JULIA GENNER
Bilder von Elisabeth Dir r
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JULIA GENNER
Bilder von Elisabeth Dir r
78/295 Alle Rechte, besonders die des Nachdrucks, der Übersetzung, Verfilmung und Radioverbreitung, vorbehalten. Copyright 1966 by Julius Breitschopf jun., Verlagsbuchhandlung, Wien. Printed in Austria Druck Waldheim-Eberle, Wien 7
1 ULLIS GROSSE REISE Vielleicht war Ulli durch ein Geräusch in der Küche oder im Hof erwacht. Vielleicht war es auch nur die Aufregung, die sie nicht mehr schlafen ließ. Auf alle Fälle war sie sofort klar munter und ihr erster Gedanke: heute wird es ernst. Sie richtete sich in ihrem Bette auf und schielte nach dem der Mutter hinüber. So finster es im Zimmer noch war. konnte sie doch erkennen, daß es leer stand. Im gleichen Augenblick hörte sie Mutters Rumoren in der Küche. Ganz leise und behutsam verrichtete Frau Rohrhofer jeden Handgriff, um nur ja das Kind nicht zu wecken. Aber es ließ sich trotz
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allem nicht vermeiden, daß eine Taste klirrte oder das Backrohr quietschte. Sicher ein Kuchen, dachte Ulli, für mich — für die Reise. Wie früh mußte Mutter schon aufgestanden sein! Mit einem Schwung flogen zwei spindeldürre Beine über die Bettkante und baumelten unentschlossen über die Bettwand. „Wer wird morgen und übermorgen und all die kommende Zeit so für mich sorgen“, überlegte Ulli, „wenn es Mutti nicht mehr tut? Der alte Onkel Viktor, von dem die Mutter selbst sagt, daß er für Kinder nichts übrig hat und ein bißchen geizig ist?“ Und gerade zu ihm nach Wien mußte sie fahren! Es blieb aber doch kein anderer Ausweg! Alle hatten es gesagt: die Nachbarin, Frau Reingruber, die Frau Lehrerin und der Herr Doktor. Ja, der schon gar. Sie dürfe nicht bei der Mutter bleiben, hat der Doktor gesagt, denn Frau Rohrhofer sei lungenkrank, dürfe nichts arbeiten und gehöre in eine Heilanstalt. Für ein Kind in ihrem Alter sei diese Krankheit besonders ansteckend! Sie müsse weg! Darum heute die weite Reise. Ulli graute vor Wien, vor Onkel Viktor und der ganzen kommenden Zeit. Nur Mutti wollte sie es nicht merken lassen. Nur das nicht! Was hat denn Frau Reingruber damals zur Mutter gesagt? „Machen Sie sich keine Sorgen. Frau Rohrhofer. Die Ulli wird schon mit allem fertig werden. Sie ist ein tüchtiges Mädchen und steht mit beiden Füßen auf der Erde.“ Das hat die Nachbarin, die Frau Reingruber, gemeint und immer, wenn es Ulli bange wird, sagt sie sich das vor.
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Richtig: schon steht sie auf dem Boden, schlüpft in ihr Hemd, in das Kleid und dann kommen die Strümpfe und die Schuhe daran. Nur vor der Waschschüssel stockt sie. Das Waschen war nie ihre starke Seite — noch dazu im Winter, wenn es kalt ist. Ob sie es nicht doch lieber läßt? — Wenn sie sich um das Waschen drückte, merkte es die Mutter jedes Mal und wurde böse. Freilich, von morgen an wird das anders werden! Aber ein Mädchen, das auf eigenen Füßen steht, gestand sie sich ein, muß schon selbst wissen, was sich gehört! Gleich war Ulli mit dem Kopf in der Waschschüssel, plusterte herum und als sie sich später abtrocknete, hatte sie das angenehme Gefühl, heute besonders gründlich gewesen zu sein. In dem alten, teils blinden, teils abgeschlagenen Spiegel betrachtete sie ihr schmales, blasses Gesicht mit den wenigen Sommersprossen über der fürwitzigen Nase. Vielleicht erschien es heute noch blasser als sonst. Mochte die Aufregung schuld daran sein oder das gründliche Waschen? Dann kamen die Haare an die Reihe, Ullis Sorgenkinder. Sie hätte so gerne lange, dichte Haare gehabt, die man in dicke Zöpfe flechten und um den Scheitel legen konnte, wie sie die anderen „Salzburger Dirndln“ trugen. Aber ihre wollten nicht wachsen. „Ach, du mit deinen paar Federn“, pflegte Mutter zu sagen, wenn sie sie kämmte, und Ulli glaubte immer etwas wie Geringschätzung heraushören zu müssen. Deswegen hatte sie schon als kleines Kind versucht, der Natur nachzuhelfen, und aus Spagat Zöpfe geflochten, die sie sich um den Scheitel legte, so wie man ihrer Meinung
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nach eben richtige Flechten tragen mußte. Erst trug sie ihren Kopfschmuck nur im geheimen, untertags, wenn die Mutter in anderen Häusern arbeitete und sie allein war. Einmal jedoch entdeckte sie die Spagatzöpfe — Mutter hat ja noch immer alles entdeckt — und damals geschah ein Wunder! Ulli hatte erwartet, daß sie schelten werde. Statt dessen setzte sie sich auf einen Stuhl, lachte aus ganzem Herzen, nahm Ullis schmales Köpfchen mit den spärlichen, blonden Federn zwischen ihre Hände und küßte sie auf die Stirne. „Bist mein kleines Tschapperl!“ sagte sie dann. „Mach' dir keine Sorgen. Das wird schon noch werden!“ Dabei zupfte sie an Ullis seidigem Flaum. „Oft wird später manches besser als man vorher glaubt!“ setzte sie zuversichtlich hinzu. Seither bemühte sich Ulli jeden Morgen, aus ihren blonden „Federn“ zwei Schwänzchen herzustellen, die sie mit Mühe und Not zu ihrem Scheitel hinauf bog und mit Klammern befestigte. Heute, für die Reise, sollten sie besonders wohl gelingen. Ulli betrachtete ihr Werk. Sie war zufrieden. Es blieb nur der alte Schmerz: klein waren die beiden Schwänzchen, so klein! Aber eigentlich war alles klein an ihr: der Mund, die Nase, das ganze Gesicht — ja sie selbst. Mit ihren zehn Jahren hätte sie schon viel größer sein können. Sie hatte sich das schon manchmal gedacht, wenn sie die Mädchen in ihrer Klasse betrachtete. „Du mußt mehr essen, Kind!“ erklärte der Schularzt einmal, als er sie untersuchte. Dabei fütterte die Mutter sie,
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so gut sie konnte. Freilich, gar zu viel war im Hause Rohrhofer nie vorhanden. In Wien könnte das anders werden, überlegte Ulli, denn nach Mutters Schilderung war Onkel Viktor ein reicher Mann, der sogar Teppiche hatte und einen Schreibtisch mit einem silbernen Tintenzeug. Da wird es sicher nicht immer nur Kaffee und Haferflocken geben! Ob sie dann wohl wachsen wird? Wenn sie wieder nach Salzburg zurückkommen wird, ist sie vielleicht so groß wie ihre Freundin Liesl, die in der Schule neben ihr sitzt und die sie sicher um zehn Zentimeter überragt. Ob es ihr gelingen wird, um so viel zu wachsen? Ulli war neugierig. Sie nahm ihr Lesebuch und einen Bleistift und stellte sich an die Türe. Sie legte das Buch auf ihren Kopf, hielt es gegen den Türstock und schlüpfte dann hervor, um mit dem Bleistift einen dicken Strich zu ziehen. Dazu schrieb sie 16. Februar und malte sich aus, wie sie auf den Strich hinuntergehen würde, wenn sie aus Wien zurückgekommen sein wird. Damit glaubte Ulli, alles für den großen Tag getan zu haben, und schlich zur Türe. Sie öffnete leise, aber im letzten Moment knackte der Drücker und Frau Rohrhofer wendete sich hastig um. „Ach, du bist es!“ rief sie erschrocken. „Und schon angezogen!“ Weiter kam sie nicht, denn Ulli flog ihr an den Hals und schloß ihr den Mund mit unzähligen Küssen, obwohl es der Arzt verboten hatte. Der Ansteckung wegen! Aber für den
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letzten Tag, die letzten Stunden, hätte er sicher eine Ausnahme bewilligt. „Du wirfst mich noch um, Kind. Ich stehe nicht so sicher auf den Beinen“, meinte Frau Rohrhofer, während sie sich losmachte. „Aber du kommst zurecht. Das Frühstück ist fertig.“ Es lag geradezu etwas Feierliches in der Luft, als beide beim Morgenkaffee saßen und ein Stück von dem frisch gebackenen Kuchen verzehrten. An einem gewöhnlichen Wochentag im Hause Rohrhofer Kuchen und noch dazu gleich am Morgen – das wollte schon etwas bedeuten. Ulli war ganz wehmütig zumute und sie fühlte plötzlich, daß ihr Tränen aufsteigen wollten. Tapfer kämpfte sie jedoch dagegen an und schielte nach der Mutter, ob sie es nicht gemerkt hätte.
Der Mutter mochte es jedoch nicht anders ergehen. Sie sagte ein ums andere Mal: „Ja, ja“, und wischte sich über die Augen. Wahrscheinlich nur, um über diese böse Stimmung hinweg zu kommen, ermahnte sie Ulli zum hundertsten Male, immer vernünftig zu sein, artig und höflich, besonders Onkel Viktor gegenüber, dem sie jetzt so zu Dank verpflichtet seien, weil er sie in dieser kritischen Zeit zu sich nehme. „Und wenn einmal etwas sein sollte, was dir nicht paßt, dann sag' kein Wort, dann schreib' es mir! Damit kannst du es dir auch vom Herzen herunterreden. Freilich, zu oft wirst du ja nicht schreiben, denn das Schreiben kostet Geld, viel Geld! Aber manchmal wird es schon gehen! Die Hauptsache ist ja doch, daß du mir gesund bleibst.“ Frau Rohrhofer streichelte dabei Ullis blasse Wange. „Vielleicht sitzen wir
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doch wieder einmal hier beisammen: ich wieder gesund und arbeitsfähig, und du als großes, starkes Mädel! Dann backen wir einen noch größeren und noch besseren Kuchen.“ Die Mutter trank hastig ihren Kaffee aus und stand auf: „Und jetzt wollen wir deine Sachen einpacken, denn es wird Zeit. Um neun Uhr fährt dein Zug.“ Ulli fühlte, daß es noch lange nicht so eilte und daß es ihrer Mutter nur darum ging, etwas zu unternehmen, um über ihre Rührung hinwegzukommen. Und weil sie selbst ständig mit den aufsteigenden Tränen kämpfte, folgte sie ihrer Mutter willig in den Schlafraum, von dem man nur mit einiger Übertreibung behaupten konnte, daß er die Größe eines Zimmers hätte. Inzwischen war es dämmerig geworden, und während Frau Rohrhofer den kleinen grauen Koffer hervorholte, schlich Ulli zum Fenster. Wenn man sich hinausbeugte, konnte man die Umrisse der Feste Hohensalzburg erkennen. Als kleines Kind hatte sie schon so gerne hinaufgesehen. Damals trug sie noch der Vater zum Fenster, zeigte mit dem Finger hinauf und sagte: „Burg.“ „Uag, Uag!“ quatschte sie immer nach, wie die Mutter oft und oft erzählte. „Wie lange das schon her ist“, überlegte Ulli mit ihren zehn Jahren, „und was seither alles geschehen ist. Vater ist tot, Mutti krank und muß in eine Heilanstalt und ich fort von meiner ,Uag'!“ Frau Rohrhofer rief aber Ulli gleich wieder zurück. „Wirst du jetzt kommen? Wir müssen doch einpacken!“ Sie war sichtlich bemüht, keine trübselige Stimmung aufkommen zu lassen, denn mit dem Einpacken wären sie
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noch lange zurecht gekommen. Was war da schon groß zu tun. Den größten Teil ihrer Garderobe trug Ulli am Leib. Blieb nur das dunkelblaue Kleid für den Sonntag, das ihr Liesls Mutter schenkte, als Liesl plötzlich so stark gewachsen war, und das alte braune zum Geschirr abwaschen. So dachte sich die Mutter das. Schließlich kamen noch die Pantoffel dazu, die Mutter selbst genäht hatte, als sie noch gesund war, ein bißchen Wäsche und ihre Schulsachen. All das verstauten sie in dem alten grauen Koffer, den der Vater immer mitgenommen hatte, wenn er in die Arbeit ging. Obendrauf legte die Mutter ein Stück von dem Kuchen, den sie in der Frühe gebacken hatte, und dann verschlossen sie den Deckel. Aber das Schloß wollte nicht halten. „Ich erinnere mich, darüber hat der Vater schon ständig geklagt. Er hat ihn mit einem Riemen zugeschnallt. Aber wo wird der Riemen sein?“ Frau Rohrhofer kramte in der Tischlade und im Schubladekasten, aber der Riemen kam nicht zum Vorschein. „Es wird auch mit einer Schnur gehen“, meinte sie dann und holte ein Stück Spagat. „Aber du mußt ein Tascherl haben, Ulli, für deine Sachen.“ Ulli wußte zwar im Augenblick nicht, was die Mutter mit „ihren Sachen“ meinte und wozu sie eine Tasche nötig hätte, aber Frau Rohrhofer klärte sie auf. „Du mußt doch die Fahrkarte irgendwohin stecken und dein Taschentuch und... und ..." Mehr schien ihr im Augenblick selbst nicht einzufallen, so angestrengt sie auch nachdachte. „Doch... das auch noch...“ erinnerte sie sich plötzlich und nahm aus der Tischlade eine Photographie.
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Ulli kannte sie genau. Ein Bild von der Hochzeit der Eltern. Der Vater schaute so froh und zuversichtlich in die Welt wie alle Menschen, die sich ihrer Kraft bewußt sind und viel im Freien arbeiten. Und das stimmte bei Vater, denn er war Holzarbeiter, der hohe Bäume schlug, ihnen die Äste abschnitt, wie Mutter erzählte, zersägte und zu Tal beförderte, bis ihn einmal ein stürzender Baum traf — und der Vater nicht mehr zurückkehrte. Aber damals, als das Bild gemacht wurde, haben wohl beide nicht daran gedacht, denn die Mutter hatte so ein glückliches Leuchten in den Augen, volle Wangen und eine schöne Frisur. Oh, die Mutter muß eine schöne Frau gewesen sein! Frau Rohrhofer holte ihre eigene rote Handtasche hervor, die zwar nicht mehr neu war, aber noch gut erhalten. Sie hatte sie immer geschont. „Du mußt mir aber gut darauf aufpassen“, ermahnte sie Ulli, während sie das Taschentuch und das Bild in die Tasche schob. „Ist noch vom Vater...“ Der hatte sie ihr einmal geschenkt, als sie noch gar nicht verheiratet waren. ,,Das haben wir aber sehr ungeschickt gemacht! Jetzt müssen wir den Koffer noch einmal aufschnüren, damit wir sie hineingeben können.“ Ulli tröstete sie. Sie wollten erst die Fahrkarte kaufen und dann die rote Tasche in den Koffer geben. „Ich werde auf die Tasche ganz besonders gut aufpassen“, setzte sie noch hinzu und war überzeugt, daß es in Hinkunft für sie nichts Kostbareres geben könnte als Mutters rote Tasche.
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„Ist recht“, erwiderte Frau Rohrhofer und tätschelte Ullis Hand. „Und jetzt werden wir gehen müssen. Du weißt, ich kann nicht so laufen und muß immer wieder rasten.“ Ulli wußte es, es bereitete ihr großen Kummer, aber sie hatte das Gefühl, daß Mutter ihr diese Sorge nicht anmerken dürfe. Sie sagte darum kurz entschlossen: „Freilich müssen wir gehen“, und langte nach ihrem Koffer. Die Mutter trug die rote Handtasche und schloß die Wohnung ab. Während sie die Stiege hinuntergingen, hätte Ulli etwas darum gegeben, wenn sie wenigstens noch einmal in die kleine Wohnung hätte sehen können. Aber sie schämte sich und wollte tapfer erscheinen. Sie legte sogar einen geheimen Schwur ab: sie wollte sich während des ganzen Weges zum Bahnhof nicht einmal umsehen. Als sie auf die Straße hinaustraten und dann die Getreidegasse hinunter zur Staatsbrücke gingen, konnte sie ihren Schwur ja noch halten, aber mitten auf der Brücke, hoch über der Salzach, mußte sie doch stehen bleiben und noch einmal nach der „Uag“ sehen. Frau Rohrhofer war es anscheinend angenehm zu rasten. Sie folgte Ullis Blick und sagte, als hätte sie ihre Gedanken erraten: „Wird alles wieder werden, wenn du nur gesund und brav bleibst.“ Ulli fürchtete, daß alle Ermahnungen wieder zur Sprache kämen, wie sie sich Onkel Viktor und allen anderen gegenüber verhalten müsse, und nahm ihren Koffer wieder auf. Vor dem Eingang zum Mirabellgarten mußte Frau Rohrhofer unbedingt wieder eine Pause einschalten. Der Weg war zu weit für ihren Zustand. „Liesl und ich sind hier immer so gerne spazieren-
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gegangen“, sagte Ulli heiser, um ihrem bedrängten Herzen etwas Luft zu machen, und wies nach dem Mirabellgarten. „Grüß mir die Liesl noch einmal.“ „Du wirst auch in Wien Freundinnen findend tröstete die Mutter, aber so ganz überzeugt klang es nicht.
Auf dem Bahnhof herrschte reges Getriebe. Und das war gut so. Man konnte sich nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigen und wurde abgelenkt. Es gab auch immer etwas Neues zu sehen. Schon gar für Ulli! War sie doch erst einmal mit der Bahn gefahren! Die Mutter erzählte immer wieder davon. Nach Golling seien sie gefahren zu Vaters Mutter — zur Großmutter und der Vater war noch mit gewesen. Es wäre ein ganz schöner, glücklicher Tag gewesen. Das mochte schon sehr lange her sein, denn Ulli selbst bewahrte daran keine Erinnerung mehr. Viele Menschen hasteten durcheinander mit breiten Rucksäcken und schweren Taschen. Andere mit großen Koffern, denen man es ansah, daß ihre Besitzer nicht täglich Kaffee und Haferflocken essen mußten, standen ruhig und ließen ihre Gepäckstücke tragen. Viele kamen erst mit Autos angefahren, die es nicht nötig hatten, den Weg zu Fuß zurückzulegen wie die Mutter und sie selbst. Schließlich drängten sich alle an den Kassen. Auch Frau Rohrhofer, sie suchte die letzten Münzen aus ihrer Geldbörse zusammen. Dabei mußte es ja stimmen, denn wie oft hatte sie zu Hause schon das Geld gezählt! Sie stiegen die Stufen zu den Bahnsteigen hinauf und
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Ulli kam sich auf einmal sehr groß und sehr erwachsen vor. Die Bangigkeit der letzten Tage und Stunden war verflogen und hatte einem Gefühl von Stolz Platz gemacht. „Ich, die kleine Ulli, fahre nun ganz allein in die große Welt! Und ich werde es ganz bestimmt gut und richtig machen!“ Frau Rohrhofer schien davon weniger überzeugt, denn als der Zug eingefahren war, lief sie die Waggons entlang, um eine vertrauenswürdig aussehende Frau zu finden, die auch nach Wien fuhr und der sie Ulli anvertrauen konnte. Endlich glaubte sie eine entdeckt zu haben. Diese saß beim Fenster und kaute an einem Wurstbrot. ,,Ja ja, ich fahre auch nach Wien. Schicken Sie die Kleine nur herein“, sagte die Frau und strich mit der Hand ihre Haare zur Seite. Während sich Ulli bemühte, über die hohen Stufen in den Waggon zu turnen, versicherte Ullis neue Beschützerin der besorgten Mutter: „Der Herr gegenüber wird sicher vom Fenster wegrücken, damit die Kleine dort sitzen kann. Sie ist ja so mager, da braucht sie nicht viel Platz.“ Der Herr auf dem anderen Fenstersitz wollte gerade einwenden, warum die Frau mit den guten Ideen nicht selbst Platz mache, als Ulli, in das Abteil trat. Als er aber das Kind mit seinem kleinen Koffer so hilflos in der Türe stehen sah, stutzte er erst und unterließ dann seine Erwiderung. Statt dessen sagte er nur: „Komm her. kleines Fräulein.“ Er rückte zur Seite und überließ Ulli seinen Fensterplatz. Frau Rohrhofer war jedoch mit ihrem Anliegen an die wohlgenährte Frau noch nicht zu Ende.
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„Und in Wien wird Frau Pohl auf das Kind warten. Das ist die Wirtschafterin von Onkel Viktor. Aber wir kennen sie nicht! Sie wird deshalb den Schirm in die Luft halten, hoch in die Luft, und der Frau Pohl soll man das Kind übergeben.“ „Wir werden es schon machen“, erwiderte die dicke Frau. „Das ist sehr lieb“, sagte Frau Rohrhofer erleichtert, „und ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich um das Kind etwas annehmen. Sie fährt ja das erste Mal mit der Eisenbahn und gleich so weit und ganz allein.“ „Wir werden es schon machen“, wiederholte die Frau mit dem großen Wurstbrot. „Na, da bin ich froh“, dankte Frau Rohrhofer. „Frau Pohl wird Ulli an dem kleinen grauen Koffer erkennen. Sie soll ihn deshalb auch hoch in die Luft halten. Gelt!“ „Wir werden es schon machen“, erklärte Ullis Schutzpatronin jetzt so ungehalten, daß Frau Rohrhofer nichts mehr zu sagen wagte. Sie wendete sich deshalb an Ulli und legte ihr nahe, alles zu befolgen, was ihr die liebe Frau sagen werde. Die Mutter wollte gerade noch einmal alle ihre Ermahnungen zusammenfassen, als Türen zugeschlagen wurden und gleich darauf ein Ruck durch den ganzen Zug ging. „Sei brav. Ulli!" rief Frau Rohrhofer noch einmal und dann rollte der Zug langsam aus Salzburg hinaus. Ulli stand beim Fenster und winkte mit dem Taschentuch, so lange sie die Mutter noch zu erkennen glaubte. Mit großen, unnatürlich weit aufgerissenen Augen sah das
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Kind zurück. Auf einmal wehte kein Sacktuch mehr in der Luft und keine Ulli stand mehr beim Fenster. Dafür kauerte im Winkel ein kleines Häufchen Unglück und weinte, weinte zum Gotterbarmen. Alle Selbstbeherrschung der letzten Tage und erst recht der letzten Stunden war vergessen und verdoppelt und verdreifacht machte sich der zurückgedrängte Schmerz Luft. Mutti mußte es ja nicht mehr mitansehen! Und darum weinte sie, die tapfere, kleine Ulli. Nach einiger Zeit schien ihrer Schutzpatronin ihr Weinen zu viel zu werden. Sie hatte aus einem unergründlichen Sack ein frisches Wurstbrot hervorgezaubert und Ullis Tränen störten sie wahrscheinlich in ihrem Genuß. „Du sollst mit dem blöden Heulen aufhören“, wetterte sie — mit dem einzigen Erfolg, daß Ulli nur noch mehr weinte. Sie kam sich so schrecklich einsam vor. „Wie kommt man denn dazu, daß man sich bis Wien diese widerliche Heulerei anhören muß?“ begann sie wieder. Anscheinend wendete sie sich an ihre Mitreisenden, denn zunächst hörte Ulli ein verlegenes Scharren mit den Füßen und dann eine wohltuende tiefe Stimme, die der Richtung nach zu dem Herrn neben ihr gehörte. „Lassen Sie das Kind erst einmal richtig ausweinen. Das wird die Kleine erleichtern und dann werden wir ja weitersehen.“ „Mein lieber Mann, Sie haben eine Vorstellung! Und wir? Kopfweh habe ich schon von dem Geflenne. Wie kommt man dazu, frage ich mich immer wieder!" „Das müssen Sie doch verstehen", hörte Ulli die tiefe
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Stimme wieder. Sei es, daß sie der Streit um ihre Person ablenkte, sei es, daß die auch in ihr schlummernde weibliche Neugierde siegte, sie nahm das Taschentuch von den Augen weg und lugte nach dem Herrn an ihrer Seite. Er war tatsächlich der Sprecher und, während Ulli ihn genauer betrachtete, stellte sie fest, daß er ein ganz feiner Herr sei. Er trug einen neuen, eleganten Anzug, die Manschettenknöpfe waren bestimmt aus Gold und die Haare bei den Schläfen grau. Mehr konnte Ulli durch ihre Tränen und Finger nicht hindurchsehen. Der Streit wäre vielleicht noch weiter gegangen, wenn nicht der Schaffner in dem Augenblick die Türe aufgestoßen hätte. „Jemand zugestiegen, bitte?“ „Ja, das kleine Fräulein neben mir“, hörte Ulli ihren Nachbar sagen und gleich darauf beugte er sich über sie und sagte ganz leise, als würde er ihr ein Geheimnis verraten: „Du mußt jetzt deine Fahrkarte vorweisen.“ Ulli war zumute, als würde ihr jemand in der Schule einsagen. Sie überlegte blitzschnell: die einem einsagen, die wollen einem helfen, und die einem helfen wollen, die meinen es einem gut. Sie fühlte sich darum irgendwie zu dem großen feinen Herrn hingezogen und hörte auf zu weinen. Sie langte nach ihrem Koffer und begann ihn aufzuschnüren, „Da hast du deine Fahrkarte drinnen?“ fragte der große Herr mißtrauisch und, als Ulli bejahte, wendete er sich an den Schaffner.
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„Sie werden sich wohl einige Zeit gedulden müssen, denn — sie wissen — eine richtige junge Dame hat die Fahrkarte gut verwahrt. Ich wette, daß sie aus dem Koffer eine Tasche nimmt und dann aus der Tasche ein Täschchen und aus dem Täschchen eine Geldbörse — und aus der Geldbörse die Fahrkarte.“ Ulli mußte lachen, denn fast stimmte es. Sie mußte erst recht lachen, als sie Mutters rote Tasche herausnahm und sie der feine Herr beim Ohr zog. „Na. habe ich recht gehabt, kleines Fräulein? Und jetzt räumen wir alles wieder gewissenhaft ein und verschnüren den Koffer, damit wir die gleiche Schererei haben, wenn der Revisor kommt.“ Er half ihr sogar beim Verschnüren und stellte den Koffer schließlich wieder auf seinen Platz. Ulli hatte Zeit, ihre Reisegefährten näher zu betrachten. Ihre Schutzpatronin war vollauf mit dem Essen beschäftigt und sah nach den vorüberhuschenden Telegraphensäulen. Neben dieser Frau saß eine junge Dame, die in ein Ruch vertieft war. Dann kam eine uralte Dame, die etwas strickte, das Ulli mit Kennerblick als Jumper erkannte. In der Ecke, ihr schräg gegenüber, saß ein alter Herr, der erst eine Zigarre und dann ein Feuerzeug hervorholte. Er bemühte sich, das Feuerzeug zu betätigen, aber es wollte nicht brennen. Da fühlte Ulli, wie sich ihr Nachbar zu ihr herabbeugte, als würde er ihr wieder ein Geheimnis verraten. „Fünfzigmal lasse ich ihn versuchen, denn das geht für die Morgengymnastik ab und dabei soll man niemanden
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stören. Dann helfe ich ihm mit meinem Feuerzeug aus. Paß auf ... achtundvierzig ... neunundvierzig ... fünfzig!“ Der alte Mann war knapp daran, einen Tobsuchtsanfall zu erleiden, als ihm Ullis Nachbar zu Hilfe kam. „Siehst du, so werden wir uns die Zeit vertreiben, bis wir nach Wien kommen. Jetzt warten wir noch, bis dem Fräulein gegenüber das Buch aus der Hand fällt. Eingeschlafen ist sie ja schon. Dann heben wir es auf und geben es ihr zurück. Dabei wird sie aufwachen, sich bedanken und weiterlesen und — wieder einschlafen. Das kann sich bis Wien zehn- oder zwanzigmal wiederholen.“ Plumps — da lag das Buch schon unten. Ulli erwies sich als dienstbeflissen und es kam alles so, wie es ihr Nachbar prophezeit hatte. „Gelt“, sagte er, „du bist noch nicht oft und weit gereist?“ Nein, gestand Ulli, es wäre das erste Mal. Sie erzählte von Mutters Krankheit und daß dieselbe ansteckend wäre und daß sie nicht arbeiten könne. Mutti war ganz unglücklich, weil sie doch für sie beide zu sorgen hatte, seit ihr Vater beim Holzmachen verunglückt war. Mit ihrer Hände Fleiß habe sie sie beide durchgebracht. Bevor der Zug noch in Attnang-Puchheim einlief, wußte der Fremde, daß sich Frau Rohrhofer in ihrer größten Not an Onkel Viktor erinnert hatte. Eigentlich sei er Mutters Onkel, denn er sei Großmutters Bruder, und müsse schon uralt sein, mit weißen Haaren und schlechten Augen. Aber er sei steinreich, erzählt Mutti, denn er habe einmal eine Fabrik besessen und heute habe er noch
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eine Pendeluhr und eine Wirtschafterin. Nur ein bißchen ein komischer Kauz soll er sein. Ulli beugte sich ganz vertraulich zu dem Fremden hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: „Drum habe ich auch ein wenig Angst vor ihm! Aber Mutti meinte, es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich immer brav und artig bin. Ich muß mich halt zusammennehmen.“ Ihre Mutter habe dann an ihn geschrieben, ob er nicht Ulli in der kritischen Zeit zu sich nehmen könnte. Er brauchte dies nicht aus bloßer Nächstenliebe zu tun, hat Mutti geschrieben, denn Ulli könne auch anpacken und helfen, wie sie es zu Hause tun müsse. Ulli berichtete das ganz selbstbewußt. „Und kannst du das wirklich?“ fragte der feine Herr. „Freilich“, entgegnete Ulli und es klang fast entrüstet. „Diese Strümpfe habe ich selbst gestrickt“, erklärte sie voll Stolz und streckte ihre mageren Beine vor, „und meine Haube auch. Sogar mit einem Muster und abnehmen mußte ich auch dabei! Und wer würde denn Geschirrwaschen, wenn Mutti in die Arbeit gehen muß? Strümpfe kann ich auch stopfen, aber richtig, so daß ein Muster wird. Auf Mutters Rock habe ich einen großen Fleck aufgenäht, und zwar so gut, daß man es gar nicht bemerkt hätte, wenn es der gleiche Stoff gewesen wäre.“ Das schien ihren Nachbar zu überzeugen. „Na — und wie stimmt es in der Schule?“ Ulli wurde rot, sah ihn mit großen Augen von unten an und schwieg.
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Er nahm sie beim Kopf und sah ihr recht finster in die Augen. „Da klappt es wohl nicht?“ „In Englisch“, gab Ulli kleinlaut zu. Früher, als sie in der Volksschule war, sei alles gut gegangen, aber seit dem Herbst gehe sie in die Hauptschule und da sei eben das Englisch. Das sei so schwer! „Die schreiben alles anders“, erklärte sie, als sie es aussprechen, und wenn man endlich begriffen habe, daß man statt ,,a“ „e" zu sagen habe, müsse man „o“ dafür sprechen. Der große Herr schmunzelte vergnügt. „Das mag schon schwer sein, aber die deutsche Sprache ist noch viel schwerer. Da gibt es Worte, die drei Artikel haben.“ Ulli sah ihn ungläubig an. .“Zum Beispiel ‚Teufel’. Man sagt doch: daß di' der Teufel hol'.“ Ulli mußte herzlich lachen. „Also, jetzt weiß ich, daß du in Englisch nichts kannst. Wie geht es dir in den anderen Gegenständen?“ Gut, gibt Ulli zu, besonders im Rechnen, denn da müsse sie immer aufpassen, wenn sie einkaufen geht. Die Kaufleute irren sich immer wieder, besonders wenn man noch ein kleines Mädchen ist. Aber bei ihr hat es noch immer auf Heller und Pfennig gestimmt. Dabei lernt man rechnen! Mit dem Schreiben sei es allerdings schlimmer, denn die Tinte mache so leicht Kleckse und die Feder bleibe gerne am Papier hängen. Nach Wels wußte der Fremde, daß Onkel Viktor über-
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raschend bald auf Mutters Brief geantwortet habe und noch dazu zu aller Überraschung zustimmend. Allerdings müsse sich Ulli nützlich machen, der Frau Pohl helfen, die auch nicht mehr die Jüngste sei, und ihm selbst, dem Onkel Viktor, könne sie vorlesen, denn seine Augen ließen in der letzten Zeit rasch nach. Die Arzte hätten ihm verboten — vor allem bei Lampenlicht — zu lesen. Da wäre das Ding ganz gut zu verwenden, hatte er noch hinzugesetzt und Mutter habe gemeint, das sehe dem Onkel Viktor ähnlich. Nach Linz wußte der feine Herr alles von der „Uag“, von Liesl und vom Mirabellgarten, von der Salzach und von Frau Reingruber und nach Amstetten nahm er Ulli bei der Hand und sagte: „Meine liebe Ulli! Du hast mir jetzt eine ganze Menge von dir und von deiner Mutter erzählt. Ich glaube sogar, ich weiß nun alles von euch. Das war sehr lieb von dir. Und bei mir konntest du es ruhig wagen, denn ich habe auch so ein Dirndl zu Hause, wie du eines bist, und ich verstehe darum deine Sorgen. Gelt, das wirst du aber nicht wieder tun! Schon gar nicht, wenn du jetzt nach Wien kommst! Da gibt es oft böse Menschen, die anderen — besonders Kindern — alles, was sie wissen wollen, herauslocken und für ihre Zwecke mißbrauchen. Denke dir nur, es wollte einer bei deinem Onkel einbrechen! Der müßte nur dich fragen, wo dein Onkel sein Geld habe und wann niemand zu Hause sei! Du mußt vorsichtiger sein, vor allem Menschen gegenüber, die dir fremd sind. Damit du nicht denkst, mich kennst du aber auch nicht, gebe ich dir jetzt eine Karte. Auf dieser steht mein Name und
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meine Adresse und wenn du jemals etwas brauchst, Rat oder Hilfe, kommst du zu mir. Brauchst du mich nicht — umso besser, dann kommst du einmal zu meiner kleinen Monika. Die wird sich sicher freuen und ihr werdet gute Freundinnen werden.“ Damit griff der feine Herr in die Brusttasche und zog eine dicke Brieftasche hervor. Plumps! machte es in dem Moment. Dem Fräulein gegenüber war wieder einmal das Buch entglitten. Ulli bückte sich darum und dann flüsterte sie ihrem großen Freunde zu: „Zum zehnten Mal!“ „Na siehst du!“ lachte er und reichte Ulli eine Visitkarte. „Die hebst du gut auf. am besten gibst du sie in deine Geldbörse." „Ich habe keine." „Wo hast du denn dein Geld?" „Ich habe keines", gestand Ulli verschämt, aber so leise, daß es nur ihr Nachbar hören konnte. Der mußte lächeln. „Eine Weltreisende wie dich habe ich auch noch nie gesehen. Aber vielleicht machst du deinen Koffer einmal mehr auf und wir stecken die Karte in deine rote Tasche.“ Ulli kam bei der Gelegenheit Mutters Kuchen in die Hand. Mit dem Plaudern hatte sie ihn und ihren Hunger ganz vergessen. Aber jetzt langte sie tüchtig zu und der Kuchen war schon fast verschwunden, als ihr auf einmal Bedenken kamen, ob sie ihrem neuen Freund damit nicht aufwarten sollte. Das würde sich wohl gehören, überlegte sie, nur wußte sie nicht, wie man das anstellt.
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Plötzlich nahm sie sich ein Herz und legte das letzte Stück dem großen Herrn aufs Knie. „Kosten Sie! Von Mutti!“ sagte sie und verbeugte sich auf ihrem Sitz so feierlich, daß man wohl merkte, wie sie im Geiste einen tiefen Knicks machte. Der Fremde wollte ihn durchaus nicht annehmen, aber Ulli ließ nicht locker. Er mußte ihn essen. „Du bist ein guter Mensch, Ulli. Ich würde dir nur wünschen, daß du nicht zu viele Enttäuschungen erlebst.“ Damit aß er das Stück Kuchen und lobte seine Güte. Ulli war stolz auf das Lob und versicherte immer wieder, daß er von Mutti wäre und Mutti könne eben kochen. Als der Zug in St. Pölten hielt, öffnete der Fremde das Fenster und winkte eine Frau mit einem kleinen Wagen heran. Er wechselte einige Worte mit ihr und reichte ihr Geld hinunter. Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, legte er auf Ullis Schoß eine große Tafel Schokolade. „Für dein gutes Herz, für deinen guten Kuchen und für dein kleines Mäulchen“, sagte er. Ulli war sprachlos. Sie mochte wohl schon so große Tafeln Schokolade gesehen haben, aber keine davon hatte noch ihr gehört. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Die dicke Frau ihr gegenüber, die eigentlich ihre Schutzpatronin hätte werden sollen, murmelte etwas von Unsinn und daß sich so ein Kind damit nur den Magen verderben könne. „Ach“, meinte der Spender, „haben Sie die vielen Wurstbrote ausgehalten, so wird Ulli auch einmal ein Stück Schokolade vertragen.“
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Die uralte Frau rechts hatte ihre Strickerei beiseite gelegt und begann, in ihrer Tasche zu stöbern. Sie brachte ein Säckchen zum Vorschau und sagte mit einer so tiefen Stimme, wie sie der Oberlehrer in Ullis Schule hatte: ,,Der Herr hat ganz recht und du kannst ruhig einmal dicker werden, wenn es auch nicht gleich so arg sein muß wie bei deinem Gegenüber.“ Damit legte sie auf die Schokolade ihr Säckchen und fügte hinzu: „Ich brauche sie nicht mehr!“ Als Ulli noch immer nicht wagte, ihre Schätze anzutasten, kam ihr wieder ihr neuer Freund zu Hilfe. „Du kannst ruhig einmal hineingucken!“ Damit öffnete er das Säckchen und machte „Ah!“ Ulli reckte sich und sah mit großen Augen über seine Hand auf ganz große, feine Bonbons. Dann umfaßte sie mit ihren beiden Händen des Fremden Arm und schmiegte sich eng an ihn, wie sie es immer beim Vater getan. „Wenn das Mutti wüßte“ flüsterte sie mit zwei dicken Tränen in den Augen. „Siehst du! Mit salzigen Tränen begann die Fahrt und mit soviel Süßigkeiten geht sie zu Ende. So kommt es oft im Leben und ich würde nur wünschen, daß es dir immer so gehen möge, kleine Ulli!“ Während Ulli von ihren Schätzen kostete, sah die dicke Frau mit den endlosen Wurstbroten beleidigt durch das Fenster hinaus in die hereinbrechende Finsternis. Sie vermied es geflissentlich, nach dem Vorgefallenen auch nur einen Blick an ihre Mitreisenden zu verschwenden, und schien überzeugt, daß es mit ihrer Würde vollkommen un-
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vereinbar wäre, sich weiter um das Kind zu kümmern, das derart von den Leuten verzogen wurde, oder gar in Wien nach Frau Pohl auszusehen, die mit erhobenem Regenschirm auf Ulli warten sollte. Ihr Frau Rohrhofer gegebenes Versprechen hatte sie ganz vergessen. Es blieb dem fremden Herrn darum nichts anderes übrig, als auch diese Sorge für Ulli zu übernehmen. Sobald der Zug in die hellerleuchtete Halle des Westbahnhofes einfuhr, hielt er beim Fenster Ausschau. Aber Frau Pohl war nicht zu übersehen. Wie die Freiheitsstatue vor New York mit erhobener Fackel die Fremden empfängt, stand Frau Pohl groß und mächtig auf einer Bank und hielt ein Monstrum von einem Regenschirm in die Höhe, das wohl modern gewesen sein mochte, als Onkel Viktor zur Welt gekommen war. Der Fremde half Ulli von den Stufen und steuerte sie zu der alles überragenden Frau Pohl. „Das ist Ulli", sagte er. „Sie ist ein goldenes Kind. Passen Sie mir gut auf sie auf! Und du, Ulli, vergiß nicht...“ dabei deutete er auf den kleinen grauen Koffer, in dem seine Karte verwahrt lag. Dann verschwand er in der Menge. „Wer war das?“ fragte Frau Pohl streng, während sie mühsam von der Bank herunterkletterte. Ulli zuckte mit den Schultern. Was sollte sie sagen? Sie kannte ihn ja nicht. „Hat dir Mutter nicht eingeschärft, daß du mit fremden Leuten nicht reden darfst? Schon gar nicht auf der Bahn?“
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Ulli wußte nicht, was sie erwidern sollte. Sollte sie sagen, daß ihr der Fremde gerade den gleichen Rat gegeben hatte? Sie sagte deshalb vorsichtig: „Ich kenne Sie ja auch nicht!“ Es leuchtete Frau Pohl anscheinend ein, daß Ullis Ansicht zutraf, und darum lächelte sie. „Du hast ja recht“, gab sie zu und Ulli fühlte, daß ihr Ton etwas freundlicher geworden war. Kinder, besonders in Ullis Lage, besitzen für dergleichen ein feines Empfinden. „Und wo hast du dein Gepäck?“ Ulli wies verlegen auf ihr Köfferchen. „Das ist alles?“ meinte Frau Pohl. „Na, kann man auch nichts machen! Da haben wir wenigstens nicht viel zu tragen.“ Damit steuerte sie wortlos dem Ausgange zu. Sie fragte weder um die Mutter, noch wie die Reise war und schien überhaupt keine Freundin von vielen Worten zu sein. Oder sollte es ihr unangenehm sein, daß sich in ihr friedliches, wohleingelaufenes Leben nun ein Fremdkörper einnistete, der ihr zusätzlich Arbeit verursachen könnte? Voll banger Sorge blinzelte Ulli nach Frau Pohl, die verschlossen neben ihr einherschritt. Alles an dieser Frau schien Ulli groß. Ihre Gestalt, ihr Umfang, ihr Gesicht und vor allem ihre Nase, ihre Hände und der breite Hut mit den vielen Blumen. „Sie ist ganz anders als Mutti“, dachte das Kind. Am Weg zur Straßenbahn staunte Ulli über den Verkehr. „Wie bei den Festspielen!“ entschlüpfte es ihr, ohne aber Frau Pohl mehr als ein Lächeln entlocken zu können.
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Als sie in der Straßenbahn neben ihrer schweigsamen Begleiterin saß, versuchte sie noch einmal ihr Glück. „Ist Onkel Viktor zu Hause?“ „Ja.“ Dann blieb es wieder still. Ulli dachte, daß es neben dieser wortkargen Frau, für die sie anscheinend nur ein unvermeidliches Übel war, kein angenehmes Leben geben würde. Sie hatte sich ja nie übertriebenen Hoffnungen bezüglich ihrer Zukunft hingegeben, aber so schlimm hatte sie sich das doch nicht gedacht. Ihr wurde auf einmal bange und ihre Gedanken verirrten sich in die Getreidegasse, wo sie Mutti immer treulich umsorgte. Es überraschte sie daher doppelt, als Frau Pohl plötzlich selbst zu sprechen begann. „Dein Onkel Viktor hält sehr viel auf eine genaue Tageseinteilung und es wird gut sein, wenn du dir diese gleich gewissenhaft merkst. Er steht spät auf und erledigt vormittags seine Geschäfte. Schlag zwölf Uhr nimmt er in seinem Zimmer das Mittagmahl ein und dann schläft er. Von vier bis sechs Uhr pflegt er einen kleinen Spaziergang zu machen und es muß das Wetter schon sehr übel sein, wenn es ihn davon abhalten kann. Punkt sechs Uhr kommt er nach Hause. Er war gewohnt, bis zum Nachtmahl zu lesen. Seit seine Augen so stark nachließen, daß ihm der Arzt das Lesen verbot, mußte er diese Gewohnheit aufgeben. Es wird in Hinkunft deine Aufgabe sein, ihm in dieser Zeit vorzulesen. Das wäre das Wichtigste.“ Ulli hatte die Überzeugung, daß Frau Pohl diese lange Ansprache geradezu ermüdete, aber sie nahm sich gleich vor, ihre Anweisungen in Zukunft gewissenhaft zu berück-
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sichtigen, und wiederholte im stillen nochmals Onkels Tageseinteilung.
Nach einiger Zeit zupfte Frau Pohl Ulli am Ärmel und stand auf. Sie waren allem Anschein nach am Ziel. Die Wirtschafterin ging die Porzellangasse entlang und es bereitete Ulli große Mühe, deren Dragonerschritten mit ihren kleinen Beinen zu folgen. Schließlich hielt sie vor einem großen, hohen Hause und wartete, bis Ulli nachgekeucht kam. Dann wies sie mit dem Knauf ihres Riesenschirmes nach dem Haustor und sagte: „Das Haus mußt du dir gut merken, damit du ein anderes Mal heimfindest.“ Wenn auch ihre Schritte gewaltig durch den Hausflur gedröhnt hatten, so kletterte Frau Pohl doch langsam die Stufen hinauf und Ulli konnte feststellen, daß ihr dies einige Mühe verursachte. Im zweiten Stock hielt sie vor einer weißgestrichenen Türe und stöberte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Ulli fand inzwischen Muße genug, das Türschild zu betrachten. Es glänzte wie Gold und darauf stand „Viktor Kratzer“ in dicken, schwarzen Buchstaben. So etwas Feines hatte es in der Getreidegasse nicht gegeben.
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2 AUCH BEI ONKEL VIKTOR MUSS MAN IN DIE SCHULE GEHEN Frau Pohl öffnete und sagte: „In Gottes Namen!” Dabei hieß sie Ulli in einen Vorraum eintreten, von dem das Kind im ersten Augenblick nur zwei Dinge erfassen konnte: Viele Türen und noch mehr Bilder. Aber Frau Pohl ließ Ulli keine Zeit, sich darüber zu wundern. „Am besten kommst du zunächst zu mir in die Küche.“ Bei diesen Worten öffnete sie linker Hand eine Türe und Ulli befand sich gleich darauf in einer Küche, in der alles blitzte und blinkte. Und davon verstand Ulli etwas! Mit Kennermiene musterte sie die Einrichtung, obwohl sie manche Geräte erblickte, von denen sie im Moment nicht hätte sagen können, wozu sie gehörten. „Ich werde dich gleich bei Onkel Viktor anmelden“, meinte Frau Pohl und verschwand, um bald darauf wieder zu kommen. Ulli hatte gerade überlegt, daß sie sich ihre Ankunft anders vorgestellt hatte. Sie hatte sich immer ausgemalt, daß der Onkel in der Türe stehen werde, um sie beim Kopf zu nehmen und zu sagen: „Na, da bist du ja!“ So las sie es wenigstens in den Lesebüchern und in den Märchen. „Bei den reichen Leuten ist das anscheinend anders“, dachte sie und fühlte sich dadurch stark beeindruckt.
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Frau Pohl öffnete eine der Türen und schob Ulli in ein Zimmer, die überzeugt war, daß sie mit diesen vielen Türen noch ihre Schwierigkeiten haben würde. „Da ist das Ding vom Land“, hörte Ulli sie sagen, während Ulli bemüht war, sich zurechtzufinden. Es war verhältnismäßig finster in dem Raum und das Lampenlicht obendrein durch einen Schirm gedämpft. Bei einem Schreibtisch saß etwas zusammengekauert ein alter Herr, dessen Gesicht zum größten Teil von einer großen Schutzbrille mit dunklen Gläsern verdeckt wurde. Das mußte Onkel Viktor sein. „So, so“, sagte er und streckte ihr seine magere Hand entgegen. Während Ulli danach griff, versuchte sie ihren schönsten Knicks zu machen. Onkel Viktors Hand fühlte sich aber so kalt an, daß Ulli erschrak und ihre Rechte wieder zurückziehen wollte. „Das darf man doch nicht“, zuckte es ihr durch den Kopf und darum stieß sie ihre Hand weiter als nötig nach vorne. Dieses Manöver war aber mit Ullis Knicks unvereinbar und so lag sie plötzlich der Länge nach auf dem Boden. „Da haben wir die Bescherung“, hörte sie Onkel Viktor sagen, während sie sich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen. Sie schämte sich und sah besorgt in sein Gesicht. Aber dieses schien unbewegt, mit vielen Falten, wie man sie zieht, wenn man in etwas besonders Saures beißt, in eine Zitrone zum Beispiel, dachte Ulli. Da Onkel Viktor nichts weiter sprach, trippelte Ulli von einem Bein auf das andere und sah sich verlegen um. Trotz
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der schlechten Beleuchtung konnte sie feststellen, daß in Onkels Zimmer noch mehr Bilder hingen als im Vorraum. Sie glaubte überhaupt, noch nie so viele Bilder in einem Räume beisammen gesehen zu haben. Eine Ewigkeit schien ihr vergangen zu sein, als sich der Onkel endlich wieder vernehmen ließ. „Ist gut. Frau Pohl wird dir dein Zimmer zeigen und alles Notwendige sagen.“ Damit schien sie entlassen und fühlte sich von der Wirtschafterin wieder in die Küche zurückgeschoben. Ulli mochte gerade kein besonders glückliches Gesicht machen. Vielleicht war sogar nach Frau Pohls Empfinden der Empfang etwas zu frostig ausgefallen, denn sie fühlte sich plötzlich veranlaßt, ihr ein paar aufmunternde Worte zu sagen: „Mußt es nicht so nehmen. Er ist halt ein bißchen wunderlich, schon gar seit er das mit den Augen hat. — Komm, ich zeige dir jetzt dein Zimmer.“ Sie gingen zu der Türe, die der Küche gegenüber weiß leuchtete, und betraten einen Raum, der ungefähr die Größe des Zimmers in Salzburg haben mochte. „Das wird dein Zimmer sein", erklärte die große Frau. „Bis jetzt habe ich hier geschlafen." „Und wo schlafen Sie jetzt?" fragte Ulli besorgt. „In der Küche." „Oh, da bringen Sie aber ein großes Opfer. Soll nicht lieber ich...“ „Jetzt bleibt es schon so“, stellte Frau Pohl in einem Ton fest, der keinen Widerspruch duldete. „Alles hat seine
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Vorteile und seine Nachteile. Hier, in den Kasten kannst du deine Sachen einräumen und ich helfe dir, wenn du sie rasch hereinbringst.“ Ulli holte das graue Köfferchen. Aber es war nicht viel Hilfe nötig, um die paar Stücke in den großen Kasten zu legen. „Warum hat dir deine Mutter nicht mehr mitgegeben?“ tadelte Frau Pohl und, als Ulli verlegen wurde und den Kopf senkte, wiederholte sie eindringlicher: „Na, warum?“ „Weil ich nicht mehr habe“, murmelte das Kind so leise, als würde es sich dieser Tatsache schämen. „Dann heißt es eben öfter waschen“, stellte Frau Pohl fest. An der dem Kasten gegenüberliegenden Wand stand Ullis Bett und in der Wand dazwischen war ein Fenster, auf das nun die Wirtschafterin zuging. „Dieses Fenster führt in den Hof, während Onkels Fenster auf die Porzellangasse hinuntersehen. Solltest du jemals den Wunsch hegen, hinauszusehen, so habe ich nichts dagegen. Solltest du dich aber bei der Gelegenheit erschlagen, dann... wehe dir!“ Bei diesen Worten fuchtelte sie mit ihrer großen Rechten so bedrohlich herum, daß diese an einen Teppichklopfer gemahnte. „So, so“, hörte Ulli eine merkwürdige Stimme hinter ihrem Rücken und blickte sich verwundert um. Es war jedoch niemand zu sehen. Um Frau Pohls Lippen spielte für Sekunden ein kleines Lächeln. „Das ist Jolly", sagte sie und ging zu der dem Fenster
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gegenüberliegenden Wand, in der wieder einmal eine Türe angebracht war. „Die Türe führt zu Onkels Zimmer“, erklärte sie, „und hier steht Jolly.“ Bei diesen Worten nahm sie ein Tuch von dem Tischchen neben der Türe und ein Vogelkäfig kam zum Vorschein, in dem ein blaues Etwas aufgeregt herumhüpfte. Ulli huschte voll freudiger Erregung zu dem Vogelkäfig. „Was ist das?“ „Das ist ein Sittich“, erklärte Frau Pohl. „Diese Vögel können auch sprechen lernen. Wir haben ihn gekauft, als Onkels Augen so schlecht wurden, in der Hoffnung, dem Onkel damit eine Ablenkung zu verschaffen, weil er nicht lesen durfte. Aber Jolly freute sich nicht lange seines Wohlwollens. Gerade ,So, so' lernte er von ihm und jetzt steht er hier, weil wir ihn anderswo nicht unterbringen können. Und weggeben... ?“ Frau Pohl ließ diese Möglichkeit offen, aber schon der Gedanke daran war Ulli unerträglich. Sie schlug die Hände zusammen und bat für Jolly, den sie vor fünf Minuten noch nicht einmal gekannt hatte. „Nein, bitte nicht weggeben...“ Sie beugte sich wieder zum Käfig hinunter und stellte sich vor: „Ich bin Ulli... U—1—1—i'“, buchstabierte sie. „So, so“, erwiderte Jolly und trippelte dem Mädchen entgegen. „Ulli, Ulli. . . “ wiederholte sie und wies mit dem Zeigefinger auf ihre Brust. War es nun eine Täuschung oder gelang es Jolly wirklich, den Namen nachzubilden, auf alle Fälle bildete sich Ulli dies ein. Sie war ganz selig. „Er hat ,Uli’ gesagt“, strahlte sie Frau Pohl an, der sie
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fast um den Hals gefallen wäre, wenn sie nicht im letzten Moment vor deren Respekt gebietendem Umfang zurückgewichen wäre. „Ich sehe schon, ihr werdet zwei gute Freunde werden“, meinte Frau Pohl und ihre Stimme klang weicher, als es Ulli bisher gewohnt war. Aber als würde die Frau dies gleich wieder bereuen, setzte sie in strengem Ton hinzu: „Alle Bilder hier herinnen sind Onkel sehr wertvoll. Lauter Kunstwerke! Daß du dir nicht einfallen läßt, auch nur eines davon zu berühren! Du könntest ein Vermögen vernichten!“ Erst jetzt wurde Ulli gewahr, daß auch ihr Zimmer mit Gemälden übersät war. Sie war anscheinend schon so daran gewöhnt, daß in diesem Hause in jedem Raume Bilder hängen mußten, daß sie dieser Tatsache keine Beachtung mehr schenkte. Aber Frau Pohls ernste Mahnung und der Respekt vor den Gemälden, der aus ihren Worten sprach, jagte Ulli doch eine Gänsehaut über den Rücken. Nein, sie würde niemals eines der Bilder auch nur ansehen oder gar berühren, versicherte sie. „Und weil wir gerade davon sprechen“, setzte Frau Pohl fort, „will ich dich gleich darauf aufmerksam machen, daß über Onkels Schreibtisch ein besonders großes und kostbares Bild hängt. Es ist von Waldmüller, einem berühmten Wiener Maler. Also ein echter Waldmüller! Du wirst dir wohl wenig darunter vorstellen können, aber auf alle Fälle würde ich dir empfehlen, um dieses Bild immer einen großen Bogen zu machen .“ Ulli versprach es und nahm sich natürlich im stillen vor, bei der nächsten Gelegenheit gerade dieses Bild näher zu betrachten. Ein bißchen neugierig durfte ein kleines Mäd-
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chen wohl sein, schon gar, wenn seine Neugierde durch derartig feierliche Erklärungen geweckt wurde. „So und jetzt kommst du in die Küche. Du wirst hungrig sein und wir werden etwas zu essen suchen.“ Die Wirtschafterin wies Ulli in der Küche einen Platz an. Sie selbst werde immer gegenüber sitzen, erklärte sie, und so wird es ganz gut gehen . Während des Essens versuchte Ulli ihrem durch die Fülle des Erlebten übervollen Herzen Luft zu machen. Sie plauderte von der dicken Frau in der Eisenbahn und dem großen, feinen Herrn neben ihr, von Salzburg und von Liesl, kurz und gut von allem, was sie bewegte. Nur von Mutti zu erzählen, vermied sie geflissentlich. Sie mochte unbewußt die Empfindung haben, daß diese Frau mit ihrer Liebe und Fürsorge nicht in diese Umgebung paßte. Frau Pohl schien zwar keine interessierte Zuhörerin zu sein, doch das störte sie vorerst nicht. Als die Wirtschafterin aber zu gähnen begann, wurde Ulli angesteckt und Frau Pohl meinte, daß es wohl hoch an der Zeit sei, schlafen zu gehen. Ulli stand allein in ihrem Zimmer. Sie sah sich noch einmal um und mußte sich eingestehen, daß sie nicht wenig stolz darauf war, ein eigenes Zimmer zu besitzen. Wenn das Mutter wüßte! Oder wenn sie wenigstens einen Blick herein machen könnte! Sie nahm sich vor, ihrem ersten Brief an Mutter eine Zeichnung beizufügen, damit diese genau wisse, wo ihr Kasten, ihr Bett, der Tisch mit den zwei Stühlen und das kleine Tischchen mit Jollys Käfig stünden. Sie war ganz traurig darüber, daß sie ihr diese Herrlichkeit nicht gleich zeigen konnte.
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Da erinnerte sie sich ihrer Photographie. Sie holte ihre rote Handtasche hervor. Beim Öffnen fiel ihr eine weiße Karte in den Schoß. Richtig, die hatte ihr doch der große, liebe Herr in der Eisenbahn hineingeschoben. Sie hatte soviel Neues inzwischen erlebt, daß ihr vorkam, als würde die Eisenbahnfahrt mit allem Drum und Dran schon weit zurückliegen! „Kurt Wallisch“ stand in der Mitte der Karte und darunter kleiner: „Lebensmittel en gros und en detail“. Sie war sich nicht ganz klar darüber, was das zu bedeuten hatte, besonders das „en“ bereitete ihr Schwierigkeiten. Im Augenblick erschien es ihr auch nicht so wichtig, sie konnte ja gelegentlich Frau Pohl darüber betragen. In der Ecke rechts unten stand: „Wien, 19., Gatterburggasse 75“, und unterhalb noch ein Buchstabe mit fünf Ziffern. Das mußte wohl die Anschrift sein. Ulli wunderte sich, daß diese so kompliziert war, denn sie wußte nicht, daß der Buchstabe mit den fünf Ziffern in Wien die Telephonnummer bedeutete. Ob sie da wohl jemals hin finden würde? In der großen Stadt? Aber so weit wie die Eisenbahnfahrt lag eben auch dieser Herr Wallisch zurück. Sie steckte die Karte in die Tasche und entnahm ihr die Photographie. Wohin damit? Sie versuchte, sie erst auf dem Tisch anzubringen, aber im nächsten Augenblick rutschte sie hinten hinunter und war verschwunden. „So wird es mir wohl immer ergehen, wenn ich meine Aufgaben mache.“ Sie wollte sie dann in die linke untere Ecke eines Bilderrahmens stecken, als ihr Frau Pohls strenge Ermahnung einfiel. Das ging nicht! Blieb nur ein Platz neben Jolly. Von hier aus
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konnte die Mutter gut sehen und genau verfolgen, was sie unternahm. Sie konnte ihr jetzt zusehen, wie sie sich ihrer Kleider entledigte und ins Bett schlüpfte. Richtig, Mutter hatte ihr ja aufgetragen, sich zu merken, was ihr die erste Nacht träumen werde. „Denn alles, was einem die erste Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung“, hatte sie ihr gesagt und Ulli nahm sich vor, gut aufzupassen. Sie war aber so müde, daß sie gleich einschlief, bevor sie noch ihren Vorsatz richtig zu Ende gedacht hatte. Daher mochte es auch kommen, daß Ulli sich am nächsten Morgen nur sehr mangelhaft erinnern konnte. Sie hatte von Onkel Viktor geträumt, von seinen vielen Bildern und, daß er seine kalte Hand nach ihr ausstreckte. Aber es war nicht schön und sie war froh, daß sie den größten Teil vergessen hatte. Dafür bemerkte sie, daß es schon licht im Zimmer war. Wie spät es wohl sein mochte? Ohne Uhr mußte sie sich aufs Schätzen verlegen. Nach der Helligkeit zu schließen, konnte es schon auf acht Uhr gehen. Und um acht Uhr begann doch die Schule! Mit einem Schwung flog Ulli aus dem Bett, in die Kleider und in die Küche. Frau Pohl erschrak geradezu über sie. So stürmisch hatte in dem Hause schon lange niemand eine Türe aufgerissen. „Ich muß doch in die Schule!" stieß Ulli hervor. In der Aufregung vergaß sie ganz, einen guten Morgen zu wünschen, aber Frau Pohl war über diese Eröffnung so fassungslos, daß sie das Versäumnis gar nicht bemerkte und ihr Butterbrot fallen ließ.
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„Jesus, Kind!“ stammelte sie, „daran haben wir ja gar nicht gedacht.“ Sie bückte sich dabei um ihr Brot und brummte: „Natürlich auf die Butterseite!“ Ulli fühlte sich schuldbewußt und schlich langsam heran: „Oh, da bin jetzt ich schuld daran!“ „Da kann man auch nichts machen“, erwiderte Frau Pohl und blies so heftig den Staub von ihrem Brot, daß ihr ohnedies schon großes Gesicht doppelt so groß zu werden schien. „Wie ein Vollmond“, wollte es Ulli scheinen. Nachdem Frau Pohl ihr Butterbrot gerettet hatte, setzte sie sich nieder und wiederholte ein ums andere Mal: „Ja, was machen wir denn da?“ Anscheinend war ihr seit langer Zeit kein so schweres Problem untergekommen wie Ullis Schulbesuch. „Iß erst einmal dein Frühstück“, entschied sie dann. „ich werde inzwischen mit Onkel Viktor reden.“ Frau Pohl ging aus der Küche und Ulli war überzeugt, daß sie in Kürze gerufen werden würde. Nichts rührte sich jedoch und, so sehr es Ulli erwartet hatte, gestand sie sich ein, daß sie froh sei, nicht selbst Onkel Viktor mit dieser Frage belästigen zu müssen. Frau Pohl kam nach einiger Zeit zurück und erklärte feierlich: „Natürlich mußt du in die Schule gehen und wir werden schon herausbekommen, in welche du gehörst.“ Wie zu ihrer Entschuldigung fügte sie hinzu: „Dein Onkel Viktor und ich, wir haben halt schon lange nichts mehr mit der Schule zu tun gehabt, aber im dritten Stock wohnt eine Frau, die hat ein Mäderl in deiner Größe. Die werden wir fragen.
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Richte deine Schulsachen zusammen, ich werde mit dir gehen.“ Die Frau im dritten Stock meinte, daß man erst wissen müsse, ob Ulli in die Volks-, Haupt- oder Mittelschule gehe. „Oh, mein!“ stöhnte Frau Pohl, „daß es da so viele Sachen gibt! Ich habe mir das nicht so kompliziert vorgestellt.“ Aber Ulli kam ihr zu Hilfe und berichtete, daß sie in Salzburg in die erste Klasse der Hauptschule gegangen wäre. „Na also“, sagte die Frau begütigend und wendete sich an Frau Pohl, „dann müssen Sie in die Glasergasse gehen, in das große Haus. Sie werden es ohnedies kennen und überdies steht es darauf. Dort gehen Sie zuerst in die Kanzlei und melden das Kind an.“ Als sie in der Schule die Stufen zur Kanzlei hinaufstiegen, ächzte Frau Pohl so mitleiderregend, daß sich Ulli recht schuldbewußt vorkam. Sie sagte deshalb: „Jetzt müssen Sie meinetwegen noch so hoch hinaufsteigen!“ „Da kann man nichts machen“, erwiderte die große, starke Frau und Ulli mußte im stillen lachen, weil sie diese Erwiderung von Frau Pohl schon öfter gehört hatte. „Es ist nur wegen der Füße. Die wollen halt gar nicht mehr recht.“ „Ich muß Ihnen dafür andere Wege abnehmen“, versprach Ulli. „Oh, mein“, stöhnte Frau Pohl, „das wird schon noch kommen. Bis du dich erst auskennst.“ In der Kanzlei trafen sie auf eine Dame, der Frau Pohl ihr Anliegen mit großer Umständlichkeit vortrug. Sie erzählte
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etwas von Onkel Viktor, Salzburg und ihrem Alter und, weil sie zwischendurch noch immer nach Luft ringen mußte, klang es reichlich unzusammenhängend. „Also, bei uns wirst du in die Schule gehen“, wendete sich die Dame an Ulli. „Wie heißt du denn?“ „Ulrike Rohrhofer.“ „Hast du dein letztes Zeugnis hier?“ Ulli holte aus dem Schreibheft ihr Zeugnis hervor und reichte es der Dame. „Na, nicht schlecht! Nur im Englischen wirst du dazusehen müssen.“ So feierlich es war, mußte Ulli doch heimlich lachen. Ihre Lehrerin in Salzburg hatte dasselbe mit den gleichen Worten gesagt. Ob wohl alle Lehrer überall und immer das Gleiche sagen? Ulli wußte selbst nicht warum, aber dieser Gedanke machte ihr Mut, als sie die Frau Direktorin eine Treppe höher zur 1. A führte. Es wird nicht viel Unterschied gegen Salzburg sein, schätzte sie, und diese Folgerung ließ sie ihre Kleinmütigkeit vergessen, mit der sie in die Kanzlei getreten war. Die Frau Direktorin klopfte an die Türe und trat dann mit Ulli ein. „Frau Kollegin, ich bringe Ihnen hier eine neue Schülerin.“ Und zu Ulli gewendet, setzte sie hinzu: „Frau Wurm unterrichtet in der Klasse Deutsch, Geographie und Geschichte und ist gleichzeitig deine Klassenvorsteherin. Ihr zeigst du dann deine Dokumente, damit sie alles ins Klassenbuch eintragen kann.“ Daß sie von der Lehrerin mit kritischen Augen betrachtet wurde, hätte Ulli noch hingenommen, aber sie fühlte, daß sich in dem Augenblick mindestens dreißig Augenpaare in ihren Rücken bohrten, und das brachte
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ihren Mut wieder zum Sinken. Irgendwo kicherte es hinter ihr. „Sicher habe ich im Strumpf ein Loch“, mutmaßte sie, „oder stimmt es mit dem Mantel nicht.“ Sie zupfte daran herum und kam sich unglücklich vor. „Sie kommt aus Salzburg“, erklärte die Frau Direktorin, „und dürfte, nach dem Zeugnis zu schließen, eine ganz gute Schülerin sein. Trotzdem wird es sich empfehlen, zunächst darauf Rücksicht zu nehmen, daß sie...“ Sie stockte und machte eine verbindliche Geste. „ . . . daß sie vom Land ist!“ erscholl rückwärts eine Stimme. Weniger in den Worten als im Ton lag etwas so Verächtliches, fühlte Ulli und hatte nur den einen Wunsch, im Boden versinken zu können. Auch die Frau Direktorin mußte es empfunden haben, denn sie wendete sich blitzschnell an die Klasse und fragte: „Wer war das?“ Aber niemand rührte sich. „Natürlich die Dora!“ mischte sich die Klassenvorsteherin ein. „Wer denn sonst. Steh auf Dora!“ In der zweiten Bank erhob sich ein tötlichblondes Mädchen und gebärdete sich reichlich beleidigt. Obwohl ein trotziger Zug um ihren Mund lag, hatte Ulli die Überzeugung, daß sie sehr hübsch sei. „Freilich, die Pistorius! Dich kenne ich jetzt schon zur Genüge. Du meldest dich nach Unterrichtsschluß in der Kanzlei.“ Damit wendete sich die Direktorin zur Türe und Ulli
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hatte das Empfinden, daß ihr Dora, während sie sich setzte, einen feindseligen Blick zuwarf. „Und du kannst dich dort in die vierte Bank setzen“, wendete sich die Lehrerin an Ulli. „Dort ist noch ein Platz frei.“ Um zu ihrem Platz zu gelangen, mußte Ulli an Dora vorbei, die ihr etwas zuzischelte. Ulli konnte sich später an die Worte nicht mehr erinnern, aber den feindseligen Klang behielt sie im Ohr. Das war kein glücklicher Einstand. Sie saß darum bedrückt auf ihrem Platz, und so klein sie sich machte, hatte sie doch das Empfinden, daß sich ihr immer wieder alle Blicke zukehrten — und aus keinem sprach Wohlwollen. Diese Tatsache beschäftigte sie so sehr, daß sie beim Glockenzeichen nicht einmal sagen konnte, welchen Gegenstand sie gehabt hatten. Es war zehn Uhr und die große Pause. Die Mädchen packten ihr Gabelfrühstück aus und Ulli sah gerade, wie Dora eine große blaßblaue Serviette ausbreitete. Zwei Brote mit Wurst kamen zum Vorschein, ein großes Stück Schokolade und eine Orange. Das alles überzeugte Ulli, daß Doras Eltern sehr wohlhabend sein mußten und daß eine Mutter mit viel Liebe für sie sorgte. Sie kam sich auf einmal grenzenlos arm vor, denn ihr hatte niemand ein Gabelfrühstück eingepackt — schon gar nicht in eine blaßblaue Serviette. Sie zog sich darum bedrückt in die rückwärtige Ecke des Klassenzimmers zurück und konnte von ihrem Standpunkt aus beobachten, wie ihre Mitschülerinnen in einzelnen
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Kreisen die Köpfe zusammensteckten. Der größte Kreis scharte sich um Dora. Von allen Seiten hörte sie tuscheln und immer wieder flogen wenig freundliche Blicke zu ihr. Sie kam sich furchtbar einsam vor und spielte verlegen mit ihrem Schürzenzipfel. Nur einmal schlich ein kleines, schwarzlockiges Mädchen an ihr vorbei und fragte: „Hast du nichts zu essen mit?“ Ulli schüttelte den Kopf mit den beiden aufgesteckten Schwänzchen. „Hat dir denn deine Mutter nichts mitgegeben?“ Ehrliche Anteilnahme sprach aus dem blassen Gesicht, das sich ganz nahe an Ulli heranschob. Bevor jedoch Ulli antworten konnte, rief eine fast befehlende Stimme: „Poldi, komm her! Ich muß dir etwas sagen.“ Die Kleine zuckte zusammen, als wäre sie auf einer bösen Tat ertappt worden, und wendete sich der Ruferin zu. Es war Dora, die sie reichlich unfreundlich anfunkelte. Sie wäre so hübsch, wenn sie nicht immer so böse dreinschauen wollte, dachte Ulli und sie war ehrlich genug, sich selbst einzugestehen, daß es ihr schmeicheln würde, wenn sie auch einmal von dem hübschen Mädchen so gerufen werden sollte. Wie die Dinge sich nun einmal entwickelten, stand sie jedoch einsam in ihrer Ecke und das rotblonde Mädchen, das in der Klasse eine klare Vormachtstellung innehatte, war sichtlich bestrebt, auch die anderen von ihr abzuhalten. Ulli war herzlich froh, als die Pause zu Ende ging.
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Es kam eine andere Lehrerin in die Klasse und aus ihrer Begrüßung konnte man schon entnehmen, daß nun Englisch an die Reihe kam. Die schwarzlockige Poldi machte darauf aufmerksam, daß eine neue Schülerin in der Klasse sei, und Ulli bekam ein Buch wie die anderen. Zuerst wurde wiederholt und dann las die Lehrerin selbst ein neues Stück vor. „Wer kann das wiederholen?“ fragte sie, aber keine rührte sich. Plötzlich platzte ein dickes Mädchen, das neben Dora saß, heraus: „Vielleicht kann das die Neue! Sie soll ja so ein Wunderkind sein.“ Ulli stieg das Blut in den Kopf. Natürlich war die Dicke von Dora aufgehetzt! Sie wurde krebsrot, als sich die Lehrerin ihr zuwandte, und spürte ein heftiges Pochen in den Schläfen. Sollte sie eingestehen: Nein, ich kann das nicht? Sie war überzeugt, daß sie dann für immer verloren sei. Im übrigen erschien ihr die Stelle nicht besonders schwierig und es reizte sie, den feindseligen Mitschülerinnen zu zeigen, was ein Mädchen „vom Land“ wirklich konnte. Sie stand tapfer auf und begann zu lesen. Eine Zeile lang ging es ganz gut, aber in der unheimlichen Stille hallte ihre Stimme so sehr, daß Ulli darüber erschrak und unsicher wurde. Noch dazu tauchte ein „a“ auf, von dem sie nicht bestimmt sagen konnte, ob es als „e“ oder ,,o“ zu lesen wäre. Gleich darauf kicherte es bald vorne, bald rück-
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wärts, bald links und bald rechts und damit war es mit ihrer Haltung vorbei. Sie hatte das Gefühl, in den Schwierigkeiten der englischen Aussprache wie in einem Sumpf unterzugehen und, was über ihr zusammenschlug, war eine schallende Lache, in der sie versank. Das Weinen war ihr näher als irgend etwas anderes. Aber nur das nicht! Diese Freude wollte sie ihnen nicht gönnen! Ulli kämpfte tapfer und entschlossen, aber es erforderte eine unerhörte Anstrengung. Sie sah und hörte nichts mehr. Sie wußte hinterher nicht, wie die Stunde zu Ende gegangen und was danach gekommen war. Sie konnte nur sagen, daß es schließlich läutete, die Mädchen ihre Schulsachen zusammenrafften und alle die Stiege hinuntergeführt wurden. Aber so richtig zum Bewußtsein kam sie erst in einiger Entfernung von der Schule, als sie allein auf der Gasse stand. Wie jetzt weiter? Sei es nun, daß sie morgens zu wenig auf den Weg geachtet hatte oder daß ihr dösiger Kopf die Schuld trug — sie fand nicht nach Hause. Sie lief ein Stück vor und noch hastiger wieder zurück, dann kreuz und quer, mit dem einzigen Erfolg, daß sie schwören hätte können, keines der Häuser jemals gesehen zu haben. Sie entschloß sich gerade, einen Vorübergehenden um die Porzellangasse zu fragen, als sie auf der anderen Straßenseite Poldi und deren Nachbarin bemerkte. Ob die wohl...?
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Poldi wäre die einzige gewesen, der sie sich anvertraut hätte. Das schwarzlockige Mädchen verabschiedete sich jedoch gerade von ihrer Freundin und verschwand im Haustor. Ihre Nachbarin kam über die Straße und gerade auf Ulli zu. Sie hatte zwei volle rote Backen und eine Stupsnase. die lustig in die Welt schaute. „Was machst du denn da?“ fragte sie erstaunt und. als Ulli schwieg: .Wartest du auf jemanden?“ Ulli schüttelte den Kopf. „Warum gehst du dann nicht nach Hause?“ „Weil ich nicht hin finde“, gestand Ulli kleinlaut. Ihre Mitschülerin lachte von Herzen. „Wenn das die anderen wüßten, das gäbe ein Hallo!“ Ulli nickte. Gerade um das kreisten fortwährend ihre Gedanken! Sie mußte einen sehr bemitleidenswerten Eindruck machen, denn die andere fühlte sich plötzlich veranlaßt, sie mütterlich bei der Hand zu nehmen. „Kannst du mir deine Adresse sagen, dann bringe ich dich hin.“ Das konnte Ulli. Im Weitergehen fragte sie das Mädchen freundlich: „Woher bist du denn?“ „Aus Salzburg“, gestand Ulli und es tat ihr wohl, daß ihr jemand so viel Interesse entgegenbrachte. „Aus Salzburg“, kam es freudig zurück. „Da war ich auch schon einmal. Ich bin mit einem Aufzug auf eine Burg gefahren und oben habe ich Soda mit Himbeer getrunken.“ Es mutete Ulli zwar seltsam an, daß ein Glas Soda
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mit Himbeer der tiefste Eindruck von Salzburg sein konnte, aber sie war so glücklich, von ihrer Vaterstadt sprechen zu können, daß ihr der Weg nach Hause viel zu kurz erschien. Frau Pohl wartete in der Küche bereits mit dem Mittagessen und Ulli war zu hungrig, um Frau Pohls Kochkunst nicht alle Ehre zu erweisen. Sie fand nicht einmal Zeit, mit ein paar Worten über ihre Erlebnisse in der Schule zu berichten, überdies erschienen sie ihr viel zu wenig erfreulich, um aus freien Stücken davon zu sprechen. Frau Pohl hingegen fühlte sich für Ullis Schulbesuch irgendwie verantwortlich, vielleicht, weil gerade sie vom Schicksal dazu ausersehen war, ihr diesen zu ermöglichen, und fragte deshalb: „Na, wie war es?“ Ulli stotterte erst etwas Unzusammenhängendes, aber da es ihr nun einmal nicht lag, um eine Sache lange herum zu reden, berichtete sie schließlich über das wenig erfreuliche Zusammentreffen mit ihren Mitschülerinnen und deren unfreundliches Verhalten. Ohne besondere Anteilnahme zu bekunden, hörte die Wirtschafterin zu und meinte am Schluß: „Die Mädchen sind halt schon mehr als vier Jahre aneinander gewöhnt und du bist eine Fremde, ein Eindringling, na — und wirklich vom Land.“ Damit war für sie das Problem gelöst. „Du kannst übrigens jetzt Geschirr waschen.“ Sie wandte sich schon wieder realeren Dingen zu und wies nach hinten, wo sie das Mittagsgeschirr zusammengestellt hatte. „Und um halb drei, wenn die Geschäfte wieder aufsperren, holst du einen Laib Brot herauf. Im übrigen beeile dich, daß du
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mit deinen Aufgaben fertig bist, wenn Onkel Viktor nach Hause kommt. Du weißt schon!“ Freilich wußte Ulli, daß dann das Vorlesen an die Reihe kam, und es bangte ihr auch gehörig davor. Nicht wegen des Lesens. Oh nein! Da war sie ihrer Sache schon sicher und überdies hatte sie eine gute Vorschule genossen, weil sie ihrer Mutter immer während der langen Winterabende vorlesen mußte. Aber vor Onkel Viktor hatte sie eine große Scheu. Sie kannte ihn zu wenig. Während sie das Geschirr reinigte und abtrocknete, wunderte sie sich, daß sie nun schon einen ganzen Tag bei ihm war und ihn nur während der paar Minuten gesehen hatte, als sie auf den Teppich geplumpst war. Er steckte wie ein Fuchs in seinem Bau. Diese Angelegenheit beschäftigte sie derart, daß sie sogar den Mut aufbrachte, Frau Pohl zu stören, die gerade ihre Kassa in Ordnung brachte. „Ist denn Onkel Viktor nicht einsam?“ „Da kann man auch nichts machen.“ Diese Auskunft war zwar wenig aufschlußreich, aber Ulli hatte sie fast schon erwartet. „Kommt denn nicht wenigstens manchmal ein Besuch zu ihm?“ beharrte sie, während sie unter Frau Pohls Anweisung das Geschirr einräumte. „Nein. Wozu? Er hat ja seine Bilder und so viele Bücher darüber, daß er genug zu tun hat. Außer...“ fügte sie schließlich sich erinnernd hinzu, „hie und da der Herr Kopecek.“ Ulli schien glücklich zu sein, durch diesen Herrn Ko-
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pecek an Onkel Viktor endlich einen allgemein menschlichen Zug zu entdecken, und ließ in ihrer Neugierde nicht locker. „Wer ist dieser Herr Kopecek?“ „Ein Maler. Dein Onkel lernte ihn gelegentlich einer Reise vor längerer Zeit kennen und seither kommt er von Zeit zu Zeit ins Haus. Dann sitzen sie drinnen, rauchen Zigaretten und quatschen über die Kunst, was unsereiner ohnedies nicht versteht. Aber Herr Kopecek versteht es und versteht es vor allem, Onkel Viktors Steckenpferd reichlich auszunützen. Er bringt öfter Bilder mit und es gelingt ihm immer wieder, Onkel Viktor diese aufzuschwatzen. Wenn ich Geld für die Wirtschaft brauche, ist er zugeknöpft noch und noch, aber für das Bilderzeug hat er Geld genug, obwohl er schon die ganze Wohnung damit tapeziert hat.“ Anscheinend hatte Ulli jenen Punkt berührt, der Frau Pohls größten Unwillen hervorrief. Das ging schon daraus hervor, daß sie so lange und so erregt darüber sprechen konnte. Ulli war in den bescheidenen Salzburger Verhältnissen Menschenkennerin geworden. Sie wußte das. Und wie um ihr recht zu geben, setzte Frau Pohl von selbst fort, um ihrem Ärger Luft zu machen: „Während sonst niemand sein Heiligtum betreten darf — der Herr Kopecek darf alles! Er geht hier aus und ein, als ob er zu Hause wäre, setzt sich hinein, wenn auch dein Onkel noch gar nicht von seinem Spaziergang zurückgekehrt ist, schickt mich um Zigaretten, wenn keine bereit stehen, u n d ...“
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Frau Pohl wußte noch eine ganze Reihe von Tatsachen, mit denen sie durchaus nicht einverstanden war. Ulli zog daraus nur den Schluß, daß dieser Herr Kopecek ein recht unangenehmer Zeitgenosse sein mußte, und wunderte sich, daß gerade er Onkel Viktors Umgang darstellte. Onkel Viktor war eben ein sonderbarer Kauz. Das hatte schon Mutti immer gesagt. Oder war vielleicht nur Frau Pohl so gegen Herrn Kopecek eingenommen, weil er nie mit einem ordentlichen Trinkgeld herausrückte? Sie kannte in der Getreidegasse mehrere Leute, die ihre Zuneigung und ihre Nachrede davon abhängig machten. „Da liegt das Geld für das Brot“, störte sie Frau Pohl in ihren Überlegungen. „Der Bäcker ist auf unserer Seite, nur um ein Haus weiter rechts. Und dann sieh zu, daß da zu deinen Aufgaben kommst.“ Der Bäcker war ein großer Mann mit einer weißen Mütze und einer lustigen roten Nase. „Und wem gehörst du denn, Kleine?” fragte er. „Dem Onkel Viktor.“ „Ah!“ erinnerte er sich, „dem Alten mit den vielen Bildern. Oh weh, dort wird dir bald der Mund zuwachsen! So kleine Fräulein plaudern aber gern. Was wirst du denn dann machen?“ „Dafür habe ich den Jolly“, erklärte Ulli prompt. „Hast recht!“ erwiderte der Mann mit der weißen Mütze. „So ein kleines Tier ist oft gescheiter als ein großer Mensch.“
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3 SEPPL WIRD FREMDENFÜHRER Und recht sollte er behalten! „Ulli! Ulli!“ piepste der Sittich, als sie eintrat, und rückte in seinem Käfig ganz nahe an sie heran. Ihr wurde ganz warm ums Herz und darum lobte sie ihn ein ums andere Mal: „Jolly, braver Vogel...“ „So, so“, erwiderte er und hüpfte von einer Leiste zur anderen, um seine Freude zu zeigen. Ulli erinnerte sich an den Racker und erzählte von ihren Enttäuschungen in der Schule. Jolly kam ganz nahe an sie heran und sagte von Zeit zu Zeit „So, so“ und Ulli war glücklich, denn soviel Anteilnahme hatte sie nicht einmal bei Frau Pohl gefunden. Nachdem sie sich ihren größten Schmerz von der Seele geredet hatte, erinnerte sie sich ihrer Pflicht. Sie setzte sich an den Tisch und blätterte in den Heften, aber sie wußte sich nichts Rechtes anzufangen. War doch alles in ihrem Ärger mit den Mitschülerinnen untergegangen! „Ulli, du vertrödelst nur die Zeit!“ hätte die Mutter gesagt. „Aber das mußt du doch einsehen“, wendete sie sich zu Jolly, da sie ihrer Mutter nicht erwidern konnte, „daß
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man sich nichts merken kann, wenn man so wütend ist, daß man alles zerreißen könnte.“ „So, so“, sagte Jolly. „Aber von morgen an wird das anders werden“, versprach Ulli. „Die Mädchen sind ja alle Gänse. Morgen werden sie mich sicher wieder auslachen, weil ich nicht nach Hause fand. Die Rotbackige mit der Stupsnase wird sicher alles erzählen. Aber ich werde mich nicht um sie kümmern — um diese Gänse!“ Sie war selbst nicht ganz von ihrem Vorhaben überzeugt und ging unruhig im Zimmer auf und ab, bis sie beim Fenster stehen blieb. Richtig, da hatte sie ja noch gar nicht hinuntergesehen! Aber es war nicht so besonders aufregend. Rechter Hand und gegenüber verstellten zwei Häuser mit ihren Fronten die Aussicht. Aus den Fenstern hing da und dort ein Stück Wäsche zum Trocknen und aus einem sah ein alter Mann, der sich von einer Mahlzeit zur anderen durchwartete. Zu ihrer Linken ragte gar eine hohe Feuermauer in den Himmel. Das Reizvollste bildete noch der Hof dazwischen. Da stand eine Reihe von Autos herum, die alle mehr oder weniger beschädigt schienen. Hier gingen jedoch wenigstens Menschen ab und zu. Einer arbeitete mit einem Ding, das so grelles Licht ausstrahlte. daß es einem in den Augen wehe tat, und ein anderer beugte sich kopfüber in einen Wagen, als wollte er sich darin verkriechen. Die schönste Arbeit hatte ein Bub, der mit einem Schlauch Wasser gegen einen Wagen spritzte, um ihn zu
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reinigen. Das mußte sicher noch ein Lehrjunge sein, überlegte Ulli, der zu etwas anderem nicht zu gebrauchen war. Anscheinend verrichtete er aber auch diese Tätigkeit nicht zur vollen Zufriedenheit, denn plötzlich tauchte auf der anderen Seite des Wagens ein Mann mit einem großen Hut auf, der ihm mit der Faust drohte und etwas zurief, was jedoch das Mädchen durch das geschlossene Fenster nicht verstehen konnte. Der Junge schien sich nichts daraus zu machen, denn er ließ weiter den Wasserstrahl auf dem Wagen spielen. Als aber der große Hut über dem Wagenrand wieder zum Vorschein kam, wendete er plötzlich den Strahl, zielte und der große Hut flog in weitem Bogen davon. Eine Sekunde später tauchte der Lange in seiner ganzen Größe auf, sauste um den Wagen herum, und Ulli konnte sogar durch das geschlossene Fenster sein Schreien hören. Aber als er auf der anderen Seite anlangte, war der Junge davon und so geschickt zwischen die Wagen geschlüpft, daß ihm der Lange nicht nachkonnte. Die beiden anderen hatten ihre Arbeit eingestellt und sahen lachend der Verfolgung zu. Sie riefen dem Langen immer wieder etwas zu, um ihn anscheinend aufzumuntern. Plötzlich bückte sich dieser und schnappte das am Boden liegende Schlauchende. Dann kam die Rache. Der Junge, der zwischen den Wagen eingeklemmt stand, konnte nicht ausweichen und mußte die kalte Dusche hinnehmen, bis sich einer der beiden Zuseher seiner erbarmte und das Wasser absperrte. So plötzlich der Kampf ausgebrochen war, so rasch ging
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er zu Ende. Die drei Großen standen lachend nebeneinander und aus dem Wagengewirr kletterte der Schlingel, dem ein dicker blonder Schopf über die Nase triefte. Am meisten mußte sich jedoch Ulli darüber wundern, daß auch er lachte. Der Älteste wies ihn in die Werkstätte. Ulli hätte etwas darum gegeben, wenn sie gewußt hätte, wie sich die Geschichte weiterentwickelte. Aber solange sie beim Fenster stand, blieb der Bube verschwunden. Ob er wohl beim Ofen saß und warten mußte, bis sein Zeug wieder trocken war? Das Fenster erschien ihr plötzlich als das Reizvollste an ihrem Zimmer, wenn sie von Jolly absehen wollte. Durch das Fenster kam Leben herein. Sie mußte auch später immer wieder einen Blick in den Hof werfen, als sie schon beim Tisch saß und einen Brief an die Mutter begann. Aber nichts rührte sich mehr. In der Dämmerung verließen auch die drei Männer den Hof und bald deckte alles die Finsternis des Februarabends zu. Ulli konnte ungestört an ihrem Brief weiterschreiben. Sie wußte zwar im Augenblick nicht, womit sie die Marke dafür bezahlen sollte, aber wenn ihr der Zufall zu Hilfe kam, konnte sie wenigstens einen langen, dicken Bericht absenden. Plötzlich schreckte sie eine laute Stimme auf. „Das Ding vom Land soll jetzt kommen!“ Nach Onkels genauer Tageseinteilung mußte es jetzt sechs Uhr sein. Sie schloß rasch ihren Brief weg, aber schon war Frau Pohl bei ihr, um sie zu holen. Im Vorbeigehen winkte sie Jolly zu und trat in Onkels Zimmer. Der saß in einem tiefen Ledersessel in der Ecke, seine Schutzgläser vor den Augen, die sein Gesicht viel
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kleiner erscheinen ließen. Den Mund mit den vielen Falten spitzte er zu, um damit eine Zigarre ablutschen zu können, die er später in Brand steckte. „Am besten setzt sie sich zum Schreibtisch“, ordnete er an. „Das Buch, das ich vorbereitet habe, ist zu schwer.“ Ulli hatte zunächst nur die Sorge, nicht wieder niederzufallen. Sie war deshalb glücklich, als sie wohlbehalten in Onkels Sessel landen konnte. Im nächsten Augenblick erschrak sie über die Größe des vor ihr aufgeschlagenen Buches. Es war so groß wie ein Meßbuch und sie wunderte sich, daß ein Mensch aus freien Stücken ein so dickes Buch zu lesen beginnen konnte. „Du kannst gleich anfangen“, bestimmte Onkel Viktor. Ulli begann. Sie las auf Leben und Tod. Natürlich verstand sie nicht einen Ton von dem, was sie las. Aber das bildete das geringere Übel. Viel mehr machten ihr die vielen Fremdwörter zu schaffen. Auf der ersten Seite konnte man sie noch hinnehmen, aber auf der zweiten ging es erst richtig los. Da wimmelte es nur so von diesen Biestern und immer, wenn sie eines kommen sah, stockte ihr Herz. Das Wort „Renaissance“ kehrte besonders oft wieder und jedesmal stolperte sie darüber und las es anders. Onkel mußte es auch schon bemerkt haben, denn so oft sie dazukam, sagte er: „Laß, ich weiß schon.“ Auf diese Weise brachte sie Seite um Seite hinter sich, und so oft sie umblätterte, schwindelte ihr vor der Größe der nächsten. Daß Menschen so etwas schreiben und drucken können!
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Endlich schien der Verfasser mit ihr Mitleid empfunden zu haben. Die nächste Seite war nur zur Hälfte bedruckt und das Kapitel durch ein kleines Bildchen abgeschlossen. „Genug“, entschied Onkel Viktor. Ulli wagte es das erste Mal, ihren Blick von dem großen Buch zu heben, und dabei fiel er auf ein großes Bild über Onkels Schreibtisch. Vor einem kleinen Haus mit vielen Blumen in den Fenstern balgten sich mehrere Kinder, so daß sie einen großen Korb mit Äpfeln umwarfen, dessen Inhalt nach allen Seiten davon zu kollern schien. Der Streit mußte aber nicht besonders ernst sein, denn alle lachten dabei, selbst der Vater, der, Pfeife rauchend, im Garten daneben stand. Sie mußte sich unwillkürlich an den Zwist im Hof erinnern und lächelte. Das war bestimmt das kostbare Stück in Onkels Sammlung, von dem Frau Pohl gesprochen hatte. Er mußte ihre Blicke verfolgt und ihr Lächeln beobachtet haben. „Gefällt es dir?“ hörte sie ihn. Ulli bejahte freimütig durch ein freudiges Kopfnicken. „So. so“, stellte er fest und Ulli mußte sich an Jolly erinnern. „Ist gut“, sagte Onkel Viktor und Ulli glaubte sich entlassen. Sie hatte im Augenblick nur zwei Empfindungen: einen rumorenden Kopf und einen hungrigen Magen. Daß das Lesen eines so großen Buches einen dummen Kopf erzeugen konnte, ging ihr noch ein, aber daß es so hungrig machte, war ihr neu. Sie war deshalb Frau Pohl sehr dankbar, als die sie
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in die Küche zum Nachtmahl rief. Sie stürzte sich mit einem wahren Heißhunger darauf und konnte in Kürze das eine Übel beseitigen. Das andere, der wirre Kopf, blieb, blieb noch, als sie in ihr Zimmer ging, und quälte sie noch, als sie schon in ihrem Bett lag. Es kollerte alles Mögliche durcheinander und nichts davon war erfreulich: die Mitschülerinnen mit ihrer Feindseligkeit, die ungemütlichen Mahlzeiten mit der wortkargen Frau Pohl, der Onkel Viktor mit dem sauren Gesicht und das überlebensgroße Buch mit den vielen Fremdwörtern. Alles wirbelte durcheinander und dieser Tanz sollte morgen weitergehen, morgen und alle die kommenden Tage. Das kam Ulli so trostlos vor wie die Finsternis in ihrem Zimmer. Es waren zunächst nur zwei dicke Tränen, die in ihren Augen hochstiegen, als sie sich an Salzburg erinnerte, und ein ganzer Strom, als sie an Mutti dachte. Sie vergrub ihr Gesicht im Polster und weinte und weinte. Ulli hatte Heimweh!
Als Ulli am nächsten Morgen ihre beiden blonden Schwänzchen vor dem Spiegel zurechtmachte, erschrak sie über ihre rotgeränderten Augen. Richtig, sie hatte ja gestern abend noch soviel weinen müssen! Sie rief sich all ihre Schmerzen in Erinnerung und mußte zugeben, daß sie bei Tageslicht lange nicht mehr so schrecklieh auf sie wirkten. Sie sah sich selbst fest in die
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blaugrauen Augen und nickte sich zu, als wollte sie sagen: „Wir werden es schon schaffen, Ulli!“ Am Wege zur Schule wurde ihr jedoch wieder reichlich bang. Sie erinnerte sich der unwürdigen Angelegenheit mit dem nach Hause führen und war überzeugt, daß alle Mädchen bereits darum wußten. Es war jedoch die erste angenehme Überraschung dieses Tages, daß das erwartete Hallo unterblieb, als sie die Klasse betrat. Die meisten Mädchen beachteten sie kaum, andere schauten ihr verschlafen und teilnahmslos ins Gesicht und eine nickte ihr sogar verstohlen zu — ihre Begleiterin von gestern mittag! Ulli hatte begriffen. Um vieles erleichtert, wollte sie zu ihrem Platz, als ihr Dora den Weg vertrat. Sie war heute noch hübscher als gestern gekleidet. Dafür funkelten ihre Augen noch unheilvoller. „Du hast mir gestern eine schöne Suppe eingebrockt! Zwei Seiten mußte ich abschreiben. Aber die Rache kommt noch! Du wirst schon sehen...“ Sie beschränkte sich vorerst auf diese allgemeine Andeutung, aber sie genügte, um Ullis Stimmung gleich wieder um ein beträchtliches sinken zu lassen. Während Frau Wurm ihre bei den Mädchen so beliebte Geschichtsstunde hielt, gab sich Ulli noch den verschiedensten Mutmaßungen über Doras Absichten hin, bis ein reichlich mit Tinte getränkter Löschpapierknödel auf ihrer Bank landete. Ulli war geistesgegenwärtig genug, das Geschoß mit
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dem Handrücken abzuwehren, so daß es in den Mittelgang kollerte. Aber sie hatte sich genau die Richtung gemerkt und, als sie in diese sah, beobachtete sie, wie Dora rasch ihren Kopf nach der Tafel richtete. Die Klassenvorsteherin hatte wohl nicht dieses Zwischenspiel, dafür aber die plötzlich herumirrende Papierkugel bemerkt. „Wer wirft hier mit Papierknödeln?“ fragte sie streng. Durch Sekunden blieb es mäuschenstill. Dann stand Ulli auf. Aller Augen waren auf sie gerichtet, während sie unentwegt Dora fixierte, die krebsrot geworden war. „Entschuldigen Sie“, bat Ulli und wunderte sich über ihre eigene Festigkeit. „Ich habe mich voll Tinte gemacht“ — sie wies ihren Handrücken vor — „und wollte das Papier nach dem Abwischen in den Korb werfen. Dabei habe ich daneben getroffen.“ „Na dann...“, nickte die Lehrerin befriedigt und Ulli konnte sich setzen. Die Mädchen starrten sie mit sichtlicher Bewunderung an, die nicht allein ihrer Geistesgegenwart galt. Selbst Dora konnte ihre Überraschung über Ullis Großmut nicht verbergen, so sehr sie sich bemühte. Aber Ullis Sorge um die Tinte auf ihrem Handrücken blieb. Wie leicht konnte sie sich einen Tintenfleck in ihr einziges Schulkleid machen! Sie kramte deshalb verstohlen und vorsichtig unter ihrem Pult herum, um ein geeignetes Stück Papier zu finden. Dabei stieß sie mit den Fingern gegen etwas Hartes, von dem sie hätte schwören können, daß sie es nicht in das Fach gelegt hatte. Sie zog den Gegenstand unauffällig hervor, um ihn genauer zu betrachten.
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Und das war die zweite Überraschung des Tages. „Wohl bekomm's, Ulli!“ stand außen auf dem sauberem Papier und, Ulli war überzeugt, daß der Inhalt ganz verteufelt einem Wurstbrot ähnlich sah. Frau Pohl wäre auf einen solchen Gedanken nie gekommen. Wählend sie ihren Fund behutsam zurückschob, ging ihr Blick über ihre Mitschülerinnen. War es ein Zufall, daß sie Poldi unentwegt anstarrte? Sie lächelte ihr zu und die Schwarzlockige bekam rote Wangen. Ulli kam sich auf einmal nicht mehr so einsam vor und die Welt erschien ihr viel, viel schöner. In der großen Pause gesellte sich ein kleines, unscheinbares Ding zu ihr, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Sie war so klein, daß sie die anderen nicht voll nehmen mochten, und vermutete vielleicht in Ulli eine Leidensgefährtin. „Mir fällt auch das Englisch so schwer. Ich werde es nie erlernen“, begann sie. Aber Ulli tröstete sie. „Ich muß mich erst ein wenig eingewöhnen, dann wird es schon gehen und dann lernen wir miteinander und du wirst es auch zusammenbringen.“ Die Erlebnisse des Morgens hatten Ulli in derart rosige Laune versetzt, daß sie der kleinen Trude den Himmel versprochen hätte. Als sie das Schulhaus zu Mittag verließ, sollte die dritte Überraschung des Tages kommen. An der Straßenecke nahmen zwei Mädchen Ulli in die Mitte: Poldi und ihre Nachbarin, die Grete Schirrmeister. „Wir dachten, wir haben doch den gleichen Weg wie du“, sagte Grete so unbekümmert, daß Ulli über ihre zarte Rücksichtnahme nur staunen konnte.
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„Und dann mußt du uns noch etwas von Salzburg erzählen“, meinte Poldi. Wie gerne sie das tat! Viel lieber hätte Ulli allerdings noch irgend jemandem ihre Erlebnisse in der Schule anvertraut. Sie war fast schon verleitet, es mit Frau Pohl zu versuchen, denn diese fragte sie wieder danach, weil sie sich nun einmal durch den gemeinsamen ersten Weg verantwortlich fühlte. Aber Ulli hatte dann doch wieder das Gefühl, als könnte Frau Pohl die Überraschungen des Vormittages nicht richtig verstehen und begnügte sich damit zu erklären, daß sie sich schon langsam eingewöhne. Das Mittagessen verlief darauf so wortlos, wie sie es nun schon gewohnt war. Aber Jolly mußte sie berichten. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie das Geschirr gewaschen, abgetrocknet und in den Kasten eingeräumt hatte. Er empfing sie mit seinem „Ulli, Ulli...“ und rutschte zu ihr, als sie bei ihm niederkniete und ihm von Dora, Trude, Poldi und Grete Schirrmeister erzählte. Sogar Frau Wurm, die Klassenvorsteherin, mußte sie erwähnen und er unterbrach sie immer wieder mit seinem „So, so...“. Für Ullis Mitteilungsbedürfnis war dies jedoch auf die Dauer zu wenig und selbst, während sie ihre Aufgaben machte, würgte sie innerlich noch immer etwas, das sie sich noch lange nicht von der Seele geredet hatte. Es wurde ihr so eng in ihrer Kammer und sie hatte nur den einen Wunsch, aus dieser Enge herauszugelangen. Sie versuchte es mit dem Fenster. Aber im Hof gab es heute
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keine Bewegung. Entweder hatten die Männer ihre Arbeit schon erledigt oder es war ihnen zu kalt dazu. Das Fenster half nichts. Da kam ihr eine Erleuchtung: Ob wohl Frau Pohl einen Weg für sie hatte? Sie schlich in die Küche und stellte sich dienstbeflissen. Die Wirtschafterin wußte jedoch keinen Auftrag für sie, sie hatte alles selbst besorgt. Ulli mochte alles andere denn ein glückliches Gesicht machen, als sie in ihr Zimmer zurückging. Bewegte nun Frau Pohl dieses unglückliche Gesicht oder erinnerte sie sich ihrer eigenen kindlichen Sehnsucht, auf alle Fälle rief sie Ulli zurück und meinte: „Wenn du mit deinen Aufgaben fertig bist, kannst du ja einen Spaziergang machen. Zunächst um den Häuserblock, dann immer weiter, aber nie zu weit, damit du immer wieder zurückfindest, und schon gar, damit du um sechs Uhr wieder hier bist, wenn dich der Onkel braucht.“ Im Nu war das Kind davon und Frau Pohl schaute ihr mit jenem Kopfschütteln nach, das allen Leuten als einziges übrig bleibt, wenn sie andere nicht mehr verstehen können. Ulli stapfte die Porzellangasse nach rechts, ging erst um einen Häuserblock, dann um einen zweiten und schließlich noch einmal um den eigenen herum. Aber das Gefühl der Befreiung wollte sich nicht einstellen. Sie würgte noch immer an diesem Etwas in ihrem Inneren und blieb unschlüssig und unbefriedigt vor dem Haustor stehen. Sollte sie noch einmal diese geistlose Runde machen? Während sie hin und her überlegte, fuhr ein Auto vor und blieb zu ihrer Linken stehen. Ein Mann sprang heraus
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und eilte in das Geschäft, über dem in großen Buchstaben stand: „Autoreparaturwerkstätte“. Natürlich, das mußte das Geschäft sein, zu dem die vielen Wagen im Hofe gehörten, und wie zur Bestätigung ihrer Vermutung kehrte der Fahrer mit dem großen, langen Mann zurück, den Ulli von der gestrigen Spritzschlacht im Hofe in Erinnerung hatte. Er trug auch den breiten Hut von gestern. Den mußte er allerdings ablegen, als er vorne den Wagen öffnete, um seinen Kopf hineinzuzwängen. Sie kam zu dem Schluß, daß Leute, die ein Auto reparieren wollen, anscheinend immer am Bauche liegen oder den Kopf irgendwo hineinstecken müssen. Nach einiger Zeit kam der Lange wieder zum Vorschein und rief nach der Werkstätte hin: „Seppl, den großen Schlüssel, den schwarzen.“ Gleich darauf erschien in der Türe ein wüster blonder Schopf und Ulli war überzeugt, daß er nur zu dem Lehrjungen gehören konnte, der gestern im Hof so gründlich abgekühlt worden war. Seppl trug einen großen Schraubenschlüssel auf der Schulter, pfiff ein Lied und sah. so lustig in die Welt, ab wäre es das Schönste, so schwere Schraubenschlüssel schleppen zu müssen. Er mußte noch mehrmals in die Werkstätte laufen, um immer andere Werkzeuge zu bringen. Schließlich war es jedoch so weit, daß der Fahrer in den Wagen stieg, davonfuhr und der Lange seinen großen Hut aufsetzte und wieder ins Geschäft zurückging. Nur Seppl blieb mit einer Unsumme Werkzeug auf dem
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Gehsteig zurück. Er kratzte sich zwar hinter den Ohren, aber das Pfeifen gab er nicht auf. Ulli mußte über ihn lachen. War es nun Ullis Lachen oder geschah es schon deshalb, weil Seppls Aufmerksamkeit überhaupt nichts entging, er machte auf einmal Front gegen Ulli und stellte sich breitbeinig vor sie hin. „He, was lachst du denn da?“ „Ich habe an dein gestriges Bad denken müssen“, erwiderte Ulli. „Ha, hast du die Kulturschande mit angesehen, wie man einen anständigen Lehrjungen im 20. Jahrhundert malträtiert!“ Ulli nickte. Seppl warf seinen blonden Schopf zurück und zwei lustige Augen kamen zum Vorschein: „Wieso konnte sie das?“ fragte er feierlich. „Ich wohne hier“, sagte Ulli und wies nach dem Haustor. „Wie konnte das meiner geschätzten Aufmerksamkeit entgehen?“ „Weil ich erst vorgestern hier eingezogen bin“, erklärte Ulli. „Das wird es sein“, stellte Seppl befriedigt fest. „Und woher, wenn ich fragen darf?“ „Aus Salzburg.“ „Also vom Land“, erklärte er sachkundig. „Ja, vom Land“, gab Ulli kleinlaut zu und, da sie die Wirkung dieser Feststellung von der Schule her kannte, sackte sie so weit zusammen, daß sie der Junge um mehr als Haupteslänge überragte. Diese Überlegenheit mochte ihm
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bei der Gelegenheit zum Bewußtsein gekommen sein, denn seine Worte bekamen auf einmal etwas Väterliches. „Du brauchst nicht traurig sein. Ich bin auch vom Land und bin doch die Stütze des Unternehmens. Allerdings erst seit dem Sommer, aber man merkt es schon. Ich bin aus Tradigist. Weil jedoch alle Frauen mit der Geographie auf Kriegsfuß stehen, wirst auch du dir darunter nicht viel vorstellen können. Ulli nickte bestätigend mit dem Kopfe und gestand ihm freimütig ein, daß sie wegen der bösen Geographie am ersten Tag auch nicht gleich nach Hause gefunden habe. Sie wunderte sich selbst, daß sie sich gar nicht schämte, ihm dieses Geständnis abzulegen, und war sofort überzeugt, daß man zu ihm mit allen Schmerzen kommen konnte. „Das wird jetzt anders werden“, versicherte er voll Würde und Verständnis, „denn jetzt hast du mich, den Seppl. Ich werde dir alles erklären. Und wie heißt du?“ „Ich heiße Ulli.“ „Das ist zwar nicht viel, aber fürs erste genügt es wohl. Da, schau mal, das ist ein Pakardwagen — er wies nach einem vorbeifahrenden großen, eleganten Wagen und war ganz Aug' und Ohr — „da muß man ,Habt acht' stehen, wenn so einer vorbeifährt.“ „Wieso kennst du das?“ „Erstens gehört es zum Geschäft und übrigens merkt man es am Kühler, am Schnitt, an der Kompression und...“ Er zählte soviele Fremdwörter auf, daß Ulli an Onkel Viktors großes Buch denken mußte. Er hätte vielleicht noch mehr aufgezählt, wenn nicht aus der Werkstätte eine tiefe
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Stimme reichlich ungeduldig seinen Namen gerufen hätte. „Du siehst, Ulli, ich muß gehen. Ohne mich stockt das Werkel. Aber um halb sechs Uhr am Abend bin ich immer frei. Da wird es mir eine große Ehre sein...“ Dabei machte er eine tiefe Verbeugung, schnappte den großen Schraubenschlüssel und brachte es zustande, das ganze übrige Werkzeug mit der anderen Hand zu fassen. Er war fast schon in der Eingangstüre der Werkstätte verschwunden, als er plötzlich kehrt machte und zu Ulli zurückkam. „Und an dem Langen habe ich mich gerächt. Er hat am Wintermantel rückwärts eine Spange und auf der Spange ein großes Vorhängeschloß. Solide und von mir eigenhändig zugesperrt. Das letztere weiß er noch nicht. Er bekommt es nur herunter, wenn er die Spange auftrennt oder das Schloß durchfeilt — oder — wenn er mich Sonntag auf den Fußballplatz mitnimmt, denn dann gebe ich ihm den Schlüssel dazu.“ Damit war Seppl endgültig verschwunden und Ulli stieg mit dem angenehmen Bewußtsein die Stiege hinauf, einen richtigen Freund gefunden zu haben. Und das war die letzte und größte Überraschung dieses Tages! Die Überzeugung spuckte noch in ihrem Kopfe, als sie schon vor Onkel Viktors Buch saß, das ihr heute lange nicht mehr so überlebensgroß vorkam. Auch die Fremdwörter schreckten sie nicht wie gestern, wenn sie an Seppls viele Fremdwörter dachte, die er nur so nebenbei und ohne Schwierigkeit heraussprudelte.
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Am nächsten Tag war Ulli aller Sorgen um einen größeren Rundgang enthoben, denn Frau Pohl hatte ihr eine lange Liste von Besorgungen zusammengestellt. Sie war zu der Einsicht gekommen, daß das Ding vom Land sehr anstellig und tüchtig sei, und überdies konnte sie ihre Beine schonen, die den schweren Körper nicht mehr recht tragen wollten. Ulli bemühte sich nicht nur gewissenhaft, sondern auch rasch ihre Aufträge zu erledigen, um wieder zurück zu sein, bevor Onkel Viktor seinen Spaziergang beendet hatte. Nicht wenig stolz keuchte sie nach kurzer Zeit mit der schweren Einkaufstasche die Stiege hinauf und war erstaunt, vor der Türe einen hageren, großen Herrn mit auffallend vielen tiefschwarzen Haaren zu treffen, der anscheinend schon geläutet hatte und darauf wartete, daß man ihm aufschloß. Er trug ein mächtiges Bild unterm Arm und Ulli mutmaßte, daß es Herr Kopecek sei. Sie schielte vorsichtig nach ihm und erschrak, als sie bemerkte, daß er unbekümmert seine dunklen, stechenden Augen auf sie richtete. „Das ist sicher das kleine ,Ding vom Land’“, sagte er freundlich und reichte Ulli die freie Rechte hin. „Schön willkommen!“ wünschte er, als Ulli zaghaft ihre schmale Hand in seine legte. Für Ullis Verlegenheit bedeutete es eine Erlösung, daß Frau Pohl kam und öffnete. „Ah, der Herr Kopecek“, rief die Wirtschafterin ohne übertriebene Freundlichkeit und wendete sich dann an das Mädchen. „Hast du ordentlich gegrüßt, Ulli?“ „Wir sind eben jetzt miteinander bekannt geworden“, versicherte Herr Kopecek, während er Hut und Mantel ab-
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legte, „und ich bin überrascht über Ihre liebe, kleine Hausgenossin. Sie ist recht herzig und wird sicher einmal ein großes, fesches Fräulein werden.“ Damit versetzte er Ulli einen leichten Klaps auf die Wange, raffte sein Bild an sich und verschwand in Onkels Zimmer mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er hier zu Hause. Ulli sah reichlich verblüfft hinter ihm her. Das also war Herr Kopecek! Nach Frau Pohls Schilderung hatte sie sich ihn ganz anders vorgestellt. Sie konnte nur feststellen, daß er einer der nettesten Menschen sei, der ihr bisher in Wien begegnet war, und war überzeugt, daß ihre Theorie mit dem Trinkgeld sehr begründet war. „So ist er“, unterbrach Frau Pohl ihre Überlegungen mit kaum verhüllter Gehässigkeit und wies nach der Türe, hinter der Herr Kopecek verschwunden war. „Aber für dich hat es einen Vorteil“, setzte sie hinzu, „Wenn der da bleibt, entfällt die Vorlesestunde und du kannst machen, was du willst!“ „Fein!“ entschlüpfte es Ulli, „auch fortgehen?“ „Meinetwegen“, murmelte Frau Pohl. „Aber erst wollen wir sehen, was du gebracht hast.“ Während die Wirtschafterin die Waren überprüfte und das Geld nachzählte, stand Ulli wie auf Nadeln daneben. Wenn Frau Pohl sich nur ein bißchen beeilte, konnte sie am Ende noch den Seppl erwischen! Sie tanzte von einem Bein auf das andere, so daß es selbst Frau Pohls Aufmerksamkeit nicht entgehen konnte. „Hast du es aber eilig.“
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„Nur wegen dem Seppl“, versuchte Ulli sich zu entschuldigen. „Welcher Seppl?“ „Von den Autos da unten der Lehrjunge. Er ist auch vom Land und wird mir die Stadt zeigen.“ „Der mit dem blonden Schopf? Das ist ein netter Bursche. Er hat mir schon zweimal die Tasche heraufgetragen und jedesmal ganz von selbst. Mit dem kannst du schon gehen. Aber dann mach', daß du weiter kommst!“ meinte Frau Pohl so gutmütig, als es ihre Art erlaubte. „Es stimmt schon, aber paß auf, daß du beizeiten wieder zurück bist!“ Und schon war Ulli davon. Sie kam gerade zurecht, als Seppl mit einer langen Stange, die vorne einen Haken trug, die Rollbalken herunterließ und das Geschäft abschloß. „Seppl!“ rief sie vorsichtig und verstohlen um die Ecke. Aber dieser tat so selbstverständlich wie ein Großer. „Die Ulli! Na, kleines Fräulein, machen wir einen kleinen Abendrundgang?“ Ulli nickte freudig. „Du mußt nur noch ein wenig warten. Ich muß erst das Zepter hineintragen und meinen Rock holen.“ „Wenn aber schon zugesperrt ist?“ „Vorne, vorne! Aber jedes Ding hat zwei Seiten! Und hinten bin ich zu Hause. Vorderhand! Ich und der Lange, der eigentlich Willy heißt und der feinste Kerl von der Welt ist. Er nimmt mich übrigens am Sonntag mit, und weil er mir auch ein Glas Soda mit Himbeer versprochen hat, habe ich ihm gnädigst das Schloß aufgesperrt. Ganz glatt sind
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zwar die Verhandlungen nicht verlaufen, denn einmal hat er mir eine versetzen wollen, aber ich bin flinker gewesen. — Und, wenn du wartest, bin ich gleich wieder da.“ Er kam tatsächlich bald wieder zum Vorschein. Ulli hörte, wie ihm jemand etwas nachrief, und sah, wie er sich umwandte, um zurückzurufen. „Ich bin bald wieder zu Hause! Muß nur ein bißchen Fremdenführer spielen. Wir, der Willy und ich“, erklärte er Ulli, „schlafen nämlich in der Kammer hinter der Werkstätte und kochen auch dort unser Nachtmahl abwechselnd. Heute bin ich an der Reihe.“ „Da kannst du vielleicht nicht fortgehen“, meinte Ulli enttäuscht. „Oh, doch! Er soll nur warten! Schlimmstenfalls hängt er wieder mein Bett aus wie unlängst, als ich ihm Papierstreifen in den Hut gelegt habe. Er hat sich grün und blau geärgert, weil ihm sein Kalabreser nicht mehr gepaßt hat. Aber die Methode mit dem Bett kenn' ich jetzt schon und seh' nach, bevor ich mich niederleg'. Das hat er so beim Militär gelernt, behauptet er, aber ich trau' es ihm schon auch selbst zu.“ Sie schlenderten durch die Porzellangasse und Ulli drückte ihre Verwunderung darüber aus, daß Seppl in der Werkstätte schlafen konnte. „Wir sind ein gemütlicher Betrieb“, versicherte er. „Mein Chef und sein Schwager sind ein bißchen mit meiner Mutter verwandt und stammen auch aus der Gegend, aus der ich komme und die du ja doch nicht kennst. Und was der Willy ist, der paßt dazu. Der Chef ist froh, wenn wir hier
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schlafen, denn dann braucht er weder einen Hund noch die Wach- und Schließgesellschaft und wir ersparen uns die Kosten für das Quartier. Immer bleib' ich ja nicht hier! Wenn ich etwas kann, geht's wieder nach Tradigist und dort kommt ein Schild aufs Haus: ,Autoreparaturanstalt und darunter steht: ,Josef Krische' und dreimal darfst du raten, wer das ist.“ Ulli starrte ihn mit großen Augen und offenem Munde an. Sie konnte und wollte gar nicht verhehlen, daß ihr Seppl mit seiner Zielstrebigkeit sehr imponierte. „Und du glaubst, daß das geht?“ „Freilich geht es“, behauptete er überzeugt. „Man muß nur etwas lernen. Und die Hauptsache: ,Glück muß man haben und schön muß man sein.’“ Sie bogen in eine Seitengasse ein und Seppl erinnerte sich, daß er eigentlich Ulli etwas von Wien zeigen wollte. Sie staunte, wie er beschlagen war: er kannte nicht nur die Gassen und die Bezirke, er wußte sogar, wohin die Straßenbahnen fuhren. Allerdings, sobald ein Auto vorbeiglitt, spitzte er die Ohren, unterbrach seine Ausführungen und begann mit so vielen Fachausdrücken herumzuwerfen, daß Ulli Hören und Sehen verging. Sie nickte dann gottergeben und war überzeugt, daß Seppl einmal der tüchtigste Automechaniker der ganzen Welt werden mußte. Aber wenn er sich zu sehr in die Bremsen, die Kupplungen, die Pleuelstangen und den anderen Krimskrams verstrickte, der in so einem Auto steckte,
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versuchte sie mit großer Schlauheit, ihn wieder auf Dinge zu bringen, die sie mehr interessierten. „Ja“, sagte er dann, „eigentlich wollte ich dir erklären, wie man von uns aus in den Prater und nach Schönbrunn kommt.“ Und während sie durch die verschiedensten Gassen bummelten, war Ulli überzeugt, daß sie sich das nie merken können werde, was Seppl wußte. Sie zollte ihm ehrliche Anerkennung. Er wehrte jedoch überlegen ab: „Geschäftssache! Wenn du erst einmal so viel herumgekommen bist!“ meinte er und war doch dabei ein bißchen stolz. Ihre Bewunderung tat ihm wohl und veranlaßte ihn, mehr aus sich herauszugehen, als er vielleicht wollte. „Weißt du, ich fahre immer mit Willy die Wagen ein“, erzählte er und Ulli imponierte es schon grenzenlos, daß ein Junge, der nicht einmal noch 15 Jahre alt war, einen so langen und richtigen Mann einfach Willy nannte. ,,Als wir nämlich das erste Mal miteinander ausgefahren sind, hatten wir eine alte Kiste von Wagen. Wir gondelten gerade hinter Mödling. Auf einmal — zack, bum — und schon raucht es aus dem Kühler heraus. Da gibt es natürlich nichts als heraus aus dem Wagen, die Motorhaube auf und die Decke auf die Flammen, damit sie ersticken. Ich habe aber gleich bemerkt, daß so nichts zu machen war, und bin in eine Tischlerei gelaufen, die nicht weit weg an der Straße lag. Der Willy hat mir einiges nachgerufen — aber gar nichts Höfliches. Feiger Knochen war noch das Feinste und einem richtigen Fahrer, dem fällt schon allerhand ein, wenn er im Gedränge ist. Also ich in die Tischlerwerkstatt, schnappe
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den Minimax, das ist so was Rotes, Spitzes wie ein Zucker hut, zum Feuerlöschen, und auf und davon damit. Natürlich der Tischler mir nach, und weil er mich nicht hat erreichen können, hat er mir noch einen Pantoffel nachgeschossen.“ Plötzlich unterbrach er sich. „Siehst du, das ist ein Daimler.“ Er blieb stehen, wies nach einem an der Ecke parkenden Wagen und war ganz aufgeregt. „So einen haben wir erst vorige Woche repariert. Das Ritzel auf der Kardanwelle hat das Tellerrad ausgefräst...“ Da konnte sich Ulli, die seiner Erzählung mit fiebernden Augen gefolgt war, nicht mehr halten. Sie packte ihn am Rockärmel und beutelte ihn: „Seppl, ich bitte dich, was geschah mit dem brennenden Auto?“ Nur ungern ließ er sich von dem großen Daimlerwagen ablenken. „Ach so, das Auto! Nichts ist natürlich geschehen. Ich schlage den Minimax auf — knatsch, genau wie sich's gehört, dann spritzt es oben heraus und hinein in den Wagen, was das Zeug hält. In letzter Minute. Der Willy hätte das Feuer mit der Decke nicht mehr bändigen können. Der Angstschweiß ist ihm auf der Stirne gestanden; aber mich hat er belobt, weil ich so geistesgegenwärtig wäre. Ja, geistesgegenwärtig hat er gesagt!“ Seppl wiederholt es andächtig und klopft dabei Ulli väterlich auf die Schulter. „Seither sind Willy und ich gute Freunde geworden.“ Ulli schielte voll Neid auf ihn, denn es muß schön sein, in so einer weiten, fremden Stadt einen richtigen Freund zu haben, der so lang und erwachsen war wie Willy. „Ja“, setzte Seppl stolz fort, „seither fährt er nur mit
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mir und erklärt, ich wäre sein Maskottchen. Ich weiß zwar noch nicht recht, was das ist, aber alle Fahrer haben es, behauptet Willy. Bei den meisten baumelt es hinten am Fenster und sieht aus wie ein Affe. Für ihn bin ich es.“ „Schööön“, sagte Ulli und versuchte damit alles auszudrücken, was sie bewegte. „Und was war mit dem Tischler?“ „Ach, der hat noch mehr geschimpft, als er bemerkte, daß der Pantoffel kaputt war, den er mir nachgeschossen hatte.“ Seppl fühlte so sorgfältig nach seinem Kopf, als würde es die Stelle heute noch nötig haben. „Heda, wo sind wir denn jetzt hingeraten“, wandte er sich plötzlich an Ulli. Und weil sie gerade auf einer Brücke standen, unter der sich reichliche Wassermassen wälzten, schätzte Ulli: „Vielleicht an der Donau?“ „Ihr Frauen werdet eben nie Geographie lernen. Wenn das die richtige Donau wäre, würdest du ganz andere Augen machen. Das ist nur der Donaukanal. Bei Licht sieht man von hier aus den Leopoldsberg und den Kahlenberg und wenn du ganz genau schaust, kannst du jetzt noch die Umrisse beobachten. Dort, wo die Lichter sind! Siehst du: dort oben!“ Er wies mit der Rechten in die Finsternis und Ulli konnte mit dem besten Willen in der stockdunklen Nacht keine Bergumrisse erkennen. Aber Lichter sah sie, eine Unmenge. Sie sagte deshalb voll Überzeugung: „Freilich seh' ich es ganz deutlich.“ Das hätte sie aber auf alle Fälle gesagt, weil es eben Seppl so haben wollte,
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und ihm zuliebe hätte sie über dem Leopoldsberg auch die Sonne aufgehen gesehen. Der Junge stellte sich auf einmal ganz feierlich auf: „Wenn es einmal wärmer wird und wenn es schön ist und wenn du brav marschierst und wenn es dein Onkel erlaubt und wenn ich bei Kassa bin — dann führ' ich dich einmal dort hinauf und du wirst die richtige Donau sehen, tief unter uns — wie einen ganz kleinen Bach.“ Ulli nickte zwar freudig, aber unter seinen vielen „Wenn“ hatte sie nur den Onkel herausgehört und bekam auf einmal Gewissensbisse. „Seppl, ich muß ja nach Hause!“ Dem Seppl fiel in dem Augenblick wahrscheinlich auch der lange, darbende Willy ein, und weil er etwas wie Schuldgefühl spürte, kratzte er sich hinter dem Ohr und meinte: „Schätze, heute wird er mich ordentlich mit dem Bett durchfallen lassen!“ „Haben wir weit?“ wollte Ulli aufgeregt wissen. „Das nicht — aber immerhin! Mindestens für einen pflichtbewußten Küchendienst!“ Sie gingen eilig zurück und Ulli mußte sich bemühen, mit ihm Schritt zu halten. „Wir müssen bald wieder miteinander spazierengehen.“ „Ja“, keuchte Ulli hinter ihm, „aber ich kann am Abend so schwer fort... Da muß ich immer vorlesen... Aus einem großen Buch...“ Die Luft wollte ihr schon ganz ausgehen. „Von Autos?“ fragte Seppl interessiert. Die Frage fes-
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sehe ihn derart, daß er sogar stehen blieb und wartete, bis Ulli herankam. „Nein“, erwiderte Ulli und war selbst unglücklich, ihn enttäuschen zu müssen. Andererseits fühlte sie das Verlangen, ihm auch mit irgend etwas zu imponieren und sagte deshalb voll Stolz: „Nur von Reneisanze!“ „Ach so!“ meinte Seppl verächtlich und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Aber wenn der Herr Kopecek kommt — wie heute, dann kann ich weggehen.“ „Wer ist der Herr Kopecek ?“ fragte Seppl neugierig. „Ein Maler, den die Frau Pohl nicht mag, weil er ihr kein Trinkgeld gibt und dem Onkel Viktor Bilder verkauft.“ „Wozu kauft dein Onkel die Bilder?'' „Zum Anschauen.“ Seppl konnte das anscheinend nicht ganz verstehen, aber er fand keine Zeit mehr, weitere Fragen zu stellen, denn sie waren zu Hause angelangt. „Hoffentlich kommt dieser Herr Kopecek bald wieder?“ meinte er noch und war plötzlich verschwunden. Ulli klopfte ganz verschämt im zweiten Stock. Aber sie hatte sich unnütze Sorgen gemacht. Frau Pohl war durch solche Kleinigkeiten wie ein verspätetes Heimkommen nicht aus ihrer Ruhe zu bringen und Onkel Viktor saß mit Herrn Kopecek im Zimmer und debattierte über Kunst. „Wir waren sogar beim Donaukanal!“ versuchte das Mädchen zu berichten. „Da kann...“ Frau Pohl brach ab. Ulli hätte geschworen, daß sie wieder einmal sagen wollte: „Da kann
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man auch nichts machen!“ aber, daß es Frau Pohl diesmal selbst unpassend zu sein schien. „Es wird besser sein, wenn ich Jolly die Geschichte vom brennenden Auto und vom Seppl erzähle“, überlegte Ulli.
Nach einigen Tagen kam der erste Brief von Mutti aus Hochzirl. Ulli stiegen Tränen in die Augen, als sie Mutters Handschrift ernannte. Frau Rohrhofer schrieb Ulli, daß es ihr nun doch gelungen sei, in die Heilanstalt zu kommen, daß aber die Reise für sie sehr anstrengend gewesen sei. Sie hoffe jedoch, daß ihr der Aufenthalt gut tun werde. Unter den paar Zeilen stand: Schreibe auch bald. Ich denke immer an Dich! Deine Mutter. Ulli kannte Mutti. Eine richtige Briefschreiberin war sie nie gewesen. Früher mußte der Vater immer schreiben. Der fehlte halt hier wie überall. Aber Ulli wußte auch so, was es zu bedeuten hatte, wenn Mutti schrieb: Ich denke immer an Dich! Darum tropften dicke Tränen auf Mutters Schriftzüge und hätten sie noch ganz verwischt, wenn Frau Pohl den Brief nicht gerettet hätte. Frau Pohl schienen die paar Zeilen zu wenig und sie wendete deshalb das Blatt. Dabei bemerkte sie rückwärts einen Nachsatz:
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Ich lasse Onkel Viktor und Frau Pohl schön grüßen und bitten, daß sie mir gut auf Dich aufpassen. Du bist ja alles, was ich habe! Und ganz unten entdeckte sie noch eine Zeile: Die Liesl läßt Dich grüßen, Du fehlet ihr auch. Das „auch“ war zweimal unterstrichen. Irgendwie schien der Brief trotz seiner knappen Form Frau Pohl innerlich zu bewegen. Sie fühlte sich das erste Mal veranlaßt, von Frau Rohrhof er zu sprechen. „Warum hast du der Mutter aber auch noch nicht geschrieben? Das hätte sich doch gehört.“ „Ich hab' ja!“ erklärte Ulli mit tränenerstickter Stimme. „Wieso hat sie den Brief dann nicht bekommen?“ „Weil er noch in meiner Tischlade liegt!“ „Warum hast du ihn denn nicht aufgegeben?“ „Ich hab' ja keine Marke“, platzte Ulli heraus und dabei mußte sie so bitterlich weinen, daß Frau Pohl sich bemüßigt sah, sofort nach einer Briefmarke zu suchen. Sie legte schließlich eine vor Ulli hin, faßte sie unterm Kinn und sah sie an. „Du mußt es mir sagen, wenn du wieder einmal etwas brauchst. Ich denk' halt an vieles nicht; wenn man so seinen Alltag weiterlebt, kommt das vor. Aber ich werde es schon machen.“ So verheult Ulli war, wunderte sie sich doch, daß Frau Pohl diesmal sagte: „Ich werde es schon machen“, während sie sonst immer von „wir“ sprach und Onkel Viktor miteinschloß.
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Onkel Viktor war eben zu nichts anderem da, als daß er abends herausrief: „Das Ding vom Land soll kommen!“ und nach einiger Zeit „Genug!“ anordnete. Wenn die Mutter einmal fragen sollte, was Onkel Viktor immer gesprochen habe, so hätte sie ihr nicht mehr berichten können. Mutti wird dann sicher sagen: „Das gibt es nicht!“ oder „Du wirst sicher unartig gewesen sein, Ulli, und er war böse auf dich.“ Aber Ulli hätte mit bestem Willen nicht mehr von ihm erzählen können. Da war Frau Pohl noch anders, auch wenn sie wortkarg und mürrisch war. Ulli meinte jedoch, daß das kein Wunder sei. Neben Onkel Viktor mußte man so werden. Die kleine Ulli konnte das sehr gut verstehen und war schon deshalb mit Frau Pohl viel nachsichtiger und milder. Allmählich gewöhnte sie sich an ihre Art und es erschien ihr selbstverständlich, daß man mit ihr eben nicht so plaudern konnte wie mit Mutti. Das Plaudern ging mit Jolly viel besser, wenn es bei ihm auch nur auf „So, so!“ und „Ulli, Ulli!“ langte. Sie war daher sehr stolz, als er eines Tages „Jolly, braver Vogel!“ sagen konnte. Damals konnte sie sogar Frau Pohl dazu veranlassen, länger als fünf Minuten vor seinem Käfig stehen zu bleiben.
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4 MIT DER ZEIT WIRD VIELES BESSER Mit der Zeit hatte sich Ulli überhaupt in alles gefunden und es ging viel besser, als es ihr nach jener schrecklichen Nacht scheinen wollte, in der sie ihren Polster mit ihren Tränen tränkte. Viel dazu trug auch das Verhältnis zu ihren Mitschülerinnen bei, das sich im Laufe der Wochen wesentlich gebessert hatte. Freilich — Dora blieb nach wie vor unnahbar für sie und Ulli konnte immer wieder beobachten, wie sie sich bemühte, die anderen Mädchen von ihr abzuhalten. Und Dora hatte einen großen Einfluß auf ihre Umgebung! Dabei konnte sich Ulli nicht verhehlen, daß es ihr viel Freude bereitet hätte, wenn diese Sonne einmal auch für sie geschienen hätte. Wenn aber Dora einmal nicht in der Schule war oder auf dem Heimweg fand sich immer wieder eine andere, die sich Ulli anschloß. Weil sie nicht fürchten mußten, daß sie Dora gleich darauf zu sich berief oder mit ihren seltsam schönen Augen anfunkelte, plauderten sie heiter und ungezwungen und das tat Ulli wohl. Die bescheidenen Salzburger Verhältnisse hatten Ulli gelehrt, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und so fand sie sich auch damit ab. Wenn sie einmal etwas ganz Besonderes bedrückte, hatte sie ja noch immer den Seppl. Ihm konnte man an-
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vertrauen, was man wollte, er verstand alles. Er wußte immer Rat und Ulli hatte oft das Gefühl, daß es ihm eine gewisse Freude bereitete, wenn er ihr beistehen konnte. Er tat es dann in einer väterlich wohlwollenden Art. Aber lange konnte er diesen Ton nicht beibehalten, dann bekam wieder seine Lebensfreude die Oberhand und seine Vorliebe für Automobile. Die Stunden mit ihm waren das Schönste an Ullis Tagen und mit pochendem Herzen wartete sie oft, ob sie nicht doch das Kommen des Herrn Kopecek ihrer Verpflichtung entheben würde, umso mehr, als ihr mit der Zeit Onkels Bücher über wurden, von denen sie ja doch nichts verstand. Einmal war es sogar geschehen, daß ihr während des Lesens die Buchstaben verschwammen. Gleich darauf fiel ihre kleine Nase mit einem gewaltigen Krach auf den Folianten. Sie war zwar durch den Lärm munter geworden, aber bevor sie die Stelle wiederfand, an der sie eingeschlafen war, hatte Onkel Viktor sein „Genug“ ausgesprochen und sie konnte reichlich beschämt abziehen. Manchmal war es auch vorgekommen, daß sie mit dem Vorlesen bereits begonnen hatte, als plötzlich die Türe auf ging und Herr Kopecek eintrat. Sie sah dann immer voll Dankbarkeit nach ihm und er mußte es bald bemerkt haben, daß er ihr mit seinem Kommen eine gewisse Freude be reitete, denn er packte wohlwollend ihren Kopf hinter den zwei aufgesteckten Zöpfchen und sagte freundlich: „Kannst gehen, bist erlöst!“ Auf diese Weise hatte sich zwischen ihr und Herrn
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Kopecek mit der Zeit ein vertrautes Verhältnis herausgebildet, obwohl sie nie miteinander plauderten und nie mehr Zeit blieb, als einen dankbaren gegen einen freundlichen Blick auszutauschen. Einmal allerdings war sie mit Herrn Kopecek zusammengetroffen. Sie hatte wie immer nach der Eingangstüre gelauscht und das Gefühl, daß jemand gekommen wäre. Sie hatte noch weiter gehorcht, bis es ihr schien, als ob Onkel sie gerufen hätte. Sie eilte in sein Zimmer und war sehr erstaunt, nur Herrn Kopecek anzutreffen. Wahrscheinlich hatten ihr ihre Sinne einen Streich gespielt. Aber auch Herr Kopecek, der sich mit einem Maßband an Onkels wohlgehütetem Bild mit den balgenden Kindern zu schaffen machte, mußte erschrocken sein, denn er schien Ulli reichlich unfreundlich — ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Er mußte sich aber gleich wieder eines anderen besonnen haben, denn als Ulli sich entschuldigte und davonlaufen wollte, rief er sie zurück, plauderte freundlich mit ihr, erkundigte sich nach ihren Fortschritten in der Schule und am Ende rückte er sogar mit einem Säckchen Zuckerln heraus, mit denen er Ulli aufwartete. „Und eines nimmst du noch für deinen Seppl mit“, sagte er schließlich und Ulli hätte sich dafür köpfen lassen, daß Frau Pohl mit ihrer Meinung über ihn vollkommen im Unrecht war. Sie war sehr glücklich, Seppl auch einmal etwas bringen zu können und wickelte das Zuckerl feierlich in ein
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Stück Seidenpapier, bevor sie damit die Stiege hinuntereilte. Wo Seppl zu finden war, wußte sie schon lange. Man mußte nur ebenerdig durch den Hausflur gehen, dann kam rechter Hand eine Türe, da stand „Werkstätte“ darauf, und wenn man hier kräftig pochte, erschien bald darauf Seppl oder der lange Willy. Heute war es Seppls großer Freund. „Ah, das kleine Fräulein aus der Bildergalerie“, be grüßte er sie. „Aber heute mußt du auf deinen Kavalier noch warten, denn heute hat er Dienst und mußte rasch noch ein Stück Wurst fangen gehen. Das dauert immer! Der Metzger hat jedesmal ein Geschäft für ihn. Den Seppl kann man halt überall brauchen“, fügte er anerkennend hinzu, „und er ist auch nicht böse darüber, denn dann gibt es jedesmal noch ein gehöriges Stück Wurst als Zubuße und der Seppl kann es brauchen — so ein Bub und im Wachsen!“ „Was gibt es heute?“ erkundigte sich Ulli und spähte nach dem Topf im Hintergrund, in dem es lustig kochte. Sie wußte schon Bescheid in der Wirtschaft hinter der Werkstätte. „Was wird es schon groß geben? Kartoffeln wieder einmal! Die werden übrigens schon weich sein“, fügte er hinzu und Ulli verstand ihn genau. Sie goß das Wasser ab, holte ein Messer, und als Seppl kam, war sie fast schon mit dem Schälen fertig. Seppl erzählte gleich etwas von einem Motor beim Fleischwolf, den er reparieren mußte, was Ulli zwar nicht verstand, was aber den langen Mann reichlich zu interessieren schien.
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Sie sah nur die armlange Wurst, die er während seiner Erzählung seinem großen Freund unter die Nase hielt. „Und daß du es weißt“, erklärte Seppl am Schluß und hieb dabei mit seiner Wurststange wie mit einem Säbel auf den Tisch, „die wird ehrlich geteilt.“ „Nein, nein“, wehrte der andere ab, „die hast du dir ehrlich verdient.“ Aber Seppl ließ keinen Einwand gelten. „Da würdest du mich schön beleidigen und das willst du sicher nicht. Und übrigens gehe ich dann nicht mit dir zum Motorradrennen und du kannst dein Soda mit Himbeer selber trinken.“ „Als ob er mir nicht schon seit Wochen wegen des Motorradrennens in den Ohren gelegen wäre“, raunte Willy Ulli zu. „Aber damit du mich bei dem Rennen ja nicht im Stich läßt“ — wendete er sich an den Jungen, — „denn das wäre mir furchtbar, verspreche ich dir, daß ich ein Stück von deiner Wurst esse!“ „Hast du das gehört?“ fragte Seppl jetzt Ulli, „hast du das gehört?“ Im nächsten Augenblick machte er einen Sprung quer durch die Kammer und saß seinem langen Freund auf den Schultern, hielt ihn bei den Haaren und sang feierlich und immer wieder: „Wir gehen zum Rennen — zum Motorradrennen!“ Während Ulli lachte, daß ihr die Tränen über die Backen liefen, stöhnte der lange Willy ganz verzweifelt: „Ich bitte euch, seht zu, daß ihr hinauskommt, damit ich endlich ein bißchen zur Ruhe komme!“
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Ulli meinte, daß es nur seinem inständigen Flehen zu danken war, daß sie doch endlich auf der Gasse standen und Seppl wieder halbwegs Vernunft angenommen hatte. Sie holte ihr Zuckerl aus der Tasche und überreichte es Seppl, überzeugt, daß es neben der Stange Wurst vollkommen verblassen mußte. Aber da kannte sie den Seppl schlecht! Er war ganz außer sich vor Freude und erklärte ihr, wenn sie so für ihn sorge, müsse er sie doch auf den Leopoldsberg führen und zwar gleich am Sonntag. Jetzt im Mai sei die geeignetste Zeit dafür, überall blühen die Bäume und sie sind so frisch und grün, wie sie es später gar nicht mehr sind. „Und ich sehne mich nach etwas Grünem. Diese Sehnsucht habe ich mir noch von Tradigist her gerettet“, gestand er Ulli. „Im Winter, als es kalt und finster war, habe ich das nicht so gespürt, aber jetzt... Und weißt du“, dabei beugte er sich zu Ulli, als würde er ihr ein besonderes Geheimnis verraten, „wenn ich so im Freien bin, ist mir das lieber wie im Kino. Im Film gibt es immer nur ganz Reiche und ganz Arme, aber so Leute wie wir und wie der Willy, die arbeiten müssen, damit sie gerade drauskommen, und auch ganz zufrieden dabei leben können, gibt es dort nicht.“ Ulli war natürlich Feuer und Flamme: „Und es wird auch schön sein am Sonntag.“ „Natürlich mußt du erst deinen Onkel fragen, ob er es erlaubt.“ Der Seppl stellte sich das bei Onkel Viktor so einfach vor, aber immerhin war ja Frau Pohl da, mit der man reden konnte.
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„Freilich“, erwiderte Ulli in Gedanken an sie, „und wenn er es erlaubt, häng' ich abends ein Taschentuch vor das Fenster.“ „Gut, dann weiß ich es heute noch und wir gehen Sonntag schon um acht Uhr weg.“ „Ja, damit ich abends zum Vorlesen wieder zu Hause bin.“ Als Seppl am Abend in den Hof hinaussah, baumelte im zweiten Stock ein weißes Tuch vor dem Fenster, das mindestens als Leintuch zu bezeichnen war. „Damit er es nicht übersieht“, hatte Ulli gedacht. Frau Pohl hatte die Erlaubnis gegeben und sich sogar bereit erklärt, mit einem Päckchen für Ullis Verköstigung zu sorgen. Das war mehr, als Ulli erwartet hatte, und sie war so gerührt darüber, daß sie Frau Pohl einen großen Strauß Blumen in Aussicht stellte. „Das muß nicht sein. Paß: lieber auf und mach' keine Dummheiten und vor allem mußt du vor sechs Uhr wieder zu Hause sein.“ So kam es, daß Ulli am Sonntag punkt acht Uhr mit einem Päckchen unter dem Arm an die Türe pochte, hinter der Seppl schon rumorte. Er nahm seinen Rucksack mit und Ulli mußte ihr Paket hineingeben, denn er wußte, was sich für einen richtigen Mann gehörte. Sollte er es nicht gewußt haben, so erinnerte ihn Willys Vortrag daran, den er ihm am Abend vorher gehalten hatte. „Schön wird es werden“, versicherte er am Weg zur Straßenbahn.
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Ulli nickte nur. Sie war so glücklich, daß sie gar nicht sprechen konnte. Die Fahrt auf der Straßenbahn bereitete Seppl einen besonderen Genuß. Als der Schaffner mit seiner großen Ledertasche durch den Wagen kam und fragte, ob jemand zugestiegen sei, verlangte er so laut, daß man es im letzten Winkel des Wagens hören konnte: „Eine große und eine Kinderkarte!“ Er war maßlos stolz und Ulli gönnte ihm die Freude. Sie wanderten über Nußdorf hinaus und kamen gleich darauf an die Donau. „Was sagst du jetzt?“ wandte er sich an Ulli, indem er auf die Donau wies. Ulli mußte schon ein wenig staunen und darum sagte sie anerkennend: „Schööön! Die wird schon so groß sein wie die Salzach.“ Das kostete Seppl nur ein mitleidiges Lächeln. „Die hat deine Salzach verschluckt, als ob sie nichts wäre. Sie hat noch viel mehr geschluckt. Sogar die Pielach, an der Tradigist liegt und von der du sicher noch nichts gehört hast.“ Aber Ulli protestierte. Freilich hatte sie in der Schule schon von der Pielach gehört, weil man dort nach Mariazell kommt. Das versöhnte Seppl einigermaßen. „Aber daß dort ein kleines Haus steht mit einer großen Tafel: Anton Krische, Schlossermeister — hast du sicher noch nicht gehört. Dort waren fünf Kinder, denn jetzt sind es nur mehr vier, weil sich das fünfte augenblicklich damit
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abmüht, einer gewissen Ulli endlich Geographie beizubringen. Zwei davon sind Buben. Einer lernt beim Vater die Schlosserei und der andere geht noch in die Schule. Die beiden letzten sind Mädchen und, wozu ein Mädchen zu verwenden ist, wirst du wohl selbst am besten wissen. Die eine sieht übrigens genau so aus wie du, hat auch ein so schmales Gesicht mit einer kleinen Nase, auf der fünf oder sechs Sommersprossen sitzen. An sie hast du mich erinnert, wie ich dich das erste Mal gesehen habe. Das ist die Heidi“, erzählte er, während sie den Berg hinaufkletterten, „und mit ihr habe ich besonders viel Ärger gehabt, weil s ie immer alles aus dem Kinderwagen geworfen hat, als sie klein war und ich auf sie achtgeben mußte. Aber heute ist sie schon so groß, daß sie mir einen Knopf annäht, wenn ich ihr sehr lange und sehr schön zurede. — Jetzt mußt du dich einmal umdrehen und zurücksehen.“ Dabei fing er an, ihr soviel zu erklären, daß man hätte glauben können, er erzähle von Automobilen. Ulli erinnerte sich der vielen Türen bei Onkel Viktor, die sie bei ihrer Ankunft so verwirrten. Heute wußte sie von einer jeden, wohin sie führte, und daß vor allem die zwei der Eingangstüre gegenüberliegenden in Onkels Zimmer führten und daß diese niemand betreten durfte außer Frau Pohl und Herr Kopecek. Der Gedanke an das Vorzimmer mit den vielen Türen beruhigte sie. „Hab' ich dort gelernt, mich auszukennen, so wird es mir auch in einer so großen Stadt mit der Zeit gelingen.“ „Und dort in der Ferne kommt ein Schiff, man sieht
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schon den Rauch. Ob es so etwas auch in Salzburg geben mag?“ Derart boshafte Bemerkungen pflegte Ulli zu überhören. Sie mußte aber später doch zurücksehen, ob das Schiff deutlich wahrzunehmen sei, denn neugierig war sie immerhin. Gerade als sie den Gipfel erreichten, zog es unten vorbei und schleppte zwei andere nach. Seppl konnte es sich nicht verkneifen, einen größeren Vortrag über Raddampfer und Schiffsschraube zu halten. Er ließ sich darin auch nicht unterbrechen, als Ulli hinter ihm den Rucksack öffnete und den Mundvorrat auspackte. Erst ihre vollen Backen erinnerten ihn daran, daß auch er hungrig war. Sie schlugen ihr Lager vor dem Gasthaus auf der Wiese auf, denn um an einem Tisch Platz zu nehmen wie die Großen, dazu langte nicht einmal Seppls Mut. Er tröstete sich damit, daß man dadurch einen besseren Ausblick hätte. „So etwas sollte der Herr mit den schwarzen Haaren und den dunklen Augen einmal malen“, meinte er sachverständig und Ulli versprach, daß sie es Herrn Kopecek sagen würde, wenn sie mit ihm wieder zu plaudern käme wie unlängst. „So ein Bild möchte ich gleich haben“, versicherte er. „Vielleicht gibt es Ansichtskarten“, mutmaßte Ulli. „Das ist eine blendende Idee! Und weißt du, was wir machen? Wir schreiben eine deiner Mutter und eine nach Tradigist.“ „Das kostet ja zu viel Geld“, wendete Ulli ein.
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„Viel ist es ja nicht, was ein armer, ausgebeuteter Lehrjunge verdient, aber auf die zwei Ansichtskarten langt es schon noch.“ Er war so begeistert von dem Gedanken, daß Ulli sofort den Rucksack wieder einpacken mußte, damit sie in die Gastwirtschaft gehen könnten. Seppl verlangte dort für beide etwas zu trinken und suchte umständlich zwei Ansichtskarten aus. Während sie ihre Gläser leerten, überlegten sie, was sie schreiben sollten. Sie machten die verschiedensten Vorschläge, aber immer wieder kamen ihnen Bedenken. Einmal war ihnen der Text zu kompliziert, ein anderes Mal wußten sie wieder nicht, wie man das Wort orthographisch richtig schreibt, und schließlich einigten sie sich nach langer Debatte auf folgenden, nicht gerade übermäßig aufschlußreichen Text: Viele herzliche Grüße! Auf der einen Karte, die nach Hochzirl ging, stand Ulli und Josef Krische darunter und auf der anderen für Tradigist: Ulrike Rohrhofer und Seppl. Darin bestand der ganze Unterschied. Als Seppl die Karten in den Postkasten plumpsen ließ, meinte Ulli: „Ob wir nicht doch etwas mehr hätten schreiben sollen?“ Aber einerseits kamen ihre Bedenken zu spät und andererseits tröstete sie Seppl damit, daß sich die Empfänger schon alles übrige denken werden. Sie marschierten weiter und begegneten am Wege zum Kahlenberg hinüber der dicken Frieda, die neben Dora auf
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der Schulbank saß und die in Begleitung ihrer Eltern und einer älteren Dame den Weg in entgegengesetzter Richtung nahm. Sie sah Ulli groß und starr an, als sie aneinander vorübergingen, daß sie sogar vergaß, auf Ullis Gruß zu danken. „Was für eine eingebildete Gans war denn das?“ wollte Seppl wissen. „Das war die, die mich am ersten Tag in Englisch so hineingelegt hat.“ „Schade“, meinte Seppl. Er sah ihr bedauernd nach und merkte dabei, daß sich sowohl Frieda als auch ihre Mutter nach ihnen umsah. „Hätt’ ich das früher gewußt, wär' ich so ungeschickt an ihr vorübergegangen, daß sie der Länge nach hingefallen wäre.“ „Das hättest du doch nicht machen können.“ „Doch! Ich hätte bloß den Fuß etwas hinausstrecken und hinterher ,Entschuldigung' sagen müssen. Aber eines mußt du mir versprechen: wenn wir dieser Dora begegnen, dann sagst du es mir beizeiten.“ „Nein, Seppl, das darfst du nicht“, sagte Ulli und schwor sich zu, in dem Punkt sehr vorsichtig zu sein. „Im Grunde genommen kann ich Dora gut leiden.“ Seppl war fassungslos. „Euch Mädel soll einer verstehen. Die eine ist auf die andere böse, trotzdem ihr die andere nichts getan hat, und die andere kann wieder die eine gut leiden, obwohl diese ihr das Leben sauer macht.“
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Er begann darüber eine lange und weise Auseinandersetzung, die nur dadurch unterbrochen wurde, daß von Zeit zu Zeit an ihnen ein Wagen vorbeisurrte, der ihn noch mehr fesselte als die Zwistigkeiten dieser komischen Mädchen. „Nein, alle sind nicht so“, verteidigte Ulli ihre Mitschülerinnen. „Unlängst war die Frau Direktorin in unserer Klasse, um sich zu überzeugen, was wir können, wie sie gesagt hat. Wir haben gerade Rechnen gehabt und die Rechnung ist auf einmal so kompliziert geworden, daß die Frau Lehrerin meinte, das Beispiel können wir gar nicht lösen. ,Warten Sie einmal, Frau Kollegin’, hat sich da die Frau Direktorin eingemischt, ,es würde mich interessieren, ob nicht doch eine darunter ist, die es zuwege bringt.’ Aber keine hat sich gemeldet. ‚Nicht einmal die Pistorius?’ hat die Frau Direktorin gefragt. Aber Dora hat nur mit dem Kopf geschüttelt. Da hab' ich mir ein Herz genommen und gesagt, daß ich glaube, daß ich es ausrechnen kann. Und richtig ist es mir gelungen. Da hat die Frau Direktorin gesagt: ‚Bravo!’ und zu den anderen: ,Was sollen wir jetzt mit der Rohrhofer machen?“ Alle haben mit den Händen geklatscht und gebrüllt: ,Einen Einser geben!’ Siehst du, und damals hab' ich bemerkt, daß Dora auch schon mitschreien wollte. Aber im letzten Augenblick hat sie sich besonnen.“ „Daraus sehe ich nur, daß sie eben nicht deine Freundin ist“, hielt ihr Seppl entgegen. „Vielleicht nur, weil sie vor den anderen nicht nachgeben will!“ mutmaßte Ulli und war sich selbst nicht klar
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darüber, wieviel Wahrheit und wie viele eigene Wünsche sie damit ausdrückte. „Und da soll ein vernünftiger Mensch verstehen, was in so einem Mädchenkopf vorgeht!“ ereiferte sich Seppl. Er hielt sich dabei für den vernünftigen Menschen und was er über die Mädchenköpfe dachte, setzte er Ulli in wenig schmeichelhafter Form auseinander. Ulli war überzeugt, daß er noch lange in dieser Tonart wettern könnte, als sie plötzlich an einer Wiese vorbeikamen, auf der sich die Leute um ein großes Ringelspiel drängten. Zwei Lautsprecher erfüllten die Luft und lockten immer weitere Vergnügungslustige an. Ulli und Seppl sprachen kein Wort, sie sahen sich nur an und das genügte, daß auch sie vom Weg abkamen. Sie schauten erst mit sehnsüchtigen Blicken, aber ohne ein Wort zu sprechen, zu. „Ob wir es auch einmal versuchen?“ meinte Seppl nach einer Weile. „Hm“, sagte Ulli und überließ es Seppl, ihre Antwort zu deuten. Der kramte etwas in seiner Tasche und machte so ein andächtiges Gesicht wie Frau Pohl, wenn sie über ihrer Kassa saß. „Aber freilich!“ stieß er dann hervor und zog Ulli nach vorne. An langen Ketten baumelten Töpfe und die flogen weit hinaus, wenn sich das Ringelspiel drehte. Noch lustiger wurde es, als Seppl Ullis Topf zu fassen kriegte und ihr einen festen Stoß versetzte.
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Hui, wie da beide flogen! Das gefiel ihnen so gut, daß natürlich aus einer Runde drei wurden, und als sie wieder auf der Erde standen, mußte Seppl die kleine Ulli ritterlich stützen, weil sie nicht allzu fest auf den Beinen stand. Dafür strahlte sie ihn mit ihren blaugrauen Augen an und sagte immer wieder: „Schööön!“
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5 DER EINKAUF FIR ONKEL VIKTOR Einige Tage später ging Ulli mit dem Lesebuch in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. Sie hielt es auf dem Rücken und mußte es immer wieder hervorholen. Wie oft hatte sie nun schon begonnen? War es hundert- oder zweihundertmal? „,Die Bürgschaft’. Zu Dionys, dem Tyrannen schlich...“ Ein Stück ging es, aber dann mußte sie ja doch wieder nachsehen und dabei sollte sie das halbe Gedicht bis morgen auswendig können. Sie war verzweifelt, weil ihr immer wieder statt der Schillerschen Verse der Ausflug auf den Leopoldsberg einfiel, der so schön gewesen war. „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich...“, begann sie aufs neue und schwor sich zu, nur an Möros zu denken. Aber gleich darauf erinnerte sie sich wieder an Seppl. eine Pause trat ein und Jolly machte „So, so“. Sie war schon richtig wütend auf Seppl und am liebsten hatte sie ihm irgendeine Unfreundlichkeit durchs Fenster hinuntergerufen. Aber das ging heute nicht, denn es regnete in Strömen, so daß niemand im Hofe arbeiten konnte. „Jolly, ich werde noch krank...“. behauptete sie und dann versteckte sie das Buch wieder vor sich selbst auf dem Rücken und begann von vorne. „,Die Bürgschaft’: Zu Dionys. dem Tyrannen...“
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Es ging wunderbar, sogar über die kritischen Stellen kam sie hinweg und Jolly lauschte in höchster Spannung, als sie eine Stimme im Nebenzimmer aufhorchen ließ: „Das Ding vom Land soll kommen.“ „Mein Gott, es ist doch noch nicht so spät!“ durch zuckte es sie. „Und jetzt schon mit dem Vorlesen beginnen — das könnte lieb werden. Wer lernt für mich die ,Bürgschaft’?“ „Schließlich konnte man ja auch einmal Onkels Stimme überhören“, entschied sie sich und nahm ihren Marsch durchs Zimmer wieder auf. Aber schon kam Frau Pohl hereingestürzt. „Du sollst zu Onkel Viktor kommen!“ Sie ließ Ulli keine Zeit und drängte sie gleich durch die Türe zu ihm hinein. Onkel Viktor saß vor seinem Schreibtisch und trug heute keine Schutzbrille. In der Hand hielt er einen kleinen weißen Zettel und eine Hundertschillingnote, mit der er nervös auf den Schreibtisch klopfte. „Ich kann heute nicht fortgehen, weil es zu stark regnet, aber ich habe in der Buchhandlung ein neues Werk bestellt und das ist heute abzuholen. Dir wird der Regen schon nichts schaden. Auf den Zettel habe ich die Adresse der Buchhandlung aufgeschrieben und auf der Rückseite den Verfasser und den Titel des Buches. Frau Pohl meint, du wirst es schon schaffen. Und hier sind hundert Schilling. Den Kassazettel und das Wechselgeld bringst du mir mit dem Buch zurück. Verstanden?“ Das Mädchen nickte und wandte sich zum Gehen.
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„Frau Pohl soll dir eine Tasche geben, damit das Buch nicht naß wird“, rief ihr Onkel Viktor nach, aber Ulli hörte es kaum. Sie war so aufgeregt, von Onkel selbst einen Auftrag bekommen zu haben, daß der Schein in ihrer Hand erst zitterte und dann zu Boden fiel. „Na, das fängt gut an“, knurrte Onkel Viktor hinterher. Ulli stürzte ganz erregt zu Frau Pohl in die Küche: „Ich muß für Onkel Viktor etwas besorgen.“ „Da kann man auch nichts machen“, erwiderte Frau Pohl nur und langte nach der großen braunen Tasche mit dem Reißverschluß. „Nimm diese Tasche, sie schützt am besten.“ „Ja, er hat ohnedies gesagt, ich soll... ich soll...“ „Schon gut und sei bloß nicht so aufgeregt.“ Ulli mußte Frau Pohl später recht geben. In Wirklichkeit spielte sich alles ganz einfach ab. In der Buchhandlung kam ein kleiner Mann hervor, der aussah wie Onkel Viktor, nur trug er statt der dunklen Schutzbrille gewöhnliche Gläser und die hatte er auf die Stirne geschoben. Er war ängstlich bemüht, ja nicht hindurchzusehen, sodaß sich Ulli schon fragte, wozu er sie nötig hätte. „Was steht zu Diensten?“ sagte er und betrachtete Ulli so mißtrauisch, wie man eben ein so kleines Ding ansieht, das schließlich in einer richtigen Buchhandlung ja doch nichts zu suchen hat und bestenfalls ins Milchgeschäft oder zum Bäcker geschickt wird. „Ich hole das Buch für Onkel Viktor“, sagte sie schüchtern und legte den kleinen weißen Zettel auf den Ladentisch.
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Der Buchhändler holte die Brille von der Stirne und las bedächtig. „Jetzt verstehe ich erst! Du kommst um das Buch für Herrn Kratzer.“ Seine Stimme klang freundlicher, weil Onkel Viktor sicher ein guter Kunde war. „Was ist mit dem alten Herrn?“ fragte er interessiert. „Ist er krank?“ „Nein, es regnet ihm bloß zu viel.“ „Aber dir darf das nichts machen“, meinte er freundlich, während er das Buch sorgfältig einwickelte. „Da wird es sicher eine besondere Belohnung geben. Vielleicht gar ein Stück Schokolade.“ Ulli kam zu der Einsicht, daß er von Onkel Viktor eine ganz falsche Vorstellung hatte. Sie holte die braune Tasche hervor und bemühte sich, das Buch zu verstauen. Dabei stellte sie fest, daß es mindestens zwei Kilogramm wiegen mußte. Sie schätzte es nach den Kartoffeln. „Da heißt es wieder lesen, Ulli, fleißig lesen!“ überlegte sie und bedauerte sich selbst. Sie legte die Banknote auf den Glasteller neben der Kassa, auf den ihr der alte Mann das Wechselgeld zählte, das sie sorgsam in der Manteltasche verstaute. Damit war eigentlich die ganze Angelegenheit erledigt, und wenn es sich nicht gerade um Onkel Viktor gehandelt hätte, wäre es ein Kinderspiel gewesen. Da hatte Frau Pohl oft viel schwierigere Aufgaben für sie, mit langen Wunschzetteln für die verschiedensten Geschäfte. Zu Hause legte sie ihren nassen Mantel ab und betrat mit dem Buch unterm Arm und dem Geld in der Hand Onkel Viktors Zimmer, der in der selben Stellung vor dem
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Schreibtisch lehnte, in der sie ihn verlassen halte. Er prüfte erst das Buch und dann ließ er sich das Geld vorzählen. „Stimmt“, sagte er kurz und raffte die Noten zusammen. Ulli betrachtete sich schon als entlassen und wollte gehen, als er sie barsch zurückrief. „Da — was soll das heißen?“ Er hielt ihr den obersten Schein, eine Fünfzigschillingnote, unter die Nase. „Das hast du natürlich nicht bemerkt!“ Dabei wies er auf ein mit Tintenstift in eine Ecke gezeichnetes Kreuz. „So einen Schein läßt du dir anhängen!“ Ulli konnte das böse Funkeln seiner Augen sehen. „Das kommt davon, wenn man so ein Ding vom Land um etwas schickt.“ Ulli wurde rot und sie spürte Tränen in den Augen. Sie wollte sich schon rechtfertigen und sagen, daß das Kreuz andere Leute gar nicht bemerken werden und daß es auch Onkel nicht bemerkt hätte, wenn er seine Schutzbrillen getragen hätte. Aber Mutter fiel ihr ein, die ihr aufgetragen hatte, nicht vorlaut zu sein. Sie überlegte gerade, ob sie nicht lieber schweigen sollte, als die Türe aufging und Herr Kopecek eintrat. Sein Dazwischenkommen machte jeder weiteren Debatte ein Ende. Sie warf ihm einen Blick zu, der noch mehr Dankbarkeit verriet als sonst und bemühte sich, so unauffällig als möglich aus dem Zimmer zu verschwinden. Sie erinnerte sich des Buchhändlers. Vielleicht hätte er sich auch gewundert, wie die Belohnung mit der Schokolade in Wirklichkeit ausgefallen war. Sie klagte Jolly ihr Leid.
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„Du hättest sehen sollen, wie böse er mich ansah, und ich bin überzeugt, er hätte noch ein ganz großes Donnerwetter losgelassen, wenn nicht — Gott sei Dank — Herr Kopecek gekommen wäre. Aber jetzt haben wir wenigstens Zeit, um in Ruhe die ‚Bürgschaft' zu lernen.“ Sie suchte nach ihrem Lesebuch und konnte es nicht finden. Sie durchstöberte den Kasten und die Tischlade, legte sich auf den Boden und guckte hinter jedes Möbel. Das Buch war verschwunden. „Ob es vielleicht Frau Pohl...?“ mutmaßte sie und lief in die Küche. Natürlich hatte die Wirtschafterin mit ihrem Lesebuch nichts zu schaffen gehabt, aber sie erinnerte sich, daß Ulli ein Buch in der Hand gehalten hatte, als sie zu Onkel Viktor gerufen wurde. „Stimmt“, bestätigte Ulli, „da habe ich es noch gehabt und in meiner Aufregung habe ich es sicher drinnen liegen gelassen.“ „Da kann man jetzt nichts machen“, erklärte Frau Pohl, „du kannst die Herren jetzt nicht stören.“ Das war Ulli klar, umsomehr, als sie der unangenehmen Auseinandersetzung mit Onkel Viktor gedachte. Sie war überzeugt, daß keine zehn Rösser s i e in das Zimmer bringen könnten und schlich in ihre Kammer. Aber ihr Gedicht, das sie auswendig lernen mußte und das ohnedies so schwer in ihr Köpfchen wollte! Jetzt mußte sie die kostbare Zeit mit Warten totschlagen. Sie war wie auf glühenden Kohlen und überlegte hin und her. Sie kam zu dem Schluß, daß es nur eine Möglichkeit
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geben könnte, um wieder zu ihrem Buch zu gelangen: Sie mußte horchen, um zu hören, wann Herr Kopecek sich verabschiedete. Dann begleitete ihn Onkel Viktor immer bis ins Vorzimmer und sie konnte hineinhuschen, um ihr Buch zu holen. Sie mußte wohl nach dem Abendessen noch fleißig dazusehen! Sie tanzte reichlich nervös neben Jolly herum, der zu ihr rutschte und sie mit seinem „Ulli, Ulli, — Jolly braver Vogel“, immer wieder beruhigen wollte. Aber die Zeit wollte nicht vergehen. Zwischendurch legte sie ihr Ohr immer wieder an die Türe und es schien ihr eine Ewigkeit vergangen zu sein, als sie endlich Stühle rücken hörte und gleich darauf die Türe ins Vorzimmer geöffnet wurde. Das war der Zeitpunkt, auf den sie so sehnlich gewartet hatte, um ihren Plan zu verwirklichen. Es klappte tadellos. Sie erspähte ihr Buch, nahm es an sich und konnte gerade noch entwischen, bevor Onkel Viktor wieder ins Zimmer trat. „Vielleicht hat er gerade noch meinen Schürzenzipfel gesehen“, vermutete sie, „aber mehr sicher nicht.“ Und dann ging es wieder los: „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich...“ Sie lag schon im Bett und mühte sich noch immer. Zweimal war ihr sogar das Buch auf die Nase gefallen, weil sie eingeschlafen war, aber schließlich verlöschte sie doch das Licht mit dem beruhigenden Bewußtsein, für den kommenden Tag gewappnet zu sein.
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Der nächste Tag begann aber mit einer großen Über_ raschung. Frau Pohl weckte sie wie jeden Morgen. Während sie jedoch sonst nur kräftig auf Ullis Bett klopfte und gleich wieder verschwand, blieb sie heute stehen und sagte in wenig freundlichem Ton: „Gleich aufstehen und zu Onkel Viktor gehen.“ Ulli wunderte sich, weil er um diese Zeit sonst noch schlief und sie am Morgen immer besonders behutsam sein mußte, um ihn nicht zu wecken. Sie hatte alles andere nur kein gutes Gefühl, obwohl sie sich nicht im geringsten vorstellen konnte, was er wollte. Die unangenehme Auseinandersetzung von gestern fiel ihr ein, die durch Herrn Kopecek unterbrochen worden war, und der Gedanke steigerte nur ihr Unbehagen. Sie war aber noch mehr verwundert, als sie in Onkels Zimmer trat und ihn vollkommen angezogen, vor dem Schreibtisch sitzend, antraf. Er maß sie von oben bis unten und sie konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, daß seine Augen noch böser funkelten als tags vorher. Er ließ sie bis auf zwei Schritte herankommen und kommandierte dann: „Halt! Komm mir nicht zu nahe! Ich will mit so einem undankbaren Geschöpf nichts zu tun haben.“ Ulli war wie vom Blitz getroffen. Sie fühlte, daß ihr Herz stockte, und wäre nicht imstande gewesen, auch nur einen Finger zu rühren. Onkel Viktor begann wieder und kam durch seine eigenen Worte erst richtig in Wut.
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„Nimmt man da aus reiner Gutmütigkeit so ein Ding ins Haus — und was ist der Dank? Daß sie ihren Wohltäter noch bestiehlt! Es wird dir klar sein, für eine Diebin ist in meinem Hause kein Platz. u Dabei wies er mit der Rechten energisch nach der Türe. Aber Ulli konnte nicht vom Fleck, und so sehr ihr alles vor den Augen durcheinander tanzte und so schwer ihr ihre Zunge zu sein schien, überwand sie sich doch und stotterte: „Ich... was soll ich ... wie ... wo ...?“ „Bemühe dich nicht“, schnitt ihr Onkel Viktor das Wort ab. „Ich habe es nicht anders erwartet, als daß du leugnen wirst. Aber diesmal habe ich den Beweis. Ich habe schon längere Zeit bemerkt, daß du mich bestiehlst. Immer wieder hat mir Geld gefehlt. Nur weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie du es anpackst, und weil ich meiner Sache nicht sicher war, habe ich geschwiegen. Anscheinend hat dich mein Stillschweigen nur noch dreister gemacht. Das heute schlägt dem Faß den Boden aus und liefert mir den einwandfreien Beweis, daß du eine Diebin bist!“ Bei dem Wort „Diebin“ zuckte Ulli zusammen, aber Onkel Viktor mochte es so deuten, als ob sie einen neuen Versuch unternehmen wollte, sich zu rechtfertigen, denn er wehrte brüsk mit der Hand ab und erklärte noch erregter: „Oder willst du leugnen, daß du die Fünfzigschillingnote weggenommen hast, die hier unter der Lampe lag? Jawohl, hier unter der Lampe. Und damit du es weißt: ich habe sie absichtlich unter die Lampe geklemmt, um dich auf die Probe zu stellen. Eine Falle habe ich dir aufgerichtet mit derselben Fünfzigschillingnote, die du mir gestern zurück-
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gebracht hast. Und du bist in die Falle gegangen. Oder glaubst du, daß ich nicht bemerkt habe, wie du gestern aus dem Zimmer gehuscht bist, als ich so plötzlich zurückkam? Was hast du hier herinnen zu suchen gehabt? Heute fehlt die Banknote und das ist — glaube ich — die einzige Erklärung.“ Ulli nahm alle Kräfte zusammen, um sich zu rechtfertigen. „Ich habe doch mein Buch ...“ Damit steigerte sie Onkel Viktors Zorn nur noch mehr. „Ach, Quatsch!... Buch hin. Buch her! — Frau Pohl hat schon versucht, mir etwas von einem Buch zu erzählen. Wenn etwas Wahres an der Buchgeschichte wäre, so hättest du das nur gestellt, um dir ein Alibi zu schaffen. Man möchte ja nicht glauben, wie raffiniert ein Ding wie du sein kann. Spielt die Unschuld vom Land und hat es faustdick hinter den Ohren! Ich kann dir nur eines sagen: ich habe von einem Buch hier herinnen nichts bemerkt.'“ Ulli grübelte verzweifelt. Es mußte doch ein Mittel geben, um ihre Unschuld zu beweisen. Plötzlich kam ihr eine Erleuchtung. „Wenn ich den Schein genommen hätte, dann müßte ich ihn ja noch haben ...“ .“Nichts da —!“ unterbrach sie Onkel Viktor schroff. „Ich bin ein alter Mann und kein Polizeikommissär. Ich vertrage keine überflüssigen Aufregungen. Deshalb ließ ich dich auch gestern abends nicht mehr rufen. Nur um meine Nachtruhe zu retten! Und deshalb werde ich mich auch jetzt nicht einer
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Mühe unterziehen, von der ich im vorhinein weiß, daß sie vergeblich ist. Du hast schließlich Zeit genug gehabt, den Schein zu verstecken. Menschen, die raffiniert genug sind, einen Diebstahl in Szene zu setzen, sind auch schlau genug, ihre Beute in Sicherheit zu bringen. Nein, zu einem Hanswurst, über den du hinterher noch lachen kannst, gebe ich mich nicht her! Es ist schön genug von mir. wenn ich mich in eine so lange Debatte mit dir eingelassen habe. Wenn ich dies getan habe, so geschah es nur deiner armen Mutter zuliebe, die zu all ihren Schicksalsschlägen noch mit dir gestraft ist. Ihr zuliebe gehe ich sogar noch einen Sehritt weiter: Du bekommst von Frau Pohl das Fahrgeld bis Salzburg. Den Weg zum Bahnhof wirst du schon selbst finden. So weit kennst du dich aus. In die Schule brauchst du nicht mehr zu gehen. Deine Abmeldung werde ich selbst besorgen. Du packst nun so rasch als möglich deine Sachen und verlaßt momentan mein Haus.“ Ulli versuchte noch einmal mit Aufbietung aller Kräfte, zu Wort zu kommen, aber Onkel Viktor duldete es nicht. Er hieb mit der Faust auf den Schreibtisch und brüllte sie an: „Hast du noch immer nicht verstanden, daß ich von dir nichts hören und mit dir nichts zu tun haben will? Leute deines Schlages sind mir ein Greuel und, wenn du mir wenigstens einen Funken Dankbarkeit erweisen willst, dann sieh zu, daß du so rasch als möglich verschwindest. Dort hat der Zimmermann das Loch gemacht!“ Lautlos folgte Ulli seiner ausgestreckten Rechten. Sie konnte sich keinen Ton abringen. Es war ihr nicht einmal
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möglich zu weinen, obwohl ihr dies eine Erlösung gewesen wäre. Sie erstaunte zunächst darüber, in ihrem Zimmer Frau Pohl anzutreffen. Als sie aber bemerkte, daß diese keinen Blick von ihren Händen ließ und jedes Stück betrachtete, das Ulli in die Hände nahm, begriff sie: man beobachtete die „Diebin“! Es stimmte schon: in diesem Hause hatte Ulli nichts mehr zu suchen. Sie holte den kleinen grauen Koffer hervor und legte ein Stück ihrer bescheidenen Habe nach dem anderen hinein, versäumte aber nicht, jedes auseinanderzufalten und vor Frau Pohl auszubreiten, damit sich die Wirtschafterin, die schweigend zusah, überzeugen konnte, daß sie nichts Unrechtes aus dem Hause schmuggelte. Das letzte Stück war die Photographie der Eltern, die sie in Mutters rote Tasche steckte, diese dann obenauf in den Koffer legte — genau so wie an dem finsteren Februarmorgen in Salzburg. Als Ulli ihr Gepäck verschnürt hatte, griff Frau Pohl in die Tasche und zählte ihr das Fahrgeld auf den Tisch. „Steck' es zu dir“, sagte die große, starke Frau und, als Ulli zögerte, schob sie es selbst in ihre Manteltasche. „Du wirst es brauchen.“ Ein paar Sekunden lang sah sich Ulli in ihrer Kammer um, dann nahm sie ihr Köfferchen auf, um zu gehen. „Ulli, Ulli“, rief Jolly in dem Moment und kam ihr so stürmisch entgegen, als wüßte er, worum es ging.
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„Jolly!“ sagte sie mit heiserer Stimme und kniete noch einmal vor dem Käfig nieder. Der Sittich zwängte seinen Schnabel durch das Drahtgitter, um ihre Lippen zu berühren und ihr einen Abschieds kuß zu geben. „Jolly, braver Vogel“, raunte ihm Ulli zu. Er zuckte mit dem Kopf und erwiderte: „So, so.“ Vor der Wohnungstüre stellte Ulli noch einmal ihren Koffer ab und wendete sich Frau Pohl zu. „Ich danke Ihnen für alle Liebe und Fürsorge“, sagte sie leise und streckte Frau Pohl ihre Rechte entgegen, „und das — das habe ich nicht getan.“ „Na, da kann man auch nichts machen“, stieß die Wirtschafterin hervor und übersah des Mädchens kleine Hand. Sie öffnete die Türe und Ulli nahm den grauen Koffer endgültig auf. Als sie fast die Treppe erreicht hatte, rief ihr Frau Pohl nach: „Gute Reise noch!“ Vielleicht war ihr der ganze Abschied doch zu hart vorgekommen.
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6 WAS DANN, ULLI? Ulli wußte später nie zu sagen, wie sie über die Stiege hinuntergekommen war. Sie konnte sich nur erinnern, daß sie plötzlich der Widerhall ihrer Schritte im Hausflur erschreckte und etwas zur Besinnung brachte. Sie sah sich ängstlich um und dabei f i e l ihr Blick auf die Türe mit der Aufschrift „Werkstätte“. Seppl fiel ihr ein. Der wird wohl heute abends vergeblich auf sie warten. Der mußte sich selbst die Kartoffeln schälen und seine abgerissenen Knöpfe annähen. Sie sollte sich von ihm verabschieden, ging es ihr durch den Kopf. Aber im nächsten Augenblick zögerte sie. Erstens war sie noch nie während der Arbeitszeit in die Werkstätte eingedrungen und dann ... und dann ... Dann wird er sie sicher fragen, warum sie so plötzlich das Haus verlassen mußte. Was sollte sie antworten? Sie schämte sich, Seppl auch nur die Möglichkeit eines Verdachtes einzugestehen, und etwas anderes als die reine Wahrheit hätte sie Seppl nie sagen können. Nie! Er würde es auch nie glauben! Aber die anderen, der lange Willy, der Chef und sein
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Schwager würden sicher daneben stehen und zuhören. Sie hätte in den Boden versinken müssen. Nein, lieber nicht! Sie wird ihm einmal aus Salzburg einen langen, langen Brief schreiben und den wird nur er lesen, niemand Unbefugter und da konnte sie ihm alles erklären. Sie fühlte sich erleichtert, als sie den Entschluß gefaßt hatte, und stapfte aus dem Haus hinaus, allein und einsam. so wie sie gekommen war. Während sie durch die Porzellangasse ging, die ihr schon immer so freudlos vorgekommen war, wenn sie nicht gerade mit Seppl zwischen ihren grauen Häusern schlenderte, wiederholte sie zu ihrer eigenen Beruhigung noch einmal und laut ihren Entschluß: „Jawohl, ich werde ihm aus Salzburg schreiben!“ Bei „Salzburg“ stockte sie und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Was wollte sie ihn Salzburg? Ihr Herz drohte auszusetzen und einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als ob sich die Häuser in einem immer toller werdenden Wirbel um einen großen schwarzen Punkt in der Mitte drehten. Die Ohren sausten ihr und aus dem Sausen hörte sie immer wieder eine Stimme: „Was machst du in Salzburg, Ulli?“ Die Stimme hatte recht, tausendmal recht! Mutti befand sich in Hochzirl und die Wohnung in der Getreidegasse war abgeschlossen. Vielleicht hatte Frau Reingruber, die Nachbarin, die Schlüssel dazu. Vielleicht!
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„Und wenn Frau Reingruber die Schlüssel verwahrt? Was hilft es schon?“ höhnte die Stimme. Was half es wirklich? Sie mit ihren zehn Jahren konnte nicht in die Häuser gehen und fragen, ob etwas zu waschen sei, wie die Mutter. Wovon sollte sie leben? Und Mutti schreiben: komm, ich bin in Wien hinausgeworfen worden, weil ich gestohlen haben soll, und sitze hilflos in Salzburg? Mutti würde vielleicht ihren Aufenthalt in Hochzirl vorzeitig abbrechen, der ihr kostbares Leben retten konnte, nur um gleich wieder mit dem Waschen und Putzen zu beginnen — mit all dem, was ihrer Lunge so geschadet hatte! Das war unmöglich! „Ich kann unmöglich nach Salzburg“, sagte sich Ulli vor und starrte ihre Schuhspitzen an, als wären sie der einzige ruhende Punkt auf der ganzen großen Welt. Was dann, Ulli? Um diese Frage kreisten ihre Gedanken wie ein wahnsinnig gewordenes Mühlenrad. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht doch zu Seppl zurück sollte, und wenn schon nicht er, so konnte ihr vielleicht der lange Willy raten. Aber gleich darauf verwarf sie auch diesen Gedanken. Was konnten die mit einem so kleinen Mädchen anfangen, das zu nichts anderem gut war als zum Geschirr waschen und Einholen und dabei im Verdacht stand, eine Diebin zu sein? Wenn sie in dieser großen Stadt wenigstens einen Men-
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sehen gehabt hätte, an den sie sich hätte wenden können! Eine Erinnerung durchzuckte sie plötzlich: der große fremde Herr auf der Eisenbahn! Das war zwar schon lange, lange her. Aber wie hatte er gesagt? Wenn du jemals etwas brauchst, Rat oder Hilfe... und dann gab er ihr eine Karte mit seinem Namen und seiner Anschrift ... Wo war die Karte? Sie war Ulli nie mehr in die Hände geraten, aber wenn sie sie nicht verloren hatte, dann mußte sie noch in Mutters roter Tasche sein. Ulli hastete unter das nächste Haustor und knüpfte in rasender Eile die Schnur von ihrem Koffer auf. So flink sie war, ging ihr das Aufschnüren ja doch nicht rasch genug. Ihre Gedanken überschlugen sich dabei wie im Fieber: und wenn die Karte nicht drinnen wäre, wenn sie sie liegen gelassen oder verloren hätte? Wie war doch sein Name? Sie hatte sie noch am ersten Abend gelesen. W a . . . Wa. .. Wallisch! Daran konnte sie sich erinnern, aber die Anschrift hatte sie vergessen, vollkommen vergessen! Sie hatte damals von Wien noch zu wenig gewußt, um sich aus ein paar Zahlen oder Worten eine feste Vorstellung zu bilden... Ob man in einer so großen Stadt einen Mann finden kann, der Wallisch heißt und einem kleinen Mädchen zu helfen versprochen hat?... Da sprang der Koffer auf und obenauf lag die rote Tasche. Sie hatte ja beim Weggehen die Photographie der Eltern hineingeschoben. Die lag drinnen. Dahinter steckte richtig die Karte „Kurt Wallisch, 19., Gatterburggasse 751“.
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Das würde sie finden. Darüber war sie nicht einen Augenblick im Zweifel. Und daß es nur ein bißchen Mut brauchte, um zu fragen, wenn man mit seiner eigenen Weisheit zu Ende war, hatte sie inzwischen auch gelernt. Auf alle Fälle nahm sie die Karte heraus und steckte sie in die Manteltasche, bevor sie den Koffer wieder abschloß, um sie zur Hand zu haben. Während der Fahrt auf der Straßenbahn überlegte sie unermüdlich, was und wie sie diesem Herrn Wallisch alles sagen sollte. Zwischendurch kamen ihr wieder Bedenken, ob sie ihn überhaupt zu Hause antreffen würde, und dann überlegte sie wieder, was sie unternehmen könnte, bis er nach Hause käme. Sie schrak plötzlich zusammen, denn der Schaffner zupfte sie bei einem ihrer Schwänzchen, das sich in der Aufregung losgelöst hatte und keck wegstand. „Du mußt jetzt aussteigen, Kleine, du gehst ein Stück vor und dann siehst du schon die Straßentafel. Lesen kannst du ja schon!“ Das letzte Stückchen des Weges erschien Ulli endlos, aber schließlich stand sie doch vor der Türe mit der Tafel „Kurt Wallisch“ und griff mit zitternden Fingern nach der Klingel. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis ihr ein alter Herr öffnete. Er betrachtete sie erst verwundert, dann schien er zu verstehen: „Du bist eine Mitschülerin Monikas.“ Sehr besorgt fügte er hinzu: „Ist Monika etwas geschehen?“
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Ulli schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte zu Herrn Wallisch.“ „Der bin ich“, versicherte der alte Herr. Ulli gab sich jedoch nicht zufrieden. „Der Herr, den ich suche, war viel, viel jünger als Sie.“ „Eine Schmeichlerin bist du gerade nicht“, erwiderte er, während er sie eintreten ließ, „du wirst sicher meinen Sohn meinen. Du hast Glück, daß er heute zufällig noch zu Hause ist. Komm mit mir.“ Er führte sie in ein großes helles Zimmer, das Ulli so gut gefiel, daß sie am liebsten „Ah“ gesagt hätte. Es hatte große Fenster, durch die viel Licht hereinfallen konnte, und es erschien ihr lange nicht so düster wie bei Onkel Viktor. Es tat ihr auch wohl, einmal nicht die vielen Bilder um sich zu haben, die sie immer bedrückten. Dafür glänzten die Möbel schön und neu, als wären sie erst aus der Tischlerei geliefert worden. „Ich werde ihn gleich verständigen“, sagte der alte Herr, ging zu einer anderen Türe und rief lachend: „Kurt, eine kleine Dame wünscht dich zu sprechen. Sie ist sehr hübsch und sehr jung.“ Sie hörte daneben eine vertraute Stimme: „Wer kann denn das sein? Jetzt am Morgen?“ Gleich darauf kam ein schmaler, schöner Männerkopf mit grauen Haaren an den Schläfen zum Vorschein, der Ulli bekannt war. „Ja... ja. . . das ist ja . . . das kleine Fräulein aus Salzburg... die Ulli! Laß dich einmal ansehen. Na, viel
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dicker bist du nicht geworden“, tadelte er. „und die Zöpfe sind auch nicht gewachsen.“ Ulli spielte verlegen mit ihrem Köfferchen und studierte unentwegt das Teppichmuster. „Hast du doch einmal zu uns herausgefunden! Monika ist leider jetzt nicht zu Hause, sie ist in der Schule.“ Und weil Ulli noch immer kein Wort herausbrachte, meinte er endlich: „Dafür hast du, wie mir scheint, die Sprache verloren.“ Ulli nickte und hätte am liebsten geweint, weil es ihr unmöglich schien, einem eo netten Herrn zu erklären, daß sie unter Diebstahlsverdacht von Onkel Viktor an die Luft gesetzt worden sei. „Ich kann mir gar nicht denken, daß das möglich ist. Aber vielleicht bist du müde und brauchst eine kleine Stärkung.“ Er griff in eine Glasschüssel und nahm einige Keks heraus. „Vielleicht hilft das! — Und jetzt mußt du mir erzählen, wie es deiner Mutter geht.“ Ulli konnte sich nicht genug wundern, daß sich ein so großer Herr nach so langer Zeit noch daran erinnern konnte, daß Mutti krank war. Und gar, daß er danach fragte! Das wäre Onkel Viktor niemals eingefallen. „Danke“, sagte sie leise, „es geht ihr schon besser, aber sie muß noch einige Zeit bleiben, bis sie vollkommen gesund ist.“ „Also ganz hast du das Reden doch nicht verlernt. Und du? Wie geht es dir?“ Auf diese Frage wußte Ulli bei bestem Willen keine Antwort, es sei denn, daß sie den Tränen, mit denen sie die
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ganze Zeit kämpfte, freien Lauf ließ. Und das tat sie auch. Einen Augenblick schien Herr Wallisch ratlos, dann drückte er sie auf einen Sessel und nahm sie unterm Kinn: „Na, heraus mit der Sprache, wo fehlt es denn?“ Unter Tränen versuchte nun Ulli stoßweise und nicht gerade zusammenhängend, sich ihre Sorgen vom Herzen zu reden. „Onkel Viktor hat mich davongejagt..., weil ich fünfzig Schilling gestohlen haben soll. . . und Mutti ist in Hochzirl in einer Heilanstalt... und ich kann nicht nach Salzburg ... und ich weiß nicht, was ich machen soll. . . und . . . und ...“ „Na, schön der Reihe nach“, besänftigte sie Herr Wallisch. „Wie war das mit den fünfzig Schillingen?“ „Onkel hat sie auf den Schreibtisch gelegt und dann waren sie weg und er glaubt nun, daß ich sie gestohlen habe. Ich habe sie aber wirklich nicht“, versicherte sie unter Tränen. „Da müßte ich sie doch haben, denn daß ich sie bloß nehme, damit ich sie zum Fenster hinauswerfe, — für so dumm darf er mich doch nicht halten. Und wenn ich sie habe, würde man sie kennen, weil es die gleichen sind, die ich gestern zurückgebracht habe, wo das Kreuz mit Tintenbleistift darauf war. Frau Pohl hat mir beim Einpacken genau zugesehen... und ich hab' sie nicht.“ Herr Wallisch versuchte sie nochmals zu beruhigen: „Ich glaube es dir schon, wenn du es sagst. Aber warum hast du das nicht deinem Onkel gegenüber erwähnt?“ „Ich hab' so! Aber er hat mich ja nicht reden lassen und dann hat er gesagt, es regt ihn zu sehr auf, wenn er
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suchen sollte. Ich werde das Geld schon wo versteckt haben. Aber ich habe es wirklich nicht!“ „Ulli“, sagte Herr Wallisch so zart er nur konnte, „schau, davon bin ich überzeugt. Aber wenn der Geldschein wirklich verschwunden ist, so wollen wir miteinander überlegen, wohin er geraten sein könnte, denn wenn wir ihn finden, ist deine Ehre wieder hergestellt. Ein Kreuz ist auch darauf, sagst du?“ ,.Ja, Onkel Viktor war noch böse, weil ich mir einen derartigen Schein anhängen ließ.“ „Siehst du! Selten ein Schaden, wo nicht auch ein Nutzen dabei ist. Wir wollen heute froh sein über das Kreuz, denn daran werden wir den Schein wieder erkennen. Jetzt versuche, dich zu erinnern, wer außer dir noch das Zimmer betreten hat. Frau Pohl vielleicht? Ich denke ja nicht, daß sie ihn eingesteckt hat, aber sie könnte etwas aus dem Raum hinausgetragen haben und da könnte durch einen dummen Zufall die Banknote mitgerutscht sein. Bei Frau Pohl als Wirtschafterin wäre das am leichtesten möglich.“ Ulli hielt dies jedoch für ausgeschlossen. Frau Pohl betrat abends nie diesen Raum. Onkel Viktor hatte zwei Zimmer. In dem einen schlief er und dort nahm er auch das Abendessen ein. Im anderen — er nannte es seine Bibliothek — arbeitete, las oder saß er mit Herrn Kopecek beisammen, wenn dieser ihn besuchte. Aber Frau Pohl kam abends nie in die Bibliothek, nur morgens, wenn Onkel noch schlief, um aufzuräumen.“ .,Dann hat sie ihn vielleicht beim Aufräumen verlegt“, vermutete Herr Wallisch.
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„Das ist unmöglich, denn Onkel Viktor hat schon gestern abend festgestellt, daß er fehlt.“ „Da mußt du halt nachdenken, wer außer dir und ihr noch den Raum betreten hat.“ „Nur Herr Kopecek.“ „Na, siehst du, dann bleibt keine andere Möglichkeit, als daß ihn Herr Kopecek aus Versehen eingesteckt hat. Hatte er vielleicht eine Aktentasche oder dergleichen bei sich?“ Ulli konnte sich nicht erinnern, weil sie so rasch davongelaufen war, aber möglich wäre es immerhin, denn er brachte immer etwas mit, um es Onkel zu zeigen: Bilder oder Bücher und darüber konnten sie endlos plaudern. „Das wäre die einfachste Erklärung und so wird es auch gewesen sein. Ich bin überzeugt, daß sich die ganze Angelegenheit einfach und harmlos aufklärt.“ Ulli sah zwar noch nicht ein, wieso ihr das helfen sollte, und machte dementsprechend ein ungläubiges Gesicht, aber ihr großer Freund aus der Eisenbahn schien ihr Bedenken zu erraten. „Ist dieser Herr Kopecek ein netter Mensch?“ „Ja, mit mir war er immer sehr lieb. Er hat mir sogar einmal Zuckerln gegeben. Bloß Frau Pohl mag ihn nicht.“ „Weißt du auch, wo er wohnt?“ Auch das wußte Ulli, denn sie mußte einmal einen Brief von Onkel Viktor zu ihm tragen. „Dann würde ich dir vorschlagen, zu ihm zu gehen und ihn tu bitten, daß er seine Sachen durchsehen möge, ob nicht zufällig der dumme Geldschein hineingeraten sei. Wenn
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schon das nicht, so erinnert er sich vielleicht, ob der Schein wirklich auf Onkels Schreibtisch lag oder welche Gegenstände sie in der Hand hatten, mit denen sie ihn verräumt haben könnten. Ist es dir so recht?“ Ulli nickte. „Wenn du es nicht wagst, allein hinzugehen, müßtest du bis abends warten. Dann werde ich mit dir gehen. Jetzt langt die Zeit leider nicht mehr dazu, denn ich muß trachten, ins Geschäft zu kommen, um meine Frau abzulösen, die ich heute ohnedies übermäßig lange warten lasse. Sie muß ja nach Hause zum Kochen! Dafür wirst du als kleine Hausfrau sicher Verständnis haben. Also, wie du willst! Jetzt oder abends!“ Ulli entschloß sich, gleich selbst hinzugehen, da es ihr keine Ruhe ließ, bis zum Abend zu warten. „Ist recht“, entschied Herr Wallisch, „und wenn etwas nicht stimmt, können wir ja am Abend miteinander hingehen.“ Damit stand er auf und Ulli hatte das Gefühl, daß sie jetzt gehen sollte. Aber sie druckste noch immer herum und kam nicht weiter. „Hast du noch einen Schmerz?“ fragte der große Mann, der einfach alles zu erraten schien. Ulli nickte: „Darf ich meinen Koffer hierlassen?“ „Kind Gottes!“ rief er aus und schlug dabei die Hände zusammen. „Das ist doch selbstverständlich! Wohin willst du ihn denn geben? Du hast doch kein Heim! Natürlich kommst du wieder her, wenn du mit Herrn Kopecek gesprochen hast. Dann wird meine Frau schon hier sein und Monika und sicher etwas zu essen. Du bleibst auch
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bei uns. bis diese dumme Geschichte geklärt ist — oder bis du wieder zu deiner Mutter kannst.“ Dabei hielt er sie so fest bei der Schulter und legte seinen Arm so fürsorglich um sie, daß sie sich so wunderbar geborgen fühlte, wie schon lange, lange nicht. Als Ulli zur Straßenbahn ging, mußte sie ständig an den großen Mann mit dem gütigen Gesicht denken, für den es so selbstverständlich war, daß er einem so kleinen Mädel wie ihr half. Er war wie ein richtiger Freund zu ihr — so wie Willy zum Seppl. Und wie hatte sie den Seppl immer beneidet!
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7 ULLI MERKT WAS Ulli war sehr stolz darauf, keinen Schaffner mehr zu Rate ziehen zu müssen, um in die Alserbachstraße zu kommen, wo Herr Kopecek wohnte. Sie fand auch wieder das Haus und erkannte die Türe an dem großen komischen Postkasten, in den sie seinerzeit Onkel Viktors Brief geworfen hatte, weil damals niemand öffnete. Die Unterredung mit Herrn Wallisch hatte sie wieder aufgerichtet, und wenn auch ihre Lage nicht gerade rosig war, blickte sie doch zuversichtlich in die Zukunft und freute sich selbst darüber, daß sie so tapfer und entschlossen nach der Glocke griff. Aber nichts rührte sich. Da die obere Hälfte der Eingangstüre aus Mattglas bestand, das durch ein schmiedeeisernes Gitter geschützt wurde, versuchte sie ein Schattenbild zu erhaschen, um festzustellen, ob sich jemand in der Wohnung befände. Vergeblich. Sie drückte deshalb nochmals die Klingel. Diesmal hatte sie mehr Glück. Sie sah zunächst einen Schatten vorüberhuschen, dann hörte sie ein Rumoren und schließlich ließ sie eine Dame ein, die ihr einen reichlich verschlafenen Eindruck machte. „Was willst du denn?“ fragte sie Ulli, nur mühsam ein Gähnen unterdrückend. Ulli konnte nicht gleich antworten. Sie mußte sich erst
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an den Anblick der Dame gewöhnen. Sie trug aufgelöste, weißblonde Haare und hielt eine Zigarette in einem endlos langen Rohr zwischen zwei grellrot bemalten Lippen. Die Haare warf sie lässig zurück, so daß sie auf eine leichte, rosa gestreifte Jacke fielen. Aber das Merkwürdigste an ihr schien dem Kind eine lange, dünne Hose, die sie trug. Ulli hatte noch nie eine Frau mit einer so langen rosa gestreiften Hose gesehen. Der feinen Dame schien es zu lange zu währen, bis sich Ulli an ihr sattgesehen hatte und sie fragte noch einmal: ,.Was willst du denn?“ Diesmal klang es viel ungnädiger und ungeduldiger. „Ist Herr Kopecek zu Hause?“ fragte Ulli und fühlte, daß ihr Mut im Schwinden war. „Nein, der geht regelmäßig um neun Uhr aus dem Hause“, stellte die Dame in einem Tone fest, als müßte diese Tatsache ohnedies jedermann bekannt sein und als wäre es ein ungebührliches Ansinnen, wenn sie dies wiederholen müßte. „Ach so“, sagte Ulli enttäuscht. Sie wußte nicht, wie sie sich weiter verhalten sollte, und blickte unschlüssig im Vorzimmer herum. Dabei fiel ihr Blick auf die Türe, durch die die merkwürdige Dame gekommen sein mochte, weil sie halb offen stand. Plötzlich bekamen ihre Augen etwas Starres und drohten aus den Höhlen zu treten. Sie schloß sie und fuhr sich darüber, bevor sie wieder durch die halboffene Türe starrte. Nein, eine Täuschung war unmöglich! Ihr gegenüber hing Onkel Viktors Bild — sein kost-
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bares Bild, von dem ihr Frau Pohl immer wieder versicherte, daß es von dem berühmten Maler Waldmüller stamme und ein Vermögen wert sei. Vielleicht war der Dame in der gestreiften Hose ihre Zeit zu kostbar, um zuzusehen, wie Ulli durch eine halb geöffnete Türe glotzte, denn sie stieß diese ärgerlich zu und wurde mehr als unhöflich: „Na, und was willst du da?“ Ulli schien durch den Krach der zufallenden Türe aus einer Betäubung zu erwachen, warf der ungeduldigen Fragerin einen geistesabwesenden Blick zu und fuhr wie ein Blitz zur Türe. Im nächsten Moment sauste sie die Stiege hinunter und konnte nicht mehr sehen, wie eine etwas verschlafene, junge Dame voll Zorn ihre weißblonden Locken schüttelte. Ulli raste, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie mußte schon weit, weit weg von Herrn Kopeceks Wohnung sein, als sie es wagte, stehen zu bleiben, und sich bemühte, ihre fünf Sinne wieder zu sammeln. Sobald sie Ordnung in ihren wirren Kopf gebracht hatte, kam sie zu dem Ergebnis, daß alle ihre Sorgen gegenüber der einen Tatsache verblaßten, daß Onkel Viktors kostbares Bild bei Herrn Kopecek hing. Daß sich Onkel Viktor freiwillig von seinem Stolz getrennt haben könnte, erschien ihr ausgeschlossen. Auf der anderen Seite sah sie keine Möglichkeit, wieso es in der Wohnung des Herrn Kopecek hängen konnte, außer... Sie wagte es nicht, ihre Gedanken zu Ende zu denken, und war doch überzeugt davon, daß hier etwas nicht stimmen konnte. Genau so war sie jedoch überzeugt davon, daß es
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sich hier um ein Problem handle, daß die Erfahrung ihrer zehn Jahre überstieg. Das mußten andere lösen, die mehr gelernt hatten als bloß die ‚Bürgschaft’. Natürlich dachte sie sofort an Herrn Wallisch. Ein Mann wie er, der alles weiß und selbst ein großes Geschäft besitzt, muß auch wissen, welche Schritte man in einem solchen Falle zu unternehmen habe. Sie erinnerte sich jedoch, daß er im Augenblick nicht zu Hause anzutreffen sei. Er war ja in sein Geschäft gegangen und wo dieses war, wußte sie nicht. Aber auch sonst behagte ihr der Gedanke an Herrn Wallisch nicht. Sollte sie ihm wieder mit einem Anliegen kommen, nachdem ihre Schmerzen ihn den ganzen Morgen gekostet hatten? War er nur für sie da? Und dann — waren ihre Vermutungen nicht zu kindisch, um einen richtigen, großen Mann damit zu belästigen? Es wurde ihr klar, daß es nur einen Menschen auf der ganzen Welt gab, mit dem sie sich über ihre Sorgen aussprechen konnte, und das war — Seppl! Sie mußte ihn zu Rate ziehen. Alle ihre Bedenken, die sie gegen ein Zusammentreffen mit ihm noch am Morgen hatte, waren zum Teil durch Herrn Wallisch zerstreut worden und zum Teil wurden sie zurückgedrängt durch die eine, alles überragende Frage: Wie kommt Onkel Viktors Bild zu Herrn Kopecek? Diese Frage erfüllte sie so sehr, daß sie sich nicht einmal scheute, Seppl sofort aufzusuchen, obwohl sie wußte, daß er jetzt in der Werkstätte seine Pflicht tun mußte. Ihre Stimmung schlug allerdings um, als sie die Werk-
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statte betrat. Hier surrte es und rasselte es an allen Ecken und Enden und Ulli kam sich so klein, so unendlich klein vor. Mit ihr war aber auch ihr großes Problem zusammengeschrumpft und erschien ihr so unbedeutend, daß sie damit am liebsten auf und davon gelaufen wäre. Es gab aber jetzt kein Zurück mehr. Der eine Mann, den sie vom Hof her kannte und von dem sie durch Seppl wußte, daß er der Chef wäre, kam auf sie zu und fragte sie etwas verwundert, aber nicht unfreundlich nach ihren Wünschen. „Ich möchte den Seppl“, lispelte sie und hielt dabei den Kopf so tief gesenkt, daß es der Mann in dem Lärm nicht verstehen konnte. Er beugte sich tief zu ihr herab und fragte noch einmal: „Was willst du?“ „Den Seppl.“ „So“, erwiderte er erstaunt, „ist es denn so wichtig?“ Ulli konnte nur nicken, ohne selbst so richtig davon überzeugt zu sein. „Seppl!“ rief der Chef durch die Werkstätte, und erst jetzt bemerkte Ulli, daß der Junge ganz rückwärts an einer Maschine arbeitete, die sich wie wild drehte und so viele Hebel, Räder und Griffe hatte, daß Ullis Bewunderung für Seppl ins Riesenhafte wuchs. Seppl stellte die Maschine ab und kam durch die Werkstätte geschossen. Sobald er das Mädchen erblickte, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. „Was ist los, Ulli?“ fragte er hastig, und Ulli hätte am
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liebsten über seine weitaufgerissenen, erschrockenen Augen gelacht. „Herr Kopecek hat Onkels kostbares Bild gestohlen.“ „Geh wui!“ stieß Sepp! hervor und seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Ulli war selbst über die Wirkung ihrer Mitteilung überrascht. Sie gestand sich ja ein, etwas übertrieben zu haben, aber um ihre überraschende Anwesenheit zu begründen und ihre Winzigkeit den vielen Maschinen gegenüber zu behaupten, hatte sie etwas dick aufgetragen. Sie merkte es jedoch gleich, als sie die Wirkung ihrer Mitteilung auf Seppl beobachtete, und versuchte diese abzuschwächen. „Ich glaube es wenigstens.“ Aber des Buben Sinn für alles Außergewöhnliche war nun einmal geweckt und nicht mehr zu bändigen. „Schieß los!“ drängte er. „Wie bist du darauf gekommen ?“ ,.Als ich wegen der fünfzig Schilling bei ihm war.“ „Welche fünfzig Schilling?“ „Die ich gestohlen haben soll.“ „Du hast doch keine fünfzig Schilling gestohlen?“ fragte er ungläubig. „Was fällt dir ein!“ „Na also! Warum bist du dann hingegangen?“ „Weil es der Herr Wallisch gesagt hat.“ „Und wer ist der Herr Wallisch?“ „Der von der Eisenbahn.“ „Was hat der mit dem Kopecek zu tun?“
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„Nichts.“ „Wie kommst du dann auf ihn?“ „Weil ich hingefahren bin.“ „Warum?“ „Weil mich Onkel Viktor vor die Türe gesetzt hat.“ „Weshalb hat dich Onkel Viktor hinausgeschmissen?“ „Weil ich fünfzig Schilling gestohlen haben soll.“ „Aber die hast du doch nicht...?“ „Freilich habe ich sie nicht, aber er glaubt es.“ Seppl griff sich an den Kopf. „Ob du es glaubst oder nicht, Ulli, aber ich komm' da nicht mit. Wir haben bald Mittagspause, und wenn es der Chef erlaubt, kannst du mit mir kommen, wenn ich mein Essen wärme, und dann erzählst du mir alles der Reihe nach. Sonst schnappe ich genau so über wie du.“ Ulli war einverstanden und behielt Seppl im Auge, während er mit seinem Chef sprach. Der Große nickte schließlich, nahm den Jungen mit der Rechten bei der „Schulter und wies mit der Linken rückwärts. „Wir können gleich abhauen“, berichtete Seppl und, während sie durch die Werkstätte nach der Kammer gingen, erklärte er ihr: „Der Chef und sein Schwager gehen nach Hause essen und Willy, der feine Mann, geht ins Gasthaus essen. Wir hätten ja von gestern noch ein Überbleibsel, aber er behauptet, den ‚Pantsch’ kann ich selber essen.“ „Wer hat denn gestern Küchendienst gehabt?“ „Ich“, erwiderte Seppl etwas kleinlaut, „aber es hätte viel schlimmer ausgehen können“, versicherte er und brachte
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in einem Aluminiumgeschirr eine graubraune Masse zum Vorschein, die wenig vertrauenerweckend aussah. „Erst wird gegessen“, stellte er fest und wärmte seine bescheidene Mahlzeit. „Mit leerem Magen kann man nicht denken. Hast du übrigens schon zu Mittag gegessen? Du siehst mir gar nicht danach aus. Bist so blaß. Oder ist das nur die Aufregung?“ Ulli mußte wahrheitsgemäß eingestehen, daß sie ehrlich hungrig war. „Na dann“, sagte Seppl und schob ihr einen Löffel zu. „Kannst es ruhig versuchen. Der Willy hat es auch überlebt.“ Als Willy bald darauf die Kammer betrat, um seinen Rock zu holen, saßen die beiden Kinder einträchtig über den Aluminiumtopf gebeugt und löffelten. „Hat der Seppl doch ein Opfer für seine Kochkunst gefunden“, meinte er. Seppl fand es unter seiner Würde darauf zu erwidern, aber Ulli versicherte, daß es sehr gut wäre, obwohl sie nicht ganz sicher wußte, was sie aß. „Jetzt hörst du es. Frauen sind Sachverständige und wenn Sachverständige das zugeben müssen... !“ trumpfte Seppl auf. Aber der lange Willy ging doch lieber ins Gasthaus. Dann mußte Ulli berichten. Langsam und schön der Reihe nach und, als sie mit ihrem wenig rühmlichen Auftreten im Hause des Herrn Kopecek geschlossen hatte, das mit dem Fußtritt der sonderbaren Frau gegen die Türe endete, faßte Seppl zusammen.
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„Und du bildest dir ein. daß du Onkels Bild gesehen hast? Wenn er es nun Onkel Viktor abgekauft hat?“ „Onkel Viktor wird das Bild nie verkaufen. Warum sollte er auch?“ „Oder hat er es ihm geschenkt?“ „Onkel Viktor verschenkt nichts!“ Seppl überlegte eine Weile, dann meinte er: „Aber daß es Onkel Viktor nicht fehlt?“ Das war richtig. An diese Möglichkeit hatte Ulli in ihrer Geschäftigkeit gar nicht gedacht und dabei war es das Nächstliegende. Onkel Viktor mußte doch sofort die leere Stelle an der Wand bemerken und dann wäre es sicher sein erstes gewesen, die Polizei zu verständigen. Von dem Standpunkt aus betrachtet, wäre ihre ganze Aufregung und Wichtigtuerei sinnlos gewesen und sie wendete deshalb gewissermaßen zu ihrer Rechtfertigung ein: „Vielleicht hat er es noch gar nicht bemerkt?“ „Das ist die einzige Möglichkeit“, gab Seppl zu, „und wenn wir das aufklären wollen, gibt es nur einen Ausweg: Nachsehen!“ Aber wie sollte man das bewerkstelligen? Seppl wußte auch da Rat. „Ganz einfach! Onkel Viktor macht doch immer um vier Uhr seinen Spaziergang. Wenn wir aufpassen, sehen wir ihn sogar weggehen und sind sicher, daß er bestimmt nicht zu Hause ist. Dann gehst du hinauf und siehst nach.“ „Das kann ich doch nicht.“ „Warum nicht? Du sagst Frau Pohl, du hättest etwas vergessen und kämst, um das zu holen.“
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Diesmal war Ulli die klügere. „Ja, dann läßt sie mich bloß in mein Zimmer und glaubt am Ende gar noch, ich komme um den Fünfzig schillingschein, den ich irgendwo versteckt habe.“ „Und wenn du sagst, du willst noch einmal die Wohnung sehen, in der du solange gelebt und dich wohlgefühlt hast?“ Ulli stieß Seppl an. „Geh, das glaubst du doch selbst nicht!“ „Es kommt nicht darauf an, daß ich es glaube, sondern, daß du irgendetwas sagst. Wenn dir das nicht recht ist, mußt du dir selbst etwas anderes ausdenken, denn ich muß wieder an die Arbeit. Wenn der Chef nichts dagegen hat, kannst du ja hier bleiben. Um vier Uhr hole ich dich, ich werde schon achtgeben, daß ich Onkel Viktor nicht übersehe.“ Einige Minuten nach vier Uhr läutete Ulli im zweiten Stock und ihre Gefühle waren dabei alles eher, denn angenehm. Frau Pohl öffnete und war maßlos erstaunt, sie vor der Türe stehen zu sehen. „Du? Du sollst ja schon lange über alle Berge sein! Was willst du denn da?“ Ulli erzählte eine wenig zusammenhängende Geschichte, daß sie den Frühzug versäumt habe und auf den Abendzug warten müsse und daß ihr langweilig geworden sei und sie auf einmal Sehnsucht bekommen habe, noch einmal den Ort zu sehen, wo sie so lange zu Hause gewesen sei. Wenn
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sie sich auch noch so treu an Seppls Entwurf hielt, das mit dem Glücklichsein brachte sie doch nicht über die Lippen. Frau Pohl sah sie zwar sehr verwundert an. Aber war es nun, weil sie sich inzwischen über das Ding vom Land ihre eigenen Gedanken gemacht hatte oder weil sie im Augenblick keinen anderen Ausweg wußte, kurz und gut, sie willfahrte ihr. Allerdings beschloß sie, zur Sicherheit nicht von ihrer Seite zu weichen und sie ständig im Auge zu behalten. Sie gingen erst in die Küche, dann in Onkels Schlafund Speisezimmer und schließlich in die Bibliothek. Ullis erster Blick galt natürlich dem Bild mit den balgenden Kindern. Aber es hing an seinem Platze über dem Schreibtisch. Wie um sich zu vergewissern, daß sie keiner Sinnestäuschung unterliege, sagte Ulli zu ihrer Begleiterin: „Das Bild ist sehr schön.“ „Und wertvoll“, bestätigte Frau Pohl. „Es ist mehr wert als alle anderen zusammen.“ Ullis Verwirrung schien den Höhepunkt erreicht zu haben. Es wollte ihr einfach nicht eingehen, daß hier das gleiche Bild hing, das sie heute morgen erst bei Herrn Kopecek gesehen hatte. Diese Frage beschäftigte sie so sehr, daß sie sich nicht einmal Jolly richtig widmen konnte, als sie in ihr Zimmer trat. Sie fühlte sich erst erleichtert, als sie wieder bei Seppl in der Werkstätte stand und ihm ihre sonderbare Beobachtung mitgeteilt hatte. „Na, also“, beruhigte sie der Junge. „Nicht alle Menschen sind gleich Diebe und bloß deshalb, weil sie das gleiche
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Bild an der Wand hängen haben wie ein anderer. Schätze, du hast dich ganz umsonst aufgeregt.“ Die sonst so gefügige Ulli erwies sich auf einmal als sehr dickköpfig. Und ich bleibe dabei: Da stimmt etwas nicht!“ „Quatsch!“ sagte Seppl verächtlich. „Aber bitte, wenn du noch ein übriges tun willst und ganz sicher gehen willst, dann erzählst du deine Bildergeschichte diesem Herrn Wallisch. Es ist am besten, wenn du schleunigst nach Döbling fährst, denn dort wird man sich ohnedies nicht erklären können, wo du so lange geblieben bist.“ Ulli hielt den Kopf gesenkt, als sie Seppl die Hand zum Abschied entgegenstreckte, und der Junge war sich nicht klar, ob aus Trotz oder aus Nachdenklichkeit. „Vergiß nicht auf die Autobranche“, rief er ihr noch nach, „vor allem nicht auf ihren würdigsten Vertreter!“ Dabei klopfte er sich so überzeugt auf die Brust, daß er gar nicht merkte, wie der lange Willy ihm hinter dem Kopf mit zwei Fingern Eselohren machte. Ulli ging mit sehr gemischten Gefühlen zur Straßenbahn. Zu der ungeklärten Frage, ob sie sich blamiert habe oder im Recht sei und daher nicht locker lassen dürfe, gesellte sich nun — durch Seppls Mahnung erst recht angeregt — immer vordringlicher das schlechte Gewissen der Familie Wallisch gegenüber. Frau Wallisch mußte einen schönen Eindruck von ihr gewinnen — noch bevor sie sie gesehen hatte. Sich einfach so lange herumzutreiben und wegzubleiben!
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Wenn man sich wirklich Sorgen um sie gemacht hätte? All diese Gedanken beflügelten ihre Schritte und sie lief schon förmlich, als sie sich beim Namen gerufen glaubte. Voll Neugierde wandte sie sich um und sah vor einem Haustor die kleine Trude stehen. „Ulli“, rief diese, „was ist mit dir?“ So sehr Ulli überzeugt war, daß sie sich beeilen sollte, siegte doch die Neugierde, wie die Mitschülerinnen ihren Abgang aus der Schule aufgenommen hätten. Die kleine Trude, die für die anderen Mädchen immer die Rolle einer Außenseiterin spielte, schien ihr gerade die geeignetste, um diese Neugierde zu befriedigen. „Ich komme nicht mehr in die Schule.“ „Ich weiß es“, sagte Trude leise, als müßte sie sich dieser Tatsache schämen. „Wieso?'' forschte Ulli. „Die Klassenvorsteherin hat es uns gesagt.“ „Was hat sie euch gesagt ?“ Trude wollte erst nicht herausrücken, sie druckste herum und spielte verlegen mit ihren Zöpfen. „Sag’ schon, was sie euch gesagt hat?“ drang Ulli begierig in sie. „Daß ... daß ... dein Onkel bei ihr war und daß du nach Salzburg gefahren bist ... und daß du darum nicht mehr kommst.“ „Und was haben die Mädchen gesagt?“ Trude schielte vorsichtig nach Ulli. „Die glauben es nicht“, gestand sie zurückhaltend. „Und
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wenn sie dich sehen, dann werden sie es erst recht nicht glauben.“ „Was glauben sie denn?“ Trude wand sich wie ein Wurm. Man konnte ihr anmerken, das sie mit der Sprache nicht heraus wollte und andererseits nicht die Gabe besaß, sich geschickt herauszuwinden. „Was glauben sie denn?“ forschte Ulli eindringlicher. „Daß du etwas angestellt hast und deshalb nicht mehr in die Schule kommen darfst.“ „Hat die Frau Lehrerin das gesagt?“ „Nicht gerade, aber sie hat so komisch herumgeredet und die Mädchen haben sie immer gefragt und jetzt glauben sie es. Frieda hat gemeint, das ist sicher, weil sie dich allein mit einem Buben am Leopoldsberg getroffen hat, und Dora sagt, sie glaubt, du mußt noch viel Ärgeres angestellt haben. Das hat die Dora gesagt...“ „Ach was, die Dora...“, warf Ulli ein. „Aber du weißt, was die Dora sagt, glauben alle und Dora behauptet, daß sie schon immer gewußt hat, daß du es dick hinter den Ohren hast und nicht in eine Schule gehörst, sondern in eine Besserungsanstalt.“ „Und das glauben die anderen?“ „Alle nicht. Ich natürlich auch nicht...“, fügte Trude sofort eifrig hinzu. „Aber du weißt ja, wie die Dora ist! In der Pause hat ohnedies Poldi zu ihr gesagt, wer weiß, ob es wahr ist und man darf über niemanden so reden, wenn man nicht weiß, ob es auch wahr ist. Dora ist ja um keine Antwort verlegen. ,Die Poldi ist eine Gans’, hat sie
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gesagt, ,und ich kann es auch sagen, weil ich es bestimmt weiß.’ Wenn sie dich sehen, werden natürlich alle der Dora recht geben. Denn daß eine herumgeht, die nicht in die Schule geht und doch nichts angestellt hat, das gibt es ja nicht.“ Vielleicht hätte Trude noch mehr zu erzählen gewußt, aber Ulli erinnerte sich plötzlich, daß sie es eilig habe, und überdies sah sie in der Ferne einen Straßenbahnwagen kommen. „Ist gut Trude“, sagte sie, „ich lasse alle schön grüßen, besonders Poldi und Grete.“ Sie wollte schon davoneilen, aber die Kleine hielt sie auf. „Glaubst du nicht, daß es besser ist, wenn ich gar nicht sage, daß ich dich getroffen habe?“ „Mir ist es schon gleichgültig und — du bringst es ja ohnedies nicht zuwege.“ Trude sah noch, wie sich ihre schmale Gestalt zwischen den großen Leuten durchzwängte, um auf den überfüllten Wagen zu turnen. Sie war selbst neugierig, ob sie es morgen zustande bringen würde, ihr Zusammentreffen mit Ulli zu verschweigen. In der Gatterburggasse wurde Ulli von einer freundlichen Dame empfangen, die eine große weiße Schürze trug wie Frau Pohl und nach Ullis Überzeugung doch so aussah, wie sie sich immer eine große, feine Dame vorgestellt hatte. „Das ist sicher die kleine Ausreißerin“, sagte sie zu Ulli und reichte ihr die Hand. Dabei kam hinter ihrem Rücken ein Mädchenkopf mit zwei langen, braunen Zöpfen
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und zwei großen neugierigen Augen zum Vorschein, der nach Ullis Meinung nur Monika gehören konnte. Ulli versuchte, einen Knicks zu machen, denn sie war überzeugt, daß dies die passendste Begrüßung wäre. „Siehst du, wie artig“, sagte Frau Wallisch zu dem Mädchen mit den Zöpfen. „Da kannst du dir ein Beispiel nehmen, Monika. Das ist nämlich Monika“, wandte sie sich wieder an Ulli, „und sie war schon so neugierig auf dich, weil ihr Vater so viel von dir erzählte. Sie konnte es schon nicht erwarten, bis du kommst.“ „Ich habe so viel herumlaufen müssen“, versuchte sich Ulli zu entschuldigen und sah ängstlich zu der schönen Frau auf. Und weil sie bei der Gelegenheit bemerkte, daß diese sie voll Güte und Freundlichkeit betrachtete, statt mürrisch und ungehalten zu sein, bekam sie eine solche Anwandlung von Vertrauen, daß sie die Rechte der Dame mit beiden Händen umfaßte und ganz treuherzig flehte: „Bitte, seien sie nicht böse.“ Das gefiel Frau Wallisch anscheinend so gut, daß sie Ullis Kopf zwischen ihre Hände nahm und ihr einen Kuß gab. „Durchaus nicht“, versicherte sie. „Wir haben uns nur solche Sorgen um dich gemacht, daß wir sogar die Polizei verständigen wollten. Aber jetzt ist alles wieder gut und die Hauptsache, daß du wieder da bist. So, jetzt lege rasch deinen Mantel ab und komm herein. Aber erst wollen wir zusehen, Monika, ob Ulli ihren Mantel schon selbst auf den Haken hängen kann.“ Ulli mühte sich, sie turnte auf den Zehenspitzen her-
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um, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ein ganz kleines Stückchen fehlte noch. „Das geht doch noch nicht“, sagte Frau Wallisch, „da muß Monika um ein wenig größer sein als du, denn ihr gelingt es schon. Dabei ist sie fast um ein Jahr jünger als du, Ulli! Da mußt du dazu sehen, daß du ihr nachkommst. Aber ich glaube, ihr habt euch noch nicht einmal richtig die Hand gegeben!“ Auf dieses Signal schien Monika nur gewartet zu haben, denn sie kam hinter Mutters schützendem Rücken hervorgestürzt und schüttelte Ullis Rechte so energisch, daß Frau Wallisch sie ermahnen mußte: „Sei nicht so wild, Monika!“ „Sie hält es schon aus. Gelt, Ulli! Komm mit mir, ich zeig’ dir gleich unser Zimmer.“ Damit zerrte sie Ulli davon, und als ihr ihre Mutter nachrief, sie solle Ulli erst essen lassen, schmetterte sie zurück: ,,Oh, sie wird nicht gleich verhungern.“ Sie führte Ulli in ein kleines Zimmer, das so licht war wie der Raum, in dem Ulli morgens gewesen war. An zwei gegenüberliegenden Wänden standen zwei weiße Betten, die mit einer blaßblauen Decke zugedeckt waren. „In dem hier schlafe ich und in dem dort wirst du schlafen“, erklärte Monika. „In dem Bett hat früher meine Schwester Barbara geschlafen, aber sie ist vor vier Jahren gestorben. Sie war um ein Jahr älter als ich und müßte jetzt so alt sein wie du. Eine häßliche, böse Krankheit hat sie uns weggenommen, die Diphtherie. Seither steht das Bett verwaist. Aber jetzt wirst du drinnen schlafen!
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Jede hat ein kleines Kästchen beim Bett, da hinein gehören unten die Schuhe und oben in die Lade die Zuckerln fürs Schlafengehen. Jeden Abend darf man eines davon essen. Hier ist unser Kasten.“ Sie führte Ulli zu einem großen, breiten Kasten, der dem Fenster gegenüber stand. Ulli konnte gar nicht so rasch mit, um Monikas Eifer gerecht zu werden. „Wir haben alles schon eingeteilt, Mama und ich. Jedem gehört die Hälfte. Siehst du, meine ist schon in Ordnung, du mußt deine noch einräumen. Ich werde gleich deinen Koffer bringen.“ Ulli gedachte ihrer bescheidenen Garderobe und wehrte ab. „Du hast recht“, pflichtete Monika bei, „das können wir später auch noch. Du mußt erst weiter sehen. Hier in der Mitte steht unser Tisch. Ich sitze an dieser Seite und du an der. Jede, wo ihr Bett steht. Und hier — was glaubst du, was hier versteckt ist?“ Sie wies nach dem Vorhang beim Bett. „Erraten! Mein Puppenwagen. Die ganz große, schöne Puppe ist die Prinzessin, weil sie Barbara gehörte, und mit der darf man nicht spielen; die darf nur gepflegt werden. So zum Beispiel!“ Dabei nahm sie sie aus dem Wagen und legte sie feierlich auf Ullis Bett. Spielst du gerne mit Puppen?“ fragte sie. Ulli zögerte, ob sie gestehen sollte, daß sie noch nie eine richtige Puppe besessen und immer nur ein Stück Holz in ein Tuch eingewickelt hatte. Monika schien jedoch gar nicht an einer Antwort gelegen zu sein.
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„Ich schon! Aber noch lieber spiele ich mit Pa, denn der läßt sich mehr gefallen und bricht nicht.“ Sie legte eine ganze Reihe Puppen nebeneinander auf und begann Ulli ihre Namen, Vorzüge und Gebrechen aufzuzählen, als sie die Mutter unterbrach. „Du mußt sie doch endlich essen lassen, Monika!“ Monika machte ein betrübtes Gesicht: „Gerade jetzt, da wir so schön zu spielen begonnen haben.“ „Das könnt ihr später auch. Jetzt wird gefolgt!“ Dabei wendete sie sich an Ulli. „In dem Haus muß überhaupt gefolgt werden, das merk’ dir gleich gut, sonst kracht es!“ Dabei drohte sie drollig mit der Hand und Ulli bemerkte sofort, daß sie es lange nicht so ernst meinte. „Und jetzt wollen wir zu Großvater gehen“, sagte sie, nahm mit jeder Hand einen Kopf und führte die beiden Mädchen ins Wohnzimmer. Der alte Herr, der Ulli morgens geöffnet hatte, saß beim Fenster und las Zeitung. Sie ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. „Da ist ja die kleine Dame, die mich heute in aller Herrgottsfrühe schon beleidigte, weil ich ihr viel zu alt war! Na, schön willkommen.“ Er streichelte ihr freundlich die Wange und Monika mischte sich ein. „Das ist Großvater. Er ist von Pa. Aber ich habe noch einen von Mama! Der kommt aber immer nur zum Kartenspielen und hat für mich nie Zeit. Pas Opapa ist aber immer da und er ist mit dem ganzen Haus verfeindet, weil ihm alle angeblich seine Brille verstecken. Wenn er eine halbe Stunde gesucht und alle begrobst hat, kommt er ge-
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wohnlich darauf, daß er sie auf die Stirne geschoben hat. Wir wissen das schon und ich würde dir empfehlen, dich bei seinem nächsten Wutausbruch nicht aufzuregen.“ „Ich bitte dich, Monika, jetzt laß doch Ulli endlich essen“, ermahnte Frau Wallisch, die am Tisch Tee und Butterbrote mit Wurst bereitgestellt hatte. Ulli langte trotz Seppls Kochkunst gerne zu. „Ich muß doch meine neue Freundin auf alle Gefahren im Hause aufmerksam machen! Mit Mama kommst du am ehesten in Konflikt, wenn du dich nach dem Mittagessen in den Lehnstuhl dort beim Ofen setzt. Dann wird sie sehr lieblos. Sie bleibt ja nicht lange drinnen sitzen, höchstens zehn Minuten, vielleicht einmal eine Viertelstunde — aber die muß sie dort sitzen und wehe dem, der sie daran hindert.“ „Du Plaudertasche!“ verwies sie die Mutter scherzend. „Und Pa? Was soll ich dir von Pa sagen?“ Monika dachte einen Augenblick nach, dann lachte sie spitzbübisch. „Die Asche. Pa raucht nach dem Essen immer eine Zigarette und sammelt die Asche auf der Zünderschachtel. Die fällt natürlich immer auf das Tischtuch. Dann kommt der ‚tägliche Familienzwist’, wie es Opapa nennt. Aber den wirst du selber noch erleben.“ So plauderte Monika weiter und erfüllte mit ihrem Wesen den ganzen Raum, ohne daß jemand anderer zu Worte gekommen wäre. Ulli war es zufrieden, denn einerseits mußte sie ununterbrochen lachen und andererseits hatte sie ständig
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den Mund voll, weil ihr Frau Wallisch immer wieder etwas zu essen zuschob. Monikas Verhalten änderte sich nur, als es läutete. Nun steigerte sich ihre Art zu einem wahren Sturm, der durch das Zimmer fegte: „Das ist Pa, das ist Pa“, schrie sie dabei und lief davon. Gleich darauf betrat Herr Wallisch das Zimmer und Monika hing an seinem Hals. „Da ist ja unsere Ulli“, meinte er und nahm ihr gegenüber Platz. „Wo warst du denn so lange?“ Ulli schien zu verlegen, um eine Antwort zu finden. „Sie mußte so viel laufen“, antwortete Frau Wallisch für sie. „Hast du diesen Herrn angetroffen?“ erkundigte sich Herr Wallisch. Ulli blieb nichts anderes übrig, als trotz ihrer Verlegenheit über ihre Erlebnisse zu berichten. Sie begann stockend und zaghaft und kam erst allmählich in Schwung. Als sie schließlich beschämt eingestand, daß sie bei Onkel Viktor doch wieder das Bild mit den balgenden Knaben vorfand, mußte Herr Wallisch herzlich lachen. „Das ist doch kein Wunder. Es gibt von vielen Gemälden Kopien, das heißt Bilder, die junge Maler nach dem Original malen. Gerade die besten und berühmtesten suchen sie sich dazu aus, um zu lernen. Wenn Herr Kopecek selbst Maler ist, erscheint es wirklich nicht verwunderlich, bei ihm die Kopie eines alten, berühmten Bildes zu finden.“ Mehr seiner Frau zugewandt, fügte er hinzu: „Auf welche Ideen Kinder kommen können!“
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„Das hat der Seppl auch gesagt“, meinte Ulli. „Wer ist Seppl?“ wollte Monika natürlich sofort wissen. „Der beste Automechaniker, den ich kenne“, versicherte Ulli. „Er arbeitet in unserem Haus in der Porzellangasse in der Reparaturwerkstätte und lernt zwar erst, aber trotzdem weiß er schon alles von den Automobilen.“ Man sah es Ulli an, daß sie glücklich war, von Seppl erzählen zu können. „Er stammt aus Tradigist und der lange Willy hat selbst von ihm gesagt, daß er sehr geistesgegenwärtig ist. Er merkt alles sofort, besonders wenn ein Auto vorbei fährt, und er hat auch gesagt, daß es ohne weiteres möglich sei, daß es von einem Bild zwei Bilder gibt.“ „Es freut mich“, lächelte Herr Wallisch, „daß Seppl das auch sagte, und es zeigt, daß er ein kluger Junge ist. Du warst leider nicht so klug, meine liebe Ulli! Du solltest herausbekommen, wo der verflixte Fünfzigschillingschein ist, und was tust du? Du spielst Privatdetektiv in einem Drama, das du dir selbst ausgedacht hast. Es wird uns halt nichts anderes übrigbleiben, als daß wir beide jetzt noch zu diesem Herrn Kopecek fahren.“ Man sah ihm an, daß ihm diese Aussicht keine Freude bereitete. Aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen: Ulli weigerte sich entschieden, noch einmal zu Herrn Kopecek zu gehen. „Wir müssen doch die Angelegenheit aus der Welt schaffen“, beharrte Herr Wallisch. „Was würde deine Mutter dazu sagen, wenn sie wüßte, in welchem Verdacht du stehst?“
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Das leuchtete Ulli ein und in ihrem Innern reifte allmählich ein Plan. Mit Herrn Kopecek, der ihr immer freundlich und herzlich entgegengekommen war, wollte sie ja gerne sprechen, schon wegen der Bildgeschichte, wenn es ihr nur erspart blieb, der weißblonden Dame zu begegnen. Wenn sie ihm auf der Straße auflauerte? Die komische Dame hatte doch gesagt, daß er immer um neun Uhr das Haus verläßt. Allmählich gab sie den Widerstand auf und rückte mit ihrem Plan heraus. Natürlich hatte Frau Wallisch und sogar der Großvater eine Reihe von Einwendungen, aber da Herr Wallisch sah, daß Ulli nicht umzustimmen war. lenkte er ein. „Ich sehe schon, wenn sie sich etwas einbildet, kann man ihr nicht beikommen. Selbst so ein kleines Ding hat eben schon den echt weiblichen Dickkopf. In Gottes Namen soll sie es machen, wie sie glaubt, und vielleicht ist es tatsächlich besser, wenn sie nur mit dem Mann spricht. Ich sehe wirklich keine andere Möglichkeit, wo sie ihn sonst allein treffen könnte. Das erledigst du aber gleich morgen, denn übermorgen wird wieder in die Schule gegangen.“ „Puh!“ machte Monika, „ich habe dich schon so be neidet.“ Es wurde gegessen und alle plauderten so fröhlich miteinander, daß es Ulli scheinen wollte, als würde ihre ganze bisherige Welt versinken, mit Onkel Viktor, Frau Pohl, Herrn Kopecek, der komischen Dame und dem unse ligen Geldschein. Sie hörte nur mehr Monikas Schnurren, sah Herrn Wallisch’ gütiges Gesicht und fühlte nur Frau Wallisch’ liebevolles Wesen. Es tat ihr ehrlich leid, als die
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mütterliche Sorge der Hausfrau die beiden Mädchen zum Aufbruch mahnte. „In dem Haus muß überhaupt gefolgt werden, sonst kracht’s“, ahmte Monika die Mutter nach und zog Ulli davon. Sie lagen schon in den Betten, als Frau Wallisch kam, um jeder einen Gute-Nacht-Kuß zu geben. „Jetzt kommt noch ein Zuckerl — aber für Ulli auch“, erinnerte Monika. „Freilich“, erklärte Monikas Mutter und ging damit noch einmal zu Ullis Bett. „Ich muß genau achtgeben, was ich träume“, sagte Ulli, „denn das geht in Erfüllung, hat meine Mutti gesagt.“ „Hoffentlich ist es etwas recht, recht Schönes“, meinte Frau Wallisch, bevor sie das Licht verlöschte. Von weither drang der Straßenlärm in das Zimmer und eine Straßenlampe warf merkwürdige Schatten an die Decke, die Ulli beobachtete, während sie den ereignisreichen Tag überdachte. Sie sah sich noch einmal auf der Straße stehen, ratlos, heimatlos und hoffnungslos. Und nun lag sie in einem sauberen Bett, war von Liebe und Fürsorge umgeben und es hatte ihr sogar jemand einen richtigen Gute-Nacht-Kuß gegeben. „Monika“, flüsterte sie auf einmal, um zu versuchen, ob die neue Freundin noch munter wäre. „Was willst du?“ kam es schon reichlich verschlafen zurück. ,Weißt du, ich muß mich immer wieder wundern, da?
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Ihr alle so lieb mit mir seid. Daß es solche Menschen gibt!...“ „Ich glaube“, erwiderte Monika und man merkte sofort, daß sie sich bemühte, so leise zu sprechen, als es ihr möglich war, „ich glaube, sie denken immer an Barbara, weil du ihr so ähnlich siehst.“ Dann blieb es still. Keines der beiden Mädchen, hätte mehr ein Wort über die Lippen gebracht.
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8 SEPPL GEHT DER HUT HOCH Die Menschen in der Alserbachstraße waren zu sehr mit den eigenen Sorgen, die der neue Tag brachte, beschäftigt, um des Mädchens achten zu können, das nun fast eine Viertelstunde am Rande des Gehsteiges stand und das Haus tor beobachtete, vor dem es Aufstellung genommen hatte. So oft jemand zwischen ihr und dem Haustor vorbeihastete, stellte sie sich auf die Zehen, um ja niemanden zu übersehen, der das Haustor verließ. Aber es traten bisher nur Frauen heraus mit großen Taschen und Milchkannen, um ihre Einkäufe zu besorgen. Nur einmal ließ ein männlicher Schritt Ulli aufhorchen, aber es war nur der Briefträger, der sich einen Augenblick verhielt und in seiner weiten ledernen Tasche etwas suchte. Ein Lehrjunge mit einer großen grünen Schürze trug lange Holzleisten heraus und pfiff ein Lied. Die Stangen waren so lange, daß er beim Einbiegen in die Straße vorsichtig sein mußte. Er stellte das Pfeifen ein und rief Ulli .“Achtung!“ zu. Sie bückte sich behende und sah in dem Augenblick Herrn Kopecek hinter dem Jungen aus dem Haus treten. Ulli mußte ein paar Schritte laufen, um ihn einzuholen. Sie lief ihm sogar etwas vor und verstellte ihm dann den Weg. Er wäre fast über sie gestolpert und wollte mit
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einer ungehaltenen Bemerkung ausweichen. In dem Moment nahm sich Ulli ein Herz und deklamierte den Satz, den sie sich ausgedacht und mühevoll auswendig gelernt hatte. „Herr Kopecek, Onkel Viktor vermißt einen Fünfzigschillingschein. Haben Sie diesen vielleicht irrtümlich ein gesteckt ?“ Herr Kopecek stutzte erst, dann schien er Ulli zu er kennen. Das Mädchen gewahrte noch, daß sich sein Gesicht plötzlich wie in namenloser Wut verzerrte und er seine Rechte erhob. Ulli fühlte einen Stoß und gleich darauf drang ein Knirschen und Schleifen an ihr Ohr, das sich in ein wildes Sausen verwandelte. Dann hatte sie das Bewußtsein verloren. Ein Auto hielt, der Fahrer sprang heraus, eine Flut von Verwünschungen ausstoßend. Die auf beiden Straßen seiten vorbeieilenden Menschen blieben plötzlich stehen, sahen sich um und eilten zu der Unfallstelle. Eine Frau stellte ihre Tasche ab und bückte sich nach dem bewußtlosen Mädchen. Sie nahm es auf und trug es nach dem Haustor. Auf einmal war die Straße erfüllt von Rufen und Schreien und im Nu sammelten sich auf dem Gehsteig Menschen an, ohne daß jemand hätte sagen können, woher sie so plötzlich gekommen waren. Ein stämmiger Mann in einem blauen Schlosseranzug bahnte sich unsanft einen Weg durch die Menge und brüllte wie ein Löwe: „Haltet den Kerl! Haltet den Kerl!“ Bevor aber noch jemand begriffen hatte, was er wollte und wen er mit dem „Kerl“ meinte, erreichte er selbst Herrn
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Kopecek, der sich in der allgemeinen Aufregung schleunigst aus dem Staube machen wollte. Er packte ihn beim Arm und wollte ihn zurückzerren. „Lassen Sie mich sofort los, Sie Tollhäusler“, zischte Herr Kopecek und wollte sich seinem Griff entwinden. Aber die Faust des Schmiedes hielt ihn wie mit einem Schraubstock fest. „Ich fordere Sie zum letzten Male auf“, brüllte Herr Kopecek, während seine Stirnadern zu dicken Strängen anliefen, „lassen Sie mich los, Sie unverschämter Mensch, sonst geschieht ein Unglück.“ Aber der Mann im Schlosseranzug war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Das Unglück ist schon geschehen, und wer ein unverschämter Mensch ist, wird die Polizei feststellen und so lange hält der Griff.“ Dabei wies er auf seine Faust. Eine hagere Frau, die die anderen überragte, hatte das Wort „Polizei“ aufgeschnappt und schrie nun ihrerseits: „Polizei! Polizei!“ Eine andere suchte sie zu unterbrechen und fauchte: „Wozu die Polizei — da gehört die Rettungsgesellschaft her.“ Die umsichtige Frau, die Ulli unter das Haustor gebettet hatte, brachte inzwischen Wasser und versuchte, Ulli mit ihrem Taschentuch zu waschen. „Lebt sie?“ wollten die Umstehenden von ihr wissen. „Ich glaube schon. Sie dürfte nur bewußtlos sein.“ Das größte Interesse wandte sich aber dem Fahrer zu, der sich ununterbrochen zu rechtfertigen suchte und immer
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wieder erklärte, ihn treffe nicht die geringste Schuld, weil die Kleine buchstäblich gegen seinen Wagen geflogen wäre. Er mußte den Hergang nochmals erzählen, als endlich ein Schutzmann eintraf, der erst seinen Führerschein zu sehen verlangte und dann die Nummer des Wagens notierte. Der Polizist kümmerte sich schließlich um Ulli, die noch immer blaß und bewußtlos unter dem Haustor lag. Er ordnete an, daß das Kind in dem Auto vorsichtig zu lagern sei, und wies den Fahrer an, mit ihm zum nahe gelegenen Unfallspital zu fahren. Er wollte selbst schon einsteigen, als ihn eine Löwenstimme zurückhielt. „Herr Inspektor! Herr Inspektor!“ Der Schmied brach sich Bahn und zerrte Herrn Kopecek rücksichtslos hinter sich her, obwohl sich dieser wie ein Rasender wehrte. „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, ich habe mit dem Unfall nichts zu tun. Ich habe gar kein Kind gesehen!“ und zu dem Schutzmann gewandt, entrüstete sich Herr Kopecek aufs energischeste: „Das ist doch eine Unverschämtheit! Befreien Sie mich von diesem Wahnsinnigen!“ Aber der Mann im Schlosseranzug ließ nicht locker. Er zerrte sein Opfer zu dem Wagen und wies hinein: „Kennen Sie das Kind oder nicht?“ „Nein“, versicherte Herr Kopecek, „wie oft soll ich Ihnen noch sagen, ich habe sie nie gesehen.“ „So geht das nicht, meine Herren“, mischte sich der Schutzmann ein. „Herr Inspektor“, erklärte der Schmied, „ich habe ge-
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sehen, wie das Kind auf ihn einredete und wie er es dann wütend vor das Auto stieß. Und was ich gesehen habe, habe ich gesehen!“ „Das ist doch lächerlich! Wie kommt man denn dazu?“ protestierte Herr Kopecek. „Können Sie das auch bezeugen?“ wandte sich der Schutzmann an den Schmied. „Das will ich meinen.“ „Dann kommen Sie mit auf das Kommissariat.“
Die Firma Kurt Wallisch, Lebensmittel en gros — en detail, war ein ansehnliches Unternehmen, das mehrere Angestellte beschäftigte, die fleißig dazusehen mußten, um die Arbeit zu bewältigen. Der Fleißigste unter ihnen war zweifellos der Chef selbst. Fräulein Schimek versah den Dienst neben dem Telephon und war jedesmal reichlich ungehalten, wenn es klingelte, weil sie dies als Störung empfand, besonders wenn sie gerade dabei war, lange Kolonnen von Zahlen zusammenzuzählen. Natürlich läutete auch jetzt wieder das Telephon im kritischesten Augenblick. „Wallisch, Lebensmittel en gros — en detail“, meldete sie sich höchst ungnädig. „Wer bitte?... Polizei... Polizeikommissär Hartmann... Ja, sofort bitte!“ Und dann hielt sie die Einsprache des Hörers zu, weil man nicht hören sollte, wie plötzlich ihre Stimme ganz aufgeregt durch den Raum gellte:
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„Herr Wallisch! Telephon! Die Polizei!“ Während sie dem Chef den Hörer reichte, flüsterte sie ihm erregt zu: „Ein Kriminalkommissär Hartmann.“ Aber ihren Chef konnte nicht so leicht etwas aus der Ruhe bringen. Er nickte ihr freundlich zu und meldete sich so gelassen wie immer. ,.Hier Wallisch... Was meinen S i e ? . . . Ob ich ein neun- oder zehnjähriges Töchterchen besitze?... Ja, das stimmt!... Was sagen Sie d a ? . . . Sie ist verunglückt?... Aber das ist unmöglich!... Mein Kind ist doch in der Schule!... Wie kommen Sie auf mich?... Niemand kannte das Kind, durch eine Visitkarte in ihrem Mantel sind Sie auf mich gekommen... Merkwürdig! Ich kann mir das nicht erklären ... Wie sagen Sie ? ... Durch ein vorüberfahrendes Auto niedergestoßen... Wo? Wo sagen S i e ? . . . In der Alserbachstraße ...“ Fräulein Schimek bemerkte, daß ihren Chef plötzlich seine gewohnte Ruhe verließ. „Ulli... das kann nur Ulli sein... Warten Sie, ich gebe Ihnen eine kurze Personsbeschreibung: mager, schmales, feines Gesichtchen mit einigen Sommersprossen, kurze, blonde Zöpfe, wie zu einer kleinen Krone aufgesteckt... Das stimmt!... Dann ist es Ulli... Nein, nicht mein Töchterchen, aber seit gestern in meinem Hause... Was ist mit dem Kinde?... Das ist ja schrecklich. . . Ist es schlimm? Ach so, ich verstehe, die ärztliche Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen... Wo liegt s i e ? . . . Im Unfallspital!... Ich komme sofort.“
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Fräulein Schimek hätte zehn Eide abgelegt, daß sie ihren Chef noch nie so aufgeregt gesehen hatte. „Selbstverständlich komme ich sofort... Ich muß mich selbst überzeugen... Wird mich freuen, Sie dort zu treffen ... Danke.“ Der Hörer fiel auf die Gabel, als wäre er seinen Händen entglitten, und als Fräulein Schimek nach diesen sah, bildete sie sich ein, daß diese zitterten. Er stürmte aus dem Geschäft und bemühte sich noch auf dem Gehsteig, in den Rock zu schlüpfen. Aber er war so nervös, daß es ihm nur mit Mühe gelang. Er hastete die Gatterburggasse hinunter und hatte das Glück, daß ihm ein leeres Taxi entgegenkam. Mit einem Sprung war er drinnen. „Ins Unfallspital! So schnell Sie können!“ Der Fahrer tat sein Möglichstes, aber es schien Herrn Wallisch noch immer eine Ewigkeit zu währen, bis sie am Ziel anlangten. „Können Sie warten?“ Der Fahrer nickte. „Bitte!“ Damit stürzte er ins Haus und bestürmte den Portier, der sich erst erinnern mußte. „Ein kleines Mädchen? Ja das stimmt! Sie wurde gegen halb zehn Uhr eingeliefert. Wird wahrscheinlich noch im zweiten Stock sein auf Zimmer 31.“ Die Ruhe des Hauses zwang Herrn Wallisch förmlich die Nervosität und die Unruhe der letzten halbe Stunde
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abzulegen, und behutsam öffnete er die Türe zu dem angegebenen Zimmer. Ein Arzt in langem, weißem Kittel kam ihm entgegen. „Mein Name ist Wallisch“, stellte er sich vor. „Ich möchte zu dem kleinen Mädchen, das heute vormittag den Autounfall erlitt. Ich — er zögerte etwas — ich vertrete gewissermaßen Vaterstelle.“ „Sie liegt hier allein in dem Raum, denn sie ist leider noch nicht zu sich gekommen und der Operationssaal ist augenblicklich besetzt. Ich habe sie aber gerade untersucht und so viel ich feststellen konnte, hat sie eine Gehirnerschütterung davongetragen, den linken Arm und linksseitig zwei Rippen gebrochen. Natürlich hat sie auch eine Reihe von Schrammen und Prellungen abbekommen, aber die sind — Gott sei Dank — nicht so schlimm. Bitte, kommen Sie mit!“ Er führte Herrn Wallisch an ein Bett, an dem eine Schwester saß, die Ulli von Zeit zu Zeit die Schläfen wusch. Er beugte sich über das Kind, das noch viel blasser und noch viel mehr abgemagert schien als sonst und auf der linken Seite eine gehörige Schürfwunde aufwies. „Daß sie nicht zu sich kommen will!“ äußerte er leise mit verhaltener Ungeduld zur Schwester, die jedoch mit den Schultern zuckte. „Einmal hat es bereits den Anschein gehabt, als ob sie zu sich käme. Sie rief mehrmals nach einem Seppl. Das ist wahrscheinlich ihr Bruder?“ Herr Wallisch schüttelte den Kopf.
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„Nein, aber glauben Sie, daß ich ihr eine Erleichterung schaffen könnte, wenn ich ihn herbringe?“ „Ich glaube schon, daß es ihr mindestens eine Freude bereiten würde, weil sie geradezu sehnsüchtig nach ihm gerufen hat.“ „Ist recht“, flüsterte Herr Wallisch. „Ich bin gleich wieder hier. Es ist nicht weit und überdies wartet ja das Auto noch auf mich unten.“ Daß vor der Autoreparaturwerkstätte in der Porzellangasse ein Wagen vorfuhr, war nichts Auffälliges, und daß ein Herr darauf ins Geschäft trat, war ebensowenig etwas Besonderes, aber daß dieser feine Herr ausgerechnet den Seppl — den Lehrjungen Seppl verlangte und ihn von seinem Chef frei bat, das war zweifellos etwas Außergewöhnliches. Daß jedoch dieser feine Herr dem Buben noch die Türe aufhielt, während er mit seiner blauen, ölfleckigen Hose in den Wagen kletterte, das — so bildete sich wenigstens Seppl ein — das hatte die ganze Porzellangasse noch nicht gesehen. Herr Wallisch benützte die kurze Wagenfahrt, um Seppl vorzubereiten. „Ulli hat heute vormittag einen Unfall erlitten ...“ Seppl fuhr herum. Im Nu waren alle seine stolzen Gefühle wie weggeblasen. „Die Ulli?“ fragte er ungläubig und man sah in seinem frischen Gesicht die Angst hochsteigen. „Es wird ihr doch nicht viel geschehen sein — der Ulli?“ „Es hätte schlimmer ausgehen können“, beruhigte ihn Herr Wallisch. „Der Arzt stellte eine Gehirnerschütterung fest. Einen Arm und zwei Rippen hat sie gebrochen und im
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Gesicht einige Schrammen abbekommen. Aber es wird schon wieder werden! Sie ist gut aufgehoben.“ „Daß sie halt nicht bucklig wird“, meinte Seppl besorgt. „Nein, nein, deshalb brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie wird trotz der gebrochenen Rippen einmal ein großes, fesches Mädchen werden. Aber vorher werden wir sie noch gehörig füttern müssen.“ Seppl sah einige Zeit nachdenklich durch das Fenster auf die Straße, dann mußte er seinem Unmut Luft machen. „Das kommt davon, weil sie immer so weit und so allein herumlaufen muß.“ „Mag sein“, gab der elegante Herr zu. „Es ist übrigens noch nicht sicher, erklärte mir der Polizeikommissär, ob es sich um einen Unfall handelt. Es sei ebenso möglich, daß sie ein fremder Mann in ein vorbeifahrendes Auto gestoßen habe. Auf alle Fälle wurde sie in bewußtlosem Zustande in das Unfallspital eingeliefert. Sie ist nur einmal kurz zu sich gekommen und hat stürmisch nach dir verlangt. Wir wollen ihr eine kleine Freude bereiten und deshalb habe ich dich geholt.“ „Die Ulli...“, sagte Seppl ganz versonnen und streichelte dabei den alten Samt der Karosserie. „Sie ist ja so ein armer Teufel, die Ulli — aber so ein guter Kerl!“ Seppl wurde ganz still und kleinlaut und sprach kein Wort, als er im Spital die Stiege hinaufeilte. Lautlos trat er in das Krankenzimmer und schlich zu Ullis Bett. „Das ist der Seppl“, raunte Herr Wallisch der Schwester zu und wies nach dem Buben, der am Fußende des Bettes
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stand, die Hände vor sich gefaltet hielt und starr die kleine Ulli betrachtete, die so blaß und regungslos in dem weißen Linnen lag. Er bildete sich ein, daß ihr Gesichterl noch viel kleiner sein mußte als sonst und es kam ihm weißer vor als der Polster. Auf einmal überkam ihn eine namenlose Angst. Ganz heiß wurde sein Kopf und er beugte sich zu der am Bett sitzenden Schwester herunter: „Lebt sie noch?“ Da packte ihn die Schwester bei seinem blonden Schopf und schüppelte ihn, wie ihn seine Mutter immer geschüppelt hatte. „Freilich, du dummer Bub!“ „Na dann!“ atmete er erleichtert auf und fühlte, daß seine Augen feucht wurden. Und das war schon lange nicht der Fall gewesen. Er vergaß sogar seine fast fünfzehnjährige Bubenehre und wischte mit dem Handrücken ungeniert über das Gesicht, wenn ihn die Tränen zu stark kitzelten. „Ich glaube, ich bin im Augenblick nicht nötig“, sagte Herr Wallisch leise zur Schwester. „Ich will nur rasch meine Frau verständigen und im Geschäft nachsehen und komme dann wieder.“ Die Schwester nickte. „Aber den Buben lassen Sie da.“ „Freilich“, erwiderte er und versuchte, so leise als möglich das Zimmer zu verlassen. War er trotz aller Vorsicht ungeschickt oder hatte der Zufall wie oft in solchen Fällen seine Hand im Spiel: als er die Türe hinter sich schloß, knackte die Klinke und dieses Geräusch mochte schuld sein, daß Ulli die Augen aufschlug.
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Ihr erster Blick fiel auf den Buben. „Der Seppl...“, hauchte sie verklärt und wollte ihm die Hände entgegenstrecken. Aber die gebrochene Hand schien das nicht zu vertragen. Schmerzvoll verzog das Kind den Mund und, während sie mit einem kurzen Aufschrei die Arme sinken ließ, fiel sie wieder in Ohnmacht. „Es muß sehr weh tun“, meinte die Schwester, „aber sie kommt ohnedies gleich in den Operationssaal. Der Arzt meinte, es wäre nicht so schlimm, sie könnte ruhig etwas warten und...“ Die Schwester wollte noch etwas sagen, aber sie wurde durch ein Pochen an der Türe unterbrochen. Zu Seppls Verwunderung schob sich ein Kopf zur Türe herein, auf dem eine Polizeimütze saß. „Ist hier das kleine Mädchen von dem Autounfall in der Alserbachstraße ?“ Die Schwester nickte. „Dann sind wir richtig“, sagte der Polizeibeamte und machte einem Manne mit schwarzen Haaren und stechendem Blick Platz, in dem Seppl sofort Herrn Kopecek erkannte. Der Mann in der Uniform neigte sich zur Schwester: „Ich bin Polizeikommissär Hartmann. Ich führe die Erhebungen in dieser Sache durch. Ist die Kleine schon vernehmungsfähig ?“ „Nein, noch nicht. Sie ist zwar gerade für Augenblicke zu sich gekommen, aber Sie sehen...“, und damit wies sie auf Ulli. „Hm“, sagte der Polizeibeamte unentschlossen. „Was machen wir denn da?“
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„Stellen Sie endlich das ganze zeitraub ende und zweck lose Komödienspiel ein“, versetzte der Schwarzhaarige ungeh alt en. „Ich seh e hie r das Kin d wie der und ich kan n Ihne n nur noch mals die Vers iche rung gebe n, daß ich die Klei ne nich t kenn e und nie vorh er gese hen hab e.“ Da ging Sepp l der Hut hoch . Und so jung er war und so stil l es im Zimm er war und so sehr er um Ulli bangte , so energi sch stampf te er mit dem Fuß auf . „Das ist eine ganz infa me Lüge !“ Die beide n Männe r fuhre n überr ascht herum und starr ten in ein wutver zerrte s Bubeng esicht . „Das trauen Sie sich nur zu sagen, weil Sie mich nicht kennen. Aber ich bin der Seppl und ich weiß, Herr Kopecek , daß Sie die Ulli so gut kennen wie ich. Aber ich weiß auch, warum Sie sie nicht kennen wollen! “ Ob der Seppl in seiner Wut überh aupt noch wußte , was er sprac h? „Und ich weiß auch, warum Sie sie vor das Auto gestoßen haben, Sie ganz gemeiner Schuft. Weil sie Ihnen hinter Ihren Bilderschwindel gekommen ist! Nur deshalb! Und es würde mich gar nicht wundern, wenn Sie auch noch den vermaledeiten Fünfzigschil lings chein hätte n.“ Er droht e dem zuers t verdu tzt und dann empört dreinblic kenden Kopecek mit dem Zeigefing er: „Das sage ich Ihne n auf den Kopf zu. Ich, der Sepp l! “ Der Poli zeik ommi ssär star rte erst den Jung en an, wie der in seiner Entrüstu ng losdonner te, aber dann schien es ihm rats amer , dies en unge duld igen schw arzh aari gen Herr n im Auge zu behalten, der sich plötzlich so auffallend verfärbte. Trotz dem konnt e er ihm seine Bewun derun g nicht versa gen,
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als er sich gleic h darau f in überl egener Ruhe an ihn wandt e. „Anscheine nd ein nicht ganz zurechnu ngsfähige r Junge. “ „Immerhin scheint er zurechnun gsfä hig genug, Sie sofort erkan nt zu haben , Herr Kopec ek“, erwid erte der Kommi ssär eben so ruhi g. „Das gib t mir zu den ken .“ „Ich werde doch den Herrn Kopecek kennen, der ja ein Freun d von Ullis Onkel ist. “ „So...“, sagte der Polize ibeamt e und blies ganz merk würdig durch die Zähne . „Und wie ist das mit den Bilde rn? “ „Sie werden doch nicht Äußerungen eines anscheinend überreizt en Jugendlic hen ernst nehmen“, mischte sich Herr Kopecek ein. „Warum nicht “, erwid erte Kommi ssär Hartm ann vol l kühl er Überl egenh eit. „Ich kann ja nach prüf en, ob etwas Wah res dar an ist , wen n ich mir ein bil de, daß mein Die nst es verla ngt. Nun Sepp l?“ „Zuerst hat die Ulli geglau bt, daß es der Herr Kopece k dem Onkel Viktor gestoh len hat, wie sie es bei ihm entdec kt hat und weil auch die komische Frau mit der langen Zigarett ensp itze so merk würd ig war... Als sie dann bei Onke l Vikto r das gleic he Bild wiede r geseh en hat, war sie ratlo s. Aber sie ist dabei gebli eben: da kann etwas nicht stimme n! Und daß sie rech t hat, das sieh t man jetz t, den n daru m hat sie der fein e Herr, der Schu ft, vor das Auto gest oßen . Weil sie ihm dahi nter geko mmen ist!“ Herr Kopecek wollte etwas einwenden, aber Kommissär Hart mann war dara uf nich t neug ierig . „Für die Bilder haben wir unsere Sachverständigen.
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Mich würde nur interessier en, was das Mädchen ursprünglich bei Herrn Kopec ek wollt e.“ „Den Fünfz igsch illin gsche in, den sie gesto hlen haben soll.“ „Das ist schwi erige r“, meint e der Poliz eiko mmi ssär. „Gar nich ts ist schw ieri g“, beharrt e Sepp l, „weil man ihn an eine m Kreu z erke nnt. “ „Na dann... ! Da könn en wir selb er nach sehe n. Kom men Sie mit!“ sagte Kommissär Hartmann zu Herrn Kopecek leise und möglichst unauffällig. Und zur Schwester gewendet, setz te er sehr höflic h hinz u: „Darf der Sepp l mitk omme n? “
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9 UNGEWÖHNLICHE FOLGEN EINER SCHULSTUNDE Alle Schülerinnen der 1. A waren einmütig der Überzeugung, daß es keinen schöneren Gegenstand geben könne als Geschichte. Freilich zu Beginn der Stunde konnte es kritisch werden. Da wiederholte und prüfte die Frau Lehrerin gründlich und gewissenhaft das Gelernte und wehe dem, den sie dabei unvorbereitet ertappte. Aber man konnte mit ruhigem Gewissen behaupten, daß das fast nie vorkam, denn die Mädchen überboten sich geradezu in ihrem Interesse. Und das mußte Frau Wurm der Neid lassen, daß sie es wie kaum jemand anderer verstand, ihre Schülerinnen für ihren Gegenstand zu begeistern. Sie saß mitten unter ihnen, meist auf der ersten Schulbank, und erzählte ihnen, wie es auf dieser Welt wohl vor hundert oder tausend Jahren ausgesehen haben mag. Dabei hatten die Kinder oft das Gefühl, als wäre es wie damals, da sie um ihre Mutter die Köpfe zusammensteckten, die von Bären, Riesen, Prinzen und Feen erzählte. Diese Stimmung war noch immer schön für sie. Sie hatten sich in der großen Pause noch einmal wegen Ulli gezankt. Die kleine Trude, die ein paar Tage standhaft dicht gehalten hatte, wollte sich schließlich doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, einmal wenigstens für kurze Zeit der Mittelpunkt der Klasse zu sein, und trumpfte mit
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der überraschenden Mitteilung auf, daß sie Ulli gesehen und mit ihr gesprochen habe. „Ulli ist also nicht in Salzburg“, stellte Dora triumphierend fest, „und wer hat wieder einmal recht gehabt? Ich!“ Ihre Anhängerinnen lächelten wohlgefällig und kosteten diesen Sieg mit ihr aus. „Und ich habe auch damit recht, daß sie etwas ganz Gewaltiges auf dem Kerbholz haben muß, denn sonst wird man nicht über Nacht aus der Schule ausgeschlossen. Da muß man ganz gemeingefährlich sein. Das hat auch meine Mama gesagt.“ Den anderen, die immer wieder — wenn auch nur unauffällig — Ulli die Stange hielten, fiel es schwer, dagegen etwas einzuwenden, umsomehr als Dora ihre Mutter als Bürgen anführte. Trotzdem ging der Kampf der Meinungen hin und her und wäre sicher noch hitziger geworden, wenn nicht Frau Wurm die Klasse zur Geschichtsstunde betreten hätte. Gewöhnlich galt ihre Aufmerksamkeit zunächst dem Klassenbuche und dann kam die Wiederholung. Heute schloß sie die Türe ganz behutsam hinter sich und steuerte sofort dem leeren Platz in der ersten Bank zu, auf die sie sich setzte. Die Mädchen waren dadurch so überrascht, daß augenblicklich Ruhe eintrat und sich mehr als dreißig Augenpaare voll Neugierde nach der Klassenvorsteherin richteten. Und in dieser absoluten Ruhe, in der man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können, begann sie: „Ich habe euch im Verlaufe des Geschichtsunterrichtes schon von vielen mutigen großen Männern erzählt, die sich
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durch ihre Taten unsere Anerkennung errungen haben. Ihr Wirken hat die Geschichte festgehalten. Aber wir sind überzeugt und wissen, daß es daneben viele Helden gegeben haben mag, die sich unbeachtet und ungenannt in ihrem — vielleicht beschränkteren Bereich derart bewährt haben, daß sie unserer Anerkennung mindestens ebenso würdig sind. Vielleicht sind ihre Taten, gemessen am großen Weltgeschehen, zu klein, als daß sie die Geschichte vermerken könnte. Aber ihrer wollen wir heute einmal gedenken. Zu ihnen gehört unsere tapfere kleine Ulli!“ „Die Ulli!“ „Was ist mit Ulli?“ Ein Murmeln ging durch den Raum und die Klassenvorsteherin hatte das Gefühl, als ob die Schülerinnen plötzlich viel näher zusammenrückten. ,,Ja. die Ulli! Freilich! Viele von euch werden sich schon gedacht haben, daß das Leben Ulli nicht mit Glücksgütern gesegnet hat. Aber ob ihr euch alle darüber klar geworden seid, welch ein armer Teufel Ulli in Wirklichkeit ist, bezweifle ich sehr. Sie lebte in Salzburg in mehr als bescheidenen Verhältnissen. Ihr Vater ist tot und ihre Mutter konnte sie nur mühselig erhalten. Ais ihre Mutter selbst todkrank wurde, war auch das nicht mehr möglich und Ulli kam zu einem alten Herrn, dem Onkel Viktor, nach Wien. Ich habe ihn vor einigen Tagen das erste Mal gesehen, als er Ulli abmeldete, und schätze, daß er mindestens siebzig Jahre alt ist. Überdies scheint er durch ein böses Augenleiden ungewöhnlich mürrisch und mißtrauisch geworden zu sein. Man
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kann über ihn denken wie man will. Ich glaube halt, daß der Vereinsamte dem Kind nicht mehr das richtige Verständnis entgegenbringen konnte und vermute, daß es auch Frau Pohl, seine Wirtschafterin, nicht mehr aufbrachte und daß Ullis Wiener Tage trüb und freudlos waren. Der einzige, der Ulli in dieser Zeit beistand und eine wirkliche Hilfe war, war Seppl, ein Lehrjunge in dem Hause, wo sie wohnte. Ich denke, wir alle hier in der Klasse müssen uns in dem Punkt große Vorwürfe machen.“ Ihr Blick ging über die Mädchen. Fast alle waren rot geworden und blickten verlegen zu Boden. Einige schneuzten sich auffällig, nur Dora saß steif und unbeweglich und starrte auf ihr Pult. „Dieser Seppl mochte sich, weil er um vier Jahre älter ist als Ulli, wie ein kleiner Ritter oder Beschützer vorkommen. Vielleicht hat gerade diese Rolle dem Buben geschmeichelt, vielleicht fühlte er sich aber gerade dadurch dazu verpflichtet, weil sie eben auch allein nach Wien gekommen war wie er. Sicher hat gerade dies beider Zusammengehörigkeitsgefühl wesentlich gesteigert. „Vielleicht ist es aber auch nur deshalb, weil er ein Bub ist, der das Herz eben auf dem rechten Fleck hat! Von ihm will ich euch später noch erzählen. Nun wieder zu Onkel Viktor. Als dieser zu wiederholten Malen merkte, daß ihm Geld fehlte, steigerte sich sein Mißtrauen und richtete sich vor allem gegen Ulli. Schließlich stellte er sie auf die Probe. Er legte einen Geldschein als Falle auf seinen Schreibtisch und tatsächlich — der Schein war bald darauf versehwunden.
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Es schien für ihn dadurch erwiesen, daß Ulli eine Diebin sei, und er glaubte umso mehr daran, weil er wußte, wie arm Ulli war. Er jagte sie augenblicklich aus dem Hause. Das war vor einigen Tagen, als Ulli nicht mehr in die Schule kam. Ihr erinnert euch?“ Viele nickten. „Sie ist nach Salzburg gefahren, haben Sie uns gesagt“, erinnerte sich eine. „Ich habe sie damals am Abend getroffen“, trumpfte die kleine Trude auf. „Hat sie das Geld wirklich genommen?“ rief eine dazwischen und Frau Wurm konnte nicht genau feststellen, ob es Dora oder Frieda war. „Natürlich hat Ulli das Geld nicht genommen und ihr Onkel hat ihr bitter unrecht getan.“ „Arme Ulli“, sagte Poldi und man merkte ihrer Stimme an, wie nahe ihr das Weinen war. „Wer hatte denn das Geld?“ „Ein gewisser Heir Kopecek, ein skrupelloser Mensch!“ Auf den Gesichtern war die Entrüstung zu lesen. Trotzdem konnten einige ihre Neugierde nicht bezähmen. „Wieso? Wie ist man denn darauf gekommen?“ „Wer hat es denn gefunden?“ „Die Polizei natürlich“, klärte sie Frau Wurm auf. „Das ist doch die Aufgabe der Polizei! Aber es wäre ihr sicher nicht so leicht gefallen, wenn man nicht gewußt hätte, daß der Fünfzigschillingschein, um den es sich handelte, durch ein großes Kreuz mit Kopierstift gekennzeichnet war. Den hat man bei diesem Herrn Kopecek gefunden. Er ließ ihn
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in Gegenwart des alten Herrn und im Vertrauen auf dessen schlechte Augen einfach verschwinden. Vielleicht war er zu der Tat auch dadurch ermutigt worden, weil alle seine bisherigen Eingriffe in Onkel Viktors Schreibtisch und Kassa unentdeckt blieben. Daß ihr Onkel Ulli verdächtigte, wußte er ja nicht.“ „Und U l l i ? . . . Was war mit Ulli?“ „Es ist beschämend, aber eigentlich hat sich niemand bemüht, das Kind von dem auf ihm lastenden Verdacht zu befreien. Aber nicht nur, daß sie sich mit ihren zehn Jahren selbst darum bemühen mußte, hat sie darüber hinaus ihrem Onkel einen ganz gewaltigen Dienst erwiesen.“ ,,Wieso? ... Wodurch? ... Erzählen!... Erzählen!“ kam es von allen Seiten und Frau Wurm hatte das Gefühl, daß all die fieberglühenden Augen um sie herum sie zu verschlingen suchten, „Freilich will ich es euch erzählen, schon damit ihr seht, wie schlecht Menschen sein können und wie vorsichtig man sein muß. Ihr Onkel ist ein großer Kunstfreund, und das einzige auf der Welt, dem er wirklich Liebe entgegenbringt, ist seine Gemäldesammlung, deren bestes Stück ein Bild des Wiener Malers Ferdinand Waldmüller bildet, von dem wir auch einmal miteinander sprachen. Dieser Herr Kopecek, der selbst Maler ist, verstand es nun, sich in das Vertrauen des alten Herrn einzuschleichen. Er war der einzige Mensch, mit dem Ullis Onkel verkehrte. Abende lang saß er bei ihm, fesselte ihn durch seine Plaudereien über Kunst und konnte ihn zu wiederholten Malen dazu bewegen, Bilder von ihm um verhält-
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nismäßig hohe Beträge zu kaufen. Das Hauptziel des Herrn Kopecek war jedoch ein ganz anderes.“ Die Augen der Mädchen waren so groß und gespannt auf die Lehrerin gerichtet, als erzählte sie vom trojanischen Krieg oder von Siegfried, wie er den Drachen erschlug. „Er wollte das kostbare Waldmüller-Bild, das Ullis Onkel über dem Schreibtisch hängen hat, in seine Hände bekommen und legte sich zu diesem Zweck einen in seiner Art schlauen Plan zurecht. Er fertigte von dem Bilde eine Kopie an. Das kann man schon machen, weil es von so berühmten Bildern genug Wiedergaben gibt — oft bloß Farbdrucke, die in Kunsthandlungen für verhältnismäßig wenig Geld erhältlich sind. Ihr werdet euch denken, daß es wohl nicht leicht ist, ein Bild so nachzumalen, daß es genau so aussieht wie das ursprüngliche, und ihr habt recht. Aber erstens sieht man Abweichungen nur, wenn Original und Kopie nebeneinander hängen, und zweitens war er schlau genug und rechnete mit des alten Herrn kranken Augen. Wie sollte ein Mensch, der ständig farbige Schutzbrillen trug, kleine, unbedeutende Abweichungen bemerken? Seine Sorge galt nur zwei Dingen: Das nachgemachte Bild mußte in den vorhandenen Rahmen passen und tatsächlich überraschte ihn Ulli einmal dabei, als er mit einem Maßstab an dem berühmten Gemälde herumhantierte. Die andere Schwierigkeit bestand nun darin, den Bildertausch unauffällig durchzuführen. Auch dafür hatte er seine Vorbereitungen getroffen. Oft und oft hatte er Onkel Viktor Bilder ins Haus gebracht, von denen er wußte, daß sie den alten Herrn interessierten. Es war ihm aber nur
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darum zu tun, die Hausbewohner, vor allem die Wirtschafterin, daran zu gewöhnen, daß er Bilder brachte und wieder forttrug. Eines Tages kam er nun wieder, ausgerechnet zu einer Zeit, du der alte Herr seinen Spaziergang erledigte, und brachte seinen selbstangefertigten ,Waldmüller“ mit. Die Wirtschafterin nahm nicht den geringsten Anstoß daran, daß er sich inzwischen in Onkels Zimmer setzte, weil sie es von ihm gewohnt war. Sie erinnert sich heute zwar, daß er eines Tages entgegen seiner Gewohnheit bald wieder zu ihr kam und mit dem Bemerken, er habe eine wichtige Besorgung vergessen, sich verabschiedete, ohne Onkel Viktors Heimkehr abzuwarten. Damals mag er den Bildertausch durchgeführt haben. Niemandem wäre das aufgefallen, wenn Ulli nicht gewesen wäre!“ Frau Wurm machte eine kleine Pause. Aber die Mädchen waren ihrer Erzählung so aufgeregt gefolgt, daß sie keine Unterbrechung duldeten. „Wieso?“ „Was hat Ulli gemacht?“ „Bitte, weiter erzählen!“ „Damit ihr Ullis Verdienst richtig ermessen könnt, muß ich euch folgendes erklären: Bilder berühmter Maler sind oft ein Vermögen wert. Zu diesen besonders wertvollen Bildern gehören auch die unseres Wiener Malers Waldmüller. Dagegen ist jede Nachahmung, also auch das von Herrn Kopecek gemalte Bild ungleich weniger oder auch gar nichts
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Plötzlich waren alle Blicke starr auf die Klassenvorsteherin gerichtet. „Sie hat nämlich diesen Herrn Kopecek auf der Gasse zur Rede gestellt. In seiner Wut — oder weil er dachte, sich dadurch des Kindes, das ihm gefährlich zu werden schien, endgültig entledigen zu können, stieß er sie vor ein vorbeifahrendes Auto.“ Von irgendwoher kam ein unterdrückter Aufschrei. „Gelt, das hättet ihr nicht gedacht, daß es so böse Menschen geben kann?“ Frau Wurm blickte über die Mädchen und wollte die Zustimmung in ihren Augen lesen, aber das war nicht möglich, Die Augen waren alle hinter Taschentüchern oder Händen verschwunden, die sich mühten, der Tränen Herr zu werden. „Im allgemeinen Gedränge hoffte dieser Kopecek zu entkommen. Aber das gelang ihm nicht. Als man ihn anhielt, behauptete er immer wieder, mit dem Unfall nichts zu schaffen zu haben und Ulli nicht zu kennen. Er hatte aber nicht mit Seppl gerechnet. Im entscheidenden Augenblick hat dieser brave Bub eingegriffen und sagte diesem Kopecek alles auf den Kopf zu.“ „Und wie geht es Ulli?“ flüsterte irgendwo in der Klasse eine tränenerstickte Stimme. „Sie hat zwei Rippen und den Arm gebrochen und durch den Anprall eine Gehirnerschütterung davongetragen. Aber wie mir Herr Wallisch, der sich des Mädchens in rührender Weise angenommen hat, heute früh erzählte, hat sie das Ärgste überwunden.“
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In dem Augenblick geschah etwas so Merkwürdiges, daß die anderen Mädchen sogar ihre eigenen Tränen vergaßen und die Hälse in die Höhe reckten. Dora, die stolze Dora, hatte auf einmal ihren Kopf auf den linken Unterarm sinken lassen und heulte, daß die dicken Tränen auf den Boden tropften. Dabei stieß sie ununterbrochen stürmisch, fast fordernd, hervor: „Ich möchte zu ihr! Ich möchte zu Ulli!“ „Ich auch!“ rief eine andere dazwischen. „Ich auch!“ meldete sich Poldi. „Ich auch! Ich auch!“ kam es von allen Seiten. „Das kann ich mir vorstellen“, versicherte die Lehrerin, „und das sollt ihr auch. Wenn es ihr Gesundheitszustand erlaubt, werde ich euch sagen, wo sie liegt und ihr sollt gemeinsam hingehen.“
So kam es, daß eines Tages — noch lange vor der Besuchszeit — vor dem Unfallspital ein Mädchen mit einem großen Blumenstrauß und einem kleinen Päckchen unter dem Arm auf und ab ging. Nach einiger Zeit gesellte sich eine zweite zu ihr, die ebenfalls ein Päckchen und Blumen trug, und beide spähten die Straße nach rechts und nach links und wunderten sich immer wieder: „Wo nur die anderen bleiben?“ Aber die anderen kamen. Erst einzeln, dann in Gruppen und von allen Seiten und jede von ihnen hielt ein kleines Paket unter dem Arm und einen großen Blumenstrauß in der Hand.
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Den größten Strauß und das größte Paket trug jedoch zweifellos Dora. Als der Portier um zwei Uhr die Besucher in das Haus ließ, fand er eine bunte, schwirrende, unter Blumen brodelnde Menge von Kindern vor dem Tor, die sich auf einmal selbst zu einer langen Reihe ordnete. Und diese Reihe setzte sich in Bewegung und kroch wie eine seltene, eigentümlich anmutende Schlange die Treppen hinauf zum Frauensaal. Die schwarzlockige Poldi ging voran, öffnete die Türe und lugte erst vorsichtig hinein, ob sie auch richtig seien und ob man wirklich so ein kleines Ding wie die Ulli zu den Frauen gelegt habe. Sie spähte und entdeckte im zweiten Bett neben dem Fenster einen kleinen, schmalen Kopf, dem zwei blonde Schwänzchen wegstanden. Sie war beruhigt und gab den anderen ein Zeichen. Die Türe flog auf und eine merkwürdige Prozession schlängelte sich zwischen Betten, Stühlen und Tischen hindurch. Alle die Frauen, die ihren Angehörigen gerade ihre Schmerzen geklagt hatten, verstummten, vergaßen ihre eigenen Leiden und versuchten sich aufzurichten, so gut es ging, um nur ja nichts von dem ungewöhnlichen Schauspiel zu versäumen, das sich ihnen bot. Sie sahen für einen Augenblick noch die kleine Ulli, die sich in den wenigen Tagen ihres Hierseins alle Herzen im Sturm erobert hatte, denn dann verschwand sie in einem Meer von Blumen und unter all den Päckchen, die die Mädchen auf das Bett gelegt hatten. Aber das Bett reichte nicht aus, um alles zu fassen, auch das Tischchen daneben nicht und nicht die Stühle. Die
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Schwester kam herbeigeeilt und bemühte sich beizuspringen und
zu ordnen, und als sie sich endlich durch den Berg einen Weg zu Ulli gebahnt hatte, kam ein kleines Gesicht zum Vorschein, über das die Tränen liefen und das so glückselig lachte wie schon lange nicht. „Ich danke euch allen“, sagte die also Gefeirte immer wieder und bemühte sich, jeder einzelnen die gesunde Rechte entgegenzustrecken: der Poldi, der Trude, der Grete... Aber als Schwester Felizitas sah, daß der Andrang so stürmisch wurde und alle das Gleiche wissen wollten: ob sie schon bald gesund sein und bald in die Schule kommen werde, griff sie ein und rief: „Halt, halt! So geht das nicht. Schön eine nach der anderen, wie ihr gekommen seid, sonst werft ihr mir Ulli noch aus dem Bett und so geht man mit einem Patienten nicht um! Da war der alte Herr heute morgens viel rücksichtsvoller.“ „Onkel Viktor war hier“, flüsterte Ulli der ihr zunächst stehenden Grete zu, „und wißt ihr, was er mir versprochen hat? — Den Jolly! Wenn ich gesund bin, darf ich ihn holen und dann gehört er ganz mir. Nicht wahr. Schwester?“ „Ja, denkt euch nur, Onkel Viktor hat sie heute früh schon besucht“, sagte die Schwester laut. „Wahrscheinlich hat er die Erlaubnis bekommen, außerhalb der Besuchszeit hereinzukommen, weil er schon so alt und gebrechlich ist. Vielleicht scheint er aber nur jetzt so gebrechlich, weil er sich in der letzten Zeit so viel aufregen mußte, wie mir Ulli erzählt hat. Er stand da neben dem Bett, auf einen großen Stock
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gestützt und sah Ulli immerfort an. Ich denke mir das halt, genau weiß ich es nicht, weil er so dunkle Gläser vor den Augen trug. Aber das gnädige Fräulein hat gar keine Notiz von ihm genommen, sondern unentwegt weitergeschlafen. Als ich sie wecken wollte, duldete er es auf keinen Fall, nicht einmal als er ihr eine kleine Schachtel auf die Decke legte. Zu mir sagte er nur, ich möge auf die Schachtel aufpassen, weil das Ding sehr wertvoll sei und ich möge es verwahren, wenn es Ulli gesehen hat.“ „Was glaubt ihr, was drinnen war?“ unterbrach Ulli voll Stolz und Freude. „Eine Brosche, aber aus Gold, aus richtigem Gold und mit Steinen, wie sie reiche Damen tragen und die ganz wunderbar glänzen. Wie heißen so Steine. Schwester?“ „Diamanten.“ „Ja, mit Diamanten“, wiederholte Ulli. „Sie sollen von einem alten Familienschmuck stammen.“ „Da staunt ihr!“ setzte die Schwester fort. „Diese Brosche hat ihr Onkel Viktor zur Belohnung geschenkt, weil sie ihm ein Vermögen gerettet hat. Als er wegging, blieb er noch bei der Türe stehen und sagte zu mir, daß er erst jetzt gesehen habe, welch anständige und rechtschaffene Menschen seine Verwandten wären, denn nur solche könnten ein Kind so wunderbar erziehen, und er werde sich in Zukunft sehr um sie annehmen. Und damit ihr nicht alle Ulli das Gleiche fragt und meine kleine Patientin nicht zu sehr anstrengt, will ich euch gemeinsam sagen, was ich auch Onkel Viktor gesagt habe:
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Ulli wird wieder ganz gesund, aber freilich wird sie noch eine Zeit Mühe und Schonung brauchen, vor allem wegen der gebrochenen Rippen. Ob sie noch vor den Ferien in die Schule kommen wird, ist sehr fraglich — vielleicht einmal, am letzten Schultag auf Besuch, wenn es Herr Wallisch ermöglicht, der für sie wie ein Vater sorgt. Herr Wallisch hat auch schon Ullis Mutter verständigt, daß sie ohne Sorge sein kann und daß sich alle bemühen, um Ulli wieder gesund, froh und glücklich zu machen. Ihr wißt nun alles und jede gibt Ulli jetzt der Reihe nach die Hand. Aber fragt sie nur, wenn ihr etwas Besonderes von ihr wissen wollt.“ Bewegung kam wieder in die Besucherschar, aber um die Patientin zu schonen, hielten sich alle an das Gebot Schwester. Nur Frieda wollte scheinbar etwas Besonderes fragen, denn sie beugte sieh zu Ulli herab und sagte: „War der Bub, mit dem ich dich auf dem Leopoldsberg getroffen habe, der Seppl?“ „Freilich", erwiderte Ulli und ihre Augen strahlten. Dann kamen Maria, Hedy, Gucki und... Ulli machte auf einmal ganz große Augen und sie lispelte, ohne daß sie es wollte und wußte: „ . . . die Dora!” Dora hatte sich an Schwester Felizitas gewendet und bat um die Erlaubnis, mit Ulli ein bißchen länger reden zu dürfen, weil sie sie etwas sehr Wichtiges fragen müsse. Die Schwester nickte ihr zu und Dora trat ganz dicht an Ullis Bett heran. „Es dauert nicht mehr lange bis zu den Ferien und bis
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dahin bist du sicher gesund, wie die Schwester sagte. Dann fährt die Mutter mit uns Kindern immer aufs Land. Sie bittet dich, ob du nicht mitkommen möchtest.“ Ulli war so überrascht, daß sie nicht wußte, was sie erwidern sollte. Dora wieder mißdeutete in ihrer Aufregung Ullis Schweigen und fürchtete, daß Ulli ablehnen könnte. Sie bestürmte deshalb Ulli: „Bitte komm mit! Bitte, bitte! Es ist sehr schön draußen. Wir können baden und schwimmen, vielleicht dürfen wir auf Pluto reiten und mit auf das Feld fahren. Und eine Ruine ist auch dort! Es wird dir sicher gefallen. Bitte sag’ ja!“ Ullis Augen strahlten wie zwei große, leuchtende Sterne. ,,So richtig aufs Land?“ fragte Ulli. „Ja, wo du nichts machen dargst, als dich erholen und unterhalten.“ „Ich möchte schon gerne“, meinte Ulli ganz verzückt. Schwester Felizitas schien es schon zu lange zu dauern. Sie mischte sich ein. §Du mußt noch die anderen zu Wort kommen lassen.“ Als die Reihe durch war, glaubte sie mit Rücksicht auf die anderen Patienten das unruhige Völkchen abschieben zu müssen. Aber das war nicht so einfach. Immer wieder entwischte ihr eine und eilte zu Ulli zurück, um ihr noch etwas und noch etwas zu berichten und zu erzählen. Selbst von weitem her war es noch ein Winken und Rufen, daß Schwester Felizitas ehrlich um ihre Schutzbefohlenen bangte. Schließlich glaubte sie schon alle glücklich auf den
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Gang gedrängt zu haben, als ihr noch einmal eine durchrutschte. War es nicht die Große, Rotblonde, die zuvor schon so lange mit Ulli geplaudert hatte? Dora hatte bei der Türe plötzlich kehrt gemacht und war zu Ulli zurückgelaufen. Sie packte sie bei der Hand und sah ihr fest und treuherzig in die Augen. „Gelt; wir wollen gute — richtige Freundinnen werden“, sagte sie voll Liebe und gab der strahlenden Ulli einen Kuß. „Ja!“ erwiderte Ulli ganz verklärt.
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Wir empfehlen als nächstes Buch:
Irmgard Laarmann Neily, Hans und Frieder Ich bin nicht die Hauptperson, nein, ich bin bloß der Rabe Huck und spiele eine ganz bescheidene Nebenrolle. Dabei hätte ich wahrscheinlich das Zeug, der Held des Buches zu sein. Geduld, ich räche mich schon dafür, daß man mich nicht an den ersten Platz gestellt hat, und bringe die Geschichte schon tüchtig durcheinander, krahara, krahira. Ohne mich hätte die Geschichte mit dem Medaillon überhaupt nicht passieren können, und ohne mich wäre auch die Schlacht auf dem Kappelberg für Uli und seinen Dackel anders verlaufen. Ich kenne das alte Bürgermeisterhaus lange bevor Nelly mit ihrem Vater und ihrer Tante dort einzog. Ich saß auf dem Dach, als das Nachtgespenst kam, ich wußte, wo Nelly steckte, als die Feuerwehrleute sie suchen sollten, ich sah die Herren von der Reisegesellschaft, die das Museum besichtigen wollten, während Nelly mit Hans und Frieder verkleidet darin herumtollten. Ich hätte alle warnen können, kräh, alle Aufregungen verhüten, alle Zwischenfälle verhindern, aber es paßte mir, daß es so aufregend zuging. Spiele ich auch nur eine ganz bescheidene Nebenrolle, ich jedenfalls fühle mich als Hauptperson, denn ich bin derjenige, der das Rad in Schwung bringt, der Rabe Huck.
Dort, wo das vorliegende Buch gekauft wurde, ist zum gleichen Preis auch dieser neue Band erhältlich