LEX LANDAU
Tal der toten Männer
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NEUES
LEBEN BERLIN
19 5 3
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni H...
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LEX LANDAU
Tal der toten Männer
VERLAG
NEUES
LEBEN BERLIN
19 5 3
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.10.03 18:11:59 +02'00'
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1953 by Verlag Neues Leben, Berlin W 8 Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 303 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik • Gen.-Nr. 305/11/53 Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
Vom Turm des „Großen Michel" hallten zwölf Glockenschläge durch die regenschwere Oktobernacht hinweg über das Dächergewirr Hamburgs. Eine steife Seebrise wehte von Cuxhaven stromauf, warf die Wellen der Norderelbe gegen die leerstehenden Docks, deren steile Wände in die Dunkelheit ragten. Der Lichtschein, der einst auf dem Nachthimmel der Millionenstadt lag und das rastlose Treiben des Welthafens widerspiegelte, war in diesen Jahren der westdeutschen Wirtschaftskrise erloschen, das Geräusch der Arbeit verstummt. Die Arbeiterbezirke von Altona und Sankt Georg lagen in Finsternis gehüllt. Einzig im Stadtviertel Sankt Pauli flimmerten die bunten Lichter der Leuchtreklame. Ultramarin und Rot kündigten Bierhallen und Tattersalls an und warfen ihren trügerischen Glanz auf die Regenpfützen der Fahrdämme. Anne Fock war von der „Großen Freiheit" in eine ruhigere Nebenstraße eingebogen, die geradewegs auf das Millerntor zuführte. Allmählich verschwamm das grelle Bunt der Vergnügungslokale. Der leichte Nebel schluckte die Sambarhythmen auf. Doch die torkelnden Schritte der Männer in ihrem Rücken verließen sie nicht, folgten hartnäckig ihrem Weg. Ohne sich umzuwenden wußte Anne Fock, daß es die drei Soldaten der amerikanischen Besatzung waren, deren Zudringlichkeit sie schon auf der „Großen Freiheit" ausweichen mußte. Sie war diese Seitenstraße gegangen, um den Weg zum Millerntor abzukürzen, wo sie mit ihrer Mutter in einem der alten Häuser wohnte. Die Gegend wurde hier einsamer. Angespannt lauschend versuchte sie, die Entfernung zwischen sich und den Verfolgern am Schall der Schritte abzuschätzen. Da erreichte auch schon ein Zuruf ihr Ohr, in den die Stimmen der anderen beiden mit johlender Trunkenheit einfielen: „Hallo, baby!" Anne Fock war keineswegs furchtsam. Sie ging jede Nacht diesen Weg, wenn ihre Arbeit als Tellerwäscherin im Hotel „Weißer Hirsch" beendet war. In ihrem Beruf als Bogenfalzerin fand sie in den Buchdruckereien keine Beschäftigung mehr, da diese fast alle vor dem Bankrott standen. Sie war daher froh, als Tellerwäscherin „untergekommen" zu sein. Indessen reichte das kleine Einkommen 3
für sie und ihre Mutter längst nicht aus, geschweige denn konnte sie damit pünktlich die Wohnungsmiete zahlen. Doch Anne hatte Verstand und den frohen ungebrochenen Mut eines Arbeitermädels. Sie wischte den Regen aus dem Gesicht, den der Wind ihr entgegenwehte, zog die kurze Jacke fester um die Schultern und beschleunigte ihre Schritte noch mehr. In dem Augenblick, als die drei Amerikaner zu laufen begannen, nahm Anne alle ihre Sinne zusammen. Holten die betrunkenen Kerle sie ein, konnte es in dieser öden Straße gefährlich werden. Sie vermied es geflissentlich, in den Lichtkegel der Gaslaterne zu kommen und eilte auf die andere Straßenseite, die etwa dreißig Schritte tief im Dunkel lag. Die ziehenden Nebelschleier kamen ihr zugute. Ein Stück wegauf zweigte eine Sackgasse ab, die auf den Bretterzaun eines Lagerplatzes stieß. Eben an dieser Straßenecke löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Hauswand, und Anne erkannte mit freudigem Schreck Hein Müller. Eine Hand packte ihren Arm und zog sie in die Gasse. Das erste Haustor, das offen stand, nahm beide auf. Das Herz schlug dem Mädel bis zum Hals, als sie mit angehaltenem Atem in die Stille der Nacht lauschte. Die drei amerikanischen Besatzungssoldaten hatten inzwischen ebenfalls die Straßenecke erreicht. Sie blieben stehen und stierten nach allen Richtungen. Schließlich faßten sie lärmend und fluchend den Entschluß, die Jagd auf deutsche Mädchen in Richtung nach dem Millerntor fortzusetzen. Ihre schwankenden Tritte entfernten sich, und nach geraumer Zeit krähte fernab einer von ihnen: „Hallo, baby!" „Diese Gangster", keuchte Hein Müller außer sich, „verwechseln Hamburg mit Chikago. Aber diesmal waren wir schneller als sie." Vorsichtig spähte er in die Dunkelheit der menschenleeren Straße. Anne Fock schmiegte sich an ihn. Ihr Retter, der den Kragen seiner abgetragenen Jacke hochgeschlagen hatte, mochte Mitte Zwanzig sein. Impulsiv ergriff sie seinen Arm und zog ihn auf die Gasse hinaus. „Beeilen wir uns", drängte sie ängstlich, „ehe sie zurückkommen." Hein Müller zögerte. „Ratsamer ist, nicht über die Straße zu gehen", warnte er und ballte die Faust. „Ich weiß nicht, was ich tue, wenn sie dich anrühren!" Anne überlegte. „Nun gut, Hein, gehen wir über das Achterfleet an den Nissenhütten v o r b e i . . . " Die beiden jungen Leute waren in Sankt Pauli und in Altona aufgewachsen; sie kannten hier jeden Weg und Steg. Sie traten 4
zurück in den Hausflur, überquerten den kleinen Hof und gelangten auf einen Lagerplatz. Hieran grenzte ein Streifen Ödland, auf dem in der Dunkelheit die Umrisse von drei langgestreckten Erdhöhlen zu erkennen waren, halbrund und niedrig, ohne eigentliches Dach. Das waren die Nissenhütten. Schwarz und kalt kauerten sie sich auf den Lehmboden, zwischen hohen Mietskasernen, die sie fast zu erdrücken schienen. Hein Müller und Anne Fock kamen auf einem Laufsteg über das Achterfleet und erreichten das Ruinengelände eines durch amerikanische Fliegerbomben zerstörten Wohnblocks. Während des ganzen Wegs hatten sie geschwiegen. Nun blieb Hein stehen, faßte Anne an beide Schultern und sagte: „Ich halte dieses Leben nicht mehr aus. Was meinst du, Anne, wenn ich für zwei Jahre nach Australien gehe?" Er sprach das so aus, als ob ihn dieser Gedanke schon lange beschäftigt habe. Anne Fock horchte auf. Sie standen unter einem Mauervorsprung des zerfallenen Gebäudes, wo sie vor dem Regen geschützt waren. Anne hockte sich auf einen Stein und zog ihn an ihre Seite- Die beiden jungen Menschen saßen so, daß sie das schmale Wässerchen des Achterfleets und die armseligen Nissenhütten im Nachtdunkel erkennen konnten. „Was willst du in Australien?" fragte endlich Anne, nachdem sie erkannt hatte, daß ihr Freund nicht scherzte. Der junge Mann kramte in den Taschen seiner abgeschabten Jacke, suchte eine halbe Zigarette hervor und zündete sie in der hohlen Hand an. Nachdem er den Rauch gierig eingesogen hatte, wurde er lebhaft. „In Australien will ich Geld machen. Was haben wir hier schon? Die letzte Woche konnte ich nur für zwei Tage im Hafen Arbeit finden. Drüben aber sucht man Leute noch und noch für den Eisenbahnbau, heißt es in der neuen Ankündigung des Arbeitsamtes." „Unseres Arbeitsamtes?" Er nickte. „Vom Auswanderungsbüro in Bonn ging die Ankündigung an alle westdeutschen Arbeitsämter, gesunde und kräftige Männer für den Eisenbahnbau in Mittelaustralien, mit Ansiedelungsmöglichkeiten . . . " Er hielt inne, sah in die fragenden Augen der Freundin und ergriff ihre Hand. „Man braucht sich nicht unbedingt anzusiedeln. Nach Ablauf der Kontraktzeit kann man in die Heimat zurück, mit dem ganzen verdienten Geld! Ein schöner Batzen, sag' ich dir, Anne. Peter Plagwitz hat sich bereits auf zwei Jahre verpflichtet." Hein Müller sprach mit Eifer, und Anne Fock glaubte im Finstern sein glühendes Gesicht zu sehen. Sie wußte, daß er in Gedanken ihre gemeinsame Zukunft aufbaute, und wagte darum keinen Einwand. 5
„Ich kann das Elend hier nicht länger mit ansehen", fuhr er fort und warf den Zigarettenstummel in eine Regenpfütze. „Was will deine Mutter machen, wenn sie die rückständige Miete nicht zahlen kann? Ihr werdet beide auf die Straße gesetzt." „Ich habe um Vorschuß gebeten", erwiderte Anne leise. Hein legte seinen Arm um ihre Hüfte. Seine Stimme bekam einen hoffnungsvollen Ton. „Das sind zweitausend Mark Ersparnisse in zwei Jahren. Wir können uns damit eine Stube mit Küche einrichten, wenn ich wiederkomme." „Und wer garantiert dir das?" fragte Anne Fock. Wenn es nicht Nacht gewesen wäre, hätte Müller die gespannteste Aufmerksamkeit in ihren Gesichtszügen lesen können. „Das Zentrale Auswanderungsbüro, also die Bonner Regierung. Wirklich, Anne, das Leben kann anders sein." Anne Fock schwieg. Man hörte nur das plätschernde Wasser des Achterfleets. Dann deutete sie auf die Nissenhütten und sagte bitter: „Da wohnt Peter Plagwitz mit seiner Mutter und zehn anderen Umsiedlerfamilien. Und wer duldet das, Hein?" Er wußte keine rechte Antwort. Anne gab sie ihm: „Die Bonner Regierung." Hein grübelte eine Zeitlang über ihre Worte nach. „Gewiß, hier ist alles miserabel", brachte er schließlich hervor. „Deswegen will ich ja auch nach Australien." „Australien ist weit, Hein!" widersprach sie. „Wer weiß, was euch dort alles erwartet. Und einer Regierung, die soviel Elend im eigenen Land verursacht, kann man die Gemeinheit zutrauen, die Arbeitslosen nach Übersee abzuschieben. Ich rate dir ab!" Anne Focks Worte waren immer entschiedener geworden. Sie stand auf und strich sich energisch den Rock glatt. Dann hakte sie sich bei ihrem Freund ein, der ebenfalls aufgestanden war. „Hier in Hamburg haben wir Freunde, Hein, vergiß das nicht. Und wir werden nicht ewig Not leiden in Westdeutschland", fügte sie überzeugt hinzu. Nachdem die beiden jungen Menschen durch die Ruinen gegangen waren, bogen sie in die kleinen Straßen hinter dem Millerntor ein. Wenige Schritte noch, und sie standen vor dem zweistöckigen Mietshaus, in dem Anne und ihre Mutter wohnten. Eine Gaslaterne, die an einem eisernen Arm in der Hauswand befestigt war, verbreitete einen trüben Lichtschein. „Wenn ihr nun räumen müßt?" wiederholte Hein seine Frage von vorhin und blickte zu den finsteren Fensterscheiben im Dachgeschoß auf. Anne versuchte ein schwaches Lächeln. „Kommt Zeit, kommt Rat", tröstete sie ihn. 6
Müller kniff die Lippen zusammen. „Hätte ich nur richtige Arbeit", murmelte er. Mit einem Ruck zog er die Mütze in die Stirn und versicherte, daß ihm die nächste Woche voraussichtlich drei Schichten bringen würde. Zärtlich strich Anne mit der Hand über den Rockkragen des Freundes. „Laß das mit Australien, Hein. Dein Platz ist hier. Auf morgen", flüsterte sie darauf innig, küßte ihn und huschte ins Haus. Der Besitzer des Hotels „Weißer Hirsch" lehnte es am nächsten Tage ab, der Tellerwäscherin Anne Fock einen Vorschuß auf den kommenden Wochenlohn zu zahlen. Wenige Tage danach wurde die kleine Wohnung am Millerntor durch die Polizei geräumt. Die wenigen Habseligkeiten stellte der alte Witte, Annes Patenonkel, in seiner Bodenkammer unter. Er überließ den beiden Frauen auch noch seine Wohnküche und schlief bei einem Bekannten. Als Hein Müller dies erfuhr, ging er schnurstracks auf das Arbeitsamt. Hier unterschrieb er, ohne zu überlegen, eine zweijährige Verpflichtung für den Eisenbahnbau in Mittelaustralien. Die „Cleveland" steuerte bei Queenscliff aus der unendlichen Weite des Ozeans in die Port-Philips-Bay. Ein flacher gelber Sandstreifen, der sich anfangs am Leuchtfeuer gezeigt hatte, trat bald wieder hinter dem Blau der Wasserfläche zurück. Die Bay war breit wie ein Meer, ihre Ufer nicht sichtbar. Hein Müller und Peter Plagwitz standen mit einigen zwanzig anderen Deutschen, die sich ebenfalls zum Eisenbahnbau gemeldet hatten, auf dem Vorderschiff. Sie alle starrten erwartungsvoll über die sonnenflimmernde Bucht, bis ihnen die Augen schmerzten. „Habt ihr euer Zeug beisammen", fragte der Begleiter der buntzusammengewürfelten Schar Arbeitswilliger, der sie in Bremen übernommen hatte. Auf seiner Nase saß eine Sonnenbrille mit violetten Gläsern, „Ist noch Zeit, ihr kriegt genug zu sehen", sagte er dann. „Aber haltet euch bereit, wir werden als erste ausgeschifft." Es währte noch Stunden, bis sie in die kleine Hobson-Bay einfuhren. Und plötzlich lag Melbourne vor den Blicken der Ankömmlinge, mit weißen Hochhäusern und leuchtenden Türmen im rosafarbenen Dunst, erhaben und fremdartig. Sie hatten nicht viel Zeit zum Schauen. Die Hafenbarkasse mit den Zollbeamten ging backbord an die „Cleveland", und bevor sie sich umsahen, hockten alle in dem flinken Fahrzeug, das schaukelnd auf den Pier zuhielt. Dort wurde der Arbeitstrupp von drei Männern in Manchesterhosen empfangen - Dolmetscher, wie der Bebrillte 7
erklärte. Ein Lastkraftwagen nahm sie auf, durchfuhr die Hafenanlagen, kurvte um fensterlose Lagerhäuser und zog nach kurzer Fahrt die Bremsen an. Sie hielten vor einem stattlichen Gebäude, das von einem schmiedeeisernen Gitter umsäumt war. Einer der Dolmetscher, den die anderen Dix nannten, hatte Müller und Plagwitz während der Fahrt gegenübergesessen. Nun stand er auf, ließ die Wagenklappe herabfallen und sprang auf den Asühalt. Er war von kleinem Wuchs, schmächtig und trug Tätowierungen auf den Unterarmen. „Go on, wir sind angelangt!" rief er aus. Dabei sprach er das Deutsche mit amerikanischem Akzent. ' Die Männer krochen aus dem Fordlaster, standen abwartend vor dem Portal und blickten auf das große Haus. Hein bemerkte die riesigen Buchstaben auf dem Dach und entzifferte „Australian-RailwayCompany, S. Harriman." Dix, der dies sah, zwinkerte mit einem Auge und rief aus: „Yes, boys, die Australische Eisenbahn, das ist Amerika! Harriman ist Eisenbahnkönig in den Staaten." Müller glaubte sich allerdings zu entsinnen, im GeographieUnterricht vom britischen Dominion Australien gehört zu haben. Man muß sich eben korrigieren, dachte er kopfschüttelnd. Als die Kolonne ein Stück am Haus entlanggegangen war, bogen die Dolmetscher vom Wege ab. Sie führten die Männer an einer Garage vorbei und kamen an ein sandiges Grundstück, auf dem eine Holzbaracke stand. Dix stieß die niedrige Tür auf und wies ihnen mit einer Handbewegung ihren Platz an: „Please, boys, macht es euch bequem." Hein Müller und Plagwitz hatten auf der Seereise hierher die klimatischen Unterschiede kennengelernt. Es herrschte jetzt im November sommerliche Hitze in Melbourne; die Mittagsonne stand steil über den Dächern. Als Dix die Tür zu dem Holzschuppen aufstieß, schlug ihnen eine Glutwelle ins Gesicht wie aus einem Backofen. Die Männer drängten sich in einen langen kahlen Raum mit zweistöckigen Holzpritschen an der einen Wand. Am unteren Ende einer rohgezimmerten Tischplatte schrien ein Dutzend Gestalten in fremdländischen Sprachen durcheinander, ohne von den Neuangekommenen Notiz zu nehmen. „Macht es euch bequem", wiederholte Dix. Plagwitz und Müller belegten eine Doppelpritsche, indem sie einfach ihre Bündel auf die Holzplanken warfen. Die Tage in dieser Glutbaracke verliefen eintönig. Das Grundstück war, wie sich herausstellte, nach drei Seiten hin von einem Staketenzaun umgrenzt; die Insassen durften dieses Stückchen Land nicht verlassen. „Wegen Paßschwierigkeiten", wie die Dolmetscher sagten. 8
Einmal, es war nach der ersten Nacht in dem stickigen Kasten, wandte Hein Müller sich an Dix: „Wie lange bleiben wir eigentlich hier?" „Zum Wochenende geht der Transport ab." „Und die Wartezeit, wird uns die angerechnet?" Dix schüttelte den Kopf. „Der Bauabschnitt liegt zwischen Alice Springs und Claraville, da werdet ihr euer Geld verdienen. Bis dahin ist es noch eine kleine Bahnfahrt. Morgen kriegt ihr Arbeitszeug und eure Lohnbücher ausgehändigt. Erst mit dem Lohnbuch in der Tasche ist man ein richtiger Tramnd.* Die Freude war groß, als Plagwitz und Müller ihren Packen Arbeitskleidung heranschleppten. „Was, das sind Stiefel!" rief Plagwitz und klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die dicken Ledersohlen der Halbschäfter. Jeder von ihnen hatte drei rot und grün gewürfelte Buschhemden und eine Manchesterhose erhalten. Die Hose trug auf der Innenseite den Aufdruck: Collignon-Manufactures Corp., Cincinnati, Ohio. „Anständig", lobte auch Hein Müller, „alles was recht ist." Ihre Lohnbücher erhielten die künftigen Tramnds tags darauf gegen Quittung überreicht. Die grünen Leinenhefte waren kaum verteilt worden, als sich unter den fremden Vertragsarbeitern am unteren Tischende ein Geschrei erhob. Aufgeregt fuchtelte ein kleiner Indonesier mit seinem Lohnbuch vor den Augen des Dolmetschers herum. Auch Müller und Plagwitz blätterten die Seiten um und betrachteten nachdenklich eine eingetragene Ziffernreihe. Sie hatten mit der Quittung einen Vorschuß von 540 Schilling für die Überfahrt und das Arbeitszeug anerkannt. Hein Müller war der erste, der die Sprache wiederfand. Er machte ein krampfhaft gleichgültiges Gesicht und meinte: „Pah, wir haben zwei Jahre Zeit. Da können wir noch einen Haufen Geld scheffeln." Dix, der einen Schritt abseits stand, lächelte nur: „Australien hat viele Überraschungen für Neulinge. Ihr werdet euch daran gewöhnen, boys." In dieser Nacht starrte Hein stundenlang durch das Barackenfenster auf den Lichtschein Melbournes am dunklen Himmel. Vier Tage verbrachte er nun schon in dieser schönen fremdartigen Stadt, von der er nur erst den schmucklosen Giebel eines Verwaltungsgebäudes und die kahle Rückwand einer Garage gesehen hatte. Am kommenden Morgen würden sie abrücken. Waren die Holzpritschen hart und wälzten sich die Männer auch schweißgebadet im Halbschlaf, so lag doch die große Hoffnung vor ihnen. * Abkürzung von „tram-hand", bedeutet Gleisarbeiter
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Alice Springs ist eine kleine Ortschaft in der Großen Sandwüste Mittelaustraliens, fünfzehnhundert Kilometer von der Küste entfernt. Die Bahnfahrt von Melbourne dorthin dauert zwei Tage. An die weitgeöffneten Schiebetüren einer Packlore gedrängt, hörten die neu angeworbenen Gleisarbeiter den Schrei des WangaWanga-Vogels aus dem silbrigen Blätterdickicht der Eisenrindenbäume. Die Hitze war unerträglich. In den ausgetrockneten Sandbetten der Creeks, kleiner Flußläufe, die sich zeitweise am Bahngleis entlangzogen, standen winzige Tümpel brackigen Wassers vom letzten Regen. Nachts wurden die Schiebetüren geschlossen; ein kalter Wind von den Höhen der Alberger-Rangs machte die Finger klamm. In Alice Springs endete die Bahnlinie. Die Männer kletterten schwerfällig aus dem Waggon, streckten die steif gewordenen Beine. Am Rande einer aufgeschotterten Fahrstraße sammelte sich der zusammengewürfelte Haufen. Müller und Plagwitz trugen, wie die Mehrzahl der neuen Arbeiter, ihre bunten Buschhemden. Verstohlen betrachteten sich die Freunde, wie sie dastanden, die Manchesterhosen in die Halbschäfte der Stiefel gesteckt. Nur der kleine Indonesier weigerte sich hartnäckig, das Arbeitszeug anzuziehen. Er kauerte in seiner kurzen Leinenhose auf diesen Herrlichkeiten, die er zu einem Bündel geknüllt unter den Sitz geschoben hatte. Die beiden Deutschen waren wie gerädert, doch sie zeigten den andern ihre Müdigkeit nicht. „Sieh nur, wie sie laufen", rief Plagwitz aus und deutete mit einer Kopfbewegung auf zwei der Dolmetscher, die eilig davongingen. Hein sah sie in einem Haus neben den Leitungsmasten der Telegrafenstation verschwinden, während Dix zurückblieb. Aus der Aufschrift einer hölzernen Tafel ging hervor, daß dies das Büro der Eisenbahnbaugesellschaft war. Zwei lehmbekrustete Personenautos hielten gerade vor dem Baubüro. Im nächsten Augenblick öffnete sich wieder das Haustor, und ein hünenhafter Mensch mit wirrem, schwarzem Haar unter der weißen Leinenmütze trat gebückt durch den Türrahmen. Ihm folgte eine Anzahl Männer, von denen etliche schwere, abgeschabte Ledermappen trugen. „Recht so, Steve", sagte einer von ihnen zu dem Riesen mit der Leinenmütze. „Hast es dem Dickwanst wieder mal gut gegeben. Krümmt sich wie ein Wurm, wenn er nur einen Penny die Stunde zulegen soll. Als ob es sein Geld w ä r e . . . " Stevenson, ein bewährter Funktionär der Australischen Eisenbahnarbeiter-Gewerkschaft, lachte. „Die sind nur um ihre Dividende bedacht. Alte Geschichte. Kennen wir ja." Ernst fügte er hinzu: „Deshalb wird die Gesellschaft unsere Lohnforderungen nicht annehmen. Der Streik scheint unvermeidlich." 10
Einer der Männer wurde krebsrot im Gesicht. „Senkt den Brotpreis!" schrie er wütend. „Führt keinen teuren amerikanischen Weizen ein, dann können wir besser leben." Sie krochen in die Wagen, und Stevenson schob die Leinenmütze mit einem langen und prüfenden Blick auf die neuangekommenen Gleisarbeiter nach hinten. Dann gab er Gas, jagte los und ließ den Trupp in einer dichten Staubwolke zurück. „Mir scheint, das sind Kommunisten", flüsterte Plagwitz und stieß Hein mit dem Ellenbogen an. „Die wühlen in der ganzen Welt, genau wie bei uns in Westdeutschland." Hein Müller nickte mit dem Kopf und schwieg eine Weile. „Das wird schon seine Ursache haben", brummte er dann. Als die beiden Dolmetscher wiederkamen, trat Dix auf sie zu. „Nun", fragte er, „wie steht die Sache?" „Auf der Kippe", antwortete der eine und hob die Schultern. „Die Vertreter der Gewerkschaft haben eine Frist gestellt." „Wieviel fordern sie?" „Zehn Pence die Stunde mehr, als die Arbeiter bisher bekommen haben." „Und der Boß?" Der Gefragte schnitt eine Grimasse, und Dix, der dies wohl begriff, lachte auf: „Wie lange läuft die Bedenkzeit?" „Bis Sonntagnacht um vierundzwanzig Uhr." Hein Müller und Plagwitz, die neben den Dolmetschern standen, hörten diese Unterredung mit an. Doch konnten sie noch zu wenig Englisch, um den Inhalt der Unterhaltung zu verstehen. Sie waren daher froh, daß Dix sich umwandte und zu ihnen sagte: „Also los, boys! Die ersten zwei Mann." Dabei nahm er die beiden an der Schulter und schob sie in Richtung auf das Baubüro. „Der Boß will euch sehen. Und merkt euch ein für allemal, unser Boß Crelly ist ein rechtschaffener Mann." Crelly saß hinter einem Schreibtisch, der die Hälfte des Raumes einnahm, und telephonierte. Er forderte die beiden Deutschen mit einer Handbewegung auf, näher zu treten. Noch ein kurzer Wortwechsel durch den Draht, dann warf er den Hörer auf die Gabel und wischte mit einem blauen Taschentuch über sein rundes Gesicht und den Stiernacken. „Den Arbeitspaß", schnaufte er in gebrochenem Deutsch. Er nahm die dargereichten Leinenhefte, um sie eingehend zu prüfen. Nachdem er sie wieder an den Rand der Tischplatte zurückgeschoben hatte, richtete er seine flinken Augen auf die neuen Gleisbauer. „Well, ihr kommt aus Germany", nickte er zufrieden. „Wir können euch hier gut gebrauchen." II
„Jawohl", antwortete Hein. „Warum nicht, ,yes'?" lächelte Crelly. „Wir sagen hier ganz einfach ,yes'." „Yes, Boß", ergänzte Plagwitz nach kurzem Zögern. Crelly erhob sich, kam zufrieden hinter seinem Schreibtisch hervor und ging mit kurzen Schritten umher. „Ihr seid nun Tramnds", nahm er das Wort wieder auf, „und diese Arbeit ist für viele Leute ein Segen. Wir bezahlen unsere Arbeiter anständig, aber wir wollen auch ein gutes Einvernehmen." Er blieb stehen und blickte die beiden freundlich an. „Ihr kennt unsere Bedingungen, die im Vertrag stehen?" „Yes, Boß." Crelly setzte seine Wanderung fort und sagte mit träumerischer Miene: „Ein guter Vertrag, den unsere Leute achten. Ich kann mich nicht entsinnen, daß er jemals gebrochen wurde. Unsere Arbeiter haben keine Ursache dazu. Nach den Landesgesetzen steht übrigens strenge Strafe auf Arbeitsverweigerung." „Wir sind hergekommen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen." „Das wollen wir, Boß", bekräftigte Hein Müller. „Wer hier tüchtig ist, hat sein Schäfchen im trockenen." Crelly zwängte sich wieder auf seinen Schreibsessel und nahm eine offene Packung Chesterfield von der Tischplatte. Nachdem die beiden Deutschen zugegriffen hatten, legte er die Zigaretten in die Schublade. „Ihr scheint mir zuverlässig, boys. Ich will euch einen guten Rat mit auf den Weg geben: Laßt euch nicht mit den andern ein, mit den alten Tramnds. Es sind Spieler darunter und Säufer! Ihr seid mir zu schade." Er machte eine Pause, blickte sie aufmerksam an und bemerkte, wie die Deutschen aufhorchten. Ausweichend setzte er hinzu: „Nun ja, das ist schließlich eure eigene Sache." Plagwitz und Müller, durch diese Worte innerlich berührt, fühlten die Notwendigkeit einer Erv/iderung. „Sie werden sich über uns nicht zu beklagen brauchen", rief Plagwitz freudig, und beide schickten sich an, zu gehen. „Einen Moment", hielt Crelly sie noch zurück. Er zog eine Liste zu sich heran, sah kurz hinein und wischte sich dabei den blanken Schädel. „Besser ist, ich schicke euch nach Claraville", sagte er darauf wie in einem plötzlichen Einfall. „Das ist ein bevorzugter Bauabschnitt. Wenn ihr die Ohren steif haltet, könnt ihr da euer Glück machen. Dix kriegt von mir Bescheid." „Besten Dank, Boß!" 12
„Ruft mir die nächsten zwei", nickte Crelly und legte das Paket Chesterfield aus der Schublade wieder auf die Tischplatte. So ging es im Baubüro von Alice Springs den ganzen Tag über. Draußen schlug Hein seinem Freund in ausbrechender Freude auf die Schulter. „Dix hatte schon recht. Der Boß ist in Ordnung!" Und sinnend, halb für sich, murmelte er: „Ich habe es immer gewußt, dies ist der einzig richtige Weg . . . " . Sand und kahle Felsblöcke. Ein ausgetrockneter Creek mit verdorrten Kasuarinen.* Kreischende Bagger. Stapel von Schwellenholz neben stahlblauen Schienen, von den prallen Sonnenstrahlen geglüht. Abgerissene Zurufe aus hundert rauhen Männerkehlen, und immer wieder Sand, S a n d . . . So war der Bauabschnitt von Claraville. Die beiden Deutschen arbeiteten in einer Kolonne, bestehend aus sechs Mann, zusammen mit einem Japaner, zwei Indern und Dix, der ihr Vorarbeiter war. Die Neulinge begriffen sehr bald, wofür die Manchesterhosen gut waren. Riesenschwärme von Sandfliegen wimmelten auf jedem Stück Körperhaut, klebten in den tränenden Augenwinkeln, krochen in die Nasenlöcher. Brachten die Wasserholer ihre Kanister, so stürzten die Männer den Becher lauwarmen Tranks gierig über die geschwollene Zunge. Dix nahm Brandy zu Hilfe. Er tat dies, seitdem er fort von Alice Springs und somit aus dem Blickfeld des Boß gekommen war. Niemals erblickte ihn einer beim Trinken; doch sein Hauch trug stets den Geruch von Branntwein. An manchen Tagen zeigten sich auf dem Weiß seiner Augäpfel gerötete Äderchen. Dann brachte er stundenlang kein Wort über die Lippen. Öffnete er aber mal den Mund, so nur, um zu fluchen. Die Kolonne hatte die Aufgabe, die schweren Holzschwellen an den vordersten Schienenstrang zu schleppen. Hier wurde die Last abgeworfen, und Dix trug sie den australischen Tramnds zu, die auf der Höhe der Bahnböschung arbeiteten. Bei jeweils fünf Schwellen zog er ein schmieriges Heft aus der rückwärtigen Hosentasche und setzte einen Bleistiftstrich hinein. Die Männer bildeten eine endlose Kette. Lief Hein schweißgebadet zurück, so begegnete er Plagwitz, der unter der Last des Hartholzes keuchte. Und zwischen den beiden arbeiteten die Inder und der Japaner. Tagelang schon atmete die Sandwüste ihren Gluthauch aus, sengend und trocken, ohne einen Tropfen Regen. • Bäume mit sehr hartem Holz, deren Rinde zum Gerben, Färben und für Arzneimittel Verwendung findet
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„Halt durch", preßte Müller hervor, den Holzklotz auf der Schulter, als er gerade an seinem Freund vorbeikam. „Bald sind wir es gewohnt wie die andern." Er sah zu Plagwitz auf und versuchte ein Lächeln. Es wurde nur eine Grimasse. „Ja, ja, dann geht es spielend leicht", keuchte Plagwitz, „wenn erst die Silberstücke klimpern." Die Silberstücke! Der Gedanke daran machte ihnen immer wieder neuen Mut. Sechzig Schritte waren es von dem Schwellenhaufen bis zu Dix und sechzig Schritte wieder zurück. Die beiden Deutschen rafften ihre ganze Kraft zusammen. Als sie das nächstemal wieder zusammentrafen, japste Plagwitz: „Was meinst du, Hein, wieviel legen wir im Monat beiseite?" „Nun, ich denke, achtzig Stück." Sechzig Schritt durch losen Flugsand, und die Last kippt auf den Erdboden. Wieder trafen sich die beiden in der Runde. „Achtzig Stück, das macht im Jahr beinahe tausend!" „Und in zwei Jahren fünfzehnhundert, wenn wir den Vorschuß abrechnen." Sie lernten den Nutzen jedes Büschels Stachelschweingrases schätzen, auf das sie den Stiefel setzten, damit der Fuß nicht absinkt in den mahlenden Treibsand. Doch es wächst wenig Stachelschweingras in der Großen Wüste, und die sechzig Schritte wurden unerträgliche Mühsal und Qual. Einmal sah Hein einen dunkelroten Fleck auf der Schulter seines Freundes und rief: „Was ist mit dir, du blutest ja?" Plagwitz machte eine schwache Handbewegung, Sein Buschhemd war am Halse blutverkrustet, umwimmelt von Sandfliegen. Müller hätte nicht zu fragen brauchen. Auch ihm waren beide Schultern wund, und die Last der Schienenschwellen brannte darauf wie Feuer. In diesem Augenblick kam ein hünenhafter Mann, mit dichtem Schwarzhaar unter der weißen Leinenmütze, den Bahndamm herauf. Es war Stevenson, der Funktionär der Australischen Eisenbahnarbeiter-Gewerkschaft, der auch die Lohnverhandlungen in Alice Springs geführt hatte. Es ging um eine Ausgleichszulage von zehn Pence die Stunde für den besonders schwierigen Bauabschnitt von Claraville. Stevenson blieb ein paar Schritte abseits von der Kolonne stehen, verfolgte mit aufmerksamen Blicken ihre Arbeit. Dann ging er zu Dix und nahm ihn beiseite. Die fünf Männer sahen, wie er mit dem Vorarbeiter eindringlich sprach. „Warum tragen die Leute keinen Schulterschurz? Das ist gegen die Bestimmungen des Arbeitsschutzes." 14
Dix schien sich gegen etwas zu sträuben, schüttelte wild seine kurzen Arme. „Crelly hat's untersagt", antwortete er. „Das Leder reicht kaum für die alten Tramnds." Stevenson sah ihn scharf an. „Sind das etwa keine Tramnds? Die Schutzbestimmungen gelten für alle Arbeiter. Bringe das in Ordnung, boy." Der Riese schlug Dix auf die Schulter und entfernte sich rasch. „Wir haben uns verstanden", rief er im Davongehen . . . Am nächsten Tag erhielt jeder der fünf Schwellenträger einen ledernen Schulterschurz ausgehändigt. Dix tat dies recht widerwillig, erst in der Mittagspause. Er roch meterweit nach Brandy und sagte kein Wort. Nachdem alle ihren Konservenbrei aus den Blechnäpfen gekratzt hatten, wischte er sich den Mund. „Damned", stieß er zwischen den Zähnen hervor, „mir scheint, die Arbeit gefällt euch nicht?" Plagwitz und Müller sahen sich an. „Was du da schon redest", platzte Hein heraus. Dix beobachtete sie lauernd und schluckte einen Fluch hinunter. „Ich kenne diese Art, die Arbeit zu schmeißen", knurrte er. „Doch laßt die Finger davon." Er bekam als Vorarbeiter für jeden Mann ein Draufgeld auf seinen Lohn. „Wir haben kein Wort gesagt", lachte Plagwitz ärgerlich und sah in die Runde, als erwarte er eine Bestätigung. Der Japaner und die beiden Inder lagen im Sand, verschliefen die kurze Pause. „Seht nach vorn, wo die Bagger stehen", warnte Dix. „Fünfzig Mann schippen da den Bahndamm auf, über hundert Yards weit den Tag. Wenn ihr lieber schippen wollt?" Die beiden Deutschen sahen den Bahndamm hinunter, der sich zwischen den beiden Ungetümen von Baggern in die Sandwüste hineinfraß. Weit in der Ferne zeichneten sich im gelben Dunst die Umrisse eines Bergrückens ab, der sich lang am Horizont hinzog. „Geht die Bahnlinie bis an das Gebirge?" lenkte Hein ein. „Damned, boys", fluchte Dix und spie aus. „Sie wird in die Berge hineingelegt, durch das ,Tal der toten Männer'. Da pfeift ein rauher Wind beim Planieren im Busch . . . " Er brach unvermittelt seine Rede ab und stierte mit rotgeäderten Augen auf die Bergkette. „Wie lange wird es dauern, bis wir da sind?" Es verging eine Weile, bis Dix den Blick von der Wildnis abwandte und seine Gedanken zurückgekehrt waren. „Das geht manchmal rasch", antwortete er hinterhältig. 15
An diesem Tag bissen Müller und Plagwitz bei der Arbeit die Zähne zusammen. Die Tropenhitze brannte auf den Schädeln der Männer, bleiern schwankten ihre Beine unter der Last. Schweren Schrittes schleppten sie sich durch den tückischen Sand. Oben auf der Böschung stand neben Dix ein alter Tramnd mit schlohweißem Haar und nahm ihm die Schwelle ab. Der Alte, der Turner hieß, wollte die Nationalität der fremden Arbeiter wissen. „Nichtstuer aus aller Welt", grinste der Vorarbeiter und drehte ihm den Rücken. Nach Feierabend strömten die Arbeiter zu den Baracken. Die beiden Deutschen hängten ihre Kleider an den Haken und krochen erschöpft auf ihre Pritschen. Die lauten Gespräche der andern vernahmen sie bald nur noch als verschwommenes Gemurmel. Turner, der an ihr Lager getreten war, um mit ihnen zu sprechen, fand sie bereits schlafend. Am Sonntagmorgen blieb der Japaner auf seiner Pritsche liegen. Er versuchte ein paarmal sich aufzurichten, sank aber immer wieder stöhnend in die Wolldecken zurück. Die mörderische Hitze hatte ihn umgeworfen. Dix kannte diese Art Ausfälle unter den Neulingen. Meist kamen sie nach einigen Tagen wieder auf die Beine; manche mußten aber auch auf die Krankenstation geschafft werden. Die Baracke war fast leer. Außer Dix mit seiner Kolonne saßen nur wenige Männer am Tisch und führten laute Gespräche. Zeitweise stritten sie und schrien sich an. Die Mehrzahl der australischen Tramnds war in eine Versammlung der Gewerkschaft gegangen, die Stevenson einberufen hatte. Es lag eine Spannung in der Luft, die auch die beiden jungen Deutschen verspürten. „Da ist etwas im Gange", raunte Plagwitz. „Dieser Stevenson hat seine Nase überall; jetzt hetzt er in der Versammlung bestimmt zum Streik." Hein Müller blickte nachdenklich durch die trüben Fensterscheiben hinaus in den Sonnenglanz. „Er hat dafür gesorgt, daß wir gesunde Schultern haben." „Du willst nicht begreifen", ärgerte sich der andere. „Kommunisten sind immer unzufrieden, bringen bloß Aufregung in unser Leben. Nachher wirst du schon sehen, was dabei herauskommt..." Die Tramnds hatten in der Versammlung beschlossen, um vierundzwanzig Uhr in den Streik zu treten, wenn die Bauleitung die Gefahrenzulage für ihren Bauabschnitt nicht bewilligen würde Lärmend zogen sie wieder in ihre Baracken, diskutierten heftig, knallten die Fäuste auf die hölzerne Tischplatte. Der Streikbeschluß 16
brachte alle auf die Beine. Sonst pflegten die Tramnds sonntags nach dem Mittagessen zu schlafen. Heute hockten sie auf ihren Schemeln, standen in Gruppen und sprachen miteinander. Ein lautes Stimmengewirr brodelte durch den Raum; dennoch lag eine geschlossene Einmütigkeit über den Männern. Dix beobachtete sie und war ständig bemüht, die Aufmerksamkeit der fremden Arbeiter auf andere Dinge zu lenken. Spät am Nachmittag, als die Sandwüste draußen im Sonnenbrand glühte, wurde es ruhiger. Etliche Tramnds streckten sich auf ihren Pritschen aus. Vier Australier saßen an dem rohen Holztisch und reichten einen abgegriffenen Knobelbecher in die Runde. Sie würfelten um Zigaretten. Der weißhaarige Turner stand hinter ihnen. Plötzlich wandte er sich an Dix, der seine Tabakspfeife stopfte, und sagte auf englisch: „Wie steht es um deine Männer, Dix? Sind sie organisiert? Frage doch mal, ob sie sich unserer Lohnforderung anschließen wollen? Es geht doch auch um ihre Interessen." Dix setzte die Pfeife umständlich in Brand, betrachtete lange das verglimmende Zündholz und kratzte sich den tätowierten Unterarm. Schließlich hob er ein wenig den Kopf und sagte zu Müller und Plagwitz: „Turner fragt euch, ob ihr mitwürfeln wollt." Den beiden Deutschen fiel die Mahnung Crellys ein. Sie blickten sich verständnisvoll an, und mit einem kurzen Kopfschütteln antwortete Plagwitz entschieden: „Nein, wir kennen keine Würfelspiele." „Nein", übersetzte Dix, paffte dem Weißhaarigen eine dicke Rauchwolke ins Gesicht. „Sie lehnen ab!" Nichts ist einförmiger und trostloser für einen Weißen als die Sonntage in der Tropenwildnis. Keine Einsamkeit ist größer als das Leben unter Menschen, die sich nicht verständigen können. Blieb einer von den Tramnds vor den Freunden stehen und sagte ein paar Worte in seiner Sprache, so war Dix da und zog ihn beiseite. Die beiden Deutschen überkam das Gefühl grenzenloser Verlassenheit. Sie streckten sich auf ihrem Lager aus und sanken in Halbschlaf. Als sie munter wurden, dunkelte es bereits. Dix war nirgends zu sehen. Sie traten aus der Baracke und gingen durch die Dämmerung, die einen kühlen Luftzug mit sich brachte. Unten an dem ausgetrockneten Creek loderte, ein Lagerfeuer auf. Die Freunde setzten sich abseits in den Sand, mit dem Rücken an den verkrüppelten Stamm einer Kasuarine gelehnt und starrten in die sinkende Nacht. Einer der Tramnds spielte im flackernden Schein des Holzfeuers Harmonika. Irgendwer stimmte ein Seemannslied an. 17
Hein sah die spitzen Dächer des alten Hamburg, die winkligen, schmalen Straßen. Er fühlte den Druck einer festen, kleinen Hand, wiegte den Kopf und flüsterte immer wieder die gleichen Worte: „Anne Fock . . . Anne . . . Anne Fock . . . " Die Bauleitung hatte, wie Stevenson voraussah, die Forderung der Tramnds von Claraville abgelehnt. Am Montagmorgen blieben die australischen Gleisarbeiter in ihren Baracken. Nur an zwanzig Männer, fast alles fremde Arbeiter, liefen an dem verlassenen Schienenstrang entlang. Die beiden Bagger schwiegen; überall, wo zuvor zweihundert Paar Fäuste den Bahndamm in die Wüste getrieben hatten, herrschte nun gähnende Leere. Dix war stocknüchtern an diesem Morgen. „Jetzt geht's an die Qualitätsarbeit", rief er seiner Kolonne zu. „Heute werden Geleise gelegt." Sie waren fünf Mann ohne den arbeitsunfähigen Japaner. Die beiden Inder schwiegen; einzig überrascht schienen nur Plagwitz und Müller zu sein. Vor zwei Tagen noch die Rüge und heute schon Qualitätsarbeit? Ermutigt hoben sie die Köpfe; die Ziffer fünfzehnhundert stand wieder klar vor ihren Augen. Es war schwierig gewesen, durch die Streikposten der Tramnds zu kommen. Ein Vorarbeiter, der mit seiner Kolonne als erster das Baugelände betreten wollte, wurde aufgehalten. Es gab Geschrei und hagelte Hiebe. Dix benützte den Tumult, um seine Leute an den Schienenstrang zu bringen. Sie liefen wie die Hasen. „Das wäre noch schöner", fluchte Plagwitz, „uns an der Arbeit zu hindern!" Dabei hatte er einzig und allein einen möglichen Verdienstausfall im Sinn. Hein Müller, vom Laufen nicht weniger erschöpft, keuchte: „Als Streikbrecher möchte ich dennoch nicht arbeiten." „Dies ist ein Streik der hiesigen Tramnds", beschwichtigte ihn der Vorarbeiter. „Das ganze Theater geht euch einen Dreck an. Ihr kriegt euern guten Lohn, der sogar außertariflich ist." Dix warf einen schiefen Blick zu den Baracken hinüber, fuhr dann leiser fort: „Ein paar von ihnen werden sicher ins ,Tal der toten Männer' wandern, zur Strafkolonne. Auf Arbeitsverweigerung steht Gefängnis." Er kletterte den anderen voran auf den Bahndamm und sagte, als sie alle oben standen: „Ihr habt jetzt eine große Chance. Nun zeigt mal, was ihr versteht." Die Kolonne fing an, die Eisenbahnschienen auf den Schwellen festzuschrauben. Die beiden Deutschen arbeiteten eifrig. Um ihren Traum zu verwirklichen, durfte kein Arbeitstag der Vertragsjahre 18
verlorengehen. Sie schufteten verbissen um die goldene Vision der Fünfzehnhundert. Dix, der sie bei allen Handgriffen unterwies, hatte auf See etwas Deutsch gelernt. Seine sechsköpfige Familie lebte in Baltimore von seinem Verdienst als Vorarbeiter bei der Gleisbaugesellschaft. Zur Aufgabe der Vorarbeiter gehörte es, eine Verständigung zwischen den fremden Vertragsarbeitern und den australischen Tramnds zu verhindern, damit die Gesellschaft im Streikfall eine Reserve von Streikbrechern besaß. Die streikenden Arbeiter von Claraville, die gerade nicht Posten standen, konnten von ihren Baracken aus das Gelände des Bauabschnitts übersehen. Bei den beiden Baggern wachte ein Trupp von acht Männern, der stündlich abgelöst wurde. Stevenson hatte die streikenden Gleisarbeiter eindringlich vor Gewaltanwendung gewarnt. Trotzdem kam es gleich am ersten Tag zu einem Zusammenstoß bei den Baggern. Hein, der oben auf dem Bahndamm mit dem Schraubenschlüssel hantierte, hörte plötzlich Geschrei aus rauhen Kehlen. Zwei Vorarbeiter hatten versucht, einen der Bagger in Gang zu bringen. Ein bärtiger Tramnd faßte sie bei der Schulter und sagte: „Hallo, Freunde, der Bagger streikt auch!" „Wollen gleich mal seine Meinung hören", höhnte der eine Vorarbeiter, dem es gelungen war, auf die Plattform zu kommen. Mit einem Satz war der Bärtige hinter ihm. „Halt, der Bagger ist mit uns", rief er. Der Vorarbeiter, der ihn nicht weiter beachtete, versuchte an ihm vorbeizukommen. Im nächsten Augenblick flog er in einem weiten Bogen in den Sand. Unten bildeten die Männer ein wüstes Knäuel. „Wir liegen den Australiern schwer im Magen", stammelte Plagwitz, der erblaßt war. „Sie schlagen uns noch die Knochen entzwei. Auf keinen Fall schlafe ich heute nacht in der Baracke." „Wir sind eben Streikbrecher." Hein Müller hantierte lustlos mit dem Schraubenschlüssel an den Schienen herum. „Ich ahnte es." „Ich will Geld verdienen und anständig leben", verteidigte sich Plagwitz. „Die Tramnds auch. Aber wir fallen ihnen in den Rücken. Wir hätten niemals den Vertrag unterschreiben sollen." Plagwitz sah ihn böse von der Seite her an. „Und Anne Fock? Konntest du ihr als Erwerbsloser in Hamburg helfen?" Hein biß die Zähne aufeinander. Sie hatten sich eben, ohne es zu ahnen, mit Haut und Haaren verkauft. 19
Inzwischen trugen zwei Mann den Vorarbeiter fort, der sich beim Sturz von der Baggerplattform den linken Arm verstaucht hatte. Er fluchte wild zu den Streikposten hinüber. Dix lachte hämisch. „Nur weiter so. Jetzt endlich hat die Polizei Grund, einzugreifen." Tags darauf brachte die Lokomotive außer dem Wassertanker und dem Materialwaggon im Postwagen eine Abteilung Polizisten mit. Sie bezogen ein Zeltcamp neben der Verwaltungsbaracke, die mit einer behelfsmäßigen Laderampe versehen war. Das Wasser mußte täglich von Claraville herangeschafft werden, das bereits einige Kilometer von der Baustelle entfernt lag. Der Abschnittsleiter Lumby, ein rothaariger Mann mit Sommersprossen, versuchte die Streikenden von der Wasserentnahme auszuschließen. „Auf Anordnung des Boß", sagte er barsch. Die Wasserholer der Tramnds blickten ihn wütend an und drängten entschlossen vorwärts. Lumby, der zeternd mit den Armen herumfuchtelte, wurde beiseite gedrängt. Die Polizeiwache, mit ihrem Zeltbau beschäftigt, horchte auf. Ein Warnungsschuß peitschte durch die heiße Wüstenluft. Die Tramnds kümmerten sich nicht darum. Von der empörten Menge überrannt, mußten die Polizisten zusehen, wie einer nach dem andern seinen Kanister mit frischem Wasser füllte. So kam es, daß der Tankwagen mehrere Tage lang vor der Rampe stehenblieb, ohne ausgewechselt zu werden. Am Abend siedelte Dix mit seiner Kolonne in einen Bretterverschlag über, der unmittelbar hinter der Verwaltungsbaracke lag. Als die beiden Deutschen durch das niedrige Türloch stiegen, das mit einem Leinwandfetzen verhängt war, hatten sich hier die übrigen zweiundzwanzig ausländischen Arbeiter bereits eingerichtet. Zusammengedrängt hockten sie auf ihren verschwitzten, über den bloßen Sandboden gebreiteten Wolldecken. Die Nachtluft war schwül und drückend. Die Männer konnten in dem kleinen Raum, der mit den Ausdünstungen von siebenundzwanzig Menschenleibern angefüllt war, kaum atmen. Plagwitz wachte auf, stöhnend unter einem schweren Alpdruck. Er fühlte eine warme, widerliche Last auf seiner Brust und griff im Finstern in das glatte Fell einer feisten Känguruhratte. Um neun Uhr früh stieg die Hitze auf vierzig Grad. Hein Müller und Peter Plagwitz hatten wie die andern Männer der Kolonne ihre Buschhemden abgeworfen, schwangen die Hacken, trieben den Schotter unter Schienen und Schwellen, Schlag auf Schlag. Sie achteten kaum noch der Sandfiiegen, die schwarmweise auf ihren nassen Oberkörpern und dem frischen Schorf der wunden Schultern klebten. 20
Lumby, der nun täglich die Strecke kontrollierte, kam den Schienenstrang herauf. Das Leinenhemd am Halse offen, den leichten Borsalino* ins Genick geschoben, blieb er bei der Kolonne stehen. Nach einer Weile wandte er sich mit harten Worten an Dix. „Er sagt, daß ihr zu langsam seid", übersetzte der Vorarbeiter. „Das Schottern muß heute noch fertig werden. Morgen schütten wir den Bahndamm auf." Ein zorniger Blick der Inder traf den Abschnittsleiter. „Dabei machen wir jeden Tag eine andere Arbeit", platzte Hein heraus. „Wir können doch nicht wie zweihundert schaffen." Lumby sah ihn scharf an, rief dem Vorarbeiter ein paar Worte zu und wandte sich brüsk ab. „Lumby sagt, ihr müßt die Bauarbeiten aufrechterhalten, damit der Streik abgeschlagen wird", kam es aus dem Munde von Dix. Diesmal hatte er richtig übersetzt. Schlick-schlack . . . schlick-schlack . . . sausten die Hacken ins Geröll. Fünfzehnhundert ist eine gute Zahl, aber verbunden mit der Mühsal vieler langer Monate. Das begriffen die beiden Deutschen mehr und mehr. Wenn sie sich erschöpft aufrichteten und einen Becher Wasser in die ausgedörrten Kehlen schütteten, so war dies kein Labsal. Das Wasser war warm und schal. Zwischen zwei Hackenschlägen hörte Hein neben sich einen Seufzer. „Es i s t . . . zum Kotzen", stöhnte Plagwitz, totenblaß auf den kurzen Holzstiel gelehnt. Dann glitt die Hacke ab und er stürzte vornüber, schlug hart auf die Schienen. Als die andern hinzusprangen und ihn umdrehten, stand Schaum auf seinen Lippen. „Hitzschlag", sagte Dix trocken. „Wir müssen ihm ein Tuch über den Kopf legen." An diesem Abend wurde Hein Müller durch Dix in die Verwaltungsbaracke gerufen. Als sie eintraten, schob Lumby ein Glas Limonade beiseite und überreichte Hein einen Brief. Dem jungen Deutschen schoß eine Blutwelle ins Gesicht; er hatte die Handschrift von Anne erkannt. Kaum hörte er die Worte, die Lumby noch sprach. Er murmelte einen Dank und stolperte über die Schwelle. Draußen legte Dix die Hand auf seine Schulter. „Lumby meint, Krankspielen ist Drückebergerei", murmelte er. „Er hat schon fünf von den Neuen ins Spital geschickt. Da haben sie einen Lohnausfall von mehreren Wochen." Müller begriff des anderen Worte nicht. In eine Ecke des Bretterverschlages unter die Ölfunzel gekauert, las er die Zeilen Anne Focks wohl ein dutzendmal: * Breitkrempiger Hut
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„Du bist eine Woche zu früh abgefahren. Der alte Witte hat uns durch einen Genossen eine Stube besorgt. Ich arbeite jetzt halbschichtig in der Druckerei des , Volksechos' mit besserem Verdienst. Unter allen Freunden, die wir hier haben, fehlst du allein. Ich warte auf Dich. Deine Anne." Der Streik wurde nun schon seit sechs Tagen mit steigender Härte durchgekämpft. Morgens, wenn die Arbeitenden aus ihrer Bretterbude zum Schienenstrang zogen, mußten sie durch die geschlossenen Reihen der Streikenden. Eine Polizeiwache mit schußbereiten Karabinern erzwang ihren Durchgang. An den Schwellenstapeln, die von den Tramnds dicht umlagert waren, kam es diesmal zu einem Handgemenge. Die Schüsse der Polizei wurden von den Streikenden mit einem Hagel von Steinwürfen erwidert. Hein warf sich mit den andern zu Boden, wühlte das Gesicht in den heißen Sand. Durch das Kampfgeschrei gellten die Schmerzensrufe der Getroffenen. Dix wurde von einem starken Steinschlag in den Rücken umgerissen. Es entspann sich ein regelrechter Kampf, der den ganzen Tag über andauerte. Als die Tropennacht auf die Sandwüste herabsank, war ein Arbeitstag ausgefallen, und etliche Arbeiter waren verletzt. Die Wunden brannten um so mehr, da es kaum einen halben Becher lauwarmen Trinkwassers für die Verletzten gab. Die fremden Vertragsarbeiter kauerten schweigend und niedergeschlagen auf ihren Decken. „Wenn der Krawall so weitergeht wie heute, bleibt bald die ganze Arbeit liegen", sagte Müller verzagt. „Und ob wir dann die Zeit bezahlt kriegen?" Plagwitz erwiderte verzweifelt: „Wohl kaum." Hein dachte an den Brief von Anne und lächelte schmerzlich. „Wenn wir erst wieder in Hamburg sind . . . " „Halt!" schrie da Plagwitz auf, so daß der andere verstört innehielt. Hein legte die Hand auf die Achsel des Freundes. „Streikbrecher sind wir geworden. Wenn wir aber jetzt nicht weiterarbeiten, dann sperren sie uns wegen Vertragsbruchs ein." „Und wir sehen uns im ,Tal der toten Männer' wieder", ergänzte Plagwitz in hilfloser Wut. Sie fuhren herum. Hinter ihnen stand jemand. Sie erkannten im Halbdunkel Dix, der über sie hinweg irgendwohin zu blicken schien. „Es ist ein verfluchter Ort", sagte er langsam, „das ,Tal der toten Männer'..." 22
Die beiden Deutschen gingen dem Vorarbeiter den ganzen nächsten Tag über aus dem Wege. Dix stank förmlich nach Brandy. Hinten bei den Baracken standen die streikenden Tramnds wie eine Mauer. Die Arme verschränkt, blickten sie mit finsteren Mienen auf das Treiben der ausländischen Arbeiter. Da löste sich Turner aus der lebenden Wand, fuhr mit der Hand durch das wirre Haar und ging auf Dix zu. Verwundert sahen die beiden Freunde, wie Dix ihm lange zuhörte, sich rülpsend den Mund wischte. Er wollte etwas antworten, kam aber nicht zu Wort. Sie hatten das Kommen von Lumby nicht bemerkt. „Hallo!" schrie der Abschnittsleiter und bekam einen roten Hals. „Was geht hier vor?" Turner sah an ihm vorbei, spuckte in den Sand und ging wieder zu seinen Männern. Lumby schob den Borsalino in die Stirn und stemmte seine Fäuste in die Hüften. „Das Maß ist voll", schnauzte er auf den Vorarbeiter ein. „Ab heute fällt das Draufgeld fort, basta." Plagwitz und Müller, die seine Worte nicht verstanden, äugten gespannt auf die beiden. Dix war mit einem Ruck nüchtern. Er wurde quittegelb im Gesicht, richtete seinen kleinen Körper hoch auf und sah Lumby herausfordernd an, griff nach seiner Hacke und sagte ruhig: „Mir soll's recht sein. Ich lüge nicht mehr länger für Dollars. Lügen Sie gefälligst alleine weiter." Er warf dem Abschnittsleiter die Hacke vor die Füße und ging rasch durch den Sand auf die Baracken zu, wo ihn gellende Pfiffe begrüßten. Die überraschende Wandlung des Vorarbeiters machte starken Eindruck auf die beiden Freunde. Sie sprachen nicht darüber, aber sie dachten insgeheim das gleiche. Hein sagte: „Beim dem ist's einfacher. Wir aber haben unseren Vertrag." Der Vertrag war noch immer ihre Hoffnung, doch er schwebte auch wie ein Richtbeil über ihnen. Nun arbeitete die Kolonne allein. Plagwitz richtete manchmal den krummen Rücken gerade, wenn der stechende Schmerz seinen Kopf zu zerreißen drohte. Dann war es ihm, als zöge er die lauernden Augen Lumbys auf sich. „Der Boß ist im Abschnitt", mahnte Hein ihn, „melde dich krank. Er muß es ja selber sehen." Crelly war auf einer Motordraisine in Begleitung von fünf Polizisten aus Alice Springs hergekommen. Unter ihnen befand sich ein Offizier. Auch bei den Baggern war durch die Entschlossenheit der Streikenden der Gleisbau ins Stocken gekommen. An diesem Tage 23
erhielten die vier Arbeiter den Auftrag, den Bahndamm aufzuschütten. Einer der beiden Bagger war unter dem Schutz der Polizei schlecht und recht in Gang gebracht worden. Die Freunde schoben gemeinsam eine Kipplore, die von dem Bagger mit Sand gefüllt wurde, auf ein Schmalspurgleis, zwanzig Schritte weit an die Böschung heran. Hier schüttete eine andere Kolonne die abgeworfenen Sandmassen auf. Als die beiden unter dem kreischenden Bagger auf die Füllung ihrer Lore warteten, kam Hein unversehens in eine gefährliche Lage. Sein Halbschäfter hatte sich unter die Schiene geklemmt, und er konnte seinen Fuß nicht rechtzeitig hervorziehen. In diesem Augenblick öffnete sich der Greifer des Baggers und ließ seine Last ungeschickt auf die Lore fallen. Der Druck kam geballt, nicht streuend, wie bei gelernten Baggerführern. Dadurch kippte die Lore um, riß Hein zu Boden und legte sich über ihn, von den ausgeschütteten Sandmassen einen Fußbreit über seiner Brust gehalten. Die Männer schrien entsetzt auf, die beiden Inder fuchtelten wild mit den Armen. Langsam gab der Sand nach, Zoll um Zoll senkte sich die Kante des schweren Fahrzeuges auf den Hilflosen. Verzweifelt riß Müller an seinem Bein; es gelang ihm nicht, den eingeklemmten Fuß aus dem Stiefel zu ziehen. Die Polizisten standen wie versteinert da, riefen sinnlose Anweisungen zu dem Baggerführer hinauf. Auch die Männer der Kolonne waren vor Schreck erstarrt. Sie meinten, daß ihre vereinte Kraft nicht ausreichen würde, die unter der schweren Last absinkende Lore aufzuhalten. Die Streikenden, die in weitem Halbkreis den Bagger umlagerten, beobachteten mit Genugtuung die Folgen der unsachlichen Baggerführung. Hein schien verloren. Plötzlich stand Stevenson zwischen ihnen und warf die weiße Leinenmütze ab. Entschlossen beugte er seinen riesigen Körper über den Verunglückten, stemmte die breiten Schultern gegen die Lorenwand. Der Eingeklemmte spürte, wie das sinkende Ungetüm stillstand. Nach wenigen Sekunden hob sich der eiserne Wagen um einige Zentimeter. Nun bekam Hein die Arme frei. Jetzt sprangen auch die andern Männer hinzu und halfen, die Lore wieder aufzurichten. „Allright, boy", lachte Stevenson keuchend und angelte nach seiner Mütze. „Verstehen nichts von Baggern", radebrechte der Gewerkschaftsfunktionär und wies warnend zur Plattform hinauf. „Die Fachleute streiken." Dann, mit einem Blick auf Hein: „Zu schade dein Leben für den Hungerlohn." Er nickte und ging mit langen Schritten davon, bevor der Deutsche den Mund öffnen konnte. In diesem Augenblick kam Crelly den Bahndamm herauf. Er blieb stehen und richtete seinen Blick auf die Lore, die immer noch 24
neben dem Gleis stand. Schwerfällig bewegte sich der dicke Mann die Böschung abwärts und näherte sich den Männern. Die Polizisten rückten an ihren Mützen. „Was soll das heißen?" fuhr Crelly die beiden Deutschen an. „Was ist das für eine Schlamperei?" Hein Müller hatte das Gefühl, einen Faustschlag ins Gesicht zu bekommen. Plagwitz, der nach Worten rang, brachte schließlich hervor: „Sie sehen, Boß, die Lore ist umgestürzt." „Die Lore umgestürzt?" wiederholte Crelly wütend. „Seid ihr Gleisarbeiter oder Waschweiber? Paßt gefälligst besser auf. Wir werfen unsere Löhne nicht zum Fenster hinaus!" Er machte eine Pause, atmete schwer. Dann fuhr er entschlossen fort: „Ihr werdet vorläufig auf Hilfsarbeiterlohn gesetzt, bis ihr ganze Tramnds geworden seid." „Auf Hilfsarbeiterlohn?" stammelte Plagwitz. Die Fünfzehnhundert zerrannen wie ein Krümchen Fett in der Tropensonne. Müller schüttelte sich den Sand aus der Hose. „Unser Vertrag sieht eine feste Entlohnung vor", rief er mit bebenden Lippen. „Und der Vertrag ist auch für Sie bindend, Boß." Crelly sah ihn belustigt an. „Festen Lohnsatz schon, doch für Facharbeiter", ergänzte er langsam, jedes Wort einzeln betonend. „Ihr wollt erst Gleisarbeiter werden, meine ich." Ein roter Schleier umflorte Heins Blick. Heftig trat er einen Schritt auf Crelly zu, so daß die beiden Polizisten nach ihren Gummiknüppeln langten. „Das kann nicht stimmen, Boß!" schrie er. „Das ist Betrug! Die Regierung in Bonn garantiert für die Sicherheit unseres Vertrages." Crelly ließ keinen Blick von ihm; ein geringschätziges Lächeln kräuselte seine dicken Lippen. „Die Bonner Regierung kann u n s . . . " , lachte er verächtlich, „Arbeitslose haben wir genug im eigenen Land. Wenn ihr nicht einmal fähig seid, einen Streik niederzuhalten..." Er wandte sich um und ließ die Männer einfach stehen. In dieser Nacht traf ein Tankwagen mit frischem Trinkwasser aus Claraville ein. Einige Streikende, die das Baubüro überwachten, liefen sofort zu den Baracken. In langen Reihen strömten die Tramnds mit ihren Gefäßen herbei. Hein Müller und Peter Plagwitz fuhren, von einem tobenden Geschrei geweckt, aus ihrem Schlaf. Hein, der durch die Bretterritzen spähte, erblickte den Wasserwagen und riß Plagwitz an der Schulter. Schlaftrunken suchten sie im Dunkeln nach ihren Kanistern, stürzten hinaus ins Freie. 25
Draußen stürmten die Tramnds den Tank mit dem kostbaren Naß. Die Polizisten fluchten, schlugen mit den Gummiknüppeln im Finstern auf die eigenen Leute ein. Müller brachte einen Uniformierten zu Fall, der sich gerade auf einen Gleisarbeiter stürzen wollte. Dann, als beim Krachen der Karabiner der Scheinwerfer endlich. aufflammte, war die Polizeiwache bereits von der Übermacht der Tramnds abgedrängt. Die beiden Freunde arbeiteten sich an den Tankwagen heran, fingen das Wasser auf, schütteten es in die trockenen Kehlen. Dann füllten sie ihre Kanister, griffen zu den Steinen und warfen sie gemeinsam mit den anderen Arbeitern den andrängenden Polizisten entgegen. So traten Hein Müller und Peter Plagwitz endlich auf die Seite der Streikenden. Unaufhörlich strömte der Regen in das „Tal der toten Männer". Von den kahlen Felswänden flössen lange Rinnsale, stauten sich im Sandsteingeröll, schössen hinab in die wuchernde Wildnis der Schlucht. Vor Jahrzehnten mochte dies eine Schädelstätte der Eingeborenen gewesen sein; mancher gebleichte Knochen lag noch tief unter dornigem Gestrüpp. Undurchdringliches Buschwerk bedeckte die Talsohle, hohe Zypressenfichten umragten das Dickicht der Kasuarinen, von 'verkrüppeltem Strauchwerk umrankt. Im Grunde fauliger Tümpel brütete das Fieber seine todbringenden Keime. In diesem Tal, kaum sichtbar im Blättergewirr des Buschwerkes, bewegten sich einige Dutzend graugekleideter Gestalten. Sie schlugen mit Äxten und Feldhaeken eine breite Schneise in das Akaziengestrüpp, bahnten den künftigen Weg für die Nordsüd-Linie der Australian-Railway-Company durch die öden Strangway-Rangs. Es war eine Abteilung zu Strafarbeit Verurteilter, die hier in den wilden Schluchten des „Tales der toten Männer" der Eisenbahngesellschaft unentgeltlichen Frondienst leistete. Peter Plagwitz, Hein Müller und Dix befanden sich seit einigen Wochen unter ihnen, ebenso Stevenson, der wenige Tage später kam. Ein Schnellgericht in Claraville hatte die Deutschen auf Grund des bindenden Vertrages wegen Arbeitsverweigerung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, Stevenson wegen Anstiftung dazu zu neun Monaten. Dix, der seinen Sondervertrag gebrochen hatte, kam mit sechs Monaten Strafarbeit davon. „Gib mir die Axt, Peter", rief Hein und bewegte sich in seinem durchnäßten Leinenzeug schwerfällig ein paar Schritte durch das kniehohe Stechgras. „Lengle kommt!" Lengle gehörte zur Lagerwache und machte seine Runde. 26
Müller nahm die Axt und trat an die Stelle von Plagwitz. Wuchtig schlug er in den armdicken Stamm einer niedrigen Coxenakazie. Doch er schlug wie auf eine Eisenstange; kaum splitterte ein Span aus der glatten Rinde. Nach einem guten Dutzend Hiebe ließ der erlahmte Arm die Axt sinken, griff die Hand nach dem Wetzstein. Dann mußte die stumpfe Schneide wieder geschliffen werden. Plagwitz ließ die scharfe Feldhacke in das Dornengestrüpp sausen und ächzte dabei verbissen. Er spürte seit dem Sturz auf die Schienen in Claraville zeitweise heftigen Kopfschmerz; jeder Schlag in das zähe Buschwerk gab ihm einen Stich ins Hirn. Mühsam arbeiteten sich die Männer durch die wildwuchernde Hölle, kaum, daß sie am Tag einen Schritt weitergekommen waren. Lengle tauchte in seiner regennassen Ölhaut auf. Der Kleinste von der Lagerwache, hatte er dennoch den lautesten Mund. Der Schwall seiner Worte kündete ihn schon von weitem an. Die Deutschen zogen den Kopf ein. Wenige Schritte seitwärts schimmerte Stevensons schwarzer Haarschopf durch die Blätter. Dix hob seine Arme und riß die rankenden Lianen herunter. Lengle blieb vor Stevenson stehen. Auf ihn hatte er es besonders abgesehen. Wütend brüllte er ihn an, fuchtelte mit dem Karabiner vor seinen Augen. Der Hüne hatte die Gewohnheit, seine Angriffe unbeachtet über sich ergehen zu lassen. Dafür ließ ihn Lengle mittags Wasser schleppen, damit ihm die Suppe kalt wurde. Am Abend ließ der Regen endlich nach. Beim Schall der Arbeitsglocke schleppte sich die graue Kette der Häftlinge mit bleiernen Füßen ins Lager. Auf einer kleinen Lichtung standen zwei Blockhäuser. Hier hausten die Strafarbeiter, immer zehn Mann in einem Loch, dessen Luke vergittert war. Es gab keine Flucht aus dieser Trostlosigkeit; sie konnte auch nur von einer Einöde in die andere führen. Die Deutschen kauten ihr Schwarzbrot, zu dem es heute gesüßten Tee gab. Hein Müller zog Annes Brief hervor, den er, vielfach gefaltet, immer bei sich trug, strich das zerknitterte Papier glatt, rückte in den spärlichen Lichtschein. Er wußte jedes Wort auswendig, und je öfter er die Zeilen in Gedanken wiederholte, desto klarer wurde ihm ihre Bedeutung. Hein nickte düster vor sich hin. „Nun sind aus zwei Jahren drei geworden." „Wieso drei Jahre, die Gewerkschaft der Australischen Eisenbahnarbeiter hat den Generalstreik ausgerufen", sagte Stevenson siegesgewiß. Er saß in einem Winkel neben dem schlafenden Dix. „Nicht mehr lange, und wir sind wieder frei." „Woher willst du das wissen, Steve?" zweifelte Hein Müller, obgleich ihm die Worte des Funktionärs Mut gaben. „Die Gewerkschaft hat unsere Haftentlassung gefordert." 27
Plagwitz lachte bitter auf. „Steve ist ein guter Kerl. Er will uns ermuntern", flüsterte er dem Freunde zu. Die Häftlinge rollten sich in ihre Schlafdecken, atmeten schwer und starrten auf die Holzwände. Die beiden Deutschen dachten an die Heimat, Hein an das Millerntor und Anne Fock, Plagwitz an seine Mutter in der Nissenhütte. Durch die vergitterte Luke drangen die Nachtgeräusche der Wildnis, das Geschrei des Opossums und der monotone Ruf des Spottvogels. Peter Plagwitz' Zustand verschlechterte sich. In der feuchten Hitze, wenn die kahlen Felswände die Sonnenglut in die Schlucht zurückstrahlten, schwankte er manchmal bei der Arbeit im Busch. Als ihm beim Roden eines drahtigen Myalstrauches* das Blut in den Kopf stieg, fiel ihm die Hacke aus der Hand; er mußte sich stützen. „Schnell da!" schrie Lengle hinter ihm. „Wir sind hier doch keine Standbilder." Und er griff an seinen Leibgurt, wo der Gummiknüppel hing. Die beiden Freunde verstanden bereits viele englische Sprachbrocken, die sie nach und nach aufgeschnappt hatten. Plagwitz gab sich einen Ruck und hob die Hacke auf. „Der Mann ist krank, wie Sie sehen", sagte Stevenson bestimmt und richtete sich in seiner ganzen Höhe aus dem Blattwerk auf. Lengle sah ihn von der Seite an, stürzte auf ihn zu und kläffte: „Dich hat keiner gefragt! Mach gefälligst deine Arbeit." Stevenson bückte sich geduldig, schlug kräftig ins harte Holz. Lengle, der klein von Wuchs war, verspürte eine Lust, den Hünen zu beleidigen. Er stieß ihn, wie er so dastand, ins Gesäß. Dabei bellte er: „He du, warum mischt du dich in fremde Dinge?" Der Hüne richtete sich wieder auf und sah mit kaltem Hohn auf den Wachmann herab. Lengle reckte sich auf die Zehenspitzen und keifte ihm ins Gesicht: „Sprich, du Hund, was geht dich die Sache an?" Wild schwang er den Karabiner. Stevenson warf einen kurzen Blick in die Runde. Dann packte er Lengle beim Kragen und trug ihn mit steifem Arm fort wie einen lästigen Käfer, den man zwischen zwei Finger nimmt. Bei dem Akaziengebüsch drückte er ihn in die Dornen und kehrte ruhig zu seiner Arbeit zurück. Lengle war verstummt. Nach geraumer Zeit arbeitete er sich mühsam aus den Ranken heraus und lief schimpfend davon. „Helft Dix die Akazie umlegen", riet Stevenson den Deutschen. „Da kann euch der Aufpasser nicht so kontrollieren." • Niedrige Akazienart
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Dix arbeitete still und in sich gekehrt. Als Plagwitz und Müller zu ihm kamen, nickte er kurz. „Die Knorren sind steinalt", murmelte er. „Was meinst du zu dem Generalstreik?" wollte Hein wissen, während sie abwechselnd in die Kerbe schlugen. „Wir sind hier von der Welt abgeschnitten. Wenn aber Steve meint, daß die Gewerkschaft den Generalstreik ausgerufen hat, so ist das eine große Hoffnung für uns." Plagwitz hatte schon vorher ein fremdes Geräusch gehört, ein schwaches Schieben und Knacken im Unterholz. Da es nicht wiederkam, achtete er nicht weiter darauf. Hinter seiner Stirn brannte es wie Feuer. Er ging ein paar Schritte hinein in das Myalgebüsch, wo er sich an eine Zypressenfichte lehnte. Elf Monate sollte er noch in diesem verfluchten Tal zubringen. Eben raschelte es wieder auf dem Erdboden, diesmal stärker, und plötzlich erblickte er zu seinem Entsetzen den grünschillernden, meterlangen Leib einer riesigen Teppichschlange im Gestrüpp. Das Reptil hob den kleinen Kopf und starrte ihn unverwandt an. Sekundenlang stand Plagwitz versteinert; dann schrie er auf und griff nach der Hacke. Auf den Schrei sprang Dix hinzu. „Die Hacke weg", rief er, „und langsam zurückweichen." Er riß dem wie gelähmt Dastehenden die Feldhacke aus der Hand und schob ihn kräftig rückwärts. Bevor er selbst noch einen Schritt nach hinten machen konnte, hatte die Riesenschlange ihn schon erfaßt. Blitzschnell schoß sie hervor, schnellte ihren dicken, muskulösen Leib um den schmächtigen Mann, zog ihn kurz zusammen. Dann war sie im Dickicht verschwunden. Der gräßliche Aufschrei des Unglücklichen erstickte. Er krümmte sich heftig und blieb reglos liegen. Vorsichtig trugen ihn Stevenson und die beiden Deutschen aus dem Busch an einen freien Platz. Er blutete nicht; aber sein Brustkorb war flach, die Rippen zerquetscht. Als sie ihn niederlegten, öffneten sich seine Augen. Als er Plagwitz erkannte, tastete er nach dessen Hand. „Das war für Claraville", hauchte er. „Es ist gut so . . . " Die rasch herbeigerufene Wachmannschaft des Straflagers im „Tal der toten Männer" fand den kleinen Tramnd sterbend. Der Generalstreik der Australischen Eisenbahnarbeiter-Gewerkschaft war siegreich beendet worden. Es war im Bauabschnitt von Claraville zu heftigen Zusammenstößen gekommen, als die Streikenden darangingen, die Materialwagen zu blockieren. Nach kurzer Zeit blieb die Arbeit der Streikbrecher stecken. Crelly tobte, forderte Polizeiverstärkung an. „Was wollen Sie", rief der Polizeiinspektor durchs Telephon. „Ich kann keinen Mann mehr abgeben. Überall stehen die Gleisarbeiten 29
still. Der Zugverkehr von Melbourne nach Adelaide ist unterbrochen." Ärgerlich warf Crelly den Hörer hin; das wußte er schließlich selber... Sieben Tage brauchten die australischen Tramnds, um den rücksichtslosen Terror der Eisenbahngesellschaft zu brechen. Nach einer Woche lief in Alice Springs eine neue Drahtnachricht aus Melbourne ein. Die Lohnforderung im Abschnitt von Claraville sei zu bewilligen. Die vier inhaftierten Gleisarbeiter erhalten durch Gerichtsbeschluß fristlosen Strafaufschub und werden aus dem Straflager in den Strangway-Rangs entlassen. Stevenson und Dix sind auf ihrem früheren Arbeitsplatz wiedereinzustellen, die beiden Deutschen nach dem Hauptbüro der Eisenbahngesellschaft in Melbourne zu bringen. Crelly las lange und nachdenklich diese Nachricht. Dann steckte er sich eine Zigarette an und trat ins Freie. „Die Dividenden fallen", knirschte er und trat mit dem Stiefel nach seiner Bulldogge... Im „Tal der toten Männer" krochen die Tage wie eine Schnecke dahin. Die heimtückische Wut Lengles bekam ganz besonders Stevenson zu spüren. Er war am nächsten Morgen von seinen Gefährten getrennt und zu anderer Arbeit abkommandiert worden. „Du bist stark", sagte der Wachmann dabei zu ihm, „du kannst Bäume tragen." Seitdem schleppte Stevenson schweißgebadet die von der Strafkolonne geschlagenen Akazien und Kasuarinen aus dem Busch, schleifte sie über die weite Lichtung bis hinter das Wachhaus. Die Buschstämme sind nicht sehr hoch, drei bis vier Meter bloß, aber schwer wie ein Klumpen Blei. Stevenson magerte ab, doch er lächelte bei der Schinderei. Hein schuftete allein im Busch. Peter Plagwitz war bei der Arbeit zusammengebrochen, lag schon tagelang in der Krankenstube im Wachhause, ohne daß er ihn sehen durfte. Lengle ließ Hein nicht aus den Augen. Fielen dem Deutschen die Arme wie Zentnergewichte herab, so trieb er ihn mit krähender Stimme an. Nur wenn der Schinder über die Lichtung stelzte, um den schleppenden Stevenson zu quälen, kam Hein zur Besinnung. In diesen Stunden der Verlassenheit weilten seine Gedanken bei Anne. Dann merkte er kaum, wie das hohe Stechgras ihm in Arme und Hände schnitt, und schlug mit wilder Entschlossenheit seine Feldhacke in das Buschwerk. Eines Morgens wurde er und Stevenson aufgerufen. Man führte beide in das Wachhaus, wo der Lagerführer an einem kleinen Tisch saß. 30
„Stevenson und Müller", fragte er kurz, ohne sie anzusehen. ..Liefern Sie Ihre Schlafdecken ab. Sie können Ihre Zivilsachen anziehen. Das Bundesgericht in Melbourne hat Ihre Entlassung aus der Strafhaft befürwortet." Hein starrte Stevenson an, der ihm lächelnd zunickte. „Das mußte so kommen", sagte Steve. „Es war nur eine Frage der Zeit." Im nächsten Augenblick fiel Hein Peter Plagwitz ein. Mit einer kurzen Wendung zu dem Lagerführer fragte er: „Und der andere? Peter Plagwitz, mein Landsmann? Kommt er nicht auch frei?" Diesmal blickte der Uniformierte über den Rand seiner Brille und hob die Achseln. „Er weiß es bereits", sagte er. „Gehen Sie ruhig hinein." Plagwitz lag auf einem Feldbett, den Oberkörper mit den zurückgestützten Ellenbogen hochgerichtet. Auf seinen eingefallenen Wangen leuchteten die roten Flecken der Freude. „Mensch", stammelte er nur. Die beiden Freunde hielten sich in den Armen. „Und du", stieß Hein hervor. „Was sagt der Sanitäter?" „Morgen ist die Matratze mich los." Peter richtete sich mühsam auf. „Wo ist Steve?" „Er mußte schon voraus zur Kleiderkammer." Plagwitz griff nach Heins Hand. „Das dürfen wir ihm nicht vergessen. Jetzt weiß ich erst, daß die Arbeiter in der Welt zusammenstehen müssen..." Er schluckte, legte sjch in das Kissen zurück. „Wo wir doch Lumpenkerle w a r e n . . . " Am andern Morgen, als die Strafarbeiter in den Busch zogen, blieben die beiden Entlassenen in der Zelle zurück. Sie hatten ihre Zivilkleider angezogen, und Hein war gerade damit beschäftigt, die Sachen seines Freundes Plagwitz zusammenzupacken, als er in das Wachhaus gerufen wurde. Er griff nach dem Bündel und eilte hinaus. Der Lagerführer stand neben seinem Tisch und putzte die Brillengläser. Mit einem Blick auf das Kleiderbündel, das Müller unter dem Arm geklemmt hielt, sagte er: „Die Sachen von Peter Plagwitz, wenn ich nicht irre?" Hein bejahte. „Sie können Sie gleich wieder mit nach drüben nehmen. Der ehemalige Arbeitshäftling Plagwitz ist heute nacht an Gehirnlährnung als Folge eines Hitzschlages verstorben." Melbourne. Auf der Fahrt vom Bahnhof nach dem Hauptbüro der Australian-Railway-Company, als der Wagen am Kai vorüberfuhr, warf Hein Müller einen Blick auf die Menge der im Hafen liegenden .31
Schiffe. Unter den Flaggen herrschten die australische, die amerikanische und die englische vor. Ein Wimpel nur war allein vertreten, rot und weiß, auf dem Heck eines leuchtenden Schiffes. Er machte wieder Bekanntschaft mit der' alten stinkigen Holzbaracke hinter der kahlen Rückwand der Autogarage, die jetzt leer stand. Ein Dolmetscher erläuterte ihm umständlich die Bedingungen der Direktion. „Sie können sich entscheiden", sagte er, „die Arbeit wiederaufzunehmen. Sie haben drei Tage Bedenkzeit. Treten Sie vom Vertrag zurück, so sind Sie Ihrem Arbeitsamt in Westdeutschland erstattungspflichtig. Wir unsererseits haben unser Geld." Er wandte sich zum Gehen, blieb aber in der Tür noch einmal stehen. „Es ist nicht ratsam für Sie. ohne Paß hier auf die Straße gesetzt zu werden. Sie müssen damit rechnen, an der nächsten Straßenecke einem Polizisten aufzufallen, der Sie wegen Landstreicherei festnimmt. Überlegen Sie sich das ernsthaft. Sie haben, wie gesagt, drei Tage Zeit, einen Entschluß zu fassen." Die Tür fiel ins Schloß. In dieser Nacht brach Hein Müller aus der elenden Baracke aus. Im Schatten der riesigen Lagerhäuser erreichte er den Hafenkai, fand schnell den rot-weißen Wimpel des polnischen Schiffes. Der Kapitän blickte den Flüchtling prüfend an, hörte ihm ruhig zu. „Sie sind Deutscher?" fragte er schließlich. „Ich bin aus Deutschland." „Wir werden Sie aufnehmen", entschloß sich der polnische Seemann und tat einen tiefen Atemzug. „Aber wir fahren nicht nach Flamburg. Wir legen in Rostock an." „Hamburg oder Rostock... Es sind zwei Städte meiner Heimat", lachte Hein befreit auf. Der Kapitän nickte. Im ersten Morgenlicht steuerte die „Gdansk" aus der kleinen Hobson-Bay. Hein sah Melbourne im rosigen Dunst verschwinden, die schöne und trügerische Stadt an der Küste Australiens, in dessen Wildnis Kummer und Elend herrschen. Weit weg lag Claraville, wo er auf der Rückfahrt im Gewimmel der Tramnds noch einmal die weiße Mütze Stevensons hatte leuchten sehen. Und hinter einem gelben Sandschleier lag das „Tal der toten Männer" mit den beiden Grabhügeln, die ein Gedenkstein zierte. Durch die Port-Philips-Bay drehte die „Gdansk" hinter dem Leuchtfeuer ins offene Meer. Hein Müller sah den Sonnenglanz auf der weiten Wasserfläche und das lächelnde Gesicht seiner Anne.
Wir danken Euch für die vielen Briele und Karten, die Ihr uns zu der Reihe „Das neue Abenteuer" eingesandt habt. Einem jeden werden
wir antworten. Viele der gegebenen
Anregungen können wir bei Neuerscheinungen verwerten. Versucht bitte, die Euch fehlenden Helle in Buchhandlungen oder an den Zeitungskiosken zu erhalten, da der Verlag Euch keine Exemplare schicken kann.
In diesem Jahr erschienen folgende Hefte 6. Die Blume von Bellecour 7. eqt meldet sich wieder 8. Um ?.30 platzt die Bombe 9. Alarm vor der Küste 10. Nordpolfahrt im Jahre 2000 11. 10000 Pesetas auf den Kopf des Roten Reiters 12. Jagd au) der Autobahn In
Kürze
erscheinen 14. Windstärke 0 15. Blinkzeichen blieben ohne Antwort Schreibt uns auch weiterhin, wie Euch Inhalt und Umschlag des einzelnen Heftes zugesagt haben. Welche Themen soll „ D a s n e u e A b e n t e u e r " behandeln?
Habt Ihr schon d i e auf d e n Heften 9 bis 12 a n g e z e i g t e n Bücher g e l e s e n ?
V E R L A G
N E U E S
Der Vertag der jungen
LEBEN
Generation
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Berlin W 8 ,
Markgralenstraße 30
P r e i s 0,25 D M