Der Durst der Toten von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Die Umarmung der Finsternis war gewichen. Der Mann irrte schwerat...
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Der Durst der Toten von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Die Umarmung der Finsternis war gewichen. Der Mann irrte schweratmend durch die sturmgepeitschte Nacht. In der Ferne erhellten Blitze den wolkenverhangenen Himmel; ein Abbild der Energien, die durch seine Nervenbahnen rasten und seine Muskulatur in krampfhafte Zuckungen versetzten. Er strauchelte, konnte sich kaum aufrecht halten. Den Mann störte es nicht. Das Leben war ihm zu fern, um noch daran Anteil zu nehmen. Er war auf dem richtigen Weg, den er traumwandlerisch sicher fand. Alles würde wieder wie früher sein, wenn er sein Ziel erreichte. Denn wo hätte er Geduld besser erlernen können als in dem tiefen Grab, in dem er einst gelegen hatte …?
Stürmische Winde rüttelten an dem Sommerhäuschen, das hoch auf den Klippen über den gischtenden Wogen des Pazifiks thronte. Der Regen wurde von Minute zu Minute stärker, trommelte auf das Dach und gegen die Fenster. Die Frau, die mit angezogenen Knien auf dem Bett saß und den Rücken gegen das vergoldete Metallgestell lehnte, nahm den Sturm und seine Boten kaum wahr. Sie beobachtete, wie der Mann, der bei ihr war, an einer Champagnerflasche hantierte … Nein, eigentlich beobachtete sie nur den Mann. Ließ ihre Blicke über die Attribute gleiten, die sie dazu verführt hatten, ihn zu erwählen … Nachdem sie endlich aufgehört hatte, selbst Spielzeug zu sein, hatte sie schnell Gefallen daran gefunden, ihre Macht über andere auszuspielen … Als der Korken sich mit einem trockenen Knall aus dem Flaschenhals löste und quer durch das Zimmer flog, fegte er eines der Bilder von der gegenüberliegenden Wand. Das Lächeln auf Marvins Gesicht ging in Scherben. Der Bilderrahmen, der es umgab, zersplitterte am Boden. Bye, bye, Arschloch, dachte Deborah, bevor sie ihren intimen Gast mit rauchig klingender Stimme aufforderte: »Stell die Flasche wieder hin. Ich brauche jetzt die Art von Zuwendung, die eine andere Flasche mir nie schenken konnte …!« Das war durchaus so doppeldeutig gemeint, wie es klang. Lennox Fears lächelte geschmeichelt. Er hatte Deborah Manson in seiner Stammdisco kennengelernt, wo er sich gelegentlich als Gogo-Tänzer verdingte und dabei wenig mehr als seinen String-Slip am Leibe trug. Sie hatte also gewußt, auf wen sie sich einließ. Das letzte Detail würde sie heute Nacht – gleich! – kennenlernen. »Woran denkst du?« fragte sie. »An nichts. Nichts Besonderes. Ich genieße es einfach, mit dir zusammen sein zu dürfen.«
»Charmeur. Das miese Wetter stört dich gar nicht?« »Nicht im geringsten. Ich finde es sogar äußerst … nun ja … anregend.« Fears stellte die Flasche auf dem Boden neben dem Bett ab. Seine Hände waren naß und auch ein wenig klebrig von dem übergeschäumten Champagner. Aber es störte weder ihn noch sie, und so schmiegte er sich eng an Deborah und begann damit, ihre endlos langen Beine zu streicheln. Als er ihr einen Kuß auf den Mund hauchte, genügte ihr das nicht. Sie zog ihn an sich und küßte ihn mit solcher Leidenschaft, daß ihm schier die Luft wegblieb. »Ich bin nicht aus Glas«, sagte sie danach und warf einen bezeichnenden Blick zu dem herabgestürzten Bild. »Auch nicht aus Zucker. Ich halte was aus.« Und habe verdammt lange verdammt viel aushalten müssen. »Dein Mann ist ein erfolgreicher Geschäftsmann?« Sie versteifte, was er sofort spürte und richtig einschätzte. Aber selbst einem Gigolo mit Erfahrung konnte schon mal ein kleiner Mißgriff unterlaufen, zumal manche Frauen ganz gern über ihre Ehemänner plauderten. Deborah jedoch gehörte definitiv nicht in diese Kategorie. »Entschuldige, ich wollte nicht –« »Schon gut. Mein Mann war sehr erfolgreich – zumindest außerhalb unserer vier Wände und bestimmt auch bei anderen Weibern. Aber damit ist es vorbei.« Sie merkte, wie er innehielt, fuhr aber ungerührt fort: »Ich habe mich lange genug verstellt und die Rolle gespielt, die er erwartete. Damit ist Schluß. Endgültig! Und jetzt hören wir auf, von ihm zu sprechen. Wenn du unbedingt dabei reden mußt, flüster mir etwas Frivoles ins Ohr. Das ist in Ordnung. Vielleicht fällt dir ja auch ein bißchen mehr ein als dieses übliche: ›Ich will dich –‹« Sie verstummte. Auch Fears hielt angespannt inne. Sie hatten beide gehört, wie irgendwo im Haus erneut etwas zu
Bruch gegangen war. Fears löste sich zuerst aus seiner Erstarrung. »Ich gehe nachsehen …« Sie hielt ihn zurück. Ihre Hand schloß sich um seinen Unterarm. »Scheiße, nein, bleib hier. Wenn es ein Fenster war, wird es repariert. Und selbst wenn es ein bißchen reinregnet … na und? Komm jetzt. Komm zu mir! Ich will dich spüren!« »Aber es könnten doch auch …« »… Einbrecher sein?« Sie lachte überaus geringschätzig, und für einen Moment konnte sich Fears lebhaft vorstellen, wie sie geklungen hatte, wenn sie sich mit ihrem Mann gestritten hatte. »Glaubst du im Ernst, ein Einbrecher würde sich so ein Wetter aussuchen, um auf Diebestour zu gehen?« Er schloß es nicht aus. Aber ein Blick in ihre Augen genügte, um jeden weiteren Wunsch nach Widerspruch zu unterdrücken. Vorsichtig glitt er über Deborah Manson, die sich auf das Bett hatte sinken lassen und nichts außer einem seidig glänzenden Top trug. Ihre Brüste wölbten sich Fears selbst im Liegen opulent entgegen. Es spielte keine Rolle, ob sie echt waren oder ob kosmetische Chirurgie der Natur etwas unter die Arme gegriffen hatte. Sie waren griffig. Und sie fühlten sich echt an. Was wollte man mehr? Fears spürte, wie seine Erektion anschwoll, während er sein Glied am Schoß der Frau rieb. Deborah Manson verstärkte den Druck, indem sie sein Gesäß fest mit beiden Händen umspannt hielt und ihn sich ihm entgegenstemmte. Sein Gesicht versank zwischen ihren Brüsten. Seine Zunge leckte über ihre Haut, und sie schloß die Augen, um zu vergessen. Zu vergessen, wie sie es geschafft hatte, den Demütigungen und dem Martyrium zu entrinnen. Sie hatte sich verkalkuliert. Hatte geglaubt, ohne selbst allzuviel dafür geben zu müssen, in ein gemachtes Nest hineinheiraten zu können. Aber ihr fast dreißig Jahre älterer Mann hatte ihr schnell die Au-
gen für die Realität geöffnet. Er hatte die Regeln bestimmt. Von Anfang an. In seiner Firma wie zu Hause. Und bis auf das Geld hatte sie nichts von ihm bekommen. Er hatte sie … benutzt. Vorgezeigt wie ein Schmuckstück – oder die teuren Gemälde, die seine Immobilien schmückten. Und immer wieder hatte er sie gedemütigt. Auch vor anderen. Fears’ Zunge half ihr, ihn zu vergessen. Er spielte mit ihren hart gewordenen Brustwarzen, während Deborah eine Hand von seinem Hintern löste und hinabtauchte, um ihm zu helfen, den Weg ins Ziel zu finden. In der nächsten Sekunde glitt er in sie hinein. Sie war feucht, aber nicht feucht genug, um sein Gardemaß ohne weiteres zu verkraften. »Du … bringst mich … um …«, seufzte sie rauh. Im nächsten Moment schien der Atem des Sturms für einen winzigen Moment auszusetzen. Gerade lange genug, um das klirrende Lachen und die gehässige Stimme in ihrer beider Bewußtsein sickern zu lassen. »Er nicht«, sagte diese Stimme. »Aber ich werde es tun, du billige kleine Nutte!«
* Lennox Fears schrak hoch, stützte sich auf die gestreckten Arme, daß die Muskeln seines durchtrainierten Körpers eindrucksvoll hervortraten, und drehte das Gesicht in die Richtung, aus der die Drohung gekommen war. Zur Spaltweit offenstehenden Tür, die aus dem Schlafzimmer auf den schmalen Flur und von dort aus zur Treppe ins untere Geschoß führte. Deborah Manson lag brettsteif unter ihm. Sein Glied steckte immer noch knochenhart in ihr, bis sie ihn mit einem gequälten Aufschrei von sich herunter stieß.
Fears kam auf der Matratze zum Sitzen. Die Tür hatte er nicht aus den Augen gelassen. Der Schreck war auch ihm in den Leib gefahren und lähmte ihn. Bis Deborah stammelte: »O Gott …!« »Dein – Mann?« Sie schüttelte unkontrolliert den Kopf. Ungläubig. Fassungslos. »Ich kralle mir den Scheißkerl …« Ihre Hände versuchten ihn zurückzuhalten. Aber Fears war bereits aus dem Bett gesprungen. Mit ausholenden Schritten war er an der Tür und riß sie auf. Weder seine Blöße noch der Zustand, in dem sich sein Geschlecht immer noch befand, hielten ihn zurück. Zornsprühend bohrte er seinen Blick in den Gang. »Da ist niemand. Aber … wir können uns das doch nicht beide nur eingebildet haben, oder? Du hast doch auch gehört, wie er …« Fears Stimme verebbte, als er sah, daß Deborah sich ihre Faust an den Mund gepreßt hatte. Es sah aus, als hätten sich ihre Zähne im eigenen Fleisch verbissen. »Habt ihr hier oben eine Waffe?« Sie schien ihn nicht zu hören. Ihre Augen starrten an einen Punkt, der weit hinter Fears zu liegen schien, weit jenseits der Wände dieses Hauses und noch hinter dem tobenden Sturm. »Ob ihr eine Waffe habt!« Diesmal wartete er nicht ab, ob sie ihm antworten würde, sondern hastete zum Nachtschrank auf ihrer Bettseite. Er riß die Schublade komplett heraus und kippte den Inhalt auf das Bettlaken. Eine Waffe war nicht darunter. Fears wälzte sich über das Bett auf die andere Seite und verfuhr dort genauso. Vermutlich schlief der »Herr des Hauses« sonst hier. Denn zwischen mehreren verschlissenen Taschenbüchern, Schreibstiften und einer Lesebrille lag auch, wonach Fears gesucht hatte. Eine Knarre. Keine Schreckschußpistole, sondern ein langläufiger
Revolver, eine .357er Magnum. Fears bekam das Schießeisen zu fassen und rannte damit aus dem Zimmer. In dem Moment, als er die Schwelle übertrat, löste sich Deborahs Faust wie ein Pfropfen aus ihrem aufgerissenen Mund, und mit verzerrtem Gesicht schrie sie: »Nein! Bleib hier! Um Himmels willen – du hast keine Ahnung …« Fears ließ sich nicht stoppen. Er war schon draußen. Deborah hörte, wie er nacheinander die beiden anderen Türen des Obergeschosses aufriß und seine Hand auf den jeweiligen Lichtschalter klatschte. Ein Gästezimmer und das großzügige Bad lagen noch auf dieser Etage. Sonst gab es keinen Raum, der als Versteck für denjenigen hätte dienen können, der gerade die ungeheuerliche Drohung ausgestoßen hatte. Die Gedanken wirbelten wie glühende Schlacketeilchen durch Deborahs Hirn. Sie zitterte nicht mehr, sondern bäumte sich unter Krämpfen auf. Gleichzeitig schien alle Kraft aus ihr herauszufließen. Selbst ihre Stimme versagte. Keine weitere Warnung verließ ihren Mund. Mit flackerndem Blick stierte sie aus das helle Geviert der Tür, durch das Lennox Fears verschwunden war. Er hatte auch auf dem Flur das Licht angeknipst. Dann hörte sie, wie er auf nackten Sohlen die Treppe hinunterhetzte. Ich muß ihn … warnen …, rann es durch ihren Schädel. Ich muß ihm sagen, daß er es war! Daß er hier ist! Sie hätte seine Stimme, selbst wenn er versucht hätte, sie zu verstellen, aus Tausenden heraus erkannt. Die Stimme eines Toten …
*
Als Lennox Fears das Ende der Treppe erreichte, gab es einen ähnlichen Knall wie beim Öffnen der Champagnerflasche. Aber von völlig anderer Bedeutung. Sämtliche Lichter im Haus gingen aus. Fears fluchte. Er glaubte nicht an einen normalen Kurzschluß. Dieser Kerl mußte dahinterstecken … »Wo ist der Verteilerkasten?« rief er zu Deborah Manson hinauf. »Diese Ratte hat –« »Lennox?« Dumpf klangen ein paar Schritte durch die Decke zu ihm herunter. »Was ist?« »Komm – zurück!« »Den Teufel werd’ ich tun. Ich kriege ihn! Mach dir mal keine Sorgen. Ich war bei den Marines. Ich habe eine Knarre. Wenn er auch eine hätte, wäre er nicht abgehauen.« »Komm zurück! Du hast keine Ahnung! Es … es ist mein Mann!« Fears spürte, wie ihm übergangslos der Schweiß ausbrach. »Oh, Shit! Ich hatte dich doch gefragt – oder etwa nicht?« Von links, nicht sehr weit entfernt, näherte sich jemand. Fears hörte leise Geräusche, die aber gleich wieder vom lauter brüllenden Sturm übertönt wurden. Er schwenkte den Lauf des Revolvers automatisch in die betreffende Richtung. »Hören Sie, Mister, ich wußte nicht … Ich meine, ich wollte nicht …« Oben begann Deborah hysterisch zu schreien. Schrill und anhaltend. Fears wich langsam zur Treppe zurück. Mehr als zwei, drei Schritte trennten ihn nicht von der untersten Stufe. Als er mit der Ferse dagegenstieß, wischte vor ihm etwas durch die Dunkelheit, und der Arm, dessen Faust den Revolver umklammerte, wurde mit solcher Wucht von einem Hieb getroffen, daß Fears die Finger spreizte und meinte, seine Knochen durch den dämpfenden Mantel aus Fleisch hindurch brechen zu hören.
Die Waffe flog in hohem Bogen durch die Luft und landete irgendwo polternd. »Verdammt, Mister!« stieß Fears durch die Nebel aus Schmerz hindurch aus. »Lassen Sie uns in Ruhe –« Bevor er rückwärtstastend auch nur die erste Stufe erklommen hatte, fanden aus der Dunkelheit heraus zwei Hände den Weg an seinen Hals. Und zerrten ihn von der Treppe weg. Fears prallte gegen den Körper, der zu den Händen gehörte. Trotz der Nervenanspannung fiel ihm der sonderbare Geruch auf, der nur im ersten Moment keine Ekelreaktion in ihm weckte. Dann aber – »Los-las-sen!« Er würgte. Auch weil die Hände zudrückten und sich Daumennägel in seinen Kehlkopf zu bohren drohten. Er bringt mich um! Dieser Wahnsinnige hat eine unglaubliche Kraft … Ein Licht tanzte durch die Schwärze. Oben tauchte Deborah Manson auf. Sie hatte eine Taschenlampe aufgetrieben. Vielleicht konnte sie – nein, nicht vielleicht, sie mußte ihren Mann zur Vernunft bringen! Suchend geisterte der Strahl über Wände und Stufen, bis er wohl eher zufällig sein Ziel fand. Über Fears’ Hinterkopf hinweg wanderte der Schein ins Gesicht desjenigen, der ihn an der Gurgel gepackt hatte. Ein Gesicht, glänzend, als wäre es mit Lack überzogen. Und Augen, die Fears anglotzten, als wäre bereits vollzogen, was sich das Hirn hinter den Augen als gerechte Strafe für ihn ausgedacht hatte. In den letzten Sekunden seines Lebens dämmerte Lennox Fears, daß etwas völlig anderes als Eifersucht hinter der blindwütigen Attacke seines Gegenübers steckte. Aber nicht einmal seiner Furcht blieb Zeit, zur vollen Blüte zu reifen. Der Mann – Deborah Mansons Mann! – teilte die Lippen, als woll-
te er zu einem breiten, vollmundigen Lachen ansetzen. Im nächsten Moment fielen seine Hände von Fears’ Hals ab, so daß dieser verzweifelte Hoffnung schöpfte, der Angreifer habe lediglich beabsichtigt, ihn zu Tode zu erschrecken. Doch noch bevor die Erleichterung den Adrenalinpegel senken konnte, verschwand die bösartige Visage des Mannes im Schlagschatten von Fears Kopf, und dann … … fühlte Fears erst die spröde Berührung zweier Lippen an seinem Hals … … und dann das, was alle Hoffnung, er könnte sich heil aus der Affäre ziehen, für immer und ewig begrub …
* »Marvin …« Deborah Manson hielt sich am Pfosten des Treppengeländers fest. Die andere Hand lag wie eine Zwinge um die Taschenlampe gekrampft und hielt den Strahl weiter auf den Toten, weniger auf den Sterbenden gerichtet. Auf den Mann, bei dessen Beerdigung sie genau so viele Tränen vergossen hatte, wie man es von der trauernden Witwe eines allgemein geachteten Unternehmers erwartete … Er war schon zu Lebzeiten ein Ungeheuer gewesen. Götzenhaft, wie er jetzt dastand, am Fuß der Treppe, war er es erst recht! Grinsend, den Mund blutverschmiert, ließ er ab von Lennox Fears, der haltlos zu Boden fiel. Das aus der Halswunde schießende Blut bildete im Nu eine gewaltige Lache unter dem Gigolo – eine Pfütze, in der Marvin Manson ungerührt und mit nackten Füßen stand. Daß er das Hemd trug, in dem er bestattet worden war, bestärkte seine Frau nur in der Überzeugung, daß alles, was sich vor ihren Augen zutrug, real war.
Real … Es war völlig unmöglich! Trotzdem akzeptierte ihr Verstand das Erscheinen des Toten, als hätte etwas in ihr immer damit gerechnet, daß dergleichen geschehen könnte. Marvin Manson, der dem wegknickenden Fears mit den Augen gefolgt war, hob jetzt den Kopf und senkte seinen Blick in die Seele seiner Frau. »Warum?« Seine Stimme klang, als befände sich noch Blut in seinem Rachen, das er nicht heruntergeschluckt hatte. »Warum, Debbie …?« Erst zitterte nur die Hand, die das Licht hielt, wie Espenlaub. Dann Deborahs ganzer Körper. »Verschwinde!« preßte sie hervor. »Verschwinde endlich … aus meinem Leben!« »Das wolltest du – ich weiß. Aber gleichzeitig wolltest du auf nichts verzichten. Auf nichts, was ich für uns beide verdient habe.« Spätestens die Art, wie er argumentierte, hätte jeden noch vorhandenen Zweifel an seiner Identität beseitigt. Seinem sezierenden Blick entging nicht die kleinste Regung. »Aber … aber du warst …« »Tot?« Marvin Manson stieg über Fears hinweg, setzte seinen Fuß auf die Treppe und begann nach oben zu steigen. Schritt für Schritt kam er seiner Frau näher. »Schwarz steht dir gut«, sagte er. Deborahs Gedanken kreisten um das, was Lennox Fears widerfahren war – aber nicht, weil sie Mitleid für das Opfer ihres Mannes empfand, sondern weil sie fürchtete, dasselbe Schicksal zu erleiden. Ein Biß, und – »So schnell werde ich dich nicht erlösen«, erriet Marvin, was hinter ihrer Stirn vorging, und schürte noch die heillose Angst, die in ihr brannte.
Sie versuchte seinem Blick, seiner lähmenden Nähe zu entkommen, versuchte sich abzuwenden und den Gang hinunter zu fliehen. Aber sie hatte keine Gewalt mehr über ihren Körper. Sein Wille paralysierte jeden aufkeimenden Wunsch nach Flucht. Weil sie um ihre Schuld wußte? Weil etwas tief in ihr keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Bestrafung hatte? Ich hätte es nie tun dürfen, dachte sie. Aber für jede Form von Reue war es spät. Marvin hatte im Leben nichts verziehen, und er würde es erst recht nicht im Tode. »Ich bin nicht tot«, sagte er, als er unmittelbar vor ihr stehen blieb. Zwei Stufen trennten ihn noch von ihr, und trotzdem war sein Gesicht in gleicher Höhe mit ihrem. Stattlich war er immer gewesen. Ein beeindruckende, gewinnende Persönlichkeit – wenn er sich etwas von seinem Charme versprochen hatte. Zu Hause, allein mit seiner Frau, war er anders gewesen. Ein Dämon. Ein Monster. Ich hatte das Recht, seine Tabletten gegen Placebos auszutauschen. Es war … Notwehr. Nichts anderes als Notwehr … Der Tycoon Marvin Manson war in ihrer Stadtvilla an einem Herzanfall gestorben. Sie hatten gestritten, und dieses eine Mal hatte Deborah den Streit in voller Absicht provoziert. Sie wußte, worauf ihr Mann am heftigsten reagierte. Nicht auf Untreue. Er war nicht eifersüchtig – nicht einmal das war er gewesen –, und womit sonst hätte er sie mehr demütigen können? Auch Lennox Fears hatte er nicht aus Eifersucht getötet, er hatte ihn zerquetscht wie ein lästiges Insekt. Fears war zum falschen Moment am falschen Ort gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Marvin interessierte nur Deborah. Marvin und Debbie …
Es hatte sie beeindruckt, wie er auf seine Ziele zusteuerte. Im Bett war er eine Niete gewesen, aber alles, was er sonst angefaßt hatte, war zu einer Goldgrube geworden. Das hatte über vieles hinweggetäuscht. Doch ewig hatte der Selbstbetrug nicht halten können. Am Ende waren sie sich nur noch auf die Nerven gefallen, hatten sie angefangen, sich zu hassen … Er streckte die Hände nach ihr aus. Sie wollte zurückweichen. Sie wollte es so sehr, wie sie dieses Leben ohne ihn gewollt hatte. Aber sie schaffte es nicht. Sie hatte auch das andere nicht geschafft. Seine Hände waren warm, als er sie um ihre Arme legte. Warm, nicht totenkalt. »Du …« »Natürlich lebe ich. Was dachtest du? Jemand hat ein Einsehen mit mir gehabt. Jemand schob den Stein vor meiner Gruft beiseite. Und schau, was sie noch getan hat …« Marvin bog den Kopf zur Seite. Sein Hals straffte sich, so daß die roten Male hervorzutreten schienen. »Was – ist das?« »Sie nahm mein Blut – und gab mir im Gegenzug das Leben zurück.« Marvin grinste verunglückt. »Von nun an werde auch ich Blut trinken müssen. Nicht oft. Du weißt, wie es die Zecken tun: Sie können Monate ohne Blut auskommen. Aber wenn sie sich irgendwo festbeißen, dann saugen sie sich prall voll und stillen ihren Bedarf, bis sie –« »Hör auf!« »Ich werde aufhören, wenn ich es will. Doch vorher werde ich mich satt trinken. Nicht bei ihm …« Er nickte zu dem Toten am Fuß der Treppe und bestätigte dann, was Deborah ohnehin vermutet hatte. »Seinetwegen bin ich nicht gekommen. Ich kam wegen dir. Und auch nur, weil ich dir mißgönne, wie eine Made im Speck zu le-
ben. Vielleicht hättest du dein Schandmaul halten sollen, als ich vor dir am Boden kroch und dich anbettelte, mir zu helfen. Vielleicht hättest du dich ein paar Minuten lang verstellen und die treue Gattin mimen sollen, die verzweifelt um mein Leben ringt, anstatt mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Aber du mußtest ja deinen Triumph auskosten, bis mein Herz den letzten Schlag tat …« Er schwieg. Sie starrte ihn an, kreidebleich. Sie wußte, daß es kein Alptraum war – aber sie wußte nicht, was es war. Wie es sein konnte, daß er hier vor ihr stand, nachdem er fünf Tage zuvor in einem Sarg hinter der Steinplatte seiner Gruft verschwunden war. Der von ihr verständigte Notarzt hatte ihn vergeblich zu reanimieren versucht (sie hatte eine volle Stunde verstreichen lassen, ehe sie ihn rief) und schließlich in vollster Überzeugung Marvin Mansons Totenschein ausgefüllt. Zwei Tage lang hatten Freunde und Verwandte an seinem offenen Sarg Abschied von ihm nehmen können. An seinem Tod hatte es nicht den leisesten Zweifel gegeben. An seiner Rückkehr auch nicht … Sie wußte, daß er ihr nicht verzeihen und sie auch nicht davonkommen lassen würde. Er war Marvin Manson. Der flüchtige Tod hatte daran nichts geändert. »Wie –?« Fast bedauernd zuckte er die Schultern. »Ich werde dir nicht sagen, wie ich mein Leben zurück erhielt. Du wirst sterben, ohne auch nur eine Ahnung zu erhalten, was mich … berührt hat. Für dich wird es keine zweite Chance geben …« »Hör auf! Töte mich! Tu, was du ohnehin tun wirst: Bring mich um!« »Kein Sorge, das werde ich. Das werde ich, mein Schatz …«
Er zog sie zu sich. Noch verächtlicher, noch entwürdigender, als er sie vor seinem Tod an sich herangezogen hatte. Er öffnete den Mund. Seine Zähne hatten sich verändert. Sie sahen aus, als gehörten sie einem Tier. Als Marvin Manson sich holte, was er brauchte, mißachtete er ihren bleichen Hals. Er schürfte an einem Dutzend anderer Stellen nach dem flüssigen Gold, das er suchte. Deborahs Marter zog sich über mehrere Stunden hin, begleitet vom traurigen Heulen des Sturms. Begleitet vom gierigen Schmatzen eines Heimgekehrten …
* Gerichtsmedizinisches Institut, Sydney »So, mein Junge, nun schau dir diese Sauerei an.« Die Stimme des alten Mannes weckte in Darren Secada Assoziationen an alte Türen und rostige Scharniere, obwohl um ihn her nur Fliesen und Metall waren, schimmernd und glänzend im Neonlicht – und in der Kälte des Todes. Was Doc Hendriks ihm zeigen wollte, stieß Darren Secada schon ab, noch bevor er richtig hingesehen hatte. Vielleicht, dachte Darren, sollte ich ein wenig an meiner Selbstbeherrschung arbeiten – oder zumindest meine Phantasie ein bißchen zügeln … … aber vielleicht ist Leichenbeschauer auch ganz einfach nur der falsche Job für mich! Stufenlos verstellbare Metallspreizer machten aus dem Brustkorb der Toten eine riesige klaffende Wunde. Die Rippen ragten fast senkrecht auf und erinnerten Darren Secada an die Reißzähne eines urzeitlichen Raubtiers, das gerade etwas sehr Rohes und sehr Blutiges gefrühstückt hatte –
Aha, Innereien, dachte er, als er seinen Blick endlich in die geöffnete Brust der Leiche zwang. Eine kalte Faust wollte ihm das eigene Frühstück vom Magen zurück in die Kehle schieben. Schwarzer Humor schied also aus in Sachen Ekelbekämpfung. Darren hoffte, daß sein Seufzen nur in seinen eigenen Ohren wie ein würgendes Ächzen klang. Zumindest diese Hoffnung erfüllte sich. Doc Hendriks, der im Dienst ergraute Polizei-Pathologe, hatte den verräterischen Laut entweder überhört, oder er ignorierte ihn kurzerhand. Jedenfalls war sein Mitteilungsbedürfnis ungebrochen. Er winkte seinen jungen Schüler näher heran, ohne selbst den Blick von dem Leichnam zu wenden. »Kommen Sie schon und sehen Sie sich das an.« Wie die allermeisten seiner Sätze beendete er auch diesen mit einem vernehmlichen Schniefen. »Die Kälte hier drin«, hatte Hendriks gleich erklärt, als ihm Darren Secada, frisch von der Akademie gekommen, vorgestellt worden war, »Dauerschnupfen, Sie verstehen? Na ja, Sie werden es ja selbst erleben – wenn Sie es lange genug hier drin aushalten.« Momentan zweifelte Darren daran. Natürlich, auch während der Ausbildung hatten sie an echten Toten für die Praxis geübt. Aber das war anders gewesen – vergleichbar dem Unterschied zwischen Spiel und Ernst. Und außerdem: Ihre »Versuchskaninchen« auf der Akademie hatten niemals so ausgesehen! Als Darren Secada endlich an den chromblitzenden Untersuchungstisch herantrat, fragte er sich, ob das Mädchen darauf schön gewesen war – – bevor ihr ein Eisenbahnzug buchstäblich über das Gesicht gefahren war! Sie hatte schwarzes Haar; sehr viel mehr ließ sich nicht feststellen. Darren mochte Schwarzhaarige; aber er haßte sich fast dafür, daß ihm das gerade jetzt einfiel.
Nur eine Schutzmaßnahme deines Unterbewußtseins, versuchte er sich zu beruhigen. Es gelang mehr schlecht als recht. Darren atmete flach durch den Mund. Obwohl man hier drinnen den Tod kaum roch. Der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln neutralisierte den Gestank aus Leibern weitgehend. Nur Erstbesucher glaubten, in pathologischen Einrichtungen alles Mögliche und – vor allem – alles Unmögliche riechen zu können. Diese Reaktion des jungen Mannes entging dem alten Doc jedoch nicht. Er schielte grinsend zu ihm hin und tippte vielsagend gegen seine Nase, deren entzündete Rötung sein Gesicht noch fahler erscheinen ließ, als es ohnedies schon war. Beinahe mochte man meinen, sein Teint hätte sich aus Solidarität dem ungesunden seiner »Patienten« angeglichen. »So eine verstopfte Nase bringt auch Vorteile«, schniefte er. Darren erwiderte das Grinsen, eine Spur kläglicher allerdings. »Was soll ich mir ansehen?« fragte er dann tapfer. Hendriks beugte sich weiter über das tote Mädchen, zuckte aber noch einmal kurz zurück, als ein Ende seines wollenen Schals sich zwischen zwei der aufragenden Rippen verhedderte. Darren hatte plötzlich eine sehr konkrete Ahnung, woher die dunkle Färbung des Schals rührte … Der Doc warf sich das herabhängende Ende in einer bizarr eleganten Geste über die Schulter, dann lehnte er sich wieder vor und deutete mit einem metallenen Spatel in die linke Brusthälfte der Toten. »Hier«, sagte er. »Was sehen Sie da?« Darren zuckte die Achseln. »Das Herz, würde ich sagen.« »Sehr scharfsinnig«, bemerkte Hendriks verschnupft. »Würden Sie das nicht sehen, wären Sie hier am völlig falschen Platz.« Einen Moment lang wünschte sich Darren, er hätte eine (noch) dümmere Antwort gegeben. Vielleicht hätte der Doc ihn dann gleich hochkant hinausgeworfen und ihm seine Entscheidung in Sachen Berufswahl abgenommen …
»Schauen Sie genauer hin, mein Junge«, verlangte Hendriks in beinahe väterlichem Ton. Nein, der Alte würde ihn nicht hinauswerfen. Er schien schon einen regelrechten Narren an ihm gefressen zu haben. Darren seufzte und tat Hendriks den Gefallen. Seine Nasenspitze berührte dabei kurz das kalte Metallgestänge, das die Rippenbögen auseinanderdrückte; es sah aus wie ein monströse High-Tech-Spinne, die über der offenen Brust der Toten kauerte. »Nun?« fragte Hendriks erwartungsvoll. Darrens Auge zog eine gedachte Linie zwischen dem Ende des Spatels, den der Doc noch immer als Zeigestab mißbrauchte, und dem Herzen, das vor über 24 Stunden zum letzten Mal geschlagen hatte. Und dann sah er es; Hendriks hatte ihn sozusagen mit der Nase darauf gestoßen. »Sieht aus wie … ein Schnitt«, murmelte er, »Richtig!« Der Doc wirkte ehrlich erfreut. »Und was sagt uns das?« Auf einmal empfand Darren Secada nichts mehr, das einem Ekelgefühl auch nur nahekam. Schlagartig war es aus ihm gewichen, wie fortgewischt, und etwas anderes war an seine Stelle getreten – Interesse, mehr noch: Neugierde, die in ihm kribbelte, als marschierten Ameisen über seine Nervenbahnen. Wortlos nahm er Hendriks den Spatel aus der Hand und berührte damit den entdeckten Schnitt in der Herzwand, weitete ihn vorsichtig, um festzustellen, wie tief die Wunde war. »Geht glatt durch«, sagte er halblaut. »Ist nicht sehr breit, kaum einen Zentimeter, schätze ich.« Stumm reichte ihm Hendriks ein flexibles Maßband. Secada nahm es und setzte es an. »Acht Millimeter«, nickte er dann. »Gutes Augenmaß«, lobte der Pathologe. »Danke.« Darren lächelte knapp. »Und? Welche Schlußfolgerung ziehen Sie aus Ihrer Feststellung?«
»Ein Messerstich?« meinte Darren. Hendriks wiegte den Kopf. »Dafür sind die Wundränder nicht glatt genug. Würde eher sagen, ein Brieföffner oder etwas in dieser Art. Was wiederum den Schluß nahelegt, daß es sich um eine Tötung im Affekt gehandelt hat. Wer einen Mord vorsätzlich plant, wird sich zur Ausführung kaum eines Brieföffners bedienen, nicht wahr?« »Aber das würde ja heißen –«, setzte Darren an. Hendriks wippte auf den Fußballen. »Genau das heißt es!« Darren wies auf die Tote. »Sie war schon tot, bevor sie vom Zug überfahren wurde?« Der Doc nickte. »Entweder das, oder der Täter hat es zumindest angenommen. In jedem Fall hat er sein Opfer auf die Schienen gelegt, um die Spuren seiner Tat zu verwischen.« »Was er nicht gründlich genug geschafft hat«, sagte Darren. Der Triumph in seinem Ton ließ ihn lächeln im Angesicht des Todes, für eine Sekunde allerdings nur. Dann beugte er sich abermals über die Leiche. »Aber warum ließ sich das nicht schon von außen feststellen? – Oh, deshalb also …« Er hatte die Haut auf Herzhöhe der Toten näher in Augenschein genommen. Die Räder des Zuges hatten zwar Kopf und Beine des Mädchens abgetrennt, aber der Rest des Körpers war dennoch nicht unversehrt geblieben – Schotter und Schwellen hatten ihre Spuren überall hinterlassen. Die kleine Stichwunde fiel nur dann auf, wenn man wußte, wonach man zu suchen hatte. Hendriks legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sehen Sie, mein Junge, das ist es, was mir an diesem Beruf trotz allem gefällt – man kann kleine Wunder wirken.« »Wunder?« echote Darren verwirrt. Hendriks lächelte verschmitzt. »Natürlich. Oder wie würden Sie es nennen, wenn man die Toten zum Sprechen bringt?«
»Oh«, machte Darren, »ja, wenn man es so sieht …« »So muß man es sehen«, behauptete Doc Hendriks ernsthaft, »sonst macht’s keinen Spaß.« »Und was passiert jetzt?« fragte Darren Secada. Hendriks hob die Schultern. »Alles weitere ist Sache der Kollegen vom Morddezernat. – Auch eine Seite, die mir an meinem Job gefällt: Ich brauche die Arbeit nur anzufangen, zu Ende bringen müssen sie andere.« Ein schrilles Läuten brach sich an den gekachelten Wänden. Darren zuckte erschrocken zusammen. Hendriks verstärkte den Druck seiner Hand an der Schulter des jungen Mannes. »Scheußliches Geräusch, ich weiß. Hab’ schon tausendmal darum gebeten, daß der Apparat anders eingestellt wird. Entschuldigen Sie mich kurz.« Ohne sonderliche Eile ging er zum Telefon, das neben der Tür an der Wand befestigt war. Er meldete sich mit einem Niesen, dem er seinen Namen folgen ließ. »Ja, der ist hier«, hörte Darren ihn sagen und wandte sich schon um. »Einen Augenblick, bitte.« »Für Sie.« Hendriks hielt den Hörer in Darrens Richtung. »Für mich?« »Das Saint Gabriel’s Hospital.« »O Gott!« entfuhr es Darren. Eine fürchterliche Ahnung stieg in ihm auf und schnürte ihm die Luft ab. Mit zitternder Hand nahm er den Hörer entgegen, mehr als ein ersticktes »Ja?« brachte er nicht heraus. »Mister Secada?« fragte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. »Ja, Darren Secada hier. Geht es um –?« Natürlich wußte er, worum es ging. Es gab nur eine Person, die ihn mit dem Saint Gabriel’s Hospital verband. »Ja, Mister Secada. Ihre Mutter, sie –«
»Ist sie –?« stieß er hervor. Das letzte Wort wollte ihm nicht von den Lippen. Es schien sich in seinem Hals zu einem stacheligen Etwas zu ballen. »Nein, Mister Secada, aber Ihre Mutter hat mich gebeten, Sie anzurufen. Sie möchte Sie … noch einmal sehen.« Darren ließ den Hörer einfach fallen. Wortlos stürmte er aus dem Raum, durch die Flure und aus dem Institut. Vom Straßenrand winkte er nach dem ersten Taxi, das vorbeifuhr – und ihn stehenließ. Da erst bemerkte Darren, daß seine Hände blutverschmiert waren. Achtlos wischte er sie an seiner Hose ab. Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. Seine Mutter würde ihn umbringen dafür – und er wünschte, sie hätte es noch gekonnt …
* Der wogende Busen der Stationsschwester stoppte Darren Secadas Sturmlauf. »Mister Secada?« »Ja, ja, der bin ich«, stieß Darren schweratmend hervor. Er fühlte sich, als wäre er durch die halbe Stadt gerannt und nicht mit einem Taxi hergekommen, dessen Fahrer er seine gesamte Barschaft in die Hand gedrückt hatte mit der Bitte, die Augen zuzumachen, wenn sie an eine rote Ampel kamen. Im Saint Gabriel’s Hospital angekommen, hatten sich die Aufzüge gegen Darren verschworen und nicht im Foyer angehalten, so daß er die Stufen in die fünfte Etage zu Fuß hoch mußte – und er war nie im Leben schneller Treppen hinaufgelaufen. Die Schwester maß ihn mit so sorgenvollem Blick, als wolle sie ihn unter das nächste Sauerstoffzelt stecken. »Ich muß …«, keuchte Darren. Die Frau unterbrach ihn und nickte. »Ich weiß. Wir haben mitein-
ander telefoniert.« »Oh, gut«, sprudelte Darren hervor. »Dann wissen Sie ja Bescheid. Meine Mutter – ist sie noch …?« »Zimmer 523.« Die Schwester wies den Korridor hinab. »Ich weiß, danke«, sagte Darren. Natürlich kannte er die Zimmernummer. Schließlich kam er seit genau sechs Wochen täglich mindestens einmal hierher, um seine Mutter aufzusuchen. Und heute – zum letzten Mal? Darren schluckte, aber der bittere und schmerzende Kloß wich nicht aus seinem Hals. Seine hastigen Schritte hallten von den kahlen Wänden wider. Das Saint Gabriel’s war nicht die allererste Adresse unter den Krankenhäusern in Sydney; aber zumindest das beste, das die Secadas sich leisten konnten. Im Zimmer seiner Mutter waren die Vorhänge zugezogen. Das Sonnenlicht wurde zur Farbe schmutzigen Goldes gefiltert, und alles in dem schlichten Raum wirkte wie von Patina überzogen – Bridget Secada eingeschlossen. Darren hatte den Eindruck, seine Mutter hätte sich seit seinem gestrigen Besuch nicht bewegt. Noch immer lag sie auf dem Rücken, ihr Körper vom Krebs so ausgezehrt, daß er sich unter der dünnen Bettdecke kaum noch abzeichnete. Wäre der grüne Punkt nicht träge, aber gleichmäßig über den Bildschirm der Vitalüberwachung gewandert, hätte Darren angenommen, er sei zu spät gekommen. Sacht drückte er die Tür hinter sich zu. Bridget Secada wurde dennoch auf ihren Sohn aufmerksam. Ohne die Augen zu öffnen, flüsterte sie seinen Namen. Wie ein jenseitiger Hauch wehte er durch das Zimmer und ließ Darren frösteln. Er trat an das Bett, in dem seine Mutter so winzig, so schrecklich verloren aussah, und ließ sich daneben auf die Knie nieder. Seine Hände faßten behutsam nach ihrer rechten. Warm und seidig war
ihre Haut, wie die eines kleinen Kindes. Und die Hand und die Finger selbst schmal und schön wie ehedem, als habe die Krankheit die Hände seiner Mutter verschont. Melodien lösten sich aus Darrens Erinnerung und schwebten durch seinen Kopf. Er sah sich selbst als kleinen Jungen in seinem Bett liegen, das Licht schon gelöscht, und verträumt der Musik lauschen, die durch den Türspalt zu ihm drang. Manchmal war Darren an solchen Abenden aufgestanden, hatte sich heimlich bis zur Tür des Wohnzimmers geschlichen und seiner Mutter beim Klavierspiel zugesehen, wie sie ganz und gar aufgegangen war in dieser herrlichen Musik. Für Darren würde dieser Anblick der Inbegriff aller Schönheit bleiben, für immer. So würde seine Mutter für ihn weiterleben; dieses Bild von ihr trug er in sich wie eine Fotografie, die seine Seele selbst aufgenommen hatte. Vielleicht, dachte er, nein, bestimmt sogar hätte sie eine große Pianistin werden können. Sie hätte Konzerte gegeben im Sydney Opera House, das Publikum hätte sie gefeiert – hätte Bridget Secada nicht ihr viel zu kurzes Leben lang hart arbeiten müssen, um für ihren Sohn zu sorgen, den sie allein großziehen mußte, nachdem … Darren schluckte hart. Warum wußten Söhne die Verdienste ihrer Mütter erst dann zu würdigen, wenn es zu spät war? Warum hatte er seiner Mutter kein einziges Mal gesagt, daß er ihr dankbar war für alles, was sie ihm zuliebe getan – und worauf sie seinetwegen verzichtet hatte? »Mom …?« Er ahnte ihr Nicken mehr, als daß er es wirklich sah. Tränen trübten seinen Blick. »Ich …«, setzte er an, schluckte abermals und sagte dann nur: »Danke, Mom.« Sie verstand ihn. »Schon gut, Darling.« Er küßte ihre Hand.
»Darren?« »Ja, Mom?« Er drückte ihre Hand ein klein wenig fester und schaute zu ihrem Gesicht auf. Zerbrechlich sah es aus, wie von Künstlerhand aus Porzellan modelliert, die Schatten und Linien darin des trüben Lichtes wegen wie auf einer Kohlezeichnung schraffiert. Die Nase stach schmal und spitz daraus hervor. Ihr rasselnder Atemzug schnitt Darren wie ein Sägemesser in die Brust. »Darren«, fuhr sie hörbar angestrengt fort, »ich habe dich nicht rufen lassen –«, wieder holte sie mühsam Luft,»– damit du mir beim Sterben zusiehst.« »Mom! Was redest du da?« entfuhr es Darren erschrocken. »Du wirst nicht –« Die Worte schmeckten schal und bitter in seinem Mund. »Lügner«, tadelte Bridget Secada ihren Sohn milde. Sie wandte den Kopf um eine Winzigkeit und sah ihn an. Ihre Augäpfel wirkten auf eigenartige Weise runzlig wie wirkliche Äpfel, die zu lange gelegen hatten, und sie waren von der gleichen Farbe wie das matte Tageslicht, wie altes Gold. Sekundenlang schwiegen sie; Darren, weil ihm jedes denkbare Wort das falsche schien, seine Mutter vor Entkräftung. Sie war es schließlich, die das drückende Schweigen brach. »Darren, ich muß dir etwas sagen –« »Schscht«, machte er. »Sag nichts, Mom, ruh dich aus.« Wieder lächelte sie, und er bewunderte sie allein dafür, daß sie lächeln konnte – jetzt, da … die Schatten im Zimmer sich zu verändern, tiefer und kälter zu werden schienen. »Ich muß, Darren. Ich muß es endlich tun. Vielleicht hätte ich es schon viel früher tun sollen. Und vielleicht wirst du mich hassen – für mein bisheriges Schweigen in dieser Sache, oder dafür, daß ich es dir jetzt doch sage.« »Mom, wovon sprichst du?« Darren war entsetzt und zutiefst be-
unruhigt. »Wie könnte ich dich hassen? Mein Gott, du …« Mit einem Schließen ihrer Augenlider gebot Bridget Secada ihrem Sohn, still zu sein. »Hör mir zu, Darren. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich spüre es –«, sie hielt kurz inne und fügte dann mit tiefem Blick hinzu, »– und du spürst es auch.« Darren schlug die Augen nieder. Ja, er spürte es. Spürte, wie die Wärme aus der Hand seiner Mutter floh, irgendwohin. »Dein Vater, Darren –« Unweigerlich ruckte Darrens Kopf wieder hoch. Warum erwähnte sie ausgerechnet jetzt seinen Vater? In all den Jahren hatten sie kaum über den Mann gesprochen, den Darren nie kennengelernt hatte, weil er seine Mutter schon vor der Geburt ihres Sohnes verlassen hatte und wenig später im Ausland bei einem Unfall ums Leben gekommen war. »Darren, dein Vater ist nicht tot!« Stille. Endlose Sekunden lang. Dann ein keuchender Atemzug von Darren, und darin die Worte, fassungslos: »Mein Vater? Nicht tot? Aber warum hast du mir dann immer gesagt, er sei gestorben?« »Es war ein Fehler, vielleicht … Ich dachte, es wäre zu deinem Besten. Aber heute glaube ich, daß ich nicht das Recht dazu hatte, dich zu belügen. Bitte verzeih mir, Darren. Kannst du das?« Im allerersten Moment wollte Darren den Kopf schütteln, ganz instinktiv. Dann aber beherrschte er sich. Mußte er seiner Mutter nicht alles verzeihen, nachdem er in all den Jahren nicht einmal Danke gesagt hatte? »Natürlich, Mom.« Er sah sie an. »Aber warum hast du mich –«, das Wort schien ihm zu hart, wollte ihm nicht von den Lippen, und so umschrieb er es, »– mir nicht die Wahrheit gesagt?« Mühsam hob Bridget Secada die Schultern. »Ich wollte dich beschützen … davor, so zu werden wie dein Vater.«
»Das verstehe ich nicht. War er denn ein … ich weiß nicht, ein Verbrecher?« Seine Mutter lachte kurz auf. Ein Hustenanfall schüttelte sie. »Nein, das war er nicht«, brachte sie angestrengt hervor. »Nur ein bißchen … verrückt, vielleicht.« Ihre Finger krampften sich um Darrens Hand, mit soviel Kraft, wie er sie in ihrem ausgemergelten Körper nicht mehr vermutet hätte. Und es schien, als fließe alle Stärke, die noch darin war, in diesen Händedruck. »Mom, nein, du darfst nicht –«, rief Darren erschrocken, als ihm die Bedeutung des Gedankens bewußt wurde. »Dein Vater, Darren«, keuchte sie, »er lebt in Sydney.« »Wo? Mom, bitte, du –« Ihr Atem wurde langsamer, immer länger wurden die Pausen zwischen den einzelnen Zügen. »Sechsunddreißig …«, flüsterte sie kaum noch verständlich. »Sechsunddreißig?« echote Darren verwirrt. »Was ist mit dieser Zahl?« Wieder mußte er lange auf eine Antwort warten. Dann röchelte Bridget Secada: »Dein … Vater … Sechsunddreißig, Elm Street …« »Ist das seine Adresse?« fragte Darren. Seine Mutter antwortete nicht. Sie atmete nur noch, kurz und flach, schnappend wie ein Fisch auf dem Trocknen. Einmal. Zweimal. Und nach einer Weile ein drittes Mal noch. Dann – nie mehr.
* Selbst der Himmel weinte nur eine Handvoll Tränen um Bridget Secada. Feiner Nieselregen stäubte vom grauen Himmel, während der Totengräber anfing, Erde in die Grube zu schaufeln. Die kleine Trauergemeinde hatte den Friedhof bereits verlassen. Darren Secada war allein zurückgeblieben, nachdem er ein rundes
Dutzend Hände gedrückt und gemurmelte Beileidsbekundungen gehört hatte. Die meisten derer, die sich am Grab seiner Mutter versammelt hatten, waren in den vergangenen Wochen nicht ein einziges Mal bei ihr in der Klinik gewesen. Darren nahm es keinem von ihnen wirklich übel. Mit schwerer Krankheit und nahem Tod umzugehen fiel niemandem leicht; man fürchtete, das Falsche zu sagen, und so halfen sich eben die meisten Leute damit, kurzerhand gar nichts zu sagen. Als der Sargdeckel vollends unter feuchtem Erdreich verschwunden war, verließ schließlich auch Darren den kleinen Friedhof. Sein Mantel war feucht und schwer vom Nieselregen, aber Darren ging nicht deshalb leicht gebeugt wie unter einer schweren Last. Etwas anderes bedrückte ihn – sein nächstes Ziel. Oder vielmehr: die Tatsache, daß er nicht wußte, was ihn dort erwartete. Was mochte sein Vater für ein Mann sein? Würde er ihn überhaupt antreffen unter der Adresse, die seine Mutter ihm auf dem Totenbett genannt hatte? Darren hob die Schultern, als hätte ein anderer die Frage laut gestellt. Er hatte Zeit; es hatte so lange gebraucht, bis er seinen Vater kennenlernen durfte – was zählten da noch ein paar Stunden oder auch ein ganzer Tag? Es war ihm nicht einmal schwergefallen, die Beerdigung seiner Mutter abzuwarten, bevor er sich aufmachte, seinen Vater zu finden. Zwei Straßen weiter stoppte Darren ein Taxi. Er nahm im Fond des Wagens Platz. »Wohin soll’s gehen?« fragte der Fahrer, ein jugendlich wirkender Bursche. »Sechsunddreißig, Elm Street«, antwortete Darren. Den seltsamen Blick des Fahrers fing er nicht auf. In Gedanken war er schon in der Elm Street und bei dem, den er dort zu treffen hoffte – oder fürchtete? »Äh … sind Sie sicher?« hakte der Mann nach.
»Natürlich bin ich sicher.« Der Fahrer wiegte den Kopf und verdrehte, von seinem Passagier unbemerkt, die Augen. »Alles klar, Sir, es geht los.« Die halbherzigen Konversationsversuche des Drivers ignorierte Darren meistenteils, und wenn er darauf reagierte, dann tat er es einsilbig und schroff, bis er es schließlich aufgab, ihn in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Darrens Gedanken beschäftigten sich in erster Linie mit dem Fremden, den er als seinen Vater würde ansehen müssen – und mit der Frage, weshalb seine Mutter ihm weisgemacht hatte, daß sein Vater sich von ihr getrennt habe und im Ausland umgekommen sei. Mehr Worte hatte sie nie über seinen Erzeuger verloren, und Darren hatte in all den Jahren nie gewagt, nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Weil er gespürt hatte, daß seiner Mutter das Thema unangenehm war, und das hatte er respektiert. Und wenn sie einen guten Grund gehabt hatte, ihm die Wahrheit über seinen Vater zu verschweigen, dann war es vielleicht besser gewesen, daß er ohne ihn aufgewachsen war – – WENN sie einen guten Grund hatte, dachte Darren. Nur – welcher Art konnte ein solcher Grund sein? Darren kniff die Augen zu und massierte mit Daumen und Zeigefinger die Stelle direkt über seiner Nase. Stets nistete sich dort Schmerz ein, wenn er über einem Problem brütete, für das er keine Lösung fand. Er verbat sich, weiter darüber nachzudenken. Für dieses Problem würde er eine Lösung finden. Er war buchstäblich auf dem besten Wege dazu. 36, Elm Street … »Wir sind da, Sir.« Die Stimme des Fahrers riß Darren wie aus leichtem Schlaf. Der Ruck, mit dem das Taxi am Fahrbahnrand zum Stehen kam, tat ein Übriges dazu.
»Was? Das ist es? Sind Sie sicher?« Darren schaute zum Seitenfenster hinaus. Sein Spiegelbild zeichnete sich schwach im Glas ab, und so konnte er seinen ungläubigen, beinahe verwirrten Gesichtsausdruck mit eigenen Augen sehen. Aber was hinter dem Fenster lag, nahm seine Aufmerksamkeit viel mehr in Anspruch. »Ja, Sir, ganz sicher. Sechsunddreißig, Elm Street.« Der Fahrer nickte. Darren sah durch Front- und Heckscheibe ein Stückweit die Straße hinauf und hinab. Im näheren Umkreis schien es keine weiteren Häuser zu geben. Zudem waren sie, ohne daß er es gemerkt hatte, fast aus Sydney hinausgefahren. Jenseits des Gehweges erhob sich eine trutzige Mauer aus Stein, gekrönt von schmiedeeisernen Spitzen, die wie Speere aufragten. Dazwischen ringelte sich – Stacheldraht? »Was …«, setzte Darren lahm an, »was ist das? Ich meine – wo sind wir?« »Bitterblue Asylum«, erwiderte der Fahrer ebenso knapp wie für Darren nichtssagend. »Bitterblue Asylum?« echote er verständnislos. »Schlichte Gemüter wie unsereins nennen es einfach –«, der Fahrer hob die Schultern und grinste verunglückt, »– eine Klapsmühle.«
* Darren Secada wartete, bis das Taxi außer Sichtweite war. Erst dann drehte er sich um und ging auf das wuchtige Tor aus dunklem Eisen zu. Es war so hoch wie die Mauer, in die es eingelassen war, und stand man unmittelbar an seinem Fuß und sah nach oben – wie Darren es gerade tat –, dann wirkte es, als schließe es oben direkt mit dem grauen Himmel ab. Bitterblue Asylum. Eine Irrenanstalt also. Darren betete still darum, daß sein Vater hier nur arbeitete …
Geisterhaft wisperte die Stimme seiner Mutter in seinen Gedanken, wie ein Echo hörte er ihre Antwort auf seine Frage, ob sein Vater denn ein Verbrecher war. Nein, das war er nicht. Nur ein bißchen … verrückt, vielleicht. Darren schluckte schmerzhaft. Seine Knie wollten zittern. Ein tiefer Atemzug, die Augen zu – dann ging es ihm wieder besser, ein kleines bißchen wenigstens. Einen Moment lang spielte er ganz ernsthaft mit dem Gedanken, einfach umzukehren, wegzulaufen. Die Vergangenheit ruhen zu lassen. Er hatte seinen Vater über 20 Jahre lang nicht gekannt. Warum sollte er jetzt noch etwas daran ändern? Weil Mom es so gewollt hat, gab er sich selbst die Antwort. Es war sozusagen ihr letzter Wunsch. Darren wollte nicht, daß seine Mutter ihren Mut, ihm die Wahrheit zu sagen, im Angesicht des Todes verschwendet hatte. Also mußte er tun, weswegen er hergekommen war: seinem Vater gegenübertreten. Er arbeitet hier. Er ARBEITET hier! hämmerte sich Darren ein. Dann endlich drückte er den schlichten Klingelknopf neben dem Tor. Ein leises Surren ließ ihn aufschauen – direkt in das dunkle Auge einer Kamera, die von irgendwo jenseits der Mauer via Fernsteuerung justiert wurde. Einen Moment lang fühlte sich Darren wie von einem Zyklopen angeglotzt. Reiß dich zusammen! befahl er sich. Gegen seine bisweilen überbordende Phantasie mußte er irgendwann wirklich etwas unternehmen, ging es ihm durch den Sinn, und vielleicht war ja das Bitterblue Asylum der geeignete Ort dafür … »Was kann ich für Sie tun?« Die krächzende Stimme, scheinbar aus dem Nichts kommend, ließ Darren herumfahren. Dann erst sah er die feinen Rillen einer Gegensprechanlage, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tores in die
Mauer eingebaut war. Er ging hin und räusperte sich, doch seine Stimme klang danach trotzdem weder sonderlich laut noch fest. »Ich, äh …«, begann er, »… möchte zu Mister Secada, bitte.« »Mister Secada?« kam es zurück. »Ja, Mister Brian Secada«, nickte Darren, wobei er kurz zu der Kamera hochsah. »Man sagte mir, ich würde ihn hier antreffen. Vielleicht auch –«, er setzte unbewußt eine hoffnungsvolle Pause, »– Doktor Secada? Oder Professor?« »Oh, Secada.« Die Erwiderung klang im höchsten Maße merkwürdig – nüchtern und … unangenehm distanziert. »Was?« fragte Darren. »Was ist?« Keine Antwort. Dafür schwang das massive Tor völlig lautlos und wie von Geisterhand bewegt vor ihm auf und gab den Blick frei auf eine weitläufige, parkähnliche Gartenanlage mit altem Baumbestand und sorgsam gestutzten Hecken. Das Gelände stieg zur Mitte hin zu einem kleinen Hügel an, und darauf – – die Anstalt. Das trutzige Gebäude thronte förmlich auf dem Hügel, hockte dort wie ein fettes, monströses Etwas, und seine Schatten schienen auf unheimliche Weise länger, als es natürlich gewesen wäre. Darren kam es vor, als ströme etwas Dunkles, Giftiges von der Anstalt aus, das von den Farben ringsum verzehrt würde. Das Gebäude war groß, und durch seine erhabene Lage wirkte es noch gewaltiger, zugleich aber auch bedrückend, ganz so, als könne es jeden Moment von der Hügelkuppe herabstürzen und alles unter sich zermalmen. Der Architekt mußte dereinst ein Faible für Türme und Erker besessen haben, und die Mauern des Hauses waren so finster, als seien sie nachträglich noch mit Ruß oder Kohle geschwärzt worden. Die Fenster waren samt und sonders mit fingerdicken Eisenstäben vergittert, aber Darren konnte förmlich spüren, daß es sich dabei beileibe nicht um die einzigen Sicherheitsmaßnah-
men handelte. Beunruhigt äugte er in die Runde. Der Weg zur Anstalt hinauf wurde von mannshohen Zäunen begrenzt, und Darren war fast davon überzeugt, daß der so idyllisch aussehende Park mit Minen und ähnlichem gespickt war. Welch ein Ort, dachte er. Hier möchte ich nicht mal begraben sein. Als er den ansteigenden Kiesweg zur Anstalt hinaufging, hielt Darren sich unbewußt in der Mitte zwischen den Seitenbegrenzungen. Mochte gut sein, daß sie unter Strom standen. Aus irgendeinem Grunde schien Darren hier buchstäblich alles möglich. Er trat in die Schatten der Anstalt, lange bevor er das Portal aus eisenbeschlagenem dunklen Holz erreichte. Als er dann davorstand, wiederholte sich das gespenstische Schauspiel von vorhin – auch dieses Tor öffnete sich wie von selbst, nur geschah es hier nicht lautlos. Die Angeln kreischten schier nach Öl, und das Geräusch hallte im Dunkel jenseits der Schwelle wider, als schrie dort ein kollektiv wahnsinnig gewordener Knabenchor. Wer weiß …? Der Gedanke kroch wie Rauhreif hinter Darrens Stirn vorüber. »Sir?« Die Stimme kam von irgendwo aus der Dunkelheit hinter dem Portal. »Äh … ja?« erwiderte Darren. »Kommen Sie herein.« Ein einziger Schritt ließ die Finsternis auf der anderen Seite der Schwelle zu schattenhafter Helligkeit werden. Darren fand sich in einer beinahe kathedralenhaften Eingangshalle wieder. Der Fußboden bestand aus schwarzem Marmor, die Wände mochten zwar tatsächlich hell sein, wirkten aber, weil kaum Licht in die Halle fiel, wie aus dunklem Nebel. Vage erkannte Darren eine Reihe von Türen, die nach allen Seiten abgingen, und weit über sich zwei rundum führende Galerien, die über erstaunlich schmale Trep-
pen zu erreichen waren. In der Mitte der Halle befand sich ein kreisförmiger Empfangstresen. Daß er nach oben hin zusätzlich verglast war, sah Darren erst, als er fast schon mit der Nase gegen die Scheibe stieß. Dahinter saß – eine Krähe? Die ältere Lady wies zumindest auf den ersten Blick eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit einem solchen Vogel auf. Ihr Gesicht war schmal, die Nase spitz, das Kinn fliehend, und die Augen klebten wie schwarze Knöpfe hinter der Brille. Ihre Stimme hatte drunten am Tor nicht nur wegen des Lautsprechers krächzend geklungen. »Was führt Sie zu uns, Sir?« fragte sie. Fröstelnd hob Darren die Schultern. »Wie ich schon sagte … Ich möchte Mister Secada sprechen.« »Sie möchten ihn sprechen?« »Ähm … wenn ich ungelegen komme, dann … ich meine, ich kann warten«, beeilte sich Darren zu sagen. Er tat längst mehr, als die Wahrheit nur zu ahnen; aber er – oder zumindest sein Unterbewußtsein – weigerte sich hartnäckig, sie zu akzeptieren oder gar in konkrete Worte zu fassen. »Ich glaube nicht, daß Sie das können«, krächzte die hagere Frau, und Darren wußte, daß ihre Antwort nichts damit zu tun hatte, daß sie meinte, er hätte zu wenig Zeit. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu … Mister Secada?« Das Wörtchen Mister schien ihr Schwierigkeiten zu bereiten. Mein Gott, schoß es Darren durch den Kopf, wer oder was ist mein Vater? Der Lehrer von Hannibal Lector? Er riß sich zusammen und versuchte so unbeteiligt wie nur möglich zu klingen. »Ich bin Mister Secadas Sohn.« Er betonte den Mister ganz besonders. »Sein … Sohn?« Die Brille der Frau rutschte bis zur Nasenspitze nach unten, als sie Darren über deren Rand hinweg regelrecht an-
starrte. »Ja, sein Sohn.« Darren hielt mit seiner Ungeduld nicht hinter dem Berg. »Hören Sie, Ma’am, ich möchte nur meinen Vater sehen und mit ihm reden. Und ich will von Ihnen nur eines wissen: Ist das möglich?« »Nun, wissen Sie, ich …«, wand sich die Krähe und dann beeilte sie sich zu sagen: »Einen Moment, bitte, ja?« Sie riß den Hörer förmlich von der Telefonanlage, drückte einen der zahllosen Knöpfe und wandte sich dann ab. Darren verstand nicht, was sie sagte, aber als sie auflegte und sich ihm wieder zudrehte, klebte ein starres Lächeln um ihre fast unsichtbaren Lippen. »Doktor Kafka wird gleich bei Ihnen sein.« »Doktor … Kafka?« Die Frau nickte. »Doktor Kafka leitet unsere … Klinik.« »Anstalt«, konnte sich Darren nicht verkneifen zu sagen. »Wie bitte?« Die Stimme kam von oben. »Mister Secada?« Sein Name hallte hohl von den Mauern wider. Darren sah auf. In den Schatten über ihm bewegte sich eine weiße Gestalt, an ein klassisches Gespenst erinnernd. »Ja?« »Kommen Sie bitte herauf.« Wieder klang das Echo der Worte dumpf wie aus Grabestiefe. Darren ließ die Empfangsdame grußlos zurück und stieg die knarrenden Stufen zur ersten Galerie empor – und blieb am Treppenende verdutzt stehen. »Sie sind Doktor Kafka?« fragte er. »Ja, und Sie sind nicht der erste, der sich darüber wundert, daß ich eine Frau bin.« Die dunkelhaarige Mittvierzigerin lächelte ihn entwaffnend an. »Na ja, ich …«, meinte Darren. »Schon gut, kommen Sie, Mister Secada.« Sie verschwand wehenden Kittels hinter der nächsten Ecke, und Darren hatte Mühe mit ihr
Schritt zu halten. Einladend hielt sie ihm eine der vom Korridor abzweigenden Türen auf. »Bitte sehr.« »Danke.« Darren trat an ihr vorbei. Zumindest Dr. Kafkas Büro sah so aus, wie Darren sich das Allerheiligste eines Irrenanstaltsleiters vorgestellt hatte: insgesamt düster, mit dunklem Mobiliar ausstaffiert und vollgestopft mit Büchern. Und über allem hing wie eine Wolke der Duft von Pfeifentabak … Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch räumte Dr. Kafka ein paar Bücher von einem der beiden Besuchersessel, dann nahm sie in dem hochlehnigen Stuhl hinter dem mit allen möglichen Dingen übersäten Monstrum Platz und bedeutete Darren wortlos, sich ebenfalls zu setzen. Weiterhin schweigend, nahm sie eine Pfeife zur Hand, stopfte sie gewissenhaft und zelebrierte das Anzünden. Erst nachdem sie sich in bläulichen Nebel gepafft hatte, sprach sie Darren an. »Sie sind also Brian Secadas Sohn?« Ihr Ton war ganz und gar jovial, weder zweifelnd noch wirklich interessiert. »Ja, der bin ich wohl.« Darren fühlte sich mit jeder Sekunde, die er hier zubrachte, unbehaglicher. Die Situation hatte etwas durch und durch Irreales. »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater«, forderte ihn die Anstaltsleiterin auf. »Ich soll …?« entfuhr es Darren. »Hören Sie, ich bin nicht hier, um von meinem Vater zu erzählen! Ganz abgesehen davon, daß ich das nicht kann –« »– weil Sie ihn nie kennengelernt haben.« Eine Bewegung hinter den Schwaden, die Darren als Nicken interpretierte. »Ich weiß.« »Sie wissen?« Darren rang um Fassung. »Warum fragen Sie dann so …« »… so dumm?« Wieder bewegte sich die Gestalt inmitten des Pfeifenqualms. Diesmal glaubte Darren, etwas wie ein entschuldigendes Schulterzucken darin zu erkennen. »Tut mir leid, reine Macht der Gewohnheit.«
»Woher wissen Sie über mich Bescheid?« fragte Darren. »Nun, Ihr Vater ist schon eine ganze Weile bei uns.« »Er ist … Patient hier?« »Natürlich.« »Aus welchem Grund? Ich meine, was … hat er? Welche Krankheit?« Dr. Kafka ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie blies neuen Rauch aus, als wolle sie die »Mauer« zwischen sich und ihrem Besucher noch verstärken. »Hat Ihnen das niemand gesagt?« erwiderte sie dann. »Nein. Würde ich sonst fragen?« »Vermutlich nicht. – Warum kommen Sie gerade jetzt zu uns, um Ihren Vater zu sehen, Mister Secada?« Darren seufzte. Dann erzählte er, wie er erfahren hatte, daß sein Vater noch lebte und hier lebte. »Das tut mir leid«, sagte Dr. Kafka, »das mit Ihrer Mutter, meine ich. Ich fürchte nur …« »Was?« Darrens Ton wurde eine Spur schärfer, als die Anstaltsleiterin zögerte. »Daß ich umsonst hergekommen bin? Daß ich meinen Vater nicht sehen kann?« »Nein, das wollte ich nicht sagen«, antwortete Kafka. »Ich fürchte nur, daß Ihr Vater Ihnen die Mutter nicht wird ersetzen können.« »Hören Sie endlich auf mit diesen Spielchen, Doktor!« Darren erhob sich, stützte die Hände auf die Schreibtischkante, beugte sich vor – und sog den Pfeifenqualm tief in seine Lungen, als er zu ausführlichem Protest ansetzen wollte. Hustend und um Atem ringend preßte er dann hervor: »Was ist mit meinem Vater los?« Kafka erhob sich aus dem Nebel. »Das sollten Sie sich vielleicht besser selbst ansehen …«
*
Sie verließen Dr. Kafkas Büro durch eine zweite Tür, die Darren Secada zuvor im Schatten der vollgestopften Bücherregale nicht einmal aufgefallen war. Und erst dahinter lag die eigentliche Anstalt. Die Bereiche des Gebäudes, die Darren bis dahin gesehen hatte, hatten lediglich fassadenhafte Funktion. Aller Düsternis und Unheimlichkeit zum Trotz waren sie doch nur gewöhnliche Teile eines solch großen Hauses gewesen. Hinter dieser Tür allerdings war nichts mehr gewöhnlich. Zu beiden Seiten des Gangs lagen stahlverstärkte Türen ohne erkennbare Schlösser. Darren nahm an, daß sie elektronisch verriegelt wurden. Auf Augenhöhe waren winzige Gucklöcher darin eingelassen, durch die er sich unablässig beobachtet, angestarrt fühlte, während er hinter Dr. Kafka auf das Metallschott am Ende des Korridors zuging. Die Anstaltsleiterin schien seine Gedanken zu lesen. »Keine Sorge«, sagte sie, »diese Zellen sind allesamt unbesetzt.« Er sah wie zufällig nach links und rechts und fragte unbehaglich: »Ach ja? Sind Sie sicher?« »Ziemlich sicher.« Darren konnte ihr knappes Lächeln fast spüren. Dr. Kafka öffnete das Schott am Gangende mittels einer Magnetkarte und eines Codes, den sie in eine Zahlentastatur daneben eingab. Dahinter führten verwinkelte Betonstufen nach oben und unten. Ihr Weg führte sie hinab. Weit hinab. Obwohl sie keine Fenster passierten, wußte Darren, daß sie sich schon unter dem Bodenniveau befinden mußten. In regelmäßigen Abständen führten Sicherheitstüren vom Treppenhaus ab. Darren glaubte hinter den metallenen Toren etwas zu hören – ein Wimmern manchmal, dann einen erstickten Schrei, und einmal sogar ein Kinderlied, gesungen von zittriger Stimme. Aber niemand begegnete ihnen. Weiter unten wichen die Betonwände Mauern aus Bruchsteinen,
und auch die Treppe bestand hier nur noch aus grob behauenem Stein. Von den Absätzen führten keine Metalltüren mehr ab, sondern wuchtige Tore aus altem Holz, die mit Metall beschlagen und stabilisiert waren. Unversehens fühlte Darren sich in eine mittelalterliche Burg versetzt, wie sie in Europa zu finden waren. Der Eindruck verstärkte sich noch, als Dr. Kafka ihn schließlich durch das letzte dieser Tore führte. Ein niedriger, muffig riechender Korridor nahm sie auf, in das diffuse Licht einiger nackter Glühbirnen getaucht. Und entlang des Gangs sah Darren grobgezimmerte, aber nichtsdestotrotz sichtlich massive Türen, die zweifelsohne in etwas wie Kerkerzellen führten. Unmittelbar neben dem Tor zur Treppe lag eine Art Wachzimmer. Darin saß ein bulliger Kerl in weißer Kleidung, die Füße auf dem Tisch, die Nase in einem Magazin, die Hand im Hosenbund. Als er Dr. Kafkas ansichtig wurde, kippte er fast vom Stuhl. Es war offensichtlich, daß hier unten nicht mit außerplanmäßigen Visiten gerechnet werden mußte. Dr. Kafka betrat den schmalen Raum, und Darren folgte ihr. Rechts der Tür sah er einen gittergesicherten Schrank und darin eine Anzahl von Schußwaffen – sowie einige Dinge, die er hier noch weniger vorzufinden erwartet hätte und die in gewisser Hinsicht noch effektiver sein mochten als die Gewehre und Pistolen. Darren versuchte nicht daran zu denken, daß er hier, an diesem furchtbarsten aller Orte, seinem Vater gegenübertreten sollte … Dr. Kafka überging die laxe Dienstauffassung des Pflegers und stellte Darren vor. Die Züge des hünenhaften Kerls entgleisten und erstarrten dann einen Moment lang zu einer Grimasse, die ihn seiner Statur zum Trotz fast lächerlich wirken ließ. »Das ist der Sohn von –?« Darren wollte gar nicht wissen, welches Wort der andere für sich
behalten hatte. Dr. Kafka nickte. »Kommen Sie mit. Mister Secada möchte seinen Vater sehen.« »Das glaub’ ich nich’«, stammelte der Riese. »Glauben Sie es ruhig.« Darren war es leid. So sehr er den Augenblick der Begegnung auch fürchtete, dieses endlose Vorspiel war ihm längst schon zuwider. Er drehte sich um und verließ den engen Raum. Dr. Kafka und der Gorilla folgten ihm, drängten sich an ihm vorbei und gingen den düsteren Gang hinunter. Darren war zu keinem auch nur halbwegs schnellen Schritt fähig. Sein Blick hing wie gebannt an der Reihe von Türen, die sich links von ihm hinzogen. Jeweils auf Kopfhöhe war ein fingerdickes Gitter darin eingelassen, die Holzladen, mit denen man die Luken verschließen konnte, standen teilweise offen. In den Zellen dahinter brannte kein Licht. Aber Darren meinte trotzdem, etwas sehen zu können – schattenhafte Gestalten, das matte Schimmern feuchter Augen … … und er hörte etwas; mehr, als ihm lieb war. Unverständliche Laute meistenteils, sinnloses Gebrabbel; dazwischen aber auch unflätigste, ordinäre Beschimpfungen und – am schlimmsten von allem – Schreie, die nie zu enden schienen, obschon ihnen die Kraft vielleicht seit Jahren schon fehlte. Darren kam sich vor, als laufe er durch einen Hagelschauer. Er schauderte so sehr, daß es wehtat – und er war so gefangen in diesem Entsetzen, daß er wie blind gegen den breiten Rücken des Pflegers lief. Der Riese und Dr. Kafka waren vor einer der letzten Türen des Gangs stehengeblieben. Die Anstaltsleiterin wies stumm auf die verschlossene Holzklappe. Der Pfleger öffnete sie, hakte dann eine Taschenlampe von seinem Gürtel und leuchtete durch die Luke. »Ja, wo ist er denn?« Er kicherte blöde. Dr. Kafkas strafenden Blick
bemerkte er nicht einmal. »Ah, hier«, sagte er dann und trat zur Seite, ohne die Lampe wegzunehmen. Dr. Kafka wies mit einladender Geste auf die Sichtöffnung. »Bitte sehr«, forderte sie Darren auf. Darren atmete tief durch. Einen Moment lang war er versucht, die Anstaltsleiterin doch noch um weitere Erklärungen zu bitten, ließ es aber sein, weil er wußte, daß er sie nicht bekommen würde. Dann trat er mit einem Schritt an die Tür, schaute zwischen den Gitterstäben hindurch und sah sofort, was der Lampenschein wie ein Spotlight aus dem Dunkel riß. Mit einem Aufschrei prallte Darren Secada zurück! Er rang nach Luft und schmeckte zugleich, wie sein Mund sich mit bitterer Galle füllte. Schwäche fiel ihn an wie ein wildes Tier, alles Blut schien nicht nur aus seinem Gesicht, sondern aus seinem ganzen Körper gewichen zu sein. »N-nein«, preßte er dann fast tonlos hervor, »das kann nicht sein. Das ist nicht mein Vater!« Er wußte nicht, welcher Teufel ihn ritt, als er sich auf Dr. Kafka stürzen wollte. Der Pfleger hielt ihn mit einer scheint’s mühelosen Bewegung davon ab. Darren zappelte im Griff des Hünen. »Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« schrie Darren. Dr. Kafka nickte, und die Anteilnahme in ihrem Gesicht war so tief wie echt. »Doch, Mister Secada, das ist Ihr Vater. Er ist ein –«, sie zuckte die Schultern und versuchte etwas wie ein Lächeln, das völlig mißriet, »– ein Vampir.«
* Darren Secada starrte Dr. Kafka offenen Mundes, völlig entgeistert an. Und nach einer ganzen Weile – lachte er. Leise und unsicher erst,
bis es dann klang, als schluchze er vor Verzweiflung. »Mein Vater ist ein – was bitte?« brachte er irgendwie hervor. Seine eigene Stimme schien ihm fremd, und er hörte sie auch wie aus dem Mund eines anderen. »Nun«, meinte Dr. Kafka, »ich habe mich vielleicht etwas unglücklich ausgedrückt. Fakt ist, daß Ihr Vater sich für einen Vampir hält.« Den Anblick seines Vaters machte dieser feine Unterschied um keinen Deut leichter. Darren sah abermals durch das Gitterloch, und diesmal hielt er den Blick fest auf den Insassen der Zelle gerichtet, obwohl alles in ihm danach schrie, es nicht zu tun. Der Mann, der dort im Licht der Taschenlampe am Boden kauerte, sah furchtbar aus. Seine Haut war beinahe so bleich wie die eines Albinos, seine Lider rot und eitrig entzündet, und seine Augen schienen wie aus sprödem Glas gemacht. Das verfilzte Haar reichte ihm bis zu den mageren Schultern, und der zerschlissene Anstaltskittel entblößte seine dürre Gestalt eher, als daß er Brian Secada kleidete – – wenn dieser Mann denn wirklich Brian Secada war. Denn dieser Mann da, der laut Dr. Kafka Darren Secadas Vater war, mußte an die hundert Jahre alt sein! »Sie wundern sich wahrscheinlich über sein Alter, nicht?« Diesmal konnte es für die Anstaltsleiterin nicht schwer gewesen sein, Darrens Gedanken zu erraten. Sie standen ihm wie mit Leuchtfarbe ins Gesicht geschrieben. »Unter anderem«, murmelte Darren. »Ihr Vater ist gerade fünfzig geworden«, behauptete Dr. Kafka. »Das … das kann nicht sein«, gab Darren lahm zurück. Sein Blick fixierte wider seinen Willen das Ding, das der Mann dort in seinen Händen hielt. Es dauerte eine Weile, bis Darren erkannte, daß es irgendwann einmal eine Puppe gewesen sein mußte, aus Stoff gefertigt und mit Schaumstoff gefüllt.
Jetzt aber war es nur ein zerrissenes Etwas, das vor dunkler Nässe troff – – und in das der Mann plötzlich seinen zahnlosen Mund grub! Darren sah, wie der Mann (sein Vater? Nein! Bitte – nicht!) die alte Puppe mit bloßem, faulig dunklem Zahnfleisch bearbeitete … und aussog! Der spitze Adamsapfel des Alten tanzte beim Schlucken der dunklen Flüssigkeit auf und ab, als tanze hinter der faltigen Haut seines Halses ein Jo-Jo am Band. »Wir tränken unserem Vampir sein Lieblingsspielzeug immer mal mit Schweineblut«, erklärte der Pfleger, und seinem Tonfall war unüberhörbar zu entnehmen, daß es ihm nicht um die reine Information ging. Es machte ihm Spaß, Darren zu schockieren – so wie es ihm wahrscheinlich Spaß machte, jede Kreatur auf Erden zu quälen, über die er sich erhaben fühlte. »Hält ihn bei Laune und stellt ihn ruhig«, ergänzte der Gorilla grinsend. »Schweineblut?« fragte Darren fassungslos. Er wandte sich an Dr. Kafka. »Sie schulden mir eine Erklärung«, sagte er mit belegter Stimme. »Ja, aber nicht hier«, antwortete sie. »Gehen wir nach oben.« Dr. Kafka setzte sich bereits in Bewegung, aber Darren blieb noch stehen. »Kann ich denn nicht mit ihm reden?« fragte er flehend. »Versuchen Sie es.« Darren trat wieder an die Tür. Dreimal mußte er ansetzen, und selbst dann brachte er nur rauh hervor: »Dad?« Der Mann, der irgendwann einmal Brian Secada gewesen sein mochte, sah auf. Sein blutverschmierter Mund verzog sich und sah aus wie der eines schlechtgeschminkten Clowns. Und dann – überwand er die Distanz zur Tür mit einem einzigen Sprung! Er flog förmlich heran. Und sein Arm schoß zielsicher zwischen zwei Gitterstäben hindurch, die Finger zur Kralle gekrümmt – und die lan-
gen Nägel zogen brennende Striemen über Darrens Wange. »Niemand kann mit ihm reden«, hörte er Dr. Kafkas Stimme im Zurücktaumeln und über seinem eigenen Schrei. »Und niemand sollte es versuchen.« Sie ging weiter. Und Darren folgte ihr. Erst als sie die Treppe bis zu Dr. Kafkas Büro fast schon hochgestiegen waren, fand Darren seine Stimme wieder und fragte: »Ist es denn wirklich nötig, ihn in diesem … Loch einzusperren?« Dr. Kafka sah sich nicht nach ihm um, als sie sagte: »Mister Secada, glauben Sie mir – ich habe im Bitterblue Asylum schon Patienten geheilt, die anderswo als hoffnungslos galten. Aber Ihren Vater könnte nicht einmal ein Wunder heilen – und ich glaube an Wunder.« »Das ist nicht unbedingt eine Antwort auf meine Frage.« »Na gut, die Antwort ist: Ja, es ist notwendig, Ihren Vater und die anderen dort unten einzusperren.« Dr. Kafka öffnete eine Sicherheitstür, führte Darren durch einen anderen Gang als vorhin, und schließlich betraten sie ein anderes Büro. Es war nicht vollgestopft mit Büchern, sondern mit Akten, die scheinbar wahllos auf Regale und Schränke verteilt worden waren. Mochte sein, daß ein System dahinter steckte, aber Darren war es herzlich egal. Er ließ sich erschöpft und stöhnend auf einen unbequemen Holzstuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine gebeugte Gestalt bebte in lautlosem Schluchzen. Er fühlte sich, als hätte er Fieber. Wortlos stieß Dr. Kafka ihn an, und als er aufsah, reichte sie ihm ein Glas Wasser. »Haben Sie nichts … Härteres?« fragte Darren fast flehend. »Natürlich.« Von irgendwoher zauberte sie eine Flasche Cognac nebst passendem Glas, füllte es beinahe halbvoll und gab es Darren, der einen
großen Schluck nahm und sich dann ganz und gar auf den Schmerz konzentrierte, mit dem seine Speiseröhre und noch in derselben Sekunde seine Magenwände in Flammen aufzugehen schienen. Das Gefühl trieb ihm Tränen in die Augen, aber es war immer noch erträglicher als der Gedanke an die Kreatur, die angeblich sein Vater war. Nun, im Grunde zweifelte Darren nicht einmal mehr daran. Warum sollte ihn jemand derart belügen? Aber diese Einsicht beantwortete nicht eine einzige der zahllosen Fragen. Und dann stellte er doch nur eine; eine allerdings, die alle anderen mit einschloß. »Warum?« Das Wort tropfte gleichsam in die Stille und zog ein Echo nach sich, das nicht zu hören, wohl aber zu spüren war. Darren fühlte es wie ein sachtes Vibrieren, das ihm über die Haut strich und die feinen Härchen aufrichtete. Und auch Dr. Kafka schien ein klein wenig zu frösteln. Ihre Lippen bewegten sich eine Weile lautlos, als probe sie im stillen die richtigen Worte. »Die Ursache für die … Veränderung Ihres Vaters ließ sich nie ganz ergründen«, begann sie dann endlich. »Er selbst konnte kaum brauchbare Angaben zum Hergang der Ereignisse machen, und das Wenige, was er erzählte – nun, daraus ließen sich keine Schlüsse ziehen, zumindest nicht im medizinischen Sinn.« »Aber … was hat ihn zu dem gemacht, was jetzt dort drunten in Ihrem Kerker hockt?« fragte Darren. Ein schriller Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen. Dr. Kafka zuckte hilflos die Schultern. »Niemand weiß es.« Sie zögerte kurz, als überlege sie, ob sie das Folgende überhaupt preisgeben sollte. Schließlich tat sie es doch: »Wir wissen nur, wo es passiert ist.« »Wo?« hakte Darren nach, als die Ärztin nicht weitersprach.
»Dreihundertdreiunddreißig, Paddington Street.« Darren sah verwirrt drein. »Und … was ist dort geschehen?« Dr. Kafka versuchte einmal mehr zu lächeln, aber es mißlang wie zuvor. Wieder zuckte sie die Achseln. »Dort hat es – na ja, gespukt.« »Gespukt?« echote Darren. Weder sein Ton noch seine Miene ließen Zweifel daran, was er von der Antwort der Anstaltsleiterin hielt: gar nichts. »Ich weiß, wie sich das anhören muß …«, sagte sie. »Aber es gibt keine andere Erklärung.« »Das ist keine Erklärung«, stellte Darren fest. »Lassen Sie mich etwas weiter ausholen«, bat Dr. Kafka. Sie zog sich einen Stuhl heran. »Was kommt jetzt?« fragte Darren, während sie Platz nahm. »Die große Märchenstunde? Mit Gespenstern und Vampiren?« »So ungefähr«, bestätigte Dr. Kafka völlig ernsthaft. Und dann berichtete sie – – von einem merkwürdigen Haus in der Paddington Street, in dem es vor einigen Jahren zu unerklärlichen Ereignissen gekommen war. Menschen wären dort zu Tode gekommen, unheimliche Erscheinungen beobachtet worden. Darrens Vater war Dr. Kafkas Worten zufolge der einzige Mensch, der das Haus betreten und es lebend wieder verlassen hatte – allerdings zum Greis gealtert und besessen von der Vorstellung, ein Vampir zu sein.* »… und bevor Sie fragen«, kam sie zum Ende ihrer Ausführungen, »niemand hat je die Gründe für diese Geschehnisse in Erfahrung gebracht. Im Gegenteil, von höchster Stelle schien so etwas wie eine Nachrichtensperre verhängt worden zu sein. Und irgendwann geriet die Geschichte mehr oder weniger in Vergessenheit.« »Was hatte mein Vater dort überhaupt zu suchen?« wollte Darren wissen. Seine Stimme klang leise, fast kleinlaut. Das Gehörte hatte ihn stärker beeindruckt, als er es sich in diesem Moment selbst ein*siehe Vampira H02: »Der Moloch«
gestanden hätte. Er sah Dr. Kafka an. »Ich meine – wer war mein Vater, bevor er zum –«, er unterbrach sich selbst mit einem kläglichen Laut, ehe er weitersprach, »– Vampir wurde?« »Die Behörden hatten ihn um Hilfe gebeten«, antwortete Dr. Kafka. »Ihr Vater war Parapsychologe.« »Parapsychologe?« wiederholte Darren ungläubig. »Sie meinen, er jagte Geistern nach und ähnlichen Spinnereien?« »Wenn Sie so wollen: ja.« »Kein Wunder, daß meine Mutter meinte, er sei ein ›bißchen verrückt‹ …« Zu Darrens Erstaunen nickte Dr. Kafka. »Genau das hat sie gedacht. Deswegen hat sie sich auch von ihrem Vater getrennt.« »Woher wissen Sie das?« fragte Darren. »Als Ihr Vater zu uns gebracht wurde, nahmen wir Kontakt zu Ihrer Mutter auf. Sie war die einzige zumindest ehemalige Verwandte, die sich ausfindig machen ließ. Ihr Vater selbst scheint sein … vorheriges Leben völlig vergessen zu haben.« »Warum hat sie mir nie ein Wort davon gesagt?« Darren stellte sich die Frage eher selbst als Dr. Kafka. Sie antwortete trotzdem: »Können Sie das wirklich nicht verstehen?« Wie in einer Vision tauchte das Bild der schweineblutsaufenden Kreatur aus dem Keller vor Darrens innerem Auge auf. Er nickte nur, stumm vor Grauen. Als Dr. Kafka ihm nachschenken wollte, wehrte er ab. »Nein, danke«, sagte er. »Damit –«, sein Blick wies zu der Cognacflasche hin, »– löse ich das Problem auch nicht.« »Wollen Sie das denn?« fragte Dr. Kafka überrascht. »Das Problem lösen, meine ich.« Darren nickte. »Ich möchte jedenfalls versuchen, herauszufinden, was damals in diesem Haus in der Paddington Street geschah.« Er hob die Schultern. »Na ja, zumindest werde ich mich dort einmal
umschauen.« »Viel Glück«, sagte Dr. Kafka. »Aber andererseits – vielleicht sollten Sie die Geister der Vergangenheit besser ruhen lassen. Und das meine ich durchaus wörtlich.« Sie lächelte schief. Darren erhob sich. »Wissen Sie was, Doc? Geister wecken und all so was – das ist mein Job.« Er erwiderte Dr. Kafkas Lächeln und verabschiedete sich.
* Der englische Einfluß war in der Bauweise links und rechts der Paddington Street nicht zu übersehen – soweit Darren Secada etwas von den Häusern und Villen erkennen konnte. Die meisten lagen nämlich inmitten parkähnlich angelegter Grundstücke, versteckt hinter üppigem Baumbestand und hohen Sträuchern. Dazwischen gab es hie und da eine Anzahl schmucker Reihenhäuser, ebenfalls im viktorianischen Stil, sauber und gepflegt, mit kleinen Vorgärten. Durchaus die richtige Umgebung für ein Spukhaus, dachte Darren, während er den Bürgersteig entlang ging. Er hatte sich von einem Taxi am Anfang der Paddington Street absetzen lassen, um den Weg bis zur Hausnummer 333 zu Fuß zu gehen, aus einer Laune heraus. Vielleicht auch deshalb, weil sein Körper nach dem Aufenthalt im Bitterblue Asylum unterbewußt nach frischer Luft verlangte. Der nebelartige Nieselregen und das trübe Licht des Tages verstärkten für Darren noch den Eindruck, durch das London aus der Zeit von Jack the Ripper oder Sherlock Holmes zu laufen. Die Vorstellung gefiel ihm auf morbide Art, und er genoß das leichte Frösteln, das sie ihm bescherte. Als er 333, Paddington Street erreichte, glaubte Darren, jemand würde einen Kübel Eiswasser über seinem Kopf ausgießen. Er zuckte zusammen, und dann fror er förmlich ein – – denn es gab kein Haus mit dieser Nummer. Nur ein brachliegen-
des Grundstück, auf dem sich nichts als Unkraut angesiedelt hatte. Darren schaute sich nach allen Seiten um. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur sein Eindruck, daß die 333 der Schandfleck der ansonsten so idyllisch wirkenden Paddington Street war, bestätigte sich. Was war mit dem Haus geschehen, von dem Dr. Kafka erzählt hatte? Jenem angeblichen Spukhaus, in dem sein Vater offenbar den Verstand verloren und den Wahnsinn gefunden hatte? Anhand der benachbarten Anwesen überzeugte sich Darren davon, daß es sich bei diesem verwilderten Grundstück wirklich um die Nummer 333 handelte. Es gab keinen Zweifel – die Adresse stimmte. Nur alles andere nicht! Darren versuchte seine Gedanken zu ordnen. Es gab keinen Grund zu verzweifeln, beruhigte er sich. Dr. Kafka hatte gesagt, daß damals ein Haus hier gestanden hatte. Vielleicht hatte man es ja in der Zwischenzeit einfach abgerissen. Diese Möglichkeit schien Darren um so wahrscheinlicher, wenn er bedachte, daß es sich ja um ein Geisterhaus gehandelt haben sollte. Um weiteren Zwischenfällen vorzubeugen, hatte man sich seiner wohl auf diese Weise entledigt. So mußte es sein! Aber Darren wußte, spürte, daß es nicht so war … Es gab keinen Zaun, der das Grundstück eingrenzte, und so konnte Darren es problemlos betreten. Unkraut, Disteln, Brennesseln und dergleichen mehr reichten ihm stellenweise fast bis zur Hüfte, während er andernorts über völlig kahlen Boden schritt. Das Erdreich war feucht, und seine Füße sanken hie und da bis zu den Knöcheln ein. Die Nässe der Pflanzen tränkte den Stoff seiner Hosenbeine. Darren hielt den Blick gesenkt. Er suchte nach irgendwelchen Überresten. Man würde das Haus nicht vollständig abgetragen haben. Irgendwo mußte doch noch ein Mauerfragment übriggeblieben sein …
Er fand nichts. Gar nichts. Nicht den allergeringsten Hinweis darauf, daß es irgendwann einmal ein Haus 333, Paddington Street gegeben hatte. Aber – und zumindest diese Gewißheit fand Darren – irgend etwas war hier. Unsichtbar. Nicht wirklich existent. Nur … spürbar, mit Sinnen, die nichts mit den fünf herkömmlichen zu tun hatten. Etwa in der Grundstücksmitte blieb Darren schließlich stehen. Hier war der Boden so leer, als sei ein alles verzehrendes Feuer darüber hinweggefegt. Darren ging in die Hocke. Seine Finger wühlten sich in die feuchte Erde, nahmen eine Handvoll davon auf. Dann schloß Darren die Hand zur Faust, und der Matsch quoll zäh zwischen seinen Fingern hervor. »Du birgst ein Geheimnis«, sagte Darren, dabei zusehend, wie der Schlamm von seiner Hand zu Boden tropfte. »Und ich schwöre, daß ich es dir entreißen werde. Irgendwann wirst du mit mir reden!« Darren lächelte bitter. Es würde sein, als brächte man Tote zum Sprechen …
* Einige Monate später Jodie MacLachlan zögerte ziemlich lange, bevor sie ihr Auto schließlich doch verließ. Zuvor hatte sie nur unentschlossen an dem vertrauten Mietshaus bei den Victoria Barracks hochgeschaut und sich wehmütig der alten Zeiten erinnert – – die ebenso verloren schienen wie die Freundschaft, der sie nachtrauerte. Als sie nun langsam auf den hell erleuchteten Eingang des Gebäudes zulief, waren aus den Bewegungen ihre Befangenheit und tiefe Verunsicherung herauszulesen.
Sie wußte nicht, ob es richtig war, Vivien zur Rede zu stellen. Ihr Freund hatte ihr davon abgeraten. Aber Dave hatte auch keine Ahnung, wie schwer Jodie unter der Funkstille mit ihrer ehemals besten Freundin litt. Jodie kannte Dave seit einem knappen Jahr. Mit Vivien hingegen war sie seit ihrer Kindheit zusammen. Gewesen. Verdammt, wie konnte so etwas kaputt gehen? Zu ihrer Verunsicherung und Melancholie gesellte sich ein gerüttelt Maß an Wut. Und diese Wut bewahrte Jodie letztlich davor, doch wieder einen Rückzieher zu machen. Die Pforte war unbesetzt, aber das war ihr nur recht. Der Aufzug trug sie nach oben. Am Ende eines langen, schwach erhellten Ganges lag Viviens Apartment. Ihre Eltern bezahlten die Miete. Sie waren vor Jahren aus geschäftlichen Gründen nach Amerika ausgewandert. Vivien hatte sich nie sorgen müssen, wie sie finanziell über die Runden kam. Selbst als sie ihr Studium aus einer Laune heraus abgebrochen hatte und dies ihren Eltern mitgeteilt hatte, waren die allmonatlichen Gelder nicht versiegt. Die Reaktion, die sie sich mit dem Verlassen des Colleges wirklich erhofft hatte, nämlich endlich einmal ein wenig mehr Aufmerksamkeit ihrer Erzeuger zu erhalten, war nicht eingetreten. Sie hatte unheimlich darunter gelitten. Und Jodie hatte mitgelitten, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch unzertrennlich gewesen waren. »Verdammt, du blöde Kuh – was hab ich dir getan? Warum rufst du mich nicht an und sagst mir endlich, womit ich Bockmist gemacht habe?« Zähneknirschend blieb sie vor der Tür stehen, an der kein Name stand. Dafür eine Zahlenkombination: 8.11 Acht-elf, dachte Jodie deprimiert. Scheiße, du bist keine Nummer.
Und ich bin auch keine. Warum hast du dich nicht mal bei mir gemeldet? Wir müssen uns dringend ausquatschen. Ich will, daß es wieder so wird, wie es war. Dave ist kein Ersatz. Er ist süß und im Bett bestimmt nicht schlechter als die anderen, aber er ist eben keine beste Freundin …! Sie drückte auf die Türklingel. Drinnen ertönte der helle Summton, den sie kannte. Sonst nichts. Stille. Sie ist nicht da, dachte Jodie. Oder sie weiß, daß ich draußen stehe, und macht deshalb nicht auf. Sie läutete noch einmal. Und hörte kurz darauf leise Schritte durch den Wohnungsflur hasten. Einen Moment später wurde die Tür aufgezogen. Ein freudestrahlendes Gesicht erschien. Doch alle Begeisterung erlosch, als Vivien Clark ihres offenkundigen Irrtums gewahr wurde. Ihr Lächeln gefror. »Störe ich?« fragte Jodie kühl. »Ich wollte mal wieder auf einen Kaffee vorbeischauen. Du hattest lange keine Zeit …« Vivien schluckte. Dann haspelte sie: »Tut mir leid, aber das paßt jetzt ganz schlecht. Ich wollte gleich weg. Ich habe eine Verabredung.« »Oh. Kenne ich den Typen?« Jodie mußte neidlos anerkennen, daß ihre Freundin toll aussah. Sie hatte schon immer Model-Maße besessen: Fast einsachtzig groß, gertenschlank, aber dennoch an den richtigen Stellen wohlproportioniert. Daß sie auch noch naturblond war und blütenweiße Zähne hatte, komplettierte das angenehme Erscheinungsbild. Und wenn sie sich dann auch noch so durchstylte wie an diesem Abend … »Neue Klamotten?« Jodie faßte Vivien, die stumm von einem Bein aufs andere trat, unerbittlich ins Auge. Sie war barfüßig. Offenbar hatte Jodie sie bei den letzten Vorbereitungen gestört. »Nein. Die hängen schon ewig im Schrank. Hatte nur nie Lust, sie
zu tragen.« »Elegant. Kein bißchen flippig wie früher, als wir noch zusammen auf die Piste gingen.« »Geschmäcker ändern sich. Man bleibt nicht auf der Stelle stehen …« Nein, dachte Jodie. Man entwickelt sich, du blöde Kuh. Man tritt seinen alten Freunden in den Arsch! »Hör mal, wenn ich dir irgendwann irgendwie auf den Schlips getreten bin …« »Bist du nicht.« »Aber –« »Wir reden ein andermal, ja?« Viviens Nervosität war fast greifbar. Und Jodie begriff. Er kommt gleich. Er holt sie ab. Und sie will nicht, daß wir uns begegnen … »Wann?« »Ich ruf dich an.« »Wer’s glaubt.« »Doch. Wirklich. Nur jetzt, jetzt paßt es schlecht – okay?« »Ich hab’ in den letzten Wochen hundertmal probiert, dich ans Telefon zu kriegen. Ich treffe deinen Anrufbeantworter inzwischen öfter als dich. Hör auf, dich davor zu drücken. Sag, was dir nicht paßt!« »Bitte, geh jetzt. Ich melde mich morgen bei dir. Morgen mittag, in deiner Pause …« »Ich arbeite nicht mehr bei Cremer’s – aber wie solltest du das wissen?« »Du kannst mir alles erzählen. Wir verabreden uns. Aber jetzt habe ich keine Zeit. Versteh das, bitte. Dieser Abend ist sehr wichtig für mich. Ich habe den Mann meiner Träume kennengelernt. Wir sehen uns gleich. Und ich will perfekt sein, wenn er klingelt. Bitte …« »Du bist ja wirklich mächtig verknallt. Wer ist es? Kevin Costner? Brad Pitt? Adrian Doyle?« Als Vivien vor Verzweiflung die Augen
verdrehte, wiegelte sie ab: »Schon gut. Ich habe verstanden. Du meldest dich … – Und wenn nicht, stehe ich morgen wieder auf der Matte. Dann aber gnade dir Gott!« »Danke.« Jodie ballte die Fäuste und wandte sich ab. Schon nach zwei Schritten hörte sie, wie die Apartmenttür hinter ihr geschlossen wurde. Vivien mußte es wirklich verdammt wichtig sein, Eindruck bei ihrem Traumprinzen zu schinden. Noch während Jodie auf den Lift zuging, kam die Kabine von unten herauf. Die Flügel glitten zur Seite. Die Gestalt, die heraustrat, schenkte Jodie keinerlei Beachtung. Aber Jodie ihr. Es war ein Mann. Ein … seltsamer Mann. Sie zog kurz in Erwägung, daß es sich um einen neuen Nachbarn von Vivien auf demselben Korridor handeln könnte. Aber dieser Kerl sah nicht danach aus, als könnte er sich überhaupt eine Wohnung leisten. Eher wie ein – Obdachloser. Darüber hinaus haftete ihm etwas undefinierbar Unangenehmes an. Es hatte nichts mit seiner Art zu tun, sich zu kleiden, daran störte sich Jodie normalerweise ohnehin nicht. Aber das wächserne Gesicht und der stur zu Boden gerichtete Blick mißfielen ihr zutiefst, und sie war froh, als sie unbehelligt an ihm vorbei war. Am allerwenigsten paßte die rote Rose zu ihm, die er in der Hand hielt. Vivien liebte rote Rosen. Dennoch hatte Jodie bereits die Fahrstuhlkabine betreten, bis es in ihrem Kopf klick machte und der absurde Gedanke aufblitzte: Das wird doch nicht … Nein, unmöglich! Der Fremde hielt weiter auf das Korridorende zu, als sich die Liftflügel wieder zu schließen begannen. Jodie reagierte reflexartig, drückte die Taste, die den Schließvorgang wieder umkehrte, und bohrte ihren Blick angespannt durch den sich erweiternden Spalt. Der Unbekannte war vor der 8.11 stehengeblieben, rückte seinen
Hemdkragen zurecht und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Tür von Viviens Wohnung. Um Gottes willen, dachte Jodie. VIVIEN! Die ein Jahr ältere Freundin öffnete mit einem strahlenden Lächeln, das anhielt, sich sogar noch steigerte. Als sie die Hand nach der ihr hingereichten Rose ausstreckte, bemerkte Jodie ein inneres Leuchten in Viviens Gesicht, das sie so baff machte, daß sie das Schließen der Fahrstuhltür diesmal nicht verhinderte. Um ihre Fassung ringend fuhr sie ins Erdgeschoß zurück, verließ das Gebäude und setzte sich erschüttert hinter das Steuer ihres Caddys. Sie wollte sich mit der Geschmacksverirrung ihrer Freundin nicht abfinden. Der Mann war nicht nur unansehnlich, beinahe häßlich, sondern hätte auch gut und gern ihr Vater sein können! Das sollte Viviens Traumprinz sein – vielleicht sogar der Grund, warum sie sämtliche Kontakte zu früheren Freunden und Bekannten abgebrochen hatte …? Ich muß mich irren. Ich MUSS! Jodie klammerte sich an diesen Strohhalm. Doch Minuten später verließ die blonde Vivien das Haus am Arm ihres brandneuen, aber keineswegs mehr taufrischen und völlig indiskutablen Lovers – lachend wie ein Turteltäubchen. Nein, wie eine blöde, durchgeknallte Gans! korrigierte sich Jodie. Und auch der weitere Verlauf der Nacht war nicht dazu angetan, dieses einmal gefällte, herbe Urteil zu revidieren. Ganz im Gegenteil …
* Sie hatten sich zusammen einen Schmachtfetzen in der Tradition von Titanic im Kino angesehen und danach noch eine schummrige kleine Kneipe aufgesucht, wo Vivien Portland wieder einmal mehr getrunken hatte, als sie eigentlich vertrug.
Und auch sehr viel mehr, als sie früher, wenn sie mit ihrer alten Clique ausgegangen war, konsumiert hatte. Deren Gesellschaft mied sie, seit sie Max kannte. Und seit sie wußte, daß sie ohne ihn nicht mehr leben konnte! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte die Liebe sie bei einem Bummel durch den Botanischen Garten getroffen. Vivien liebte es, in Duft- und Landschaftskompositionen zu schwelgen, je exotischer, desto besser. So hatte sie Max getroffen, der ihre Vorliebe zu teilen schien. Er war überhaupt vom ersten Moment an ganz anders gewesen als die Kerle, mit denen sie sonst um die Häuser gezogen war, ganz anders als die unreifen Möchtegern-Don Juans, die immer nur auf das eine aus waren – und das auch noch möglichst am ersten Abend … Nein, so geduldig und rücksichtsvoll, wie Max sich ihr gegenüber bislang gezeigt hatte, war noch kein Verehrer mit Vivien umgesprungen. Max bedrängte sie nicht. Max zelebrierte jeden noch so kleinen Fortschritt beim Vertiefen ihrer Beziehung. Natürlich hatten sie einander schon geküßt, und natürlich hatte sich seine Hand auch schon das ein oder andere Mal unter ihre Bluse verirrt, um beim Küssen zärtlich an ihren Brüsten zu reiben – aber zum letzten (und eigentlichen) war es noch nicht zwischen ihnen gekommen. Auch das war eine ganz neue Erfahrung für Vivien: Inzwischen konnte sie es kaum noch erwarten, mit ihm zu schlafen, und für diesen Abend, diese Nacht, hatte sie sich vorgenommen, Farbe zu bekennen. Sie wollte sich Max zum Geschenk machen und ihm auf diese Weise für die wundervollen Wochen, die hinter ihnen lagen, danken. Sie war noch jung, erst Anfang zwanzig, aber seit sie Max kannte, machte sie sich Gedanken um die Zukunft. Um Heirat, Familie und Kinder … Jodie würde mich für komplett übergeschnappt erklären, dachte sie. Umgekehrt hätte ich es auch getan – früher. An ihre Freundin hatte sie den ganzen Abend über bis zu diesem
Moment keinen Gedanken mehr verschwendet. In Max’ Nähe dachte sie eigentlich immer nur an Max und sonnte sich in dem Wohlgefühl, das er bei ihr auslöste. Diesem fast magischen Zauber … … den der gepflegte Schwips, den sie sich angetrunken hatte, noch verstärkte. Den ganzen Abend knisterte es zwischen ihnen. Heftiger als je zuvor. Zwischendurch meinte Vivien einen besorgten, fast ängstlichen Zug in Max’ Gesicht zu erkennen. Wie lange hatte er schon keine Frau mehr gehabt? Verhielt er sich deshalb so galant? Fürchtete er sich, ihren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, sie zu enttäuschen? »Warum ist ein Mann wie du nicht schon längst wieder verheiratet?« Sie wußte, daß er schon eine Ehe hinter sich hatte. Eine Ehe, die an der Untreue seiner Partnerin zerbrochen war. Auch diese Erfahrung schien zu seiner Zurückhaltung beigetragen zu haben. Er mochte auch Angst vor eigener Enttäuschung haben. »Ich hatte die Richtige noch nicht gefunden.« »Hatte?« »Hatte!« »Heißt das …?« »Das heißt es. Ich weiß nicht genau, was du für mich empfindest, aber für mich kann ich sagen, daß keine andere Frau mehr Platz in meinem Herzen hat als du!« Sie hätte losheulen können. Sie hätte sich ihm auf der Stelle, auf dem Tisch hingeben können. Doch die Vernunft und der Hang nach Bequemlichkeit obsiegten. »Laß uns gehen. Heim zu mir. Laß mich dir zeigen, was mein Herz für dich empfindet … Komm!« Sie zog ihn vom Stuhl hoch, und Max konnte gerade noch ein paar Scheine auf den Tisch streuen, um die Zeche zu bezahlen.
Ein Taxi brachte sie zu den Victoria Barracks. Als die Tür von Viviens Wohnung hinter ihnen ins Schloß fiel, geschah alles weitere wie selbstverständlich. Gegenseitig schälten sie sich aus den Kleidern. Zerrten sich jedes störende Textil regelrecht vom Leib. Auf seinen starken Armen trug Max seine Angebetete ins Schlafzimmer. Sie dirigierte ihn und gab spätestens damit zu verstehen, daß sie es auch wollte. Aber kaum hatte er sie auf dem Bett abgelegt, kam es zu einer Störung, die sowohl Vivien als auch – in weit stärkerem Maße sogar – Max noch einmal aus dem rauschartigen Verlangen und der hingebungsbereiten Stimmung herausriß. Erst schellte die Türglocke und dann, nur Sekunden später, hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Wohnungstür. Inzwischen war es Mitternacht. Vivien fluchte enttäuscht. Als sie sich aber aus dem Bett schwingen wollte, hielt Max sie zurück. »Laß mich das erledigen, bitte. Wer immer es ist, ich werde ihn abwimmeln. Ich bin gleich zurück.« Vivien wollte zuerst widersprechen – immerhin war es ihr Apartment –, aber dann räumte sie ein, daß es Max vielleicht leichter haben würde, für eine schnelle Wiederherstellung der Ruhe zu sorgen, gerade weil ihn niemand kannte. »Okay. Beeil dich bitte. Ich … ich habe solche Sehnsucht.« In Max’ Augen blitzte es auf. »Ich auch, Darling.« Im Flur hob er seine Hose auf und schlüpfte hinein. Als er die Wohnungstür öffnete, traf ihn fast die Faust, die das Holz malträtierte. Er erinnerte sich dunkel, die Frau schon einmal gesehen zu haben. Sie war etwa gleich alt wie Vivien. Sie schien sich auch an ihn zu erinnern. Max ahnte, warum sie aufschrie. Und er wußte, wie er sie beruhigen konnte.
* »War das … Jodie?« Vivien saß auf dem Bett, als Max zurückkehrte. »Sie nannte ihren Namen nicht. Aber ich habe ihr klar gemacht, daß es eine unpassende Zeit für einen Besuch ist. Zumindest heute.« »Ich hörte einen Schrei.« »Sie war etwas wütend.« »Jodie, wie sie leibt und lebt …« »Vergiß diese Jodie. Sie will morgen wiederkommen. Jedenfalls habe ich sie so verstanden.« »Das hatten wir auch ausgemacht. Ich verstehe gar nicht, wieso sie schon –« »Vergiß sie einfach. Machen wir dort weiter, wo wir unterbrochen wurden, ja?« Rauh, fast heiser klang Max’ Stimme seit seiner Rückkehr ins Schlafzimmer. Wenn Vivien es recht betrachtete, wirkte er insgesamt … verändert. »Geht es dir nicht gut?« »Nicht gut?« Max war vor dem Bett stehengeblieben und wirkte sekundenlang überaus nachdenklich. Ernst, beinahe verbittert. »Wenn du Sorgen hast … Ich meine, wir müssen nicht …« »Doch! Doch! Du ahnst nicht, wie wichtig es für mich ist, dir meine … Liebe zu beweisen.« Vivien streckte eine Hand aus, in die Max seine hineinlegte. Mit sanfter Gewalt zog Vivien ihn zu sich herunter. »Deine Hosen«, erinnerte sie ihn. Er machte immer noch einen geistesabwesenden Eindruck. »Ja …« Er öffnete den Verschluß und ließ sich dabei helfen, sie von den Beinen zu streifen. In hohem Bogen warf Vivien sie anschließend in eine Ecke. »Ich habe eine Kerze in der Schublade.« Sie zeigte zu ihrem Nachttisch. »Macht es dir etwas aus, wenn wir das Licht
ausknipsen und statt dessen …?« »Nein. Nein, warum sollte es?« »Holst du die Kerze?« Vivien schwang sich vom Bett und ging zum Schalter. Max stöhnte gepreßt, als er sie in ihrer vollen Schönheit, aufrecht und etwas verlegen durch das Zimmer huschen sah. Seine Erektion genügte bereits höchsten Ansprüchen. Es konnte geschehen. Es … Er zog die Schublade auf und sah auf der Kerze und der dazugehörigen Streichholzschachtel noch etwas liegen. Die Art und Weise, wie es sich ihm präsentierte, ließ keinen Zweifel, daß es von Vivien absichtlich so arrangiert worden war. Er nahm die Packung heraus und hielt sie Vivien fragend hin. Sie senkte kurz den Blick, schamvoll und absolut liebenswert in ihren Nöten, ehe sie ihn direkt und mit erstaunlichem Selbstbewußtsein ansah. »Ich tu’s nur mit … Ich meine – ist das ein Problem für dich?« Max’ eigener Blick war fast gläsern geworden. Bis er die Erstarrung abschüttelte und verneinend sagte: »Im Gegenteil.« Er ging zu seiner Hose und kramte darin, bis er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte, und es Vivien in der flachen Hand entgegenhielt. Es war auch ein Kondom. Vivien lachte befreit auf. »Ich liebe dich! Ich bin so froh, dich getroffen zu haben! Ich war mit Jungs zusammen, die es partout ›ohne‹ wollten. Aber ich nehme nicht die Pille. Weil ich Frauen nicht verstehen kann, die ihrem Körper das zumuten, ganz abgesehen von –« »Ich weiß«, fiel Max ihr erregt ins Wort. »Ich wußte gleich, als ich dich traf, daß du etwas Besonderes bist. Ich habe es gespürt.« Vivien errötete. »Plappere ich nicht zuviel?« »Du bist nervös – aber das bin ich auch.«
»Wirklich? Du mußt schon Dutzende Frauen gehabt haben. Bei deiner Ausstrahlung …« Er schüttelte den Kopf. »Aber selbst wenn – keine wäre gewesen wie du.« Sie schmolz dahin. Das Timbre seiner Stimme, das begehrliche Feuer seiner Augen … »Ich weiß nicht einmal, wo du wohnst …« »Ich bin hier, bei dir, das ist das Wichtigste.« Er beugte sich hinab und verschloß ihr den Mund mit einem langen Kuß. Fordernd drängte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Vivien warf alle Hemmungen über Bord. Er stand vor ihr, und sie drückte ihre festen Brüste fordernd gegen seine Oberschenkel. Mit einer Hand umfaßte sie sein Geschlecht, mit der anderen kraulte sie sanft seine Hoden. Die Farbe des Kondoms war schwarz, lackschwarz, und als Max es wenig später vorsichtig über seiner Erektion abrollte, konnte Vivien es kaum noch erwarten, ihn in sich zu spüren. Leise wimmernd sank sie zurück und zog ihn über sich. »Ich bin so froh«, hauchte sie. Und er stammelte, bereits in sie gleitend, sinnlos Unsinniges, das Vivien gar nicht mehr bewußt wurde, so sehr war sie auf die Gefühle fixiert, die er in ihr entfachte: »Ich wünschte, ich hätte es noch etwas hinauszögern können … Die Frist, die ich erhielt, verrann so schnell … viel zu schnell. Ich habe gesündigt, aber nun … nun büße ich für alle meine Taten …« Am Ende rann kein verständliches Wort mehr über Max’ Lippen. Rausch und Ekstase überwältigten auch ihn. Das erste und das letzte Mal in diesem Leben. Und während Vivien auf dem Gipfel der Lust den berühmten »kleinen Tod« starb, verlief Max’ Höhepunkt weitaus dramatischer. Sehr viel … endgültiger …
*
Max spürte, wie es geschah. Jeder Quadratzoll seines Körpers war angespannt. Sensibilisiert, als hätte er eine sinneserweiternde Droge eingenommen. Er hatte gewußt, worauf er sich einließ. Aber er hatte nicht einmal ahnen können, daß es so sein würde. Nicht einmal das Erlebnis seines Todes und des Wiedererwachens vor etlichen Monaten kam dieser Gefühlsexplosion auch nur nahe! Es war, als würde sich sämtliche Vitalität, die diesem Körper seit dem Sieg über das Grab innegewohnt hatte, zu einer einzigen, gewaltigen Entladung sammeln und in dem Moment verpuffen, als er sich in Vivien verströmte – trotz des Kondoms! Denn nur Max wußte, wie durchlässig das schützende Gummi in Wirklichkeit war. Nur er wußte, daß er seinen Samen in diesem Augenblick in sein Opfer pflanzte … Opfer? Sie war mehr als das! Viel, viel mehr! Ich sterbe für sie … Eine kurze Weile war er versucht, die Lüge, die er sich auftischte, zu glauben. Dann – übergangslos – wurde er sich seiner Lage bewußt. Wirklich bewußt. Hektik überkam ihn. Und … Durst. Der kaum bezähmbare Wunsch, die Schwäche, die ihn überwältigt hatte, zu verbannen, indem er … »Was ist? Max? Was ist los mit dir?« Er versuchte sich zusammenzureißen. Ihre Nähe lockte ihn mit dem Stoff, den er so nötig brauchte wie ein Mensch Wasser und Brot … Sie hat, was dir fehlt. Sie ist dir am nächsten. Und sie würde sich nicht einmal wehren können! Er krümmte sich über ihr. Drückte noch einmal ganz fest mit den
Lenden gegen ihren Schoß, ehe er sich seitwärts rollte und matt von ihr herabfiel. Zu purer Schwäche war er degeneriert! Und das einzige, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, war, der Sehnsucht endlich nachzugeben, die ihn seit seinem Erwachen aus der Finsternis beseelt und drangsaliert hatte, als könnte er damit wieder entfachen, was beim Sterben damals verloren gegangen war. Sinnlos … Er hatte gewußt, daß es nur diese Frist gab. Er hatte gewußt, wann und wie sie enden würde … Während er neben Vivien lag und die Augen schloß, fest zusammenpreßte, als könnte er dem Urteil dadurch entfliehen, erreichte ihn das magische Echo dessen, was er in sie gepflanzt hatte. Ersterbend bereits im Ansatz rann der Ausdruck unendlicher Qual über seine Lippen. »Max …!« Er öffnete die Augen. »Ich rufe einen Arzt! Was ist? Warum sagst du nicht, was dir fehlt? Wie soll ich dir …?« Helfen? Niemand kann mir jetzt noch helfen! Aber wie solltest du das verstehen? Du bist nicht wie ich … Unglückliche, du bist nicht wie – Ihr Aufschrei bewies ihm, daß auch der letzte Zauber verflog. Er setzte sich auf, und während sie wie zur Salzsäule erstarrt auf dem Bett sitzen blieb, quälte er sich in seine Kleider. Die Mühe, das leere Kondom abzustreifen, machte er sich nur widerwillig. Es landete neben dem Bett. Vivien kommentierte es nicht, sie fragte auch nicht, wohin er so überstürzt aufbrechen wollte. Sie hätte es auch nicht ertragen, daß er blieb. Sie stierte ihn an, entsetzt und fassungslos über sich selbst. Die einzige Magie, der er mächtig gewesen war, hatte sich aus ihm verabschiedet. Für immer.
Wie konnte ich nur …? brüllten ihre Augen in stummem, aber überschäumendem Ekel, jetzt, da sie ihn sah, wie er wirklich war. Erst jetzt dämmerte ihr, daß sie nicht zueinander gepaßt hatten. Daß er sie gerade … besudelt hatte. Schmutzig und entehrt würde sie sich fühlen und am meisten darunter leiden, daß sie es hatte geschehen lassen, aus freien Stücken. Wortlos verließ Max das Schlafzimmer. Wie ein alter Mann schlurfte er zur Wohnungstür. Wie ein uralter Mann. Gebeugt trat er auf den Korridor und zog die Tür hinter sich zu. Die Tote schielte zu ihm empor. Aber das Blut war bereits in ihren Adern gestockt und damit wertlos. Max wankte an ihr vorbei auf den Aufzug zu. Es war Nacht. Finstere Nacht jenseits der Fenster und Wände. Aber am finstersten jedoch war die Nacht in ihm. Wo jeder Stern und jeder Quell von Kraft erloschen waren. Unbeachtet verließ er das Apartmenthaus. Es war heller Morgen, als er an seinem Ziel anlangte, dem Ort, den er gemieden hatte, seit er ihm entronnen war. Doch nun holte ihn die Anziehungskraft seines Grabes wieder ein. Nun, da der Sinn seines zweiten, seines geliehenen Lebens erfüllt war … Der Zugang zur Gruft wurde wieder von einer steinernen Platte verschlossen. Max heulte auf wie ein getretener Hund, als er sich vergeblich bemühte, sie wegzuschieben. Schritte und Rufe lenkten ihn ab. Eine Gestalt kam mit Drohgebärden auf ihn zu. »Verschwinde, Penner, sonst …!« Ein Mann in Arbeitskleidung hetzte einen der Pfade, die zur Gruft von Max’ Familie führten, herauf. »Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Polizei!« Der Mann schwang eine Grabschaufel. Max kehrte der Gruft den
Rücken und stieg die drei Stufen hinab. Er zitterte. Er wußte, daß sein Ende nicht mehr aufzuhalten war. Und trotzdem … lockte noch immer das Leben, das fremde Leben, das ihm entgegeneilte … Der Mann hatte keine Chance. Er rechnete nicht einmal mit einer Gegenwehr. Max lief ihm geduckt entgegen. Reumütig und als laste ein Zentnergewicht auf seinen Schultern. »Du wolltest was, lausiger Penner?« Der Mann, offenbar ein Friedhofsbediensteter, hob grimmig den Spaten. Max nahm die Stelle, die er erreichen wollte, genau aufs Korn. Er wußte, daß er nur einen Versuch hatte. Der Spaten polterte zu Boden. Max und der Mann folgten. Bald darauf wurde es still zwischen den Gräbern. Der Nektar der Toten vermochte das ersterbende Feuer in Max nicht noch einmal auflodern zu lassen. Es war vorbei. Anderenorts hingegen begann das, was er in Bewegung gesetzt hatte. Viviens Alptraum. Max hatte kein Bedauern für sie übrig. Obwohl ihr Leben schlimmer werden würde als sein Tod …
* Wie aus Talg schien die Haut des Toten, in ihrer Färbung als auch in ihrer Konsistenz. Die schmale Skalpellklinge drang ein wie in Wachs. Wässrige Flüssigkeit quoll aus dem Schnitt entlang des Brustbeins, Blut folgte, zäh, weil es längst schon kalt war wie das eines Fisches. Dr. Darren Secada setzte weitere Schnitte, rasch und routiniert. Dabei kommentierte er jede seiner Bewegungen und Beobachtungen. Das kleine Diktiergerät, das in der Brusttasche seines Kittels
steckte, zeichnete seine Worte auf. Schließlich hatte der Pathologe die Haut des Leichnams so zurechtgeschnitten, daß er den Brustkorb quasi schälen und die Rippenbögen freilegen konnte. Ehe er sich an die tiefergehende Untersuchung machte, sah Darren auf und hinüber zum nächsten chromglänzenden Tisch, auf dem ein zweiter Toter lag. Im Gegensatz zu seinem »Patienten« kannten sie die Identität dieser anderen Leiche: Val Kubert, 56 Jahre alt, Friedhofsbediensteter auf Harmony Hill – Ein bitterer Geschmack drängte in Darrens Mund. Harmony Hill … Vor zwei Jahren hatten sie seine Mutter dort beerdigt. Und seine Besuche an ihrem Grab wurden immer seltener. Anfangs war er fast täglich dort gewesen, nach einigen Monaten mußte er sich zwingen, wenigstens einmal in der Woche hinzugehen, und schließlich – Wann hatte er zum letzten Mal an ihrem Grab gestanden, ihr Blumen gebracht? Vorigen Monat, oder war es –? Nein! unterbrach Darren sich in Gedanken. Es war letzten Monat gewesen, vor drei oder vier Wochen, keinesfalls länger. Aber er wußte, daß er sich selbst belog … Einen Moment lang roch und schmeckte er den schalen Dunst des Todes, der sich in den Räumen der Pathologie allen Desinfektionsmitteln zum Trotz unaustreibbar eingenistet hatte und an den Darren sich im Laufe der Zeit schon so sehr gewöhnt hatte, daß er ihn nicht mehr wirklich wahrnahm. Nur in besonders unangenehmen Augenblicken gelang es dieser ganz eigenen Atmosphäre noch, ihn gefangenzunehmen. Er streifte das Gefühl ab wie Spinnweben – aber ein klein wenig davon blieb an und in ihm hängen, gerade genug, daß sein schlechtes Gewissen sich darin verfangen konnte. »Doc?« Darren Secada blinzelte, als sei er aus tiefem Schlaf geschreckt
worden. »Darren? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Jimmy Potts’ Stimme drang wie durch Watte zu ihm. Er nickte, noch immer etwas abwesend. »Ja, alles klar. War nur kurz … woanders.« Sein rothaariger, sommersprossiger Assistent grinste schief. »Wär’ ich auch gern. Für länger allerdings.« Darren erwiderte das Grinsen des schlaksigen Burschen. »Dann solltest du vielleicht umschulen.« »Was denn? Und darauf verzichten, in Toten ‘rumzuschnüffeln? Niemals!« Jimmy Potts war mit der Obduktion der zweiten Leiche beschäftigt und setzte nun seinerseits das Skalpell zum ersten Mal an. Langsamer als Darren führte er einen Schnitt längs der Brustmitte des toten Val Kubert. Darren wollte sich gerade wieder dem namenlosen Mann zuwenden, als ihn ein kieksender Laut abermals aufschauen ließ. Jimmy Potts starrte verwirrt auf »seinen« Toten hinab. »Was gibt’s?« fragte Darren, vage alarmiert. »Äh … eigentlich nichts«, erwiderte Jimmy. »Buchstäblich nichts sogar – kein Blut, Doc!« »Ach?« machte Darren nur. Er trat an Jimmys Untersuchungstisch. Tatsächlich drang kaum Blut aus dem klaffenden Schnitt, der den Oberkörper des Toten fast bis zum Nabel hin teilte. Mit einem Tupfer strich Darren die Wundränder ab. Der Wattebausch verfärbte sich nur geringfügig in blasses Rot. »Merkwürdig«, murmelte er, zuckte aber zugleich die Schultern und meinte dann: »Möglicherweise eine Reaktion auf irgendwelche Medikamente, die der Mann eingenommen hat. Achte mal besonders darauf, wenn du den Mageninhalt unter die Lupe nimmst, okay?« »Yep«, machte Jimmy und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Darren kehrte an seinen Tisch zurück und klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Na denn, wollen wir mal sehen, ob wir dich zum Reden bringen, Fremder.« Jimmy hielt kurz inne und kratzte unbehaglich durch seinen rotblonden Dreitagemilchbart. »Hey, Doc, manchmal glaube ich, daß Sie diesen Spruch wirklich ernst meinen.« »Ich scherze nie bei so einer todernsten Arbeit.« Darrens Miene blieb leichenstarr, nur in seine Augen trat der Anflug eines unheimlichen Funkeins. Erst als er sich wieder über den Toten beugte, erlaubte er sich ein knappes Grinsen. Er liebte es einfach, Jimmy bisweilen den latent wahnsinnigen Wissenschaftler vorzuspielen. Mit Elektrosäge und Zange öffnete er den Brustkorb des Leichnams, klappte die Rippenbögen hoch und stabilisierte sie mit einem Spreizer. Die Organe schienen auf den ersten Blick unversehrt und lieferten keinen offensichtlichen Hinweis auf die Todesursache. »Haben Sie den Polizeibericht gelesen, Doc?« fragte Jimmy, während er unverdrossen weiterarbeitete. »Ja, natürlich«, antwortete Darren, ohne aufzusehen. »Komische Sache, was? Ich meine, wie man unsere beiden Jungs hier gefunden hat. Auf einem Friedhof, fast einträchtig nebeneinander – und kein Aas weiß, wie sie dorthin gekommen sind.« Darren zuckte die Schultern. »Na ja, zumindest solltest du dich nicht darüber wundern, daß diese Leichen gerade mir aufs Auge gedrückt wurden. – Schließlich landet alles, was seltsam und tot ist, unter meinem Messer.« Er blinzelte Jimmy kurz zu. »Und deshalb arbeitest du ja so gerne mit mir, stimmt’s?« Jimmy grinste zurück. »Wenigstens wird’s mit Ihnen nie langweilig.« »Schon was gefunden im Magen?« wollte Darren wissen, während er die Speiseröhre des Fremden der Länge nach aufschnitt. »Die besonders appetitlichen Sachen heb’ ich mir immer bis zum Schluß auf«, erklärte Jimmy.
Darren wollte etwas erwidern, hielt aber unvermittelt inne. Er schob sich die »Taucherbrille« von der Stirn auf die Nase. Das Sicherheitsglas schützte die Augen des Pathologen nicht nur vor Knochensplittern bei Sägearbeiten, es hatte auch vergrößernde Wirkung. Darren beugte sich tiefer über den offenen Brustkorb des Toten und nahm die aufgetrennte Speiseröhre genauer in Augenschein. Blind tastete er nach einem metallenen Spatel, fand ihn und berührte damit das, was er in der Speiseröhre gefunden hatte. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte er verwundert. »Was denn?« fragte Jimmy. »Blut.« »Und? Normale Leichen sollen voll davon sein, hat man mir erzählt.« »In der Speiseröhre«, präzisierte Darren. »Ach nee.« Jimmy Potts ließ sein Skalpell sinken. Einen Moment lang sah er verdutzt drein, dann schob sich ein jungenhaftes Grinsen über sein Gesicht. »Na, dann haben wir ja des Rätsels Lösung!« »Ach ja?« machte Darren. »Klar doch! Mein Patient ist fast blutleer, Ihrer hat Blut in der Speiseröhre – was gibt’s da noch zu fragen?« Er zeigte auf den namenlosen Toten. »Der Typ da war ein Vampir –«, er deutete mit der Skalpellspitze auf Val Kubert hinab, »– und er hat den hier ausgesaugt!« »Und sich so daran besoffen, daß er starb?« Darren lächelte müde. Schriller Lärm schnitt plötzlich durch die Stille. Jimmy zuckte zusammen. Das Skalpell glitt ihm aus den Fingern und klimperte zu Boden. Darren grinste. »Man gewöhnt sich daran«, rief er über das Lärmen des Wandtelefons hinweg. Er wies auf ein abseits stehendes Gerät, das entfernt an eine Riesenspinne aus Kunststoff und Metall mit nur vier kurzen Stummelbeinen erinnerte. »Tu mir einen Gefallen, Jimmy, und setze schon mal den Physio-Scanner an. Vielleicht wird mein Mann ja in der
Vermißtenkartei geführt.« »Wird gemacht, Doc.« Jimmy holte die Apparatur und positionierte sie sorgfältig über dem Kopf des namenlosen Toten. Die vier Stützen befestigte er zu beiden Seiten in den Ablaufrinnen an den Tischkanten. Dann checkte er die Funktionsbereitschaft des Scanners und schaltete ihn schließlich ein. Durch eine getönte Scheibe in der Mitte des Gerätes war zu beobachten, wie grüne Linien von oben nach unten und von links nach rechts über das tote Gesicht darunter glitten. Die Elektronik fertigte einen digitalen Abdruck davon an, um das Ergebnis dann mit den gespeicherten Bilddateien der Vermißtenkartei des Polizeicomputers zu vergleichen. Übereinstimmungen beziehungsweise Ähnlichkeiten (bisweilen veränderten sich vermißte Personen ganz beträchtlich, bis sie wiedergefunden wurden …) würden dann auf einem kleinen Plasma-Monitor angezeigt werden, der seitlich in den Scanner eingelassen war, die zugehörigen Daten ließen sich zusätzlich abrufen. Darren war inzwischen zum Telefon gegangen. Er nahm den Hörer ab, drückte ihn ans Ohr – und riß ihn dann so hastig wieder weg, als hätte er sich daran verbrannt! Am anderen Ende der Leitung schien ein Elefant in die Muschel zu trompeten. »Hey, Erasmus«, sagte er schließlich, nachdem das dröhnende Geräusch aus dem Hörer endlich verstummt war. »Darren, mein Junge, wie geht’s Ihnen, alter Aufschneider?« gab Dr. Hendriks zurück. »Bestens, danke. Man hat mir gerade wieder mal eine harte Nuß zu knacken gegeben. – Und Ihnen? Wie ich höre, pflegen Sie Ihren Schnupfen auch ein Jahr nach Ihrem Abschied aus unserem Reich der Toten noch.« »Ja, ja. Scheint so was wie ein Souvenir zu sein.« Hendriks schniefte.
»Aber ich nehme an, Sie haben nicht nur angerufen, um mir ins Ohr zu niesen, oder?« »Nein, ganz richtig, mein Junge, nicht nur deswegen.« Darren konnte den Chefpathologen a. D. förmlich grinsen hören. »Was gibt’s?« fragte Secada. »Neuigkeiten.« »Worüber?« Darren spürte ein feines Kribbeln, als sei die Luft auf einmal statisch aufgeladen. Manchmal kam er sich beinahe vor wie der bekannte Pawlowsche Hund, der auf bestimmte Reizwörter stets die gleiche Reaktion zeigte. Hendriks schien am anderen Ende zu schmunzeln, und er genoß es offenbar, Darren ein klein wenig auf die Folter zu spannen, indem er sich Zeit ließ mit seiner Antwort. »Doc? Sind Sie noch dran?« fragte Darren ungeduldig. »Ja, sicher, mein Junge. – Ich nehme mal an, Sie sind immer noch interessiert an allem, was mit dieser … Adresse zu tun hat, oder?« »Dreihundertdreiunddreißig, Paddington Street«, kam es über Darrens Lippen wie aus der Pistole geschossen. Das Kribbeln verstärkte sich. Er kam sich jetzt vor, als stehe er selbst unter Strom. »Was ist damit? Was wissen Sie?« sprudelte es weiter aus ihm heraus. Dr. Erasmus Hendriks war in Sachen 333, Paddington Street quasi ein Eingeweihter, ein Insider sozusagen. Er hatte damals einige der Toten, die es dort gegeben hatte*, unter dem Messer gehabt. Ohne sie indes »zum Sprechen« gebracht zu haben. Seinen Untersuchungen zufolge waren sie schlicht an Altersschwäche gestorben. Wie es aber zu der rapiden Vergreisung gekommen war, hatte der Pathologe seinerzeit nicht herausgefunden. Was er Darren gegenüber, nachdem er von dessen Interesse an dem Haus in der Paddington Street erfahren hatte, als seine »größte Niederlage« bezeichnete. Darren hatte natürlich Einsicht in die entsprechenden pathologischen Berichte nehmen können. Aber auch ihm hatten sie nicht viel *siehe VAMPIRA H02: »Der Moloch«
mehr verraten als seinem Lehrvater und väterlichen Freund. Trotzdem, die vagen Erkenntnisse waren für Darren ein weiteres Steinchen in einem Mosaik gewesen, das allerdings auch heute, nach zwei Jahren, noch lange nicht vollständig war und noch immer keinen erkennbaren Sinn ergab. Um so begieriger war er, weitere Puzzleteile in die Finger zu bekommen. Und Doc Hendriks schien eines zu haben! »Nun«, begann der pensionierte Pathologe, »ich weiß nicht, was es bedeutet – aber irgend etwas passiert dort in der Paddington Street. Es wird mittlerweile auf fast allen lokalen Fernsehkanälen gezeigt. Dadurch wurde ich auch darauf aufmerksam. Sie wissen ja, mein Junge, ich habe nicht mehr allzu viel zu tun, seit –« »Erasmus!« unterbrach ihn Darren fast barsch. »Was geht vor in der Paddington Street?« »Das Haus –«, setzte Dr. Hendriks an, nieste dann aber lautstark, anstatt den Satz zu beenden. »Das Haus?« echote Darren. »Welches Haus?« »Dreihundertdreiunddreißig, Paddington Street«, sagte Hendriks. »Es … es ist wieder da! Und dann auch wieder nicht …« »Was reden Sie da, Erasmus? Das macht doch keinen Sinn!« »Habe ich auch nicht behauptet«, erwiderte Dr. Hendriks, diesmal nicht nur seiner chronischen Erkältung wegen verschnupft. »Was ist mit diesem Haus?« hakte Darren beharrlich nach. »Es sieht aus, als stünde es wieder da – immer nur für ein paar Sekunden allerdings. Und dann verschwindet es wieder.« Hendriks klang beinahe trotzig und beleidigt wie ein Kind. »Das … das ist unmöglich«, meinte Darren verwirrt. »Fahren Sie hin und sehen Sie es sich an.« »Das tue ich auch.« Darren wollte den Hörer schon einhängen, riß ihn aber noch einmal zurück. »Und danke, Erasmus. War nicht so gemeint, okay?« »Schon gut, mein Junge. Ich weiß ja selbst, wie verrückt das klingt,
aber ich –« Den Rest hörte Darren schon nicht mehr. Er schmetterte den Hörer in die Halterung. Just in dem Moment, da hinter ihm ein monotones, nervtötendes Fiepen laut wurde. »Darren!« rief Jimmy Potts aufgeregt. »Meine Fresse, das müssen Sie sehen! Kommen Sie her, schnell. Das glauben Sie nicht …« »Jetzt nicht, Jimmy«, antwortete Secada. »Muß dringend weg.« »Nein, nicht!« Jimmys Stimme wurde lauter und schriller. »Schauen Sie sich das an! Ich pack’s nicht …!« Er deutete heftig auf den Plasmaschirm des Scanners und kiekste fassungslos und begeistert zugleich im höchsten Stimmbruchfalsett: »O Mann, das ist so schräg …!« »Später, Jimmy!« Darren stürmte zur Tür. »Nein, nicht später – jetzt! Das müssen Sie sich ansehen, bevor Sie hier verduften!« »Schon gut.« Darren hob beschwichtigend die Hände. »Ich kapituliere.« Dann warf er einen Blick auf die Scannerauswertung, die schon Jimmy Potts aus der Fassung gebracht hatte. Und nun auch ihn. »Der Kasten spinnt!« Mehr fiel ihm nicht dazu ein. Für kurze Zeit vergaß er sogar die Sensation, von der Hendriks ihm berichtet hatte. »Leider nicht«, seufzte Jimmy. »Ich hab’s schon überprüft – das Ding ist in Ordnung.« »Marvin Max Manson«, las Secada die ID-Daten, die der Computer ausgespuckt hatte, vom Schirm ab. »Ein verstorbener MedienTycoon, dessen Grab vor dreizehn Monaten, wenige Tage nach Mansons Bestattung, geschändet und dessen Leichnam daraus gestohlen wurde.« Er schlug mit der flachen Hand auf das Rechnergehäuse. »Wie kann dieses Mistding also behaupten, dieser Mann hier sei Marvin Max Manson! Keine Leiche nimmt sich mal eben für ein, zwei Jahre Urlaub vom Grab und sieht danach so aus wie am Tag ihres Ver-
schwindens. Manson müßte als verschimmeltes Skelett vor uns liegen!« Er sah Jimmy an. »Check es noch mal durch, ja? Ich habe jetzt keine Zeit mehr! Du findest mich in der Paddington Street, falls heute Abend noch etwas sein sollte. Falls nicht, sehen wir uns morgen in alter Frische wieder. Okay?« Er ahnte nicht, wie sehr er sich irrte. In mehr als einem Punkt. »Okay«, seufzte Jimmy. »Bis morgen also, Chef.« Als Darren Secada den Raum verlassen hatte, ließ Jimmy das Diagnoseprogramm des Scanners noch einmal ablaufen – mit demselben Ergebnis. Also packte er zusammen. Er hatte sich in der Gegenwart von Toten noch nie unwohl gefühlt. Aber an diesem Abend war alles anders. Rasch, fast fluchtartig verließ er die Gerichtsmedizin. Und ging in die nächste Kneipe. Und kippte sich die Hucke voll. Aber das Rätsel um den geheimnisvollen Toten ließ sich nicht aus seinen Hirnwindungen verbannen, drängte mit jedem Glas machtvoller an die Oberfläche zurück. Und so ging Jimmy Potts trotz Fracksausen in dieser Nacht nicht mehr nach Hause, sondern noch einmal zurück ins Institut. Etwas in ihm verlangte lautstark zu wissen, ob ihnen tatsächlich jener Marvin Max Manson unters Messer gekommen war – oder ein immer noch nicht identifizierter Unbekannter. Jimmy Potts wünschte sich Ersteres … Großer Gott, er mußte völlig bescheuert sein, aber das wünschte er sich tatsächlich – – ohne sich die geringste Vorstellung über die Folgen zu machen …
* Darren Secada wußte nicht, wie oft er in den vergangenen beiden Jahren in der Paddington Street gewesen war –
(Jedenfalls öfter als am Grab deiner Mutter! wisperte ein gehässiges Stimmchen zwischen seinen Gedanken.) – nun, er war sehr oft hier gewesen. Nicht täglich zwar, aber doch häufig genug, daß er sich bisweilen selbst gefragt hatte, ob sein Interesse an diesem verlassenen Grundstück mit der Nummer 333 noch normal war. Andere indes waren fest davon überzeugt, daß Darren Secada regelrecht besessen war von der fixen Idee, ein hier verborgenes Geheimnis lüften zu wollen. Und die meisten von ihnen waren sicher, daß es ein solches Geheimnis gar nicht gab … Darren zuckte die Schultern ob dieser Gedanken, während er seinen geländegängigen Rover durch die Sydneyer Innenstadt manövrierte und waghalsig auch kleinste Lücken im dichten Verkehr ausnutzte. Er hatte einen guten Grund, sich für das Haus zu interessieren. Schließlich war sein Vater dort dem Wahnsinn verfallen. Und Darren war zumindest von einem Punkt überzeugt: daß es ein Geheimnis in der Paddington Street gab! Daran ließen die Ergebnisse seiner zweijährigen Recherchen überhaupt keinen Zweifel. Darren hatte im Laufe dieser Zeit alles ausgegraben, was es über 333, Paddington Street zu wissen gab. Er hatte die städtischen Archive und Bibliotheken durchforstet, er hatte jede Zeile, die in den Zeitungen darüber geschrieben worden war, kopiert. Er hatte die Nachbarn aufgesucht und befragt, und er hatte Augenzeugen der damaligen Ereignisse um das Haus aufgespürt und ausgehorcht. Die Informationen füllten zwei ganze Aktenordner und Unmengen von Dateien auf der Festplatte seines Computers. Sie zeichneten zwar ein halbwegs klares Bild der damaligen Geschehnisse, die nur unter anderem zu der tragischen Veränderung seines Vaters geführt hatten. Über das auslösende Moment und die Ursache indes verrieten sie nichts. Aber Darren wollte nicht aufgeben, nicht ruhen, bevor er auch
darüber alles in Erfahrung gebracht hatte! Und vielleicht würde es ja heute soweit sein … So oft er auch hiergewesen war, hatte er die Paddington Street stets ruhig und wie in einem allumfassenden Dornröschenschlaf vorgefunden. Heute nicht. Heute wimmelte die Straße von Menschen und Fahrzeugen! Darren mußte seinen Wagen stehenlassen, lange bevor er das einstige Anwesen 333 erreichte. Uniformierte Polizisten stoppten den Verkehr und ließen niemanden hindurch. Sein Dienstausweis machte für Darren den Weg frei. Er lief, dann rannte er. Vorbei an Schaulustigen, die es irgendwie geschafft hatten, durch die Polizeibarriere zu schlüpfen, und vorüber an Fernsehteams und Übertragungswagen. Darren schnappte Bruchstücke ihrer Live-Kommentare auf, ohne den Sinn zu verstehen. Was wohl daran lag, daß die Reporter selbst nicht recht wußten, worüber sie da eigentlich redeten. Unmittelbar vor der Nummer 333 war ein Durchkommen kaum mehr möglich. Die Polizeitruppen hatten sich entlang der Grundstücksgrenze massiert und einen regelrechten Wall aus Leibern darum gezogen. Abgehackte Funksprüche schwirrten krächzend wie erkältete Geister umher, flackerndes Rot- und Blaulicht lag wie farbiger Nebel über allem. Auch über dem Haus.
* Darren Secada hatte sich unter Flüchen und mit Ellenbogen Bahn bis zur vordersten Reihe der Umstehenden gebrochen – und jetzt stand er reglos wie weiland Lots Weib, zur Salzsäule erstarrt. Das Grundstück 333, Paddington Street hatte sich … verändert. Es stand nicht mehr leer. Ein Haus stand darauf; aber nicht irgendei-
nes, sondern das Haus! Darren kannte es aufgrund Dutzender von Fotos, die er in den vergangenen zwei Jahren aufgetrieben und gesammelt hatte. Es bestand nicht der allergeringste Zweifel: Dieses Haus, das da vor ihm inmitten des Grundstücks 333 stand, war exakt das Haus, in dem sein Vater vor Jahren den Verstand verloren hatte, wo er etwas so Furchtbares erlebt haben mußte, daß es ihn das Leben kostete, das er bis dahin geführt hatte. Das Haus, das später auf unerklärliche Weise verschwunden war, es war wieder da … … und wieder weg! Ein kollektives Aufstöhnen, leise Schreie gingen einem Ruck gleich durch die versammelte Menge, und Darren blieb davon nicht ausgenommen. Es war unglaublich, und doch hatte er es mit eigenen Augen gesehen, wie alle anderen um ihn herum. Das Haus war … erloschen. Wie eine gestörte 3D-Projektion hatte das Bild kurz geflackert, und dann war es ganz verschwunden. Das Grundstück lag öd und zugewuchert da, ganz so, wie Darren es vor zwei Jahren vorgefunden und seither immer wieder gesehen hatte, wenn er hergekommen war, um nach etwas zu suchen, von dem er selbst nicht wußte, worum es sich dabei eigentlich handeln sollte. Minuten vergingen, in denen eine so eigenartige Atmosphäre herrschte, wie Darren sie nie zuvor erlebt hatte. Es war, als hielte jeder einzelne um ihn herum den Atem an und als sei nur das aufgeregte Pochen der Herzen dieser Leute zu hören, unmöglich laut. Die Funkdurchsagen der Polizei drangen wie von fern zu ihnen, klangen so seltsam fremdartig, als gehörten sie nicht in diese Welt. Dann – kam es wieder. Erst war es kaum mehr als ein durchscheinender Schatten, dann für einen flüchtigen Moment materiell, kompakt, so kurz allerdings
nur, daß Darren es für eine Sinnestäuschung hielt, für ein Bild, das ihm seine überreizten Augen nur vorgaukelten. Aber so war es nicht. Denn Sekunden später stand das Haus wieder an seinem Platz. So schien es jedenfalls. Nur wenn man, und Darren tat genau das, angestrengt hinsah, erkannte man, daß die Konturen des Hauses nicht ganz scharf waren, leicht verwischt und wäßrig wie auf einer Aquarellzeichnung. Es war ein Ding der Unmöglichkeit! Und jeder andere teilte Darrens Auffassung, wie er den gemurmelten und gerufenen Kommentaren ringsum entnehmen konnte. Nur mochte Darren am ehesten bereit sein, das unheimliche Geschehnis zu akzeptieren. Denn in gewisser Weise paßte es exakt zu all den anderen Unmöglichkeiten, die er innerhalb von zwei Jahren über das Phänomen 333, Paddington Street herausgefunden hatte. Wie in Trance trat er weiter vor, den Blick nicht von dem Haus lassend: ein zweistöckiger Klotz mit dunkler Fassade, das Dach mit bräunlichen Schindeln gedeckt und etwas vorgezogen, die vielen Fenster glotzend wie die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels. Eine Treppe führte zum Eingangsportal hinauf, zu beiden Seiten bewacht von steinernen Fabelwesen und – »He, was soll das werden, Mister?« Eine harte Hand packte Darren am Arm und hielt ihn fest. Einen Moment lang wollte er dessen ungeachtet weitergehen, bis der andere seinen Griff verstärkte, so daß Darren leise aufschrie. Unwillig drehte er sich um. »Secada?« fragte der andere überrascht. Darren kannte den Mann, der ihm gerade bis zum Kinn reichte, mangelnde Größe aber durch Körpermasse wettmachte, und die bestand nur zum geringsten Teil aus Fett. »Chief Inspector Holloway«, nickte Darren grüßend. Dann wies er sofort hinüber zu dem Haus. »Was geht hier vor?«
»Sehen Sie doch«, brummte Holloway unwirsch. »Verraten Sie mir lieber, was Sie hier treiben. Es gibt keine Toten – und ich hoffe, das bleibt so.« Darren zögerte kaum merklich. »Ich … ich habe im Fernsehen von dieser Sache erfahren und bin hergekommen. Wie die meisten anderen wohl auch.« Er wies in die Runde und versuchte harmlos zu lächeln. Ein mißtrauischer Ausdruck legte sich wie ein Schatten über Chad Holloways Züge. »Moment mal«, knarzte er. »Paddington Street und Darren Secada – das paßt doch irgendwie zusammen, wenn ich mich nicht irre, oder? Sie gehen doch seit einiger Zeit allen möglichen Leuten mit Fragen über dieses Haus hier auf den Zeiger, nicht?« »Oh, so würde ich das nicht sagen –«, wollte Darren abwehren. »So sagen es aber alle anderen, Jungchen!« Darren grinste frech. »Okay, Chief Inspector, dann gehe ich jetzt Ihnen ein bißchen auf den Zeiger, okay? Also, was ist hier los?« »Kein Kommentar. Weder für Sie, noch für sonst jemanden. Verschwinden Sie, Secada. Und nehmen Sie diese Aasgeier am besten gleich mit!« Irgendwo rief jemand Holloways Namen, der Chief Inspector antwortete mit einem kurzen Fluch. Er wirbelte auf dem Absatz herum und verschwand zwischen den Uniformierten. »Auch kein Glück, wie?« Die Stimme streifte Darrens Ohr wie ein Hauch, der ihn seiner Wärme zum Trotz frösteln ließ. Er drehte sich herum und sah in ein elfenhaft schmales Gesicht, das kaum zwei Handbreiten von seinem eigenen entfernt war. Ein leicht hochmütiger Ausdruck lag darin, ein bißchen spöttisch, und in den Augen der Fremden sah Darren ein amüsiertes Funkeln. »Wie bitte?« fragte er lahm. Die Frau, Darren schätzte sie auf Ende Zwanzig, strich ihr langes blondes Haar übers Ohr, dann reichte sie ihm die schmale Hand.
»Van Kees«, stellte sie sich vor. »Seven van Kees vom Sydney Morning Herald.« »Seltsamer Name«, entfuhr es Darren gegen seinen Willen, während er ihre Hand drückte. Sie hielt die seine einen winzigen Moment länger fest, als es nötig gewesen wäre. »Und Sie scheinen ein seltsames Hobby zu pflegen, Mister Secada.« Seven van Kees warf einen kurzen, aber bedeutungsvollen Blick zum Haus hinüber. »Woher wissen Sie –?« wollte Darren fragen, aber sie unterbrach ihn mit einem verzeihungsheischenden Lächeln. »Tut mir leid, aber ich wurde Zeugin Ihrer Unterhaltung mit unserem alten Brummbären.« »Holloway?« Darren grinste. »Ja.« »Hübscher Name, gefällt mir. Werde ich mir merken.« »Welchen?« fragte die Blonde. »Seven oder Brummbär?« Darren zuckte lächelnd die Schultern. »Beide.« Schade, daß sie blond ist, dachte er. Ich steh’ nun mal auf Dunkelhaarige. – Andererseits … Er stoppte seine abdriftenden Gedanken. Das Haus … Das Haus stoppte den Gedankenflug. Es … Komm wieder zu dir, du Idiot! Wie sollte es dich rufen? »Was ist mit Ihnen?« »Mit mir? – Nichts. Wie kommen Sie darauf?« Darren fand in die Wirklichkeit zurück – eine Wirklichkeit, die anders geartet zu sein schien als die, die dieses Spukobjekt nach Jahren wieder ausgespien und hergegeben hatte. Feiner Spott schmiegte sich um den ausdrucksstarken Mund der Reporterin. Aber sie ging nicht weiter darauf ein, sondern wechselte das Thema. »Was meinte der Chief Inspector vorhin mit ›Es gibt keine Toten‹? Sind Sie bei der Mordkommission?« Darren entließ das Phantomgebäude für Augenblicke aus seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Den Kopf leicht schief gelegt, fragte er:
»Interessiert Sie das, weil ich Sie interessiere, oder weil Sie auf der Jagd nach einer reißerischen Story sind?« »Ginge auch beides ohne ›oder‹?« »Schwer.« »Ich bin auch kein leichtes Mädchen.« Aber ein verdammt hübsches, dachte Darren anerkennend. Sie könnte sich die Haare färben. Man müßte drüber reden. »Also?« riß ihn ihre Stimme aus den Träumereien. »Sorry, aber ich fürchte, ich bin etwas pressescheu.« Mit diesem Geständnis, das weder gelogen war noch der tieferen Wahrheit entsprach – er hatte schlicht und ergreifend noch nie über sein Verhältnis zur Journaille nachgedacht – ließ Darren die hübsche Blondine stehen. Für ihn selbst war dies der letzte Beweis. Daß er den Verstand verloren hatte. Wer einem Haus, noch dazu einem solchen, den Vorzug gegenüber einer Frau wie Seven van Kees gab, mußte doch komplett bescheuert sein …?
* »Halt! Bleiben Sie stehen!« Ein energisch auftretender Polizist verstellte Darren Secada den Weg. »Verschwinden Sie! Gaffer unerwünscht!« Unbeirrt ging Darren weiter auf den Mann zu. Im Laufen zückte er seinen Dienstausweis. »Sydney Police? Welche Abteilung?« fragte der Sergeant bereits wesentlich umgänglicher. »Abteilung für Sondereinsätze«, log Darren eiskalt. Aus der in Plastik geschweißten ID-Card, die er stets bei sich trug, ging nicht hervor, daß er üblicherweise nur an Leichen herumschnippelte. Mit Ermittlungen gegen Lebende hatte er gemeinhin nichts am Hut. »Sie können im HQ rückfragen. Ich wurde beauftragt … nun, mir dieses
unerklärliche Phänomen aus der Nähe anzusehen.« »Allein?« Darren grinste breit. »Ich liebe Himmelfahrtskommandos.« »Auch wenn sie zur Höllenfahrt werden?« »Dann habe ich Pech gehabt.« »Okay. Warten Sie hier. Ich bin gleich zurück. Ich werde mit dem Einsatzleiter sprechen.« »Mit Holloway?« Darren prahlte mit »Insiderwissen«, um seine Geschichte glaubwürdiger zu gestalten. »Genau. Ich bin gleich zurück.« Ich auch, dachte Darren, während seine Finger über das schwarzgelbe Plastikband strichen, mit dem der Kern des Anwesens, dort wo sich das Haus – zeitweise sichtbar – erhob, für alle Schaulustigen abgeriegelt war. Zumindest hoffe ich das. Er wartete, bis der Polizist im Einsatzwagen verschwunden war. Dann duckte er sich, schlüpfte unter der Sperre durch und rannte auf das Haus zu. Es flackerte nicht mehr, als würde es sich um ein von Störungen überlagertes Bild auf einem Monitor handeln. Seit Minuten gaukelte es Stabilität vor, als wäre es nach wiederholten Anläufen endlich … … endlich angekommen, dachte Darren. Unbehelligt erreichte er die Pforte, den steinernen Treppenaufgang, der von Fabelwesen gesäumt war. Alles sah genauso aus wie auf den Bildern, die er in den Archiven aufgestöbert hatte. Was mußte Brian Secada in diesen Mauern zugestoßen sein? Was hatte seinen Geist dermaßen zerrüttet, daß er fortan Schweineblut trank und sich für einen Vampir hielt? Am Ende der Stufen angelangt, blieb Darren stehen und warf einen Blick zurück zur Absperrung. Zufall oder unglaubliches Glück – jedenfalls schien bislang niemand etwas von seinem heimlichen Vorpreschen bemerkt zu haben. Doch gerade als sich Darren der Tür widmen wollte, endete seine
Strähne. »Secada, Sie verdammter Irrer!« Es war Chad Holloways Organ, unverkennbar. Ohne das Plastikband überhaupt zu beachten, stürmte er auf Darren zu. Die Absperrung dehnte sich und riß. Lose Enden flatterten im Nachtwind. Darren fühlte plötzlich einen der grellen Scheinwerfer auf sich gerichtet und warf sich geblendet herum. Mit drei Schritten hatte er die Tür des Hauses erreicht. »Wagen Sie nicht, es zu –« Der Rest von Holloways Anpfiff blieb Darren Secada erspart. Denn die Tür gab unter dem leisesten Druck nach. Sie schwang nach innen, und er trat über die Schwelle, hinter der es fahlhell war, ohne daß die Quelle des Lichts erkennbar wurde. Noch einmal erreichte ihn Holloways Stimme, aber seltsam verzerrt. »Secada, Sie Idiot! Es wird sie –« Erneut blieb der Satz unvollendet. Aber nicht, weil der Chefinspektor erneut den Rest verschluckte, sondern weil … die Außenwelt urplötzlich aufgehört hatte zu existieren! Darren starrte aus geweiteten Augen in einen surrealen Mahlstrom aus Farben und Schatten, und es dauerte eine Weile, bis er sich seines Irrtums bewußt geworden war. Nicht die Außenwelt, das Haus existierte nicht! Es hatte noch immer nicht Fuß in der Wirklichkeit gefaßt, sondern war wieder im Nichts verschwunden! Geschockt schleuderte er die Tür zurück ins Schloß. Sein Verstand ertrug den Blick in Bereiche, die seinen geistigen Horizont sprengten, nicht länger. Wumm! Hohl hallte das Echo von den kulissenhaften Wänden, in die es Darren verschlagen hatte. Und das Gefühl, das ihn im nächsten Atemzug beschlich, brachte die endgültige Gewißheit, daß er sich in Gefilde vorgewagt hatte, denen er nicht gewachsen war. Niemand
war das. Er ist hier! Darren Secadas Nackenhärchen richteten sich steil auf. Hinter dir … In diesem Moment hätte er Stein und Bein geschworen, genau zu wissen, wer hinter ihm stand und wer seinen fiebrigen Blick wie das gebündelte Licht eines Brennglases auf seinen Nacken gerichtet hatte. Aber er kann nicht hier sein – man hat ihn weggeschlossen. Schon vor Jahren. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was aus ihm geworden ist … Was dieses Haus aus ihm gemacht hat …! Fast zwanghaft begann Darren die inneren Widerstände zu brechen und sich langsam, zeitlupenhaft langsam umzudrehen. »Vater …?« Sohn?
* Holloways Geschrei lenkte auch Seven van Kees’ Aufmerksamkeit hin zu dem Haus. Darren Secada war Minuten zuvor aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie hatte ein paar Kollegen von der schreibenden Zukunft und ein Team des Sydneyer Stadtsenders getroffen und heftig mit den anderen Medienvertretern über mögliche »natürliche« Ursachen des phantastischen Phänomens diskutiert – zu einem zufriedenstellenden Ergebnis waren sie nicht gekommen. Die Paddington Street war vor etwa dreieinhalb Jahren zum ersten Mal ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Damals hatten die Behörden völliges Stillschweigen über die Geschehnisse bei der Hausnummer 333 wahren wollen, aber einiges war trotzdem durchgesickert – vieles erst sehr viel später, als kaum noch ein Hahn danach gekräht hatte. Beth MacKinsey, Sevens Kollegin beim Sydney Morning Herald und auch ihre zeitweilige Geliebte, war damals regelrecht in die Geheim-
nistuerei um die Paddington Street vernarrt gewesen. Gemeinsam mit einem Urgestein des Herald, dem Fotografen Moskowitz, hatte sie einige spannende Theorien über die »Geheimsache Paddington« abgeliefert. Selbst der bärbeißige Moe Marxx, seines Zeichens Chefredakteur, war damals in die eigenwillige Art und Weise, wie Beth und Moskowitz zu recherchieren pflegten, vernarrt gewesen. Gewesen. Denn vor einigen Monaten hatte die Redaktionscrew des Herald den alten Moskowitz zu Grabe getragen. Der passionierte Zigarrenraucher war – ausgerechnet, schließlich hatte er Klischees immer verabscheut – an einem Lungenkarzinom gestorben. Und Beth … nun, Beth war irgendwo. Keiner wußte etwas über ihren Verbleib. Eine Weile war gemunkelt worden, sie hätte sich aus Liebe ins Ausland abgesetzt, würde jetzt in Tokio leben. Aber nie war auch nur eine Postkarte von ihr eingetrudelt. Beth war und blieb … ja, verschollen. Seven hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an die Frau, die so eigenwillig wie ihre Recherche-Methoden gewesen war. Ein Freak. Sie hatten nicht zueinander gepaßt. Sie war giftiger. Aber ich bin selbstbewußter … Mitten in die abschweifenden Erinnerungen hinein schnitten die Rufe des Chief Inspectors, die das kleine Grüppchen um Seven herum in geradezu atemberaubendem Tempo sprengten. Die Beamten entlang der Absperrung bekamen alle Hände voll zu tun, die losstürmenden Berichterstatter aufzuhalten und wieder in ihre Schranken zu weisen. Dann ging ein Aufschrei durch die Menge. Es war der Moment, in dem das Haus, in das Darren Secada verschwunden war, nun seinerseits verschwand! Und ihn mitnahm! Seven van Kees war als einzige stehengeblieben. Warum, hätte sie
selbst nicht zu beantworten gewußt. Ihr Herz jedenfalls schlug plötzlich so heftig, daß sie das Klopfen bis in ihren Hals spüren konnte. Und während ihre Kollegen von der Konkurrenz den Kordon der Polizeikräfte noch verbal attackierten, sah Seven bereits jemanden wutschnaubend auf sich zu kommen. Chefinspektor Chad Holloway! »Sie da! Ja, Sie! Habe ich Sie nicht vorhin mit diesem Verrückten reden sehen … Wie ist Ihr Name?« Seven faßte sich wieder. Sie schaffte es, indem sie den Vorfall unter der Rubrik »Unerklärliches« verbuchte und – vorläufig – nicht weiter darüber nachdachte. »Wollen Sie auch meine Telefonnummer?« »Sparen Sie sich Ihre dummen Witze.« »Es war kein Witz. Ich stehe auf cholerische Anmache. Also …?« Holloway errötete. »Worüber haben Sie gesprochen? Stecken Sie mit ihm unter einer Decke? Reden Sie, sonst werde ich Sie einbuchten, bis Sie schwarz werden!« »Sie würden sich vor Publicity nicht mehr retten können.« Seven tippte gegen den Presseausweis, der an der Herzseite ihrer Bluse baumelte. »Mein Brötchengeber ist sehr pingelig, was das Recht auf freie, ungehinderte Berichterstattung angeht. Sie verstehen?« Holloway war unmittelbar vor ihr stehengeblieben. Hinter ihm näherten sich Uniformträger, die ihn offenbar verfolgten, um nach neuen Instruktionen zu verlangen, wie sie mit dem Phänomen umgehen sollten. »Ihr Typ wird verlangt …«, wies Seven ihn darauf hin. »Sie wollen es mir nicht sagen?« beharrte Holloway auf seiner Frage. »Wollen schon, aber es gibt nichts zu sagen. Ich habe den Mann angeflirtet, mehr nicht. Klingt das so unglaubwürdig? Er sieht gut aus. Er hat das gewisse Etwas … was man nicht von jedem Mann
behaupten kann …« »Werden Sie nicht unverschämt, sonst –« Ein erneuter Aufschrei der Menschen, die sich entlang der Absperrung versammelt hatten, ließ Chad Holloway verstummen. Er wirbelte herum. Und brauchte – wie Seven – eine Weile, bis er überhaupt wahrnahm, was passiert war. Ein herbeieilender Polizist erklärte: »Willcox ist losgelaufen, Sir! Dieser Narr hat sich nicht aufhalten lassen, genausowenig wie dieser Secada …« Den Rest des Wortschwalls, der sich über Holloway ergoß, nahm Seven kaum noch wahr. Und auch Holloway verlor jegliches Interesse an der Reporterin. Zusammen mit den Beamten in seiner Gefolgschaft eilte er auf die künstlich gezogene Grenze zu, hinter der in diesem Augenblick ein Mensch das Opfer der Ausläufer des Spuks wurde. »Hölle und Verdammnis – holt mich hier raus …!« Erbärmlich krächzend verwehte die Stimme von Sergeant Willcox, der auf halbem Weg zu der Stelle, wo das Haus verschwunden war, bis zum Nabel in der weich wie Butter gewordenen Erde eingesunken war. Und den es unaufhörlich weiter abwärts zog! Grundgütiger Himmel, dachte Seven. An Morast wollte sie nicht glauben. Auch nicht an Treibsand. Sie waren in Sydney, Australien, mitten in der Stadt, nicht irgendwo im Outback! Selbst wenn es hier einmal Sümpfe gegeben hatte, waren sie seit Jahrzehnten trockengelegt … Selbst zu keiner Hilfeleistung fähig, beobachtete Seven, wie Rettungsmaßnahmen getroffen wurden, den immer hysterischer um sich schlagenden Polizisten vor einem grauenhaften Schicksal zu bewahren. Chad Holloway entpuppte sich als Mann mit Ideen. Er befahl, mehrere Abschleppseile aus den umstehenden Polizeifahrzeugen zusammenzuknoten. Seine Frage nach einem Freiwilligen wurde nicht sofort beantwortet, worauf er nicht zögerte, sich das Ende
des gelängten Seiles selbst unter den Achselhöhlen hindurch um Brust und Rücken zu binden. Für die Vertreter der Medien war der Spontanentschluß des Einsatzleiters ein gefundenes Fressen. Kameras und Mikrofone richteten sich auf den Ort des Geschehens. Man wollte aufschnappen, was nur aufzuschnappen war, um Auflagen und Quoten in die Höhe zu treiben. Kein Zweifel, der Spuk in der Paddington Street war zum Medienereignis mutiert! Spätestens in dem Moment, als der Kampf um ein Menschenleben begonnen hatte! Eins? Seven versuchte das lähmende Gefühl aus ihren Muskeln zu vertreiben. Auch ohne die Mechanismen zu durchschauen, die ein Haus aus dem Nichts heraus erscheinen und wieder verschwinden ließen, konnte sie sich vorstellen, was mit Darren Secada bei der abermaligen »Auflösung« passiert war. Erstaunlicherweise rührte sie das Schicksal der gerade geschlossenen Bekanntschaft mehr als das des Polizisten, der vor ihren Augen verzweifelt um sein Leben rang. Dennoch nahm sie natürlich Anteil, verfolgte, wie Holloway mit raumgreifenden Schritten auf seinen Untergebenen zustürmte, von dem inzwischen nur noch der Kopf und die zum Himmel gereckten Arme zu sehen waren. Etwa zwei Mannslängen trennten Retter und Opfer noch voneinander, als auch Holloway ohne Vorwarnung einzusinken begann. Bis dahin hatte es ausgesehen, als würde die Aktion fast problemlos ablaufen. In Sekundenschnelle war Holloway nur noch von den Knien aufwärts zu sehen. Was dann geschah, nötigte Seven mehr als ein wenig Respekt ab. Sie leistete Holloway stumme Abbitte, als sie hörte, wie er beruhigend auf den Mann einsprach, der gerade verzweifelt nach Luft schnappte, weil seine Lippen den Boden berührten und sein Mund
sich mit Erde zu füllen begann, die jetzt ganz wie etwas … Flüssiges wirkte. Etwas Zähes, das an dem Polizisten zerrte und saugte, ihn verschlingen und nie wieder hergeben wollte …! Als Chad Holloway begann, das Seil um seine Brust wieder aufzuknoten, fiel eine Stille über die Szenerie, die selbst hartgesottene Sensationsreporter nicht aussparte. Für die Dauer von Holloways geistesgegenwärtigem Handeln hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Menschen hielten den Atem an. Holloway knüpfte mit fliegenden Fingern eine Schlaufe ins Seil und holte aus. Er hatte nur einen Wurf, und das wußte er. Und dann brach die Stille, weil alle glaubten, die Schlinge ginge am Ziel – an den bettelnd hochgereckten Händen – unerreichbar weit vorbei. Doch eben mit den Fingerspitzen einer Hand bekam der Versinkende das Seil doch noch zu fassen und packte zu. Wild verzweifelt stierten die Augen, die schon vom Schlamm (oder was immer es war) berührt wurden, nach oben. »Zieht!« Holloways Schrei schien die Männer an der Grenze wie aus einer Trance zu wecken. Drei von ihnen hielten das andere Seilende in den Fäusten. Und zogen jetzt behutsam, aber beharrlich, damit dem Mann der Rettungsanker nicht doch noch entrissen wurde. Sekunden später tauchte der Kopf wieder auf. Ein geschwärztes Gesicht, ein spuckender Mund … »Festhalten, Willcox! Lassen Sie um Gottes willen nicht los!« »Nein – Sir!« gab der Mann Holloway Antwort. Endlich faßte auch die zweite Hand zu, fand Halt an dem Seil. »Jetzt kräftiger ziehen – schneller!« Vor Seven und den anderen Zuschauern lief alles wie ein Film ab. Willcox wurde auf festen Boden gezogen, und dann warf man Holloway das Seil zu, der zu diesem Zeitpunkt auch schon bis zur
Brust eingesunken war. Als sich die Hände des Chefinspektors um die Schlinge krampften, brandete erster, noch verhaltener Applaus auf, der sich zum tosenden Beifall steigerte, kaum daß auch Chad Holloway wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte. Vielleicht war Seven die einzige, die in diesem Augenblick den Blick weg von der erleichterten Menge schweifen ließ. Warum sie zur gegenüberliegenden Straßenseite blickte, hätte sie selbst nicht zu sagen vermocht. Es war ein … Gefühl. Zwei Männer standen dort in den Schatten, nur undeutlich erkennbar, weil die Flutlichtstrahler in entgegengesetzte Richtung wiesen. So wenig wie Seven wußte, was ihren Blick dorthin gelenkt hatte, verstand sie, warum sie beim Anblick der beiden Gestalten eine Gänsehaut überlief. Fröstelnd wandte sie sich ab – – und als die Neugierde siegte und sie Sekunden später erneut zu der Stelle schaute, stand niemand mehr dort. Entweder hatten sich die Unbekannten unter die anderen Neugierigen gemischt, oder sie waren gegangen. Seven tat es mit einem Achselzucken ab. Und mußte mit Unbehagen feststellen, daß es so einfach nicht war. Ungeachtet der wesentlich dramatischeren Ereignisse vor Ort kehrten ihre Gedanken immer wieder zu den beiden Fremden zurück. Bis das Haus zurückkehrte und die Tür sich öffnete –
* Sohn? Darren Secada starrte in die Weite des Ganges, der in nebliges, wie Schwaden dahinziehendes Licht gehüllt war, das aus den Fenstern hereinfiel. Der Gang jedoch war leer. Niemand befand sich erkenn-
bar in seiner Nähe. Darren kämpfte die aufkeimenden klaustrophobischen Ängste nieder. Zweifellos war er gefangen! Das Haus kommt und geht, hielt er sich vor Augen. Das Wabern vor der Tür bedeutet, daß es sich wieder aus meiner Wirklichkeit entfernt hat. Faktisch gesehen hatte er den wahrscheinlich größten Fehler seines Lebens begangen, als er dieses Gebäude betrat. Hatte er sich ernsthaft eingebildet, einfach hier hereinstiefeln und in Erfahrung bringen zu können, was seinen Vater damals zum Wrack gemacht hatte? Zu einem, der sich einbildete, ein Vampir zu sein? Die Neugier (und die Furcht vor dem wabernden Irrsinn jenseits der Tür) trieb Darren zum Ende des Ganges, wo Treppen nach oben und unten führten. Wer hatte das Haus ausgeräumt? Und warum? Es gab keine Einrichtung, nicht einmal Tapeten, keine Teppiche oder andere Bodenbeläge, keine Dekoration, nicht einmal … Farbe. Alles grau in grau, dachte Darren. Es könnte ein Spiegel meiner Gefühle sein. Es kam ihm fast vor, als würde er sich durch das Bühnenbild eines Theaters oder einer Filmproduktion bewegen. Seine Umgebung wirkte seltsam unecht, beinahe wie ein computergeneriertes Bauwerk. Aber als Darren eine Wand berührte, war sie keineswegs »virtuell«, sondern fühl- und greifbar wie die Tür, durch die er in dieses Haus gelangt war. Vorsichtig und auf unliebsame Überraschungen gefaßt, durchsuchte er Raum für Raum des Erdgeschosses. Die Monotonie wurde nur selten unterbrochen. In einem größeren Zimmer war ein Kamin angedeutet, ab und zu gab es kleine Nischen und Deckenabstufungen, aber alles wirkte wie ein dreidimensionaler Grobentwurf, nicht wie die bewohnbare Endfassung … Kulissenhaft, dachte Darren. Kulissenhaft ist das Wort, das es am besten ausdrückt.
Das obere Stockwerk würde nicht anders aussehen. Schon die Treppe war im selben Stil gehalten – nichtssagend und anonym. Inzwischen zweifelte er auch nicht mehr daran, daß er das einzige lebendige Geschöpf in diesem »Gebäude« war. Und doch fühlte er sich noch immer seinem Vater nahe. War dieses Haus etwa selbst ein Vampir? Hatte es einen Teil von Brian Secadas Seele an sich gerissen – jenes Stück, das dem Parapsychologen seither fehlte und ihn seiner Normalität beraubt hatte? Darren schrak zusammen, als er plötzlich mitten auf der Kellertreppe stand. Er hatte gar nicht gemerkt, daß er, in Gedanken versunken, weitergegangen war, und er erinnerte sich auch nicht daran, die Tür geöffnet zu haben und Stufen der Wendeltreppe hinabgelaufen zu sein. Aber er hatte es getan. Einem ersten Impuls folgend wollte er wieder nach oben steigen. Bis ihm auffiel, was hier unten anders war. Nicht nur das Licht, das eine andere Quelle zu haben schien wie die nebulöse Helligkeit droben, sondern auch – – die Treppe, die aussah wie eine holzgefertigte Treppe, nicht nur wie eine Requisite …! Ein Fetzen Wirklichkeit … Der Gedanke prägte ein Lächeln um Darrens Mundwinkel. Plötzlich merkte er, wie seine gewohnte Selbstsicherheit zurückkehrte. Es war, als hätte das, was ihn eine ganze Zeitlang mit verständlichen Ängsten und Vorahnungen zugedeckt hatte, plötzlich seine Macht über ihn verloren. Er straffte sich. Möglich, daß er sich täuschte. Möglich, daß er in einer Gefahr schwebte, die alles Vorstellbare überstieg. Aber dann würde es ihn auch nicht retten, wenn er kopflos die Flucht antrat. Dann saß er bereits in der Falle. Langsam setzte er Fuß vor Fuß, wagte sich tiefer.
Ein Gewölbe öffnete sich vor ihm. Das Licht war hier schwächer. Zu den Wänden des Gewölbes hin verlor es immer mehr an Kraft, so daß Darren nicht in der Lage war, die Grenzen des domartigen Runds überhaupt zu erkennen. Ob dort weitere Gänge abzweigten, weitere Räume angegliedert waren, hätte er nur herausfinden können, wenn er sich ins Dunkel vorgetastet hätte. Aber er wußte, daß er es nicht tun würde. Er wußte es in dem Moment, als ihm drastisch klargemacht wurde, daß er sich geirrt hatte. Dieses Haus – zumindest sein Keller – war nicht so verlassen, wie es den Eindruck erweckt hatte … Vor ihm, ein paar Schritte vom Ende der Treppe entfernt, befand sich etwas, das Darrens Blick magnetisch anzog. Eine Skulptur, war sein erster Gedanke, als er das quecksilberfarbene Gebilde entdeckte. Eine lebensgroße Frauen-Ikone … Langsam ging er auf die liegende Figur zu, der zwar sämtliche Details fehlten, welche die Illusion hätten wecken können, tatsächlich vor einem Menschen aus Fleisch und Blut zu stehen, aber das hinderte Darren nicht daran, bei ihrem Anblick eine Gänsehaut nach der anderen zu bekommen. Es fühlte sich mit einer Intensität zu diesem Objekt hingezogen, daß es ihn selbst erschreckte. Woraus mag es bestehen? Er bückte sich und berührte die Oberfläche – so wie er manches Mal die Toten anfaßte, bevor er mit der Obduktion begann. Um einen Kontakt, eine Beziehung zu ihnen herzustellen, ohne die ihm ein intuitives Arbeiten, das Aufdecken von Todesumständen, die kaum Spuren hinterlassen hatten, wahrscheinlich oft kaum möglich gewesen wäre. »Als guter Pathologe mußt du dein Handwerk aus dem Effeff beherrschen, aber um in diesem Job Erfolge zu erzielen, die über der normalen Quote liegen, muß auch etwas aus dir selbst kommen«, hatte er es Jimmy einmal zu erklären versucht. »Und je mehr aus dir
selbst dazukommt, desto treffsicherer wirst du werden. Du mußt dich für die Toten interessieren. Es waren einmal Menschen wie du und ich. Du mußt dich interessieren, und du mußt sie respektieren. Dann werden sie dir ihre Geschichte erzählen …« Er wußte nicht, warum er ausgerechnet jetzt an dieses Gespräch mit seinem Assistenten dachte. Aber er spürte, wie er auch diese Figur mit einem Respekt betrachtete, als wäre sie in der Lage, eine … Geschichte zu erzählen. Ein Geheimnis zu lüften … Kühl, aber nicht kalt fühlte sich das Material an, aus dem sie beschaffen war. Es war auch nicht glatt, sondern vermittelte den Eindruck, als würden Darrens Fingerkuppen über geöffnete, mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbare Poren gleiten. Aber noch während sein Gehirn diese Signale auswertete, begann sich die Oberfläche zu verändern. Darrens Fingerspitzen – – tauchten plötzlich in die Masse ein! Nur millimetertief. Bevor sie auf einen Widerstand stießen, dessen Konsistenz Darren sofort einzuordnen vermochte. Fleisch! Unter der dünnen »Schale« versteckte sich … Fleisch! Er wollte zurückzucken. Aber die quecksilbrige Substanz hielt seine Finger fest. Erst als er sich mit einem Ruck aufrichtete, konnte er sich befreien. Schweratmend und mit klopfendem Herzen stand er da, unfähig, den Blick von der Skulptur zu nehmen, deren Oberfläche nun komplett in Bewegung geraten war. Von Kopf und Füßen zog sich die Schwärze zurück und strebte zur Körpermitte hin! Im nächsten Augenblick quollen Haare hervor. Echte Haare. Und wurde helle Haut sichtbar. Die quecksilbrige »Hülle« löste sich von den betroffenen Hautflächen, als hätte nie eine festere Bindung zu dem darunter liegenden Gewebe bestanden … … und zum Vorschein kam eine junge Frau! Sie war nackt bis auf
den breiten Gürtel, in den sich die Substanz verwandelt hatte – und sie lebte! Deutlich konnte Secada erkennen, wie sich ihre Brüste hoben und senkten. Darrens Bewußtsein verlor sich völlig in dem unglaublichen Vorgang, dessen Zeuge er wurde – und das nicht nur, weil ihn die Schönheit und Blöße der Frau, die höchstens Mitte zwanzig sein konnte, bannte. Etwas griff von dort, wo er hinstierte, nach seinem Bewußtsein, nach seinem Geist, seinem Ich und seinem Willen. Etwas, das seinen Schrecken und seine unterschwelligen Ängste erstickte. Alles weitere geschah wie von selbst. Wie in einem Traum. Die dunkelhaarige Frau schlug die Augen auf und berührte dann den Gürtel, der sich abermals veränderte. Sekunden später trug sie ein hautenges Kleid, das ihre Blöße bedeckte. Sie war wunderschön. Dieses Wissen hatte Darren noch mitnehmen dürfen in den goldenen Käfig, in den die Frau seine Seele sperrte. Um seinen Körper zu benutzen …
* »Vorsicht!« Der vielstimmige Schrei lag auch Seven van Kees auf der Zunge, als sie sah, wie Darren Secada auf der schmalen Veranda des Hauses erschien und mit einer Dynamik die Stufen hinabeilte, daß ihr angst und bange wurde. Der Boden … Paß auf den Boden auf …! Seven machte ein paar unbewußte Schritte auf die Absperrung zu, ging Darren quasi entgegen, als wäre es ihr wichtig, sich persönlich um ihn zu kümmern. Abrupt blieb sie stehen – als sie bemerkte, daß Secada nicht wieder allein aus dem Haus gekommen war. Auf seinen Armen trug er …
eine Frau! Blitzlichtgewitter flammte den beiden Gestalten entgegen, die sich der Absperrung näherten. Dazwischen erklangen immer wieder ängstliche Warnrufe, Secada solle stehen bleiben. Aber der Boden schien seine Tücken verloren zu haben. Selbst als Secada die Stelle passierte, an der Willcox eingesunken war, gab die Erde nicht einmal unter der Doppelbelastung nach! Seven gab es auf, den Geschehnissen mit logischem Verstand zu Leibe rücken zu wollen. Das Haus ragte wieder in die scheinwerfergeflutete Nacht, und mit seiner Rückkehr schien auch der Grund und Boden um es herum wieder seine Normalität zurückgewonnen zu haben. Die Reporterin erreichte die Absperrung fast gleichzeitig mit Secada. Als sie der Schönheit der Frau bewußt wurde, die er noch immer auf seinen Armen trug, wallte unwillkürlich Neid, ja sogar Eifersucht in Seven auf. Von der ersten Sekunde an war ihr diese Frau unsympathisch! Ihre Schönheit ist nur eine Hülle, redete sie sich ein, um die Konfrontation mit der Fremden besser zu ertragen. Sie kommt aus dem Haus. Sie kann keine Frau aus Fleisch und Blut sein, es sei denn, sie hat sich heimlich hineingeschlichen wie er – Secadas Stimme zerschnitt Sevens Gedankenkette. »Laßt mich durch – schnell. Sie braucht sofort medizinische Versorgung … Sie muß in ein Krankenhaus!« Ein Notarztteam, das inzwischen eingetroffen war (und das sich auch um Willcox gekümmert hatte), bahnte sich den Weg zur Absperrung. Seven beobachtete, wie die Polizisten die Vertreter der Medien zurückdrängten und Freiraum um Secada und die Frau herum erzwangen. »Dafür werden Sie sich verdammt noch mal verantworten müssen!« hörte Seven Holloway fluchen. Der Chefinspektor zerrte eigenhändig das Absperrband nach
oben, um es Secada zu ermöglichen, darunter durchzulaufen. Er wartete ab, bis der jungenhafte Pathologe die unbekannte Frau in die Obhut der Ärzte übergeben hatte, dann baute er sich vor ihm auf und packte ihn am Kragen. »Sie …! Wissen Sie eigentlich, daß einer meiner Leute um ein Haar draufgegangen wäre?« Secada streifte die Berührung des Chiefs wie ein lästiges Insekt ab. »Manchmal hören Sie sich echt krank an, Holloway. Wenn Sie unbedingt einen Sündenbock brauchen, von mir aus. Ich stehe zur Verfügung. Aber dieses Haus hat meinen Vater auf dem Gewissen, und wenn einer das Recht hatte, es zu betreten, dann ich!« Holloway schmälte die Augen, ging aber nicht auf Secadas Worte ein. »Was ist mit der Frau? Wo haben Sie sie gefunden?« »Dreimal dürfen Sie raten.« »Und wie kam sie in das Haus?« »Ich bin überzeugt, das wird sie unter Ihrer Folter verraten – sobald die Ärzte grünes Licht zum Verhör geben.« »In dieser Stadt wird niemand gefoltert!« Holloways Tonfall ließ wenig Zweifel, daß der Chefinspektor dies bedauerte, jedenfalls in Bezug auf ganz bestimmte Personen, die ihm zum Greifen nahe standen … Darren Secada wandte sich ab. »Halt! So kommen Sie mir nicht davon! Wo wollen Sie hin?« »Wohin?« Er blieb noch einmal stehen. »Ich will mit dieser Frau ins Krankenhaus. Sie können sich ja inzwischen um die da kümmern.« Er wies hinüber zu dem Pulk der Journalisten, der den Polizeikordon mit Kameras und anderen Spielereien zu durchbrechen versuchte. »Die Meute hat Blut geleckt …« Damit ließ er Chad Holloway stehen und tauchte in den Fond des Rettungswagens, der sich Sekunden später in Bewegung setzte und die Paddington hinunterraste, Richtung Memorial Hospital. Holloway löste sich aus seiner vorübergehenden Erstarrung. Mit verkniffenem Gesicht ging er den Reportern entgegen, die ihn mit
Fragen bestürmten. Seven van Kees beteiligte sich nicht daran. Sie hatte sich frühzeitig abgesetzt und mit ihrem pinkfarbenen Beetle Asgard an die davon eilende Ambulanz angehängt. Während der ersten Minuten der Fahrt glaubte auch sie noch felsenfest, das Memorial sei das Ziel. Aber sie irrte sich …
* »Hierher. Legt sie hier ab – vorsichtig.« Darren dirigierte den Notarzt und den muskulösen Rettungssanitäter zu dem Bett, in dem sonst er schlief. Meist allein, hin und wieder auch mit einer flüchtigen Bekanntschaft. Zu etwas »Festem« hatte es noch nicht gereicht. Er war auch nicht auf der Suche. Darren wartete, bis die Männer wieder gegangen waren. Als er wenig später durch das Fenster schaute, sah er den Rettungswagen abfahren. Erst allmählich kam ihm das untypische Verhalten der Wagenbesatzung zu Bewußtsein. Normalerweise hätte ein Arzt ihm niemals die Verantwortung für die Frau übertragen. Er wußte nicht, wie lange er einfach nur dagestanden hatte, bis eine wohltönende Stimme sagte: »Gut gemacht.« Seine Finger krampften sich um die leicht vorstehende Fensterbank. Er hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Benommen kämpfte er gegen den Strudel an, der an seinem Bewußtsein zerrte, und immer noch wackelig auf den Beinen drehte er sich um. Er wußte kaum, wie er in seine Wohnung gelangt war. Seine Erinnerung wies Lücken auf, seit er im Kellergewölbe des gespenstischen Hauses auf sie getroffen war. Sie, die jetzt wie hingegossen auf seinem Bett lag, gekleidet in ein hautenges Teil, das der bizarren Phantasie eines Modeschöpfers entsprungen sein mußte! Das Kleid, das sie eben noch getragen hatte, war verschwunden und hatte einem wie organisch wirkenden Catsuit Platz gemacht, das an etlichen Stellen wie zerrissen aussah.
So schwarz wie das Kleidungsstück waren auch ihre Haare – ein schwärzeres Schwarz, als Darren es je bei einer Frau gesehen hatte – und ihr Gesicht vereinte in sich Anmut und Strenge. Jadegrüne Augen betrachteten ihn ohne den geringsten Argwohn. »Wer sind Sie?« fragte Darren Secada. Kehliges Lachen antwortete seiner unbeholfenen Frage. Hoch angesetzte Wangenknochen deuteten auf slawische Einflüsse hin – osteuropäische, wie Darren mutmaßte. »Ich bin Lilith. Lilith Eden. Und wie ist dein Vorname? Den Nachnamen habe ich schon gehört.« »Darren.« »Schön, Darren. War es Zufall, daß ausgerechnet du mich fandest?« Das Schwindelgefühl verstärkte sich wieder. »In der – Paddington?« vergewisserte er sich. »Wo sonst?« Also doch. Ich war also wirklich dort … Er hatte fast schon in Erwägung gezogen, alles nur geträumt zu haben. Aber vielleicht träumte er ja noch immer …? Er räusperte sich. Wußte nicht, was er antworten sollte. In diesem Augenblick machte sich jemand an der Wohnungstür bemerkbar. Der Türsummer blieb stumm, dafür erklang ein kurzes, energisches Klopfen. »Erwartest du jemanden?« Darrens Blick schwenkte zur Uhr neben dem Bett. Sie zeigte 2:45 Uhr an. »Um diese Zeit? Eigentlich nicht …« »Dann kann es nur bedeuten, daß sie uns auf die Schliche gekommen sind. Vielleicht ist uns ein Polizeiwagen gefolgt …« Lilith trat neben Secada, senkte ihren Blick tief in die Augen des Mannes und gab ihm klare Instruktionen, wie er sich zu verhalten hatte. Während er das Zimmer verließ und zur Wohnungstür ging, öffnete sie das Fenster. Niemand sollte die Frau aus der Paddington
Street in diesem Apartment finden. Lilith streckte den Kopf ins Freie. Der volle Mond stand hoch am Himmel, die Luft war mild. Es war eine wunderbare Nacht zum Fliegen …
* Darren hatte das Gefühl, über schwankende Schiffsplanken zu laufen. Unmittelbar vor der Wohnungstür blieb er stehen. Wieder ein hartes, ungeduldiges Klopfen, diesmal anhaltender. »Wer ist da?« Noch während er einen Blick durch das Nadelöhr des Spionauges warf, erklang eine Stimme: »Machen Sie auf, Mister Secada, hier ist die Polizei! Sergeant Lafferty. Chief Inspector Holloway schickt mich!« Darren löste die Türverriegelung und öffnete. Ein spindeldürrer Polizist in Uniform blickte ihm streng entgegen. »Worum geht es?« »Darf ich eintreten?« Darren blockierte die Tür weiterhin mit seinem Körper. »Können wir die Sache nicht hier draußen besprechen?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht …« Der Sergeant zuckte die Schultern. »Worum geht es also? Was will Holloway? Braucht er Unterstützung?« »Ein paar Antworten würden ihm wahrscheinlich schon genügen.« »Fragen Sie. Was liegt Ihnen auf dem Herzen?« »Sie wollten eine Verletzte aus der Paddington Street ins Memorial Hospital bringen, richtig?« »Ja. Ich …« Darren stockte. Richtig, er hatte die Frau ins Memorial bringen wollen. Warum hatte er seine Pläne eigentlich geändert …?
»Nun, Chief Inspector Holloway hat dort nachgefragt«, fuhr der Polizist fort. »Der Transport ist ohne die Frau eingetroffen – und ohne Sie. Können Sie das erklären, Sir?« Darrens Gedanken rasten, als er eine halbwegs logische Begründung für etwas finden wollte, das er selbst nicht verstand. »Die Frau … war unverletzt«, begann er zögernd. »Im Krankenhaus hätte man nichts für sie tun können. Also bat ich den Notarzt, sie in meine Obhut zu übergeben.« »Sie meinen den Arzt, mit dem Sie von der Paddington ins Memorial fuhren?« Darren Secada nickte. »Interessant.« Der Sergeant sah ihn unverhohlen mißtrauisch an. »Der Arzt, von dem Sie sprechen, wird gerade von meinen Kollegen verhört. Er und die restliche Besatzung der Ambulanz, mit der Sie und die Frau aus der Paddington abfuhren.« »Verhört? Warum das?« »Weil diese Männer behaupten, sich weder an Sie noch an eine Frau erinnern zu können! Sie behaupten, leer zum Memorial zurückgefahren zu sein. Können Sie mir das erklären?« »Wollen Sie mich der Lüge bezichtigen?« brauste Darren in Ermangelung einer besseren Antwort auf. »Wenn die Frau bei Ihnen ist, muß ich Sie bitten, sie mir zu übergeben«, sagte der Polizist, und es klang viel mehr nach einem Befehl als nach einer Bitte. »Und Sie kommen ebenfalls mit mir; Chief Inspector Holloway hat noch einige weitere Fragen an Sie …« Hinter Sergeant Lafferty tauchten zwei weitere Ermittlungsbeamte auf. Sie kamen schnurgerade auf die Tür zu. Fast lautlos. Darren bemerkte sie nur, weil er sie über die Schultern des Sergeants erkennen konnte. Die sanfte Fessel um seinen Geist erwies sich in dieser Situation als Handicap. Ansonsten hätte er vielleicht früher – und rechtzeitig! – erkannt, daß die Neuankömmlinge ziemlich untypisch für Polizisten
waren und auch keine Uniformen trugen … Kurz bevor sie die Wohnung erreichten, schien auch Lafferty zu bemerken, daß sich jemand von hinten näherte. Er wollte den Kopf drehen. Wollte. In diesem Moment packte ihn bereits einer der Fremden wie einen Hasen im Genick – und schleuderte ihn mit geradezu unmenschlicher Kraft gegen die gegenüberliegende Wand, wo er reg- und besinnungslos liegen blieb, während Darren noch wie gelähmt dastand und in die Gesichter der beiden Männer blickte, die ihn höhnisch angrinsten. Bevor das Grinsen zur Grimasse wurde. Und bevor ihre Züge zerfielen. Fassungslos sah Darren zu, wie die Augen der Männer in den Höhlen zurückzusinken schienen (die Knochenwülste vielleicht auch aus dem Schädel herauswuchsen) und sich die Kiefer explosionsartig umbildeten. Im nächsten Moment standen zwei völlig veränderte Wesen vor ihm. Das Menschliche war nur noch rudimentär vorhanden. Schreckliche Bestien lachten ihn an, streckten ihre Klauen nach ihm aus und – – eine Stimme schrie: »Lauf! Lauf um dein Leben!«
* Die kryptischen Träume waren gewichen. Wie vor langer Zeit schon einmal hatte sie ihre Wiege in der Paddington Street verlassen … Der Symbiont schmiegte sich spinnwebenfein an Lilith Edens Körper, einer zweiten Haut gleich. Äußerlich hatte sie sich während ihres Schlafes nicht verändert. Die Reife hatte in ihrem Kopf stattgefunden. Armageddon war abgewendet worden, und der kräftezehrende
Kampf gegen Satan war Vergangenheit.* Viel mehr als eine Erinnerung daran war nicht geblieben. Dafür war der einst vorzeitig unterbrochene Prozeß nun vollendet. Als ein Aufschrei das Gespräch an der Tür unterbrach und etwas (jemand?) zu Boden ging, wandte sich Lilith von dem Fenster ab, durch das sie sich in den Abgrund der Nacht hatte stürzen wollen. Bösartiges Lachen überzeugte sie, daß die Situation aus dem Ruder lief. Das konnte nicht die Polizei sein. Aber wer hatte noch Interesse an ihr haben können …? Mit geschmeidigen Bewegungen huschte Lilith auf den Flur. Und sah die Fratzen der beiden Gestalten, die Darren Secada bedrohten. Für einen Moment war sie wie vom Donner gerührt, unfähig, irgend etwas zu denken. Dann hatte sie sich wieder gefangen. Vampire? Vampire bedrohten den Mann, der sie, noch benommen von dem langen Schlaf, aus dem Haus in der Paddington Street getragen hatte! Vampire! Ein Feind, der gar nicht mehr hätte existieren dürfen! Nicht, nachdem Gott selbst die Vernichtung der Alten Rasse beschlossen hatte. Aber dies war nicht die Zeit für Überlegungen. Lilith stürmte los, auf Secada zu, dem sie eine Warnung zuschrie, weil er wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf seine Mörder wartete. Endlich reagierte er. Warf sich herum und rannte ihr entgegen. Die Klaue eines der Vampire wischte durch die Luft, traf Secada in den Rücken und trieb ihn Lilith entgegen. Er strauchelte. Aber Lilith war bereits bei ihm und verhinderte seinen Sturz. Damit er schneller und intuitiver reagieren konnte, löste sie ihre Hypnose, mit der sie auch schon die Besatzung des Krankenwagens in ihren Bann gebracht hatte, gab Secada seinen uneingeschränkt *siehe VAMPIRA T50: »Armageddon – Die letzte Schlacht«
freien Willen zurück und dirigierte ihn zum Schlafzimmer. Die Verfolger waren ihnen dicht auf Fersen. Vampire! Sie konnte es noch immer nicht glauben. Eine Welt ohne Vampire hatte Gott versprochen, bevor er sie schlafend zurückgelassen hatte … »Was geht hier vor?« Secada leistete plötzlich Widerstand. Gegen sie! Lilith ignorierte seine Befreiungsversuche. »Willst du leben? Dann mußt du hier raus!« Sie stieß ihn förmlich über die Schwelle des Schlafzimmers und warf die Tür ins Schloß. Der Schlüssel steckte. Ein Knacken ertönte, als sie ihn hastig drehte. »Was ist passiert?« fragte Secada. »Wie komme ich –« Die Tür wölbte sich unter einem heftigen Schlag nach innen, hielt aber noch stand. »Wir haben zehn Sekunden – vielleicht weniger«, zischte Lilith Secada zu. »Willst du die mit Reden vergeuden?« Sie wies auf das Fenster, das sie schon geöffnet hatte. »Los, du mußt über die Feuerleiter nach unten! Schnell!« Wahrscheinlich wußte er selbst nicht, woher er sein plötzliches Vertrauen in sie nahm. Aber er gehorchte. So schnell er konnte, kletterte Darren durch das Fenster, tastete nach den Leitersprossen. Lilith befand sich noch im Zimmer, als die Tür aus den Angeln gesprengt wurde. Die Unheimlichen stürmten herein. Keine Chance! dachte Darren. Er war überzeugt, sterben zu müssen. Gleich nach Lilith Eden …
*
Lilith stand den Vampiren Auge in Auge gegenüber, dicht vor dem Fenster, durch das sich gerade Secada gezwängt hatte. Die Angreifer stürzten sich auf die sichere Beute. Lilith wartete nicht nur den Aufprall ab, sondern auch, bis die Hände ihre Feinde Halt an ihr gefunden hatten. Dann ließ sie sich nach hinten fallen, kippte rücklings aus dem Fenster. Und zog die Vampire mit sich. Im freien Fall leitete Lilith die Metamorphose ein und verwandelte sich in ihr zweites Ich: eine Fledermaus. Der Sturz endete abrupt, als ihre ledrigen Schwingen die Nachtluft peitschten. Die Finger der Vampire lösten sich mit einem Ruck vom Symbionten, als dieser sich blitzartig zusammenzog. Lilith wußte nicht, ob die beiden Gestalten schreiend in die Tiefe stürzten. Sie hörte auch nicht den Aufschlag. Für die Dauer der Metamorphose war ihr Gehör auf andere Frequenzen ausgerichtet. Danach kreiste sie noch eine Weile benommen über der Stelle, wo die Blutsauger zum Liegen gekommen waren. Es waren keine echten Vampire, durchfuhr es sie, sonst wären sie nicht so leicht umgekommen. Es müssen Dienerkreaturen gewesen sein … Auch die hätte es nicht mehr geben dürfen! Als sie beobachtete, wie Darren Secada das Ende des Leitergewirrs erreichte und auf die beiden reglosen Körper zueilte, landete Lilith unmittelbar bei ihm und verwandelte sich zurück. Secada bemerkte sie erst, als sie ebenfalls neben den Körpern niederkniete, die sich jeden Knochen im Leib gebrochen hatten. »Sie sehen wieder aus wie … wie normale Menschen!« stöhnte Secada, der die Hand eines der Toten hielt, als hätte er seinen Puls gemessen. Als hätten noch die geringsten Zweifel bestanden, daß er wahrhaftig tot war. »Aber oben in meinem Apartment … Ich – verstehe nicht … Wie können sie …« Ich verstehe es auch nicht, dachte Lilith. Die Köpfe der beiden Leichen waren in einem unmöglichen Win-
kel verdreht. Ihr Genick war gebrochen. Aber warum waren sie dann nicht zu Staub zerfallen, wie alle Dienerkreaturen, die sie in ihrem Leben schon getötet hatte? Darren Secada beugte sich tiefer und wurde kreidebleich. Als hätte der Schock ihn erst jetzt wie ein Blitzschlag getroffen. Ab diesem Moment wirkte er uralt. »Nein …«, stammelte er. »Das ist … unmöglich! Nicht schon … wieder …!« »Was nicht schon wieder?« Lilith half suggestiv nach, daß er redete. »Es ist wie bei Manson … genau wie bei Manson! Diese beiden sind nicht gerade eben erst gestorben, sondern schon vor Wochen …! Die Verwesung ist deutlich fortgeschritten. Die Flecken hier … Die wässrige Konsistenz des Gewebes …« Lilith hörte kaum hin. Sie zerfallen nicht, aber sie verwesen? Aus der Ferne nahte Sirenengeheul. Offenbar hatte jemand die Polizei verständigt. Sie konnten hier nicht bleiben. »Du hast schon einmal Tote wie diese gesehen?« Lilith vermied das Wort Vampire. »Einen«, seufzte Secada. »Dann komm mit. Ich habe Fragen, auf die du vielleicht eine Antwort weißt.« Widerstandslos ließ er sich von Lilith wegführen. Epilog »Heute Nacht habe ich erfahren, daß ich nicht mehr sicher bin. Daß niemand mehr sicher ist. Egal, woran er glaubt! Die Welt ist anders, als sie scheint! Wir Menschen … sind nicht die Einzigen, die töten und Schrecken verbreiten. Die alte Legende … ist wahr.« Seven van Kees saß vor ihrem Schreibtisch daheim und richtete
den Blick durch das Fenster auf die Stadt, die dalag, als wäre nichts geschehen. Der Tag brach an, und das Leben pulsierte schon jetzt in Sydneys Adern wie gestern, wie vorgestern und alle Tage davor. Ihr Unwissenden, dachte die Reporterin schaudernd. Wenn ihr gesehen hättet, was ich gesehen habe … Sie blickte auf das Display ihres Notebooks, wo ein Spracherkennungsprogramm aus dem gesprochenen Wort lange Zeilen Schrift erzeugt hatte. Ihrem Tagebuch konnte sie anvertrauen, was sie in dieser Nacht gesehen hatte – nachdem sie der Ambulanz von der Paddington Street aus gefolgt war. Nicht zum Memorial, sondern … zu Darren Secadas Wohnung. Dort hatte sie aus sicherem Versteck beobachtet, wie ein Polizist das Haus betreten hatte, und kurz nach ihm zwei düstere Gestalten. Dieselben Männer, die kurze Zeit später aus dem achten Stock auf die Straße gestürzt waren, gefolgt von einer großen Fledermaus, die sich – Seven konnte es noch immer nicht glauben – vor ihren Augen in die Frau aus dem Spukhaus in der Paddington verwandelt hatte! Was hatte das zu bedeuten? War die Sage von den blutsaugenden Vampiren mehr als ein abergläubisches Märchen? Sie hatte gehofft, daß die Bilder, die sie mit ihrer hochempfindlichen Digitalkamera geschossen hatte, das Unglaubliche belegen würden. Doch nachdem sie das Gerät an ihren Computer angeschlossen und die Aufnahmen übertragen hatte, mußte sie erkennen, daß auch dieser Teil der Legende zu stimmen schien: Vampire waren nicht auf Film zu bannen, nicht einmal auf einen hochmodernen Speicherchip. Auf den Fotos waren das Haus, die Feuerleiter und die Straße zu sehen, mehr nicht. Lediglich Secada war einmal von hinten zu erkennen, nicht aber die beiden Unbekannten. Waren auch sie Vampire gewesen? Den Blick wie in Trance auf die Buchstabenreihen geheftet, die den Bildschirm eroberten, redete sich Seven weiter von der Seele, was ih-
ren Verstand zerrüttet hätte, wenn sie ihm kein Ventil verschafft hätte. Sie wußte nicht, wann es endlich gut war. Bis ihre Finger die Taste drückten, die Datum und Uhrzeit unter den wahnsinnigsten Eintrag setzten, den sie je in den Speicher ihres Computers gesprochen hatte. Und selbst danach fühlte sie sich von dem Alpdruck, der auf ihr lastete, nur zu einem geringen Teil befreit. 29. September 2000, las sie, was das Programm automatisch am Ende ihres Textes angefügt hatte. 6:23 Uhr. Träum was Schönes, Seven-Darling. Normalerweise fand sie nur spät abends Zeit für ihr Tagebuch; jetzt war es früher Morgen. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Und wahrscheinlich würde sie das auch für lange Zeit nicht können, ohne von Alpträumen gequält zu werden. Dabei hatte ihr ganz persönlicher Alptraum noch gar nicht begonnen … ENDE
Hersophiles und ich Leserstory von Martina Schmidt Hallo, mein Name ist Eehad Harthworth. Ich bin verrückt, und das war ich bereits zu Lebzeiten. Ich weiß nicht, was sich mein Erzeuger dachte, als er mir den »Kuß« gab, denn aus einem Verrückten, der mit seinem Leben ohnehin nicht fertig wurde, machte er einen geisteskranken Vampir. Die wenigen Dinge, die mich von dem Mann unterscheiden, der ich einst war, sind meine übermenschlichen Kräfte, meine geschärften Sinne und der Hunger. Selbst das Verlangen nach Drogen, das ich als Sterblicher oft empfunden hatte, das mich blind gegenüber allem anderen machte, das mich aufzehrte und mir das Gefühl gab, daß nichts wichtiger sein könnte, als die Sucht für ein paar Stunden zu stillen, könnte mit diesem Hunger verglichen werden. Ich töte meine Opfer nur im äußersten Notfall. Es macht viel mehr Spaß, sie um etwas Lebenssaft zu erleichtern und sie dann später in meinem Unterschlupf wiederzutreffen, einer renommierten New Yorker Irrenanstalt, in die sie eingeliefert werden, weil sie durch die Straßen rennen und aller Welt erzählen, ein Vampir hätte sie gebissen. Letztens ist mir allerdings ein kleiner Unfall passiert. Ich konnte ja nicht ahnen, daß mein Abendessen, ein Pizzafahrer, der sich mir selbst frei Haus lieferte, bewaffnet war. Als ich ihn ansprang, zog er seine Pistole, und da ich nicht wollte, daß jemand auf uns aufmerksam wurde, mußte ich ihn wohl oder übel ruhigstellen. Leider habe ich dabei Hersophiles’ Kräfte wieder mal unterschätzt. – Eigentlich schade, denn der Fahrer kam von einer Pizzeria, die auch abgelegene Stadtviertel und einsame Telefonzellen belieferte. Inzwischen ha-
ben sie das geändert. Ach, ich habe Ihnen Hersophiles ja noch gar nicht vorgestellt – hoffentlich nimmt er mir das nicht übel. Hersophiles ist mein bester Freund: ein Baseballschläger. Ich habe ihn in einem alten Spielzeugladen gefunden. Dort mußte er ständig auf das Nachbarregal voller Barbiepuppen starren. Lange hätte er das bestimmt nicht mehr überlebt. Ich habe ihn eines Nachts gerettet und ihm dabei geholfen, den Puppen den Garaus zu machen. Hersophiles mag nämlich keine grinsenden Puppen, müssen Sie wissen. Wenn ich es so bedenke, war diese Nacht eine der schönsten meines neuen Lebens – zumindest bis zu dem Moment, wo Hersophiles einen Ken in Frack und Unterhose verfehlte und statt dessen den Feueralarm auslöste … Seitdem sind wir unzertrennlich und haben uns schon oft gegenseitig das Leben gerettet. O ja, wir haben schon viel zusammen durchgemacht. Da fällt mir zum Beispiel eine Nacht ein, es war erst vor kurzem: Wir hatten wieder einmal recht lange in Rick’s Bar direkt am JFK-Flughafen gesessen und wollten uns gerade auf den Heimweg machen. Die Luft war frisch, duftete wie der junge Frühling, dezent vermischt mit ein paar Autoabgasen. Ein grummelndes Gefühl in meinen Venen machte mich darauf aufmerksam, daß ich noch nicht gefrühstückt hatte. Hersophiles und ich wollten uns gerade aufmachen in die Stadt, als mein Blick auf ein fröhliches, unbeschwert buntes Plakat an einer Straßenlaterne fiel: Jahrmarkt im Wards Island Park. Ein Jahrmarkt! Treffpunkt glücklicher Familien mit rosigen kleinen Kindern. Ein unbeschwerter Tummelplatz voller Menschen, ein Auflauf unbesorgter, nichtsahnender Snacks und Appetithappen! Ich nahm den Luftweg, und so dauerte es nur wenige Minuten, bis ich vor dem großen bunten Trubel stand, der den ganzen Park mit lauter Musik, Angstgeschrei aus der Achterbahn und Popcornduft überflutete.
Eine Zeitlang mischte ich mich einfach unter die Menschen, doch dann, als mir langsam klar wurde, daß das Zerstechen von Luftballons kleiner Kinder zwar äußerst amüsant war, aber auf die Dauer nichts an meinem Hunger änderte, erblickten meine Augen das Heilige Land: die Geisterbahn! Mit vereinten Kräften schufen Hersophiles und ich uns einen Hintereingang und standen bald auf den Schienen, die die Welt – äh, den Tod bedeuten. Aus einem aufrecht stehenden Plastiksarg, der sich bei jedem vorbeikommendem Wagen öffnete, grinste mir ein glühbirnenäugiger Nosferatu entgegen. Doch die fanatisch blinkenden Augen erloschen bald, als ich ihm Hersophiles vorstellte. Hersophiles mag nun mal keine grinsenden Puppen. Ich schaffte die Überreste der Draculafigur beiseite und machte es mir in dem Sarg gemütlich. Als er sich beim nächsten vorbeifahrenden Fahrzeug öffnete, sprang ich heraus und direkt auf das darin sitzende Pärchen zu, das mir kreischend und mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte. Ich brachte sie zur Ruhe, indem ich ihre Köpfe kurz, aber schmerzvoll aneinander schlug. Dann stillte ich erst mal meinen Hunger. Ihr Blut durchströmte meine Adern süßer und kraftvoller als alles, was sich ein Sterblicher vorstellen kann. Als sich der Wagen dem Ausgang näherte verschloß ich die Wunden mit einem kurzen Darüberlecken wieder. Auf dem Weg zurück zum Plastiksarg wurde mir klar, was ich soeben getan hatte: Ich hatte das Drive-In für Vampire erfunden! So verbrachte ich den Abend. Ich sprang alte Damen und kleine Kinder an, trank von Buchhaltern und Collegemädchen. Ein Kerl kam sogar zweimal vorbei, und während ich ihn abermals anfiel, lachte er erregt. – Mann, ich kann Ihnen sagen, in dieser Stadt gibt es echt kranke Leute!! Nachdem ich mich gesättigt hatte, schaute ich mich etwas in der Geisterbahn um. Überall Skelette und Totenköpfe mit Glühbirnenaugen. Gut, daß ich Hersophiles im Sarg gelassen hatte, er wäre sicher ausgerastet beim Anblick all der grinsenden Schädel.
Als ich in die Nähe des Kassenhäuschens kam, hörte ich eine nicht ganz zufriedene Kundin und ein weinendes Kind. »Der Kerl hat uns angesprungen! Verkleidet wie ein Vampir! Wenn Sie das komisch finden, ich nicht! Sehen Sie sich meinen Jungen an! Der Ärmste ist ganz verstört!« »Sehen Sie das Schild?« fragte eine völlig desinteressierte Stimme und zitierte ebenso monoton: »›Benutzung der Attraktion auf eigene Gefahr. Für Schäden jeglicher Art wird keine Haftung übernommen.‹ Außerdem haben Sie Tickets gekauft, damit Sie sich in der Bahn gruseln, also versteh’ ich nicht, was Sie wollen.« Die Welle an Beleidigungen und Flüchen ersparte ich mir dann, obwohl einige dabei waren, die ich nicht mal in den Straßen von New York gelernt hatte. Ich verließ die Geisterbahn, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Die Nacht war noch jung; es war höchstens zwei oder drei Uhr, doch die meisten Attraktionen hatten bereits geschlossen. Als ich am Riesenrad vorbeischritt, sah ich, wie einer der Schausteller mit einer Taschenlampe die Routinekontrollen begann, während ein anderer das Kassenhäuschen absperrte. Auch die Achterbahn war bereits geschlossen, nur die Bierbuden hatten noch einen regen Ansturm an Kundschaft zu bewältigen. Nachdem ich das Riesenrad und die Kühlung der Bierfässer sabotiert und die Popcornmaschine auf Höchstleistung gestellt hatte, verspürte ich schon wieder leichten Appetit. Die ganzen Opfer, die mir heute per Zimmerservice geliefert worden waren, hatten mir die Lust genommen, noch einmal richtig zu jagen, und so begab ich mich in den nahegelegenen Park, in der Hoffnung auf leichte Beute. Schließlich fand ich dieselbe schlummernd auf einer Bank. Ich setzte mich leise daneben, denn ich wollte den Schlaf dieses 200 Pfund schweren, laut schnarchenden Dornröschens nicht stören. Auch als ich meine Zähne in seinen ungewaschenen Hals schlug, rührte er sich nicht. Ich dachte mir nichts dabei, denn der nahe Mor-
gen machte mich schon etwas träge. Erst nach mehreren kräftigen Schlucken reifte in mir die schreckliche Erkenntnis über den Grund seiner Reaktionslosigkeit: Mein Nachtisch war stinkbesoffen! – Und leider haben Vampire immer noch keine Immunität gegen die Auswirkungen von Alkohol entwickelt. Als ich mich von seinem Hals losriß, war es bereits zu spät. Ich spürte, wie der billige Fusel zu wirken begann. Mein Blickfeld trübte sich, als ich aufzustehen versuchte. Ich war nicht mehr Herr über meine Gliedmaßen und fiel der Länge nach hin. Diese Auswirkungen kannte ich noch zu gut aus meinem Leben als Sterblicher. Erinnerungen! – Wild kämpfte ich gegen den Drang an, »Memories« zu singen. Ich rappelte mich wieder auf und versuchte mich zu orientieren. Als das nicht klappte, schwankte ich einfach drauflos. Ich war so sehr mit der Koordination meiner diversen Körperteile beschäftigt, daß ich zunächst gar nicht merkte, wie es am Firmament immer heller wurde. Als der Reiz meines Sehnervs schließlich die zugehörige Gehirnwindung gefunden hatte und diese sich bequemte, sämtliche Alarmglocken auf einmal schrillen zu lassen, war bereits höchste Eile geboten. Ich mußte zurück in meine Irrenanstalt, in meinen Sarg oder irgendwohin, wo die Strahlen der Sonne mich nicht erreichen konnten. Gerade wollte ich loshetzen, da fiel mir Hersophiles ein. Ich hatte ihn gar nicht mehr dabei! Irgendwo liegengelassen! Natürlich, die Geisterbahn! Hersophiles lag noch immer in dem Plastiksarg in der Geisterbahn! Wieder quollen ein paar Sonnenstrahlen über den Horizont. Was tun? Ich konnte Hersophiles unmöglich einen ganzen Tag lang allein lassen. Das würde er mir nie verzeihen! Nach Hause – mein Sarg, Geisterbahn – Plastiksarg, nach Hause – Geisterbahn, mein Sarg – Plastiksarg … Es schien Minuten zu dauern, bis über meinem Kopf die sprichwörtliche Glühbirne aufleuch-
tete! Ich hechtete zur Geisterbahn zurück. Nachdem ich Hersophiles in den Arm genommen und mich bei ihm entschuldigt hatte, das ich ihn so einfach vergessen konnte, überprüfte ich den Plastiksarg auf seine Lichtdurchlässigkeit. Es war perfekt. Die ganze Bahn war so mit Folien überdeckt, daß im Innenraum immer Finsternis herrschte. Ich weiß nicht mehr genau wie, aber es gelang mir sogar den Sarg von innen zu verschließen. Erleichtert lehnte ich mich zurück, nahm Hersophiles in den Arm und dachte an den Zimmerservice, der uns am nächsten Abend wecken würde. Ein Drive-In für Vampire. Tolle Idee eigentlich. Vielleicht sollte ich daraus ein Franchiseunternehmen machen? Über diesen Gedanken schliefen wir beide ein. ENDE
Glossar Eden, Lilith – Die Heldin der Geschichte: schlank, schwarzhaarig, optisch Mitte zwanzig, in Wahrheit aber über hundert Jahre alt. Ursprünglich geboren nur zu dem Zweck, die UrLilith mit Gott zu versöhnen, lebt sie jetzt ihr eigenes, unabhängiges Leben. Doch sie ist nicht ganz Mensch und nicht ganz Vampir und wird somit von beiden Rassen gefürchtet und gehaßt. Seit Lilith herausgefunden hat, daß in Wallung geratenes Blut besser schmeckt, sucht sie die Vereinigung mit ihren Opfern beiderlei Geschlechts, tötet sie aber nicht, sondern nimmt sich nur soviel Blut wie nötig. Landru – Einer der ältesten Vampire und ein Kind der UrLilith. Für tausend Jahre zog er mit dem sogenannten Lilienkelch über die Erde, um neue Vampire aus Menschenkindern zu erschaffen. Als Lilith Eden geboren wurde, erkannte Landru deren Gefährlichkeit und wurde zu ihrem ärgsten Feind. Doch geschützt von der Ur-Lilith konnte sie ihm stets entkommen – bis er unter dem verderblichen Einfluß des Satans in Jerusalem den Tod durch eigene Hand fand. Paddington Street 333 – Hier schlief und reifte Lilith Eden nach ihrer Geburt fast einhundert Jahre lang, um danach ihre Bestimmung zu erfüllen. Doch sie erwachte durch widrige Umstände zwei Jahre zu früh, was sie unkontrollierbar machte und ihre Mission verzögerte. Das Haus wurde von der in Sydney ansässigen Vampirsippe abgerissen. Ein zwischenzeitlich an selber Stelle erbautes Hochhaus verschwand spurlos. Seitdem lag das Grundstück brach – bis jetzt … Secada, Brian – Ein Parapsychologe, der damals, kurz nach Liliths Erwachen, unerschrocken in das Haus in der Paddington Street eindrang – und ein Opfer der dortigen Magie wurde. Um Jahrzehnte gealtert, endete er in einer Nervenklinik.
Symbiont – Ein mysteriöses Wesen, das Lilith Eden als gestaltwandlerisches Kleid dient und sie auch bei Angriffen schützen kann. Ob Wintermantel, Abendkleid oder Negligé, es bedarf nur eines Gedankens, um die passende Garderobe zu formen. Die bevorzugte Form des Symbionten ist ein hautenges, schwarzes, wie zerrissen aussehendes Catsuit; wahrscheinlich die am einfachsten zu gestaltende Form. Entstanden ist der Symbiont aus der Haut der Ur-Lilith. Er ernährt sich von Vampirblut, das er in kleinen Mengen aus Lilith »abzapft«
Die kalte Brut von Timothy Stahl Lilith Eden ist erwacht, wo schon einmal alles begann: im Haus an der Paddington Street in Sydney. Doch vieles erscheint ihr seltsam falsch. Das Haus dürfte gar nicht mehr existieren – genausowenig, wie Vampire auf Erden wandeln sollten. Was ist geschehen in den zwei Jahren, in denen sie geschlafen hat? Verwirrt flieht sie aus dem Haus, nicht ahnend, daß sie das nackte Grauen darin zurückläßt. Tief unten, in den Katakomben, hat die Magie des Hauses Wesen geschaffen, die nun nach oben drängen. Einst waren sie Ratten. Nun sind sie eine tödliche Gefahr für alle, die es wagen, das Gebäude zu betreten …