Stefan Murr
Tödlicher Sand Kriminalroman
Im Bertelsmann Lesering
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Stefan Murr
Tödlicher Sand Kriminalroman
Im Bertelsmann Lesering
Als ebook nicht für den Verkauf bestimmt. Private Sicherheitskopie. non-profit ebook by tigger November 2003
Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering mit Genehmigung des Signum Verlages, Gütersloh Einbandentwurf Karl Hartig Gesamtherstellung Mohn & Co GmbH, Gütersloh Printed in Germany • Buch Nr. 3
»Es gibt nichts Trügerischeres als eine offensichtliche Tatsache.« Conan Doyle
Sie standen zu viert um die Stelle herum, an welcher Sandra Roberts Fuß offenbar zum letztenmal die Erde berührt hatte. Nichts Besonderes war an dieser Stelle zu sehen. Nur der Abdruck der flachen Sohle einer Strandsandalette, ein kleiner fraulicher, energischer Fuß, der linke. Er hatte einen Schritt nach vorwärts gemacht, wie die tausend oder zwei- oder dreitausend Schritte vom ›Clifton‹ bis hierher. Sie war nicht aufgeregter gewesen als während der ganzen Zeit, in der sie die gerade und zielbewußte Fußspur hinterlassen hatte, dicht entlang an den strandhaferbewachsenen Dünen. Sie war nicht stehengeblieben, sie hatte sich nicht umgeblickt, keinen Schritt zur Seite getan, war nicht gelaufen und hatte nicht gezögert. Sie hatte nur an dieser Stelle aufgehört, eine Spur zu hinterlassen, und sie war von dieser Stelle aus seit zehn Stunden nicht ins ›Clifton‹ zurückgekehrt, obwohl sie nicht länger als fünfzehn oder zwanzig Minuten dazu gebraucht hätte. Ketterle hätte sich vorstellen können, sie irgendwo schlafend oder dösend oder auch mit gebrochenem Fuß oder von einer plötzlichen Schwäche befallen zwischen den Dünen zu finden. Er hätte sich auch nicht besonders gewundert, sie tot irgendwo liegen zu sehen, von der steigenden Flut an eine der langen Buhnen geschwemmt oder halb verborgen zwischen dem bizarr wuchernden Strandhafer. Nicht im geringsten hatte er allerdings mit der Möglichkeit gerechnet, daß ihre deutlich sichtbare Fußspur mit einem Abdruck der linken Sandalette plötzlich endete, als habe man Sandra Roberts einfach vom Erdboden hochgehoben. Er hatte, als sie die Spur der Vermißten ohne besondere Schwierigkeiten von der Erde unter ihrem Fenster bis an den Strand hinunter gefunden hatten, darauf bestanden, daß sie selbst in einiger Entfernung davon gehen sollten, und deshalb 5
sah es, als er jetzt zurückblickte, so aus, als sei Sandra Roberts heute nacht von vier Leuten begleitet am Strand entlanggegangen. Aber das traf nicht zu. Sie war bei diesem Gang allein gewesen, mutterseelenallein. Es war eine absolut einsame Spur gewesen, der sie gefolgt waren, und Ketterle hatte zunächst an eine Halluzination geglaubt, als er bemerkt hatte, daß sie dreißig Meter vor ihnen einfach nicht mehr dazusein schien. Völlig unberührt, glatt und unschuldig hatte sich der Strand vor ihrem letzten Abdruck nach Nordosten hingezogen. Ketterle hatte instinktiv die Arme ausgebreitet. Hornschuh und die beiden Frauen waren stehengeblieben und hatten durcheinandergeredet, während Ketterle, die Hände in den Manteltaschen, einen weiten Bogen machend, bis zu dem Ende der Spur weitergegangen war. Es bestand kein Zweifel, und Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle schüttelte den Kopf. Dann sah er sich um. Landeinwärts reihten sich in sanftgebogenen Wellen die flachen Dünen aneinander, auf deren Kämmen der Strandhafer selbst in der geringen Luftbewegung träge nickte. Der Kommissar liebte sonst die herbe Anspruchslosigkeit und das gleichsam heisere Flüstern des Strandhafers, aber in diesem Augenblick schien es ihn zu verhöhnen. Müde rollte ein metallisches Meer in breiten, flachen Wogen heran, und bewegungslos lag über allem der von langgezogenen Wolken wulstig gerippte Himmel. Weiter vorne ritzte ein Leuchtturm, sehr klein und doch überdeutlich sichtbar, den abgebrochenen Horizont. Ein schrägliegender Düsenjäger schleppte sein entnervendes Schlürfen über das Meer hinaus, wo es ebenso schnell erstickte, wie es gekommen war. Ketterle senkte den Kopf und sah wieder auf den Abdruck des linken Fußes der Sandra Roberts, den letzten. »Glauben Sie an Gespenster, Hornschuh?« Obwohl Hornschuh nicht an Gespenster glaubte, spürte er doch, wie eine Gänsehaut seinen Rücken überzog. 6
»Komisch ist es trotzdem«, murmelte er nach einer Weile. Ketterle ging gewaltsam gegen die beunruhigende Stimmung des sonderbaren Morgens an. Er musterte das Mädchen und die Frau, die wortlos dastanden und von ihm zu Hornschuh blickten. »Wenn wir auf dem Boden der Tatsachen bleiben«, sagte er endlich, »dann ist, von dieser Stelle an, die Fußspur der Sandra Roberts verwischt worden. Entweder von irgend etwas oder von irgendwem. Beschäftigen wir uns zunächst mit dem ›irgend etwas‹. Wind oder Wasser, wie?« Aber warum sollte gerade von dieser Stelle an der Wind die Spur zugeweht haben? Das hätte bei der bleiernen Flaute der letzten vierzehn Stunden nur eine plötzliche, messerscharf begrenzte Bö gewesen sein können. Aber dafür sprach nichts, und außerdem hätte eine Bö auch nicht die Abdrücke vollständig ausgleichen können. Und irgendwo weiter vorn hätte man sie dann wieder weiterlaufen sehen müssen. Aber sie blieb verschwunden. Und Wasser? Mit einem Blick sah der Kommissar, daß die Tide seit mindestens einem Monat nicht mehr bis hier oben gestanden hatte. »Bleibt also nur irgend jemand«, sagte er, und es schien, als spräche er nachdenklich und bedrückt direkt zu dem unschuldigen Abdruck der Sandalette. »Und da gibt es zwei Möglichkeiten, Hornschuh: sie selbst oder sonst wer.« Hornschuh wollte etwas sagen, aber der Kommissar unterbrach ihn: »Langsam, Hornschuh; wenn sie es selbst war, gibt es wieder zwei Möglichkeiten. Entweder ein echter Selbstmord oder ein vorgetäuschter …« Der Kommissar knöpfte den Mantel auf und klopfte suchend seine Taschen ab. Er war nicht einmal dazu gekommen, seine Zigarren einzustecken. »Was war das für eine Dame?« fragte er unvermittelt die Frau. 7
»Ich weiß es nicht. Sie ist gestern angekommen. Sie hatte am Freitagabend von Hamburg aus angerufen, ob wir Platz hätten. Ich habe ihr gesagt, wir hätten nur den Oberst da, und ich könnte ihr ein schönes Zimmer nach hinten hinaus … Wissen Sie, hier an der Nordsee sind die Zimmer zum Strand zu … Wegen der ewigen Brandung …« Sie hätte sich wahrscheinlich in noch detailliertere Schilderungen der Nordseeküste verloren. Deshalb fragte der Kommissar: »Sie haben sie also noch nie gesehen? Vorher, meine ich.« »Nein, noch nie«, sagte die Frau. »Was hat sie als Beruf auf dem Meldezettel angegeben?« »Ohne Beruf. Sie ist eine verwöhnte Frau, das sah man auf den ersten Blick. Schon an der ganzen Art, wie sie das Abendbrot bestellte und nach warmem Wasser fragte. Man bekommt dafür ein Fingerspitzengefühl wie … ja, wie soll ich mich …« »Haben Sie ihren Paß gesehen?« »Natürlich«, sagte die Frau, »er liegt noch im Empfang. Das heißt, wenn sie ihn nicht mitgenommen hat.« Kommissar Ketterle zog die Oberlippe hoch. »So«, sagte er. Es war erstaunlich, daß er noch nicht selbst darauf gekommen war. Natürlich war es wichtig, ob sie ihren Paß mitgenommen hatte oder nicht. Aber Sandra Roberts war aus ihrem Fenster geklettert, um den Weg zum Strand einzuschlagen. Hätte sie erst noch im Empfang ihren Reisepaß geholt, dann hätte sie ebensogut das Haus durch den Eingang verlassen können. »Wann verschließen Sie die Türe?« fragte er. »Wann hast du gestern abgeschlossen, Heide?« Ein strafender Blick traf das junge Mädchen – so, als ob die Frau schon von vornherein wisse, welche Antwort sie bekommen würde. »Sie vergißt es nämlich immer«, sagte sie entschuldigend zu Ketterle. 8
»Hast du es vergessen, Heide? Es ist besser, wenn du die Wahrheit sagst.« Das Mädchen nickte. »Ich muß die Küche aufräumen, die Schuhe einsammeln, die Uhren aufziehen, das Frühstückszimmer decken, die Läden schließen. Ich kann nicht immer an alles denken.« Ketterle sah sie zum erstenmal mit Bewußtsein an. »Haben Sie denn keine Angst?« fragte er. »Nein. Wovor?« sagte das Mädchen und schob sich langsam eine blonde Haarsträhne über das Ohr zurück. »Ich habe keine Angst.« Der Kommissar nickte. »Brav«, sagte er. »Hornschuh, fotografieren Sie dies Dilemma hier. Je öfter, desto besser. Bis Röppke mit seinem Sarg kommt, können die Spuren längst zugeweht sein. Wir wollen versuchen, sie der KTV aufzuheben.« Ketterle sah, daß die Lippen der Frau zitterten. »Sarg …?« murmelte sie, als ob ihr erst in diesem Augenblick bewußt geworden wäre, um was es eigentlich ging. Ketterle lachte. »Nein, nein, nicht, was Sie meinen. Mordbereitschaftswagen ist ein bißchen lang, nicht wahr. Wir sagen unter uns Sarg dazu. Er sieht auch so aus. Man muß vorsichtig sein, Hornschuh, die Kriminalpolizei hat ohnehin keinen guten Ruf!« Kommissar Hornschuh kniete im Sand und bemühte sich, in dem lustlosen, diffusen Licht die letzten Fußabdrücke der Sandra Roberts so ins Objektiv zu bekommen, daß sie eine Kontur ergaben. Als er die Kamera vom Gesicht nahm und aufstand, bemerkte Ketterle, daß sein Ausdruck verändert war. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Hornschuh. Kommissar Ketterle zuckte die Achseln. »Es wäre sehr wichtig zu wissen, ob sie die Spuren selbst verwischt hat«, sagte er und musterte noch einmal eingehend die Umgebung der Fußabdrücke. 9
Im Sand erblickte man nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß er seit gestern von etwas anderem berührt worden war als von dem immer noch kaum spürbaren Wind. »Nicht, bleiben Sie stehen«, sagte er plötzlich schroff zu dem Mädchen, das ein paar Schritte gemacht hatte. »Sie verderben die Witterung für die Hunde. Gehen Sie zurück.« Er spürte eine Art von Erleichterung, als er daran dachte, daß die Nasen der Hunde voraussichtlich diesen Spuk auf den Boden der Tatsachen zurückführen würden. Greifbare Ergebnisse, das war es, was man brauchte, wo Spuren plötzlich im Nichts endeten. Und Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle war ein Mann greifbarer Tatsachen. »… wenn es nämlich jemand anders war«, beendete er unvermittelt seinen Satz, »dann gibt es keine zwei Möglichkeiten mehr, sondern nur noch eine.« Die beiden Frauen starrten ihn verständnislos an. »Ich verstehe nicht, daß Sie überrascht sind«, sagte der Kommissar. »Sie müssen doch mit so etwas gerechnet haben, sonst hätten Sie nicht in Hamburg angerufen. Normalerweise verständigt man bei so was die Ortspolizei.« »Der Oberst«, sagte die Frau und blickte auf das Meer hinaus, »der Oberst bestand darauf. Ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen. Aber vielleicht war es doch richtig. Der Oberst wittert überall Unregelmäßigkeiten. Er ist pedantisch und mißtrauisch, aber vielleicht hatte er doch recht.« »Vielleicht?« knurrte der Kommissar. »Das ist gut, hahaha. Los, Hornschuh, wir können nicht wissen, wann der Wind kommt. Es ist besser, wir versuchen, etwas dagegen zu tun.« Schnaufend stieg er, durch den dürren Strandhafer watend, auf den Kamm der flachen Düne und sah sich suchend um. In einiger Entfernung duckte sich ein flaches Gebäude, eine Art Sommerbungalow oder Strandhaus, in eine Mulde. Es schien unbewohnt zu sein, denn alle Fensterläden waren geschlossen. »Wem gehört das Haus da?« rief er der Frau zu und zeigte 10
mit der Hand hinter sich. »Leuten aus Bremen. Einem Arzt. Er heißt Lütjens. Aber sie sind nur im August hier. Die übrigen Monate vermieten sie. Jetzt steht es leer.« Sie kam die Düne heraufgestiegen und sah hinüber. »Ja, jetzt steht es leer. Das nimmt entsetzlich Oberhand, dieses freie Vermieten. Sie verderben uns die ganze Saison, und letzten Endes kommen die Gäste bei den unverschämten Wochenpreisen auch nicht billiger weg. Essen müssen sie schließlich auch, und die Arbeit haben sie noch dazu.« Sie begann munter auf das Haus zuzugehen, und wieder fiel dem Kommissar die gelbliche Blässe ihrer Haut und die Verfallenheit ihrer Züge auf, die einen merkwürdigen Kontrast zu ihrer heiteren Betriebsamkeit bildeten. »Bleiben Sie stehen«, rief der Kommissar ihr nach, »gehen Sie nur, wo ich gehe. Hornschuh, los, kommen Sie, wir brauchen die Fensterläden.« In einem großen Bogen näherten sie sich dem Haus von hinten. »Warum soll sie nicht zu diesem Haus gegangen sein?« sagte Ketterle. »Wir müssen schließlich alles in Betracht ziehen. Röppke wird uns dankbar sein, wenn wir keine Möglichkeit außer acht lassen.« Das Haus lag still und wie abweisend da. Der Kommissar untersuchte die Fensterläden. Sie waren von innen mit eisernen Querriegeln festgemacht, aber die Hebelkraft der Ladenflügel genügte, um die Haltehaken aufzubiegen. Ketterle und Hornschuh warfen einen Blick durch das blinde Fenster in ein staubiges Zimmer, dem man ansah, wie lange es nicht mehr bewohnt gewesen war. Gemeinsam hoben sie zwei Fensterläden aus ihren Angeln, legten sie aufeinander und trugen sie quer über die Düne hinunter zu der Stelle, wo Sandra Roberts Spur endete. »Haben Sie mal Schneezäune gesehen, Hornschuh?« Hornschuh hatte schon Schneezäune gesehen und half dem 11
Kommissar, die beiden Fensterläden so aneinanderzulehnen, daß sie sich gegenseitig stützten. Sie holten insgesamt acht der schweren Teile von dem Haus herüber und schützten die letzten zwölf Meter von Sandra Roberts Spur gegen den feinen Sand, der sie gleichgültig von See her zuwehen würde, wenn auch nur die kleinste Brise aufkam. Das Mädchen war die ganze Zeit über regungslos auf dem Kamm der Düne stehengeblieben und hatte ihnen zugesehen. Als die Beamten mit den letzten beiden Läden bei ihr anhielten, um zu verschnaufen, hob es plötzlich den Arm und deutete auf das Meer hinaus. »Das Meer«, sagte es. Hornschuh blickte zu Ketterle zurück und sah dann das Mädchen an. »Natürlich«, sagte er, »das Meer.« Das Mädchen lächelte unergründlich. »Nein, nein, nicht das. Wenn die Ebbe kommt, ist dort kein Wasser. Nur Sandbänke, dazwischen gurgelnde Priele mit starken und gefährlichen Strömungen, wanderndem Schlick und Strudeln.« Sie hob dabei in leichtem Schaudern die Schultern. Weit drüben, über dem unruhigen Gequirle des Wassers, konnte Ketterle von hier oben aus den flachen Walrücken einer Insel erkennen. Trotzig trug sie, halb von Dunst verborgen, ein uraltes Gemäuer mit sonderbar wehrhaften Konturen. Der Kommissar hatte Hornschuh an der Stelle zurückgelassen, wo die Spur endete. Er hielt es für besser, diesen Platz nicht einfach allein zu lassen. Auf dem Rückweg zum ›Clifton‹ fotografierte er mit Hornschuhs Kamera noch einmal den einen oder anderen Abdruck von Sandras Fuß, wo der Umriß des Schuhs in einer feuchten Stelle des Sandes deutlicher hervortrat. Geduldig warteten die beiden Frauen und sahen ihm zu. 12
Als der Kommissar sich erhob und den Film weitertransportierte, sah er in einiger Entfernung den Mann gestikulierend auf sich zukommen. Der Oberst, dachte er, das ist der Oberst. Er schloß es daraus, daß der Mann sich mit militärischer Exaktheit genau in Sandra Roberts Spur fortbewegte und aus der forschen Ausdruckslosigkeit des rotbackigen Haudegengesichts. »Sind Sie der Kommissar?« rief er schon von weitem; »die Kriminalpolizei ist am Apparat. Ich hielt es für besser, Sie zu verständigen und keine Zeit zu verlieren. Haben Sie sie gefunden?« »Gehen Sie aus der Spur«, sagte Ketterle. »Wer ist am Apparat?« Der Oberst richtete sich indigniert etwas höher auf, und Ketterle sah im Geist Röppke fluchend am Apparat, während ihm wie immer die Zeit auf den Nägeln brannte. »Ein Mann namens Röppke«, sagte der Oberst nach einem Blick in Ketterles angespanntes, zurückweisendes Gesicht. Der Kommissar kniff die Mundwinkel ein. »Sie haben natürlich keine Ahnung, was es heißt, Röppke warten zu lassen«, murmelte er und begann rasch auf das ›Clifton‹ zuzugehen. Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er drehte sich um. »Ich verbiete Ihnen, dort an der Stelle irgend etwas zu untersuchen oder zu verändern«, rief er dem Oberst zu. Die beiden Frauen sprachen hastig mit dem Mann, und das kantige Gesicht des Obersten war Ketterle zugewendet gewesen, als er sich umgedreht hatte. »Ein ziemlich arroganter Bursche, wie?« sagte der Oberst zu Frau van Hengelaer, als Ketterle endlich weiterstapfte. Das ›Clifton‹ war einer der düsteren, geduckten Gutshöfe dieses Küstenstriches gewesen, ehe man es umgebaut hatte. Es trug ein Strohdach. Der Kommissar trat durch die moderne Glastür in den Vorraum. Auf der Theke lag der Telefonhörer. »Hallo, Röppke?« 13
»Es hat mir zu lange gedauert.« »Tut mir leid, Röppke; der Mann ist ein Trottel.« Der Kommissar sah sich um, aber er war allein. »… nein, nein, Ketterle, daß Sie so lange nicht angerufen haben. Sie mußten doch schon gegen neun, halb zehn dort draußen gewesen sein. Was ist los?« »Sie müssen ‘rauskommen, Röppke. So was haben Sie noch nie gesehen.« »Und das sagen Sie?« Kommissar Ketterle hatte schon einiges gesehen. »Von der Frau keine Spur. Das heißt: eine Fußspur. Aber wo es interessant wird, hört sie auf.« »Wie?« »Ja. Wann können Sie losfahren?« »Sofort«, sagte Röppke, »brennt es?« »Ja«, sagte Ketterle, »es brennt. Bringen Sie einen Hund mit.« »Also wirklich«, sagte Röppke. »Wirklich. Die Spur hört auf, mitten im unberührten Sand. Wie abgerissen.« »Zwei Stunden werde ich brauchen.« »Nehmen Sie Blaulicht. Es geht über die Dörfer. Je schneller, desto besser. Weniger der Sache als des Windes wegen.« »Ich verstehe«, sagte Röppke. »Bis dann.« Kommissar Ketterle legte auf und sah durch das niedere Fenster die Frau und Heide herankommen. »Der Oberst ist also wirklich hinaus zu der Stelle?« sagte er, als die Frauen das Haus betraten. »Er könnte es nicht ertragen, nicht dortgewesen zu sein. Er hat es nur schwer überwunden, in der Badewanne gesessen zu haben, als Sie ankamen. Lassen Sie ihm das Vergnügen. Irgend etwas muß man ja tun, wenn man keine Salven mehr kommandieren kann. Die letzten Salven kommandierte er an der Oder. Bei Wriezen. Sie werden es noch hören.« 14
Frau van Hengelaer seufzte. »Kein gutes Renommee für das ›Clifton‹«, sagte sie und begann die wenigen Briefe zu sortieren, die der Postbote während ihrer Abwesenheit auf die Theke gelegt hatte. »Im Gegenteil«, sagte Ketterle und sah ihr zu. »Denken Sie an die Werbewirkung des Spuks in England.« »Von dieser Seite her habe ich es noch gar nicht betrachtet«, sagte die Frau und steckte die Briefe in die Kästen. Einen Umschlag behielt sie in der Hand. »Sehen Sie, es ist ein Telegramm für sie gekommen.« Der Kommissar steckte das Telegramm in die Manteltasche. Er wollte zuerst herausfinden, was es hier im Haus herauszufinden gab, bevor er durch das Telegramm gleichsam eine Verbindung zu Sandra Roberts, zu ihrer Umwelt, ihrer Familie, ihren Kreisen und Lebensgewohnheiten herzustellen begann. Zunächst interessierte ihn, wo sie hier gewohnt hatte, was sie getan, was sie gelesen, gegessen und vor allem getrunken hatte. Aber vorher war noch etwas anderes wichtig. »Wir müssen Dr. Lütjens in Bremen verständigen, daß wir seine Fensterläden verwendet haben«, erklärte er. »Würden Sie das übernehmen? Außerdem wäre es gut, einen Beamten der Ortspolizei hierherzubitten. In Deutschland geht nichts ohne Dienstweg.« »Ich weiß. Was glauben Sie, was ich erlebt habe, ehe ich die Lizenz bekam, das ›Clifton‹ umzubauen und zu eröffnen! Ich glaube, die Leute haben mein Leben bis zu den vier Großeltern durchleuchtet, und auch dann bedurfte es noch der persönlichen Befürwortung des Landrats. Dabei spielte es eine gewisse Rolle, daß mir das Klima hier sehr zuträglich war. Aber schließlich ist es doch ganz hübsch geworden, nicht wahr?« Der Kommissar konnte sich im Augenblick nicht für den naiven Stolz der Frau erwärmen. 15
»Welches war ihr Zimmer?« fragte er. »Sie brauchen nur hier durchzugehen ins Treppenhaus. Das letzte Zimmer links zu ebener Erde. Nummer drei. Heide kann es Ihnen zeigen.« Das Mädchen war in der Küche. »Nein, nein. Lassen Sie nur. Ich finde mich schon zurecht. Sie haben nichts verändert?« »Gott bewahre«, sagte die Frau, »da kennen Sie den Oberst schlecht.« Der Kommissar lächelte grimmig. »Er hat wahrscheinlich sogar abgeschlossen, wie?« »Nein«, sagte die Frau. »Er wollte es zwar, aber ich fand, daß man nicht einmal das tun sollte.« Ketterle sah sie anerkennend an und verließ den Vorraum. Er durchschritt zwei rustikal stilisierte Torbögen mit Ziegelwölbungen und erschrak vor einer fast lebensgroßen Heiligenfigur, die ihm irgendwo unerwartet eine segnende Hand entgegenstreckte. Der Flur war mit roten Sandsteinplatten gepflastert. Auf einer alten Truhe wackelte ein ungeputzter Samowar. In einer düsteren Ecke stand eine fast schwarze, riesige Standuhr. Ein langes, dunkles Hängeregal enthielt friesische Gerätschaften aus Messing. Aber auch sie waren stumpf. Vor der Tür zu Nummer drei zog Ketterle ein Taschentuch, legte es über die barock geformte, ebenfalls stumpfe Messingklinke und drückte sie nieder. Das Zimmer was fast dunkel, denn die karierten Vorhänge waren noch geschlossen. Das hatte er schon heute morgen von außen gesehen, als sie den Abdruck der Sandaletten auf der Erde vor dem Fenster untersuchten. Der Fensterflügel war noch immer angelehnt wie vorhin. Wieder sorgsam das Taschentuch verwendend, schaltete der Kommissar das Licht an und blickte sich im Zimmer um. Das Bett war tatsächlich nicht benützt worden. Man sah noch überall die Bügelkniffe in der Wäsche. Sandra Roberts hatte ihren Koffer ausgepackt und auf den Schrank geschoben. Neben dem 16
Bett standen hochhackige Hausschuhe. Auf dem Nachttisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Darauf ein geschlossener Reisewecker mit Krokodilbezug. Im Schrank hing ein Komplet aus großkariertem Wollstoff, das selbst auf dem Bügel eine bestrickende Eleganz ausstrahlte. Ein Kamelhaarmantel hing daneben, und darüber lag ein moderner nilgrüner Hut. Auf dem Tisch stand ihre Handtasche, ebenfalls Krokodil; daneben lagen die Handschuhe und die Autoschlüssel. Der Kommissar öffnete die Tür zum Bad. Auch hier zugezogene Vorhänge. Über dem Waschbecken hatte sie auf einer Glasplatte ihre Waschsachen und Make-up-Utensilien geordnet. Ein Kleenextuch zum Abschminken war bereits benützt worden und lag noch in der Toilettenschüssel. Sonst war nur ein Handtuch aufgefaltet und hing unordentlich auf seinem Nickelträger. Der Kommissar durchquerte den Raum, griff durch die Vorhänge, zog das Fenster auf und starrte unmittelbar in ein schreckenerregendes Gesicht. Das schlimmste an diesem Gesicht war der Ausdruck einer bis zur völligen Apathie gesteigerten Stumpfheit in Verbindung mit der heftigen Bewegung, mit der der Mann sich aufrichtete und den Kopf drehte. Die erstaunliche Häßlichkeit sah man erst, wenn man den Schreck über die idiotenhafte Leere überwunden hatte. Ein Geräusch ließ Ketterle herumfahren. »Haben Sie sich über Kaduleit erschrocken?« Heide stand mit geputzten Schuhen unter der Türe, und Ketterle lächelte verkrampft. Ein zweiter Blick zum Fenster hinaus zeigte ihm, daß Kaduleit ein Auto wusch. Er hatte sich dazu den gepflasterten Hofraum zwischen Wohnhaus und Scheune ausgesucht. Wahrscheinlich wurden alle Wagen dort gewaschen. »Kaduleit ist ein armer Teufel«, sagte Heide und stellte die Schuhe auf den Boden. »Die Leute fürchten sich oft vor ihm. 17
Aber ich fürchte mich nicht vor ihm. Er hat niemand mehr. Er macht uns den Garten, die Heizung und die Autos und was so am Haus zu reparieren ist. Er ist stark wie ein Bär und naiv wie ein Kind. Aber glauben Sie ja nicht, daß er etwa dumm ist.« »Soso«, murmelte Ketterle. »Hat Frau van Hengelaer die Verbindungen bekommen?« Das Mädchen nickte. »Die Leute wollen eine amtliche Mitteilung und Schadenersatz.« »Schadenersatz«, knurrte Ketterle. Er haßte Leute, die beim geringsten Anlaß zuerst an ihren Schadenersatz dachten. ›Schadenersatz‹ – wenn das alles in diesem sonderbaren Fall wäre! »Wann sind Sie schlafen gegangen, Heide?« fragte er und setzte sich auf den klobigen holländischen Sessel von Nummer drei. »Um zehn nach elf, Herr Kommissar.« »Also waren Sie gegen zwölf nicht mehr wach, als Frau van Hengelaer bei Sandra Roberts klopfte?« Heide schüttelte den Kopf. »Wo schlafen Sie, Heide?« Das Mädchen deutete in die Richtung der Scheune. »Über den Autos. Das Dachgeschoß ist ausgebaut. Wenn wir Kellner hierhaben und einen Koch, schlafen die auch da oben. Jetzt in der Nachsaison bin ich alleine. Aber ich habe keine Angst.« »Und Kaduleit?« »Kaduleit schläft im Keller. Neben der Heizung. Wollen Sie es sehen?« »Später. Sandra Roberts hatte kein Frühstück bei Ihnen bestellt?« »Nein. Ich habe auch vergessen, sie danach zu fragen. Bevor ich schlafen ging, sagte ich es noch Frau van Hengelaer, aber sie meinte, so spät sollte ich nicht mehr stören. Als ich über den Hof ging, sah ich noch Licht bei Frau Roberts. Ich kehrte um und sagte es Frau van Hengelaer. Sie meinte, sie würde vielleicht selbst noch anklopfen.« 18
»Was hat Frau Roberts den Abend über getan?« »Sie kam gegen halb vier. Ich half ihr den Wagen ausleeren und auspacken. Dann ging sie an den Strand hinunter. Sie war sogar im Wasser, obwohl es nur vierzehn Grad hat. Als sie zurückkam, hatte sie Hunger, und gegen halb sieben haben sie zu Abend gegessen.« »Wer sie?« »Frau van Hengelaer, Oberst Schlisske und Frau Roberts. Sie aßen im Kaminzimmer bei Kerzenlicht. Das sei stilvoll, sagt der Oberst immer. Aber das Abkratzen der Leuchter ist abscheulich. Frau Roberts war begeistert. Es gefiel ihr zu gut bei uns.« »Was hatte sie eigentlich an, Heide?« »Nach dem Schwimmen trug sie eine lange helle Hose, einen jadegrünen Pullover mit einem riesengroßen Kragen und flache Strandsandaletten.« Der Kommissar nickte. »Und was tat sie nach dem Abendessen?« »Sie rauchte eine oder zwei Zigaretten, dann las sie in einem Modejournal, und später sah sie dem Oberst beim Patiencelegen zu. Kurz nach zehn ging sie in ihr Zimmer und stellte die Schuhe heraus.« »Die Strandsandaletten?« »Nein. Die da.« Heide deutete hinüber ins Bad. »Können Sie eins der Kleidungsstücke, die Frau Roberts nach dem Schwimmen anhatte, hier sehen?« Das Mädchen blickte im Zimmer umher. Dann schüttelte es den Kopf. Der Kommissar stand auf. »Na gut, Heide«, sagte er; »vielen Dank.« »War das ein Verhör?« »Wenn Sie es so nennen wollen?« Im Vorraum stand die Frau hinter der Theke. Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen und sah mit ihren kurzgeschnittenen Haaren und den winzigen Perlen in den Ohren sehr damenhaft 19
aus. Sie hatte offenbar nicht die Absicht, zu verbergen, daß sie grau wurde. Ketterle hatte im Gegenteil den Eindruck, daß das Haar nachgefärbt war. Es gab Frauen, die damit kokettierten. Bei ihr glaubte der Kommissar das allerdings nicht. Dazu sah sie zu krank aus. »Hier ist der Paß«, sagte sie und gab dem Kommissar das Dokument und den Durchschlagzettel des Anmeldeblocks. »Sie hat ihn doch nicht mitgenommen.« Zum erstenmal sah Ketterle der so geheimnisvoll und unvermittelt verschwundenen Frau ins Gesicht. »Ist das Bild ähnlich?« Die Frau zuckte mit den Achseln. »Ich glaube schon. Diese Art von Frauen sieht immer gleich aus. Ich kann nichts an ihnen finden. Glamourfassade. Aber auf den ersten Blick bestach sie.« Der Kommissar las den Meldezettel. Helene Antonie Alexandra Roberts. Alexandra unterstrichen. Mädchenname einfach Reiß. Geboren am 27. August 1933 in Klein-Wiedau bei Posen. Wohnort Hamburg. Dann den Paß: Haare blond, Figur zierlich, Größe einssechzig, Augen blau. Besondere Kennzeichen natürlich keine. Ketterle steckte den Paß in die Brusttasche seines Mantels. »Wer hat eigentlich das Licht ausgeknipst?« fragte er dann. »Sie sagten doch, es hätte im Schlafzimmer noch gebrannt, als Sie gegen zwölf bei ihr klopften.« »Heide tat es. Aus Nachlässigkeit oder Gedankenlosigkeit. Der Oberst hat sie furchtbar zusammengestaucht und wollte es wieder einschalten. Aber ich fand, daß es genug sei, wenn die Schalter einmal berührt worden waren.« Ketterle mußte ganz gegen seinen Willen lächeln. Diese komische Person besaß offenbar mehr gesunden Menschenverstand als das kriegsakademisch gebildete Gehirn des eingerosteten Obersten. »Und sie hat auf Ihr Klopfen nicht geantwortet?« 20
»Nein. Ich klopfte zweimal. Dann dachte ich mir, sie sei vielleicht beim Lesen eingeschlafen, und ging wieder nach vorn.« »Steckte der Schlüssel auch da schon außen?« »Ja.« »Und Sie haben die Tür nicht geöffnet, um nachzusehen?« »Aber Herr Kommissar«, sagte die Frau, »in der Hotellerie …« »Natürlich«, murmelte Ketterle, »Diskretion. Und Sie konnten schließlich nichts von alldem ahnen.« Er schwieg. »Da kommt der Oberst«, sagte er und deutete zum Fenster hinaus. »Können Sie mir einen Gefallen tun, Frau van Hengelaer? Vielleicht kann das Mädchen Hornschuh da draußen ablösen. Ich brauche meinen Beamten eigentlich hier. Röppke bringt dann Leute genügend mit.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Sie werden gegen halb eins hier sein. Wenn alles gut geht.« Die Frau zögerte einen Augenblick. »Wenn der Oberst mit Rühreiern zu Mittag zufrieden ist …?« Der pensionierte Offizier betrat den Raum. »Sind Sie ausnahmsweise mit einem einfachen Lunch einverstanden?« fragte die Frau. »Natürlich, natürlich. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen, und Sie werden uns dann sicher zum Abendessen entschädigen.« Der Oberst rieb sich seine knochigen Hände. »Saubere Arbeit«, sagte er. »Sehr umsichtig, die Sache mit den Fensterläden.« Er war ganz in seinem Element. Frau van Hengelaer verschwand in die Küche. Der Oberst stand am Fenster. »Was halten Sie von der Geschichte?« Kommissar Ketterle haßte nichts mehr als diese wichtigtuerische, versnobte Frage, die meistens so gestellt wurde, als sei der Frager nur durch einen Zufall verhindert, selbst die Unter21
suchung zu leiten. »Nichts«, sagte er. »Wann sind Sie gestern zu Bett gegangen?« »Wollen Sie mich vielleicht verhören?« fragte der Oberst und strich sich den Rock glatt, während er sich zu imponierender Größe aufrichtete. »Wissen Sie vielleicht, wo Frau Roberts ist?« fragte Ketterle barsch. »Nein, wie kommen Sie …« »Na also, dann antworten Sie gefälligst! Ich muß das herausfinden, nicht Sie.« »Wenn Sie einen Verdacht haben, dann sagen Sie es doch ganz …« Der Kommissar trat dicht vor den Offizier hin. »Seien Sie doch um Himmels willen vernünftig.« Er zwang sich zu einer verzweifelten beschwörenden Freundlichkeit. »Wir wissen noch nicht im entferntesten, was überhaupt geschehen ist. Wir sind von einem Verdacht so weit weg wie ein Spatz vom Dogma der Himmelfahrt Maria. Wenn Sie eines Tages erfahren wollen, was passiert ist, beantworten Sie am besten meine Fragen. Also, wann sind Sie gestern abend schlafen gegangen, und wo liegt Ihr Zimmer?« Der Kommissar kannte die Wirkung seiner ruppigen Eindringlichkeit sehr genau und wunderte sich nicht im geringsten, daß der Oberst ihm seine Fragen jetzt anstandslos beantwortete. Sie saßen in einer Fensternische, und Ketterle sah Heide das Haus verlassen. Der Oberst hatte ihm gerade erklärt, daß er gegen elf schlafen gegangen war. Sein Zimmer liege in einem Mansardenausbau zur Seeseite hin, und etwas Besonderes sei ihm nicht aufgefallen. Frau Roberts habe sich seiner Erinnerung nach schon etwas früher zurückgezogen. Er sei dann eingeschlafen, und erst heute morgen habe ihm Willie – Willie: das heiße Frau van Hengelaer, Willemien van Hengelaer ge22
nauer – gesagt, daß die Dame offenbar spazierengegangen und nicht wieder zurückgekommen sei. Das Weitere wisse der Kommissar ohnehin bereits alles. Sie starrten beide dem Mädchen nach, das sich auf den Weg begab und dabei sein Kopftuch festband. »Willie hat es schwer mit ihr«, sagte der Oberst zusammenhanglos. »Sie ist faul und trotzig und steht Willie ablehnend gegenüber. Und Willie ist sehr krank.« Ketterle wollte eben sagen, daß er diesen Eindruck von dem Mädchen nicht teile, als das asthmatische Geknatter eines Mopeds hörbar wurde und ein Gendarmeriewachtmeister in Uniform um die Ecke des Hauses bog. »Entschuldigen Sie mich bitte«, murmelte er, erhob sich und stieß die Tür nach draußen auf. »Sind Sie der Herr aus Hamburg?« »Ja. Sind Sie der Postenkommandant?« »Jawohl. Frau van Hengelaer hat es dringend gemacht.« Der Kommissar wies sich bei dem Beamten aus. »Man hatte uns direkt verständigt und ausdrücklich darauf hingewiesen, daß augenblicklich kein Wind sei. Deshalb sind wir so schnell wie möglich herausgefahren. Sie fühlen sich doch nicht übergangen?« »Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich sogar recht froh, Herr Kommissar. Wie Willie es geschildert hat …« »Willie?« »Ja. Hier nennt sie jeder so. Was haben Sie entdeckt?« »Nichts. Was macht man hier, wenn man einen Vermißten sucht?« Er zeigte mit einer weitausholenden Handbewegung auf das Wattenmeer hinaus, das jetzt völlig regungslos blaugrau wie Blei dalag. »Heute?« fragte der Wachtmeister. »Natürlich«, sagte Ketterle kopfschüttelnd, »am besten sofort.« »Es werden die Gendarmeriekräfte aus dem ganzen Kreis zu23
sammengezogen. Auch Fischer, Krabbenfänger und Bauern helfen gewöhnlich. Das Wasser sinkt jetzt, aber in drei oder vier Stunden haben wir Sturm hier.« Reden Sie doch keinen Unsinn, Mann, wollte Ketterle sagen, aber dann erinnerte er sich, daß Heide ein Kopftuch umgebunden hatte. Heute morgen hatte sie keins getragen. »Sehen Sie die feine Abstufung im Grau draußen am Horizont«, sagte der Polizist, stellte endlich das Geknatter seines Mopeds ab und bockte es hoch. »Das ist der Sturm. Querab Scharhörn ist bestimmt schon sechs bis sieben.« Er räusperte sich kräftig und rückte sein Koppel zurecht. »Sie kennen das wahrscheinlich nicht so. Bei starkem Nordwest treibt der Sturm das Wasser in die Priele. Es bleiben zwar einige Bänke stehen, die jetzt unter der Oberfläche sind, aber in den Prielen bildet die Gegenströmung Strudel und saugt alles in Minutenschnelle metertief unter den Sand. Wir haben Skelette gefunden, die nach den medizinischen Untersuchungen jahrhundertelang im Watt gelegen haben. Das Watt kann eine Hölle sein, vor allem bei Nebel und Sturm.« Der Kommissar spürte, daß er erschrak. »Dann machen wir am besten schnell«, sagte er, »sprechen Sie mit der Kreispolizeibehörde. Organisieren Sie alles. Wir wissen noch nicht einmal, ob sie sich umgebracht hat, verschwinden wollte oder ermordet wurde. Man kann das alles nicht einfach offenlassen. Denken Sie an die Angehörigen.« Der Beamte zögerte. »Wenn Heide Zeit hat …«, sagte er. Ketterle wendete das Gesicht. »Heide?« »Ja. Sie kennt das Watt bei Niedrigwasser am besten von uns allen. Sie hat sich monatelang da draußen herumgetrieben. Ihr Vater muß irgendwo dort liegen. Heide hat das Watt in den Fingerspitzen. Einmal wurde sie draußen vom Wettersturz überrascht. Sie saß vierzehn Stunden auf der einzigen Bank, 24
die das Wasser überragte, und kam am nächsten Tag wohlbehalten zurück.« »Soso«, sagte Ketterle. »Gut, ich werde mit Heide sprechen. Bis Sie Ihr Aufgebot zusammengetrommelt haben, kommt die kriminaltechnische Versuchsabteilung aus Hamburg. Wir können Haus und Strand bis dahin untersucht haben. Aber jetzt machen Sie bitte rasch. Wenn Sie eine Weisung von der Regierung brauchen: die kann ich Ihnen in ein paar Minuten beschaffen.« »Nein, nein. So was geht auf Kreisebene. Ich sage Ihnen dann Bescheid.« Der Wachtmeister ging ins Haus, und Ketterle sah auf seine Uhr. Es war zwanzig nach zwölf, und der Himmel war dunkler geworden. Zum Glück sah der Kommissar jetzt endlich Hornschuh kommen. Er hätte schon längst dasein müssen. Aber Ketterle hatte ihm das Mädchen geschickt, und das Mädchen war verdammt hübsch. Ketterle hätte gelächelt, wenn sie nicht in drei oder vier Stunden den Sturm dagehabt hätten. Sie betraten das Haus. »Es wird am besten sein, wenn wir jetzt zu viert das Haus, die Scheune und die Umgebung absuchen, Frau van Hengelaer«, sagte Ketterle. »Wenn nachher die Leute von der KTV da sind, sollen sie den Strand und die Dünen abkämmen, und wenn das alles erfolglos ist, muß die Aktion im Watt über die Bühne gehen, bevor der Sturm kommt.« »Was versprechen Sie sich davon, das Haus abzusuchen?« rasselte der Oberst. »Nichts. Aber hätten Sie als Kommandeur die allerkleinste Chance außer acht gelassen?« Der Kommissar verstand es, den Oberst zu nehmen. Hornschuh verschwand mit Willie in Richtung Scheune, und 25
Oberst Schlisske führte Ketterle nach oben. Sie stocherten ebenso lust- wie erfolglos in übereinandergetürmtem Gerümpel unter dem Strohdach herum, rückten Möbel, von denen jahrealter Staub pluderte, und bückten sich unter spinnwebüberzogene Querträger. Plötzlich schien ein übernatürliches, gewaltiges Stöhnen das schwere Strohdach zu blähen. Ketterle richtete sich auf und lauschte. »Der Sturm«, sagte der Oberst. »Das werden wir noch ein paarmal hören, ehe es losgeht.« Von einem Ausguck an der Giebelseite aus konnte Ketterle Kaduleit sehen, der noch immer Autos wusch. »Ich bin froh, daß er meinen fertig hat«, brummte der Oberst, der seinen grimmigen Kopf neben Ketterle aus dem Fenster steckte. »Ist das nicht Ihrer?« fragte Ketterle. »Nein«, sagte der Oberst, »der gehört zum Haus. Sie können sich keinen neueren leisten. Es dauert lange, bis sich eine Pension rentiert.« Im Oberstock schlossen sie Tür nach Tür auf und durchsuchten die Zimmer. Von hier aus hatte man einen guten Überblick über den Strand. Der Kommissar schätzte den Oberst richtig ein. Pensionierte Offiziere können sich selten von ihren Feldstechern trennen. »Besitzen Sie ein Glas?« fragte Ketterle. »Natürlich«, sagte der Oberst. »Zeiss zehn mal siebzig Nachtglas; kommen Sie.« Sie betraten das Zimmer. Ketterle nahm das Glas und richtete es hinaus auf den Strand. Das Mädchen stand unbeweglich direkt am Wasser und starrte über das Watt hinaus. Dann drehte es, ohne sonst seine Haltung zu verändern, das Gesicht und sah unbefangen mitten in die Optik. Verwirrt setzte der Kommissar das Glas ab. Aber sie konnte ihn unmöglich gesehen haben. 26
»Ein glänzendes Glas, nicht wahr?« »Ja«, sagte Ketterle. »Ein glänzendes Glas.« Und nach einer Pause: »Haben Sie schon mal gehört, daß es in diesen Landschaften Menschen mit gewissen übernatürlichen Fähigkeiten gibt?« »Ja«, sagte der Oberst. »Man behauptet es. Schäfer, Fischer, Bauern. Ich halte nicht viel davon.« Der Kommissar antwortete nicht. Auch in diesem Zimmer fiel ihm nichts auf. Er erinnerte sich nur später noch daran, daß er von seinem Fenster aus den grünen Kastenwagen der KTV heranrumpeln sah, angeführt von dem neuen, ebenfalls dunkelgrünen OpelRekord der Mordinspektion. Er ließ, sobald alle ausgestiegen waren, Heide durch Gaffke ablösen. Sowohl im Keller als auch in der Heizung und in Kaduleits Verschlag war die Suche vergeblich gewesen. Hornschuh hatte ebenfalls keine Anhaltspunkte gefunden. Sie hatten sogar die Wagen in der Scheune durchsucht und sahen niedergeschlagen aus. Ketterle begrüßte seinen Kollegen. »Am besten ist, wir fahren gleich hinaus zu der Spur, Röppke. Sie ist am meisten gefährdet. Hier im Haus können Sie alles auch später feststellen. Sobald das Mädchen da ist, fahren wir los.« »Welches Mädchen?« »Hm«, brummte Ketterle, »Sie werden sich noch wundern.« »So«, sagte Röppke; »sonderbare Bude, was?« Der Kommissar zog die Oberlippe hoch. »Nichts Greifbares«, sagte er. »Wenn Sie nichts finden.« Sie gingen vor das Haus. Der Himmel war jetzt wie ein schiefergraues Brett, und der Strand und die Dünen leuchteten 27
merkwürdig gelb. Heide kam heran. »Wir wollen dorthin fahren, Heide«, sagte der Kommissar und deutete in die Richtung, aus der das Mädchen gekommen war. Sie war die letzte Strecke gelaufen und atmete heftig. Röppke sah sie von der Seite an und zog dann eine Zigarettenpackung aus der Tasche. Heide starrte die unbekannten Männer an, die beiden Wagen und den Hund, der mit hängender Zunge am kurzen Riemen zerrte. »Mit dem kleinen können wir am Strand entlangfahren«, sagte sie dann. »Und mit dem großen?« Sie brauchten alles, was darin war. Lampen, Ultraschall, Infrarot, Stative, Bandmaße. Nur die Vernehmungskabine brauchten sie nicht. Und daß sie den Zinksarg brauchten, den der Wagen enthielt, konnte Ketterle vorläufig nur hoffen. »Mit dem großen? Trockener Sand ist Pulver, nasser Sand ist grundlos, feuchter Sand ist fest. Manchmal. Wir müssen einen Bogen machen.« Heide deutete aufs Meer hinaus. »Da?« fragte Röppke. Heide nickte. »Unmöglich«, sagte Röppke. »Wissen Sie, was der Wagen wert ist?« »Nein. Aber wollen Sie dorthin oder nicht?« Die beiden Beamten sahen sich an, und Röppke bemerkte Ketterles kaum wahrnehmbares Blinzeln. »Auf Ihre Verantwortung«, sagte er düster. »Ich fahre lieber selbst.« Ketterle setzte die Beamten unter Hornschuhs Führung in einer langen Linie landeinwärts an, um die Dünen durchzukämmen. »Sagen wir, noch dreihundert Meter über das Ende der Spur 28
hinaus. Klar?« »Klar.« Auch Willie, der Oberst und sogar Kaduleit schlossen sich dem Suchtrupp an, nachdem Willie Kaduleit in einer aus sonderbaren Zeichen und Lauten bestehenden Sprache erklärt hatte, um was es ging. Röppke stieg in das Führerhaus und ließ den Motor an. »Wo ist denn die Göre, zum Teufel?« rief er herunter. Auf der anderen Seite erschien Heides Gesicht. Sie warf einen von Sandra Roberts Schuhen auf den Sitz. »Wie wollen Sie denn dem Hund begreiflich machen, wonach er suchen soll?« fragte sie und kletterte hinauf. Kommissar Ketterle lächelte grimmig, folgte ihr und schlug die Tür zu. »Folgen Sie zuerst dem letzten Stück fester Straße da hinunter«, sagte Heide, und Röppke setzte den Wagen in Bewegung. »Jetzt dort.« Es ging über den Abbruch einer flachen Düne hinab, dorthin, wo der Sand dunkler und fester war. Der Wagen schwankte beängstigend, aber das war erst der Anfang. Denn dann fuhren sie geradewegs in das Wattenmeer hinaus. An einer bestimmten Stelle dirigierte Heide Kommissar Röppke auf den flachen Buckel einer langgestreckten Sandbank. Der jenseitige Abhang war steil, und das schiefhängende Fahrzeug rutschte. Dann gurgelte Wasser. »Sie müssen Gas geben, geben Sie Gas!« rief das Mädchen. »Schlagen Sie rechts ein, scharf!« Röppke steuerte resigniert mitten in den von dunklem schaumigem Wasser quirlenden Priel. Das Wasser stieg, aber die Räder griffen. »Nicht zuviel Gas, langsam. Nicht wühlen, der Hang ist fest.« Es ging wieder bergauf. Mit traumwandlerischer Sicherheit führte Heide den Wagen 29
in unverständlichen Windungen über Hügelkuppen, flache Sandhänge und durch sanfte, wassergefüllte Rinnen. Der Priel, auf den sie jetzt zusteuerten, glich einem reißenden Strom, denn das Meer lief noch immer zurück. Es war die Zeit der schnellsten Bewegung des Wassers. »Wo wollen Sie ans Ufer kommen? Vor oder hinter dem Ende der Spur?« »Dahinter«, sagte Ketterle und hielt sich mit beiden Händen fest. »Dann müssen wir noch durch den Kormoranpriel. Aber es sieht nur so schlimm aus. Sie dürfen nur nicht stehenbleiben. Fahren Sie zu. Etwas rechts, ja so. Geradeaus und jetzt los. Haben Sie keine Angst.« Sie saß nach vorne gerückt, ihre Augen glänzten. »Gas, Gas«, rief sie, und Röppke schüttelte den Kopf. Das saugende Wasser stieg bis unter die Kotflügel. Aber die Räder griffen. »Es wird gleich flacher. Fahren Sie zu.« Und wirklich sank das Wasser bis an die Achsen, bis an die Felgen, ohne daß man ihm den Tiefenunterschied angesehen hätte. »Jetzt können Sie gleich rechts abbiegen; warten Sie, ich sage es Ihnen.« Fünf Minuten später stand der schwerfällige grüne Wagen schräg auf dem Streifen feuchten Sandes, der flach nach Westen hin abfiel, dreißig Meter von den aneinandergelehnten Fensterläden entfernt, hinter denen Gaffke zu ihnen herüberstarrte wie eine Vogelscheuche mit vorgequollenen, wasserblauen Augen. Dahinter wogten die Dünen, und manchmal sah man den Kopf oder den Oberkörper eines der Leute auftauchen, die dort nach Sandra Roberts suchten. In einem großen Bogen näherten sich Ketterle, Röppke, Heide und der Beamte, der den Hund an der Leine hielt, dem Ende der Spur. 30
Röppke schrie zur Düne hinauf nach den beiden technischen Beamten für das Dieselaggregat und die Montage des Bildgeräts. Bald zogen sich schwarze Kabelschlangen über den Sand, Stative spreizten ihre bizarren Beine, und raffiniert angeordnete Scheinwerfer tauchten den ganzen Platz in ein helles, fast weißes Licht. Über den Himmel zogen jetzt schwärzlich zerfließende Wolkengebilde. Dahinter dämmerte es dunkelgrau. Aber es war hier unten immer noch kein Wind zu spüren. Der Horizont bildete eine feine lehmfarbige Linie, und wenn man genau hinsah, konnte man als silberflimmerndes Zittern das Gewirr von Wellen sehen, die der Wind dort im tieferen Fahrwasser schon aufwarf. Die Beamten fotografierten, vermaßen, prüften, zeichneten und durchleuchteten sachlich, präzise und rasch nach einem genau festgelegten und erprobten System den ganzen Platz. Erst nachdem alle Aufnahmen und Kontrollen abgeschlossen waren, ließ Röppke den Beamten mit dem Schäferhund an die Spur. Der Mann folgte ihr einige Dutzend Meter nach rückwärts. Dort vollführte er mit dem Tier einen fast kultisch anmutenden Ritus. Er hob ihm Sandra Roberts Schuh an die Nase, beschrieb dann Kreise damit, ließ den Hund noch einmal Witterung nehmen und redete in merkwürdig beschwörenden Worten auf ihn ein. Dann hakte er den Karabiner der Leine vom Halsband und ging ein paar Schritt zur Seite. Das Tier senkte die Nase, folgte trottend der Spur bis zum letzten Abdruck des linken Fußes, blieb stehen, hob den Kopf und meldete. Der Beamte lockte und schnalzte mit der Zunge, zeigte auf den Sand und rieb die Fingerspitzen gegeneinander. Allen, die es beobachteten, war die ungeheure Spannung anzumerken. Aber alle Versuche waren vergeblich. Der Hund lief ein paar Meter in Richtung auf die Düne, den 31
Strand entlang, auf das Meer zu, aber er hatte die Sicherheit der Witterung verloren. Schließlich kehrte er zu Sandra Roberts letztem Fußabdruck zurück, stellte sich dort entschlossen auf und stieß ein langanhaltendes munteres Bellen aus. »Er hat sich entschieden«, sagte der Beamte; »die Witterung hört hier auf, ob wir es glauben oder nicht.« Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle schwieg eine ganze Weile. »Ist der Hund in Ordnung?« fragte er dann. Der Beamte lachte. Etwas gekränkter Stolz lag darin. »Er hat noch nie versagt. Es ist unser bester. Die Witterung hört hier auf.« »Das gibt es nicht«, sagte der Kommissar. »Ich bitte Sie« – er sah von einem zum anderen – »seit Maria Himmelfahrt ist nie mehr jemand senkrecht vom Erdboden verschwunden. Es gibt doch keine Wunder!« »Eine Chance haben wir noch«, sagte Röppke; »die Infrarotaufnahmen würden die Verdichtung der Materie zeigen, wenn von hier aus noch Fußtritte weiterliefen, und zwar auch dann, wenn sie oberflächlich nicht sichtbar, also etwa verwischt worden wären. Das allerletzte Wort ist also noch nicht gesprochen. Aber wenn der Hund keine Witterung hat, ist es mehr als unwahrscheinlich, daß die Bilder etwas hergeben. Wir sollten uns doch an den Gedanken gewöhnen, so etwas wie ein Wunder in Betracht zu ziehen.« »Wann können die Aufnahmen fertig sein?« fragte Ketterle. Kommissar Röppke sah auf die Uhr. »Dreiviertel zwei, eine Viertelstunde Rückfahrt zum ›Clifton‹ ist zwei, eine Stunde Arbeit dort ist drei, zweieinhalb Stunden nach Hamburg ist halb sechs. Wenn wir anrufen, daß das Labor besetzt bleibt, können Sie sie um acht, halb neun heute abend ansehen.« Aus Nordwesten kam jetzt die Gruppe der anderen unter Hornschuhs Führung den Strand entlang. Ketterle stellte keine 32
Fragen; er wußte auch so, daß sie Sandra Roberts nicht gefunden hatten. Ein leises, geheimnisvolles Knirschen und Flüstern lag in der Luft und schwoll sekundenlang zu einem gedehnten Seufzer an. Heide deutete auf das Watt hinaus. »Der Sturm kommt«, sagte sie. »Es ist besser, schnell zurückzufahren, bevor er das Wasser die Priele hinauftreibt.« Die Beamten räumten hastig ihre empfindlichen Geräte in den Wagen. »Was ist los?« Hornschuh kam heran. Ketterle sah ihn nur an. »Das Vieh findet auch nicht weiter«, sagte er. Er war immer noch nicht bereit, an Wunder zu glauben. Später zog er Heide etwas zur Seite. »Kann das Watt noch durchgesucht werden?« Das Mädchen sah in den Himmel. »Herrlich, so kurz vor dem Sturm«, sagte es, »finden Sie nicht?« Sie band sich das Kopftuch fester. »In zwei Stunden ist es dunkel. Die Rinnen und Priele werden Wasser haben. Alleine würde ich schon hinausgehen. Aber die Männer mit ihren Stiefeln und Hornhäuten spüren das Federn des Sandes nicht. Sie wissen nicht, wo es heute grundlos und wo es seicht ist. Wenn sie sich aus den Augen verlieren …« »Also nicht?« »Wenn Riecks es befiehlt? Ich gehe schon mit, aber er muß es befehlen. Ich kann niemand schützen.« Der Kommissar sah noch den Postenkommandanten auf seinem Moped balancierend durch den Sand auf sie zuschlittern. Dann spürte er, daß er keinen Hut mehr auf dem Kopf hatte. Mit einem einzigen gewaltigen Stoß, der die Luft in rasende Strömung verwandelte, hatte der Sturm eingesetzt. Der Strandhafer lag flach und glatt gekämmt auf den Dünen, und ein ungeheurer Atem schien über die ockerfarbenen Rücken der San33
de im Watt heranzuorgeln. Die allzu deutliche Klarheit der Luft war einem diffusen, die Konturen verwischenden Blaßgrau gewichen. Das Übernatürliche der Stimmung dieses Tages war vorbei. Es war Sturm. Und in wenigen Sekunden war die Fußspur der Sandra Roberts verschwunden. Ebenso wie die Trampelspuren, die sie alle in den Sand getreten hatten, und Kommissar Ketterle wunderte sich, daß auch er keinerlei Fußabdrücke hinterließ, als er dem Polizisten entgegenging. Willie hatte sich für den Rückweg Kommissar Ketterle und dem Oberst angeschlossen. Hornschuh war neugierig gewesen, die Fahrt durch das Watt mit Röppke und dem Mädchen mitzumachen. Das heißt, auf Röppke war er, genaugenommen, nicht neugierig gewesen. Auch nicht so sehr auf das Watt. Frau van Hengelaer war bestürzt über den Aufwand an Menschen und Geräten, den das Verschwinden Sandra Roberts hervorgerufen hatte. Den Oberst dagegen erfüllte es mit Befriedigung. »Gut, daß man sich heute auf die Technik verlassen kann«, sagte er, den Sturm überschreiend. »Hirne können sich irren!« »Ich wollte, ich wäre schon soweit, sagen zu können, ob ich mich geirrt habe oder nicht«, entgegnete Ketterle. »Und ob man sich auf die Technik verlassen kann, wird sich erst zeigen. Auf den Hund konnte man es jedenfalls nicht.« Willie van Hengelaer zuckte die Schultern. »Wer weiß das?« murmelte sie. Laut sagte sie: »Es gibt hier alte Sagen und Überlieferungen, die von den komischsten Dingen berichten. Lassen Sie sich mal von Heide erzählen.« Ziemlich weit draußen im Watt sahen sie das grüne Dach des Mordbereitschaftswagens der Kriminalpolizei Hamburg furchterregend schwanken, und Ketterle konnte sich das Mädchen 34
vorstellen, wie es nach vorne gerückt dasaß, begeistert in den Sturm starrte und »Gas, Gas!« rief. Ein tolles Mädchen. Und ein sonderbares Mädchen. »Wie alt ist sie eigentlich?« fragte er Willie. »Achtzehn«, antwortete sie und bemerkte die wartenden Leute im Windschatten des ›Clifton‹. Wachtmeister Riecks hatte über vierzig Männer zusammengetrommelt, aber niemand hätte es verantworten können, sie jetzt noch ins Watt zu schicken. Der Kommissar schlug vor, sie sollten bis zum Einbruch der Dunkelheit noch einmal die Umgebung des Hauses und des Dorfes in einem großen Halbkreis absuchen. Aber er tat es ohne Überzeugung. »Irgend etwas ist los hier«, sagte er zu Hornschuh und schlug mit der linken Faust rhythmisch in die feuchte Fläche der rechten Hand. »Aber was? Nehmen Sie einmal an, die Infrarotaufnahmen ergeben nichts. Dann hätten wir ebensogut zu Hause bleiben können.« Als Röppke seinen Wagen auf den gepflasterten Hofraum zwischen Wohnhaus und Scheune gefahren hatte, begann die KTV ihre Untersuchungen am Fenster von Sandra Roberts Schlafzimmer und auf der Erde davor. Dann wurden die beiden Räume bis in die letzten Winkel hinein durchleuchtet und fotografiert. Zuletzt machten sich die Fingerabdruck-Spezialisten mit ihrem Graphit und ihren Vergrößerungsgläsern routinemäßig an alle Flächen, die so glatt waren, daß die Fettabsonderung menschlicher Hände Spuren darauf zurücklassen konnte. Auch Sandra Roberts Handtasche, Reisewecker und Autoschlüssel wurden abgenommen. Schließlich suchte Hornschuh alle Taschen, die Koffer, die Schreibmappe, sogar Seitentaschen und Handschuhfach ihres Wagens nach Anhaltspunkten durch und brachte alles auf den abgeräumten Tisch im Frühstückszimmer. Aber es fand sich nichts, was im geringsten zur Aufklärung hätte dienen können. 35
Ketterle zuckte die Achseln. »Noch eins«, sagte er: »Wir haben alle Fingerabdrücke in Frau Roberts Zimmer und auf ihren Sachen festgehalten. Dabei befinden sich natürlich auch alle Abdrücke der Personen, die regelmäßig in diesen Zimmern zu tun haben. Es würde die Untersuchung sehr erleichtern, wenn wir wüßten, welche Abdrükke zu welchen Personen gehören. Ich kann Sie nicht dazu zwingen, aber wenn Sie uns die Abdrücke Ihrer Fingerspitzen abnehmen ließen, brauchten wir es später bei der Auswertung nicht nachzuholen.« »Natürlich«, sagte Willie; »das leuchtet mir ein. Heide kommt in Frage und ich und Kaduleit. Er hat vor kurzem den verstopften Ausguß gereinigt …« »Entschuldigen Sie mal«, brauste Oberst Schlisske plötzlich auf, »wollen Sie vielleicht wie Verbrecher Ihre Finger auf rußiges Papier halten? Ein bißchen was ist man seiner Menschenwürde doch schließlich noch schuldig. Zusammen mit Kaduleit …? Nee, mein Lieber …«, wendet er sich an den Kommissar, »…dazu haben Sie kein Recht. Ich für meine Person jedenfalls … Offiziersehre …« Er verstummte, als er den Kommissar ansah. »Ihre Fingerabdrücke brauchen wir auch gar nicht«, sagte Ketterle langsam, – »vorausgesetzt, daß Sie Frau Roberts Räume vorher nie betreten haben, was ich als sicher annehme, oder?« In dem Gesicht des Offiziers kämpfte es. Er machte kein Hehl daraus, daß er diesen subalternen Polizeispitzel verabscheute. »Na, von mir aus«, sagte er dann zögernd, »nehmen Sie meine mit dazu. Ich habe schließlich voriges Jahr in diesen Zimmern gewohnt.«
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Der Sturm hielt mit unverminderter Heftigkeit an, preßte sich vibrierend um die Ecken des Hauses, jagte Wolken von Staub, Sand und Unrat zwischen Wohngebäude und Scheune hindurch und ließ das alte Strohdach ächzen und rauschen. Ketterle sah seine Aufgabe im ›Clifton‹ als abgeschlossen an. Röppke hatte den ›Sarg‹ wieder zusammengepackt und kurz vor halb fünf das ›Clifton‹ verlassen. Abgekämpft war nach Einbruch der Dunkelheit Wachtmeister Riecks hereingekommen und hatte den erwarteten Fehlschlag seiner Aktion verkündet. Dann hatte er sich einen doppelten Wacholder genehmigt, über das Wetter geschimpft und erklärt, die Männer tränken ihren Klaren lieber weniger vornehm, nämlich in der Dorfkneipe. Der Kommissar hatte den Wink verstanden und Riecks einen Zwanzigmarkschein überreicht. Dann hatte er ihn gebeten, auf dem Dienstweg die Vermißtenmeldung zu erstatten und die Fahndung einzuleiten. Auf diesem Wege würde der Fall, dachte Ketterle, zwar erst sehr spät, aber dafür um so sicherer, in einem verstaubten Rollschrank sein behördliches Ende finden. Dann gab es plötzlich nichts mehr zu tun. Sie brachen auf. Als sie schon unter der Tür standen, kam Heide aus der Küche und zog den Kommissar am Ärmel. »Ich habe ganz vergessen …«, sagte sie, »… Frau Roberts hat gestern, als sie ankam, danach gefragt, ob ein Telegramm für sie eingetroffen sei. Vielleicht ist das wichtig.« Der Kommissar war versucht, sich mit der flachen Hand an die Stirn zu klopfen. Dann wühlte er in der Manteltasche nach dem zerknitterten Umschlag und riß ihn auf. Er las das Telegramm, ohne das Gesicht zu bewegen, und steckte es wieder ein. »Vergessen Sie nicht, uns jede Besonderheit mitzuteilen«, sagte er zu Frau van Hengelaer, »auch wenn sie belanglos erscheint.« Sie starb vor Neugier, wagte es aber nicht, eine Frage zu stellen. 37
»Vielleicht achten Sie etwas darauf«, schmeichelte Ketterle dem Selbstgefühl des Obersten und bog mit diesem geschickten Schachzug auch dessen präzise Fragen ab. Wenn sich Offiziersehre nicht mit Fingerabdrücken verträgt, dann verträgt sie sich eigentlich erst recht nicht mit Neugier. Seine Spekulation war richtig. »Ich werde selbstverständlich ein Auge auf alles haben«, sagte Oberst Schlisske und hielt die Tür, durch die Ketterle und Hornschuh das ›Clifton‹ verließen. Als Hornschuh mit dem alten Volkswagen der I. Mordkommission den Hofraum verließ, erfaßte sein Scheinwerfer Kaduleit, der draußen auf der Straße stand und mit beiden Armen winkte, als bögen sie in eine belebte Hauptverkehrsader ein. Dann warf er die Hände hoch in die Luft, stieß ein gellendes Lachen aus, und seine Haare wehten im Sturm nach vorn über sein idiotisches Gesicht. »Können Sie mir den Inhalt des Telegramms sagen?« fragte Hornschuh, als sie das Dorf hinter sich hatten. Ketterle rückte sich im Sitz zurecht. »Geht nicht«, brummte er vor sich hin. »Wie bitte?« »›Geht nicht‹, Hornschuh. Ich kann es nicht ändern; das ist der Wortlaut des Telegramms.« »Geht nicht?« »Ja.« »Unterschrift?« »Keine.« Schweigen. »Das sind Überraschungen, wie?« Der Kommissar konnte nicht wissen, daß der Inhalt des Telegramms noch keineswegs die letzte Überraschung dieses ereignisreichen Tages war. »Wir kommen doch durch die Kreisstadt, Hornschuh?« »Ja. Wir können.« 38
»Nein, wir müssen! Wir müssen nämlich diesem Telegramm nachgehen. Bis wann ist gewöhnlich die Post offen?« »Bis sieben.« Hornschuh hielt sein Handgelenk mit der Armbanduhr in den schwachen Lichtschein des Tachometers. Es war etwa sechs. Draußen war es stockdunkel. Wo man die Umrisse von Büschen oder Bäumen ahnte, wurden sie von der Gewalt des Sturmes geschüttelt und gebogen. Der Horizont war schwarz in schwarz gefranst von flatterndem, schnelltreibendem Gewölk. Im Grund war Kommissar Ketterle froh, dieses sonderbare Haus und diese sonderbare Gegend hinter sich lassen zu können. In der gewohnten Umgebung des Karl-Muck-Platzes, in dem exakten Rhythmus des täglichen Dienstbetriebes, so hoffte er, würde er anhand der Aufzeichnungen, Protokolle, Fotosund Untersuchungsergebnisse dieser Geschichte schon näherkommen. »Eins ist jedenfalls ausgeschlossen, Hornschuh: nämlich daß das geschehen ist, was der Anschein nahelegen soll. Sandra Roberts ist nicht gen Himmel gefahren.« Er schwieg. »Eher das Gegenteil, vermute ich.« »Fest steht außerdem«, sagte er nach einer Weile, »daß niemand sie zu ihrem nächtlichen Spaziergang aufgefordert hat. Sie hat ihn aus eigenem Antrieb unternommen. Das Telefon kann man in ihrem Zimmer nicht hören. Außerdem war Frau van Hengelaer die ganze Zeit auf und in den Gastzimmern und im Empfang beschäftigt. Eine einzige Möglichkeit gibt es: daß jemand auf dem gepflasterten Hof an ihr Badezimmerfenster gekommen ist und ihr irgend etwas mitgeteilt hat. Aber welche Mitteilung kann eine junge Frau veranlassen, allein einen nächtlichen Spaziergang in unbekannte Dünen zu unternehmen?« Hornschuh steuerte den Wagen durch ein menschenleeres Dorf. Der Sturm ließ die Lampen schwanken, deren Lichtkreise abwechselnd rechts und links der Straße geduckte Häuser aus 39
der Finsternis zerrten. »Das einzige, was mich stutzig macht, ist, daß die Spur so gut sichtbar war. Man könnte fast glauben, sie habe es darauf abgesehen, sie nicht zu verbergen«, sagte er; »denken Sie nur an ihren Beginn auf der frisch geharkten Erde unter ihrem Fenster. Warum ist sie überhaupt aus dem Fenster gestiegen?« »Das kann ich mir ganz gut vorstellen. Ich wäre auch aus dem Fenster gestiegen. Jung, hübsch, lebenslustig, in schicken Hosen, Urlaubstage vor sich. Bevor ich in dem dunklen Haus herumgetappt wäre, nach Lichtschaltern und Schlüsseln gesucht hätte … ich glaube, ich wäre auch aus dem Fenster gestiegen. Vielleicht ist sie romantisch.« »Ist …?« »Wir haben noch keine Berechtigung, endgültig ›war‹ zu sagen, Hornschuh. Dagegen spricht vorläufig vieles. Wir haben getan, was wir konnten. Wir hätten sie finden müssen, wenn sie umgekommen wäre. Abgesehen von der Möglichkeit, daß sie ausgerechnet im Watt liegt. Nur eines ist sonderbar. Warum hat sie sich abgeschminkt? Gewöhnlich schminken sich Frauen ab, bevor sie sich zu Bett legen. Eine Sandra Roberts macht unter normalen Umständen auch nachts keinen Spaziergang ohne Make-up.« Der Kommissar versank in Schweigen. »Und zu Bett war sie auf keinen Fall gegangen. Es war unbenutzt. Das steht fest.« »Und was heißt ›geht nicht‹?« fragte Hornschuh und holperte langsam über den Bahnübergang an der Peripherie der Kreisstadt. »Was geht nicht?« »Wir werden es herausfinden«, brummte Ketterle und hielt nach dem Postamt Ausschau. Es war ein ländliches Postamt, und das Telegrafenbüro befand sich im ersten Stock. Die Beamtin erinnerte sich an das Telegramm. Ja, man könne 40
den Weg zurückverfolgen, wenn die Herren so freundlich wären, sich auszuweisen. Ketterle tat es, und die Beamtin schlug in ihrem Buch nach. Das Telegramm kam aus Hamburg, Adresse war keine angegeben. Der Text stimmte überein. ›Geht nicht‹, ohne Unterschrift. »Kann man feststellen, wo es aufgegeben wurde?« »Ich muß zurückrufen.« »Könnten Sie das tun?« Sie warteten gute zehn Minuten. Die Beamtin sprach mit Vermittlungen, Verteilerstellen, Fernmeldeämtern. Unverständliche Fachausdrücke fielen. Schließlich legte sie auf. »Das Telegramm wurde fernmündlich aufgegeben. Der Anschluß hat die Nummer 99 37 73, Inhaber Richard Roberts, Adresse …« »… Hamburg, Rathenaustraße elf«, fuhr der Kommissar fort. »Ja«, sagte die Beamtin indigniert. »Es ist die Frau von Rich Roberts, den seine Feinde Dick nennen, Hornschuh. Jetzt wird der Fall nicht nur interessant, sondern auch prekär. Roberts war schon Finanzsenator, als die Konservativen noch am Ruder waren. Wann wurde das Telegramm aufgegeben, Fräulein?« »Am fünfundzwanzigsten Oktober um einundzwanzig Uhr sieben; erster Übermittlungsversuch sechsundzwanzigster Oktober, null Uhr zwo. Es meldete sich niemand. Ich habe es deshalb dem Briefzustelldienst mitgegeben und es heute morgen telefonisch durchgesagt.« »Wann war das?« »Um sieben Uhr neun.« »An wen haben Sie es durchgesagt?« »Telegramme sollen persönlich übermittelt werden. Die Dame war selbst am Apparat.«
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Der Kommissar war, nachdem sie kurz nach acht am KarlMuck-Platz eingetroffen waren, zu seiner ersten Zigarre an diesem Tag gekommen. Er würdigte allerdings den Stoß Eingangspost auf seinem Schreibtisch keines Blickes, sondern hängte nur seinen Mantel in den Schrank. Dann stieg er mit Hornschuh die matterleuchtete Treppe zum Projektionsraum der KTV hinauf. Im dritten Stock kamen sie an der halb offenstehenden Tür der Funkwagenzentrale vorbei. Ketterle sah den großen, transparenten Stadtplan und das ununterbrochene Wechseln der Leuchttafeln, die Einsatzbereitschaft, Ruhe und Ablösung jedes einzelnen Peterwagens der Zweimillionenstadt anzeigten. »Sievertsweg ein Mann ohnmächtig aufgefunden«, hörte er. »Witternstraße eine Mülltonne gestohlen. Hundertelf, Achtung hundertelf, bitte Witternstraße« – »Unfall mit leichtem Sachschaden in der Reventlowstraße, Othmarschen, siebenundneunzig, wo sind Sie? Ja gut. Bitte Reventlowstraße, Ecke Kapellenweg.« – »Königstraße vierzig, dritter Stock, strömt Gas aus. Das ist ohnehin Ihre Route, dreizehn. Königstraße vierzig. Bitte Rückmeldung.« Der Kommissar bog um die Ecke. So ging das den ganzen Tag, vierundzwanzig Stunden, am Vormittag weniger, am Nachmittag mehr, Autodiebstähle und Einbrüche während der Fernsehstunden, später Beischlafdiebstähle und ab zwei Uhr nachts die Schlägereien am Hafen und in Sankt Pauli. Nur zwischen vier und sieben Uhr morgens gab es bisweilen zehn oder zwölf Minuten, in denen nichts gemeldet wurde, was allerdings nicht besagte, daß in dieser Zeit nichts geschah. Es waren die Stunden der Selbstmorde. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht spätestens um sieben, halb acht der Milchmann, die Zeitungsfrau, der Gasableser irgendwo etwas bemerkten, das ihnen sonderbar vorkam. Manchmal verständigte man ihn, manchmal Zimmermann vom Dezernat VII, den Chef der Abteilung Leichen und Vermißte. Heute morgen war es nicht der 42
Milchmann oder die Zeitungsfrau gewesen, denen etwas sonderbar vorgekommen war, sondern ein pensionierter Oberst namens Schlisske, der während der Vor- und Nachsaison mit ihren billigen Preisen seine Ferien im ›Clifton‹ verbrachte, und man hatte nicht Zimmermann verständigt, sondern ihn. »Es scheint um die Spuren zu gehen, Herr Ketterle«, hatte Direktor Siebeck am Apparat gesagt. Ketterle war noch im Pyjama in dem dunklen Flur bei Frau Stoltz gestanden. »Der Mann sagt, noch seien sie zu sehen. Ich glaube, wir sollten uns keine Nachlässigkeit vorwerfen lassen. Würden Sie es nicht für richtig halten …?« Und auch der Kommissar hatte es seufzend für richtig gehalten. Aus dem Zimmer des KBD kam Lachen und das Geräusch von auf den Tisch geknallten Spielkarten. Ketterle sah auf die Uhr. Jeden Abend begannen sie voll Optimismus Skat oder Doppelkopf zu spielen, und jeden Abend hörten sie spätestens um neun damit auf, weil sie zu zweit oder dritt irgendwohin geschickt wurden, wo einer sein Abendessen nicht bezahlt, ein Geräusch im Keller gehört hatte oder seine Aktentasche vermißte. Kriminalbereitschaftsdienst, las Ketterle an der Tür, Leitung: Kriminalhauptkommissar Lumbeck. Der Name stand auf einem auswechselbaren Schild. Die Leiter der Mordkommissionen waren von diesem Turnusdienst ausgenommen. Ketterle bedauerte das, denn er dachte gern an die Abende mit den jüngeren Kollegen in dem kahlen Bereitschaftsraum zurück. Sie hatten oft und ausgiebig gelacht, genauso ein Lachen, wie es jetzt durch die Tür drang. Im Projektionsraum der KTV hatte Röppke bereits sein Material geordnet. Der Mann von der Fotostaffel war da, und ein zweiter von Röppkes Fingerabdruckteam ließ eben die Leinwand ausrollen. »Na?« fragte Ketterle. – »Nichts«, sagte Röppke. »Sie werden gleich sehen. Können wir anfangen?« 43
Das Licht erlosch. Nur die gedämpfte Bürolampe neben dem Projektor blieb brennen. Ketterle und Hornschuh setzten sich. Röppke begann zu referieren. So notwendig es war, daß der Leiter der KTV gewissenhaft war, so sehr fluchte Ketterle im Inneren über Röppkes Pedanterie, die ihn auch in einem Fall wie diesem nicht von dem hergebrachten Schema seiner Berichterstattung abweichen ließ. »Die Besonderheit dieses Falles liegt darin«, begann Röppke umständlich, »daß ein Verbrechen weder nachgewiesen noch wahrscheinlich, sondern bestenfalls möglich ist, und daß lediglich eine durch die Vermißte zurückgelassene Fußspur offenbar einfach aufhört. Ich gehe chronologisch vor.« Auf dem Bildschirm erschien eine Fotografie von Nummer drei. »Erstens Türgriff: auf dem Türgriff befinden sich von außen die Fingerabdrücke von Frau Willemien van Hengelaer, des Mädchens Heide sowie des Oberst Schlisske. Außerdem die Fingerabdrücke einer vierten Person, von der ich glaube, daß sie Sandra Roberts gehören, denn die gleichen Abdrücke finden sich auch auf fast allen ihren Gebrauchsgegenständen sowie an der Klappe zum Handschuhfach und am Türgriff ihres Wagens. Sonderbarerweise fehlen Abdrücke am Steuerrad …« »Sie fährt mit Handschuhen«, knurrte der Kommissar ärgerlich, denn die Spannung erdrückte ihn fast. »Glauben Sie, daß die dritte Person auch mit Handschuhen fährt?« »Welche dritte Person?« Der Kommissar drehte sich langsam um und sah Röppke an. Röppke wühlte in den Unterlagen. »Erstens Handtasche, zweitens Reisewecker, drittens Lippenstift, viertens Puderdose, fünftens Autoschlüssel, sechstens …« »Was ist damit? Reden Sie doch endlich, Röppke!« »Auf allen diesen Gegenständen und noch auf einigen mehr befinden sich die Fingerabdrücke einer dritten Person, die mit keiner der anderen identisch ist. Auch im Wagen. Sogar an 44
dem Regulierhebel für die Sitzverstellung. Nur am Steuerrad nicht.« Aus der Dunkelheit hörte man einige »Ahas« und »Sosos«. »Es werden die ihres Mannes sein. Nichts liegt näher als …« »Nein, Ketterle, es sind nicht die ihres Mannes. Die habe ich mir nämlich vom Einwohnermeldeamt geben lassen. Es ist zwar sechzehn Jahre her, daß die Kennkarten Fingerabdrücke hatten, aber sie verändern sich ja nicht.« Auf dem Bildschirm erschien die ins Riesige vergrößerte Wiedergabe der Linien eines menschlichen Zeigefingers. »Der Zeigefinger Rich Roberts.« Dicht daneben tauchte eine andere Vergrößerung auf. »Der Zeigefinger der dritten Person.« Auch für einen Laien war der Unterschied in die Augen fallend. Ketterle bat Kommissar Hornschuh, sich zu den wichtigsten Punkten Notizen zu machen. »Vor allem eine Liste aller Gegenstände, auf denen die Abdrücke gefunden wurden, Hornschuh.« »Ein Lenkrad ohne Fingerabdrücke. Das glauben Sie doch selber nicht«, sagte Hornschuh, während er notierte. »Tja«, sagte Ketterle und drehte sich um, denn die Tür war geöffnet worden und die alerte Figur des Kriminaldirektors Siebeck schob sich herein. »Lassen Sie sich nicht stören, meine Herren.« Sein Gesicht hatte die Glätte eines Seehunds und die Schlauheit eines Dackels. Er verbreitete den Duft eines dezenten Herrentonikums und strich sich die elegante Weste straff, als er sich setzte. »Vermutlich hat man das Steuerrad abgewischt, wie?« Er beugte sich zu Ketterle hinüber. »Dann hätte man auch einige andere Gegenstände abgewischt«, sagte der Kommissar. »Vermutlich hat Röppke recht. Auch die dritte Person wird mit Handschuhen fahren; denn daß sie Sandra Roberts Wagen fährt, scheint festzustehen, was?« 45
»Wenn sie nicht nur zum Vergnügen am Sitzverstellungshebel spielt, ja«, sagte Röppke. »Türgriff innen …«, fuhr er dann fort. »Er zeigt die Abdrükke von …« »Hören Sie, Röppke«, unterbrach ihn Kommissar Ketterle, »es ist jetzt bald neun. Vielleicht ist es möglich, daß Sie uns nicht von jeder Zeigefingerrille auf Ihren siebenundzwanzig Gegenständen …« »Siebenundvierzig«, sagte Röppke humorlos. »Wir haben von sechs bis gegen halb neun zu fünft daran gearbeitet.« »… na gut, auf Ihren siebenundvierzig Gegenständen einzeln beschreiben. Können Sie nicht etwas zusammenfassen? Ihr Exposé steht uns ja ohnehin zur Verfügung. Wenn es Ihnen recht ist …« Ketterle wandte sich an Direktor Siebeck. »Natürlich«, sagte Siebeck; »fahren Sie fort, Herr Röppke.« »Ich darf dann noch kurz auf unser System in dieser Sache hinweisen«, brummte Röppke verletzt. »Wir haben jeden einzelnen untersuchten Gegenstand durchnumeriert und fotografiert, beginnend mit Türklinke außen Nummer eins, endend mit linkem hinterem Aschenbecher in Sandra Roberts Wagen, Nummer siebenundvierzig. Die Fingerabdrücke der verschiedenen Personen haben wir römisch bezeichnet. Erstens Sandra Roberts, zweitens Oberst Schlisske, drittens Willemien van Hengelaer, viertens das Mädchen Heide, fünftens Kaduleit, sechstens die dritte Person, siebtens Hauptkommissar Ketterle, achtens …« Siebeck wandte Ketterle sein Gesicht zu. »So«, sagte er, »Sie sind doch nicht in die Geschichte verwickelt?« »Ich fürchte doch«, seufzte Ketterle; »wo ist mein Fingerabdruck, Röppke?« Papier raschelte. »Hier, innerer Fenstergriff im Badezimmer, Nummer achtzehn.« 46
Der Projektor klappte, und auf dem Bildschirm bewunderte Ketterle den makellosen Abdruck seines rechten Daumens. »Kaduleit«, murmelte er; »ich habe einfach vergessen, das Taschentuch zu benützen, als ich das Fenster schloß. Sie können sich das nicht vorstellen.« »Doch«, sagte Röppke. Das Gerät klapperte, und in schrecklicher Idiotie starrte Kaduleit, riesenhaft vergrößert, über seine eigene Schulter in den Projektionsraum. Er wusch noch immer an dem Auto. »Da hätte ich auch mein Taschentuch vergessen«, sagte Siebeck. »Könnten Sie fortfahren?« Es folgten nun Bilder aus dem Badezimmer, vom Hofraum, aus der Scheune. Sandra Roberts Karmann Ghia stand mit eingeschlagenen Vorderrädern da, dann sah man ihre Fußspur auf der Erde vor dem Schlafzimmerfenster. »Ihr Fingerabdruck auch am Fenstergriff und innen an der Fensterscheibe«, erläuterte Röppke, und Ketterle ergänzte: »Der Garten war am Tag vorher von Kaduleit geharkt worden.« Sie folgten nun der Fußspur hinunter an den Strand. In eintöniger und erschreckender Öde war plötzlich das Wattenmeer mit seinem bleiernen Horizont mitten im Raum. Die Bilder wechselten, und Röppke erläuterte: »Die Spur ist insgesamt achthundertzwölf und einen viertel Meter lang. Sie besteht aus eintausendsiebenhundertvierzehn Fußtritten; Frau Roberts brauchte bis zu ihrem Ende – ich meine bis zum Ende der Spur – ziemlich genau vierzehn oder fünfzehn Minuten. Es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, daß die Abdrücke zwischen elf und ein Uhr nachts entstanden sind.« Das Gerät klapperte erneut, und plötzlich war der Bildschirm anzusehen wie das Fell eines Leoparden. »Die Infrarotaufnahme vom Ende der Spur«, erläuterte Röppke und trat mit einem Zeigestab neben den Bildschirm. 47
»Hier von unten kommen die sichtbaren Fußspuren ins Bild, Sie sehen genau die Umrisse, wie in Natur. Hier ist der letzte Abdruck.« Ketterle beugte sich weit nach vorn und kniff die Augen etwas zusammen. »Und …?« fragte er. »Die Flecken sind die Substanzverdichtung des Sandes durch die Füße aller Leute, die vor dem letzten Sturm oder der letzten Flut hier gelaufen sind. Es ist unmöglich, eine fortlaufende kontinuierliche Spur vom letzten Abdruck an nach irgendeiner Richtung hin festzustellen. Dieser Fleck hier könnte dazugehören, dieser auch …« – der Zeigestab wanderte – »… aber beim nächsten Abdruck kann man erkennen, daß der Betreffende in die entgegengesetzte Richtung gegangen ist. Die Linie läuft auch nicht fort, sondern endet hier. Eine Aufnahme aus zwölf oder fünfzehn Meter Höhe hätte vielleicht, die Einzelheiten etwas zurückdrängend, irgendeine bestimmte Richtungstendenz zeigen können. Aber das würde uns auch nicht weiterführen, denn wir können nicht die Fußspur Bild für Bild bis weiß Gott wohin aufnehmen, und für den Hund hatte derjenige, der von hier aus die Spur verwischte, die Witterung der Roberts verdorben. Das steht völlig außer Zweifel. Entweder sie selbst oder jemand anderes. Ich möchte allerdings sagen, daß sie es selbst war, denn wenn jemand einen Körper getragen oder geschleift hätte, würde ich schwören, daß man den stärkeren Druck in der Konsistenz der Materie auf dem Bild sehen könnte.« Kommissar Röppke klappte seine Ordner zusammen und schaltete den Apparat aus. »Dann wäre es ja auch nicht völlig ausgeschlossen, daß sie selbst um sieben Uhr neun das Telegramm abgenommen hat, wie?« fragte Siebeck den Kommissar. »Was haben Sie darüber ermittelt?« »Frau van Hengelaer war am Apparat so bestürzt, daß sie ei48
nige Sekunden schwieg und dann erklärte, es sei vielleicht doch besser, einen Beamten ins ›Clifton‹ zu schicken. Sie war völlig durcheinander und beruhigte sich erst, als ich ihr sagte, der Oberst sei schließlich Schutz genug. Das Mädchen erklärte rundheraus, es glaube kein Wort. Es habe zu dieser Zeit im Keller die Schuhe geputzt und habe nichts dergleichen bemerkt. Das Telefon könne man allerdings im Keller nicht hören. Kaduleit habe im Garten gearbeitet, und Willie habe noch geschlafen. Der Oberst fragte mich, ob ich ihn hänseln wolle, und bemerkte, dazu sei die Angelegenheit letzten Endes doch zu ernst. Er glaubte mir nur widerwillig und fand schließlich keine Erklärung. Ich hatte die Beamtin anläuten lassen. Frau van Hengelaer war zuerst am Apparat, und ich bat die Beamtin, sich Heide rufen zu lassen. Sie hat also beide Frauenstimmen im ›Clifton‹ gehört, konnte aber nicht feststellen, ob eine davon die gleiche war wie am Morgen, zumal am Morgen nur die drei Worte ›ja, am Apparat‹ gesprochen worden waren. Es gibt also zwei Möglichkeiten. Entweder war die Roberts wirklich um sieben Uhr neun am Telefon, oder eine der beiden Frauen hat das Gespräch abgenommen. Wenn eine von ihnen lügen will – will, verstehen Sie, aus welchem Grund auch immer –, werden wir nie herausfinden, wer heute morgen wirklich die drei Worte ›ja, am Apparat‹ gesprochen hat. Ich muß dazu aber noch sagen, daß keine der beiden Frauen sich auf die entsprechend gestellte Frage der Beamtin hin mit denselben Worten gemeldet hat. Willie sagte:›Hier Willemien van Hengelaer, wer ist dort, bitte?‹, und Heide fragte: ›Wer ist am Telefon?‹« »Schließlich muß man ja auch berücksichtigen«, bemerkte Hornschuh, »daß alle Leute im ›Clifton‹ Gelegenheit genug gehabt hätten, alle möglichen Spuren zu verwischen, wenn sie mit der Sache etwas zutun haben. Mein Eindruck war aber, daß niemand den geringsten Versuch gemacht hat, etwas zu verheimlichen.« Röppke hatte das Licht eingeschaltet. 49
»Meine Herren, wir verlieren uns in Vermutungen«, sagte Kriminaldirektor Siebeck. »Bis jetzt ist nichts weiter passiert, als daß eine Frau vermißt wird. Unter etwas mysteriösen Umständen allerdings, das gebe ich zu. Wichtig wäre es, zu ermitteln, wer das ›geht nicht‹ gekabelt hat. Weiß Roberts schon von der Geschichte?« »Ich weiß nicht«, sagte Ketterle. »Die Angehörigen werden von der Ortspolizei verständigt. Ich habe nichts dagegen. Ich reiße mich nicht nach so was.« Siebeck war dabei, aufzubrechen. Er fingerte nervös mit seiner Zigarette. »Hannover möchte uns die Sache übrigens gerne aufhalsen, nachdem wir nun schon mal angefangen haben und so – Sie kennen das ja. Die Verhältnisse seien uns geläufiger, und so weiter. Wenn Sie die Sache weiterbearbeiten wollen …?« Keiner der Beamten wußte in diesem Augenblick, daß die Zuständigkeitsfrage in diesem Fall ohnehin durch die Ereignisse selbst geregelt werden würde. »Ich bin neugierig«, brummte Ketterle. »Auf die dritte Person?« fragte Siebeck. »Nein«, antwortete Ketterle, »auf den Grund, aus dem sie sich abgeschminkt hat. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich morgen früh zu Roberts gehen und ihm ein paar Fragen stellen.« Wie jeden Morgen hörte sie die Kinder nur im Unterbewußtsein. Sie schnitten etwas aus oder malten irgend etwas ab. Es mußte also gegen sieben sein. Früher wurden die Kinder nicht wach. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Gleichzeitig hörte sie das Surren des Rasierapparats aus dem Badezimmer. »Kannst du eben das Wasser aufsetzen?« Ein Knurren kam aus dem Bad, dann hörte der Rasierapparat 50
auf, und Hans-Paul schlurfte in die Küche. Töpfe klapperten, Wasser rauschte, und dann zischten heruntergelaufene Tropfen auf der sich langsam erhitzenden Herdplatte. Obwohl sie die Wohnung gestern abend gesäubert hatte, war sie heute morgen wieder dreckig, und sie würde heute abend wieder dreckig sein und morgen und übermorgen und in zwei Monaten und in drei Jahren. Im Laufe eines Jahrs spülte sie Geschirr, das übereinandergestapelt die Höhe des Eiffelturms ausmachte, und die Länge der Zigarettenschlange, die sie dabei rauchte, wagte sie sich gar nicht vorzustellen. Und das Leben ging darüber hin. Man ist nichts als eine Schlampe, dachte sie, als sie so widerwillig wie jeden Tag die Decke zurückstieß, mit nichts vor sich als einer ekelhaften, in ihrer Unerschöpflichkeit und Banalität zermürbenden Tretmühle – und das alles nur, damit man überhaupt existierte. Hans-Paul konnte es nicht ausstehen, wenn sie, während er sich wusch und rasierte, ins Bad kam. Aber entweder mußte er früher aufstehen oder sie, oder er mußte das Frühstück fertigmachen. Und wenn er das nicht wollte, mußte er sie eben in dem engen Bad erdulden. Hans-Paul säuberte sich mit komischen Bewegungen des Apparats die Stellen, die der ovale schwarze Bart freilassen sollte, und verzog das Gesicht zu lächerlichen Grimassen, während er den Schnurrbart ausrasierte. Das taten alle Männer, die einen Bart trugen; aber wenn man es Tag für Tag, Monat für Monat, jeden Morgen sah, wurde es einem widerlich, und das schlimmste war die Gefahr, daß einem auch der Mann widerlich wurde. Er rückte nur unwillig zur Seite, als sie sich über das Becken beugte und Wasser einlaufen ließ. Wie jeden Morgen standen plötzlich auch die Kinder im Badezimmer, und wie jeden Morgen vergegenwärtigte sich Sigrid, daß sie nicht zu den Kindern ungerecht sein durfte, weil ein 51
Haushalt viel und scheußliche Arbeit machte. »Zieht euch an«, sagte sie; »Regine, du kannst den Tisch decken, vergiß aber nicht Salz und Eierlöffel, mein Liebling.« Dann ging sie in die Küche und stellte die Flamme für das Teewasser klein. Sie mußte wieder eine halbe Stunde Fenster putzen, wenn sie es dampfen ließ. Ein Gefühl von Zorn stieg auf dem Rückweg ins Bad in ihr hoch. »Der Bart macht es auch nicht, Hans«, sagte sie; »du kommst mit Bart nicht weiter als ohne. Rasier dir doch endlich das Gestrüpp ab, damit wir mal was Neues in der Bude haben.« »Es gibt viel mehr begabte Leute, Sigrid, als einträgliche Posten. Hättest du denn lieber einen Ellbogenmann geheiratet? Wie Pap einer ist?« Wie immer, wie immer, sie erwartete es, – aber es kam nicht. Statt dessen hörte sie, daß der Apparat leerlief, Hans-Paul sie von hinten ansah, und dann geschah etwas, was schon lange nicht mehr geschehen war. Er legte seinen Arm um ihre Schultern, den surrenden Apparat in der rechten Hand. »Ich tue mein Bestes, Sigrid«, sagte er; »wenn du mir Vorwürfe machst, wird es erst recht nichts.« Sie spürte glücklich, daß er sie auf den Hals küßte, aber sie hätte sich lieber auf die Zunge gebissen, als es zuzugeben. »Vielleicht wird bald alles besser. Wenn die Sache mit dem Empedokles-Verlag was wird, und vielleicht wird sie was, der Entwurf ist gut, dann kauf ich dir eine Spülmaschine und einen Bügelautomat. Und dann gehen wir zusammen aus, auf den Süllberg oder ins Fischhafen-Restaurant – ja?« Sigrid nickte unbeteiligt. Aber dann hörte sie, daß der Apparat ein ungewohntes Geräusch machte, und als sie sich umblickte, sah sie, daß er eine gerade und blasse Schneise in den dunklen Bart fraß, den sie so haßte. Das war fast, als ob ein neuer Abschnitt begänne. »Hans«, sagte sie, »übernimm dich nicht, Hans.« Und das 52
sollte soviel heißen wie: im Grund bist du doch ein anständiger Kerl. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte sie Erika beneidet. Reimar war immerhin schon Oberarzt gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte, und wurde bald darauf stellvertretender Chef. Und jetzt, nächstes oder übernächstes Jahr, würde er sich mit einem von Papa gesicherten Kredit eine Praxis einrichten und zahlungskräftige Manager an ihren Magengeschwüren behandeln. Aber finanziell hatten sich ›Reimars‹, wie sie sie nannte, eigentlich auch nicht besser gestanden. Papa hatte zwar bei Reimars ab und zu etwas zugeschossen, weil er nichts gegen Reimar hatte. Aber Erika stellte auch weit größere Ansprüche als sie und außerdem wirkte sich bei ihnen das Gesetz, daß größeres Einkommen größere allgemeine Ausgaben nach sich zieht, in erschreckendem Umfang aus. Jedenfalls saß Erika, so schön angezogen sie war und trotz des Fiat achtzehnhundert, den sie fuhren, am Fünfundzwanzigsten regelmäßig genauso auf dem letzten Pfennig wie sie selbst. Sigrid wusch sich die Seife aus den Augen, trocknete sich ab und suchte sich dann einen Pullover aus dem Schrank, den sie seit einem Jahr nicht mehr getragen hatte. Wenn Hans-Paul sich seinen Bart abrasierte, wollte sie nicht zurückstehen. Damit mal was Neues in die Bude kommt, dachte sie. Sie strich den Kindern ihre Brote, als Hans-Paul zum Frühstück kam. Er sah sehr fremd aus, seine Blässe wirkte beinahe geisterhaft. Aber sie nahm an, daß das von dem ungewohnten Anblick seines Gesichts ohne Bart herrührte. »Papa hatte einen schlechten Tag gestern«, sagte er, als er sich sein Ei aufklopfte. »Zu weich.« Er sah sie vorwurfsvoll an: »Du weißt doch, daß ich das nicht mag.« »Entschuldige«, murmelte Sigrid. Ausgerechnet heute mußte ihr das passieren. Und jetzt würde er es aus Protest Peter geben, obwohl er wußte, daß sie es verkehrt fand, wenn die Kinder Eier aßen. Aber er schien heute von dem Gedanken an Pa53
pas Befinden besonders in Anspruch genommen. »Mathilde kann ihm nicht im geringsten helfen, wenn ihm mal was zustößt, während die ›Gnädige‹ auf Reisen ist.« Hans-Paul sprach von seiner Stiefschwiegermutter stets per ›Gnädige‹. Wenn er sie direkt ansprach, nannte er sie Sandra, denn sie war letzten Endes nur zwei Jahre älter als er, und außerdem hatte sie noch nie im Leben ihren Unterhalt selbst verdient, während er wenigstens den Versuch dazu machte. »Es ist unglaublich, wie sie sich benimmt, Sigrid. Das mußt du doch zugeben. Stell dir doch mal vor, du hättest einen vierzig Jahre älteren Mann geheiratet, dessen Vermögen du erben willst – würdest du ihn nicht wenigstens pflegen?« Er löffelte lustlos und ohne Appetit aus dem Ei. »Manchmal sieht es so aus, als ob sie es darauf anlegte, ihm langsam, aber sicher die letzte Freude am Leben zu verderben.« Es war das obligate Frühstücksthema. Sigrid haßte es, denn sie konnten mit ihrem ewigen Gemecker über Sandra Roberts auch nichts an den Tatsachen ändern. Rich Roberts Töchter waren durch die ständigen und massiven Angriffe ihrer Männer langsam in eine Art widerwilliger Loyalität gegenüber ihrer Stiefmutter gedrängt worden. Sigrid schwieg. »Sie ist ein Luder, Sigrid«, sagte Hans-Paul und nahm Peter das Marmeladenglas weg. »Es genügt, Peter. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wo sie herkommt. Armer Papa.« Das ›armer Papa‹ klang nicht echt, und Sigrid wußte genau, wie sehr Hans-Paul zum Beispiel darauf hoffte, daß Rich Roberts wenigstens die dreihundertfünfzig Mark Zahnarzt übernahm, nachdem es nur sie betraf und mit Hans-Paul nichts zu tun hatte. »Ich muß mal mit Papa sprechen«, sagte sie, »daß er wenigstens eine direkte Klingelleitung in Mathildes Zimmer legen läßt. Aber wenn von seiner Krankheit die Rede ist, hört er schlecht.« 54
»Na ja, wenn man als Siebziger eine dreißigjährige Frau hat, muß man versuchen, den Anschein von Jugend und Gesundheit aufrechtzuerhalten«, sagte Hans-Paul gehässig, »sonst zieht man den kürzeren.« Er gähnte und hielt sich die Hand mit dem Messer, an dem Marmelade klebte, vor den Mund. »Du solltest nachts mal wieder schlafen, anstatt zu arbeiten«, sagte Sigrid; »gestern war es vier, heute zwei. Und du siehst immer schlechter aus.« »Der Entwurf für den Empedokles-Verlag ist aber fertig, Sigrid. Heute wollen wir früh schlafen – zusammen.« Er blinzelte ihr zu, und das sah in seinem blassen Gesicht seltsam unnatürlich und verzerrt aus. Komisch, wie ein Bart verändert, dachte sie, sogar den eigenen Mann. Dann stand sie auf, weil das Telefon klingelte. Hans-Paul hörte sie drüben mehrmals hintereinander »ja« sagen. Dann legte sie auf. Auch sie war blaß, als sie wieder in die Küche kam. »Wir sollen auf dem schnellsten Weg zu Papa kommen, Hans. Sandra ist irgendwas passiert. Zwei Herren von der Polizei sind da.« »So«, sagte Hans-Paul Bracélles, »soso – Sandra.« Er schwieg eine Weile und knüllte nervös seine Serviette zusammen. »Das ist ja eine schöne Schweinerei«, sagte er dann. Tholen verspätete sich. Dr. Brabender ärgerte sich darüber ganz besonders, wenn er sich für den Vormittag mit Erika etwas vorgenommen hatte. In dem großen Krankenhaus mit seiner ausgedehnten internistischen Station war der Nachtdienst kein Vergnügen. Brabender haßte die matterleuchtete Öde der langen Korridore, die tückischen Augen der Lichtrufsignale 55
über den Türen, das lautlose Schleichen der Nachtschwestern und das Würgen, Keuchen und Schnarchen, das aus den Schlafsälen drang, wenn sie die Türen öffneten. Reimar Brabender war ein Mann heller, sauberer Klarheit. Er liebte das Tageslicht ebenso wie die Anerkennung und Bewunderung seiner Patienten und Kollegen. Im Grunde genommen brauchte er es sogar. Er war sich über seinen Charakter in diesem Punkt völlig im klaren. Seine Leistungskraft wurzelte in der Wertschätzung der Öffentlichkeit. Mit Befriedigung dachte er an den Vortrag über neu erforschte Varianten der Milzfunktion, den er vorgestern nachmittag auf einem Kongreß in Bremen gehalten hatte. Hiebund stichfest alles, tadellos ausgearbeitet, durchexperimentiert, belegt. Man hatte ihm lebhaften Beifall gespendet und eine Veröffentlichung angeregt. Er öffnete die Tür zu Saal IV. Bei der Herzkranzschädigung in Bett zwo war gegen fünf eine Krisis eingetreten. Er hatte Strophanthin gegeben. Die Frau war vierundsiebzig. Ein plötzlicher Krampf war immerhin möglich. Die Schwester kam ihm entgegen. »Puls?« fragte er fast unhörbar, denn die Frau saß aufgerichtet in ihrem Bett und starrte ihn an. »Fünfundneunzig«, flüsterte die Schwester, »und sehr schwach.« Reimar Grabender schob das Stethoskop in die Ohren, noch bevor er das Bett erreicht hatte. Er legte der Frau die Hand auf die spärlichen, grauen Haare und streifte ihr mit der beruhigenden Gelassenheit routinierter Ärzte das Nachthemd von den Schultern. Er schloß die Augen, während er abhorchte, um nicht in ihr verängstigtes Gesicht sehen zu müssen. Aber er mußte sich Mühe geben, bei dem, was er hörte, den Mund nicht zu verziehen. Schließlich setzte er ab, und die Schwester streifte das 56
Nachthemd wieder herauf. »Wir müssen alle mal gehen, nicht wahr, Herr Doktor?« murmelte die Frau, und ihre Augen flackerten. Der Arzt überlegte, dann lächelte er. »Mit Vierundsiebzig ist man eben kein Backfisch mehr. Aber Sie haben noch Zeit.« »Komme ich noch mal ‘raus hier, Herr Doktor?« fragte die Frau drängender. Dr. Brabender legte ihr die Hand auf die Schulter, während er sich vom Bettrand erhob. »Nur nicht schon gleich morgen, Frau Klasen«, sagte er und klappte das Stethoskop zusammen. »Ich komme nicht mehr ‘raus, Herr Doktor. Sagen Sie es mir doch offen«, stammelte die Frau. »Aber Frau Klasen, was reden Sie da?« Der Arzt versuchte, sich den Anschein von wohlwollendem Ärger zu geben. Er war jetzt fünfundvierzig. Aber das hatte er immer noch nicht erreicht: Hoffnung auszustrahlen, wo keine mehr war. Die letzte und äußerste Legitimation des Arztes überhaupt. Die Grenze, wo das Handwerk in Menschentum überging, in Glauben, in Mythos, in weiß der Teufel was. Er war ein Intellektueller, der Funktionen verstand und erläutern konnte. Mehr nicht. »Ich schreibe Herrn Professor eine Notiz für die Visite«, sagte er draußen zur Schwester. »Tholen soll vorher den Blutdruck noch einmal messen und das Ergebnis dazulegen.« »Was hat Ihnen der Doktor draußen gesagt?« hörte er die Frau fragen, als die Schwester den Saal wieder betrat. »Ich soll aufpassen, daß Sie sich möglichst wenig bewegen«, lächelte die Schwester und ordnete das Kissen. Brabender schritt den Korridor hinunter, die Uhr über der Tür zur Privatstation zeigte zwanzig nach acht, und er war deshalb froh, als er Tholen die Treppe heraufhasten sah. Er übergab dem Kollegen die Unterlagen und zog sich den Kittel aus. 57
Dann wusch er sich die Hände. Während er sie abtrocknete, konnte er unten auf dem Hof seinen schönen neuen Wagen stehen sehen. Es war Erikas Idee gewesen. Er hatte es gar nicht gewollt, aber er konnte ihr schlecht widersprechen, als sie erklärt hatte, sie könnten nach sechs Jahren Oberarztzeit endlich aufhören, Volkswagen zu fahren. Er war noch gar nicht bezahlt gewesen. »Wiedersehen, Tholen«, sagte er und verließ das Stationszimmer. Auf den morgendlichen Straßen flutete der Berufsverkehr stadteinwärts. Die Fahrt entlang der Alster war deshalb kein Genuß. Auch mit dem neuen Wagen nicht. Er nahm gewöhnlich den Weg über Schwanenwik und Adolfstraße und bog oben an der Krugkoppel um die Außenalster. Die Parkallee hatte den Vorzug, daß man gelegentlich vor seinem eigenen Haus noch einen Platz fand, auf den man seinen Wagen stellen konnte. Reimar Brabender fuhr den Fiat achtzehnhundert nicht in die Garage. Er wollte den freien Tag dazu benützen, um mit Erika Einkäufe zu machen. Sie brauchte dringend neue Sachen. Er wunderte sich, daß sie schon angezogen war, als sie ihm oben die Wohnungstür öffnete. »Als ob ich es geahnt hätte, Rei«, stieß sie hastig hervor – »nimm dich zusammen. Mit Sandra ist irgend etwas los. Papa hat eben angerufen …« Wieder klingelte auf Reimars Schreibtisch der Apparat. »Schon wieder. Es ist entsetzlich.« »Ja«, hörte Reimar Brabender sie drinnen sagen, »klar, Sigrid. Euren Kasten soll der Teufel holen. Gut, in einer halben Stunde. Rei muß schließlich auch was frühstücken. Wißt ihr was Genaueres? Nicht? Wir auch nicht. Also bis nachher.« Dr. Brabender folgte ihr ins Wohnzimmer. »Er hat Hans-Pauls auch angerufen. Sigrid bat, wir möchten sie abholen. Bei ihnen ist wieder mal die Batterie leer.« »Was ist mit Sandra los, Erika? Beruhige dich doch erst mal 58
und dann erzähle. So schlimm wird es schon nicht sein.« »Doch, Rei, ich fürchte, es ist schlimm. Zwei Herren von der Polizei sind bei Papa und fragen ihn aus. Sandra wird vermißt …« Sie begann plötzlich haltlos zu schluchzen. »Ich habe immer schon so was geahnt, Rei, seit sie in dem Haus ist. Wenn er es nur nicht getan hätte! Er hätte sich ja schließlich so mit ihr amüsieren können. Aber jetzt geht es uns alle an.« Nervophyll, dachte Reimar Brabender; sie ist wirklich hysterisch. »Seit wann wird sie vermißt, Erika?« fragte er, »und wo …?« »Seit gestern nacht. Sie ist von einem Spaziergang nicht wiedergekommen. Es ist entsetzlich. Der arme Papa.« »Seit gestern nacht«, murmelte Reimar Brabender und fing mit den Zähnen die Unterlippe ein; »soso, seit gestern nacht. Und wo, weiß man nicht?« »Irgendwo an der See. Ich weiß nicht genau, wo. Aber das ist ja auch nicht so wichtig. Was hast du denn, Rei?« Der Arzt ließ sich schwer in einen der tiefen Sessel fallen und schlug die Beine nicht übereinander. »Ich muß dir etwas sagen, Erika …«, stammelte er, »… bevor Fragen gestellt werden. Ich habe für gestern nacht kein Alibi.« Sie starrte ihn an und begriff nur ganz langsam, was er damit sagen wollte. »Was willst du denn mit einem Alibi, um Himmels willen, Rei …! Wozu brauchst du denn ein Alibi …?« Ihre Stimme wurde häßlich und schrill. »Wir werden alle ein Alibi brauchen, Erika«, murmelte der Arzt. Er hatte seine gelassene Sicherheit verloren. Um die Wahrheit zu sagen: Er war völlig außer sich. »Wenn die Polizei von Papas Testament erfährt, brauchen 59
wir alle ein Alibi. Und sie wird davon erfahren. Da kannst du Gift darauf nehmen.« Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle fand auf seinem Schreibtisch einen Aktenordner mit Röppkes Exposé über die Untersuchungen in Sachen Roberts vor und außerdem einen großen Umschlag mit sämtlichen Fotografien. Eigentlich hatte er eine ganze Menge anderer Dinge zu tun, aber er blätterte doch die Akte durch und schüttete die Fotos vor sich auf den Schreibtisch. Dann sah er sie an. Eines nach dem anderen. Und sehr genau. Mit zweien oder dreien ging er hinüber ans Fenster und besah sie sich durch ein Vergrößerungsglas. Schließlich starrte er hinunter auf den Verkehr, der über den Karl-Muck-Platz flutete, und machte sich einen Plan für den Besuch bei Rich Roberts, den seine Feinde Dick nannten. Er hielt acht Uhr fünfzehn für nicht zu früh, um bei einem Mann anzurufen, der noch mit Siebzig jeden Morgen ausgeritten war, Punchingübungen betrieben hatte und der wegen seiner disziplinierten Lebensweise stadtbekannt war. Am Apparat meldete sich eine Frauenstimme, der Kommissar Ketterle anhörte, daß sie einem Faktotum gehörte. »Hier bei Senator Roberts.« Ketterle fragte, ob er Roberts sprechen könne. »Der Herr Senator frühstücken gerade. Ist es wichtig?« »Ja, es ist wichtig«, sagte Ketterle. Roberts frühstückte seelenruhig, er hatte also noch immer nichts von der Sache erfahren. »Ich stecke dann durch«, sagte das Faktotum – »einen Augenblick.« Aus dem Augenblick wurden mindestens zwei Minuten. Vielleicht suchen sie doch das Watt durch, dachte der Kommissar und schielte durch das Fenster nach dem Himmel. Er 60
war weder schön noch häßlich, keine Sturmwolken, keine Schönwetterwolken. Er war grau. Wie meist in Hamburg. Es knackte im Hörer. »Wer ist denn am Apparat?« wollte das Faktotum jetzt wissen. Der Kommissar richtete sich auf. Es ging ja schließlich nicht um seine Frau. »Kriminalpolizei Hamburg, Kommissar Ketterle«, sagte er schroff. »Ja, einen Moment.« Hornschuh soll nachher mal im ›Clifton‹ anrufen, wie das Wetter ist, dachte Ketterle gerade, als Roberts sich meldete. Man hörte, daß er noch an einem Brötchen kaute. »Ja?!« Es war halb eine Frage, eigentlich aber ein Befehl. »Ist Ihre Gattin zu Hause?« fragte Ketterle. »Wer ist denn eigentlich dort?« »Das habe ich Ihrer Dame schon ausführlich gesagt. Ketterle, Kriminalpolizei.« »Was kann ich für Sie tun?« »Kann ich Sie aufsuchen, Herr Senator?« »Um was handelt es sich?« »Es ist besser, mündlich darüber zu sprechen.« »So. Wann wollen Sie kommen?« »Sofort.« Der Senator schwieg einen Moment. »Also gut«, sagte er. »Dann kommen Sie sofort. Sie wissen, wo ich wohne?« »Ja. Rathenaustraße in Alsterdorf.« »Ja«, sagte Roberts. »Ich erwarte Sie.« Der Kommissar legte auf und klingelte nach Hornschuh. Dann holte er Hut und Mantel aus dem Schrank, öffnete die Tür zum Schreibzimmer und rief hinein: »Ich bin bei Senator Roberts, Fräulein Klings, wenn jemand nach mir fragen sollte. Aber nur wichtige Gespräche weiterleiten. Kommen Sie …«, 61
sagte er zu Hornschuh, »… wir fahren zu Roberts.« Den Mantel über den Arm gehängt, verließ er hinter Hornschuh sein Zimmer. Die Aufzüge waren belegt, und sie gingen nebeneinander die Treppe hinunter. Sonst versäumte der Kommissar kaum eine Gelegenheit, mit Hornschuh über irgendeinen Fall zu sprechen. Aber diesmal schwieg er. Sie wußten beide, daß die Spuren Sandra Roberts dort auf dem öden Strand nicht nur körperlich endeten. Es gab nicht den geringsten Fingerzeig, der von dort aus weiterführte. Es war wie verhext. »Ein harter Brocken«, sagte Ketterle später im Auto, als sie den Mittelweg hinauffuhren. »Andernfalls wäre er nicht Senator geworden«, sagte Hornschuh, eine Straßenbahn überholend, »mit Rücksichten wird man kein Senator. Ein Vorzug des Beamtenlebens.« »Was?« fragte Ketterle. »Dienstjahre und Fleiß genügen«, brummte Hornschuh. »Brutalität ist überflüssig.« »Sie sind zu jung für solche Feststellungen, Hornschuh«, sagte Ketterle mißgelaunt. »Aber Sie müssen mir doch recht geben.« Der Kommissar seufzte. Er dachte an Siebeck, als Hornschuh über die Brücke an der Meerwiese die Alster überquerte. Bald darauf bogen sie nach links in die Rathenaustraße ein. Das Haus war pompös. Ein Klinkerbau mit halbkreisförmigen Treppen. Granitsäulen bewachten eine Tür aus schwerer Eiche mit blankgeputzten Messingringen. Die beiden Beamten stiegen, die Hände in den Taschen ihrer Mäntel, die Stufen hinauf. Hornschuh musterte das Portal. »Man traut sich kaum zu läuten«, sagte er und drückte auf den geputzten Messingknopf der Klingel. 62
Es stand kein Name an der Tür. Hamburg wußte auch so, daß hier Roberts wohnte. Der Türflügel öffnete sich wie von selbst. Man hatte vorher keinen Laut gehört. Das Faktotum war von alter Schule. Es war etwa fünfzig, trug ein langes, schwarzes Kleid mit Schürze und Spitzenhäubchen. Wie im Hansa-Theater, dachte Ketterle. Seine Schwester hatte ihn an ihrem fünfzigsten Geburtstag dort mit hingenommen. Mit der würdevollen Routine einer jahrzehntelang erprobten Zeremonie ließ das Faktotum sie eintreten. »Der Herr Senator erwarten nur einen Herrn«, sagte es befremdet und zeigte dann stumm auf die Kleiderablage. In einem Haus, in dem Reeder, Versicherungsmakler, Bankdirektoren und Konsuln verkehrten, half man zwei Kriminalbeamten nicht aus dem Mantel. Das Faktotum zog die eine seiner beiden Hände unter der Schürze hervor, um die weißlackierte Glastür zur Halle zu öffnen. Braungetäfelt wand sich eine Eichentreppe in den Oberstock. Weder der Globus noch die französische Standuhr, ba-bau, noch der kupferne Flöttner-Kessel fehlten. Gedämpftes Licht kam durch getönte Butzenscheibenfenster. Im Hintergrund stand die Tür zu einem Wintergarten offen, von dem aus es in den Park ging. Sie wateten durch einen Ispahan von bestechenden Farben auf eine Tür zu, die das Faktotum öffnete. Ketterle sah etwas betreten an sich herunter. Er trug nicht seinen besten Anzug. Es hätte allerdings nicht in sein Bild von dem Senator gepaßt, wenn er gewußt hätte, daß es Roberts darauf nicht im geringsten ankam. Der Senator kam um seinen Schreibtisch. »Herr Ketterle? Kommissar?« »Hauptkommissar, Herr Senator.« Ein fragender Blick traf Hornschuh. 63
»Kommissar Hornschuh.« Der Senator nickte und wies auf zwei schwere, kordüberzogene Sessel. »Welche Dienststellung bekleiden Sie, Herr Hauptkommissar?« »II/III, Herr Senator. Ich bin Leiter der ersten Mordkommission.« Bei einem Mann, durch dessen Hände im Lauf seines Lebens Milliarden gegangen und an denen Millionen davon hängengeblieben waren, erregen auch überraschende Mitteilungen keine Veränderung des Gesichts. Der Senator schwieg nur zwei Sekunden. »Setzen Sie sich«, sagte er dann. Da er hartnäckig schwieg und Ketterle in völliger Ruhe ansah, sagte der Kommissar: »Bevor ich Sie beunruhige – wissen Sie, wo Ihre Gattin ist?« »Nein«, sagte Senator Roberts. »Ich pflege ihr keine Zügel anzulegen. Warum?« Ketterle hatte beide Hände auf den Lehnen des Sessels liegen. »Ihre Gattin hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag zwischen elf und ein Uhr bei völlig ruhigem Wetter einen Spaziergang gemacht, von dem sie bis jetzt nicht zurückgekehrt ist.« Roberts bewegte sich nicht. Dann reckte er den mächtigen Kopf mit der weißen Haarmähne etwas nach oben und drehte das Kinn. »Woher wissen Sie das?« »Man hat uns verständigt.« »Wer?« »Ein Oberst außer Diensten namens Schlisske, der in einer Pension oben an der Küste wohnt.« »Woher weiß er es?« »Man vermißte Frau Roberts gestern morgen beim Frühstück, und der Oberst fand es richtig, Hamburg anzurufen.« 64
»Wie kommt die Mordkommission zu der Sache? Meine Frau liebt Kapriolen. Es macht ihr Spaß, andere vor den Kopf zu stoßen. Sie lacht sich tot bei so was. Ich weiß nicht, ob Sie eine gute Figur bei der Sache machen, Herr Hauptkommissar.« Ketterle sah den Senator eine Weile an. »Wir waren gestern mit der KTV, dem Bereitschaftswagen, einem Spürhund und neun Beamten dort. Die Ortspolizei hatte vierzig Leute aufgeboten, um das Wattenmeer abzusuchen. Das hatte seinen Grund.« »Welchen?« »Frau Roberts war den Strand entlanggegangen. Es war windstill, und die Spuren waren gut zu sehen. An einer bestimmten Stelle …« Der Kommissar sah zu seiner Überraschung, daß die Augen Rich Roberts etwas Starres bekamen und brach ab. Aber der Senator bewegte sich nicht. Dennoch spürte der Kommissar die Anspannung aller Muskeln unter dem blütenweißen Hemd. »… führten die Spuren direkt ins Meer und hörten auf«, vollendete er Ketterles Satz. Der Kommissar erinnerte sich später noch gut daran, daß er die Empfindung gehabt hatte, sein ›wenn-es-wenigstens-sowäre‹ habe einen Einschnitt in Rich Roberts Leben gegraben, der über die Bedeutung vom Verschwinden seiner Frau weit hinausgriff. Das Schweigen war schwer und stickig, und das Schlagen der Uhr in der Halle maß unendlich lange Zeiträume ab. Aber das Verhalten des Senators erlaubte den beiden Beamten nicht, ihre grenzenlose Überraschung zu zeigen. »Haben Ihre Untersuchungen irgend etwas ergeben?« fragte der schwere Mann und tat nichts anderes, als die Hand um das Revers seines Jacketts zu legen. »Nichts«, sagte Ketterle. »Deswegen komme ich zu Ihnen.« Der Senator atmete einige Male tief auf. Der letzte Atemzug endete in einem kaum wahrnehmbaren Ächzen. Ketterle er65
kannte jetzt die Herzkrankheit des Giganten und machte sich Vorwürfe, daß er ihn ohne Rücksichtnahme mit der Härte der Tatsachen konfrontiert hatte. »Und was wollen Sie jetzt tun?« »Nachdem Ihnen der Aufenthaltsort Ihrer Frau unbekannt war, nehme ich an, daß Sie ihr auch nicht telegrafiert haben, Herr Senator.« Rich Roberts schüttelte langsam den Kopf. »Natürlich nicht. Wie kommen Sie darauf?« »In der Pension ›Clifton‹ kam gestern vormittag ein Telegramm an, das telefonisch von dem Anschluß …«, Ketterle zog einen Zettel aus der Rocktasche und las ab, »… 99 37 73 in Hamburg aufgegeben worden war. Das ist Ihr Anschluß.« Der Senator schwieg. Dann stützte er sich schwer auf die Seitenlehne des Sofas und stand endlich auf. Er ging zum Fenster, zog den Store etwas zur Seite und sah in den Garten hinaus. »War meine Frau alleine?« fragte er von dort aus, ohne sich umzudrehen. »Selbstverständlich, Herr Senator«, sagte Ketterle, dem erst in diesem Augenblick voll zum Bewußtsein kam, daß dieser Fall auch noch andere Probleme bloßlegte als jene, die die Polizei interessierten. »Welchen Inhalt hatte das Telegramm?« Roberts drehte sich um und setzte sich hinter seinen schweren Schreibtisch. »Das Telegramm lautete: ›Geht nicht‹, und trug keine Unterschrift.« Roberts stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und das Kinn auf die gefalteten Hände, an denen er es ein paarmal auf und ab rieb. »Wohin sollten sie nicht gehen?« fragte er, »und wer? Wer war der zweite? Oder wer hätte der zweite sein sollen? Können Sie sich das erklären?« 66
Kommissar Ketterle sah Hornschuh an. Dann schlug er schwerfällig ein Bein über das andere und blickte zu Roberts zurück. »Wir haben die Frage bisher immer so gestellt: ›Was geht nicht?‹ Aber ich gebe zu, man kann sie auch anders stellen.« »Da Sie von einem Spaziergang sprachen, scheint mir meine Version richtiger zu sein, Herr Hauptkommissar. Was soll also nun geschehen? Wollen Sie die Untersuchung wie in einem Mordfall führen oder wollen Sie unterstellen, daß meine Frau noch lebt? Allons, spielen Sie Schicksal, Herr Hauptkommissar. Es liegt in Ihrer Hand.« »Es liegt nicht in meiner Hand. Sobald Frau Roberts wieder auftaucht, werden alle Untersuchungen gegenstandslos sein. Solange das nicht der Fall ist, werden wir gut daran tun, nichts außer acht zu lassen. Vielleicht darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen und dann die Personen kennenlernen, die näheren Umgang mit Frau Roberts hatten. Hier im Haus, Familie …« »Also soll ich meine Kinder herbitten? Ich habe zwei Töchter, aus erster Ehe natürlich. Ich werde sie erreichen können. Und die Männer auch. Leider. Wenigstens bei dem einen.« So kam es, daß kurz nacheinander bei Reimars und HansPauls das Telefon klingelte und Verwirrung stiftete. »Was mag er nur gehabt haben?« flüsterte Hornschuh, während der Senator sprach. »Woher wußte er denn um Himmels willen von der Hexerei mit der Spur?« »Er wird es uns selbst erzählen«, sagte Ketterle. »Seinen Schreck haben Sie also auch bemerkt.« »Es war nicht zu übersehen«, sagte Hornschuh, als Roberts sich ihnen wieder näherte. »Was wollen Sie von mir wissen?« fragte der Senator und blieb vor Ketterle stehen. »Persönliche Fragen schätze ich allerdings wenig.« Ketterle schwieg. 67
»Vielleicht kann Kommissar Hornschuh sich ein wenig im Haus umsehen«, sagte er dann. Der Senator verstand. »Also doch persönlich? Frau Mathilde ist in der Küche, Herr Kommissar. Direkt gegenüber.« Hornschuh ging. »Fragen Sie«, sagte Roberts, setzte sich auf seinen alten Platz und starrte die van-Dyck-Landschaft über dem Kamin an. Ketterle folgte seinem Blick. »Wann pflegte Ihre Frau sich abzuschminken?« fragte er, ohne Roberts dabei anzusehen. Der Mann antwortete nicht. »Hören Sie …«, murmelte er schließlich, und der Kommissar wendete ihm das Gesicht zu. »Ich habe sehr wohlerwogene Gründe für diese Frage. Sonst würde ich sie nicht stellen, Herr Senator.« »Wie meinen Sie es denn überhaupt?« »Frauen haben in kosmetischen Dingen einen genau eingespielten Rhythmus. Schminkt Ihre Gattin sich ab, bevor sie sich auskleidet, oder danach?« Der Mann nickte wie geistesabwesend mit dem Kopf. »Ich kann Ihre Frage nicht beantworten«, murmelte er dann; »ich weiß es nicht.« »Aber Sie müssen doch … ich meine, wenn – es gibt doch Gelegenheiten …« Roberts sah den Kommissar an. Sein Gesicht wirkte verfallen. »Bei solchen Gelegenheiten ist sie makellos geschminkt. Wie es sich für einen alten Mann gehört.« Der Senator sah auf seine Fingernägel. »Ich kann Ihnen da nicht helfen. Fragen Sie weiter.« »Seit wann sind Sie mit ihr verheiratet?« »Seit genau sechs Jahren. Sie war damals dreiundzwanzig, ich sechsundsechzig.« 68
»Noch eine dritte Frage, Herr Senator. Ihr Vermögen ist namhaft?« Roberts zog die Beine näher an den Stuhl. »Es ist namhaft. Ja.« »Wie haben Sie testamentarisch verfügt?« »Ich habe«, sagte Senator Richard Roberts, »meine rechtmäßige Frau durch Erbvertrag zur Alleinerbin eingesetzt und sie mit Vermächtnissen zugunsten meiner Kinder belastet, die etwas mehr als dem Wert der gesetzlichen Pflichtteile entsprechen. Ich habe das aus dem Grunde getan, daß meine Frau mit einem ungeteilten Vermögen meine Unternehmungen weiterführen kann, an deren Erträgnissen sie meine Tochter Erika aus erster Ehe angemessen beteiligen muß. Wenn Sie die Adresse des Testamentsvollstreckers brauchen …« »Danke«, sagte Ketterle, zog sein Notizbuch aus der Rocktasche und kritzelte ein paar Eintragungen hinein. »Genügt der Pflichtteil, der für Ihre zweite Tochter bleibt, zu einem sorgenfreien Leben?« »Nein«, sagte der Senator; »das soll er auch nicht.« Sein Ton verbot dem Kommissar die Frage nach dem Grund. »Wer kennt den Inhalt Ihrer letztwilligen Verfügung?« »Niemand. Auch meine Frau nicht.« »Ist Ihre erste Ehe durch Scheidung aufgelöst worden?« »Ja.« »Wann?« »Vor vierzehn Jahren. Sandra war nicht der Grund, wenn Sie das meinen.« »Ist Ihre erste Gattin in irgendeiner Form bei Ihrem Testament berücksichtigt worden, so daß Ihre Kinder auf diesem Wege Zuwendungen zu erwarten hätten?« »Nein«, sagte der Senator und betrachtete wieder die holländische Landschaft über dem Kamin; »außerdem ist meine erste Frau seit dem 27. März 1956 tot. Sie wohnte zuletzt in Weekers auf Long Island. Sie ging von ihrem Haus hinunter an den 69
Strand. Dort verlor sich plötzlich ihre Spur mit dem Abdruck ihres linken Fußes.« »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß meine Haushälterin, meine Putzfrau oder mein Chauffeur an meine Frau ein Telegramm rätselhaften Inhalts schicken«, sagte der Senator später, als der Kommissar die Bitte äußerte, diesen Leuten Fragen stellen zu dürfen. »Aber wenn Sie meinen …?« Er ging zum Telefon. Anstelle von Mathilde erschien Hornschuh in der Tür. »Ich habe mich schon mit ihr unterhalten«, sagte er, »sie wußte auch nicht, wo Frau Roberts hinfahren wollte. Sie habe nur geäußert, sie wolle mal ein paar Tage nichts hören und sehen.« »Wie ist sie denn eigentlich auf das ›Clifton‹ gekommen, Hornschuh?« sagte Ketterle nachdenklich, »eine Frage, die wir noch gar nicht berücksichtigt haben.« »Wenn ich genau nachdenke …«, sagte Roberts, »ich glaube, daß wir einen Prospekt bekamen. Warten Sie … Sandra fand das Haus so hübsch. Im Gegensatz zu mir hat sie was übrig für rustikale Romantik, Strohdächer … hat das Haus ein Strohdach? Ja? Sehen Sie, das ist das geringste Rätsel an der Sache. Wenn Sie wollen – es ist durchaus möglich, daß ich den Prospekt noch habe …« Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so wichtig ist das nicht. Sie haben einen Chauffeur?« »Ja. Novottny. Ein Flüchtling. Sehr tüchtig. Er macht auch den Garten, die Boote, die Heizung und diese Sachen.« »Kaduleit Nummer zwei«, murmelte Hornschuh. »Wohnt er im Haus?« »Nein. Er hat eine eigene kleine Wohnung in der Nähe. Tagsüber ist er in der Garage zu erreichen. Sie besitzt eine Art 70
Aufenthaltsraum. Am besten erledigen wir es sofort. Die anderen müssen gleich kommen.« Senator Roberts schob die makellose Manschette von seiner Armbanduhr. Ein schweres Goldband spannte sich um das behaarte, durchaus nicht verweichlichte Handgelenk. Er blieb am Schreibtisch sitzen, während er sprach, und verfolgte auch von dort aus das Gespräch des Chauffeurs mit den beiden Beamten. »Setzen Sie sich doch, Novottny«, ermunterte er den Mann, der unschlüssig im Zimmer stand, und Novottny setzte sich vorsichtig auf den Rand eines der Sessel. Er trug einen Overall und hatte eine ölige Mütze in der Hand. Aber Ketterle konnte sich gut vorstellen, wie soigniert er in seiner guten Montur aussehen mußte, mit dem leichtergrauten, vollen Haar und einem Gesicht, dessen jugendlicher Ausdruck nur wenig dazu paßte. »Um Sie kurz ins Bild zu setzen, Novottny …«, begann der Senator vom Schreibtisch her, und der Chauffeur sah ihn an. Kommissar Ketterle hob eine Hand und machte dem Senator hinter Novottnys Rücken ein Zeichen. »Würden Sie mir die Fragestellung überlassen, Herr Senator?« Richard Roberts zuckte mit den Achseln. »Ganz wie Sie wollen«, sagte er und lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück. Der Brieföffner sah zwischen seinen mächtigen Händen aus wie ein Federmesser. Ketterle wendete sich an den Mann: »Die paar Fragen, die ich Ihnen stellen möchte, haben die Billigung des Herrn Senators. Sie brauchen also keine Hemmungen zu haben, sie zu beantworten, verstehen Sie?« »Natürlich«, sagte der Mann, der offensichtlich völlig im unklaren darüber war, um was es ging. »Wie viele Wagen gibt es hier im Haus?« »Drei. Den Cadillac, den Mercedes hundertneunzig SL und den Karmann Ghia der gnädigen Frau.« »Sie betreuen alle drei?« 71
»Ja, alle drei.« »Worin besteht Ihre Tätigkeit an diesen Wagen?« »Ich pflege sie, wasche sie, führe kleine Reparaturen durch, lasse die Wartungsdienste machen. Was eben die Aufgaben eines Herrschaftschauffeurs sind.« »Sie fahren alle drei?« Novottny nickte. »Ja.« »Wo befinden sich die Fahrzeugpapiere, wenn Sie die Wagen fahren?« Der Mann dachte nach. »Beim Cadillac in der rechten Seitentasche, bei beiden anderen Wagen in der linken Seitentasche.« »Bei keinem im Handschuhfach?« »Nein. Es ist eine ausdrückliche Anweisung von Herrn Senator, die Handschuhkästen ebenso anzusehen wie Schreibtischschubladen.« »Es bleibt manchmal ein Brief, ein Dokument darin liegen«, sagte Roberts; »ich muß zu meinem Chauffeur …« »Ich verstehe«, sagte Ketterle; »passen die Fahrersitze aller Wagen für Ihre Beinlänge?« Senator Roberts verzog den Mund und schüttelte den Kopf. »Die gnädige Frau ist …«, Novottny suchte nach einem Wort, um sich respektvoll auszudrücken, »…sie ist zierlich. Sie hat den Sitz meist ganz nach vorn geschoben.« »Danke«, sagte Ketterle. »Tragen Sie Handschuhe, wenn Sie die Wagen fahren?« Christoph Novottny beantwortete diese Frage nicht sofort, und Hornschuh wunderte sich, daß der Kommissar sie nicht als letzte gestellt hatte. Der Chauffeur sah Ketterle einen Moment lang gespannter an als bisher. »Zur Livree gehören graue Wildlederhandschuhe«, sagte er dann; »der Herr Senator legen Wert darauf.« Ketterle nickte. 72
»Noch eine letzte Frage. Sie wissen natürlich auch nichts von einem Telegramm, das gestern nacht über die hiesige Amtsleitung aufgegeben wurde? Es lautete ›Geht nicht‹, ohne Unterschrift und war an Frau Sandra Roberts gerichtet.« »Nein«, sagte der Chauffeur; »wie käme ich dazu? Wann ist das Telegramm aufgegeben worden?« Der Kommissar kramte seinen zerknitterten Zettel aus der Rocktasche und las die Uhrzeit ab: »Um sieben Minuten nach neun.« »Um Punkt neun haben der Herr Senator mich in meiner Wohnung angerufen, daß der Herr Senator mich nicht mehr brauchen.« Der Chauffeur sah zu Roberts hinüber, der das Briefmesser auf die Schreibtischplatte zurücklegte. »Stimmt«, sagte der Senator, »es war Punkt neun. Die Übertragung vom Hallentennis im Fernsehen war gerade beendet. Ich erinnere mich genau.« Novottny stand auf und nahm die Mütze in die andere Hand. Dem Kommissar fiel auf, daß er trotz allen Respekts nichts von Unterwürfigkeit an sich hatte. »Gestatten Herr Senator eine Frage?« »Ja, Novottny?« »Hatte die gnädige Frau einen Unfall? Ich meine – ich möchte mir keine Vorwürfe wegen der Wartung des Wagens …? Es wäre gar nicht auszudenken …« »Machen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen, Novottny; damit hat es nichts zu tun.« »Also doch, Herr Senator. Wenn Herr Senator mich doch ins Vertrauen …« Roberts winkte müde mit der Hand. »Schon gut, Novottny. Seien Sie froh, daß Sie nichts davon wissen.« Der Chauffeur senkte den Kopf, drehte sich um und ging zur Tür. Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle hatte einen Kugel73
schreiber aus der Brusttasche gezogen und hielt ihn, ganz unten am Schreibkegel, zwischen Daumen und Zeigefinger fest. »Ach, Herr Novottny«, sagte er, als der Chauffeur die Hand auf den Türgriff legte. Novottny fuhr herum. »Ja?« »Würden Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer aufschreiben? Für alle Fälle.« Der Chauffeur kehrte um, nahm Kugelschreiber und Zettel des Kommissars und schrieb, über den Tisch gebeugt, die Angaben auf. Dann wollte er den Kugelschreiber zurückgeben. Aber er besann sich, zog einen Lappen aus der Tasche und wischte ihn sorgfältig reibend ab. »Ich habe ölige Hände«, sagte er entschuldigend; »Ihr Anzug könnte Schaden nehmen.« Als Novottny die Halle durchquerte, schloß Dr. Reimar Brabender eben die Haustür auf. Der Chauffeur murmelte einen Gruß und wunderte sich, daß die jungen Herrschaften in Mänteln und Hüten rasch durch die Halle gingen, ohne abzulegen. »Papa«, sagte Erika, »Papa, was ist los? Es ist entsetzlich!« Sie umarmte ihn flüchtig und sah dann auf die beiden Beamten, die ebenfalls aufgestanden waren. Der Senator ließ sich auch von Sigrid umarmen und begrüßte seine Schwiegersöhne mit einem kurzen Kopfnicken. Dann nannte er den Beamten die Namen. »Höchste Zeit, daß du wenigstens den Bohemien-Bart abgelegt hast, Hans-Paul«, sagte er, als sie sich setzten. »Wenn du noch ein paar Bohemien-Angewohnheiten ablegen würdest …« Er haßte offene Hemdkrägen, Lumberjacks und Kordhosen, und vor allem haßte er für einen Mann eine Tätigkeit, die sich, anstelle von klaren Zahlen, von Farbnuancen auf graphischen Entwürfen ablesen ließ. »Quäle ihn doch nicht immer mit deinen Vorwürfen, Papa«, 74
sagte Sigrid Bracélles; »wir sollten wenigstens jetzt zusammenhalten.« Richard Roberts Schnauben brachte deutlich zum Ausdruck, wie wenig er sich davon versprach, zusammenzuhalten, und wie genau er wußte, wie seine Kinder Sandra Roberts gegenüber standen. Er ließ wenig Verbindlichkeit erkennen, als er sagte: »Ihr müßt wissen: Eure Mutter verschwand am Strand von Long Island spurlos vom Erdboden. Man fand sie drei Monate später ertrunken in der Hudsonmündung. Eure Stiefmutter verschwand ebenso mit dem Abdruck ihres linken Fußes gestern nacht am Strand der Nordsee. Bisher ist sie noch nicht aufgefunden worden. Ich will nach Möglichkeit vermeiden, drei Monate über ihr Schicksal im Ungewissen zu bleiben. Die Polizei hat keinerlei Anhaltspunkte. Beantwortet deshalb die Fragen, die Hauptkommissar Ketterle stellen wird. Ich möchte betonen, daß der Kommissar in einer Unterredung von fünfundvierzig Minuten mein volles Vertrauen in jeder Hinsicht erworben hat.« Er wehrte mit einer Handbewegung ab, was die jungen Leute, alle auf einmal, sagen wollten. »Fragen Sie«, sagte er zu Ketterle und lehnte sich, die Fingerspitzen aneinanderlegend, breit in seinen Schreibtischsessel zurück. »Es ist wahrscheinlich nicht viel, was ich von Ihnen erfahren kann« – der Kommissar wendete sich an Dr. Brabender –, »aber kannten Sie alle die näheren Umstände der Vorgänge damals auf Long Island?« »Ja«, sagte Reimar. »Alle.« Er war blaß und zerrte nervös eine Zigarette aus der Packung. »Ausnahmsweise, Papa«, sagte er entschuldigend und setzte sie in Brand. »Das ist schrecklich, Herr Kommissar, und ich muß gestehen, auch unheimlich. Wer kann im Spiel sein, der es darauf 75
abgesehen hat, Papa um seine Frauen zu bringen?« »Nun«, sagte Ketterle, »Ihre Schwiegermutter war zu der Zeit, als sie starb, nicht mehr die Frau des Herrn Senators. Das ist ein wichtiger Punkt und vielleicht der Schlüssel des Geheimnisses – wenn es überhaupt eins ist.« »Glauben Sie etwa an Zufall?« Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle sah auf seine Knie. Dann blickte er, ohne zu antworten, dem Arzt ins Gesicht. »Wann haben Sie sie zum letztenmal gesehen?« Zwar hatte der Kommissar die Betonung auf das erste ›Sie‹ gelegt, aber das Zusammenfahren des Arztes bei seiner direkten Frage war ihm nicht entgangen. Dr. Brabender sah seine Frau an. »Ich glaube, am Freitag vor vierzehn Tagen, auf dem Herbstball des Alster-Clubs.« »Sie auch, gnädige Frau?« »Ja«, sagte Erika; »wir sehen sie selten.« »Und Sie?« fragte Ketterle Hans-Paul und Sigrid. »Sie verabscheuen Sandra«, rief der Senator vom Schreibtisch herüber. »Habt ihr sie überhaupt schon mal gesehen?« »Papa!« sagte Sigrid. »Du bist ungerecht.« »Beruht das auf Gegenseitigkeit?« Ketterle beugte sich etwas nach vorn. »N-nein, nicht unbedingt«, sagte Roberts knurrend. »Für Hans-Paul hat sie was übrig. Sie ist eben extravagant.« Der Kommissar sah in Hans-Paul Bracélles’ abgespanntes, bleiches Gesicht. »So«, sagte er dann. »Kannte einer von Ihnen das Reiseziel von Frau Roberts?« Keiner kannte es. »Kennt einer von Ihnen eine Pension am Wattenmeer namens ›Clifton‹?« »Moment mal!« Dr. Brabender räusperte sich. »Ist es dort geschehen?« 76
»Ja«, sagte Ketterle. »Kennen Sie die Pension?« »Ich habe davon gehört. Friesische Bauernromantik mit Strohdach und Fließwasser, ist es nicht das?« »Doch«, sagte Ketterle; »wann haben Sie wohl davon gehört? Können Sie sich daran erinnern?« Reimar Brabender dachte nach und drückte währenddessen, halb vom Stuhl erhoben, seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Es kann sein, daß sie mir am Klubball davon erzählt hat, aber genau kann ich es Ihnen nicht mehr sagen.« »Es wäre aber wichtig, Herr Doktor«, bestand Ketterle auf seine Frage. »Es wäre sehr wichtig, zu wissen, ob Frau Roberts ihren Plan wirklich geheimhalten wollte. Wenn wir das genau wüßten, wüßten wir schon etwas. War es bestimmt auf dem Klubball?« »Es wäre eine ganz unbedeutende Kleinigkeit gewesen«, murmelte Reimar Brabender, »wenn jetzt nicht das gekommen wäre. Es ist furchtbar schwer, sich an Kleinigkeiten zu erinnern, die später eine Bedeutung erlangen. Es kann auch früher gewesen sein. Es kann auch – habt ihr nicht einen Prospekt von dieser Pension gehabt, Papa …?« Der Senator nickte: »Ganz richtig.« »… sehen Sie, es kann auch hier gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr.« »Aber nach dem Klubball nicht? Auf keinen Fall?« »Auf keinen Fall.« Kommissar Ketterle saß noch immer etwas nach vorn gerückt auf seinem Sessel. »Sagen Sie, Herr Dr. Brabender, Sie sind doch Oberarzt am Sankt-Gregor-Hospital, nicht wahr?« »Gewiß. Aber was hat das …?« »Nichts, da haben Sie recht. Ich las kürzlich in einem Wartezimmer einen Ihrer Aufsätze.« Hans-Paul Bracélles räusperte sich. »Können Sie sich eigentlich erklären, Herr Kommissar …?« 77
Ketterle unterbrach ihn. »Ich muß Ihnen gestehen, daß wir uns vorläufig nichts erklären können. Überhaupt nichts. Es gibt auch keine Fragen, die wir uns nicht schon gestellt hätten. Wir sind nahezu am Ende mit unserem Latein. Nur eine Frage noch. Hat jemand von Ihnen jemals Frau Roberts Wagen gefahren?« »Ja«, sagte Reimar. »Ich.« »Wann zum letztenmal?« »Auch am Tage des Klubballs. Ich fuhr Sandra nach Hause, weil – weil …« »Sie war betrunken, Herr Hauptkommissar«, murmelte Richard Roberts. »Ich sagte Ihnen schon, Sandra ist extravagant.« »Ist – ich meine …« Ketterle war verwirrt und sah von einem zum anderen. »Kam das öfter vor?« »Um die Wahrheit zu sagen, Herr Kommissar«, sagte der Senator, »ich habe sie in sechs Jahren nie etwas anderes trinken sehen als Orangensaft, Ginger Ale und gelegentlich, wenn es gar nicht anders ging, mal einen Flip. Haben Sie noch weitere Fragen?« »Noch eine letzte«, sagte der Kommissar und erhob sich. »Benötigten Sie gestern Novottny, Herr Senator?« »Während der Nacht?« »Nein. Irgendwann zwischen – sagen wir: Samstag abend und Sonntag abend – oder Montag früh?« »Ich wollte gestern vormittag zum Training der Pferde nach Flottbek fahren. Ich tat es aber dann doch nicht, weil ich mich nicht ganz wohl fühlte.« »Wo war Novottny während dieser Zeit?« »Wahrscheinlich zu Hause. Ich rief ihn noch mal gegen halb zehn Uhr abends an, daß ich ihn am Sonntag doch nicht brauchte. Er fragte, ob er dann nachmittags ins Kino gehen könne. – Noch etwas?« »Danke«, sagte der Kommissar und knöpfte etwas verlegen seine Jacke zu. »Haben Sie Bedenken wegen Ihrer eigenen 78
Person? Ich meine – ich könnte natürlich einen oder zwei Beamte …« Er verstummte, als er Senator Roberts ansah. »Ich weiß mir selbst zu helfen«, sagte der Senator. »Verständigen Sie mich, wenn irgend etwas eintritt. Ich bin natürlich besorgt. Nach allen Ihren Fragen …« – Und dennoch hatte Senator Richard Roberts den Eindruck gewonnen, daß keine von ihnen überflüssig war. In der Halle kam den beiden Beamten das Faktotum entgegen. Es war jetzt etwas aufgeschlossener. »Ist das nicht entsetzlich«, jammerte es, als die Beamten ihre Mäntel anzogen. »Eine so junge Frau und so schön und elegant.« Sie reichte ihnen die Hüte. »Novottny sagt auch, so was ist wirklich entsetzlich.« »Wann haben Sie mit ihm darüber gesprochen, Frau Mathilde?« »Vorhin. Bevor er hineingerufen wurde«, sagte das Faktotum betreten. Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle hielt den Hut eine Sekunde halb erhoben, bevor er ihn aufsetzte. »So«, sagte er; »ich glaube, Sie haben uns den bisher größten Dienst in dieser Sache geleistet.« Der Kommissar nahm Hornschuh mit in Papa Heinrichsens Kneipe zum Mittagessen. Es war wahrscheinlich das einzige Lokal in Europa, in dem man noch zu einsachtzig ein Menü mit Kartoffelsuppe und Frikadellen auf Meerrettich bekam. Ketterle bevorzugte es wegen seiner dämmerigen Gemütlichkeit, und im Winter, wenn sein Zimmer bei Frau Stolz kalt und ungemütlich war, verbrachte er hier die meisten seiner Abende. »Na, Papa, was Neues?« fragte er, als sie die drei Stufen hinabstiegen und den Filzvorhang beiseite schoben. Papa Heinrichsen wischte mit aufgerollten Hemdsärmeln die 79
Thekenplatte ab. »Tach, die Herren«, sagte er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Mischt, Herr Kommissar. Zweimal Frikadellen?« Es roch etwas nach Bier und kaltem Rauch. »Ja«, sagte Ketterle und zog seinen Mantel aus. Hornschuh half ihm dabei. Sie nahmen den Tisch in der Ecke, und der Kommissar wühlte eine Zigarre aus seiner Brusttasche. Als sie brannte, sah er Hornschuh an. »Zäh wie Fischsuppe«, sagte Hornschuh. »Ich bin gespannt, ob wir in dieser Sache noch jemals einen Schritt weiterkommen?« »Wir sind schon einen Schritt weiter, Hornschuh, und wenn Röppke geschickt ist, sogar einen großen.« Er zog an seiner Zigarre, steckte eine Hand in die Tasche des Jacketts, lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Papa Heinrichsen schob zwei Gläser Bier auf den Tisch. »Es ist Ihnen doch recht?« »Durchaus«, sagte Ketterle. »Sehen Sie, Hornschuh, von allen diesen Leuten haben nur zwei nicht gelogen. Warum?« »Welche zwei meinen Sie?« Der Kommissar deutete mit der Hand, in der er seine Zigarre hielt, auf Hornschuhs Brust. »Ihr Faktotum und Senator Richard Roberts. Eindrucksvolle Persönlichkeit, hm?« »Wie kommen Sie eigentlich darauf?« Der Kommissar zog die Hand aus der Rocktasche und legte ein Stück Papier auf den Tisch, das er sorgfältig glattstrich. Hornschuh beugte sich vor. »Was ist denn das?« »Vier, Strich sieben«, sagte Ketterle. »Röppke ist ein lebendiges Register, das wissen Sie doch.« Hornschuh sah den Kommissar an. »Na, Hornschuh, Gegenstand Nummer vier aus Untersu80
chungsobjekt sieben. Nummer sieben ist Sandra Roberts Handtasche aus Krokodilleder, und Gegenstand Nummer vier ist ein Passierschein, wie ihn die Krankenhäuser nach neun Uhr abends ausstellen, wenn ein Besucher kommt. Dieser Passierschein stammt vom vergangenen Freitag. Sein Eintrag lautet: Frau Roberts zu Oberarzt Dr. Brabender.« Kommissar Hornschuh war starr. »Zum Donnerwetter«, sagte er dann, »wir hätten ihn gleich mitnehmen sollen!« Der Kommissar lächelte milde und räumte die Tischplatte für die Suppenteller, die Papa Heinrichsen duftend und schwappend vor sie hinstellte. »Nicht alles ist gleich Verbrechen, was so aussieht, Hornschuh. Sie haben doch gemerkt, wie empfindlich Roberts in allem ist, was seine Frau betrifft. Was wissen wir, was Sandra Roberts von Brabender wollte! Vielleicht hat sie einen Kummer, vielleicht ist sie krank. Die Ärzte sind Vertrauenspersonen. Vielleicht hatte Brabender einen wohlerwogenen Grund, uns diesen Besuch vor seinem Schwiegervater zu verheimlichen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denken Sie andererseits einmal daran, daß in diesem Fall jeder einem Verdacht ausgesetzt ist, der an Sandra Roberts Tod Interesse haben kann. Es kann vielerlei Interessen geben, aber das finanzielle Interesse der vier jungen Leute liegt doch auf der Hand.« Sie begannen ihre Suppe zu löffeln. »Wir müssen aber nach jemandem suchen, der damals, vor fünf Jahren, auf Long Island seine Hand auch schon im Spiel gehabt hat. Die Verflossene ist ertrunken, unter den gleichen mysteriösen Begleitumständen. Das gibt doch zu denken; zum Teufel, wenn man es sich richtig überlegt, ist es geradezu Irrsinn. Ob sie noch lebt?« »Hornschuh«, sagte Ketterle, »ich verstehe, was Sie meinen. Aber überlegen Sie doch mal! Erstens war sie in des Senators Testament nicht genannt, und zweitens: welche Forderungen 81
könnte jemand erheben, der offiziell für tot gilt und außerdem noch durch Mord Ansprüche zu realisieren versucht, die er gar nicht hat? Nein, nein, selbst wenn man eine solche Mystifikation für möglich hielte, fehlt jedes, auch das geringste Motiv. Das ist ganz einfach ein Fehlschluß.« »Es war nur so ein Gedanke«, sagte Hornschuh. Der Kommissar wischte sich die Lippen ab. »Was immer in diesem Fall noch geschehen mag, ich werde mich nicht davon abbringen lassen, daß es mit rechten Dingen zugeht. Es gibt für alles eine reale Erklärung. Fragt sich nur, was für eine.« »Es würde mich gar nicht wundern, wenn wir sie auch ertrunken auffinden würden«, murmelte Hornschuh. »Vielleicht in der Elbemündung. Nach drei Monaten.« Als sie zu Ende gegessen hatten, besprachen sie noch einige Einzelheiten und fanden sogar Zeit, ihre Ansichten über die seltsame Fischvergiftung in Fuhlsbüttel auszutauschen, die bisher drei Todesopfer gefordert hatte. Einen Großhändler hatte man festgenommen. Gegen zwei fuhren sie zurück ins Präsidium, und der Kommissar nahm Hornschuh gleich mit in sein Zimmer. Der Poststoß auf seinem Schreibtisch war gewachsen. Als erstes rief Ketterle Röppke an. »Sehen Sie doch mal mit mir Ihre Listen durch, Röppke«, sagte Ketterle, als der Kollege das Zimmer betrat. Sie saßen zu dritt um Ketterles Schreibtisch, auf dem, zwischen beiseite geschobenen Ordnern, Akten und Schriftstükken, der Bericht aus dem ›Clifton‹ und die Fotos dazu lagen. »Ich möchte gerne wissen, ob der Finger der dritten Person auf irgendeinem Gegenstand zu finden ist, der zum ›Clifton‹ gehört«, sagte der Kommissar und stieß eine dichte blaue Rauchwolke über die Schreibtischplatte. Sie verglichen Listen, hakten Ziffern ab, hielten Fotos ins Licht. »Hier«, sagte Röppke schließlich, »11/VI.« 82
Er verglich die Liste der Abdrücke mit der Liste der Gegenstände. »Die dritte Person hatte auf jeden Fall das Zahnputzglas in der Hand.« Der Beamte suchte zwischen den Fotos. »Aufnahme vier, halb total, gehört dazu. Hier!« Ketterle hatte sich zurückgelehnt und betrachtete die Aufnahme vom Waschtisch in Nummer drei, auf dem neben Sandra Roberts Wasch- und Toilettensachen ein unschuldiges Wasserglas zu sehen war. »Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger sind deutlich festzustellen«, brummte Röppke und suchte die Reproduktionen aus dem Stoß der Fingerabdruckfotos. »Wir müssen uns also auf den Gedanken einstellen, daß die dritte Person innerhalb des Zeitraums zwischen dem letzten Säubern des Zahnputzglases und der Aufnahme in Nummer drei gewesen ist und dort entweder Wasser getrunken oder sich die Zähne geputzt hat, nicht wahr?« Ketterle ließ die Aufnahme zwischen zwei Fingern wippen. »Wir kommen dieser Sache nur näher, Röppke, wenn wir einen ungewöhnlichen Weg einschlagen. Er ist zwar verboten, aber Sie werden sich ja nicht von der Polizei erwischen lassen.« Röppke lachte breit und behaglich. Er hatte sich noch nie von der Polizei erwischen lassen. »Wir müssen irgendwie zu Originalabdrücken von Hans-Paul Bracélles und dem Herrn Oberarzt der Internistischen Abteilung im Sankt-Gregor-Hospital kommen. Jemand muß es an den Türklinken, Briefkästen, Wagentüren, Rückblickspiegeln und so versuchen.« Röppke nickte. »Das wird sich machen lassen. Wir haben schon Erfolge damit gehabt.« Er dachte nach. »Am besten wäre Gaffke, Ketterle. Er ist bei der KTV ausge83
bildet; er kann mit solchen Sachen umgehen, und er sieht vor allem so himmelschreiend blöd aus, daß ihn niemand für voll nimmt.« »Stimmt«, sagte Ketterle. »Eine glänzende Idee.« Er griff nach dem Telefon und wählte. »Gaffke«, sagte er, als der Beamte sich meldete, »geben Sie alles, was Sie heute nachmittag vorhaben, ab an jemand anderen, und kommen Sie sofort zu mir.« Schon nach wenigen Minuten schob Gaffke seine vorgequollenen, wasserblauen Augen durch den Türspalt. »Gaffke«, sagte Ketterle, »Sie können doch mit Graphit umgehen?« Gaffke nickte traurig. »Gut. Hier sind zwei Adressen. Lassen Sie sich vom Ordnungsamt die Typen und Kennzeichen der Wagen dazu durchgeben. Wir brauchen Fingerabdrücke.« »Nehmen Sie aber nur an solchen Stellen ab«, schaltete sich Röppke ein, »die die betreffenden Personen möglichst selbst anfassen, also, an die möglichst wenig andere Leute herankommen. Die Klingelknöpfe sind zum Beispiel ungeeignet, die Türschloßplatten geeignet.« Gaffke nickte. »Wenn Sie uns auch nur einen einzigen Abdruck von diesem Finger hier bringen« – Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle zeigte auf das Foto des Zeigefingers der dritten Person – »gebe ich Ihnen drei Tage frei. Ich denke, es wird Ihnen etwas einfallen.« Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß Gaffke jemals irgend etwas einfallen könnte, als er mit hängenden Schultern und vorgerecktem Adamsapfel zur Tür ging. Aber statt dessen fiel dem Kommissar noch etwas ein. »Ach, Gaffke«, sagte er und stand auf. »Einen Moment noch …« Er begann einige Male im Zimmer hin und her zu gehen. »Es kann natürlich Zufall sein, Hornschuh, oder vielleicht 84
hatte er wirklich ölige Finger – vielleicht hat er aber auch drekkige. Es wäre ein starkes Stück. Verdammt, es wäre ein starkes Stück …« Er wühlte in seinen Rocktaschen und brachte den Zettel hervor, auf den Novottny Adresse und Telefonnummer notiert hatte. »Es wäre ein verdammt starkes Stück«, wiederholte er, »aber nehmen Sie dort auch ab. Er ist jetzt bestimmt noch in der Rathenaustraße. In seinem Haus werden Sie ungestört sein.« Gaffke nahm den dritten Zettel ebenso schweigend in Empfang wie die anderen und verließ das Zimmer. Aber dann öffnete er die Tür noch einmal. »Bis wann brauchen Sie die Sachen? Genügt Mittwoch?« Ketterle sah auf die Uhr. »Bis halb vier, Gaffke«, sagte er trocken. »Jetzt ist es zwei. Sie können sich auf Amtskosten ein Taxi nehmen.« Er bat Röppke, ihn sofort zu verständigen, wenn Gaffke ein Resultat brachte. »Ich lasse jeden Satz Abdrücke sofort hierher schicken. Ich gebe ihm noch einen Mann mit. Er wird bei dem Chauffeur anfangen«, organisierte Röppke. Es war sein Fach. Darin war er Meister. Damit hatte er Erfolge. Er vergötterte die Systematik, Ketterle vergötterte die Intuition. Beiden gemeinsam war ein Verbrechen selten gewachsen. »Hornschuh«, sagte der Kommissar, als Röppke gegangen war, »halten Sie sich bereit; wir fahren gegen sechs, halb sieben noch einmal ins ›Clifton‹ hinaus. Ich muß die Sache mit dem Telefonanruf klären und den Leuten noch ein paar Fragen stellen. Rufen Sie Wachtmeister Riecks an, daß er auch hinkommen soll. Er soll aber nichts sagen dort. In der Zwischenzeit setzen Sie ein Kabel ab an die Polizeibehörde von Weekers auf Long Island: Wir lassen um die Übersendung der gesamten Aktenunterlagen im Fall … hahaha … wissen Sie eigentlich, wie die Dame hieß? Na, bringen Sie es heraus. Vielleicht nann85
te Sie sich auch dort noch Mrs. Roberts. Als drittes bereiten Sie Recherchen vor über alles, was aus der Vergangenheit von Bracélles, Brabender, Novottny, Roberts und vor allem Sandra Roberts selbst zu erfahren ist. Meldeämter, Paßbehörden, Polizeibehörden, Gesundheitsbehörden, Fürsorgebehörden, Sie wissen schon. Machen Sie sich einen Aktionsplan. Sie können das ja.« Nachdem Ketterle Hornschuh auf diese Weise beschäftigt hatte, begann er endlich, seine Post zu lesen und seine Diktate zu unterschreiben: Materialanforderungen, Vernehmungsprotokolle, Urlaubsgesuche, anonyme Anzeigen, Abgabeverfügungen, Aktennotizen. Auch eine Sache aus dem Fall Roberts war dabei. In trockenem Amtsdeutsch wurde Herr Dr. Wilhelm Lütjens in Bremen-Vegesack davon unterrichtet, daß anläßlich einer im Interesse der öffentlichen Sicherheit erfolgten polizeilichen Maßnahme Leistungen in Anspruch genommen wurden … Schaden nicht eingetreten … Wiederherstellung erfolgt … Einspruch binnen einer Woche, und so weiter. Unterschrift: Siebeck, Kriminaloberrat, Leitender Direktor der Kriminalpolizei der Hansestadt Hamburg. Das Schreiben war in der Ichform abgefaßt, die Briefen höherer Behörden eigen ist und die ihnen jenen Ton selbstgefälliger Arroganz verleiht, der um so lächerlicher wirkt, als der Unterzeichnete das Schreiben meist nicht einmal selbst verfaßt. Ein Rest Gottesgnadentum, dachte Ketterle, als er es bescheiden abzeichnete; wenn das so weitergeht, kann ich bald den Pluralis majestatis verwenden. Im übrigen war er fast sicher, daß Dr. Lütjens aus BremenVegesack binnen einer Woche Widerspruch einlegen würde. Und zwar in den Abendstunden des letzten Tages der Frist. Er kannte diese Art von Querulanten.
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Sie beugten sich im Labor gemeinsam über die Platten, auf denen sich langsam die Labyrinthe der Linien abzeichneten, die Gaffke von den Mülltonnen Novottnys, vom Rand seines Briefkastenschlitzes, vom Türknauf und von der Schloßplatte abgenommen hatte. Sie vertieften sich in die Fingerspuren von Müllfahrern, Postboten, Gasmännern, Freunden, Freundinnen und legten ein Blatt nach dem anderen, nachdem sie es verglichen hatten, beiseite. Bis plötzlich eines ähnliche Schwünge, Kurven, Knicke und Wölbungen zeigte. Mit der ganzen Raffinesse jahrelanger Erfahrung verglichen Röppke und sein Assistent, maßen, verglichen wieder. Dann hob Röppke den Kopf. »Die dritte Person, Ketterle. Ich bin absolut sicher. Sehen Sie hier …« Zwar war der Abdruck an vielen Stellen verwischt, unterbrochen, verschoben. Aber er glich in den Einzelheiten genau denen, die nach Bezeichnung Röppkes von der ›dritten Person‹ stammten. Und sie fanden bessere. Sie fanden so gute, daß Ketterle sich zurücklehnte und murmelte: »Das ist wirklich einer der verrücktesten Fälle, die mir je untergekommen sind.« Er dachte daran, daß er vielleicht immer noch einer Schimäre nachjagte, daß es immer noch möglich war, daß Sandra Roberts morgen auftauchte und sich totlachte, wie ihr Mann sich ausgedrückt hatte, denn sie war ja ›extravagant‹. Aber da war vor fünf Jahren am Strand von Long Island eine andere Frau verschwunden. Und sie war nicht wieder aufgetaucht und hatte sich nicht totgelacht. Sie war ertrunken. Und er durfte sich von dieser Duplizität der Fälle nicht verwirren lassen. Aus dreißig Jahren Erfahrung wußte er, wieviel der Schein wert war und wie weit er sich manchmal von den Tatsachen entfernte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Spuren nachzugehen, die er hatte. Langsam und nachdenklich stieg er die Steintreppe hinunter 87
in den zweiten Stock und betrat sein Zimmer. Dann rief er bei Roberts an. Das Faktotum meldete sich. »Können Sie auch zur Garage durchstecken?« »Aber gewiß, Herr Kommissar.« »Ist Novottny dort?« »Ich glaube schon.« Ketterle wartete. »Garage«, sagte Novottny. »Ketterle«, sagte der Kommissar. »Wir haben uns heute morgen kennengelernt.« »Ja?« sagte Novottny. »Kann ich Sie noch einmal sprechen?« »Worum handelt es sich denn?« »Na ja, Sie wissen schon. Es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen lieber ohne den Herrn Senator stellen würde. Haben Sie Zeit?« »Wollen Sie hierherkommen?« »Offen gestanden: Es wäre mir woanders lieber.« Novottny schwieg ein paar Sekunden. »Sie können zu mir kommen. Der Herr Senator brauchen mich heute nicht mehr. Ich poliere nur den Cadillac. Das kann ich auch abends tun. Meine Adresse haben Sie ja?« »Ja, Herr Novottny. In einer halben Stunde?« »Gut. In einer halben Stunde.« Der Kommissar legte auf und ließ die Hand eine ganze Weile auf dem Hörer liegen. Dann begann er einen Spaziergang in seinem Zimmer und legte sich seine phantastische Idee noch einmal zurecht. Wenn sie stimmte, war er einen großen Schritt weiter. Dann könnte er in einer halben Stunde im Besitz des Schlüssels zu diesem Fall sein. Zum erstenmal in seiner langen Laufbahn als Beamter bemächtigte sich seiner ein persönlicher Ehrgeiz.
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Er nahm ein Taxi. Novottny wohnte in einem ausgebauten Dachgeschoß. Es war ein Altbau, der in Richtung Groß-Borstel lag. Der Kommissar stieg ausgetretene Treppen hinauf. Es roch muffig und nach Katzen. Aber die Tür zur Wohnung war modern lackiert und trug ein Schild mit der Aufschrift ›Christoph Novottny‹. Der Chauffeur öffnete ihm. Er trug jetzt eine Duvetinejacke mit Strickärmeln und Strickbündchen. Der offene Kragen eines weißen Hemdes war herausgeschlagen. Er sah sehr gut aus, und der Verdacht des Kommissars verstärkte sich. Er war gespannt wie jedesmal, wenn er, durch die Gitterstäbe der Fakten und Tatsachen hindurch, im Begriff war, auf die menschlichen Seiten eines Falles zu stoßen. Der Chauffeur hatte sich offensichtlich für seinen Besuch gewaschen und umgezogen. »Hübsch haben Sie es hier.« Der Flur war schmal, aber freundlich tapeziert. Links ging es in eine winzige Küche, daneben war ein ebenso winziges Duschbad mit Toilette. Das größere Zimmer am Ende des Flurs lag hoch über den Dächern der anderen Häuser und ging nach Norden. Es gab eine breite Schlafcouch, einen flachen Tisch, einen Sessel mit Leselampe und ein modernes Anbaumöbel, halb Kommode, halb Büfett. Neben einer Schale mit nachgemachtem Obst stand eine Fotografie Christoph Novottnys in der Uniform eines Feldwebels der Division ›Großdeutschland‹. An den Wänden hingen klischierte Drucke mit Ansichten schlesischer Städte. Brieg, Öls, Schweidnitz, Hirschberg. »Schlesier?« »Nehmen Sie Platz«, sagte Novottny. »Ja, aus Schweidnitz. Einen Vermouth?« Ketterle dankte und setzte sich in den Sessel. Der Chauffeur bot ihm eine Zigarette an. Der Kommissar dankte wieder und sah zu, wie Novottny seine anzündete. Dann setzte sich der Mann auf seine Couch mit dem rostroten 89
Überzug und sah seinen Gast offen an. Der Kommissar wußte nicht recht, wo er beginnen sollte. Novottny nahm ihm diese Sorge ab. »Was ist eigentlich wirklich geschehen? Der Herr Senator sagte mir, daß Sie Kommissar sind. Von der Mordkommission.« Der Herr Senator haben da nicht eben klug gehandelt, dachte Ketterle. Aber das konnten der Herr Senator schließlich nicht wissen. »Ich wäre glücklich, wenn ich schon wüßte, was eigentlich wirklich geschehen ist. Kennen Sie das Wattenmeer?« »Ja, etwas«, sagte der Chauffeur. »Der Herr Senator sind jeden Winter zehn Tage in Sankt Peter-Ording. Ich war zweimal mit den Herrschaften dort und habe auch lange Spaziergänge mit Herrn Senator gemacht. Die gnädige Frau ist zu grazil für das rauhe Wetter. Sie liest lieber am Kamin, als lange Spaziergänge im Sturm zu machen.« »Geht sie überhaupt nicht gerne spazieren? Ich meine, ist sie eine verzärtelte Frau, eine Luxusfrau, so eine Frau, wissen Sie, die sich am liebsten auf Händen tragen läßt?« »Das kann man eigentlich nicht sagen«, murmelte der Chauffeur; »bei gutem trockenem und vor allem windstillem Wetter begleitet sie den Herrn Senator überallhin. Es macht ihr großen Eindruck, daß er in seinem Alter so rüstig ist. Man sieht ihm die zweiundsiebzig überhaupt nicht an, finden Sie nicht?« Der Kommissar bestätigte den Eindruck des Chauffeurs. »Tja, was ist geschehen?« sagte er dann. »Frau Roberts ist vom Erdboden verschwunden. Buchstäblich spurlos. Ich hätte nie im Ernst daran gedacht, daß es das gibt. Liebt sie die Landschaft oben an der Küste? Ich meine, war sie gern in Sankt Peter-Ording, oder fuhr sie nur Herrn Senator zu Gefallen mit? Ist sie ein Mensch, der Einsamkeit liebt, oder braucht sie Gesellschaft?« »Oben in Sankt Peter hat sie beides. Die gnädige Frau ist eine 90
außergewöhnlich schöne Dame. Natürlich läßt sie sich gerne bewundern. Sie waren oft im Kurhaus, auch zu Tanztees, und abends, und so.« »Können Sie sich vorstellen, daß es ihrem Wesen entspricht, alleine in eine sehr einsame und melancholische Gegend zu fahren, ohne Tanztees, Kurhaus und so etwas?« Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Woher soll ich das wissen? Sie wird schon ihren Grund gehabt haben. Die gnädige Frau ist extravagant. Aber sprunghaft ist sie eigentlich nicht. Sie nimmt auch an den Geschäften des Herrn Senators großen Anteil.« Es fiel Ketterle auf, daß sich Novottny schon die zweite Zigarette anzündete, seitdem er bei ihm war. »Sie rauchen ziemlich viel«, sagte er und betrachtete das Feuerzeug, das Novottny an die Zigarette hielt. Es war ein hübsches, schmales Feuerzeug, mit tiefbraunem Krokodilleder überzogen. »Ein nettes Feuerzeug«, sagte Ketterle. Novottny ließ es zuschnappen und betrachtete es mit gewissem Stolz. »Ein Geschenk der gnädigen Frau. Sie ließ vor vierzehn Tagen in einem Hotel in Lüneburg ihre Handtasche liegen und merkte es erst, als wir in der Rathenaustraße ankamen. Ich fuhr sofort zurück und verhalf ihr wieder zu ihrer Tasche. Als Anerkennung schenkte sie mir das Feuerzeug.« »Waren Sie mit dem Karmann Ghia mit ihr in Lüneburg?« »Ich war gar nicht mit ihr in Lüneburg, sondern mit beiden Herrschaften. Der Herr Senator hatten mit den Lüneburger Stadtwerken eine geschäftliche Besprechung. Ich begleitete die gnädige Frau ins Museum. Wir waren mit dem Cadillac.« Der Kommissar schwieg eine Weile und betrachtete den Rand seines Hutes, den er auf den Knien liegen hatte. »Sie waren selbst nie in der Pension ›Clifton‹ oben bei Cux91
haven, wo diese merkwürdige Geschichte passiert ist?« fragte er dann. »Nein, nie.« Ketterle legte den Hut neben seinen Sessel auf den Boden, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wirklich nicht?« »Nein. Wirklich nicht. Was sollte ich für einen Grund haben, es zu verschweigen?« »Ja, das stimmt«, sagte der Kommissar; »sagen Sie, ist die gnädige Frau verschlossen, in sich zurückgezogen, schweigsam oder offenherzig, vertrauensselig, aussprachebedürftig?« Ketterle blieb stehen und sah auf den Chauffeur herunter. In diesem Augenblick rasselte der Wecker auf dem Wandbord über der Couch. Er zeigte halb fünf. Novottny griff hinter sich nach oben und stoppte die Glocke. »Stehen Sie um diese Zeit auf? Ein schwerer Beruf«, sagte der Kommissar. »Ja, was für einen Eindruck haben Sie in dieser Richtung von der gnädigen Frau?« »Ich habe schon lange Fahrten mit der gnädigen Frau gemacht. Vor allem im vorigen Mai nach Montecatini, wo der Herr Senator zur Kur waren. Die gnädige Frau unterhält sich sehr gerne. Sie hat auch nichts Arrogantes oder Überhebliches dem Personal gegenüber. Sie versteht es, einem die Illusion zu lassen, gleichberechtigt zu sein.« »Soso«, murmelte der Kommissar und nahm seine Wanderung wieder auf. »Warum stellen Sie alle diese Fragen eigentlich mir?« Ketterle blieb stehen. »Wem soll ich sie sonst stellen, Herr Novottny?« »Dem Herrn Senator.« »Ich habe nicht den Eindruck, daß der Herr Senator auf seine Frau besonders feinfühlig eingeht, Herr Novottny. Ich kann mir nicht helfen: Ich glaube nicht, daß die Ehe sehr lebendig ist.« »Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben«, sagte Novottny. 92
»Sie meinen es also auch?« Der Chauffeur zuckte die Achseln. »Und die jungen Herrschaften? Sie werden die Spannungen, die ich nur ahne, wahrscheinlich genau kennen. Die gnädige Frau hat es schwer, Herr Novottny. Einen imponierenden, aber stahlharten Mann zu heiraten, Stiefkinder zu haben, die kaum jünger sind als sie selbst und die ihr aus internen, aber sehr verständlichen Gründen ablehnend gegenüberstehen, wenig Freunde oder höchstens die versnobte Geldclique im AlsterClub? Wen sollte es wundernehmen, wenn sie manchmal das Bedürfnis hätte, sich jemandem anzuvertrauen? Sehen Sie, deswegen frage ich Sie, Herr Novottny.« »Und Sie meinen, daß sich die gnädige Frau mir anvertraut?« Novottny lachte. »Ja.« Der Kommissar lachte nicht. »Daß sie mir vielleicht den Grund gesagt hat, weswegen sie hinauf an die Küste gefahren ist?« »Ja.« Ketterle stand, beide Hände in den Taschen seiner Hose, den schweren Mantel zurückgeschoben, vor dem Mann und sah zu, wie er sich die dritte Zigarette anzündete. »Ich kann Ihnen da aber leider nicht helfen. Persönliches hat die gnädige Frau mit mir noch nie besprochen. Ich bin schließlich nur der Chauffeur.« Der Kommissar setzte sich wieder, blieb aber vorgerückt und legte die Kuppen seiner massiven Finger zwischen den Knien aneinander. »Herr Novottny«, sagte er freundschaftlich, aber mit gesenktem Kopf, »ich muß Ihnen eine Frage stellen, die Sie mir übelnehmen werden: War sie schwanger?« Der Chauffeur ließ die Hand mit der Zigarette sinken. »Herr Kommissar«, sagte er, »wieso sagen Sie: War …?« Ketterle hob den Kopf. 93
»Sagte ich ›war‹? Ich habe mich versprochen. Ist sie schwanger, Herr Novottny? Sie müssen es mir sagen, wenn es so ist. Auch wenn es Ihnen nicht leichtfällt.« Novottny sah zwischen seinen Knien hindurch auf den Fußboden. Er zählte die Karos des Teppichs in seinem Blickfeld. Der Kommissar spürte das. »Ich sagte Ihnen doch schon, daß die gnädige Frau nichts Persönliches mit mir bespricht«, murmelte der Mann. »Was wollte Sie aber dann in der Pension ›Clifton‹ mit Ihnen besprechen?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Novottny streckte die Hand nach dem Aschenbecher, um die Zigarette abzustippen. Aber dann tat er es schon auf halbem Weg. Auf den Teppich. Dem Kommissar entging es nicht. »Doch, Herr Novottny«, sagte er. »Hören Sie, es ist eine scheußliche Situation für Sie. Sie hatten sich mit ihr im ›Clifton‹ verabredet. Dann wollte der Herr Senator, daß Sie ihn am Sonntag nach Flottbek fahren. Sie telegrafieren also ab. Sie fahren gar nicht ins ›Clifton‹. Aber dort verschwindet Frau Roberts spurlos …« »Ich habe mich nicht mit ihr verabredet. Wir haben kein Wort darüber gesprochen. Ich habe auch nicht telegrafiert. Ich war zu der Zeit schon hier in meiner Wohnung. Ihr Verdacht ist …« Ketterle stand zum dritten Male auf. »Ich habe keinen Verdacht, Herr Novottny. Aber wieso sprechen Sie jetzt plötzlich per ›sie‹ von der gnädigen Frau und per ›wir‹ von Ihnen beiden …« »Die Aufregung, verdammt noch mal …« Der Mann stand auch auf. Ihre Gesichter waren nahe beieinander. »… würden Sie an meiner Stelle nicht auch die Fassung verlieren?« »An Ihrer Stelle«, murmelte der Kommissar – »an Ihrer Stelle würde ich die Wahrheit sagen.« 94
Er zog die Hand mit dem Schlüsselbund aus der Hosentasche und ließ ihn schwingen, wie einen Klöppel. Schließlich steckte er ihn wieder ein. »Es dreht sich gar nicht um Sie, Novottny. Setzen Sie sich, kommen Sie, wir wollen in Ruhe sprechen. Es dreht sich gar nicht um Sie. Aber wenn ich herausfinden will, um wen es sich dreht, muß ich wissen, ob sie schwanger war.« »Sie sagen schon wieder ›war‹.« »Ich bin überzeugt, daß Sandra Roberts nicht mehr am Leben ist. Vielleicht erleichtert das Ihnen, meine Frage zu beantworten. Glauben Sie, ich machte diese ganze Untersuchung, wenn ich es für wahrscheinlich hielte, daß sie morgen wieder auftaucht und sich totlacht, wie der Herr Senator sich auszudrükken belieben? Ich bin überzeugt, daß Sie Ihre Geliebte nicht mehr kompromittieren können. Wenn ich mich trotz allem täusche, gebe ich Ihnen mein Wort, daß niemand etwas von allem erfährt. Und jetzt sagen Sie mir, ob meine Vermutung zutrifft. Erwartete sie ein Kind von Ihnen?« Novottny sah auf seine kräftigen gebräunten Hände und drehte sie hin und her. »Gesetzt den Fall, ich sagte Ihnen jetzt: jawohl. Sie haben recht. Die gnädige Frau hat sich hinreißen lassen, ich auch. Folgen waren zu erwarten … Ich bin ein einfacher Mann, Herr Kommissar. Aber die Gefährlichkeit eines solchen Motivs kenne ich auch. Ich würde es Ihnen deshalb auch dann nicht sagen, wenn es so wäre. Sie müssen es selbst herausfinden. Ich verweigere die Aussage.« »Wir haben noch nicht einmal ihre Leiche gefunden, Herr Novottny. Gesetzt den Fall, wir finden sie überhaupt nicht?« »Dann können Sie diesen Verdacht nicht weiter verfolgen.« »Sehen Sie«, murmelte Ketterle: »Finden Sie, daß das für Sie spricht?« Er begann wieder auf und ab zu gehen. »Wenn ich mich an Ihre Stelle versetze, dann würde ich – 95
vorausgesetzt es wäre die Wahrheit – lieber die Schwangerschaft eingestehen und das Motiv in Kauf nehmen, als mich dem Verdacht auszusetzen, etwas vertuschen zu wollen. Nachdem Sie so entschieden dabei bleiben, daß Sie niemals im ›Clifton‹ waren – Sie bleiben doch dabei …?« »Ja. Ich war niemals dort.« »Gut, nachdem Sie also so entschieden dabei bleiben, wird man Ihnen auch nicht nachweisen können, daß Sie jemals dort waren – meinen Sie nicht …?« »Das ist ausgeschlossen, Herr Kommissar.« »Hm, gut. Was würde es Ihnen also schaden, wenn Sie die Schwangerschaft zugeben würden? Sie könnten sogar zugeben, telegrafiert zu haben.« »Ich war doch zu der Zeit der Aufgabe des Telegramms schon in meiner Wohnung, das haben sogar der Herr Senator …« Der Kommissar lehnte sich zufrieden zurück und sprach geduldig zur Zimmerdecke: »Sie sind ein einfacher Mann, Herr Novottny. Sie müssen schwer arbeiten und sind nicht reich. Sie haben von hier aus telegrafiert und das Telegramm auf die Rufnummer Ihres Chefs buchen lassen. Das geht. Die Beamtinnen machen nur in einem Fall von tausend eine Stichprobe. Das ist natürlich ein Betrug. Aber er wird nur auf Antrag verfolgt. Der Herr Senator braucht nichts davon zu erfahren, wenn Sie mir nur die Wahrheit sagen wollen …« »Ich habe nicht telegrafiert. Ich habe auch keine Verabredung mit der gnädigen Frau gehabt …« Die Erregung des Chauffeurs wuchs. »… Ich war auch niemals in diesem … dieser Pension. Was wollen Sie eigentlich von mir? Sie haben mir schon ein Geheimnis herausgepreßt …« »Es ist kein Geheimnis, Novottny. Es liegt auf der Hand. Wenigstens für mich.« »Das muß Ihnen doch genügen, zum Teufel …« 96
»Es genügt mir nicht, Herr Novottny. Es führt mich keinen Schritt weiter. Aber ich kann schließlich auch verstehen, daß Sie schweigen.« Wieder begann Ketterle, im Zimmer auf und ab zu gehen. Am Fenster blieb er stehen. Es begann zu dämmern, und die rußigen Dächerverloren ihre Konturen. Gegenüber trieb der Wind aus einem Schornstein dunklen Rauch in Fetzen die Dachrinnen entlang. »Sie können mir nur noch in einem Punkt weiterhelfen. Die Frage ist indiskret, aber absolut unverfänglich. Sie können, wenn Sie nichts mit der Sache zu tun haben, ihre Bedeutung gar nicht verstehen. Wenn Sie sie wahrheitsgemäß beantworten, können Sie mir helfen und sich selbst auch. Wann pflegte Sandra Roberts sich abzuschminken? Bevor sie sich auskleidete oder danach?« Er drehte sich um. Christoph Novottny sah nur die wuchtige Silhouette vor dem dämmerigen Fenster. Er atmete tief auf. »Es war immer das letzte, was sie tat. Sie tat es im Pyjama.« »Immer?« »Immer.« Die Silhouette kam auf Novottny zu, bückte sich, hob einen Hut auf. »Gut, Herr Novottny. Ich habe es befürchtet. Es konnte nicht anders sein.« Die Tür klickte. Der Chauffeur legte das Gesicht in die Hände, die Ellbogen auf beide Knie gestützt. Schließlich erhob er sich, ging hinaus ins Treppenhaus und starrte aus dem Gaubenfenster dem Kommissar nach, der unten mit hochgeschlagenem Mantelkragen die Straße überquerte. Novottny schloß die Wohnungstür hinter sich, ging zurück in sein Zimmer und öffnete die Schiebetür des Anbaumöbels. Er nahm Sandra Roberts Fotografie heraus und stellte sie wieder auf das Wandbord neben den Wecker. Sie saß auf einer niedrigen Steinmauer, rauchte und sah zwi97
schen langen blonden Haaren heraus aus den Augenwinkeln auf den Mann, der sie anstarrte und sich langsam die Haare am Kopf zurückstrich. Immer wieder. Obwohl sie makellos lagen. Der Kommissar fand ein paar Straßenecken weiter ein freies Taxi und ließ sich direkt zum St.-Gregor-Hospital fahren. Im Ärztezimmer der Internistischen Abteilung sprach er fünfundzwanzig Minuten mit Dr. Reimar Brabender. Gegen Ende der Unterredung bat er den Arzt, ihm ein Taxi zu bestellen. Kurz nach sechs verließ er es am Karl-Muck-Platz, eilte durch die klinkerverkleidete Halle und stieg in den zweiten Stock hinauf. Hornschuh war schon bereit und wartete in Hut und Mantel. »Veranlassen Sie noch rasch, bevor wir fahren, beim zuständigen Postamt für Novottnys Wohnung, daß man uns von allen Telegrammen berichtet, die seit Donnerstag eventuell für ihn eingegangen sind«, sagte Ketterle zu ihm, während er flüchtig nach der eingegangenen Post sah. »Vom ›Clifton‹ aus gibt es noch keinen Selbstwählverkehr«, fuhr er nach ein paar Sekunden fort; »es müßte also auch möglich sein zu überprüfen, ob von dort aus ein Ferngespräch für ihn vermittelt worden ist.« Hornschuh rief zu Gaffke hinüber, gab den Auftrag weiter und zündete sich dann eine Zigarette an. »Wir können gleich los, Hornschuh.« Der Kommissar wählte aus einem der beiden Teile seines Schreibtisches eine Stablampe, nahm dann seine Aktentasche aus dem Schrank und öffnete die Tür. Er ahnte, als er sie von außen verschloß, noch nicht, daß keine sieben Stunden vergehen sollten, bis er sie wieder aufsperren würde. »Wir werden dort übernachten, Hornschuh«, sagte er; »haben 98
Sie den Wachtmeister verständigt?« »Jawohl. Sie haben heute die Aktion im Watt durchgeführt und ein Gebiet von etwa fünfundzwanzig Quadratkilometern durchkämmt.« »Und?« »Natürlich nichts. Riecks sagt, daß jemand, der seit vorgestern dort verschollen ist, bei diesem Wetter leicht in den Schlick hätte gesaugt werden können. Die Tatsache, daß sie sie nicht gefunden haben, will also nicht besagen, daß sie auf keinen Fall dort umgekommen ist.« Der Kommissar nickte: »Das meine ich auch.« Sie bestiegen den Wagen, und Hornschuh fuhr aus dem Hof. Dicht und zäh stockte der abendliche Berufsverkehr in den Straßen. Sie quälten sich mühsam hinunter bis zu den Landungsbrücken und mußten vor dem Tunneleingang zehn Minuten warten. »Immer noch besser als über die Eibbrücken«, murrte Hornschuh, als der Aufzug sie langsam ruckend in die Tiefe trug. Rings um sie her standen Hafen-, Dock- und Werftarbeiter mit Schirmmützen und Lederjacken, aus deren Taschen Blechflaschen ragten. Sie hielten Räder und knatternde Mopeds. Sie fuhren zur Schicht oder kamen von der Schicht. Die gekachelte Röhre, die sich wie das Innere eines Bambusstocks unter dem Hafen hindurchbog, war angefüllt mit Neonlicht und Benzindunst, der stickig und bläulich das andere Ende verbarg. Auch die Straßen auf Steinwerder waren durch Kolonnen von Radfahrern und Mopeds verstopft. Erst jenseits der Argentinienbrücke konnte Hornschuh etwas schneller fahren. Sie nahmen den Reierdamm und kamen über die Rethebrücke auf den ›langen Morgen‹. Später bogen sie in Richtung StadeCuxhaven nach Nordwesten ab. Es war jetzt dunkel, und der Verkehr war hier draußen weniger dicht. »Was haben Sie herausgefunden?« fragte Hornschuh. »Die 99
Aktion Gaffkes hat keine weiteren Ergebnisse mehr gebracht.« »Geht auch nicht, Hornschuh. Begreiflich ausgeschlossen. Christoph Novottny ist die dritte Person. Das steht eindeutig fest.« »Und?« »Er hatte ein Verhältnis mit Sandra Roberts.« »War er im ›Clifton‹?« »Er leugnet es.« »Hat er telegrafiert?« »Er leugnet es auch.« »Alibi?« Ketterle seufzte. »Er hat das gleiche Alibi wie alle anderen Leute, die im Bett waren oder vorgeben, im Bett gewesen zu sein. Ich weiß es nicht. Wir müssen schon mit dem Positivbeweis zu arbeiten versuchen. Der Negativbeweis führt hier zu ebensowenig wie fast überall sonst.« »Glauben Sie, daß er mit der Sache etwas zu tun hat?« »Immerhin hat er das Zahnputzglas im ›Clifton‹ in der Hand gehabt. Aber das wichtigste ist, daß er der einzige Mensch ist, der mir positiv sagen konnte, daß Sandra Roberts sich niemals vor dem Auskleiden abschminkte.« »Sie scheinen großen Wert auf diese Frage zu legen.« Ketterle rückte sich im Sitz zurecht und öffnete das Fenster einen Spalt. »Ja«, sagte er; »wie so oft in dieser Sache gibt es nämlich zwei Möglichkeiten. Entweder Sandra Roberts hat sich erst, nachdem sie schon ausgezogen war, entschlossen, ihren Spaziergang zu machen, und das ist die geringere Wahrscheinlichkeit. Oder aber, irgendwer hat sie, nachdem sie ausgezogen war, zu diesem Spaziergang veranlaßt, und das ist die größere Wahrscheinlichkeit.« »Novottny war in ihrem Zimmer.« »Möglich. Außerdem erwartete sie ein Kind von ihm.« 100
»Das ist doch nicht wahr?« »Doch, es ist so.« »Woher wissen Sie es?« »Von ihrem Stiefschwiegersohn, Dr. Brabender.« Hornschuh sah eine Sekunde hinüber in Ketterles Gesicht, das bleich und faltig vom Widerschein der Armaturen angestrahlt war. »Aber dann gibt es doch wohl kaum noch einen Zweifel?« »Doch, Hornschuh. Es gibt zwei Zweifelspunkte. Sehen Sie, die Sache mit dem Abschminken ist ein außerordentlich wichtiger Hinweispunkt. Aber er wendet sich nicht gegen Novottny.« »Na, hören Sie mal …« »Aber Hornschuh, überlegen Sie doch! Nehmen wir einmal an, er hätte was mit der Sache zu tun; glauben Sie, er würde wie aus der Pistole geschossen genau diejenige Antwort geben, die ihn aufs schwerste belastet? Noch dazu wäre die gegenteilige Angabe kaum zu kontrollieren.« Hornschuh mußte seine Aufmerksamkeit der Straße zuwenden. Dort schwankten in kurzen Abständen hintereinander zwei riesige Lastzüge gleich ihnen westwärts. »Und der zweite Zweifelspunkt?« fragte er, nachdem es ihm gelungen war, sie zu überholen. Ihre Scheinwerfer strahlten jetzt von rückwärts in den Wagen. Die Straße vor ihnen war zum erstenmal seit Hamburg leer und schwarz. »Der zweite Zweifelspunkt«, murmelte Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle – »der zweite Zweifelspunkt, Hornschuh, ist fast noch wichtiger: Er liebte sie nämlich.« Ein lastender, wolkenverhangener Himmel drückte die Nacht über die Marschen. Manchmal sah man die Umrisse der geduckten Walmdächer friesischer Bauernhäuser, Baumgruppen, dann wieder Ebene, endlos und schwarz. An dem Zwinkern irgendeines Leuchtturms am Horizont 101
stellten sie fest, daß sie sich der Küste näherten. Sie erreichten das ›Clifton‹ gegen halb neun. Die Gasträume waren noch erleuchtet, und wie aus dem Boden gewachsen stand Heide in der Dunkelheit neben ihnen und fragte nach den Koffern. Ein Hund bellte, und weiter weg fiel ein zweiter ein. Sie sahen Uniformknöpfe blitzen. Wachtmeister Riecks kam auf sie zu, und noch bevor sie das Haus betraten, ließ sich der Kommissar von ihm alle Einzelheiten einer der größten Fahndungsaktionen berichten, die in dieser Gegend seit langem durchgeführt worden war. »Es gibt zwei Möglichkeiten, Herr Kommissar. Entweder sie ist hier nicht umgekommen, oder sie liegt unter dem Schlick.« Ketterle wendete sich zu Hornschuh. »Für welche wollen wir uns entscheiden?« Hornschuh zuckte mit den Achseln. Der Oberst stand unter der Tür. »Nun, was gibt es Neues?« trompetete er, als sie das Haus betraten. Heide folgte ihnen mit zwei Aktentaschen. »Wo sollen die Herren wohnen?« fragte sie Willemien van Hengelaer, die beide Ärmel ihres Pullovers herunterstreifend, aus der Küchentür kam. »Guten Abend, Frau van Hengelaer«, sagte Ketterle. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Nummer drei zu geben?« »Aber durchaus nicht, Herr Kommissar. Nur – es ist nicht bezogen. Heide, würdest du gleich …« »Nein, nein, lassen Sie das. Es zahlt sich nicht für Sie aus. Wenn Sie mir nur eine Wolldecke hineinlegen. Wir müssen schon früh wieder heraus.« »Wie Sie wollen, Herr Kommissar. Herr Hornschuh kann Nummer zwei nehmen. Direkt nebenan. Gibt es irgendeine Hoffnung, Licht in die Sache zu bringen? Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen? Aber vielleicht wollen Sie sich zuerst etwas pflegen. Sicher war die Fahrt anstrengend.« Wieder ging der Kommissar durch die beiden Torbögen nach 102
hinten, und wieder erschrak er vor der dürren Hand des hölzernen Heiligen. Heide schloß Nummer drei auf. Es war, nachdem er es freigegeben hatte, aufgeräumt worden, und Röppkes Leute hatten Sandra Roberts Sachen mitgenommen. Ketterle zog sich den Mantel aus und wusch sich die Hände. »Nun, Heide, das Watt gibt nichts mehr her, was es einmal hat, nicht wahr?« Er drehte sich, während er sich die Hände trocknete, zu dem Mädchen um. Heide schüttelte den Kopf. »Es war vergeblich. Ich wußte es vorher.« »Wieso?« fragte der Kommissar. Sie hob die Schultern. »Ich weiß es auch nicht, wieso. Ich spüre das. Sie ist nicht mehr hier.« »Heide, was reden Sie für Unsinn?« sagte der Kommissar. »Wo soll sie denn sein?« »Ich weiß es nicht.« »Heide, sind das Gefühle, oder wissen Sie etwas, oder reden Sie nur so?« »Ich rede nur so«, sagte sie und lächelte; »woher soll ich etwas wissen? Ich bin der letzte Dreck hier im Hause. Obwohl uns der Hof früher gehört hat.« Sie öffnete die Tür und ließ den Kommissar vorausgehen. Wieder sah Ketterle die alte Truhe und das breite friesische Hängebord mit kupfernem Geschirr. Und wieder fiel ihm die riesige alte, fast schwarze Standuhr auf, die in einer kaum erleuchteten Nische stand, halb verborgen von der Wölbung der Treppe. »Ein wunderbares Stück«, sagte er und blieb davor stehen. »Ja. Sie geht nicht mehr, solange ich mich erinnern kann«, sagte Heide. »Wir spielten früher immer Verstecken darin. Bis meine Mutter einmal den Schlüssel abzog und verlor. Seitdem ist er nicht mehr da.« 103
»Wo ist Ihre Mutter, Heide?« »Sie ist tot. Sie starb bald nach meinem Vater – als es immer klarer wurde, daß wir den Hof verkaufen mußten. Sie war sehr gut zu mir.« »Und Sie wollen nicht fort von hier?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Warum nicht?« »Das verstehen andere nicht. Es ist eben so.« Der Kommissar nickte und ging nach vorne. Hornschuh saß bereits mit dem Oberst und Frau van Hengelaer am Tisch in einer der dunkel getäfelten Fensternischen. »Hören Sie, Kommissar«, rief ihm der Oberst entgegen, »haben Sie die Sache mit dem Telefonanruf herausbekommen? Ich dachte, Sie wollten uns auf den Arm nehmen, aber Herr Hornschuh sagt …« Der Kommissar setzte sich. »Es besteht gar kein Zweifel, daß Sandra Roberts am Sonntagmorgen um sieben Uhr neun hier an diesem Telefonapparat gesprochen hat. Beide Damen haben versichert, daß sie den Anruf nicht abgenommen haben. Was sollten sie für einen Grund haben, es nicht zu sagen, wenn sie es getan hätten …?« Frau van Hengelaer schüttelte den Kopf. »Dann müßte sie um diese Zeit noch gelebt haben, oder glauben Sie an Gespenster?« »Sind Sie denn auch davon überzeugt, daß sie tot ist?« fragte Ketterle. »Wieso? Wer ist noch davon überzeugt? Außer dem Oberst?« »Heide zum Beispiel, sehen Sie …« »Das ist nicht wahr, Herr Kommissar. Ich glaube nur, daß sie nicht mehr hier ist.« Frau van Hengelaer sah von einem zum anderen. Heide stand unter der Küchentür. Der Oberst putzte umständlich seine Brille. »Heide …«, sagte Frau van Hengelaer strafend. 104
»Lassen Sie nur«, sagte Ketterle; »es soll Menschen geben, die ein Gefühl für so was haben …« »Sie glaubt immer, daß sie hellsichtig ist«, sagte Willie; »aber das ist doch Blödsinn.« »Das meine ich auch«, sagte der Oberst. Wachtmeister Riecks sagte gar nichts. Dann hob er die Schultern und bat das Mädchen um ein Glas Schorle. Aber gut gespritzt. »An diesem Telegramm ist alles rätselhaft«, sagte Ketterle, »der Absender, die Aufgabe, die Zustellung. Wissen Sie eigentlich, daß es Samstag nacht um null Uhr zwo zum erstenmal telefonisch durchgesagt werden sollte?« »Und warum ist es nicht geschehen?« fragte Frau van Hengelaer. »Weil niemand ans Telefon ging«, sagte Ketterle; »hat denn niemand das Telefon gehört?« Alle sahen sich an. »Nun«, sagte der Kommissar, »der Oberst ist um elf schlafen gegangen, Heide um zehn nach elf, aber Sie waren doch noch auf. Haben Sie das Telefon auch nicht gehört?« »Nein«, sagte Willie, »ich erinnere mich nicht. Zu komisch so was. Aber schließlich, nachdem wir den Inhalt jetzt kennen, ist es ja auch nicht so wichtig.« »Sie haben recht«, sagte Ketterle. »Das ist die Hauptsache. Das und der Absender.« Seufzend erhob er sich und schlenderte wie absichtslos nach hinten zur Küche. Er schloß die Tür zum Gastzimmer hinter sich, als er Heide Geschirr spülen sah. »Nun, mein Fräulein«, sagte er und lehnte sich neben ihr mit dem Rücken gegen die Fliesenwand; »und jetzt sagen Sie mir bitte ganz offen, warum Sie sich gestern morgen am Telefon für Sandra Roberts ausgegeben haben.« Heide sah ihn an und lachte dann laut los. »Hören Sie mal«, sagte Ketterle zu ihr, »sie hatte einen 105
Mann, Stiefkinder, Leute, die sie liebten und verehrten. Können Sie sich eigentlich nicht vorstellen, was es für sie bedeutet, daß sie verschwunden ist? Nichts weiter zu wissen, als daß eine Fußspur aufhört, und dann noch genarrt zu werden mit einem offensichtlichen Unsinn. Sie sollten sich das einmal überlegen.« »Und warum fragen Sie nicht Willie?« »Willie?« fragte der Kommissar? »Willie ist erwachsen genug, um so etwas nicht zu tun und um es zuzugeben, wenn sie es getan hätte. Außerdem hätte sie dazu nicht den geringsten Grund gehabt. Und Ihren Grund, Heide, Ihren Grund möchte ich gerne kennenlernen.« »Ich war es nicht«, sagte Heide und kratzte verdrossen einen Topf aus. »Wie käme ich denn dazu!« »Eben«, meinte Ketterle; »überlegen Sie es sich bis morgen früh.« Heide sah ihm über die Schulter nach, als er wieder nach draußen ging. Dort fragte Ketterle den Oberst, ob er ihm nicht mit seinem Wagen behilflich sein könnte, ein Experiment durchzuführen. »Ich möchte gerne wissen, ob es möglich ist, von irgendeinem Ihrer Zimmer aus einen Wagen zu hören, der nachts auf dem Hof ankommt.« »Glauben Sie, Novottny ist mit dem Wagen auf den Hof gefahren …?« murmelte Hornschuh. Ketterle zuckte die Achseln. »Ich möchte es gerne wissen«, sagte er. Sie verbrachten die nächsten zwanzig Minuten damit, in den Zimmern Willies, Heides, des Obersten und in Kaduleits Verschlag auszuprobieren, was zu hören war, während der Oberst seinen Ford auf den Hof fuhr und abwechselnd die Türen schlug und den Motor aufheulen ließ. Kaduleit schlief in seine Decke eingerollt. Man konnte ihn kaum erkennen. 106
»Er ist den ganzen Tag mit der Suchmannschaft im Watt herumgelaufen. Ich habe ihn schlafen geschickt«, sagte Willie. Der Kommissar nickte. Von dort gingen sie in Willies Zimmer, dann zum Oberst. Zum Schluß stiegen sie auf den Boden der Scheune und machten den Versuch in Heides Kammer. Es war ein einfach und modern eingerichtetes Zimmerchen, ohne den romantischen Reiz der alten Möbel und Gegenstände, die das Haupthaus kennzeichneten. An der Wand hing eine gerahmte Fotografie aus der Zeit, in der das ›Clifton‹ noch ein Bauernhof gewesen war. Auch von hier aus konnte man bei geschlossenen Fenstern gar nichts und bei offenen Fenstern nicht so viel hören, daß ein Schlafender hätte aufwachen können, obwohl Hornschuh, der den Oberst beim Krachmachen abgelöst hatte, sich redliche Mühe gab. »Es wäre also möglich«, sagte Willie später, als sie wieder im Gastzimmer saßen. »Möglich wäre es«, sagte Ketterle. »Und das ist schon eine ganze Menge.« Hornschuh sah, wie der Kommissar sein Bierglas austrank, es dann auf den Tisch zurückstellte und nachdenklich mit gespreizten Fingern den Bierdeckel darauflegte. »Sagen Sie«, murmelte Ketterle, ohne jemand besonders dabei anzusehen, »an welchen Personenkreis verschicken Sie gewöhnlich Ihre Prospekte?« »Wieso?« fragte Willemien van Hengelaer; »glauben Sie, daß sie einen Prospekt bekommen hat?« »Haben Sie ihr keinen geschickt?« Die Frau sah den Kommissar mit dem Ausdruck einer gewissen Verblüffung an. »Das kann ich Ihnen nicht aus dem Kopf sagen. Soll ich nachsehen?« Sie erhob sich halb, in der Erwartung, daß der Kommissar davon absehen würde. Aber Ketterle sagte: »Das wäre sehr nett von Ihnen«, und 107
Willemien van Hengelaer ging seufzend hinaus zum Empfang. Sie hörten sie unter der Theke kramen, als sie nach den Listen suchte. Sie blätterte sie noch im Gehen durch, als sie wieder ins Kaminzimmer kam. »Natürlich versende ich Prospekte nur an Kreise, die finanziell in der Lage sind, uns zu besuchen«, sagte sie. »Ich habe mir aus den Telefonbüchern eine Menge von Gesellschaften, Verbänden, Klubs und so weiter herausgesucht und mir die Mitgliederlisten schicken lassen. Die eigentliche Versandarbeit hat dann ein Schreibbüro in Cuxhaven übernommen. Ich habe die Telefonnummern, wenn Sie …« Ketterle sah auf die Uhr. »Es ist zu spät dafür«, sagte er. »Haben Sie den Alster-Club bei Ihren Mitgliederlisten?« »Ja«, sagte Willie, »das weiß ich zufällig ganz genau. Ich habe mir gerade davon eine ganze Menge versprochen.« »Nun«, sagte der Kommissar, »das ist auch eingetreten. Richard und Sandra Roberts sind Mitglieder im Alster-Club. Wann haben Sie die Prospekte an diese Leute versendet?« »Vor etwa drei Jahren«, murmelte Willie und kramte aus einem Stoß Broschüren die Mitgliedslisten des Alster-Clubs heraus. »Bald nachdem wir eröffnet hatten.« Der Kommissar griff nach dem Heft und blätterte es durch. Hornschuh sah ihm dabei über die Schulter. Ketterle wendete bei ›R‹ die Seite um, und dann wieder zurück. »Ich kann mir nicht helfen«, sagte er zu Hornschuh gewendet, »aber ich kann keinen Roberts finden.« »Nicht?« Willie reckte den Kopf. »Dann haben sie auch keinen bekommen. Das Schreibbüro hatte keine anderen Unterlagen als diese Liste.« »Sie haben aber einen«, sagte Hornschuh und schob sein Jakkett, die Hände in die Taschen steckend, zurück. »Der Senator weiß es. Und Dr. Brabender auch.« Willie zuckte die Achseln. 108
»Von mir jedenfalls nicht. Vielleicht haben sie ihn von Freunden.« Der Kommissar seufzte. Wenn wenigstens das in Ordnung gewesen wäre! »Diese Freunde werden wir herausfinden müssen, Hornschuh«, sagte er. »Können Sie uns die Listen überlassen, Frau van Hengelaer?« »Natürlich. Aber ich kann sie doch zurückbekommen, nicht wahr?« »Ja«, sagte Ketterle, »in den nächsten Tagen.« Er erhob sich. »Damit sind meine Wünsche für heute erfüllt«, sagte er. »Können Sie uns morgen um sechs wecken lassen?« Sie verabschiedeten sich, und der Oberst stellte das Radio ab. Langsam wurde es im ›Clifton‹ still. Nach und nach erloschen die Lichter. Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle saß in Nummer drei bei völliger Dunkelheit in dem hochlehnigen, niederdeutschen Stuhl, und nur die Glut seiner Zigarre bestrahlte bisweilen die Hand, die sie hielt, und sein Gesicht. Er saß völlig regungslos und hörte Heide über den Hof hinüber zur Scheune gehen. Das Scheunentor schlug zu. Es sah so aus, als wollte der Kommissar, in der Unbeweglichkeit eines Buddha, aus dem leisen Knistern und Knacken der alten Möbel das Geheimnis der Sandra Roberts heraushören. Nach einer halben Stunde erhob er sich lautlos, nahm aus seiner Aktentasche ein starkes Vergrößerungsglas und seine Stablampe, kniete sich unbeholfen auf den Boden und begann ihn Zoll für Zoll zu untersuchen. Fast eine Stunde lang rutschte er mit der Langsamkeit einer Schnecke durch beide Räume. Dann stand er schwerfällig auf, klopfte sich die Knie ab und zog die Schuhe aus. Er näherte sich der Tür, zog sie lautlos einen Spalt auf, lauschte und glitt hinaus auf den Flur. Das Kupfergeschirr in dem Hängebord blinkte schwach. Dicht an der Wand entlang 109
schlich er sich nach vorne. Im Dunklen ahnte er den bauchigen Kasten der alten Uhr. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Er drückte sich in den Rahmen der Tür zur Küche und lauschte. Jemand atmete. Es klang seltsam laut in der tödlichen Stille dieses Augenblicks. »Ich habe gewußt, daß Sie nachsehen würden«, sagte Heide. Ketterles Stablampe flammte auf. Sie stand ihm gegenüber, die Hände nach rückwärts an die Wand gepreßt, und starrte ihn an. Sie trug ein langes, weißes Nachtgewand. »Ich wußte es schon, als Sie heute abend davor stehenblieben. Niemand soll hineinsehen. Niemand. Auch Sie nicht.« »Ich dachte es mir«, sagte der Kommissar heiser. »Geben Sie den Schlüssel her.« »Nein. Niemand soll hineinsehen.« Sie glitt quer über den Flur und preßte sich mit dem Rücken gegen die Uhr. »Es ist ein Geheimnis, ein Zauber. Ein Fluch geht davon aus, wenn man sie öffnet.« »Geben Sie mir endlich den Schlüssel«, sagte Ketterle; »seien Sie nicht verrückt. Es gibt keinen Zauber. Los, den Schlüssel!« Er rang mit dem Mädchen und versuchte, ihr die Hände hinter dem Rücken zu lösen. »Seien Sie doch nicht hysterisch! Wenn Sie mir den Schlüssel nicht geben, lasse ich sie morgen mit dem Stemmeisen aufbrechen. Los, den Schlüssel!« »Nein, nein«, keuchte das Mädchen. »Es sind Kleider drin. Nur Kleider. Es sind nur Kleider.« Aber der Kommissar hatte den alten klobigen Schlüssel in der Hand. »Kleider«, keuchte er außer Atem. »Soso, Kleider!« Er schob gegen ihren heftigen Widerstand den Schlüssel in das Schloß und zog die Tür, gegen die sie sich immer noch stemmte, langsam auf. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, 110
aber plötzlich ließ ihr Widerstand nach. In dem Kasten der Uhr sah Ketterle die Umrisse einer Frauengestalt. Die Lampe flammte. Wie in einem Schrein hing dort eine alte friesische Bauerntracht, mit Spitzenmieder, Perlengürtel, Halstuch und Häubchen. Die ganze Uhr war mit rotem Samt ausgeschlagen. Der Kommissar sah das Mädchen an. Er verstand. Es war ihr Heiligtum. Es war die Tracht ihrer Mutter, vielleicht schon der Großmutter. Es war der Altar ihres stummen Protestes gegen das Schicksal, eine Manifestation des Besitzrechts an Haus und Boden, von dem sie stammte. Nur sie allein wußte davon. Er hatte eine Roheit begangen. Und dennoch lag etwas in der Luft. Wie ein klirrender Atemstoß fuhr die Telefonklingel durch das stille Haus. Einmal, zweimal. Das Mädchen machte eine Bewegung. Der Kommissar hielt sie zurück. »Lassen Sie!« Die Klingel. Noch einmal. Und wieder. In Sekunden war er an der Theke. »Ja? Ja, am Apparat.« Und im Dunkel der Gaststube hörte Gottfried Cäsar Ketterle etwas, das selbst ihm für Sekunden das Zwerchfell einfrieren ließ, bevor er den Hörer auflegte. »Sie sind eine Hellseherin oder ein Teufel«, keuchte er, als er das Mädchen im Torbogen stehen sah. Dann dröhnte seine Stimme durch das Haus: »Hornschuh!« Zuerst hatte es ihm geschienen, als läute das Telefon in einem anderen Trakt des Hauses. Aber es hatte nicht aufgehört, und es war ihm gewesen, als nähere es sich. Langsam und quä111
lend rang er sich aus seinem bleiernen Veronalschlaf und tastete nach der Leselampe, während der Apparat unbeirrt weiterklingelte. Die Uhr auf seinem Nachttisch zeigte genau Viertel nach zwölf – aber Senator Roberts hatte nicht mehr lange Zeit, sich daran zu erinnern. »Ja«, sagte er krächzend und unwillig, »ja, was ist denn?« Es war ein Beamter des 114. Polizeireviers. Richard Roberts entsann sich flüchtig, daß es zwei oder drei Straßenzüge weiter lag, über den Kanal und die Alster hinüber. Er war einige Male dort gewesen, um seinen Paß verlängern zu lassen. »Ein Schiffer hat uns aufmerksam gemacht, Herr Senator. Sie fuhren an Ihrem Grundstück vorbei. An Ihrem Grundstück ist eine Unregelmäßigkeit. Sie haben doch ein Bootshaus …?« »Ja, ja, natürlich habe ich ein Bootshaus. Was ist mit dem Bootshaus? Das Bootshaus ist abgeschlossen. Warum wecken Sie mich denn wegen des Bootshauses aus dem Schlaf, zum Donnerwetter?!« Der Mann bestand darauf, daß das Bootshaus nachgesehen werden müsse. »Sie wissen ja, wie die Leute sind. Keiner will sich die Finger dreckig machen, aber angeben wollen sie alle. Sollen wir Ihnen einen Beamten schicken, wegen des Bootshauses?« »Nein. Schicken Sie keinen Beamten. Das hat bis morgen Zeit. Wenn irgend etwas ist, was die Polizei berührt, rufe ich Sie an. Gute Nacht.« Der Senator legte auf, löschte das Licht und wälzte sich herum. Aber es war ihm unmöglich, noch einmal einzuschlafen. Wie Bleigewichte wuchteten sich die Ereignisse des vergangenen Tages über ihn und blieben auf ihm liegen. Er drehte sich wieder und wieder, tastete schließlich erneut nach dem Lichtschalter und setzte sich atmend hoch. Er fuhr in die Hausschuhe, warf den schweren Morgenmantel 112
aus Velours über und ging durch die beiden Ankleidezimmer und das Bad hinüber in Sandras Boudoir. Dort knipste er das Licht an. Der Duft ihres Parfüms lag im Raum, und einer der gerafften Stores bauschte sich leise raschelnd. Mathilde hatte die Tür zum Balkon offengelassen. Senator Roberts strich sich mit der Hand über den Kopf. Was wollte er denn? Hatte nicht vorhin jemand …? Ach ja, das Bootshaus. Lächerlich, das Bootshaus. Er ging quer durch das Zimmer, schob den Store zur Seite und starrte in den Garten hinunter. Durch das Geäst der Bäume sah er den Kanal matt im Licht einzelner Lampen der gegenüberliegenden Seite schimmern. Das Bootshaus hob sich schwarz und massig davor ab. Aber es lag völlig ruhig und friedlich da. Der Senator ging wieder durch das Bad hinüber in sein Schlafzimmer, nahm den Schlüssel zum Bootshaus aus der Schublade seines Nachttisches und trat hinaus auf die Galerie. Die Halle lag schweigend und finster. Ba-bau, rasselte die alte französische Standuhr, als er die Treppe hinunterging und sie lautlos durchquerte. Er schloß im Wintergarten die Tür zur Terrasse auf und stellte sie fest, daß sie nicht zuschlagen konnte. Dann schob er die Hände in die Taschen des Morgenmantels und war anzusehen wie eine Masse Granit, als er den Gartenweg zum Bootshaus hinunter einschlug, dessen Kies unter seinen Hausschuhen leise knirschte. Das Bootshaus hatte Balkenwände und eine massive Tür. Er schob den Schlüssel ins Schloß und probierte. Es war alles in Ordnung. Drinnen gluckste leise und träge Wasser, als er aufschloß. Eigentlich wollte er nur einen Blick hineinwerfen, aber dann griff er doch nach dem Lichtschalter und knipste eine fade, rötliche Beleuchtung ein. Es roch nach Firnis, Moder und Schlick. Rings an den Wänden entlang lief der hölzerne Steg. Vorne zeichnete sich das Gitter vor dem mattfunkelnden Wasser ab. 113
Satt glucksend regten sich die Bootsleiber. Zwischen ihnen schwamm, wie eine Meeresblüte, ein Stern hellblonder Haare, der sich, entsetzlich im leichten Wellenspiel schaukelnd, auf der Wasseroberfläche ausbreitete. Der Stern trug ihr Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet und starrten ihn an. Richard Roberts senkte den Kopf nicht. Er drehte nur die Augen nach abwärts und spürte einen Krampf in der Brust, als müsse er sein eigenes Herz einatmen. Seine Kinnbacken mahlten und knirschten, als er sie aufeinanderpreßte. Nein, schrie er sich zu, nein, so nicht! Sie haben es auf dein Herz abgesehen, Dick. Aber das wird ihnen nicht – nicht gelingen. Obwohl es sich zusammenkrampft wie ein Spüllumpen. Ich weiß genau, daß ich nicht mehr hinsehen darf, nicht mehr hinsehen. Irgendwo festhalten, Dick. Holz, Balken, zuverlässig und rauh. Dann frische Nachtluft. Rauschen von Bäumen. Weit droben der helle Schein des Lichts in Sandras Boudoir. Es geht wieder. Der Krampf läßt nach. Aber er kommt sofort wieder, wenn ich daran denke. Ich denke an die Pferde, die Wagen, an Sankt Peter, Erika, Reimars Karriere. Die Hälfte noch. Da ist schon die Rotbuche. Die offene Wintergartentür ist ein schwarzes Loch. Unendlich weit weg. Die Granittreppen Gebirge, die Tür dunkel, drohend. Dahinter Wärme. Bau-bau, ba – bau. Endlich die Treppe. Das Geländer oben zerfetzt von einem Dreieck Licht. Das kommt aus meinem Schlafzimmer. Es steht auf meinem Nachttisch. Daneben ist das Telefon. Er wankte durch die Türe, sank auf den Bettrand, krampfte die mächtigen Hände auf der Brust. Hundertzehn, fuhr es durch seine chaotischen Gedanken. Hundertzehn, Eins-eins-null. Bööö-bööö-bööö. »…sidium Hamburg.« »114. Polizeirevier? Die Nummer? Wie ist die Nummer?« Wenn ich die Stimme des Beamten höre, habe ich es über114
standen. Sie war zuverlässig und ruhig, wie die eines Arztes. Was soll ich ihm sagen? Ich darf nicht daran denken … »…lizeirevier …« »Habe ich mit Ihnen gesprochen?« Unten schlägt eine Tür. Es ist jemand im Haus. Schritte auf der Treppe, gedämpft, lauernd, heimtückisch. Die Barockkommode nimmt das Gesicht des Kommissars an. Wie hieß er doch gleich? Seine Stimme schwer, dumpf: »… Bedenken wegen Ihrer eigenen Person …?« Ein Lufthauch von irgendwoher. Eine Tür war geöffnet und wieder geschlossen worden. Der Wachtmeister in dem öden Bereitschaftsraum zerrte aus einem Stoß Papier einen Zettel, um Notizen zu machen. Er vernahm im Hörer ein schreckliches Ächzen. »Hallo? Hallo? Sprechen Sie noch?« Aber Senator Richard Roberts sprach nicht mehr. – Er wolle jetzt mit seinen Gedanken allein sein, hatte der Senator seinen Kindern am Vormittag gesagt, als die beiden Beamten das Haus verlassen hatten. Wenn einer von ihnen ihm noch etwas unter vier Augen mitzuteilen hätte, bitte sehr! Nein? Dann also auf Wiedersehen. Die Angelegenheit läge bei dem Hauptkommissar – wie hieß er denn gleich – in den besten Händen. Sie könnten nichts weiter tun als warten. Dr. Reimar Brabender teilte diese Ansicht nicht. »Ich bin der Meinung, daß wir irgend etwas tun müssen«, sagte er, als sie zu viert im Wagen saßen, während er HansPauls zu ihrer Wohnung zurückfuhr. »Ihr habt doch an seinen Fragen ganz deutlich gemerkt, daß er nicht die Absicht hat, uns aus dieser Sache draußen zu lassen. Für diese Leute ist bis zur Klärung von vornherein jeder verdächtig, der ein Motiv hat. Und ein Motiv haben wir für die plumpen Polizeigehirne alle. Auch die Mädels. Wenn jemand verschwindet, der viel Geld 115
erben soll, dann ist er eben von den Leuten beiseite geschafft worden, die nicht wollen, daß der andere viel Geld erbt. Weiter reicht es bei Polizeikommissaren im allgemeinen nicht.« »Schön und gut«, sagte Hans-Paul; »was sollen wir aber tun?« »Zuerst einmal darüber nachdenken, wie wir uns verhalten, wenn sie uns präzise Fragen stellen.« »Ja eben«, sagte Sigrid; »er hat eigentlich gar keine präzisen Fragen gestellt.« »Aber er wird es tun, wenn sie Sandra gefunden haben. Darauf kannst du dich verlassen. Daß uns das passieren muß! Es ist wirklich zum Kotzen.« Erika schwieg beharrlich. Sie saß vorne neben Reimar, rauchte eine Zigarette und dachte an das, was ihr Reimar heute morgen in der ersten Aufregung wegen des Alibis gesagt hatte. Warum sich Hans-Paul, der sich zwei Jahre lang standhaft geweigert hatte, ausgerechnet heute morgen seinen Bart abrasiert hat, dachte sie außerdem. Ob es was damit zu tun hat? »Ich meine«, sagte Hans-Paul, »daß das grauenhafteste an der ganzen Sache die Gemeinsamkeit mit Julie ist. Stellt euch das doch mal vor. Es muß doch der gleiche Mensch gewesen sein. So was kann doch kein Zufall sein. Ich war schon bei Julie überzeugt, daß es keiner war. Und nun …« »Es ist ein schwacher Trost, daß keiner von uns um diese Zeit in Amerika war. Hättest du zu dieser Zeit einen Studienaustausch dort gehabt oder ich einen Kongreß, dann säßen wir schon hinter Gittern. Aber das ist ein schwacher Trost; man kann so was auch nachmachen.« Sie schwiegen eine Weile. »Wenn die Polizei der Sache nicht auf die Spur kommt«, sagte der Arzt dann entschlossen, »müssen wir uns darum bemühen. Stellt euch mal vor, man findet Sandra nicht. So etwas spricht sich herum. Ich kann mir nur annähernd vorstellen, was es bedeutet, unter dem Verdacht zu leben, vielleicht doch ir116
gendwie daran beteiligt zu sein.« »Reimar hat recht«, sagte Sigrid; »man wird uns schneiden, flüstern, hämische Bemerkungen machen. Ihr müßt was tun, Hans-Paul. Aber was?« Reimar Brabender hielt den Wagen vor Hans-Pauls Wohnung an. Direkt hinter dem resedagrünen Volkswagen mit der leeren Batterie. »Am besten ist, ihr kommt morgen zum Frühstück zu uns. Bis dahin haben wir etwas Abstand von der Sache und darüber nachgedacht.« Hans-Pauls war es recht. Sie kletterten aus dem Wagen und verschwanden in dem Eingang des Blocks, vor dem plärrende Kinder mit Gummischnüren Büroklammern in die Luft schossen. »Hans-Paul«, sagte Sigrid im Treppenhaus und zog ihn am Ärmel, bis Hans-Paul stehenblieb. »Hans-Paul, warum hast du dir ausgerechnet heute, ausgerechnet an diesem Morgen, den Bart abgenommen?« »Ich wollte dir wirklich eine Freude machen, Sigrid. Aber ich hätte es gerade heute besser nicht getan.« »Hans-Paul«, sagte sie, »warst du gestern wirklich die ganze Nacht im Büro?« Er machte sich los. »Rede keinen Unsinn«, sagte er. »Und vor allem nicht hier. Es brauchen nicht alle im Block zu hören.« – Hinter dem bläulich getönten Glas der Panoramascheibe des Fiat achtzehnhundert zündete sich Erika Brabender die zweite Zigarette an, seitdem sie von Papa fortgefahren waren. Reimar wußte, daß er sich törichten Illusionen hingegeben hätte, wenn er damit gerechnet hätte, daß sie sein Gerede von heute morgen in der Aufregung vergäße. »Er hat überhaupt nicht nach dem Alibi gefragt, Rei. Spielt es keine Rolle? Jetzt kannst du mir ja sagen, was du damit gemeint hast.« 117
»Sieh mal, Erika«, sagte Dr. Brabender, »wenn man die ganze Nacht in einem Hotel in Bremen schläft, hat man kein Alibi. Man kann genausogut nicht im Bett geschlafen haben, verstehst du das?« »Aber das ist doch ganz normal.« Erika zog den Aschenbecher aus dem Armaturenbrett. »Hast du dir vielleicht deswegen solche Skrupel gemacht? Oder hast du vielleicht wirklich nicht im Bett geschlafen? Oder vielleicht nicht in diesem Bett?« »Erika!« »Reimar, deine Gewissenhaftigkeit in allen Ehren, aber es kam mir schon am Samstag komisch vor, daß du außer wegen des Alkohols anscheinend noch aus einem anderen Grund abends nicht nach Hause fahren wolltest und dort zur Nacht bliebst.« Dr. Brabender schwieg. Erika war zum erstenmal auf einen solchen Gedanken gekommen, und er erschreckte sie. »Du hast aufs falsche Pferd gesetzt, Reimar«, sagte sie dann mit einem Anflug verzweifelter Selbstehrlichkeit. »Als wir uns heirateten, dachtest du, eine reiche Erbin zu heiraten. Millionen. Vater Ende Sechzig. Außerdem mochtest du mich. Aber am meisten mochtest du doch deine ehrgeizigen Pläne. Schilddrüsen-Privatklinik, Seebad oder Kurort und so, und dann kam Sandra, und aus allem wurde nichts.« Und jetzt ist es so weit, daß du mich nicht mehr so wichtig nimmst, wollte sie hinzufügen. Aber Dr. Brabender unterbrach ihren Gedankengang, während er den Wagen in der Parkstraße an den Bordstein steuerte. »Hoffentlich«, sagte er, »verfällt der Polizeikommissar nicht auf die gleiche Überlegung.« Sie starrte ihn an, bevor sie ausstieg. »Und wo warst du dann wirklich?« fragte sie etwas unsicher, als sie die Steintreppe hinaufstiegen. »Erika«, sagte er, »laß uns nicht mehr darüber sprechen, bis 118
die Frage akut wird. Natürlich war ich im Hotel. Aber ich kann es nicht beweisen. Und jetzt mache uns eine Kleinigkeit zurecht. Dann schlafen wir eine oder zwei Stunden. Gegen fünf muß ich in die Klinik. Um halb acht hat Professor Vollmann eine Operation angekündigt, der ich zusehen will. Es kann spät werden.« »Leber?« fragte Erika pflichtschuldig. »Milz«, murmelte Reimar Brabender, während er die Wohnungstür aufschloß. »An der Leber operiert man nicht.« Sie hatten wirklich zwei Stunden geschlafen, waren dann aufgestanden und hatten eine Tasse Tee getrunken. Kurz nach fünf war Dr. Reimar Brabender in die Klinik gefahren. Er hatte eben seinen Kittel zugeknöpft und schloß sich das Bündchen am Kragen, als die Pforte anrief und einen Herrn namens Gottfried Cäsar Ketterle meldete, der nicht mitteilen wollte, um welche Angelegenheit … »Schicken Sie den Herrn herauf, Schwester«, sagte der Arzt, »es ist in Ordnung.« Er hatte drei oder vier Minuten Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was für Fragen der Kommissar ihm stellen würde. Er nahm nicht an, daß sich in der Zwischenzeit irgend etwas verändert hatte. Es würden also Fragen sein, die er in Papas Anwesenheit nicht hatte stellen wollen. Aber nicht im entferntesten hätte er erraten können, wie weit der massige Polizeibeamte mit dem Bulldoggengesicht sich der Wahrheit schon genähert hatte. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie von Ihren Pflichten abhalte, Herr Doktor …« Reimar Brabender zeigte auf das wachstuchüberzogene Ruhebett und setzte sich selbst auf den schwarzen Drehstuhl hinter dem weißen Metallschreibtisch mit der schwarzen Platte. Mechanisch schloß er den Deckel des Blutdruckgeräts, faltete 119
dann die Hände vor sich auf dem Tisch und sah den Kommissar an. Dabei war er bemüht, sich einzureden, der Beamte sei ein Patient. »Ich nehme an«, sagte dieser Patient und legte seinen Hut neben sich auf das Wachstuchsofa, »Sie hatten stichhaltige Gründe, mir heute morgen den Besuch von Frau Roberts bei Ihnen am Freitagabend voriger Woche zu verschweigen.« Dr. Reimar Brabender gelang es, seine Überraschung völlig zu verbergen. Es war ihm möglich, weil er vier Minuten Zeit gehabt hatte, sich auf alles vorzubereiten. Er nickte langsam. »Ja«, sagte er, »natürlich.« »Nun, Sie werden noch keine Gelegenheit gehabt haben, sich an uns zu wenden.« »Nein. Natürlich nicht.« Ketterle nickte. »Darf ich diesen Grund erfahren?« »Es tut mir aufrichtig leid, Herr Kommissar, aber …« Der Kommissar nickte wieder. »Ich verstehe. Schweigepflicht.« »Ja.« »Also eine Angelegenheit, die in das Gebiet Ihrer ärztlichen Tätigkeit fällt?« »Ja. So ist es.« Über die Federschale mit Pinzetten, Reagenzgläsern und Reklamekugelschreibern pharmazeutischer Fabriken hinweg sahen sich die beiden Männer schweigend an. Tholen stürzte in das Zimmer, begrüßte Ketterle mit einem flüchtigen Kopfnicken, holte irgend etwas aus dem Medikamentenschrank und verschwand wieder. »Dann darf ich zwei oder drei Fragen an Sie richten, die Sie mir bitte nur mit ›nein‹ beantworten, wenn sie nicht zutreffen.« Dr. Brabender hob die Schultern. »Ich kann Sie nicht daran hindern, Herr Kommissar, aber …« 120
»Nun, Herr Doktor, handelte es sich um eine tödliche oder ernsthafte Erkrankung Sandra Roberts?« »Nein.« »Um eine tödliche oder ernsthafte Erkrankung des Herrn Senators? Bitte, antworten Sie wahrheitsgemäß. Das Herzleiden des Herrn Senators ist mir bekannt. Handelte es sich darum?« Es wäre eine Kleinigkeit für den Kommissar, dachte der Arzt, durch eine einfache Frage an Papa herauszufinden, daß er in der Behandlung eines bedeutenden Herzspezialisten stand. Vielleicht wußte er es schon, vielleicht wußte er auch schon, daß Papa zu ihm als Arzt kein Vertrauen hatte. »Nein«, sagte er nach kurzer Überlegung. »Auch nicht.« Aber schon in der nächsten Sekunde bereute er es. Er hätte es wagen sollen. »Dann kann es sich nur um eine Schwangerschaft gehandelt haben, Herr Doktor«, sagte der Kommissar. Dr. Brabender zuckte die Schultern und schwieg. Dieser Mann mit den borstigen, leicht ergrauten Haaren, der ihn über faltigen Tränensäcken mit eisengrauen Augen ansah, hatte sich schon tief in die wirklichen Verhältnisse hineingebohrt. »Natürlich können Sie jetzt nicht antworten. Aber Sie können zuhören. Sandra Roberts war keine Frau für Kinder. Sie wollte keine Kinder. Sie war dazu viel zu extravagant, egoistisch und freiheitsliebend. Sie träumte davon, nach dem Tode des Senators ihre volle Aktionsfreiheit zu besitzen, wollte keine Verantwortung und keine Pflichten. Kurz vor dem Ball des AlsterClubs spürte sie, daß sie in anderen Umständen war, und betrank sich sinnlos. Schon da vertraute sie sich Ihnen an. Sie wollte Sie in dieser Sache sprechen, aber Sie zögerten die Aussprache hinaus. Vorige Woche konnten Sie ihr nicht mehr entgehen und bestellten Sie auf Freitag abend, um sie zu untersuchen …« Dr. Brabender machte eine Bewegung. »Bitte, Herr Doktor, lassen Sie mich weitersprechen, und 121
überlegen Sie sich alles gut, was Sie sagen. Denken Sie vor allem daran, daß es sehr wahrscheinlich ist, daß wir die Leiche finden. Sie stellten also die Schwangerschaft fest, und Frau Roberts bestürmte sie, die Frucht zu beseitigen …« Dr. Brabender unterbrach den Kommissar. »Gesetzt einmal den Fall, Ihre Phantastereien entsprächen den Tatsachen – glauben Sie, ich hätte mich der Verwicklung in eine solche Geschichte nicht mit Händen und Füßen entzogen? Glauben Sie wirklich, Sandra wäre damit ausgerechnet zu mir gekommen?« Ketterle beugte sich weiter nach vorn. »Gesetzt den Fall, Herr Doktor, gesetzt den Fall, ich hätte recht, dann wären Sie der einzige Mann, zu dem sie damit hätte gehen können. Sie wußte genau, wie sehr sie Ihnen im Wege war. Und nun noch ein Kind, das automatisch erben und Sie damit vom Anteil an des Senators Vermögen für alle Zukunft, und auch für Ihre Kinder, ausschließen würde! Sie müßten, so dachte sie, das größte Interesse daran haben, daß dieses Kind nicht geboren wird. Und wenn Sie ehrlich sind, haben Sie es auch.« Der Kommissar sah den Kranz feiner schimmernder Schweißperlen am Haaransatz Dr. Brabenders. Von dieser Seite her hatte sich Reimar das alles noch gar nicht überlegt. Er stand auf, ging zum Fenster und sah auf seinen hübschen neuen Wagen hinunter, in dessen Lack sich die trüben Lampen der Hofbeleuchtung spiegelten. »Mein Interesse müßte so groß sein, meinen Sie, wenn ich Sie recht verstehe«, sprach er zum Fenster gewendet, »daß dieses Kind auf keinen Fall geboren werden durfte – so groß, um diese Geburt auch durch einen Mord zu verhindern, nicht wahr, falls mir die andere Möglichkeit zu riskant gewesen wäre. Mit einem Eingriff hätte ich mich nämlich in ihrer Hand befunden. Ich verstehe Sie doch recht? Und wenn Sie morgen die Tote finden? Und Ihre Vermutung trifft zu …?« 122
Der Arzt spürte die eisengrauen Augen fast körperlich auf seinem Rücken. Er drehte sich um. »Wissen Sie eigentlich, welche Ungeheuerlichkeit Sie da aussprechen?« Ketterle hob die Schultern. Aber er zog die Schraube noch eine Umdrehung enger. »Nehmen Sie an, wir finden sie wirklich …?« Noch einmal schwieg der Arzt. Man hörte Stimmen aus dem Flur hereinhallen. Er atmete tief auf. »Sie zwingen mich zu einem Vertrauensbruch«, sagte er dann. »Sie haben recht. Was wollen Sie jetzt unternehmen?« Der Kommissar nickte und stand auf. »Nichts. Es tut mir leid, Herr Doktor. Ich mußte es wissen. Sonst komme ich in dieser Sache keinen Schritt weiter. Und das läge doch wohl auch nicht in Ihrem Interesse. Würden Sie so freundlich sein, mir ein Taxi rufen zu lassen?« Als der Kommissar das Zimmer verlassen hatte, sank Reimar Brabender auf das Sofa und starrte lange, die Ellbogen auf die Knie gestützt, vor sich auf den Boden. Nach weit über einer Stunde richtete er sich auf. Dann wusch er sich die Hände. Auf dem Flur begegnete er der Stationsschwester. »Ich bin im OP, Schwester Angela, beim Professor. Verbinden Sie niemand. Rufen Sie mich auch nicht heraus.« Vertrauenerweckend und zuverlässig wirkend schritt er durch die Korridore, stieg Treppen hinunter, öffnete Schwingtüren, verschwand im Keller. In einer unbeleuchteten Ecke zerrte er sich den Kittel herunter, knüllte ihn zusammen und erreichte durch einen Kücheneingang den Hof. Eine halbe Stunde später jagte der Fiat achtzehnhundert Reimar Brabenders schon weit jenseits von Hollenstedt auf der Autobahn in Richtung Bremen. Um diese Tageszeit brauchte er nur wenig mehr als eine Stunde bis an die Peripherie der Stadt. Irgendwo im Zentrum parkte er seinen Wagen, schritt schnell 123
und zielbewußt durch winklige Gassen und verschwand unauffällig in einem Lokal. Er durchquerte einen Gastraum, in dem steife Bürger beim Abendessen saßen, und betrat die Bar. Er trank zwei oder drei Whisky und atmete auf, als die Frau, die er erwartete, endlich erschien. Sie setzten sich an die Bar. Er lud sie zu einem doppelten Kapitänleutnant ein, dann zu noch einem und setzte ihr, zwar flüsternd, aber leidenschaftlich, irgend etwas auseinander, während ihre Finger einen Strohhalm zerknüllten, den sie später an die Kerze hielt, um ihm seine Zigarette damit anzuzünden. »Es ist nur, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Vielleicht kommt es gar nicht soweit, verstehst du?« »Und so einer wie mir macht das ohnehin nichts aus, nicht wahr?« sagte sie. »Aber immerhin, einiges muß dir die Geschichte ja wert sein, Doktorchen.« »Sehr viel.« »Wieviel?« Sie flüsterten wieder, und schließlich lächelte die Frau. Sie tranken noch einen Whisky und dann verließ Oberarzt Dr. Brabender die Bar. Es war gegen halb elf, als er den Wagen in der Nähe von Rothenburg auf einen Parkstreifen hinausfuhr und die Lichter löschte. Dort rauchte er kurz nacheinander fünf oder sechs Zigaretten, während Hunderte von Autos wie surrende Unterweltsinsekten mit glühenden Augen in beiden Richtungen an ihm vorbeirasten. Es war kurz vor zwölf, als er seinen Plan gefaßt hatte, den Wagen anließ und sich wieder in den in Richtung Hamburg flutenden Verkehr einfädelte. Er erreichte den Krankenhaushof unbemerkt, schlüpfte im Keller in seinen Kittel und trat im Hausflur des Hochparterres mit der Gelassenheit eines Menschen aus dem Kellerschacht, der nur eben nachgesehen hat, ob er nicht vergessen habe, seine 124
Scheinwerfer zu löschen. »Gottlob«, sagte er im Arztzimmer zur Stationsschwester, die an Krankenblättern schrieb, »ein langer Tag …« Er schlüpfte gelassen aus dem Kittel, hängte ihn in den Schrank, beugte sich über die Schulter der Schwester, der er ein paar Anweisungen gab, zog dann seinen Mantel an und verließ das Krankenhaus. Wie immer fuhr er an der Alster entlang, hinauf bis zur Krugkoppel, bog aber dann nicht links ab, nach Harvestehude, sondern rechts in Richtung Alsterdorf. Die Straßen waren um diese Zeit unbelebt und still. Gelegentlich blinkte durch gepflegte Parks herauf der Wasserspiegel der träge fließenden Alster. Kaum ein Mensch war auf der Straße zu sehen. Dr. Reimar Brabender wunderte sich, als er quer über ein Nachbargrundstück hinweg bemerkte, daß in beiden Schlafzimmern Licht brannte. Er steuerte den Wagen um die Ecke, hielt ihn vor dem Portal mit den Granitsäulen an und hastete die Steintreppen hinauf. Es dauerte ziemlich lange, bis er den komplizierten Hausschlüssel gefunden und die Tür geöffnet hatte. Sie fiel hinter ihm ins Schloß, und die Glastür zur Diele zitterte und klirrte leise. In der dunklen Halle fiel ihm das hellere Viereck der offenen Wintergartentür auf. Es wurde finster und drohend, als er den Kronleuchter einschaltete. Noch in der Dunkelheit war es ihm gewesen, als hätte er eine Stimme gehört. Aber jetzt war alles still. Bis auf die Uhr. Ba – bau. Er sah sich um und stieg dann die Treppe nach oben. Er war noch nie im Schlafzimmer des Senators gewesen und überlegte, welche Türe es wohl sein mochte. Vor der rechten hielt er an. Aus dem Raum kam ein merkwürdiges, gequetschtes, heiseres Flüstern. 125
Reimar Brabender zögerte, dann klopfte er. Als keine Antwort kam, drückte er die Klinke nieder. Auf der kostbaren Brücke vor seinem Bett lag Senator Richard Roberts, das Gesicht nach unten, die Hände um die Ränder des Teppichs verkrampft. Der Telefonhörer hing neben dem Nachttisch auf den Boden herunter und spie das komische, heisere Flüstern auf den Teppich. Obwohl der Arzt an allen Gliedern flog, war er mit zwei Schritten am Apparat und hob den Hörer. »Hallo, hallo! Antworten Sie doch, bitte! Sollen wir Beamte schicken …« Durch das Badezimmer hörte Dr. Brabender entsetzt, wie die Balkontür in Sandras Zimmer klirrend zuflog. »Da ist was faul, Erich«, vernahm er dann den Mann im Hörer. Wieder lauter: »Hallo?« Zu dem andern: »Schick den Wagen weg! Bei denen ist was faul.« Ohne sich im einzelnen über seine Reaktionen klarzuwerden, riß der Arzt sein Taschentuch aus der Hose, rieb den Telefonhörer ab, hastete aus dem Zimmer. Türklinke von innen, von außen. In fliegender Hast die Treppe zur Halle. Dielentür, der innere Messinggriff, der äußere. Die Haustür hatte er nicht berührt. In fünf, sechs mächtigen Sätzen war Dr. Brabender am Wagen, schlug die Türe hinter sich zu, startete. Der Motor war noch heiß und sprang nicht sofort an. In rasender Ungeduld drückte er das Gaspedal nach unten. Zwei, drei Takte stuckerte der Motor, dann winselte der Anlasser alleine. Er preßte die Lippen aufeinander. Es würden Minuten vergehen, bis er mit der Batterie den Vergaser leergepumpt hatte. Nein, ‘raus. Zuerst die Scheibe ‘runter. Und von außen durch das Fenster greifend, begann Dr. Reimar Brabender seinen hübschen, neuen Wagen keuchend durch die spärlichen Lichtkreise der Lampen in der Rathenaustraße zu schieben. In den Ohren hatte er noch immer das niederträchtige Wimmern des Anlassers. Nein, es 126
kam näher. Es war kein Anlasser. Es war ein Martinshorn. Schweißüberströmt begann der Arzt ein paar stemmende Schritte zu laufen. Hätte er jetzt den Wagen gestoppt, sich hineingesetzt, eine Zigarette angezündet, er wäre den Beamten im Peterwagen gar nicht aufgefallen. Aber so starrte er geblendet und verzweifelt in die Scheinwerfer, die vor ihm anhielten. Mattschimmernde Polizeisterne über Mützenschirmen, mißtrauische Beamtengesichter darunter: »Woher sind Sie gekommen? Bitte Fahrzeugpapiere. Ausweise. Ein paar Augenblicke Geduld, Herr Doktor. Nein, wirklich nur, bis festgestellt ist, daß alles in Ordnung … Ach so, der Schwiegersohn. Trotzdem, wenn Sie so freundlich wären … Wie? Nur nachsehen wollen, gar nicht im Haus gewesen, ach so … Natürlich, nur ein paar Minuten, Herr Doktor …« Zwischen den Beamten ging Dr. Reimar Brabender zurück zum Säulenportal. »Ich habe einen Schlüssel«, sagte er tonlos. Die Eichentür schwang zurück. Drinnen lag etwas Weißes auf dem Boden. Einer der Wachtmeister hob es auf und studierte das Monogramm. »Sagten Sie nicht Brabender, Herr Doktor, mit ›B‹?« Reimar nickte. »Wie war doch Ihr Vorname, Herr Doktor?« »Reimar«, murmelte der Arzt, »Reimar mit ›R‹.« Als Kommissar Ketterle nach einer Rekordfahrt von zwei Stunden und sechs Minuten vor dem Haus in der Rathenaustraße elf ankam, war es wenige Minuten nach drei. Die Straße bot ein merkwürdiges Bild. Halb auf die Bürgersteige gefahren standen zwei oder drei Peterwagen, bei einem kreiste noch immer nervös das Blaulicht. Der Kommissar 127
sah den Opel-Rekord der Mordinspektion, den Wagen Siebecks, den sie wegen seiner sonderbaren Farbe die Teewurst nannten, und den Wagen des Leiters der Kriminalabteilung II, den sie aus dem Schlaf getrommelt hatten. Die Häuser dieser Gegend waren zu vornehm, als daß man aus den Fenstern gehangen hätte wie vielleicht in Ottensen, Wilhelmsburg oder Barmbeck; aber einige Vorhänge waren doch zur Seite gezogen. Die große Einfahrt zum Park war ausgehakt, und sie wußten, auch ohne ihn zu sehen, daß Röppke irgendwo dort unten seinen ›Sarg‹ hingefahren und geöffnet hatte. Draußen im ›Clifton‹ hatte Frau van Hengelaer durch die Aufregungen einen Anfall bekommen und den Arzt rufen lassen. Sie wand sich vor Schmerzen und war völlig außerstande gewesen, sich auch nur aufzusetzen. Heide hatte sie nur ungern allein gelassen, aber der Kommissar hatte darauf bestanden, daß sie mitkam, und auch Oberst Schlisske, der wach geworden war, hatte es sich nicht nehmen lassen. Schließlich war er ja der ganzen Sache auf die Spur gekommen. Befriedigt inspizierte er den Aufwand und quittierte mit einem jovialen Kopfnicken den Gruß des Beamten, der an der Tür stand. Das Hutziehen überließ er dem Kommissar. Heide starrte verängstigt und übermüdet von einem zum andern. »Die Leiche ist oben«, sagte der Beamte und deutete ins Haus. »Und die Frau?« »Dr. Stöckel ist eben angekommen, Herr Kommissar. Ich glaube, sie sind noch im Bootshaus.« In der Halle ging Ketterle ungeniert zu der Tür des Arbeitszimmers des Toten, öffnete sie und machte Licht. »Machen Sie es sich bequem«, sagte er zu seinen Begleitern; »es kann ein bißchen dauern. Nein, Sie bitte auch, Oberst Schlisske. Es sind ohnehin zu viele, die bei so was unnütz herumstehen.« 128
Dann schob er seine Hände in die Taschen und durchquerte mit Hornschuh die Halle. Der untere Teil des Gartens war in blendende Helligkeit getaucht, und überall sah Ketterle Gestalten hasten, die Geräte schleppten, gestikulierten oder die Silberfäden von Maßbändern auseinanderzogen. Etwas unterhalb der Rotbuche stand eine Gruppe, bei der sie auch den verbeulten Trachtenhut Siebecks bemerkten, den er trug, wenn er sich selbst zum Tatort bemühte. »Eine Menge Neuigkeiten, Ketterle«, begrüßte er den Kommissar. »Was sagen Sie jetzt?« »Schrecklich«, sagte Ketterle. »Eine Tragödie. Wo ist Stökkel?« Siebeck deutete zum Bootshaus. »Da unten. Es gibt so eine Art Geräteraum. Sie haben sie dorthin gebracht.« Schneller als gewohnt, eilte Ketterle, von Hornschuh gefolgt, den Kiesweg hinunter. Sie hatten eine Hundert-Watt-Birne in die Lampenfassung des Geräteraums geschraubt. Von rechts stuckerte das Dieselaggregat des Bereitschaftswagens. Sie hatten zwei primitive Holzbänke zusammengeschoben, eine Plane darübergebreitet und die Tote daraufgelegt. Sie lag steif auf der rechten Seite, die Knie angezogen, die rechte Hand dazwischen, der linke Arm ruhte lang ausgestreckt auf der Hüfte. Das Gesicht war über die linke Schulter gedreht und starrte hilflos und mit einem erstaunten Ausdruck ins Leere. Sie waren eben dabei, sie von allen Seiten zu fotografieren. Dr. Stöckel, der klobige Gerichtsarzt mit dem Bernhardinergesicht und den fleischigen Ohren, wusch sich an einem eisernen Ausguß die Hände. Er drehte das Gesicht. »Ertrunken«, sagte er und nahm einem Beamten das Handtuch ab, das er ihm reichte. »Vorbehaltlich der Obduktion natürlich. Äußere Anzeichen von Trauma oder Intoxikation sind 129
nicht zu erkennen.« »Und wann?« fragte der Kommissar. Dr. Stöckel sah überlegend auf die Tote herab, während er sich die Hände trocknete. »Handschuhe«, sagte er dann und streifte mit ruckartigen Bewegungen häßliche rote Gummihandschuhe an. Dann betrachtete er die Fingernägel der Toten, versuchte die Augenränder zu bewegen und leuchtete mit einer Stablampe in die Nüstern. Schließlich betastete er ihre Lippen. »Vor vierzig bis achtundvierzig Stunden. Eher achtundvierzig als vierzig. Aber so genau kann man das hier nicht sagen.« Der Kommissar rechnete zurück. Dann starrte er auf Hornschuh. Von Hornschuh auf Röppke. »Achtundvierzig Stunden wäre Samstag nacht drei Uhr. Vierzig Stunden Sonntag morgen elf Uhr, Verschwunden ist sie – Röppke wann?« »Samstag nacht zwischen elf und eins.« »Seit wann liegt sie im Wasser, Doktor?« »Ebenso lange«, sagte Dr. Stöckel. »Meinen Sie, man hat sie inzwischen in der Kühltruhe aufbewahrt?« Dem Kommissar mißfiel diese Art von Medizinerhumor. »Sie meinen also, sie ist hier ertrunken?« Er deutete hinaus in die Bootshalle. Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Bin ich Jesus?« brummte er. »Morgen kann ich Ihnen Genaueres sagen.« »Wo ist Novottny?« fragte Ketterle plötzlich. »Hat man Novottny nicht verständigt? Hornschuh, besorgen Sie das. Und Dr. Brabender und diese jungen Leute auch. Sie wissen schon.« »Dr. Brabender?« sagte Röppke. »Der ist auf dem Revier. Die Revierwagenbesatzung nahm ihn fest, als er gerade seinen Wagen vordem Haus wegschieben wollte. Er erklärte, gar nicht dringewesen zu sein, und als sie die Tür öffneten, stolperten sie direkt über das Taschentuch, mit dem er die Klinken abgewischt hat.« 130
Der Kommissar nahm den Hut vom Kopf und strich sich mit der Handkante über das Haar. »Könnten Sie verstehen«, sagte er nach einer Pause, »wenn ich diesen Fall abgeben würde?« Er schüttelte den Kopf. »Was ist mit Roberts?« fragte er den Arzt. »Herzinfarkt«, sagte Dr. Stöckel lakonisch. »Vorbehaltlich der Obduktion …« »Ja, ja, ich weiß. Äußere Anzeichen von Trauma und Intoxikation …«, sagte Ketterle mürrisch. »Immerhin bin ich froh, daß die Hexerei vorüber ist. Gen Himmel gefahren ist sie jedenfalls nicht. Aber jetzt beginnt die Arbeit. Können Sie feststellen, ob sie in Salzwasser oder in Süßwasser ertrunken ist?« »Morgen ja, jetzt nicht. Ein paar Stunden möchte ich auch noch schlafen.« »Los, Hornschuh, holen Sie jetzt Heide und den Oberst. Ich kann es ihnen nicht … was haben Sie denn?« Kommissar Hornschuh starrte unbewegt auf die Tote. »So ertrinkt man nicht«, sagte er; »schauen Sie sich doch diese verrückte Verkrampfung an! Ertrinkt man so? Man hat sie gefesselt und ersäuft, wie ein Vieh. Schauen Sie sich das doch an!« Ketterle zog die Oberlippe hoch. »Können Sie sich das Ausmaß von Brutalität vorstellen, das dazu gehört, so etwas zu tun? Besitzt irgendeiner unserer Kandidaten so viel Brutalität? Wir sprechen noch darüber, Hornschuh. Holen Sie jetzt den Oberst und Heide.« »So unrecht hat er nicht«, sagte Dr. Stöckel, während er sich eine Zigarette anzündete. »Bei Ertrunkenen tritt die Leichenstarre im Wasser ein. Wasser entspannt und lockert. Meist haben Ertrunkene die harmonischsten und natürlichsten Körperstellungen. Fesseln …?« murmelte er dann, »… hm, ohne Mikroskop sind keine Spuren festzustellen, und wo sollten die Fesseln geblieben sein? Ich bin ja kein Kriminalist, aber das 131
scheint mir unwahrscheinlich.« Nachdenklich starrte Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle auf das Becken des eisernen Ausgusses in der Ecke. Er wußte es in diesem Moment selbst noch nicht, aber dieser Blick war der Wendepunkt des merkwürdigsten Falles, den er je bearbeitet hatte. Vorerst dachte er an etwas anderes. »Es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sie schwanger war«, sagte er zu dem Arzt, und der nickte. Kurz danach kam Hornschuh mit Heide zurück. Oberst Schlisske folgte ihnen. Das Mädchen starrte auf die Tote und schlug die Hände vor das Gesicht. »Sie ist es. Natürlich ist sie es«, sagte der Oberst. Beinahe hätte er gesagt, ›wie sie leibt und lebt‹. Aber er verkniff es sich. »Daran habe ich keinerlei Zweifel, Oberst Schlisske. Trägt sie die Kleider, die sie nach dem Schwimmen anhatte? Alle? Von Ihrer Aussage hängt eine ganze Menge ab.« Er gab einem Beamten einen Wink, und der Mann deckte das Gesicht der Toten zu. »Sehen Sie sich die Kleider an, Heide. Darauf allein kommt es im Augenblick an.« Das Mädchen hatte sich etwas gefaßt. Sie betrachtete alles genau, was sie sehen konnte. »Ja«, sagte sie dann, »auch die Söckchen und die Bernsteinkette. Können Sie das Tuch einmal wegnehmen? Sie trug auch Bernsteinklips. Ja, sehen Sie, es ist alles so, wie ich sie zum letztenmal gesehen habe.« Der Kommissar nickte. »Würde es Sie befriedigen, Heide, wenn wir herausfänden, wer diesen Mord begangen hat?« Das Mädchen sah ihn an und nickte. »Wen würde es nicht befriedigen?« »Der Arzt sagt, daß sie zwischen vierzig und achtundvierzig 132
Stunden tot ist, Heide. Wenn sie am Sonntagmorgen um sieben Uhr neun am Telefon war, müssen wir ganz anders vorgehen, als wenn wir genau wüßten, daß das nicht der Fall war. Verstehen Sie das?« Sie nickte wieder. »Erst waren Sie neugierig, und nachher hatten Sie Angst. Stimmt es?« Heide nickte noch einmal. »Na, sehen Sie«, sagte Ketterle. »Sie sollte keine Freude an unserem Hof haben«, murmelte das Mädchen. »Sandra Roberts?« »Nein, Frau van Hengelaer. Ich wollte sie erschrecken.« Der Kommissar rieb sich müde die Augendeckel. »Diese Geschichte ist schon erschreckend genug«, sagte er. »Fällt Ihnen irgend etwas auf, Oberst?« Aber dem Oberst fiel nichts auf, obwohl ihm, wie allen anderen, etwas hätte auffallen können. Und das sollte sich späterhin als sehr wichtig erweisen. »Würden Sie bitte wieder oben im Haus warten?« sagte der Kommissar, verließ hinter Heide und dem Oberst den Geräteraum und blieb mit den Händen in den Taschen in der Bootshalle stehen. »Wo hat sie gelegen, Röppke?« Röppke zeigte auf die Stelle zwischen dem Außenbordmotorboot und dem Ruderboot. »Die Tür war verschlossen?« »Die Tür war geschlossen, aber nicht versperrt. Der Schlüssel steckte von außen.« »Das Gitter vorne?« »Das Gitter war geschlossen. Vorhängeschloß und Kette sind unberührt.« Der Kommissar nickte. »Wir stehen vor der Frage«, murmelte er dann, »wie Sandra 133
Roberts von der Stelle, wo ihre Spur verschwand, hier in dieses Bootshaus gekommen ist. Kam sie lebend hierher oder tot?« Er dachte daran, daß sie, wenn der Arzt recht hatte, schon hier gelegen haben mußte, als er gestern morgen oben im Haus war. »Hätten wir die Bude nur durchsucht«, murmelte er. Dann schreckte er hoch, ging rasch in den Geräteraum und zog das Tuch von Sandra Roberts Gesicht. Denn draußen im Garten hatte er Hornschuh gehört, der mit Novottny sprach. Der Chauffeur blieb unter der Tür stehen, biß sich unsicher auf die Unterlippe und starrte von Sandra Roberts auf Ketterle. »Wir haben sie gefunden, Herr Novottny. Eine schlimme Sache, wie? Was ich Sie noch fragen wollte …?« »Aber sie ist doch dort oben …«, stammelte der Chauffeur, »wie kommt sie denn hier ins Bootshaus?« »Es gibt eine einzige Person, die das weiß, Herr Novottny. Und wenn wir sie nicht finden, wird sie auch die einzige bleiben. Aber was ich Sie noch fragen wollte: Ist das Bootshaus regelmäßig verschlossen?« »Ja, natürlich. Vorn das Gitter und auch die Tür zum Park.« »Wo wird der Schlüssel aufbewahrt?« »Der Herr Senator haben die Schlüsse! in seiner Nachttischschublade. Einer hängt am Schlüsselbrett in der Garage.« »Und für das Gitter?« »Auch. Es ist dasselbe.« »Und für die Boote?« »Die Bootsschlüssel habe ich in Verwahrung. Sowohl für die Kabinenbarkasse als auch für den Außenborder. Das Ruderboot ist unverschlossen. Der Herr Senator fahren die Boote niemals selber.« Der Kommissar sah Hornschuh an. »Haben Sie ihn eigentlich nicht davon unterrichtet, daß der Herr Senator tot sind?« sagte er. »Am Herzschlag gestorben beim Anblick seiner ermordeten Frau?« 134
Die eisengrauen Augen wanderten zurück zu Novottnys Gesicht, das so bleich war wie ein Holländer Käse. »Der Mann, der das auf dem Gewissen hat, muß Nerven haben wie Stricke. Finden Sie nicht?« Novottny bewegte die Lippen. »Das ist nicht wahr«, stammelte er tonlos und stockend; »Sie wollen mich bluffen.« »Wollen Sie ihn sehen?« fragte Ketterle. »Wann sind übrigens die Boote zum letztenmal gefahren worden, Novottny? Sind sie seegehend und wie schnell?« »Ich habe die Boote wochenlang nicht gefahren. Das letztemal im September. Da war ich mit den Herrschaften in den Vierlanden. Dann nicht mehr. Die Chris ist seegehend für Küstenfahrt. Sie erreicht maximal fünfundfünfzig Stundenkilometer. Der Außenborder kann nicht einmal außerhalb von Glücksburg gefahren werden. Aber er erreicht fünfundsiebzig Stundenkilometer. Bei gutem Wetter natürlich …« »Es war gutes Wetter, Novottny …« »Aber die Boote waren die ganze Zeit hier vertäut …« »Wer kann das bestätigen?« »Der Herr Senator haben …« »Der Herr Senator ist tot. Wann waren Sie zum letztenmal hier im Bootshaus?« »Am Freitagabend gegen neun. Gewöhnlich sehe ich jeden Abend nach dem Rechten.« »Aber am Samstagabend nicht? Und auch am Sonntag nicht, wie?« »Die Aufregung, Herr Kommissar. Es war doch wirklich alles aus der Reihe geraten.« »Soso«, murmelte Ketterle. »Hornschuh sorgen Sie dafür, daß Herr Novottny morgen, nein, sagen wir übermorgen um halb zehn zum amtlichen Verhör in mein Büro kommt. Haben Sie alles abgenommen, Röppke? Von mir aus können Sie sie dann wegbringen. Am besten gleich ins Institut, was, Doktor?« 135
Dr. Stöckel brummte etwas vor sich hin, das so klang wie ›der Alte dazu wird mir wahrscheinlich auch nicht erspart bleiben‹. »Das ist ein anderes Kapitel«, sagte Ketterle. »Kommen Sie gleich mit?« Nacheinander verließen sie das Bootshaus, während zwei oder drei Beamte sich bemühten, aus Sandra Roberts mit Planen und Perlonstricken ein Bündel zu machen, das man transportieren konnte. Erika Brabender saß in der Halle auf einer holländischen Polsterbank und schluchzte hemmungslos. Hans-Paul stand daneben wie ein Schuljunge, der nicht weiß, was er antworten soll, und Sigrid kramte in ihrer Handtasche, um ein Kleenextuch für ihre Schwester zu suchen. Als Erika den Kommissar durch den Wintergarten kommen sah, schob sie Sigrid beiseite, stand auf und ging ihm entgegen. »Was haben Sie mit Reimar gemacht? Reimar ist absolut unschuldig, Reimar hat nie im entferntesten …« Ketterle starrte in ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Später«, sagte er. »Später, Frau Brabender. Ich verstehe Ihre Erregung. Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern. Ich rufe Sie später hinauf.« Dann stieg er nach oben in den ersten Stock, Dr. Stöckel, kantig wie ein Militärspind, hinter ihm. Röppkes Leute waren schon an der Arbeit gewesen. Der Revierführer des 114. Polizeireviers saß an einem grazilen Sheratontischchen, auf das er seine Maschine gestellt hatte, und verhörte Mathilde. Sie hatten dem Senator die Augen geschlossen und ihn auf sein Bett gelegt. Er war zugedeckt bis zum Kinn, und noch im Tod bestach der mächtige Löwenkopf durch seine Unerbittlichkeit und Energie. »Ich weiß nicht, ob Sie eine sehr gute Figur bei dieser Sache 136
machen, Herr Hauptkommissar?« hörte Ketterle ihn wieder sagen. Wenn ich einen Beamten hergeschickt hätte, dachte er, wäre er nicht ins Bootshaus gegangen. »Ich bin erst wach geworden, als der Herr Doktor mit der Polizei ins Haus kam«, sagte Mathilde, gerade, als der Wachtmeister den Kommissar sah und aufstand. »Wie war das?« fragte Ketterle und sah sich um. Der Wachtmeister berichtete. »Dann sahen wir einen Mann seinen Wagen wegschieben«, sagte er später, »und hielten ihn an. Er erklärte, er sei der Schwiegersohn und habe eigentlich nach dem Senator sehen wollen. Da aber alles in Ordnung zu sein schien, habe er es doch nicht getan und eben seinen Wagen anschieben wollen. Im Vorraum fanden wir dann direkt sein Taschentuch mit dem Monogramm.« »Was sagte er dann?« »Er gab zu, im Haus gewesen zu sein. Er habe den Senator gefunden, Geräusche gehört, die Stimme meines Kollegen im Telefon vernommen. Er habe es mit der Angst bekommen und sei Hals über Kopf zu seinem Wagen gelaufen. Das Taschentuch müsse er in der Hast verloren haben.« »Haben Sie ihn gefragt, ob er im Bootshaus war?« Der Beamte schien einen Moment lang betreten. »Nein, das nicht«, sagte er. Der Kommissar zog die Mundwinkel nach oben. »In der Zwischenzeit hat er sich alles zurechtgelegt«, sagte er. »Na ja, was Neues, Doktor?« »Nein«, sagte der Arzt. »Ich glaube, der erste Eindruck war der richtige.« Ketterle nickte. Dann ging er durch die Ankleidezimmer und das Bad hinüber in Sandra Roberts Boudoir. »Kommen Sie mit der Maschine, Wachtmeister«, rief er von dort, »und holen Sie mir die Leute aus der Halle herauf. Aber nacheinander.« 137
Während er wartete, schien es ihm, als ob es draußen über den reglosen Baumwipfeln schon zu dämmern begänne. Die Vorgänge der verflossenen Nacht hatten den Fall Roberts mit einem Schlag zum beherrschenden Ereignis im Polizeipräsidium gemacht. Direktor Siebeck hatte sich gezwungen gesehen, der Pressestelle eine ausführliche Mitteilung zu geben, und hatte schon gegen acht Uhr morgens selbst an einer improvisierten Pressekonferenz teilgenommen. Darauf hatte er sich mit Interpol in Verbindung gesetzt, um eine Beschleunigung wegen der Übersendung der Akten aus Weekers auf Long Island zu erreichen. In den Labors der KTV arbeiteten sie seit halb fünf an der Auswertung der Feststellungen, die im Bootshaus und Wohnhaus des verstorbenen Senators getroffen worden waren. Im ersten Tageslicht hatte ein Hubschrauber der Verkehrsüberwachung Luftaufnahmen angefertigt. Sie waren noch beim Entwickeln. Dr. Reimar Brabender war ebenfalls gegen acht aus dem Arrest im 114. Polizeirevier in das Untersuchungsgefängnis am Sievekingplatz übergeführt worden. Und jetzt saßen sie völlig übermüdet, mit aschgrauen unrasierten Gesichtern, im Chefbüro im zweiten Stock. Tassen starken Kaffees dampften auf dem runden Tisch, ihre Mäntel lagen herum, die Hüte darauf, und der bläuliche Qualm der Zigarren und Zigaretten erfüllte den Raum. »Sie werden sehen, Ketterle, die Zeitungen werden den Tod des Senators auf unsere Unfähigkeit schieben«, sagte Siebeck. »Er hatte eine Hermann-Göring-Popularität. Er war jovial, aber brutal. Das einzige, was uns noch bleibt, ist, dieser Geschichte so schnell wie möglich auf die Spur zu kommen.« »Wenn wir die Tatsachen ins Auge fassen, dann stellen sich folgende Fragen«, sagte Ketterle. 138
»1. Wer hat sie zu ihrem Spaziergang veranlaßt, den sie noch nach dem Abschminken, also wohl mit Sicherheit nicht aus eigenem Antrieb, unternommen hat? 2. Wie ist der Betreffende an den Strand gekommen, ohne seinerseits eine Spur zu hinterlassen? 3. Was hat er dort mit Sandra Roberts gemacht, wiederum ohne Spuren einer Gewalttätigkeit zurückzulassen? 4. Auf welche Art und Weise kam Sandra Roberts aus dem Lande Hadeln in das Bootshaus an der Alster? 5. Kam sie dorthin lebendig oder tot? Auf die letzte Frage wird uns wohl heute mittag Dr. Stöckel eine Antwort geben können. Lautet sie ›lebendig‹, ist also Sandra Roberts im Bootshaus ertrunken, dann ist es immerhin möglich, daß sie ihre Spuren selbst verwischt hat. Aus einem Grunde, den wir nicht kennen. Sie war ja extravagant. Vielleicht wollte sie sich totlachen. Was aber geschah dann im Bootshaus mit ihr?« »Dürre Tatsachen«, sagte Siebeck und stellte die Tasse, die ihm zu heiß war, zurück auf den Tisch. »Motive weisen auf Brabender, Bracélles und Novottny, wie?« »Von allen scheint Brabender der einzige zu sein, der ein sattelfestes Alibi hat. Er hatte jedenfalls keinerlei diesbezügliche Bedenken. Einzelheiten erfahre ich gleich nachher. Es scheint sich um eine etwas delikate Angelegenheit zu handeln, na ja.« »Und die anderen?« »Bei denen ist es wackelig. Dazu kommt noch Novottnys Finger auf dem Zahnputzglas …« »Na ja, Ketterle, was wollen Sie denn noch mehr?« »Verzeihen Sie«, sagte der Kommissar, »erklärt Novottnys Finger auf dem Zahnputzglas vielleicht im entferntesten die übrigen Ungereimtheiten dieses Falles? Wenn ich versuche, den Mann zu zermürben, wird er mir vielleicht nach sechs Stunden gestehen: ›Ja, also ich war in ihrem Zimmer. Wir haben über alles gesprochen, dann bin ich wieder nach Hause 139
gefahren und habe mich ins Bett gelegte Sie wissen besser als ich, Herr Direktor, daß kein Staatsanwalt bei einem so dünnen Indiz überhaupt nur eröffnet. Dazu kommt, daß der Senator tot ist. Woher soll denn jetzt noch geklärt werden, woher das Kind stammt? Novottny hat nichts zugegeben, und jetzt wird er es auch nicht mehr tun.« »Der einzige, den Sie bisher noch nicht unter die Lupe genommen haben, ist Bracélles, nicht wahr?« Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle lehnte sich zurück und rieb sich die stoppelige Backe. Dann betrachtete er seine Hand. »Es ist merkwürdig, daß alle Theorien, Indizien und Anhaltspunkte immer nur bis zu einem bestimmten Punkt führen und dort aufhören. Genau wie die Spur. Wir brauchen ein Geständnis. Sonst kriegen wir bei diesem Sachverhalt kein Urteil. Höchstens einen Senatsrüffel.« »Und wie wollen Sie zu einem Geständnis kommen,« fragte Siebeck. »Da können wir unser Gespräch wieder von vorn anfangen«, brummte Ketterle; »ich weiß es nicht.« Sie sahen alle zur Tür, als Röppke hereinkam. Er warf einen Stoß Material auf den Tisch und erklärte, daß nicht der geringste Anhaltspunkt gefunden worden sei, aus dem geschlossen werden könne, wie Sandra Roberts in das Bootshaus gelangt sei. »Sie ist hineingeflogen«, sagte er resigniert, »hat sich ins Wasser gelegt und ist ertrunken. Ihre Hände dutzendmal auf den Booten, natürlich. Auch die des Chauffeurs. Ist ja kein Wunder. Auch die des Senators, auch kein Wunder. Sonst nichts.« Sie schwiegen. Schließlich erhob sich der Kommissar. »Na, dann werde ich mir meine Schäfchen mal vorknöpfen«, sagte er, nahm Mantel und Hut und verließ das Chefzimmer. Hornschuh hielt ihm dabei die Tür.
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Es kam dem Kommissar zustatten, daß er bisweilen mit Menschen, die in den engeren Kreis seiner dienstlichen Tätigkeit gerieten, in eine Art persönliches Verhältnis kam. »Nehmen Sie Platz«, sagte er zu Dr. Brabender. »Zigarette?« Und machte Fräulein Klings ein Zeichen mit Daumen und Zeigefinger. Sie wußte, daß das nicht eine, sondern zwei Tassen Kaffee bedeutete. »Also von heute nacht wollen wir nicht mehr sprechen. Sie bleiben dabei, daß Sie das Bedürfnis hatten, mit dem Senator über unser Gespräch von gestern abend zu reden. Das leuchtet mir ein. Daß Sie Angst bekamen, als Sie ihn fanden – und das noch, kurz nachdem ich Sie über die besondere Schwierigkeit Ihrer Lage aufgeklärt hatte –, leuchtet mir auch ein. Bleiben wir also bei dieser Version. Sie ist außerdem nicht zu widerlegen. Im Augenblick scheint übrigens festzustehen, daß Sie der einzige Mensch waren, der heute nacht in der Rathenaustraße gewesen ist. Sie müssen sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß der Tod Ihren Schwiegervater ereilte, als er Ihre Schritte auf der Treppe hörte. Ebenso scheint festzustehen, daß das Polizeirevier tatsächlich von einem Schiffer angerufen wurde, der die Tote im Bootshaus unter dem Gitter hindurch bemerkte. Man hat den Mann ermittelt. Ich gestehe Ihnen also zu, keine Verbindung zu dieser Seite der Sache gehabt zu haben. Nur zu dieser, wohlgemerkt. Ob Sie überhaupt keine haben, wird davon abhängen, ob Sie mir für jede Minute belegen können, was Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag getan haben.« Das Mädchen kam mit dem Kaffee, ging dann noch einmal hinaus ins Schreibzimmer und legte einen Umschlag mit Fotografien vor Ketterle auf den Tisch. Dazu die Mittagsausgabe einer Hamburger Zeitung, die schon an der Stelle aufgeschlagen und angestrichen war, wo über den Mord berichtet wurde. Der Kommissar überflog die Notiz, legte dann die Zeitung weg und schob Zucker und Milch zu Brabender hinüber. 141
»Erlauben Sie mir eine Frage, Herr Kommissar«, sagte der Arzt. »Ich bin bereit, eine Kaution in beträchtlicher Höhe zusammenzubringen. Können Sie mich entlassen? Ich gebe Ihnen mein Wort …« Der Kommissar machte eine Handbewegung. »Nachdem Sie heute nacht um null Uhr dreißig Senator Roberts beerbt haben, würde eine Kaution in der üblichen Höhe Sie kaum davon abhalten, das Weite zu suchen, wenn Sie das wollten. Und außerdem wird das Kautionsverfahren in Mordfällen nicht angewendet.« Dr. Brabender schüttelte den Kopf. »Ja, es ist ernst«, sagte Ketterle; »aber ich gebe Ihnen meinerseits mein Wort, daß sich das Gefängnis zehn Minuten nach dem Zeitpunkt für Sie öffnet, in dem wir Ihr Alibi überprüft und für glaubwürdig befunden haben. Mehr kann ich nicht tun. Also Sie fuhren am Sonnabend morgen gegen halb zehn nach Bremen …« »Ja. Ich kam um elf dort an. Der Kongreß tagte im Haus der Ärztekammer. Zahllose Kollegen könnten meine Anwesenheit während der Vorträge, des Mittagessens, der Referate und Diskussionen am Nachmittag sowie während des gemeinsamen Abendessens lückenlos bestätigen.« Kommissar Ketterle schaltete ein Bandgerät ein. »Würden Sie willkürlich ein paar Namen, fünf oder sechs, aus dem Gedächtnis nennen?« Dr. Brabender tat es, ohne zu zögern, und Ketterle schaltete das Gerät wieder ab, nachdem das Band die Aussage des Arztes aufgenommen hatte. »Bis wann gilt das?« »Bis nach dem Abendessen, etwa gegen acht. Dann ging ich in mein Hotel. Ich hatte ein oder zwei Gläser Sherry zuviel getrunken und wollte in diesem Zustand nicht nach Hause fahren. Ich hatte mir schon vorsorglich ein Zimmer bestellt.« »Wann?« »Freitag abend.« 142
»Um wieviel Uhr?« Der Arzt wollte antworten. Aber dann schwieg er. »Nun«, drängte der Kommissar. »Es mag etwa um halb, dreiviertel zehn gewesen sein.« »Gut. Und was geschah dann?« »Ich ging gegen halb zehn noch mal aus, weil es ein schöner und windstiller Abend war. Ich wollte noch ein oder zwei Whisky trinken. Ich wollte gerade ins ›Esplanade‹, als ich eine Bekannte traf. Wir tranken dort noch eine Kleinigkeit, und dann begleitete ich sie zu ihrer Wohnung. Dort kochte sie Kaffee, und wir verplauderten uns.« »Wann sind Sie in Ihr Hotel zurückgekehrt?« Dr. Reimar Brabender sah auf seine Hände. Es war ihm wirklich sehr unangenehm. »Es war ungefähr halb sieben«, sagte er. »Wer war die Dame?« fragte Ketterle. Der Arzt nannte Name und Adresse. Kommissar Ketterle nahm einige der Fotografien von seiner Schreibtischplatte und schob eine hinter die andere, ohne sie wirklich anzusehen. »Weiß Ihre Frau von diesem Verhältnis?« »Nein, natürlich nicht. Ist es möglich … Ich meine, das ist doch eine so persönliche Angelegenheit …« »Hören Sie mal, Dr. Brabender«, sagte der Kommissar, »treffen Sie öfter mit dieser Dame zusammen?« »Darüber möchte ich keine Auskunft geben, Herr Kommissar.« »Es ist aber wichtig. Sehen Sie mal, Sie bestellen sich vorsorglich ein Zimmer, weil Sie die Nacht noch in Bremen verbringen wollen. Es wäre doch viel bequemer für Sie gewesen, nicht zuviel zu trinken und abends nach Hause zu fahren. Sie bestellen sich also vorsorglich ein Zimmer, und dann treffen Sie ganz zufällig eine alte Bekannte, die Sie nach Hause begleiten. Da stimmt doch etwas nicht, das müssen Sie doch zugeben. Was war also wirklich los?« 143
»Ist es eigentlich wirklich nötig, daß Sie die intimsten Dinge von mir wissen wollen?« »In Ihrem eigenen Interesse, Dr. Brabender.« Der Arzt atmete ein- oder zweimal tief ein und zündete sich dann eine Zigarette an. »Bleibt es wirklich vertraulich?« »Soweit möglich.« »Versuchen Sie es. Es ist nicht gerade geschmackvoll, aber ich hatte Lust, diesen Abend in Bremen zu einem Abenteuer auszunützen. Meine Darstellung ist richtig. Ich kannte sie flüchtig. Sie hatte an diesem Abend dienstfrei, und es kam eben so. Ich hatte es darauf abgesehen. Niemand hätte etwas davon erfahren. Ich konnte ja nicht wissen, daß in dieser Nacht Sandra verschwinden würde.« Dr. Brabender war zerknirscht wie ein Primaner, den man zum erstenmal in einem Nachtlokal überrascht. »Na gut«, sagte der Kommissar zu seiner Erleichterung; »wir werden Ihre Angaben überprüfen. Wo ist die Dame tätig?« »Sie besorgt die Bar, hinter Reinharts’ Restaurant. Exklusive Bürgergaststätten mit etwas Animierbetrieb nach zehn. Sehr seriös, deshalb ist auch samstags die Bar geschlossen.« Dr. Brabender war beinahe froh, daß die Qualität des Lokals das schiefe Bild, das von ihm entstanden war, wenigstens etwas verbesserte. Ketterle nickte. Dann schob er die Fotografien über den Schreibtisch. »Sehen Sie sich das mal an.« Dr. Brabender starrte auf die Fotografien, die im Bootshaus von der toten Sandra Roberts gemacht worden waren. »Was halten Sie davon?« Dr. Brabender war erschüttert. »Entsetzlich«, murmelte er. »Sie ist ertrunken«, sagte der Kommissar. »Man möchte es kaum glauben«, sagte der Arzt und sah das Päckchen der Aufnahmen durch. Manche hielt er vergleichend 144
nebeneinander. »Warum?« »Na, sehen Sie doch mal diese Stellung an. So ertrinkt man nicht. Jedenfalls nicht, wenn man mit dem ganzen Körper im Wasser liegt.« Ketterle sah Dr. Brabender einige Sekunden lang nachdenklich an. »Ihre Auffassung deckt sich mit der des Gerichtsarztes«, sagte er dann und prüfte, ob der Kaffee noch immer zu heiß war. Er stellte die Tasse wieder zurück und suchte eine andere Fotografie heraus. »Was meinen Sie dazu?« Eine dunkle Ecke, ein grob an der Balkenwand befestigter eiserner Ausguß, schwarz gestrichen, mit einem primitiven Hahn aus Messing darüber. »Sie glauben …?« Der Kommissar zuckte die Schultern. »Kann man sich das vorstellen?« Dr. Brabender schauderte. »Eigentlich nicht.« »Und dennoch muß es so oder ähnlich gewesen sein. Na ja.« Ketterle stand auf und drückte auf den Klingelknopf. »Ich lasse Sie jetzt zurückbringen. Sie hören sofort von mir, wenn wir Ihre Angaben überprüft haben.« An der Seite eines Wachtmeisters verließ Dr. Brabender das Haus am Karl-Muck-Platz. Sie schritten wie zwei gute Freunde quer durch die Anlagen hinüber zum Untersuchungsgefängnis. Der Kommissar sah ihnen nach, setzte sich dann wieder hinter seinen Schreibtisch, legte die Aufnahmen eine neben die andere vor sich auf die Platte und blieb fast eine Viertelstunde davor sitzen. Manchmal rührte er seinen Kaffee um, trank einen Schluck und ließ die Tasse kreisen, um den Zucker zu lösen.
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Den Vormittag hatte sie damit zugebracht, sich notdürftig schwarze Sachen zusammenzusuchen. Sie unterstrichen noch ihre geisterhafte Blässe. Gegen halb zwölf hatte sie dann im Polizeipräsidium angerufen. Sie hatte natürlich das Bedürfnis, alle Hebel aufzunehmen. Man hatte ihr am Apparat gesagt, daß Kommissar Ketterle nicht im Hause sei. Ob sie mit Kommissar Hornschuh sprechen wolle. Aber sie hatte sich mit Direktor Siebeck verbinden lassen. »Ich kann Ihnen wenig dazu sagen, Frau Brabender«, hatte Siebeck gemeint. »Die Untersuchung leitet Kommissar Ketterle. Er allein kann entscheiden, ob Sie Ihren Mann besuchen dürfen oder nicht. Soviel ich weiß, will er sein Alibi überprüfen. Solange das nicht geschehen ist, kann ich Ihnen wenig Hoffnung machen.« Erika hatte ihn mit Argumenten und Beteuerungen bestürmt, aber es war bei einem höflichen und vielleicht sogar ehrlichen: »Es tut mir außerordentlich leid, Frau Brabender«, geblieben. Jetzt saß sie auf ihrem Sofa, starrte vor sich hin und überlegte, an wen sie sich noch wenden könne. Hans-Paul schied aus. Er war ein Außenseiter und verfügte über keinerlei Beziehungen. Papa hätte natürlich den Justizsenator und auch den gegenwärtigen Innensenator gekannt. Aber sie gehörten beide zu den Sozialisten, und Erika wußte, was Papa ihr gesagt haben würde. Sie würden sich ein Vergnügen daraus machen, den Konservativen, den sie zwar respektierten, aber keineswegs liebten, mit einem Wunsch nach einer Sondervergünstigung abfahren zu lassen. »Schwebendes Verfahren, Kind«, würde er gesagt haben, »weittragende Untersuchungen. In solchen Dingen sind die Leute komisch.« Sie würde sich lächerlich machen, wenn sie an seiner Stelle diesen Schritt tun würde. Wieder und wieder grübelte sie darüber nach, woher Reimars Furcht vor einer Überprüfung seines Alibis kam. Sie kannte seinen Hang zu abschätzendem Kalkül viel zu genau, um im 146
Ernst zu glauben, daß er mit Sandras Tod etwas zu tun haben könne. Aber wer kennt schon den anderen? dachte sie dann wieder. Seine Erregung, als sie es ihm mitgeteilt hatte, hatte sie beängstigt. Sie redete sich ein, sie habe es sich eingebildet, aber das war nicht wahr. In den Augenblicken, in denen sie den Mut zur Ehrlichkeit hatte, erinnerte sie sich ganz genau daran, wie fassungslos er gewesen war. Zuerst hatte sie natürlich die Absicht, gar nicht zu öffnen, als es klingelte. Aber als es noch einmal läutete und dann wieder, stand sie auf, fuhr sich mit einer für sie typischen ordnenden Bewegung vor dem Spiegel im Flur durch die Haare und zog die Tür auf. Der Kommissar in seinem dicken Mantel von unscheinbarer Farbe füllte sie fast ganz aus. Zuerst murmelte er etwas von Teilnahme. »Ich sah Ihren Wagen unten stehen, Frau Brabender«, sagte er dann; »ich konnte mir auch vorstellen, daß Sie nicht gerne mit jedem reden möchten, deshalb läutete ich ein paarmal. Sie wollten mich ja schon heute nacht sprechen.« Er nahm den Hut ab und legte ihn auf die Flurgarderobe. Dann öffnete er den Mantel. Erika machte den Ansatz zu einer Bewegung, als wolle sie ihn ihm abnehmen. »Nein, nein, danke«, sagte Ketterle und ging ihr voran in das große Wohnzimmer mit dem Blumenfenster zum Garten. Sie wohnten, wie der Mittelstand wohnt. Polstermöbel, Couchtisch, Schreibtisch, alles Mittelklasse. Nicht teuer, nicht billig, nicht häßlich, aber auch nicht hübsch. Sie besaßen eine große mahagonischimmernde Phonotruhe. Sicher liebte Dr. Brabender Schumann und Mozart und seine Frau Opernarien. Aida, dachte Ketterle, dies Bildnis ist bezaubernd schön, oder vielleicht auch Rigoletto oder den Troubadour. Die Ölbilder in den verschnörkelten, mit künstlicher Patina versehenen Barockrahmen zeigten Fischerboote, Abend am Meer, wolkigen Himmel, durch den Sonne brach. Blumenstücke. Außerdem 147
waren es zu viele. Der Eßtisch war imitiertes Chippendale, die Stühle hatten sonnenartig geflochtene Korbrücken. Er setzte sich ihr gegenüber. »Haben Sie ihn schon vernommen?« »Ja. Ich habe eben mit ihm gesprochen, Frau Brabender.« Ketterle faltete die Hände auf dem Tisch und sah sie an. »Was hatte Ihr Mann eigentlich gestern abend vor?« »Er sagte, er würde spät nach Hause kommen. Professor Vollmann operierte, und er wollte zusehen. Das stimmt auch, denn als ich gegen halb zehn auf der Station anrief, sagte mir Schwester Angela, er habe darum gebeten, nicht herausgerufen zu werden. Was er anschließend in der Rathenaustraße wollte, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Er hat nicht mit mir darüber gesprochen. Und das ist selten.« »Nicht?« »Nein.« »Haben Sie selbst irgendeine Vermutung darüber?« »Nein. Hat er es Ihnen denn nicht gesagt?« »Doch.« »Warum fragen Sie mich dann?« »Es ist von einer gewissen Wichtigkeit. Nicht, ob Sie den Grund kennen, sondern, ob er zu Ihnen davon gesprochen hat.« »Das verstehe ich nicht.« »Das ist auch schwierig«, sagte der Kommissar; »sehen Sie mal, er hat mir verschwiegen, daß er Sandra Roberts nicht auf dem Ball des Alster-Clubs, sondern am Freitagabend zum letztenmal gesehen hat.« Erika Brabender zerrte nervös an der Spitzendecke, durch die das polierte Holz des Tisches schimmerte. »Das glaube ich nicht«, sagte sie, »es gibt nichts, was Sandra betrifft, worüber Reimar nicht mit mir spricht. Das ist ausgeschlossen.« »Er hat es zugegeben.« Sie schüttelte den Kopf. 148
»Was wollte er denn von ihr?« fragte sie plötzlich. Und dann fielen ihr die vielen Abende ein, an denen Reimar in der Klinik war, Nachtdienst, Operation, Kongresse, Herrenabende. »Sie wollte etwas von ihm«, hörte sie den Kommissar sagen; »sie erwartete ein Kind.« Erika hörte auf, an der Decke zu zupfen. »Das muß eine furchtbare Katastrophe für sie gewesen sein«, sagte sie tonlos. Warum das immer gerade denen passierte, die partout keines wollten! »Eben. Darum ging sie zu Ihrem Mann.« »Darüber konnte er übrigens auch mit mir nicht sprechen. So etwas fällt unter die Schweigepflicht.« Der Kommissar nickte. »Die hält er auch Ihnen gegenüber ein?« »Natürlich«, sagte Erika Brabender. »Er ist überaus gewissenhaft und korrekt. Besonders in diesen Dingen.« »Na ja, trotzdem wollte er mit Ihrem Herrn Vater heute nacht sprechen. Vielleicht wußte er nichts von dem Schock, den der Senator wenige Minuten vorher im Bootshaus erlitten hatte. Seine Schritte brachten ihm jedenfalls den Tod.« Erika Brabender schnupfte nicht und verzog auch nicht ihr blasses, durchsichtiges Gesicht. Aber sie konnte nicht verhindern, daß sich Tränen über ihre Wangen bissen. »Das ist furchtbar«, flüsterte sie und ahnte nicht, wie genau der Kommissar ihre Erschütterung ungerührt auf die Echtheit hin abschätzte. »Es klingt in diesem Augenblick ein bißchen merkwürdig, Frau Brabender«, sagte er, »aber bestand zwischen Ihnen und Ihrem Vater ein familiäres, herzliches Verhältnis?« Selbst beim Tränentrocknen achtete sie darauf, die anerzogene, graziöse Eleganz ihrer Bewegungen aufrechtzuerhalten. »Papa«, sagte sie, »Papa stand auf dem Standpunkt, daß Familie keinerlei Grund zu Liebe sei. Wen er mochte, schätzte er, auch wenn er nicht zur Familie gehörte, und wen er ablehnte, 149
verachtete er, auch wenn er zur Familie gehörte. Natürlich verlangte er seinerseits allen gebührenden Respekt.« »Also war er schwierig?« »Alle Leute, die allein durch ihre eigene, rücksichtslose Tatkraft reich werden, sind schwierig.« »Schätzte er Ihren Mann?« »So merkwürdig es klingt, Papa ließ sich von einem Studium imponieren. Es sei zwar schade, meinte er, daß Leute, die so viel lernten und wüßten, es nie zu etwas Richtigem – er meinte damit Millionen – brächten, aber immerhin sei die Wissenschaft doch eine großartige Sache. Kunstgeschichte und so, wie bei Hans-Paul, hielt er natürlich für Kinkerlitzchen, wie er sich ausdrückte.« »Es war also eine Art bärbeißiger Wertschätzung, die er Ihrem Mann entgegenbrachte?« »Ja. So ungefähr.« »Dehnte er seine Ansicht über Familie und Liebe auch auf seine Frauen aus?« »Sandra«, sagte Erika Brabender und faltete beide Hände um ein hübsches Knie, »Sandra war für ihn eine großartige Staffage. Was meinen Sie, wie sie beim Rennen aussah, mit den neuesten und verrücktesten Hüten aus Paris, mit Stola und Krokodil und so was allem! Wenn Papa ins Theater oder ins Konzert ging, dann tat er es. um Sandra zu zeigen. Dabei wußte jeder, daß sie vorher Vorzimmerdame im Kulturreferat gewesen war und aus sehr einfachen Verhältnissen kam. Ob er sie liebte, weiß ich nicht. Es gibt Männer, die der Ansicht sind, eine Frau zu lieben, wenn sie auf ihr gutes Aussehen stolz sind.« Der Kommissar hatte sich das alles genauso vorgestellt. Es konnte gar nicht anders sein. Seiner Ansicht nach konnte ein Mann sein Leben entweder damit zubringen, Millionen zu verdienen und sich eine hübsche Frau dafür zu kaufen, oder eine oder auch viele Frauen zu lieben und dafür auf Millionen zu 150
verzichten. »Vermutlich scheiterte daran auch die erste Ehe, nicht wahr, Frau Brabender?« »Mama«, sagte Erika, »das war etwas ganz anderes. Mama stammte aus einer erstklassigen Familie, die ihr Vermögen erst in der großen Wirtschaftskrise verlor. Aber sie öffnete Papa die Türen zu allen Kreisen Amerikas, die er brauchte. Mama war für ihn das Instrument, um groß zu werden, und Sandra das Dekor des Arrivierten. Bei Papa war immer alles ganz folgerichtig.« »Glauben Sie, daß er Ihre Mutter auch nicht liebte?« Sie seufzte. »Ich glaube, Sie müssen davon ausgehen, daß Papa überhaupt nicht lieben konnte.« »Natürlich konzentrierte Ihre Mutter ihre Enttäuschung ganz auf Sie beide?« »Ja«, sagte Erika Brabender, »es war manchmal kaum auszuhalten. Aber bei ihr kam immer alles von Herzen.« »Dann muß der Zustand nach seiner Heirat mit Ihrer Stiefmutter ziemlich schlimm gewesen sein?« »Wir waren schon verheiratet, als das passierte. Es betraf uns nur am Rand.« »Nun, Frau Brabender«, sagte Ketterle, »ein riesiges Vermögen, das dann plötzlich in andere Hände kommt, ist schließlich doch keine solche Nebensache.« Erika Brabender, die nachdenklich zum Fenster hinübergesehen hatte, erinnerte sich plötzlich daran, daß ihr Mann in Untersuchungshaft saß, und wendete dem Kommissar das Gesicht zu. »Sie sprachen eben von Liebe«, sagte sie; »das Vermögen steht auf einem anderen Blatt. Das war eine Unmöglichkeit, aber echt Papa.« »Ihr Vater sagte mir, daß niemand von seinem Testament etwas wußte.« 151
In Erika Brabenders kleinem Lächeln war etwas von Triumph. »Das glaubte er auch. Aber er hatte mit Mama einen Erbvertrag geschlossen, und dessen Auflösung zog eine riesige anwaltschaftliche Korrespondenz nach sich. Es war selbstverständlich, daß Mama uns als erstes vertraulich alles mitteilte.« »Wußte Ihr Mann auch davon?« »Natürlich. Damit waren seine Träume dahin, einmal eine große, eigene Privatklinik aufzumachen. Er haßte Sandra, als Erbin und als Mensch.« »Warum sagen Sie mir das so offen?« »Weil ich fest davon überzeugt bin, daß Reimar mit ihrem Tod nichts zu tun hat, Herr Kommissar. Es würde Sie nur zu Fehlschlüssen veranlassen, wenn ich versuchte, in dieser Beziehung irgend etwas zu verheimlichen.« Ketterle nickte. »Haben Sie Kinder?« fragte er unvermittelt. »Noch nicht«, sagte Erika, »aber es wird bald soweit sein. Eltern sollen nicht zu alt für ihre Kinder sein. Reimar sammelt bereits Aufsätze darüber.« »Soso«, sagte Ketterle und betrachtete angelegentlich ein Messinggestell, in dem Schäufelchen, Spätelchen und Härkchen für Blumentöpfe ihre Bambusgriffe spreizten. »Ist Ihr Mann eigentlich oft außerhalb?« Erika witterte mit dem Instinkt der Kreatur, daß es jetzt darauf ankam. »Nicht so oft«, sagte sie, »manchmal zu einem Kongreß, zu einer Tagung, um einen berühmten Operateur zu sehen. Vielleicht einmal im Vierteljahr?« »Aber er ist nicht regelmäßig in Bremen?« »Nein. Regelmäßig auf gar keinen Fall. Er hatte furchtbare Angst um sein Alibi. Wenn die Polizei von Papas Testament erführe, meinte er, bräuchten wir alle ein Alibi. Und natürlich haben wir alle keines, außer unserem Bett. Das ist ja lächerlich, 152
habe ich ihm gesagt … Kein Mensch kann gezwungen werden, woanders zu sein als in seinem Bett, bloß weil jemand ermordet wird.« »Ein Problem, mit dem alle Polizeien der Welt seit Hammurabi zu tun haben, Frau Brabender«, sagte Ketterle; »aber wenn es schon so ist, soll wenigstens das Bett sattelfest sein. In einem Hotel ist das immer noch leichter nachzuweisen als zu Hause. Autogarage, Portier, Telefongespräche, Schuhputzer, Etagenkellner. Wir sind gerade dabei, seine Angaben nachzuprüfen. Aber bevor sie bestätigt sind, kann ich ihn nicht entlassen.« »Hat er das angegeben? Ich hatte schon die Befürchtung … ich dachte … es wäre ja möglich, verstehen Sie …?« »Ach so«, murmelte Ketterle, »natürlich, das hätte auch sein können. Wir erleben das oft. Natürlich würden Sie das nicht gerne sehen …« Erika Brabender stand auf und ordnete eine Falte ihrer makellosen Gardinen. Dann ließ sie die Hand sinken und sah in den Garten hinaus. »In diesem Fall immer noch lieber als gar kein Alibi.« »Neigt Ihr Mann zu so was?« Sie drehte sich um. »Ich habe ihm zu Beginn unserer Ehe klar und deutlich gesagt, daß ich ein festes Verhältnis als Beleidigung und Scheidungsgrund ansehen würde. Aber warum stellen Sie diese Frage, wenn es ohnehin anders ist?« Auch Ketterle war aufgestanden. »Es tut mir leid, Frau Brabender«, sagte er; »es war ein persönliches Interesse, aber ich gebe zu, es war fehl am Platz. Sagen Sie, von wem haben Sie eigentlich die ganze Sache erfahren?« »Von Papa«, sagte sie. »Sie waren doch dort, während er anrief. Ich war am Apparat.« »Und wie hat Ihr Mann es aufgenommen?« 153
»Er war entsetzt und niedergeschlagen. Später hatte ich sogar den Eindruck von Angst.« »Wann später?« »Nicht sofort. Später. Ich weiß auch nicht, wie ich es ausdrücken soll …« Der Kommissar hatte sich ihr zugewendet. »Ist es möglich, daß Sie sich zu erinnern versuchen …?« Wie oft hatte Erika Brabender diesen Satz in Kriminalfilmen gehört, in guten und in langweiligen! War es möglich, daß sie sich zu erinnern versuchte? Sie wälzte diese zehn Minuten noch einmal in ihrem Gedächtnis hin und her, kaute die Sätze nach. »Ja«, sagte sie dann und öffnete die Tür zum Flur, »ich glaube, der Ort hat ihn erschreckt, an dem sie verschwand. Ich glaube das ganz sicher, Herr Kommissar.« Der Kommissar verzichtete darauf, den Operationsraum zu betreten, den die Ärzte im gerichtsmedizinischen Institut zur Autopsie benützten. Er wartete mit Hornschuh in dem gekachelten Büro, das zum Schreiben der Berichte, zum Umkleiden und zum Waschen diente, und beschäftigte sich mit den Inschriften auf dem Reklamekalender einer pharmazeutischen Fabrik. Dann begutachtete er eingehend den Inhalt eines Glaskastens mit veralteten Instrumenten und setzte sich schließlich breitbeinig auf den Lederstuhl vor dem Schreibtisch. Aber es dauerte noch eine gute Viertelstunde, bis Dr. Stöckel endlich die Tür aufstieß und sofort zum Waschbecken ging. Ein Pfleger zog ihm die Gummihandschuhe ab. Der Kommissar warf einen Blick durch die offenstehende Tür. Die mit makellosem Leinen bis über das Gesicht bedeckte Mumie auf dem hochgeschraubten Operationstisch war in grünlich vibrierendes Neonlicht getaucht. Es war Senator Richard Roberts, den seine Feinde Dick genannt hatten. Welcher 154
von denen, die ihn Dick genannt hatten, hatte ihm das angetan? dachte Ketterle. Es war das schlimmste, daß diese Schläge aus seiner nächsten Umgebung kamen. »Die Frau habe ich heute morgen drangehabt. Sie ist einwandfrei ertrunken. Vielleicht haben sie die Proben des Lungenwassers im Labor schon fertiggemacht. Bei Roberts war es klar: Herzschlag.« Er trocknete sich die Hände und wählte eine Nummer im Telefon. »Im übrigen haben Sie recht. Sie war in anderen Umständen, etwa im zweiten Monat«, sagte er, während er wartete. »Ja? Stöckel. Schon fertig? Wie? Nein, sagen Sie mir das Wichtigste durch. Die Polizei bekommt die Berichte dann sowieso.« Einige Minuten lang hörte der Arzt zu, was ihm durch das Telefon mitgeteilt wurde, manchmal unterbrochen von kurzen Zwischenfragen, ›Sos‹ oder ›Jas‹. Schließlich legte er auf. »Also kein Salz, Ketterle«, sagte er, »das steht eindeutig fest. Kein Zweifel möglich. Die beiden verhalten sich bei den Tests zueinander wie Schiwasser zu Jamaikarum. Das Wasser aus den Lungen ist Süßwasser. Es stimmt teilweise überein mit der Konsistenz der Proben des Wassers, in dem wir sie fanden, und weist feine Beimengungen von Soda und Natrium auf. Sämtliche anderen Beimengungen können auch im Alsterwasser enthalten sein. Soda und Natrium lassen sich aus Seifenrückständen isolieren.« »Würden Sie also sagen können, daß Seifenspuren im Lungenwasser sind?« fragte der Kommissar. »Im Sinn einer juristischen Beweisführung nicht. Sie müssen das verstehen, Ketterle. Sicher ist nur, daß die untersuchte Substanz einen Bestandteil enthält, der gleichzeitig ein Bestandteil der Seife ist, und zwar einer harten Seife.« Der Kommissar war aufgestanden. »Könnte es dann so sein, daß sich das Wasser in einem Gefäß befunden hat, in dem, wenn auch nur winzige, Seifenspuren 155
zurückgeblieben waren?« fragte er. »Das kann sein«, sagte der Arzt und zündete sich mit Genuß eine Zigarette an, die er aus der Schublade des Schreibtisches gefischt hatte. »Bei der minimalen Ergiebigkeit kann der Sodaund Natriumgehalt aber auch schon dadurch zustande kommen, daß jemand weiter oben am Fluß Wäsche gewaschen hat, während sie das Wasser einatmete.« »Ich glaube nicht, daß jemand an der oberen Alster Wäsche wäscht«, sagte Hornschuh. »Das scheidet fast mit Sicherheit aus.« »Na gut, das glaube ich auch. Sie können also vielleicht, allerdings mit allem Vorbehalt, davon ausgehen, daß ein Gefäß mit Seifenspuren im Spiel war. Ich betone aber noch mal ausdrücklich, daß es denkbar ist, daß aus irgendeinem Grunde die Strömung der Alster vorübergehend mit Soda- und Natriumspuren angereichert war, als sie ertrank. Dann wären in den Alsterwasserproben, die wir genommen haben, diese Anreicherungen natürlich nicht mehr nachweisbar.« »Sie sind es auch nicht?« »Nein.« Der Kommissar, der immer noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu rasieren, sah in den Spiegel. »Was ist eine harte Seife?« fragte er den Arzt, und es sah so aus, als ob er sein Spiegelbild gefragt hätte. »Eine harte Seife? Nun, chemisch ist das zu kompliziert. Kernseife ist eine harte Seife, im Gegensatz zu Schmierseifen oder Toilettenseifen.« Ketterle drehte sich um. »Eine verrückte Frage, Doktor«, sagte er. »Können Sie sich zufällig daran erinnern, mit was für einer Seife Sie sich heute nacht im Bootshaus die Hände gewaschen haben?« Dr. Stöckel zog an seiner Zigarette, dann hielt er sie so nach oben, daß er mit einem Auge über ihre Glut hinweg das Gesicht des Kommissars fixierte. 156
»Es war ein Stück Kernseife, das sich bei dem Ausguß befand«, sagte er, »ich erinnere mich genau. Aber schließlich habe ich mir die Hände nachher gewaschen.« »Und glauben Sie, daß sich sonst niemand die Hände darin wäscht?« »Also doch gefesselt?« sagte Hornschuh. »Brabender war in Bremen. Vorausgesetzt, daß seine Erzählungen stimmen.« »Novottny?« Ketterle räusperte sich. »Novottny hat jetzt das beste Alibi der Welt. Er war im ›Clifton‹ und hat dort das Zahnputzglas in der Hand gehabt.« »Aber kann er denn nicht …? Irgendwie muß sie doch vom Strand weg hierhergekommen sein, zum Donnerwetter.« »Ich möchte jetzt fast glauben, daß Novottny erst in ihr Zimmer im ›Clifton‹ kam, als sie schon weg war. Er hat dann gewartet und verließ es wieder, als sie nicht zurückkam.« »Und das Telegramm?« »Das Telegramm? Denken Sie doch mal daran, daß der Senator Novottny um halb zehn abends noch mal angerufen hat, um ihm zu sagen, daß er ihn am Sonntag doch nicht brauchte. Also muß Novottny vorher damit gerechnet haben, daß er am Sonntag zur Verfügung stehen müsse. Erinnern Sie sich, daß Sandra Roberts bei ihrer Ankunft nach dem Telegramm fragte?« »Und wie soll Novottny in ihr Zimmer gekommen sein?« »Durchs Fenster. Das Fenster war offen, als ich Kaduleit zum erstenmal sah. Er brauchte nur von dem gepflasterten Hofraum aus einzusteigen. Es ist nicht mehr als selbstverständlich, daß die beiden sich in größter Verschwiegenheit trafen.« Der Kommissar dachte nach. »Vielleicht stimmt es so, Hornschuh«, sagte er dann, »erst telegrafierte er ab. Dann erfuhr er, daß er am Sonntag doch nicht gebraucht wurde, und fuhr los. Aber er kam später, als sie erwartet hatte, denn von seinem Absagetelegramm wußte sie ja 157
nichts. Sie schminkte sich also ab und wollte ins Bett gehen. Dann kam der Mörder auf dem gepflasterten Hof ans Fenster und verabredete sich mit ihr draußen am Strand. Sie zog sich wieder an, ging zu der Stelle und … Ja, und was von da an geschah, liegt nach wie vor im tiefsten Dunkel. Jedenfalls muß es jemand gewesen sein, den sie kannte. Novottny kann schließlich nach diesem Zeitpunkt in ihrem Zimmer gewesen sein.« »Kann? Und glauben Sie, daß Novottny die richtigen Fenster auf Anhieb findet? Besonders dann, wenn nicht einmal jemand im Zimmer ist?« sagte Hornschuh. »Ich habe bis jetzt nicht an Hexerei geglaubt. Aber immer wieder hört jede vernünftige Überlegung genau bei diesem Abdruck des linken Fußes auf.« »Das gibt es nicht«, sagte der Arzt, während er seine Zigarette ausdrückte. »Es ist aber so«, sagte Ketterle und setzte seinen Hut auf. »Schicken Sie mir Ihre Berichte, sobald Sie sie haben.« Sie gingen schon den langen Flur hinunter, als Dr. Stöckel die Tür noch einmal aufriß. »Dem Pfleger ist beim Präparieren aufgefallen, daß sie die Schuhe falsch herum anhatte. Ist das wichtig für Sie?« rief er den Beamten nach. Der Kommissar hatte sich umgedreht. »Vielleicht«, sagte er. »Vielen Dank, Doktor.« Schon auf der Straße, blieb er plötzlich stehen. Hornschuh wendete sich um. »Als sie den Strand entlanglief, hatte sie die Schuhe richtig an«, sagte der Kommissar und schüttelte den Kopf. »Das ist doch eine offensichtliche Tatsache.« Vom gerichtsmedizinischen Institut gingen sie zu Heinrichsens Kneipe, um zu Mittag zu essen. Anschließend betraten sie einen Frisiersalon und ließen sich, die Köpfe auf hygienische Rollen zurückgelegt, nacheinander rasieren. 158
Während er wartete, hatte Kommissar Ketterle Gelegenheit, in den Mittagszeitungen die Berichte über den geheimnisvollen Mord zu überfliegen. Sie ergingen sich teilweise in den wildesten Spekulationen. Überall war die Verhaftung des bekannten Internisten Dr. Reimar Brabender groß hervorgehoben. ›Arzt unter Mordverdacht‹ hieß es in streichholzschachtelgroßen Lettern auf der 10-Pf.-Bildzeitung. ›Familiendrama im Hause eines Senators. Richard Roberts bestialisch ermordet. Morbide Verhältnisse in den besten Kreisen. 10-Pf.-Bild fordert strengste Untersuchung ohne Rücksicht auf Personen und Hintergründe.‹ »Es ist doch ein Glück, daß es Zeitungen gibt, die so offen über so was schreiben«, sagte der Friseur und strich seine Klinge am Riemen ab. »Ja«, sagte der Kommissar, »ein großes Glück. Bitte warmes Wasser, und nicht gegen den Strich!« Während der Mann ihn einseifte und mit raschen, flüsternden Strichen das Messer über seine Haut fuhr, hielt der Kommissar die Augen geschlossen und dachte nach. Gewöhnlich war es so, daß sich aus zahlreichen und vielseitigen Aussagen und Elementen ein Bild herausschälte, das man nur geistig so weit von sich weghalten mußte, daß sich ein Überblick, aus dem Überblick eine Richtung und aus der Richtung eine Spur ergab. Zeugen waren bei geplanten Taten eine Seltenheit, denn der Plan war ja im wesentlichen immer darauf gerichtet, nach Möglichkeit Zeugen auszuschließen. Ebenso selten waren Indizien, die einen absolut schlüssigen Beweis erlaubten. Bis jetzt hatte er im Falle Roberts noch nicht einmal Indizien in der Hand, die einen stichhaltigen Rückschluß zuließen, denn noch immer lag die Durchführung des Mordes selbst verpackt in einem gallertartigen Bündel vager Vermutungen, das überall heimtückisch zurückfederte, wo man versuchte, festen Fuß zu fassen. Es waren mehr Motive vorhanden als plausible Möglichkei159
ten, sie mit dem brutalen Durchbruch zur Tat zu verknüpfen. Der Kommissar wußte aus seiner Erfahrung, daß die Anzahl der begangenen Morde nur ein minimaler Bruchteil aller derjenigen Morde war, die begangen werden würden, wenn es keine psychischen oder physischen Hemmungen gäbe oder wenn die Gelegenheit günstig und das Risiko gering wären. Von der Moral her waren mehr Morde möglich als die, die begangen wurden. Novottny? Ketterle hatte sich darauf eingestellt, daß der Chauffeur die schöne, unter normalen Umständen für ihn unerreichbare Sandra Roberts wie ein Idol vergötterte. Ohne es zu wissen, hatte er in allen Vernehmungen niemals einen Makel auf ihre Person gelegt. Oder hatte er es im Gegenteil ganz genau gewußt? Aber wenn seine Vermutung zutraf, dann hatte er sich doch mit ihr im ›Clifton‹ verabredet, um die Situation, in die sie geraten waren, zu besprechen. Es war eine schwere und wichtige Entscheidung und eine Entscheidung, die ihm niemand abnahm, ob in einem Menschen wie Novottny, für den sein Verhältnis zu Sandra Roberts sicherlich keine Renommieraffäre, sondern eine Handvoll, wenn auch bitteren Glücks gewesen war, die Angst vor den Konsequenzen so überwog, daß er zuschlug, rasch und ohne Bedenken. Ketterle glaubte es nicht. Und Brabender? Labiler Intellekt, ein ungefestigter Charakter, von dem dünnen Gerüst standesbedingter Ehr- und Moralbegriffe umgittert wie von den Stangen eines Korsetts, durchsichtig und flexibel. Brabender hatte gegen die Aussicht auf eine Millionenerbschaft eine Karriere aufs Spiel zu setzen, einen öffentlichen Ruf, eine befriedigende Tätigkeit und das Glück einer Familie. Die wichtige Entscheidung lautete hier, ob ein Arzt in dieser Stellung mehr seinem Ehrgeiz und der magischen Anziehungskraft des Reichtums unterworfen war oder mehr seiner Vernunft, seinen Hemmungen und seiner Moral. Hatte Dr. Brabender eine Moral? Und wenn ja, was für 160
eine? Auch Raskolnikow hatte eine Moral gehabt. Auch er Intellektueller, auch er Mediziner. Sandra Roberts hatte Brabender wohlweislich verschwiegen, woher das Kind stammte. Andernfalls hätte sie den größten Fehler ihrer Karriere begangen. Die Überlegungen, die Ketterle zu Brabenders Motiven angestellt hatte, stimmten. Bis auf den I-Punkt. Hatte auch Brabender sie angestellt? Und Bracélles? Der Eindruck von dem jungen Mann war verwaschen. Sie litten in ihren eingeengten Verhältnissen unter der Nachbarschaft des übermäßigen Reichtums und unter der Arroganz des Geschäftsmannes Roberts gegenüber den künstlerischen Ambitionen Hans-Pauls. Sie waren beladen mit Ressentiments, und Hans-Paul haßte Sandra. Er haßte auch Roberts. Ketterle war gespannt, was er herausbringen würde. Er hatte sie auf vier Uhr vorgeladen. »Schief oder gerade?« sagte der Friseur. Der Kommissar schreckte hoch. »Was?« »Den Ansatz, der Herr«, sagte der Friseur. »Gerade«, murmelte Ketterle und wischte sich mit dem Handtuch Feuchtigkeit vom Kinn. Dann kippte der Friseur die Lehne des Stuhls senkrecht, und der Kommissar wuchtete sich hoch. Sie gingen zu Fuß zurück zum Präsidium. Es war ein schöner, verhältnismäßig warmer Herbsttag, und sie genossen die letzte Wärme der Oktobersonne. Sie waren noch in einer lauten und angeregten Unterhaltung begriffen, als sie Ketterles Zimmer betraten. Aber der Kommissar brach mitten im Satz ab, als er die Aktennotiz bemerkte, die Gaffke – beschwert und bedeutungsvoll hervorgehoben mittels einer daraufgestellten Heftmaschine – auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Ketterle zog das Papier darunter hervor und las es durch. »Aha«, sagte er dann, »es ist noch keine halbe Stunde her, 161
daß Sie mich fragten, wie Novottny auf Anhieb die richtigen Fenster gefunden habe, Hornschuh. Auf Anhieb nicht, da haben Sie freilich recht.« Er gab Hornschuh die Notiz über den Schreibtisch, »auf Anhieb allerdings nicht«. Hornschuh las. »Reichlich ungewöhnlich, so was«, murmelte er dann. Ketterle legte seinen Hut auf den Schreibtisch und ließ die Rolltüren der Seitenteile herunterrasseln. »Aber durchaus erklärlich in der Situation, in der sich die beiden befanden. Lesen Sie eben noch mal den Wortlaut?« »Ebenerdig, Südwestecke, Richtung Scheune und Strand«, las Hornschuh ab. »Aufgegeben Samstag siebzehn Uhr zwanzig von einem Anschluß aus, der auf die Dorfkneipe ›Zum Schimmelreiter‹ eingetragen ist.« »Haben Sie irgendeinen Zweifel daran, daß es sich um die Beschreibung der Fenster handelt, die Sandra Roberts ihrem Freund mit diesem Telegramm geben wollte?« »Allerdings nicht«, sagte Hornschuh. »Nicht jeder Freund bekommt es so leichtgemacht.« »Es ist auch nicht jeder Freund in einer so unangenehmen Situation«, brummte der Kommissar. »Lassen Sie uns doch mal rechnen …« Sie gingen hinüber zu dem runden Tisch, auf dem Hornschuh die große Touringkarte ausgebreitet hatte. »Hamburg-Mitte-Cuxhaven hundertvierzig Kilometer, dazu noch ein paar kleine über Duhnen, Sahlenburg bis zum ›Clifton‹ sind hundertsechzig. Wenn er um halb zehn weggefahren ist, war er gegen zwölf da. Er hat ja keine Spazierfahrt gemacht. Wann hat Willie van Hengelaer bei Sandra Roberts geklopft?« »Zwischen elf und zwölf«, sagte Hornschuh, »das paßt ganz außerordentlich gut zusammen. Ihr Gedanke kann doch richtig sein.« 162
»Hm«, brummte der Kommissar, »er kann genausogut falsch sein. Und Dr. Brabender?« Wieder beugten sie die Köpfe über die Autokarte. Diesmal maßen sie Kilometer im Lande Wursten nach. Zwischen Bremerhaven und Cuxhaven. »Bremen-Cuxhaven«, rechnete Hornschuh, »hundertzwanzig Kilometer Landstraße, sind bei Nacht mit einem starken Wagen eineinhalb Stunden. Nehmen wir an, er wäre um zehn weggefahren, dann könnte er um halb zwölf dagewesen sein. Rechnen wir mal eine Stunde dort, also Abfahrt vom ›Clifton‹ um halb eins, dann hätte er um drei in Hamburg sein können.« Der Kommissar hob den Kopf. »Um drei? Wieviel Stunden nahm Dr. Stöckel an, Hornschuh? Achtundvierzig? Wir haben das doch schon einmal zurückgerechnet. Wir sind doch genau auf Samstag nacht drei Uhr gekommen?« Er richtete sich auf. »Dann muß Dr. Brabender also Sandra Roberts lebend vom ›Clifton‹ ins Bootshaus gebracht haben?« »Also doch gefesselt?« »Der Ausguß«, murmelte Ketterle, »Kernseife, Hornschuh. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.« Sein Blick fiel auf die Zeitungen, die seinen Schreibtisch bedeckten. »Beschleunigen Sie die Nachprüfungen von Dr. Brabenders Erzählungen; er hat schließlich was zu verlieren. Wenn der Schein vielleicht doch trügt? Ich möchte die Staatskasse keinen Schadensersatzansprüchen aussetzen. Und dann kabeln Sie noch einmal nach Weekers. Ich brauche jetzt endlich die Unterlagen.« Er klammerte sich an die Hoffnung, aus den Umständen der seinerzeitigen Ereignisse irgendeinen Schluß ziehen zu können. Er sollte sich täuschen. »Wenn möglich, möchte ich heute nacht einmal schlafen, 163
Hornschuh«, sagte er. »Holen Sie mich nur heraus, wenn etwas Wichtiges los ist.« Hornschuh verließ das Zimmer und kurz darauf auch das Haus, um in die Rathenaustraße elf zu fahren, wo er die Durchsuchung des Schreibtisches und der Akten des Senators überwachen sollte. Der Kommissar zündete sich eine Zigarre an und beugte sich über seine Tagespost, bis kurz nach vier der Beamte von der Pforte heraufrief, ein Herr Bracélles und Frau seien hier und behaupteten, von Hauptkommissar Ketterle bestellt worden zu sein. »Lassen Sie sie heraufkommen«, sagte Ketterle. Er legte kurz den Hörer auf und wählte dann den Apparat von Fräulein Klings. »Gleich kommen ein Herr und eine Dame«, sagte er; »ich möchte zuerst die Dame sprechen.« Fräulein Klings öffnete die Tür für Sigrid Bracélles. Sie war verängstigt, denn die Jahre ihrer hingefretteten Ehe mit den beiden früh gekommenen Kindern hatten sie dazu gebracht, von allem, was geschah, zunächst das Schlimmste zu erwarten. Sie war sicher, der Kommissar sei darauf gekommen, daß Hans-Paul sich am Morgen nach dem Mord den Bart abgenommen hatte, und sie hatte sich vorgenommen, so zu tun, als habe sie ihn gerade an diesem Morgen zum erstenmal darum gebeten, und er habe ihr anstandslos den Gefallen getan. Sie war deshalb überrascht, als der Kommissar von etwas ganz anderem anfing, nachdem er ihr einen Stuhl angeboten hatte. Der neue Schreck für sie entstand daraus, daß es ihr nicht möglich war, den geringsten Zusammenhang zwischen seinen Fragen und Sandra Roberts Tod herzustellen. »Sagen Sie, wie alt waren Sie, als Ihre Eltern sich scheiden ließen, Frau Bracélles?« fragte er. »Zehn. Warum?« »Natürlich hat die Trennung einen schweren Schock für Sie und Ihre Schwester bedeutet, nicht wahr?« 164
Sigrid Bracélles zog ihren Rock zurecht und stellte die Handtasche neben sich auf den Boden. »Ich glaube schon«, sagte sie; »ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern. Mama war sehr gut zu uns, und ich weiß, daß es oft Streit zwischen ihr und Papa gegeben hat, weil …« »… weil Ihr Vater die Kinder strenger erzogen haben wollte und auf dem Standpunkt stand, nur durch Strenge könne Lebenstüchtigkeit erreicht werden.« »Woher wissen Sie das?« »Weil es überall so ist.« »Ja. Es ist sogar bei uns so.« »Ist Ihr Mann für Strenge?« »Ja natürlich, das heißt … nur in bestimmten Dingen.« »Wie nahm Ihr Mann die Tatsache auf, daß der Senator Ihre Ehe nicht billigte und sich nicht bereit erklärte, irgend etwas dazu beizusteuern?« Sigrid Bracélles sah auf ihre Knie. »Wir liebten uns, und wir hatten beide so viel gelesen, daß wir glaubten, es hätte was mit Charakterstärke zu tun, trotzdem zu heiraten. Aber Hans-Paul überschätzte sich und unterschätzte die Verhältnisse. Er war damals noch kaum fertig, und wir dachten zunächst an ein Zimmer, an ein richtiges Nest, wo wir glücklich sein könnten. Wir wollten alles auf uns nehmen, wenig Geld, tägliche Sorgen, den Ärger mit Papa. Aber …« Sie stockte. »Aber?« »Aber die Verhältnisse waren stärker. Die Kinder kamen sehr schnell, und die Sorgen wurden größer, die Arbeit mehr, und der Alltag überwalzte uns. Wir hatten mit so viel Schwung begonnen, und …« »Und?« »Es ist nichts daraus geworden.« »Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Ehe unglücklich ist, Frau Bracélles?« 165
Sie zuckte mit den Schultern. »Sie ist weder glücklich noch unglücklich. Manchmal haben wir das Gefühl, daß noch alles drin ist. Aber es will nicht herauskommen. Sehen Sie, wie soll ein Mann, der nicht zum Manager geboren ist, so viel Geld verdienen, um seine Ehe aus dem zermürbenden Kleinkram herauszuschaufeln? Er muß sehr viel arbeiten, um uns über Wasser zu halten. Es gelingt ihm. Er ist begabt. Aber er kann sich nicht an den Mann bringen. Er macht zuwenig Klamauk mit sich. Und heute wollen die Leute Klamauk. Sie verwechseln Selbstbewußtsein mit Fähigkeit und dementsprechend Bescheidenheit mit Unfähigkeit.« »Sie meinen also, daß der Zustand einer Ehe mehr oder weniger eine Geldfrage ist, nicht wahr?« Sie nickte. Sie war mittendrin in den Fragen, die sie täglich von morgens bis abends beschäftigten, wenn sie mit immer wieder neu sich bildenden Gespinsten von Staubwolken kämpfte, die Kinder bändigte, schlichtete, spülte, schälte, kochte, wieder spülte. Und das Tag für Tag. »Wir waren immer gewohnt, daß alles, was für das tägliche Leben notwendig ist, da war, gemacht wurde, selbstverständlich war. Wortlos und pünktlich …« »Sie müssen also einen ziemlichen Groll auf Ihren Vater gehabt haben? Nun, das alles hat sich ja gestern nacht mit einem Schlage zu Ihren Gunsten geändert?« Sie sah hoch. »Wie?« »Nun«, sagte der Kommissar, »alles das hat doch jetzt für Sie ein Ende.« »Von dieser Seite her habe ich das alles noch gar nicht überlegt«, murmelte Sigrid Bracélles; »wir sind noch gar nicht dazu gekommen. Es ist alles so entsetzlich … Sie haben schon recht, aber …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, daß das alles anders gewesen wäre, wenn Ihre 166
Eltern nicht geschieden worden wären?« »Nein«, sagte Sigrid, »Mama hätte sich gegen Papa niemals durchgesetzt. Niemand konnte sich gegen ihn durchsetzen. Er arbeitete und leistete, und er befahl. Daran scheiterte schließlich auch die Ehe.« »Sie wurde nicht aus Verschulden geschieden?« »Nein. Im Einvernehmen. Wir blieben bei Papa, weil die Erziehungsgrundlage eine materiell bessere war. Mama wollte zurück nach Amerika. Dort hatte ihre Familie ein verwahrlostes Haus auf Long Island. Papa ließ es ihr herrichten und zahlte ihr jeden Monat eine Rente von fünfzehnhundert Mark. Er fand es besser, wenn wir in Deutschland erzogen würden. Das Gericht machte den Vorschlag, ein Kind solle zur Mutter gehen, eins zum Vater. Aber wir wollten uns nicht trennen, und so blieben wir eben hier.« »Und dann heiratete Ihr Vater Sandra Roberts. Als das geschah, kannten Sie Ihren Mann noch gar nicht, nicht wahr?« »Doch. Ungefähr ein halbes Jahr.« »Dann ist es also so, daß die Abneigung Ihres Mannes gegen Sandra Roberts erst im Lauf Ihrer Ehe wuchs, als er merkte, daß es für Sie sehr wichtig sein würde, ausreichend zu erben, und daß das durch Sandra Roberts in Frage gestellt war?« »Ja. Natürlich stand er ihr nicht sehr wohlwollend gegenüber. Aber das hat doch …« Sie vergegenwärtigte sich plötzlich, daß dieses Gespräch ein Verhör war, und brach ab. »Aber ich bitte Sie, Frau Bracélles, das ist doch selbstverständlich«, sagte Ketterle. Aber sie blieb von da an einsilbig und antwortete nur noch mit Ja und Nein. »Noch eine letzte Frage«, sagte Ketterle später; »ich habe allerdings wenig Hoffnung, daß Sie sie mir beantworten können. Wissen Sie zufällig, was für eine Art von Seife Sandra Roberts zur Körperpflege verwendete?« 167
Einen Moment lang überlegte Sigrid Bracélles, welche Falle sich hinter dieser harmlosen Frage verbergen konnte. Aber sie fand keine. »Zufällig ja«, sagte sie; »es mögen ein oder zwei Jahre her sein, daß mir Sandra dringend empfahl, das Gesicht nur mit Kernseife zu waschen. Das öffne die Poren und halte die Haut frisch.« »So«, sagte der Kommissar. »Hm, ich danke Ihnen, Frau Bracélles. Schicken Sie mir Ihren Mann noch einen Moment herein.« Sie stand auf, warf dem Kommissar einen unsicheren Blick zu und verließ das Büro. Als Hans-Paul Bracélles es betrat, zeigte Ketterle wortlos auf den Stuhl und betrachtete den Mann, in seinen Sessel zurückgelehnt, ein oder zwei lange Minuten. »Wann haben Sie Ihrer Frau das letzte Kleid gekauft, Bracélles?« fragte er dann und rückte sich zurecht. »Voriges Jahr, zu Weihnachten«, sagte Hans-Paul, »es fiel uns schwer genug.« Ketterle nickte. Das ›uns‹ zeigte ihm, daß das Ehegefühl bei Hans-Paul durchaus noch lebendig war. Sigrid schätzte ihren Mann falsch ein. Aber Ketterle begriff es. Er begriff auch, daß eingeengte Verhältnisse für diese Art unsicherer junger Leute ebenso gefährlich waren wie das Gegenteil. Aber es war schließlich die Regel. Wie ein Schlaglicht stand plötzlich die Erkenntnis vor ihm, daß die Ereignisse der vergangenen drei Tage die Lebensverhältnisse der beiden Paare genau um hundertachtzig Grad verändert hatten. »Treiben Sie Sport?« fragte er Hans-Paul. »Ja.« »Welchen?« »Ich segle. Mit Freunden. Ich treibe Leichtathletik. Ich bin in einem Klub. Warum?« »Haben Sie studiert?« 168
»Ja.« »Was?« »Kunstgeschichte, Geschichte, Theaterwissenschaft. Ich möchte Bühnenbildner werden.« »Sie haßten Sandra Roberts?« »Papa hat es so dargestellt. Ich kann es nicht ändern.« »Warum?« »Sie war eitel, egoistisch und faul.« »Und außerdem?« »Das wissen Sie doch selbst genau, Herr Kommissar. Ich kann auch das nicht ändern. Ich bin erschüttert über die grausame Art ihres Todes. Aber ich empfinde keinerlei Trauer. Weder um sie noch um Papa.« »Wer, glauben Sie, war es?« Hans-Paul zuckte die Achseln. »Jeder Verdacht ist sofort und automatisch auf Reimar und mich gefallen. Glauben Sie, wir hätten uns das nicht vorher überlegt, wenn wir jemals daran gedacht hätten? Wir hatten allen Grund, Sandra ablehnend gegenüberzustehen. Aber wir hatten keinen Grund, uns mit ziemlicher Sicherheit unser Leben völlig zu verpfuschen.« »Also können Sie keinerlei Hinweise geben, nicht den geringsten?« »Nein«, sagte Hans-Paul, »keine. Wir sind alle genauso ratlos wie Sie. Reimar hat schon die Absicht geäußert, von sich aus Nachforschungen anzustellen. Was glauben Sie, daß es für ihn bedeutet …« »Ich weiß«, sagte Ketterle und stand auf. »Nehmen Sie Ihre Frau unter den Arm, und gehen Sie mit ihr zu einem netten kleinen Abendessen.« Hans-Paul hatte sich erhoben. »Wollen Sie nicht wissen, wo ich Samstag nacht gewesen bin?« »Nein.« 169
»Warum nicht?« »Es interessiert mich im Augenblick nicht.« »Und warum ich mir am Sonntagmorgen den Bart abgenommen habe?« »Ich beglückwünsche Sie, Bracélles«, sagte der Kommissar, »er hat Ihnen sicher nicht gestanden.« »Aktenstück, versiegelt, zur Abholung bei Provost-Marshall, Air Base Bremen, Adressat Commissioner Ketterle, Kripo Hamburg. US Air Force, Transportstab für Europa, Baracke sieben, Zimmer drei. Callaghan Lt.«, lautete das Fernschreiben, das der Kommissar auf seinem Schreibtisch vorfand, als er am nächsten Morgen, wie gewöhnlich kurz vor acht, sein Büro betrat. Er hatte sofort Hornschuh angerufen. Sie hatten gerade Gaffke noch im Hof erwischt, wo er eben in den Wagen stieg, um nach Bremen zu fahren und Dr. Brabenders Alibi zu überprüfen. Sie hatten ihm eine Vollmacht und das Fernschreiben ausgehändigt und ihm eingeschärft, daß er bis spätestens Mittag mit seinen Ermittlungen und dem Aktenstück aus Weekers auf Long Island zurück sein müsse. Der Kommissar hatte sich von der Materialverwaltung eine große schwarze Wandtafel, ein sogenanntes schwarzes Brett, in sein Zimmer stellen lassen, und auf diesem hatte Hornschuh säuberlich nebeneinander und genau in der Reihenfolge fast alle Fotografien mit Reißzwecken befestigt, die Röppke im Fall Roberts aufgenommen hatte. Auf zwei der Aufnahmen hatten sie ganz deutlich festgestellt, daß der Pfleger, der Sandra Roberts im gerichtsmedizinischen Institut zur Obduktion vorbereitet hatte, durchaus recht gehabt hatte. Sandra Roberts hatte ziemlich ausgetretene unscheinbare Strandsandaletten getragen, vorne geschlossen, mit flachen Korksohlen und einem mit Plastik umnähten Gummiband, das 170
hinten über die Ferse gestreift wurde. An der Form der Sandaletten war der Fehler nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber die Sohlen zeigten ihn mit ausreichender Deutlichkeit. Der Kommissar registrierte diese erstaunliche Tatsache mit der gleichen Gelassenheit, mit der er alle anderen erstaunlichen Tatsachen dieses Falles registriert hatte. Er wollte eben anfangen, darüber nachzudenken, als der Apparat klingelte. Ein Herr namens Christoph Novottny sei zum Verhör bestellt. »Richtig«, sagte der Kommissar. »Schicken Sie ihn zu Fräulein Klings.« Er bat Hornschuh, Novottnys Aussagen ins Stenogramm zu nehmen, und hatte gerade noch Zeit, seine Morgenzigarre in Brand zu setzen, bis der Chauffeur, mit der Mütze in der Hand, das Zimmer betrat. »Nehmen Sie Platz, Novottny«, sagte der Kommissar, »was gibt es Neues?« »Sie haben Dr. Brabender verhaftet«, sagte Novottny. »Es steht in allen Zeitungen. Was wollen Sie noch von mir?« »Stimmt«, sagte Ketterle; »nur hat uns Dr. Brabender im Gegensatz zu Ihnen ein einwandfreies Alibi anzubieten. Daß er verhaftet wurde, hat andere Gründe. Die Kriminalpolizei muß mit dem Verhaften warten können. Solange Leute hinter Schloß und Riegel sitzen, ist die Entwicklung gehemmt, Novottny. Sie sitzen, werden verhört, lügen, und die Fronten verhärten sich. Ich hätte ihn nicht verhaftet, aber ich hätte es, nachdem es nun mal geschehen war, auch nicht verantworten können, ihn wieder auf freien Fuß zu setzen, bevor ich sein Alibi überprüft habe. Ich werde ihm eine Ehrenerklärung geben müssen, wenn seine Angaben zutreffen.« »So«, sagte der Chauffeur, »und wer gibt unsereins eine Ehrenerklärung? Glauben Sie, meine Ehre ist weniger wert als eine andere? Darf man hier rauchen?« »Bitte sehr«, sagte der Kommissar und schob den Aschenbe171
cher quer über den Schreibtisch. Dann nahm er den Obduktionsbericht Dr. Stöckels, faltete ihn so, daß eine bestimmte Stelle oben lag, und gab ihn dem Mann, nachdem er gewartet hatte, bis seine Zigarette brannte. Novottny las. Als er zu Ende gelesen hatte, sah er hoch. »Davon verstehe ich nichts. Da ist ja das meiste lateinisch.« »Nun«, sagte Ketterle, »übersetzt heißt das in dürren Worten, daß Sandra Roberts im zweiten Monat ein Kind erwartete. Ich hatte Sie gewarnt, Novottny. Sie hätten es zugeben sollen, bevor wir die Tote fanden. Es steht nicht gut für Sie, Novottny …« »Hören Sie mal«, sagte der Chauffeur, »das Kind kann genausogut …« »Ich weiß«, sagte der Kommissar, »… aus der gesetzlichen Ehe Ihrer Geliebten stammen. Das weiß ich alles. Aber wer beweist das? Nehmen Sie an, Dr. Brabenders Alibi erweist sich als glaubwürdig, woran ich im Augenblick nicht zweifle …« »Herr Kommissar«, sagte Novottny, »Sie haben die Tote im Bootshaus gefunden; nachdem sie da oben an der Küste verschwunden ist, muß jemand sie hierhergebracht haben. Glauben Sie wirklich, ich hätte eine nachzuweisende Schwangerschaft bestritten, wenn ich so irrsinnig gewesen wäre, auf eine derart gefährliche Idee zu verfallen?« Ketterle sah, wie Hornschuh, während er schrieb, hinter Novottnys Rücken zustimmend nickte. »Es gibt Leute«, sagte er trotzdem, »die gerade durch die unglaublichsten Ungereimtheiten einen Schein hervorzaubern, den man kaum durchdringen kann. Wer sagt uns denn überhaupt, daß derjenige, der sie ermordete, und derjenige, der sie ins Bootshaus brachte, die gleiche Person war? Das kann doch auch jemand getan haben, der es auf den Senator abgesehen hatte. Wie nun, wenn Sie den Mord begangen hätten und jetzt darauf vertrauten, daß ich das, was Sie eben gesagt haben, auch für zwingend hielte? Wenn ich das täte, würde ich Sie jetzt 172
nach Hause schicken, Novottny. Können Sie mir eine Erklärung abgeben, ob Sandra Roberts tot oder lebendig von der Küste ins Bootshaus kam?« »Natürlich nicht.« »Ob sie selbst oder jemand anderes die Schuhe an ihren Füßen vertauscht hat?« »Woher soll ich das wissen?« »Woher die merkwürdige Verkrampfung kommt, in der sie offensichtlich starb, Novottny? Wollen Sie sich die Bilder noch einmal ansehen?« »Es war schlimm genug für mich, die Szene im Bootshaus zu erleben.« »Das glaube ich gerne, Novottny. Sie können sich auch nicht erklären, wieso in der Lunge kein Seewasser, sondern Süßwasser mit Spuren von Kernseife gefunden wurde?« »Nein.« »Aber Frau Roberts wusch sich doch das Gesicht mit Kernseife, nicht wahr?« Der Kommissar war aufgestanden und kam langsam um den Schreibtisch. »Und was für eine Seife hatten Sie gewöhnlich an dem Ausguß im Bootshaus, Novottny? Antworten Sie!« »Kernseife.« Der Chauffeur sah zu Ketterle hoch. Der Mund des Kommissars sprach Ungeheuerlichkeiten aus. »Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was Sie am Samstag gemacht haben, Novottny. Sie hatten sich mit Sandra Roberts im ›Clifton‹ verabredet, um die scheußliche Situation zu besprechen, in die Sie sie gebracht hatten. Sie telegrafierten kurz nach neun Ihr ›geht nicht‹. Als Sie erfuhren, daß Sie am Sonntag nicht gebraucht würden, fuhren Sie doch los. Und was dann geschah, wissen nur Sie allein. Es war vielleicht gar kein so entsetzlicher Schock für Sie, sie plötzlich im Bootshaus zu finden. Erzählen Sie, was dort am Strand geschah, Novottny. Hat 173
sie Sie bedroht? Hatte sie Angst? Los, erzählen Sie, bevor Ihre Verstocktheit noch strafverschärfend wirkt.« Der Chauffeur richtete sich auf. »Ich bin niemals dortgewesen. Ich kann nichts erzählen.« Der Kommissar beugte sich zu Novottny und näherte ihm sein Gesicht. »Es gibt sehr massive Beweise dafür, daß Sie lügen, Novottny. Verstehen Sie das nicht? Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sich das Netz geschlossen haben. Ich gebe Ihnen eine letzte Chance. Sagen Sie die Wahrheit.« »Dann verhaften Sie mich doch endlich, daß die Quälerei ein Ende hat.« Der Kommissar richtete sich auf. »Gut«, sagte er. »Wie Sie wollen. Ich gebe Ihnen mein Wort: Ich nehme Sie fest, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Und das wird bald sein.« Novottny stand auf. »Warum wollen Sie mich ins Unglück stürzen, Herr Kommissar? Ihre Beschuldigungen sind haltlos. Ich war nie in dieser Pension. Ich werde mir einen Anwalt nehmen. Ich fühle mich bedroht.« »Kannten Sie eigentlich die näheren Umstände des Todes von des Herrn Senators erster Frau?« Novottny drehte sich noch einmal um. »Ja«, sagte er, »der Herr Senator haben mir einmal davon erzählt. Sie sehen, daß ich die Wahrheit sage. Niemand könnte es widerlegen, wenn ich es abstritte.« Der Kommissar nickte. Novottny verließ das Büro. »Veranlassen Sie, daß er überwacht wird«, sagte Ketterle vom Fenster aus zu Hornschuh. »Am besten Trinkhut. Ich möchte doch wissen, was er jetzt unternimmt.« Er sah Novottny unten auf der Parkinsel in seinen verschmutzten, zweiter Hand erworbenen, schwarzen Goliath elf174
hundert steigen. Hornschuh wunderte sich, wie lange Ketterle dort am Fenster verweilte, obwohl Novottny schon längst abgefahren sein mußte. Schließlich verließ auch er das Zimmer. Aber dem Kommissar war ein Gedanke gekommen. Später ging Ketterle langsam und nachdenklich ein paarmal zwischen Fenster und Schreibtisch hin und her, verließ dann das Zimmer und sah durch das Flurfenster auf den Hof hinunter. Sich umwendend, öffnete er schließlich von außen die Tür zum Schreibzimmer. »Fräulein Klings«, sagte er, »wie groß sind Sie?« »Einszweiundsechzig«, sagte das Mädchen. »Das wird gehen. Können Sie sich mal eine Kittelschürze beschaffen, von den Putzfrauen, aus der Vermittlung, dem Labor oder so? Ich brauche Sie einen Augenblick. Und binden Sie sich was um die Haare.« Das Mädchen schob die Schreibtischschublade mit der angebissenen Semmel zu und verschloß die Kakaoflasche. »Gleich?« »Ja, gleich«, sagte der Kommissar. »Sagen Sie mir Bescheid.« Er ging in sein Zimmer und rief Hornschuh zurück. »Kommen Sie doch gleich noch mal ‘rüber, Hornschuh.« Als Fräulein Klings sich nach zehn Minuten in einem etwas merkwürdigen Aufzug im Büro einfand, waren die Beamten mit den Köpfen tief über die Fotos gebeugt. »Kommen Sie«, sagte Ketterle, und die Leute sahen ihnen erstaunt nach, als sie die Steintreppe hinunterstiegen und den Hof mit seinem regenfeuchten Pflaster betraten. An dem dunkelgrünen Opel Rekord der Mordinspektion öffnete Hornschuh den Kofferraum, zeigte hinein und sagte: »Steigen Sie ein, Fräulein Klings. Es ist zwar nicht bequem, aber wichtig.« Das Mädchen, eins von der munteren Hamburger Sorte, zögerte nicht lange und kletterte in die Höhlung. 175
»Jetzt legen Sie sich auf die Seite«, sagte der Kommissar, als sie mit angezogenen Knien und geducktem Kopf dasaß, »und tun Sie mal so, als ob Sie tot wären. Keine Körperspannung, keinen eigenen Willen, keinen eigenen Gedanken.« »Ich kann mich doch auf Sie verlassen«, sagte Fräulein Klings, als Hornschuh und der Kommissar sie jetzt in dem Kofferraum zurechtschoben. Ketterle war nicht weiter überrascht, daß der Winkel, den ihre Knie und Beine bildeten, fast genau demjenigen entsprach, den die Fotografien der toten Sandra Roberts zeigten. Der linke Arm der Sekretärin hing schlaff über die hintere Blechkante herunter. Sie legten ihn auf den Körper des Mädchens, und er blieb auf ihrer Hüfte liegen. »Jetzt drehen Sie mal den Kopf, Fräulein Klings, ja, so, noch ein bißchen mehr! Sehen Sie mich über die Schulter an. Ja, so. Los, Hornschuh, die Kamera, rasch, es ist ziemlich unbequem für sie.« Während Hornschuh ins Haus eilte und der Kommissar wartete, bemerkte er, daß aus vielen Fenstern neugierige Gesichter auf den Hof herunterstarrten. »Sie werden eine Berühmtheit, Fräulein Klings«, sagte er, »wenn Sie noch drei Minuten Geduld haben.« Hornschuh machte vier oder fünf Aufnahmen aus verschiedenen Richtungen, und dann ließen sie das Mädchen aussteigen. Sie hatten Verständnis dafür, daß sie sich Kittel und Kopftuch sofort wieder auszog. »Ich kann nur hoffen, daß sie tot war, als sie so im Wagen lag«, sagte Fräulein Klings und schüttelte sich die Haare zurück. »Ich möchte es beinahe glauben«, murmelte der Kommissar. »Ich möchte es beinahe ganz sicher glauben. Aber niemand wird uns sagen können, ob sie zu dieser Zeit noch an jedem Fuß ihren richtigen Schuh hatte.«
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Am frühen Nachmittag saß Gaffke seinem Chef gegenüber. Das umfangreiche Aktenstück, das er mitgebracht hatte, lag drüben in Hornschuhs Büro, der von der Schule her zwar lükkenhafte, aber immerhin ausreichende Englischkenntnisse besaß, um die wichtigsten Punkte verstehen zu können. »Sein Geschmack ist nicht schlecht, Herr Kommissar«, sagte Gaffke. »Eine elegante Dame.« »Eine Bardame, nicht wahr, Gaffke?« »Ja, schon. Aber eine elegante Wohnung, sehr schön eingerichtet. Auch teuer. Sie verbraucht schon, was sie verdient.« »Und was sagt sie?« Gaffke sah sich suchend nach des Kommissars Besucherzigaretten um. »Sie bestätigt die Angaben des Doktors Wort für Wort«, sagte er, als er sich eine angezündet hatte. »Mit ganz geringen Zeitverschiebungen. Es könne halb oder auch Viertel vor zehn gewesen sein, als sie sich vor dem ›Esplanade‹ getroffen hätten. Sie wußte auch nicht mehr genau, wann er gegangen sei. Sie sei etwas …« Gaffke machte eine nebelhafte Handbewegung. »Na ja, kann man sich ja auch vorstellen. Aber der Nachtportier im Hotel bestätigt, daß er gegen halb, dreiviertel sieben ohne Hut und Mantel geläutet habe. Er soll auch etwas angeheitert und übernächtig gewesen sein. Er soll auch einen Scherz gemacht haben. Der Nachtportier meint, daß er zu der Sorte gehört, die verlegen sind, wenn sie nach ihren unerlaubten Abenteuern den Portier treffen. Weil sie wissen, daß der Portier weiß …« »Schon gut, Gaffke. Und im ›Esplanade‹? Er hat angegeben, daß sie dort noch eine Kleinigkeit getrunken hätten?« »Das stimmt. Ich habe die Bedienung herausgetrommelt. Sie kannte die Frau, und den Doktor hat sie bis auf die Krawatte genau beschrieben. Es besteht kein Zweifel.« »Und der Wagen?« 177
»Den Wagen hatte er in einer Seitenstraße abgestellt. Die Portiers haben sich nicht darum gekümmert. Der Tagesportier konnte sich allerdings daran erinnern, daß er noch an derselben Stelle stand wie am Abend vorher, als er ihm gegen neun den Koffer hinaustrug.« Der Kommissar stieß eine dichte Rauchwolke aus. »Was haben Sie für einen Eindruck, Gaffke? Scheint Ihnen irgendwas an der Geschichte gestrickt?« »Eigentlich nicht, Herr Kommissar. Ein Alibi, so gut wie jedes andere. Ich habe keine Widersprüche festgestellt, keine Unklarheiten. Ich hatte den Eindruck, daß die Dame nicht gerade selten Herrenbesuch hat, aber was bedeutet das …?« »Aber kein Strichmädchen?« »Auf keinen Fall. Drei Stufen höher. Sie kennen das ja.« Der Kommissar kannte es. »Und Reinhardts Bar?« fragte er. »Stimmt auch. Samstags geschlossen. Das hätte ich fast vergessen«, sagte Gaffke. »Na schön, Gaffke. Machen Sie noch einen Bericht zu der Sache. Und rufen Sie drüben im Untersuchungsgefängnis an. Man soll mir Dr. Brabender herüberschicken. Es braucht niemand mitzukommen.« Kommissar Ketterle wartete gar nicht erst ab, bis Gaffke das Zimmer verlassen hatte. Er stürmte hinüber in Hornschuhs Büro. »Na«, sagte er noch unter der Tür und sah flüchtig auf den Boden, wohin die lang angewachsene Asche seiner Zigarre gefallen war. »Es scheint nicht alles ganz so zu sein, wie Roberts es geschildert hat. Die Bundespolizei ist nur deshalb eingeschaltet worden, weil Mrs. Roberts im Staate New York vermißt und im Staate New Jersey, also in einem anderen Staat, gefunden wurde. Das ist alles. Man wurde aufmerksam, als am zweiten Tag der Milchmann und gleichzeitig der Briefträger zu Proto178
koll gaben, daß Milch und Zeitungen liegengeblieben seien. Erst telefonierte man, dann wartete man noch einen Tag, bis man die Villa betrat. Man fand die zur Seeseite führende Terrassentür offen, mit zersplitterten Fensterscheiben. Aber wahrscheinlich hatte der Wind die Tür hin- und hergeschlagen und die Scheiben zertrümmert. Da der Local-Police Commissioner – er heißt Grave – sofort einen Unfall vermutete, setzte man, um Gewißheit zu erlangen, einen Spürhund an. Er verfolgte eine Fährte, die direkt auf das Meer zu verlief. Aber sie war nicht bis direkt ins Wasser auszumachen, sondern endete, und zwar auch für den Hund, dreißig Meter vorher. Erst gab man sich damit zufrieden. Dann kamen dem Commissioner Bedenken, und er schaltete die Kriminalpolizei ein. Die untersuchten den Strand, auch mit Infrarot, und stellten als letzten einen linken Fußabdruck fest. Sie können die Wandlungen des Falles an den Aufschriften auf dem Aktendeckel verfolgen. Hier sehen Sie: Vermißtenfahndung Roberts durchgestrichen. Mordfall Roberts auch durchgestrichen. Stehengeblieben ist Todesfall Roberts. Dem Verschwinden der Spur maß man späterhin bei der Bundespolizei keine Bedeutung mehr bei. Die Bundespolizei erklärte, als nach neunundsiebzig Tagen die Tote gefunden wurde, dieses Verschwinden könne durch mannigfache Umstände begründet worden sein. Man nahm schließlich allgemein an, daß sie in ihrer exzentrischen Art nachts zum Schwimmen ging, in eine Strömung geriet und ertrank. Und Julie Roberts ist auch eindeutig ertrunken. Sie hatte im Gegensatz zu Sandra Roberts allerdings Salzwasser im Körper. Wollen Sie Bilder sehen?« Hornschuh reichte dem Kommissar einen mit Fotos beklebten Karton, und Ketterle ging damit zum Fenster. »Hm, kein schöner Anblick.« Der Kommissar kam wieder zum Schreibtisch. »Ja, Fische, Strömungen, natürliche Verwesung. Sie haben alles berücksichtigt.« 179
Ketterle nickte flüchtig und legte die Bilder wieder zurück. »Wer hat sie identifiziert?« Hornschuh blätterte. »Ein entfernter Vetter aus Brattleborough, Vermont, die Gemeindeschwester und der Pfarrer. Aber hier ist etwas viel Interessanteres. Mehrere Briefe von Dr. Reimar Brabender, in denen er sich sehr angelegentlich nach allen Einzelheiten des Falles erkundigt, die ihm auch mitgeteilt wurden. Hier, die Durchschläge. Und das auffallendste ist, daß diese Korrespondenz erst vor zwei Jahren geführt wurde.« Hornschuh hakte einige Dokumente aus dem Ordner und gab sie Ketterle. »Roberts selbst scheint sich für das Schicksal seiner ersten Frau nicht rasend interessiert zu haben.« Der Kommissar nahm die Briefe und ging auch mit ihnen hinüber zum Fenster. »Ein Unfall, gewiß«, sagte er von dort aus. »Aber nach den jüngsten Ereignissen wirft sich die Frage auf, ob man die damaligen Vorgänge nicht doch in einem anderen Licht sehen sollte. Vielleicht kam Dr. Grabender auch auf diesen Gedanken. Aber das erstaunlichste daran ist, daß er es uns nicht mitgeteilt hat. Er mußte doch wissen, daß diese Briefe von unschätzbarem Wert für uns hätten sein können.« »Na ja«, sagte Hornschuh, »vielleicht hat er damit gerechnet, daß wir uns die Akten ohnehin kommen lassen würden.« »Trotzdem«, sagte der Kommissar düster. »Trotzdem ist es seltsam.« Es klopfte. Hornschuh sagte: »Herein«, und blickte flüchtig hoch. »Das Fräulein meinte, Sie seien hier«, sagte Reimar Brabender, »verzeihen Sie, wenn ich Sie störe, aber …« Er begegnete dem Blick des Kommissars und verstummte. »Ihr Alibi ist in Ordnung.« Ketterle blieb an der Fensterbank lehnen und stützte sich mit beiden Händen darauf. In der rechten hielt er die Papiere, die ihm Hornschuh eben gegeben hatte. 180
»Ich beglückwünsche Sie dazu, Herr Doktor. Sie können gleich von hier aus gehen. Haben Sie noch Gegenstände im Gefängnisbüro?« »Nein, das nicht. Kann ich meine Frau anrufen?« Der Kommissar deutete auf das Telefon. Während Dr. Brabender seiner Frau mitteilte, daß der Verdacht gegen ihn völlig entkräftet sei, überflog Ketterle mit dem Rücken zum Fenster die Briefe. Einen nach dem anderen. Er konnte sich vorstellen, wie Erika Brabender am anderen Ende der Leitung die Tränen kamen. »Ja, Liebling, ich erkläre dir alles. Alles, ja. Wo ist der Wagen? Laß ihn drin, ich nehme mir ein Taxi.« Der Arzt legte auf. »Ich wollte noch etwas mit Ihnen besprechen, Herr Kommissar«, sagte er dann und begann, mit den Händen in den Hosentaschen, auf und ab zu gehen. Ketterle ließ die Hand mit den Briefen sinken und sah ihn aufmerksam an. »Sehen Sie mal, diese Geschichte wirft ein übles Licht auf mich.« »Nicht nur auf Sie, Herr Doktor«, unterbrach ihn der Kommissar. Der Arzt blieb stehen. »Ja, natürlich«, sagte er, »auch auf Hans-Paul. Aber in der Hauptsache doch auf mich.« Er nahm seine Wanderung wieder auf. »Ich habe den Eindruck, daß Sie auch nicht sehr viel weiterkommen. Sie können sicher verstehen, daß ich das Bedürfnis habe, alles zu tun, um zu der Aufklärung beizutragen. Würden Sie etwas dagegen haben …« »Sie wollen also ins ›Clifton‹ fahren, Herr Doktor …?« Der Arzt blieb stehen. »Ja«, sagte er perplex. »Woher wissen Sie das?« »Nun«, sagte der Kommissar, »ich habe eben Ahnungen.« 181
Er legte die Briefe, die er in der Hand hatte, zusammen, faltete sie und hielt sie Reimar Brabender hin. »Vielleicht können Ihnen diese Hinweise hier nützlich sein«, sagte er, »falls Sie die Originale aus irgendeinem Grund verlegt haben sollten.« Bis zum Mittag des nächsten Tages hatte Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle noch keine Ahnung davon, daß er schon am Abend den Tod der Sandra Roberts seines Geheimnisses entkleidet haben würde. Ja, um die Wahrheit zu sagen, dachte er erst wieder an den Fall, als er von Papa Heinrichsens Kneipe nach dem Mittagessen in sein Büro zurückkam und die Luftaufnahmen auf seinem Schreibtisch vorfand, die die Verkehrsüberwachung von Haus und Park des Senators gemacht hatte. Er setzte sich, und während er seinen Kaffee schlürfte, studierte er das stark vergrößerte Bild mit einer Akribie, um die ihn selbst Oberst Schlisske beneidet haben würde. Nach einer Viertelstunde rief er Hornschuh. Er legte den Briefumschlag, den der Beamte ihm gab, achtlos zur Seite. »Sehen Sie mal«, sagte er, und Hornschuh beugte sich über seine Schulter. »Der Fall lichtet sich.« Ketterles Fingerspitze fuhr auf dem Bild nach links. »Was ist das?« »Eine Brücke über den Kanal.« »Und das?« »Ich würde sagen, eine Art Rampe oder Schleife, die direkt am Kopf der Brücke zur Dampferanlegestelle hinunterführt.« »Und das?« »Das scheint ein Dreiradlieferwagen mit Gemüse oder so was zu sein.« »Stimmt. Die Rampe ist also befahrbar. Und dieses Dach hier?« »Das Dach des Bootshauses, würde ich sagen.« 182
»Natürlich, Hornschuh. Und das?« »Hm, eine Enterstange mit Bootshaken, Rettungsring und einer Blechtafel, wie an fast allen Anlegestellen.« »Stimmt auch, Hornschuh. Hier, an dieser vorspringenden Kaistelle, hat der Wagen gestanden, indem die tote Sandra Roberts lag. Kaum drei Meter weg von der Einfahrt zum Bootshaus. Das Geräusch, das sie machte, als sie ins Wasser flog, mag gar nicht einmal so stark gewesen sein. Es mag auch gar nicht einmal so schwierig gewesen sein, die Leiche mit dem langen Bootshaken zu stoßen. Nur eines frage ich mich: Warum? Warum wurde sie in das Bootshaus gebracht?« »Und von wem?« fragte Hornschuh. »Das«, murmelte der Kommissar, »hängt sehr eng miteinander zusammen.« Und dann ging alles sehr schnell. Es begann damit, daß gegen vier Uhr Trinkhut anrief, er habe den Kontakt mit Novottny verloren. Novottny habe sich um halb vier in seinen Wagen gesetzt und sei losgefahren. Er habe ihm folgen können bis zur Kreuzung Fruchtallee-Eppendorfer Weg. Da sei Novottny über die Kreuzung gefahren, schon bei Gelb. Es sei nichts zu machen gewesen. Er habe drei Minuten Rot abwarten müssen, und drei Minuten seien eine lange Zeit. »Na gut, Trinkhut. Da kann man nichts machen. Sie müssen zur Wohnung zurückfahren und warten, bis er wieder nach Hause kommt.« Noch in seine letzten Worte hinein quengelte das Mädchen aus der Vermittlung: »Bitte auflegen, bitte auflegen, ein Vorranggespräch aus Bremen.« Der Kommissar seufzte. »Heute kommt aber auch alles zusammen. Ja?« Er hatte abgehoben, und Hornschuh beobachtete, wie Ketterle sich in seinen Sessel zurücklehnte und sich mit dem kleinen Finger der Hand, die den Hörer hielt mit hochgezogener Ober183
lippe im Mundwinkel pulte. »Ein Vorgang zum Mordfall Roberts, Herr Kommissar«, plusterte sich der Beamte des dreizehnten Bremer Polizeireviers. »Soeben erschien hier eine Dame«, er nannte den Namen, »und legte fünf Hundertmarkscheine auf meinen Tisch. Sie erklärte, mit der Sache wolle sie nichts zu tun haben. Ein Arzt namens Dr. Brabender – der sitzt doch ein wegen der Sache, nicht wahr?« »Ja«, sagte der Kommissar. »Weiter.« »Gut, der Arzt habe sie bestochen, ein Alibi zu bestätigen, das nicht stimmt. Sie habe eben beim Friseur die Zeitungen gelesen und die Verbindung des Arztes mit dem Mord erfahren. Sie wolle sich um Gottes willen die Finger nicht dreckig machen. Sie habe geglaubt, es handle sich um eine Scheidungssache. In Wirklichkeit sei Dr. Brabender später mit der Frau eines Internisten aus Vegesack zusammengewesen, Frau Dr. Lütjens …« »Noch mal«, sagte Ketterle. »Lütjens, aus Bremen-Vegesack, Herr Kommissar.« Der Beamte schilderte noch immer diensteifrig Einzelheiten, während Kommissar Ketterle schon aufgelegt hatte und mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab ging. Schließlich blieb er wieder neben dem Telefon stehen und wählte. »Ist Ihr Mann da, Frau Brabender?« »Nein. Er ist schon gestern abend hinauf an die Küste. Er sagte, mit Ihrem Einverständnis. Stimmt etwas nicht?« »Wenn ich das wüßte?« knurrte Ketterle und stürzte Erika Brabender von neuem in unerklärliche Sorge. Ohne sich zu setzen, wählte Ketterle eine neue Nummer. »Ketterle. Guten Abend, Frau Bracélles. Ist Ihr Mann zu sprechen?« »Nein, Herr Kommissar. Er ist mit dem Wagen zu dieser 184
Pension hinaufgefahren, oben an das Wattenmeer. Reimar hat angerufen und es ganz dringend gemacht.« »Wann ist er weggefahren?« »Vor eineinhalb Stunden. Warum? Ist wieder irgend etwas …« »Was hat Dr. Brabender gewollt?« »Hans-Paul hat mir nichts gesagt. Aber Reimar hat es ganz dringend gemacht. Hans-Paul hatte eigentlich keine Zeit. Aber Reimar war so aufgeregt …« »Hören Sie, Frau Bracélles, warum sind Sie nicht mitgefahren?« fragte der Kommissar. »Ich habe keine Zeit. Wo soll ich die Kinder lassen, und Reimar hat ausdrücklich verlangt, daß Hans-Paul alleine kommt. Hans-Paul war ganz durcheinander und ist sofort losgefahren.« »Können Sie sich irgendeinen Reim darauf machen, Frau Bracélles?« »Nein. Nicht den geringsten …« Sie stockte, und eine fürchterliche Angst stieg in ihr hoch, der Kommissar könne Hans-Paul nur freigelassen haben, um ihn zu überwachen und irgendwie hereinzulegen. »Hören Sie, Herr Kommissar …«, stieß sie heraus, und ihr Entsetzen wuchs, als sie bemerkte, daß Ketterle schon aufgelegt hatte. »Los, Hornschuh, ziehen Sie sich an, wir müssen sofort ins ›Clifton‹, ehe dort Unheil geschieht. Nehmen Sie eine Brechstange mit, Hammer, Stemmeisen und was so dazugehört. Vorsicht ist besser als das Nachsehen.« »Wollen Sie in den Sommerbungalow von Lütjens einbrechen?« »Unter anderem auch das«, sagte Ketterle und fuhr in seinen Mantel; »was ist denn das eigentlich?« Er griff nach dem Briefumschlag, den er vorhin beiseite gelegt hatte. 185
»Der Prospekt«, sagte Hornschuh. »Welcher Prospekt?« »Der Prospekt vom ›Clifton‹, den Gaffke in Senator Roberts Schreibtisch gefunden hat.« Hornschuh wunderte sich keinen Augenblick, daß Ketterle ihn wie geistesabwesend anstarrte, ehe er, ohne den Prospekt aus dem Umschlag zu ziehen, ein Vergrößerungsglas nahm und trotz der drängenden Zeit die Inschrift des Poststempels entzifferte. Er brauchte dazu einige Sekunden. Dann sah er Hornschuh an und steckte den Umschlag in die Manteltasche. »Sie sind also nicht überrascht?« sagte Hornschuh. »Nein«, murmelte Ketterle, »nach dem, was mir die Bracélles gesagt hat, nicht mehr. Los, Hornschuh, wir haben nicht viel Zeit.« Der Nebel begann kurz hinter Stade. Er war so dicht, daß man den unterbrochenen, weißen Mittelstreifen knapp zwanzig Meter weit sehen konnte; trotzdem fuhr Hornschuh schnell. Er hatte die Scheinwerfer auf Fernlicht geblendet, und er wußte, daß jeder Kilometer, den sie vor Einbruch der Dunkelheit zurücklegten, ungemein wichtig war. Der Nebel im Watt war berüchtigt wegen seiner Tücke. Man sah diesmal nichts von der traurigen Melancholie der Marschlandschaft. Manchmal ahnte man die nassen, glänzenden Rücken schwarz-weiß gefleckter Kühe und, verwaschen, wie Fettflecke im Grau geduckte, knorrige Weidengruppen. Eine Parade halb entlaubter Pappeln endete oben im Nichts und versank hinter ihnen. Um sechs war es dunkel, und um halb sieben holperte der Wagen von dem abkürzenden Feldweg auf das grobe Kopf Steinpflaster der Dorfstraße. Hornschuh fuhr langsam zwischen den Häusern hindurch. 186
Zwischen den Backsteinecken zweier Gehöfte führte ein zerfurchter Feldweg nach rechts. »Versuchen wir es hier? Man muß das Sommerhaus von hinter den Dünen her erreichen können. Vorne geht es nicht.« »Versuchen Sie es«, sagte Ketterle. Der Weg war wie eine Straße ins Nichts. Aber nach einem halben Kilometer war er teilweise sandüberweht, und die tastenden Scheinwerfer pflückten gespenstisch den wiegenden Strandhafer vom Kamm einer Düne. Dahinter neblige Schwärze. Nach einer Weile hielt Hornschuh an. »Hier muß es ungefähr sein.« Er spähte nach links. »Nein«, sagte der Kommissar, »fahren Sie langsam weiter. Glauben Sie, heutzutage kommt noch jemand mit dem Rucksack übers Wochenende? Man muß mit dem Wagen bis hinfahren können.« Schon nach wenigen Minuten zweigte wirklich eine ausgefahrene Spur nach links ab. Sie wand sich zwischen sanftgeschwungenen Dünen hindurch, sandbestäubte morsche Pfosten, Strünke kahler, sandiger Äste wanderten durch die Scheinwerferkegel, und plötzlich stand das Haus, mit geschlossenen Läden, teilnahmslos in seine Mulde geduckt, vor ihnen. Hornschuh schaltete das Licht ab und drehte den Zündschlüssel. Sie stiegen aus. Über die Dünen herüber wälzte sich das Rauschen und Toben der Brandung wie ein fernes rhythmisches Donnern. Hier hinter dem Haus war kein Wind zu spüren. Sie gingen um das Gebäude. Bei einer Art Kücheneingang blieb Ketterle stehen. »Brechen Sie auf, Hornschuh.« In dem hellen Kreis der Stablampe machte sich Hornschuh an die Arbeit. Schon nach wenigen Minuten bog sich die Tür aus dem Schloß und sprang mit einem gemeinen Knirschen auf. Ein kleiner Flur führte geradeaus in das Zimmer, in das sie 187
von außen durch das Fenster hereingesehen hatten. Seit damals war nichts verändert worden. Sie kehrten um. Links ging es in die Schlafkabinen. Auf allen Klinken lag dicker Staub. Sie waren mit Sicherheit seit dem Sommer nicht berührt worden. Hinten rechts lag die Küche, auch sie mit den unzweifelhaften Zeichen unberührten Winterschlafs. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür, durch welche sie in einen Anbau gelangten. Es war eine Art Geräteschuppen, Aufbewahrungsraum, Garage oder Waschküche. Ein mit einem Querbalken verschlossenes Tor führte ins Freie. Der Boden bestand aus Brettern. Ketterles Stablampe erfaßte einen großen, hölzernen Bottich, der gegen die Holzwand gelehnt war. Direkt unter einem Hahn aus Messing. Hornschuh drehte den Bottich um. Sein Boden war mit Sand und Staub bedeckt. »Hier war seit Monaten niemand«, sagte er. »Ich weiß«, murmelte der Kommissar. »Es war anders, als wir gedacht haben, Hornschuh.« Im ›Clifton‹ brannten schon die Lichter. Sie waren stilecht als friesische Petroleumlampen gehalten, mit großen, milchweißen Glaskugeln unterflachen Schirmen aus Messing, durch die der Zylinder nach oben ragte. Heide faltete in der Küche Wäsche und ordnete sie. Am ersten November wollte Frau van Hengelaer schließen. Es waren die letzten Tage der Saison, und auch Oberst Schlisske nützte sie aus. Er war schon frühmorgens zu einer langen Wanderung aufgebrochen. Er hoffte, bis zum Dorumer Tief zukommen. Aber jetzt war es neblig, und Heide nahm an, er werde mit dem Bus zurückkehren, der um fünf nach sieben vorne im Dorf eintraf. Sonst war niemand zu sehen, und deshalb erschrak Heide, als sie das Gesicht des Kommissars hinter der Glasscheibe des Fenster bemerkte. Sie lief durch die Torbögen nach hinten und rief in den ersten 188
Stock hinauf: »Frau van Hengelaer, der Kommissar!« Die Beamten betraten den Gastraum, als Heide wieder nach vorn kam. »Guten Abend, Heide«, sagte der Kommissar. »Niemand zu Hause?« »Doch«, sagte Heide »Frau van Hengelaer ist oben. Der Oberst ist zum Dorumer Tief. Ich vermute, er wird gleich kommen.« »Und die beiden neuen Gäste?« »Welche neuen Gäste?« »Es sind doch zwei Herren aus Hamburg angekommen. Einer gestern abend und einer heute nachmittag.« Heide schüttelte den Kopf. »Nein. Sie irren sich.« »Aber Heide, deswegen sind wir doch hergekommen!« »Sie irren sich trotzdem, Herr Kommissar. Wir nehmen gar niemand mehr auf. Wir machen übermorgen zu. Es hat auch gar niemand nachgefragt.« Ketterle sah Hornschuh an. »Gibt es vorn im Dorf einen Gasthof?« »Ja. Den ›Schimmelreiter‹. Vielleicht sind Ihre Freunde dort?« »Freunde ist gut«, murmelte Ketterle. »Hornschuh, würden Sie mal zum ›Schimmelreiter‹ fahren …?« Aber Hornschuh brauchte das Haus gar nicht mehr zu verlassen. Füße klapperten draußen auf dem gerippten Klinkerpflaster, und durch die saugende Glastür betrat Dr. Reimar Brabender den Gast, räum, in Trachtenhut und lose geschlungenem Wollschal, die Zigarette in der Hand. Er ließ die Zigarette sinken, als er den Kommissar sah. »Sie?« fragte er. »Ja. Ich. Das ist schnell gegangen, nicht wahr, Dr. Brabender?« 189
»Ich hätte es mir denken können«, murmelte der Arzt. »Ich wußte es«, sagte Ketterle, »seitdem ich bei Ihrem Schwager angerufen hatte.« »Hallo, sind Sie weitergekommen, Kommissar?« prustete krebsrot Oberst Schlisske und zerrte sich den Schal vom Hals. »Eine verwickelte Geschichte, was?« »Sie sind also gut zurückgekehrt, Oberst Schlisske«, sagte Ketterle; »das freut mich.« »Ich bin immerhin dreißig Kilometer gelaufen«, schrie der Oberst, »das macht hungrig; hallo, Willie, es ist Viertel nach sieben.« »Wollen Sie alle essen?« fragte Willemien van Hengelaer; »ich fürchte, dann müssen wir das Feuer noch mal anmachen. Heide …« »Ich fürchte, ein Teil von uns wird keinen sehr großen Hunger haben«, sagte Ketterle, »Guten Abend, Frau van Hengelaer. Es tut mir leid, daß ich Ihnen Ungelegenheiten bereiten muß …« »Das scheint so Ihre Art zu sein«, sagte Hans-Paul Bracélles und öffnete sich die Lederknebel seines Dufflecoats. »Müssen Sie Ihre Nase in alles stecken? Reimar ist völlig außer Verdacht.« »So«, sagte der Kommissar, »meinen Sie? Weswegen, glauben Sie, fahre ich hundertvierzig Kilometer durch den Nebel? Um meine Nase in Privatangelegenheiten zu stecken? Ich kann Ihre Erregung verstehen, Bracélles. Aber ich bin hierhergekommen, um einen Mord zu rekonstruieren.« Bracélles bemerkte, daß Hornschuh, mit den Händen in den Taschen, neben der Tür stand. Er hatte begriffen, um was es ging. Auch der Oberst bemerkte es. »Wird es ernst?« sagte er und sah von einem zum andern. »Wer sind die beiden Herren?« fragte Frau van Hengelaer und musterte befremdet Brabender und Bracélles. 190
»Ach so, entschuldigen Sie«, sagte Ketterle, »ich dachte, Sie hätten die beiden Herren schon gesehen. Dr. Brabender und Hans-Paul Bracélles, die beiden Schwiegersöhne des toten Senators.« »Wieso rekonstruieren?« fragte Oberst Schlisske. Er legte die kalten Finger gegeneinander und ließ sie knacken. »Am Sonntagmorgen sagte ich Ihnen, wenn Sie eines Tages erfahren wollen, was passiert ist, sollten Sie meine Fragen beantworten. Erinnern Sie sich?« »Ja«, sagte der Oberst verdutzt. »Nun, wenn Sie den Tatort besichtigen wollen …?« »Jetzt, mitten in der Nacht?« fragte Willie van Hengelaer erstaunt. »Potztausend«, sagte der Oberst und band seinen Schal wieder um. »Was wollen Sie mit dem Schal«, fragte der Kommissar, »kommen Sie.« Dann ging er durch die beiden Torbögen, vorbei an dem Heiligen mit der ausgestreckten Hand, nach hinten. Nummer drei war unversperrt. Als Ketterle entschlossen und zielbewußt die Tür öffnete, wußte er, daß jemand im Zimmer war. Etwas bewegte sich, ein Vorhang blähte sich raschelnd. »Bleiben Sie stehen, Novottny. Es ist zwecklos«, hörten die anderen auf dem Flur den Kommissar rufen. Das Licht flammte auf. Novottny blieb unter der Tür zum Bad stehen, als habe man ihm einen Balken vor die Brust gerammt. »Wenn ich mich nicht irre, suchen Sie nach einem Zahnputzglas, nicht wahr?« Der Chauffeur drehte sich um und starrte in die Gesichter der Leute, die sich durch die Tür hereinschoben und ihn feindselig ansahen. Das Bett war abgezogen, die Matratzenpolster aufeinandergestapelt, die Stühle waren auf den Tisch gekippt. 191
Die Saison war zu Ende. Es kam der Winter, mit Stürmen, Nebel und Dunkelheit. »Sie zog sich Hose, Pullover, Sandaletten an, als sie vom Schwimmen zurückkam. Dazu Söckchen und einen Bernsteinschmuck. Vielleicht schminkte sie sich frisch und richtete sich die Nägel. Dann kam sie nach vorn zum Essen, unterhielt sich, sah dem Oberst beim Patiencelegen zu, rauchte ein paar Zigaretten und ging gegen zehn auf ihr Zimmer. Denn sie erwartete Sie, Novottny, und wollte am Fenster sein, wenn Sie ankamen. Sie rauchte noch ein paar Zigaretten, las ein bißchen, denn sie hatte Ihr Telegramm noch nicht erhalten. Aber sie wußte, daß es davon abhing, ob der Senator Sie am Sonntag brauchte oder nicht, und hatte schon bei der Ankunft nach Ihrem Telegramm gefragt. Als sie gegen elf immer noch nicht da waren, ließ sie ein Bad einlaufen und kleidete sich aus.« Der Kommissar schob Novottny beiseite, ging in das Badezimmer und schaltete das Licht ein. Er sah in bleiche und bis zur Nervosität erregte Gesichter, als er sich umwendete. »Hier vor dem Spiegel schminkte sie sich ab.« Er griff spielerisch nach dem quadratischen Block der Abschminktücher und ließ ihn gegen die Fliesen zurückfallen, »warf das benützte Tuch in die Toilette und vergaß abzuziehen. Oder vielleicht wollte sie es später tun, aber dazu kam sie nicht mehr. Sie stieg in die Wanne, vielleicht war ihr vorher die Seife ins Wasser gefallen, oder sie hatte gerade angefangen, sich zu waschen, als der Mörder kam. Denn die Kernseifenrückstände in ihren Lungen waren sehr gering. Vielleicht ließ sie noch Wasser zulaufen oder sang oder pfiff, denn mit großer Wahrscheinlichkeit hat sie ihn nicht gehört.« »Aber Herr Kommissar«, sagte der Oberst, »sie hatte doch, wenn sie in der Wanne saß, das Fenster direkt vor Augen.« »Eben«, sagte der Kommissar, »der Mörder kam aber nicht durch das Fenster. Der Mörder kam durch die Tür. Sie merkte es erst, als das Licht erlosch. Wahrscheinlich hat sie nicht ein192
mal gesehen, wer sie in der glitschigen Wanne rücksichtslos unter das Wasser drückte, bis sie tot war.« Ketterle machte eine Pause. Oberst Schlisske lächelte verkrampft. »Ich fürchte, Ihre Phantasie …« »Nun, Novottny«, unterbrach ihn der Kommissar, »sagen Sie dem Oberst, was Sie gesehen haben, als Sie kurz nach zwölf durch das angelehnte Fenster kletterten. Brannte das Licht?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Herr Kommissar«, krächzte der Chauffeur halb irrsinnig vor Angst. »Ich habe Ihnen schon ein dutzendmal versichert …« »Herr Novottny«, sagte der Kommissar, »wollen Sie uns nicht darin unterstützen, diesen Fall restlos aufzuklären?« Der Chauffeur schwieg. »Nun, ich will Ihnen weiterhelfen«, murmelte Ketterle. »Sie wurden natürlich beinahe verrückt vor Schreck, als Sie in das dunkle Bad kletterten und Sandra Roberts Leiche in der Badewanne sahen. Wahrscheinlich wurde Ihnen sogar übel, denn sie tranken ziemlich hastig ein oder zwei Glas Wasser. Hier aus diesem Glas.« Er deutete nach der Glasplatte über dem Waschbecken. »Dann verließen Sie verständlicherweise so schnell wie irgend möglich das Haus. Gerichte sind unberechenbar. Nur eines ist mir noch unklar. Woher wußten Sie, daß Sandra Roberts nicht eingeschlafen und ertrunken war? Das passiert doch manchmal. Woher wußten Sie, daß man sie ermordet hatte?« Novottny dehnte die Brust, als müsse er eine schwere Last abwerfen. Er begriff nur ganz langsam, daß der Kommissar ihm eine Chance gab. Er reckte den Kopf nach vorne. »Es war kein Wasser in der Wanne«, preßte er heraus. »Ihr Gesicht war nach vorn gekippt, ein klitschnasses Handtuch davor. Es war so entsetzlich. Es verfolgt mich noch im Traum, so grauenhaft sah es aus.« Es entstand ein tödliches Schweigen. 193
»Die Spur«, sagte plötzlich langsam der Arzt ganz leise, als ob er zu sich selbst spräche, »Sie haben nicht an die Spur gedacht. Wann soll sie denn zum Strand hinausgegangen sein, wenn sie …?« »Sie ist gar nicht zum Strand hinausgegangen«, murmelte der Kommissar. »So«, sagte Oberst Schlisske. »Was haben Sie denn dann da draußen mit allen Mitteln der Kriminaltechnik fotografiert und gesichert?« »Die Spur des Mörders, Oberst Schlisske«, sagte der Kommissar. »Und der Mörder ist wahrscheinlich mit den Füßen der Toten spazierengegangen, wie?« »Nein«, sagte Ketterle, »mit ihren Schuhen. Warum er es getan hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wollte er bewußt eine mystifizierte Parallele zum Tod von Roberts erster Frau herstellen. Wir würden nach einem Täter suchen, dachte er, der auch mit den damaligen Ereignissen in Verbindung gestanden haben mußte. Und den, so glaubte er, würden wir nicht finden. Wenn er nicht übersehen hätte, die Toilette abzuziehen, hätten wir ihn vielleicht auch nicht gefunden. Nun, jedenfalls ließ er das Wasser aus der Wanne, damit die Leiche halbwegs abtrocknete, bis er zurückkam, zog sich Sandra Roberts Schuhe an, vielleicht auch ihre Söckchen, stieg aus dem Schlafzimmerfenster und hinterließ die erstaunlich sichtbare Spur. Draußen an der Stelle, an der sie endete, zog er sich Schuhe und Söckchen aus und nahm sie in die Hand, womit die Witterung für den Hund zu Ende war. Unwiderruflich. Sie haben es alle gesehen. Vielleicht hatte er zwei Bretter dabei und ein Tuch, einen Staubwedel, irgendwas, vielleicht machte er auch nur zwei oder drei große Sätze, jedenfalls gelang es ihm, die Abdrücke seiner nackten Füße bis zum Wasser zu verwischen. Dicht am Ufer lief er zum ›Clifton‹ zurück. Sie müssen sich vorstellen«, fuhr Ketterle fort, und sah seine atemlosen Zuhörer an, »was es 194
für ihn bedeutet haben muß, hier in diesem Badezimmer die nackte, nasse Tote korrekt anzuziehen. Er tat es zweifellos im Dunkeln, denn in der Hochspannung verwechselte er ihre Schuhe. Es muß schon eine ganze Menge Haß dahinter gestanden haben, denn dann kippte er die Leiche über das Fensterbord direkt in den Kofferraum seines ganz an das Haus gefahrenen Wagens. Die verkrampfte Stellung, die sie darin eingenommen hatte, behielt sie bei, als er sie an der Anlegestelle Rathenaustraße in Alsterdorf ins Wasser warf und sie mit dem Bootshaken in die Schiffshütte des Senators stieß.« Der Kommissar löste sich von der Fliesenwand, an die er gelehnt gewesen war. »Das ist alles«, sagte er. »Sie sind ein Teufel«, murmelte Dr. Brabender und schauderte. »Ich verstehe, Herr Doktor«, sagte Ketterle; »Ihre Liebesbeziehung zu der Frau Ihres Kollegen Lütjens wäre ohne diesen Mord nie ans Tageslicht gekommen, nicht wahr? Ich verstehe auch die Angst, die Sie packte, als Sie erfuhren, wo der Mord an Sandra Roberts begangen worden war. Ich nehme ziemlich sicher an, daß Sie niemals im Sommerbungalow der Familie Lütjens waren. Aber Sie kannten seine Existenz. Abgesehen davon, wußten Sie das alles doch schon vor mir. Spätestens heute nachmittag, drei Uhr, als Sie Ihren Schwager Bracélles anriefen.« Seine eisengrauen Augen wanderten zu Hans-Paul Bracélles. »Sie wissen, wer der Mörder ist, Bracélles. Sie hatten sich beide vorgenommen, es zu verschweigen. Aber das geht jetzt nicht mehr. Sagen Sie es.« Hans-Paul Bracélles biß sich auf die Lippen. »Es ist schrecklich«, sagte er, »ich kann es nicht. Ersparen Sie es mir.« Seine Augenlider flogen, und er griff sich an den Hals, als sei ihm der Kragen zu eng. Allen fiel plötzlich die Hitze auf, die 195
im Raum herrschte. Kaduleit hatte die Heizung gut in Schwung gebracht. »Frau van Hengelaer«, fragte der Kommissar, »hat das Schreibbüro in Cuxhaven die Umschläge für die Prospekte, die Sie versendet haben, nur adressiert oder auch verschickt?« »Die ganze Arbeit ist von dort aus gemacht worden«, sagte Willemien van Hengelaer. »Ich hatte nichts mehr damit zu tun, nachdem ich ihnen die Listen gegeben hatte.« Ketterle nickte. »Nun«, sagte er, »der Mörder ist derjenige, der Sandra Roberts einen Prospekt schickte und am Samstag um null Uhr zwo den Anruf des Telegrafenamtes nicht gehört hat, obwohl er ihn hätte hören müssen.« Hans Paul Bracélles’ Stimme war heiser vor Erregung: »Ich fürchte, Sie haben sich doch in einigen Punkten geirrt«, sagte er stockend und wischte sich über die feuchte Stirn. Das Schweigen schien anzudeuten, daß ein Teil der anderen das gleiche dachte. Der Kommissar zog wortlos den Briefumschlag aus der Tasche, den man in Richard Roberts Schreibtisch gefunden hatte, und gab ihn Bracélles. »Können Sie den Poststempel entziffern, Bracélles?« Hans-Paul Bracélles starrte auf das Papier und sah dann hilflos hinüber zu Frau van Hengelaer. Ihr leises Ächzen unterbrach die Stille. Sie beherrschte sich rasch. Aber sie mußte sich stützen. »Es ist der hiesige Poststempel«, murmelte sie. »Er hat sich in keinem einzigen Punkt geirrt.« Sie sah schrecklich zerfallen aus. »Sie geben es also zu, Mrs. Roberts«, sagte der Kommissar und drehte sich langsam zu ihr um.
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Trotz des brillanten Plädoyers des Verteidigers hatte sich das Schwurgericht nicht zur Anerkennung mildernder Umstände entschließen können. Weder die Tatsache, daß Julie Roberts nicht in eigennütziger Absicht, sondern in einer fanatischen, fast tierhaften Liebe zu ihren beiden Töchtern gehandelt hatte, noch der Umstand, daß sie in ihrem Testament das Mädchen Heide zur Alleinerbin ihres eigenen Besitzes, vor allem also der Pension ›Clifton‹, eingesetzt hatte, hatten die Geschworenen gerührt. Der ärztliche Status einer tödlichen Erkrankung der Mörderin erklärte zwar die außergewöhnliche Kühnheit und Rücksichtslosigkeit der Tat, ließ aber andererseits die Kaltblütigkeit der Planung und Durchführung in einem noch härteren Licht erscheinen. Die mysteriöse Art und Weise des Untertauchens der Angeklagten am 27. März 1956 verstärkte den Verdacht, daß die Tat, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in Umrissen bereits damals geplant war. Ihr seinerzeitiges Verhalten habe dann auch als Modell für die Konstruktion des Mordes an Sandra Roberts gedient. Als besonders strafverschärfend betrachteten die Geschworenen das Schicksal ihres geschiedenen Mannes Richard Roberts, wenn auch schließlich davon abgesehen wurde, im Urteil festzustellen, daß dessen Tod von ihrem Tatvorsatz umfaßt wurde. Der Spruch lautete auf lebenslänglich. Julie Roberts nahm ihn an. Auf einen Antrag Dr. Brabenders hin gewährte man ihr die Vergünstigung des Gefängnishospitals. Sie starb in der dreizehnten Woche ihrer Haft.
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