C.H.GUENTER
Indischer Sand Erfolgsnachdruck Nr. 96
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Am 25. Februar dieses J...
25 downloads
646 Views
630KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
C.H.GUENTER
Indischer Sand Erfolgsnachdruck Nr. 96
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Am 25. Februar dieses Jahres, einem Freitag, fand in Paris ein Geldraub statt. Maskierte Männer überfielen am Boulevard Grenelle einen Bankboten der Credit Lyonnaise. Sie erbeuteten zwei große Aktentaschen mit insgesamt neunhunderttausend Franc. Die Täter konnten im dichten Nachmittagsverkehr entkommen. Sie waren mit schnellen Kleinkrafträdern ausgerüstet, dem einzigen Verkehrsmittel, das um diese Zeit eine Flucht ermöglichte. Schon Minuten später erfuhr die Polizei von dem Überfall. Sie sperrte sofort die Ausfallstraßen. Ohne Erfolg. Die Täter entwischten. Noch am selben Tag streckten Kriminalbeamte ihre Fühler in die Pariser Unterwelt aus. Doch von dort kam kein Hinweis. Trotz hoher Belohnung blieben die V-Leute unergiebig. Schließlich kam die Sûrete zu dem Schluß, daß es sich um eine auswärtige Tätergruppe gehandelt haben müsse. Etwa eine Woche nach dem Überfall rief ein Mann im Polizeipräsidium an und erklärte, er habe einen gewissen Gaston Mercier am Tatort erkannt. Gaston Mercier war am Quai des Orfeuvres kein Unbekannter. Am Donnerstag wurde er in einem Bistro am Montparnasse gesichtet und festgenommen. Natürlich beteuerte er seine Unschuld. Bei der Gegenüberstellung blieb der Informant dabei, daß es Gaston Mercier gewesen sei, den er zur Stunde des Überfalls am Boulevard Grenelle gesehen habe. So kam Gaston in Untersuchungshaft. Man steckte ihn ins Gefängnis von Fresnes, wo er mit einem alten Häftling, den sie nur den Historiker nannten, eine Zelle teilte. In diesen Wochen wurde Gaston immer wieder zum Verhör geholt, gab aber jedesmal dasselbe zu Protokoll. Er sei am 25. Februar nicht am Boulevard Grenelle gewesen, sondern bei einem Mädchen namens Adrienne. Leider war diese Adrienne unauffindbar. 3
Der Haftrichter sah keinen Grund, Gaston Mercier auf freien Fuß zu setzen. Selbst als der Augenzeuge eines Tages erklärte, er sei nun doch nicht mehr so sicher, daß er Gaston wirklich am Tatort beobachtet habe, blieb Mercier weiterhin in Haft. Alle Proteste halfen nichts. Kriminalpolizei und Richter vertraten den Standpunkt, die Vorstrafenliste Merciers lasse durchaus den Schluß zu, daß er der Drahtzieher des Überfalls gewesen sei. Gaston würde schon noch ein Geständnis ablegen. Gaston mißfiel der Blick durch die Gitterstäbe aber immer mehr. Deshalb nahm er nun seine Entlassung selbst in die Hand. * Gaston strich das Datum durch. „Achter März“, sagte er. „Gestern hat der Augenzeuge widerrufen.“ „Bist du sicher?“ fragte der müde alte Mann mit der schwammigen Gesichtshaut. „Es war so ausgemacht. Erst behauptet er, er habe mich gesehen, damit ich reinkomme. Dann nach einer Woche erklärt er, er habe sich geirrt, damit ich wieder rauskomme. Dafür kassiert er tausend Franc.“ Der Alte auf der Pritsche an der gegenüberliegenden Wand hob die knochigen Schultern. „Warum lassen sie dich dann nicht frei?“ „Weil die Bullen Idioten sind.“ „Oder ganz oberschlau. Sie haben unser abgekartetes Spiel durchschaut.“ Gaston grinste jetzt. „Das Spiel vielleicht, aber nie den Hintergrund, daß es mir nur um ein Gespräch mit dir ging, Doktor.“ Der Alte ließ den Oberkörper auf das blaukarierte Kissen kippen. „Wurde auch höchste Zeit, daß ich’s los wurde. Lange mache ich es nicht mehr. Das Herz, die Nieren.“ 4
„Du warst dein Leben lang immer krank“, bemerkte Gaston, „die ewig Kranken leben am längsten. Nur die Kerngesunden fallen wie die umgesägten Bäume.“ Der Alte schien nachzudenken. Immer wenn er so auf dem Rücken lag, grübelte er. Diesmal grübelte er über das Verhalten der Gefängnisverwaltung und des Haftrichters nach. „Sie hoffen, du machst doch noch eine Aussage.“ „Wie denn, über was denn?“ „Stimmt, du hast ja nichts mit dem Geldraub zu tun.“ „Wir benutzten ihn nur als Aufhänger.“ „Wo ist Adrienne?“ „Bei ihrer Tante in Lyon.“ „Dann bist du entweder in drei Tagen frei, oder wir müssen nachhelfen“, entschied der Alte. „Du mußt krank werden. Von einem kranken U-Häftling, für den kein Haftgrund mehr besteht, trennen sie sich schneller als ein Jäger von einem einäugigen Hund.“ „Womit fangen wir an?“ fragte Gaston. Den Weinessig, den er zum Nachwürzen der Suppe benutzte, goß der Alte in eine Untertasse und weichte darin eine Zigarette auf. Als sie gut durchgesaugt war, sagte er: „Iß das!“ Gaston würgte die feuchte Tabakmasse hinunter. Zwanzig Minuten später war ihm so sterbensübel, daß sie ihn ins Revier tragen mußten. Aber dort kannten sie den Trick und pumpten ihm nur den Magen leer. Aus der Entlassung wurde vorerst nichts. * Sie hatten Gaston ein Schlafmittel gegeben, das bis zum Nachmittag wirkte. Im Halbtraum sah sich Gaston Mercier über die Berge nach Süden meerwärts fliegen. Während er sich wie Ikarus durch die Lüfte schwang, verfinsterte plötzlich eine Wolke die Sonne. Es war der Kopf seines Mithäftlings Dr. Parland. Sein starker 5
Knoblauchatem war unverwechselbar. „Wach auf, Gaston“, rief der Alte und rüttelte ihn. „Die wollen mich fertigmachen“, war das erste, was Gaston nach der Prozedur in der Krankenstation äußerte. „Dich macht keiner fertig. Dich nicht.“ „Aber die Zeit, die Zeit verrinnt. In vier Wochen sind die Frühjahrsmanöver der Gebirgstruppen.“ „Du schaffst es“, tröstete ihn der Alte. „Wenn einer, dann du.“ „Drei Wochen Vorbereitung ist das mindeste.“ „Ich und mein Freund haben Jahre gebraucht, um es einzufädeln“, entgegnete der Alte. „Schau, was ich da gefangen habe.“ In der Hand hatte er eine Streichholzschachtel. Er schüttelte sie und hielt sie Gaston ans Ohr. Gaston vernahm in der Schachtel ein deutliches Summen. „Du glaubst, damit geht es?“ „Damit müssen sie dich rausholen. Den Trick kennt hier noch keiner. Habe ich mir selbst ausgedacht.“ „Und wenn ich auf das Gift nicht reagiere?“ „Jeder reagiert darauf“, versicherte der alte Parland, „nur die Imker nicht. Bist du etwa ein Bienenzüchter?“ „Wann machen wir es?“ „Morgen früh, eine Stunde vor der Kaffeeausgabe. Dann hat die Geschwulst Zeit, sich zu entwickeln. Tut überhaupt nicht weh.“ „Schmerz macht mir wenig aus.“ Gegen Abend ging es Gaston besser. Er konnte schon wieder Suppe zu sich nehmen. In der Nacht sprachen sie alles noch einmal durch. Genaugenommen war es so, daß Dr. Parland Gaston Fragen stellte und ihn abhörte wie ein Lehrer seinen Schüler. „Also“, sagte Parland, „das Ganze von vorn.“ „Bitte nicht von Napoleons Geburt an“, stöhnte Gaston. „Dann beginnen wir im Jahre 1812“, blieb der Alte unerbittlich. „Also, was war damals, 1812?“ „Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht Das Kaiserreich 6
reicht von der Nordsee bis Süditalien, vom Atlantik bis zur Ostsee. Aber es kommt zu einem Zerwürfnis mit Rußland.“ „Warum?“ „Zar Alexander verweigert seine Mitwirkung an der Kontinentalsperre. Napoleon stellt die große Armee auf. Sechshunderttausend Mann. Er kommt bis Moskau. Moskau brennt. Der Winter bricht herein. Rückzug. Das Heer geht fast völlig zugrunde. Das ist der Wendepunkt in Napoleons Leben.“ „Und wie kam es zu seiner Abdankung?“ fragte Parland. Gaston faßte die Zeit der Freiheitskriege nur kurz zusammen: „Im Frühjahr 1813 erhebt sich Preußen gegen Napoleon. Im Sommer schließt sich Österreich der neuen europäischen Koalition an. In der Völkerschlacht bei Leipzig unterliegt Napoleon vollständig. An Neujahr überschreiten die Verbündeten den Rhein und nehmen im März Paris. Im April dankt Napoleon ab und erhält als Wo hnsitz die Insel Elba. Also wenn du mich fragst, ich an seiner Stelle wäre dort geblieben. Immerhin behielt er seinen Kaisertitel und bekam eine Jahresrente von zwei Millionen Franc. Er hatte seine Freunde um sich und seine Weiber. Was wollte er eigentlich mehr, der dicke kleine Bonaparte.“ „Die Macht“, sagte Parland. „Und was war ein Jahr später am 1. März 1815?“ Gaston Mercier brauchte nicht nachzudenken. Er war gut präpariert. Schließlich sollte er mit dieser Geschichte ein Team zusammenkriegen und mindestens so viel herausholen wie eine napoleonische Jahresrente. Er steckte sich eine Gitanes an. Während er tief einrauchte, fuhr er fort, auf des Alten Fragen zu antworten. „In Elba wurde Napoleon durch seine Geheimagenten laufend über alle Vo rgänge in Europa unterrichtet. Mit seinem Spürsinn für politische Entwicklungen merkte er bald, daß in Frankreich die Unzufriedenheit über die Herrschaft der Bourbonen ständig wuchs. Als dann die Großmächte auf dem Wiener Kongreß in offenen Streit über Polen und Sachsen gerieten, beschieß er, in einem kühnen Handstreich die Krone zurückzuholen.“ 7
„Mehr Einzelheiten“, bat Parland, „nur bei Einzelheiten sperren deine Zuhörer die Ohren auf.“ Gaston wälzte sich herum, saugte an der Zigarette und fuhr fort: „Unter strengster Geheimhaltung schiffte sich Napoleon am 26. März mit elfhundert Getreuen in Elba ein. Achtundvierzig Stunden später, bei Nacht, landete er an der Küste der Provence im Golf von Juan. Anfangs zeigte sich die Bevölkerung besorgt und zurückhaltend. Als Napoleon aber immer weiter ins Land hinein vordrang, empfing man ihn begeistert. Die ersten Garnisonen liefen zu ihm über.“ „Welchen Weg nahm er?“ unterbrach der Historiker Gastons Schilderung. „Er mied das Rhônetal wegen der dort stationierten starken Truppen und schlug sich, womit niemand in Paris rechnete, durch die Berge nach Norden.“ „Wie nennt man diesen Weg heute?“ „Die Route Napoleon.“ „Und warum bevorzugte er sie außerdem?“ „Wegen der zwei Millionen Goldfranc Jahresrente, die für ihn in Gap bereitlagen. Die brauchte er dringend. Auf die war er angewiesen, um seine Soldaten entlöhnen zu können. Was ihm fehlte, war eine volle Kriegskasse.“ „Und bekam Napoleon das Geld?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Es war nicht in der Garnison Gap. Napoleon blieb aber keine Zeit, es zu suchen. Er mußte mit allen Soldaten weiter nach Grenoble. Es sah nämlich so aus, als würde ihm die dortige Besatzung den Weg versperren. Aber dem großen Meister der Überzeugungskunst gelang es, daß Oberst Labedoyere zu ihm überging. Das war am 6. März. Wenig später folgte das Armeekorps von Lyon und vier Tage darauf Marschall Ney in Macon. Bereits am Abend des 20. März zog Napoleon in Paris ein.“ „Merci, das genügt“, entschied Dr. Parland. „Schmück es noch ein wenig aus und vergiß nicht, immer wieder die zwei 8
Millionen Goldfranc zu erwähnen. Man wird dich natürlich fragen, wo sie abgeblieben sind.“ „Das wird man ganz zweifellos.“ „Und deine Antwort lautet?“ „Gold löst sich nicht in Luft auf.“ „Sehr gut“, lobte der Alte. „Aber wo ist es hingekommen, das Gold?“ „Es ist gut versteckt.“ „Warum kümmerte sich Napoleon später nicht darum?“ „Er hatte andere Sorgen. Schließlich dauerte sein zweites Kaisertum ganze hundert Tage. Es endete mit der Niederlage von Waterloo am 22. Juni.“ Der Alte spielte nun die Rolle derjenigen, gegen die Gaston mit dieser Geschichte zu bestehen hatte. „Und wo sind die zwei Millionen Goldfranc versteckt?“ wi ederholte er hartnäckig seine Frage. „Das weiß nur einer“, antwortete Gaston zweideutig. „Und wer ist derjenige?“ „Ich, Gaston Mercier.“ „Und woher hast du diese Kenntnisse?“ „Von einem Historiker. Dem Napoleonexperten Dr. Parland, der lebenslänglich in Fresnes einsitzt, weil er einen Zeitschriftenredakteur, der in immer neuen Schmähartikeln seine wissenschaftliche Kompetenz anzweifelte, vorsätzlich erschoß.“ „Ja, das klingt gut“, sagte der Alte. „So mußt du das begründen.“ „Du bist also zufrieden.“ „Ich wüßte außer dir keinen“, gestand der Alte, „dem ich den Coup zutrauen würde.“ „Wenn es klappt, sind wir reiche Leute.“ „Ja, die Hälfte für dich, die andere Hälfte für mich und meinen Freund.“ Gaston hatte die Kippe in der Blechdose ausgedrückt. „Wer ist dieser Freund eigentlich?“ „Für dich der große Unbekannte.“ 9
„Möchte bloß wissen, was dir so viele Neue Franc hier nützen sollen.“ „Frag nicht“, murmelte der Alte und gähnte, „sondern schlaf jetzt. Morgen zum Frühstück gibt es Bienenstich.“ * Als der Morgenhimmel jenseits der Zellengitter graute, lag Gaston schon wach. Leise, um den Alten nicht zu wecken, stand er auf. Unter dem Fenster öffnete er die Streichholzschachtel. Das Insekt, ein ziemlich großes weibliches Exemplar, lag wie erstarrt am Boden. Die Nachttemperatur in der Zelle betrug knapp vierzehn Grad. Zu kalt für Bienen. Gaston hauchte sie so lange an, bis Bewegung in sie kam. Als sie zu krabbeln anfing und er sah, daß sie noch lebte, ging er zurück zur Pritsche. Dort krempelte er das linke Hosenbein des Schlafanzuges hoch. Sodann wälzte er sich auf den Bauch und praktizierte mit einigen Verrenkungen die Biene aus der Streichholzschachtel in seine Kniekehle. Dort bewegte sie sich langsam auf die Beuge zu. Kaum war sie an der richtigen Stelle angekommen, winkelte Gaston blitzschnell sein Bein an und preßte die Ferse mit der Hand gegen die Unterseite des Oberschenkels. Er wußte, daß Bienen nur in Not zustachen. Der Stich kostete fast immer ihr eigenes Leben. Weil der Stachel kaum mehr aus dem Körper des Opfers zu entfernen war, begingen sie damit eine tödliche Selbstverstümmelung. Gaston wartete auf den Stich. Aber nichts geschah. Verdammt, dachte er, du hast sie plattgedrückt, ehe sie es tun konnte. Etwa eine halbe Minute verging, und das, worauf es ankam, nämlich daß die Biene ihr Gift in seine Haut spritzte, trat nicht ein. Gaston beschloß, den Druck etwas zu lockern. Er ließ also den Fuß los und wartete. Tatsächlich begann sich die Biene wieder zu rühren. 10
„O verdammt!“ fluchte er plötzlich. Es war schlimmer, als er erwartet hatte. Dieser winzige, nur zwei Millimeter in die Tiefe gehende Stachel schmerzte wie ein Messerstich. Von Gastons Fluch war der Alte erwacht. „Was ist?“ „Sie hat ihre Schuldigkeit getan“, keuchte Gaston. Langsam streckte Gaston das Bein wieder, damit der Alte den Stachel entfernen konnte. Es gelang problemlos. Die Biene hatte ein Stück ihres Hinterleibes am Stachel zurückgelassen. Im Licht einer Kerze zog der Alte den Bienenstachel mit den Fingernägeln heraus. Genüßlich massierte er die Einstichstelle. „Schwillt schon an.“ „Ich spür’s.“ „Du wirst ein Bein bekommen wie ein Elefant. Bienengift wirkt fabelhaft.“ „Was ist das eigentlich für ein Zeug?“ „Es enthält Ameisensäure und gewisse, den Schlangengiften verwandte Stoffe. Nur keine Angst, im allgemeinen sind erst fünfhundert Bienenstiche tödlich. Aber die Schwellung ist wirklich wunderbar.“ „Und tut verdammt weh.“ „Normalerweise würde man jetzt Umschläge mit Salmiakgeist machen, mit Kaliumpermanganat, Zucker- oder Salzlösung. Natürlich werden wir uns hüten, die Sache zu lindern.“ Zwei Stunden später kam Gaston in die Krankenstation. Vom Anstaltsarzt befragt, ob solche Gelenkschwellungen öfter bei ihm aufträten, erklärte er, daß er an chronischer, sehr schmerzhafter Arthritis leide. Als Folge einer bakteriellen Infektion. Der Arzt wirkte ein wenig ratlos und schien Umfang, Größe und Temperatur der Schwellung nicht einordnen zu können. „Sind Sie in ärztlicher Behandlung?“ fragte er. „Ja, ständig“, versicherte Gaston. „Bei wem?“ Gaston nannte die Adresse eines Arztes in Südfrankreich. „Der einzige, der mir helfen kann.“ 11
Es dauerte nur wenige Stunden, dann kam ein Gefängnisbeamter und erklärte, daß Merciers Entlassung aus der U-Haft genehmigt worden sei. Ob er sich in der Lage fühle, davon Gebrauch zu machen. „Sogar mit dem Kopf unter dem Arm“, sagte Gaston. Sie hatten richtig kalkuliert. Da die Aufrechterhaltung seiner U-Haft juristisch ohnehin auf wackeligen Füßen stand, hatte der Arzt den Ausschlag gegeben. Vermutlich hatte er den Gefängnisdirektor darauf aufmerksam gemacht, daß die Verschlimmerung von Gaston Merciers Leiden wohl durch die Umstände der Haft ausgelöst worden sei. Und wenn letzten Endes keine Anklage gegen Mercier erhoben werde, könne dies einen Schwanz von Schadenersatzforderungen zur Folge haben. Der Direktor, der die Verantwortung ebenfalls loswerden wollte, hatte sich mit dem Haftrichter in Verbindung gesetzt. Und so weiter. Um dreizehn Uhr humpelte Gaston Mercier durch das Haupttor von Fresnes. Auf der Sonnenseite ging er die Straße hinunter. Dabei hielt er nach einem Taxi Ausschau, das ihn nach Paris bringen sollte. * Aus Erfahrung wußte Gaston, daß er jetzt observiert wurde. Die Polizei suchte die Geldräuber vom Boulevard Grenelle noch immer, und ihn hielten sie auch nicht für völlig sauber. Also beschattete sie ihn. Trotz der Behinderung durch die Geschwulst in der Kniekehle verließ Gaston in der Rue Faubourg das Taxi, fuhr mit der Metro kreuz und quer durch die Stadt, sprang am Boulevard Sebastopol auf einen anfahrenden Bus und mischte sich später ins Gedränge eines Kaufhauses. In der Rue Blanche ging er in ein Bistro, verließ es durch den Hinterausgang, nahm wieder ein Taxi und betrat erst gegen Abend Adriennes Wohnung. Sie lag, nur mit einem Slip bekleidet, auf dem Bett. Der Raum war überheizt wie immer, aber picobello sauber. 12
Ihre freundliche Begrüßung lautete: „Wie kommst du da herein?“ „Der Zweitschlüssel klebte neben der Kellertür.“ „Und wo kommst du her?“ „Haben uns beim Pokern wohl ein bißchen verquatscht.“ „Und zwei Wochen lang nur geredet, geredet, geredet“ „Ja, so ist es, Madame.“ Gaston konnte behaupten, daß er nach dieser langen Enthaltsamkeit ziemlich scharf auf Adrienne war. Außerdem schätzte er Frauen mit einem Körper, den er die Figur von Proletariermädchen nannte. Damit meinte er Keulenbeine, ausgeprägtes breites Gesäß, kurzen Oberkörper mit nur einer Andeutung von Brüsten, flaches Gesicht und starken Haarwuchs. Aber erst ging er an den Kühlschrank, griff sich eine offene Flasche Wein. Er goß ein Glas voll, trank es halb leer, wischte sich die Lippen und betrachtete sich im Spiegel. Sie standen sich in nichts nach. Adrienne war keine Schönheit und er auch nicht. Einen krummbeinigen Mittelgroßen mit Boxergesicht nahm man als Dressman vielleicht nicht ganz ernst. Aber gewiß in seiner Branche. Adrienne sah ihn näher kommen. Rasch schlug sie die Beine übereinander und preßte die Schenkel zusammen. „Na, wie war’s“, fragte er, „Madame?“ Adrienne faßte mit der Hand nach einem Magazin und versteckte ihr Gesicht dahinter. Da wußte er schon halbwegs Bescheid. „Was hast du beim Pokern gewonnen?“ fragte sie. Auch das hatte er kommen sehen. Bei dieser Frau drehte sich alles nur ums Geld. „Beim Pokern in Fresnes?“ fragte er spöttisch. „Warst du dabei?“ wollte sie wissen. „Bei dem Coup am Boulevard Grenelle?“ „Nein“, erklärte er. „Du Idiot“, schimpfte sie hinter dem Magazin. „Sie haben zu dritt eine Million erwischt, und gekriegt hat man sie bis heute 13
nicht. Du warst nicht beteiligt und sitzt trotzdem zehn Tage ein. Das nenne ich ein großartiges Geschäft, nenne ich das.“ Gaston machte das Glas leer. „Ich hab was Besseres“, sagte er. „Kerle wie dich hätte man früher tot geboren.“ Er kannte ihre Schmähreden. Sie machten ihm wenig aus. „Ich habe trotzdem was Besseres“, beharrte er. Das klang so überzeugend, daß sie das Magazin sinken ließ und es auf ihren mickrigen Busen legte. „Dann gib Laut, Bernhardiner.“ Wenn die Stimmung bei ihr umschlug, versah sie ihn immer mit Hundenamen. Verdammt, dachte Gaston, warum bleibst du eigentlich bei dieser Ziege. Aber vielleicht blieb er bei ihr, weil sie ein Wunder an Sparsamkeit und ökonomischer Haushaltsführung war. Kein Franc ging bei Adrienne jemals unnütz hinaus. „Ich“, setzte er an, „stelle mich doch nicht einfach so hin, wenn drei Maskierte einen Geldboten zusammenschlagen. Soviel Spürsinn hat der alte Bernhardiner schon noch.“ Sie hob das Kinn und massierte die Haut darunter bis zum Hals. „Wolltest du etwa absichtlich nach Fresnes hinein?“ „Genau das.“ „Um einen Typen zu sprechen, an den du anders nicht rankommst.“ „Erraten, Madame.“ „Dann hast du vielleicht wirklich etwas Besseres.“ „Für einen, den man früher tot geboren hätte, sogar eine ganz große Sache.“ „Den einmaligen Coup, he?“ zog sie ihn auf. Er lächelte dünn. „Den gibt es nicht.“ „Los“, drängte sie, „erzähl mir, Cherie.“ Plötzlich nannte sie ihn Cherie. „D’accord“, sagte er und stand jetzt am Fuß der Messingrohrbettstelle, „aber erst nimm die Beine auseinander.“ Noch zögerte sie anstandshalber. Dann tat sie es langsam, aber bereitwillig. 14
2. Der Hubschrauber war ein Aerospatiale SA-365. In Frankreich wurde das von zwei Turbinen angetriebene Mehrzweckmodell einfach „Dauphin“ genannt. Besetzt war der Militärhelikopter von zwei Piloten und zwei hohen Offizieren. Bei dem einen Offizier handelte es sich um den fünfzigjährigen Luftwaffengeneral Imbert. Der andere, ebenfalls im Generalsrang, trug Zivil. Sein Name war Emile Clairon. Er hatte die Funktion eines Sicherheitsbeauftragten der Regierung, wovon in Frankreich aber nur wenige Leute wußten, denn Clairon scheute die Öffentlichkeit. Presse und Rundfunk hatten Anweisung, ihn so selten wie möglich zu erwähnen. Der Hubschrauber startete vom Exerzierplatz der kleinen Garnison Saint-Christobal im Südosten Frankreichs zu einem Orientierungsflug. Der Flug war angemeldet. Ohne Anmeldung wäre auch der Armeehubschrauber nicht weit gekommen, sondern binnen weniger Minuten abgeschossen worden. Schließlich begab er sich in das geheimste Sperrgebiet des Landes. Schon nach wenigen Minuten Flug tauchte in der Ferne des Hochplateau von Albion auf. Es lag da wie eine Felseninsel. Ein Klotz aus hellem Granit und von Lavendel bewachsen. Der Copilot des Hubschraubers sprach mit den Luftabwehrstellungen am Rand der Sperrzone. Er gab den Code durch und seinen Kurs. „Wenn wir nur eine Meile abweichen“, sagte der Pilot zu seinen Passagieren, „trifft uns eine Roland-Rakete.“ „Ich will es hoffen“, antwortete der Zivil-General, dessen Äußeres ein wenig an Marschall Petain erinnerte. Er war klein, aber drahtig und elegant bis in die manikürten Fingerspitzen. Im Lavendelbewuchs des fast ebenen Hochplateaus tauchten jetzt seltsam geformte Betonflächen auf. Sie lagen weit verstreut. Jede einzelne hatte die Größe von rund einem Hektar, war quadratisch mit abgerundeten Ecken, und in der Mitte befand sich eine warzenartige Erhebung. 15
General Imbert erklärte: „Jedes dieser Betonvierecke birgt einen Raketensilo.“ „Und die Betonwarze in der Mitte ist wohl der Pfropfen auf dem Startloch.“ „Atombombensicher“, betonte der Luftwaffengeneral. Doch so schnell war der Sicherheitsbeauftragte nicht zu beeindrucken. „Wie viele Silos insgesamt?“ „Achtzehn Silos, verteilt über eine Fläche von sechsunddreißigtausend Hektar, sind gefüllt, startbereit und an das Alarmsystem angeschlossen.“ Dieses Gebiet überflog der Hubschrauber soeben. „Unsere Force de Frappe also“, kommentierte der ZivilGeneral. „Hübsch, sehr hübsch.“ „Ein Instrument wirksamer Nuklearabschreckung für jeden angreifenden Gegner.“ Der Zivilist hob den beringten Zeigefinger. „Sofern es ihm nicht gelingt, die Stellungen außer Betrieb zu setzen.“ Daraufhin lächelte der Luftwaffengeneral ein wenig überheblich. „Die Silos sind so angelegt, daß selbst ein feindlicher Nuklearkopf von Megatonnengröße immer nur einen Silo zerstören könnte. Jede Feuerstellung bleibt intakt, auch wenn in fünfhundert Meter Entfernung eine Atombombe zündet.“ „Und wenn man mehrere Bomben wirft?“ „Man müßte Hunderte werfen“, sagte General Imbert, „und das, lieber Kollege, liegt wohl im Bereich des Irrealen.“ Der Hubschrauber zog seine Kreise, und der Zivilist bohrte dem Luftwaffengeneral den Nerv an. „Wie steht es mit der Feuerbereitschaft?“ „In den Leitstellen gehen in 24-Stunden-Schichten jeweils zwei erfahrene, körperlich und seelisch robuste Offiziere Wache.“ „Mit welchem Sicherheitsfaktor?“ „Mit dem, der von einer fünfhundert Meter dicken Gebirgs16
schicht garantiert wird. Die Feuerleitzentralen haben über sich einen halben Kilometer gewachsenen Fels. Bei den Zentralen selbst handelt es sich um Betonwü rfel, die auf gigantischen Stahlfedern ruhen.“ „Und wie gelangt man hinein?“ „Durch kilometerlange Stollen, die teils gewunden, teils stark abgewinkelt von drei Panzertüren gegen die Außenwelt abgeschlossen sind. Stärke der Türen dreißig Zentimeter.“ Dies alles schien die Bedenken des Zivilisten nicht restlos zu zerstreuen. „Menschliche Fehlleistungen sind nie auszuschließen“, bemerkte er. „Die Abschußoffiziere, die nur auf Befehl des Staatspräside nten in Aktion treten, sind besonders ausgewählte Offiziere im Capitaine-Rang, zwischen vierzig und fünfzig und bis aufs Knochenmark überprüft.“ „Und da kann sich kein Radikaler einschleichen, der Mist baut?“ gab Clairon zu bedenken. „Kaum. Die Teams werden ständig ausgewechselt.“ Der Hubschrauber war jetzt bis zur äußeren Grenze des Hochplateaus vorgedrungen und machte kehrt. „Fliege in vorgeschriebenem Bogen zum Startplatz zurück“, meldete der Pilot der Bodenstelle. Der General in Zivil, Emile Clairon, war noch lange nicht so überzeugt, wie ihn der Luftwaffenchef gern gehabt hätte. „Wie steht es mit der Außensicherung?“ wollte Clairon wi ssen. „Nun“, meinte der General, „verminte Zufahrtstraßen, elektronische Alarmanlagen, Panzergräben, dann das Wachbataillon und die dreifachen Sperrzonen scheinen uns ausreichend.“ Clairon lächelte nur. „Wissen Sie“, fragte er, „wie die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Superforts von Eben-Emael knackten?“ „Natürlich.“ „Mit Fallschirmjägern und Preßluftbomben…“ „Gewiß kann man Fallschirmjäger absetzen. Aber was dann? 17
Der Gegner müßte zumindest die Pläne kennen, also die Minengürtel, die Sicherungen, die Tür-Codes, die Parolen, die Zugänge zu den Anlagen.“ Der Zivilist steckte sich einen Zigarillo an und schüttelte den Kopf dabei. „Pläne kann man sich beschaffen, mon ami.“ „Aber die Pläne der Albion-Anlage sind top secret und entsprechend geschützt.“ „Das will ich hoffen“, sagte General Clairon. „Aber Sie verstehen, daß ich immer alles anzweifeln muß. Sonst wäre ich der falsche Mann auf diesem Posten. Wo überall liegen die Pläne für Albion?“ „Das wissen Sie doch“, entgegnete der Luftwaffengeneral scharf. „Wissen Sie es?“ fragte Clairon zurück. „Nein“, gestand der Luftwaffengeneral. „Ist auch nicht mein Ressort.“ Befriedigt lehnte sich der Sicherheitsbeauftragte im Sessel des Hubschraubers zurück. „Und trotzdem“, sagte er, „muß man noch besondere Maßnahmen ergreifen, um auch die letzten Lücken zu schließen.“ Der Luftwaffenchef horchte auf. „Gibt es die denn noch?“ „Offensichtlich.“ „Haben Sie Anhaltspunkte, Clairon?“ „Leider ja“, erklärte der Zivilist, „es ist nicht ausgeschlossen, daß bereits eine Gruppe von Männern daran arbeitet, sie für sich auszunutzen.“ „Sind Sie deshalb hier, Clairon?“ Der Zivilist nickte. „Was dachten Sie denn, verehrter General Imbert“, fragte er, „warum ich hier bin? Doch nicht wegen der Schönheit der Landschaft.“
18
Wenige Tage nach dem Informationsflug des Sicherheitsbeauftragten über dem Plateau von Albion trat ein Spezialagent des französischen Geheimdienstes eine längere Reise an. Mit seinem Citoën-CX-Dienstwagen fuhr er zunächst von Paris nach Nordwesten. In der Hafenstadt Calais traf er einen Engländer, der mit der Kanalfähre von Folkstone herübergekommen war. Die Unterredung der beiden Männer dauerte knapp eine Stunde. Ihr Inhalt wurde von französischer Seite als so wichtig angesehen, daß man ein persönliches Gespräch jedem Telefonat vorzog. Am Nachmittag fuhr der SDECE-Agent hinauf nach Flandern. In einem ländlichen Restaurant, halbwegs zwischen Gent und Brüssel, speiste er mit einem Belgier zu Abend. Die entscheidende Unterhaltung wurde jedoch kurz vor Mitternacht im Wagen des Belgiers auf dem Parkplatz geführt. Sie dauerte nur wenige Minuten. Daraufhin begab sich der Belgier nach Brüssel, und der Franzose suchte sich ein Hotel. Schon früh am Morgen reiste er weiter Richtung Holland. Nach einem Treff in Maastricht und einem weiteren in Luxembourg fädelte er sich bei Saarbrücken in das deutsche Autobahnnetz ein und rollte ohne Halt, nur mit den notwendigen Tankpausen, über Mannheim – Heilbronn – Stuttgart nach München. Dort traf er am Abend seines zweiten Reisetages ein. Ziemlich erschöpft, aber mit der Energie eines Mannes, der wußte, um was es ging, warf er sich in das Verkehrsgewühl der Bayern-Metropole. Es gelang ihm, sich zum Stadtteil Schwabing durchzufragen. Dort fand er schließlich auch die Adresse. Gegen 21 Uhr stand er vor einem eleganten Wohnblock und starrte erst einmal an der Beton-Glasfassade empor, bis zum sechsten Stock. Dort oben im Penthouse auf der Dachterrasse saß derjenige seiner Gesprächspartner, der wohl der schwierigste von allen war. Obgleich kritischer als der Engländer, logischer denkend als der Belgier und der Holländer zusammen und noch eine 19
Portion bissiger als der Italiener, den er morgen in Mailand treffen würde, war ihm Bob Urban vom BND trotzdem der vertrauteste. Wie viele Flaschen Siegeschampagner hatten sie nach dem Rheinfurt-Fall geleert. Ein Dutzend oder zwei. Der Franzose hatte noch den Geschmack auf der Zunge. Vor dem Eingang drückte er das oberste der beleuchteten Namensschilder. „Hier Strichnitzky“, dröhnte es aus der Sprechanlage. „Sie wünschen?“ „Hallo, Dynamit“, sagte der Franzose. „Komm rauf“, sagte Bob Urban. Der Türöffner summte. * Der schmale Franzose wirkte nicht gerade wie ein Frontsoldat vor dem Sturmangriff. In dem korrekten dunklen Einreiher, den er meistens trug, sah er aus wie ein Konfirmand. Dazu kamen noch die Blässe, die treuherzigen Augen und die Pennälerbrille. Besser konnte sich ein Agent kaum tarnen. In seinem Gesicht stand soviel Müdigkeit, daß ihm Urban erst gar keinen Drink anbot. „Du bist ja fix und foxi. Ich drücke dir einen Espresso.“ Sie gingen in die Küche. Binnen zwei Minuten stand die Kaffeemaschine unter Druck. Dampfende braune Soße zischte in die winzige Tasse. Sitzend nahm Quatembre den Aufputscher. „Zweitausend Kilometer fast in einem Streifen“, sagte er, „das schlaucht. Zwischendurch ein Gespräch mit MI-five, Sûrete Publique und dem Nationale Veiligkeit der Niederlande. Jetzt bist du zur Vergatterung dran. Und morgen noch der Italiener von Servizio Informazioni.“ „Hübsche Rundreise“, bemerkte Urban. „Ging’s denn nicht mit einer Postwurfsendung?“ Gil Quatembre hob beschwörend die Hände. „Der General hat ja so was von Schiß. Die Sicherheit Frankreichs läßt ihn nicht mehr schlafen.“ 20
„Dann ist er auf dem falschen Posten“, erklärte Urban. „Wer vor Sorgen nicht schlafen kann, ist am Morgen nicht ausgeruht, und die Sorgen machen ihn erst recht kaputt. Nur wer die Probleme abends mit den Schuhen vor die Tür stellt, der hat den richtigen Job.“ „Du hast leicht reden“, entgegnete Gil schon etwas munterer. „Es geht um das größte, aber auch um das schönste Geheimnis Frankreichs.“ „Befindet es sich an Brigitte Bardot?“ „Es befindet sich auf dem Plateau von Albion.“ „Aha, die Raketenabschußrämpchen. Will denn einer was Schlimmes mit denen?“ Gil brauchte keinerlei Erklärung darüber abzugeben, wie wichtig diese Waffenanlage für Frankreich, ja für ganz Westeuropa im Falle eines Angriffs war. Dies schon im Hinblick auf die Vergeltungs- und Abschreckungstheorie. Er schloß mit einem Scherz. „Glaube mir, es ist nicht nur ein Hund, der an einer Rakete sein Bein hebt.“ Nach der zweiten Portion Espresso gingen sie in Urbans Wohnraum hinüber. Durch die bodentiefen Fenster sah man die Lichter der Stadt hinaufschimmern. Im Stereo lief eine Platte von Reinhardts Zigeunerjazzband. Urban stellte sie leise. „Dein Händedruck war recht zittrig“, sagte er. „Läuft dein Citroën so schlecht?“ „Ganz neues Auto, Mann.“ „Da mußt du aber eine Menge spionieren, um den abzubezahlen.“ „Dienstwagen. Der beste, den ich je hatte.“ Urban winkte ab. „Kein Auto der Welt ist mehr wert, als daß man ihm zwanzig Liter Super spendiert. Aber außen drüber und ein Streichholz dran.“ Er trat an den Barockschreibtisch, wo seine Flaschensammlung stand, mixte einen originalen Dynamit nach der neuen Formel fünf zu eins, gab Eisschnee hinein, damit er schneller kühlte, und schon kam Gil zum Kern des Themas. 21
„Schönen Gruß vom General“, sagte er. „Von welchem?“ „General Clairon, dem neuen Sicherheitsbeauftragten der Regierung.“ „Das ist also der Mann, der nur noch davon träumt…“ „Alpträumt“, verbesserte Gil. „Und der läßt ausgerechnet mich grüßen?“ faßte Urban nach. Gil grinste jetzt. „Wer ist der beste Mann beim BND, wenn du mal tot bist.“ „Gibt keinen“, erklärte Urban feixend. „Deshalb bin ich bei dir. Ich grase auf dieser Tour d’Europe nur die Bestmänner ab.“ „Trink doch noch einen“, schlug Urban vor, „bevor du vergißt, warum du hier bist.“ * Er erfuhr es unter Zusicherung der allergrößten Diskretion. Es ging um die Sicherheit der EG-Nation Frankreich, die Frankreich natürlich für das Wichtigste auf der Welt hielt. Die Franzosen glaubten ja auch, daß der höchste Berg der Welt der Mont Blanc sei. Zwar existierten unbestritten höhere Berge, zum Beispiel der Mount Everest, aber für einen Franzosen gab es einfach keinen höheren, weil Frankreich den Mount Everest nie besessen hatte. Eine durchaus gesunde Einstellung, wie Urban fand. „Was die Albion-Basis betrifft“, fuhr Gil fort, „so ist sie zwar nach menschlichem Ermessen unangreifbar und so gut gesichert wie wer weiß was auf dieser Erde, aber trau dem bösen Buben nicht.“ „Welchem?“ Gil hob die Hand. „Keine Namen vorerst. Nennen wir ihn den möglichen Angreifer. Ein Angreifer wird im Kriegsfall zuerst versuchen, den Konterschlag abzuwürgen.“ „Also eure Konterfaust ist Albion.“ 22
„Dazu kommen noch ein paar Atom-U-Boote“, erweiterte Gil das Angebot, „Le Terrible und Le Redoutable, sowie die 36 Atombomber Typ Mirage IV von der Force de Dissuasion. Aber diese Waffen können im Vergleich zu Albion nur Nadelstiche austeilen.“ Urban hatte verstanden. „Der General hat Angst, man könnte mit KommandoStoßtrupps Albion von unten packen.“ „So ist es.“ „Dazu braucht man aber die Pläne.“ „Und auf diese“, berichtete Gil weiter, „so fürchten wir, hat man es abgesehen.“ „Ich hoffe doch, sie liegen nicht irgendwo in einem Aktenrollschrank im Ministerium herum.“ „Bestimmt nicht. An die kommen nicht mal wir heran.“ „Also ist auch die Gefahr von Verrat sehr gering. Warum dann die Panikmache?“ Gil zog ein Gesicht wie Regen, während die Sonne schien. „Der General bittet alle befreundeten Dienste lediglich darum, aufzupassen, ob sich in dieser Richtung etwas tut. Ob Experten zusammengeholt werden, ob Aktivitäten auf dem privaten Markt für Spionagematerial zu beobachten sind und so weiter. General Clairon bittet gegebenenfalls um Information oder Unterstützung.“ Vorkehrungen dieser Art waren höchst ungewöhnlich. Andererseits war Urban nicht ganz ohne Phantasie. Er konnte sich in das Gehirn des Sicherheitsbeauftragten hineinversetzen. Mit der Zeit liefen alle Gedanken spiralenförmig immer auf einen Punkt zu. Zwar war es unwahrscheinlich, daß so ein Coup gemacht werden konnte, aber waren nicht schon ganz andere Coups gelandet worden? Zwar wurden die Abwehrmittel raffinierter, aber auch die Unterwelt wurde tagtäglich kreativer und einfallsreicher. Und wenn an einer Sache viel Geld hing, zog sie die Ganoven magnetisch an. Der Mann, der diesen großen Coup ausführen konnte, saß vielleicht noch ahnungslos in der Provinz und stieß seinen Billardball. Aber plötzlich hatte er die 23
einmalige, umwerfende Idee und womöglich auch die Energie, um die Sache durchzuziehn. „Wir stellen die Lauscher“, versprach Urban. „Klarer Fall.“ „Gib es bitte in geeigneter Weise an deinen Chef weiter.“ „Gleich morgen.“ „Ich danke dir im Namen…“ „Moment“, sagte Urban, „umsonst ist das natürlich nicht. Wenn ich in Paris bin, gibst du einen aus, d’accord?“ „Dann gehn wir in das feinste Luxusbordell Frankreichs.“ „Worum ich mindestens gebeten haben möchte“, sagte Bob Urban und stellte Django Reinhardt wieder etwas lauter. Offensichtlich war der amtliche Teil des Abends jetzt beendet. 3. Adrienne Laval hatte nichts von Gaston erfahren. Wie sie sich auch anstrengte, was sie auch anstellte, über seine Pläne war nichts rauszukriegen. Da schwieg er wie ein Grab. Sie hatte gezetert und gespottet, hatte es mit Zärtlichkeit versucht und mit Schnecken in provinçalischer Butter, seinem Leibgericht. Ohne Erfolg. „Besser, du weißt erst gar nichts davon“, sagte er immer wi eder. „Ich will dich ja nur vor Dummheiten bewahren.“ „Ich mach schon keine, Madame.“ „Und wie war das mit dem Goldgeschäft, als in den Barren Blei war?“ „So was kann passieren.“ „Es kostete dich nur neunzigtausend Franc. Alles was du hattest.“ „Diesmal ist die Sache wasserdicht“, erklärte Gaston. Das war alles. Sie ließ ihm aber keine Ruhe. „Anerkanntermaßen“ , fing sie jetzt gebildet an, „bin ich klüger als du, hab eine bessere Schule besucht und die bessere praktische Begabung.“ 24
„Ja, anerkanntermaßen“, äffte er sie nach, „aber das ist mir schnurzegal, Madame. Und jetzt halt den Schnabel, bitte.“ „Will ja nur dein Bestes“, maulte sie nach. „Und ich das deine.“ „Nicht indem du den Taubstummen spielst.“ „Oder doch“, antwortete er und versuchte seine Rettung, indem er sich den Anschein gab, daß er sich um sie sorgte. „Hör zu, es geht um einen Haufen Kohlen. Ich werde ihn kriegen, das ist sicher. Aber ob ich ihn auch behalten kann, das ist eine Frage des Glücks. Wenn du nichts, aber auch rein gar nichts davon weißt, kann die Polizei auch nichts aus dir rausquetschen, klar. So behältst du die Sore und verwahrst sie mir. Für den Fall, daß es schieflaufen sollte.“ „Schieflaufen, was?“ „Ende der Durchsage, Madame.“ Schließlich erfuhr Adrienne aber doch soviel, daß der ganze Plan nicht auf Gastons Mist gewachsen sei, sondern daß große Experten daran gebastelt hätten. Er sei nur ausführendes Organ. „Gaston Mercier, der Herr ‚Ausführendes Organ’“, höhnte sie. „Der Mann, der drei Meter vor seinem Gegner noch vo rbeischießt. Die legen dich doch aufs Kreuz. Merkst du das nicht. Du bist doch nur der Herr ‚Ausführende Trottel’ für die.“ Gaston aber lachte nur. Er wußte es besser. „Der Kopf des Ganzen sitzt in Fresnes. Er kann nichts tun als abwarten.“ „Dann hat die Sache einen doppelten Boden.“ „Stimmt. Aber den kenne ich zufällig.“ „Dann hat sie einen dreifachen, und den untersten kennst du eben nicht.“ Gaston klopfte gegen die Stirn. „Bin ich vielleicht hier?“ „Ja“, sagte sie, „und wie.“ „Warum läßt du dich dann mit mir ein?“ „Weil du einen Dachschaden hast“, schrie Adrienne, „und weil du mir leid tust, deshalb bleib ich bei dir. Aus Mitleid, verstehen Sie, Monsieur ‚Ausführendes Organ’.“ 25
Da zog er sein Jackett an, nahm den Mantel, den Hut und ging. * Die Schwellung im Kniegelenk war nach drei Tagen abgeklungen. Damit hatte Gaston keine Beschwerden mehr. Außerdem benutzte er zur Vorbereitung seiner Geschäfte Adriennes R-4. Eis hatte noch einmal geschneit. Mitten im März. Gaston wischte den wässrigen Schnee mit den Handschuhen von der Frontscheibe. Der Schnee auf dem Dach würde ohnehin gleich nach hinten wegrutschen. Zuerst fuhr er in ein Bistro. Zum Drittenmal seit seiner Entlassung betrat er das La Poulette in den Vormittagsstunden. Diesmal traf er Pierre Brostello an. Pierre saß ganz hinten in einer Nische vor einem Vin Blanc, in dem eine Olive schwamm. „Warum auf Tauchstation?“ fragte Gaston. „Hinter mir ist immer einer her“, sagte Pierre. „Wie steht es bei dir?“ „Sie haben es aufgegeben“, erklärte Gaston. „Du wolltest mich sprechen.“ Der Mann, der mit der Baskenmütze und der Lederjacke aussah wie ein ländlicher Fachmann für Mähdrescher, blickte mit schnellen Augen sehr erwartungsvoll. „Vorne mitmachen ist viel angenehmer als hinten“, deutete Gaston an. „Stimmt’s?“ „Ja, ich habe die mickrigen kleinen Sachen verdammt satt.“ „Fühlst du dich fertig genug für ein kompaktes Ding?“ Pierre nahm einen Schluck, holte eine Zigarette aus der Baskenmütze und riß das Streichholz an der Tischplatte an. „Ich wirke vielleicht wie ein bretonischer Bauer, aber auf meinem Gebiet bin ich Spitze. Der Größte.“ Gastons Kopf pendelte hin und her. „Jeder hält sich für den Größten. Ein Naturgesetz.“ 26
„Ich weiß, was ich kann“, fuhr Pierre leise fort, „und habe endlich genug vom Umschminken gestohlener Autos. Was bietest du und was springt dabei heraus?“ „Ein Anteil“, schlug Gaston vor. „Zehn Prozent.“ „Und wie groß ist die ganze Masse?“ „Zwei Millionen Neue Franc, vielleicht drei.“ „Wo?“ „Zwischen Grenoble und Nizza.“ Ganz klar, daß sich Gaston nicht genau festlegte, ehe der andere eingeschlagen hatte. „Eine heiße Sache?“ „Ich hoffe, wir bringen sie kalt über die Bühne.“ „Eine Bank?“ „Nein, was Historisches“, deutete Gaston an. „Einzelheiten, sobald wir klar sind und das Team beisammen ist.“ Der schlaue Pierre, der nie ein Geschäft ausließ und auch kleine Prozente mitnahm, fragte sofort: „Wen suchst du noch?“ „Einen, der mit Funkgeräten umgehen kann. Einen, der gut ist mit der Maschinenpistole und der schon mal ein Türschloß geknackt hat.“ „Kann ich dir bringen.“ Sie gingen alle möglichen Namen und Personen durch. Gaston zeigte sich diesmal sehr wählerisch. „Dir ist nicht jeder gut genug, he?“ „Nur Leute aus der ersten Riege kommen in Frage.“ „Merci“, sagte Pierre, „ich münze das auf mich. Aber du sollst gut bedient werden, mon ami.“ Von da an wußte Gaston, daß Pierre, was die Auswahl des Teams betraf, für ihn tätig sein würde. Er bekam vom Anteil eines jeden, den er brachte, noch einmal zehn Prozent. Dafür konnte er es leicht tun. „Einzelheiten bei der ersten Vollversammlung“, versprach Gaston. Sie wollten sich in zwei Tagen wieder treffen. Aber dann bei Pierre oben am Pigalle. Bevor sie sich trennten, hatte Pierre Brostello noch eine Fra27
ge. Er zog seinen alten Freund Gaston am Ärmel ganz dicht heran. „Und es ist auch kein indischer Sand?“ „Nein, kein indischer Sand“, versicherte Gaston feierlich und ging, weil er es angeblich eilig hatte. * Ein stiller Beobachter von Gastons Aktivitäten hätte an seinem Konzept zweifeln können. Aber Gaston sorgte dafür, daß es keine Beobachter gab. Er verhielt sich umsichtig und geschickt. Dies vor allem bei seinen Ferngesprächen ins Ausland, von denen er in der Woche nach seiner Entlassung insgesamt drei führte. Beim ersten Anruf war der Mann nicht erreichbar. Am Freitagabend bekam er ihn dann an die Strippe. Jo Spieker sprach ziemlich flott Französisch. „Fürchtete schon“, sagte Gaston, „ich müßte mein letztes Englisch zusammenkratzen, um Ihnen meinen Vorschlag zu unterbreiten, Jo.“ „Ich habe lange Jahre in Belgien gearbeitet“, erklärte Jo Spieker, „bei anerkannten Meistern.“ „Der Feinmechanik?“ fragte Gaston. „Ich denke, das ist Ihnen hinreichend bekannt, Monsieur Mercier. Darauf wollen Sie doch wohl hinaus.“ „Ganz recht“, bestätigte der Franzose. „Ich habe da ein Problem.“ „Und wie heißt es?“ Gaston las es von einem Notizzettel ab. „Eggerbeck S-3/73-74.“ „Die Eggerbecks kenne ich“ , erklärte der Angerufene, „auch den S-drei, vom Baujahr dreiundsiebzig. Aber…“ Das „aber“ klang nach einer Einschränkung. „Ist sonst noch etwas auf dem Typenschild vermerkt?“ „Nicht daß ich wüßte.“ Der Fachmann im Ausland war einer von den ganz Genauen. 28
„Wo steht der Kasten?“ fragte er. „Südfrankreich.“ „Bei einer Behörde?“ „Behörde ist nicht ganz richtig.“ Der Angerufene schien zu begreifen, daß ihn Gaston nicht in alles einweihte, bevor seine Mitwirkung feststand. „Jedes Exemplar“, sagte Jo Spieker, „hat noch eine Herstellungsnummer, wie ein Auto eine Fahrgestell- und eine Motornummer hat.“ Gaston und Dr. Parland hatten dies nicht für so wichtig gehalten. Wozu eine Nummer, wenn man die Typenbezeichnung hatte? „Muß ich die Nummer beschaffen?“ „Sie enthält einen Code“, erklärte der Fachmann, „dem die Sicherheitsstufe zu entnehmen ist. Es gibt Safes mit Schamottfüllung, mit Betonfüllung in den Türen und in Ganzstahlausführung. Es gibt welche mit mechanischen Schlössern, mit magnetischen, mit elektronischen oder mit kombinierten. Es gibt Safes mit inneren, mit äußeren oder mit kombinierten Alarmanlagen und solche, die in andere Alarmanlagen integriert sind, die wiederum mechanisch, magnetisch oder elektronisch sein können. Es gibt eingebaute Safes und freistehende, es gibt…“ „Ich versuche, die Seriennummer zu bekommen“, versprach Gaston. „Die Stellenzahl ist dabei wichtig.“ Gaston wollte endlich zu einem Ergebnis kommen. „Aber Sie halten einen Safe dieses Typs für knackbar.“ Jo Spieker lachte halblaut. „Jeder Safe ist knackbar, Monsieur.“ „In angemessener Zeit, meine ich.“ „Nach sechzig Tagen hielt der Herr es für angemessen, die Sintflut ablaufen zu lassen“, lautete die Antwort, „angemessen ist relativ.“ Gaston versuchte den Experten irgendwie festzunageln. „Aber Sie trauen sich die Sache zu, Monsieur Spieker.“ 29
Darauf antwortete Spieker mit einer Frage: „Was darf es denn kosten?“ „Ich kenne ungefähr Ihren Preis.“ „Woher?“ „Bitte keine Namen. Was sagen Sie zu hunderttausend?“ „Franc?“ entgegnete Spieker. „Vergessen Sie es, Mercier.“ „Schweizer Franken und D-Mark.“ „Dollar“, forderte der Experte, Gaston schluckte und war einverstanden. Er wollte sich bald wieder melden. * An dem Tag, an dem sich Gaston zum erstenmal mit seinem Team traf, fuhr er frühmorgens nach Fresnes, um Dr. Parland zu besuchen. Er brachte ihm ein Paket mit weichem Hefegebäck, denn der Alte vertrug das Gefängnisbrot schlecht Sie konnten einige Minuten miteinander reden. Die Seriennummer des Safes brachte Parland nicht mehr zusammen, glaubte aber, daß sie neunstellig sei „Mindestens neunstellig“, sagte er. „Wie kommst du voran, Gaston?“ „Alles läuft nach Plan.“ „Denk dran, entweder es klappt in der Manöverwoche oder nie.“ „Das kriegen wir schon hin“, versicherte Gaston und fuhr wieder in die Stadt zurück. Diesmal hatte er auf Adriennes Wagen verzichtet und den Bus genommen. Auf dem Heimweg machte er wieder das Umsteigespiel, sah aber keinen Beschatter mehr. Die Sûrete hatte es also aufgegeben. Am Abend trafen sie sich in der Wohnung von Pierre Brostello. Außer Pierre waren noch zwei Mann versammelt. Pierre stellte sie vor. Sie waren Gaston dem Namen nach bekannt. Alles Burschen von Mittelklasseformat, die gesessen hatten und link genug waren, einander aufs Kreuz zu legen, wenn es um ihren Vorteil ging. 30
Daß sein Coup Chancen für Alleingänge bot, redete ihnen Gaston schon in den ersten Minuten aus. „Dann würde ich es nämlich allein machen“, sagte er. „Aber es ist schwer, an die Beute ranzukommen. Außerdem wiegt sie gut und gern eine Tonne.“ „Das sind tausend Kilo“, meinte einer laut pfeifend. „Und man kann nicht einfach mit dem Lkw hinfahren und aufladen.“ „Also Knochenarbeit auch noch.“ „Wer von euch“, fragte Gaston lächelnd, „plagt sich nicht gerne mal mit purem Gold ab?“ Ein ganz Schlauer, es war der Funktechniker, fragte: „Wie pur, bitte. Vierundzwanzig Karat, tausend Tausendstel fein?“ „So fein wie Münzgold zu Napoleons Zeiten.“ „Ja, damals herrschten strenge Gesetze gegen Verfälschung“, bemerkte der Funker. „Sie vermischten es mit eins zu zehn Kupfer. Ergibt also neunhundert Tausendstel Goldgehalt. Heute dürfte das Kilo etwa zweitausendfünfhundert Franc bringen.“ „Insgesamt zweieinhalb Millionen“, rechnete ihnen Gaston vor. „Für euch alle vier Anteile, für mich sechs.“ „Warum machen wir nicht Halbe-Halbe?“ „Weil ich ein Drittel meines Anteils demjenigen geben muß, der den Tip bringt.“ Das war üblich, und sie erhoben keine weiteren Einwände. Gaston erzählte ihnen die Geschichte von Napoleons Rückkehr und dem Gold, das nicht mehr auftauchte. Einiges ließ er weg, anderes schmückte er aus. Er redete, bis einer gähnte und ihn unterbrach: „Dein Informant hat also Bonapartes Schatzkästlein gefunden?“ „Zunächst fand er nur den Mann, der Napoleons Rente auf dem Weg von Paris nach Elba abfing.“ „Und versteckte.“ „Er versteckte sie nicht nur“, sagte Gaston, „er tarnte sie auch.“ „Wie tarnt man Gold, bitte schön?“ 31
„Indem man es versilbert“, witzelte der Funker. Aber keiner lachte. „Er ließ es umschmelzen“, erklärte ihnen Gaston Mercier, „zu Kugeln des damals gängigsten Kanonenkalibers. Die Kugeln umgab er mit einer Kalkschicht und mit Farbe. Sie lagen jahrelang in einem Depot herum, weil der einzige Mensch, der wußte, woraus sie bestanden, in der Schlacht bei Waterloo umkam. Eines Tages inspizierte ein königlicher Waffenmeister die alten Bestände. Ihm muß wohl das hohe Gewicht der Kugeln aufgefallen sein.“ „Gold ist neunzehnmal so schwer wie Wasser“, sagte der vorlaute Funker, „und doppelt so schwer wie Eisen.“ „Er kratzte wohl ein bißchen daran und meldete die Sache seinem Regimentskommandeur. Der vergatterte den Feldwebel zu strengster Geheimhaltung und ließ die alten Rundkugeln in den Keller seines Hauses schaffen. Angeblich sollten sie dort bis zur Gründung einer Regimentsgedenkstätte verbleiben.“ „Müssen so an die zehn Kugeln sein“, sagte einer. „Genau zwölf“, bestätigte Gaston. „Im Siebzigerkrieg fielen der Feldwebel und sein Regimentsoberst Seite an Seite. Der Mann, von dem ich die Informationen habe, gelangte in den Besitz der Tagebuchaufzeichnungen von Oberst Valerie Yssingeaux. Die Kanonenkugeln aus purem Gold befinden sich noch heute im Keller des Hauses. Das Haus ist inzwischen ein Armeemuseum und liegt bedauerlicherweise auf dem Kasernengelände einer südfranzösischen Garnison. Das ist der Grund, weshalb ich euch brauche, um den Schatz zu bergen. Also für mich ist das ein bombensicheres Ding.“ Bei den anwesenden Spezialisten machte sich die Ansicht breit, daß dies nicht allzuschwer sein könne, daß man auch vom Gesetz her kein großes Risiko eingehe, und daß es sich bei der Sache um leicht verdienbares Geld handelte. „Wo greifen wir an?“ wollte einer wissen. „Einzelheiten, Pläne, Skizzen und Fotos am Abend vor dem Coup.“ 32
„Klar, er will sichergehen“, sagte Pierre Brostello, „daß man ihm die Kuh nicht vorher melkt.“ „Und wann ist es soweit?“ „Haltet euch ab dem Zwanzigsten bereit.“ „Ausrüstung?“ „Bekommt jeder noch durchgesagt.“ „Wie steht es mit ‘ner Anzahlung?“ fragte Serge, der auf den Umgang mit der Maschinenpistole spezialisiert war. „Ich habe keinen Sou mehr.“ „Dann pump deine Freundin an“, erwiderte Gaston, „ich bin selbst blank.“ „Und wie erfolgt die Zahlung?“ Jetzt setzte Gaston seiner Erzählung die Krone auf. „In Grenoble wartet ein Goldaufkäufer. Er prüft die Ware, schneidet natürlich jede Kugel durch und macht den Königswassertest. Aber dann erfolgt Barzahlung in eurer Gegenwart. Jeder bekommt sofort seinen Anteil.“ Nur einer, der Mann, der mit der Maschinenpistole für die Sicherheit der Operation sorgen sollte, bat um Bedenkzeit. Schon am nächsten Morgen meldete er sich. „Ich bin dabei“, sagte er, „ich habe mich erkundigt. Du bist seriös.“ „Kein indischer Sand“, versicherte Gaston, „verlaß dich drauf, Serge.“ * An diesem Abend wollte es Adrienne genau wissen. Sie trug das rotbraune Haar offen und das schwarze Kleid geschlitzt bis zum Nabel. Das irritierte Gaston zunächst „Du hast dich gestern mit einigen Leuten getroffen“, fing sie an. „Geschäfte.“ „Warum weihst du Fremde ein und mich nicht? Ich habe bekanntlich den schnelleren Verstand.“ 33
Sie sprach einen Satz ruhig, den zweiten vorwurfsvoll, und beim dritten begann sie schon zu keifen. Inzwischen hatte Gaston auch die Dekoration mit dem nackten Bauch durchschaut. Diesmal versuchte sie es also mit Ve rführung. Erst wollte sie ihn scharf machen und dann hinhalten, bis er weich wurde. Er ging zum Kühlschrank und riß vom kalten Huhn einen Schlegel ab. „Dachte, wir wollten essen gehn“, bemerkte Adrienne, durch sein Schweigen deutlich abgeschmettert. „Geh schon voraus.“ „Warum?“ „Hab noch zu tun.“ Widerspruchslos schlüpfte sie in ihren Fuchsmantel, nahm die Handtasche und verschwand. Kaum war sie weg, ging Gaston ans Telefon und wählte eine vielstellige Auslandsnummer. Wie immer machte es Schwierigkeiten, aus Paris herauszukommen. Auch am Abend. Aber schließlich bekam er Jo Spieker an die Strippe. „Was gibt’s?“ fragte der Safe-Experte. „Neunstellig“, antwortete Gaston und nichts sonst. Spieker atmete deutlich tiefer. „Ist das schwierig?“ wollte Gaston wissen. „Noch schwieriger“, erklärte ihm der Mann, der allgemein als der beste Feinmechaniker Westeuropas bezeichnet wurde. „Normalerweise führt der Typ mit neunstelliger Herstellungsnummer noch ein N. Das N müßt ihr übersehen haben.“ „Und was bedeutet N?“ fragte Gaston ungeduldig. „Die NATO-Nummer.“ Gaston wurde ungehalten. „Zum Teufel, was geht mich das an.“ „Dich wenig“, knurrte Spieker, „aber das erschwert die Sache kolossal. NATO-Nummern erhalten nur Gebrauchsgegenstände nach ausgiebiger Prüfung auf Tauglichkeit nach der NATONorm. Bei Safes macht das einen feinen Unterschied aus. Den Unterschied zwischen heißer Wurst auf dem Teller und Wurst, die sich noch als Schwein im Schlamm suhlt.“ 34
In Gaston stieg der Ärger hoch. „Wer ist der Metzger, Sie oder ich?“ entgegnete er barsch. „Ein Safe nach NATO-Norm ist zehnmal schwieriger zu öffnen.“ Gaston hatte es satt, sich das Gejammer anzuhören. „Also, machen Sie mit, Spieker? Ja oder nein?“ Kurzes Zögern. Dann die Antwort. „Ich will ohnehin zum Frühling an die Riviera. Wie muß ich meinen Urlaub einplanen?“ „Ab dem Zwanzigsten.“ „Okay.“ „Für die Ausrüstung sorgen Sie selbst, Jo?“ „Ja, für Ausrüstung und Fahrzeug. Da bin ich heikel. Aber das Geld bringen Sie, Gaston.“ Sie kamen überein, sich vorher noch einmal treffen zu wollen. Dann legte Gaston auf und war erleichtert. Aber nur so lange, wie es dauerte, einen Schluck Cognac zu trinken. Als er sich umdrehte, stand Adrienne hinter ihm. Sekundenlang zeigte er nur Verachtung für sie. Dann fuhr er sie an: „Du hast gelauscht!“ „Ich hatte meine Handschuhe vergessen.“ „Lügen ist nicht dein Stil.“ „Natürlich habe ich etwas gehört.“ Er warf sich in den Sessel, daß das Gestell ächzte. „Wenigstens ehrlich“, sagte er. „Aber zum Glück hast du nichts verstanden.“ „Nur soviel, daß es um einen sehr schwierigen Safe geht.“ Er nahm sein Glas, leerte es und grinste. Wenn er so lachte wie jetzt, dann sah er gar nicht mehr zerknittert aus. „Alles indischer Sand“, murmelte er. Sie wiederholte die Worte und verstand die Bedeutung nicht. „Indischer Sand“, fragte sie, „was ist das?“ „Ganovensprache“, erklärte er. „Und was versteht man darunter?“ Adrienne hatte sich in dem anderen Sessel niedergelassen. Ihr Rock war hochgerutscht und gab ihre Beine frei. Unten waren 35
sie gut, über dem Knie ziemlich muskulös. Sie beugte sich vor. Der spitze Ausschnitt klaffte, und man sah ihre beiden Brüste. „Es bedeutet“, setzte Gaston an, „leere Versprechungen. Nichts als leere Versprechungen.“ 4. Nach dreihundert Kilometern Nachtfahrt geriet Bob Urban am Bodensee in Schneetreiben. In Zürich hatte es gar noch Glatteis. Wie auf Eiern zog er seinen dickbereiften BMW durch die Kurven Richtung Seeviertel. Gegen 23 Uhr parkte er ihn vor einer herrschaftlichen Villa, die so vornehm aussah, als gehöre sie mindestens dem Präsidenten der Bundesbank. Nur Eingeweihte wußten, was sich hinter der feudalen Fassade verbarg. Auf dem Weg durch den Vorgarten zur Haustür kroch Urban die Kälte mit scharfen Fingern unters Glenchecksakko. Aber drinnen war es warm. Es duftete nach edlen Hölzern, nach Pinalli-Leder und exquisitem Parfüm. „Ist der Herr angemeldet?“ fragte das Hausmädchen, weißes Häubchen auf dem Haar, das Kleid keusch bis oben hin geschlossen. „Zu Madame.“ Ein dezentes Räuspern ließ Urban herumfahren. Die breite Treppe zur Halle herab schwebte eine Frau im kleinen Abendkleid. Sie mochte Mitte Vierzig sein, hatte eine erstklassige Figur und lange, rassige Beine. Das Make-up unterstrich den Typ spanische Carmen. Sie trug kostbaren Brillantschmuck, aber nicht einen Stein zuviel. In seinem normalen Kampfanzug, dunkle Hose, graues Glenchecksakko, blaugetöntes Hemd und Seidenstrickbinder, kam sich Urban in dieser Umgebung recht bescheiden vor. Aber Madame ließ sich nicht anmerken, daß die Herren hier gewöhnlich nur im Smoking erschienen. 36
„Herr Urban“, rief sie förmlich, „wenn ich nicht irre.“ Sie reichte ihm die Hand und hielt sie dabei in einer Weise, daß er nicht umhin konnte, ihr einen artigen Kuß auf die Fingerspitzen zu schmatzen. „Ich bitte, die Verspätung zu entschuldigen“, sagte er. „Macht nichts. Sie sind ja angemeldet.“ Ein abschätzender Blick streifte ihn. Er spürte, wie er blitzschnell gemustert wurde, vom braunen Haar über die grauen Augen, über Nase, Mund und Kinn, vom Maß Jackett bis hinunter zu den Slippern. „Gehen wir doch in mein Büro“, schlug Madame vor, eilte voraus und sagte zu dem Hausmädchen: „Ich möchte jetzt nicht gestört werden, Berta.“ Sie öffnete eine hohe Tür. Büro war nicht die richtige Bezeichnung für diese Mischung aus Antiquitätensammlung, Bildergalerie und Boudoir. Leise knackte die Tür ins Schloß. Mitten auf dem teuren chinesischen Seidenteppich machte Madame auf dem Absatz kehrt und fiel Urban um den Hals. „Schön, daß du wieder mal vorbeikommst, Bob.“ „Ja, lange nicht gesehen.“ Sie bog den Kopf zurück. Ganz innen in ihren Augen glitzerte eine Träne. Aber sie überspielte die freudige Rührung. „Hast du wieder mal genug von den Zicken in freier Wildbahn?“ Er spürte ihre nackten Brüste unter dem schwarzen Satin des Kleides. Er spürte auch ihre Schenkel, und er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie immer hielt, was sie andeutete. Ganz egal, wer das Versprechen gab, ihr Mund oder ihr Körper. An der Bar mixte sie ihm seinen Drink mit einer Sicherheit, als sei ihr nichts so unvergeßlich wie diese Rezeptur aus weißem Wermut und Bourbon. „Wie lange warst du nicht hier?“ „Nach dem, wie du aussiehst, nur kurz.“ „Es sind Jahre“, sagte sie, „weißt du noch…“ 37
Er nickte nur. Er wußte fast alles noch. Vor Jahren hatte er Greta in Düsseldorf kennengelernt. Sie war das klügste Mä dchen in der Stadt gewesen und mindestens das zweithübscheste. Das hübscheste war eine Blondine, aber die konnte nicht bis drei zählen. Sie hatten sich geliebt, aber sie hatten beide gewußt, daß es auf die Dauer nicht gutgehen konnte. Eines Tages war ein Schweizer Industrieller namens Stauffer gekommen und hatte Greta geheiratet. Der Schweizer hatte mechanische Rechenmaschinen hergestellt, die dann nicht mehr abzusetzen waren, weil alles nur noch elektronische haben wollte. Gretas Mann hatte vergessen, rechtzeitig umzustellen. Das kostete ihm seine Fabriken, sein Vermögen und das Leben. Er hatte sich eines Abends erschossen. Keine hundert Meter von hier am Seeufer auf einer Bank. Greta war diese Villa geblieben und ihr Schmuck. Und ihre Klugheit. Sie hatte ein Gewerbe angefangen, das man als Führung eines Luxusbordells bezeichnen konnte. Man konnte aber auch sagen, daß Greta die Liebe der schönsten Mädchen auf die denkbar dezenteste Weise vermittelte. Auf ihrem Schreibtisch stand noch immer eine alte StaufferRechenmaschine. Allerdings war sie vergoldet. Damit addierte sie wohl allabendlich die Einnahmen. Urban hatte den Drink geleert und starrte verlegen ins Glas. „Ich sehe so gut aus“, nahm Greta den Faden auf, „weil ich Übergewicht habe.“ „Wo?“ fragte er. „Willst du sehen?“ Sie faßte mit der Hand nach hinten zum Reißverschluß. Das kleine Schwarze rauschte zu Boden. Sie trug nie Büstenhalter, nur Höschen und schwarze Strümpfe, die von einem schmalen Strapsgürtel gehalten wurden. Ein prächtiges Stück Weib war das, was sich vor Urban entblätterte. „Ja, du hast zuviel Speck“, sagte er, „etwa dreißig oder vierzig Gramm. Noch ein bißchen was, und du erleidest einen körperlichen Zusammenbruch.“ 38
„Immer noch der alte Spötter.“ „In allem immer noch der alte“, betonte er. Sie schien auf Wolke sieben zu schweben. Sie drehte sich um, hängte am Spiegel den Schmuck ab, den vom Hals, vom Handgelenk, von den Fingern. Urban trat hinter sie. Sie duftete nach einem kühlen Parfüm. Er küßte ihre Schultern, faßte unter ihre Brüste. Er streichelte sie gegen den Strich von unten nach oben und hielt sie dann fest in beiden Händen. „Machen wir Minne?“ fragte Greta. Im Spiegel sah sie sein Lächeln. „Welche Minne möchtest du? Die hohe Minne? Nur die mit den Augen?“ „Lieber die niedere“, gestand er, „die mit allem Drum und Dran.“ Da bemerkte er, wie sich die Tränen in ihren Augen vergrößerten und über die Wangen herabrollten. „Aber es muß nicht sein“, flüsterte sie, „nicht unbedingt.“ Er fühlte sich ertappt. „Was meinst du?“ fragte er kehlig. „Ich kenne dich doch, Bob“, sagte sie, „ich habe zwei Männer in meinem Leben gut gekannt. Der eine ist tot, der andere ist ganz nah bei mir und doch sehr weit weg. Du bist aus anderen Gründen hier.“ Ihre Offenheit löste eine Reaktion bei ihm aus, die sie schneller erfaßte als er selbst. Greta vollführte in seinen Armen eine halbe Drehung und preßte jetzt ihre Nase gegen die seine. „Du bist beruflich da.“ „Ich…“ „Belüg mich doch nicht, Cherie.“ „Stimmt“, sagte er, ließ sie los und ging hinüber zu dem Glastisch, auf dem die Flaschen standen. Und während er sich einen Drink mixte, sah er, wie sich Greta verstohlen die Augen trocknete. Mit ihrem hochentwickelten Instinkt hatte sie ziemlich ins 39
Schwarze getroffen. Er war nicht ihretwegen in dieses Haus nach Zürich gekommen. Genaugenommen hatte er längst ve rgessen gehabt, daß es in Zürich noch die schöne Greta gab. Er war lediglich einer heißen Spur gefolgt. * „Das kam gestern über NADIS“, hatte der Oberst am frühen Morgen zu Urban gesagt. Sogleich war er im Originalton Sebastian fortgefahren: „Bin gespannt, was Sie damit anfangen werden. Sie mit Ihrem berühmten rationalen Problemlösungsverhalten.“ Erst einmal hatte sich Urban das Fernschreiben des nachrichtendienstlichen Informationssystems durchgelesen. Es ging um einen Mann, der in Hamburg unter permanenter Überwachung stand und dem es gelungen war, trotzdem unbemerkt zu verschwinden. Er hieß Johann Speckner. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hätte gewiß nicht soviel Wind gemacht, wenn Johann Speckner nur sein Gewerbe als Feinmechaniker betrieben hätte. „Ich halte“, fuhr der Chef fort, „das Anliegen unserer französischen Freunde zwar für übertriebene Terroristenfurcht, aber leider ist dieser Bazillus ansteckend.“ „Beruf Feinmechaniker“, murmelte Urban. „Was heißt Feinmechaniker. Wer nennt sich nicht alles Feinmechaniker. Das reicht vom Uhrmacher bis zum Automateneinsteller.“ „Machen Sie damit, was Sie wollen.“ Das war typisch für den schmerbäuchigen Monokelträger Sebastian. Unternahm Urban etwas und das Ergebnis lautete Fehlanzeige, nannte es der Alte Zeitverschwendung. Tat man aber nichts, und der Pickel entwickelte sich zum Geschwür, war gleich die Hölle los. Ein Telefongespräch nach Köln, dachte Urban, kostet nicht die Welt und dauert fünf Minuten. Erst am Nachmittag erreichte er den Sachbearbeiter. 40
„Wie kommst du auf Speckner?“ fragte sein Kollege beim BfV. „Das war eine reine Routinemeldung.“ „Was veranlaßte NADIS aber dazu?“ Der Mann vom Verfassungsschutz schien erst quer über die Karteikarte zu lesen, ehe er antwortete: „Johann Speckner alias Jo Spieker betreibt in Hamburg-St.Pauli einen Schlüsseldienst. Das heißt, er stellt Zweitschlüssel her. Er öffnet aber auch schon mal zugeschnappte Türen oder Safes, wenn der Mechanismus streikt. Nebenbei handelt er noch mit Sicherheitsschlössern, Alarmanlagen und kleinen Tresoren.“ „Und warum wird er überwacht?“ „Weil er unter dem Verdacht steht, bei verschiedenen Tresorbrüchen in den letzten Jahren zumindest in beratender Funktion mitgewirkt zu haben.“ „Genügt das schon für eine Überwachung?“ „Normalerweise nicht“, verlautete aus Köln, „aber Speckner ist wohl ein Sonderfall.“ „Man möchte es ihm gern beweisen, he?“ „Ziemlich dringend sogar. Denn es handelt sich nicht um Bauernsafes.“ „Sondern um Gutsbesitzertresore.“ Der Informant schlug erst einmal einen Salto rückwärts. „Dieser alias Spieker hat eine absolute Spitzenausbildung genossen und die Hände eines begnadeten Künstlers. Er arbeitete in den feinsten Tresorfabriken des Kontinents und ist auf allen einschlägigen Gebieten, sowohl im Schloßbau wie auf dem Gebiet der Alarmelektronik, bestens beschlagen. Er kennt sich also rundum aus. Sogar bei…“ Der Mann in Köln zögerte. „Na, sag schon wobei.“ „Das ist eigentlich streng geheim.“ „Geheimdienst kommt von geheim“, erwiderte Urban. „Oder was glaubst du, für wen ich arbeite. Für eine Sauerkrautfabrik?“ Der Kölner ließ sich erweichen. „Bei den Tresorsymphonien bei denen Spieker möglicher41
weise den Taktstock führte, waren zwei Safes mit NATOQualifikationen darunter.“ Urban pfiff durch die Zähne. „Wann und wo dieses?“ „Letztes Jahr. Ein Safe gehörte zu einer US-Luftbasis. Es war Ramstein, glaube ich. Dort kam eine beträchtliche Summe von Bargeld abhanden. Der zweite Fall ereignete sich in Norwegen. Dort ging es um streng geheime Manöverstudien. Sie sind vermutlich kopiert worden. Stets wurden die Safes so glatt geöffnet, als hätten die Täter Nachschlüssel besessen.“ „Spiekers Handschrift, wie?“ „Aber der Hund ist schlau. Er arbeitet weiter wie bisher. In ganz bescheidenem Rahmen. Mittleres Häuschen an der Küste, mittleres Boot, mittleres Auto, mittlere Freundin. Einmal im Jahr sperrt er seinen Laden zu und macht Urlaub. Aber immer im Frühjahr.“ Hier setzte Urban an. „Diesmal offensichtlich im Spätwinter. Und das fiel euch auf.“ „Dir fiel es ja auch auf.“ Urban versuchte es weiter. „Wo macht er Urlaub?“ „Wissen wir nicht. Aber für gewöhnlich zog er seinen Campingtrailer durch die Schweiz nach Süden.“ „Hat er diesmal den Wohnwagen mitgenommen?“ „Das müßte man noch eruieren.“ Warum, zum Teufel, dachte Urban, drücken sich alle so gespreizt aus, wenn sie unsicher sind. „Na, dann eruiert mal schön“, schlug er vor. „Ich bin durchgehend erreichbar.“ „Läßt sich von euch aus etwas ankoppeln?“ „Mal gucken“, sagte Urban.
42
Die Sache mißfiel ihm so sehr, daß er weiterbohrte. Mit Hilfe der technischen Abteilung des BND stieß Urban dann am Nachmittag auf Gold. Dieser Johann Speckner alias Jo Spieker war ein technisches Genie. Er hatte eine ganze Reihe von Erfindungen gemacht. Eines dieser Patente, ein neuartiger Diebstahlschutz für Automobile, war vor Jahren in der Schweiz zu den Stauffer-Werken in Luzern gegangen. Stauffer war mit seinem Produktionsprogramm mechanischer Rechenmaschinen ins Schleudern gekommen, weil er nicht rechtzeitig auf die neue Technologie umgestellt hatte. Mit Speckners Diebstahlsicherung wollte er wieder groß starten. Leider zu spät. Stauffer war schon überschuldet, und die Banken sperrten ihm die Kredite. Professor Stralman, Leiter der Technisch-Wissenschaftlichen Abteilung des BND, der Urban diese Informationen aus dem Archiv besorgt hatte, blinzelte über den Zwicker. „Speckner soll Stauffer die Patente sogar äußerst günstig überlassen haben.“ „Also gegen Beteiligung.“ „Zumindest mußte Stauffer keine finanziellen Vorausleistungen für Lizenzgebühren entrichten.“ „Dann müssen die zwei ziemlich dick befreundet gewesen sein.“ „Oder Speckner war ein Dummkopf. Was ich aber nicht glaube.“ „Speckner mußte doch sehen, wie es um die Stauffer-Werke stand. Wenn er trotzdem einstieg, dann nur aus Freundschaft.“ „Warum nicht“, meinte der weißhaarige Professor Stralman. „Ganoven sind oft die nettesten Menschen.“ „Befreundet“, murmelte Urban. Nachdem es vorhin schon einmal bei ihm gefunkt hatte, funkte es jetzt sogar ganz gehörig. „Dann kannte er auch Madame Stauffer“, kombinierte er. „Anzunehmen.“ „Mit Freunden spricht man über private Hobbies, über Reisen und Steckenpferde und besucht sie ab und zu.“ 43
„Das ist die Regel“, bemerkte der strohtrockene BNDObertechniker dazu. „Außerdem ist Stauffers Witwe eine ungemein attraktive Frau.“ Jetzt nahm der alte Professor den Zwicker von der Nase und rieb die Druckstellen. „Du kennst sie, mein Junge?“ „Gut“, bestätigte Urban. „Sie war mal das klügste Mädchen in der Stadt und immerhin das zweithübscheste. Das hübscheste war eine Blondine, aber die konnte nur bis zwo Komma acht zählen. Ihr Name ist Greta.“ Dann war er dieser Spur gefolgt. * „Sag’s“, forderte ihn Greta auf, „sag’s ohne Umstände. Sag, warum du gekommen bist, auch wenn es weh tut.“ Sie hatte ein schwarzes Neglige aus Tüll mit viel Spitzen übergezogen. Die Haut ihres nackten Körpers schimmerte zartbraun hindurch. Aber der Zauber des Wiedersehens war jetzt endgültig verflogen. „Wo ist Jo Spieker?“ fragte Urban geradeheraus. Mit allem hatte Greta gerechnet, aber nicht mit so einer Frage. Sie zuckte zusammen. „Du meinst Johann Speckner.“ „Das ist dasselbe. War er hier?“ „Wie kommst du darauf?“ „Auf der Reise in den Süden nimmt er meistens den Weg über Zürich. Früher fuhr er über Luzern, jetzt über Zürich.“ „Ja, seitdem mein Mann tot ist“, erklärte sie. „Wir schulden ihm noch Geld. Ich zahle die Schulden ab, so gut ich kann.“ „Aus Freundschaft?“ „Aus Anstand“, verbesserte Greta. „Er war vorgestern hier.“ „Dachte ich mir. Wo fährt er diesmal hin?“ „Ich glaube Richtung Mittelmeer.“ Urban schob eine MC zwischen die Lippen, klopfte die Ta44
sche nach Streichhölzern ab und fand sie. Die Flamme zischte aus dem Phosphorkopf. „Ziemlich große Pfütze, das Mittelmeer. Genaues weißt du nicht?“ Greta bedauerte. Ihr Bedauern wirkte wie ein Satz, bei dem nach dem Komma ein Aber kam. Urban fragte dementsprechend: „Komma, aber?“ „Vielleicht ist er noch hier.“ „In Zürich?“ Sie nahm ihm die Zigarette aus den Fingern und machte hastig ein paar Züge. „Damals, bei der Riesenpleite meines Mannes, fand ihn der Konkursverwalter mit einem Appartement, das meinem Mann gehörte, ab. Dort macht er meistens ein, zwei Tage Pause.“ Vorher schaute er wohl immer bei Greta herein. Urban fand es geschmacklos, zu fragen, ob sie was mit ihm hatte. „Frequentiert er dein Etablissement?“ erkundigte er sich. Sie lächelte in einer Weise, als sei ihr die Antwort peinlich. „Er nimmt ab und zu eines der Mädchen mit auf Reisen.“ „Wen diesmal?“ „Sherill.“ „Klingt amerikanisch.“ „Sherill Anderson kommt aus Boston. Als Studentin blieb sie hier hängen. Für Spieker ist es außerordentlich schwer, die richtige Partnerin zu finden.“ „Ein Perverser?“ „Der kleinen Sherill kann er wenigstens nicht weh tun. Sie ist Masochistin.“ „Und er ein Sadist. Kapierski.“ Greta hob die Schultern und ließ sie fallen. „C’est la vie. Normale Männer kommen kaum zu uns.“ Urban fühlte sich ziemlich normal und hatte das Gefühl, daß er gehen mußte. „Sei nett und gib mir noch die Adresse“, bat er Greta. „Bist du etwa nett zu mir?“ „Ein andermal“, versprach er. 45
Sie schrieb ihm das Gewünschte auf einen Zettel, riß ihn vom Block und steckte ihm den Wisch in die Reverstasche. „Ich werde mich beeilen müssen“, sagte er. „Leider“, flüsterte sie. „Komm, sag mir noch was Schönes.“ „Ich wünsche dir eine gute Nacht“, sagte er, „ich wünsche dir einen guten Morgen, ich wünsche dir überhaupt alles Gute.“ Minuten später schob sein Coupé die vereiste BMWNiere wie die Ansaugöffnung eines alten Düsenjägers vor sich her. * Er mußte durch die Stadt Richtung Uetliberg. Immer noch fiel Schnee in dicken Flocken. Aber die Kälte hatte nachgelassen. Die Reifen zogen eine nasse schwarze Spur. Als das Neubauviertel auftauchte, bog Urban ab und fand nach einigem Herumfahren auch die Nummer des siebenstökkigen Betonklotzes. Auf dem dazugehörigen Parkplatz stand ein großer Wohnwagen, ein Neun-Meter-Trailer mit Tandemachse und HHKennzeichen. Der Wagen hing nicht an einem Pkw, sondern war mit ausgefahrenen Stützen abgestellt worden. Gewiß hatte sich Jo Spieker wegen des miesen Wetters entschlossen, den Trailer in Zürich zu lassen. Wintercamping war nicht jedermanns Sache. Urban schloß den BMW ab, ging an einem mit Gummiplanen abgedeckten Swimmingpool entlang auf das Haus zu und betätigte die Klingeltafelbeleuchtung. Alle Knöpfe bis auf einen trugen Namensschilder. Ein Spieker oder Speckner war nicht darunter. Also mußte es das Appartement im dritten Stock sein. Bevor Urban klingelte, drückte er die Schulter gegen die Glastür. Sie öffnete sich. Der Frost hatte sie nicht vollends einrasten lassen. Mit dem Lift fuhr er hinauf. Oben suchte er wieder eine Tür ohne Namensschild. Erst lauschte er. Nichts war zu hören. Dann betätigte er den Summer. Dies mehrmals ohne Erfolg. 46
Schließlich begann er die bekannte Nagelreinigeroperation. Doch das Sicherheitsschloß hatte einen sehr schmalen Schlitz. Da war kein Hineinkommen. Also fuhr er mit der Blechzunge des Reinigers von unten her im Türspalt bis zum Riegel hoch und konnte ihn durch Federn aus der Sperre drücken. Mit leisem Klick schwang die Tür nach innen. Rasch zugreifend fing er sie, bevor sie innen gegen die Wand bumste. Seine erste Reaktion war immer die Geruchsprobe. Keinerlei Andeutung von nasser Kleidung, Schuhwerk, Essen oder kaltem Rauch, stellte er fest. Er befand sich in einer schwachgeheizten Wohnung, in der vor kurzem ein Ausgußreinigungsmittel verwendet worden war. Urban schloß hinter sich die Tür und benutzte zunächst noch die kleine Lazer-Wegwerflampe. Die Batterie war schon schwach. Nach kaum einer Minute – er hatte den Wohnraum halbwegs abgesucht – wurde der Strahl gelb. Der Birnenfaden glühte nur noch. Urban tastete nach dem Lichtschalter. Doch da, wo er den Schalter gesehen hatte, war plötzlich eine fremde Hand. Sehnig, schmal und kalt. Das Licht flammte auf. Alle beide wurden sie geblendet. Sowohl Urban wie der Bursche im Jeansanzug. Der Junge hatte eine lautlose Waffe in der Hand. Ein Messer. Die Klinge war relativ gesehen so dünn und spitz wie er. Der Junge ging federnd in die Knie und stieß mit dem Messer andeutungsweise zu, um Urban in die Ecke zu treiben. Urban zog sich auch zurück. Dabei sprach er im Unterhaltungston auf den Jungen ein. „Hallo, wo kommst du denn her, Bürschli?“ „Da staunen Sie, was?“ „Aus dem Zuchthaus? Diesen Messergriff, den kenne ich doch.“ „Nein, aus der Jugendstrafanstalt“, sagte der Junge. „Bin ja erst siebzehn. Aber ich pelle Sie trotzdem ab, mein Herr.“ 47
Urban ließ sich bis in die Mitte des Wohnraums treiben. Hier hatte er die nötige Bewegungsfreiheit. Dem Jungen mißfiel allerdings, daß der Fremde seine Messerarbeit nicht ernst nahm. Die blitzschnell geführten Luftstöße mit der Klinge kamen jetzt immer näher ans Ziel. Schließlich spürte Urban den ersten Einstich am Jackettärmel. Indem er dem Jungen ein Ziel bot, konzentrierte er sich auf seine Rechte. Die mußte jetzt Abfangjäger spielen. Der Junge hatte beinah tänzerische Reflexe. Er pendelte mit dem Oberkörper hin und her, vor und zurück. Im Sidestep erfolgte ein Ausfall. Blitzschnell kam das Messer. Urbans Rechte fing das Handgelenk, als es sich schon wieder auf dem Rückzug befand. Er packte gleich so zu, daß sich die Knorpel verschoben. Ganz langsam, mit einem Gesicht, das die Wut und der Schmerz verzerrten, öffnete der Junge die Faust und ließ das Messer auf den Spannteppich fallen. Urban wischte es mit dem Fuß unter das Bücherregal. „Wo ist Spieker?“ fragte er ganz ruhig. „Schon lange fort.“ „Was machst du hier?“ „Taschengeld“, sagte der Junge einsilbig, „mache ich.“ „Fürs Aufpassen?“ Urban drückte fester zu. Der Junge sackte in die Knie. „Eine Woche. Fünfzig pro Tag. Nur aufpassen“, keuchte er. „Worauf? Auf den Trailer?“ „Ob das Telefon geht, ob jemand kommt, ab irgend jemand herumschleicht.“ „Wie erfährt Spieker es?“ Der Junge schwieg. Urban redete ihm gut zu, bevor er ihn noch mehr peinigte. „Schätze, du hast Bewährung. Sag, was du weißt, und wir vergessen, daß du für einen Kriminellen tätig bist.“ „Er ruft jeden Tag einmal an“, stieß der Junge heraus. „Abends zwischen sieben und acht. Wenn ich nicht abhebe, ist alles okay.“ 48
Urban kombinierte rasch durch, ob Spieker auf diese Art zu fassen sei. Nein, so ging es nicht. Angenommen, man hob ab, dann mußte der Junge am Telefon sein und ihm irgendwas erzählen. Todsicher hatten sie noch ein Kennwort verabredet. Den Apparat zu finden, von dem aus Spieker anrief, war über Grenzen hinweg schwer möglich. Überall in Europa gab es jetzt das Selbstwählverfahren. Mit riesigem technischen Aufwand wäre es vielleicht gelungen. Aber noch rechtfertigte nichts solchen Einsatz. „Ihr habt ein Kennwort“, sagte Urban. „Los, raus damit.“ Er wollte dem Jungen eine Chance geben und ließ ihn los. Der Junge stand jetzt am Bücherregal. Seine Augen zuckten hin und her, als hätte er etwas vor. Und so war es auch. Blitzschnell bückte er sich, wischte unter Urbans Arm durch, erreichte die Balkontür, riß sie auf und flankte über das Geländer einfach in die dunkle Tiefe. Sekunden später ein Aufklatschen. Urban hatte hie und da schon erlebt, daß einem Mann buchstäblich das Hirn in die Hose fiel. Aber selten war er Zeuge eines so totalen Kurzschlusses geworden. Genaugenommen war dem Jungen nichts anzuhaben. Warum also seine Panik? Wenn er überhaupt lebend unten aufkam, dann mit ziemlich kaputten Knochen. Urban stürzte aus der Tür. Im Freien erkannte er, daß er den Jungen unterschätzt hatte. In zehn Meter Tiefe unter dem Balkon federte der Junge gerade wieder von der Schwimmbeckenabdeckung hoch. Die Plane hatte ihn aufgefangen wie ein Trampolin und ihn, ohne zu reißen, wieder hochgeschleudert. Ein letzter Luftsprung. Dann lag er auf der dicken blauen Plastikfolie und krabbelte zum Beckenrand. Im Nu war er dort, rollte drüber weg, um im Dunkel zu verschwinden. Urban überlegte blitzschnell, ob es sich rentierte, ihm auf diesem Weg zu folgen. Das Risiko, am Beckenrand aufzukommen, stand fünfzig zu fünfzig. Nein, es rentierte sich nicht. Teufel, dachte er, mit Siebzehn macht man Sachen, die man 49
sich mit Siebenunddreißig schon ziemlich abschminkt. Wenn es darum gegangen wäre, eine große Sache aus dem Feuer zu reißen, vielleicht wäre er nachgesprungen. So aber warf er sich in den Sessel, steckte eine MC an und dachte nach. 5. Der Minister erfuhr beim Abendessen davon. Sein persönlicher Referent brachte ihm die Nachricht ins Restaurant „Auverne“. „Sagen Sie es noch mal“, bat der Minister, die letzte Auster schlürfend. „Unsere Force de Dissuasion ist seit heute nachmittag um drei Prozent schwächer, Exzellenz.“ „Und wie lautet das im Klartext?“ Der Referent senkte die Stimme. Der Nebentisch stand sehr nahe an der Nische. „Auf dem Militärflugplatz Nimes wurde um 17 Uhr eine Mirage IV beschädigt.“ Der Minister rechnete nach. „Bleiben noch fünfunddreißig Maschinen.“ „Von denen die Hälfte schon bald auseinanderfällt, Monsieur.“ Der Minister wusch die Finger in einem Schüsselchen voll lauwarmem Wasser, in dem Zitronenscheiben schwammen. Der Kellner trug ab und legte Teller und Besteck für den nächsten Gang vor. „Wie beschädigt?“ fragte der Minister, vom Wein schlürfend. „In den Triebwerkeinlässen detonierten Handgranaten.“ Der Minister kniff die Augen hinter der Hornbrille wie unter einem kurzen stechenden Schmerz zusammen. „Wieviele?“ „Jeweils mehrere gebündelte.“ „Und da faseln Sie von Beschädigung. Der Bomber fällt doch wohl für einige Zeit aus.“ 50
„Für immer, Monsieur“, bedauerte der Referent. „Totalschaden. Für die Reparatur bekommt man einen neuen.“ „Die Produktion wurde aber eingestellt.“ Der nächste Gang kam. Es handelte sich um Boeuf à la Champenoise, hergestellt nach dem Rezept des Maitre Paul Bocuse. Die Rindsnuß, gespickt und drei Stunden in Cognac und Champagner mariniert, wurde vom Minister auf eine Weise verspeist, als handle es sich um heiße Wiener. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. „Ist das ein Vorbote weiterer Anschläge?“ wollte er wissen. „Man muß es befürchten, Exzellenz.“ „Anschläge gegen was? Gegen unsere Landesverteidigung, gegen die U-Boote, gegen die Raketenabschußrampen? Diable, was sagt denn der kluge Herr Sicherheitsbeauftragte dazu?“ „Der General befindet sich auf der Jagd im Gebirge.“ „Der General ist zur Jagd, und in Nîmes fliegen Atombomber in Fetzen. Schaffen Sie den General bei. Morgen früh will ich den Mann bei mir auf dem Teppich zum Rapport sehen. Punkt neun Uhr.“ „Ich versuche es“, versprach der Referent. Der Minister nahm einen Schluck Rotwein. „Dieser General Emile Clairon“, schimpfte er sich den Ärger von der Leber, „dieser Nichtskönner. Wo man ihn hinstellt, versagt er. Erst versagt er als Truppenkommandeur, dann im Planungsstab. Wie konnte dieser Mann jemals General werden. Nun ja, Protektion, Protektion.“ Der Minister und sein Referent blickten sich an. Sie wußten Bescheid. Emile Clairon war stets von homosexuellen Gönnern und Vorgesetzten gefördert worden, weil er ebenfalls homosexuell war. „Ich bin dagegen, daß man die Schwulen toleriert“, erklärte der Minister. „Wo kämen wir da hin, wenn das ein reißt.“ „Wenn er von Adel wäre“, bemerkte der Referent, „wäre seine Karriere ja noch zu billigen.“ „Oder wenigstens vermögend. Dieser Clairon hat obendrein 51
Schulden wie ein Bauer, dem es drei Jahre den Weizen verhagelt hat.“ „Er liebt“, fügte der Referent hinzu, „ein wenig das Extraordinäre. Pferde, Autos, Rennboote, hübsche blonde Knaben.“ „Diesen Clairon knöpfe ich mir vor“, zischte der Minister. „Er allein trägt die Verantwortung. Der steht mir gerade für alles. Den mache ich fertig. Wenn das so weitergeht, wird er seine Tressen demnächst in der Kleiderkammer abliefern.“ „Nun, man kann nicht sagen“, wandte jetzt der Referent ein, „daß er seine Aufgabe leichtnimmt. Er hat immer wieder versucht…“ Der Minister winkte ab. Seine Meinung stand fest. Er wollte nichts mehr hören. „Morgen früh neun Uhr zum Rapport. Extrauniform, Orden und Degen.“ Der Referent zog sich zurück. Außerdem kam jetzt die Nachspeise angefahren. Handverlesene Himbeeren in Kristallzucker, mit Ponsardin übergossen. Die Sahne wurde getrennt gereicht. * Was den Minister wütend machte, war die Tatsache, daß der General erst einen Tag später zum Rapport kam und obendrein auch noch in Zivil erschien. Clairon trug ein hellbeiges, streng tailliertes Anzüglein aus Samt, offenes braunes Hemd, geknotetes Halstuch. Der Minister reichte ihm nicht einmal die Hand. „Ich dachte“, setzte der General an, „Geschwindigkeit sei wichtiger als Einhaltung der Bekleidungsvorschrift, Exzellenz.“ Da der General unmittelbar dem Staatspräsidenten verantwortlich war, unterdrückte der Minister sein Mißfallen und packte den sensiblen Clairon auf andere Weise. „Wie stellen Sie sich das eigentlich vor“, raunzte er ihn an. „Vor zwei Wochen fällt unsere Uranproduktion wegen Sabota52
ge aus, vorgestern der Anschlag auf eine Mirage, und was ist morgen dran, bitte?“ Statt einer Antwort hob der General die Schultern. Erregt sprang der Minister auf und ging hin und her. „War ja zu erwarten, daß Sie ratlos sind, wenn Sie sich auf der Jagd in den Vogesen herumtreiben, General, anstatt…“ Emile Clairon wußte, daß er im Minister keinen Freund hatte. Ganze Welten trennten ihn von einem Gutsbesitzersohn, der seit dreißig Jahren mit ein und derselben Frau verheiratet war und von ein und derselben Frau neun Kinder hatte. Der General betrachtete seine Fingernägel und erwiderte: „Meine Vorschläge bezüglich Erhöhung unserer Sicherheit liegen Ihnen vor.“ „Sind abgelehnt“ „Nur weil sie Geld kosten.“ „Der Steuerzahler schüttelt die Milliarden ja nur so aus dem Ärmel, he?“ „Ohne Sicherheit kann er bald nicht mal mehr das.“ „Werden Sie nicht zynisch“, entgegnete der Minister scharf. „Ihre Pläne fordern eine völlige Reorganisation der Abwehrmittel.“ „Die dem Staat heute billig, morgen, wenn er dazu gezwu ngen ist, aber sehr teuer zu stehen käme.“ „Denken Sie sich gefälligst etwas Originelleres aus, Clairon.“ „Vor allem etwas, das nichts kostet“, spottete der General. Seitdem er die Position des Sicherheitsbeauftragten einnahm, ein Amt ohne Etat, grübelte Clairon an den Problemen herum, wie Geld auf zutreiben sei. „Ich kann nicht einmal Expertisen erstellen lassen“, wandte er ein. „Wozu? Sie sollen Lücken im Sicherheitssystem aufspüren und ihre Schließung in den Ausschüssen durchsetzen. Das ist Ihre Aufgabe.“ „Mit einem alten Citroën als Dienstwagen.“ Der Minister grinste jetzt schadenfroh. „Wir wissen“, sagte er, „daß Sie Bentley-Limousinen und Ja53
guarsportwagen vorziehen, mein lieber General Clairon. Aber wir sind ja nicht bei Ölscheichs in Arabien. Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. In so einer Zeit ist es ungeheuer schwer, an die Brieftasche des Finanzministers heranzukommen.“ „Ohne Sicherheit kein solider Aufschwung, ohne Sicherheit kein funktionierender Staatsapparat, ohne Sicherheit das Chaos“, gab der General zu bedenken. „Warum wohl hat das Parlament meine Planstelle geschaffen.“ Jetzt war es der Minister, der zynisch wurde. „Weil Sie zu jung sind, um Sie in Pension zu schicken, General.“ Clairon nahm den Hieb gelassen hin. „Mercie“, sagte er, „und warum, bitte, bin ich hier? Was haben Sie mir zu sagen? Oder hatten Sie lediglich den Wunsch, mich zu beschimpfen, Exzellenz?“ Die überlegene Ruhe dieses Schwulen machte den Minister, der sich für den normalsten aller Franzosen hielt, rasend. „Was darf ich dem Parlament über Ihre Gegenmaßnahmen berichten?“ fragte er mühsam beherrscht. Der General erklärte, daß er sich, mangels Unterstützung durch die eigene Regierung, um Hilfe an die benachbarten Geheimdienste gewandt habe. Denn wenn es einem EG-Partner schlechtginge, so führte er weiter aus, gehe es auch allen anderen schlecht Man sitze gemeinsam in einem Boot, was in England, in den Benelux-Staaten, in Bonn und Rom, in Oslo und Kopenhagen leider schneller begriffen würde als in Paris. Als der Minister merkte, daß der General den Spieß umdrehte und versuchte, der Regierung den Schwarzen Peter zuzuschieben, beendete er abrupt das Gespräch. Kaum war der General gegangen, telefonierte er mit seinem Parteivorsitzenden. „Dieser Emile Clairon“, sagte er, „wird auf penetrante Weise politisch.“ „Als Parteiloser?“ wurde dem Minister entgegengehalten. „Der hat seine warmen Brüder in allen Fraktionen sitzen.“ 54
„Was schlagen Sie also vor, mon ami?“ „Von dem werden wir noch Ärger bekommen“, befürchtete der Minister. „Dann muß er weg.“ „Leute wie Clairon machen immer nur Ärger. Dieser Bursche ist imstande und baut sich hier eine Machtposition auf. Der installiert glatt noch eine Art Behörde.“ „Behörden aber hat man ewig, nur die Köpfe wechseln.“ „Nicht unsere Köpfe“, betonte der Minister, „dafür werden wir sorgen.“ 6. Mittwoch, 23. März, 19 Uhr 11. Unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit fingen die Antennen der Garnison Gap einen Funkspruch des Oberkommandos Süd in Lyon auf. Der Nachrichtensergeant entschlüsselte den Text und reichte ihn an den Offizier vom Dienst weiter. „Alarm für das Vierte Regiment Chasseurs des Alpes. Ausrücken in Bereitschaftsräume, Monsieur.“ „Und wie war die Parole?“ „Hagelschauer“, sagte der Sergeant. Der Offizier öffnete den Aktenschrank, in dem sich das Parolenbuch befand. Er schlug den Alarmplan auf. „Hagelschauer stimmt“, bestätigte er. „Ein Glück, daß die Parole nichts mit dem Wetter zu tun hat. Eine Nacht da draußen bei der Kälte und Regen – na, danke.“ Der Leutnant warf einen Blick durchs Fenster. Es war trokken, der Himmel sternenklar. Eine der ersten lauen Nächte dieses Jahres. „Bestätigen Sie telefonisch“, sagte der Leutnant. „Order erhalten, wird ausgeführt. Ausrücken binnen dreißig Minuten.“ Der Alarmbefehl nahm seinen vorgeschriebenen Dienstweg. Er ging zum stellvertretenden Regimentskommandeur. Dieser, ein Major, verständigte die Bataillonschefs und begann dann den Oberst zu suchen. 55
Wie er vom Adjutanten erfuhr, weilte der Kommandeur zum Abendessen bei einem Gutsbesitzer in La Batie. Die Herrschaften hatten sich dort gerade zu Tisch begeben. „Bedaure, Colonel“, sagte der Major, „daß ich stören muß. Soeben kam Parole Hagelschauer durch.“ Wegen der anwesenden Damen vermied der Regimentskommandeur zu fluchen. „Wir haben wieder einmal Frühling“, erwiderte er. „Die Frühjahrsmanöver stehen an. Sie alarmieren uns nicht am ersten Tag und nicht am zweiten, aber immer am dritten. Ich hatte es fast im Gefühl. Lassen Sie in die Einsatzräume ausrükken, Major. Ich komme dann direkt zum Gefechtsstand. Wo werden Sie ihn aufbauen?“ „Am Col Bayard, Monsieur.“ Die Frage war überflüssig. Bei Alarmstufe I bestand die Aufgabe des 4. Gebirgsjägerregiments darin, die Pässe der Route Napoleon südlich und nördlich von Gap zu sichern. Erst bei Stufe II wurde sie nach Albion verlegt. „Dann bis später“, sagte der Oberst. In der Kaserne heulten die Sirenen. Aus den Kantinen und Kasinos, aus den Wasch- und Aufenthaltsräumen eilten die Soldaten in ihre Stuben. Sie warfen sich in die Kampfausrüstung, traten mit Waffen und Sturmgepäck behängt vor den Gebäuden an. Inzwischen waren die Mannschaftstransporter angelassen worden, die Lkw, die Kommando-Fahrzeuge, die fahrbaren Funkstationen, die Achtrad-Spähwagen und die Panzer. Um 19 Uhr 35 rückte das Regiment aus. * 19 Uhr 40. Neunhundert Meter südwestlich der Jäger-Kaserne, am Fuß eines hölzernen Telefonmastes, saß ein Mann. Er hatte Kopfhörer auf. Um den Hals gehängt trug er ein Mikrofon. Auf seinen Knien lag ein grauer Kasten mit Druckknopftastatur. Von dem 56
Kasten lief ein Drahtbündel den Mast empor bis zu den Isolatoren. „Gute Arbeit bis jetzt“, sagte Gaston. „Sie rücken aus, Richtung Paß.“ Fernand, der Telefon- und Funkexperte des Teams, hatte alle seit 19 Uhr beim Chasseurs-Regiment ankommenden Gespräche abgefangen und laut Anweisung des Chefs gefiltert. Die Weitergabe in korrekt militärischem Tonfall war ihm dabei nicht schwergefallen. Er hatte seine Grundausbildung ebenfalls bei der französischen Alpen-Armee erhalten. Der Experte hob jetzt die Hand. Im Draht piepte es. „Da ist wieder einer. Er möchte den Kompanie-Chef eins vom Dritten Bataillon sprechen.“ „Sag ihm, das Regiment sei zu einer Nachtübung ausgerückt.“ Später erhielt der Experte noch Anweisungen, wie er sich weiter verhalten sollte. Gaston schaute auf die Uhr. „Du bleibst noch genau neunzig Minuten hier.“ „Dann baue ich ab“, bestätigte Fernand, „lasse aber die Störung auf der Leitung. Ich nehme den Eintonner, warte oberhalb der Kaserneneinfahrt am Zaun auf die anderen.“ „Serge und Pierre nehmen den DS. Wir treffen uns dann alle in Sisteron. Anschließend weiter nach Plan.“ Der Funker zeigte verstanden. Gaston verschwand in der Dunkelheit, und der Funker steckte sich eine Zigarette an. Das Dröhnen der Panzermotoren des Vierten Regiments hörte man bis hierher. In windstillen Nächten trug der Schall oft kilometerweit. * 19 Uhr 50. Pierre trug Majorsuniform. Aber eine mit Generalstabsstreifen. Gaston leuchtete ihn mit der Taschenlampe ab. 57
„Mütze weniger schief“, sagte er, „und steh nicht so krumm da.“ Von dem Augenblick an, als Pierre erfahren hatte, daß er bei diesem Coup eine Uniform tragen müßte, beherrschte ihn das Gefühl, seine Aufgabe nicht erfüllen zu können. „Ich verpatze todsicher alles“, sagte er immer wieder. „Was haben deine Fähigkeiten mit der Uniform zu tun?“ „Warum, zum Teufel, muß ich sie dann anziehen?“ „Weil du anders nicht in die Kaserne reinkommst.“ „Dachte, die sind alle ausgerückt.“ „Ja, bis auf den Wachzug.“ Pierre hatte nie gedient. In militärischen Dingen kannte er sich also nicht aus. „Und wenn sie mich was fragen?“ „Einfache Soldaten, die Wache schieben, stellen an Stabsoffiziere niemals Fragen.“ „Wer garantiert mir das?“ „Hör zu“, erklärte Gaston, „ein Mann kann gebildet, intelligent, schlau, allwissend, tapfer oder feige sein. Sobald er Soldat geworden ist, handelt er nicht mehr nach seinem Verstand, sondern nur noch nach der Vorschrift, der sogenannten Dienstvorschrift. Da steht drin, wie sich ein Soldat in allen nur denkbaren Lebenslagen zu verhalten hat. Und wenn ein Soldat einen Stabsoffizier sieht, dann macht er höchstens Männchen.“ Nun wandte sich Gaston an Serge, den Fahrer. Serge trug ebenfalls Uniform. Aber die eines Gefreiten. „Zeig den Ausweis nur auf Verlangen. Sobald du durch den Schlagbaum bist, halte dich nach rechts auf das bunkerähnliche Gebäude zu. Das ist Depot, Waffenkammer und Regimentsmuseum in einem.“ „Ich kenne den Lageplan auswendig“, versicherte Serge. „Wann stößt du zu uns, Boß?“ „Ich schneide das Loch in den Zaun, wo der Eintonner wartet. Genau hinter dem Bunker. Wie lange brauchst du für die Türen, Pierre?“ „Vielleicht zehn Minuten.“ 58
„Hast du dein Werkzeug?“ fragte Gaston den Mann vom Lande. Serge deutete auf eine kantige schwarze Aktentasche. „Alles da.“ Gaston schlug mit der flachen Hand auf das Dach der Citroën-Limousine. „Und ab“, rief er. * 20 Uhr 10 Gaston wartete, bis der Citroën außer Sicht geriet, dann zog er sein Mokick, sein Kleinmotorrad, aus dem Gebüsch und fuhr ohne Licht auf Feldwegen um das Kasernengelände herum. Wegen des Geräusches gab er nur Halbgas. Bei zwanzig km/h schnurrte der Motor kaum hörbar. Von der Ostseite her näherte er sich wieder dem Kaserne nzaun. Als er aus dem Wald kam, mochte der Abstand zum Zaun noch zweihundert Meter betragen. Seitlich vom Weg unter Bäumen stand ein helles Automobil. Gaston fuhr auf den Wagen zu, stellte den Motor ab und rief halblaut: „Spieker?“ „Hier“, kam es aus dem Inneren des Mercedes. Spieker stieg aus, ging nach hinten und öffnete den Kofferraumdeckel. Nachdem er ihm einen Werkzeugkasten aus Blech entnommen hatte, klappte Gaston das Mokick zusammen und verstaute es im großen Kofferraum der Limousine. Spieker nahm sein Spezialwerkzeug auf und Gaston eine Drahtschere mit verlängerten Griffen. „Handschuhe?“ fragte Spieker. „Habe ich.“ Sie marschierten zügig auf den Zaun zu und erreichten ihn wenige Minuten später. Spieker führte ein Nachtglas an die Augen. Lange beobachtete er die Ostseite des militärischen Geländes. „Kein Posten zu sehen.“ 59
„Was sollen sie noch bewachen. Die Besatzung, die Waffen und das Gerät sind im Einsatz.“ „Glänzende Idee war das. Trotzdem würde ich jetzt aufpassen. Drahtscheren geben oft ein häßliches Knacken von sich, das die Alarmgeber auslöst.“ „Meine Schere knackt nicht“, flüsterte Gaston. „Dann kann sie auch nicht schneiden.“ „Sie stammt aus Amerika“, sagte Gaston, „hat kunststoffbeschichtete Backen. Chicagogetestet.“ „Dann los“, sagte Spieker. * 20 Uhr 40 Bis vor den Safe war alles Routine. Die stromführenden Alarmdrähte im Zaun, die Lichtsperre im Treppenhaus der Kommandantur und die Signalkontakte an den Bürotüren stellten für Spieker kein entscheidendes Hindernis dar. „Jetzt wird’s dramatisch“, sagte Jo Spieker und klemmte sich eine Art Uhrmacherlupe ins Auge. Aus einem Abstand von wenigen Zentimetern untersuchte er die Fugen der wandhohen Stahltüren. In ihrer grünen Springlackfarbe sahen sie ganz harmlos aus. „Die haben es verdammt in sich“, fluchte Spieker. „Will’s hoffen“, murmelte Gaston und prüfte noch einmal, ob Vorhänge und Jalousetten dicht waren. Mit der Infrarotlupe hatte Spieker bald gefunden, was er suchte. „Keine Sonderserie“, sagte er erleichtert. „Das normale NATO-Modell.“ Sicher wie ein Neurochirurg faßte Jo zum genau richtigen von rund sechzig verfügbaren Werkzeugen. Es handelte sich um ein kugelschreiberähnliches Gerät. Damit strich er die Schließfuge der Tresortüren entlang. „Möchte nur wissen“, murmelte er, „wozu dieser Supersafe in so einer miesen Landgarnison gut sein soll.“ 60
„Zur Aufbewahrung von Plänen“, erklärte Gaston, dem Experten zur Hand gehend. „Pah, alles nur bemaltes Papier.“ „In der Bemalung liegt der Unterschied, mon ami.“ „Und um was geht es in diesem Fall?“ Gaston schwieg sich darüber aus, daß die Gap-Garnison zu jenen Truppenkontingenten gehörte, die im Notfall die Zugänge zur Albion-Anlage zu schützen hatten, weshalb ihr Kommandeur auch über die Lagepläne verfügte. „Ist ja auch egal“, sagte Spieker, als von Gaston nichts kam. „Ich arbeite pauschal und nicht auf Beteiligung.“ „Beteiligung ist oft viel besser.“ „Ich arbeite nur pauschal“, erklärte Spieker. „Denn wenn ich auf Beteiligung arbeite, möchte ich die Dinge in ihrem weiteren Verlauf unter Kontrolle haben. Und das ist meistens unmöglich.“ „Ich mag Leute mit Grundsätzen“, gestand Gaston. „Ich auch“, sagte Spieker. „Aber sie sollten weniger undurchsichtig sein als Sie, Gaston. Was suchen Ihre Männer hier im Kasernengelände?“ „Indischen Sand“, deutete Gaston an. „Also nur ein Ablenkungsmanöver, he?“ „Richtig.“ „Und bei Gefahr lassen Sie sie hochgehen.“ „Denn es ist höchst unwahrscheinlich“, fuhr Gaston fort, „daß in einer Nacht zweimal die Diebe kommen. Ich meine, daß sie einem erst den Rubens von der Wand hängen und dann noch die Kühe aus dem Stall holen.“ Spieker verstand. „Mag sein. Und jetzt reichen Sie mir die Zange mit der Nummer vierzehn rüber.“ Gaston suchte sie. Das Werkzeug sah aus wie ein Sägefisch mit ein- und ausfahrbaren Zähnen. Gaston verfolgte Spiekers Arbeit und wurde allmählich unruhig. Immer öfter schaute er auf die Uhr. Inzwischen würden Serge und Pierre längst das alte Re61
gimentsmuseum geknackt haben. Schön, es gab dort eine Sammlung von alten Kanonenkugeln. Aber sie waren aus Eisen, Bronze oder Stein und nicht aus Gold. Gaston hoffte nur, daß seine Leute den Unterschied nicht allzufrüh bemerkten. * 21 Uhr Jo Spieker hatte den NATO-Safe angegangen, als handle es sich um ein übersensibles Wesen mit Dutzenden von Reaktionsmöglichkeiten. Und wie ein guter Psychologe bei der Behandlung eines übersensiblen Wesens hatte er auch die entscheidenden Nervenbahnen entdeckt. „Der Witz“, sagte er, „sind heutzutage nicht Schloß und Schlüssel. Das ist Mittelalter. Auf die codierbaren Magnetkarten kommt es an. Um hier Durchblick zu bekommen, braucht man die Sonde, den Verstärker und diesen Kopfhörer.“ Mit einem haarfeinen Draht war er in den Magnetkartenschlitz gedrungen, hatte alle Kontaktpunkte abgetastet und aus dem eintreffenden Summton seine Schlüsse gezogen. Eine Ersatzkarte war damit rasch hergestellt. Und dann schwangen die halbmeterdicken Stahlwände auf. Mit weißen Wollstrümpfen über den Schienen betrat Gaston den Saferaum. Von Dr. Parland wußte er, wo zu suchen war und welche Aufschrift jene Akte, um die es ging, trug. Er brauchte vierzig Sekunden, bis er sie hatte. „Fertig“, rief er grinsend. Ohne Hast schloß Spieker den Safe wieder. Als sie die Kommandantur verließen, sagte er: „Ich arbeite gern mit Leuten, die halbwegs so perfekt sind wie ich.“ „Ganz so perfekt wie Sie ist wohl keiner.“ „Selten“, bedauerte Spieker, „höchst selten.“ Drunten im weiten Kasernengelände war es immer noch ruhig. Niemand überquerte das Exerzierfeld. Licht brannte nur noch in der Garnisonsküche, wo das warme Essen für die im 62
Manöver stehenden Soldaten vorbereitet wurde. Gaston und Spieker erreichten ungehindert den Zaun. In Deckung des Treibstofflagers blieben sie stehen. Spieker nahm wieder sein Nachtglas an die Augen. „Kein Posten in der Nähe.“ „Sind Sie aber vorsichtig.“ „Ich lasse mich nur nicht gern überraschen, nachdem ich mir hunderttausend Dollar verdient habe. Wo ist das Geld, Compagnon?“ „Es liegt auf unserem Weg nach Marseille. Auch ich bin gern vorsichtig.“ „Das steht Ihnen zu“, räumte der Deutsche ein. Einen Moment später waren sie durch den Zaun geschlüpft. Gaston schloß das Maschendrahtloch wieder notdürftig. Nicht aus Ordnungsprinzip, sondern weil solche Maßnahmen sich stets in Zeitgewinn umrechnen ließen. Und Zeitgewinn bedeutete Vorsprung vor den Verfolgern. „Fertig?“ fragte Spieker. „Nein“, sagte Gaston. „Bitte lösen Sie jetzt Alarm aus, Jo.“ Spieker traute seinen Ohren nicht. „Sie brauchen doch nur die Kontrollstromleitung an der richtigen Stelle zu unterbrechen.“ „Aber“, wandte Spieker ein, „das liefert doch Ihre Mitarbeiter ans Messer.“ Gaston nickte. „Darauf beruht ein Teil meines Planes“, gestand er. „Alles was meine Leute tun, diente nur zur Ablenkung von den tatsächlichen Ereignissen. Wenn wir keinen Alarm geben und sie die Kanonenkugeln abtransportieren, werden sie rasch merken, daß sie indischen Sand gebuddelt haben. Ganz anders ist es, wenn man sie schnappt. Dann ist es eben schiefgelaufen. Dann hatten wir Pech. Dann kann sich jeder denken, was er will. Irgendeiner muß einen Fehler gemacht haben, werden sie vermuten, aber niemals, daß man sie nur benutzte.“ „Sie werden mir unheimlich, Gaston“, sagte Spieker und schnitt einen der horizontal durch das Drahtgeflecht verlaufen63
den Drähte an einer bestimmten Stelle auf bestimmte Weise entzwei. Sekunden später schrillten die Alarmklingeln los. Automatisch betätigte Scheinwerfer hüllten den Kasernenbereich in taghelles Licht. * 22 Uhr 15 Südlich der Ortschaft Talland, wo die Straße von Gap mit der N 542 zusammentraf und dann am Ufer der Durance entlangführte, bat Gaston den Deutschen, langsamer zu fahren. Als zwanzig Meter seitlich der Straße das Gemäuer eines alten Straßenwärterhauses auftauchte, sagte Gaston: „Jetzt anhalten, Jo.“ Der Deutsche, irgendwie mißtrauisch geworden, bestand darauf, Gaston zu begleiten. „Mißtrauen ist gut“, sagte Spieker, „aber noch besser sind Kontrollen.“ Gaston marschierte lachend los. Das Haus bestand nur noch aus Mauern. Das Dach war längst eingefallen und vermodert Unter einem unkrautumwucherten Stein zog Gaston einen schmalen Aktenkoffer hervor und reichte ihn dem Deutschen. „Ihr Honorar, Jo.“ Spieker blieb vorsichtig. „Bitte legen Sie ihn auf den Boden und öffnen Sie ihn.“ Gaston zögerte eine Sekunde, ehe er der Aufforderung nachkam. Die Schlösser schnappten, der Deckel schwang auf. Im Koffer lagen säuberlich gebündelte Dollarpakete. Spieker nahm Stichproben vor. Alles Hunderter mit Banderole und Bankstempel. Zwei der Pakete zählte er durch, prüfte Papier und Druck. „Je fünfzig Lappen“, sagte er. „Mal zwanzig.“ „In Ordnung. Kein indischer Sand.“ 64
Spieker schloß den Koffer. Er drückte die Schlösser zu und nahm den Koffer, um ihn nicht mehr aus der Hand zu geben. Auf dem Rückweg ließ er Gaston vor sich hergehen. Aber Gaston versuchte keinerlei linke Touren. Großspurig erklärte er: „Ich habe die Pläne, die genügen mir.“ „Was werden Sie dafür erzielen?“ „Zwei Millionen Franc, Minimum.“ „Das sind vierhunderttausend Dollar.“ „Eher etwas mehr.“ „Gutes Geschäft“, sagte Spieker. Nachdem er das Geld im Kofferraum des Mercedes verstaut und diesen abgeschlossen hatte, nahm er Gaston noch bis Aix mit. Vor der Autobahn stoppte er. „Wohin geht es?“ erkundigte sich Gaston. „Wieder Richtung Nizza. Und Sie?“ „Mein Wagen steht in Aix. Ich begebe mich nach Spanien. Zunächst mal“, log der Franzose. Beide stiegen aus. Gaston holte sein Kleinmotorrad aus dem Kofferraum. Es dauerte ein wenig. Das Mokick war ziemlich sperrig. Weil Gaston so lange brauchte, schöpfte Spieker wieder Verdacht und leuchtete den Kofferraum ab. Aber der Geldkoffer lag unbeschädigt auf dem Gummiteppich. „Au revoir!“ Gaston trat sein Mokick an. „Lieber nicht“, sagte Spieker, „ich mache mit jedem Partner immer nur einmal Geschäfte. Mein Prinzip.“ „Meines auch“, rief Gaston. Dann trennten sie sich. Jeder fuhr in einer anderen Richtung davon. * 23 Uhr 55 Kurz vor Frejus schaltete Jo Spieker das Autoradio ein. Da brachten es die Spätnachrichten schon. Anschlag auf die Chasseurs-Kaserne in Gap. Angeblich hatte 65
eine Gruppe von Terroristen versucht, sich moderne Infanteriewaffen aus dem Depot zu beschaffen. Sie konnten entdeckt und überwältigt werden. Bei der Schießerei hatte es nur zwei Tote gegeben. Spieker schaltete wieder ab und fuhr jetzt langsamer. Er spürte Druck auf der Blase. Bei Nizza waren es immerhin noch vierzig Kilometer. Also am nächsten Parkplatz rechts heraus. Nach der langen Autobahnsteigung kam einer. Spieker bog ab. Der große Parkplatz war völlig leer. Durch Buschwerk führten Treppen zu den Toiletten. Spieker wußte, daß solche Parkplätze für nächtliche Überfälle auf Touristen bevorzugt wurden. Aber jetzt, Ende März, waren die darauf spezialisierten Ganoven wohl noch nicht unterwegs. Trotzdem faßte er unter den Beifahrersitz und klemmte seine 7,65-Llama-Pistole ab. Bevor er ausstieg, schob er sie in den Hosenbund. Dann verriegelte er das Lenkradschloß und sperrte den 280-S sorgfältig ab. Wenige Minuten später, als er wieder herunterkam, stand der weiße Wagen noch da, wie er ihn verlassen hatte. Niemand war weit und breit zu sehen. Innerlich mußte er über seine Bedenken grinsen. Man wird älter, dachte er, und vorsichtiger. Außerdem hat man Phantasie und einschlägige Erfahrungen. Irgend etwas trieb ihn aber dazu, den Kofferraum zu öffnen und nach dem schwarzen Geldbehälter zu sehen. Er lag noch auf dem Gummiteppich. Nimm ihn mit nach vorn, dachte Spieker, leg ihn auf den Beifahrersitz. Dann hast du ihn schön neben dir. Sicher ist sicher. Er faßte am Ledergriff, zog den Behälter heraus und hatte den Eindruck, daß sich der Koffer anders anfühlte, als bei der Übernahme. Es lag nicht am Gewicht, es lag mehr am Inhalt. Es gab Koffer, die waren so fest gepackt, da rührte sich nichts, wenn man sie bewegte. Dann gab es andere, bei denen hatte der Inhalt Luft und rutschte hin und her. Spieker war es, als sei er etwas vorderlastig. 66
Unmöglich, dachte er, die Banknotenbündel lagen dicht bei dicht. Es sei denn, daß ihn Gaston am Ende doch noch beschissen hatte. Warum hatte der Halunke so lange herumgemacht, als er das Mokick heraushob? Für einen erfahrenen Ganoven war es kein Kunststück, im Dunkeln zwei Koffer zu vertauschen. Spiekers Mißtrauen wuchs in einer Weise, daß er auf der Stelle beschloß, den Inhalt des Koffers zu überprüfen. Er winkelte das Knie an, legte den Koffer darauf und ließ mit dem Daumendruck links und rechts die Schlösser schnappen. Mit der einen Hand hielt er dann den Koffer fest, mit der anderen öffnete er den Deckel und griff hinein. Das Letzte, was Jo Spieker in seinem Leben registrierte, war eine Schicht Zeitungspapier mit mehreren festen Gegenständen darunter. Gegenstände in der Größe von Zigarettenpackungen. Zu der Erkenntnis, daß er Gaston Mercier auf den Leim gegangen war, reichte es schon nicht mehr. Der Zündmechanismus der Sprengstoffpakete war schneller. Die Explosion riß ihm den Kopf weg. 7. Noch auf der Schweizer Seite des Bodensees erreichte Bob Urban der Anruf über Autotelefon. Das Hauptquartier war am anderen Ende. Sogar der Chef persönlich. „Kennen Sie General Emile Clairon?“ fragte Sebastian ohne Gruß und Einleitung. Urban schloß daraus, daß es wieder einmal brannte. „Nicht persönlich.“ „Er ist der neue Sicherheitsbeauftragte der französischen Regierung.“ „Richtig, und zwar für die Force de Dissuasion, was soviel bedeutet wie Abschreckungswaffen im Sinne von Abschrekkung eines Angreifers. Dazu gehören die Mirage-Atombomber, die vier Atom U-Boote der französischen Flotte mit Stützpunkt 67
auf der Ile de Longe in der Westbretagne und die Raketensilos auf dem Plateau von Albion im Südosten Frankreichs.“ „Danke“, knurrte der Alte. „Soviel weiß ich inzwischen auch schon.“ „Sie wissen sogar noch mehr“, tippte Urban und schaltete vom Telefonhörer auf Lautsprecher, um das Ding während der Fahrt nicht immer ans Ohr halten zu müssen. „Der General hat Schwierigkeiten“, fuhr der Oberst fort. „Nun“, bemerkte Urban dazu, „wer hat die nicht. Vor kurzem zündete jemand eine geballte Ladung Handgranaten in den Triebwerken einer Mirage-vier. Jetzt sind es nur noch fünfunddreißig. Aber die Nuklear-U-Boote dürften auf See und im Stützpunkt unangreifbar sein.“ „Auch die Raketensilos bei Saint Christobal?“ „So gut wie“, schränkte Urban ein. Der Alte konnte einen genüßlich auf die Folter spannen. Damit drückte er gern seinen Vorgesetztenstatus aus. Urban merkte das immer schnell und brachte ihn auf Touren. Er zeigte sich völlig desinteressiert. „Sonst noch was, Großmeister?“ fragte Urban, obwohl er genau wußte, daß ihn der Oberst nicht unterwegs anrief, um über einen drittklassigen französischen General mit ihm zu klatschen. Sebastian konterte mit einem Vorwurf. „Hat der Sicherheitsbeauftragte in Paris nicht alle befreundeten Dienste um erhöhte Wachsamkeit gebeten?“ „Deshalb fuhr ich unter anderem nach Zürich.“ „Ergebnis?“ „Unser Safeschlosser Spieker kam zwar durch, ist aber längst in den Süden weitergereist. Kein Wunder bei dem Wetter. Hier regnet es, und jenseits der Alpen scheint das Sönnchen.“ „Ich würde eher sagen, daß dort Wölkchen aufziehen.“ Na, komm schon rüber, Junge, dachte Urban, sag endlich, was los ist. „Heute nacht“, berichtete der Oberst nun, „wurde von einer unbekannten Tätergruppe erst ein provinçalisches Alpenjäger68
regiment zum Ausrücken veranlaßt, sodann wurde ein Scheinangriff auf ein Waffendepot gefahren, während andere Experten still und heimlich den Regimentssafe ausräumten.“ „Regimentssafe“, wiederholte Urban, „was kann da schon drin gelegen haben, außer den Führungsbogen der Mannschaften und ein paar Alarmbefehlen.“ „Dann würde man von General Clairon wohl nicht zwei Millionen Mark dafür fordern.“ Urban ging unwillkürlich vom Gas. „Wieviel?“ Ohne die Summe zu wiederholen, machte der Oberst weiter: „Es ging, das ist inzwischen klar, um den Safe in der Kommandantur und nicht um die Waffen. Und da die Gap-Garnison leider zu jenen Elitetruppen gehört, die in Kriegsfällen für die Verteidigung der Albion-Anlage vorgesehen sind, gab es im Safe auch Lagepläne der Abschußbasis.“ Unwillkürlich verringerte Urban seine Fahrtgeschwindigkeit noch mehr und verzichtete darauf, den vor ihm fahrenden Sattelzug zu überholen. Hinter dem Lkw zuckelnd, konnte er sich voll auf das Gespräch konzentrieren. „Verstehe“, sagte er, „diese Pläne sind hübsch was wert. Denn von oben ist so eine Gebirgsfestung nicht zu knacken, höchstens von unten.“ „General Clairon rotiert natürlich.“ „Sein Kopf saß noch nie besonders fest“ „Andererseits verweigerte man ihm bis jetzt jeden Etat.“ „Er war stets der zweite Mann. Wo immer er Dienst tat: Und der zweite Platz ist eben nichts wert“ Oberst Sebastian glaubte seinem Agenten genug Stoff zum Nachdenken geliefert zu haben. Aber Urban hatte noch Fragen. „Wer fordert die zwei Millionen?“ „Eine Gruppe, die die Pläne hat und sie bei Desinteresse an eine fremde Macht zu verkaufen droht.“ „Was für eine Gruppe? Hat der SDECE schon einen Verdacht?“ „Leider nein.“ 69
„Konnte man in Gap denn keinen der Mittäter schnappen?“ „Doch, zwei. Sie sind leider tot.“ „Auch Tote können reden.“ „Ein paar Ganoven, die aus der Pariser Unterwelt angeheuert wurden, heißt es.“ Plötzlich hatte es bei Urban geschaltet. Wenn sein Chef so gut Bescheid wußte, dann nur, weil er direkt informiert worden war. So etwas hatte immer tiefere Gründe. „Der Safe“, fragte Urban, „war ein NATO-Modell, stimmt’s?“ „Ein Eggerbeck S-3 mit NATO-Nummer. Experten behaupten, dieser Safe könne in der kurzen Zeit, die den Tätern zur Verfügung stand, nur von wenigen Experten geöffnet werden. Eigentlich nur von einem Mann.“ „Von Jo Spieker aus Hamburg“, ergänzte Urban und sah allerhand Unannehmlichkeiten auf die Bundesrepublik zukommen. „Behaupten SDECE und Sûrete“, fügte Sebastian hinzu. „Mit Recht“, ergänzte Urban. „Nun geht es folgendermaßen weiter: Euer Mann war dabei, also sucht ihn und unterstützt uns gefälligst“ „Es geht sogar soweit“, bestätigte der Oberst Urbans Befürchtungen, „daß General Clairon uns auffordert, die zwei Millionen D-Mark zur Verfügung zu stellen.“ „Warum nicht Franc?“ „Die Gruppe will Dollar, Mark oder Franken.“ „Darauf würde ich mich nicht einlassen“, warnte Urban. „Das entscheiden nicht Sie“, sagte der Oberst. „Aber nun kennen Sie das Problem, Nummer Achtzehn. Kommen Sie so schnell wie möglich. Aber fahren Sie vorsichtig.“ Häng dich auf, aber tu dir nicht weh, dachte Urban.
70
In Pullach platzte Urban mitten in die Konferenz hinein. Es ging ziemlich laut her. Er wollte schon sagen, nicht so fiebrig, liebe Freunde, aber die Entscheidung war längst gefallen. Aus müden Augen, mit einem Gesicht wie ein kranker alter Jagdhund, blickte der Oberst seinen Staragenten an. „Wir zahlen“, zischte er leicht verbittert. „Und warum? Aus schlechtem Gewissen oder aus alter Freundschaft?“ „Eigentlich zahlen wir ja gar nicht“, schränkte Graf von Triefenberg, Kassenwart des BND ein, „wir leihen die zwei Millionen Märker nur kurz mal aus.“ Urban, der sich nicht erinnern konnte, den Grafen in den letzten Jahren auch nur ein einziges Mal so splendid erlebt zu haben, dachte nach. Es gab da gewisse Dinge, die man dem General Clairon und auch dem Grafen nachsagte. Nicht, daß die zwei verliebt ineinander waren, das schloß Urban aus, aber wenn sich die Proletarier aller Länder vereinigten, warum sollten sich nicht auch die Homoerotiker aller Länder solidarisieren. „Also eine Leihgabe“, präzisierte Urban. „Und wer garantiert dafür?“ „Unser Arrangement“, sagte jemand aus der Operationsabteilung. „Das sind doch Profis“, wandte Urban ein, „die legen doch neun von zehn Experten aufs Kreuz.“ Sebastians Gesicht bekam noch ein paar zusätzliche Falten, als er erklärte: „Die Übergabe soll auf einer Yacht stattfinden.“ „Das finde ich ja ganz zauberhaft“, protestierte Urban, „das vergeßt so schnell wie möglich.“ „Nein, für den Geldkurier ist es eher gut“, warf ein junger Spund von O/I ein, „denn die Yacht kann nicht entkommen. Draußen am Horizont steht nämlich ein Zerstörer der französischen Marine und fängt sie notfalls ab.“ „Gibt verdammt schnelle Kähne“, warnte Urban. „Keiner läuft einem Zerstörer davon. Außerdem hat so ein Zerstörer Kanonen. Und im Mittelmeer wimmelt es doch von 71
Schiffen der Sechsten Flotte. Die fangen so eine Yacht immer ab. Mühelos.“ „Und wenn die Yachtleute das Geld vorher über Bord werfen, was dann?“ „Zwei Millionen Mark? Hahi-haha.“ „Man kann die Stelle markieren und später einen Taucher schicken, hahi-hoho.“ Aber Urbans Einwände wurden so abgeschmettert, daß er auf weitere Hinweise verzichtete. Nur eine Frage stellte er noch. „Machen die Franzosen bei dem schlauen Unternehmen mit?“ „Der SDECE ist eingeweiht. Unseren Kurier begleitet ein Agent namens Gil Quatembre.“ „Guter Mann“, räumte Urban ein. „Gil ist noch das beste Glied an eurem beknackten Plan.“ „Sie hätten natürlich einen weit besseren Plan“, höhnte der Graf mit dem Holzbein. Urban faßte kurz zusammen: „Man tauscht also Pläne gegen Geld. Dann hat man die Pläne, aber nicht die Drahtzieher. Das ist zwei Schritt vor, einer zurück.“ „Besser als stehenbleiben“, meinte einer aus der Runde. „Außerdem wird die französische Flotte die Yachtleute schon abfangen. Wenn man sie hat, kann man sie ganz schön hart pakken. Kenne keinen, der da auf Dauer den Taubstummen spielt.“ Urban hatte nur kurz Platz genommen und eine MC angeraucht. Der Stuhl war kaum warm, da stand er schon wieder auf. „Ich werde ja nicht mehr benötigt. Mahlzeit, meine Herren.“ „Moment bitte noch“, rief ihn Oberst Sebastian zurück, „damit wir ganz sichergehen, werden nämlich Sie das Geld überbringen, Bob.“
72
Urban stand einen Augenblick nachdenklich herum. Dann sagte er: „Ich natürlich nicht“ „Und warum nicht?“ „Als Geldbote bin ich nur der Zweitbeste.“ „Aber unser Geldbriefträger vom Dienst“, warf ein Witzbold ein, „ist nicht so schön wie du.“ Sebastian schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Ich darf doch bitten. Die Situation ist ernst genug.“ „Typisch germanisch“, bemerkte ein Kollege, der auf Urbans Seite stand. „Nur weil vielleicht ein Landsmann den Safe geöffnet haben könnte, bieten wir gleich Wiedergutmachung an. Wie lange eigentlich noch?“ „Keine Diskussion bitte über diesen Punkt“, rief der Abteilungsdirektor von B, „die Entscheidung ist gefallen. Es geht nur noch um die Ausführung. Der Auftrag ging an Sie, Herr Urban.“ Da setzte sich der Agent mit der Code Nummer 18 wieder hin. Aber auf eine Art, die ein wenig arrogant wirkte. Er hockte sich rittlings auf den Stuhl und stützte die Arme auf die Lehne. „Ich mache es entweder auf meine Weise oder nicht.“ „Und der vorgeschlagene Weg ist nicht Ihre feine fränkische Art, he?“ Ein anderer glaubte es noch deutlicher sagen zu dürfen: „Kein Wunder, daß sich um einen Mann Legenden bilden, der immer nur Sachen macht, die er machen kann.“ „Legenden“, wandte Urban ein, „werden stets von Leuten erfunden, die nie dabei waren.“ Der Oberst hob wieder die Hand, um zu klopfen. Er wirkte grau und steif. Seine Bewegungen waren eckig wie die eines alten Mannes. „Durchführung wie beschlossen“, entschied er. Urban erkundigte sich vorsichtig: „Und wer trägt die Verantwortung, bitte?“ „Der Überbringer natürlich.“ „Schön, dann wird also morgen oder übermorgen das Ergebnis zusammengezählt. Nur wird es auf diese Weise niemals zu 73
einem Ergebnis kommen. Deshalb geht es auch nicht nach Adam Riese, sondern nach Urban oder gar nicht.“ „Gegen die Entscheidung des Kanzleramtes und des Präsidenten dieses Hauses gibt es keine Einspruchsmöglichkeit.“ „Also nach Adam Riese“, stellte Urban fest. Die zwei Abteilungschefs, auf die es ankam, nickten. „Dann ohne mich.“ Jetzt schaltete Sebastian auf harte Welle. Er fixierte Urban mit seinen Dackelaugen. „Dann betrachten Sie sich als vom Dienst suspendiert, Nummer Achtzehn.“ „Gern“, bestätigte Urban. Er schwang das Bein über die Stuhllehne, ging zur ledergepolsterten Tür, öffnete sie und trat hinaus. Er konnte nicht sehen, wie der Alte zusammengezuckt war. Mein Gott, dachte Oberst i.G.a.D. Sebastian, wenn das schiefgeht, dann sind wir zwei Millionen D-Mark los und den besten Mann, den wir je hatten. Und das ist ziemlich viel auf einmal. Er gab sich einen Ruck, straffte seinen Oberkörper. „Zur Tagesordnung“, rief er. 8. Gaston Mercier hatte sein Äußeres mit wenig Aufwand sehr verändert. Zunächst hatte er vom Friseur sein ziemlich langes Haar, das gestern noch Ohren und Nacken bedeckte, auf Streichholzlänge stutzen lassen. Bei der morgendlichen Rasur sparte er seit Tagen bestimmte Stellen aus. Da er über starken Bartwuchs verfügte, bildeten sich an der Oberlippe und am Kinn schon dunkle Stellen, die rasch zu einen Pelz wurden. Eine Brille mit getönten Fenstergläsern hatte er sich schon in Paris besorgt. Jeans, Pullover und Lederjacke lagen bereit und verjüngten ihn um weitere fünf Jahre. Am Samstag, kurz vor Schalterschluß, parkte er den weißen 74
Mercedes 280-S vor dem Hauptpostamt in St. Raphael. In der Halle trat er an den Schalter für postlagernde Sendungen. „Charles Dumas. Ein Brief für mich da?“ Die Beamtin ging den Stapel durch und fischte ein großes braunes Kuvert heraus. „Merci“, sagte Gaston und prüfte sofort Stempel und Adresse. Der Brief war in Paris aufgegeben worden. Der Umschlag zeigte einwandfrei die steile Handschrift von Dr. Parland, seinem alten Freund und Zellengenossen. Wußte der Teufel, wie Parland den Brief aus Fresnes herausgeschmuggelt hatte. Noch viel bewundernswerter war, wie es ihm gelang, ständig auf dem laufenden zu sein. Dieser alte Parland mußte ungeheure Beziehungen haben und Leute, die innerhalb wie außerhalb der Gefängnismauern eine Menge für ihn taten – und riskierten. Erst im Auto schlitzte Gaston den Umschlag auf. Er enthielt sechs Seiten dicht beschrieben mit Anweisungen, Ratschlägen, Informationen. Nachdem er den umfangreichen Brief mehrmals durchgelesen und sich alle Einzelheiten eingeprägt hatte, schob er die Blätter wieder in den Umschlag und diesen in die Gesäßtasche. Verabredungsgemäß würde er den Brief bei der nächsten Gelegenheit verbrennen. Nach einem Blick auf die Wanderkarte im Maßstab 1: 100 000 startete er den Mercedes, tankte noch einmal auf und fuhr dann hinunter zur Küstenstraße. Bei einem bestimmten Kilometerstein in Richtung Cannes bog er nach links von der N 98 ab. In einer engen 180-GradKurve rollte er durch den Tunnel, der unter der Hauptstraße Richtung Strand führte. Dort parkte er den Mercedes, öffnete den Kofferraum und entnahm ihm einen Metallbehälter von ovaler Form, etwa so groß und so schwer wie eine Reiseschreibmaschine. Außerdem nahm er noch zwei Lampen mit. Sie wurden von Batterien gespeist. Beide hatten eine Zeitschaltuhr, aber nur eine der Lampen war wasserdicht. Ziemlich bepackt kletterte Gaston hinab bis zu den roten Fel75
sen. Dort, wo die Klippen eine zuckerhutförmige Bucht bildeten, knotete er eine Leine an den ovalen Metallbehälter und warf ihn ins Tiefe. Nachdem er an der wasserdichten Lampe eine bestimmte Einschaltzeit vorgewählt hatte, befestigte er sie am anderen Ende der Leine und ließ die Lampe dem Behälter folgen. Auf Grund ihres Gewichts versanken beide Gegenstände sofort in den Fluten des Mittelmeers. An der zweiten Lampe wählte Gaston ebenfalls die Einschaltzeit vor, stellte den Hebel aber auf Blinken und setzte eine rote Folie vor den Reflektor. Die zweite Lampe brachte er so in Position, daß sie von oben nicht zu sehen war, ihr Licht aber, nach Süden gerichtet, als Peilstrahl dienen konnte. Danach kehrte Gaston wieder zu dem Mercedes zurück, we ndete ihn und fuhr noch die zwei Kilometer bis Le Trayas. Dort parkte er den Mercedes wohlversperrt in einer Seitenstraße. Die Autoschlüssel klebte er mit Lassoband in den Hohlraum der linken hinteren Stoßstangenhälfte. Dann erwischte er gerade noch den 14-Uhr-Bus nach Cannes. * Diese Hochseeyacht hätte sogar ein Großadmiral der Marine als brauchbares Schiffchen bezeichnet. Gaston peilte noch einmal den Treibstoffstand. Beide Tanks enthielten dreihundert Liter Diesel. Genau genommen waren sie ziemlich leer. Afrika erreichte kein Mensch damit. Knapp bis Korsika wäre man bei zahmer Fahrweise gekommen, aber auch dorthin wollte Gaston nicht. Seine Pläne, vielmehr die Pläne Parlands, sahen anders aus. Er hatte keinen Anlaß, diesen Plänen zu mißtrauen. Sie waren bis jetzt gut durchdacht gewesen. Wenn man sich genau daran hielt, konnte offensichtlich nichts schief gehen. Gaston Mercier fühlte sich immer sicherer in seiner Rolle. Im Grunde war er kein großer Denker, aber ein recht zuverlässiger Handlanger, wenn es darum ging, Befehle buchstabengetreu auszuführen. Vielleicht war er auf diesem Gebiet sogar ein 76
Allroundkönner und erste Klasse. Es ging auf 16 Uhr, bis er das Schiff klar hatte. Dann genehmigte er sich einen Scotch. Den Whisky und die Zigarette genießend, saß er im kleinen Salon der Chris-Craft und träumte durch die Glaswand hinaus zum Pier. Laut Brief sollte er um 16 Uhr Besuch bekommen. Verdammt, der Brief, dachte er. Ohne Aufschub holte er ihn aus der Gesäßtasche, überflog ihn noch einmal Zeile für Zeile und zerknüllte anschließend jeden einzelnen Bogen. Im Metallascher verbrannte er ihn dann. Kaum war die Flamme erloschen und die Asche durch das WC gespült, fuhr draußen ein großer schwarzer Wagen vorbei. Nach wenigen Minuten kam der Chevrolet wieder, hielt und spuckte zwei Typen aus. Sie orientierten sich kurz und eilten über die Heckgangway an Deck. Ohne sich vorzustellen fragte der erste: „Ist das die Dominique zwo?“ „Richtig, Monsieur.“ „Dann sind Sie Charles Dumas.“ „Dumas, wie der Dichter. So ist es.“ Die beiden nahmen unaufgefordert Platz und nannten auch jetzt noch keine Namen. Sie wirkten nicht wie seriöse Finanzleute, aber auch nicht wie Ganoven, wie Gangster oder Mafiosi. Sie waren überhaupt schwer einzuordnen. Sie trugen graue Anzüge, beige Hemden und schmale englische Clubbinder. Sie hatten schwarze Slipper von gehobener Qualität an und goldene rechteckige Uhren mit hellen Zifferblättern und Krokoarmbändern. Nichts an ihnen war irgendwie auffällig. Nicht einmal Sonnenbrillen benutzten sie zur Tarnung ihrer Gesichter. Aber sie kamen sofort zur Sache. „Können wir die Sachen sehen?“ fragte der, der bis jetzt geschwiegen hatte. Laut Anweisung legte ihnen Gaston zwei Blätter der vierzehn fotokopierten Planseiten vor. Das eine Blatt enthielt Text, das andere den Ausschnitt eines Minenfeldes. Die Besucher studierten die Warenproben ausführlich und nahmen sogar die Lupe zu Hilfe. Jedes einzelne Blatt war ge77
stempelt und von einem General abgezeichnet. Endlich schienen sie alles in Ordnung zu finden. „Und Ihre Gruppe“, setzte der eine an, „verfügt über den kompletten Albion-Plan?“ Gaston nickte. „Er fiel ihnen vor wenigen Tagen in Gap in die Hände?“ Jetzt hob Gaston die Schultern. „Wir haben ihn. Alles andere ist unerheblich, Messieurs.“ „Und Ihr Preis?“ „Zwei Millionen Dollar.“ Die Besucher blickten einander verblüfft an. „Das ist unmöglich“, erklärten sie, standen auf und gaben sich den Anschein, als sei das Gespräch damit beendet. Gaston verließ ebenfalls seinen Sessel und begleitete die Besucher bis zur Salontür. „Au revoir, Messieurs.“ Man hatte Gaston informiert, daß die Interessenten den Preis auf jeden Fall drücken würden. Sie blufften in der Tat nur. Nach intensivem Flüstern setzten sie sich wieder. „Eine Million Dollar“, lautete ihre Antwort. „Messieurs“, sagte Gaston wieder streng nach Anweisung, „wissen Sie überhaupt, was Sie damit in die Hand bekommen?“ „Wir denken schon.“ „Mit diesen Plänen lassen sich mit Hilfe einer sehr kleinen Truppe 18 Atomraketen mit einer Reichweite von dreitausendfünfhundert Kilometern handstreichartig in Besitz nehmen. Die Sicherheitseinrichtungen sind nur unter größten Kosten, Schwierigkeiten und mit sehr viel Zeitaufwand zu ändern. Wer diese 18 Raketen einmal besitzt, kann als Gegenleistung für sein Wohlverhalten von der französischen Regierung alles fordern. Und dies nicht nur von Frankreich, sondern auch von den übrigen EG-Ländern, von der NATO – ja möglicherweise sogar von jenen Ländern östlich des Eisernen Vorhangs, auf die diese Raketen programmiert sind.“ 78
„Wissen wir längst“, schnitt ihm einer der Besucher das Wort ab, „was glauben Sie, warum wir daran interessiert sind.“ „Mein Preis ist also in Ordnung. Den holen Sie sich doch mühelos zurück.“ „Eine Million zweihunderttausend“, schlug der zweite Mann vor. Gaston ging so weit zurück, wie er gehen durfte. „Eins Komma sechs. Letztes Wort. Weiter reicht mein Limit nicht.“ Die beiden flüsterten wieder miteinander in einer Sprache, die Gaston nicht verstand. „Okay“, erklärten sie schließlich, Jetzt zu den Modalitäten der Bezahlung und Übergabe.“ Der schwierigste Teil der Verhandlungen war, hier die Vorstellungen der Käufer und Parlands auf eine Linie zu bringen. * Vom Telefon im Yachtclub aus rief Gaston Punkt 18 Uhr eine Nummer in Nizza an. Er meldete sich mit einem vereinbarten Satz: „Ich habe die Gap-Papiere.“ „Und wir haben das Geld“, lautete die Antwort. Gaston machte den nächsten Zug. „Ich ankere mit meiner Yacht genau zwischen den Inseln. Zwischen St. Marquerite und St. Honorat.“ „Uhrzeit?“ „Ab 22 Uhr.“ „Wir kommen mit einem Motorboot längsseits. Wie ist das Erkennungssignal?“ „Sie blinken mich mit lang-kurz-lang an. Ich antworte mit dreimal lang.“ „Einverstanden. Wir gehen an Bord. Dort Austausch der Pläne gegen das Geld.“ „Und keine Schweinereien“, bat sich Gaston aus. Der französisch wie ein Franzose sprechende Mann am ande79
ren Leitungsende sagte: „Fairerweise setzen wir Sie davon in Kenntnis, Monsieur, daß südlich der Insel der Zerstörer ,Lafayette’ stehen wird und daß in einer zweiten Linie noch innerhalb der Dreimeilenzone, Schnellboote patrouillieren.“ Gaston protestierte anweisungsgemäß. „Mir wurde freie Fahrt gesagt.“ „Dies ist richtig“, bestätigte der Angerufene. „Aber nur, wenn wir vorher per Funk die korrekte Übergabe der Gap-Papiere gemeldet haben.“ „Und wer garantiert mir, daß Sie das auch tun?“ „Das ist Ihr Risiko.“ „Angenommen“, wandte Gaston ein, „Sie geben Ihr Okay nicht durch und der Zerstörer ballert mich in Grund und Boden.“ Daraufhin lachte der andere. „Und wer garantiert uns, daß Sie mittlerweile nicht Kopien der Gap-Papiere angefertigt haben?“ „Vertrauen gegen Vertrauen“, seufzte Gaston einlenkend. „Ich setze allerdings voraus, daß Sie die Papiere haben wollen und daß Ihnen klar ist, daß ich nur der Botenjunge der großen Männer im Hintergrund bin.“ Die Leute mit dem Geld gaben keinen weiteren Kommentar mehr ab. „Pünktlich 22 Uhr“, hörte Gaston noch. Dann wurde aufgelegt. Diese Schweinehunde, dachte er, haben eine Falle aufgestellt, in die man hineinrennen muß, ob man will oder nicht. Nachdenklich schlenderte er zur Marina zurück. In dieser Nacht, das war klar, mußte er aufpassen. In dieser Nacht würde es haariger zugehen als am Mittwoch droben in Gap. Er beschloß, eine Valium-Tablette zu nehmen und sich noch zwei Stunden aufs Ohr zu hauen. Der Treffpunkt zwischen den Inseln war mit der schnellen Yacht in fünfzehn Minuten zu erreichen.
80
Um 21 Uhr 30 hatte Gaston den Neopren-Wärmeanzug unter die Jeans gezogen. Um 21 Uhr 40 hatte er abgelegt. Vier Minuten vor der Treff zeit stellte er in dem siebenhundert Meter breiten Meeresarm zwischen den Inseln die Maschinen ab. Der ablandige Wind trieb die Yacht langsam seewärts. Gaston lehnte am Steuerstand, das Nachtglas vor den Augen. Noch war nichts zu sehen. Weder vom Zerstörer draußen, noch von einem Motorboot, das sich näherte. Er schaltete die Abendnachrichten ein. Der Überfall auf die Chasseurs-Garnison in Gap wurde kaum noch erwähnt. Vermutlich unterdrückten offizielle Stellen die Berichterstattung. Am Montag, so hatte in den Zeitungen gestanden, würden die beiden Terroristen, die bei dem Anschlag ums Leben gekommen waren, in Gap beerdigt. Angeblich hatte man sie nicht identifizieren können. Armer Pierre, armer Serge, dachte Gaston. Irgendwann fressen wir alle mal Friedhofserde. Egal ob französischen Humus oder indischen Sand. Über Fernand, seinen Funker, hatte er bis jetzt nichts gehört. Hatte Schwein gehabt, der Junge. Aber man würde sich um ihn kümmern müssen, nächste Woche, wenn hier alles gelaufen war. Gaston schaltete das Radio ab und steckte sich in der gewölbten Hand eine Zigarette an. Lautlos zogen die Positionslichter eines Seglers vorbei. Später hörte Gaston ein Brummen. Es kam vo n oben. Nur ein Flugzeug. Plötzlich dröhnte etwas in seinem linken Ohr. Es kam aus der Höhe des Wasserspiegels und klang nach einer hochtourigen Bootsmaschine. Gaston schwenkte das Glas in die Richtung des Geräusches. Jetzt sah er die Silhouette. Es handelte sich um ein flaches Motorboot mit heruntergezogener Panorama-Windschutzscheibe. Die Chromeinfassung blitzte im Licht des fahlen Mondes. Das Boot hielt auf die Yacht zu. Aber nicht genau. 81
Gaston griff zur Signallampe. Lang-lang-lang morste er. Die Antwort ließ auf sich warten. Er wiederholte. Und jetzt kam die Antwort. Lang-kurz-lang. Das Motorboot schwenkte auf die Yacht zu. Der Steurer nahm das Gas weg. Als sie noch zwanzig Meter Abstand hatten, stellte er den Motor ab. Langsam trieb das Boot an die Bordwand der „Dominique“. Nicht aus Höflichkeit, sondern aus Vorsicht schaltete Gaston den Suchscheinwerfer ein und wies dem Motorboot den Weg an die Bordleiter. Gleichzeitig sah er, daß wirklich nur zwei Personen an Bord waren. Ein großer Hagerer saß achtern und hatte einen Koffer auf den Knien. Ein Mittelgroßer mit Knabengesicht steuerte das Boot. Sanft bumste es gegen den Fender. Die Leine kam herüber. Gaston machte sie an der Reling fest. Die zwei kletterten auf die Yacht. Man ersparte sich jede Höflichkeit. Gaston ging voraus in den Salon. Dort nahmen die Besucher Platz. „Erst die Papiere“, Verlangte der mit dem sehr jungenhaft wirkenden Gesicht. „Sie liegen im Safe“, sagte Gaston, „dort an der Wand. Bitte darf ich einen Blick auf die Moneten werfen?“ Damit ging Gaston wieder nach Anweisung vor. Jeder Zug, den er tat, war ihm genau vorgeschrieben. So, wie alles, was er in dieser und in der nächsten Minute tun würde. Bereitwillig öffnete der hagere Bursche, der kein Wort sagte, den Koffer. Gaston griff hine in, prüfte in die Tiefe und quer durch die Stapel. Nichts war kaschiert, kein Spielmaterial, wie er es bei Jo benutzt hatte, alles säuberlich gebündelte D-Mark in gebrauchten Hunderten, Fünfhunderten und Tausendern. „Natürlich registriert“, sagte Gaston. „Gewiß, Monsieur.“ Gaston untersuchte stichprobenartig die Scheine. Er suchte die Wasserzeichen und die Sicherheitsfäden. Wirklich, da war alles in Ordnung. 82
„Kein Problem für uns“, sagte er. „In Afrika machen wir die Banknoten zu Gold und das Gold in den USA zu Dollar. So verwandeln wir heißes Geld wieder in sauberes.“ „Das ist uns klar“, sagte der jüngere, der reines Französisch sprach. „Zufrieden, Monsieur?“ Gaston nickte. „Jetzt bitte die Pläne.“ Gastons Herz klopfte stärker, als er zum Safe ging. In zwanzig Minuten würde es soweit sein. Er faßte ins Hemd, holte den an einer Halskette hängenden Safeschlüssel heraus und sperrte auf. „Wir sind fair“, sagte der Begleiter des Geldkassettenträgers, „wir hätten diese Yacht auch von der Marine entern lassen können.“ Zum Safe gewandt bemerkte Gaston: „Aber sie wollen ja die Hintermänner. Die Drahtzieher. Ich bin nur ein kleines Licht am Ende der langen Lichterkette.“ „Das wissen wir.“ Gaston faßte in den Safe. Unter dem Schnellhefter mit den Gap-Kopien lag ein automatischer Revolver, durchgeladen und entsichert. Er nahm ihn in die Hand. Die Waffe fühlte sich kalt an. Gaston packte ihn richtig und führte auch den Zeigefinger gleich an den Abzugsbügel. Der Rest war Sekundensache. Gaston zog den Revolver heraus, fuhr herum, ging während der Drehung in die Hocke und schoß. Erst schoß er auf den langen Hageren, dann auf den mit dem Konfirmandengesicht. Die Schüsse feuerte er in blitzschneller Folge ab. Der mit dem Geldkoffer warf die Arme himmelwärts und kippte nach hinten vom Hocker. Sein Verhalten sah ziemlich nach einer Todesgebärde aus. Der andere zuckte zusammen und fiel zögernd nach vorn. Ein Trick. Die Hand tastete zum Hosenbundholster. Aber sie kam nicht hin. Mitten in der Bewegung begann sie kraftlos zu pendeln. Der Mann stöhnte kurz auf und war weg. Gaston schob seine Kanone in den Gürtel, nahm die Gap83
Pläne an sich, nahm den Geldkoffer und verließ die Yacht. Er sprang ins Motorboot der Geldkuriere, löste die Leine, startete und fuhr los: Weil er wußte, daß das Präzisionsradar des Zerstörers „Laf ayette“ sowohl die Yacht als auch das Motorboot keine Sekunde ausließ, steuerte er nicht seewärts, sondern auf Land zu. Er gab Vollgas. * Es war damit zu rechnen, daß Marine-Schnellboote oder Fahrzeuge von Küstenschutz und Polizei dem Motorboot folgen würden. In diesem Punkt hatte Gaston vorgesorgt. Er registrierte auch gar nicht erst, was hinter ihm vorging. Mit allem, was das Motorboot hergab, hielt er sich Richtung Le Trayas. Links das Steuerrad betätigend, zog er mit der Rechten einen Plastikbeutel aus der Tasche, packte den Geldkoffer und die Gap-Pläne hinein und verschloß den Plastiksack, nachdem er die Luft vorher abgesaugt hatte, wasserdicht Damit waren alle Vorbereitungen beendet. Auch wenn diese Schweine an der Küste tausend Mann Polizei aufgefahren hatten, um ihn zu schnappen, sie würden ihn nicht kriegen. Sein Kurs war 255 Grad. Bald sah Gaston die Autos auf der Küstenstraße, die einzelnen Lichter der Villen und die Lichterhaufen der Ortschaften. Bei dem Tempo schlug das Boot beinhart gegen jede Welle, aber es machte seine vierzig Kilometer in der Stunde. In fünfzehn Minuten mußte er dasein. Allmählich wurde die Küste mit ihren Felsen und Buchten als dunkles Silhouettenwirrwarr erkennbar. Gaston schaute zurück nach Süden. Zwischen den Inseln zuckten Scheinwerfer über das Wasser. Dort war jetzt allerhand los. Ihr Radar mußte ihnen verraten haben, was geschehen war. In der Ferne jaulten die Zerstörertyphons. Dicht über dem Horizont sah Gaston mehrere Positionslampen. 84
„Schnellboote“, fluchte er vor sich hin. Die Lampen folgten genau seinem Kielwasser. Nur noch wenige Minuten, und der nächste Bluff war fällig, die nächste Ladung mit indischem Sand. Diesmal würde er ihnen den Sand direkt in die Augen streuen. Der weiße Strich voraus war die Gischt, mit der sich die Dünung an den Felsen brach. Er fiel etwas weiter nach Westen ab. Teufel, wo war die kleine Bucht? Seit 21 Uhr sollte die Lampe blinken. Doch er sah nichts. Er nahm das Glas, bekam aber die Küste kaum heran, so stark arbeitete das Boot. Und hinter ihm heulten schon die Verfolgersirenen. Er riß das Boot herum, vollführte einen rasenden Schwenk seewärts, um ein Vorgebirge, das in letzter Sekunde aus der Schwärze aufgetaucht war. Ruder hart Steuerbord. Die nächste Bucht Abermals kein Peilstrahl. Neue Kurve. Nichts. Ruder nach Backbord. Ein Bootssteg. Vorbei. Wieder eine Bucht. Da war er endlich, der tütenförmige Küstenzacken. Ganz innen die Lampe. Sie blinkte rot Aus-ein-aus-ein-aus… Gaston wirbelte zum letztenmal das Ruder herum und drosch das Boot mit Vollgas auf die Felsen zu. Noch hundert Meter zum Strand. Noch achtzig. Er zählte: eins, zwei, drei, vier. Die schrundigen Felsen beiderseits waren schon zum Greifen nah, und das Boot marschierte noch immer mit vierzig Sachen. Im letzten Moment ließ sich Gaston, den Plastiksack fest in der Linken, achtern aus dem Motorboot kippen. Sofort tauchte er ab. Immer auf das Licht im Tiefen zu. Über ihm war jetzt der Teufel los. Das Boot hatte die Klippen gerammt hatte sich dort total kaputtgeschlagen und war geborsten. Eine Detonation drang bis zu Gaston in die kühle Tiefe. Dann endgültige Stille. Er schwamm unter Wasser auf die Lampe zu. Als er sie hatte, fingerte er sich an der Leine entlang zum Blechbehälter. Schon in höchster Atemnot öffnete er ihn und nahm das Mundstück des Preßluftschlauches zwischen die Zähne. Knopfdrehung. Der Sauerstoff drang, in seine Lungen. 85
Jetzt konnte er sich Zeit lassen. Gaston setzte die Nasenklammer auf, legte den Bleigürtel und die Schwimmflossen an und schulterte das Atemgerät. Zum Schluß löschte er die Lampe, packte den Plastikbeutel und schwamm und schwamm. Über ihm rotierten die Schrauben von wenigstens fünf Booten. Er untertauchte sie und schwamm in Richtung Le Trayas. Mit vor Erschöpfung schmerzenden Muskeln erkletterte er gegen Mitternacht die Felsen, warf sich hin, ruhte sich aus. Schließlich drückte er sich wieder hoch. Trotz des NeoprenWärmeanzuges spürte er jetzt die Kühle der Märznacht. Noch dreihundert Meter, dachte er, und du hast es. Oben an der Straße stand mit abgeblendeten Scheinwerfern und laufendem Motor der Mercedes. Gaston riß die rechte Tür auf, schob sich hinein in die Wärme. Den Plastiksack schmiß er auf den Rücksitz. Adrienne drückte die Automatik auf D und gab Gas. Diesmal stellte sie keine Fragen. Mit einer Antwort, so fürchtete sie, hätte es ohnehin schlecht ausgesehn. 9. Wie Hiob im alten Testament, so wurden sie von immer neuen Unglücksnachrichten getroffen. Der BND-Geldkurier tot. Erschossen. Die zwei Millionen D-Mark verloren. Die in Gap geraubten Papiere nach wie vor in den Händen von Gangstern. Und so gut wie keine Hinweise. Trotz der Ve rfolgung und Aufbringung eines Motorbootes konnte der Mittelsmann der Tätergruppe spurlos verschwinden. Die Sache war ganz und gar nicht nach Bob Urbans Geschmack. Aber jetzt ging es nicht mehr anders. Seine Suspendierung war aufgehoben. Er mußte einfach hin. Am Montag sehr früh parkte er seinen BMW-633-CSI vor dem Krankenhaus in Cannes. Nonnen mit einer Art gestärktem Fallschirm auf dem Kopf zeigten ihm den Weg. Als Urban das Zimmer neben der Intensivstation betrat, sah 86
er auf dem hohen weißen Bett ein menschliches Wesen liegen, das an eine Menge Schläuche und Apparaturen angeschlossen war. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß ein Mann, den Urban im ersten Augenblick für den Arzt hielt. Er irrte sich in beiden Fällen. Gil Quatembre war dem Tode nicht ganz so nahe, wie es den Anschein hatte, und der schlanke feingliedrige Besucher im Sessel war kein Arzt. Urban blieb am Fußende des Be ttes stehen, betrachtete stumm das Gestell mit dem Tropf, die Apparaturen, die über Meßsonden Quatembres Körperfunktionen anzeigten und stellte die Bourbonflasche ganz weit weg. „Damit kannst du in den nächsten drei Tagen sowieso nichts anfangen, fürchte i ch.“ Gil, der einen Schuß in Herznähe abbekommen hatte, hob müde die Hand. So weit es der Nasenschlauch zuließ, murme lte er: „Aber in dreißig.“ Seine Gesichtshaut unterschied sich kaum von der Farbe des Kissens, auf dem sein Kopf ruhte. Trotzdem versuchte er zu lächeln. „Wird ja schon wieder“, sagte Urban. Auf Krankenstationen fühlte er sich immer maßlos unbeholfen. Er hätte Gil auch nicht belästigt, wenn er sich von ihm nicht ein paar Hinweise erhofft hätte. Wieder hob Gil die Hand und deutete auf seinen anderen Besucher. „Darf ich vorstellen, General Clairon.“ „Hallo, General“, rief Urban. Der feminin wirkende überelegante Mann winkte mit einer Resignation ausdrückenden Geste ab. „Vergessen Sie den General. Ich wurde mit sofortiger Wirkung meines Amtes ent hoben. Vom Verteidigungsminister persönlich. Welche Ehre.“ „Dann sind Sie also nicht in Cannes, um den Fall aufzuklären.“ „Das hat man mir alles aus der Hand genommen“, erklärte 87
der General. „Ich bin hier, um Monsieur Quatembre für seinen Einsatz meine Anerkennung auszusprechen. Dann reise ich wieder nach Griechenland. Ich brauche erst einmal Pause, Abstand, Erholung. Nichts sehen, nichts hören als das Zirpen der Grillen auf einer einsamen ägäischen Insel. Ziegenkäse essen, Wein aus Bottichen schöpfen, Home r lesen. Einfaches Leben.“ „Wie beneidenswert“, sagte Urban. „Von mir verlangt man, daß ich die zwei Millionen D-Mark zurückbringe.“ Der General hatte feuchte Hände und trocknete sie an einem exquisit nach Parfüm duftenden Hermes-Tuch. „Im Herbst, wenn ich aus Griechenland zurückkomme, werde ich Ihrem Präsidenten einen Besuch abstatten und mich für die versuchte Hilfe bedanken. Hoffen wir, daß es Ihnen bis dahin gelungen sein möge, den Fall zu lösen. Wenn einer das kann, dann wohl nur Sie, Mister Dynamit.“ Urban ließ sich nicht gern durch Lob antreiben. Er empfand das stets als herausfordernde Provokation. „Leider steh ich völlig barfuß am Start zu einem Hindernislauf durch dorniges Gelände, Monsieur.“ „Wo werden Sie denn einhaken?“ „Dazu erhoffe ich mir von diesem Burschen dort, von dieser Halbleiche, einen Tip.“ Der General erhob sich. „Na, dann viel Erfolg. Ich wünsche es Ihnen von Herzen. Vielleicht gelingt es Ihnen, den Herren in Paris klarzumachen, daß ein Sicherheitsbeauftragter ohne Befugnisse und ohne Mittel nicht in der Lage sein konnte, diese Attentate zu verhindern. Das würde mir zwar nicht mehr helfen, aber es wäre eine Genugtuung für mich.“ Clairon legte seine Hand zum Abschied auf die von Gil. Dann ging er mit der Lautlosigkeit einer gelernten Krankenschwester. „Das ist vielleicht ein niedliches Kerlchen“, lächelte Gil, „aber auch ein armer Hund, den man in aussichtsloser Position verheizt hat. Einfach um ihn loszuwerden.“ 88
Urban zog den Sessel näher und kam zur Sache. „Wie geht es dir nun wirklich?“ fragte er. „Beschissen. Aber ich hoffte, daß du kämst.“ „Also hast du was für mich.“ „Leider soviel wie nichts. Selbst für eine Spürnase wie dich zu wenig.“ „Wie sah er aus?“ fragte Urban. Er bekam die Beschreibung des Mannes auf der Yacht, der Gil und den deutschen Kurier so blitzschnell fertiggemacht hatte. Er bekam ferner eine Beschreibung aller Umstände und Einzelheiten und merkte bald, daß er damit nur wenig anfangen konnte. „Eines vielleicht noch“, erwähnte Gil zum Schluß, schon erschöpft von der Anstrengung des Sprechens, „ich glaube – ich bin sicher, daß der Bursche kein Einzelgänger ist.“ „Solche Coups werden selten von einem allein gezaubert.“ „Er war nicht der Boß.“ „Woraus schließt du das?“ „Sein Verhalten kam mir…“, Gil zögerte. Er überlegte, wollte etwas sagen, überlegte wieder, um nicht den falschen Ausdruck zu erwischen. „Er wirkte irgendwie zu stramm, zu hastig, fast wie ein gut gedrillter Amateur, der scharf an der Kandare geführt wird.“ „Als Amateur hat er dich ganz schön drangekriegt.“ „Ich weiß“, sagte Gil, „ich bestand nicht darauf, daß er sich nach dem Schießeisen abtasten läßt. Aber selbst das hätte nichts geholfen. Er hatte die Kanone im Safe.“ „Inwiefern wirkte er hastig?“ „Er riß die Waffe raus und schoß. So, als hätte er Angst vor der eigenen Courage.“ Urban versuchte dieses Detail der Beschreibung hinzuzufügen. Doch das Bild wurde kaum plastischer. „Ihr habt telefoniert. Wie sprach er, wie drückte er sich aus?“ „Normal.“ „Gebildet?“ „Auch wenn dich ein Gebildeter unter Druck setzt“, meinte 89
Gil, „muß von seiner Bildung nicht unbedingt etwas sichtbar werden. Aber er gehörte eher den unteren Schichten an. Kam man denn über die Yacht nicht weiter?“ Urban bedauerte. „Sie gehört einem Lackfabrikanten aus Hannover. Er verleiht sie oft an Freunde. So achtete niemand darauf, als sie in der Dunkelheit losgemacht wurde und auslief.“ „Dieser Bursche nannte nicht einmal seinen Namen. Er ist bestimmt ein kleines Würstchen. Ich schätze, der hat seinen Boß im Hintergrund nie gesehen.“ „Darauf setze ich gewisse Hoffnungen“, murmelte Urban. „Was hast du jetzt vor?“ erkundigte sich Gil nach einer We ile. „Werde mir anderswo ein paar Fetzen zusammensuchen.“ „Wo?“ Urban kannte den SDECE-Agenten Gil Quatembre lange genug und aus so vielen gemeinsam durchkämpften Fällen, daß er unbedingtes Vertrauen zu ihm hatte. Aber Gil war schlimm dran. Er konnte sich kaum verteidigen und stellte deshalb eine schwache Stelle dar, die man so wenig wie möglich belasten durfte. Also wich Urban aus. „Weiß ich noch nicht. Ehrlich.“ Gil schloß die Augen und verstand ihn. „Ist besser so“, sagte er. „In meiner Lage kann niemand dafür garantieren, daß er unter allen Umständen dicht hält.“ Eine Nonne mit gestärktem Fallschirm auf dem Kopf kam herein. Sie schaffte es, ohne mit den Propellern ihrer weißen Haube an die Türpfosten zu ecken. „Jetzt müssen wir aber endlich gehen“, wandte sie sich erst an Urban. Dann kümmerte sie sich um den Patienten. „Und wir werden ein bißchen schlafen, Monsieur.“ Aber Gil war längst eingeschlummert
90
Urban fuhr ein Häuschen weiter. Genau neun Kilometer. Das Luxushotel lag hinter einer Mauer, umgeben von Palmen auf der Meerseite der Straße. Ein ehemaliger Palast, weiß, in orientalischem Stil, war zur exquisiten Absteige umgebaut worden. Bevor Urban hineinging, schaute er am Swimmingpool vo rbei. Trotz des kühlen Wetters planschten ein paar Schöne im geheizten Wasser. Andere lagen in winzigen Bikinis unter den Infrarotstrahlern, als sei es afrikanische Sonne. Urban zog das Foto aus der Jackettasche, prägte sich das Gesicht ein und ging die Damen der Reihe nach durch. Er hatte Glück. Das Gesicht war dabei. Wegen des gleißenden Lichts, das die Deckenlampen des Solariums ausstrahlten, setzte er die Sonnenbrille auf und trat hinter die Polsterliege der schwarzhaarigen Dame. „Sherill Anderson?“ Ihr Kopf hob sich ruckartig. Also war sie es. „Ich soll Sie von Jo Spieker grüßen.“ Ihr kirschförmiger Mund sah aus, als beginne sein Sprachschatz dort, wo die Schimpfwörter anfingen. Lächelnd zischte sie: „Wo ist der denn, der Hundesohn. Läßt mich hier einfach schmoren.“ „Seit wann?“ fragte Urban. „Na, mindestens fünf oder sechs Tage schon. Am Mittwoch fuhr er nur rasch mal um die Ecke. Mann, das sind die Kavaliere, die mir gestohlen bleiben können.“ Sie fragte nicht danach, ob ihrem deutschen Begleiter vielleicht etwas zugestoßen sei. Sie dachte nur an sich. Urban zog eine Liege näher und setzte sich. „Schickt er Sie“, fuhr Sherill fort, ihrem Ärger Luft zu machen, „weil er versumpft ist und sich jetzt nicht unter meine Augen traut, dieser alte Sack?“ „Ganz so ist es nicht“, erklärte Urban. „Eigentlich trifft Jo gar keine Schuld.“ „Den und keine Schuld. Ich kenne doch diese Schwuchteln. Nehmen sich eine Frau mit auf die Reise – na, warum wohl, zu 91
was schon. Nach zwei Tagen hat man sie satt und läßt sie sitzen.“ „Sherill“, sagte Urban, „diesmal irren Sie sich. Jo Spieker ist tot.“ Sie zuckte nicht mit der Wimper. „Ach, bleiben Sie mir vom Hals mit dieser Masche“, entgegnete sie wütend. „Ich kenne doch die Tour. Von den tausend Franken, die er mir zugesteckt hat, soll ich jetzt auch noch die Hotelrechnung zahlen.“ „Wird wohl nicht anders gehen.“ Plötzlich, es mochte an Urbans Tonfall liegen oder am ernsten Ausdruck seines Gesichtes, schien sie ihm zu glauben. „Mein Gott“, sagte sie erschrocken, „tot. Im Grunde war er mir ja gleichgültig. Aber Jo, dieser kräftige Bursche, der vor nichts Angst hatte. Jo soll tot sein. Richtig tot?“ „Ein Unfall“, ergänzte Urban. „Woher wissen Sie das? Sind Sie von der Polizei? Und warum kommen Sie damit zu mir?“ Er steckte sich eine MC an. Daß er ihre Hoteladresse von Greta Stauffer in Zürich hatte, ließ er besser unerwähnt. Sherill hatte Greta und den anderen Mädchen einen Kartengruß geschickt. Die Karte war am Samstag in Zürich eingetroffen. „Nein, nicht von der Polizei“, erklärte er. „Versicherung?“ „Geheimdienst“, sagte er. „Regen Sie sich deswegen nicht gleich auf, Sherill. Es geht nicht um Sie oder Ihre Beziehung zu Spieker. Aber ich muß mit Ihnen über Jo reden.“ Sie nahm ihr Badetäschchen und hängte den Froteemantel über. „Gehen wir auf mein Zimmer“, schlug sie vor. * Als Sherill den Bademantel fallen ließ und die Schleifchen am Bikini löste, fiel Urban wieder ein, was Greta über Sherill An92
derson geäußert hatte. Der tut keiner weh, hatte Greta gesagt. Nackt wie der Herr sie geschaffen hatte, ging Sherill ins Badezimmer, riß das Handtuch von der Wand und rubbelte ihren Körper an den versteckten Winkeln und Buchten trocken. Sherills Körper war, was die reine Form betraf, der einer sehr schlanken Mitzwanzigerin und absolut makellos. Gesicht, Hals, Schulterbreite, Busengröße, der flache Bauch, Venushügel, Schenkellänge, Gesäß, Gang – nichts, wo man etwas hätte verbessern können. Nur seitlich an der Hüfte hatte sie zwei dunkle Stellen. Fingerkuppengroße Male. Eines davon war leicht entzündet. Urban konnte sich denken, woher sie stammten. Unserer Sherill, hatte Greta gesagt, der kann man nicht weh tun. Vermutlich deshalb, weil sie den Schmerz liebte. Und Jo Spieker machte es gern schmerzhaft. Eine Masochistin und ein Sadist waren miteinander auf die Reise gegangen. Das Mädchen hatte noch die kleine Hautwunde, wo sie die Glut seiner Zigarette gestreichelt hatte. Aber der Mann war längst tot. Ohne Kopf hatte man ihn an der Riviera-Autobahn aufgefunden. „Es war ein Unfall“, wiederholte Urban. Sie blieb vor ihm stehen, nackt und nach Sonnenöl duftend. „Und der Wagen?“ „Davon weiß ich nichts.“ „War ein nagelneuer Mercedes zwohundertachtzig, weiß. Klimaanlage, alle Schikanen.“ „Vielleicht haben ihn die Täter mitgenommen.“ „Täter?“ „Auch zu einem Unfall gehören mitunter zwei.“ Sie bohrte nicht weiter und ließ sich jetzt von ihm ausfragen. Dabei legte sie sich aufs Bett, winkelte ein Bein an und gewährte tiefe Einblicke. „Hast du mal eine Zigarette, Süßer?“ Sie rauchte langsam und mit Zügen, die den Rauch bis in die Lungenspitzen führten. „Was willst du alles wissen, Herr Geheimdienst?“ Urban ließ sich nicht zweimal bitten. 93
„Sprach Jo über Geschäfte?“ „Er deutete an, daß er am Mittwoch in Südfrankreich was zu erledigen hätte. Eine schnelle kurze Sache.“ „Nannte er Namen von Leuten?“ „Der nicht. Der war doch dicht wie ‘ne Coca-Dose.“ Sie wirkte kühl und fast teilnahmslos. Dabei sah er deutlich, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten. Aber darauf verstanden sich die Mädchen dieses Gewerbes. Sie konnten verbergen, was sie fühlten. „Was habt ihr getrieben all die Tage?“ erkundigte er sich. „Und die paar Nächte, meinst du. Erst wollte Jo seinen Trailer mitnehmen. Das mache unabhängig vom Hotel, behauptete er. Ich sein kein Gipsy-Girl, erklärte ich ihm, keine Zigeunerin. Ich habe nie im Leben einen Teller abgewaschen, nie ein Ei gekocht, nie Staub gewischt. Aber ich weiß, wie angenehm es in einem guten Hotel sein kann und wie gutes Essen schme kken muß. Ich sagte zu Jo ent oder weder. Also, entweder mit dem Trauer oder mit Sherill.“ „Dann ließ er ihn stehen.“ „Ja, in Zürich“, fuhr sie fort. „In diesem Punkt war er ziemlich weich. Wie überhaupt in allem, was Frauen betrifft. Offensichtlich litt er ständig darunter, daß er die Mädchen, zu denen er sich hingezogen fühlte, nicht bekam.“ „Nur wenn er tüchtig zahlte.“ „Na klar, so war es.“ Alles recht interessant, dachte Urban. Aber weitergekommen bist du nicht einen Millimeter. * Urban ließ Drinks bringen und nahm sie dem Boy an der Zimmertür ab. Er mixte seinen fünf zu eins mit Eis. Als Sherill trank, schüttelte sie die Hand. „Mannomann, ist der aber hart.“ Sie leerte trotzdem das Glas. „Und was war am Tage?“ fragte Urban weiter. 94
„Jo ging oft telefonieren.“ „Wie oft?“ „Ziemlich. Und dann traf er sich mal mit so Leuten.“ Er wagte schon gar nicht zu fragen, wo. Ausgerechnet in diesem Punkt wußte sie erstaunlich gut Bescheid. „Ich war wütend“, gestand sie. „Ich gebe ja zu, daß ich ungeheuer schnell auf hundert bin, das liegt an meinem Temperament. Aber das war denn doch die Höhe. Er fuhr nach St. Raphael, ging dort an der Küste mit irgendwelchen Leuten schmatzen, und ich mußte so lange draußen im Wagen sitzen. Geschlagene zwei Stunden.“ Urban ließ sich das Restaurant beschreiben. Es führte den Namen „Oasis“. Dann wollte er Tag und Stunde wissen. Es war am Dienstag um 21 Uhr gewesen. Einen Tag vor der GapGeschichte. „Wer waren die Leute?“ „Ein Mann, mittelgroß, unwichtig. Später kam eine Frau dazu. Ziemlich vulgärer Trampel. Typ Köchin. Gelbe Gummistiefel, als käme sie gerade vom Strand herauf. Aber fünf Minuten später gingen sie dann nach Hause.“ „Kam die Frau oder fuhr sie?“ „Sie kam auf ihren dicken zwei Beinen.“ „Und als sie gingen, nahmen sie da einen Wagen oder ein Taxi?“ „Sie gingen“, beharrte Sherill auf ihrer Darstellung, „als wohnten sie ganz in der Nähe.“ Urban erinnerte sich der Beschreibung, die Gil von dem Mann auf der Yacht gegeben hatte. „Trug er Brille, ich meine der Fremde.“ „Nein.“ „Bart?“ „Glattrasierte Visage hatte er.“ Urban stocherte von allen Seiten her die Story an. Er klopfte die Zeit, die Sherill mit Jo Spieker zusammen gewesen war, Stunde für Stunde ab. Aber es kam nicht mehr dabei heraus. „So eine blöde Geschichte“, schimpfte Sherill, „so was Blö95
des schreibe ich nachts um drei nicht mal besoffen an einen Zeitungsrand. Glaub mir, Baby.“ Urban gab sich mit dem, was er erfahren hatte, zufrieden. Aber sie wollte mehr. „Verstehst du“, sagte sie, „da stellt man sich auf ein grandioses Liebesnest ein, mit ‘nem tollen Hecht, dann nippelt der einem weg, und man ist eine geschlagene Woche ohne Mannsbild.“ „Es gibt Pech im Leben.“ Sie hatte sich aufgerichtet. Nun ließ sie sich wieder aufs rosa Kissen zurücksinken, schloß die Augen und machte ihm ein verlockendes Angebot. „Du kannst mich haben, Baby.“ „Wie?“ „Umsonst. Ich mache alles. Aber wirklich alles. Du gefällst mir. Ich sehe, du bist ein Kerl. Für Kerle mach ich alles.“ Urban stand auf, leerte sein Glas. „Du kannst mich fesseln“, flüsterte sie, „kannst mir Arme und Beine an die Bettpfosten binden – du kannst Gegenstände benutzen – du darfst…“ Da war er an der Tür. Der Veloursteppich hatte seine Schritte gedämpft. Er öffnete die Tür und ging hinaus. Als er sie schloß, klang ihre Beschwörung noch wie fernes Murmeln. Mit der Abgeklärtheit seiner vielen Dienstjahre konnte Urban mitunter auf so etwas verzichten. Dann war er taub für Sirenenklänge. Aber nur wenn er stimmungsmäßig ganz und gar danebenlag. So wie heute. * Urban fuhr weiter nach St. Raphael und suchte das Restaurant „Oasis“. Einem Kellner, der in der Bar herumlungerte, zeigte er ein Foto. Der Kellner erkannte Jo Spieker auf der drei Jahre alten BKA-Ablichtung. „Oui, der Herr war hier. Zum Diner, wenn ich mich recht er96
innere nahm er das Menue. Erst Languste à la St. Marie, dann Côtes de Veau Sautées provençales. Muß vor vier oder fünf Abenden gewesen sein. Dienstag, glaube ich.“ „Und ich bewundere Ihr Gedächtnis“, gestand Bob Urban, „wenn Sie mir jetzt noch die Frage beantworten können, wer mit diesem Herrn zu Abend speiste, dann ist mir das einen Hunderter wert.“ Der Kellner lächelte. „Der Name des anderen Gastes war Gaston. So redeten sie sich an. Einmal Jo, einmal Gaston.“ „Sie sprachen französisch?“ „Mais oui, Monsieur.“ In Johann Speckners Dossier war vermerkt, daß er das Französische beherrschte. „Dieser Monsieur Gaston“, fuhr Urban fort, „muß hier irgendwo in der Nähe wohnen. Er kam nicht mit dem Auto?“ „Das ist richtig, Monsieur. Er hatte Muschelsand an den Schuhen.“ Lauter solche Zeugen, und das Leben wäre ein Sonnentag, dachte Urban. „Moment bitte“, sagte der Kellner, verschwand und kam bald darauf wieder. Sein Gesicht drückte plötzlich Bedauern aus. „Tut mir leid, mehr ist über Monsieur Gaston nicht bekannt.“ Urban legte den Hunderter neben die Zuckerbüchse auf die Bartheke, blickte den Kellner an und entdeckte in dessen Augen ein Zucken. Dann ging er hinaus, stieg in seinen metallicblauen BMW und fuhr das Stück bis zur Ecke. Dort wartete er unter einer Platanengruppe. Nach einer halben Zigarettenlänge sah er den Kellner kommen. Er stieg nicht ein, sondern blieb am geöffneten Fenster stehen. „Der Patrone schätzt es nicht, wenn wir über Gäste Auskunft geben. Aber ich glaube, Monsieur Gaston bewohnt ein Haus weiter unten.“ „Zum Meer hin?“ 97
„Ja, in dieser Richtung.“ „Sie haben ihn noch einmal gesehen, stimmt’s?“ „Ja, Monsieur. In einem weißen Mercedes.“ „Deutsche Nummer?“ „Kann sein.“ Urban machte noch einen Schein locker. Der Kellner ging weiter. Urban erkundigte sich, wie man von der auf halber Höhe des Berges entlanglaufenden Straße zum Meer kam. Er fand den Durchschlupf. Ein Pfad führte nach weiten Kurven in einem Tunnel unter der Bahnlinie hindurch und steil abwärts. Der Schlauch von Weg, gerade so breit, daß sein neuer BMW nicht anschrammte, öffnete sich zu einer romantischen Bucht mit drei Fischerbooten und sieben Häusern. Urban fuhr weiter, diesmal durch einen in Fels gehauenen Tunnel. Dann schlängelte sich der Weg auf einen Obstgarten zu. Hinter Zitronenbäumen schimmerte das flache, mit ockerfarbenen Tonpfannen bedeckte Dach eines provençalischen Hauses. Die schmale Giebelseite zeigte meerwärts. Urban trat die Bremse, drückte den Gang ins Leere und ließ das Coupe zurückrollen. Links einschlagend, stellte er den Wagen, Heck voraus, zwischen wilde Oleanderbüsche. Dann schaute er sich die Reifenabdrücke an, die neben seiner eigenen Spur in den Staub des Weges geprägt waren. Mindestens 185er Pneus, nur wenig schmäler als seine BMW-Walzen, und einwandfrei ein Conti-Profil. 11 Uhr 50. Kurz vor Mittag. Ganz gute Zeit. In knapp vier Stunden war er von eiskalt bis handwarm gekommen, vorausgesetzt, da oben stand ein weißer Personenkraftwagen mit Hamburger Kennzeichen. Nach Chinesenart ging Urban geradewegs aufs Ziel zu, indem er einen kleinen Umweg machte.
98
10. Punkt sieben Uhr war im Zuchthaus Fresnes Wecken. Die Aufseher machten immer Stichproben. Keiner der Häftlinge wußte im voraus, welche Zellen kontrolliert wurden. Nur eines wußte jeder: Wenn man nach dem Wecken nicht neben der Pritsche auf den Füßen stand, hagelte es Strafpunkte. Und die wirkten sich als Minus in der Führung aus. Im Falle einer Haftverkürzung kam es aber auf gute Führung an. Wer hier schlecht abschnitt, konnte ein oder zwei Jahre länger absitzen. Das Wecksignal zu mißachten, lohnte sich also nicht. Nur zwei Kategorien von Häftlingen pfiffen darauf: die wirklich Kranken und die Lebenslänglichen. Die Kranken mußten anschließend ins Revier. Die Lebenslänglichen hatten ohnehin keine Aussicht auf Begnadigung. Dr. Parland hatte lebenslänglich. Aber insgeheim hoffte er doch noch einmal, das Zuchthaus verlassen zu können. Und sei es nur für ein Jahr oder für ein paar Monate. Das war sein Traum. Noch einmal Paris sehen dürfen, durch die Stadt schlendern können, durch den Louvre, die Museen, die Bibliotheken. Noch einmal in die Oper gehen oder im Frühjahr die Seine hinabfahren. Noch einmal in einem Bistro auf dem Land kühlen Wein trinken, Flußkrebse dazu knabbern, als Dessert Zwiebelkuchen frisch aus dem Ofen genießen. Die Riegel der Zellentür knallten zurück. Oben und unten. Die Tür schwang nach innen. Der Aufseher, ein Mann in Parlands Alter, stand da. „Frühstück, Opa.“ „Danke, Opa“, erwiderte Parland. „Bitte keine Vertraulichkeiten, Doktor.“ Parland lächelte. „Wir sind doch beide Gefangene“, sagte der alte Historiker, „Sie vor der Tür, ich hinter der Tür.“ „Los, Kaffeeausgabe. Beeilung!“ 99
Parland bekam eine Kelle voll schwarzer dünner Brühe in seinen Emailletopf geschüttet, ein Stück Brot dazu, einen Klacks Marmelade. „Wie steht’s mit dem Wasser?“ fragte der Aufseher. Parland zog die Hosen hoch und zeigte seine dürren Beine, die von unten her bis über die Fußknöchel angeschwollen waren. „Geht schon langsam bis zur Wade.“ „Wenn es am Knie steht“, sagte der Aufseher, „rufen wir den Doktor.“ „Und wenn’s am Bauch steht, den Pfarrer“, scherzte der Alte. Der Aufseher ging weiter. Tür zu, Riegel vor. Parland saß da und rührte das Frühstück nicht an. In diesem Moment fühlte er, daß er sterben würde, wenn er nicht bald rauskam. Er kam aber nur heraus, wenn sein Fall noch einmal aufgerollt wurde. Das wäre juristisch durchaus möglich gewesen. Allerdings nur mit viel Geld. Er hatte also nur eine Chance, wenn Gaston gute Arbeit leistete und wenn sich alle fair zu ihm verhielten. Gaston und der andere, dessen Vermittler Parland nur war. Schon seit Tagen hatte Parland nichts mehr gehört. Die Nachrichtenkanäle waren plötzlich wie verstopft. Aber eines wußte er: Wenn sie ihn abschrieben, wenn sie ihn hier verrotten ließen und sich draußen ein feines Leben auf seine Kosten machten, dann… Ja, dann würde er sie hochgehen lassen. Ohne Gnade. Alle. Ganz rücksichtslos. * „Parland zur Poststelle!“ Die Durchsage kam während der Hofstunde. Parland verließ den Innenhof, wo er in der Sonne an der Mauer gelehnt hatte, und ging zum Postraum. Dazu mußte er eine Treppe hoch und einen langen Gang entlanggehen. Das Laufen fiel ihm schon schwer. Woran es lag, das war kein Geheimnis. Es waren die Ödeme. Er hatte Was100
sersucht, krankhafte Zunahme der im Bindegewebe enthaltenen Flüssigkeit. Dafür gab es mehrere Ursachen: Schwäche des Herzens, der Nieren oder ein osmotischer Fehler. Bei ihm kamen wohl Herz und Nieren zusammen. Sein Herz war nicht in der Lage, die aufgenommenen Flüssigkeiten bis zu den Ausscheidungsorganen vorzutragen. Zumindest behauptete das der Anstaltsarzt. Meistens begann es in den Füßen. Beim Versagen des Herzens reicherte sich das Wasser zunächst in den tiefsten Körperteilen an. Im Zellgewebe um die Fußgelenke. Diese waren bei ihm schon so geschwollen, daß sie teigig standen und Fingerabdrücke als Dellen festhielten. Bald würde die ganze Kontur des Körpers anschwellen. Es würde zu Ergüssen in Brust und Bauchraum kommen. Und daß seine Nieren auch nicht die besten waren, das bewiesen die Anschwellungen im Gesicht, im Bereich der Augenlider. Dr. Parland wußte, daß man ihm in einer Spezialklinik helfen konnte. Der Zugang dorthin war ihm aber versperrt. Erstens war er Häftling, zweitens mittellos. Schon ziemlich müde, kam er in der Poststelle an. Der Beamte holte ein Päckchen vom Tisch. „Dr. Alfonse Parland.“ „Bin ich.“ Immer dieselbe Zeremonie, seit wie vielen Jahren schon? Aber Vorschrift war Vorschrift. Der Beamte öffnete die Verpackung, durchschnitt die Rohwurst und den Kuchen, brach die Schokoladentafeln entzwei. Unten fand er noch ein Medikamentenröhrchen und eine ve rschraubte braune Glasflasche. „Was ist das?“ „Diuretica“, sagte Parland. „Diu… was?“ „Mittel, die den Abgang von Wasser über Niere und Blase fördern. Hab die Erlaubnis dafür.“ „Lasix“, las der Beamte. „Und so was frißt du?“ „Diät wäre noch besser.“ 101
„Das fehlte noch. Sind wir hier im Hilton?“ „Im Fresnes-Hilton“, murmelte Parland, nahm das Päckchen unter den Arm und ging in seine Zelle. Aus der Wurst machte er sich nichts. Die enthielt zuviel Salz. Salz war schädlich für ihn. Die Wurst verschenkte er. Vom Kuchen aß er nur ein winziges Stück. Und nach dem Abendessen nahm er eine Tablette. * Wecken im Zuchthaus Fresnes wie immer Punkt sieben Uhr. Sichtkontrolle an Zelle 143. Der Aufseher trommelte gegen die Tür. „He, aufstehen, Opa, komm hoch!“ Der Häftling rührte sich nicht. Bei der Kaffeeausgabe wurde aufgeschlossen. „Das kostet dich aber Punkte, Parland“, rief der Aufseher und rüttelte an der Pritsche. Dann erst blickte er ins Gesicht des Alten. Parlands Augen waren unnatürlich geweitet, der Mund stand offen, die Zunge schimmerte blau. Der Aufseher tastete seinen Puls ab. „Schon ganz kalt“, stellte er fest. „Tot?“ fragte der Häftling, der die Frühstückskarre fuhr. „Wenn er kalt ist, du Idiot.“ Die Zelle wurde versperrt, der Arzt und der Direktor verständigt. Später, nach der Untersuchung, sagte der Doktor: „Also an der Herzwassersucht lag es mit Sicherheit nicht.“ „Wollen Sie sich etwa damit entlasten, Doktor?“ bemerkte der Direktor vorwurfsvoll. „Seine Ödeme waren im Anfangsstadium. Normalerweise kann dieser Prozeß, ehe er zum Tode führt, Jahre dauern. Also daran lag es mit Sicherheit nicht.“ „Woran dann bitte?“ Der Arzt stand auf. 102
„Ich würde eher auf Zyankali tippen oder auf eine sehr hohe Dosierung von Barbituraten.“ Die Zelle wurde abgesucht. Man fand die Medikamente. Sie wurden analysiert. Die Hälfte der Tabletten enthielt Malonylharnstoff, die Basis vieler Schlafmittel, in absolut tödlicher Konzentration. Wie die Ermittlungen ergaben, hatten die manipulierten Tabletten dem letzten Freßpaket beigelegen. Das Paket war mit der Post gekommen. Man fand noch den Umschlag. Das Paket war in Rouen von einer Madame Jacqueline Dubois in der Rue Degrelle Nr. 144 aufgegeben worden. Die Kripo wurde eingeschaltet. Aber in der Rue Degrelle in Rouen wohnte keine Madame Dubois. Und eine Hausnummer 144 gab es da auch nicht. 11. Der Geheimagent Robert Urban betrat das Erdgeschoß des provençalischen Bauernhauses durch die Terrassentür. Sein Gesicht war versteinert, seine Augen waren von der Sonnenbrille verdeckt. Wie er so im Halbdunkel stand, wirkte er wie ein eiskalter Rächer aus der Unterwelt. „Wo ist Gaston?“ fragte er die Frau auf dem Sofa. Sie blickte auf. Halb überrascht, halb träge. „Nicht da. Sehen Sie doch.“ „Sein Wagen steht in der Remise. Vielmehr Jo Spiekers Wagen.“ Die Frau hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge gehabt, aber der Umstand, daß dieser Mann etwas wußte, was sie sich nur mühsam zusammengereimt hatte, das nahm ihr viel von ihrer vorgetäuschten Sicherheit. „Was geht’s mich an“, antwortete sie frech. „Viel unter Umständen“, sagte Urban. „Mitgegangen, mitgehangen.“ Sie stand auf und strich den Rock glatt. „Was heißt das, mitgehangen?“ 103
Er bezwang den kleinen Muskelschaden, der auch dann, wenn er es nicht wollte, ein Lächeln um seinen Mund spielen ließ. Er bezwang ihn und blieb tödlich ernst. „Es gibt Gesetze“, erklärte er, „ob der Staat sie macht oder die Unterwelt, es sind immer dieselben.“ „Was hat Gaston damit…“ Sie wollte ihn aushorchen, das stand fest. Deshalb antwortete er so, daß sie nur noch mehr in Angst geriet. „Verrat ist Verrat“, sagte er. Sherill Anderson hatte diese Frau nur kurz gesehen, aber ziemlich gut beschrieben. Sie war kurzbeinig und stabil, aber auch voll Kraft innen wie außen. Und nicht häßlich. Eher von einer animalischen Schönheit. Weil sie mit Urban nicht klarkam, versuchte sie etwas anderes. „Mein Name ist Adrienne.“ „Von mir aus.“ „Und wer sind Sie?“ Er lehnte sich gegen die Säule des großen Kamins, kreuzte die Arme und schwenkte den linken Fuß spielerisch vor das Standbein. „Tut nichts zur Sache. Ich warte auf Gaston.“ „Das kann dauern.“ „Ich habe Zeit. Für Ratten braucht man Geduld.“ Er hoffte, daß dies der richtige Ton und die richtige Masche sei. Sie war verunsichert, und ihm standen jetzt alle Richtungen offen. Er konnte Gastons Partner spielen, den Boß oder einen unzufriedenen Kunden. „Was schuldet er Ihnen?“ erkundigte sich Adrienne vorsichtig. „Eine Menge.“ „Gewiß erfüllt er seine Verpflichtungen“, sagte sie. „Er handelt nicht mit indischem Send. Er mußte nur untertauchen. Für eine Weile.“ „Quatsch nicht“, zischte Urban. „Untertauchen und einfach verpissen, das ist zweierlei. Aber uns entwischt man nicht.“ Er schaute sich um. Das Haus mochte im Erdgeschoß drei, 104
oben mindestens zwei Räume haben. Dann gab es noch die Remise und einen Keller. „Wo hat er das Zeug?“ fragte er barsch. Sie drückte die Schultern zusammen. „Bringen Sie mich um, ich weiß es nicht.“ „Du hältst zu ihm, he?“ Sie antwortete nicht, und er fuhr fort, sie zu peinigen. „Und ich sage dir, Gaston lohnt dir dein Schweigen schlecht.“ „Es gibt auch noch so was wie Liebe“, entgegnete sie trotzig. Urban lachte bissig auf. „Liebe“, plötzlich wurde er wieder ernst. „Liebe marschiert durchs Portemonnaie, Madame. Und auf diesem Kanal ist Gaston bald trocken wie ein Wadi in der Sahara.“ „Kann sein“, sagte sie, „kann nicht sein.“ „Ich kriege ihn“, versprach Urban, „es wird Blut kosten, aber es muß nicht unbedingt Blut kosten. Es liegt an dir.“ Sie tat, als verstehe sie nicht, obwohl sie genau wußte, wo es lang ging. Urban ließ nicht locker. „Er hat uns vier Millionen Franc in Devisen unterschlagen, der feine Herr, und gewisse sehr wichtige Pläne. Wo ist das Zeug?“ Daß es um solche Summen ging, damit hatte sie wohl nicht im Traum gerechnet. „Darauf steht Finderlohn“, deutete Urban an, „nicht zu knapp.“ Sie reagierte völlig unerwartet. „Kommst du von den Torros?“ fragte Adrienne mit schrägem Blick. Lässig griff er zum Magnetholster, zog seine 7,65er Mauser ab, ließ das Magazin herausgleiten, prüfte den Sitz der obersten Patrone, schob das Magazin wieder in den Kolben und riß den Schlitten nach hinten. Die Patrone sprang in die Kammer. Der Schlitten schnappte wieder vor. Mit dem Ballen der Linken polierte er die schimmernde Brünierung. 105
„Ich bin weder ein Torero noch ein Terroro“, sagte er, „falls du den feinen Unterschied kennst, Madame.“ Da registrierte sein scharfes Ohr etwas. Schritte näherten sich dem Haus. Ein dumpfes, aber gleichmäßiges Plopp-plopp, erzeugt von einem Mann, der Gummistiefel trug, die zwei Nummern zu groß waren. * Urban packte Adriennes Arm, riß sie an sich und preßte ihr den Mund zu. „Ganz ruhig, Gnädigste“, flüsterte er, Jetzt werde ich versuchen, gewisse Beweise anzutreten. Wenn es mir gelingt, bist du mit ein paar Prozentchen dabei.“ Spontan schien ihr Widerstand zu weichen. Die Muskeln ihrer Schultern und ihres Rückens entspannten sich. Die Gummistiefel tappten näher, zwei Stufen herauf über die Terrasse. Mit einemmal stand er in der Tür. Im Gegenlicht wirkte er größer als erwartet. Sein Kopf war mehr rund als schmal. Das Haar hatte er kurz, um Oberlippe und Kinn wucherte ein dunkler Bart. Er trug Cordhosen in schwarzen Stiefeln, darüber einen Lumberjack aus kariertem Stoff. Seine Stimme klang schneidend. „Da unten steht ein BMW im Gebüsch. War jemand da?“ „Ja, ich“, sagte Urban. „Bleiben Sie stehen, Gaston. Keine Bewegung.“ Die Augen Gastons, der aus der Helligkeit des Mittags hereinkam, gewöhnten sich nur allmählich an das Dunkel. „Wer…“ Urban würgte ihm die Frage ab. „Los, zwei Schritte rein, umdrehn, Hände hoch und gegen die Wände stützen!“ Jetzt erkannte Gaston, was los war. Dort, wo Kamin und Sofa eine Ecke bildeten, stand einer. Mit der linken Hand bändigte er Adrienne und in der Rechten hatte er eine Pistole, die leider nicht wie ein Kinderspielzeug aussah. 106
Trotzdem dachte Gaston nicht daran, der Aufforderung zu folgen. Ostentativ schob er beide Hände in die Taschen. „Du hast sie wohl nicht alle, he?“ rief er mit gespielter Überlegenheit. Urban hatte sofort das Gefühl, daß es mit diesem Burschen nicht einfach sein würde. Der hatte den Mut der Dummen. Gaston vollendete seine Frage: „Wer bist du, wo kommst du her?“ „Wo sind die zwei Millionen?“ fragte Urban dagegen. „Los, tritt zur Kasse, Mann!“ Urban hatte seinen Befehl so formuliert, daß sich Gaston eine Menge denken konnte. Er konnte annehmen, der Fremde käme von der Polizei, ebensogut konnte er aber auch annehmen, daß Urban ein Abgesandter seiner Hintermänner sei. Dies jedoch nur, wenn er am langen Draht geführt wurde, wie Urban hoffte. Nun war es an Gaston, zu reagieren. Er tat es nicht unclever. „Wer schickt dich?“ „Er“, manövrierte Urban. „Und das Geld ist alles, was er will“, höhnte Gaston. „Nur alles Geld, und nichts sonst?“ „Dies und die Gap-Papiere. Das war’s.“ Plötzlich lachte Gaston auf. Urban fürchtete, daß er einen Fehler gemacht hatte. Es mußte an der Erwähnung der Pläne liegen. Wenn Gaston die Pläne weitergeleitet hatte, dann wußte er jetzt, daß er einem Fremden beinah auf den Leim gegangen wäre. Vielleicht sogar einem Polizisten. Gaston reagierte mit erstklassigen Reflexen. „Geh in Deckung!“ schrie er. Das konnte nur Adrienne gelten. Gleichzeitig packte er den schweren Tisch, riß ihn um, so daß er hochkant stehen blieb und ihm die massive Eichenplatte Deckung bot. Im Schutz der zolldicken Hartholzbretter ve rsuchte er das Freie zu erreichen. Urban ließ Adrienne los, sprang über den Tisch und hechtete Gastons Beine an. Er erwischte einen Fuß. Den hielt er fest, und Gaston stürzte hin. Urban, gelenkiger, weil besser im Training als Gaston, war 107
schneller auf den Beinen und über ihm. Er drehte Gaston an der Schulter herum und landete die Faust auf Gastons Kinn. Gaston schluckte den Treffer mit heftigem Kopf schütteln. Einen Moment sah es aus, als gebe er auf und denke nicht mehr an weiteren Widerstand. Urban riß ihn hoch, hatte ihn mit beiden Fäusten an der Jacke und blickte ihm ins Gesicht. „Nicht so hastig, mein Junge.“ Der Ausdruck von Gastons Augen war der eines Mannes, der Angst hatte, weil er wußte, daß es jetzt um alles ging. Normalerweise hatten solche Augen etwas Starres an sich. Bei Gaston jedoch war es anders. Seine Augen zuckten auffällig nach links über Urbans Schulter hinweg. In diesem Augenblick erkannte Urban, daß er seine Rückendeckung in sträflicher Weise vernachlässigt hatte. Ohne Gaston auszulassen, fuhr er herum und sah es kommen. Weil er es kommen sah, konnte er der vollen Wucht dieses Schlages mit dem Fleischklopfer noch ausweichen. Der Holzhammer traf ihn seitlich am Hinterkopf und schrammte mit seiner gezackten Kante am Haar entlang zur Schulter. Adrienne stand da wie eine Furie. Wieder hob sie den Hammer. Sie schwenkte ihn mit einem wilden Schrei erneut gegen Urban. Um das Schlimmste zu verhüten, ließ Urban Gaston los und wehrte mit dem gestreckten Arm den Hammerschlag ab. Adrienne warf sich mit dem Schwung, den sie hatte, auf ihn und riß ihn mit zu Boden. Hinter Urban entstand Bewegung. Ein Strampeln, ein Rumpeln. Gaston ergriff die Flucht Erst schlug er die Innentür zu, dann schwenkte er beide Flügel der Türläden vor und verrammelte sie. Ehe Urban wieder auf den Beinen stand und die Wildkatze Adrienne einigermaßen im Griff hatte, waren sie eingesperrt. Durchs Fenster konnte er nicht. Das einzige Erdgeschoßfenster war vergittert. Außerdem tauchte Gastons Schatten an genau diesem Fenster auf. Ein länglicher rohrartiger Gegen108
stand wurde hereingestoßen. Die Glasscheibe rechts unten zerbarst. In allerletzter Sekunde sah Urban, daß es sich bei dem Rohr um die Läufe einer Schrotflinte handelte. Er warf sich gegen die Wand. Schon donnerte der erste Schuß. Die Ladung platzte in den Raum, einer Wolke explodierender Stahlkugeln gleich. Adrienne schrie. Ihr Schrei ging im Krachen der zweiten Schrotpatrone unter. Adrienne mußte die Ladung vo ll abbekommen haben. Sie fiel an die Wand, die blutenden Hände vor das blutende Gesicht gepreßt. So stand sie da, zitternd, wimmernd vor Schmerz und Verzweiflung. Mit einer Hand tastete sie sich durch den Raum, als könne sie nichts mehr sehen. Draußen knallte eine Autotür zu. Urban stürzte ans Fenster. Es war nicht die Autotür gewesen. Es war der Kofferraumdeckel des Mercedes. Gaston hatte ihn geöffnet, hatte hineingeblickt, ihn wieder zugeschlagen und geflucht. Sekunden später ließ er den Motor an. Der weiße 280S stieß rückwärts aus der Remise, wurde gewendet und raste talwärts davon. Hinter sich vernahm Urban hysterische Schreie. „Ich bin blind“, schrie Adrienne, „dieses Schwein hat mich blindgeschossen!“ * Durch das Haus gelangte Urban ins Obergeschoß. Dort kletterte er vom Balkon über die morsche Pergola auf die Terrasse, öffnete die Riegel der Türläden und überlegte. Bis er bei seinem BMW war, vergingen mehrere Minuten. Dann war Gaston längst über alle Berge. Also kümmerte er sich um die Verletzte. Adrienne lag auf dem Sofa. Es sah schlimmer aus, als es war. Der Feinschrot hatte zwar jeden Quadratzentimeter ihrer Haut verletzt, aber die Wunden gingen nicht tief. 109
Von Erblindung konnte keine Rede sein. Sie hatte zwischen Schußknall und Aufschlag der Bleikügelchen instinktiv die Augen geschlossen. Die Lider hatten den Bleidunst abgehalten. Daß sie nichts sehen konnte, lag daran, daß das Blut die Lider total verklebt hatte. Urban ließ sie jedoch bei der Meinung, daß sie nie mehr würde sehen können. Die Schockwirkung konnte er gut gebrauchen. „Dein Gaston“, sagte er, „scheut vor nichts zurück, wie mir scheint.“ „Ich wußte es ja“, keuchte sie, „daß er ein Hundesohn ist. Bitte, hilf mir!“ „Ja, ich werde einen Arzt rufen“, versprach er. „Bitte, rasch!“ drängte sie und dann wieder wütend: „Verdammt, was stehst du hier noch rum!“ „Madame“, sagte er daraufhin so eisig wie nur möglich, „ohne mich bist du hier aufgeschmissen. Eh bien, ich hole einen Arzt, ich veranlasse, daß man dich ins Hospital bringt. Es gibt gute Ärzte, und auch die Augenmedizin vollbringt heute Wunder, vorausgesetzt, der Eingriff erfolgt früh genug. Sagen wir, bevor Netzhaut und Sehnerv irreparabel geschädigt sind. Aber…“ „Zum Teufel, was denn noch aber“, fauchte sie mit Lippen so dick, als habe sie einen Faustkampf hinter sich. „Ich bin nicht der biblische Samariter“, fuhr Urban fort, „ich leiste nur Wohltat gegen Wohltat.“ „D’accord. Um was geht es. Was willst du noch?“ „Wo hatte Gaston das Zeug?“ „Weiß nicht“, sagte sie und tat sich beim Spreche n schwer, „welches Zeug du meinst. Er hat einen schmalen schwarzen Koffer. Den hat er immer im Auto. Und den Schlüssel gab er nie aus der Hand.“ „Merci, Madame, doch das hilft mir jetzt leider wenig. Dein Cherie hat uns nämlich verlassen. Letzte Frage: Was bedeutete vorhin die Bemerkung, ob ich von den Torros käme?“ „Das habe ich nur so gesagt.“ 110
„Keine Antwort, kein Arzt“, drohte er. Sie tastete ihr Gesicht ab. Die Blutung aus den feinen Schrotverletzungen stand und begann zu verkrusten. „Gaston macht Geschäfte mit ihnen.“ „Und es handelt sich nicht um Stiere, sondern um Terroristen.“ „Er kürzte immer mit Torros ab“, äußerte sie weinerlich. „Es ging um die Gap-Papiere.“ „Er hat mit mir nie darüber gesprochen. Mußte mir immer alles zusammenreimen. Aus Einzelheiten, aus Dreck an seinen Schuhen, aus dem Kilometerstand des Autos, aus Benzinquittungen, aus Bemerkungen und Versprechern, die ihm manchmal ungewollt entschlüpften.“ „Adrienne“, drang Urban in sie. „Gaston hat sich in den Besitz von Plänen gebracht, die die Sicherheit Frankreichs und Europas gefährden, wenn sie in die Hände falscher Leute gelangen. Du mußt uns helfen.“ „Und wer bist du?“ „Ich bin vom Geheimdienst.“ Das schien sie weder zu beeindrucken noch auf irgendeine Weise zu berühren. „Na, wenn schon. Jetzt ist doch alles egal.“ „Wenn du uns hilfst, wird das dein Schaden nicht sein, Adrienne.“ „Indischer Sand, he“, höhnte sie, „alles indischer Sand. Leere Versprechungen, nichts sonst.“ Urban erinnerte sich, daß es in der Ganovensprache diesen Ausdruck gab. Er bohrte weiter. „Gaston traf also die Torros.“ Sie nickte schwach. „Wo?“ „Zweiundzwanzig Kilometer von hier. Hin und zurück.“ Dieses Mädchen schien nach Gastons Rückkehr jedesmal den Tachostand abgelesen zu haben. Leider war das noch zu wenig. Wenn man den Meeressektor ausschloß, dann lebten in der anderen Hälfte des mit elf Kilometern Radius zu schlagenden Halbkreises vielleicht zweihunderttausend Menschen in fünfzigtausend Häusern, verteilt auf einhundertneunzig Quadratki111
lometer Fläche. Außerdem pflegten solche Torros mobilisiert zu sein und sich nicht lange an einem Ort aufzuhalten. „Was fiel dir noch auf, Adrienne?“ „Weißer Staub an seinen Schuhen.“ „Den gibt es überall. Weiter, noch was?“ „Lippenstift am Taschentuch. Aber es war nicht mein Lippenstift. War eine andere Farbe, war zum Glück überhaupt kein Lippenstift, sonst hätte ich ihn erschlagen. Da wartet man auf so einen Kerl, bis er aus dem Gefängnis kommt. Dann kommt er ohne einen Sou in der Tasche. Man muß arbeiten gehen. Er aber lebt munter vom Ersparten seiner Braut und läßt sich von ihr aushalten. Aber nicht mit Adrienne. Ich bin doch keine Nutte.“ Urban hatte das Gefühl, daß das Verhältnis dieser Frau zu Gaston seit kurzem beendet war. „Was sich dieser Mercier bloß einbildet“, fuhr sie fort, „dieser miese kleine Ganove.“ „Und was war das für Farbe am Taschentuch?“ „Braune Schmiere. Von ‘nem Gartenhaus oder von einer Bank. Stank ziemlich.“ Er versuchte es immer wieder, aber sie hatte sich erschöpft. In jeder Hinsicht. Sie wußte einfach nicht mehr als das, was sie schon erzählt hatte. Er stand auf, nahm seine Mauser vom Boden und hängte sie an den Holstermagneten. „In einer Stunde“, versprach er, „ist der Doktor da. Adieu, Madame.“ * Urban startete seinen BMW, fuhr aus der Deckung und ließ ihn durch den Tunnel zu dem Fischernest hinabrollen. In einem der Häuser war ein Bistro. Urban nahm einen Kaffee und telefonierte. Wenn hier schon allenthalben mit indischem Sand gehandelt wurde, dann wollte wenigstens er sein Versprechen einhalten. 112
Es gelang ihm, einen Arzt auf zutreiben. Zum Patron sagte er: „Wenn der Doktor kommt, schicken Sie ihn zu dem Haus oben in den Obstgärten. Dort liegt eine verletzte Frau.“ Der Patron nickte nur, nahm den Geldschein, gab heraus und schlug weiter Fliegen tot. Urban nahm den schmalen steilen Pfad zur Hauptstraße. Nach etwa neunhundert Metern sah er einen Wagen seitlich im Graben hängen. Der Kofferdeckel stand offen. Das Auto war mühelos als weißer Mercedes 280-S zu identifizieren. Langsam rollte Urban näher. Am Mercedes war auch die Tür der Fahrerseite offen. Wo vor kurzem die Windschutzscheibe gewesen war, steckten nur noch Glasreste in der Gummidichtung. Urban fuhr vorbei bis in den Hohlweg. Dort ratschte er die Bremse an, stieg aus und näherte sich vorsichtig dem Mercedes. Es war der Wagen von Jo Spieker. Das Hamburger Kennzeichen bewies es. Gaston schien einen Unfall gehabt zu haben. Dabei war ihm die Frontscheibe kaputtgegangen. Im Wagen und außen lagen eine Menge Glasbrösel. Urban schlich um das Auto herum und suchte nach weiteren Hinweisen. Da entdeckte er das Loch in der Kühlermaske. Es stammte zweifellos von einer Gewehrkugel. Nun suchte er gezielt und fand noch mehrere Einschüsse. Einer davon war bis zur Zündspule durchgeschlagen, hatte ihr Gehäuse aufgerissen und den Motor dadurch lahmgelegt. Ohne Zündung ging einfach nichts mehr. Urban kombinierte, daß erst eine Kugel die Scheibe getroffen und undurchsichtig gemacht haben mochte. Gaston war ausgestiegen, um die Glasreste zu entfernen. Weil sich der Mercedes anschließend nicht mehr bewegen ließ, hatte er für seine Flucht die Beine verwendet. Als sich Urban daran machte, das Innere des Wagens abzusuchen, Handschuhfach, Türtaschen, den Raum unter und hinter den Vordersitzen, sang dicht an seinem Kopf ein giftiges Insekt vorbei. 113
Erst einen Sekundenbruchteil später erreichte der Abschußknall sein Ohr. Der Schütze saß irgendwo westlich von ihm gedeckt in den Felsen oder auf einem Baum. Abstand vielleicht hundertfünfzig Meter. Wieder ein Schuß, ein Schlag gegen den Fensterholm, gefolgt vom Sirren des Querschlägers. Urban sprang in Deckung. 12. In der BND-Zentrale liefen nur karge Nachrichten ein. Aber alles, was aus Südfrankreich kam, hatte Gewicht und wurde auf das Mosaik übertragen. „Zumindest scheint Urban jetzt die Marionette zu haben“, sagte der Chef. „Dann bekommt er eines Tages auch den Puppenspieler, der sie an den Fäden führt.“ „Hoffen wir es“, brummte der Oberst. „Wie war doch der Name?“ „Gaston Mercier.“ „Und was brachten Sie über ihn ans Licht?“ „Nicht viel. Urbans Information ist ja erst eine Stunde alt. Natürlich haben wir uns sofort mit Interpol und der Pariser Sûrete in Verbindung gesetzt. Mercier saß vor kurzem noch ein. Wegen Verdachtes der Beteiligung an einem Straßenraub. Der Verdacht ließ sich aber nicht erhärten.“ Sebastian war aufgestanden und hatte sich mit seiner Virginia ans Fenster begeben. Dort qualmte er jetzt die Gardinen voll. „Und weiter?“ „Mercier beantragte Haftentschädigung.“ „Unwichtig. Weiter!“ „Er saß mit einem gewissen Dr. P arland in einer Zelle.“ „Kommen wir über diesen Mann weiter?“ „Leider nein. Der Häftling Parland ist verstorben.“ „Im Zuchthaus.“ „Gewöhnlich stirbt man dort gar nicht so leicht“, bemerkte 114
der Assistent, „man wird selten von der Eisenbahn überfahren und stürzt im Gefängnis auch kaum mit dem Flugzeug ab. Wenn es hoch kommt, zieht man sich vielleicht eine Erkältung zu. Dr. Parland hatte Herzwassersucht.“ „Na, bitte.“ „Er wurde aber ermordet.“ Der Oberst fuhr ruckartig herum. „Und dieser Mercier saß bei ihm vo rmals in der Zelle.“ „Richtig.“ „Ob das vielleicht Absicht war?“ Der Oberst begann, weil sein Oberkombinator Robert Urban nicht zur Stelle war, ein eigenes Kombinationsspielchen. „Mal angenommen“, sagte er, „nein, lieber nicht“ „In der Tat könnte Dr. Parland ein Mittelsmann für Gaston gewesen sein“, bemerkte Sebastians Assistent. „Die Vermutungen der Sûrete laufen durchaus in dieser Richtung.“ „Dann sollten wir verdammt Monsieur Gaston Mercier suchen.“ „Urban ist schon hinter ihm her.“ „Weiter!“ drängte der Oberst. „Was berichtet Nummer achtzehn sonst noch?“ „Den möglichen Verkauf der Gap-Pläne an Terroristen.“ Dies schien den Oberst geradezu zu schockieren. „Haben Sie das schon weitergegeben?“ „Wollte erst mit Ihnen darüber…“ „Das ist Sache der französische n Abwehr. Sofort ein Blitzgespräch mit SDECE in Paris – das können wir ja gar nicht ve rantworten, das muß von unseren Schultern runter, muß das.“ „Urban nimmt ferner an, daß Gaston Mercier auch Jo Spieker umbrachte.“ „Hat er Beweise?“ „Ein Mann, der Spiekers Wagen benutzt, um sich damit als Tourist zu tarnen, muß wohl in der Nähe gewesen sein, als es Spieker den Kopf vom Rumpf riß.“ „Ein feines Früchtchen, dieser Mercier.“ 115
„Später feuerte er auf seine Freundin zwei Schrotladungen ab, nur, um wegzukommen.“ „Er kannte ja auch bei unserem Kurier keine Hemmungen“, ergänzte der alte Oberst. Plötzlich fiel ihm der Haufen Geld, der aus dem Reptilienfonds lockergemacht worden war, wieder ein. „Und wie steht es mit dem Money-money?“ „Kein Schein in Sicht.“ „Meldet Urban?“ „Er nimmt an, daß man auch Gaston Mercier um den Lohn der Angst geprellt hat. Ein riesiger Haufen von indischem Sand rundum.“ Oberst Sebastian drehte, wenn er gewisse Zusammenhänge oder Andeutungen nicht verstand, an seinem Monokel, als würde durch das Glas auch sein Verstand geschärft. „Indischer Sand, was ist das denn nun wieder?“ „Ganovenausdruck für leere Versprechungen.“ Offensichtlich konnte der Alte wenig damit anfangen. Also kam er zu den Fakten zurück. „Wo ist Urban jetzt?“ „Auf dem Weg zu den Terroristen.“ „Er weiß, wo sie sitzen?“ „Nein.“ „Wie kann er dann…“ Der Oberst strich sich seufzend über die graue Igelfrisur. „Er kann’s. Wenn einer es kann, dann kann er es.“ Mit seinen kurzen schnellen Schritten ging Sebastian zur Tür. An der Tür fuhr er wie eine Spindel herum, als befände er sich noch in seinem Tiger-Panzer am Dnjepr und gebe das Signal zum Angriff. „Noch was sonst?“ „Nichts mehr sonst, Herr Oberst.“ Da schrillte das Telefon. Der Assistent hob ab. „Das Blitzgespräch Paris.“ „Legen Sie es rüber“, befahl der Oberst, „in mein Büro.“ Hart schloß er die schalldichte Tür hinter sich. Sein Telefon blinkte hektisch gelb. Er nahm den Hörer ab. Die Blinklampe 116
verlöschte. Am anderen Ende war der französische SDECE und zum Glück einer, der Deutsch konnte. „Hallo, Colonel“, rief er, „es ist nicht unsere Art, uns in Sicherheitsprobleme anderer Länder einzumischen. Aber erstens hat man uns darum gebeten, zweitens planen Terroristen einen Besuch bei Ihren Raketen-Abschußbasen in Albion.“ 13. Der Mann im Bootshaus lebte nur noch auf kleiner Flamme. Schwer verletzt hatte er sich bis zum Matratzenlager geschleppt. Dort war er zusammengesunken. Mit dem Oberkörper lag er auf dem Kapokpolster. Seine Füße hingen zu Boden. Er war barfuß und es fror ihn. Nicht nur wegen der Kälte unten am Wasser, sondern auch weil ihn der Blutverlust schwächte. Schüttelfrost peinigte ihn entsetzlich. Seinen Körper durchrasten Kälteschauer. Jeder einzelne ließ die Stellen, wo man ihn getroffen hatte, nur noch stärker schmerzen. Dieser Killer war ein Ausbund an Brutalität gewesen. Brutaler als der härteste Bursche seiner Clique. Jetzt knarrte die Tür schon wieder. War er zurückgekommen, um ihm den Rest zu geben? Der Verletzte auf der Matratze hob den Kopf und drehte ihn halb zu dem an der Tür hin. „Los, schlag zu“, keuchte er, „aber so, daß es rasch geht.“ Der Fremde stand breitbeinig über ihm und tat gar nichts. „Bitte, Mercier“, flehte der Mann, „tun Sie es. Quälen Sie mich nicht. Machen Sie es kurz.“ „Ich bin nicht Mercier“, sagte Bob Urban. Es war nicht so, daß der Verletzte gleich Hoffnung schöpfte. Er lag da und schien auf irgend etwas zu warten, das ihm die Schmerzen nahm. Plötzlich fing er an zu schluchzen. Seine Schultern bebten. Er blickte den Fremden an, und in seinen Augen standen Tränen. „Warum ausgerechnet ich?“ 117
„Weil du hier bist.“ „Ich sollte doch nur…“ „Egal. Du bist greifbar und die anderen nicht. Wo stecken sie?“ „Das wollte auch Mercier – wissen.“ „Du hast es ihm gesagt?“ Der Junge, er war höchstens zwanzig, ein echtes Milchgesicht noch, wälzte sich herum, stöhnte und lag wie benommen da. „Wer sind Sie, Mann?“ „Tut nichts zur Sache, oder?“ „Wie fanden Sie uns?“ Urban lächelte mitleidig. „Radius von St. Raphael aus elf Kilometer. Muschelsand an den Schuhen. Benzinquittung einer Tankstelle in der Tasche und nach Karbolineum stinkende Schmiere an einem Taschentuch.“ „Eine Art Sherlock Holmes, he?“ „Wer war bitte Sherlock Holmes“, antwortete Urban kopfschüttelnd. „Der Drogist hier am Ort verkaufte in diesem Jahr nur einmal Karbolineum, und zwar an den Mann, dem dieses Bootshaus gehört. Es ist ganz frisch eingepinselt worden. Man geht die Treppe herauf und hat es an den Fingern. Wann war Gaston da?“ „Zweimal. Als er uns aufs Kreuz legen wollte wegen der Pläne – und vor wenigen Stunden.“ Für Urban wurde der Durchblick immer klarer. Gaston Mercier hatte sich einige Zeit im Besitz der Gap-Papiere befunden. Daß er sie den Geheimdiensten gegen zwei Millionen aushändigen sollte, war nie geplant. Bei denen sollte er nur abkassieren. Der eigentliche Abnehmer war diese Terroristengruppe. Mit ihnen hatte er verhandelt. Aber irgendwie hatte sich eine Panne eingeschlichen. Vielleicht besaß Gaston die Pläne gar nicht mehr und wollte trotzdem abstauben. Jetzt um so mehr, als auch der Geldkoffer mit den BND-Millionen nicht mehr vorhanden war. Jetzt ging es offensichtlich nicht nur um indi118
schen Sand, sondern um eine ganze Wüste voll indischen Sandes. „Du bist doch nicht der einzige Spinner“, sagte Urban. „Wir sind vier in der Gruppe.“ „Wo sind deine Freunde?“ „Weg, um das Geschäft zu tätigen.“ „Mit Gaston?“ „Nein, Gaston ist abgehängt. Das Geschäft läuft jetzt von Boß zu Boß.“ „Und wo?“ „Im Ausland. Aus Sicherheitsgründen. Wimmelt ja überall nur so von Polypen.“ „Italien?“ „Schweiz, glaube ich“, sagte der verletzte Terrorist, „Luzern oder Zürich.“ „Natürlich hast du das auch Gaston erzählt.“ „Ich konnte nicht anders. Dieser Mann ist eine Bestie.“ „Weiß ich“, sagte Bob Urban, „aber ich bin auch eine Bestie, wenn du mich belügst, du Pimpf du.“ Das Überbleibsel der Gruppe versuchte zu lächeln. „Ich habe die Schnauze voll. Mann, glauben Sie mir. Von diesen verquasten Reden, von diesen verquasten Ideen. Ich haue ab, sobald ich wieder laufen kann. Hatte schon gestern abzischen sollen. Schon längst hätte ich die Kurve kratzen sollen, schon in Bordeaux.“ Urban schnappte Bordeaux auf und überlegte. Was war in Bordeaux gewesen? Da war doch etwas, erst vor kurzem. Er schnippte mit den Fingern. „Der Banküberfall.“ „Bordeaux“, zählte der Ex-Terrorist auf, „Clermont-Ferrand, Nantes, Perpignan. Millionen von Franc. Ganze Säcke voll. Und wozu das alles? Um den verquasten Wahnsinn nur noch höher zu treiben.“ Der Bursche war so fertig, daß er Urban für eine Art Beichtvater hielt. Aber Urban tat ihm den Gefallen und spielte die Rolle. 119
„Sprich dich aus, mein Sohn“, sagte er im Priesterton. „Sie haben sich durch Bankraub finanziert. Ich fuhr nur den Wagen. Glauben Sie mir, Monsieur.“ „Und eure Ziele?“ Der junge Bursche schien zu spüren, daß Urban ihn ernst nahm, ohne ihn gleich zu verhöhnen oder zu verspotten. „Die Freiheit“, sagte der Terrorist, „ist große Freiheit für alle.“ „Gibt es ein Land mit mehr Freiheit für den Einzelnen als Frankreich?“ „Es geht nicht um unsere Freiheit, Monsieur, sondern um die der Unterdrückten.“ „Also politische Motive.“ „Alles ist politisch, Monsieur. Es gibt nichts Unpolitisches auf der Welt. Alles hat politische Bezüge. Sagen Sie mir, was nichts mit Politik zu tun hat, und wir machen Sie zu einem neuen Messias.“ Der Junge war voll vo n solchen Sprüchen, aber letzten Endes holte Urban aus ihm heraus, daß sie Frankreich noch immer für eine große Nation mit Macht und Einfluß in der Welt hielten und daß sich viele Dinge, sei es in Südamerika, in Afrika, im Orient und in Asien verändern ließen, wenn man Frankreich unter Druck setzte. „Sehen Sie“, fuhr der junge Terrorist fort und schien sich an seinen eigenen Reden zu stärken, „diese Atomraketenstellung am Albion-Plateau kam uns wie gerufen. Die Raketen reichen fast viertausend Kilometer weit. Man kann, wenn man einen Radius von viertausend Kilometern schlägt, eine ganze Menge von Regierungen damit beeinflussen, Menschlichkeit in der Praxis auszuüben. In England und Deutschland werden sie schon bestraft, wenn sie eine Katze quälen. Aber überall in der Welt faulen Unschuldige in Gefängnissen und sterben Hunderttausende in den Kerkern wahnsinniger Diktatoren. Und keine Großmacht entsendet auch nur eine Kompanie Soldaten, um diesen modernen Neros die Eier zu schleifen. Im Gegenteil, man geht mit diesen Herrschaften sogar zu Tisch und zahlt 120
ihnen Entwicklungshilfe, damit sie sich Waffen kaufen können, um noch mehr Menschen umzubringen. Hier sollte man doch endlich mit Denkprozessen ansetzen. Die alten eingefahrenen Staatsmänner können das nicht mehr. Wir Jungen müssen das tun und ihnen in die Ärsche treten. Haben Sie das?“ „Terror ist durch Terror nicht auszuschalten“, erklärte Urban ein wenig hilflos. „Okay“, sagte der junge Mann, „womit dann, bitte? Sagen Sie es uns, und Sie sind unser neuer Messias, mein Herr.“ Urban steckte sich eine MC an. Allein mit den Augen bat ihn der Verletzte um ein Stäbchen. Urban steckte also zwei an und schob ihm eines zwischen die Zähne. „Wo nun in der Schweiz sind deine Kumpel?“ „Das wußten meine Freunde selbst nicht“ „Wenn man einen Mann trifft, um ihm etwas abzukaufen, muß man doch Ort und Stunde verabreden.“ „Non, er gab uns weder Ort noch Stunde an. Er gab meinen Freunden nur ein Stück Landkarte. Ein Stück aus einem Atlas gefetzt. Irgendwo in der Nähe würde man sich treffen.“ Urban hatte einen Einfall. „Heißt das, daß der Verkäufer der Pläne gar keinen festen Standort hat?“ „Das vermuten meine Freunde.“ „Er wechselt seinen Aufenthaltsort also. Die Übergabe findet an einem Ort statt, an dem er sich sicher fühlt.“ „Kann sein, Monsieur.“ Urban fürchtete, daß es unter diesen Umständen schwer sein würde, die Aktion zu verhindern. Da es aber den Anschein hatte, daß auch Gaston Mercier in die Schweiz weitergeeilt war, gab es vielleicht doch eine Möglichkeit, das Programm zu stoppen. Vielleicht kannte Mercier ein paar Einzelheiten, auf die es ankam. Vielleicht war ihm die Marke des Fahrzeugs bekannt, das der jetzige Besitzer der Pläne benutzte. Oder er versuchte einfach, die Terroristengruppe einzuholen. „Welchen Weg nahmen deine Freunde in die Schweiz?“ 121
„Sie fliegen, Monsieur. Ab Nizza. Sie sind wohl schon in Zürich gelandet“ Urban schaute auf die Uhr. Es ging auf Abend. Ein schönes Stück, was er an einem Tag geschafft hatte, aber wohl doch zu wenig, um noch irgend etwas verhindern zu können. „Na, dann gute Besserung“, wünschte er. „He, wollen Sie mich hier krepieren lassen?“ jammerte der Junge. „In deinem Alter geht das nicht so schnell“, tröstete ihn Urban. Er hatte jetzt andere Sorgen. * Weil Telefone die Entfernungen noch etwas schneller überbrücken als Jet-Flugzeuge, nutzte Urban die einzige Chance, die ihm blieb. Er rief Zürich an. Und zwar beim Sicherheitsbüro. Es war der Kripo übergeordnet. Ein Mann namens Ruegg meldete sich. Urban erklärte dem Kollegen Ruegg, um was es ging. „Das sieht ja fast so aus“, sagte der behäbige Schweizer, „daß wir jetzt die Läuse in den Pelz bekämen.“ „Ich helfen Ihnen, sie rasch wieder loszuwerden.“ „Und wie das, bitte?“ fragte der Schweizer in filmreifer Wortbetonung. „Indem Sie mir helfen, sie zu schnappen.“ „Wenn ich Sie aber recht verstanden habe, Urban“, entgegnete der Mann in Zürich, „verfügen die Täter über eine mobile Basis.“ „Um die geht es.“ „Wie sollen wir diese aber auffinden? In wenigen Minuten ist es bei uns Nacht.“ Urban nannte dem Beamten die Flugnummer der Air-FranceMaschine, mit der die Terroristengruppe von Nizza nach Zürich geflogen kam. 122
Kommissar Ruegg unterbrach für die Dauer eines kurzen Stadtgeprächs vom Nebenapparat. Dann kam er wieder. „Da hätten Sie uns wenige Minuten früher anläuten sollen, Herr Kollege.“ „Die Maschine ist also schon gelandet“ „Nach meinen Informationen vor wenigen Minuten. Die Passagiere sind bereits durch den Zoll und kaum mehr observierbar.“ „Versuchen Sie es trotzdem. Über einen Autoverleih vielleicht.“ „Wir werden sehen. Haben Sie noch ein paar so feine Tips?“ „Allerdings. Vermutlich wird ein Mann mit Namen Gaston Mercier versuchen, eine Ihrer Grenzstationen zu passieren.“ Urban hängte eine Beschreibung Merciers an. „Welches Fahrzeug benutzt er?“ „Keine Ahnung.“ „Nun, das ist auch sehr dürftig. Ich werde es trotzdem weiterleiten. Aber das Ergebnis kenne ich schon jetzt“ Schließlich gab Urban dem Züricher Kollegen einen letzten Hinweis. Er konnte nicht garantieren, daß sie auf diesem Weg weiterkamen. Der Tip war ein wenig überzeugendes Ergebnis seiner Kombinationsbemühungen und mit zu vielen Anteilen Phantasie behaftet. Aber man durfte nichts unversucht lassen. Der Schweizer kommentierte entsprechend. „Das sieht doch alles furchtbar trübe aus.“ „Damit haben wir drei Stränge“, erwiderte Urban. „Wenn wir sie alle drei verfolgen, sollte man doch auf einem davon Glück haben.“ „Wir tun, was wir können“, versicherte der Schweizer. „Wann sehen wir uns?“ „Morgen früh“, sagte Urban. „Ich fahre sofort los.“
123
14. Als der Sicherheitskommissar in Zürich den rechten Sessel des BMW-Coupes einnahm, war Bob Urban insgesamt neununddreißig Stunden unterwegs. Er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft und hatte den Wunsch, mit halber Kraft über die Runden zu kommen. „Ich brauche einen Kaffee“, erklärte Urban. „Wissen Sie, wann ich in München losgefahren bin?“ „Dachte, Sie kommen von der Riviera“, wandte der korpulente Ruegg ein. „Stimmt, geradewegs. Aber am Sonntag nacht 22 Uhr habe ich mich von München auf den Weg nach Cannes gemacht.“ Ruegg rechnete. „Und jetzt haben wir Dienstag, halbneun. Geschlafen?“ „Nicht eine Minute.“ Der Kommissar öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr eine Thermos. „Selbstgefiltert. Das wird Sie auf die Beine bringen.“ „Ein Bein würde mir schon genügen.“ „Dauert ja nicht mehr lange“, deutete der Schweizer an. „Zwei von Ihren Tips waren zwar ein Schlag ins Wasser, aber beim letzten hat es funktioniert In der allerletzten Minute.“ Urban erfuhr vom Erfolg der Schweizer Sicherheitsbehörden. „Wir konnten die Spur aufnehmen“, berichtete Ruegg. „Sie zog sich bis zum Vierwaldstätter See. Dort endete sie an einer Wiese unten am Ufer.“ „Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?“ erkundigte sich Urban gähnend. „Die einfachsten der Welt“, sagte der Eidgenosse. „Methode Mausefalle. Man kommt hinein, aber nicht mehr heraus.“ „Sie sperren die Straßen.“ „Straße, Schiene und Luftraum. Auch der See wird überwacht, damit uns die Burschen nicht per Motorboot nach der Südseite hin entkommen. Da oben zieht sich nämlich die neue 124
Autobahn entlang. Wenn sie die einmal erreicht haben – nun, Sie wissen, wie schwer sich dann Verfolgungen gestalten.“ Der Kommissar zeigte Urban die Straßenkarte. Sie bogen nach Zug ab, um über Schwyz den Seeort Brunnen zu erreichen. Der Kaffee und die Aussicht, doch noch ans Ziel zu kommen, hatten Urban noch einmal munter gemacht. „Ihre Männer halten genügend Abstand?“ „Sie werden nicht einen einzigen entdecken, so gut getarnt sind sie“, versicherte der Kommissar. Wenn nur die Hälfte von dem zutraf, was Ruegg versprach, war Urban schon sehr zufrieden. Um neun Uhr vierzig erreichten sie den Befehlsstand. Er lag in einer Baumgruppe etwa zwei Kilometer westlich von Brunnen, ein Stück oberhalb der Straße. Man hatte einen umfassenden Blick über See und Ufer. Ruegg reichte Urban ein Glas. „Dort, neben der grüngestrichenen Hütte.“ Urban regulierte die Schärfe für seine Augenverhältnisse. Er bekam die Scheune ins Glas, den Fahrweg vom Haus zum Ufer hinab und den Schlagbaum. „Ein Campingplatz“, murmelte er. „Um diese Jahreszeit ist er natürlich noch leer.“ Urban suchte weiter. Ganz am Ende des Platzes, halb verdeckt von Buschwerk, sah er einen länglichen weißen Gegenstand. Tatsächlich, das war er. Er hatte also richtig kalkuliert „Der Wohnwagen“, sagte Urban befriedigt. „Der von Ihnen beschriebene Trailer“, ergänzte der Schweizer. „Neun Meter, Tandemachse, Hamburger Kennzeichen. Meine Leute kamen bei den Huetli-Appartements an, als der Wagen gerade weggezogen wurde. Frage…“ „Aber bitte“, gestattete Urban. „Wußten Sie von der Existenz dieses Wohnwagens?“ „Aber ja“, erklärte Urban. „Und der Mann, der ihn jetzt verwendet, muß auch davon erfahren haben. Jetzt benutzt er ihn 125
für seine Zwecke. Wohnwagen mit deutschem Kennzeichen, eine hervorragende Tarnung.“ „Nur eben ein wenig auffällig, wenn man genau hinschaut und feststellt, daß er von einem Peugeot mit französischem Kennzeichen gezogen wird.“ „Man kann nicht an alles denken“, sagte Urban. „Wenn unsere Gegner so penibel wären, daß ihnen kein Fehler mehr unterläuft, dann wären wir übel dran.“ Es ging auf zehn Uhr. „Was schlagen Sie vor?“ fragte der Schweizer. „Greifen wir zuerst den Mann im Campinganhänger und dann die Terroristen oder umgekehrt?“ Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Über Sprechfunk kam eine Durchsage aus Brunnen. „Personenkraftwagen, besetzt mit drei bärtigen Männern, auf dem Weg nach Gersau. Haben sich in Brunnen nach dem Campingplatz erkundigt.“ „Das sind sie“, sagte Urban. Stufe eins dauerte nur acht Minuten. Dann war alles vorbei. Einen halben Kilometer vor dem Campingplatz rollte vor dem Citroën ein Bauernfuhrwerk. Der Citroën hupte und wollte vorbei. Der Bauer machte auch Platz und der Citroën überholte. Genau in diesem Moment scherte der Bauer nach links aus und drängte den Citroën in die Wiese. Die Wiese stand fußhoch unter Wasser. Mit seinem Frontantrieb wühlte sich der Citroën sofort ein. Vielleicht hatte der Motor auch zuviel Gas bekommen. Jedenfalls stiegen zwei der Insassen aus und schoben. Sie mühten sich ab und brachten den Wagen meterweise in Richtung der Straße. Als sie an nichts anderes dachten, als daß ihr Auto wieder flottkam, sprangen plötzlich Männer der Züricher Sondereinheit aus dem Wald. Sie kamen von allen Seiten, von oben und von hinten. Sie umringten die Terroristen und ließen ihnen keine Gelegenheit, die Waffen zu ergreifen. Einer versuchte es trotzdem. 126
Ihn erwischte eine lautlose Narkosepatrone. Inzwischen hatte der Fahrer aber ein trockenes Stück Straße unter den Rädern. Er versuchte den Durchbruch. Auf Brunnen zu rammte er eine Straßensperre. Schließlich gab auch er nach heftigem Widerstand auf. Um 10 Uhr 10 kam die Durchsage, daß Phase eins der Aktion beendet sei. Die drei Männer saßen gefesselt im Transportwagen. Die Polizisten warteten auf weitere Anweisungen. „Und nun“, wandte sich der Züricher Kommissar an Urban, „was jetzt?“ „Ich habe beim Militär etwas gelernt“, sagte Urban. „Nach dem Gefecht begräbt der Soldat seine Toten und marschiert weiter. Ich kümmere mich jetzt um den Wohnwagen.“ Kommissar Ruegg hatte das Glas an den Augen. „Vorhin ging da unten einmal die Tür auf. Vielleicht hat Ihr großer Unbekannter seinen Morgenspaziergang beendet. Aber jetzt ist es wieder still dort. Verdächtig still ist es. Niemand zu sehen.“ „Mal gucken“, murmelte Bob Urban und setzte sich in Bewegung. * Urban marschierte durch das taunasse Gras am Ufer entlang, damit man ihn vom Hamburger Trailer aus nicht sehen konnte. Wie immer, wenn ein Fall in sein letztes Stadium trat, und es nur noch Minuten dauerte, bis sich alles entschied und klärte, fühlte Urban eine seltsame Leere in sich. Auch die freundliche Natur, die Sonne auf dem See, die Berge mit dem Schnee hoch oben, die jungen Blüten, der gaukelnde Zitronenfalter, nichts von all dem löste ein Echo in ihm aus. Vorsichtig, wie er es gelernt hatte, umging er den weißen Wohnwagen und näherte sich ihm im toten Winkel. Neben dem Trailer stand ein neuer Peugeot 604 mit Pariser 75er Nummer. 127
Urban trat aus dem Gebüsch, überwand lautlos den letzten Meter und legte sein Ohr an. Moderne Trailer waren für gewöhnlich gut isoliert. Dennoch drangen gewisse Frequenzen durch die Wände. Urban lauschte minutenlang. Er hörte eine Art Schnorcheln. Sonst war nichts wahrzunehmen. Auch keine Bewegung im Innern. Nun stieg er auf die Zugdeichsel und schaute durch die getönte Frontscheibe. Was er sah, erschreckte ihn nicht. Es befriedigte ihn zwar nicht, aber es regte ihn auch nicht weiter auf. Er hatte mit so einer Entwicklung gerechnet Dann ging er um den Wohnwagen herum und öffnete, ohne anzuklopfen, die Tür. Sie war unversperrt. Ein, zwei Mücken flogen heraus und Wärme schlug ihm entgegen. Wärme mit Schlachthausgeruch. Am Boden zwischen dem Schrank und der kleinen Bordküche lag Gaston Mercier. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Genau zwischen den Augen hatte er ein Loch in der Stirn. Was für ein Schuß! Er hatte wohl versucht seinem Boß, den er nicht kannte, aber von dem er wußte, daß er Jo Spiekers Wohnwagen benutzte – denn von ihm hatte er über Parland Spiekers Adresse zugespielt bekommen –, diese hinterlistige Tour auszureden. Und der Boß hatte gehandelt wie immer. Wie oben in St. Raphael, als er Gaston das Geld wegnahm und ihm den Mercedes zerschoß, wie in Fresnes, wo er den Kontaktmann Parland mit Tabletten tötete. Blitzschnell hatte er reagiert und seinen letzten Zeugen stumm gemacht. Das konnte noch gar nicht lange her sein. Vielleicht zwei oder drei Stunden. Aber Gaston mußte den Wohnwagen betreten haben, noch ehe die Polizeikräfte ihre Sperre aufgebaut hatten. Was Urban zunächst nicht verstand, war der Anblick, der sich ihm im hinteren Teil des Wohnwagens bot. Dort lag der Chef des Ganzen. Man konnte seine Stellung als 128
halb sitzend und halb liegend bezeichnen. Er hatte sich mit ziemlicher Schräglage in die Ecke geklemmt, was ihn daran hinderte, vornüber zu fallen. Er lebte nicht mehr ganz, aber restlos tot war er auch nicht Er hatte versucht, sich umzubringen, aber dieser Schuß war ihm weit weniger gut gelungen, als der zwischen Gastons Augen. Jedenfalls schien der große Chef erkannt zu haben, daß hier in diesem Wohnwagen am Ufer des Vierwaldstätter Sees alles zu Ende war. Vielleicht hatte er auch auf der Lauer gelegen, hatte die Festnahme seiner Kunden beobachtet und wie sich der Ring um ihn schloß. Dann hatte er zusammengezählt. Zwar hatte er das Geld des BND, und das Geld der Terroristen für die Gap-Papiere stand in Aussicht, aber er sah wohl keine echte Chance mehr, es herauszubringen und damit glücklich zu werden. General Emile Clairon hatte den Kopf weit zurückgelehnt. Er keuchte schwer. Urban sagte kein Wort. Der Sterbende hätte ihm ohnehin nicht geantwortet. Wozu auch. Die Szene war deutlich genug. Letzter Akt, letzter Auftritt im Drama von der mißglückten Rache eines ewig mißverstandenen und unterdrückten Mannes. Clairon war es gewe sen, der von Anfang an und von langer Hand die Sache eingefädelt hatte. Über den Häftling Parland hatte er seine Leute angeheuert. Er hatte sie planmäßig eingesetzt und hatte das große riskante Spiel gemacht. Aber er hatte nicht genug bekommen, und am Ende hatte er es nicht mehr durchgestanden. Mon General, dachte Urban, wenn du ein Leben lang das Format gezeigt hättest wie in den letzten Monaten, dann wärst du längst Marschall von Frankreich.
129
Urban verließ den Wohnwagen. Zurück blieb der tote Gangster und der halbtote General. In der Rechten hatte Urban einen mittelschweren Aktenkoffer und links einige Papiere. „Wie sieht es drinnen aus?“ fragte der Schweizer Einsatzleiter oben an der Straße. „Schicken Sie zwei Särge.“ „Beide tot?“ „Einer schon, der andere bald.“ Der Beamte sah, daß Urban etwas in den Händen hatte. „Was ist das?“ „Deutsches Staatseigentum.“ „Und das in der Plastikhülle?“ „Französisches Staatseigentum. Aber ich bin befugt… Außerdem erspart es euch eine Menge Papierkrieg.“ Ruegg winkte ab. „Schon in Ordnung.“ Er zog Urban beiseite. „Aber nun sagen Sie einmal, verehrter Kollege, um was ging es eigentlich?“ Urban war zu mundfaul, um alles noch einmal zu erklären. „Um indischen Sand“, sagte er blitzschnell. „Aha. Ist das nicht“, fragte der Schweizer, „jener feine Sand, den man Kanarienvögeln in den Käfig streut?“ Urban nickte. „Ja, jener feine Sand, den man Kanarienvögeln in den Käfig streut.“ Er ging zu seinem BMW, stieg ein und fuhr Richtung Zürich. Er hatte Greta gesagt, daß er gelegentlich vorbeikäme. Zumal dann, wenn es ums eigene Vergnügen ging, hielt Bob Urban wenig von leeren Versprechungen. ENDE
130