie es nicht, Kapitän«, flüsterte Jegarow kreidebleich. Plötzlich schrie er mit überschnappender Stimme: »Da, da ist er!« Die Schirme der Monitoren zeigten einen Mann, der sich zumin-
dest äußerlich nicht vom Homo sapiens unterschied. Er war groß und schlank, hätte ein offenes, sympathisches Gesicht und langes rötlichblondes Haar. Er mochte etwa Mitte dreißig sein. Er trug einen rotseidenen Overall. Lässig lag er in seinem Kontursitz, von einer Unzahl Instrumente umgeben. Er hatte einen Kognakschwenker mit Goldrand, in dem eine braune Flüssigkeit schwappte, in der Hand und bat um Entschuldigung, »weil es etwas gedauert hatte.« Rechts oben im Bild wurde jetzt der Name des Fremden eingeblendet: MALCOLM STURGESS. * Serge Jegarow sprang von seinem Sitz hoch und starrte mit überquellenden Augen auf das Monitorbild. Kaum mehr Herr seiner Sinne heulte er: »Das Schlitzohr kommt uns als Mensch, um sich unser Vertrauen zu erschleichen, Kapitän. Ein Wolf im Schafspelz!« Geistesgegenwärtig unterbrach Dolan die Verbindung zur CHIRON VI. Fremde brauchten nicht Zeuge interner Meinungsverschiedenheiten zu werden. Ehe er es verhindern konnte, drehte Jegarow durch. Er riß seinen Handlaserstrahler aus dem Gürtelholster und schoß auf die Monitoren. Sofort implodierten drei mit ohrenbetäubendem Lärm. Rauch entquoll der Konsole, durchzuckt von den ersten, gierig Nahrung suchenden Rammen. Fluchend riß Dolan den Handfeuerlöscher aus der Halterung seitlich seines Sitzes. Er schoß wie eine Rakete hoch und legte ein breites Band aus Kohlensäureschnee auf die Gefahrenstelle. Es roch und qualmte infernalisch. Hustend drehte sich Dolan nach Jegarow um, der sich nicht mehr in seinem Blickfeld befand. Das Blut gefror ihm in den Adern. »Nein«, brüllte er. »Um Himmels willen, nein, Jegarow. Tun Sie es nicht!« Jegarow hörte nicht. Er stimmte mit tragender Stimme einen feierlichen Choral an, während er sich zielstrebig anschickte, den kleinen Wandtresor zu öffnen, der den Auslösemechanismus zur augenblicklichen Selbstvernichtung der Mondstation Dädalus enthielt. Tausend Gedanken jagten sich in Dolans Hirn. Jegarow gehörte
einer Sekte an, die alle zehn Jahre den Untergang aller Welten als »unmittelbar bevorstehend« mit Gebeten und Gesängen nach vorausgegangenem orgiastischem Sichausleben erwartete. Eine von den Kameraden, oft belächelte und nicht ernst genommene Marotte. Das fremde Raumschiff mußte in Jegarow die Überzeugung gefestigt haben, daß unwiderruflich das Ende aller Tage gekommen war. Er war nicht mehr in der Lage, diese »Bedrohung« psychisch zu kompensieren und folgte seinem inneren Impuls, der Vernichtung alles Irdischen selbstzerstörerisch zuvorzukommen. Endlich ermahnte sich Dolan. Mit wenigen Riesensätzen war er bei Jegarow und schleuderte ihn von der bereits halb geöffneten Tresortür fort. Jegarow stürzte zu Boden. Er stützte sich nach einer Seitenrolle rechts auf und richtete mit der linken Hand den Laserstrahler auf den heranfliegenden Vorgesetzten. Das tödliche Licht fuhr blitzend wie ein Florett zwischen Dolans Leib und den abgewinkelten Oberarm hindurch und stanzte ein Loch in die gegenüberliegende Wand. Der Anprall von Dolans durchtrainierten einhundertachtzig Pfund warf Jegarow aus seiner halb aufgerichteten Lage auf den Rücken. Jegarows Gesicht war schweißnaß und verzerrt. Sein Mund geiferte. Die Augen glühten fanatisch. Sie schienen Dolan nicht zu erkennen. Erneut hob er den Strahler zum Schuß auf Dolan. Der lähmte ihm mit einem brettharten Hieb die Waffenhand. Der Strahler polterte zu Boden. Dolan trudelte ihn mit einem raschen Tritt quer durch den Raum und landete zwischen zwei dicht nebeneinander stehenden Computern. Dann fegte er Jegarows Deckung beiseite und landete beide Fäuste voll in dessen Gesicht. Heftig atmend riß Dolan einige Meter Telefonschnur aus der Wand. Damit kehrte er zu dem bewußtlosen Jegarow zurück und verschnürte ihn zu einem Paket. * In diesem Moment setzte die künstliche Schwerkraft der Mondstation aus. Die pneumatisch gesteuerte Tür zur Anflugkontrolle öffnete sich zischend. Dolans Freund Willie Wanted bewegte sich auf die teilweise zerstörte Mittelkonsole zu. Der Oberleutnant
kam, um Serge Jegarow abzulösen. Erstaunt blickte er von der noch qualmenden Konsole auf Dolan, der sich den gewichtsvermindernden Zustand der geringen Mondanziehungskraft zunutze machte, um Jegarow so leicht und mühelos wie einen Sack Puffreis in den Kontursessel zu werfen. »Was treibt ihr beide eigentlich für Spielchen?« fragte Wanted mit hochgezogenen Brauen. »Mondkoller?« »Nein, Willie. Jegarow ortete ein extraterrestrisches Raumschiff. Das war zuviel für ihn, und er drehte durch. Beinahe wäre es ihm gelungen, die Station zu sprengen und vierundzwanzig Kameraden dem Raumtod zu überantworten.« Wanted schnappte nach Luft. »Sagtest du extraterrestrisches Raumschiff? Mit fremden Intelligenzen und so?« »Ja, das sagte ich. Der Mann, der es fliegt, sieht aus wie du und ich, Willie. Jegarow meinte, das wäre eben sein Trick, um uns in die Pfanne zu hauen. Der Fremde behauptet, von einem uns unbekannten Planeten Rigil im System Centauri, zu kommen, Bitte sei so gut, alle wissenswerten Daten über Centauri aus dem Computer abzurufen. Ich werde inzwischen versuchen, über die Ersatzmonitoren Verbindung mit der CHIRON VI zu bekommen.« »Okay, Ruben.« Wanted hüpfte zu den Computern hin. Dolan setzte sich in den Kontursitz der Geräte wieder ein. Die Ortung auf den Radarschirmen »stand«. Die CHIRON VI war noch in Warteposition. Er beugte sich über das Mikro. »Dädalus Anflugkontrolle ruft CHIRON VI, Bitte kommen...« »Hier CHIRON VI auf stationärer Warteposition. Die Eigenidentifizierung wurde unterbrochen«, sagte der Fremde, der sich Sturgess nannte. »Der Fehler lag bei uns, Mr. Sturgess. Ich bitte die Verzögerung zu entschuldigen. Fahren Sie bitte mit der Eigenidentifizierung fort.« »Fortfahre mit E. I. in etwa fünf Minuten. Ende...« Dolan atmete auf. Er sagte zu Wanted, der eben zu ihm trat: »Ich dachte schon, ich hätte ihn vergrätzt. Was wissen wir über seine Heimat, Willie?« »Über seinen Heimatplaneten schon mal nichts. Rigil wird wahrscheinlich von dem Doppelstern Centauri verdeckt. Die Zentauren waren Wesen der griechischen Mythologie, halb Pferd, halb Mensch. Centaur Chiron, so der Name des nach ihm benannten Raumschiffs, war der an den Himmel verbannte Lehrer Achills und
Äskulaps. Centauri ist mit 4,3 Lichtjahren der nächste Stern. Ein Doppelstern mit 80,1 Jahren Umlaufzeit. Die beiden Sterne haben den Spektraltyp G2/kl und Sonnenleuchtkraft von 1 und 0,28. Wahrscheinlichkeit von Leben in diesem System: 5,4 Prozent. Wie ich sehe, hat er aus seinen 5,4 Prozent allerhand gemacht...«. Malcolm Sturgess erschien wieder auf den Bildschirmen der Monitoren. Als sei nichts geschehen, fuhr er lässig fort: »Ich stelle Ihnen jetzt die Chiron vor.« Auf den Bildschirmen wurde ein Raumschiff mit schlanker, langgestreckter Zelle sichtbar, die am Heck zwei seitlich hochgezogene Stabilisierungsflächen und eine weitere in der Mitte trug. Das Schiff war mit einem schimmernd weißen, porzellanähnlichem Plast überzogen und aerodynamisch gesehen ein ästhetischer Genuß. Die Rundumverglasung des Cockpits war goldbeschichtet. Irgendwelche Waffensysteme waren äußerlich nicht erkennbar. Das Staunen der Männer wuchs ins Unermeßliche, als sie Sturgess die ungeheuerlichsten Behauptungen leichthin dahersagen hörten. »Die CHIRON VI gehört mit doppelter Lichtgeschwindigkeit nicht gerade zu den schnellsten Schiffen unserer Flotte. Sie ist jedoch so recht nach dem Geschmack von Individualisten, die gern allein zwischen den Sternen vagabundieren.« Sturgess grinste vergnügt. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich nun fragen: »Woher in aller Welt will der Mann die gewaltigen Antriebsenergien nehmen, um auf doppelte Lichtgeschwindigkeit, also 18,962 Billionen Kilometer in der Stunde, zu kommen?« Wir fahren unsere Schiffe mit der Energie mikroskopischer Materialteilchen aus Kollapsaren, die Dichtewerte von nahezu einer Trillion g/cm3 haben, wenn Ihnen das etwas sagt.« Mit der Materie der sogenannten black holes, dachte Dolan. Kollabierte Sterne kapselten sich ab. Und diese Sturgess-Leute hatten offenbar Mittel und Wege gefunden, den Kollapsaren mikroskopisch kleine Energiepakete zu entreißen und sich diese nutzbar zu machen. Ruben Dolan kam sich auf einmal vor wie ein Neandertaler bei einer Talk-Show mit Newton und Einstein. Dolan unterbrach die Ausführungen von Sturgess und rief ihn über die Funksprechanlage: »Hier spricht Ruben Dolan, Kommunikationsoffizier der Europäischen Raumstreitkräfte. Ich erteile Ihnen Landeerlaubnis auf der Dädalus-Mondbasis. Sie sind uns als
Freund herzlich willkommen, Mr. Sturgess. Benötigen Sie Landehilfen, etwa Parameter-Angaben, für die Annäherung an Dädalus? Kommen.« »Danke, Mr. Dolan. Ich habe alles, was ich zur Landung benötige. Ich setze um 18.30 Uhr Lunazeit auf Dädalus durch vertikales Sinken auf. Ende.« »Verstanden, CHIRON VI. Ende...« * Kaum hatte Ruben Dolan die Funksprechverbindung unterbrochen, als Leutnant Jegarow, inzwischen wieder bei Sinnen, scharf akzentuiert hervorstieß: »Ihre Eigenmächtigkeit grenzt schon an Sabotage, Kapitän Dolan. Wie können Sie der Entscheidung des abwesenden Stützpunktkommandanten vorgreifen und einem außerirdischem Flugobjekt Landeerlaubnis erteilen?« Dolan grinste spöttisch. »Halten Sie die Luft an, Jegarow. Was meinen Sie, wird das Flottenkommando sagen, wenn wir diesen kostbaren Vogel, dessen Erbauer uns intelligenzmäßig und technologisch um Jahrhunderte voraus sind, abweisen und davonschwirren lassen?« Jegarow zuckte die Schultern. »Vielleicht haben Sie recht, Kapitän. Es sollte aber veranlaßt werden, daß das fremde Schiff und dessen Mannschaft unter militärische Bewachung...« »Nein, zum Teufel! Warum gleich mit dem Säbel rasseln? Hören Sie zu, Jegarow. Ich kann Ihre Erregung von vorhin verstehen. Sich plötzlich fremden Intelligenzen gegenüber zu sehen, wenn vorerst auch nur auf dem Bildschirm, ist schon etwas, daß einen um den Verstand bringen kann. Wie ich sehe, sind Sie wieder in Ordnung. Ich werde von einer Meldung absehen und Sie mit dem Material, das Oberleutnant Wanted gerade zusammenstellt Flugkoordinaten des fremden Raumschiffs, Spektrogramme, Tonbandund Radaraufzeichnungen - nach Littrow Taurus schicken, um dem Standortkommandanten Bericht zu erstatten. Sie werden derjenige Offizier sein, der erstmalig die Existenz außerirdischer Lebewesen weitermeldet und belegt.« Leutnant Jegarows zerschlagenes Gesicht hellte sich auf. »Ich danke Ihnen, Kapitän. Ich werde mich dieser Auszeichnung würdig erweisen!«
Dolan befreite Jegarow von seinen Fesseln und half ihm vom Sitz hoch. Er empfahl ihm, seinen Raumanzug anzuziehen, und sich für den Abflug zum Space-Flight-Center Littrow Taurus bereitzumachen. Nachdem Jegarow mit knieweichen, schwebenden Schritten die Anflugkontrolle verlassen hatte, rief Willie Wanted vom Computer her: »Der Junge wird uns noch manche Nuß zu knacken geben, Ruben.« »Meinst du Sturgess oder Leutnant Jegarow, Willie?« »Hmm, vielleicht beide, obwohl ich mir im Augenblick mehr den Kopf darüber zerbreche, wieso ein Lebewesen von Centauri Oxford-Englisch spricht.« »Vielleicht studierte er dort und war während der Semesterferien zu Hause«, flachste Dolan. Dann war er Willie Wanted behilflich, die soeben angelegte, streng geheime Akte über den Besucher aus dem Weltraum abzuschließen, zu versiegeln und in eine Kuriermappe unterzubringen. Eine Viertelstunde später betrat Leutnant Jegarow im Weltraumanzug die Anflugkontrolle. Er nahm die Kuriermappe, quittierte ihren Empfang und meldete sich für den Flug nach Littrow Taurus ab. Wenig später sahen die beiden Freunde ihn aus der Schleuse in die Mondnacht hinaustreten, wo bereits ein Sergeant mit einem Mondrover auf ihn wartete. Das Fahrzeug glitt gemächlich zum Ende der Betonrampe, wo es neben einem zweisitzigem Kuriergleiter hielt, dessen Pilot sich bereits an Bord befand. Jegarow kam vom offenen Rover herab und schleuste sich an Bord des Gleiters ein. Wenig später wirbelten die gezündeten Raketentriebwerke den Mondstaub auf. Der Kuriergleiter hob ab. Seine Positionslichter verschwanden schnell in der Schwärze des Weltraums. »Sturgess will zur Erde«, sagte Dolan leise. »Wenn mich etwas nach Terra zieht, so ist dies ein schöner englischer Landregen. Der würzige Geruch nasser Wiesen und Wälder. Wind, gegen den man sich stemmen muß.« »Krosses Bauernbrot und ein saftiges Steak zwischen den Zähnen wäre auch nicht zu verachten«, sinnierte Wanted. »Mal keine Dehydrierkost, keine Würfelkonzentrate, von denen du nicht weißt, was sie enthalten. Keine Tablettenmenüs.« Wanted schluckte leer.
»Frischfleisch von ehrlichen Rindern und Schweinen, auf dem Rost gegrillt. Dazu Freiflur-Salate mit raffinierten Beilagen. Nicht das lappige Treibhauszeug, gezogen auf unserem eigenen Dreck. Kein Pulverbier aus der Retorte. Eine Dixieland-Band, Zivilklamotten und Raumpilotinnen, die wild nach Charleston und Boys wie uns sind. Die Schwerkraft der Erde... Du mußt zugeben, bei zwischenmenschlichen Beziehungen ist Schwerkraft nicht zu verachten. Sie hat so etwas Nachdrückliches.« Dolan grinste flüchtig! »Noch dreißig Minuten, bis Sturgess kommt. Es wird Zeit für uns, die Skaphander anzulegen...« »Von der CHIRON VI noch keine Spur«, sagte Willie Wanted nach kaum zwanzig Minuten ungeduldig. »Sein Schiff wird wohl dicht oberhalb des Horizonts hereinkommen«, sagte Dolan. »Noch haben wir knapp zehn Minuten Zeit.« Dolan sah auf das Instrumentenbrett des Mondrovers. Sie parkten mit dem hermetisch geschlossenen Fahrzeug seitlich der von starken Scheinwerfern angestrahlten Landerampe. Eine Korporalschaft unbewaffneter Raumgrenzer, auf verschiedene Fahrzeuge verteilt, stand in Bereitschaft. Jetzt tauchte ein heller Punkt am westlichen Horizont auf, der rasch größer wurde. Dolan blickte auf ein Mondfahrzeug, unweit von ihnen. Er nahm das Mikrofon aus der Halterung am Instrumentenpult. »Mondpatrol 209, bitte kommen«, rief er hinein. »Hier Mondpatrol 209, Sergeant Johnson«, klang es durch die statischen Störungen aus dem Lautsprecher. »Ich befehle Ihnen, sofort den Waffengurt abzulegen, Sergeant«, sagte Dolan mit Schärfe. »Ich dachte nur, weil wir nicht wissen, was auf uns zukommt, Kapitän«, rief Johnson zurück und legte nur widerstrebend das Holster mit dem Strahler ab. »Sie melden sich morgen früh um neun bei mir zum Rapport«, sagte Dolan und wandte jetzt, wie alle Männer auf Dädalus Mondstation, seine Aufmerksamkeit dem landenden Raumschiff zu. Der etwa achtzig Meter lange, schlanke Flugkörper mit den drei charakteristischen Stabilisierungsflächen am Heck, senkte sich auf Landeposition AI nieder. Es blieb allen Männern von der Erde unbegreiflich, wie das elegante, beinahe zierlich und verspielt anmutende Raumschiff seine Fallgeschwindigkeit verminderte. Kein Bremsschub wirbelte den im Vakuum pappenden Mondstaub
auf. Nirgendwo am Schiff waren Anzeichen eines Bremsschlusses auszumachen, jenes Augenblicks, in dem der Antrieb einer Rakete zu arbeiten aufhört. Sanft wie eine Feder setzte die CHIRON VI auf vier ausgefahrenen Kufen auf. »Gehen wir ihm entgegen.« Dolans Stimme klang vor Erregung heiser. Er schloß das Filtervisier seines Schutzhelms, schaltete das Klima- und Versorgungssystem seines Raumanzugs an und wartete, bis Wanted ebenfalls soweit war. Dann entlastete er das Fahrzeug vom Innendruck und legte die Plexiglaskuppel zurück. Sie stiegen aus. Zweihundert Meter weiter öffnete sich im ersten Rumpfdrittel der CHIRON VI eine Schleusenpforte. Der schlanke Mann, der gegen den hellen Hintergrund der Innenbeleuchtung sichtbar wurde, mußte Malcolm Sturgess sein. Elegant sprang er aus einer Höhe von eineinhalb Metern auf den Beton hinunter. Trotz der geringen Schwerkraft des Mondes bewegte er sich so selbstverständlich auf sie zu wie auf der Erde oder auf seinem Heimatplaneten Rigil. Offenbar verfügte er über einen Schwerkraftregler im Taschenrechner-Format. Sturgess Raumanzug unterschied sich erheblich von den Skaphandern, in denen Wanted und Dolan, mit Storchenschritten höchst unelegant anzusehen, auf den Mann vom anderen Planeten zustelzten. Er war silberglänzend und von großer Flexibilität. Irgendwelche Funktionssysteme waren, außer zwei kleinen Kästchen, die Sturgess wie Patronentaschen an einem aus Metall geflochtenen Gürtel trug, nicht zu erkennen. Sturgess Raumfahrerhelm war mit einem hochreflektierenden Belag versehen. Die Sichtscheibe im Spezielvisier war gegen intensive Sonnenstrahlung rosa eingefärbt. Es war ein erhebender Augenblick, als sich die drei Männer gegenüberstanden und nach einer Sekunde des Zögerns umarmten. Dolan und Wanted hatten das Gefühl, einen lieben, lang entbehrten Freund und Kameraden nach Jahren der Trennung wiederzusehen. Daß es Malcolm Sturgess nicht anders erging, verriet seine innere Bewegung, als er auf ihrer Funksprechfrequenz sagte: »Meine Freunde. Welch ein Tag! Ich bin glücklich, bei euch zu sein.« »Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Male. Das ist Ruben Dolan, und ich bin Willie Wanted. Ich hoffe, wir werden uns gut verstehen.«
Sturgess lachte fröhlich. »Ich bin mir dessen sicher, Willie.« »Wo bleibt deine Crew, Male?« fragte Dolan, als er sah, daß sich die Schleuse der CHIRON VI automatisch schloß. »Ich bin allein gekommen, Ruben .« »Und wer soll dieses wunderbare Schiff beschützen?« »Die CHIRON VI schützt sich selbst«, antwortete Sturgess. Man konnte trotz der eingefärbten Sichtscheibe sehen, daß sein Gesicht für einen Augenblick ungewöhnlichen Ernst verriet. »Dann ist ja alles okay«, lachte Willie Wanted. Ein wenig zu munter, als gelte es, beginnenden Argwohn des neugewonnenen Freundes zu zerstreuen. »Gehen wir ins Kasino und stoßen dort auf unsere Freundschaft an.« * Generaloberst Beutmann vom Staatssicherheitskomitee erhob sich aus seinem Sessel am Kopfende des Konferenztisches im Pariser Hauptquartier der Vereinten Raumflotten. »Wir treten heute in die dritte geheime Sitzung dieser Woche ein. Einziger Punkt der Tagesordnung: Malcolm Sturgess...« Generaloberst Beutmann blickte nach rechts auf Major Dubois. Der gedrungene Abwehroffizier mit Stirnglatze und randloser Brille auf einer grobporigen Kartoffelnase gab Panjuschkin mit kaum merklichem Kopfnicken zu verstehen, daß er seine Arbeit getan habe. Der Generaloberst lächelte zufrieden. Er führte aus: »Einen Tag nach der Landung eines extraterrestrischen Raumfahrzeugs auf Dädalus, habe ich Major Dubois beauftragt, etwas über die irdischen Vorfahren des Raumschiffpiloten Sturgess in Erfahrung zu bringen. Jetzt, nach siebentägigen Recherchen unter erschwerten Voraussetzungen, erteile ich Major Dubois das Wort für seinen Ergebnisbericht. Bitte Herr Major...« Dubois blickte bärbeißig in die Runde, bevor er den Aktenordner, den er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, aufschlug und mit müder, ja gelangweilter Stimme zu referien begann. »Professor John Sturgess, Physiologe am Londoner Institut für Zellphysiologie, geboren 1950 auf der Isle of Man, 1980 im Zuchthaus Dartmoor durch den Strang hingerichtet, muß als der leibliche Vater dieses Malcolm Sturgess angesehen werden, obwohl
wir jetzt das Jahr 2180 schreiben.« »Wie kann das möglich sein?« rief Olga Chochlow, eine der rassigsten, aber auch gefährlichsten Agentinnen der dritten Sektion für Zersetzung und Infiltration. »Lassen wir einmal die biologischen Möglichkeiten Ihres reizenden Bauches außer Betracht, liebe Kollegin. Wenden wir uns dem für damalige Zeiten höchst sensationellen Verfahren zu, dessen sich der englische Wissenschaftler bediente.« Während Olga Chochlow die Röte wie eine Feuerlohe ins schöne Gesicht schlug, hatte Major Dubois die Lacher auf seiner Seite. »Professor Sturgess und mit ihm noch andere führende Wissenschaftler waren als eingefleischte Freiheitskämpfer unbelehrbare Gegner unseres Systems«, fuhr Dubois fort. »Sie sahen ihren Fortbestand als nicht mehr gesichert an und verstiegen sich in hybrider Vermessenheit dazu, ihre Spezies des Homo sapiens in den Weltraum hinauszuschicken.« »Als Tiefkühlmenschen in Gefriertruhen?« fragte Oberstleutnant Linus Röder, der Residenturleiter des lunarischen GeheimdienstHauptquartiers. »Aber nein, Herr Oberstleutnant. Die Einfrierung bleibt wegen der Zellmembranschädigungen nach wie vor problematisch. Die Gruppe Sturgess baute zunächst ein Raumschiff, das vermittels Strahlungsdrucks solarer Photonen auf ein Sonnensegel fortbewegt wurde. Jenseits des Jupiters, wo die Intensität der Sonnenstrahlung nachläßt, übernahmen Ionentriebwerke in periodisch wiederkehrenden Schubintervallen die Arbeit.« »War das Raumschiff bemannt oder unbemannt?« fragte die Chochlow, »Die AURORA war unbemannt. Sie hatte unter anderem eine Reihe künstlicher Plazenta mit Eieinpflanzungen an Bord. Desgleichen Ejakulate in künstlichen Zeugungsmechanismen. Dieses biologische Material lieferten die Wissenschaftler und ihre Frauen. Es konnte nach einem uns nicht bekanntem Verfahren länger als ein Jahrhundert konserviert und keimfähig erhalten werden für die Stunde der Befruchtung.« Eine Welle der Unruhe lief um den Konferenztisch. Dubois trank einen Schluck Sprudelwasser. Er mußte leicht die Stimme anheben, um sich die Aufmerksamkeit aller wieder zu sichern: »Ein starker Sender an Bord des inzwischen im interplanetaren Raum vagabundierenden Raumschiffes strahlte den Grund für die folli-
kel-spermatozytische Erdflucht aus. Dadurch wurde unser System im wahrsten Sinne des Wortes weltweit diffamiert. Das war mit der Grund, warum Professor Sturgess und seine Clique fünf Jahre später wegen subversiver Tätigkeit und verschiedener anderer Delikte, durch ein Militärgericht zum Tode durch den Strang verurteilt wurden.« »Aber wie konnte dieses wahnwitzige Experiment gelingen? Wie konnte sich auf einem fernen Planeten eine Gesellschaft etablieren, die uns in jeder Hinsicht turmhoch überlegen ist und eine Gefahr und Herausforderung für uns darstellt?« fragte Olga Chochlow fassungslos. »Die Antwort darauf ist hypothetischer Natur. Allerdings mit hohem Wahrscheinlichkeitsgehalt«, sagte Major Dubois. »Es ist anzunehmen, daß die Aufrufe des automatischen Senders, mitzuhelfen, die Überlebenschancen des Bio-Materials von der Erde zu vergrößern, von extraterristrischen Intelligenzen befolgt wurden. Ihre Gen-Ingenieure und -Chirurgen begaben sich an Bord von Sturgess' Raumschiff. Sie verbesserten die spezifischen Erbfaktoren des gespeicherten Ejakulats, führten Agenzien in die Eizellen ein und machten beides durch weitere chromosomale Manipulationen und Geneinfügungen ihrer eigenen Rassen gegen Strahlenbelastungen, außergewöhnliche Temperaturschwankungen und Andrücke in Bereichen oberhalb der Lichtgeschwindigkeit resistent und vererbbar. Welche genetischen Informationen außerirdischer Lebewesen sowohl den Ejakulaten als auch den Eifollikeln noch mitgegeben wurden, ist nur dumpf zu ahnen. Ich verhehle meine Befürchtungen nicht, daß Sturgess und die Rigilaner dank ihrer Verwandtschaft mit extraterristrischen Intelligenzen faktisch nicht altern. Vielleicht sind sie sogar unsterblich.« Major Dubois räusperte sich. »Eines Tages meldeten Sensoren des Raumschiffes die Annäherung an einen Planeten mit idealen Lebensbedingungen. Als sich Sturgess' künstliche Gebärapparate diesem Planeten, ich vermute Rigil, bis auf zwanzig Jahre Flugzeit angenähert hatten, wurden die Eifollikeln künstlich befruchtet. Ich will es kurz machen: Die künstlichen Plazenten trugen diese Empbryos bis zur Reife aus. Brutkästen übernahmen nach ihrer Geburt die Aufzucht der Babys in den ersten Lebensmonaten. Danach hatten künstliche Elterneinheiten fast zwanzig Jahre Zeit, die heranwachsenden Kinder in allen Sparten zu unterrichten und auf die Lebensbedingungen des neuen Planeten vorzubereiten.«
* Nach minutenlangem Schweigen schrie ein Direktoratsmitglied mit unüberhörbarer Furcht in der Stimme: »Einen Übermenschen dürfen wir nicht in unserer Mitte dulden. Nicht zuletzt weckt er gefährliche Sehnsüchte nach persönlicher und geistiger Freiheit in den ohnehin unruhigen Massen unserer Völker. Sie könnten Sturgess zum Führer einer Opposition oder gar des aktiven Widerstands gegen den bestehenden Rechtsstaat wählen.« »Zu diesen nicht unbedründeten Befürchtungen wäre folgendes nachzutragen«, sagte Major Dubois mit dem ihm eigenen Phlegma. »Die damaligen Urteile gegen die Gruppe Sturgess beinhalten Sippenhaft bis ins dritte und vierte Glied. Dieses damals eigens für den Präzedenzfall Sturgess erlassene Gesetz sollte späteren Gerichtsbarkeiten eine Handhabe gegen die eventuelle Rückkehr der Nachfahren von Professor Sturgess oder seiner Gesinnungstäter bieten.« Alles schrie plötzlich wild durcheinander. Die meisten Anwesenden zeigten Erleichterung. Ein hoher Beamter des Staatsapparats rief: »Dann ist ja alles in Ordnung. Wir verhaften Sturgess, machen ihm den Prozeß, unterwerfen ihn einer Gehirnwäsche, nach der er uns sein enormes Wissen preisgibt und schicken ihn schließlich als Kolonisator-Einheit auf den Mars. Das Raumschiff CHIRON VI wird selbstverständlich beschlagnahmt. Wilder Jubel brandete auf, bis Generaloberst Beutmann mit Stentorstimme den Lärm abrupt unterbrach. Er hatte sich erhoben und beide Fäuste aufgestemmt, die Ellbogen nach außen gewinkelt. »Bin ich von blutigen Narren umgeben?« Seine Stimme klang wie Donnergrollen. »Ich bin sicher, daß die Leute vom Planeten Rigil ein waches Auge auf Malcolm Sturgess haben. Wollt ihr ihnen einen Vorwand liefern, unsere Erde kurz und klein zu schlagen?« »Wozu haben wir unsere Vereinigten Raumflotten?« brüllte ein hoher Offizier. Generaloberst Beutmann konterte mit ätzendem Spott. »Unsere Raumkreuzer machen sich gegen die CHIRON VI, die nicht einmal ein Kriegsschiff ist, wie ein Teeklipper des neunzehn-
ten Jahrhunderts gegenüber einem hochmodernen Raketenzerstörer des zwanzigsten Jahrhunderts aus. In den letzten Tagen, während sich Sturgess mit den Offizieren Dolan und Wanted in den Mondstädten vergnügt, haben wir mit sämtlichen Tricks versucht, an die CHIRON VI heranzukommen. Wie Sie wissen, steht das Raumschiff unbewacht auf der Dädalus-Mondstation. Wer immer sich dem Schiff bis auf fünfzig Meter näherte, vergaß einfach den Zweck seiner Annäherung und stand völlig desorientiert in der Gegend herum. Diese paralytischen Zustände hörten auf, sobald die Männer - zumeist Metallurgen und Waffenexperten wieder auf Distanz zum Raumschiff gingen. Wir ließen einen Wachposten aus größerer Entfernung auf die CHIRON VI schießen. Natürlich >aus Versehen< und mit einer Laserhandwaffe. Was geschah? Der hochaktive Laserstrahl, der in Sekundenschnelle Jahrmillionen altes Mondgestein verdampft, zeigte plötzlich die Instabilität halbgarer Spaghetti und erreichte Sturgess Schiff nicht einmal.« »Haben Sie einen Vorschlag zu machen, wie diesem gemeingefährlichen Subjekt beizukommen ist, Herr Generaloberst?« fragte ein Minister des Staatssicherheitskomitees. Beutmann grinste breit und verschlagen. »Allerdings, Herr Minister. Wir werden Sturgess zu einem der unsrigen machen. Er hat vorerst Narrenfreiheit. Zwei nicht ganz unbedenkliche Offiziere unserer Raumstreitkräfte, Ruben Dolan und Willie Wanted, bleiben ihm als ständige Begleiter beigeordnet. Andere duldet der etwas egozentrische Mr. Sturgess sowieso nicht in seiner Nähe. Malcolm Sturgess bat unsere Regierung, die Heimat seines Vaters kennenzulernen. Wir werden seinem Wunsche stattgeben. Sein Vater John Sturgess bekommt eine maßgeschneiderte romantische Legende, die ihn als, letztlich bekehrten Anhänger des Systems ausweist, der friedlich, mit den Tröstungen seiner Kirche versehen, hochbetagt in seinem Bett verstarb. Bei dieser englischen Reise wird Mr. Sturgess unsere hochverehrte Olga Chochlow kennen- und lieben lernen. Ihr dienstlicher Auftrag wird lauten, ihn zu heiraten, ihn sexuell oder durch Drogen abhängig zu machen und ihm nach und nach die Geheimnisse seines Planeten Rigil und ihrer Bewohner zu entreißen. Sind Sie bereit, Frau Chochlow?« Die rassige Agentin erhob sich, und ihr reizender Busen unterstrich bewegt ihre Worte; »Ich bin bereit, Herr Generaloberst!«
Die Anwesenden spendeten lang anhaltenden Beifall. Beutmann blickte jeden einzelnen an. »Hat irgend jemand noch Fragen zum Thema?« Oberstleutnant Röder hob die Hand. »Unter den Umständen der gewährten Freizügigkeit für Sturgess und seine ständigen Begleiter dürfte es schwer fallen, das unternehmungslustige Trio von den Fabrikstädten und Deportiertenlagern fernzuhalten, Herr Generaloberst.« »Das ist Ihre Aufgabe, Röder«, grollte Beutmann. »Ich hoffe in Ihrem eigenen Interesse, daß Sie sie mit Fingerspitzengefühl und ohne Pannen bewältigen!« * Ruben Dolan steuerte das Automobil durch die übervölkerten, verstopften Straßenschluchten der Londoner Neo-Slums. Sturgess und Wanted saßen im Wagenfond. Kaum eine Minute verging, in der nicht schemenhaft graue, verhärmte Gesichter von Passanten in Plastikkleidung vor den Wagenscheiben auftauchten, wilde Flüche hervorstießen, im ohnmächtigem Grimm mit den Fäusten auf die Karosserie hieben und voller Haß Unrat und Steine, Flaschen und Dosen gegen das Fahrzeug schleuderten. Auf Wanteds Seite lief ein junges Mädchen neben dem Wagen her. Das hübsche Gesicht furienhaft verzerrt, drückte es fortgesetzt das Foto eines jungen Mannes gegen das Panzerglas. Dabei schrie sie laut und gellend: »Rückt meinen Bill heraus, pigs. Holt ihn mir vom Mars zurück!« Bevor ein Polizist sie mit brutalen Knüppelhieben vom Fahrzeug trennen konnte, spuckte sie einen mit Algennahrung durchsetzten grünen Speichelbatzen gegen das Glas in Höhe von Wanteds Kopf. Immer mehr Polizisten tauchten auf, prügelten sich gnadenlos in die entfesselten Masse Mensch hinein, nahmen Verhaftungen und Exekutionen vor, erzeugten schrillen Pfeifenlärm mit hektischen Pralltrillern. Dazwischen dröhnte immer wieder Marschmusik und wildes Gehupe. Ein Tohuwabohu, das nicht enden wollte, und offenbar zum Tagesablauf gehört.
»Du darfst nicht glauben, das gelte dir, Malcolm«, sagte Willie Wanted, dem ganz elend zumute war. »Sie haben in unserem Fahrzeug einen Regierungswagen erkannt und halten uns für hohe Chargen des Regimes.« »Schon gut, Willie. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Malcolm Sturgess. Der Wagen kam erneut zum Halten. Eine junge Mutter stand unmittelbar vor der Motorhaube. Sie zeigte auf ihr Baby, das Anzeichen von Hungerödems aufwies und entblößte in namenloser Verzweiflung ihre leeren Brüste. Ein bulliger Polizist riß sie zurück und tötete mit einem Knüppelschlag den armen Wurm auf ihrem Arm. Fluchend wollte Sturgess aus dem Wagen springen, um der jungen Frau, die wie eine Wahnsinnige zu schreien begann, beizustehen. Aber Willie Wanted riß ihn zurück. »Es hat keinen Zweck, Male. Widerstand gegen die Staatsgewalt wird mit Zwangsdeportation bestraft.«. In diesem Augenblick riß der Polizist den vorderen Wagenschlag auf. Er trug nicht die Uniform Londoner Bobbies früherer Jahrhunderte, sondern einen grauen Overall mit braunem Lederzeug, sowie einen roten Plastikhelm mit weißem MP-Emblem. Das Gesicht schweißnaß, die Augen stier vor hektischer Erregung, hielt er Ruben einen Formularblock hin, während er rief: »Buster Mills, Sir. Delikt Schamverletzung. Zeichnen Sie bitte ab. Sie haben es ja mitgekriegt.« Schweigend kritzelte Dolan etwas auf den Block. Der Polizist grinste zufrieden, zog seinen Schweißgeruch verströmenden Oberkörper aus dem Wagen und knallte die Wagentür zu. »Was in aller Welt hatte das: zu bedeuten?« Sturgess war fassungslos. Wanted erklärte es ihm mit mühsam unterdrückter Wut. »Das war ein Mob-Polizist. Ein straffällig gewordener Bürger, der von einem Stadtgericht zum Mob-Polizisten auf Bewährung verurteilt wurde. Unser Staat steht nämlich auf dem Standpunkt, daß Kriminelle die schärfsten Polizisten abgeben. Ein Mob-Polizist hat täglich und das sechs Monate lang außerordentliche Einsatzfreudigkeit und Härte im Dienst des Direktorats unter Beweis zu stellen, die von Zeugen mit deren personellen Computerdaten zum
Beweis der Richtigkeit gegengezeichnet werden müssen.« »Aber dazu kann doch nicht gehören, ein unschuldiges Baby zu töten«, sagte Sturgess empört. »Leider ist es so, Malcolm. Er hat >Kränkliches, Unlebenswertes< getötet und Nahrungseinheiten für gesunden Nachwuchs freigesetzt. Dafür bekommt er sieben Punkte gutgeschrieben. Einen Systemgegner zu denunzieren bringt sogar zwölf Pluspunkte ein. Wenn ein Mob-Polizist in sechs Monaten 750 Punkte gesammelt hat, gilt er als voll resozialisiert. Er kann danach wieder seinem Beruf nachgehen. Doch viele, mit dem Hang zum Sadistischen, bleiben freiwillig bei der Mob-Polizei.« Sturgess schlug seine Hände vor das Gesicht und schwieg lange, während der Wagen sich wieder in Bewegung setzte und von einer Polizeieskorte bis zur Ausfallstraße nach Luton begleitet wurde. * Moloch London blieb hinter einer schwefligen Dunstglocke zurück. Eine parkähnliche Landschaft zog sich seitlich der Straße hin. Das Grün der Wiesen und Wälder, sowie die anheimelnden kleinen Dörfer und Gehöfte hatten einen beruhigenden Einfluß auf die erregten Gemüter. »Diese Landschaft hier entspricht schon eher meinen Vorstellungen von Old England«, sagte Malcolm Sturgess. »Ich kann Kühe und Pferde erkennen. Sie sehen nicht anders aus, wie auf den Fotografien und Filmstreifen an Bord, der AURORA. Das war das Fluchtschiff meines Vaters und seiner Freunde für ihre Nachkommenschaft. Was wißt ihr davon?« »Weniger als du, Male«, warf Ruben Dolan vor ihnen über die Schulter zurück. »Was vor der Besetzung Englands durch die Direktorats-Streitkräfte geschah, wird von unserer Führung und von den Massenmedien totgeschwiegen. Kaum ein Engländer weiß heute noch, daß unser Land einmal eine Monarchie war, in der es sich, trotz aller Mängel, gut leben ließ.« »Ist es deshalb nicht um so verwunderlicher, daß man Malcolms Vater ein ehrendes Angedenken bewahrt haben will, wie uns das Innenministerium versicherte?« fragte Willie Wanted mit ewig wachem Mißtrauen.
»Ich muß mich leider der Stimme enthalten, da ich nur in etwa weiß, was bis zum Abflug der AURORA in England geschah. Zu diesem Zeitpunkt war die Insel noch nicht von den Militärs besetzt«, sagte Sturgess. »Lassen wir uns in Tergall überraschen.« Etwas anderes beschäftigte Ruben Dolan weitaus mehr. Deshalb fragte er den Freund vom Planeten Rigil: »Wie alt bist du eigentlich, Male? Du sprichst von John Sturgess wie von deinem leiblichen Vater.« »Geneologisch gesehen habe ich mehrere Väter und Mütter, Ruben . Ich habe euch erzählt, wieso das so ist. Die gefühlsmäßige Bindung jedoch liegt bei John Sturgess und dessen Frau Ann, die ich als meine leibliche Mutter betrachte, obwohl ich diese nur als Holographie, als dreidimensionales Filmbild kenne. Rigilaner altern nur sehr langsam, da ihre Körper und Gehirnzellen die Fähigkeit besitzen, sich zu 99,9 Prozent zu erneuern. Ein erfülltes Erdenleben, das fünfundsiebzig Jahre währt, ist für uns auf der Skala des Alterns die Zeitspanne eines ereignisreichen Monats allgemeinverständlich gesagt.« »Erzähle uns mehr von Rigil, Male«, bat Willie Wanted leise. »Kennt ihr Begriffe Wie Leistungsgesellschaft, Konsumstreben, Rüstungsanleihen, Hunger und Verbannung?« »Zunächst einmal, was ich für das Wesentliche halte: Es gibt auf Rigil keine politischen Parteien mit diesem oder jenem Programm. Und schon gar keine Militärdiktatur.« »Und wer stellt bei euch die globale Regierung?« fragte Dolan. »Gelehrte, Wissenschaftler und Künstler beiderlei Geschlechts, mit hohen moralischen Qualitäten und sittlichen Empfindungen.« »Streben nach Besitz und Macht ist aber nicht parteigebunden«, gab Wanted zu bedenken. »Oder die Lust auf des Nachbarn Weib«, ergänzte Dolan. »Wir Rigilaner unterliegen den Gesetzen unseres hoch empfindlich reagierenden Gewissens. Es errichtet Tabuschranken in uns, die wir nicht überspringen können und wollen. Ein geschriebenes, nach allen Seiten hin auslegbares Gesetz wie hier auf der Erde kennen wir nicht. Auch nicht Hunger und Verbannung. Der Staat eröffnet jedem neugeborenem Rigilaner ein Konto, das ihn zeitlebens finanziell unabhängig macht. Dafür haben wir jahrhundertelang auf eine Hochrüstung verzichtet, anstatt Kriege zu führen Kompromisse geschlossen. Arbeit ist für uns HobbyBeschäftigung. Es gibt keine Entlohnung, keine Entlassungen,
keine Leistungsprämien, keinen Akkorddruck, sondern einzig und allein die Freude an der eigenen Leistung und am gelungenen Werk.« »Wenn ich dich recht verstanden habe, Malcolm, wurde die Arbeitsentlohnung dem Rigilaner für alle Zeiten bereits vom Staat, steuerfrei, einschließlich Altersversorgung, in die Wiege gelegt?« »Genauso ist es«, lächelte Sturgess. »Tolle Sache«, sagte Dolan beeindruckt. »Aber woher nimmt der Staat die Mittel für die Erhaltung seiner Infrastruktur? Für den Straßenbau, die Errichtung öffentlicher Gebäude und Anlagen?« »Er bekommt sie aus staatlichen Exportgeschäften mit fremden Intelligenzen. Er stellt Material und Roboter kostenlos zur Verfügung. Und aus diesen genannten Gründen fällt die übliche Zahlung von Löhnen und Gehältern fort. Damit fehlen auch Lohnstreiks und Inflationsmentalitäten. Und was unsere Frauen anbelangt: Wir Rigilaner sind sehr gefühlsbetont. Liebe ist bei uns eine unverrückbare Konstante. Ein Rigilaner liebt nur einmal in seinem langen Leben. Häufiger Partnerwechsel wegen erloschener Liebe für X und neu entflammter Liebe für Y wäre bei uns undenkbar. Deshalb gibt es keine Seitensprünge.« Sturgess lächelte abermals und schloß: »Ihr seht, Freunde, wie grundverschieden wir sind, auch wenn unsere Äußerlichkeiten darüber hinwegtäuschen.« Dolan, der dauernd in den Rückspiegel sah, sagte nachdenklich: »Wir werden beschattet und täten gut daran, die Augen offenzuhalten...« * Tergall entpuppte sich als kleines, malerisches Örtchen, das mit seinen alten Fachwerkhäusern noch lebhaft an die Tudor-Zeit erinnerte. Und wie sehr sich der hiesige Menschenschlag von dem Londons unterschied! Dolan erklärte auch, warum das so war. »Hier ernähren sich die Leute noch von Naturprodukten. Hier auf dem Lande ist Milch noch Milch, Brot noch Brot und Fleisch noch Fleisch. Sojabohnensteaks, Algengemüse, Ernährungswürfel und Vitamintabletten werden kurz über lang auch hier ihren Einzug halten und aus blühenden Landbewohnern blasse, ausgelaugte Zerrbilder ihres ei-
genen Ichs machen.« Dolan hielt den Wagen vor einem Pub, wo einige alte Männer mit ihrem Bier im Schatten einer Ulme saßen. »Entschuldigen Sie, Gents«, rief er. »Wir möchten zu Professor Sturgess' Haus.« Die Männer am Holztisch unter der Ulme sahen sich an, Dann hob einer von ihnen seinen Stock und zeigte damit auf eine kleine Seitengasse in der Nähe. »Fahren Sie die Willow-Gate entlang, Mister, bis es nicht mehr weiter geht. Das verwilderte Grundstück dahinter, mit dem strohbedeckten Haus eine Witwe namens Brown wohnt seit neuestem dort ist des alten Professors Anwesen.« Der Greis grinste mit zahnlosem Mund und wackelndem Kopf auf dünnem Hals. »Sind übrigens nicht der erste, der in den letzten Tagen nach Sturgess' Haus fragt. Na, fast habe ich schon zuviel gesagt...« »Dennoch vielen Dank für die Auskunft«, rief Dolan ihm zu. Er startete den Wagen wieder und fragte Willie: »Kannst du dir das plötzliche Interesse für Sturgess' Anwesen erklären?« »Vermutlich haben die Behörden jemand zum Saubermachen hingeschickt, damit Malcolm nicht einen schlechten Eindruck gewinnt«, meinte Willie Wanted und richtete sein Wort an den neben ihm sitzenden Sturgess: »Wie fühlst du dich, Male?« »Es ist schwer zu beschreiben, Willie«, sagte Sturgess nachdenklich. »Im Gegensatz zu London kommt mir hier alles seltsam vertraut vor, als ob ich schon mal hier gewesen wäre. Ich bin in froher Erwartung.« »Da sind die heimatlichen Gefühle, Malcolm. Du wirst sehen. Wir werden dir nachher ein paar Taschentücher leihen müssen.« Unterdessen hatten sie das verwilderte Anwesen erreicht. Sie parkten das Fahrzeug seitlich des rostigen Gattertors im Schatten einer mannshohen Wildrosenhecke und stiegen aus. Die sommerliche Stille, das. satte Grün, das Summen eifriger Bienen, die Glocken einer nahen Kirche das alles stimmte Dolan und Wanted sonntäglich andächtig. Schließlich hatten sie die letzten zwei Jahre auf dem Erdtrabanten zugebracht. In einer toten, farblosen Welt. »Lord, wie schön doch unser England ist oder sein könnte«, sagte Willie versonnen. »Komm jetzt«, mahnte Dolan. »Malcolm ist voller Ungeduld...« Die Männer gingen über einen schmalen, erst unlängst vom Un-
kraut gesäuberten Pfad auf das niedrige Fachwerkhaus mit seinen Butzenscheiben zu. Die Hausfassade wirkte renoviert. Frisch gestrichen waren die Fensterläden. Blank gescheuertes Kupfergeschirr steckte auf Zaunlatten; die Sonne spiegelte sich darin. Verstohlen blickte Dolan Sturgess von der Seite an. Der Freund vom Planeten Rigil hatte Tränen in den Augen. Er war heimgekehrt, nach einer Odyssee im Weltraum. Unfähig, sich und seine Gefühle in die Hand zu bekommen. Seitlich des Hauses standen einige Frauen und Kinder in bäuerlicher Kleidung und blickten scheu zu ihnen herüber. Unter der Haustür erschien jetzt eine vierschrötige Frau. Ihr falsches Lächeln und der Verdienstorden einer Militärvereinigung riß die Männer jäh aus ihrer Verzauberung. Zumal sie plärrte: »Ich heiße Sie im Namen unserer Reginal-Regierung im Hause Ihres hochverehrten Vaters herzlich willkommen, Mr. Malcolm Sturgess!« Zielstrebig eilte der Kastendrachen auf Malcolm zu und schüttelte dem Verdutzten beide Hände. Dann bat sie die Besucher ins Haus. * Ein kleiner Imbiß Knochenschinken, frisch aus dem Rauch, dazu Brot und alter, goldgelber Whisky rundete Malcolm Sturgess' Glück ab. Mit strahlendem Gesicht erklärte er jungenhaft: »Hier, wo ich jetzt sitze, war Mutters Lieblingsplatz. Ich erkenne jede Ofenkachel nach den Video-Aufzeichnungen wieder. Selbst die Geranien in den Kästen vor den Fenstern könnten die von damals sein.« Sturgess ergriff Mrs. Browns Hand und drückte sie bewegt. »Vielen herzlichen Dank, Ihnen und Ihrer Regierung für alles, meine Liebe. Ich bin sehr glücklich, in meinem Elternhaus zu sein.« »Aber, Sir! Es war unserer Regierung eine Selbstverständlichkeit«, sagte Mrs. Brown verschämt. »Möchten Sie jetzt das Arbeitszimmer Ihres Vaters sehen? Sie werden staunen...« »Aber gern, Mrs. Brown...« Sie folgten der Frau über einen Fliesengang hinweg in einen niedrigen, doch relativ großen Raum, dessen Interieur aus alten englischen Stilmöbeln bestand. Seitlich des Kamins geschichtete Buchenscheite, die Folianten in den Bücherregalen verstaubt und
brüchig. Auf dem wurmstichigen Schreibtisch in der Nähe der beiden Fenster lagen uralte Rißzeichnungen astronomische Werke und vergilbte Zettel mit chemischen Formeln und Berechnungen. In einem handgeschnitztem Pfeifenständer ruhten Shagpfeifen mit zerbissenen Mundstücken. Mit einer Geste der Ehrfurcht nahm Sturgess eine der Pfeifen zur Hand. Seine Fingerspitzen liebkosten das gemaserte Holz. »Das ist Blue Bell, Vaters Lieblingspfeife, eigens für ihn in Südfrankreich, hergestellt. Er hat sie mehrfach auf Tonbändern erwähnt, als er mir in der AURORA erklärte, was Rauchen ist.« »Ich darf Ihnen diese Pfeife namens unserer Regierung und als Beweis unserer Freundschaft zum Geschenk machen dazu eine Anzahl Briefe an Ihre Mutter.« Mrs. Brown zog eine Schreibtischschublade auf, entnahm ihr ein Päckchen altersbrüchiger Briefe, um die ein rotes Seidenband geschlungen war, und überreichte es Sturgess mit feierlichem Gesicht. Diese Geste war mehr als Malcolm erwartet hatte. Dolan und Wanted, die schweigend hinter ihm standen und einen raschen Blick des Einverständnisses tauschten, ahnten, was der Freund in diesen Momenten dachte: So schlecht sind die doch gar nicht! Nochmals bedankte sich Sturgess überschwenglich bei Mrs. Brown und war nur allzu gern bereit, ihr in das nebenan liegende Schlafzimmer seines Vaters zu folgen. Hier deutete Mrs. Brown auf das schwere, klobige Bett. Das Gesicht wie in nachträglicher Trauer abgewendet, den Blick umflort, sagte sie mit tragisch klingender Stimme: »Hier starb Professor John Sturgess im gesegneten Alter von siebenundachtzig Jahren, nachdem er nach anfänglicher Skepsis der neuen Zeit gegenüber seinen Frieden mit der Regierung des Direktorats gemacht hatte. Er folgte seiner geliebten Frau Ann nur drei Jahre später nach...« Schwerfällig drehte sich Sturgess nach Dolan und Wanted um. »Laßt mich bitte einen Augenblick allein, Freunde«, sagte er mit brüchiger Stimme und tränenumflortem Blick. Schweigend gingen Willie und Ruben, von Mrs. Brown gefolgt, in den Nebenraum. Nachdem Mrs. Brown hinter sich die Tür ins Schloß gezogen hatte, sagte Dolan zu ihr: »Wir werden draußen auf Mr. Sturgess warten.« »Wie Sie wünschen, Kapitän. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Kontakte mit Einheimischen vom Sicherheitsdienst nicht er-
wünscht sind.« »Worüber sollten wir uns auch schon unterhalten? Über den Anbau von Raps?« fragte Wanted spöttisch. Dolan und Wanted ließen Mrs. Brown einfach stehen und begaben sich ins Freie. Sie vertraten sich im weitläufigen, verwilderten Garten die Beine. Noch immer standen einige Leute unweit des Hauses, wie in Erwartung einer Sensation. »Hier wird auf hohe Weisung eine Show abgezogen, die zum Himmel stinkt«, knurrte Wanted. »Wenn ich doch nur durchsteigen...« Er unterbrach sich, da ein etwa zehnjähriger Junge dicht vor ihnen zwei Stachelbeersträucher teilte, einen Finger auf die Lippen legte und ihnen einen Zettel entgegenstreckte. Geistesgegenwärtig griff Ruben Dolan danach und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Als er wieder aufblickte, war der Junge hinter den Sträuchern verschwunden. Der Vorfall hatte nicht viel länger als einen Lidschlag gedauert. »Die Luft ist rein, Ruben «, sagte Willie. »Niemand hat es gesehen.« Als ob nichts geschehen wäre, schlenderten die Männer weiter, in den Sichtschutz einer von wildem Wein überwucherten Gartenlaube. Dolan holte den Zettel hervor, entfaltete ihn und las halblaut: Was immer sie auch behaupten, glaube ihnen nicht, Vetter Male! Ich allein bin im Besitz der bitteren Wahrheit. Suche mich auf, sobald du kannst. Tobby Sturgess. Pfarrer hier selbst. PS: Vernichte diese Botschaft sofort! Dolan schnippte sein Feuerzeug auf und verbrannte den Zettel. »Er war wohl nicht direkt für uns bestimmt, Willie.« »Aber er gelangte auch nicht an die falsche Adresse«, stellte Wanted sachlich fest. »Ich bin für eine Stippvisite bei Males Vetter. Der Mann scheint mehr zu wissen als wir alle zusammen.« »Dafür bin ich auch«, stimmte Dolan zu. »Irgendwie habe ich ein dummes Gefühl im Magen. Eben kommt Male aus dem Haus. Schau dir den Jungen an. Sieht er nicht aus, als ob ihm der Weihnachtsmann begegnet wäre?« * Mrs. Brown gab ihnen das Geleit bis zum Wagen.
Sobald sie wieder im Haus war, würde sie dem Staatssicherheitsdienst telefonisch Rapport erstatten und auch nicht vergessen, ihre Verdiente am Gelingen der Aktion herauszustreichen. Jedenfalls war sie für die nächste Stunde vollauf beschäftigt. Und das war gut so, überlegte Dolan. Hinter ihm lehnte sich Malcolm Sturgess heiter und gelöst in die Polster zurück. Er wollte auch ihnen für das Zustandekommen seines Besuches im Vaterhaus danken. Doch Wanted schnitt ihm das Wort mit der Frage ab: »Ist dir bekannt, daß ein Verwandter von dir, Tobby Sturgess, hier in Tergall Pfarrer ist?« »Nein, aber woher wißt ihr das?« »Ein Junge steckte uns eben eine Mitteilung zu. Sie war für dich bestimmt. Tobby Sturgess teilte dir mit, daß du ihnen nicht glauben solltest, und er allein im Besitz der Wahrheit ist. Er bat um deinen Besuch und darum, den Zettel sofort zu vernichten.« »Was kann das zu bedeuten haben?« Sturgess sah sie ratlos an. »Um das herauszufinden, sind wir bereits auf dem Wege zum Pfarrhaus. He, Dolan. Hier ist die Kirche und links die Pfarrei. Warum hältst du nicht an?« »Weil vor dem Pfarrgarten der Wagen steht, der uns von London bis hierher gefolgt ist. Drei Kerle saßen drin. Vermutlich Staatssicherheitsdienst. Na, wenigstens ist die Partie ausgeglichen.« Ruben Dolan zog das Fahrzeug in die nächste Seitenstraße hinein, während Wanted Sturgess fragte: »Wie ist das mit dir, Male so von Mensch zu Rigilaner. Schlägst du bei Verdruß eine solide Kelle?« »Was tue ich?« »Mann, o Mann! Dein Vater hat dir in der AURORA die falschen Filme postum vorgespielt. Ich will wissen, ob du hinlangen kannst. So...« Willie demonstrierte Schattenboxen. »Ach so...« Sturgess grinste. »Wenn wir Rigilaner mit Feindverhalten konfrontiert werden, macht es hier oben klick, und unser Selbsterhaltungstrieb ist aktiviert.« »Das hört sich ein wenig verschwommen an. Aber wir lassen uns gern überraschen. Nicht wahr, Ruben ?« »Freunde, ich verstehe immer noch nicht.« »Lieber Malcolm, ahnungsloser Sonnyboy vom andern Stern. Hast du noch immer nicht begriffen wie der Hase läuft?« fragte Wanted mit unendlicher Liebenswürdigkeit. »Sie werden versu-
chen, dich fertigzumachen. Ihre weiche Welle hast du schon kosten dürfen. Leider blieb sie nicht ohne Eindruck auf dich. Wenn die auf hart schalten, um sich in den Besitz deines Raumschiffes zu setzen, beziehungsweise hinter die Geheimnisse eurer Technik und Wissenschaft zu kommen, hilft dir auch deine hohe Lebenserwartung nur einen feuchten Dreck. Du kannst von Glück sagen, daß du an uns geraten bist. Ruben und ich stehen in größtmöglicher innerer Opposition zu unserem politischen System. Wir sehen es als unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit an, einen Freund, der für uns Freiheit und ein besseres Leben versinnbildlicht, vor Gefahren zu schützen. So, das war eine verdammt lange Rede. Rhetorisch könnte ich mich jetzt für die nächsten zwei Jahre zur Ruhe setzen.« »Freunde, ihr habt mich verwirrt«, sagte Sturgess leise. »Das legt sich, sobald du beginnst, irdisch zu denken, irdisch denken, bedeutet krumm zu denken. Du denkst zu geradlinig, Male.« »Wir nähern uns durch den rückwärtigen Teil des Pfarrgartens vorerst der Kirche«, sagte Dolan, der inzwischen den Wagen zum Halten gebracht hatte. »Also, dann los!« Die Männer stiegen aus dem Fahrzeug. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Die verhutzelten Häuschen wirkten wie die Kulisse eines Kasperletheaters. Sie übersprangen einen niedrigen Zaun, der zwei unbewohnte Häuser miteinander verband. Wilder Rhabarber schlug mit großen fleischigen Blättern auf ihre Schenkel ein. Obstbäume düngten ihre Wurzeln mit Eigenerzeugnissen; süßlicher Fäulnisgeruch lag in der Luft. Kreuzottern lagen auf nackten, heißen Steinen. Rauchschwalben durchsichelten Himmelsblau. Schweigend arbeiteten sich die Männer durch das üppige Unkraut zu dem kleinen, trutzigen Kirchlein aus gemauerten Feldsteinen hin. Daneben ein winziger Anbau mit bleiverglasten, bunten Fensterscheiben und einer mit Nägeln beschlagenen Tür. Dolan drückte die Klinke. Die Tür glitt zurück. Der Weg war frei in eine Totenkammer. Im offenen Fichtensarg auf primitiven Holzböcken lag ein altes Mütterchen im Hemd aus Papier. Das runzlige Apfelgesicht im friedlichen Einklang mit dem Tod. Eine zweite Tür führte sie, an der Kanzel vorbei, ins Kirchenschiff. Ein Mittelgang. Beidseitig davon sechs Reihen unbequemer
Holzbänke. Liedertafeln an den weißgetünchten Wänden. Das Hauptportal zum Kirchenplatz hinaus stand offen. Irgendwo krähte ein Hahn. »Was war das?« flüsterte Sturgess. »Ein Hahn. Das erkläre ich dir später«, flüsterte Wanted zurück. Dolan deutete auf eine Tür in der halbdunklen Nische, rechts der Seitenwand. Katzengleich glitt er darauf zu. Wanted und Sturgess folgten dichtauf. Es kam Spannung auf. Leider keine Stimmung. Sie waren bis auf wenige Meter heran, als die Tür von innen hart aufgestoßen wurde. Drei Männer in Leder stürzten sich mit scharfgeschliffenen, bajonettartigen Stichwaffen auf sie. Bei Geheimpolizisten waren diese Zacken für gemeinen Meuchelmord sehr beliebt. * Ruben machte sich schlank. So entging er dem fahlen Stahlblitz, der seinem Herzen zugedacht war. Jetzt aber drehte er sich unheimlich schnell zu Seite, stieß dem Agenten mit dem Fuß das Bajonett aus der Faust und trieb ihn auf Wanted zu. Willie fing ihn mit einem Haken zum Kinn ab. Inzwischen hatte sich Malcolm dem zweiten Geheimen zugewandt. Sein Körper schwang wie ein Quarzkristall, mehr als tausendmal in der Sekunde. Er wurde durchsichtig, umgeben von einer flirrenden Aura, ein furchterregendes Wesen mit stark granuliertem Keilkopf auf rhombusförmigem Rumpf und pneumatisch entrollbaren Gliedmaßen. Zwei Sekunden dauerte dieser Zustand. Danach dominierte Sturgess' ursprüngliche Gestalt, bis von seinem außerirdischen Erbteil nichts mehr zu sehen war. Zu seinen Füßen lag ein Mann, der den Eindruck machte, zellzerstörerischen Ultraschallwellen ausgesetzt gewesen zu sein. Unterdessen bemerkte Dolan mit Schrecken den Strahler in der Hand des dritten Agenten. Er kannte die tödlichen Waffen zur Genüge und wußte, daß sie - unbewaffnet wie sie waren - keine Chance dagegen hatten. »Geheimpolizei«, keuchte der Agent. »Das kommt Sie teuer zu stehen, Kapitän. Sie und Wanted waren uns von Anfang an suspekt. Eurem sauberen Freund und Verwandlungskünstler werde
ich jetzt mit dem Laser das entartete Gehirn rösten. Gehen Sie mir aus dem Wege, Dolan!« »Fällt mir im Traum nicht ein«, knurrte Ruben und deckte weiterhin den Freund mit seinem Körper. Mit haßvollen Blicken maßen sich die beiden Männer, die zwei so grundverschiedene Weltanschauungen verkörperten. Dolan gewahrte Blut an den Händen des Agenten. Auch dessen schwarze Lederjacke wies rostrote Flecken auf, »Zum letzten Mal, Dolan oder Sie müssen als erster dran glauben!« »Laß mich nur machen, Ruben «, sagte Male Sturgess hinter ihm. Er schob den Freund einfach beiseite und ging auf den Mann mit dem Laserstrahler zu. »Ist mir auch recht«, sagte der Agent mit sadistischem Behagen. Er schoß von der Hüfte aus. Ein bleistiftstarker, weißroter Laserstrahl stach knisternd aus der Waffe und traf Sturgess in Brusthöhe. Dann tropfte er als optisches, psychedelisches Licht ohne weitere Wirkung auf den Boden. Fassungslos stierte der Agent auf die Waffe in seiner Hand. Und dann mit Todesfurcht und Entsetzen im stupiden Gesicht Sturgess in die glühenden Augen. Schreiend warf er sich herum, um zu flüchten. Aber schon war Sturgess bei ihm und fuhr ihm mit einem plakettenartigen Gegenstand über den Hinterkopf. Der Agent stolperte und fiel zu Boden. Er war bei Besinnung, jedoch nicht mehr bei Verstand... Mit den beiden anderen Agenten verfuhr Sturgess ebenso. Dann stürmte er in den Raum hinein, der als Schule diente. Er lief durch die mittlere Bankreihe zum Katheder, legte den Oberkörper darüber und stieß einen nie zuvor gehörten Schrei aus, daß es Dolan und Wanted kalt überlief. Grauen packte sie. War dieser Mann, dessen Gefährlichkeit sich explosionsartig offenbart hatte, noch ihr Freund? Als sie jedoch hinter dem Lehrerpult Pfarrer Sturgess in seinem Blut liegen sahen, buchstäblich abgeschlachtet, war ihre Verfassung ähnlich wie die von Sturgess. »Mein Gott«, sagte Dolan erschüttert. Er kniete neben dem Toten und drehte ihn so, daß er in dessen Gesicht sehen konnte. Tobby Sturgess gebrochene Augen sahen durch ihn hindurch in
die Ewigkeit. Sein Gesicht im Kranz weißer Haare war wächsern bleich. Der Hals wies in Höhe des Kehlkopfes mehrere Stichverletzungen auf. Dolan und Wanted kannten diese Art, Delinquenten am Schreien zu hindern. Weitere schwere Stichverletzungen auch im Magen- und Leberbereich zu finden. »Viel Aufwand an krimineller Energie für einen gebrechlichen, alten Herrn«, sagte Wanted bitter. Er stand jetzt seitlich des Pults und blätterte in einem Kirchenbuch. »Es fehlen Seiten vom September des Jahres neunzehnhundert-neunundachtzig. Auch hier: Spuren von Blut. Frische Spuren. Einer der drei Täter hat die Seiten nach der Bluttat aus dem Kirchenbuch entfernt.« »Ich sehe nach«, sagte Dolan knapp, kam aus seiner knieenden Haltung hoch und ging zu den dreiparalysierten Agenten. Er durchsuchte ihre Taschen und fand in einer der Innentaschen seines ersten Gegners die fehlenden Seiten aus dem Kirchenbuch. Ruben trat damit ans Fenster, in das schräg einfallende Sonnenlicht. Malcolm Sturgess hielt sich beharrlich an seiner Seite, während Wanted die Strahlenpistole vom Boden aufgenommen hatte und zum Kirchenportal eilte, von wo aus er, sich geschickt in Deckung haltend, nach draußen sicherte. Dolan glättete die blutbefleckten, an ihren Seiten stark vergilbten Blätter. Dabei rutschte ein alter, rotumrandeter Zeitungsausschnitt hervor, dem die beiden Männer vorerst keine Beachtung schenkten, weil zwei Eintragungen in steiler Handschrift ihre Aufmerksamkeit fesselten. Professor John Sturgess, geb. 14.9.1950 in Ramsey, Isle of Mangest. 19.9.1989 im Zuchthaus Dartmoor. Tod durch Erhängen. Ann Sturgess, geborene Winters, geb. 3.5.1958 zu Tergall gest. 19.9.1989 im Zuchthaus Dartmoor. Tod durch Erhängen. Gott sei ihrer Seele gnädig... »Allmächtiger Vater im Himmel«, keuchte Dolan, während Sturgess neben ihm merkwürdig ruhig blieb. Er riß den Zeitungsartikel hervor. Die unterstrichenen Zeilen sprangen ins Auge, brannten sich in ihr Bewußtsein ein: Zwischenfall bei Hinrichtungen von Systemgegnern im Zuchthaus Dartmoor ...vermochte der Knoten nicht, der zierlichen Delinquentin Ann Sturgess auf Anhieb das Genick zu brechen. Da sie nach zwei
Minuten, am Strick pendelnd, immer noch Leben zeigte, hängte sich schließlich ein Soldat mit seinem ganzen Gewicht an ihre Beine, Nun endlich war nach einer Minute alles vorüber und der Gerechtigkeit Genüge getan... Das Nachfolgende verschwamm vor Dolans Augen. Er weinte wie nie zuvor in seinem Leben. Nachdem er die Kirchenbuchblätter und den Zeitungsausschnitt Willie gegeben hatte, der gerade zu ihnen getreten war, sagte er zu Sturgess, der immer noch wie erstarrt stand und keinerlei Reaktion zeigte: »Male, sie haben Willie und mich genauso hereingelegt wie dich. Welch eine bodenlose Infamie!« Er ahmte Mrs. Browns Sprechweise nach: »Hier starb Professor John Sturgess im gesegneten Alter von siebenundachtzig Jahren, nachdem er seinen Frieden mit dem Direktorat gemacht hatte. Er folgte seiner geliebten Frau Ann nur drei Jahre später nach...« Willie Wanted ließ den Zeitungsartikel sinken. Er wirkte auf einmal hilflos und verloren und schüttelte, wie unter innerem Zwang, ständig den Kopf. »Neununddreißig Jahre alt ist John Sturgess geworden...« »Ich bringe diese Schweine um«, sagte Dolan außer sich. Da legte Malcolm Sturgess ihm eine Hand auf den Arm. Seine Stimme klang wie geschliffenes Mondlicht, der Blick seiner Augen war kontemplativ nach innen gekehrt. »Nein, meine Freunde«, sagte er leise. »Wir werden sie an ihrer empfindlichsten Stelle treffen. Mitten ins Mark. Nicht morgen, nicht übermorgen. Aber bald...« »Und dieses Gemetzel hier, Male?« schrie Dolan verzweifelt. »Sie werden wissen, woran sie sind, wenn sie das hier sehen.« »Ihre Sicherheitsorgane werden lediglich drei Idioten vorfinden, die in geistiger Umnachtung einen Geistlichen töteten. Nichts wird auf uns hindeuten. Laßt mich jetzt bitte für einen Augenblick der Konzentration allein, meine Freunde...« * Nach den tragischen Ereignissen in Tergall stand den drei Freunden kaum mehr der Sinn danach, der Regierungseinladung zu folgen, im Wembley Stadion einem Fußball-Match zwischen F.
C. Liverpool und Tottenham Hotspurs beizuwohnen. Wenn sie dennoch vor dem Anpfiff des Spiels auf der überdachten Ehrentribüne saßen, so deshalb, um durch ihre Anwesenheit jeden Argwohn der Sicherheitsbehörden zu zerstreuen. Links neben Malcolm Sturgess saß ein hoher Funktionär des Fußballverbands. Rechts von Malcolm hatten Willie und Ruben Platz genommen. Hinter ihnen gaben sich vier Geheimbullen betont unauffällig. Vorerst damit beschäftigt, bunt schillernde Limonade aus Pappbechern zu schlürfen. Über dem Stadion kreisten Hubschrauber der Polizei. Wie Giftstacheln waren die Läufe ihrer Betäubungsmaschinengewehre anzusehen. Eine Mädchenriege in braunen Trikots, blaue Fahnen schwenkend, räumte zu den Klängen einer Militärkapelle gerade den Rasen. Schließlich brandete ohrenbetäubender Jubel im weiten Stadionrund auf. Luftballons schwebten in dichten Wolken gen Himmel. Fanfaren, Glocken, Pfeifen und Gejohle steigerten sich zur Raserei, als die Mannschaften einliefen: Liverpool in blauroten Trikots, darüber Westen aus zäher Büffelhaut und Tottenham Hotspurs in schwarzweißen Jerseys. Ebenfalls ärmellose Westen darüber. Sturgess erinnerte sich nicht, so etwas in den Videoaufzeichnungen seines Vaters gesehen zu haben. Auch nicht die kleinen Stäbchen, die jeder Spieler in der rechten oder linken Hand trug. Ein weiteres Novum schien darin zu bestehen, daß auf den Reservebänken beider Mannschaften an die dreißig Ersatzspieler je Club saßen. Der Schiedsrichter im traditionellem Schwarz hatte einen Stock dabei, der eine verteufelte Ähnlichkeit mit den Schlagstöcken der Mob-Polizisten besaß, von denen es im Stadion eine ganze Menge gab. Jetzt pfiff der Unparteiische das Spiel an. Schon in der dritten Minute bugsierte der Liverpool-Libero den Ball in gegnerische Netz. Die Anhänger des Clubs rasten. Abstoß vom Tor Tottenhams' Hotspurs' Linksaußen holte sich das Leder, tändelte ballverliebt damit herum und schlug dann einen herrlichen Paß ins Mittelfeld, wo ein Stürmer seiner Mannschaft den Ball aufnahm. Doch wurde der von einem Gegner hart angegangen und mußte zu Boden. Johlen, Pfiffe des Unmuts, Klatschen, Beifallsgeschrei. Der Funktionär neben Sturgess reichte dem Rigilaner, rein aus
dem Häuschen, seinen Feldstecher. »Sehen Sie sich das an, Sir! Sauberer Blattstich. Mitten ins Herz!« Male Sturgess glaubte sich verhört zu haben. Deshalb nahm er das Glas, um das Geschehen auf dem Rasen besser verfolgen zu können. In der Tat. Der am Boden liegende Liverpool-Spieler hatte in Höhe seines Herzens eine stark blutende Stichwunde. Jetzt wurde er von einigen Sanitätern versorgt. »Versorgt«, war nicht das richtige Wort, weil der Spieler tot war. Er wurde auf eine Trage gelegt und im Galopp vom Rasen getragen. Bei der Reservebank der Liverpooler lief sich ein Reservespieler warm. Sturgess wandte sich an den Sportfunktionär. Dieser trug eine karierte Sportmütze, den Schirm in der Mitte mit einem Kniff versehen. »Verzeihung, mein Herr. Entweder bin ich nicht ganz richtig im Kopf, oder es sind seit damals neue Elemente in die Spielregeln aufgenommen worden. Gehe ich richtig in der Annahme, daß soeben ein Spieler von einem gegnerischen Spieler offenbar mit Duldung des Unparteiischen durch verdecktes Erstechen vom Ball getrennt wurde?« Anstelle einer Antwort gröhlte der Funktionär: »Da, sehen Sie. Der zweite. Öffnung der Halsschlagader. Mann, sprudelt das!« Willie Wanted, der die Nöte seines Freundes Malcolm erkannte, gab ihm die Antwort: »Es hat sich tatsächlich einiges getan seit damals, Malcolm. Man nennt es jetzt Kampffußball. Jeder Spieler bekommt von der Eich- und Doopingkontrolle vor dem Match ein Stilett ausgehändigt. Doch in Wirklichkeit verfügt jede Mannschaft nur über drei scharfe Stiletts. Die anderen acht sind Attrappen. Kein Spieler kann sagen, bevor er nicht zugestochen hat, ob er eine Stichwaffe oder eine Attrappe mit sich führt. Die scharfen Waffen können natürlich von Spieler zu Spieler weitergegeben werden. Sieh hin, Malcolm. Eben wird der dritte Spieler, allerdings mit einem Nierenstich das gibt die gelbe Karte -, vom Platz getragen. Es gibt Spitzenspiele innerhalb der Divisionen, bei denen im Spielverlauf die komplette Mannschaft ausgetauscht werden muß. Deshalb auch die vielen Ersatzspieler auf den Reservebänken « »Und warum hat man die Spielregeln so unmenschlich eskaliert?« fragte Malcolm völlig konsterniert. »Einmal glaubte man damit den Aggressionen der hochdotierten Spieler Rechnung tragen zu müssen. Zum anderen ist der Staat
nach der langen Periode weltweiten Friedens bestrebt, niedrigste Killerinstinkte für die Abrechnung mit den demokratischen Nachbarstaaten wachzuhalten. Im übrigen hat es gerade Nummer fünf, den Torwart von Tottenham Hotspurs erwischt.« »Darf ich dir etwas sagen, Willie?« schrie Sturgess laut, um in dem wieder anschwellenden Höllenlärm verstanden zu werden. »Immer Male. Schieß los«, brüllte Wanted aufmunternd zurück. »Ich habe Heimweh. Heimweh nach Rigil, Willie...« * Von den oberen Rängen kam ein athletisch gebauter Mann mit Schlapphut und schwarzglänzendem Ledermantel zu ihnen herab. Er fixierte sie scharf aus rotgeäderten Augen und richtete sein Wort an Ruben. »Sind Sie Kapitän Dolan?« »Ja, der bin ich.« Der Mann ließ eine Marke sehen. »Militärische Abwehr. Major Dubois bittet Sie um eine kurze Unterredung. Jetzt, sofort.« Dolan tauschte mit Wanted einen Blick und murmelte: »Bis nachher - oder zum nächsten Wiedersehen auf dem Mars...« Ruben erhob sich und folgte dem Geheimagenten in den Verwaltungstrakt des Stadions. Nachdem sie einen langen Flur entlanggegangen waren, öffnete der Agent eine Tür mit der Aufschrift Sportoffizier. Er ließ Dolan den Vortritt in ein spatanisch eingerichtetes Büro. Major Dubois saß in Zivil hinter dem Schreibtisch. Mit einer ungeduldigen Handbewegung scheuchte er den Agenten aus dem Büro und bat Dolan mit liebenswürdiger Geste, ihm gegenüber Platz zu nehmen. »Zigarre, Kapitän?« »Nein, danke. Ich habe mir auf dem Mond das Rauchen abgewöhnt, Herr Major.« »Sehr vernünftig und nachahmenswert. Was ich sagen wollte... Ach ja, ich komme soeben aus dem Hauptquartier in Paris. Dort ist der Teufel los, weil die Bonzen wieder einmal mitmischen wollten und alles anbrennen ließen. Ich habe für Sie und Oberleutnant Wanted gutgesprochen. Andernfalls wären Sie beide schon zur Wahrheitsfindung in die Drogenmache genommen worden.« »Verzeihung, Herr Major. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie re-
den.« Dubois lehnte sich gegen die Stuhllehne zurück und polterte: »Na, hören Sie! Wollen Sie den alten Dubois, die härteste Beißzange in diesem Sonnensystem, veralbern?« »Das liegt mir fern, Herr Major. Ich fühle mich von irgendwelchen, uns unbekannten Ereignissen überrollt. Wollen Sie mir deshalb nicht erklären...?« »Sie waren mit Sturgess in Tergall!« »Die Weisungen lauteten, ihn dorthin zu begleiten.« »Haben Sie oder Oberleutnant Wanted bemerkt, daß der Fahrzeug observiert wurde?« »Nein. Wurden wir beschattet?« »Jawohl, von Agenten des Staatssicherheitsdienstes. Aber ohne unser Wissen und Billigung. Diese Dummköpfe bekamen von ihrer Zentrale den Funkbefehl, einen Verwandten Sturgess, dessen Existenz von den Behörden übersehen worden war, zu neutralisieren. Man wollte verhindern, daß dieser Mann, seinem Vetter oder was auch immer, ein Licht über das gewaltsame Ableben von Sturgess' Eltern aufsteckte.« »Bedaure, von einer solchen Aktion haben wir nichts bemerkt«, sagte Dolan. »Wir hätten sie auch sofort dem militärischen Abwehrdienst gemeldet.« »Ihre Aussage deckt sich mit der der Staatssicherheitsagentin Brown. Ein Pluspunkt für Sie beide, Kapitän. Etwas grauenhaft Stümperhaftes haben sich die Zivilbullen erlaubt. Sie erwischten Pfarrer Sturgess mit einem Kirchenbuch des Jahres 1989. Der Tod des Ehepaares John und Ann Sturgess durch Erhängen war darin dokumentiert. Das war Beweis genug für diese Hohlköpfe. Ohne Phantasie stachen sie den Geistlichen nieder. Und jetzt kommt das Sonderbare: Als ob der Himmel sie für diesen Frevel an einem Pfarrer bestraft hätte, verloren die Geheimpolizisten ihren Verstand. Als man sie fand, krochen sie auf dem Boden herum und drehten aus ihrem eigenen Mist Kügelchen.« »Vielleicht war es tatsächlich eine Art Gottesurteil, Herr Major. Wir leben zwar in einer aufgeklärten Zeit, aber...« »Glauben Sie, es könnte tatsächlich etwas daran sein, lieber Dolan?« Dubois zeigte erstaunlicherweise Unsicherheit bei dieser Frage. Dolan hob mit todernstem Gesicht die Schultern. »Wer kann das genau sagen, Herr Major? Und wie soll es jetzt weitergehen?«
»Der Staatssicherheitsdienst hegt erhebliche Zweifel gegen Sie und Oberleutnant Wanteds Loyalität dem Staat und seinen Institutionen gegenüber. Es wurde angeregt, Sie beide abzulösen. Ich habe mir daraufhin Ihre Personalakten kommen lassen und sie genau studiert. Als Parteigänger unseres Systems machen Sie beide keine überzeugende Figur. Als Offiziere unserer Raumstreitkräfte haben Sie sich allerdings bewährt. Wir haben deshalb Ihre Ablösung in der Betreuung des Rigilaners abgelehnt. Heute abend im Astro-Club macht sich Olga Chochlow an Sturgess heran. Sie ist Agentin der dritten Sektion für Zersetzung und Infiltration. Kommt die Kameradin mit ihren bewährten weiblichen Reizen nicht zum Zuge, müssen wir abwarten, bis Sturgess Ihnen soweit vertraut, daß er Sie und Wanted an Bord seines Wunderschiffes mitnimmt. Als ausgebildete Raumpiloten dürfte es Ihnen beiden dann nicht schwerfallen, die CHIRON VI in Ihre Gewalt zu bekommen und Sturgess auszubooten. Vielleicht so, daß es nach einem Unfall aussieht. Was halten Sie davon, Kapitän?« »Diese Idee ist nicht schlecht, Herr Major. Man sollte allerdings nichts überstürzen und nichts unternehmen, was Sturgess mißtrauisch machen könnte.« »Mir aus der Seele gesprochen, Dolan. Pannen wie heute mittag wird es nicht mehr geben. Dafür sorge ich. Oberleutnant Wanted und Sie sind weiterhin vom Dienst freigestellt. Halten sie den Rigilaner bei Laune. Blasen Sie ihm meinetwegen Zucker in seinen Allerwertesten und konfrontieren Sie ihn möglichst nicht mit den Problemen des kleinen Mannes von der Straße. Er könnte ein schiefes Bild vom Direktorats-Regime bekommen. Das wäre es im Augenblick. Sie hören wieder von uns, Dolan. Sie können abtreten...« Dolan erhob sich und grüßte militärisch. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Herr Major!« Dolan war bereits unter der Tür, als sich Dubois noch einmal mit träger, öliger Stimme vernehmen ließ: »Und noch etwas, Dolan. Vielleicht das Wichtigste überhaupt. Es täte mir um Sie und Wanted leid, wenn Sie beide versuchen würden, den guten Dubois auf sein altes Kreuz zu legen. Ist das klar?« »Ich bin nicht lebensmüde, Herr Major. Ansonsten alles klar...?« Damit trat Ruben Dolan auf den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Ruben kehrte zur Halbzeit auf seinen Platz auf der Ehrentribüne
zurück. Die Geheimbullen palaverten im Stehkonvent und achteten nicht auf sie. Eine Marine-Kapelle zog unten auf dem Rasen auf. »Was hat es gegeben, Ruben ?« fragte Sturgess besorgt. »Alles in Ordnung, Male. Heute abend macht sich eine Geheimagentin an dich heran, und bei nächster Gelegenheit sollen Willie und ich dir dein Raumschiff ein bißchen klauen und dich im All ausbooten.« Sturgess fand bei diesen reizenden Aussichten seinen Humor wieder. Er grinste breit und behäbig. »Na, dann ist ja tatsächlich alles in Ordnung, Freunde. Ich muß schon sagen, an Überraschungen mangelt es denen nicht...« »Das ist ja mein Reden«, sagte Dolan und grinste zurück. »Nur mit der Dame von der dritten Sektion wird es Schwierigkeiten geben, fürchte ich«, meinte Sturgess und sah bekümmert an sich herab. »Aber wieso, Malcolm?« fragte Willie Wanted erstaunt. Sturgess errötete sanft. »Ihr müßt wissen, Freunde, ich habe zwei...« * Der Londoner Astronauten-Club war hohen Offizieren und Bonzen vorbehalten und wie ähnliche Vergnügungsstätten und Restaurants in ehemaligen Clubhäusern der englischen High Society untergebracht. Hier konnte man zwischen englischer, deutscher und französischer Küche wählen und dazu exquisiten Champagner »aus der guten, alten Zeit« genießen, während das einfache Volk in klebrigen Pubs Kunstbier und synthetischen Whisky mit psycho-pharmazeutischen Zusätzen zur Gemütskontrolle vorgesetzt bekam. Um 20.00 Uhr hielt der neutrale Dienstwagen der Streitkräfte, von einem Unteroffizier gesteuert, vor dem Portal des Astronauten-Clubs. Dolan, Sturgess und Wanted stiegen aus. Sogleich gegen Passantenübergriffe durch stämmige Mob-Polizisten abgeschirmt. Aus einer nahen Imbißstube wehte der Geruch eines süßlichen Heißgetränks zu ihnen herüber, eingebettet im fetten Dunst brutzelnder Innereien. Kinobesucher strömten aus den Notausgängen des
Theaters für dreidimensionalen Duftfilms nebenan. »Machen wir vorher noch einen Bummel?« fragte Dolan die Freunde. »Ich persönlich bin nicht wild darauf«, antwortete Sturgess. »Also gehen wir hinein...« Willie Wanted übernahm die Spitze. Offenbar war ihre Ankunft bereits avisiert worden, denn die livrierten Türsteher, Kleiderschränke mit Argusaugen, verzichteten auf das Vorzeigen der Ausweise. Im Foyer festlicher Glanz: Kristallüster, Spiegelflächen in Mahagoni. Die Füße versanken in kostbaren Täbristeppichen. Abendkleidung und Galauniformen dominierten. Olga Chochlows Auftritt kam nach dem vorzüglichen Diner im Speisesaal des Clubs, als man nebenan beim Mokka an der Bar saß. Die knappsitzende, blaugraue Uniform der weiblichen Raumpiloten mit den breiten Schulterstücken eines Majors modellierte die weiblichen Attribute ihres wohlproportionierten Körpers heraus. Die Feldmütze hatte sie keck auf das füllige schwarze Haar gesetzt. Der Rock endete zwei Handbreit über dem Knie. Dreieinhalb Reihen Ordensspangen ließen die Augen eines Betrachters immer wieder zu der wehrhaften Batterie ihres hohen Busens zurückkehren. »Das muß sie sein, Malcolm«, flüsterte Wanted dem Freund zu. »Kracht das hübsche Kind nicht vor Sex aus allen Nähten?« »Ich wette, die hat noch nie am Kommandopult eines Raumschiffes gesessen. Es sei denn auf den Knien des Piloten«, sagte Dolan. »Ich werde jetzt das Mädchen zu einem Drink einladen. Du wirst dich schon um sie kümmern müssen, Malcolm.« »Okay, hol sie her, Ruben. Ich werde krumm denken, irdisch denken. Richtig so, Willie?« »Das war schon ganz fabelhaft. Du machst Fortschritte, Male. Balze ihr etwas vor. Das kann unserer Sache nur dienlich sein«, sagte Willie grinsend. Ruben Dolan redete bereits auf die Frau ein. Es sah so aus, als ob sie sich nur schwer entscheiden konnte, bei ihnen am Bartresen Platz zu nehmen. Aber dann kam sie doch... Im Plauderton stellte der Kapitän ihr Male Sturgess als »Tramp zwischen den Sternen« vor und rief nach rotem Krimsekt. Nachdem man sich zugetrunken und einige Nettigkeiten ausgetauscht hatte, ließen Dolan und Wanted den Freund und die Chochlow unter dem Vorwand allein, im Billardsaal nebenan eine Partie
spielen zu wollen. Olga produzierte mädchenharte Scheu. Sie mußte sich eingestehen, daß ihr Sturgess sehr gefiel. Er hatte Charisma und den leichten Hauch herber Männlichkeit. Sie witterte und spürte, daß Sturgess sich anatomisch von Erdenmännern unterschied. Und das reizte sie ungemein an ihm. »Man kann die Streitkräfte beglückwünschen, Piloten wie Sie in ihren Reihen zu haben«, sagte Sturgess galant und hob ihr das Glas entgegen. »Der Sieg wird Ihnen immer sicher sein!« »Oh, Sie sind ein Chameur Malcolm. Lassen Sie mich bitte Malcolm sagen, wie Ihre Freunde Sie nennen.« Sie warf ihm einen glutvollen Blick zu. »Im Vertrauen, Olga. Dolan und Wanted sind nicht meine Freunde«, raunte er. »Sie sind meine Aufpasser. Aber ich mag sie trotzdem.« »Malcolm, Sie wollen doch nicht sagen, daß man Sie, einen Gast des Direktorats, beschattet?« Na warte, du heuchlerische Schlange, dachte er, während er antwortete: »Zumindest habe ich zeitweilig das Gefühl, meine liebste Olga. Aber ich muß zugeben, daß man bei uns zu Hause genauso verfahren würde. Wollen wir tanzen?« »Gern, Malcolm...« Olga Chochlow ging vor ihm her zur Tanzfläche. Die Combo auf dem Podest spielte eine Schnulze, die einen romantischen Mond zum Gegenstand hatte. Außer ihnen tanzten noch drei andere Paare, Wange an Wange, selbstvergessen. Die Agentin schmiegte sich in Sturgess' Arme und gab sich mit geschlossenen Augen dem Rhythmus des Tanzes und seiner Nähe hin. »Sie sind eine wunderbare Frau«, flüsterte Sturgess in ihr Ohr. »Und du, Malcolm Sturgess, bist ein wunderbarer Mann«, gab sie zurück. Ein Schauer der Wollust durchrieselte ihren Körper, als er ihre Wange küßte. Ihr sinnlicher Blick umflorte sich, sie atmete erregt, als sie heiser sagte: »Ich möchte jetzt mit dir allein sein, Malcolm.« »Aber wo, Darling? Ich bin mit Dolan und Wanted hier.« »Gehen wir nach diesem Tanz nach oben. Ich habe dort ein Zimmer. Möchtest du?« »Das fragst du noch, Darling?« Olga nahm den Rigilaner bei der Hand, und verließ mit ihm die
Tanzfläche. Als sie wie ein Liebespaar über die Freitreppe nach oben gingen, sagte ein massiger Herr in weißer Smokingjacke, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, zu seinem Tischnachbarn: »Wie Sie sehen, läßt sich die Sache fabelhaft an, Herr Generaloberst.« »Und wie sieht die Planung weiter aus. Major Dubois?« fragte Beutmann vom Staatssicherheitskomitee. »Soll das Paar in flagranti ertappt und öffentlich zur Verlobung veranlaßt werden?« »Nein, das wäre zu plump und durchsichtig, Herr Generaloberst. Überlassen wir alles dem Sexus und notfalls gewissen Stimulantien. Die Chochlow wird das schon machen...« * Olga Chochlow führte den Rigilaner in ein lauschiges Separee mit schwellenden Seidenpolstern, roter Beleuchtung aus indirekten Quellen und zärtlicher Softmusik. Ein vorzügliches kaltes Büfett bot ungeahnte Gaumengenüsse. Verschiedene Getränke standen in einem Barschrank bereit. So lange gedachte Sturgess gar nicht zu bleiben. Das Gesicht vor Gier nackt und obzön, warf Olga sich in seine Arme, knöpfte ihre Uniformbluse auf und hob die schweren, milchweißen Brüste aus den Körben ihres BHs. »Sieh mich an, Olga«, sagte Sturgess leise und eindringlich. Sie schlug die heißen Augen zu ihm auf und war sogleich gefangen von der lähmenden Kraft seiner unergründlichen Pupillenschächte. Olga Chochlow fühlte in sich eine zuvor nie gekannte süße Schwere, die mehr und mehr ihr Bewußtsein einlullte und deren Erlösung, traumloser Schlaf war. Sturgess fing die Frau auf und ließ sie sanft in die Polster gleiten. Dann holte er aus seiner Anzugtasche ein flaches, handgroßes Gerät hervor einen sogenannten Ekphorierrecorder. Er zog einige Sensoren an hinreichend langen Litzen heraus und legte die selbsthaftenden, briefmarkengroßen Metallplättchen an Olgas Schläfen, Stirn und Hinterkopf. Danach gab Sturgess Energie auf das Gerät. Der Minischirm des Oszillographen zeigte Licht und tanzende, grüne Linienmuster. Sturgess grunzte zufrieden. Er nivellierte eine zitternde Nadel in den kaum Millimeter großen Grün-Bereich und drückte gleichzei-
tig einen Knopf in das Gerät. Von nun ab zeichnete der Ekphorierrecorder mit rasender Schnelle sämtliche Gedächtnisinhalte der gefährlichen Geheimagentin auf. Nach knappen fünf Minuten flachten die Zackenlinien des Oszillographen im Ekphorierrecorder ab, erloschen schließlich ganz. Sturgess schaltete das Gerät um und aktivierte eine andere Funktionseinheit, die der Empfindungswelt der Chochlow die köstlichsten Minuten einer Liebesvereinigung einsuggerierte und zweifelsfrei glaubhaft machte. Danach löste Sturgess die Sensoren von Olgas Kopf. Er schob den Recorder in die Hosentasche, lockerte seinen Binder, entledigte sich seines Jacketts und ließ sich neben Olga auf die Polster sinken. Dann schob er Olgas Rock bis zu den Hüften hoch. Einen Slip trug sie nicht... Nach weiteren fünf Minuten erwachte die Agentin neben ihm. Ihr Gesicht wirkte zärtlich und gelöst. Verschämt zog sie den Rock hinunter. Dann stützte sie sich auf den linken Ellbogen, küßte ihn auf die Augen und sagte: »Denkst du jetzt auch nicht schlecht von mir?...« »Aber warum sollte ich, Olga?« Sie küßte ihn abermals und sagte, hingerissen wie es nur eine Frau sein kann, deren Wünsche vollkommen erfüllt und deren Erwartungen weit übertroffen worden waren: »Malcolm Sturgess, du warst wundervoll! Du hast mir mehr gegeben als irgendein Mann vor dir. Malcolm, ich liebe dich. Ich liebe dich so, daß ich dir gestehen möchte, daß ich Schindluder mit dir treiben wollte.« »Jetzt nicht reden, Olga«, sagte er. »Laß uns die letzten Minuten genießen. Dann müssen wir wohl wieder nach unten gehen...« * Nachdem Olga Chochlow und Malcolm Sturgess wieder in den unteren Clubräumen angelangt waren, hatten sie sich bald getrennt, nicht jedoch, ohne ein Rendezvous für den nächsten Tag abgesprochen zu haben. Während die Agentin wie der Rigilaner annahm davoneilte, um einem Vorgesetzten Rapport zu erstatten, suchte Male die Freunde Willie und Ruben. Er fand sie schließlich im Lesezimmer bei der
Durchsicht einiger Tageszeitungen. »Nun, wie sieht's in der Welt aus?« fragte Sturgess, und setzte sich zu ihnen an den runden Tisch. Dolan blickte von seiner Zeitung hoch. »Es werden wieder Zwischenfälle im Atlantik mit amerikanischen Marineeinheiten gemeldet. Wenn das so weitergeht, steuern wir auf einen globalen Krieg zu.« »Du sagst es, als ob dir der Gedanke daran nicht unangenehm wäre, Ruben.« »Willie wartet auf seine Befreiung«, erklärte Dolan grinsend. »Ich übrigens auch.« »Habt ihr keine Angst, daß hier jemand eure Gespräche mithören könnte?« fragte Sturgess besorgt. »Sie werden sich hüten, der Raumfahrerelite mit solchen Mätzchen zu kommen, Male. He, da fällt mir eben auf, du bist ja schon zurück.« Dolan zwinkerte verständnisinnig. »An der Bar sagte man mir gerade, ihr wäret in ein Chambre Separee gegangen.« »Richtig.« Dolan ließ die Zeitung sinken. »Wie war es denn?« »Während sie felsenfest glaubt, eine tolle Liebesstunde mit mir verlebt zu haben, kopierte ich ihre Gedächtnisinhalte.« »Und das kannst du so einfach?« horchte Dolan auf. »Mit dem Ekphorierrecorder ist das kein Problem.« »Äha, ich verstehe. Ein Produkt eurer Technologie, der unsrigen Jahrhunderte voraus.« Dolan sah Wanted an und fuhr fort: »Ist unser Male nicht ein ganz schlimmer Finger, Willie? Der zupft dir glatt die geheimsten Sachen aus dem Gehirn, während du arglos schlummerst.« »Hast du wenigstens Einblick in die finstere Seele der Agentin nehmen können?« fragte Wanted. »Ich glaube schon. Nachdem ich mich oben in der Toilette eingeschlossen hatte, las ich einen Teil der Aufzeichnungen. Zunächst eine Frage, Freunde: Was wißt ihr von den Deportationen zum Mars?« »Staatsgeheimnis Nummer eins, Male. Danach darfst du uns nicht fragen, weil wir nichts wissen«, sagte Dolan, und Wanted nickte zustimmend. »Das Gedächtnis der Chochlow sagt darüber so grauenvolle Dinge aus, daß, mein Verstand sich weigert, sie zu glauben. Die Chochlow hat zeitweilig an diesem Projekt mitgearbeitet und viele
auf den Mars geschickt. Jetzt wird sie ständig von Alpträumen heimgesucht.« »Träume haben keine Beweiskraft, Male«, sagte Wanted. »Eben darum sollten wir der Sache auf den Grund gehen«, meinte Sturgess. »Was wißt ihr von Gomow-City, Repsold-Village und Fleming-Base, Freunde?« Dolan antwortete: »Gomow und Repsold-City sind freischwebende, stationäre Fabrikstädte, fünfhundert Kilometer über der Mondoberfläche. Sie sollen für die Rüstungsindustrie arbeiten. Es kommen dort nur Grüne herein. Das sind Angehörige einer Verfügungstruppe, die dem Direktor für Innere Sicherheit untersteht. Und Fleming-Base ist die Raumstation, von der aus die Schiffe zum Mars abgehen. Versorgungspendler und so. Nebenbei auch ein Ort der Geheimniskrämerei.« »Willst du uns nicht verraten, warum Olga Alpträume hat?« Willie Wanted sah Sturgess fragend an. »Willie hat recht«, sagte Dolan. »Es ist besser, man ist informiert.« »Haben wir eine Möglichkeit, in die Fabrikstädte hineinzukommen?« fragte Sturgess. »Als getarnter Reparaturtrupp vielleicht«, antwortete Dolan nach kurzem Nachdenken. »Ich könnte ein kleines Raumboot beim Oberkommando loseisen, für eine mehrtägige Sight-SeeingTour dir zu Ehren, Male. Aber sie würden in diesem Fall mit einer Gegeneinladung zu einer Kreuzfahrt mit der CHIRON VI rechnen. Die Aussicht darauf macht sie natürlich heiß.« »Okay, Ruben«, sagte Sturgess entschlossen. »Wirf ihnen diesen Köder hin. Verschaffe uns ein Raumboot und einige Tage Bewegungsfreiheit.« »Ich werde gleich mit Major Dubois sprechen. Er ist im Club. Solange die CHIRON VI auf Dädalus steht, werden sie keinen Verdacht gegen uns hegen. Im Gegenteil, sie werden froh sein, wenn wir der Erde wieder den Rücken kehren.« »Gut, das wäre also das, Freunde«, sagte Sturgess. »Bevor ich euch jetzt zu einer Flasche Champagner einlade, um den schlechten Geschmack hinunterzuspülen, will ich Willies Frage wenigstens andeutungsweise beantworten. Die Bevölkerung des Direktorats ernährt sich in der Hauptsache von Tablettenmenüs und anderen Ernährungskonzentraten.« »Ja, was ist so verwunderlich daran?« fragte Wanted. »Wir
selbst kriegen diese Tang- und Was-weiß-ich-noch-Klopse beinahe täglich in der Kantine vorgesetzt.« Sturgess sah lange auf seine Schuhspitzen, bevor er sagte: »Ein Teil der angeblich für den Mars bestimmten Deportierten kehrt vom Mond in Form stark eiweißhaltiger Nährstoffe in eure Mägen zurück.« Wanted wurde grün im Gesicht. Er würgte, preßte eine Hand auf den zuckenden Mund und rannte auf die Toilette hinaus. Dolan kam ihm nachgeschossen. * Nach fünf Tagen Warten auf die Genehmigung war ihr Start vom Weltraumbahnhof Spadeadam bei Carlisle, NorthCumberland, erfolgt. Von diesem ehemals größten Raketenversuchszentrum Großbritanniens war vor rund zweihundert Jahren John Sturgess' AURORA zum Flug ins Ungewisse gestartet. Ihr Raum-Patrouillenboot war ein altes Modell der PUMA Klasse, bei dem noch luftatmende Triebwerke den Start übernahmen. Keine Zweifel bestanden bei den drei Freunden Wanted, Dolan und Sturgess, daß das Oberkommando der Raumstreitkräfte diesen unbewaffneten »Seelenverkäufer« reaktiviert hatte, damit Neugierde und eventueller Tatendrang nicht üppig ins Kraut schießen konnten. Ihre Informationen über Repsold-City waren dürftig. Das bedeutete letztendlich, aus dem hohlen Bauch heraus improvisieren zu müssen. Immerhin war es Dolan gelungen, drei passende Raumanzüge, wie sie von den Grünten getragen wurden, neben einigen Strahlerwaffen an Bord der PUMA III zu schmuggeln. Auch Sturgess hatte in einer Werkzeugtasche »einiges« dabei. Dolan leitete per Knüppelsteuerung ein Bahnänderungsmanöver für eine elliptische Umlaufbahn ein. Bei einer Kränkung von 11,5 Grad flutete grelles Sonnenlicht mit der Intensität einer Schweißbrennerflamme ins Schiff. Ihre Augen wurden von den Filterscheiben der Raumhelme geschützt. Medikamente schirmten sie gegen solare Strahlungsausbrüche ab, die aufgrund extremer Sonnenfleckentätigkeit gegeben waren. Wie ein rundes, blau-emailliertes Medaillon auf dem Dekolleté
einer schwarzen Schönheit glänzte links die Erde, während im harschen Kontrast dazu der unwirtliche Mond fast die ganze rechte Cockpitverglasung mit seinem Narbengesicht ausfüllte. »Woran denkst du die ganze Zeit über, Malcolm?« fragte Dolan den Rigilaner. »Ich überlege, warum die Chochlow nicht zum vereinbarten Rendezvous gekommen ist und auch niemand bereitwar, uns Auskunft über ihren Verbleib zu geben.« Wanted neben Sturgess grinste anzüglich. »Vielleicht macht sich die schöne Olga wegen >unüberwindlicher Abneigung< rar.« »Rede kein dummes Zeug, Willie«, fuhr Dolan ihm über den Mund. »Ich nehme an, man hat Olga zurückgepfiffen, um uns alles weitere zu überlassen.« »Eine Möglichkeit, die meine Befürchtungen leider nicht ausräumt«, sagte Sturgess sinnend. »Olga beichtete, >Schindluder< mit mir zu treiben. Jetzt überlege ich, ob sie in einem weiteren Anfall von Bekennermut nicht bei ihren Vorgesetzten unliebsam aufgefallen ist. Möglicherweise hat sie gesagt: >Hört mal, was wir mit Sturgess machen, ist eine Sauerei. Ich mag den Mann und schmeiße den Krempel hin<. Was würde in einem solchen Fall passieren, Freunde?« »Man würde Olga mit Psychopharmaka vollstopfen, ihr Gehirn waschen und versuchen herauszufinden, ob du sie >umgedreht< hast«, sagte Dolan. »Jetzt kommt es darauf an, ob deine Manipulationen an ihrem Gedächtnis nachgewiesen werden können, Male.« »Das ist völlig ausgeschlossen.« »Dann bleibt immer noch die Möglichkeit, daß die Psychologen auf >reines Versagen< befinden. Grund: emotionaler, nicht kompensierbarer Gefühlsstau<.« »Und was könnte das im Endeffekt für die Chochlow bedeuten?« Dolan hob seine Schultern. »Vielleicht Verbannung in die Provinz. Vielleicht auch eine psychotherapeutische Behandlung.« Dolan deutete auf den Radarschirm, auf dem vier helle Punkte sich der markanten Ortung der schwebenden Stadt näherten. »Dort kommen die für Repsold-City bestimmten Raumtransporter. Die Stationskomponenten liegen allesamt auf der erdzugewandten Seite der schwebenden Stadt. Während die Transporter dort andocken, um entladen oder wieder beladen zu werden, wird man kaum auf unser Boot und euer Aussteigen auf der Nachtseite
achten. Nahbereichs-Patroller sind nirgendwo auszumachen. Das nächste Boot kommt laut Zeitplan gegen 14.00 Uhr Bordzeit. Bis dahin müssen wir aus dieser Gegend verschwunden sein.« Ruben Dolan schaltete den Panoramabildschirm ein, auf dem Repsold-City sichtbar wurde. Dolan erklärte dazu: »Die freischwebende Stadt hat Hantelform. Sie wurde aus den Nutzmassekörpern riesiger Transportraketen zusammengesetzt. Ihre stationäre Höhe beträgt nahezu fünfhundert Kilometer. Die südlichen Systemkomponenten der Stadt beherbergen eine Radarstation für den Nah- und Fernbereich, die Unterkünfte eines Wachtregiments, Werkzeughallen, Ersatzteillager, Nahrungsmitteldepots und Hangars für die Raum-Patroller.« »Unser Ziel ist dieser Teil der Stadt«, fuhr Wanted fort. Er deutete mit dem klobigen Handschuh auf eine Ansammlung horizontaler Moduln, die wie gebündelte Orgelpfeifen unterschiedlicher Größe und Stärke aussahen und auch den gleichen silbernen Schimmer hatten. »Das hier ist die eigentliche Fabrikstadt. GSchächte verbinden die bis zu zwölf Etagen übereinander liegenden Komponenten miteinander.« »Ich sehe nirgendwo Schleusen«, sagte Sturgess. »Dafür sind wir noch nicht nahe genug heran. Die Schleuse F, die uns interessiert, liegt hier...« Wanted zeigte auf eine wulstförmige Ausbuchtung in der untersten Stadtetage. »Wir haben in Erfahrung bringen können, daß heute und morgen zwei Mechaniker damit beschäftigt sind, einen Stringer in Schleuse F auszuwechseln. Darauf basiert unser Plan.« »Ich glaube, ich kann die Fernbkameras abschalten. Wir sind nahe genug heran«, sagte Dolan. Sturgess blickte nach draußen. Repsold-City mit etwa zehn Quadratkilometern Flächenausdehnung wuchs rasch herauf und sah aus wie eine schimmernde Gralsburg der Ingenieurkunst. Dolan verringerte die Geschwindigkeit. Sie wurden mit 2 g in die Kontursessel gedrückt. Dann steuerte Ruben das Boot in einen toten Winkel der Radargeräte und ließ die PUMA III von schräg unten her auf die Stadt zudriften. »Uhrenvergleich: 10.02 Uhr Bordzeit«, sagte Dolan nach einer Periode gespannter Aufmerksamkeit. »Drei Stunden habt ihr Zeit. Dann picke ich euch wieder auf. Seid ihr soweit? In fünf Minuten schmeiße ich euch raus...« »Wir sind bereit«, sagte Wanted, während er seinen Anzug für
den Ausstieg präparierte. * Zischend entwich die Luft aus der PUMA III. Wanted entriegelte den Ausstieg und stellte die Luke hoch. Kurz horchte er in das Funktionssystem seines grünmetallisch schimmernden Raumanzugs hinein. Die Regelungsventile der Lebenserhaltung klickten normal. Den Urinsammler würde er kaum in Anspruch nehmen müssen. Ruhig und ausgeglichen atmete er reinen Sauerstoff mit 0,25 kp/cm 2. Er hängte sich die Werkzeugtasche um. Überzeugte sich, daß der Paralysator in der Halterung des linken Handschuhstulpens steckte. Rechts die Rückstoßpistole in der Hand, stieß er sich ab und schwebte, den Körper gestreckt, aus dem Patrouillenboot. Sturgess folgte ihm. Seine fließenden, harmonischen Bewegungen verrieten den geübten Weltraumspaziergänger. Vielleicht belächelte er jetzt ihre völlig veraltete und überholte Raumfahrttechnik. Unter ihnen glitt die PUMA III zurück. Im Pilotensitz saß Dolan, einen weißen Längsstreifen über dem grünen Helm. Er winkte ihnen noch einmal zu, bevor er den Ausstieg über sich schloß und das Cockpit wieder mit Sauerstoff belüftete. Wanted brachte seine Rückstoßpistole in Anwendung. Im Schrittempo trieb er auf die Schleusenkomponente zu. Das äußere Schleusenschott gähnte offen. Intermittierendes Licht schlug nach draußen, huschte fahl über die gerundeten Stahlflanken der Sedimente. Die Mechaniker waren vollauf mit Schweißarbeiten beschäftigt. Das erleichterte die unbemerkte Annäherung an Schleuse F. Sturgess schwebte leicht kopflastig links von Wanted. Fünfhundert Kilometer unter ihnen befand sich die Mondoberfläche. Die Sicht reichte bis zum Mare Frigoris. Kraterrillen, Ringgebirge und Verwerfungen in chaotischer, schwarzgrauer Trostlosigkeit. Über ihnen, schier erdrückend, die dunkeldrohende Unterseite der geheimnisvollen Fabrikstadt, in der immerhin zwölftausend Menschen ständig lebten. Immer noch zuckendes Schweißlicht im Innern der Schleuse. Wanted nickte Sturgess zu. Sturgess nickte zurück, den Paralysa-
tor schußbereit in der Hand. Zusammen segelten sie ins Schleuseninnere mit den Ausmaßen eines Einfamilienhauses. Willie Wanted strebte der Schaltstelle zum Schließen des Außenschotts zu. Sturgess brachte sich in den Rücken der beiden ahnungslosen Raummechaniker. Zweimal ruckte der Paralysator in seiner Hand. Kaum hatte sich das äußere Schott geschlossen, setzte automatisch künstliche Schwerkraft ein, und Luft füllte die Schleuse. Wanted beugte sich über die paralysierten Raumtechniker. Er beglückwünschte sich, als er an ihren Raumanzügen die quarzbestückten Ultraminiatursender fand, von denen jeder auf eine bestimmte Frequenz hochempfindlicher Empfänger in der elektronischen Stadtüberwachung abgestimmt, war. Wer ohne einen solchen Sender die Stadt betrat, löste automatisch Alarmstufe I aus. Wanted gab den zweiten Sender Sturgess. Der nahm ihn und öffnete das Innenschott zur Stadt. Vorsichtig traten sie auf die vor ihnen liegende Straße hinaus, die, nur notdürftig erhellt, sich zu beiden Seiten in der Ferne verlor. Sie schalteten ihre Tornistergeräte ab und öffneten die Helmvisiere. Es zirkulierte mit Fichtenaroma angereicherte Luft. Wanted rümpfte die Nase. Sturgess deutete auf eine Tür unweit der Schleuse. In Schablonenschrift stand in roter Schockfarbe daraufgeschrieben: Polizei-Skaphander-Room. Vergiß nicht, deinen Raumanzug anzulegen, wenn du Gassi gehst! Bert Olgesch Wanted öffnete die Tür. Der Raum vor ihm war hell erleuchtet. Er schritt die an Spezialbügeln säuberlich aufgehängten Raumanzüge ab, die alle am linken Oberarm das Emblem der Stadtpolizei trugen. Hier irgendwo mußten auch die Techniker für die Arbeiten in der Schleuse ihre Raumanzüge angelegt und ihre Uniformen zurückgelassen haben. »Ihre Sachen sind hier«; rief Sturgess vom anderen Ende. Wanted ging zu dem Rigilaner. Er ergriff einen der lichtblauen Overall. »Wir können nicht in Raumanzügen durch die Stadt marschieren. Da auf der Erde an diese Overalls nicht heranzukommen war, müssen wir sie anziehen. Zum Glück sind sie aus dehnbaren: Stretch hergestellt und somit passend. Wanted nahm den Overall und die dazugehörigen Utensilien wie
Schuhe und Uniformmütze und steuerte die nächste Kabine zum Umkleiden an. Sturgess suchte die Kabine nebenan auf. Er trat als erster heraus und hängte seinen Raumanzug in die Reihe der anderen. Dann befestigte er den Miniatursender auf der linken Brustseite seines Overalls, wo er vorher auch gesessen haben mußte, wie die Einstiche der Nadel verrieten. Er war kaum damit fertig, als Sturgess aus seiner Kabine kam, seinen formlosen Raumanzug über den Arm gehängt. Ein alter Mann im grauen Kittel, Typ Raumstation-Kalfaktor, kam im gleichen Moment von draußen herein. * »Hallo Jungs«, rief der Alte hemdsärmelig. Er hatte rechts eine Thermosflasche und links einen Becher in der Hand, den er mit Tee füllte. Er achtete darauf, daß er nichts verschüttete und näherte sich ihnen. »Habt ihr die Aussteifung in der Schleuse schon repariert?« Vor ihnen angelangt, hob er den Blick seiner kurzsichtigen Augen vom Becherrand, starrte verblüfft in Wanteds zu allem entschlossenes Gesicht und dann auf das Namensschild auf der linken Brustseite des Overalls. »He, was hast du in Boslepps Overall zu suchen? Wer bist du überhaupt?« Der Alte blickte nach rechts, genau auf den Impulsgeber von Sturgess Paralysator. »Und dich kenne ich auch nicht.« Die letzten Worte klangen schon recht bänglich. »Hör zu, Großvater«, sagte Wanted und ließ keinen Zweifel am Ernst seiner Worte offen. »Es widerstrebt mir, einen Mann zu paralysieren, der mein Vater sein könnte! Wir werden uns in Repsold-City umsehen. Keiner kann uns davon abhalten. Deshalb wird mein Freund dich jetzt mit seinen hypnotischen Fähigkeiten für ein paar Stunden einschläfern, bis...« Wanted unterbrach sich. Mißtrauisch sah er den Alten an, dessen zerfurchtes Gesicht sich mehr und mehr verklärte. Sogar Tränen standen in seinen verwaschenen Blauaugen. »He, Alter. Ist dir nicht gut?...« »Oh doch! Ich fühle mich so gut wie nie zuvor in meinem beschissenem Leben! Ihr seid amerikanische Agenten, nicht wahr?
Raumranger in geheimer Mission gegen die Militärdiktatur! Ich habe gewußt, daß es zum Krieg und zu unserer Befreiung kommen wird. Oh, Jungs, daß ich diesen Tag noch erleben durfte!« Der Alte schluchzte. »Kennst du dich da noch aus, Male?« fragte Wanted perplex. »Er ist in Ordnung« antwortete Sturgess. »Für mich ist er wie aus Glas.« Der alte Mann konnte sich nicht fassen vor Freude. Plötzlich jedoch sagte er: »In diesen Overalls kommt ihr keine hundert Meter weit, Jungs. Hat eure Zentrale das nicht gewußt? Jede Stadtebene hat eine andere Farbe. Nur eine besondere, changierende Rotfarbe gilt in der ganzen Stadt. Ein Glück, daß ich hereingekommen bin. Sie hätten euch gnadenlos verhackstückt. Aber gehen wir zu mir ins Büro. Ich bin Bert, der Anzugmeister. Für die Pflege der Raumanzüge der Stadtpolizei zuständig.« Der Alte eilte geschäftig voraus, Thermosflasche und Becher immer noch in der Hand. Mit dem linken Ellbogen öffnete er die Tür zu einem Raum. Entschuldigend sagte er: »Hier hause ich seit meiner Begnadigung vor zwanzig Jahren. Tretet näher, Jungs. Hier dürft ihr euch sicher fühlen wie unter dem Herzen eurer Mutter.« Wanted und Sturgess gingen in den Raum. Ein Feldbett stand rechts an der Wand, die mit Landschaftsfotos überklebt war. Mehrere graue Holzschränke, ein Stahlschreibtisch mit Telefon und vier Monitoren in einer Instrumentenkonsole machten beinahe schon die ganze Einrichtung aus. Der Alte schloß hinter ihnen die Tür und kratzte sich überlegend den eisengrauen Kopf. »Ihr wollt euch also umsehen. Doch was machen wir mit den beiden Mechanikern in der Schleuse?« »Die sind für die nächsten drei Stunden weggetreten«, sagte Wanted. »Bis dahin sind wir verschwunden.« »Trotzdem. Liegenbleiben können die dort nicht. Ich werde sie in den Trafo-Raum verfrachten und ihnen die Mini-Sender, mit denen ihr in die Stadt gelangt seid, wieder anstecken. Für euch habe ich die weitaus besseren und auch die richtigen Overalls dazu...« Der Alte riß einen Schrank auf und holte zwei rote Overalls mit den Rangabzeichen staatlicher Ernährungsingenieure hervor. Erklärend sagte er: »Zieht die Kleidung der Techniker aus und streift diese über. Das sind die Overalls von leitenden Ernäh-
rungsingenieuren, die zweimal im Jahr, unangemeldet und mit außergewöhnlichen Vollmachten versehen, zur Kontrolle von der Erde heraufkommen. Sie können sich in ganz Repsold frei bewegen. Und kommen immer durch Schleuse F herein. Später melde ich euch regulär bei der Stadtkommandantur an, und alles ist gelaufen.« »Bringen Sie sich nicht damit selbst in Gefahr?« fragte Wanted. Er traute dem Alten nicht ganz. Allerdings, wenn Sturgess meinte, er sei in Ordnung, dann war der Alte auch in Ordnung. Der Anzugmeister winkte ab. »Macht euch darüber keine unnötigen Gedanken, Jungs. Schlüpft in die roten Overalls und steckt euch diese Sonderausweise an.« Olgesch legte sie ihnen auf den Tisch. Das Telefon auf dem Schreibtisch summte. Er nahm den Hörer ab: »Skaphander-Room. Schleuse F...« Argwöhnisch legte Wanted eine Hand an den Kolben seines Paralysators, während Sturgess ungerührt den lichtblauen Overall mit dem roten vertauschte. Dann entnahm er seiner Werkzeugtasche einige kleinere Gegenstände, die er in den Taschen des Overalls unterbrachte. »Nein, tut mir leid«, sagte der Alte am Apparat. »Hier war der Rayonchef nicht. Ich lege ein Bild von den Docking-schleusen auf die Monitoren, Herr Oberstleutnant. Wenn ich ihn dort irgendwo sehen sollte, schicke ich ihn in Ihr Stadtbüro...« Der Alte legte auf. Er schlenkerte die Hörerhand, als ob er sich die Finger verbrannt hätte. »Teufel, Teufel! Das war Röder, der Geheimdienstchef für den Mondbereich. Ich wußte gar nicht, daß er in der Stadt ist.« »Ich kenne den feinsinnigen Sadisten«, knurrte Wanted. »Er darf uns auf keinen Fall sehen.« »Das wird er wohl kaum. Der kommt selten aus der oberen Etage in die untere Stadt. Die leichten Mädchen des Kasino halten ihn fest. Jetzt muß ich zusehen, wo Rayonchef Hopkins steckt.« Olgesch schaltete die Monitorschirme ein. Die in den vier Dockingschleusen installierten Fernsehkameras übertrugen Bilder apokalyptischen Grauens. Soldaten der Verfügungstruppe prügelten Deportierte beiderlei Geschlechts von Bord der Raumtransporter, dann durch die Dockingschleusen und in zwei nebeneinander liegende Laufgauge. Wo sie vor dem Innenschott zur Stadt endeten, standen Medizi-
ner mit Injektionspistolen und jagten ihnen mit hohen Drücken eine Psychodroge in die Armmuskulatur. Aus den Zuständen tiefster Verzweiflung über ihr Schicksal fielen die Ärmsten unmittelbar in dumpfe Teilnahmslosigkeit. Willenlos ließen sie sich in die Stadt treiben. Der alte Bert räusperte sich die Kehle frei. Ein Nerv pochte unterhalb seines rechten Auges. »Seht es euch an, Jungs. Seht es euch genau an. Dieser Anblick umkrallt mein Herz seit zwanzig Jahren mit der Faust des Grauens. Das ist Purgatorium Hölle vorweggenommen.« Er schaltete die Monitore ab. Obwohl innerlich bewegt und heftig atmend, fragte er sie: »Wo wollt ihr beginnen, Jungs?« »Bei den Räumen A, B, C und D - über die Bandstraßen hin zum Versandlager«, antwortete Sturgess, der sich auf die kopierten Gedächtnisinhalte der Chochlow stützte. »Ihr habt euch fast zuviel zugemutet«, murmelte der Alte, die Stirn gefurcht. »Aber ein Mann muß tun, was getan werden muß...« Er trat an den Stadtplan an der Wand neben der Tür und zeigte auf eine Sackgasse in der ersten Stadtetage. »Hier befindet sich eine Tür, die zu den Bändern führt. Genau hier müßt ihr beginnen, Jungs. Ich rufe gleich einen Robotcar herbei und programmiere für euch den Weg ein.« »Wie sieht es mit Kontrollen aus?« fragte Wanted. »In der Sackgasse ist eine Wachstation. Aber die Grünen hier achten lediglich auf die Farbe der Overalls und darauf, daß keine spielenden Kinder die Fabrikstadt betreten.« »Und an den Bändern selbst?« »Dort ist man vollauf mit anderen Dingen beschäftigt. An den Bandstraßen verrichten Robotautomaten die Arbeit. Hier läßt sich höchstens mal ein Automateneinrichter sehen. Macht euch langsam startklar, Jungs. Ich melde euch jetzt der Kommandantur...« Der alte Bert ging wieder an den Apparat und drückte eine Code-Kombination. Dann meldet er sich mit ruhiger sachlicher Stimme: »Olgesch, Skaphan-der-Room, Schleuse F. Kennung Zodiak-Delta-Epsilon-2-0-7... Melde Einschleusung von WidderWidder aus dem E. M. zur routinemäßigen Nahrungsmittelkontrolle. Identität Zero-Zero. Keine Erkenntnisse. Erbitte Rückruf...« Der Alte legte den Hörer in die Gabel zurück. »Jetzt fehlt nur noch, daß Linus Röder auf die Schnapsidee kommt, euch zu begleiten«, sagte er und rieb sich das stoppelige Kinn.
Das Telefon summte erneut. Olgesch ergriff den Hörer. »Skaphander-Room, Schleuse F...« Er schaltete den Telefonverstärker ein, damit sie mithören konnten. Sie vernahmen eine kalte Frauenstimme: »Meldung bestätigt. Widder-Widder werden gebeten, auf das Erscheinen von Oberstleutnant Röder in etwa zehn Minuten zu warten. Der Oberstleutnant gibt sich die Ehre, die Herren auf ihrem Kontrollgang zu begleiten und sie anschließend zu einem Sektfrühstück im Kasino einzuladen. Ende.« »Verstanden...« Bert Olgesch, legte mit zitternder Hand den Hörer auf. Er war leichenblaß geworden. »Wenn man vom Teufel spricht...Jungs, das geht in die Hosen. Es ist das erste Mal, soweit ich zurückdenken kann, daß Röder die Ernährungswissenschaftler begleiten will.« Wanted tauschte mit Sturgess einen Blick des Einverständnisses. »Wir werden es mit Röder hart austragen, Olgesch«, sagte Wanted. »Wenn das hier vorüber ist, kommen Sie mit uns. Bleiben können Sie hier nicht länger. Ziehen Sie sich nachher einen Raumanzug über.« Bert Olgesch nickte stumm. »Kommt Röder allein?« »Ganz bestimmt«, sagte Olgesch. »Okay. Sie bleiben hier in Ihrem Verschlag, und wir nehmen an der Tür zum Skaphander-Room den Feinsinnigen in Empfang.« Der Alte nickte abermals. Er war durch die Ankündigung Röders dermaßen geschockt, daß er sich mit wahrer Erleichterung auf seinen Tee besann und gleich zwei Becher voll hinunterstürzte. * Sie brauchten nicht lange auf den Residenturleiter des Geheimdienst-Hauptquartiers zu warten. Linus Röder erschien allein unter der Tür zum Skaphander-Room, bellte einen markigen Gruß, obwohl er niemand sehen konnte, und fügte hinzu, daß er einen Robotwagen draußen stehen habe. Willie Wanted trat hinter der Tür hervor, faßte den Überraschten beim Halsausschnitt seines rotchangierenden Overalls und zog ihn schwungvoll in den Raum hinein. Von der anderen Seite her trat Male Sturgess seitlich an den
Oberstleutnant heran. Er drückte ihm den Paralysator in die Rippen und warf mit dem linken Fuß die Tür ins Schloß. Röders Augen verengten sich, als er den Rigilaner und Wanted erkannte. Noch zeigte er keinerlei Anzeichen von Angst. Die Fäuste in der Art eines preußischen Krautjunkers längst vergangener Jahrhunderte in die Seiten gestemmt, blaffte er: »Sind wohl wahnsinnig geworden, wie? Ich lasse Sie füsilieren, Oberleutnant Wanted. Sie sind mit einem außerirdischen Spion in Repsold-City eingedrungen. Das ist der Gipfel!« »Nein, das ist Spitze«, sagte Sturgess grinsend. Dann wurde sein Gesicht ernst. »Noch ein einziges Wort, Röder, und es ergeht Ihnen so wie den drei Geheimagenten in Tergall! Was ziehen Sie vor: Uns durch die Fabrikstadt zu führen und unsere Fragen zu beantworten - oder für den Rest Ihres Lebensein Kretin zu sein?« Jetzt begriff Röder seine Situation. Sein Gesicht verlor jegliche Farbe. Er rollte fröstelnd die Schultern. »Also gut, kommen Sie. Im Augenblick haben Sie noch das Sagen!« »Sorgen Sie dafür, daß es so bleibt, Röder!« Sturgess holte eine Plakette aus der Tasche und befestigte sie unter Röders Gürtel an dessen Overall. »Kleine Sicherheitsvorkehrurig«, erklärte er. »Bei dem kleinsten Anzeichen von Widerstand oder Verrat verlieren Sie durch den Brain-Destropyer automatisch den Verstand. Sie kennen also Ihre Lage, auch wenn wir jetzt unsere Strahler verschwinden lassen. Haben Sie mich verstanden?« Röder nickte stumm. »Okay, dann wollen wir mal«, sagte Wanted, und öffnete mit einer ironischen Verbeugung die Tür zur Straße hin. Sie nahmen im Robotwagen Platz. Röder drückte einige Tasten zur Zielbestimmung. Das Fahrzeug setzte sich lautlos in Bewegung. In flotter Fahrt ging es durch Straßen mit wenig Verkehr. Danach durch eine Orangerie, wo im warmen Schein einer künstlichen Sonne Kinder unter der Obhut ihrer Mütter in Sandkästen am Rande üppigen, subtropischen Grüns spielten. An einer Kreuzung regelte ein Polizist den Verkehr. Er grüßte Röder militärisch und hielt für sie die Kreuzung frei. Schließlich steuerte der Robotwagen in einen Lift hinein, in dem sich bereits einige Grüne mit jungen, unfertigen Gesichtern befanden. Offenbar Rekruten. Ihre flotten Gespräche verstummten, als sie die Rangabzeichen an Röders Overall erkannten. Dann hielt der Lift. Die Tür öffnete sich. Der Robotwagen setzte
zurück auf die zweite Stadtetage und nahm im Vorwärtsgang wieder Fahrt auf. Bert Olgesch. hatte recht, dachte Wanted. Die Overalls der Mensehen auf dieser Etage waren Chromgelb. Nach wenigen Minuten bog ihr Wagen in den Stichgang, eine Sackstraße, hinein und hielt neben einem Glaskasten, in dem zwei Grüne Dienst versahen. Als sie Röder und die Farbe der Overalls erkannten, drückte ein Unteroffizier einen Knopf, worauf sich vor ihnen eine Schranke hob. Ihr Scotter rollte wieder an, um gleich darauf in einer Parknische zu halten, »Programmieren Sie das Ding auf Rückfahrt zur Schleuse F«, befahl Wanted dem Geheimdienstchef. Schweigend kam Röder der Aufforderung nach. Auf dem Stadtplantransparent als Teil des Kontrollpults aktivierte sich die Strecke zur Schleuse F in einer rot gestrichelten Linie mit pulsierendem R-E-T-U-N. Später brauchten Sie nur den Startknopf zu drücken, um dorthin zu kommen. Sie kletterten vom Wagen, überquerten Parkplatz und Straße und erreichten eine kleine, unscheinbare Stahltür mit der Aufschrift: Eintritt für Unbefugte bei Strafe untersagt! Der Stadtkommandant »Sie gehen voraus«, sagte Sturgess zu Röder. »Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe!« »Eines verstehe ich nicht«, sagte der Geheimdienstchef kopfschüttelnd. »Warum so viel Aufhebens wegen einer ganz normalen Sache? Ja, wenn Sie sich für unsere Kernwaffenvorräte interessieren würden, könnte ich Ihr kriegerisches Getue noch verstehen.« »Wie krank muß Ihr Gehirn sein, wenn Sie das, was uns erwartet, als >ganz normale Sache< bezeichnen, Röder«, sagte Sturgess mit Abscheu. »Man gewöhnt sich eben an alles«, murmelte Röder und war mit seiner Verwunderung noch immer nicht am Ende, als er die unverschlossene Tür öffnete. * Der Geruch nach Desinfektionsmitteln schlug ihnen in feucht-
warmen Schwaden entgegen. Sie mußten über sechs Stufen nach oben und hatten dann einen schmalen Gang vor sich, dessen linke Wand von breiten Sichtfenstern durchbrochen wurde. Von hier aus hatten sie Einblick in mehrere, nebeneinander liegende, deckenlose Räume mit den Bezeichnungen A, B, C und D. Im Raum A mußten sich die unter Einfluß von Psychodrogen stehenden Deportierten beiderlei Geschlechts ihrer Kleidung entledigen. Mehr als einhundert in drangvoller Enge. Danach wurden sie von Soldaten der Verfügungstruppe in den Nebenraum B, vor die elektrischen Schurmaschinen mehrerer stiernackiger Männer getrieben. Brutale Fäuste ergriffen die Deportierten und warfen sie in Sessel, die gynäkologischen Stühlen ähnelten. Ihrer Haupt und Körperhaare beraubt, prügelte man sie nach Raum C, schleuste sie hier durch einen Tunnel, in dem feine Düsen von allen Seiten die zerschundenen Leiber mit einer desinfizierenden, milchig-grünen Flüssigkeit einsprühten. Raum D entpuppte sich als Trockenkammer, deren Heißluftduschen die Desinfizierten, die nicht einmal dumpf zu ahnen schienen, was mit ihnen geschah, wieder trockneten. Im Laufgang darüber, schräg versetzt, waren Sturgess und Wanted, mit Röder in ihrer Mitte, bis in den Sektor hinter Raum D vorgedrungen. Hier stand für jeden Deportierten eine Stahlröhre mit körpergerechten Konturen bereit, in die sie sich aufrecht stellen mußten, bevor sie von Grünen geschlossen wurden. Breite, lederüberzogene Stahlbänder legten sich um ihre Köpfe, hielten sie unverrückbar fest. Eine rote aseptische Tinktur näßte die kahlen Schädel und verlieh ihnen etwas Monströses. Der Anblick der in Stahl geschlagenen, stummen Menschen deren Blicke unberührt verdämmerten, war grauenvoll von oben anzusehen. Die Stahlröhren waren Teil einer unendlichen Kette und bewegten sich, im Abstand von einem Meter zueinander, im Takt, der einem Trauermarsch angemessen war, auf eine Bandstraße zu, die zu beiden Seiten von gewaltigen Robotautomaten flankiert wurde. Was dort weiter geschah, wurde offenbar, nachdem Sturgess und Wanted mit dem Geheimdienstchef bis zur Höhe der Automaten gekommen war. Wanted flogen die Glieder in namenlosem Grauen. Selbst dem Rigilaner ging es unter die Haut. Er sah aus, als ob er jeden Au-
genblick zum Berserker werden würde. »Sagen Sie etwas dazu, Röder«, keuchte Wanted. »Oder läßt Sie das alles kalt?« »Aber meine Herren, was exaltieren sie sich?« Röder schien gekränkt. Er fuhr fort: »Die Gehirne der Delinquenten werden zu Kernstücken von Mensch-Maschine-Symbiosen. Wir nennen diese Apparate Kolonisator-Einheiten. Sie sind etwa einen Meter groß und bewegen sich mit beweglichen, kautschukbeschichteten Querrippen wie Raupen fort. Unterhalb der Gehirnkapsel befinden sich zwei metallische Maulwurfhände, die wie alle Funktionsmechanismen der K-Einheiten vom jeweiligen ektopischen Gehirn gesteuert werden. Bei der Übervölkerung auf der Erde kommt ein Menschenhirn wesentlich billiger als ein kompliziertes Elektronenhirn mit ohnehin beschränkten Funktionen.« »Und diese K-Einheiten werden wozu auf den Mars gebracht?« fragte Sturgess beherrscht. »Um der Menschheit neuen Lebensraum zu erschließen«, antwortete Röder stolz. »Diese K-Einheiten pflanzen auf dem Mars eine in unseren Laboratorien entwickelte, äußerst resistente PilzAlgen-Flechte, deren schwammiger Aufbau es ihr ermöglicht, Feuchtigkeit zu sammeln und zu bewahren. Diese Flechten enthalten im hohen Maße Chlorophyll und stellen mit Hilfe der Photosynthese Kohlehydrate und Sauerstoff, unabdingbare Voraussetzungen für organisches Leben, her. Der überschüssige Sauerstoff wird von den Flechten, die den Marsbedingungen angepaßt werden konnten, an die Marsatmosphäre abgegeben. Vor zwanzig Jahren betrug der atmosphärische Druck auf der Marsoberfläche nur acht Millibar. Der Hauptbestandteil der Marsatmosphäre war 95 Prozent Kohlendioxyd. Sauerstoff und Wasserdampf konnten nur in Spuren nachgewiesen werden. Inzwischen würden auf thermonuklearem Wege große Mengen des Polareises abgeschmolzen und für die Kolonisation nutzbar gemacht. Weiterhin bepflanzten Millionen von K-Einheiten, ungeachtet der täglichen Temperaturunterschiede zwischen plus 16 Grad Celsius und minus 80 Grad Celsius, ungeachtet der Sandstürme und Ultraviolettstrahlung der Sonne unter extremen Bedingungen, dem kein menschliches Lebewesen auf die Dauer gewachsen wäre, von den Polarregionen des Mars bis hin zum Äquator. Hunderttausende von Quadratkilometer der Marsoberfläche mit resistenten, sauerstofferzeugenden Flechten. Heute schon haben diese sich rapid
vermehrenden Flechten große Teile des Kohlendioxyds der Marsatmosphäre in Sauerstoff, Wasserdampf und Kohlehydrate umgewandelt. Heute schon enthält die Marsatmosphäre 11.2 Prozent Sauerstoff. In fünfzig Jahren ist sie der Erde gleich... Wenn das keine kolonisatorische Großleistung ist! Und vergessen Sie nicht: Alles ist schon mal dagewesen. Denken Sie an den Bau des Eismeerkanals, der vor mehr als zweihundert Jahren ebenfalls hohe Menschenopfer gefordert hat.« »Wie werden diese ektopierten Gehirne dazu gebracht, mit Hilfe ihrer mechanischen Arme zu pflanzen, nichts als Flechten zu pflanzen, und das mit Sinn und Verstand?« fragte Wanted den Geheimdienstchef. Linus Röder lächelte zynisch. »Durch die Aktivierung jener Ganglien, in denen die menschliche Hoffnung sitzt. Ihnen wird durch regressive Eingriffe im Bereich der Verstandeslogik, teils durch Verabreichen bestimmter Tranquilizer, die tiefe Hoffnung zum Mars mitgegeben, nach einer Periode der Bewährung im Arbeitseinsatz in den alten Körper zurückverpflanzt zu werden.« »Ist das irgendwann einmal geschehen?« fragte Sturgess. »Jawohl, bei einigen Dutzend Delinquenten zu demonstrativen Zwecken. Ansonsten liegen die Kosten für die Rückverpflanzung der ektopierten Gehirne viel zu hoch.« Wieder lächelte Röder zynisch. »Außerdem braucht die Menschheit tierisches Eiweiß. Deshalb werden die nutzlosen Körper nach der Gehirnentnahme, wie wir später noch sehen werden, in den Schlachthöfen zu Nahrungskonzentraten verarbeitet.« »Wie lange verrichtet ein ektopiertes Gehirn in einer K-Einheit seine Arbeit, im Glauben an die Rückkehr in den eigenen Körper?« fragte Wanted. »So lange Nährchemikalien im Kunstblut das Nahrungsbedürfnis des Gehirns stillen können und der jeder K-Einheit mitgegebene Sauerstoff reicht. In der Regel stellen sie nach drei Monaten intensiven Schaffens ihre Arbeit ein. Was bedeutet, daß die Gehirnzellen eines biologischen Todes gestorben sind. Die K-Einheiten finden mit neuen Gehirnen Wiederverwendung. So sieht das aus...« *
Linus Röder gab sich der trügerischen Hoffnung hin, mit seinen Ausführungen und je weiter sie an den Bandstraßen Vordrangen den abtrünnigen Offizier und seinen dubiosen Freund allmählich in den Griff zubekommen. Er war davon überzeugt, daß sie am Ende des Rundgangs durch die Fabrikstadt zerknirscht bekennen würden: »Was wir gesehen haben, hat uns von der Richtigkeit der Politik des Direktorats überzeugt. Wir bitten um Vergebung, Herr Oberstleutnant...« Feinsinnig lächelnd öffnete Röder die Tür zu einem Prüfraum. »Hier werden die K-Einheiten nach ihrer Endmontage überprüft und eingestellt. Sie können die ektopierten Gehirne selbst befragen, wie sie sich fühlen, ob sie Schmerzen empfinden, oder wie sie ihre Zukunft sehen«, schlug Röder vor. Der Raum war groß. Links lagen bereits geprüfte K-Einheiten zu Hunderten übereinandergestapelt. Ihre mechanischen Arme und Hände waren angelegt und arretiert, die Tastsensoren mit Schutzkappen aus weichem Kunststoff abgedeckt. Die Gehirnkapseln waren mit einem Plast überzogen, der ihren Inhalt gegen kosmische Strahlen, Kleinstmeteroite und extreme Temperaturschwankungen unempfindlich machte. Rechts saßen in langer Reihe Mechaniker an einem langsam vorrückenden Band. Sie stellten die KE ein, überprüften ihre Fortbewegungsmechanismen sowie ihre elektronischen Kommunikationsmittel, mit denen sie später durch Licht- Funk- und Tonsignale mit der Umwelt in Verbindung treten konnten. Röder ließ sich von einem Techniker drei Kopfhörer geben, die mit Stethoskopumwandlern an Zitzen verbunden waren. Er zeigte ihnen, wie sie es zu machen hatten. »Setzen Sie den Kopfhörer auf und drücken Sie den magnetsich haftenden Stethoskopknopf in die hintere Vertiefung der Gehirnkapsel einer beliebigen KE. Wie ich sehe, flammt bei dem Gerät, das der Mechaniker vor Ihnen, Mr. Sturgess, gerade geprüft hat, ein optisches Rufzeichen auf. Das ektopierte Gehirn äußert den Wunsch, sich seiner Umgebung mitzuteilen. Bitte, Mr. Sturgess, horchen Sie ruhig in den kleinen Grauen hinein. Diese K-Einheit entstammt der gestrigen Fertigung, wie ich gerade der Seriennummer entnehme...« Sturgess folgte der Aufforderung Röders mit dem klinischen Interesse eines Arztes einem hoffnungslos daniederliegenden Patienten gegenüber. Er vermochte jedoch nicht zu verhindern, daß
er zusammenfuhr wie irgendein Mensch, dem Schreckliches widerfährt. Eine ihm vertraute Stimme, wie über ein billiges, blechern klingendes Tonbandgerät abgespielt, sagte durch die Kopfhörer zu ihm: »Malcolm, Lieber. Erkennst du mich nicht?« »Olga!« »Ja, Liebster. Ich sagte ihnen, daß ich dich liebe und es deshalb ablehne, dich zu bespitzeln. Das ist der Grund, warum ich... Erinnerst du dich noch an unsere unvergeßliche Liebesstunde im Astro-Club, Malcolm?« »Olga! Wie geht es dir?« Sturgess, der Rigilaner, zeigte eine der menschlichsten Regungen überhaupt: Verzweiflung! »Mir geht es gut, wenn ich dich sehe, Liebster.« »Hast du Schmerzen auszustehen?« »Nein, Male. Nur müde bin ich und unsagbar traurig, weil ich nicht weinen kann.« Wanted hatte sich in das elektronische Zwiegespräch eingeschaltet. Zutiefst erschüttert stellte er fest, daß Sturgess allmählich seine Selbstbeherrschung verlor. Wenn Male tiefer menschlicher Empfindungen fähig war und die bitteren Tränen, die er jetzt um Olga weinte, deuteten darauf hin -, mußte er sich in diesen makaberen Augenblicken die größten Vorwürfe machen, weil er mit seinem Roßtäuschertrick illusionärer Liebe eine Mitschuld an Olgas Schicksal trug. »Ich werde dich hier herausholen, Olga«, sagte Male mit bebender Stimme. »Du wirst mit mir nach Rigil kommen und dort in Frieden und Freiheit glücklich sein. Einen Augenblick, Olga...« Abrupt drehte sich Sturgess zu Röder um, auf den Willie ein waches Auge hatte. Mit leiser, drohender Stimme sagte er: »Ich wünsche, daß Olga-Chochlows Gehirn binnen vierundzwanzig Stunden ihrem Körper zurückgegeben und ihre Gesamtpersönlichkeit wieder hergestellt wird! Andernfalls hole ich Repsold-City vom Himmel und lösche alles Leben auf dem Mond aus!« Linus Röder wand sich vor Verlegenheit. Er winkte Sturgess zu. »Kommen Sie von dem verdammten Ding weg. Es braucht nicht mitzuhören, was ich auf Ihre Drohung zu erwidern habe.« Male Sturgess ignorierte das heftig plinkernde Rufzeichen Olgas und ging zu dem Geheimdienstchef, der, die Hand an den Mund gelegt, flüsterte: »Ich würde Ihrem Wunsch sofort entsprechen, Mr. Sturgess. Doch leider geht das nicht mehr.« »Und warum nicht, Röder?« knurrte Sturgess gefährlich und
ungeachtet dessen, daß einige Mechaniker am Band bereits aufmerksam ihre Köpfe verdrehten. »Weil... Nun, weil der Körper der Chochlow nicht mehr ist. Er wurde gestern verarbeitet. Sie verstehen?« »Zum Teufel! Dann geben Sie ihr einen neuen Körper, Röder!« »Tut mir aufrichtig leid, Mr. Sturgess. Unsere medizinische Wissenschaft hat das Problem der Immunabwehrreaktion bei körperfremdem Gewebe noch nicht lösen können.« »Male! Olga ruft dich verzweifelt«, rief Willie ihm zu. Sturgess kehrte an die K-Einheit mit Olgas Gehirn zurück und trat wieder in den Dialog mit ihr ein. »Was hast du auf dem Herzen«, hatte er sagen wollen, aber er konnte im letzten Augenblick die Frage anders formulieren: »Was möchtest du mir sagen, Olga?« »Unternimm mir zuliebe nichts, Male. Bitte! Ich habe gegen meine Pflichten verstoßen. Deshalb werde ich auf den Mars geschickt. Ich weiß jedoch mit unumstößlicher Gewißheit, daß ich nach einem Jahr gewissenhafter Arbeit in meinen Körper zurückkehren darf und dann frei bin. Freuen wir uns auf diesen Tag, Liebster. Habe Geduld.« »Und du glaubst noch daran?« fragte Sturgess bitter. »Nach einem Jahr gewissenhafter Arbeit...Nach einem Jahr gewissenhafter Arbeit... Nach einem Jahr gewissenhafter Arbeit... Nach einem Jahr gewissenhafter...« »Gestatten Sie...« Der Mechaniker vor Sturgess manipulierte mit einem Schraubenzieher an Olgas K-Einheit herum, unterbrach ihre stereotype Aussage, die auf die von Röder erwähnten Eingriffe am Gehirn basierten und fuhr mit rüdem Ton fort: »Der Apparat hier quatscht zuviel. Orgelt mir die ganze Energiezelle leer. Für den Mars bleibt dann nichts mehr übrig...« Wanted zog den Freund rasch weiter, bevor ein Unglück geschah. * »Wollen Sie das andere auch noch sehen?« wollte Röder sichtlich gereizt, wissen. »Gehen Sie voran«, befahl Wanted ihm. »Wir sind heute die Gründlichkeit in Person.«
Der Geheimdienstchef hob die Schultern und eilte mit raschen Schritten zum jenseitigem Ausgang des Prüfraums hin. Sturgess und Wanted hielten sich dicht hinter ihm. Auf Wanteds Weisung umgingen sie den grausigsten Ort der Stadt und erreichten den Lagerbezirk. Suppen-Extrakte in gewachsten, viereckigen Kartons auf Frachtpaletten wurden von Gabelstaplern zu den Dockingschleusen zum Verladen gebracht. Kampfrationen für die Armee. Babynahrung, vitaminangereichert. Trockenbouillon für Schulspeisungen. Fertig-Menüs in Alu-Folie. Ernährungswürfel mit Gutscheinen auf der Packung. Alles Nahrungsmittel, die Wanted bestens bekannt waren und über die er sich bisher so wenig Gedanken gemacht hatte wie 98 Prozent seiner Mitbürger. Er schrak aus seiner depressiven Grundstimmung hoch, als er Linus Röder zynisch sagen hörte: »Als >Ernährungsingenieure< sind Sie gehalten, einige Erzeugnisse zu kosten, wenn Sie nicht auffallen wollen, Gentlemen. Dort kommen die Damen der Versuchsabteilung bereits mit den Probierchen. Wünsche wohl zu speisen...« Die beiden Freunde sahen zwei Mädchen in blauen Kitteln sich nähern. Beide hielten ein Tablett in ihren Händen, die mit kleinen Probierschälchen vollgestellt waren. Wanted und Sturgess ignorierten Röders Einmannfestival schadenfroher Erheiterung und griffen mit Todesverachtung zu. Mit hohlen Zähnen kaute Wanted auf einer Oblate herum, die mit dem Geschmack einer Wildpastete in seinem Mund aufquoll und an magenfüllender Masse gewann. Sturgess »probierte« einen Brotaufstrich mit JagdwurstGeschmack aus der Tube und brachte den Nerv auf, zufrieden nickend ins hingehaltene Rapportbuch zu schreiben: Wohlschmeckend und bekömmlich. * Oberstleutnant Röder führte sie über die Verwaltungsetage zum Robotwagen zurück. Er sah Sturgess an. »Was werden Sie mit mir machen?« »Ich helfe Ihnen, unser Meeting zu vergessen«, antwortete der Rigilaner lächelnd. »Indem Sie mich um den Verstand bringen?«
»Nein, Röder. Nicht das. Bisher haben Sie sich ja mustergültig verhalten.« »Es wird Zeit«, mahnte Wanted, der bereits im Wagen Platz genommen hatte. »Uns verbleiben gerade noch zwanzig Minuten.« Schweigend startete Röder den Wagen. Wieder mußten sie vor der Schranke am Glaskasten der Wachstation halten. Zwei andere Grüne versahen jetzt den Dienst. Einer von ihnen griff gerade zum Telefonhörer, sprach einige Worte hinein, deckte die Sprechmuschel ab und trat mit dem Hörer unter die Tür. »Der Stadtkommandant wünscht Sie zu sprechen, Herr Oberstleutnant«, rief er Röder zu. »Gehen Sie hin«, sagte Sturgess leise. »Aber denken Sie an Ihr >gesundes< Gehirn. Und vergessen Sie nicht zurückzukommen!« Röder hob seine Beine aus dem Wagen und ging zu dem Wachtposten hin, von Wanted und Sturgess scharf beobachtet. Kaum hatte Röder den Hörer ans Ohr geführt, als eine unbekannte Kraft ihn mit Titanenfaust zu Boden schmetterte. Er blieb reglos liegen. Gleichzeitig setzte mit hohen, klagenden Tönen eine Alarmsirene ein. »Da ist was schiefgegangen«, fluchte Wanted. »Röder wurde über das Telefonnetz schockparalysiert.« Wanted hieb den Startknopf ins Pult, riß mit der linken Hand den Strahler heraus und setzte die beiden Grünen außer Gefecht, die allzu eifrig aus ihrem Glaskasten gestürzt kamen, ihre Schockwaffen in der Hand. Explosivwaffen waren innerhalb der Stadt verboten, weil sie Strukturmodulen leckschlagen und die Stadt und ihre Bewohner gefährden konnten. Der Robotwagen durchbrach die Schranke und schlug in schneller Fahrt den vorprogrammierten Weg zur Schleuse F ein. Wohin sie auch kamen: Überall wimmerten und heulten Alarmsirenen, nervenzerfetzend und ohne Unterlaß. Die Straßen waren menschenleer. Unangefochten gelangten sie in den Lift. Außer ihnen befand sich niemand darin. Kaum hatte sich die Lifttür geschlossen, fuhr der Tragkorb zur unteren Stadtetage hinunter. Stürgess riß seine Werkzeugtasche auf. Er holte zwei Handwaffen heraus, deren seltsame Form ihre außerirdische Herkunft verriet. Während er an Willie eine Waffe weitergab und die Taschen seines Overalls mit opalisierenden, faustgroßen Kapseln vollstopfte, sagte er: »Bei Gefahr einfach draufhalten und abdrücken. Und
nimm auch ein paar von den Bilo-Handgranaten. Bevor du sie wirfst, nur kurz betrachten!« Der Liftkorb kam mit einem Ruck zum Halten, Die Tür glitt zurück und gab zu Wanteds Entsetzen den Blick auf eine Gruppe von Grünen mit Paralysatorwaffen im Anschlag frei. Ein Unteroffizier mit rotem Gesicht unter einem konischen, mattglänzenden Stahlhelm brüllte: »Ich fordere Sie beide auf, sich zu ergeben!« Während er noch mit Imponiergehabe auf eine Antwort wartete, machte Sturgess von seiner Waffe Gebrauch. Den Bruchteil einer Sekunde später auch Wanted. Ohne die Wirkungsweise seiner Waffe zu kennen. Kein feiner Laserstrahl, der kleine, runde Löcher stanzte, kein Ultraschall, der gegnerisches Blut gerinnen ließ, kein wie auch immer gearteter Mündungsblitz... Dafür sah Wanted über dem gerippten Lauf seiner merkwürdig passiv erscheinenden Waffe, wie sein anvisierter Gegner unvermutet seinen Ehrgeiz daransetzte, sich gegen die eigenen Kameraden zu wenden. Zusammen mit Males Gegner richtete er seinen Paralysator auf den Grünen neben ihm, und als dieser paralysiert zusammenbrach auf den nächsten. Um Wanted und Sturgess kümmerte er sich keinen Deut. Als binnen weniger Sekunden die ganze Gruppe regungslos auf dem Boden lag, erledigten sich die beiden von Wanted und Sturgess >Angeschossenen< gegenseitig und legten sich zu den anderen. »Was - was war das?« fragte Wanted entgeistert. »Ich verstehe deine Aufregung nicht, Freund«, sagte Sturgess gelassen. »Du hast mit einem Amok-Umkehr-Transponder geschossen. Kurz AUT genannt. Diese Waffen transponieren, die Geistesgaben des Opfers, auf eine Ebene des Wahnsinns, auf der sich sein Freund-Feind-Denkmuster ins Gegenteil verkehrt. Er greift also seinesgleichen und zuletzt sich selbst mit der Besessenheit eines Amokläufers bis zur totalen Vernichtung an. Und immer mit der Waffe, die gerade zur Verfügung steht.« »Oh, Lord«, stöhnte Wanted. »Der verdammte Robotkarren will nicht weiter!« »Schalte ihn auf Handsteuerung um«, riet Sturgess. Fieberhaft drückte Wanted eine Reihe von Knöpfen auf dem Armaturenbrett. Beide atmeten auf, als sich der Robotwagen wieder in Bewegung setzte, aus dem Lift rollte und an den paralysierten
Grünen vorbei weiter in Richtung Schleuse F fuhr. Immer noch klagten die Alarmsirenen. Die Straßen von Repsold-City waren wie leergefegt. Die Türen der Wohneinheiten waren verschlossen, heruntergelassene Alu-Jalousien hingen vor den Fenstern. Schon hatten sie die Orangerie erreicht, als aus der grünen Wand der Tropengewächse ein gepanzertes Polizeifahrzeug hervorbrach, dessen Kuppel einen breitgefächerten, grellweißen Lichtstrahl verschoß, der ihren Robotwagen erfaßte. Sofort roch es nach brennender Farbe und heißem Metall. Geistesgegenwärtig warfen sich die Freunde vom Wagen aus hinter einen Strauch mit großen gelben Beeren. »Nicht die roten Bilo-Granaten«, rief Sturgess Willie zu. Er fischte einen zylinderförmigen Gegenstand aus seiner Werkzeugtasche und schoß aus diesem heraus einen Raketenkörper ab, der den Polizeipanzer mit thermischem Licht auf das Doppelte seiner ursprünglichen Maße aufblies. Stahl zerschmolz, sammelte sich als kochende Lava in Pfützen, ließ Palmen wie Fackeln brennen und fraß sich in den Stahlboden hinein. Sie sprangen auf und rannten zu Fuß weiter. Aggressiver klang der Ton der Sirenen. Hinter ihnen schwoll der Lärm eilends herangeführter Alarmeinheiten an. Noch war der Weg vor ihnen frei. »Wir müssen sie mit den Bilos aufhalten«, sagte Sturgess. »Und vergiß nicht, ihnen Gelegenheit zu geben, bei dir Maß zu nehmen.« »So etwas Verrücktes habe ich hoch nie gehört«, sagte Wanted kopfschüttelnd, nahm aber dennoch einen der opalisierenden Wurfkörper in die rechte Hand und machte alles weitere dem Rigirlaner nach. Male hielt gleich zwei Bilo-Handgranaten mit leicht angewinkelten Armen von sich gestreckt. Er verharrte so dreißig Sekunden lang. Mit etwas Phantasie konnte man sich vorstellen, daß die opalisierende Substanz in den durchsichtigen, instabilen Plastikkapseln denjenigen, der sie hielt, stillvergnügt betrachtete. In Wirklichkeit aber fixierte sie ihn, um ihn wenig später kopieren zu können wie sich kurz darauf zeigen sollte. Wanted warf die Granate in die Richtung, aus der ihre Gegner jeden Augenblick auftauchen müßten. Mit den beiden Wurfgeschossen Males lagen nun drei davon etwa fünfzehn Meter vor ihnen auf der Fahrbahn. Sie barsten plötzlich, und mehrfarbige Nebel stiegen daraus
empor. Diese verdichteten sich binnen weniger Sekunden zu Phantomen mit dem haargenauen Aussehen von Sturgess und Wanted. Mit den gleichen Overalls, Werkzeugtaschen und Waffen. Doch nicht genug damit. War eine Sturgess oder Wanted-Kopie erschaffen worden, spalteten sich von dieser andere Kopien als Bilokationen ab, die alle eigenständig zu agieren begannen. Wanted stand starr vor Staunen. Vor ihm bevölkerte sich die Straße mit ihren Ebenbildern. Sie suchten Deckung oder warfen sich zu Boden und eröffneten ein konzentrisches Feuer auf die Polizisten, die gerade im Eiltempo um die nächste Ecke und damit in ihr Schußfeld gelaufen kamen. »Odische Fludialkörper«, erklärte der Rigilaner. »Sie sind nicht wirklich. Sie liefern dem Gegner fünf Minuten lang ein Scheingefecht, bevor sie verblassen. Diese Bilokations-Handgranaten wurden gemeinsam von unseren Parapsychologen und Waffentechnikern entwickelt. Wir müssen weiter, Willie...« * Im Schutze ihrer wild feuernden Ebenbilder setzten sie ihre Flucht fort. Nach Überwindung einer unbesetzten Straßensperre erreichten sie nach wenigen Minuten den Skaphander-Raum von Schleuse F. Wanted riß die Tür auf. Den Amok-Umkehr-Transponder in der Hand, schob er sich vorsichtig in die Tiefe des Raumes hinein. Zu der Stelle hin, wo sie ihre Spezialanzüge deponiert hatten. »Lege deinen Anzug als erster an. Ich übernehme die Sicherung, Male.« »All right, Willie. Wo steckt Olgesch?« »Hallo, Olgesch«, rief Willie laut. »Sind Sie startklar?« Olgesch antwortete nicht. »Warte, ich bin gleich soweit. Hilf mir in den Systemtornister, Willie.« Wanted schob den AUT in die Tasche, ergriff Sturgess' Behälter für Sauerstoff und Kühlsystem und legte ihn dem Rigilaner an. Er zurrte die Gurte fest, während er mit der freien Hand bereits die Reißverschlüsse seines eigenen Overalls aufzog. Sie benötigten fünf Minuten, um in ihre Raumanzüge zu kommen, die Helmvisiere zu schließen und die Lebenserhaltung ein-
zuschalten. Nach der Überprüfung der Anzeige- und Regelungsgeräte warfen sie ihre Werkzeugtaschen über und eilten zu dem Raum, wo sich Olgesch aufhalten mußte. Sturgess öffnete die Tür. Er prallte zurück. Vor ihnen lag der alte Mann tot in einer Blutlache. Unweit von ihm: ein Raumanzug, den er offensichtlich hatte anlegen wollen. »Wie sind sie ihm wohl auf die Schliche gekommen?« fragte Wanted gepreßt. »Sie werden die bewußtlosen Techniker gefunden haben. Oder Olgesch wurde überrascht, als er sie im Trafo-Raum verschwinden lassen wollte.« Wanted atmete tief durch. Dann trat er entschlossen an die Konsole mit den Monitoren und schaltete die Fernsehkameras von Schleuse F ein. Das Bild kam. Es zeigte die Schleuse leer und beide Schotts geschlossen. Wanted zog den Hebel, mit dessen Betätigung normalerweise das Innenschott geöffnet wurde. Aber es tat sich nichts. Das Innenschott blieb geschlossen. Dafür dröhnte plötzlich eine Stimme aus dem Lautsprecher in der Monitorkonsole: »Hier spricht der Stadtkommandant. Sämtliche Schleusen der unteren Stadtetagen wurden automatisch geschlossen. Ein Entkommen ist nicht mehr möglich! In wenigen Minuten sind Sie von Einheiten der Verfügungstruppen eingekreist. Weiterer Widerstand ist zwecklos. Ergeben Sie sich den Männern. Wir sichern Ihnen, Oberleutnant Wanted, und dem Rigilaner eine faire Verhandlung zu...« Sturgess' Kiefern mahlten. Er legte den Kippschalter der Rufanlage um und meldete sich. »Hier spricht Malcolm Sturgess. Hören Sie mich, Stadtkommandant?« »Ich höre Sie, Mr. Sturgess.« »Egal, ob die Schleusen geöffnet werden oder geschlossen bleiben: Heraus kommen wir so oder so... Falls wir jedoch gezwungen werden, uns freizusprengen, haben Sie das Vakuum des Weltraums in der Stadt. Bei der Wahl unserer Mittel dürfte es Ihnen und Ihren Katastrophenschutzkräften kaum gelingen, die Leckage abzuschotten - was das Ende von Repsold-City und ihrer Bewohner bedeuten würde!« Sturgess wartete eine Entgegnung nicht ab. Er nahm einen dieser zylindrischen Behälter aus seiner Werkzeugtasche und sagte zu Willie, mit einem letzten bedauernden Blick auf Bert Olgesch:
»Zur Schleuse.« Es war bereits zu spät. Die ersten Grünen erschienen unter der Tür zum Skaphander-Room, warfen Tränengasbomben und zogen sich blitzschnell auf die Straße zurück. Sin Blick auf die Monitoren zeigte ihnen, daß jetzt unmittelbar vor der Schleuse Zwei-Mann-Hanks standen, umgeben von mindestens hundert schwerbewaffneten Grünen. Keiner von ihnen trug einen Raumanzug. Dafür bereiteten sie sich durch Anlegen von Gasmasken zum Sturm auf den Skaphander-Raum vor. »Diese Narren wollen es nicht anders«, zischte Sturgess. Dann hob er sein Raketengerät und zielte kurz eine freie Stelle der Wandung an, die sie vom All trennte. Eine heftige Detonation; der Boden erzitterte. In der Wandung aus kaltverfestigtem Stahl wuchs grell eine Miniatur-Sonne. Der Stahl schmolz buttergleich. Pfeifend entwich die Luft des Skaphander-Rooms durch das wachsende Loch, dessen rotglühende Ränder glatt wie geschmolzenes Glas waren. Der ungeheure Sog der explosiven Dekompression riß die Tür zur Stadt aus ihrem Rahmen und die Atmosphäre aus dem Schleusensediment. Weltraum-Vakuum war in der Stadt und damit das Schicksal der ungeschützten Soldaten vor Schleuse F besiegelt. Sie starben den Sekundentod. Die künstliche Schwerkraft wurde aufgehoben. Sturgess und Wanted schwebten frei im Skaphander-Raum. Sie ruderten auf das scheunentorgroße Loch in der Modulnwand zu und schossen sich mit dem Rückstoß ihrer Strahlpistolen aus Repsold-City in das All hinaus. »Kannst du irgendwo Ruben ausmachen?« rief Wanted über die Funksprechanlage ihrer Anzüge Sturgess an und versuchte die starke Rotation seines Körpers zu stoppen. »Im Augenblick sehe ich nur jede Menge Mond und seitlich über uns diese verdammte Stadt«, antwortete Sturgess. »Aber auf 7.00 Uhr, hinter dir, steigt ein Patrouillenboot herauf. Es muß in einer Nische der Stadtunterseite versteckt gelegen haben...« Langsam glitt das Patrouillen-Boot näher. Mit großer Erleichterung sahen sie, daß die Ausstiegluke einladend offenstand. Auch erkannten sie den weißen Längsstrich auf Ruben Dolans Helm. Und jetzt hob er eine Hand und forderte sie durch das mehrmalige Abkippenlassen seines aufgerichteten Daumens auf, rasch an Bord zu kommen.
Sturgess schob sich mit souveräner Körperbeherrschung ins Boot. Er befestigte seine Werkzeugtasche, richtete sich auf seinem Konturensitz ein und legte die Gurte an. Er hatte sich gerade festgeschnallt, als Willie über ihnen den Ausstieg schloß und sich zu seinem Sitz hinhangelte. Sie schlossen sich an die Bord Verständigung an und hörten Ruben bekümmert fragen: »Freunde, mußtest ihr denn dem Direktorat den Krieg erklären? Hört euch das an und werft mal einen Blick auf den Radarschirm...« Dolan drehte an den Knöpfen des Empfängers. Plötzlich schlug eine Fülle von Sprechfunk-Dialog-Fetzen, Kommandos und verschlüsselten Funkzeichen sowie Zerhackergeräusche an ihre Ohren. Auf dem Radarschirm glühten mehr als dreißig blibs, die Bewegungen und Standorte von ebensoviel Flugobjekten anzeigten. »Das soll alles uns gelten?« fragte Sturgess zweifelnd. »Sicher, Male. Wem sonst? Zwar haben sie unsere Funkgeräte und Empfänger kastriert, aber was wir dennoch mitkriegen können, ist aufschlußreich genug.« Dolan hustete. »Laßt die Systeme eurer Raumanzüge an. Das Schiff bleibt unbelüftet für alle Fälle. Liegt ihr gut in euren Sitzen?« »Wie in Abrahams Schoß«, knurrte Wanted. »Okay, dann zünde ich und katapultiere uns aus dem mondnahen Raum. Die Gegend hier wird zu ungemütlich. Countdown! Zehn neun acht sieben...« * Brennschluß nach einhundertzwanzig Sekunden durch Abschalten der Raketenmotoren. Antriebslos flog die PUMA III auf die Grenzlinie zwischen beleuchteter und im Schatten liegender Mondoberfläche zu. Sie mußten unter allen Umständen versuchen, die Dädalus-Mondstation zu erreichen, bevor dort alles dicht gemacht wurde. Sturgess' CHIRON VI war ihre einzige Chance, sich dem ständig zunehmenden Druck der sie jagenden Raumkreuzer zu erwehren. Wanted starrte auf den Radarschirm. »Seht euch das an, Freunde. Wegen drei armen Würstchen bieten sie ganze Flottenverbände auf. Ich werde verrückt! Von der Erde her nähert sich ein weiterer Verband von mindestens neun-
zig Einheiten. Wenn noch eine Spur von Humor in mir wäre, würde ich jetzt sagen: >Ich bin mir noch nie so wichtig vorgekommenen<.« »Freunde, habt ihr es gesehen?« ließ sich Sturgess vernehmen. »Als ich gerade auf euren Planeten schaute, war mir, als ob jemand kurz eine Taschenlampe... Vielleicht eine Atomexplosion?« »Oh, Lord«, jammerte Wanted. »Die machen es aber wirklich hart.« Das harte, metallische, stetige ping der akustischen Warnanlage drang schmerzhaft laut in ihr Gehirn. Ein gegnerischer Lenkrechner der Zielverfolgung hatte sie erfaßt. Wanted zeigte auf die neuen blibs, die auf dem Radarschirm plötzlich sichtbar wurden. »Jetzt haben sie uns, Freunde. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, ist der Ofen aus!« Sechs Raumkreuzer, noch mehrere tausend Kilometer entfernt, verlegten ihnen die Eintauchbahn zur Dädalus-Mondstation. Aus der Unendlichkeit des Alls stachen plötzlich die weißen Strahlen hochaktiver Laserkanonen nach der PUMA III. Sie zogen ein gleißendes Netz der Vernichtung durch den Weltraum, dem schwerlich zu entrinnen war. Einer der Strahlen erfaßte das Schiff. Sofort fiel die Regenerativ-Kühlung aus. Die Fluglageregelung spielte verrückt. Die räumliche Lage des Patrouillenbootes veränderte sich ständig. Dolan zündete die Flugstabilisatoren und versuchte das taumelnde Schiff wieder in die Hand zu bekommen. Ein zweiter, dann ein dritter Strahl erschütterte das Schiff. Große Stücke der Abschmelzschicht flogen glühend davon. Vor dem Cockpit rollten sich Titanschindeln zusammen und begannen zu brennen. Ein weiterer Laserstrahl brachte die Treibstoffvorräte zur Explosion. Ein wabernder, rasch wachsender Feuerball riß die alte PUMA III wie eine Blechdose auseinander. Ungeheure Drücke erfaßten Dolan, Sturgess und Wanted wie mit Titanenfaust und schleuderten sie in den Raum. »Das also ist das Ende«, dachte Wanted, bevor er das Bewußtsein verlor. * Das Geräusch klatschender Schläge, Flüche im amerikanischen
Slang, das Rauschen eines Exhausters und grelles, klinisches Licht waren die ersten Wahrnehmungen Willie Wanteds, als er sein Bewußtsein wiedererlangte. Krampfhaft versuchte er den schmerzenden Kopf anzuheben, um Klarheit des Sehens bemüht. Was war passiert? Wo war er überhaupt? Die Antwort auf diese Überlegungen kam aus einem quadratisch wirkenden Gesicht mit mahlenden Kiefern und hassenden Augen unter dichten, blonden Brauen. »Du befindest dich an Bord des Flaggschiffs der 1. USRaumflotte unter Admiral Brian, Menschenfresser. Damit du klarsiehst. Wir haben uns große Teile des Mondes zurückgeholt, während auf der Erde eine Invasion nie gekannten Ausmaßes angelaufen ist, um Europa vom Regime des Direktorats zu befreien. Yeah, so ist das...« Der Mann vor Wanted wippte auf den Zehenballen. Er schob sich eine neue Platte Kaugummi zwischen die starken Zähne. Sein Overall war dunkelblau. Zwei goldene Spangen auf den Schultern wiesen ihn als Lieutenant aus. Allmählich dämmerte es Wanted, daß er an ein Steigrohr gefesselt war und, vier Meter neben ihm, Ruben Dolan ebenfalls. Die Freude darüber, daß sein Freund mit dem Leben davongekommen war, währte nur kurz, als er Rubens zerschlagenes Gesicht und gezeichneten Oberkörper sah und die beiden Amerikaner, die sich an Ruben mit wütenden Hieben regelrecht in Schweiß arbeiteten. »Na wie gefällt dir das, Menschenfresser?« hörte Wanted den Lieutenant fragen. »Gleich geht es bei dir weiter. Wollen doch mal sehen, was du so alles auszuspucken hast. Klar, Menschenfresser?« Wanted feuchtete mit der Zunge seine geborstenen Lippen an, so gut es ging. Das Sprechen war eine Qual. Dennoch protestierte er; »Was soll das? Warum nennen Sie mich >Menschenfresser<, Lieutenant?« Eine Faust bohrte sich in Wanteds ungeschützten Magen. Wütender Schmerz breitete sich aus dem Sonnengeflecht heraus über seinen ganzen Körper aus. Eine Welle von Übelkeit schlug ihm gallebitter und säurereich in den Mund. Er mußte sich die Tränen aus den Augen zwinkern, um sehen zu können. »Fragen stelle ich«, knurrte der Lieutenant, der den Schlag nachkostete, indem er zärtlich die linke Faust am aufgerauhten Stoff seines Overalls rieb. »Die grünen Raumanzüge der Verfü-
gungstruppe des Innenministeriums und der Fluchtweg aus Repsold-City haben euch Verraten, Menschenfresser. Jetzt komme mir nicht damit, von alledem nichts gewußt zu haben!« »Wenn Sie auf die grauenvollen Zustände der Menschenverarbeitung anspielen, so haben wir erst vor wenigen Tagen davon erfahren, Lieutenant. Deshalb schmuggelten wir uns in Raumanzügen der Verfügungstruppe nach Repsold-City hinein. Wir fanden unsere Befürchtungen bestätigt, wurden jedoch entlarvt und sprengten uns aus der Stadt heraus. Wir flüchteten mit einem Patrouillenboot. Ein Raumschiff von ihnen. Nein, es waren mehrere. Sie griffen uns mit Lasern an und vernichteten das Boot.« Der Lieutenant wollte sich scheckig lachen. Dann wurde er wieder ernst: »Sie waren also beim Widerstand und sind immer kräftig gegen den Strom geschwommen, Bruder Menschenfresser. Nie haben Sie Deportierte mißhandelt, geschlachtet und aufgefressen. Ganz im Gegenteil. Ihr habt euren Einfluß mäßigend auf die Kameraden geltend gemacht, die Deportierten doch mit Wattebäuschchen totzuwerfen. So war es doch?« Die Stimme des Lieutenants triefte vor Hohn. »Die Widerstandsmasche ist so alt wie die Menschheit. Immer und überall wird es Menschen geben, die hinterher mit Biedermannsmiene ihre Hände in Unschuld waschen, von alldem >nichts gewußt< haben und beim Widerstand gewesen sein wollen.« Der Lieutenant spuckte verächtlich aus. * Plötzlich gellten Alarmsirenen durch das Schiff. Offiziere und Mannschaften wurden über dröhnende Lautsprecher zu ihren Gefechtsstationen befohlen. »Wir machen gleich weiter, Bruder Menschenfresser«, sagte der Lieutenant drohend und stürzte, gefolgt von seinen SchlägerSergeanten, aus dem Vernehmungsraum. Krachend flog das Schott zu. Die Hebelverschlüsse drehten sich kreischend. Das Heulen der Alarmsirenen ebbte ab. Die plötzliche Stille wirkte erdrückend. Wanted drehte sich so am Rohr, bis er Ruben ansehen konnte. Der Freund hob sein zerschlagenes Gesicht. Das Grinsen mißlang ihm gründlich, als er leise rief: »Hallo Willie... Sieht so aus, als ob wir vom Regen in die Traufe gekommen sind.«
»Die Freiheit ist, gleichwo, nur noch ein Haufen Sch...« »Sprich es nicht aus, Willie. Auch wenn wir wieder einmal um eine Illusion ärmer sind.« »So etwas Hirnverbranntes. Die Amis halten uns für Grüne.« Wanted schüttelte den schmerzenden Kopf. »Warum haben sie dich so zugerichtet?« »Weil du noch nicht bei Bewußtsein warst und ihnen keine Antwort geben konntest, Willie. Also fingen sie bei mir an. Irgendwo fangen sie immer an, Willie.« »Wollten sie wissen, wo Male abgeblieben ist?« »Von Males Existenz haben sie noch keine Ahnung. Der Junge dürfte tot im Weltenraum treiben. Jammerschade. Er hätte ihnen schon gezeigt, was eine Harke ist und uns herausgepaukt. Nein, sie wollten aus mir herausprügeln, wie das mit den KolonisatorEinheiten funktioniert. Der Gedanke, die Marsatmosphäre mit Hilfe von Mensch-Maschinen-Symbiosen mit Sauerstoff anzureichern, fasziniert die Amerikaner so, daß sie die gesamten Anlagen von Repsold-Gity und in den anderen Fabrikstädten übernehmen und das Marsprogramm zu Ende führen wollen. Mit dem einzigen Unterschied, daß die anfallenden Leiber der Deportierten mit unbemannten Raumschiffen in Richtung Sonne geschickt werden sollen, damit sie verbrennen.« »Ruben , das darf doch nicht wahr sein! Wenn die Amerikaner das wirklich vorhaben ich meine, die Marsprogramme weiterzuführen -, sind sie keinen Deut besser aus die europäischen Militärtyrannen.« »Sie haben es vor, Willie. War von vornherein beschlossene Sache. Ein Captain vom Intelligence Service bemerkte bei meiner gestrigen Vernehmung, daß das Marsprogramm die beste Lösung sei, die amerikanischen Zuchthäuser und Gefängnisse von Verbrechern leerzufegen und die Kriminalität einzudämmen.« Ein heftiger Schlag ließ das amerikanische Raumschiff erzittern. »Das muß ein thermonuklearer Raumtorpedo gewesen sein«, konstatierte Dolan. »Das Schiff ist in ein Gefecht verwickelt. Paß auf! Gleich hängen wir mit unserer Nase wieder im Universum. Zur Abwechslung mal ohne Raumanzug.« Wieder erfolgte eine schwere Explosion nahe beim Schiff. Die Steigrohre, an die sie gefesselt waren, schwangen wie angerissene Klaviersaiten. Das Raumschiff krängte stark und verringerte seine Fahrt. Alarmklingeln schrillten Eine sich überschlagene
Stimme aus den Lautsprechern schrie nach einem Leckabdichtungstrupp und vergurgelte jäh. Wanted zerrte wütend an seinen Plastikfesseln. »Wie lange befinden wir uns hier an Bord, Ruben ?« »Etwa vierundzwanzig Stunden. Sie hatten gestern eine Menge zu tun, die europäischen Raumkreuzer niederzukämpfen. Danach erst befaßten sie sich, mit uns. Da!« »Was ist, Ruben ?« »Die Triebwerke haben ausgesetzt. Keine Alarmglocken mehr. Das Schiff treibt steuerlos...« Sie horchten in die Stille hinein. Sie hatten ein Gefühl, als würden die nackten Stahlwände des Vernehmungsraums auf sie zunicken, um sie zu zerquetschen wie Wanzen. Die Minuten verrannen, immer wieder unterbrochen von Anfällen wahrer Raserei, mit denen sie vergeblich gegen ihre Fesseln wüteten. Dabei fragten sie sich bang, ob das Raumschiff von seiner Besatzung aufgegeben und verlassen worden war, ob Fangtorpedos es jeden Augenblick gänzlich vernichten würden, ob Entermannschaften der Raumstreitkräfte des Direktoriats das schwerbeschädigte Schiff entern würden. Rüben Dolan sprach die Antwort auf die letzte Frage in den Raum hinein: »Sie werden uns als Deserteure und Verräter töten, Willie. Sie sind schon da... Das Schott wird entriegelt. Gleich werden wir es wissen. Lebewohl, Willie! Auf Wiedersehen! Hoffentlich in einer besseren Welt!« »Lebewohl, Ruben. Du bist mir immer ein guter Freund gewesen«, sagte Willie Wanted gepreßt. * Jetzt wurden die unteren Verschlüsse des Schotts zurückgenommen. Die ovale Tür aus Titanblech wurde nach außen aufgezogen. Gleichzeitig stießen Wanted und Dolan einen Schrei des Entsetzens aus. Fünf furchterregende Wesen sprangen in den Vemehmungsraum. Ihre silbernen Schutzanzüge und vorn spitz zulaufenden Helme ließen Keilköpfe auf bombenförmigen Körpern erkennen, die von einer flirrenden Aura umgeben waren. Die Beine schoben sich teleskopartig. zusammen oder streckten sich zum nächsten
Schritt. Die Arme endeten in sechsfingerigen Pranken, die an den Außenkanten über einen zweiten Daumen verfügten. Die Waffen, die sie damit hielten, glichen entfernt Farbspritzpistolen. Im nächsten Augenblick tauchte eines dieser unheimlichen Geschöpfe unmittelbar vor Wanted auf. Willie sah hinter der rosefarbenen Sichtscheibe des Helmvisiers ein Stromliniengesicht mit stark granulierter, graubrauner Haut. Darin ein einziges, pflaumengroßes Auge mit leuchtender, sich ständig verändernder Goldpupille. Mund und Nase bildeten eine sehr agile Einheit mit drei lippenähnlichen Öffnungen. Das Wesen vor Wanted entrollte seinen rechten Arm, hakte seine Finger hinter dessen Plastikfesseln und zerriß sie wie dünnen Zwirn. Auch Dolan war binnen weniger Sekunden frei. Ruben begriff zuerst, strahlte über das zerschlagene Gesicht und rief Wanted zu: »Es sind Rigilaner anderer Kategorie, Willie. Male hat es geschafft und uns befreit!« Zur Bestätigung hörten sie eines der Wesen mit eigentümlichen Grunzlauten, dennoch gut verständlich, sagen: »Mr. Sturgess entsendet Ihnen seine besten Grüße. Er läßt Ihnen ausrichten, daß er Sie auf Rigil erwartet, Gentlemen. Wir sind beauftragt, Sie sicher zu Ihrem neuen Heimatplaneten zu bringen. Folgen Sie uns jetzt bitte. Dieses Schiff wird in wenigen Minuten vernichtet werden.« »Wir benötigen zum Ausbooten unsere Raumanzüge«, sagte Wanted. »Es liegen welche für Sie in der Schleuse bereit, Mr. Wanted.« Sie kehrten dem Vernehmungsraum den Rücken. Ein Lift, der noch in Betrieb war, brachte sie zu den oberen Decks des kugelförmigen Raumschiffs hinauf. Überall lagen paralysierte amerikanische Raumfahrer in den Sitzen ihrer Kommando stände oder auf dem Boden. Aus anderen Schiffsabteilungen tauchten weitere Rigilaner auf. Sie trugen Drahtkörbe mit Code-Büchern, Raumkarten, Tonbändern und Filmaufzeichnungen. »Hier«, sagte einer der Keilköpfigen und öffnete die Tür zu einem Meßraum, in dem mehr als zwanzig weibliche Besatzungsmitglieder an der Wand hatten Aufstellung nehmen müssen. Ein Rigilaner sagte zu Wanted und Dolan: »Suchen Sie sich unter den Damen ihre zukünftige Lebensgefährtinnen aus, Gentlemen. Denn mit unseren Frauen werden Sie schwerlich etwas an-
fangen können. Der gewisse Unterschied, Sie verstehen?« »Geht alles ein bißchen plötzlich«, murmelte Wanted verwirrt. Er ging die Reihe der verschüchterten Damen entlang, kam zurück und zeigte auf eine zierliche, wohlproportionierte Schwarzhaarige mit lieblichem Gesicht und noch vorhandener Fähigkeit, hold zu erröten. Dolan angelte sich einen honigblonden Vamp mit überaus langen Beinen und graugrünen Augen. Sie trug die Rangabzeichen eines Majors der Kommunikationstruppe. Also gehörte sie sozusagen zur Familie. Alles ging rasend schnell. Irgend jemand hielt ihnen Raumanzüge hin - auch den ausgewählten Frauen. Die Schutzanzüge waren von der Art, wie Sturgess einen getragen hatte, als er den Mond betrat. Die Terraner schlüpften hinein und fühlten sich sogleich hundertmal wohler darin als in den ungefügen Skaphandern, die sie im Dienst getragen hatten. Die Rigilaner erklärten ihnen die Handgriffe. Dann führte man sie durch eine Schleuse in den Schiffshangar für Patrouillenboote! Das Außenschott hatte einen Treffer abbekommen. Es war skuril verbogen und in sich verdreht. Dahinter waren die Sterne des Universums flimmerfrei zu sehen. Sie zwängten sich zwischen zerstörte Gleiter hindurch, stiegen über gefallene Amerikaner hinweg, umgingen dampfende Treibstofflaschen und waren schließlich in einem entlüfteten Notausstieg, vor dessen Außenschott ein rigilanischer Raumzerstörer festgemacht hatte. Jeweils zu dritt schleusten sie sich an Bord des Bootes. Die Entermannschaft folgte mit den ausgewählten Mädchen nach. Geräuschlos schlossen sich hinter ihnen die Schleusenschotten. Ein Rigilaner führte Dolan und Wanted in ein kleines Lazarett. Der Arzt und die beiden Schwestern, die sie hier erwarteten, »trugen« Menschengestalt. Der Arzt sah aus wie ein älterer Bruder von Malcolm Sturgess. Er grinste sie freundlich an, beide Hände burschikos in die Kitteltaschen geschoben. Die beiden Schwestern in Tracht waren so beschaffen, daß es Dolans und Wanteds Herz erwärmte. Reizend ihre verstohlene Neugierde, mit der sie ihre wohl ersten irdischen Patienten betrachteten. »Hallo, Mr. Dolan, Mr. Wanted«, sagte der Arzt launig. »Die beiden entzückenden Damen sind Schwester Jenny und Schwes-
ter Irmtraud. Und ich bin Dr. Warren und damit beauftragt, Sie medizinisch unseren Raumflugbedingungen anzupassen. Das geschieht durch einige Injektionen und Medikamentengaben. Doch vorerst möchte ich Sie untersuchen. Legen Sie bitte Ihre Raumanzüge ab und machen Sie sich frei, Gentlemen.« * Ruben Dolan sah zweifelnd Commander Hepburn, den Kommandanten des rigilanischen Schlachtschiffs THUNDERSTORM, an. Er fragte: »Welche strategische Konzeption Ihrer Regierung auf Rigil sollte es zuwege bringen, die beiden grundverschiedenen Machtblöcke zu vereinigen, Commander Hepburn? Und vor allen Dingen: Was verspricht man sich davon?« Der untersetzte Rigilaner im Drehsessel löste seinen Blick vom Panoramaschirm. Als er Dolan anblickte, antwortete er ohne eine Spur von Ironie oder Überheblichkeit: »Ich möchte Ihre letzte Frage zuerst beantworten, Mr. Dolan. Wir versprechen uns von unserm Eingriff eine befreite Menschheit, die endlich beginnt, global zu denken und die Probleme der Erde ohne Unterschied der Rassen und Weltanschauungen gemeinsam zu lösen. Hungerkatastrophen, Kriege und andere Menschheitsgeiseln darf es zukünftig nicht mehr geben und es wird sie nicht mehr geben... Jetzt zurück zu Ihrer ersten Frage: Wegen der eben genannten Gründe werden unsere Raumschiffe in genau einer Stunde ein Exempel statuieren und beiden Blöcken auf Erden begreiflich machen, daß rigilanische Waffentechnologie zukünftig wie ein Damoklesschwert über Ihrer Welt schweben wird. Allein das wird sie zur Vernunft bringen. Im Glauben daran, vereint der Bedrohung aus dem Weltenraum besser begegnen zu können.« Commander Hepburn lächelte weise. »Unsere Machtdemonstration wird auf der Erde einen Prozeß der Reinigung und Läuterung einleiten. Die Völker worden sich erheben. Alles Morbide und Perverse, jede körperliche, geistige und wirtschaftliche Unterdrückung wird hinweggefegt werden.« »Um dieses Ziel zu erreichen, wollen Sie und Ihre Raumkreuzer die Erde angreifen, Commander?« »Aber nein, Mr. Dolan. Wir werden die Fabrikstädte in Mondnähe, die Mondstationen und Stützpunkte, sowie die militärischen
Einrichtungen auf dem Mars vernichten. Selbstverständlich auch jene Raumkreuzer, die sich uns in den Weg stellen.« »Es leben auch unschuldige Menschen in den Fabrikstädten, Commander. Frauen und Kinder zum Beispiel«, sagte Dolan. »Wir wissen es. Deshalb forderten wir die Raumstreitkräfte ultimativ auf, die Zivilbevölkerung der freischwebenden Mondstädte zu evakuieren. Wir gaben ihnen zehn Stunden Zeit.« »Man ist doch wohl der Aufforderung nachgekommen?« fragte Dolan bange. »Sehen Sie selbst«, antwortete der Commander. Er schaltete eine Reihe von Holo-Bildschirmen auf der Konsole vor ihm ein. »Wir stehen zweihunderttausend Kilometer vom Geschehen entfernt«, erläuterte Hepburn. »Diese Bilder erreichten uns über Satelliten, die nicht zu orten sind, ferner über versteckte Mini-TVKameras, die von Mr. Sturgess selbst von Mr. Wanted unbemerkt in Repsold-City angebracht werden konnten. Aber sehen Sie selbst...« Die Holo-Bildschirme lieferten das Geschehen in der, Fabrikstadt dreidimensional; wenngleich stark verkleinert. »Das hier sind die Familien der hohen Militärs«, sagte Commander Hepburn. »Während sie sich zur Erde absetzen, also unsere ultimative Forderung, die schwebenden Städte zu räumen, ernst nehmen, wird der kleine Soldat mit Durchhalteparolen gefüttert und über den Ernst der Lage hinweggetäuscht. Sehen Sie selbst, auf den Holo-Schirmen sieben bis zehn...« Dolan vernahm Radioaufrufe, mit denen die Bevölkerung gewarnt wurde, der Feindpropaganda Glauben zu schenken. Unsere Streitkräfte sind stark genug, jeden Angreifer zurückzuschlagen, dröhnte eine Stimme. Oder: Für Repsold-City besteht absolut keine Gefahr, Kameraden... Jetzt wurden die Hologramme besorgter Mütter, die Kinder an sich gepreßt, in schockierender Eindringlichkeit sichtbar, während vor Schleuse B eine aufgebrachte Menge von Verwaltungsangestellten beiderlei Geschlechts versuchte, die Absperrkette aus schwerbewaffneten Grünen zu durchbrechen. Ziel war ein Raumtransporter, der vor einer zweiten Schleuse von Raumsoldaten mit schweren Kognakkisten, kostbaren Teppichen, Chinaporzellan und Gemälden alter Meister beladen wurde: Eigentum von Offiziers-Maitressen, die mit hochmütigen Gesichtern an Bord tänzelten, als ginge sie das Tohuwabohu ringsherum nichts an. Ein an-
derer Holo-Schirm zeigte betrunkene, plündernde und vergewaltigende Soldaten. Hepburn schaltete die Geräte ab. »Wie Sie sehen, haben wir getan, was wir tun konnten, Mr. Dolan.« »Und wenn Ihre Führung darauf verzichten würde, die schwebenden Städte zu vernichten, Commander?« »Dann würden die Amerikaner sie besetzen, um mit den Deportationen zum Mars fortzufahren. Im Augenblick treffen sie ihre Vorbereitungen zum Angriff. Die Vernichtung ihres Flaggschiffs schreiben sie einem Direktorats-Raum-kreuzer zu.« Dolan ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. »Welch ein Wahnsinn«, murmelte er, um dann, den Colonel anblickend, fortzufahren: »Würden Sie mir bitte den Anblick der Zerstörung der Mondstädte und Basen ersparen, Commander?« »Nichts lieber als das, Mr. Dolan. Wir nehmen gegen Mittag sowieso Kurs auf den Mars.« * Ihr Zielplanet Mars drohte den Panoramabildschirm zu sprengen. Im trockenen Gelb der Marsoberfläche waren als grüne Oasen die von K-Eihheiten mit Flechten bepflanzten Gebiete auszumachen. Nach Eintritt in die interplanetare Übergangsbahn steuerte das rigilanische Schlachtschiff den Marsmond Phobos an. Ins Bild rückten geographische Formationen, die Ähnlichkeit mit Gletschermoränen hatten. Sandaufwirbelungen ungeheuren Ausmaßes zogen mit 250 km/h über das Gebiet der Gabelbucht. Auf der THUNDERSTORM herrschte erhöhte Alarmbereitschaft. Die Feuerleitstände und Gefechtskuppeln wären mit ihren Bedienungsmannschaften besetzt. Ruben Dolan und Willie Wanted befanden sich an Bord des Kampfgleiters, der in einem der Hangars auf den Zeitpunkt seines Einsatzes wartete. Sie nahmen an der Aktion auf eigenem Wunsch teil. Der Kampfgleiter war mit drei Piloten und einem Stoßtrupp schwerbewaffneter Rigilaner bemannt, deren Aufgabe es war, die Geschütze, Raketenstellungen und Laserstrahler auf Phobos zu vernichten und Gefangene zu machen. Die Rigilaner hatten wieder ihr fremdartiges Äußeres angenommen. Mit Erstaunen hatten
die beiden Terraner festgestellt, daß sie sich mit Haßgesängen und Schmährufen auf den Gegner förmlich in diesen Zustand hineinsteigern mußten, weil noch keine Feindhandlungen als Auslöser stattgefunden hatten. Ein kaum wahrnehmbarer Ruck ging durch das Schiff, das jetzt mit geringer Geschwindigkeit in der Marsatmosphäre operierte. Marsmond Phobos lag noch, ihrer Sicht entzogen, unter dem Marshorizont. »Die THUNDERSTORM hat einen Torpedofächer gelöst, um Phobos mürbe zu klopfen, bevor wir uns an die Arbeit machen«, erklärte ihr rigilanischer Vetter. »Sobald das Startzeichen gegeben wird, schleusen wir zum Angriff aus...« Ein weiterer Raumtorpedofächer rüttelte das Schlachtschiff durch. Jetzt schoß das Mars-Außenfort mit Kampfraketen zurück, die im Anflug von Anti-Raketen der THUNDERSTORM vernichtet werden konnten. Im All erblühten die Feuerblumen explodierender thermonuklearer Raketensprengköpfe. Die THUNDERSTORM flog mehrere Male Ausweichmanöver. Dann war der Augenblick gekommen. Warnlampen pulsierten hektisch im Hangar und auf der Konsole des Kampfgleiters. Das Außenschott öffnete sich. Der Weg ins All war frei. Der Kampfgleiter hatte Ähnlichkeit mit Sturgess' CHIRON VI und war mit einem Speziaiplast überzogen, der Radarstrahlen schluckte, anstatt sie zu reflektieren. Die Bewaffnung des Gleiters bestand aus zwei Aggregaten zum Verschießen konstanter thermischer Lanzen, wobei die Reichweite fünfzig Kilometer betrug. Ihre Hitzeleistung war so groß, daß sie binnen weniger Sekunden Granit verflüssigten. Die Piloten ließen den Gleiter der Marsoberfläche zufallen und fingen ihn in achttausend Meter Höhe ab. Mit 11,2 Kilometern in der Sekunde jagten sie auf Phobos zu. Helle Punkte wuchsen ihnen entgegen, flitzten an den Flanken des Gleiters vorbei und explodierten Hunderte von Kilometern hinter ihnen. Die thermischen Lanzen des Kampfgleiters stabilisierten sich zu gleißenden Doppellinien, die gierig nach Zielen stocherten, sie auf Phobos fanden und vernichteten. Dann verschwand der Marsmond in einer Explosion von so gewaltigen Ausmaßen, daß Wanted und Dolan sich wunderten, als sie den Felsklotz danach immer noch am Himmel sahen. Das gegnerische Feuer wurde schwächer und hörte schließlich
gänzlich auf. Die Triebwerke des Kampfgleiters gingen auf Gegenschub. Der plötzliche Andruck war für die beiden Terraner eine Tortur, während die Rigilaner äußerst gelassen auf ihren Plätzen hockten. Der Gleiter stieg und gewann rasch an Höhe. Phobos lag nun wie ein ausgeglühtes Stück Asche unter ihnen. Aus schießschartenartigen Löchern glosten Brände, die durch Sauerstoff aus den Kasematten Nahrung fanden. Der Gleiter senkte sich auf Phobos herab und setzte sanft auf. Die Schotts öffneten sich. Die Keilköpfigen sprangen ins Freie und schwärmten auf der Suche nach Einstiegluken aus. Als Wanted und Dolan kurz darauf Phobosboden betraten und sich dank ihrer Schwerkrafterzeuger wie auf der Erde bewegen konnten, hatten die Rigilaner bereits mehrere gut getarnte Notausstiege gesprengt und drangen in das Mondinnere ein. Die beiden Terraner folgten. Verflüssigtes Gestein war wieder zu bizarren Gebilden erstarrt, kühlte aus. Explodierte Munition hatte die ausbetonierten Wände pulverisiert und geschwärzt. Gefallene Grüne lagen verkrümmt hinter ihren zerstörten Waffensystemen. Vielfach waren ihre Raumanzüge fest mit ihrer Hautoberfläche verkohlt. Keiner schien das Inferno überlebt zu haben. Die beiden Freunde trennten sich von den Rigilanern. Sie folgten einem Seitengang, der vor einer offensichtlich unbeschädigten Schleuse endete. Der Funktionsmechanismus war ihnen vertraut.. Wanted öffnete das Außenschott. Er schloß es von innen, kaum daß Dolan neben ihm war. Nachdem das Schleuseninnere mit Luft gefüllt war, öffnete er das Innenschott. Mit angeschlagenen Waffen betraten sie den Befehlsraum des Kommandanten für den Militärbereich Mars. Die Marskarte, ein gläsernes Leuchttransparent an einer Wand, war durch die Wucht der Torpedotreffer geborsten. Die Kommunikations-Konsolen waren unbesetzt. Akten aus stählernen Rollschränken lagen auf dem Boden zerstreut, und hinter dem gewaltigen Schreibtisch lag einer der meistgehaßten Männer des Militär-Direktorats, Generalmajor Westhoff, mit durchschossener Schläfe, den altertümlichen Nagant-Revolver noch in der Hand. Plötzlich fuhr Wanted zusammen. Dann verschwand er mit einem Riesensatz hinter dem Schreibtisch des toten Generals und riß den Amok-Umkehr-Transponder aus dem Holster. Drei vierbeinige Wesen kamen aus dem Nebenraum. Sie glitten vorsichtig und abwartend auf sie zu. Zwar waren sie klein, aber
sicherlich desto gefährlicher. Beide trugen maßgeschneiderte, teflonbeschichtete Raumanzüge. »Nicht schießen, Willie«, hörte Wanted den Freund über die Helmsprechanlage rufen. »Wir machen sie Male Sturgess zum Geschenk. Auf Rigil sind sie unbekannt.« Mißtrauisch starrte Wanted auf die kleinen Ungeheuer. »Sind das etwa Katzen, Ruben ?« fragte er verdutzt. »Nerzfarbene Siamkatzen, um es genau zu sagen, Willie. General Westhoff war als Katzennarr in der Armee bekannt. Sieh einmal durch die Plastikvisiere ihrer Raumhelme, dann kannst du ihre dunkelbraunen Masken und blauen Augen erkennen. He, jetzt weiß ich auch, was wir auf Rigil anfangen werden: Wir werden Siamkatzen züchten!« Dolan hob eines der jetzt zutraulichen Tiere im putzigen, voll funktionsfähigen Raumanzug auf. Wanted ergriff die zweite Katze. Er hätte sie gern gestreichelt, aber der Raumanzug ließ das nicht zu. Fröhlich antwortete er: »Das war's dann wohl. Rigil wartet auf uns!«
-ENDEIn 14 Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler Overlords von der Venus von Colin Yamen Seltsame Dinge geschehen unter der Oberfläche des Meeres. Menschen werden getötet oder verschwinden. Was ist das für eine geheimnisvolle Macht, die sich den Titel HERR DER WELT gibt und die ganze Erde zu übernehmen droht? Erst allmählich löst sich der Schleier über dem geheimnisvollen Geschehen -und der HERR DER WELT gerät auf die Bahn des Verlierers. Aber er hat noch ein paar Trümpfe im Ärmel