Raimund Schmitz/Ulrich Spilker/Josef A. Schmelzer Strategische Verhandlungsvorbereitung
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Raimund Schmitz/Ulrich Spilker/Josef A. Schmelzer Strategische Verhandlungsvorbereitung
Raimund Schmitz/Ulrich Spilker/ Josef A. Schmelzer
Strategische Verhandlungsvorbereitung Ein Leitfaden mit Arbeitshilfen Wie Sie Ihre Ziele in 5 Schritten sicher erreichen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISBN-10 3-409-14263-0 ISBN-13 978-3-409-14263-2
Nutzenvermehrung im System
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Vorwort
Die Kunst der Strategie besteht in der vorausschauenden Planung und Vorbereitung von effektiven Handlungsmöglichkeiten zum Erreichen eines Zieles. Strategie bedeutete in der Kriegskunst, dass der Anführer die Vorbereitung von Schlachtfeldern, Waffen und Positionen so vorausschauend und gründlich betreibt, dass er mit den verfügbaren Mitteln die bestmöglichen Erfolgsaussichten schafft. Dazu gehört, dass der Stratege sowohl die Beschaffenheit des Geländes wie auch die Ziele, Absichten und Stärken seines Gegners kennt. Und er wird im geistigen Vorausvollzug die geeigneten Gegenpotenziale aufbauen und vorbereiten. Die Kunst der Verhandlung besteht darin, die eigenen Ziele und Wünsche im Gespräch mit dem Gegenüber möglichst weitgehend zu erreichen. ‚Durchsetzen’ ist dabei ein oft benutzter Begriff. Unternehmen suchen oft ‚durchsetzungsstarke’ Führungskräfte und Verhandler. Im Kontext der Verhandlung gibt es mehrere Aspekte. Sie werden alle durchweg in den zahlreichen Büchern zum Thema Verhandlung besprochen. Es finden sich auch Tipps und ‚Abschlusstechniken’ zur Besiegelung eines Vertrages, der am Ende von Verhandlungen steht. Auch ist in fast jedem Werk etwas über die Vorbereitung einer Verhandlung zu lesen. Selten findet sich jedoch ein Buch, das sich auf die strategische Verhandlungsvorbereitung konzentriert und diese fokussiert behandelt. Diese Lücke will dieser Leitfaden schließen. Er führt Sie durch die einzelnen Stufen der Vorbereitung und des geistigen Vorausvollzugs. Dabei unterstützt er Sie mit Formblättern, die Sie für Ihre Vorbereitungen benutzen können. Die praktische Anwendung wird an einem konkreten Fallbeispiel verdeutlicht und veranschaulicht so den Einsatz dieser Arbeitshilfen. Noch ein Wort zur Philosophie, auf welcher der Ansatz der strategischen Verhandlungsvorbereitung beruht und die sich durch den gesamten Text hindurch zieht. Der Zweck der strategischen Verhandlungsvorbereitung, auf den die Arbeitsblätter hinarbeiten, besteht nicht nur im Erreichen des Verhandlungsziels, eines Vertrages zum Beispiel, ohne Rücksicht auf den Partner der Verhandlung zu nehmen. Den wahren Nutzen erreicht die Verhandlung zumeist erst dann, wenn das Ergebnis dauerhaften Bestand hat. Die Verhandlung soll den Partner nicht als Besiegten in einer Niederlage zurücklassen. Denn dann wird der Erfolg der Verhandlung nur von kurzer Dauer sein oder den Keim einer Rache gegen Sie zurücklassen, oder beides. Die strategische Verhandlungsvorbereitung beinhaltet im Konzept dieses Leitfadens auch die Vorbereitung der strategischen Ergebnissicherung.
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Vorwort
Den Nutzen verdeutlicht eindrucksvoll ein Beispiel aus der Geschichte. Alexander der Große besiegte mit seiner Streitmacht alle Gegner, auf die er traf, und unterwarf sie. Doch seine Erfolge waren nur von kurzer Dauer. Bald zerfiel sein Reich wieder, obwohl er viele Schlachten eindrucksvoll gewonnen hatte. Ganz anders das Römische Reich. Es bestand über viele Jahrhunderte, bis der Verfall der Sitten und zunehmende Nachlässigkeiten den Untergang unausweichlich machten. In den Schlachten selbst kämpften die Legionen der Römer ebenso unerbittlich und tapfer wie die Truppen Alexanders. Aber wenn die Gegner besiegt waren, dann baute Rom ihnen ‚goldene Brücken’. Rom trachtete danach, die Besiegten zu Tribut zahlenden Verbündeten zu machen. Die Krieger der Besiegten wurden mit guter Ausrüstung und Verpflegung in fremden Gegenden als Sicherungs- und Ordnungskräfte eingesetzt. Und auch den Bewohnern der unterworfenen Gebiete ging es nach der Niederlage nicht wirklich schlechter als zuvor, wenn sie nur bestimmte Regeln beachteten, die für den Bestand des Imperiums erforderlich waren. Die ‚goldenen Brücken’ für die Gegner wurden mit Recht zu einem Begriff, der über die Jahrhunderte hinweg bekannt blieb. Wenn dieses Prinzip sogar im Kontext kriegerischer Auseinandersetzung so wirksam ist, dann umso mehr im Kontext von wirtschaftlichen und privaten Verhandlungen. Es kann nicht oft genug betont werden: Sie sollen gewinnen und Ihr Partner soll es auch. Sie sollen mit Vorteil aus der Verhandlung gehen und Ihr Partner ebenfalls. Und deshalb wird Ihr Vorteil, den Sie aus der strategisch vorbereiteten Verhandlung ziehen, von Dauer sein. Unser herzlicher Dank gilt Volker Heiderich für die redaktionelle und textliche Unterstützung. Wir wünschen viel Erfolg!
Raimund Schmitz Ulrich Spilker Josef A. Schmelzer
Inhalt
Vorwort ............................................................................................................................ 5 Teil I Vorbemerkungen Prolog.......................................................................................................................... 13 Leben und leben lassen ............................................................................................... 15 1. Nutzenvermehrung im System ............................................................................ 15 1.1 Die ethische Basis ...................................................................................... 15 1.2 Dick und Doof oder Gemeinsam doppelt erfolgreich................................. 16 2. Wert entsteht aus Bedarf...................................................................................... 17 2.1 Werte sind individuell................................................................................. 17 2.2 Win-Win-Situation ..................................................................................... 19 3. Vom Umgang mit Konflikten .............................................................................. 19 4. Verhandlungsphasen............................................................................................ 20 5. Was ist eine strategische Verhandlungsvorbereitung? ......................................... 21 Strategie und Verhandlung – vereinbar oder unvereinbar?.......................................... 23 1. Ist strategische Verhandlungsvorbereitung möglich und sinnvoll? ..................... 23 2. Kooperation in der Konfrontation ....................................................................... 24 3. 1 + 1 = 3 / 2 ......................................................................................................... 25 4. Schritt für Schritt................................................................................................. 26 5. Die Verhandlungs-Erfolgsplattform .................................................................... 27 Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“.............................................................. 29 Teil II Strategische Verhandlungsvorbereitung Sicherheit gewinnen .................................................................................................... 43 1. Flexibilität in geordneten Bahnen ....................................................................... 43 2. Entscheidende Fragen ......................................................................................... 44 Step 1........................................................................................................................... 45 1. Sondieren des thematischen Feldes ..................................................................... 45 1.1 Wissen ist Macht ........................................................................................ 45 1.2 Der emotionale Aspekt ............................................................................... 48
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Inhalt
1.3 Konflikte .....................................................................................................55 1.4 Denken Sie sich ans Ziel.............................................................................56 2. Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt.............................................................58 2.1 Vermeidung von emotionaler Aufladung ....................................................58 2.2 Keine Vermischung von Beziehungs- und Sachebene ................................58 3. Umsetzung in die Praxis ......................................................................................59 3.1 Werden Sie zum Fachmann.........................................................................59 3.2 Lernen Sie Ihren Verhandlungspartner kennen ...........................................60 3.3 Der richtige Zeitpunkt.................................................................................62 3.4 Trennen Sie Persönliches von der Thematik ...............................................63 3.5 Problematische Klauseln als Chefsache betrachten ....................................65 3.6 Arbeitshilfen ...............................................................................................66 Step 2 ...........................................................................................................................67 1. Sondieren der Beteiligten und deren Umfeld.......................................................67 1.1 Verhandlungen führen zu Veränderungen ...................................................67 1.2 Wer entscheidet? .........................................................................................69 1.3 Variieren Sie die Herangehensweise ...........................................................70 1.4 Horizontal oder vertikal ..............................................................................71 2. Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt.............................................................72 3. Umsetzung in die Praxis ......................................................................................76 3.1 Fünf Schritte zum Durchblick.....................................................................76 3.2 Zu guter Letzt..............................................................................................82 3.3 Arbeitshilfen ...............................................................................................82 Step 3 ...........................................................................................................................85 1. Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven................85 1.1 Vermittlung zwischen Wunsch und Angst...................................................86 1.2 Die Ursprünge liegen im Verborgenen........................................................86 1.3 Die Grammatik des Motivierens .................................................................87 2. Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt...........................................................100 2.1 Interessen, Motive, Ziele...........................................................................100 2.2 Motive von Franz K. .................................................................................100 2.3 Motive von Otto F.....................................................................................101 2.4 Motive von beiden ....................................................................................102 3. Umsetzung in die Praxis ....................................................................................103 3.1 Meine persönlichen Motive, Interessen und Werte...................................103 3.2 Aus Motiven werden Verhandlungsziele ..................................................106 3.3 Systematische Erarbeitung von Interessen und Motiven (Checklisten) ....108 3.4 Arbeitshilfen .............................................................................................109 Step 4 ......................................................................................................................... 111 1. Methodisch Optionen entwickeln ...................................................................... 111 1.1 Chancen und Risiken ................................................................................ 111 2. Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt...........................................................118
Inhalt
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3. Umsetzung in die Praxis.................................................................................... 120 3.1 Kreativität ist Trumpf ............................................................................... 121 3.2 Kreativitätstechniken................................................................................ 122 3.3 Sondieren der Optionen............................................................................ 128 3.4 Bestandsaufnahme.................................................................................... 131 3.5 Erforschen Sie die Möglichkeiten – Pakete schnüren … ......................... 132 3.6 … oder Häppchen schneiden.................................................................... 133 3.7 Arbeitshilfen............................................................................................. 134 Step 5......................................................................................................................... 137 1. Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien......................................... 137 1.1 Verhandlungsspielraum finden ................................................................. 137 1.2 Welche Optionen sind geeignet? .............................................................. 141 1.3 Verleihen Sie Ihren Optionen Gewicht..................................................... 142 1.4 BATNA .................................................................................................... 143 1.5 Gibt es eine ZOPA – und was ist das überhaupt? ..................................... 144 2. Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt .......................................................... 146 2.1 Freier Blick auf den See – eine Option?................................................... 146 3. Umsetzung in die Praxis.................................................................................... 147 3.1 Verhandlungsspielraum ............................................................................ 147 3.2 Optionen bewerten ................................................................................... 150 3.3 Kriterien anwenden .................................................................................. 151 3.4 Faire Methoden anwenden ....................................................................... 153 3.5 Das Ergebnis in den eigenen Reihen kommunizieren .............................. 153 3.6 Die persönliche Alternative ...................................................................... 154 3.7 Schließen Sie mit sich selbst einen Vertrag .............................................. 156 3.8 Der Ausstiegspunkt................................................................................... 157 3.9 Vorsicht! Es gibt ein Leben nach der Verhandlung................................... 157 3.10 Arbeitshilfen............................................................................................. 158 Teil III Verhandlungsdurchführung Verhandlungsdurchführung ....................................................................................... 163 1. Verhandlungspartner/-teams .............................................................................. 164 2. Zeit .................................................................................................................... 165 3. Verhandlungsort ................................................................................................ 166 4. Verhandlungsziele ............................................................................................. 168 5. Verhandlungsstile .............................................................................................. 169 6. Eine Verhandlung ist eine Diskussion ist ein Gespräch..................................... 172 7. Gesprächsführung.............................................................................................. 173 7.1 Darf man den Verhandlungs-Partner unterbrechen? ................................. 173 7.2 Fragen und Antworten .............................................................................. 173 7.3 Die „Ja“-Straße......................................................................................... 174
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Inhalt
7.4 Exkurs – die EMMA-Strategie..................................................................176 8. Umsetzung des Verhandlungsergebnisses und Ergebnissicherung.....................177 Nach der Verhandlung ist vor der Verhandlung – Epilog...........................................179 Anhang .........................................................................................................................181 Literaturverzeichnis ....................................................................................................183 Die Autoren ..................................................................................................................185
Teil I Vorbemerkungen
Prolog
Verbaler Interessenausgleich Unser ganzes Leben lang verhandeln wir. Jeden Tag, ständig, ob im Beruf oder im Privatleben, mit dem Lebenspartner, den Kindern, Bekannten, Freunden, mit Kollegen, Vorgesetzten, Untergebenen oder Fremden. Wir verhandeln über den Preis einer Ware, den Preis für ein Entgegenkommen, über die Rücknahme eines Strafzettels, über eine Vergütung und über die Anschaffung eines neuen Fahrzeugs. Wir lösen andauernd mehr oder weniger erfolgreich eine Vielzahl von Konflikten. Die Verhandlung ist zum zentralen Element des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens geworden. Ohne sie gäbe es keine Gemeinschaft und keine Gemeinschaftsleistungen, auf denen unser Leben heute beruht. So unterschiedlich die Menschen sind, so individuell sind ihre Interessen, die sie auch nach außen vertreten. Jeder möchte eigene Standpunkte einbringen und nach Möglichkeit durchsetzen, zumindest an Entscheidungen teilhaben, sie mitgestalten, und immer seltener wird ein Diktat akzeptiert. Dabei ist seit vielen Jahren ein Trend festzustellen: Das Verhandlungsaufkommen wächst und wächst. War man früher schneller dazu bereit, Entscheidungen mit Gewalt herbeizuführen oder auf der anderen Seite kampflos zu akzeptieren, haben die Menschen heute eine ganz andere Vorstellung davon, wie Einigungen zustande kommen sollen. Hierarchien verflachen, Autoritäten schwinden, und in gleichem Maße wächst das Bewusstsein der einstmals „Schwächeren“, der weniger privilegierten Ebenen, dass man selbst doch auch einmal auf sein Recht pochen könne, statt immer zurückzustecken. Eine Vielzahl von Einrichtungen unterstützt diesen Trend. Foren im Internet bieten sich zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch an, um den eigenen Standpunkt klarer zu definieren. Interessengruppierungen wie Verbände, Parteien, Gremien, Bürgerschaften etc. sind Anlaufund Sammelstellen für Gleichgesinnte. „Die Medien“ werden als Ruforgane für allerlei Meinungen genutzt, bisweilen auch missbraucht, um Themen in den Fokus zu rücken und zu Verhandlungen zu motivieren. Und selbst dem, der in friedlicher, privater Konfliktlösung keinen Erfolg hat, bieten Gerichte in Verhandlungen die Möglichkeit, von Rechts wegen doch noch zum Sieger nach Punkten erklärt zu werden. Es ist ein Kennzeichen unserer zivilisierten Welt, dass Konflikte auf dem Verhandlungsweg ausgetragen werden. Mündige Bürger entwickeln im gesellschaftlichen und politischen Leben
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Prolog
wie auch im Business individuelle Standpunkte, die bitte schön zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen sind. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Verhandlungen sind in jedem Fall radikalen Lösungen vorzuziehen. Mitunter kann man sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren – insbesondere bei den politischen Themen im Deutschland des beginnenden 21. Jahrhunderts –, dass vor lauter Verhandeln das Handeln auf der Strecke bleibt. Obwohl die Quantität von Verhandlungen hoch ist, lassen die Ergebnisse häufig zu wünschen übrig. Zu selten werden Verhandlungen strategisch angegangen, es fehlen die klaren Vorstellungen bezüglich der Ziele und der hinführenden Argumentation. Noch seltener finden wir konkrete Betrachtungen über die „Zeit danach“. So ein Kartenhaus wird unweigerlich in sich zusammenstürzen. Bauen Sie also auf stabilen Grund. Beginnen Sie mit der Planung. Die wichtigste Verhandlungsphase ist die Vorbereitung. Um es klar zu sagen: Die Vorbereitung ist der einzige Abschnitt im zeitlichen Ablauf der Verhandlung, den Sie vollständig unter Kontrolle haben. Widmen Sie ihm also die erforderliche Aufmerksamkeit – und Sie werden Ihre Ziele sicher erreichen.
Leben und leben lassen
1.
Nutzenvermehrung im System
1.1
Die ethische Basis
Verhandlungen dienen dem Interessenausgleich, dem Abbau unterschiedlicher Potenziale, die für Konflikte sorgen oder in der Zukunft sorgen würden. Streben nach Macht, Geld, Ansehen, Harmonie, Freiheit, Sicherheit – all dies sind Gründe dafür, warum es zu Verhandlungen kommt. Doch darüber später mehr. Gäbe es denn eine Alternative zum Verhandeln? Die Frage ist relativ leicht zu beantworten: Wir verhandeln, weil unser sozio-kulturelles Wertesystem zuerst und bevorzugt die gewaltfreie Lösung anbietet. Aber, werden Sie nun einwenden, daran hält sich doch nicht jeder. Gut, Ausnahmen gibt es, im Kleinen wie im Großen. Doch einen Konflikt mit Gewalt beenden zu wollen, bedeutet immer auch einen Verlust eigener Ressourcen. Ganz gleich, auf welche Weise und wie nachhaltig der „Gegner“ besiegt wird – der „Gewinner“ wird ebenfalls geschwächt aus der Verhandlung hervor gehen. Verhandlungen gehören in unserem Wertesystem zu einer konstruktiven Konfliktkultur. Sie ermöglichen einen Interessenausgleich ohne Gesichtsverlust, unter Beibehaltung freundschaftlicher Beziehungen, bestenfalls sogar die Erschließung neuer Möglichkeiten. Der Vorteil einer guten Verhandlung liegt darin, dass ein gutes Verhandlungsergebnis für die Beteiligten und das Umfeld eine Nutzenvermehrung darstellt. Alle gewinnen etwas. Sicher kennen Sie den Begriff der „Win-Win-Situation“, das Verhandlungsergebnis, bei dem alle Beteiligten von der gemeinsam erarbeiteten Lösung profitieren. Gute Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse mehren den Wert im System (sie optimieren die Verteilung von verfügbaren Ressourcen im System). Demgegenüber ist eine kriegerische Auseinandersetzung ein Minussummenspiel, bei dem das Gesamtsystem durch die angerichtete Zerstörung erst einmal an Wert verliert. Niemand verhandelt mit dem Ziel, dass das Gesamtsystem gewinnen oder der Verhandlungspartner vom Ergebnis profitieren soll. Schließlich möchte jeder seine eigenen Ansprüche weitestgehend realisiert wissen.
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Nutzenvermehrung im System
Dass aber das Gesamtsystem etwas gewinnt, oder dass auch der Verhandlungspartner profitiert, ist weit mehr als ein billigend in Kauf genommener Nebeneffekt. „Was kann daran gut sein, wenn mein Gegner einen Teil seiner Forderungen durchsetzen kann, obwohl ich in der stärkeren Position bin und das verhindern könnte?“, werden Sie fragen. Warum ist die Nutzenvermehrung im Gesamtsystem so eklatant wichtig? Nun, weil dieser Faktor erheblichen Einfluss auf den Bestand des verhandelten Nutzens hat. Nur wenn alle Verhandlungsparteien mit dem erzielten Ergebnis leben können, wird das Leben für alle weitergehen. In der Verhandlung legen Sie den Grundstein für diese Koexistenz. Wer aber als klarer Sieger aus einer Verhandlung geht, hinterlässt mindestens einen Besiegten. Das künftige Verhältnis der beiden Kontrahenten wird nicht gerade von Freundschaft geprägt sein. Der Verlierer wird fortan jede Gelegenheit nutzen, das Ergebnis umzukehren oder zumindest dem Sieger das weitere Leben schwer zu machen. Manche Historiker sind im Übrigen der Auffassung, dass die großen Kriege des 20. Jahrhunderts durch schlechte („ungerechte“, „entwürdigende“ etc.) Ergebnisse vorangegangener Verhandlungen (siehe beispielsweise „Versailler Verträge“) mit verursacht oder zumindest begünstigt wurden. Wenn also alle Beteiligten am Gewinn partizipieren, dann ist das Verhandlungsergebnis von weit größerer Stabilität und Nachhaltigkeit. Darauf sollte eine Verhandlungsstrategie immer ausgerichtet sein.
1.2
Dick und Doof oder Gemeinsam doppelt erfolgreich
Dass Verhandeln auch ohne Worte vonstatten gehen kann, wissen wir aus dem Zoo von Antwerpen. Forscher haben dort über einige Zeit hinweg die Paviane beobachtet und studiert. Bei Pavianen hat der Anführer einer Horde, das Alpha-Männchen, das Alleinrecht oder zumindest das Erstrecht auf die Begattung empfängnisbereiter Weibchen. Im Gehege gab es zwei gemeinsam aufgewachsene und befreundete halbwüchsige Männchen – die Forscher tauften sie auf die Namen Dick und Doof –, die zwar schon geschlechtsreif waren, aber noch längst nicht stark genug, um in das Fortpflanzungsgeschehen beziehungsweise in die Kämpfe darum in aussichtsreicher Weise einzusteigen. Nun beobachteten die Forscher Folgendes: Als das Alpha-Männchen gerade mit einer Holden intim werden wollte, schnitt einer der beiden Jünglinge ihm provozierende Grimassen, um diesen von seinem Vorhaben abzubringen. Wenn das Grimassenschneiden nicht wirken wollte, kam er näher und zupfte ihn sogar von hinten am Fell. Irgendwann war bei dem Chef jedenfalls alle Andacht verflogen
Leben und leben lassen
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und er griff wutentbrannt den frechen Flegel an. Der war zwar nicht so stark wie der kampferprobte Alte, aber durchaus flink, und es gab eine lautstarke und wilde Verfolgungsjagd durch das Gehege. Der andere Jüngling nutzte die Gunst der Stunde, näherte sich der Holden und führte das vom Chef begonnene „Schäferstündchen“ zu Ende. Das taten die beiden immer abwechselnd: Wer einmal der freche Gejagte war, war bei der nächsten Gelegenheit der stille Genießer. Das taten die beiden so erfolgreich, dass über einige Monate hinweg praktisch alle im Gehege gezeugten Paviane Nachkommen von Dick und Doof waren.
Das Ergebnis war für die beiden jungen Paviane überzeugend positiv. Durch ihre Einigung hatten sie für die Beteiligten, abgesehen vom Hordenführer, eine perfekte Win-Win-Situation hergestellt. Hier wird im engeren Sinne nur ein Nutzen für das kleinere System aus Dick und Doof erzeugt. Indem sie sich über eine gemeinsame Strategie einig wurden, konnten sie im engeren Sinn einen Nutzen für beide erzeugen. Im umfassenderen Sinne profitierte sogar die gesamte Pavianpopulation, und zwar dadurch, dass nicht nur die Gene für die Kraft des Alten, sondern auch die für Findigkeit der Jungen Verbreitung fanden. Möglicherweise werden Sie jetzt einwenden, dass hier keine Verhandlungssituation vorliege. Es mag in der Tat den Anschein haben, doch betrachten wir hier das Ergebnis einer Kommunikation, die im Vorfeld zu dieser Aufgabenteilung geführt hat. Diese Kommunikation hat durchaus den Charakter einer Verhandlung, auch wenn ihr nicht unsere herkömmlichen, menschlichen Kriterien zu Grunde liegen.
2.
Wert entsteht aus Bedarf
2.1
Werte sind individuell
Nicht erst seit der Erforschung des Preisbildungsmechanismus’ in der Marktwirtschaft wissen wir: Die Dinge haben für unterschiedliche Menschen einen unterschiedlichen Wert. Kultureller Hintergrund, charakterliche Eigenheiten der Menschen an sich und die Unterschiedlichkeit ihrer Lebensumstände spielen jeweils eine wichtige Rolle.
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Wert entsteht aus Bedarf
Der Wunsch bzw. das Bedürfnis, einen empfundenen Mangel auszugleichen, äußert sich in einem Bedarf. Um diesen Bedarf zu decken, muss einer dem anderen eine Sache hingeben, die wiederum dessen Bedürfnis zumindest teilweise befriedigt. In der individuell unterschiedlichen Bewertung des jeweiligen Bedarfs, d. h. in der Stärke der Empfindung, die das Bedürfnis auslöst, liegt das Potenzial, das Verhandlungen ermöglicht bzw. erforderlich macht.
Beispiel 1: Violine Eine Stradivari hat für einen Violinisten höchstwahrscheinlich einen anderen, höheren Wert als für eine/-n „Normalbürger/-in“. Während der Berufsmusiker Timbre und optisches Finishing des Instrumentes bewundern wird, kann der/die „Normalbürger/-in“ die Stradivari vielleicht nicht einmal von einer Übungsgeige für Anfänger unterscheiden. Wobei es sicherlich Ausnahmen gibt, denn warum sollte ein/-e „Normalbürger/-in nicht auch Feingeist sein?
Beispiel 2: Dienstwagen Immer wieder können zwei Leute sich über ein bestimmtes Thema „herrlich“ streiten: Verkäufer und Controller/Einkäufer, wenn es um den Dienstwagen des AD-Mitarbeiters geht. Für den Verkauf stehen dabei Ansehen/Prestigegedanken, Sportlichkeit, Motorisierung, Sicherheit und Ästhetik im Vordergrund. Dagegen liegt der Bewertungsmaßstab beim Einkauf viel stärker auf Wirtschaftlichkeit, Transportvolumen, Verbrauch, Solidität, Wiederverkaufswert und gutes Leasing.
Die Verhandlung ist – richtig eingesetzt – ein Instrument zur Steigerung des Nutzens von zwei oder mehr Verhandlungspartnern. Der Bürger/die Bürgerin wird die Stradivari leichter entbehren können als der Musiker, und der Außendienst-Mitarbeiter (resp.: die -Mitarbeiterin) wird dem Wiederverkaufswert des Fahrzeugs keine Bedeutung beimessen. Objektiv betrachtet ist die Geige dieselbe, objektiv betrachtet ist das Auto lediglich ein Transport- und Fortbewegungsmittel, aber die subjektive Bewertung ist eine andere. Eine Sache erhält einen bestimmten Wert durch ein Bedürfnis, einen Bedarf und eine Möglichkeit der Verwertung. Das Objekt der Begierde ist für die Beteiligten jeweils mit einem unterschiedlichen Wert ausgestattet. Und dieses Wertgefälle ist die Energiequelle, aus der sich eine Verhandlung speisen kann.
Leben und leben lassen
2.2
19
Win-Win-Situation
Wenn in Kanadas Wäldern zwei Hungrige aufeinander treffen, von denen der eine einen Elch erlegt hat, ihn aber nicht braten kann, und der andere ein Feuerzeug hat, aber kein Fleisch zum Braten – dann ist ein Verhandeln über das Zusammenwerfen der Ressourcen so zwangsläufig vorgegeben, dass es kaum noch der Worte bedarf. Niemand gibt wirklich etwas her. Der erfolgreiche Jäger kann nicht den ganzen Elch essen (nicht einmal die Hälfte essen oder gar tragen) und er verliert nichts, wenn der andere mit isst. Ohne Möglichkeit der Verwertung (in dem Wort steckt ebenfalls „Wert-“) ist der erlegte Elch quasi wertlos für den Jäger. Der Feuerzeugbesitzer besitzt zwar ein Feuerzeug, aber im Prinzip nichts ohne das Elchfleisch des Jägers. Er verliert auch nichts durch die einmalige Benutzung, indem er das Lagerfeuer anzündet. Beide aber gewinnen eine Mahlzeit, die sie ohne den anderen nicht hätten. Bei der Dienstwagenfrage besteht die potenzielle Übereinkunft in einer Verquickung der gegensätzlichen Interessen, einem sportlichen Kombi also, der möglichst viele gewünschte Kriterien in sich vereint. Win-Win bestünde hier in der größtmöglichen Befriedigung der beidseitigen Interessen in einem nachhaltig akzeptierten Kompromiss. Verhandlungen dienen also der Herstellung eines Gesamtnutzens durch die Entwicklung von Transaktionen, bei denen jede Verhandlungsseite in ihrem jeweiligen Empfinden mehr gewinnt als hergibt. Ein Problem ist verhandelbar, wenn es in seinem Kontext mehrere Dinge oder Aspekte gibt, die für die Beteiligten unterschiedlichen Wert haben oder unterschiedlich wichtig sind. Da das fast immer als gegeben angesehen werden darf, können wir von folgendem Satz ausgehen: Praktisch jedes Problem ist verhandelbar.
3.
Vom Umgang mit Konflikten
Für den Umgang mit Konflikten hat jeder sein eigenes Rezept. Es ergibt sich zum einen aus der Priorität, also der Notwendigkeit eines Ergebnisses, und zum anderen aus der eigenen Fähigkeit, generell mit Konflikten umzugehen. Beide – Priorität und Konfliktfähigkeit – beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. So wird ein geübter Redner, ein talentierter Diplomat, forsch und selbstbewusst an einen Fall heran-
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Verhandlungsphasen
gehen. Doch derjenige, dem es an Selbstvertrauen und rhetorischen Fähigkeiten mangelt, wird die Notwendigkeit einer Einigung herabspielen, er wird die Auseinandersetzung fürchten, sie vor sich her schieben, weil er sich unwohl dabei fühlt, seinen Standpunkt zu erklären. Grundsätzlich beobachten wir drei Alternativen, wie Menschen auf Konflikte reagieren: Man geht einer Auseinandersetzung aus dem Weg (Flucht/Vermeidung) Man setzt seine Interessen ohne Verhandlung durch (Macht/Krieg/Erpressung) Man verhandelt (Klärung) Nun, viele unserer täglichen Verhandlungen haben keine besondere Tragweite. „Soll ich mich zu Peters Feier fein machen oder darf ich mich wohl fühlen?“ „Guter Wein oder ein Buch als Geschenk?“ „Wer trägt noch schnell den Mülleimer raus?“ Andere Verhandlungen bestimmen dagegen unsere weitere Karriere, unser „Leben danach“. Und obwohl Verhandlungen in unserem Leben eine große Rolle spielen, obwohl sie viel Raum einnehmen, wird ihre Qualität sträflich vernachlässigt. So verlassen sich die meisten Menschen im Zuge von Verhandlungen auf ihre Instinkte, auf ihre Inspiration, ihre Kreativität, auf ihr mehr oder weniger ausgeprägtes Redetalent oder auf ihre Schlagfertigkeit. Einige nutzen lediglich ihre Machtposition. Den meisten fehlt jedoch ein Plan. Es wird drauflos diskutiert, ohne vorher über eigene (Verhandlungs-)Positionen, Rückzugslinien, akzeptable Teilerfolge, Täuschungsmanöver etc. nachgedacht zu haben. Einfach gesagt: Niemand legt sich eine Strategie zurecht. Das ist gefährlich im Sinne der Zielerreichung. Verhandlungserfolge dem Zufall zu überlassen oder voller Optimismus auf die Gunst des Augenblicks zu vertrauen, das sind risikoreiche Wege.
4.
Verhandlungsphasen
Eine Verhandlung, die die Lösung eines Problems oder das Erreichen eines Zieles anstrebt, lässt sich in vier Phasen gliedern: Phase 1 – Vorbereitung der Verhandlung Phase 2 – Durchführung der Verhandlung Phase 3 – Umsetzung des Verhandlungsergebnisses Phase 4 – Die Zeit danach
Leben und leben lassen
21
Die Phasen 1 und 3 werden oft vergessen. Dabei sind sie enorm wichtig. Die Phase 1 hat Einfluss darauf, in welche Richtung die Verhandlung laufen kann oder wird. Ist die Richtung klar, wird auch die Streuung der möglichen Resultate überschaubarer. Wer vorbereitet ist, kann bei jeder Abweichung sofort professionell gegensteuern. Wie im Sport ist eine gute Vorbereitung der größte Erfolgsfaktor. Die Phase 3 zu vergessen bedeutet oft, dass man die in der Verhandlung erworbenen Früchte doch nicht ernten kann. Dabei liegt der eigentliche Erfolg der Verhandlung nicht in der Unterschrift unter einem Vertrag oder dem das Verhandlungsergebnis besiegelnden Handschlag, sondern erst in der Realisierung des erstrebten Nutzens. Die meisten konzentrieren sich auf die Phase 2, die Durchführung der Verhandlung. Zum einen notgedrungen, weil sie von der Situation überrascht werden und keine Vorbereitungszeit haben. Zum anderen aus Nachlässigkeit und/oder Bequemlichkeit. Die Durchführung hingegen erhält all ihre Kraft und ihre ganze Aufmerksamkeit. Vielleicht hoffen viele auch auf den genialen Geistesblitz, der während der Verhandlung das Blatt zu ihren Gunsten wendet. So etwas kommt vor. Solider und professioneller ist es, Verhandlungen sauber vorzubereiten. Dem, der seine Verhandlung professionell vorbereitet hat, können trotzdem während der Verhandlung Geistesblitze zu Hilfe kommen. Das nennt man dann das Glück des Tüchtigen und das ist verlässlicher als das Anfängerglück des Unvorbereiteten. Dieses Buch konzentriert sich darum auf die Phase 1, die Verhandlungsvorbereitung, weil hier das Fundament für den späteren Verhandlungserfolg gelegt wird. Wir möchten Ihnen einige Instrumente an die Hand geben, mit denen Sie – unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen – erfolgreiche Verhandlungsstrategien entwickeln können. Den anderen Verhandlungsphasen sind ebenfalls eigene Kapitel gewidmet, werden jedoch lediglich mit einigen Kernpunkten abgehandelt. Dabei geht es jeweils um die wesentlichen Punkte, die zu beachten sind, um den vollen Nutzen ziehen zu können. Im Mittelpunkt dieses Buches aber steht eindeutig das Thema der „strategischen Verhandlungsvorbereitung“.
5.
Was ist eine strategische Verhandlungsvorbereitung?
Eine Strategie baut Potenziale auf, die dann in der Durchführung einer Operation oder Maßnahme taktisch genutzt werden können.
22
Was ist eine strategische Verhandlungsvorbereitung?
Eine strategische Verhandlungsvorbereitung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie – am besten in einer systematischen oder methodischen Weise – Potenziale aufbaut, um damit in der eigentlichen Verhandlung zu einer Verhandlungslösung kommen zu können. Die Strategien, die Sie Ihren künftigen Verhandlungen zugrunde legen wollen und in deren Kontext Sie sich vorbereiten, sollten möglichst einfach sein. Je einfacher, desto robuster – an diese Faustregel für Strategien können Sie sich halten. Wir hoffen und wünschen Ihnen, dass Ihnen dieses Buch als ein hilfreicher Leitfaden für die Vorbereitung erfolgreicher Verhandlungen nützlich sein wird. Der besseren Übersichtlichkeit halber sind die wesentlichen Schritte jeweils in strukturierten Arbeitsblättern vorbereitet. Sie können diese Arbeitsblätter aus dem Buch kopieren, Sie können diese aber auch bei den Autoren im Originalformat anfordern.
Strategie und Verhandlung – vereinbar oder unvereinbar?
1.
Ist strategische Verhandlungsvorbereitung möglich und sinnvoll?
Das Wort Strategie kommt vom griechischen „Strategos“, mit dem man den „Heerführer“ bezeichnete. Es entstammt also dem militärischen Bereich. Strategie bedeutet das Aufbauen von Potenzialen, während Taktik das geschickte Umwandeln von Potenzialen in konkrete Vorteile bedeutet. Im militärischen wie auch im wirtschaftlichen Kontext ist das Ziel einer Strategie der Sieg über einen oder mehrere Gegner und deren Unterwerfung. Das Ziel wird über den Kampf erreicht, und dieser findet auf einem geografischen bzw. ökonomischen Schlachtfeld statt. Verhandlungen sind oft Begleiterscheinungen von Kämpfen um Vorherrschaften. Sie können zu jedem Zeitpunkt erfolgen, im Vorfeld von Auseinandersetzungen, während des Kräftemessens und auch danach, wenn Sieger und Besiegter bereits feststehen. Nach einem Kampf sind natürlich die Erfolgsaussichten für den Unterlegenen weitaus geringer, aus der Verhandlung noch irgendeinen Nutzen zu ziehen. Dient eine Verhandlungsstrategie demnach dazu, einen Kampf (und damit eigene Verluste) zu vermeiden und den Gegner bereits im Vorfeld auszuschalten? Verhilft sie zum Sieg im verbalen Kampf? Zur emotionalen, psychischen Unterwerfung des Gegners, zur rhetorischen Kapitulation? Das käme einem Diktat der Bedingungen gleich. Was das bedeutet, sagt uns Christopher Darlington Morley: „Man hat einen Menschen noch lange nicht überzeugt, wenn man ihn zum Schweigen gebracht hat.“ Dies hat in unserem Sinne nichts mit „Verhandlung“ zu tun. Eine Verhandlung unterscheidet sich deutlich von den üblichen ökonomischen oder militärischen Strategien. Die Verhandlung hat nämlich, insbesondere im modernen Verständnis, auch die Kooperation des Partners zum Inhalt. Der Verhandlungspartner muss kooperieren, sonst kann das eigene Verhandlungsziel nicht erreicht werden. Damit der Partner kooperiert, könnte man ihm theoretisch und symbolisch die Pistole auf die Brust setzen – und alle Verhandlungen wären sofort erledigt. Nur schafft man sich so einen Feind fürs Leben. Verhandlungen,
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Kooperation in der Konfrontation
die wirklich tragfähige Ergebnisse bringen, sind nicht nach diesem Muster gestrickt. Vielmehr soll auch der Gegner einen Vorteil gewinnen können. Sonst wird er nicht zur Kooperation bereit sein. Dem Überleben des Verhandlungsgegners oder besser Verhandlungspartners muss Rechnung getragen werden. Das Ergebnis der strategisch vorbereiteten Verhandlung ist demzufolge nicht der besiegte und unterworfene oder vernichtete Gegner. Vielmehr ist das Ergebnis ein Partner, der auch gewonnen hat. Das ist sinnvoll, weil dieser Partner auch für zukünftige Kooperation und weiteres gemeinsames Gewinnen verfügbar ist. Ein schönes Beispiel sind die Verhandlungen zwischen China und den USA, deren Fortgang zumindest in der Öffentlichkeit positiv dargestellt wird. In einer gemeinsamen Erklärung mit Präsident Bush im November 2005 bezeichnete Chinas Staatschef Hu Jintao die Beziehungen beider Staaten als „… eine Zusammenarbeit, von der beide Seite profitieren“. Wären frühere Verhandlungen anders verlaufen, wäre dieser Satz nicht geprägt worden. Die strategische Verhandlungsvorbereitung stellt insofern eine andere Aufgabe dar als die übliche Strategie bei Militär oder Wirtschaft und kann auch komplexer sein, weil sie eine Kombination von Kampf und Kooperation im Auge hat oder haben kann.
2.
Kooperation in der Konfrontation
Die Verhaltensweisen von Tieren bei einer Jagd zeigen viele Parallelen zu unseren Verhandlungssituationen. Ein Beispiel: Wahrscheinlich wissen Sie, dass Löwinnen im Rudel jagen. Die Phase der Kooperation erstreckt sich auf die Nutzenschaffung, die Erlegung der Beute, die gemeinsam gejagt und zur Strecke gebracht wird. Hier sind die Interessen der Partner gleich. Die Beute soll möglichst ohne größeren Aufwand, dafür aber definitiv zur Strecke gebracht werden. Die Phase der Konfrontation beginnt zumeist da, wo die Kooperation für einzelne Verhandlungspartner oder alle Beteiligten nicht mehr nötig ist. Hier: bei der Verteilung der Beute. Nun will jede ein möglichst großes Stück für sich. Die Interessen der einstigen Partnerinnen laufen ab jetzt gegensätzlich. Jede will ihren Anteil maximieren; dieser Abschnitt läuft, zumindest vordergründig, auf ein Nullsummenspiel hinaus. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen der Verhandlung und der Jagd der Löwinnen: Bei der Jagd hat für jede Raubkatze jeder Teil der Beute in etwa gleichen Wert. Nicht so bei der Verhandlung. Diesen Unterschied können wir mit folgendem konstruierten Beispiel integrieren.
Strategie und Verhandlung – vereinbar oder unvereinbar?
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Nehmen wir nun einmal an, es ist kein ganzes Rudel, sondern es sind nur zwei Löwinnen, die ihre Beute zur Strecke bringen. Und bei der nun folgenden Verteilung käme es der einen lediglich auf die Menge an. Die andere schätzt dagegen ganz bestimmte Teile der Beute, die ihr viel lieber sind als der ganze Rest. Unter diesen Voraussetzungen haben beide Katzen wesentlich mehr vom Ergebnis der erfolgreichen Jagd, wenn die eine die Menge frisst und die andere die Leckereien.
3.
1+1=3/2
„Setzen, sechs!“, hätte mein Mathematiklehrer angesichts obiger Gleichung ausgerufen. In unserer Betrachtung jedoch macht sie durchaus Sinn. Zwei Partner, die sich auf dem Verhandlungswege einigen, können gemeinsam mehr erreichen, als jeder für sich gesehen im Stande wäre. Eine andere Ausgangslage wäre die, dass sich die Partner gegenseitig blockieren, sodass überhaupt kein Ergebnis zu Stande kommen kann. Auf dem Verhandlungswege wäre dann immer noch eine Lösung möglich, die den Beteiligten zumindest einen Teilerfolg sichert. Die strategische Verhandlungsvorbereitung zielt darauf ab, sowohl einen hohen Nutzen wie auch für jede Verhandlungspartei die Möglichkeit eines einen hohen Anteils daran zu schaffen. Das optimale Verhandlungsergebnis für beide Seiten besteht immer in einer gegenseitigen Gewinnmaximierung, bei der am Ende beide Seiten im Vergleich zur Ausgangslage mehr Vorteile haben als vorher. Gegenüber dem oben beschriebenen, relativ einfachen Tierbeispiel, stellen sich die meisten zwischen Menschen ausgetragenen Konflikte zwar durchaus differenzierter dar – und zwar sowohl in geschäftlichen wie auch privaten Kontexten. In der Substanz aber tragen Menschen in geschäftlichen oder privaten Verhandlungssituationen heute immer noch das archaische Erbe ihrer prähistorischen Vorfahren mit sich herum. Dabei ist Folgendes zu beachten: Landläufig geht man davon aus, dass man sich, auch bei einer komplexen Verhandlung, am Anfang einmal gründlich vorbereitet, weil man ja noch nicht weiß, welche neuen Aspekte sich im Laufe der Verhandlungen ergeben werden. Dies führt oft dazu, dass im Laufe des Verhandlungsprozesses Überraschungen geschehen und zwangsläufig Denkpausen eingelegt werden müssen. Das birgt zwei Gefahren: Zum einen besteht die Gefahr spontaner Kurzschlussreaktionen. Zum anderen können Verhandlungen ins Stocken geraten durch zwangsläufige Denkpausen.
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Schritt für Schritt
Energien werden absorbiert, statt diese Energien in konstruktive Problemlösungen zu investieren. Im Gegensatz zu anderen Verhandlungsansätzen (z. B. das Harvard-Modell) begleitet uns die strategische Vorbereitung durch den gesamten Verhandlungsprozess. Um im Folgenden unsere Ansätze der strategischen Verhandlungsvorbereitung zu veranschaulichen, bedienen wir uns eines Beispiels, das den inhaltlichen roten Faden unseres Verhandlungsansatzes mittels seiner praktischen Umsetzung deutlich macht. Der in unserem Beispiel eines Nachbarschaftskonflikts enthaltene Verhandlungsprozess, der durch ständige Veränderungen, Überraschungen und Finten gekennzeichnet ist, zog sich über ca. zwei Jahre hin, ohne eine ständige, Prozess begleitende Vorbereitung und Perspektive zu verlieren. Unser Beispiel ist sehr nahe an einer möglichen Realität. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Sachverhalten sind jedoch nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
4.
Schritt für Schritt
Die Verhandlungsvorbereitung, so wie wir sie beschreiben, umfasst alle Schritte und Maßnahmen, die vor dem Beginn der eigentlichen Verhandlung durchgeführt werden können (und müssen). Im Einzelnen werden wir fünf Prozessschritte behandeln. Wir widmen uns dem Sondieren des thematischen Feldes Sondieren des personellen Feldes Sondieren der Interessen, Motive und Ziele aller Beteiligten Entwickeln und Sondieren der Optionen (konstruktive und destruktive Optionen) Bewerten der Optionen. Jeder Prozessschritt der Vorbereitung wird im Folgenden in einem eigenen Abschnitt ausführlicher behandelt. Die einzelnen Abschnitte sind wie folgt aufgebaut: Allgemeine Darstellungen und Grundüberlegungen zum jeweiligen Vorbereitungsschritt Bezug auf das Fallbeispiel Übertragung und systematische Analyse der jeweiligen Vorbereitungsphase anhand von Checklisten, Arbeitsunterlagen, Formblättern usw. Hinweise auf andere Verhandlungssituationen, die unser Praxisbeispiel nicht abdeckt.
Strategie und Verhandlung – vereinbar oder unvereinbar?
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Unser Praxisbeispiel erleichtert das grundsätzliche Verständnis des Verhandlungsmodells durch die differenzierte, konkrete Anwendung. Das Verhandlungsmodell, das wir vorstellen, ist jedoch für annähernd alle Kommunikationsanlässe geeignet. Hierzu zählen Verkaufsgespräche, Verhandlungen um Konditionen, Vorbereitungen von Moderationen, Interessenausgleich, bei Konflikten, Mediationen usw.
5.
Die Verhandlungs-Erfolgsplattform
Wir werden in diesem Buch eine Vielzahl von Anregungen und Hinweisen geben, die zu beachten sind. Die Vorbereitung einer Verhandlung erfordert die Einbeziehung sehr vieler Aspekte. Leider ist das unerlässlich, wenn Sie Ihren Erfolg in Verhandlungen definitiv vergrößern wollen. Doch keine Angst, Sie werden reichlich Unterstützung finden. Als Hilfe für Ihre eigenen Verhandlungssituationen dienen auf die eine oder andere Weise die Ausführungen, daneben die Arbeitshilfen, die Sie in diesem Buch finden. Ganz besonders ans Herz legen möchten wir Ihnen ein Werkzeug, das uns als Mediatoren im Lauf der Jahre durch ein große Zahl von Verhandlungen geführt hat: unsere Verhandlungs-Erfolgsplattform. Seit vielen Jahren ist sie für uns eine wichtige Hilfe, die uns zu dem Erfolg geführt hat, den wir uns im Herzen wünschen. Wir haben dieses Tool an unser Thema angepasst und weiter entwickelt, um Verhandlungsvorbereitung überschaubar und die Vorbereitung konkreter zu machen. Die Verhandlungs-Erfolgsplattform bietet auf nur einem Blatt Papier Raum für alle wichtigen Informationen, die Sie einerseits zusammentragen und andererseits auch nutzen müssen. Sie schafft Ordnung dort, wo Sie sie dringend brauchen, nämlich bei der Planung Ihrer Verhandlungen. So wird aus einer Vorbereitung eine strategische Verhandlungsvorbereitung. In den folgenden Kapiteln werden wir thematisch zugehörige Ausschnitte der Erfolgsplattform vorstellen und Ihnen als Tool anbieten. Die komplette Abbildung der Erfolgsplattform finden Sie im Anhang. Auf Wunsch senden wie Ihnen gerne die Verhandlungs-Erfolgsplattform als Excel-Tabelle zu. Wenden Sie sich dafür an den Verlag oder an die Autoren.
Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“
Wir möchten Ihnen nun den Fall beschreiben, der geradezu ein Paradebeispiel für eine gelungene Verhandlungsstrategie ist. Sehr realistisch geschildert, könnte diese erfundene Geschichte wirklich stattgefunden haben. Alles, was eine erfolgreiche Zielsetzung ausmacht, ist darin berücksichtigt worden. Im weiteren Verlauf des Buches werden wir immer wieder auf diesen Fall verweisen. Wir möchten, dass Sie die theoretische Basis, die wir Ihnen vermitteln, sofort anhand dieses praktischen Beispiels erkennen und so in die Lage versetzt werden, Ihre eigenen Strategien auf Plausibilität zu prüfen. Wie so oft im Leben treffen auch in unserem Beispiel zwei Charaktere aufeinander, die zunächst so unterschiedlich sind und zudem derart verschiedene Interessen haben, dass eine Einigung unmöglich erscheint. Natürlich kochen die Emotionen hoch, als der Konflikt um eine verschobene Grundstücksmarkierung offensichtlich wird. Wie man dennoch persönliche Vorbehalte von Sachthemen trennt, erfahren Sie auf den folgenden Seiten. Ebenso werden Sie sehen, dass es trotz aller Differenzen gelingen kann, Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken und darauf eine tragfähige Lösung zu bauen.
Der Protagonist Franz K. – ein lebensfroher Genießer. Besonders in Italien blüht er so richtig auf. Er liebt hier fast alles: die italienische Küche, Weine, Landschaften, Land und Leute. Fast noch mehr liebt er die Opern, der italienische Belcanto hat es ihm „furchtbar“ angetan. Selbstverständlich spricht er sehr gut Italienisch, pflegt viele Kontakte zu Italienern, nicht nur im engeren Umkreis, sondern weiträumig in ganz Italien. Franz K. ist 45 Jahre alt, seit 15 Jahren als selbstständiger Unternehmensberater in ganz Europa unterwegs. Beharrlich führt er einen Kampf gegen die Uhr, denn seine verfügbare Zeit ist äußerst knapp bemessen. Das bekommt leider auch seine Familie zu spüren. Seine Frau, die beiden Töchter und der Hund erwarten mehr Privatleben von ihm. Mit Recht, das weiß Franz K. Nach rund 20 Besuchen an den norditalienischen Seen hat er dort Freunde und Bekannte gefunden. Er kann sich sehr gut vorstellen, sich in dieser herrlichen Gegend zur Ruhe zu setzen. So beschließt Franz K., für sich und seine Familie am Comer See ein Haus zu kaufen.
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Die Situation
Einerseits wird das Haus Teil der Altersversorgung sein. Gleichzeitig möchte er hier endlich eine Grundlage für ein glückliches Privatleben aufbauen. Italienische Freunde geben ihm den Tipp, dass ein geeignetes Anwesen in deren Nachbarschaft zum Verkauf steht.
Die Situation Das Objekt, das zum Verkauf steht, ist eine Doppelhaushälfte mit gepflegtem, dörflichem Charakter auf einem Grundstück von ansprechender Größe. Zwar sieht man dem Haus seine 30 Jahre an und Renovierungen sind nötig, aber die hervorragende Hanglage an einer kleinen, ruhigen Privatstraße macht den „kleinen“ Nachteil mehr als wett. Die 120 qm der Eigentümerwohnung verteilen sich sehr geschmackvoll auf zwei Ebenen, Terrasse und Balkon. Zwei Ferienwohnungen à 60 qm erweitern den Wohnraum für Gäste. Zum Anwesen gehören etwa 500 qm Grund. Oberhalb und unterhalb des Hauses befindet sich dichter Kastanienwald. Und hierin besteht auch das Problem: Der Blick auf den Comer See wird durch die hoch gewachsenen Bäume unmöglich gemacht. Und der Haken an der Sache ist, dass die Bäume auf Nachbargrundstücken stehen und nicht auf dem zu verkaufenden Anwesen. Noch bevor Franz K. mit den Baumbesitzern spricht, erfährt er von Dorfbewohnern, dass diese die Bäume absichtlich haben hoch wachsen lassen. Und zwar mit dem Hintergedanken, auf diese Weise auf alle Zeit vor neuen Nachbarn, die ihre Ruhe stören könnten, sicher zu sein. Deshalb ließen sie die Bäume wachsen in der Annahme, dass das Anwesen so schwerer zu verkaufen sei. Sie rechneten zum einen mit einer Wertminderung von rund 30 Prozent und spekulierten darauf, dass der Besitzer das Haus unter Wert nicht verkaufen würde. Zum anderen hofften sie darauf, dass potenzielle Käufer von sich aus vom Kauf absehen würden, sobald sie die ungünstigen Umstände registrierten. Nichtsdestotrotz ist Franz K. guten Mutes. Er verspricht sich eine schöne Rendite durch die Vermietung der Ferienwohnungen, denn die Lage des Anwesens ist einfach unvergleichlich. Voraussetzung ist allerdings, das Problem des fehlenden Seeblicks einvernehmlich zu lösen.
Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“
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Bergseite
Zufahrtsstraße Schuppen Schuppen 2 1 Ehemalige Garage
Grundstück von Franz K.
Anbau
Terrasse
Grundstück von Otto F.
Seesicht
SEE
Abbildung 1: Lageplan des Anwesens am Comer See
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Der Nachbar
Der Nachbar Die Nachbarn sind hauptsächlich Italiener, die seit Generationen dort leben. Direkt an das vakante Anwesen wohnt der in die „Baumgeschichte“ involvierte Österreicher Otto F. Der Alpenländer wohnt hier seit rund 30 Jahren und ist zu so etwas wie dem „Platzhirsch“ avanciert. Mit 68 Jahren ist er immer noch rüstig und von knochiger, drahtiger Statur. Auch er liebt Musik, allerdings eine „etwas“ andere Gattung als Franz K. Otto F. ist bekennender und praktizierender Country & Western-Fan. Der clevere Österreicher hatte schon vor Jahrzehnten den Wert der Lage erkannt und den Bauern Land billig abgekauft. Ihm gehören heute mehrere Parzellen, die im ganzen Dorf verteilt sind. Und ihm gehört auch das besagte Grundstück mitsamt den Bäumen, die Franz K. im Falle des Hauskaufes die Seesicht nähmen.
Die Ausgangslage Franz K. ist begeistert von dem Haus und seiner Lage. Ein wahrer Traum! Selbstverständlich rechnet er auch mit einer angemessenen Rendite aus der Vermietung. Der Traum von einer wunderschönen Altersresidenz und einem gefüllten italienischen Bankkonto beflügeln ihn sichtbar. Einzig die Bäume bereiten ihm noch etwas Kopfzerbrechen. Was aber liegt näher, als Otto F. über seine Kaufabsicht zu informieren und ihn zu fragen, ob er denn bereit sei, die Bäume – ca. 25 an der Zahl – zu fällen. Otto F. willigt spontan ein. Ein Wort in Ehren, aber darauf möchte sich Franz K. nicht verlassen. Immerhin geht es nicht nur um viel Geld, sondern sein Privatleben und sein Altersruhesitz stehen ebenfalls auf dem Spiel. Um seine Investition abzusichern, verlangt er eine schriftliche Vereinbarung in Form eines Vorvertrages mit Otto F. über die getroffene Vereinbarung. Otto F. willigt diesmal nicht spontan ein. Er sagt, er wolle mit seiner Frau Anni darüber sprechen und werde Franz K. am folgenden Tag über das Ergebnis unterrichten. Am nächsten Tag treffen sich die beiden wie vereinbart. Otto F. ist grundsätzlich bereit, die Bäume fällen zu lassen. Voraussetzung sei allerdings, Franz K. übernähme die Kosten dafür. Das verstehe sich ja von selbst. Für seine Bereitschaft, die Bäume fällen zu lassen, verlangt er jedoch eine Gegenleistung. Diese Gegenleistung besteht in der Abtretung eines 1,5 Meter breiten Streifens Wiese. Otto F. möchte nämlich einen Anbau zur Lagerung von Holz und einen Pizzaofen errichten. Dafür reiche aber der vorhandene Platz auf der unteren Terrasse nicht aus. Otto F. sagt, dass die nicht gekennzeichnete Grundstücksgrenze einen Meter neben Otto F.´s Hauswand entlang laufe. Inklusive der von Franz K. abgegebenen eineinhalb Meter stünden Otto F. dann zweieinhalb für die Verlängerung seiner Terrasse und den dort geplanten Holzverschlag mitsamt
Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“
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Pizzaofen zur Verfügung. Für all dies habe Ottos Frau Anni „ein paar Zeilen“ aufgesetzt – was sich als ein Werk von mehreren Seiten entpuppte. Hier nur ein kleiner Auszug. Franz. K. und Otto F. einigen sich und schließen folgenden Vorvertrag: Die Eheleute K. beabsichtigen, das Haus X zu kaufen. Im Falle, dass der Kauf zu Stande kommt, vereinbaren die künftigen Nachbarn, die Eheleute K. und die Eheleute F., Folgendes: 1. Die Eheleute Otto F. halten den Eheleuten Franz K. die Seesicht frei. 2. Die Eheleute Franz K. erlauben Otto F. auf der unteren Terrasse seitlich an das Grundstück der Eheleute Franz K. angrenzend eine Überbauung 1,5 m auf dem Grundstück von den Eheleuten Franz K. zu erstellen. Diese Vereinbarung soll nach erfolgtem Kauf notariell bestätigt werden.
Die Vorbesitzer Die Eigentümer des Anwesens, ein deutsches Psychologen-Ehepaar in den besten Jahren, hatten das Haus geerbt. Der Vater des Ehemannes war ein Jugendfreund von Otto F. Das Ehepaar reist zum Abschluss des Kaufvertrages nach Italien an. Der Vorabend des Notartermins steht ganz unter dem Zeichen von Geselligkeit und Kennen lernen. Man unterhält sich über Italien, den See, die Nachbarn, die Erlebnisse. Dabei erhält Franz K. von den Vorbesitzern Informationen, die Otto F. in neuem Licht erscheinen lassen. Bei der zweiten Flasche Rotwein gestehen die Noch-Besitzer, dass ein Grund für den Verkauf des Hauses die ständigen Nachbarschaftsstreitereien mit Otto F. seien. F. sei zwar grundsätzlich ein liebenswerter Mensch. In Bezug auf Grundstücksangelegenheiten verstehe er jedoch keinen Spaß und sei knallhart. Eine Lieblingsbeschäftigung von Otto F. sei es, farbige Grundstücksmarkierungen und Grenzsteine auf Wanderschaft zu schicken – jedoch ausschließlich zu seinem Vorteil. Otto F. lebe mit dieser Methode einen regelrechten Expansionsdrang aus. Dagegen anzugehen sei aussichtslos, meinte der Psychologe, denn die Grundstücksgrenzen hier in Italien seien wegen ungenauer Grundbücher nicht präzise fixiert. Nebenbei erfährt Franz K., dass die Ferienwohnungen in letzter Zeit nicht mehr so gut vermietet werden können. Das läge an der überfälligen Renovierung. Vor allem aber daran, dass die Sicht auf den Comer See durch die hoch gewachsenen Kastanienbäume mittlerweile fast völlig unmöglich geworden ist. Plötzlich fühlt Franz K. deutlich: Hier lauert ein Problem!
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Die Geschichte von der Garage, die keine Garage mehr ist
Die Geschichte von der Garage, die keine Garage mehr ist 25 Jahre zuvor hatten die damaligen Nachbarn Otto F. und Heinz G., der verstorbene Vater des Psychologen, beschlossen, zwei Garagen parallel nebeneinander genau auf die Grundstücksgrenze zu bauen. Die Zufahrt zu diesen Garagen sollte über einen Privatweg erfolgen, der Otto F.´s Grundstück bis zum Eingang der Garage kreuzt. Otto F. räumte seinem Nachbarn damals ein (nirgendwo schriftlich fixiertes) Passierrecht für eben diesen Privatweg. Heinz G. baute also seine Garage als erster und erlaubte seinem Jugendfreund Otto F., diese Garage zu nutzen in der Zeit, in der er nicht anwesend war. Der clevere Otto F. aber rieb sich die Hände: Warum sollte er denn eine Garage bauen, wenn er doch elf Monate im Jahr die Garage seines Nachbarn kostenlos nutzen konnte? So blieb der Bau der zweiten Garage lediglich eine Verkettung von Synapsen im Gehirn. Als Otto F. erfuhr, dass Heinz G.´s Erben das Haus verkaufen wollten, war ihm das gar nicht recht, denn er befürchtete, dass nach dem Verkauf wieder Urlauber kämen, auf der Privatstraße fahren und die Garage ständig belegen würden. Deswegen besann er sich darauf, dass ein Teil der Garage ja seinerzeit auf seinem Grundstück errichtet worden war – übrigens illegal, d.h. ohne Baugenehmigung, eine damals in Italien weit verbreitete Gepflogenheit. Heinz G.´s Erben wurden von Otto F. davon in Kenntnis gesetzt, dass er die auf seinem Grundstück stehende Überbauung, sprich den auf seinem Grundstück stehenden Teil der Garage, für sich beanspruche und in die Garage auf der Grundstücksgrenze eine Mauer einziehen werde. Er könne diesen Teil der Garage gut als Vorratsraum benutzen. Die Antwort wartete er gar nicht erst ab, sondern schritt gleich zur Tat. Großzügig baute er auf eigene Kosten eine Zugangstüre ein, auf seiner eigenen Seite natürlich, wohl wissend, dass der andere Teil der Garage als geschlossener Raum ohne Zugangsmöglichkeit dem künftigen Besitzer nichts nützen würde. Er teilte darüber hinaus den Erben von Heinz G. mit, sie könnten das Haus gerne an Franz K. verkaufen, allein es müsse allen Beteiligten klar sein, dass der künftige Besitzer an Stelle der ehemaligen Garage jetzt nur noch einen räumlich verkleinerten Vorratschuppen nutzen könne. An diesem Abend vor dem Kauf räumen die Erben von Heinz G. auch ein, dass sie Otto F. gegenüber wegen ihrer mangelnden italienischen Sprachkenntnisse immer im Nachteil gewesen seien. F. habe gute Kontakte zu hiesigen Landvermessern, zu Ämtern und anderen einflussreichen Personen, die er intensiv nutzte. Franz K. wundert sich, als er sich die Mauer in Erinnerung ruft, die von Otto F. in die jetzt als Geräteschuppen und Keller-Ersatz fungierende ehemalige Garage eingebaut wurde und die Grundstücksgrenze markieren soll. Er wundert sich darüber, dass sie ca. 1,20 Meter tief auf seinem Grundstück steht, wenn er draußen neben der „Garage“ das Gartenmäuerchen bedenkt, welches die beiden Gärten trennt. Aber er denkt auch, dass dies wohl seine Richtigkeit hat und sich aufklären wird.
Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“
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Der Kauf Trotz aller aufgekommenen Fragen beschließt Franz K., den Kauf durchzuziehen. Zu sehr ist er vernarrt in das Objekt und außerdem felsenfest entschlossen, hier seinen Lebenstraum wahr werden zu lassen. Italienische Nachbarn beglückwünschen ihn zum Kauf, warnen aber hinter vorgehaltener Hand ebenfalls vor Otto F. wegen dessen „Grundstücks-Imperialismus’“. Doch Franz K. wischt alle Bedenken beiseite. Die Risiken in Bezug auf den Nachbarn nimmt er als Herausforderung an und ist fest entschlossen, diese auch zu managen. Otto F. hat übrigens, wie es seine Art ist, sofort die in Frage stehenden Bäume fällen lassen und im Gegenzug auf dem abgetretenen Land den Anbau errichtet.
Die Geometer In Italien haben Geometer sehr umfangreiche Funktionen und Aufgaben. Sie sind Landvermesser, Baupraktiker, zeichnen Baupläne wie hier zu Lande die Architekten und betreuen Bauprojekte von der Planung über die behördliche Genehmigung bis hin zur Realisierung, übernehmen sogar selbst die Baustellenaufsicht. Daniele Muratti (Geometer von Otto F.): Sicher haben Sie für sich eine Vorstellung davon, wie sich jemand die Bezeichnung „Schlitzohr“ erwirbt. Nun, stellen Sie sich genau so jemanden vor. Daniele Muratti ist Motorboot-Fetischist und „Kaltduscher“. Und nicht nur das Motorboot, auch seinen BMW treibt er zu höchsten Geschwindigkeiten. Seine Kontakte zu örtlichen und städtischen Gremien und Institutionen funktionieren wie geschmiert. Das ist auch gut so, denn bei manchen Vermessungen scheint seine Optik einen „Knick“ zu haben. Giovanni Bellavista (Geometer von Franz K.): Ein seriöser Mann, präzise, gründlich, unbestechlich. Er stottert leicht, wirkt auch dadurch sehr menschlich und sympathisch. Dass er gut aussieht (Typ gebräunter Latin Lover), wird von vielen seiner Klienten positiv empfunden.
Der Hausumbau Die Geometer kommen ins Spiel, als nach dem Kauf verdeckte Mängel zu Tage treten. Die erforderliche Komplettsanierung inklusive neue Bodenplatte wird auf neun Monate veranschlagt. Otto F. empfiehlt Franz K. vor Baubeginn seinen Geometer Muratti als Bauleiter und Architekt – insbesondere wegen seiner besonders reibungslosen Kontakte zur örtlichen Baubehörde. Doch Franz K. ist gewarnt und entsprechend skeptisch. Er beauftragt schließlich Giovanni Bellavista. Während der Umbauphase hat Franz K. bald erneut Grund, sich zu wundern. Und zwar über „wandernde“ Grenzmarkierungen an seinem Grundstück. Zur Rede gestellt erklärt Otto F., dies sei auf die Ergebnisse einer neuen Vermessung des Geometers Muratti zurückzuführen.
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Der Konflikt
Franz K. nimmt das zunächst hin. Zu stark lasten der Umbau und die Renovierung der Ferienwohnungen auf ihm, seine Prioritäten liegen einfach woanders. Der exakte Grenzverlauf wird sich bestimmt auch später noch feststellen lassen. Natürlich vertraut er auch auf die gesetzlich vorgeschriebene Objektivität aller Geometer. Nach sieben Monaten, kurz vor Abschluss der Innenarbeiten und vor Beginn der Außenarbeiten, kommen die ersten Zweifel. Die Privatstraße soll gepflastert werden. Hierbei kommt es zu offenen Unstimmigkeiten über den tatsächlichen Grenzverlauf. Otto F. droht Franz K. sogar damit, die Arbeiten an der Straße zu unterbrechen. Daraufhin beauftragt Franz K. Bellavista mit der Überprüfung von Murattis Vermessungsergebnissen. Das Ergebnis deckt schwerwiegende Mängel der ursprünglichen Vermessung auf, die allein mit handwerklichen Fehlern nicht mehr zu erklären sind. Es kommt zu einer Ortsbegehung, an der beide Geometer und Franz K. teilnehmen, Otto F. glänzt durch Abwesenheit. Mit dem Ergebnis konfrontiert, rudert Muratti zurück: „Sorry, Kunstfehler“. Die Position von Franz K. wird eindeutig bestätigt. Muratti gibt bei der Ortsbegehung unumwunden zu, sich vermessen zu haben. Vermessen sei dagegen, ihm oder seinem Auftraggeber Otto F. hierbei eine böse Absicht zu unterstellen. Alles nur ein menschlicher Irrtum. Franz K. ist trotzdem sauer. Die Ungenauigkeit von einem Millimeter auf dem Plan machen im Gelände 1,20 Meter aus.
Der Konflikt Franz K. genügt die Erklärung des Geometers verständlicherweise nicht. Auch, dass er nachgewiesenermaßen im Recht ist, macht ihn nicht glücklich. Er fühlt sich geprellt. Er fühlt sich um mehrere Quadratmeter Land betrogen. Und, was noch viel schlimmer ist: Erstens hat sich Otto F. als der entpuppt, vor dem man Franz K. gewarnt hatte, und zweitens hat Otto F. mit seinen vollzogenen Baumaßnahmen Fakten geschaffen. Die Mauer in der Garage steht. Otto F. hatte ihn für die Überbauung auf der unteren Terrasse um 1,5 m Land gebeten. Weiterhin hatte er behauptet, die eigentliche Grundstücksgrenze verlaufe einen Meter neben der bisher angenommenen und neben dem ebenfalls von Otto F. gemauerten Gartenmäuerchen. Insgesamt hatte sich Otto F. einen Streifen von 2,5 Metern bzw. rund 8 Quadratmeter umbauten Raum über das im Vorvertrag vereinbarte Quantum hinaus verschafft. Dies alles sind jedoch Kleinigkeiten vor dem Hintergrund, dass durch derartige Attacken der Wert seines Anwesens bei einem eventuellen Wiederverkauf sinken würde. Ganz zu schweigen von den Behinderungen des Vermietungsgeschäftes der Ferienwohnungen. Ständig geht Franz K. die Frage durch den Kopf: „Geht meine Rechnung überhaupt noch auf?“ Je mehr Franz K. darüber nachdenkt, umso mehr gerät er außer sich. Wie es sich jetzt darstellt, ist der Vorvertrag auf Grundlage falscher Vermessungsergebnisse geschlossen worden. Franz. K. fordert Rückbau, also die Herstellung des ursprünglichen Zustandes, was konkret bedeutet:
Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“
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Einreißen der in die Garage eingezogenen Mauer und Versetzen auf die tatsächliche Grundstücksgrenze sowie Abriss des Anbaues und Versetzen des Anbaus auf die im Vorvertrag vereinbarte Position, diesmal allerdings ausgehend von der realen Grundstücksgrenze. Otto F. wiederum ist ebenfalls außer sich. Er fürchtet nicht nur den Verlust des in die Baumaßnahmen eingesetzten Kapitals, sondern darüber hinaus auch den Gesichtsverlust unter den Dorfbewohnern. In der Tat beginnen die Dorfbewohner bereits, über den zwischen den Nachbarn entstandenen Konflikt zu tratschen. Eines Nachmittags erhält Franz K. von einer italienischen Nachbarin Besuch. Sie schaut aus dem Fenster hinunter auf den Anbau und ruft aus: „Ah, Francesco, ist das das Land, das Otto dir geklaut hat?“ Leider ahnt sie in diesem Moment nicht, dass Otto F. auf seiner Seite des Gartens gerade ein Sonnenbad nimmt und jedes Wort mit anhört.
Der Streit droht zu eskalieren Die Situation ist fatal. Wenn die Grundlagen für den Vorvertrag durch die getroffenen Baumaßnahmen hinfällig sind, wird dann der gesamte Vorvertrag inklusive aller anderen Punkte ebenfalls hinfällig? Eine Frage, die Franz K. intensiv bewegt. Für ihn wäre es eine Horrorvorstellung, wenn der Konflikt um die Grundstücksgrenze inklusive der „illegalen“ Baumaßnahmen dergestalt eskalieren würde, dass Otto F. letztlich mit dem Boykott aller getroffenen Vorvereinbarungen reagieren würde. Franz K. hat nachts Albträume. Darin sieht er sein Anwesen im unteren Bereich bereits von einem dichten Urwald umlagert, der ihm und seinen Feriengästen jede Seesicht nimmt. Aber auch Otto F. plagen Albträume. Er würde zum Gespött der Nachbarn, wenn er die gebauten Mauern einreißen müsste. Und da ihn eine gesunde Sparsamkeit regiert, plagen ihn Krämpfe in der Magengegend, wenn er an die drohenden finanziellen Verluste denkt. Zu allem Überfluss sitzen ihm seine Frau und die Familie im Nacken, die mit ihm im „Familienrat“ Pläne und Ränke schmieden, ihn jedoch stets als Speerspitze aller Verhandlungen alleine in die Schlacht schicken. Der arme Otto F. steht dem Familienrat gegenüber unter permanentem Erfolgszwang. Damit noch nicht genug. Verschärfend kommt hinzu, dass sich Otto F.´s Enkelkinder und Franz K.´s Kinder bestens vertragen. Wenn sie auf den Nachbargrundstücken gemeinsam die Ferien verbringen, spielen sie vergnügt und ausgesprochen harmonisch miteinander. Franz K. und Otto F. werden oft gemeinsam zu den italienischen Nachbarn eingeladen. Welche Auswirkungen eine mögliche Eskalation des Konfliktes auf den sozialen Frieden in der kleinen Dorfgemeinde haben könnte, ist zu diesem Zeitpunkt schwer abzusehen.
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Die Lösungen?
Die Lösungen? Welche konstruktiven Lösungsmöglichkeiten sehen Franz K. und Otto F. zu diesem Zeitpunkt? Ehrlich gesagt, keine. Franz K. erwägt einen Moment lang, das Anwesen wieder zu verkaufen. Ein Verkauf wäre jedoch überaus enttäuschend. Franz K. hatte sehr lange nach einem geeigneten Objekt gesucht, für den Kauf gekämpft und viel Zeit, Idealismus und Geld in die Verwirklichung seiner Träume investiert. Dennoch muss Franz K. anscheinend auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Er ist entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen. Wenn Otto F. ihm nicht entgegenkommt, wird er sein Recht vor Gericht durchsetzen. Und wenn Otto F. daraufhin die Bäume wieder hoch wachsen lässt und ihm die Seesicht nimmt? Nun, auch in diesem Fall wird es Mittel geben: Man ist es in Italien schließlich gewohnt, flexibel auf Belastungen zu reagieren und kreative Möglichkeiten zur Lösung des Problems zu finden, wenn es auf normalem Wege nicht funktioniert. Man könnte beispielsweise einen Trupp von „Boscaioli“ (Waldarbeiter) engagieren, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Kettensägen ausgerüstet sich der Bäume annimmt. Darüber hinaus gäbe es sicher chemische Produkte oder andere unkonventionelle Hilfsmittel (z. B. Zinknägel), die das Problem lösen könnten. Beide Parteien steigern sich gedanklich in nicht immer gewaltfreie Fantasien hinein. Als ersten Schritt erwägen Franz K. und seine Gattin, Otto F. einmal gründlich die Meinung zu sagen. Sie wollen sich dabei nicht nur auf sein Verhalten, sondern auch auf die charakterlichen Aspekte seiner Persönlichkeit beziehen. In einem klaren Moment erkennt Franz K. jedoch, dass ein Ausbruch negativer Emotionen in Gegenwart von Otto F. niemanden weiter bringen, sondern er damit nur Öl ins Feuer gießen würde. Deshalb verwirft er diesen Gedanken wieder und beschließt, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Showdown Einige Wochen später kommt es zur entscheidenden Begegnung. Anwesend sind Franz K. und Otto F. sowie die beiden Geometer. Sofort zu Gesprächsbeginn herrscht Otto F. Bellavista an: „Signore Bellavista, als erstes muss ich ihnen sagen: Ich bin ein Ehrenmann und habe noch nie in meinem Leben einem anderen Menschen Land abgenommen. Wie kommen sie dazu, in ihrem Gutachten etwas Derartiges zu behaupten?“ Bellavista bleibt cool: „Signore F., das habe ich nie behauptet. Ich habe eine präzise Landvermessung durchgeführt, mehr nicht. Das ist mein Beruf. Ich tue nur meine Pflicht!“ Angriff abgewehrt! Nun wendet sich Otto F. Franz K. zu: „Franz, in Drei-Teufels-Namen, sag mir: was willst du denn eigentlich noch? Du hast doch bekommen, was du wolltest, die Bäume sind gefällt. Was treibt dich dazu, jetzt hier so einen Stress zu machen?“
Fallbeispiel „Grenzsteine auf Wanderschaft“
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„Ja, Otto, das ist eine gute Frage“, erwidert K. beherrscht. „Lass’ uns einmal über unsere gemeinsamen und unsere gegensätzlichen Interessen sprechen. Darin liegt nämlich der Lösungsansatz.“
Die Interessenlage Im weiteren Gesprächsverlauf führt Franz K. Otto F. vor Augen, dass es eine Reihe von gemeinsamen Interessen gibt. Beide lieben Italien, beide haben dieses Land als Wahlheimat auserkoren. Beide sprechen gut Italienisch, haben soziale Kontakte und sind mit der Landeskultur stark verbunden. Beide wollen sich entspannen und inneren Frieden finden. Beide genießen die sozialen Kontakte mit gemeinsamen Nachbarn, Freunden und Bekannten. Die Kinder und Enkelkinder spielen zusammen auf der Straße. Otto F.’s Einzelinteresse besteht darin, den Status quo zu erhalten, sein eingesetztes Kapital nicht verbrannt zu sehen und vor allem gegenüber den Nachbarn und seiner Familie sein Gesicht zu wahren. Franz K. hat nur ein Kerninteresse: die Sicht auf den See, und das nicht nur für sich, seine Familie und die zahlenden Gäste, sondern, wenn möglich, auch für alle zukünftigen Besitzer des Anwesens. Wenn dieses notariell abgesichert werden könnte, verspricht er sich eine erhebliche Wertsteigerung für sein Haus. Franz K. eröffnet folgendermaßen: „Otto, statt uns jetzt hier in einem Nachbarschaftskrieg zu verzetteln, haben wir beide es jetzt doch in der Hand, für uns, unsere Familien und für unsere Nachkommen eine Lösung zu finden, die den Konflikt ein für allemal aus der Welt schafft. Es dreht sich doch nicht nur um uns beide. Auch die Nachbarn, das Dorf, unsere Familien, alle sind betroffen. Es liegt doch sicher auch in deinem Interesse, die Dinge so zu regeln, dass weder wir noch unsere Nachkommen jemals wieder mit diesem Thema Stress haben werden. Lass uns doch einmal konstruktiv über Möglichkeiten nachdenken, wie wir die Kuh von Eis bringen können. Vielleicht können wir ein Paket schnüren, was deiner und meiner Familie in Bezug auf unsere individuellen Interessen mehr Vorteile bringt, als es die momentane Situation erahnen lässt.“
Das Ergebnis Es beginnt ein Ideenfindungsprozess, der die einst streitbaren Nachbarn dazu bringt, verschiedene Lösungsmöglichkeiten im Sinne konstruktiver Optionen zu erwägen und miteinander zu kombinieren. Schließlich steht folgendes Ergebnis fest: Franz K. bietet an, dass Otto F.´s „illegale“ Baumaßnahmen bestehen bleiben können. Voraussetzung sei allerdings: Die Seesicht gilt nicht nur für Franz K. und seine Familie als Eigentümer der entsprechenden Liegenschaft, sondern wird als Dienstbarkeit (italienisch: „servitù“) notariell eingetragen. Das bedeutet, dass alle jetzigen und künftigen Besitzer des Grundstückes von Otto F. allen jetzigen und künftigen Besitzern der Liegenschaft von Franz K. die uneingeschränkte Seesicht gewährleisten müssen.
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Das Ergebnis
Ferner wird vereinbart, dass diese notarielle Eintragung unverzüglich zu erfolgen hat und die daraus entstehenden Kosten von beiden Parteien je zur Hälfte getragen werden. Mit diesem Ergebnis sind beide Parteien hoch zufrieden. Franz K. und Otto F. haben ein ideales Verhandlungsergebnis erzielt: ein Ergebnis, das sich im wahrsten Sinne des Wortes darstellt als gegenseitige Gewinn-Maximierung. Ein Ergebnis, bei dem am Ende beide Parteien deutlich mehr Nutzen erzielen, als es die verfahrene Ausgangslage am Anfang vermuten ließ.
Teil II Strategische Verhandlungsvorbereitung
Sicherheit gewinnen
1.
Flexibilität in geordneten Bahnen
Das Wesentliche einer Verhandlung ist die – am besten optimale – Vorbereitung. Nichts ist fataler als wenn Sie sich während der Auseinandersetzung ständig auf neue Gegebenheiten einstellen müssen. Das wird selbst den geschicktesten Rhetoriker überfordern. Auch wenn Sie anderer Meinung sind: Vorbereitung ist notwendig. Sie mögen bereits gute Erfahrungen gemacht haben, indem Sie spontan verhandelten und auch so ein gutes Ergebnis erzielen konnten. Dann gratulieren wir Ihnen hiermit zu dem Glückstreffer. Vertrauen Sie aber bitte nicht allzu sehr Ihrem Glück. Denn nicht immer sitzt Ihnen ein schwacher Verhandlungspartner gegenüber, nicht immer verhandeln Sie um „Peanuts“, nicht immer haben Sie Unterstützung von Kollegen, Vorgesetzten oder Beratern, um ein paar Beispiele zu nennen. Beinahe täglich machen wir in unserer Funktion als Berater die Erfahrung, dass die Verhandlungsvorbereitung sogar bei wichtigen Anlässen vernachlässigt wird. Manch einer mag in Verhandlungen hineingehen mit der Sicherheit: „Die anderen mache ich sowieso schnell platt.“ Nun, das ist legitim, wenn Sie Ihren Verhandlungspartner zum künftigen Gegner machen wollen, wenn Sie den „harten“ Verhandlungsstil bevorzugen. Was aber, wenn Ihnen die Gegenseite plötzlich unzweifelhafte Zahlen und Fakten präsentiert, die Sie unmöglich widerlegen oder wegdiskutieren können? Wenn sie objektiv und definitiv die besseren Argumente hat? Hilft dann nur noch, aufs Ganze zu gehen oder aggressiv zu werden? Kein guter Stil. Mit Sicherheit einer, der Opfer fordern wird. Menschen, die bei Verhandlungen zu einem eher „weichen“ Stil neigen, erleben erfahrungsgemäß häufiger Niederlagen. Zumindest bleibt Ihnen oft das Gefühl, nicht das Gewünschte herausgeholt zu haben, geschweige denn das Optimum. Auch ihnen kann eine ausführliche, strategische Vorbereitung helfen. Sie gibt Sicherheit alleine schon durch die klare Formulierung von Zielen und der gedanklichen Vorwegnahme der Argumentation. Ganz gleich, ob Sie eine „harte“ oder „weiche“ Verhandlungstaktik bevorzugen – ein großer Fehler, den man bei Verhandlungen begehen kann, ist, ein gewohntes Verhaltensmuster an den Tag zu legen und sich nicht auf die Gegenseite einzustellen. Sie können sich erheblich größere Erfolgsaussichten wahren, wenn Sie flexibel in Ihren Reaktionen bleiben. Wie Sie dabei stets innerhalb Ihres Konzepts agieren, das erarbeiten Sie in Ihrer Vorbereitung.
44
Entscheidende Fragen
2.
Entscheidende Fragen
Fragen markieren wichtige Punkte der Verhandlungsvorbereitung. Hier eine Liste von Fragen, deren Beantwortung im Vorfeld enorm wichtig ist: Was ist das eigentliche Problem, warum sollen wir überhaupt verhandeln? Welche Parteien sind beteiligt? Welche persönlichen Werte und Motive treiben die Verhandlungspartner und wo liegen die Interessen? Welche Möglichkeiten zur Auflösung des Problems gibt es? Wie groß ist unser Verhandlungsspielraum? Mit welchen objektiven Kriterien ist die Güte eines Lösungsvorschlags zu beurteilen? Wie gehen wir am besten vor? Was tun wir, wenn der andere überhaupt nicht verhandeln möchte? Was können wir tun, wenn eine akzeptable Einigung mit der anderen Seite nicht zu Stande kommt? Schon beim Lesen wird deutlich, dass es unglaubliche Schwierigkeiten bereiten würde, alle Fragen gleichzeitig und/oder erst während der Verhandlung zu beantworten. Es bestünde die große Gefahr, vollkommen die Orientierung zu verlieren. Die praktische Erfahrung aus vielen tatsächlichen Verhandlungsvorbereitungen hat uns gezeigt, dass es immens wichtig ist, eine entsprechende Struktur und Systematik in den Verhandlungsvorbereitungsprozess zu integrieren. Wir werden im Folgenden die strukturierte Verhandlungsvorbereitung konsequent in fünf Schritten durchführen. 1.
Sondieren des thematischen Feldes
2.
Sondieren der Beteiligten und deren Umfeld
3.
Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen, Motiven und Zielen der Beteiligten
4.
Methodisch Optionen entwickeln
5.
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
Empfinden Sie das als sehr formalistisch? In der praktischen Umsetzung werden sie sicher feststellen, dass sich die Ergebnisse der Vorbereitung, die Sie in den einzelnen Schritten festhalten, letztendlich ergänzen und gegenseitig abrunden. Sie erhalten ein komplexes Bild des gesamten Verhandlungshintergrundes, das letztendlich alle Fassetten, sowohl inhaltliche wie auch persönliche, zusammenfasst.
Step 1
45
Step 1
1.
Sondieren des thematischen Feldes
Wenn wir verlangen, dass wir uns ausschließlich auf die Sache, d. h. das Thema der Verhandlung fokussieren sollen, dann meinen wir damit grundsätzlich zwei Aspekte. Zum einen ist es nur von Vorteil, sich alles greifbare Fachwissen anzueignen und zu verinnerlichen. Doch was nützt das umfangreichste Wissen, wenn wir es in der Verhandlung nicht anwenden können, weil nur gestritten und polemisiert wird? Wir alle wissen, dass unter solchen Bedingungen kein noch so treffendes Argument punkten kann. Daher müssen wir uns zum anderen einer Disziplin unterwerfen, die da heißt: Emotionen zügeln. Nicht nur die eigenen, sondern auch die der anderen Partei. Das bedeutet: Die Gegenseite kennen lernen, Eigenheiten des Verhandlungsführers oder des Entscheiders analysieren, ein Profil erstellen und sich darauf einstellen. Wir müssen also eine ganze Reihe von „Skills“ mitbringen, um das Ruder in der Hand zu behalten. Wir müssen Fachmann für Sachfragen sein, zudem die Psychologie der verbalen und nonverbalen Kommunikation beherrschen. Darüber hinaus geht es um Emotionen und psycho-soziale Komponenten, die immer wieder eine Rolle spielen. Die Frage ist: Fühle ich mich ausreichend qualifiziert, um an der Verhandlung sinnvoll teilzunehmen? Und: Was umfasst eine ausreichende Qualifikation in diesem Kontext?
1.1
Wissen ist Macht1
Wo die Diplomatie endet, beginnt die Gewalt. Was beiden Begriffen gemein ist: Sowohl die Diplomatie als auch die Gewalt bedienen sich der Macht – die eine auf dem Schlachtfeld der Psyche, die andere auf dem der Physis. Es scheint der unheilvolle Lauf der Dinge zu sein, dass am Ende der Machtworte die Waffen zu sprechen beginnen.
1 Francis Bacon (1561-1626), engl. Staatsmann u. Philosoph.
46
Sondieren des thematischen Feldes
So kann man sich getrost einiges Bemühen um die Vermehrung von Wissen um die Verhandlungssache ersparen, wenn man von Beginn an zu keiner Verhandlung bereit ist. Wichtig ist dann lediglich, den schwachen Punkt des Gegners zu kennen. Hauptsache ist ja, die Messer sind gewetzt. Sieht man sich selbst einem solchen aggressiven Gegner gegenüber, tut man gut daran, sich entsprechend vorzubereiten. In wenigen Bereichen des Lebens ist Macht eine derart augenfällige Einrichtung wie in Verhandlungen. Da wird Druck gemacht, manchmal verdeckt, manchmal unverhohlen die andere Seite in die Enge getrieben mit der Absicht, so an einen billigen Abschluss zu kommen. Zu beobachten ist dies in allen Verhandlungsthemen, sei es, dass es um Lieferverträge geht, um Konditionen, um Verkäufe, Vermietungen, um Arbeitsverträge oder Gehaltsvorstellungen. Die Macht des einen über den anderen in Verhandlungen ergibt sich aus der Furcht des anderen vor möglichen destruktiven Optionen, denen er begegnen könnte. Die Macht des einen lebt also in der Unsicherheit des anderen. Unsicherheit entsteht auch und in der Hauptsache durch mangelnde Kenntnis vom Sachverhalt – Grund genug, sich ausgiebig vorzubereiten.
1.1.1
Glauben oder Wissen?
Häufig wird Glauben mit Wissen verwechselt, nämlich dann, wenn der Ursprung der Überzeugung im Unklaren liegt. Um erfolgreich in Verhandlungen zu bestehen, braucht es Überzeugung, soviel steht fest. Auch Überzeugungskraft ist gefragt, denn sonst werden wir kaum unsere Vorstellungen durchsetzen können. Überzeugung können wir aus Wissen schöpfen, aber auch aus tiefstem Glauben. So könnten Sie beispielsweise annehmen und überzeugt davon sein, dass Ihr Verhandlungspartner eine „harte Nuss“ ist, die es zu knacken gilt. Oder dass er nichts als den größtmöglichen Profit aus der Verhandlung mitnehmen will und dabei über Leichen gehen wird. Oder dass Sie ihm sowieso unsympathisch sind. Aber wissen Sie das mit Sicherheit? Worauf gründet sich diese Einschätzung, auf Tatsachen oder auf Annahmen? Sie könnten außerdem von Ihrem Verhandlungsstil überzeugt sein. Sie fürchten keinen Gegner, keine Finte, keine rhetorischen Tricks. Warum? Weil Sie ein paar Mal erfolgreich waren? Ist damit gewährleistet, dass es immer so sein wird? Kein Grund also, sich auf eine Überzeugung zu verlassen, die nicht auf Tatsachen und Wissen beruht. Trauen Sie auch nicht Ihren Einschätzungen und Routinen. Alles Glauben geschieht aus Mangel an Wissen um nachvollziehbare Tatsachen. Wir möchten es einmal so definieren: Was ich glaube, ist die Summe meiner Vermutungen, von denen ich annehme, dass sie den Tatsachen entsprechen. Wenn aber keine Tatsachen auf dem Tisch liegen, worüber sollte man sich dann auseinander setzen?
Step 1
1.1.2
47
Ersetzen Sie Glauben durch Wissen
Ohne Überzeugung können weder innere Stärke noch Überzeugungskraft existieren. Die benötigen Sie jedoch, wenn Sie erfolgreich verhandeln wollen. Ob diese Überzeugung sich mehr auf Glauben stützt oder doch stärker auf Wissen und Aufklärung aufbaut, spielt zunächst für das Empfinden keine Rolle. Mentale Stärke vermittelt sie in jedem Fall. Der Unterschied wird erst dann deutlich, wenn die Überzeugung auf dem Prüfstand steht. Dann lässt sich über Vermutungen diskutieren, über objektives Wissen nicht. Bis man zu einer Überzeugung gelangt, muss man mitunter einen weiten Weg gehen. Ständig wägen wir zwischen Zweifel, Wahrheitsgehalt und Wissen ab. Jede Situation verlangt vom Verstand eine Einschätzung und Meinungsbildung. Können wir etwas mit Gewissheit behaupten oder sind wir der Annahme, dass …? Wer nichts weiß, muss alles glauben. Die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach wusste das. Zu beobachten ist, dass Wissen und Glauben scheinbar konkurrierende Räume sind, und wo immer der eine sich ausbreitet, bleibt für den anderen weniger Platz übrig. Je nach Kenntnisstand zu einer Situation verändern die Bereiche von Wissen und Glauben ihre räumliche Ausdehnung. Mit jedem neuen Faktum, welches zu einem Sachverhalt bekannt wird, verschiebt sich das Spektrum in Richtung Wissen auf der einen oder Zweifel bzw. Annahme auf der anderen Seite. Es ist kein Geheimnis: Wer über Wissen verfügt, der muss nichts vermuten oder glauben. Wer über kein Wissen verfügt, kann höchstens so tun als ob. Jemandem zu sagen, dass die Eisdecke des Sees tragfähig sei, kann dieser glauben oder annehmen – es zu wissen wäre eindeutig von Vorteil. Selbst so tun, als ob man es genau wüsste und wieder heil ans Ufer zurückkehren, hat lediglich mit Glück zu tun. Genauso verhält es sich mit Verhandlungen. Das Einzige, was sicher vor Einbrüchen schützt, ist Wissen. Wichtig für unser Thema ist, dass unsere auf objektive Fakten gebaute Überzeugung stabil und unwiderlegbar ist. Über Glauben kann man bekanntlich andauernd streiten, über Vermutungen und Annahmen noch besser, über fundiertes Wissen nicht. „Im vergangenen Jahr haben wir rund drei Prozent weniger Umsatz gemacht.“ „Warum?“ „Das liegt an der schlechten Nachfrage, davon bin ich überzeugt.“ Fühlten Sie sich aufgrund dieser Aussage ausreichend informiert oder gar vom Sachverhalt überzeugt? Besser wäre: „Unser Umsatzrückgang betrug 3,2 Prozent. Verantwortlich dafür ist die Anpassung unserer Produkte an die neue Gesetzeslage und der dadurch erhöhte Schulungsaufwand für den Vertrieb, der mit plus 4,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu Buche schlägt.“ Fakten sprechen eben eine klare Sprache. Wie kann ich sicher und selbstbewusst auftreten, wenn ich die wissenswerten und fachlichen Hintergründe des Verhandlungsthemas nicht kenne? Fundiertes Fachwissen wirkt in die psychologische Ebene hinein. Erst der psychische Halt, den eine fundierte sachliche Vorbereitung mit sich bringt, ermöglicht es, die eigenen Vorstellungen und Ziele überzeugend darzulegen. Nicht nur das. Wer über einen ausreichenden Kenntnisstand verfügt, wird nicht nur seine eigenen Argumente überzeugend vorbringen, er wird auch in der Lage sein, Gegenargumente zu entkräften und Finten seines Gegenübers zu durchschauen.
48
Sondieren des thematischen Feldes
Thematische, fachliche Vorbereitung bietet einen reichen Quell der Antworten auf kommende Fragen und stärkt so die eigene Schlagfertigkeit. Die Flexibilität in der Diskussion profitiert davon, denn wenn sich im Verlauf der Gespräche neue Aspekte ergeben, ist derjenige klar im Vorteil, der auf eine breite Wissensbasis zurückgreifen und dabei gleichzeitig sein Verhandlungsziel im Auge behalten kann. Beide Seiten sind dann in der Lage, zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. Das funktioniert dann gut, wenn die Diskussion von beiden Seiten auf sachlicher Ebene geführt wird. Wer aber vom „Gegner“ durch wohlplatzierte Tatsachen bei gleichzeitigem Mangel an eigenem Wissenshintergrund aus dem Konzept gebracht wird, erkennt plötzlich seine unzureichende Waffenausstattung. Was scheinbar bleibt, ist oft der Rückzug auf die emotionale Ebene. Hier stünden dann Polemik und Verunglimpfung als Mittel der Wahl zur Verfügung. Doch ist das im Sinne einer gemeinsamen Zielerreichung indiziert? Eine solche Verhandlungsrunde kann nur Verlierer produzieren. Auf die emotionalen Stolperfallen wollen wir nun eingehen.
1.2
Der emotionale Aspekt
Sachbezogen diskutieren ist eine der vier Disziplinen des erfolgreichen „Harvard Konzepts“ von Roger Fisher. Unter allen Umständen sei zu vermeiden, so heißt es, sich von allzu menschlichen Gefühlen den Blick auf das Verhandlungsthema vernebeln zu lassen. Der Grundsatz lautet: Trennen Sie Person und Problem, Beziehung und Sache voneinander und konzentrieren Sie sich auf die Sache bzw. die Lösung. Nur so seien Win-Win-Ergebnisse zu erzielen. Was steckt dahinter? Und warum gelingt das so selten? Weil wir uns sehr häufig von unserer Einschätzung und Menschenkenntnis, von unserer Wahrnehmung und von Emotionen den objektiven Blick auf die Tatsachen vernebeln lassen. Um unser Ziel zu erreichen, brauchen wir jedoch einen ungetrübten Blick. Aus diesem Grund wollen wir uns auf den folgenden Seiten etwas genauer mit dem befassen, was unsere Einschätzung der Dinge beeinflusst.
1.2.1
Wirklichkeit und Wahrnehmung
Die Welt, wie wir sie sehen, entspricht keiner objektiven Wirklichkeit. Schon gar nicht ist „meine“ Welt identisch mit der einer anderen Person. Während der eine zum Beispiel den Regen als Geschenk für die Natur empfindet, schimpft der andere über das „Sauwetter“. Sämtliche Erfahrungen, die wir von Geburt an machen, verbinden wir mit einem positiven, einem neutralen oder einem negativen Gefühl. Wir bewerten und es entstehen Assoziationen. Mehr noch, wir legen virtuelle Aktenschränke an, in die wir Dinge und Situationen ablegen, sobald sie ein oder mehrere Merkmale aufweisen, die uns bekannt vorkommen.
Step 1
49
Einer dieser Schränke ist beschriftet mit „Menschenkenntnis“. In ihm befinden sich Schubladen, in die wir Personen stecken, mit denen wir in Kontakt kommen. Schnell steht fest: Der mit dem dunklen Anzug, der kommt in die Schublade für Bänker. Der andere, der immer so breit lächelt, der ist Verkäufer. Was jene Frau gesagt hat, kann nur aus dem Munde einer Lehrerin kommen. Und dort, der unrasierte Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, der ist gefährlich.
Abbildung 2: System der Menschenkenntnis Das sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl, Ihre Menschenkenntnis. Können Sie sich darauf verlassen, dass Ihr Bauch immer Recht hat? Kommt Ihre Assoziationskette immer zu richtigen Ergebnis? Hat Ihr übellauniger Gesprächspartner wirklich kein Interesse an Ihrem Vorschlag, oder hat sein Sohn am Vortag eine Sechs aus der Schule heimgebracht? Unzählige Wissenschaftler und Philosophen haben sich mit diesem Thema befasst, unter ihnen der Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick. Wenn Sie sich schon einmal mit dessen Publikationen beschäftigt haben, werden Sie die folgende Szene aus seinem Werk „Anleitung zum Unglücklichsein“ kennen. Sie trifft amüsant und lehrreich wie keine andere den Kern des Problems, welches wir „die eigene Wahrnehmung“ nennen. Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern
50
Sondieren des thematischen Feldes
schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht's mir wirklich. Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er »Guten Tag« sagen kann, schreit ihn unser Mann an: »Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel! « Watzlawick erklärt dazu weiter: „Wenige Maßnahmen eignen sich besser zur Erzeugung von Unglücklichkeit als die Konfrontierung des ahnungslosen Partners mit dem letzten Glied einer langen, komplizierten Kette von Phantasien, in denen er eine entscheidende, negative Rolle spielt.“ Was hat das mit unserem Thema zu tun? Es zeigt, wie weit die individuelle Wahrnehmung sich von der Wirklichkeit entfernen kann. Wie unbeirrt unser „Oberstübchen“ den Weg seiner Gedanken verfolgt, der sich frei schwebend, ohne Gerüst und Fundament gebaut, quer durch die Sphäre subjektiver Evaluierung windet. Es fällt nicht schwer einzusehen, dass es einen allgemein gültigen Maßstab nicht geben kann. Wahrnehmungen werden immer in ein sehr individuelles Weltbild eingeordnet. Oder, um es mit Epiktet zu sagen: Nicht Tatsachen, sondern Meinungen über Tatsachen bestimmen das Zusammenleben. Wenn Sie selbst dazu neigen, beim Anblick eines Mannes mit längeren Haaren ein ungutes Gefühl zu verspüren, dann erleben Sie direkt, wie Ihr Überzeugungssystem Ihre Wahrnehmungen verarbeitet. Was wir wahrnehmen, ist immer Produkt unseres nicht besonders analytischen Verstandes, das weder eine objektive Tatsache repräsentiert noch als Ausdruck einer allgemein gültigen Wirklichkeit taugt. Wobei überdies an dieser Stelle erwähnt werden muss, dass die „allgemein gültige Wirklichkeit“ ins Reich der Paradoxien gehört.
1.2.2
Der Verstand als Bewahrer der Überzeugung
Wir erwähnten eingangs, dass Menschen eine Überzeugung benötigen, aus der sie Kraft schöpfen können. Sie sorgt für Persönlichkeit und Identität. Überzeugungen entstehen aus Gelerntem, Anerzogenem und Erfahrenem, auf jeden Fall aus Vergangenem. Aus diesem Grunde sind Gedanken nie neu. Auch wenn wir der Meinung sind, in einer neuartigen Situation unvoreingenommen entschieden zu haben, so ist das ein Trugschluss. Gedanken spiegeln nämlich immer die Vergangenheit. Sie entspringen dem individuellen Erfahrungsschatz – der eigenen Überzeugung.
Step 1
51
Abbildung 3: „Innere Landkarte" Die eigene Identität ist also die Summe von Überzeugungen, ein Produkt von subjektiven Interpretationen dessen, was einmal passiert ist. Und weil das von Geburt an so läuft, wirken diese Muster hauptsächlich im Unbewussten. Viele entwickeln sich dann, wenn sie erfolgreich mehrere Male angewendet wurden, mit der Zeit zum Automatismus. Natürlich baut der Verstand unsere Persönlichkeit auf positivem Feedback auf. Jedenfalls auf dem, was er für positiv hält. Für diesen Zweck wendet er die Affirmationstechnik an. Einfach gesagt bestätigt unser Verstand sich selbst in seinen Erwartungen. Das sieht dann gedanklich etwa so aus: „Siehst du, Frauen wollen immer nur dein Geld.“ Oder: „Ich wusste es: Der wird einer Lieferzeitverkürzung niemals zustimmen.“ Und: „Dass der ein Versager ist, sah man ihm schon an.“ Das klingt verdächtig nach Klischee und Vorurteil, nicht wahr? Egal, unserem Verstand geht es lediglich ums Rechthaben. Im Kleinen wie auch im Großen. Denn was wäre, wenn unsere Überzeugung ins Wanken geriete? Wenn uns ständig jemand den Boden der Überzeugung unter den Füßen wegzöge? Nicht auszudenken! Unser persönliches Selbstverständnis würde schwerst in Mitleidenschaft gezogen. Verständlich, dass wir uns gerne auf der „angenehmen“ Seite der Erlebniswelt aufhalten möchten, die Seite, wo sich alles „richtig“ anfühlt. Sie gibt uns Sicherheit, ein Refugium für unser Ego, wo wir uns unbedrängt fühlen.
52
1.2.3
Sondieren des thematischen Feldes
Überzeugungen verhindern Flexibilität
Je stärker wir von einer Sache überzeugt sind, das heißt, je öfter wir in unserer Einschätzung bestätigt wurden, desto bedeutungsloser erscheint der Gedanke daran, dass wir jemals falsch liegen könnten, dass es außerhalb dieses Refugiums weitere Gedanken mit Daseinsberechtigung gibt. Der Blick „nach draußen“ wird immer mehr verbaut. „Warum sollte ich meine Richtlinie ändern, es ging doch schon immer gut so“, ist eine beliebte Antwort auf die Frage, warum man nicht einmal etwas anderes versuche. Das verhindert aber, dass Neues gedacht wird. Routine hat auch ihre Vorteile. Entscheidungen können auf Grund von Erfahrungen schnell getroffen werden und schützen uns zum Beispiel vor Gefahren. Stellen Sie sich vor, Sie müssten jedes Mal erneut darüber nachdenken, ob Sie zuerst den Schalthebel und danach die Kupplung betätigen sollen, und mit welchen Folgen Sie zu rechnen haben, wenn Sie falsch liegen. Mehr als lästig wäre das, sogar gefährlich! Weil Sie aber als Autofahrer bereits ein paar Mal das Knirschen des Getriebes hören mussten und diese Erfahrung mit dem Attribut „negativ“ gespeichert haben, widmen Sie der Betrachtung keine weitere Aufmerksamkeit, denn die korrekte Handlungsabfolge kommt mittlerweile ganz automatisch. Weil diese Abkürzung „Auf-A-folgt-B“ so gut funktioniert und uns schnell zu vermeintlich brauchbaren Entscheidungen führt, neigen wir in sehr vielen Situationen zum Überspringen der Differenzierung. Einmal eine Blondine, immer wieder blond. Auf A („Wenn ich ein Frau suche, …“) folgt automatisch B („… geht nichts über eine Blondine.“). C – die attraktive Brünette – wird als Kandidatin erst gar nicht wahrgenommen. Wir alle kennen diese Klischees, die manche Gruppen bedienen. Aber nicht alle Frisöre sind homosexuell, nicht alle PKW mit Stern verdienen diesen auch. Nicht jeder Weißhaarige ist an Weisheit reich und nicht jeder Arbeitslose faul. Und nicht jeder freundlich lächelnde Verhandlungspartner kommt mit redlicher Absicht daher. Die Gefahr der Pauschalierung liegt natürlich im „Tunnelblick“. Eine unglaubliche Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet sich dagegen demjenigen, der sich der beschränkenden Arbeitsweise des egoistischen Verstandes bewusst ist. Flexibilität auf der Suche nach Optionen entsteht durch den Blick auf unerforschtes Gebiet. Doch solange es noch funktioniert, kommt nach A immer B. So macht das ein jeder. Vor nie gedachten Alternativen, vor Neuem, Unbekanntem oder auch Unbequemem schreckt man oft zurück. Denn wenn es eine Sache gibt, die unser Verstand nur sehr ungern tut, dann die, seine innere Überzeugung überprüfen zu müssen – sonst müsste er unter anderem wieder beginnen, über die Reihenfolge von Kupplung und Schalthebel nachzudenken.
Step 1
1.2.4
53
Sympathie – Antipathie
Emotionen bestimmen den Umgang der Menschen miteinander. Es ist sicher kein Nachteil, wenn sich die Verhandlungspartner sympathisch sind oder wenn sie gar freundschaftlich miteinander umgehen. Ein Vertrauensverhältnis erleichtert Verhandlungen. Eine Reihe bereits abgeschlossener Gespräche, die beiderseits Erfolge gezeitigt haben, öffnet die Partner für neue Vorschläge. Man ist eher bereit, auch einmal einen suboptimalen Kompromiss mitzutragen, wenn es aus nachvollziehbaren Gründen erforderlich ist. Doch wenn uns der Verhandlungspartner in Person, das Thema oder die Umstände zutiefst unsympathisch sind, sinkt unsere Motivation rapide in den Keller. Das heißt also, wenn die emotionale Grundstimmung anders als positiv ist, können wir davon ausgehen, dass sich dies auch im Verhandlungsklima widerspiegeln wird. Haben Sie sich nicht auch wie viele andere Menschen gefragt, wie die erste Bundeskanzlerin Deutschlands bei den Staatsoberhäuptern des Auslands angenommen und mit welchen Gefühlen man ihr begegnen würde? Könnte Sie mit Herrn Putin Schlitten fahren und mit Monsieur Chirac durch die Champs-Élysées schlendern? Wäre sie in der Lage, George W. Bush den nötigen Respekt einzuflößen? Welchen Stand würde diese Frau in einer selbstgefälligen Männerrunde haben? Hinter all den Fragen stand die Erwartung: Wir wünschen, dass Frau Merkel in Verhandlungen die deutschen Interessen mit Nachdruck und Gewicht vertritt. Und dazu gehört nun einmal neben treffenden Argumenten auch und nicht zuletzt der so genannte, auf emotionalen Gesichtspunkten basierende „Nasenfaktor“. Als wie gewichtig würde sich also Frau Merkels Sympathiefaktor erweisen? Immerhin konnte sie sich sogleich – zumindest im Ausland – Respekt und Anerkennung verschaffen, als sie im Dezember 2005 den Streit in der EU um Agrar-Subventionen und Briten-Rabatt schlichtete. Die internationale Presse überschlug sich mit Lobeshymnen. Respekt und Anerkennung – Begriffe aus der emotionalen, der menschlichen Beziehungswelt. In diese Reihe passen auch Worte wie Freundschaft, Sympathie, Kollegialität, Vertrautheit, aber auch Hass, Antipathie, Misstrauen und Missgunst – Begriffe, die typisch sind für das „Menscheln“, das jeden von uns bewegt. Begriffe, die tief sitzende Emotionen beschreiben und die mit dem persönlichem Wertesystem und der Identität verbunden sind. Eigentlich sollte es im Sinne der Zielerreichung nur ein minimales Hindernis sein, wenn sich Verhandlungspartner nicht „riechen“ können, wenn der „Nasenfaktor“ sich unangenehm bemerkbar macht. Denn im Grunde, das weiß ein jeder, muss es um die Sache gehen, um das Ergebnis. Doch da macht uns unser geistiges, unbewusstes Es (siehe Kapitel „Step 3“: Freud’sches 3-Instanzen-Modell) leider viel zu oft einen Strich durch die Rechnung. Die Gründe dafür liegen im Verborgenen, was wir hier erläutern und im oben genannten Kapitel ergänzen werden.
54
1.2.5
Sondieren des thematischen Feldes
Befürchtungen/Ängste
Welches sind die Auslöser für negative Empfindungen, die Verhandlungssituationen behindern? Nicht erst seit Fisher und Ury wissen wir, dass die Welt um uns herum das Produkt unserer höchsteigenen, subjektiven Wahrnehmung ist. „Leiten Sie niemals die Absichten anderer von Ihren eigenen Befürchtungen ab.“, schrieben die Autoren in „Getting To Yes“ bzw. „Das Harvard Konzept“. Und ergänzend hierzu können wir den Satz von Cervantes zitieren: „Eine der Wirkungen der Furcht ist es, die Sinne zu verwirren und zu machen, dass uns die Dinge anders erscheinen, als sie sind.“ Nonverbale Kommunikation wie Körpersprache, darunter auch Mimik und Gestik, wie auch gezielte verbale Äußerungen sind in besonderem Maße effektiv, wenn es darum geht, Stimmungen zu erschaffen. Drohgebärden sollen den Verhandlungspartner einschüchtern, es entsteht Angst, Rückzugs- oder Angriffsbereitschaft. Ein Lächeln stimmt dagegen positiv und wird als gutes Zeichen für den Ausgang der Gespräche gewertet. Taktische Tricks, mit denen absichtlich und gerne in Verhandlungen gearbeitet wird. Doch nicht in jedem Fall steckt eine Absicht dahinter. Oft sind es Wahrnehmungen, die – weil richtig oder falsch interpretiert – uns zu einer bestimmten Haltung veranlassen. Daraus können schon einmal ausgewachsene Ängste und konkrete Befürchtungen werden. Konstruieren wir einmal den Fall des Herrn Kern, der davon überzeugt ist, eine Gehaltserhöhung für ihn wäre angebracht. Er weiß um die angespannte Auftragslage der Firma und ist entsprechend zögerlich. Er wartet schon lange auf die passende Gelegenheit zu einem Gespräch mit seinem Chef. Leider ist dieser recht häufig schlechter Laune. Ganz deutlich kann man ihm eine gewisse Verärgerung im Gesicht ablesen, wenn er zu ihm herüberschaut. Kein guter Zeitpunkt, über mehr Geld zu verhandeln, denkt sich Kern immer wieder. So kommt es über Monate nicht zu dem Gespräch. Endlich fasst Kern sich ein Herz. Gerade noch hat er seinen Chef gesehen, wie er mit energischem Türeschlagen in seinem Büro verschwand. Innerlich verabschiedet sich Kern bereits von 30 Prozent seiner Gehalterhöhung. Der wird niemals zustimmen, befürchtet er. Doch tapfer betritt er das Büro – heute muss es einfach sein, sagt er sich, auch wenn ich meine Vorstellungen nicht voll realisieren kann. Umso erstaunter ist Kern, als sein Chef ihn überaus freundlich empfängt: „Hallo Herr Kern. Wie freue ich mich, Sie zu sehen. Wissen Sie was, Sie sind der einzige Lichtblick hier in dem Laden. Und besonders dieser Neue, der direkt neben Ihnen sitzt, der raubt mir noch den letzten Nerv. Aber was kann ich denn für Sie tun? Ich hörte, bei Ihnen gab es Nachwuchs. Ich wollte sowieso einmal mit Ihnen sprechen. Sie sind schon lange bei uns, arbeiten gut, und jetzt, wo die Familie größer geworden ist, da wollte ich Ihnen eine kleine Gehaltserhöhung anbieten. Na, was halten Sie davon?“ Was wir davon halten, ist klar: Kern hatte sich vom übellaunigen Gesichtsausdruck seines Chefs beeindrucken, ja einschüchtern lassen. Und zwar völlig grundlos. Damit hatte er seine eigenen Befürchtungen auf seinen Chef projiziert („Eine Gehalterhöhung ist ein schwieriges
Step 1
55
Thema“) und sich selbst in eine schlechte Ausgangslage gebracht – was ihn letztendlich einiges Geld kostete, weil er die Gehaltserhöhung schon früher hätte haben können. Angst ist ein wichtiger Faktor im Gespräch. Sie können ihn nutzen, Sie können aber auch darunter leiden – je nachdem, welcher Typus Verhandlungspartner Sie sind. Ängste haben immer eine gemeinsame Ursache – die Unsicherheit: Unsicherheit auf Grund mangelnden Sachwissens Unsicherheit auf Grund hierarchischer Unterschiede Unsicherheit auf Grund von Machtverhältnissen Unsicherheit darüber, welche die Optionen der Gegenseite sind Unsicherheit auf Grund des eigenen körperlichen und geistigen Befindens Unsicherheit über die eigenen Interessen Unsicherheit über die Konsequenzen im Fall des Scheiterns Je größer die Unsicherheit, desto kleiner der Verhandlungsspielraum. Eigene Unsicherheit bietet riesigen Spielraum für eigene Befürchtungen. Befürchtungen darüber, welches die persönlichen Konsequenzen beim Scheitern der Gespräche sind, berauben uns jeglichen Verhandlungsspielraumes. Das Scheitern kann allerdings aus jeder einzelnen der genannten Unsicherheiten herrühren. Ist ein Schwachpunkt erst einmal aufgedeckt, wird es manchem Verhandlungspartner ein Vergnügen sein, seinen Finger in diese Wunde zu legen. Die Unsicherheit wächst, greift auf sicher geglaubtes Terrain über, die Nervosität steigt, und am Ende kann man froh sein, überhaupt noch etwas aus der Verhandlung gerettet zu haben. Da wir aber nun einmal wissen, was auf uns zukommen kann, haben wir auch die Möglichkeit, im Vorfeld etwas dagegen zu unternehmen: Wir können uns optimal vorbereiten.
1.3
Konflikte
Konflikte als Auslöser für Verhandlungen sind häufig mit negativen Emotionen auf beiden Seiten verbunden. Jeder hat schon die persönlichen Erfahrungen gemacht, sich verrannt zu haben. Antipathie verstellt den klaren Blick auf die Dinge. Im Umgang miteinander gewinnt der Ton an Schärfe. Man wird persönlich, unter Umständen polemisch oder sogar ausfallend. Die Wirkung dieses Verlustes der Selbstbeherrschung ist in der Regel fatal. Es kann sein, dass die persönliche Beziehungsebene zwischen den Verhandlungspartnern dauerhaft gestört bleibt. Diese Störung kann darin gipfeln, dass eine Fortführung der Verhandlung im konstruktiven Sinne unmöglich wird.
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Sondieren des thematischen Feldes
Dadurch werden Chancen vertan. Viele Verhandlungen scheitern schon auf dieser Stufe, weil die Beteiligten ihr Beziehungsmanagement nicht in den Griff bekommen und persönliche Animositäten die Klärung der Sachfragen im Sinne der folgenden Verhandlungsstufen unmöglich machen. Von Thomas Mann stammt das Beispiel, wonach Worte wie Pfeile sind, die, einmal abgeschossen, nicht mehr zurückgeholt werden können und das Gegenüber durchbohren. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick spricht vom „digitalen Charakter der Sprache“. Während in der normalen Alltagskommunikation analoge Grundstrukturen vorherrschen, die neben der direkten Informationsverarbeitung vielfältige andere Bedeutungsfelder mit einschließen (wie z. B. Körpersprache, die Bewertung des Umfeldes, Konnotationen, Gedanken, die sich die Kommunikationspartner machen usw.), verläuft die Informationsverarbeitung bei eskalierenden Konflikten zunehmend in digitaler Form. Ein falsches Wort zum falschen Zeitpunkt brennt sich digital wie auf einer Festplatte im Gehirn ein. Fast jeder Mensch kann sich zuweilen auch nach Jahrzehnten noch an verletzende bzw. betroffen machende Äußerungen Anderer erinnern. Diese Erinnerungen begleiten Menschen oft bis an ihr Lebensende. Fisher und Ury, die Autoren des Buches „Das Harvard-Konzept“ empfehlen Verhandlungspartnern in eskalierenden Situationen, auf jeden Fall Ruhe zu bewahren und sich konsequent auf die Lösung der anstehenden Sachfragen zu konzentrieren. Wenn das nicht möglich ist oder schwierig erscheint, ist es auf jeden Fall besser, gar nicht zu reagieren, zur Not die Verhandlungen zu unterbrechen oder eine Verhandlungspause einzulegen, statt falsch zu reagieren. In diesem Zusammenhang geben Fisher und Ury die berühmte Metapher als goldenen Ratschlag: Gehen sie auf den „inneren Balkon“!
1.4
Denken Sie sich ans Ziel
Bis jetzt haben wir gesehen, dass unser gewohntes Denken und Empfinden in Bezug auf die Einschätzung von Personen und Situationen eher hinderlich ist. Unsere Überzeugungen behindern uns und Beobachtungen führen uns an der Nase herum. Betrachten wir noch einmal die Geschichte von dem Mann mit dem geliehenen Hammer. Sie beginnt mit einem Gedanken. Eine Gedankenkette entwickelt sich. Im Verhaltensmuster des Mannes ist festgelegt, dass er im Falle einer unfreundlichen Aktion eine bestimmte Handlung folgen lassen muss. Von alldem ist er zutiefst überzeugt. Und am Ende steht das Resultat, in diesem Falle das Zerwürfnis mit dem Nachbarn. Der Gedanke am Anfang hat also das Resultat am Ende erschaffen. Wenn der Gedanke Ursprung des Resultates ist, dann liegt die Erkenntnis nahe, dass Gedanken Dinge voranbringen und andere Dinge ebenso gut verhindern können. Gedanken besitzen die Kraft, über Emotionen und Motivationen bestimmte Handlungen in Gang zu setzen, zu
Step 1
57
unterstützen oder anzuhalten. Dabei wird das Ziel, das Ergebnis, von der Eigenschaft der Gedanken bestimmt. Wer negativ denkt, beispielsweise dass viel Geld unglücklich macht, wird mit einiger Sicherheit arm bleiben. Sind Sie der Überzeugung, dass das Leben hart ist, wird es Ihnen stets an Leichtigkeit fehlen. Und wer fest daran glaubt, dass Arbeit ermüdet, der wird am Abend abgeschlagen nach Hause kommen, ganz gleich, welche Art von Arbeit er verrichtet hat. Und haben Sie sich schon einmal überlegt, warum kaum jemand auf einem Brett in zehn Metern Höhe laufen würde, wohl aber auf demselben Brett, drei Zentimeter über dem Boden? Der Gedanke an das, was passieren könnte, hindert uns daran, gewisse Dinge zu tun, manchmal berechtigterweise, um uns zu schützen, manchmal aber eben auch völlig ohne rationalen Hintergrund. Unerheblich ist, ob uns diese Ebene bewusst ist oder nicht. In der Realität führt eine Überzeugung immer genau da hin, wo man das Ergebnis erwartet. Darum spricht man in diesem Zusammenhang von der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“. Ein Student, der angesichts des komplizierten Stoffes davon überzeugt ist, trotz fleißigen Lernens seine Prüfung nicht zu schaffen, wird durchfallen. Ein Sportler, der einen Konkurrenten fürchtet, weil der ihn bei jedem Aufeinandertreffen besiegt, wird ewig der Verlierer bleiben. Nach demselben Muster werden Sie eine Verhandlung verlieren, wenn Sie bei der anderen Seite Hinweise dafür suchen, warum Sie mit Ihrem Wunschergebnis scheitern könnten. Bisher haben wir erläutert, dass eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ins Desaster führt. Was ist aber, wenn wir die Denkrichtung umkehren? Warum sollte sie eigentlich nicht auch zum Erfolg führen können? Und tatsächlich, es gilt der Umkehrschluss. Es gelten dieselben Grundsätze für den positiven wie für den negativen Fall. Eine Überzeugung führt dorthin, wo das zu erwartende Ergebnis liegt. Wenn ich überzeugt davon bin, mein Ziel zu erreichen, dann ist das möglich. Erfolgsstories nach diesem Muster gibt es zahllose: Menschen, die schwere Krankheiten überwunden haben, indem Sie den Gedanken an den Tod nicht zugelassen haben, Menschen, die aus der Anonymität heraus zu Ruhm gekommen sind, die z. B. herausragende sportliche Leistungen vollbracht haben, weil Sie an nichts als den Erfolg glaubten und viele mehr. Gedanken haben die Macht, Dinge voranzubringen. Ausschlaggebend ist daher, dass Sie sich ans Ziel denken. Asiatische Mönche sehen den Pfeil schon im Ziel, bevor sie die Sehne ihres Bogens loslassen. Darin besteht eines der Geheimnisse ihrer Treffsicherheit. Versuchen Sie es selbst: Werfen Sie ein Papierknäuel. Während Sie noch probeweise den Arm schwingen, stellen Sie sich seine Flugbahn vor und wie es im Papierkorb landet. Dann werfen Sie! Sie werden erstaunt feststellen, dass Sie häufiger treffen werden, als Sie je zu träumen wagten.
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Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
2.
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
2.1
Vermeidung von emotionaler Aufladung
Unser Protagonist Franz K. hatte keine leichte Aufgabe zu bewältigen. Zunächst musste er versuchen, der hoch kochenden Emotionen Herr zu werden. Dabei ging es nicht nur um seine eigenen, sondern vielmehr auch um die seiner ganzen Familie. Schlimm genug, dass Franz K. seinen Traum vom geruhsamen Rückzugsort zerplatzen sah. Darüber hinaus sorgte er sich um seine Kinder, die später unter unguten Umständen zu leiden haben würden, wenn keine Einigung herbeigeführt worden wäre. Außerdem fühlte er sich verantwortlich für das Wohl seiner Frau, der er hier in Italien ein besseres Leben versprochen hatte, das sich aber nun völlig anders zu entwickeln schien. Von Ruhe und Harmonie keine Spur. Stattdessen Sorgen, Streit und ständige Befürchtungen, was dem Nachbarn als Nächstes einfallen würde. Auf ein Verhandlungsgespräch durfte diese Verzweiflung keine Auswirkungen haben, das wusste Franz K. Wenn er eine sachliche Lösung erzielen wollte, durfte er sich auf keinen Fall von seinen Emotionen leiten lassen. Zu gefährlich nahe lag die Möglichkeit von persönlichen Vorwürfen, Schuldzuweisungen, Polemik und Beschimpfungen. Dabei würde natürlich nichts Gutes herauskommen.
2.2
Keine Vermischung von Beziehungs- und Sachebene
Franz K. versuchte konsequent, eine Bewertung der Person von Otto F. zu unterlassen. Alleine schon die offensichtlichen, eklatanten Unterschiede im Musikgeschmack hätten ausgereicht, um Otto F. unsympathisch erscheinen zu lassen. Franz K. besann sich darauf, dass auch Otto F. lediglich seine eigenen Interessen verfolgte, die aus seiner Sicht legitim waren. Also würde man mit ebenso legitimen Absichten dagegenhalten können. So machte er sich an das Studium von Gesetzestexten und Bauvorschriften, die sehr zu Franz K.’s Leidwesen in Italienisch verfasst waren. Sein Ziel war, die Unregelmäßigkeiten des Geometers Giovanni Bellavista aufzudecken und als solche zu entlarven. Im örtlichen Katasteramt fand er alte Pläne, die über den Verlauf des Privatweges und von Grundstücksgrenzen Aufschluss gaben.
Step 1
59
Um sich ein Bild von der Vorgeschichte zu machen, suchte er das Gespräch mit den Einheimischen, befragte Nachbarn und die Betreiber von Geschäften, Wirtshäusern und öffentlichen Einrichtungen. So erfuhr er um die Hintergründe und die „Hintergedanken“ von Otto F. Franz K. war schließlich in der Lage, ein Gespräch auf der Sachebene zu führen, das konstruktiv auf eine Lösung zusteuerte.
3.
Umsetzung in die Praxis
3.1
Werden Sie zum Fachmann
Was man von einer Sache denkt, kann nie so gut sein wie das, was man von einer Sache weiß. Das sagte Jean Paul Getty (1892-1976), amerikanischer Ölindustrieller und Milliardär. Das bedeutet nichts anderes als dass Sie wissen müssen, wovon Sie in einer Verhandlung sprechen. Über Glauben kann man streiten, den kann man sogar rundweg ablehnen. Dagegen gibt es keine Handhabe. Nicht so, wenn Sie über Wissen verfügen. Wissen ist unwiderlegbar. Es ist nachweisbar und unumstößlich. Wenn ich glaube oder vermute, dass der Umsatz meiner Firma im vergangenen Jahr um 7,5 Prozent angewachsen ist, dann müssen das auch meine Verhandlungspartner glauben – oder auch nicht. Kann ich aber Fakten und Zahlen vorlegen, wird niemand mehr einen zweifelnden Gedanken daran verschwenden. Kein Mensch lässt sich freiwillig vor Gericht von einem blutigen Anfänger vertreten. Im Streit um eine mangelhaft errichtete Immobilie zum Beispiel. Ein Anwalt, der keine Bauvorschriften kennt, der keine vergleichbaren Urteile recherchiert hat, der vielleicht noch nicht einmal die Gepflogenheiten vor Gericht intus hat, dem mögen Sie wohl kaum die Vertretung Ihrer Sache anvertrauen, auch wenn er noch so gut „bluffen“ kann. Wenn Sie über vertragliche Inhalte verhandeln, dann müssen Sie auch sicher sein, was rechtlich zu vertreten ist. Es hilft nicht, wenn Sie „glauben“, dass diese oder jene Klausel haltbar ist. Sie müssen es wissen. Sonst reden Sie von Seifenblasen. Umfangreiches Sachwissen ist unumgänglich für die eigene Verhandlungsstrategie. Auf der anderen Seite schützt Ihr Wissen Sie vor Fallen des Verhandlungspartners. Recherchieren Sie alle von der Verhandlung tangierten Themengebiete. Machen Sie sich schlau. Besorgen Sie sich Fach- und Hintergrundwissen. Fragen Sie Experten, „googlen“ Sie! Wissen ist Macht, wie Sie wissen. Für den Erfolg einer jeden Verhandlung ist deren thematische Vorbereitung mitentscheidend.
60
Umsetzung in die Praxis
3.1.1
Sammeln Sie Unterlagen
Zahlen, Daten, Fakten, alles auf Papier. Das ist völlig in Ordnung, solange die Zettelwirtschaft in Ihrem Büro bleibt. Hier erfüllt sie den einzigen Zweck, nämlich den der Vorbereitung auf das Gespräch. Dort sollten die Informationen auch den Weg in Ihren mentalen Arbeitsspeicher finden. Machen Sie nicht den Fehler, sich auf Gedrucktes oder Handschriftliches während des Meetings zu verlassen. Sie werden erstens den Gesprächsverlauf stören, indem Sie intensiv nach „dem einen Blatt“ suchen, und zum anderen werden Sie es wahrscheinlich sowieso nicht finden. Was allerdings unbedingt mitgebracht werden muss, sind Dokumentationen, Präsentationen, Anschauungsmaterial, Berechnungen sowie Handouts, die beim Verhandlungspartner verbleiben können. Sie müssen übersichtlich gestaltet sein und unmittelbar der Verhandlung dienen.
3.2
Lernen Sie Ihren Verhandlungspartner kennen
Es muss nicht extra erwähnt werden, dass Sie den Namen Ihres Verhandlungspartners kennen sollten. Außerdem müssen Sie seine Position im Unternehmen kennen sowie seine Befugnisse. Hilfreich sind auch einige persönliche Merkmale wie Alter, berufliche, politische und private Engagements. Wenn Sie einen Eindruck in seine Denkweise bekommen und ihn so typisieren können, umso besser. Beschaffen Sie sich Informationen über zurückliegende Verhandlungsgespräche, die Ihr Gegenüber geführt hat. Wie war deren Verlauf, welche Ergebnisse wurden erzielt, konnten diese eingehalten werden? Verhandeln Sie mit einer Delegation, gilt dies für die wichtigsten Gesprächsteilnehmer. Ein gutes Hilfsmittel ist eine kleine Karteikarte, auf der Sie alle relevanten Daten zur Person übersichtlich sammeln. Eine solche Karte könnte etwa so aussehen:
Alexander Müller
Meier GmbH
Alter ............................................................................................................................................... Familienstand ................................................................................................................................ Position im Unternehmen .............................................................................................................. Vorgesetzte/r.................................................................................................................................. Verhandlungsstil ............................................................................................................................ Interessen ...................................................................................................................................... Politik ............................................................................................................................................. Sonstiges ....................................................................................................................................................... .......................................................................................................................................................
Step 1
61
Diese Karten sind natürlich ausschließlich für Sie selbst und nur für die Vorbereitung bestimmt. Sollten Sie häufiger mit der betreffenden Person zu tun haben, lassen sich hier leicht weitere Informationen hinzufügen.
3.2.1
Versetzen Sie sich in die Lage des anderen
Wichtig ist ebenfalls, sich in die Lage des Verhandlungspartners zu versetzen. Versuchen Sie, seine Befindlichkeiten und Probleme zu ermitteln. Überlegen Sie sich auch, welche Fragen, Argumente und Vorschläge kommen könnten und was Sie darauf erwidern. Dabei sollten Sie darauf gefasst sein, dass Sie teils Tatsachen zu hören bekommen, aber auch Ausreden und Vorwände. Darum ist es ratsam, von allen Seiten so viele Informationen wie möglich zu bekommen, um Taktiken zu durchschauen. Informationen helfen Ihnen auch, Optionen und Vorschläge zu erarbeiten, die die für andere Seite annehmbar sind. Gehen Sie mit Ihrer Empathie aber nicht so weit, dass Sie Ihre Befürchtungen in die andere Person projizieren, es sei denn, es gäbe einen konkreten Anlass wie zum Beispiel ein klares Fehlverhalten Ihrerseits.
3.2.2
Im Zweifel hilft der Experte
Bereits im Kleinen, zum Beispiel im Elektronik-Fachmarkt, fängt es an: „Kann dieser Drucker randlos drucken?“ Mit dem Brustton der Überzeugung antwortete der Verkäufer „Selbstverständlich, das weiß ich genau!“, was schlicht und ergreifend gelogen war. Es ist immer wieder ein Erlebnis, das uns Kopfschütteln macht, wenn wir beobachten, dass Verkäufer, aber auch Mitarbeiter anderer Branchen und Ebenen, einfach nicht in der Lage sind, mit ihrem fehlenden Wissen richtig umzugehen. Da werden einfach Dinge behauptet in der Hoffnung, der andere werde die Falschinformation nicht bemerken und wenn doch, dann habe er vergessen, von wem sie stammte. Einzig aus dem Grund, als kompetent dazustehen, aus Geltungssucht. Wenn’s aber schief geht, dann ist der Image-Schaden groß. Der einfache Hinweis auf die Leistungsdaten des Druckers, die auf der Verpackung angegeben waren, war unserem Verkäufer sichtlich unangenehm. Doch ein „Moment, ich frage mal jemand, der das genau weiß“, kam nicht über seine Lippen. Damit es Ihnen nicht so ergeht wie unserem Druckerverkäufer, fragen Sie einen Experten, der sich in der Verhandlungsmaterie auskennt. Auch das gehört nämlich zur Vorbereitung: Suchen Sie die Verhandlungspunkte, wo Ihr eigenes Wissen nicht ausreicht, und beraten Sie sich mit Experten. Dann treffen Sie die Entscheidung, ob Sie bei den entsprechenden Fragen während der Gespräche lieber selbst antworten oder den Experten zu Wort kommen lassen wollen. Wir könnten uns sogar vorstellen, dass ein Experte zu einem vorgelagerten Sondierungsgespräch geholt wird, um vor der eigentlichen Verhandlung alle Beteiligten auf den
62
Umsetzung in die Praxis
besten Wissensstand zu bringen. Das geht natürlich nicht immer und ist auch nicht in allen Fällen machbar. Es kommt auf den Einzelfall an. In manchen Fällen ist der Hintergrund einfach zu komplex, als dass man selbst bei wichtigen Gesprächen alle Fragen schlüssig beantworten könnte. Mit einiger Sicherheit wird der eine oder andere Teilnehmer weitere Fragen stellen, die am Ende doch über die eigenen Kenntnisse hinausgehen. Darum ist es angezeigt, Experten zur Verhandlung hinzuzuziehen. Das sehen Sie beispielsweise bei juristischen Verhandlungen. Da kommen Gutachter, Psychologen und andere Spezialisten zu Wort – kein Anwalt würde sich das selbst zutrauen. Fachleute können wesentlich direkter antworten, haben Praxisbeispiele parat und beantworten selbst tiefer gehende Fragen schnell. Sollten entscheidende Fragen aufkommen, die selbst die anwesenden Experten nicht beantworten können, so ist es ratsam, die Verhandlung bis zur Klärung zu unterbrechen.
3.3
Der richtige Zeitpunkt
Die Türe zu Ihrem Arbeitszimmer geht auf und Ihr Sohn streckt den Kopf herein: „Kommst du mal?“, sagt er. Natürlich sind Sie immer für Ihren Sohn da, wenn es wichtig ist. Ist es jetzt wichtig? Oder ist das, was Sie gerade tun, vielleicht wichtiger? Jedenfalls passt es Ihnen gerade überhaupt nicht in den Kram, dass Ihr Sohn nach Ihnen verlangt. Trotzdem, etwas widerwillig gehen Sie Richtung Tür. Doch es passt Ihnen nicht! Die Szene kennen Sie sicher, wenn nicht aus eigener Erfahrung, dann aus dem Fernsehen oder aus Berichten anderer Eltern. Genauso sieht es bei Gesprächen und Verhandlungen aus: Nicht jeder gewählte Zeitpunkt ist automatisch der richtige. Es darf im entscheidenden Moment nichts Wichtigeres geben. Der richtige Zeitpunkt muss in zweierlei Hinsicht gefunden werden. Erstens: Wenn Sie die Möglichkeit haben, auf den Termin Einfluss zu nehmen, dann tun Sie das und berücksichtigen sowohl Ihre eigenen als auch die Interessen der anderen Partei. Denn wenn diese schlecht gelaunt oder wegen Zeitmangel unvorbereitet zum Termin erscheint, ist auch Ihnen nicht geholfen. Soweit der große Kontext. Im Kleinen betrachtet, quasi mit dem Mikroskop, gilt zweitens, dass Sie nicht nur gute Argumente besitzen, sondern auch genau wissen müssen, wann Sie sie einsetzen werden. Wie in einer Choreografie, wo jeder Schritt perfekt sitzen muss, so sollte jedes Argument seinen genauen Einsatz haben. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Ein falscher Zeitpunkt ist der, an dem Sie sich psychisch oder physisch nicht auf der Höhe fühlen. Krankheit, Unwohlsein, Stress, Unsicherheit sind schlechte Voraussetzungen für einen Verhandlungserfolg.
Step 1
3.4
63
Trennen Sie Persönliches von der Thematik
Jeder kennt irgendwen, dem er möglichst nicht begegnen mag. Doch was, wenn ausgerechnet dieser unsympathische Zeitgenosse Ihr Verhandlungs-„Partner“ ist? Gut, wenn auch er unser Buch gelesen hätte und die Thematik beherzigen würde. Dann stünden die Chancen gut für einen tragfähigen Kompromiss. Unter Umständen erwischen Sie Ihr Gegenüber „auf dem falschen Fuß“, vielleicht ist er sogar mit diesem am Morgen zuerst aufgestanden. Möglicherweise löst ein bestimmtes Wort bei Ihrem Gesprächspartner einen unguten Gedanken an den verkorksten Urlaub aus oder er hatte kurz vor dem Meeting eine enttäuschende Unterhaltung mit einem Partner in der Geschäftsleitung. Nicht außer Acht lassen wollen wir, dass grundsätzliches Misstrauen und Konkurrenzdenken sowieso von vorneherein die Atmosphäre ungemein belasten können. Persönliche Beziehungen der Verhandlungspartner mischen sich oft mit den anstehenden Problemen. In vielen Verhandlungen erlebte, konsequente Vermischung sachlicher und persönlicher Dimensionen ist fatal. Sie führt in der Verhandlung oft zu Konflikteskalationen. Diesen Teufelskreis verdeutlicht folgendes Schaubild:
KONFLIKT
Ich werde meine Position sofort hart vertreten.
Er wird mich übervorteilen
Eigentlich habe ich keine Zeit, mich mit diesem Thema zu befassen.
Mein Gesprächspartner neigt dazu, ausschließlich seine Interessen in den Vordergrund zu stellen.
Abbildung 4: Teufelskreis eines Konflikts Die Mehrheit aller geführten Verhandlungen scheitert, weil die Verhandlungsführer unsachlich werden und persönliche Konflikte die Lösung des vorhandenen Zentralthemas überlagern.
64
Umsetzung in die Praxis
Menschen neigen dazu, Verhandlungspositionen der Gegenseite emotional zu bewerten. Aktivitäten, verbale Vorgehensweisen der anderen Seite lösen Ärger und Aggressionen aus. Oft wird versucht, die Sachkenntnis des Gegners zu diskreditieren. „Wer ist denn hier der Experte?“, diese Frage trifft meistens tief ins Mark. Auch dem Anderen Fehler und Versäumnisse vorzuhalten, taugt sehr gut zur emotionalen Aufladung. Negative Emotionen und Befindlichkeiten drängen sich in den Vordergrund. Eine sachliche Lösung der der Verhandlungen zu Grunde liegenden Auseinandersetzung erscheint infolge der eskalierenden persönlichen Animositäten zunehmend schwierig. Die Konsequenz für die strategische Verhandlungsvorbereitung lautet: Konzentrieren sie sich zu Beginn ihrer Planung konsequent auf die Analyse des Themas. Trennen Sie konsequent das thematische Feld von der Person bzw. dem Personenkreis der anderen Partei. Managen Sie das Problem und konzentrieren Sie sich konsequent auf die Analyse des mit dem Thema verbundenen Problemfeldes. Identifizieren Sie die mit dem Problemthema verbundenen Unterthemen sowie die wichtigsten Einflussfaktoren. Begreifen Sie, dass das Wesen der Verhandlung die Lösung von Sachproblemen mit der anderen Partei ist. Nur wenn Sie die Lösung des Sachproblems in das Zentrum Ihrer Bemühungen stellen, besteht die Chance, dass auch die andere Partei diesen Ansatz verfolgt. Wenn es beiden Verhandlungsparteien gelingt, vom Ansatz her die Verhandlung als gemeinsamen Problemlösungsprozess anzugehen (Devise: „Wir haben ein gemeinsames Problem und wir wollen es gemeinsam lösen!“), dann ist im Sinne konstruktiver (sachgerechter) Verhandlungen ein entscheidender Schritt nach vorne gelungen. Diese konsequente Trennung der Sache von der Person bereitet vielen Menschen Schwierigkeiten, insbesondere dann, wenn die Person/ der Personenkreis der anderen Partei ein Teil oder vielleicht der Hauptbestandteil des eigentlichen Problems ist. Versuchen sie auch in diesem Fall, so schwer es klingt, die Planungsperspektive ausschließlich auf die Sache und die objektiven Rahmenbedingungen zu legen. Auch persönliche Probleme lassen sich sachlich beurteilen. Eigentlich sollten gefühlsmäßige Regungen keine wesentlichen Auswirkungen auf das Verhandlungsergebnis haben. Denn wer es schafft, allzu emotionale Attacken oder Eigenheiten des Gegenübers auf der Ebene liegen zu lassen, von der sie kommen, ist klar im Vorteil. Auf vieles können Sie sich bereits in der Vorbereitung einstellen. Etwa indem Sie sich über die Person informieren, mit der Sie es in der Verhandlung zu tun bekommen. Ist beispielsweise bekannt, dass er ein Choleriker ist, können Sie Ihre Taktik genau darauf ausrichten. Das heißt im Ernstfall, einfach abwarten bis Ruhe eingekehrt ist, um dann wieder sachlich zur Tagesordnung überzugehen.
3.4.1
Checkliste
9 Eignen Sie sich Wissen zum Verhandlungsthema an. Fragen Sie Fachleute, wenn Sie sich selbst nicht sicher sind.
Step 1
65
9 Beschaffen Sie sich alle notwendigen Unterlagen. 9 Studieren Sie diese auch! 9 Verschaffen Sie sich einen Überblick über die historische Entwicklung der Angelegenheit. 9 Legen Sie sich wertvolle Hintergrund-Kenntnisse zu, mit denen Sie auftrumpfen oder die Sie als Bonus einstreuen können. 9 Lernen Sie Ihren Verhandlungspartner kennen und versetzen sich in seine Lage. 9 Verlassen Sie sich nicht auf Ihre Menschenkenntnis oder Ihre Eindrücke. 9 Trennen Sie Person von Sache.
3.5
Problematische Klauseln als Chefsache betrachten
Es hilft nichts, auch unangenehme Dinge müssen zur Sprache gebracht werden. Im Sinne unserer partnerschaftlichen Verhandlungsstrategie darf nichts unter den Teppich gekehrt werden, was später zum unpassenden Zeitpunkt wieder ans Tageslicht kommt. Bereiten Sie sich also auch darauf vor, welche Verhandlungspunkte Probleme in der Umsetzung bedeuten können. Denn was bedeutet ein Verhandlungserfolg, wenn der Partner nach einiger Zeit nicht (mehr) in der Lage ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen? Ein hohes Maß an Sachkenntnis ist hier erforderlich, um einige Zeit in die Zukunft schauen zu können. Was Sie von sich selbst verlangen, können Sie natürlich auch von der Gegenseite erwarten. Mehr noch, es zeigt sich, dass es für alle Beteiligten vorteilhaft ist, sich bereits in der Vorbereitung ausführlich mit der Sache selbst und den Auswirkungen der Ergebnisse zu beschäftigen. Es gibt sogar aus jüngster Zeit ein Beispiel dafür, dass Verhandlungsparteien bereits vor den eigentlichen Gesprächen ihre Basisinformationen offen legen. So führte das Pharmaunternehmen Aventis Pharma ein Pilotprojekt durch, bei dem die beteiligten Parteien die Verhandlungen gemeinsam planten. Die Vorstellung mag auf Sie befremdlich wirken. Die Umsetzung ist in der Tat nicht unproblematisch. Wie leicht können „ins Blaue“ gesprochene Ideen als ernst gemeinte Vorschläge missverstanden werden. Der Vorteil aber lag bei diesem Beispiel darin, dass zum einen die Verhandlung selbst in einen engeren zeitlichen Rahmen gebracht werden konnte, zum anderen konnten in der Vorbereitung bereits mögliche Problemthemen erkannt und erörtert werden. Wie weit diese Art der Informationspolitik bei Ihren eigenen Verhandlungen nützlich wäre, käme auf die Betrachtung des Einzelfalls an.
66
Umsetzung in die Praxis
3.6
Arbeitshilfen
Wie lautet das genaue Verhandlungsthema?
Welche Themen sind außerdem betroffen?
Wichtige Einflussfaktoren für das Thema?
Wichtige Einflussfaktoren für die Unterthemen?
Gibt es Erfahrungen/Referenzwerte/Standards zum Thema/zu den Unterthemen?
Wichtigste/neueste Erkenntnisse
Step 2
67
Step 2
1.
Sondieren der Beteiligten und deren Umfeld
Ein wichtiger Baustein der strategischen Verhandlungsvorbereitung besteht im Sondieren der Interessen aller Beteiligten. Zu diesem Zweck müssen natürlich die Beteiligten zunächst einmal ermittelt werden. Der Verdacht liegt nahe und ist nicht von der Hand zu weisen: Dieser Teil der Vorbereitung Ihrer Verhandlung hat etwas von „Sherlock Holmes“. Auch wenn Sie über eine gute Menschenkenntnis und eine gewisse Intuition verfügen, was gute Detektive von außergewöhnlichen unterscheidet, führt leider kein Weg an der Ermittlung von Fakten und Tatsachen vorbei. Dazu gehört, dass Sie sich eingehend mit der Persönlichkeitsstruktur eines jeden wichtigen Beteiligten befassen.
1.1
Verhandlungen führen zu Veränderungen
Gespräche bzw. Verhandlungen werden grundsätzlich geführt, weil die beteiligten Parteien einen Status quo verändern wollen – nach Möglichkeit hin zum Positiven. Wo und wann immer es Veränderungen gibt, sei es in der Unternehmensstruktur, Produktionsabläufen, in der Hierarchie oder in der Zusammenarbeit mit anderen, wirken sich diese direkt und indirekt auf die Menschen aus. Manche können damit leben, andere dagegen nicht. Für manche werden die Veränderungen nur unbequem sein, für andere stellen Sie eine echte Benachteiligung oder Verschlechterung dar. Und wiederum andere profitieren im Stillen oder ganz öffentlich. Eine Erhebung, wer auf welche Weise betroffen ist, sollte eigentlich schon Bestandteil des Umsetzungsplanes und der Verhandlung darüber sein, doch die ganze Tragweite der Veränderungen zeigt sich oft erst dann, wenn die Ergebnisse der Gespräche in die Realität umgesetzt werden. Eine große Gefahr für den Verhandlungserfolg stellt der Faktor Mensch dar, wenn er von Veränderungen zum Nachteil oder nicht im gewünschten Umfang betroffen ist. Die Kunst in der Verhandlungsvorbereitung besteht darin, den Spagat zwischen dem Wünschenswerten und dem Noch-Akzeptablen zu schaffen und als Erfolg für alle Beteiligten zu verkaufen. Wo dies nicht hundertprozentig gelingt, wo nicht alle am selben Strang ziehen, tauchen Schwierigkeiten in Form von Interessenkonflikten auf, die jeden vernünftigen Kompromiss torpedieren können.
68
1.1.1
Sondieren der Beteiligten und deren Umfeld
Viele Köche verderben den Brei
Zugegeben, die Überschrift wirkt etwas provokant. Keine Verhandlungsdelegation möchte sich vorhalten lassen, dass aufgrund ihrer Personenzahl und dementsprechender Interessenvielfalt eine Einigung nicht möglich war. Dennoch passiert genau dies immer wieder, täglich. Gespräche ziehen sich in die Länge, Nachverhandlungen werden erforderlich, viel Zeit und noch mehr Geld muss aufgebracht werden. Und am Ende ist es fraglich, ob überhaupt eine Einigung zu Stande kommt. Hierzu ein Beispiel aus den USA. Im Jahre 1998 kündigten die Pharma-Riesen Glaxo und Smithkline Beecham ihre Fusion an, woraufhin der gemeinsame Börsenwert um die „Kleinigkeit“ von 20 Milliarden US-Dollar anwuchs. Und obwohl man sich im Vorfeld bereits über Positionen verständigt hatte, wurden intern fleißig Machtkämpfe ausgefochten. Die führten schließlich dazu, dass der ganze schöne Deal ins Wasser fiel und mit ihm die 20 Milliarden wieder verschwanden. Letztendlich dauerte es weitere zwei Jahre, bis die Vernunft siegte und die beiden zusammenführte.2 Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, wie mächtig persönliche Interessen sind und wie wenig sachliche Argumente dagegen ausrichten können. Von Planungs- und Investitionssicherheit kann auf dieser Basis natürlich keine Rede sein. Ein für alle Mal ausschließen lassen sich solche Situationen nicht. Immerhin liegt es an einer guten Vorbereitung, das Risiko zu verringern und bei manchen Arten von Verhandlungen sogar völlig zu eliminieren, indem man die Beteiligten und betroffenen Personen kennt und ihre Macht und ihre Interessen einschätzt.
1.1.2
Kennen Sie den?
Nein, es geht hier nicht um einen Witz. Zur Posse könnte allerdings eine Verhandlung dann werden, wenn man nicht über die teilnehmenden Personen Bescheid weiß. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit einer Gruppe am Verhandlungstisch. Die Stimmung ist gut, ein Abschluss in Aussicht. Eine Person kam etwas verspätet hinzu, als die Gespräche bereits im Gang waren. Lediglich ein „Guten Tag und Entschuldigung“ war von dem Nachzügler zu vernehmen. Im weiteren Verlauf hält sich die Person stets zurück, sagt nichts, was inhaltlich verwertbar wäre. Darum wird sie auch nicht weiter beachtet. Über die wesentlichen Punkte ist man sich schließlich einig, und eigentlich fehlt nur noch die Frage, wo man denn unterschreiben dürfe. Zu Ihrem Leidwesen fragt der Zuspätgekommene ganz unvermittelt. „Spielen Sie eigentlich Golf?“ Golf können Sie leider überhaupt nichts abgewinnen. Weil Sie sich sicher fühlen, sagen Sie das auch und verkünden zu allem Überfluss, dass Sie dafür wohl noch nicht das richtige Alter erreicht hätten. In diesem Moment passieren zwei Dinge gleichzeitig: Das Lächeln auf den Gesichtern der Anwesenden gefriert, und die schweigsame Person steht auf und verlässt den Raum. Unheil ahnend fragen Sie nach. 2 Quelle: http://www.businesstimes.com.mt/251000/focus.html (The Business Times, 25.10.2000).
Step 2
69
„Wissen Sie, wir waren uns einig über den Deal, und dass Sie Golf nicht mögen, ist für die Anwesenden hier kein Kriterium. Leider aber für unseren Controller, denn der ist RanglistenDritter im hiesigen Club und hat gerade den Raum verlassen. Den Deal entscheidet er, jetzt allerdings können Sie mit einer Ablehnung rechnen.“ Diesen Ball haben Sie in den Bunker gelegt. Welche Fehler sind hier gemacht worden? Abgesehen davon, dass der entscheidende Mensch zu spät zur Verhandlung kam, wurde er nicht ausführlich vorgestellt. Wenn sowieso schon eine Unterbrechung durch das Eintreten hervorgerufen wurde, hätte man die Situation sofort dafür nutzen können und sollen. Wenn sich von der anderen Partei niemand dazu berufen fühlt, muss man selbst aktiv nachfragen. Allerdings nur im äußersten Notfall, denn wer gibt schon gerne zu, eine Person nicht zu kennen, die unter Umständen eklatant wichtig für das Geschäft ist. Auch im weiteren Verlauf der Gespräche kam niemand auf die Idee, die wichtigste Person mit einzubeziehen. Wenigstens aus Höflichkeit hätte man einmal fragen können, was „er“ denn zu dem einen oder anderen Punkt zu sagen habe. Über diesen Umweg hätte man möglicherweise etwas über seine Rolle in Erfahrung bringen können. Der größte Fehler ist allerdings bereits lange vor der Verhandlung passiert. Sich nicht ausführlich darüber zu informieren, wer die Teilnehmer sind und welchen Einfluss sie auf das Verhandlungsergebnis haben können, kommt einer Fahrt auf der falschen Seite der Autobahn gleich. Wer sich in der Verhandlungsvorbereitung nur auf seine Argumentation und Position beschränkt, darf sich nicht wundern, wenn das gewünschte Ergebnis nicht zustande kommt.
1.2
Wer entscheidet?
Diese Frage folgt zwingend aus dem im vorausgehenden Abschnitt Gesagten. Und die Antwort auf diese Frage ist enorm wichtig. Kurt Tucholski in „Berliner Geschäfte“ 1919: „Soziusse kommen in Berlin wild vor. Sozii sind ein gefährlicher Negerstamm. Man lernt immer nur einen kennen. Der andere ist stets der Stärkere und die Seele vons Buttergeschäft. Immer beeinflusst der andere den einen. Deinen. Soziusse sind, was die Unruhe in der Uhr ist. Sie stoppen ab.“ Selbst in grauer Vorzeit, als noch die Stammeshäuptlinge über Krieg, Frieden, Koexistenz, Nachfolge, Landwirtschaft, Jagd oder Sonstiges verhandelten, gab es immer Personen, die zu Rate gezogen wurden, die berücksichtigt werden mussten oder andere, die sich einfach mit ihrer Meinung aufdrängten. Mitspieler, die im Schlepptau der Mächtigen vielleicht ganz eigene Interessen verfolgten und ihren Häuptling in ihrem Sinne beeinflussten.
70
Sondieren der Beteiligten und deren Umfeld
Am häufigsten, weil im Alltag ständig vorkommend, ist die Verhandlung zwischen zwei Personen: Käufer – Verkäufer, Ehemann – Ehefrau, Mutter – Sohn, Chef – Angestellter, Vertreter – Interessent, Lehrer – Schüler und wie die Konstellationen noch alle aussehen können. Und meist haben wir es hier auch direkt mit den entscheidenden Personen zu tun. Wohlgemerkt: „meist“. Davon abgesehen, dass obige Beispiele häufig direkt entschieden werden, passiert auch sehr oft Folgendes: Der Lehrer wird mit der Bitte des Schülers erst beim Schuldirektor anklopfen müssen. Die Familienmanagerin vertröstet den Vertreter mit den Worten „Ich möchte das erst mit meiner Familie besprechen“. Der Käufer sagt zum Verkäufer: „Ich weiß nicht, ob da meine Bank mitspielt“ und so weiter. Selbstverständlich wissen wir, dass in vielen Fällen, insbesondere im Business, Delegationen die Interessen ihrer Organisation vertreten. Allein die Anzahl der Personen innerhalb der Gruppe lässt auch hier nicht darauf schließen, dass der ultimative Entscheider mit am Verhandlungstisch sitzt, sofern es einen solchen überhaupt gibt. Sie können nicht einmal davon ausgehen, dass der Wortführer, also derjenige, der das Argumentieren für seine Organisation/Abteilung übernimmt, auch die Befugnis zum Abschluss in seiner Person vereint. Umso wichtiger ist es, wirklich jeden Beteiligten im Vorfeld genau zu beleuchten.
1.3
Variieren Sie die Herangehensweise
Das ist besonders interessant auf dem großen Parkett und im internationalen Zusammenhang. Sind Sie ausreichend über die Strukturen ausländischer Unternehmen informiert? Kennen Sie die Gepflogenheiten arabischer oder asiatischer Verhandlungspartner? Ja? Gut für Sie! Denn gerade in Kulturkreisen, die sich deutlich von unserem unterscheiden, gerät man schnell in eine Falle. Ein kleiner Trost, aber keine Lösung: Den anderen geht es mit uns genauso. So ist zu beobachten, dass anglo-amerikanische Unternehmen einigermaßen überrascht sind über die große Zahl von Interessenvertretern und Befugnisträgern, wenn sie sich auf dem deutschen Markt nach Kaufobjekten umsehen. Als da wären der Vorstand, der Aufsichts- und der Betriebsrat, die Gewerkschaften, Innungen, Kammern, Interessenverbände, politische Gruppierungen und zu guter Letzt sogar Bürgervereine und -initiativen. Alle melden sich zu Wort, und sei es nur, um sich ein Alibi zu verschaffen, und wer von ihnen wirklich etwas zu sagen hat, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Da ändert es auch nichts, dass während der Gespräche physisch nur einige wenige Personen anwesend sind. Die eigentliche Entscheidung wird meist erst im Nachgang zum Meeting getroffen. Wenn Sie die Frage, wer denn die Entscheidung im Hintergrund trifft, für sich in der Vorbereitung beantwortet haben, sollte nichts mehr schief gehen.
Step 2
71
1.4
Horizontal oder vertikal
In Organisationen bzw. Unternehmen treffen wir auf unterschiedliche Konstellationen von an Verhandlungen beteiligten Personen. Entsprechend kann man von bestimmten Mustern ausgehen, die man sehr erfolgreich in der Vorbereitung anwendet. Hierarchisch geführte Organisationen sind eingeteilt in Einheiten, deren Funktionalität im Vordergrund steht. Dieser Fokus begrenzt aber die Interessen der Abteilungsleiter auf einen kleinen Radius, eben auf die der eigenen Abteilung. Insofern sind sie mit wenig Entscheidungsbefugnis ausgestattet. Kontrolle und Steuerung kommen von „oben“, so dass sie als Verhandlungspartner von vorneherein ausscheiden. Entscheidungen in klassisch-vertikalen Organisationen werden auf hoher Ebene getroffen. Daraus folgt praktisch, dass in den meisten Fällen direkt mit der Unternehmensleitung verhandelt wird, die das Ergebnis nach „unten“ weitergibt.
A
B1
B2
Beispiel:
B3
A kommuniziert mit Manager B1, der die Inhalte an Betriebsrat B2 weitergibt. B2 informiert Abteilungsleiter B3. Schließlich wird die Belegschaft B4 in Kenntnis gesetzt. B4 hat keine direkte Mitwirkungsmöglichkeit.
B4
Abbildung 5: Vertikale Kommunikation in traditionellen Hierarchien Das aber macht Verhandlungen nicht einfacher hinsichtlich schnellerer Entscheidungen. Nicht immer können Gespräche auf hoher und höchster Ebene sofort mit einem Ergebnis abgeschlossen werden. Gründe hierfür finden sich in Satzungen, Verträgen und rechtlichen Bestimmungen, die beachtet werden müssen. Ein anderes Herangehen ist notwendig, wenn wir es mit einer flachen Hierarchie zu tun haben. Hier orientieren sich die strukturellen Einheiten am Ergebnis, am Profit des ganzen Systems, innerhalb dessen sie ihre Leistungsfähigkeit selbst zu verantworten haben. Zu den Bewertungskriterien gehören Produktivität, Qualität und Kostenaufwand. Aus diesem Grund verfügen Teamleiter über Flexibilität, Budgets, Verantwortung und vor allem Befugnisse. Das lässt ein kreativeres, flexibleres Verhandeln zu mit bedeutend mehr Spielraum.
72
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
B1
A
B2
B3
Beispiel: A kommuniziert mit Manager B1, am Meeting nehmen gleichzeitig Betriebsrat B2 sowie Abteilungsleiter B3 teil. Alle sind zur selben Zeit auf demselben Wissensstand und können direkt auf das Ergebnis einwirken.
Abbildung 6: Horizontale Kommunikation in flachen Hierarchien Dennoch schützt auch diese Kategorisierung nicht vor Überraschungen. Geschäftsführer und Unternehmer verlassen sich oft auf das Urteil derer, die mit den Verhandlungsergebnissen klarkommen müssen. „Ist die Produktion im gleichen Umfang aufrechtzuerhalten, wenn die Belegschaft um zwei Mitarbeiter reduziert wird?“ oder „Welche Mitarbeiter sind in der Lage, eine Umstellung auf softwaregestützte Produktionsabläufe mitzugehen?“, könnten solche Fragestellungen zum Beispiel im Vorfeld einer Software-Akquisition lauten. Hier kommt es durchaus vor, dass bei Verhandlungen mit der Unternehmensspitze ein/e Vertreter/in der betroffenen Abteilung zu Rate gezogen wird. Segnet er/sie die Vorschläge ab, kommt es zum erfolgreichen Abschluss. Im Hinblick auf ökonomisch vertretbare Verhandlungsabläufe tun Sie sich selbst einen großen Gefallen, wenn Sie also den oder die entscheidenden Gesprächspartner/innen im Vorfeld ausmachen.
2.
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
In unserer kleinen Geschichte von Otto F. und Franz K. gab es natürlich weit mehr beteiligte und tangierte Personen als aufzuzählen nötig wäre. Die wesentlichen Akteure jedoch wollen wir kurz ansprechen. Auf den ersten Blick erscheint Otto F. als ein Mann, der Tatsachen schafft, die erst im Nachhinein verhandelt werden. Er treibt die Entwicklung voran, in der Hauptsache zu seinen Gunsten.
Step 2
73
Rückblick Franz K. ist begeistert von dem Haus und seiner Lage. Ein wahrer Traum! Einzig die Bäume bereiten ihm noch etwas Kopfzerbrechen. Was aber liegt näher, als Otto F. von seiner Kaufabsicht zu informieren und ihn zu fragen, ob er denn bereit sei, die Bäume – ca. 25 an der Zahl – zu fällen. Otto F. willigt spontan ein. … Es kommt zu einer Ortsbegehung, an der beide Geometer und Franz K. teilnehmen, Otto F. glänzt durch Abwesenheit. …
Spontane Zustimmung, Polarisierung und Verweigerung gehören gleichermaßen zu seinem Verhaltensrepertoire. Warum er wann wie reagiert, erschließt sich häufig nicht auf den ersten Blick. Persönlich betroffen und mit hoher Emotionalität reagiert er, als seine persönliche und gesellschaftliche Reputation in der Dorfgemeinschaft diskutiert wird. Ist er wirklich der Lenker des Prozesses? Darüber kann man Zweifel hegen. Auf der Seite von Otto F. gab es tatsächlich eine definitiv entscheidende Person, welche die treibende Kraft darstellte: seine Frau Anni. Immer dann, wenn ein Schritt zur Entscheidung anstand, hielt er zunächst Rücksprache mit ihr. Sie war es auch, die sich veranlasst sah, einen umfassenden schriftlichen Vertrag aufzusetzen.
Rückblick Um seine Investition abzusichern, verlangt er (Franz K.) eine schriftliche Vereinbarung in Form eines Vorvertrages mit Otto F. über die getroffene Vereinbarung. Otto F. willigt diesmal nicht spontan ein. Er sagt, er wolle mit seiner Frau darüber sprechen und werde Franz K. am folgenden Tag über das Ergebnis unterrichten. … Für all dies habe Ottos Frau ein paar Zeilen aufgesetzt – was sich als ein Werk von mehreren Seiten entpuppte. …
Dass Otto F.s Ehefrau nur selten ihre Zeit auf dem Anwesen verbrachte, meist zu Hause in Österreich blieb, machte den Verhandlungsprozess nicht einfacher. Lediglich zwei Mal pro Jahr gab es darum die Gelegenheit, den Prozess direkt nach vorne zu bringen. In dieser Zeit war Anni selbst jedoch für Franz K. nicht ansprechbar, sie blieb entweder im Haus oder sonnte sich an abgelegener Stelle mit einem Buch als Zeitvertreib. Eine Integration in das gesellschaftliche Umfeld fand so gut wie nicht statt. Dies durfte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bei allen wichtigen Entscheidungen maßgeblichen Einfluss hatte. Franz K. musste darum unbedingt versuchen, ihre Motivlage zu
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Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
ergründen. Für Otto F. bedeutete dies, dass er in den wirklich entscheidungsrelevanten Punkten lediglich die Rolle des Botschafters – allenfalls des Unterhändlers übernahm. Otto F.s Frau Anni war letztlich die entscheidende Instanz. Nie im Vordergrund, aber immer darauf bedacht, eigene Interessen zu wahren und Bestand zu sichern. Denn darum ging es eigentlich: um den Erhalt (und möglichst die Erweiterung) des Status quo für sich selbst und die Nachkommen. Anni F.s Rolle kann uns als Beispiel dienen für das bereits Gesagte, nämlich, dass Verhandlungen unökonomisch werden, wenn der Entscheider nicht direkt involviert ist. Da Anni selbst nie direkt an den Absprachen beteiligt war, zog sich der gesamte Einigungsprozess über eine sehr lange Zeit. Doch neben ihr gab es eine weitere Interessengruppe: die Enkelkinder. Das Pikante dabei war, dass Otto F.s Enkel und die Kinder von Franz K. sich ausgezeichnet verstanden und sogar ihre Freizeit miteinander verbrachten. Seitens der Jugend kam überhaupt nur eine gütliche Einigung infrage. Insofern konnte Franz K. sich darauf stützen, in den Reihen seiner „Gegner“ auch Befürworter eines positiven und nachhaltigen Verhandlungsergebnisses zu wissen. Nichtsdestotrotz wurden alle Vorgänge auf der Seite der Familie F. mit allen Mitgliedern besprochen.
Rückblick … Zu allem Überfluss sitzen ihm seine Frau und die Familie im Nacken, die mit ihm im „Familienrat“ Pläne und Ränke schmieden, ihn jedoch stets als Speerspitze aller Verhandlungen alleine in die Schlacht schicken. Der arme Otto F. steht dem Familienrat gegenüber unter permanentem Erfolgszwang. Damit noch nicht genug. Verschärfend hinzu kommt, dass sich Otto F.´s Enkelkinder und Franz K.´s Kinder bestens vertragen. Wenn sie auf den Nachbargrundstücken gemeinsam die Ferien verbringen, spielen sie vergnügt und ausgesprochen harmonisch miteinander. …
Franz K. sondierte eine weitere Hauptrolle: der Geometer Otto F.s, Daniele Muratti. Warum wurde er von Otto F. wärmstens empfohlen? Hatte er selbst etwas zu befürchten? Würde er Vorteile für sich selbst herausschlagen können? Hatten Otto F. und Muratti etwas zu verbergen? Schnell stellte sich heraus, dass in der Vergangenheit bei den Messungen nicht alles so korrekt gelaufen war, wie es hätte sein sollen. Und auch die aktuellen Arbeiten gaben Grund zur Verwunderung.
Step 2
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Rückblick Daniele Muratti (Geometer von Otto F.): Sicher haben Sie für sich eine Vorstellung davon, wie sich jemand die Bezeichnung „Schlitzohr“ erwirbt. … …bei manchen Vermessungen scheint seine Optik einen „Knick“ zu haben. … Otto F. empfiehlt Franz K. vor Baubeginn seinen Geometer Muratti als Bauleiter und Architekt – insbesondere wegen seiner Kontakte zur örtlichen Baubehörde. … Während der Umbauphase hat Franz K. bald wieder Grund, sich zu wundern. Und zwar über „wandernde“ Grenzmarkierungen an seinem Grundstück. Zur Rede gestellt erklärt Otto F., das seien die Ergebnisse einer neuen Vermessung des Geometers Muratti.
Um ein umfassendes Bild der sozialen Verstrickungen, Historien und Positionen zu gewinnen, verwendete Franz K. im Verlauf der zweijährigen Verhandlungsdauer einige Energie darauf, Personen kennen zu lernen, die mit der Situation konfrontiert worden waren. Er machte sich bei direkten Nachbarn bekannt, nahm am gesellschaftlichen Leben im Ort teil. Auch hatte er mit seiner Familie am Vorabend des Notartermins die Vorbesitzer des Hauses in geselliger Runde als freundliche Menschen kennen gelernt. Von ihnen hatte er von der Jugendfreundschaft zwischen Otto F. und den Eltern der Vorbesitzer erfahren.
Rückblick Der Vorabend des Notartermins steht ganz unter dem Zeichen von Geselligkeit und Kennen lernen. Man unterhält sich über Italien, den See, die Nachbarn, die Erlebnisse. Dabei erhält Franz K. von den Noch-Besitzern Informationen, die Otto F. in neuem Licht erscheinen lassen. Bei der zweiten Flasche Rotwein gestehen sie, dass ein Grund für den Verkauf des Hauses die ständigen Nachbarschaftsstreitereien mit Otto F. seien.
Mit all dem Wissen um die persönlichen Hintergründe und Entwicklungen, die mit dem Haus und dem Grundstück zu tun hatten, erstellte Franz K. ein Muster der verteilten, individuellen Interessen als Grundlage seiner Verhandlungsstrategie. Ein entscheidender Punkt in der Verhandlung waren die Interessen der Kinder und Enkelkinder. Sie würden von einer guten, dauerhaften Lösung direkt am meisten profitieren. Im Gegensatz dazu hätten sie auf Dauer kein angenehmes Leben, würde man sich nicht ein für alle Mal gütlich einigen.
76
Umsetzung in die Praxis
3.
Umsetzung in die Praxis
3.1
Fünf Schritte zum Durchblick
Alle Aspekte zu ermitteln, die das Personenumfeld einer Verhandlung betreffen, ist eine wichtige Arbeit in der Vorbereitung eines Verhandlungsgespräches. Hilfreich ist dabei eine klare Gliederung der Vorgehensweise. Wir stellen Ihnen nun fünf Schritte vor, die Ihnen helfen, strukturiert zum Ergebnis zu kommen. Das Ergebnis ist ein so genanntes Political Poster, ein Beziehungsschaubild, das Ihnen den größtmöglichen Durchblick verschafft. Wie Sie dahin kommen, erfahren Sie ausführlich auf den folgenden Seiten.
3.1.1
Personenfahndung
Wie bereits in der Einführung erwähnt: Viele Menschen haben noch viel mehr Interessen. Wenn wir die Auswirkungen unserer Verhandlungen auf das Umfeld erfassen möchten, müssen wir natürlich erst einmal klären, wer sich denn überhaupt in Reichweite befindet. Darum kann die erste Frage, wenn wir den Personenkreis eingrenzen wollen, nur lauten: Wer wird vom Gesprächsergebnis in irgendeiner Weise tangiert? Wenn wir uns daran machen, die Personen zu identifizieren, die vom Ergebnis der Verhandlung in irgendeiner Weise betroffen sein werden, können wir das zunächst nur quantitativ tun. Wie stark jede einzelne von den Auswirkungen getroffen wird, lässt sich natürlich erst feststellen, wenn ihre jeweiligen Interessen und die Verhandlungsoptionen ermittelt sind. Dazu kommen wir später. Am besten, Sie listen in einem Brainstorming zunächst alle Namen auf, die Ihnen dazu einfallen, ohne gleich bewerten zu wollen. Wichtig für Strategie und Taktik ist es auch zu wissen, wer von diesen Personen an der eigentlichen Verhandlung teilnehmen wird.
3.1.2
Wer sind die Teilnehmer der Verhandlung?
Wenn Sie die Hauptpersonen identifiziert haben, informieren Sie sich über sie. Machen Sie sich einen Sport daraus, in kriminalistischer Manier alle Informationen zu sammeln, die Ihnen ein vollständiges Bild der „Zielperson“ vermitteln können. Wie ist ihr Name, ihr Alter, welche Interessen (z. B. Hobbies) hat sie, wie sehen die Lebensumstände aus? Wie verlief die Karriere der Person, wie gestalten sich die Kontakte zu den bisherigen Wirkungsstätten? Welche beruflichen und privaten Erfolge (oder Misserfolge) sind zu vermerken? Mit welcher
Step 2
77
Art von Mensch habe ich zu rechnen, ist er/sie pragmatisch, emotional, aufgeschlossen oder verschlossen, experimentierfreudig oder konservativ, gibt es Dinge, die man besser grundsätzlich nicht ansprechen sollte, gibt es Themen, die man unbedingt ansprechen sollte? Wissenswertes ergibt sich auch, wenn Sie die berufliche Position Ihres Verhandlungspartners beleuchten. Hierzu gehören nicht nur die hierarchische Ebene, die Dauer seiner Firmenzugehörigkeit, die Struktur des Unternehmens, sondern auch seine Befugnisse (extrem wichtig!), sein Ruf als Kollege und Vorgesetzter sowie sein Engagement in betrieblichen, politischen und/oder gesellschaftlichen Institutionen. Im besten Fall kommt so mit Fleiß einiges zusammen, womit Sie es viel leichter haben, sich auf den Gesprächspartner und seinen Verhandlungsstil einzustimmen. Verwenden Sie diese Infos aber keinesfalls, um ihm nach dem Mund zu reden. Das wird schnell durchschaut, wirkt aufgesetzt und unehrlich. Wirklich wertvoll ist dieses Wissen nur, wenn Sie es für Ihre Strategie einsetzen und nicht, um Ihrem Gegenüber zu schmeicheln.
3.1.3
Sich auf die verhandelnden Personen einstellen
Wenn Sie wissen – nicht vermuten –, mit wem Sie es zu tun haben, sind Sie von Anfang an in einer besseren Position. Zu erwartende Taktiken und Tricks sind Ihnen womöglich bereits aus früheren Gesprächen bekannt. So sind Sie in der Lage, unbeeindruckt von taktischen Spielereien Ihres Gegenübers bei der Sache zu bleiben. Auf welcher Denkweise basiert die Verhandlungstaktik meines Gegenübers? Wird er versuchen, einen schnellen Abschluss herbeizuführen und dabei möglichst viel für sich selbst herauszuschlagen? Oder ist er ein umsetzungsorientierter Typ, dem die Nachhaltigkeit des Ergebnisses wichtiger als der Bestand seiner Position ist? Die Antworten hierauf sind von entscheidender Bedeutung.
3.1.4
Mit Profilen arbeiten
Legen Sie sich ein Profil an für die wichtigsten Verhandlungsteilnehmer. Wissen ist Macht. Seien Sie auf der Hut vor denjenigen, die zwar keine Entscheidungsbefugnis besitzen, jedoch gerne und ungefragt ihre Meinung in die Runde werfen. Unter ihnen könnte sich jemand befinden, der im internen politischen Ränkespiel große Macht besitzt und diese mit diebischer Freude hinter den Kulissen ausspielt. Der Einkäufer beispielsweise, der Fürst, der seine Geschäfte schon immer so gemacht hat, wie er sie nun mal macht. Der, der sich nicht in die Karten gucken lässt und irgendwie immer seinen Umsatz einfährt. Wird so einer durch das Verhandlungsergebnis in seiner Machtsphäre berührt, wird er alles daransetzen, die Verhandlung zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Das ist viel Arbeit, das wissen wir. Seien Sie versichert, sie zahlt sich aus. Um es Ihnen leichter zu machen, können Sie sich überlegen, ob Sie einen Dienstleister für die Beschaffung der
78
Umsetzung in die Praxis
Auskünfte engagieren. Und auch wir tragen gerne unseren Teil dazu bei, indem wir Ihnen Arbeitsblätter und Vorlagen zur Verfügung stellen.
3.1.5
Entscheiden Sie sich für den Entscheider
Klären Sie vor der eigentlichen Verhandlung, ob Sie mit dem Richtigen verhandeln. Denn was nützt die schönste Verhandlungstaktik, wenn nach langem Ringen um einen Kompromiss die andere Seite die Blase platzen lässt: „Gut und schön, aber das muss ich erst mit meinem Partner besprechen. Der entscheidet nämlich die Sache“. Denken Sie an Tucholski und seine „Berliner Geschäfte“. Eine beliebte Verhandlungstaktik ist die „Guter Mensch/Böser Mensch“-Methode. Was in der Praxis bedeutet, dass Sie sich zwei ungleichen Polen gegenüber sehen, von denen der eine aufgeschlossen und wohlwollend Ihre Vorschläge aufnimmt, der andere dagegen zu passender Gelegenheit ein Sperrfeuer abschießt. So kommt es, dass Sie sich bereits mit dem „Guten Menschen“ auf der Zielgeraden wähnen und schon den aufbrausenden Beifall des Publikums ahnen, doch urplötzlich – wie aus dem Nichts – stellt der „Böse Mensch“ Ihnen ein Bein. ‚Das könne doch nicht ernst gemeint sein’ oder ‚um sich auf den Handel einzulassen, brauche man noch erheblich weiter gehende Garantien’, könnten die Einwürfe lauten. Der schöne Kompromiss fällt in sich zusammen, Sie stehen wieder am Anfang. Diese Methode ist so beliebt, weil Sie Verhandlungspartner verunsichert und ermüdet und in der Folge zu Konzessionen verleitet. Wie können Sie sich darauf einstellen? Ganz einfach, indem Sie bereits im Vorfeld alles über die Verhandlungsteilnehmer in Erfahrung bringen. Vielleicht gibt es Beispiele aus der Vergangenheit, die man sich anschauen kann, um die Taktik des Gegenübers zu studieren. Jeder Fußballtrainer macht das, bevor er seine Mannschaft auf eine Strategie einstellt und auf den Platz schickt. Wenn Sie Ihr Gegenüber und seine Tricks kennen, sind Sie in der Lage, entsprechende Gegenmaßnahmen einzuplanen.
3.1.6
Das Political Poster
Es kommt sehr selten vor, dass ein Einzelner über den Verhandlungsausgang entscheidet. Geschäftsführer, Vorstände, Team-Manager haben fast immer ein Wort mitzureden. Lernen Sie deren Entscheidungsfindung kennen. Woher bzw. von wem bekommen diese Leute ihre Wissensgrundlagen, welche Kriterien spielen dabei eine Rolle? Welche Beziehungen verbinden sie, welche Gräben trennen sie? Wessen Interessen müssen berücksichtigt werden? Seit Ende der achtziger Jahre die amerikanischen Autoren Miller und Heyman ihre bahnbrechende Veröffentlichung zum Grundansatz des strategischen Verkaufens publizierten, hat sich in Bezug auf die Personenlandschaft beim Verhandeln eine Klassifizierung eingebürgert.
Step 2
79
Wir differenzieren zwischen: Entscheidern Der Entscheider trifft im Laufe der Verhandlungen die Entscheidung, ob er einem Verhandlungsergebnis zustimmt oder es ablehnt. Der Entscheider muss nicht immer der Verhandlungsführer sein. Diese Rolle kann auch jemand anderes, z.B. der Verhandlungsvorbereiter, übernehmen. In jedem Fall ist zu beachten, dass ohne den Entscheider nichts läuft. Er hat die Macht über Ja oder Nein. Entscheidungsvorbereitern Entscheidungsvorbereiter sind alle anderen Personen, die ihre Meinung kundtun zu den während der Verhandlungen auf den Tisch gelegten Optionen (Lösungsmöglichkeiten). Informanten Als Informanten sind alle Personen anzusehen, die uns in irgendeiner Form mit wertvollen Informationen dienlich sein können. Sie selbst haben nicht unbedingt eine mächtige Position inne, können aber die Stimmung in einem Verhandlungsverlauf erheblich beeinflussen. und Coaches/Promotoren Coaches/Promotoren sind all diejenigen, die auf der einen Seite unsere Fürsprecher sind und auf der anderen Seite mit uns sympathisieren. Es lohnt sich, das Vertrauen dieser Leute zu rechtfertigen. Wenn sie alle beteiligten Personen in diesem Sinne erfasst haben, lohnt es sich, den Grad der Sympathie bzw. der Antipathie in der Beziehung zwischen den ermittelten Personen und Ihnen selbst zu definieren. Vergeben Sie Schulnoten. 1 = Diese Person ist von uns überzeugt. 2 = Diese Person verhält sich wohlwollend. 3 = Diese Person ist neutral. 4 = Diese Person zieht die Positionen der anderen Seite vor. 5 = Diese Person ist gegen uns. 6 = Diese Person kennen wir nicht, obwohl sie Einfluss hat. Die Klassifizierung ist hilfreich, wenn wir das Political Poster anlegen, um das personelle Umfeld zu veranschaulichen. Wie in der Abbildung dargestellt, verschaffen Sie sich einen umfassenden Überblick über die Personen und deren Beziehungen untereinander. Sie können zusätzlich deren Rollen und Funktionen abbilden, ihre Verhandlungsposition und die Qualität Ihrer Beziehung zu ihnen. Versuchen Sie es selbst einmal mit einem Ihrer aktuellen Projekte. Es wird Sie überraschen, wie viel Klarheit das Geflecht plötzlich bekommt.
80
Umsetzung in die Praxis
Rollen
Entscheider-Struktur
A: Anwender C: Controller H: Helicopter
Beziehungs-Management
ET: Entscheidungsträger EV: Entscheidungsvorbereiter A: Alliierter
1: Hervorragend 2: Positiv 3: Neutral
4: Negativ 5: Konflikt 6: 0
A M H/C
A
F3
F2 EV ET
1
1
KLE H
EV
EV
F3
H
F2 2
S 3
Abbildung 7: Political Poster Es lohnt sich, mit Hilfe des Political Posters die persönlichen Beziehungen auf der Gegenseite, aber auch auf der eigenen Seite zu durchschauen. Denn so können Sie Konflikte auf Nebenschauplätzen vermeiden und Ihre Energie ökonomisch auf die wesentlichen Kontakte konzentrieren.
3.1.7
Zusammenfassung der fünf Schritte
Hier möchten wir noch einmal zur besseren Übersicht die fünf Schritte zusammenfassen, die die Analyse des personellen Umfelds betreffen. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu klären, wer außer den eigentlichen Verhandlungsführern, im Umfeld der Verhandlungsführer, Einfluss auf die im Verhandlungsprozess betreffende Klärung der Sachverhalte hat. Schritt eins lautet also: 1. Personen auflisten Listen Sie alle Personen auf, die auf Ihrer Seite an dem Verhandlungsergebnis in irgendeiner Weise interessiert sein könnten. Tun Sie dasselbe für die andere Seite.
Step 2
81
2. Persönliches Profil der Hauptpersonen anlegen Sammeln Sie möglichst viele Informationen und legen Sie ein Profil der wichtigsten Personen an. Entwickeln Sie in Bezug auf alle beteiligten Personen ein persönliches Profil, das auf folgenden Beobachtungskriterien basiert: persönliche Eigenheiten Marotten Vorlieben Hobbies Qualifikation Unverträglichkeiten Antipathien. 3. Persönliches Umfeld der agierenden Personen ermitteln Zur Analyse des Umfeldes der agierenden Personen empfiehlt es sich, ein Political Poster zu entwerfen, das die Personenlandschaft widerspiegelt. Dieses Political Poster bildet folgende Faktoren ab: die Rolle der betreffenden Person die Einflussmöglichkeit auf Planung, Verlauf und Ergebnis der Verhandlung die Kommunikationsabläufe zwischen den beteiligten Personen den Sympathie- bzw. Antipathie-Faktor 4. Persönliche Gewinn-und-Verlust-Rechnung Überlegen Sie sich bezüglich aller zuvor ermittelten Personen, was ein Verhandlungserfolg bzw. eine Verhandlungsniederlage für die betreffende Person bedeuten könnte. Erstellen Sie eine persönliche Gewinn- und Verlustrechnung. Fragen Sie sich, welchen persönlichen Gewinn die betreffende Person im Falle eines Verhandlungssieges mit nach Hause nehmen würde. Untersuchen Sie dieselbe Frage im Hinblick auf einen geschäftlichen Gewinn. Und: Was würde die betreffende Person im Falle einer Verhandlungsniederlage persönlich bzw. geschäftlich verlieren? 5. Kommunikation/Beziehungsaufbau der agierenden Personen Untersuchen Sie auf Basis der anhand des „Political Posters“ ermittelten Sympathieskala, was genau im Falle hoher Antipathiewerte konkret der Auslöser der Verstimmungen ist bzw. sein könnte. Überlegen Sie sich konkret, was Sie tun können, um die entsprechenden Verstimmungen abzubauen bzw. positiv aufzulösen.
82
3.2
Umsetzung in die Praxis
Zu guter Letzt
Einige Tipps: Machen Sie sich vor der Verhandlung noch einmal bewusst, wie Sie mit gestressten, rücksichtslosen, aggressiven Verhandlungspartnern umzugehen gedenken. Erinnern Sie sich an den „inneren Balkon“, auf den Sie im Falle einer Eskalation gehen können. Genauso sollten Sie versuchen, Rachegelüsten oder bösem Willen mit Coolness zu begegnen. Sollten diese von Herzen kommenden Gefühle sich bei Ihnen selbst austoben, sind auch Sie eine ernsthafte Gefahr für die Gespräche. Emotionen vernebeln den Blick für das Notwendige und Rationale. Hier hilft ein klares Konzept, an das Sie sich zu halten haben. Dazu konnten Sie viel Interessantes im vorigen Kapitel lesen, wo wir gezeigt haben, wie wichtig es ist, Persönliches von den Sachthemen zu trennen. Auf den nun folgenden Seiten finden Sie Arbeitsblätter, die Ihnen helfen werden, Licht in das Dunkel der Personenbeziehungen, Verstrickungen und Emotionen zu bringen. Ermitteln Sie die Beteiligten. Versuchen Sie ebenso zu erfassen, welche persönlichen Absichten und Ziele mit den Beziehungen der Personen untereinander verfolgt werden. Wenn Sie die direkt und indirekt Beteiligten und deren Verbindungen identifiziert haben, tragen Sie die Ergebnisse in die Verhandlungs-Erfolgsplattform ein.
3.3
Arbeitshilfen
Welche Personen und -gruppen sind am Ergebnis der Verhandlung beteiligt? Meine Seite Interessengruppen
Vorgesetze(r)
Kollegen
Nachbarn
Gegenseite
Step 2
83
Fragen zu persönlichen Beziehungen Wie ist der Verlauf der persönlichen Beziehungen?
Wie ist mein Verhältnis zu diesen Personen (früher, heute, künftig)?
Wie wichtig sind diese Beziehungen für die Verhandlung?
Ausschnitt aus Verhandlungs-Erfolgsplattform
Direkt/ Indirekt Beteiligte
Entscheidungsträger
............................................ ............................................ ............................................
Geschäftliches/ Persönliches Interesse
Entscheidungsvorbereiter
Geschäftliches/ Persönliches Interesse
Informant
ET:
EV:
IN:
ET:
EV:
IN:
ET:
EV:
IN:
............................................ Political Poster (alle Beteiligten)
............................................ ............................................ ............................................ ............................................ ............................................ ............................................ ............................................ ............................................ ............................................
............................................ ............................................ ............................................
Geschäftliches/ Persönliches Interesse
Beziehungslamel
Step 3
1.
Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
Das Sondieren der Interessen und Motive ist eine der wichtigsten Arbeiten bei der Vorbereitung einer Verhandlung. Vor allem diese Arbeit gibt die Möglichkeit, Optionen zu erdenken, bei denen beide Seiten möglichst viel gewinnen. Es gibt immer gemeinsame Interessen – manchmal sind sie verborgen, manchmal sind sie offenkundig, manchmal sind sie größer, manchmal kleiner, aber vorhanden sind sie immer. Hat man die Schnittmengen gefunden, kann man abwägen: „Ist mir die Sache wichtig genug?“, „Lohnt es sich überhaupt zu verhandeln?“ und „Wird die andere Seite sich überhaupt darauf einlassen, zu verhandeln?“. Jede Verhandlung lebt im Wesentlichen von den gegensätzlichen Interessen, Bedürfnissen und Bestrebungen der beteiligten Verhandlungsparteien. Letztendlich geht es ja um einen Interessenausgleich. Das Aufeinandertreffen ungleicher Interessen baut in der Regel Konfliktpotenziale auf, die sich in viel negativer Energie entladen können, wenn sie nicht professionell gemanagt werden. Die Mindestvoraussetzung für die Verhandlung eines Interessenkonflikts ist, dass ein Ergebnis zumindest potenziell die freiwillige Zustimmung der Beteiligten finden kann. So ist es wichtig, bereits im vorbereitenden Stadium eine präzise Analyse der Interessen beider Seiten durchzuführen, um Themenfelder zu finden, die überhaupt verhandelbar sind. Sobald Sie die Interessen der Verhandlungs-Parteien klar sehen, können Sie sie für Ihre Strategie nutzen. Denn aus ihnen generieren sich die Wunschergebnisse und -ziele und sie sind der Grund für konkrete Forderungen und Verhandlungspositionen. Der beste Weg, Ihre eigenen Interessen zu befriedigen, besteht darin, an die versteckten Interessen derer zu appellieren, die das haben, was Sie haben wollen.
86
1.1
Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
Vermittlung zwischen Wunsch und Angst
Der Urgrund dafür, dass Verhandlungsführer eine bestimmte Lösung einer anderen Lösung vorziehen, hängt sehr stark mit den Ängsten und Hoffnungen, aber auch den Bedürfnissen und Wünschen zusammen, die sich bei der gedanklichen Betrachtung der einzelnen Lösungen einstellen. Hierunter verstehen wir alles, worauf wir reagieren: Ängste, die uns bewegen, Wünsche, die wir realisieren wollen, weil das Ergebnis eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes darstellt. Hoffnungen, die erstrebenswerte Ziele in den Bereich des Möglichen rücken, ohne die wir keinen Grund hätten, uns in Aktion zu begeben. Damit auch der Verhandlungspartner ein Ergebnis als akzeptabel betrachten kann, muss auch für ihn im Ergebnis eine Angst genommen, ein Wunsch erfüllt sein. Bereits der Urvater der modernen Psychologie, der Österreicher Sigmund Freud, wusste um die entscheidende Wirkung von Wünschen, Ängsten und Grundbedürfnissen, die den psychischen Triebfedern Energie geben, heute frei übersetzt auch als Motive und Werte des Menschen bezeichnet. Motivation ist die Kraft, die Menschen in Bewegung setzt, um etwas zu tun, etwas zu bekommen oder etwas zu erreichen. Doch dazu später mehr. Ohne diese Kraft bleiben Menschen passiv bzw. inaktiv. Alle Interessen, Forderungen und Ziele, die unsere Gesprächspartner in Verhandlungen äußern, sind letztendlich auf ihre persönliche Motiv- und Wertestruktur zurückzuführen. Darum ist das Sondieren der Interessen und Motive eine der wichtigsten Arbeiten im Vorfeld einer Verhandlung.
1.2
Die Ursprünge liegen im Verborgenen
Jedes menschliche Verhalten wird direkt und indirekt durch unbewusste Prozesse beeinflusst. Sigmund Freud, der Entdecker dieses bedeutenden Sachverhalts, hatte einige Probleme damit, den Menschen seiner Zeit diesen Gedanken nahe zu bringen. Sie lehnten es ab, anzuerkennen, dass es neben der Ratio eine weitere, stärkere, unbegreifliche Kraft geben könne, die das Verhalten der Menschen so entscheidend prägen sollte. Sie bestritten gar deren Existenz. Laut Freuds Theorie ist die Psyche eines Menschen in drei Teilen strukturiert, den so genannten Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Dem Es kommt demnach die Rolle des Unbewussten zu – die Ebene der Triebe, Affekte und Grundbedürfnisse. Dagegen wird das Über-Ich von außen induziert. Es stellt die Summe der erlernten Werte, das Gewissen, dar. Zwischen diesen
Step 3
87
beiden vermittelt ständig das Ich, die Kontrollinstanz, um die aus den Interessen des Es und des Über-Ichs resultierenden Konflikte zu lösen.
ES
ICH
ÜBER-ICH
Abbildung 8: Freud’sches 3-Instanzen-Modell Nach Freud entsteht ein Großteil der Motivation menschlichen Verhaltens aus dem Konflikt zwischen den triebhaften Impulsen des Es und dem strengen bewertenden Über-Ich. Er vertrat die Ansicht, dass rund 90 Prozent der menschlichen Entscheidungen unbewusst motiviert sind und nur ein geringer Teil „sichtbar“ ist.3 Auch wenn das Ich ein konkretes und nachweisbares Verhalten veranlasst, sind wir uns längst nicht immer des „Warum“ bewusst. Sie selbst haben des Öfteren „Bauchentscheidungen“ getroffen oder aus einem unklaren Impuls heraus eine bestimmte Position bezogen. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Wollen wir in unseren Verhandlungen erfolgreich sein, müssen wir die unbewussten Ebenen – also den Bauch – gezielt ansprechen.
1.3
Die Grammatik des Motivierens
Um die Dimensionen klar zu machen, um zu zeigen, wie wenig wir unser gedankliches Sein bewusst erleben und steuern können, ist das Bild des Eisbergs geläufig (Abb. 9). Der wahrnehmbare Bereich des Bewussten entspricht der Spitze des Eisbergs. Die tragende Basis, d.h. der weitaus größte Teil des Eisbergs, befindet sich unter der Wasseroberfläche. Das Modell des Eisbergs beschreibt die Verhältnisse der menschlichen Psyche sehr anschaulich. Joseph O´Connor bringt es auf den Punkt: Die Werte, die am längsten überdauern und uns am meisten beeinflussen, sind frei gewählt, nicht aufgedrängt. Sie werden im vollen Bewusstsein aller Konsequenzen gewählt und bringen viele positive Gefühle mit sich. Dennoch sind Werte normalerweise unbewusst, und wir untersuchen sie selten auf eine klare Weise.
3 Quelle: Wikipedia.org.
88
Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
Was? Wie?
Bewusst Verhalten Motive
Warum?
Un(ter)bewusst Sicherheit • Wohlbehagen Ruhe • Verantwortung/Fürsorge Anerkennung • Freude/Spaß • Familie Freiheit • Abenteuer/Neues erleben Gesundheit • Genuss • Kontakt/Geselligkeit Erfolg • Gewinnstreben/Sparsamkeit • Schönheit
• Sex • Durst • Hunger • Wärme • Schlaf • Zuwendung
Grundbedürfnisse
Abbildung 9: Das Eisbergprinzip
1.3.1
Die Kraft der Motivation
Unser Wertesystem wird durch verschiedene Motive unterstützt bzw. aufgeladen. In der Physik entsteht Spannung durch verschieden geladene Pole, dem Plus- und dem Minuspol. Diese Spannung hat die Kraft, Motoren anzutreiben und Lampen zum Glühen zu bringen. Mit der Psyche ist das nicht anders. Differiert die Wahrnehmung unserer Umgebung, eine Situation oder ein Umstand, zu stark von unserer Vorstellung, so entsteht Spannung – es entsteht die Motivation zur Handlung. Interessen bestimmen menschliches Verhalten, alles menschliche Verhalten ist motiviert. Motive sind unsere Triebfeder. Sie sind die Gründe, warum man etwas tut und Vorteile daraus ziehen will. Motiv ist im Übrigen abgeleitet von lat. movere = bewegen. Motiv hat also dieselbe Wortwurzel wie Motor. Motive können demnach problemlos als die Motoren für menschliches Verhalten bezeichnet werden. Die Analyse der Motive und Interessen der Verhandlungspartner ist eine unabdingbare Voraussetzung bei der strategischen Verhandlungsvorbereitung. Die den unterschiedlichen Verhandlungs-Positionen aller Beteiligten zugrunde liegenden Interessen und Motive sind nicht immer offensichtlich. Natürlich könnte dies ein Teil einer bestimmten Verhandlungstaktik sein. Da wir aber davon ausgehen, dass die meisten Verhandlungen ohne strategische Vorbereitung stattfinden, können wir annehmen, dass sich die Beteiligten selbst ihrer Beweggründe nicht in vollem Umfang bewusst sind. Doch wie der Eisberg, der die Titanic zum Untergang brachte, hält auch der eigene „innere Eisberg“ einige überraschende Wendungen und Chancen für jeden von uns bereit, die es zu erkennen und zu nutzen gilt.
Step 3
89
Das Verdeutlichen der eigenen Werte und Antriebe kann sehr interessante Einsichten bringen. Vielleicht erkennen Sie, dass Sie einige Ihrer zentralen Werte und Motive in Ihrem bisherigen Leben vernachlässigt oder überhaupt nicht berücksichtigt haben. Das könnte eine Quelle von Unzufriedenheit, Leere oder sogar Krankheiten sein. Machen Sie unseren kleinen Test. In der Liste unter Abbildung 12 finden Sie Beispiele für Werte und Motive, die auch in Ihrem Leben Bedeutung haben. In Verhandlungssituationen ist es für uns extrem wichtig, die Motiv- und Wertestruktur des Gesprächspartners zu erkennen. Hier sind genaue Beobachtung, gutes Zuhören und die richtigen Fragen wichtig, denn ein Verhandlungspartner mit ausgeprägtem Sicherheitsbedürfnis ist anders zu überzeugen als der Abenteuerlustige.
1.3.2
Die Grundstrebungen der Persönlichkeit
Werte, Bedürfnisse und Motive bilden die Basis für die Persönlichkeit. Die Unterschiede im persönlichen Verhalten strukturiert und veranschaulicht der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun in einem von ihm entwickelten Modell. Demnach hat jeder Mensch vier früh entwickelte Grundstrebungen, die individuell und unterschiedlich stark ausgeprägt sind: das Bedürfnis nach Nähe, nach Distanz, nach Dauer und nach Wechsel. In ein Koordinatensystem gebracht lässt sich auf diese Weise leicht ablesen, in welche Richtung eine Persönlichkeit tendiert.
Wechsel
Distanz
Nähe
Dauer Abbildung 10: Grundstrebungen der Persönlichkeit Konflikte und Spannungen zwischen Menschen entstehen oft durch unterschiedliche Ausprägungen ihrer elementaren Bedürfnisse, welche die Grundzüge der Persönlichkeit bestimmen.
90
Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
Ein besseres Verständnis der verschiedenen Grundstrebungen hilft, Konflikte zu entpersonalisieren und Unterschiede begreiflich zu machen. Maren Fischer-Epe beschreibt die Grundstrebungen und ihre Auswirkungen auf die Persönlichkeit sehr anschaulich:
Das Bedürfnis nach Nähe Das Bedürfnis nach Nähe erfüllt sich im beruflichen Umfeld durch freundlichen und offenen Umgang, durch gegenseitige Hilfestellung, persönliches Interesse, vertrauensvolle und verbindliche Zusammenarbeit. Mit einem stark ausgeprägten Nähebedürfnis ist häufig das Streben nach Harmonie und daher eine Tendenz zur Konfliktvermeidung verbunden.
Das Bedürfnis nach Distanz Das Bedürfnis nach Distanz äußert sich in Wünschen oder Forderungen nach Abgrenzung, Unabhängigkeit, eigenen Aufgabenbereichen und Entscheidungsspielräumen. Menschen mit einem stark ausgeprägten Distanzbedürfnis brauchen einen Sicherheitsabstand, den man nicht ohne Eintrittskarte überschreiten darf. Von Kollegen mit ausgeprägten Nähebedürfnissen fühlen sie sich schnell bedrängt. Jede Form von Bevormundung, Kontrolle und Unfreiheit läuft dem Distanzbedürfnis zuwider.
Das Bedürfnis nach Dauer Das Bedürfnis nach Dauer bezieht sich auf das Sicherheitserleben. Es erfüllt sich durch Ordnung, Struktur, Überschaubarkeit und Verlässlichkeit. Menschen mit stark ausgeprägtem Sicherheitsbedürfnis fühlen sich wohl, wenn sie wissen, woran sie sind und was auf sie zukommt. Auf Veränderung reagieren sie mit einer gewissen Starre und Skepsis.
Das Bedürfnis nach Wechsel Das Bedürfnis nach Wechsel und Veränderung erfüllt sich im beruflichen Umfeld durch neue Aufgaben und Herausforderungen. Menschen mit stark ausgeprägten Bedürfnissen nach Veränderung lieben es, wenn neue Kollegen ins Team kommen, neue Projekte, Umstrukturierungen, Firmenwechsel oder Auslandsaufenthalte anstehen. Bei ihrem Streben nach Veränderung haben sie in der Regel gelernt, flexibel zu reagieren und zu improvisieren. Sie leiden aber schnell unter Monotonie, Langeweile und unter allen Arbeiten, die Ge-
Step 3
91
duld, Routine oder Ausdauer erfordern. Im beruflichen und privaten Umfeld werden sie häufig von Menschen mit starkem Ordnungsbedürfnis als unzuverlässig und sprunghaft erlebt.
Die grundlegende Erkenntnis lautet: Menschen sind verschieden, und das ist normal. Die Reaktion des Anderen ist jederzeit erklärbar aus seinem individuellen Erleben und aus seiner persönlichen Bedürfnisstruktur. Das Verständnis der Unterschiedlichkeit von Charakteren hilft, Konflikte zu lösen. Das Modell der vier Grundstrebungen eignet sich in Verhandlungen und in persönlichen Gesprächen zur Qualifizierung von Verhaltensunterschieden. Es liefert erste Hinweise auf die zu erwartende Verhandlungstaktik des Gegenübers und auf seine möglichen Beweggründe. Finden Sie das bei Ihrem Gesprächspartner vorhandene Verhältnis von Nähe zu Distanz und von Dauer zu Wechsel heraus. Treffen Sie seine Position innerhalb der Grundstrebungen, so werden Sie eine wesentlich höhere Zustimmung erwarten können. Wenn Sie schon einmal dabei sind: Analysieren Sie nicht nur Ihren Verhandlungspartner – als Raster zur Selbstreflexion leistet das Modell mindestens ebenso gute Dienste. Jeder kann für sich selbst die vier Grundstrebungen betrachten und sich fragen, wie weit er bereit und in der Lage ist, Nähe einzugehen und Beziehungen zu gestalten, Distanz zu halten und autonom zu handeln, strukturiert und verbindlich vorzugehen, flexibel und geistig beweglich zu reagieren. Fast alle Werte und Motive lassen sich in das Koordinatensystem der Grundstrebungen einordnen. In Kombination mit den Grundstrebungen beschreiben die Werte und Motive der eigenen Persönlichkeit die eigene individuelle Matrix. Entscheidungsprozesse, Meinungen und Einstellungen sind also überwiegend unterbewusst gesteuert. Und das hat Gründe, die in der menschlichen Stammesgeschichte schon sehr früh angelegt wurden. Die (unbewussten) Werte, Einstellungen und Motive sind vergleichbar mit dem Betriebssystem eines Computers. Dem Nutzer bleibt dessen Arbeit weitgehend verborgen. Dennoch liefert es die Grundlage jeder Aktion. Der Computer wird im Laufe seiner Entwicklungsstufen immer schneller und effizienter, ähnlich wie der menschliche Geist.
1.3.3
Die Neurologischen Ebenen
Wie interagieren Interessen, Forderungen und Ziele im Gespräch mit den Meinungen, Motiven und Werten der agierenden Personen? Der amerikanische Kommunikationswissenschafter, Psychologe und Therapeut Robert Dilts entwickelte ein einfaches, viel diskutiertes Mo-
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Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
dell zur Beschreibung von persönlicher Veränderung, Lernen und Kommunikation. Dilts definiert sechs Ebenen, auf denen menschliches Lernen und Veränderung stattfinden.
Abbildung 11: Die „Neurologischen Ebenen“ nach Dilts
1. Ebene: Zugehörigkeit/System Auf der ersten Ebene beschäftigen uns die Fragen unserer Persönlichkeit. Warum sind wir hier? Was ist der Sinn unseres Lebens? Diese Metaebene führt und formt unser Leben und gibt unserer Existenz die Grundlage. Sie ist das Sicherheitsnetz aus Glaube und Kultur innerhalb ethischer Rahmenbedingungen. Jede Veränderung auf dieser Ebene hat tief greifende Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit.
2. Ebene: Identität Hier formuliert jeder Mensch sein grundlegendes Selbstbild. Wo liegen meine tiefsten, zentralen Werte? Worin bestehen meine Lebensaufgaben? Welche grundlegenden Ziele möchte ich im Leben erreichen?
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93
3. Ebene: Werte, Glaubenssätze und Einstellungen In unseren Glaubenssätzen formulieren wir verschiedene Leitideen, die wir persönlich für wahr halten und als Grundlage unseres täglichen Tuns anwenden möchten. Diese Glaubenssätze und Einstellungen können uns positiv motivieren und beflügeln. Jedoch schränken sie uns stark ein, wenn sie auf schlechten Erfahrungen und unreflektierten Automatismen beruhen.
4. Ebene: Fähigkeit und Ressourcen Hierunter verstehen wir Verhaltensweisen, allgemeine Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie Strategien, die wir in unserem Leben nutzen.
5. Ebene: Verhalten Dies sind die konkreten Handlungen, die wir ausführen. Wir selbst und andere Menschen können dieses Verhalten beobachten. Handlungen verändern einen bis dahin geltenden Zustand.
6. Ebene: Umwelt Nicht zuletzt sollten wir überprüfen, ob unser Verhalten von der Umwelt begrüßt, neutral bewertet oder abgelehnt wird. Letztendlich bewähren wir uns so als soziales Wesen.
Die Systematik von persönlicher Veränderung erfolgt gemäß diesem Modell immer von oben nach unten. Möchte ich zum Beispiel mein Auftreten als Verhandlungspartner positiv verändern, muss ich mir die nötigen Skills aneignen, die mich sicherer machen. Das heißt, ich muss auf der Ebene der Fähigkeiten hinzulernen, um meine Verhaltensebene zu verändern. Für die Verhandlungsvorbereitung sind folgende vier Ebenen besonders wichtig: Ebene
Äußerung
Identität
Ich bin ...
Glaubenssätze
Ich meine ... Ich bin überzeugt ...
Fähigkeiten
Ich kann ...
Verhalten
Ich tue ...
Tabelle 1: Wichtige Ebenen
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Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
Die Ebenen Identität und Glaubenssätze hängen sehr stark mit unseren persönlichen Werten und Motiven zusammen. Werte verkörpern das, was uns wirklich wichtig ist. Sie bestimmen unsere tiefere Identität und beeinflussen Glaubenssätze und Einstellungen. Werte sind unsere fundamentalen Prinzipien, Motive sind unsere Antriebsfeder, um eben diesen gerecht zu werden, um in Aktion zu treten. Gegen unsere Werte zu handeln macht uns inkongruent. Werte geben uns Motivation und Richtung, sie sind die wichtigen Orte, die Hauptstädte in unserem eigenen Entwurf von der Welt.
1.3.4
Je höher die Ebene, desto schwieriger die Verhandlung
Persönliche Veränderungen werden schwieriger, je höher die betroffene Ebene ist. Anschaulich wird das, wenn man sich vorstellt, welcher Anstrengung es bedarf, aus welchem Grund auch immer die Mission einer Person umzukrempeln, sie in ihren Grundfesten zu erschüttern, zum Beispiel aus einem Terroristen einen Pazifisten zu machen (oder aus einem überzeugten Beamten einen Motivationstrainer). Genauso verhält es sich bei unserem Thema, den Verhandlungen, denn verhandeln zieht handeln nach sich und das bedeutet mithin Veränderungen. Also kommt auch hier das Ebenen-Modell zum Tragen. Konflikte, die aus unterschiedlicher kultureller Herkunft der Beteiligten rühren, sind sehr schwierig zu verhandeln. Diese Verhandlungen greifen auf die höchste der neurologischen Ebenen zu und erfordern eine Veränderung der Daseinsgrundlage. Es gibt leider ausreichend Beispiele, wo diese Konflikte an der Tagesordnung sind, man denke nur an Schulen in multikulturellen Brennpunkten. Einfacher zu verhandeln ist beispielsweise eine erhebliche Differenz auf der Ebene der Fähigkeiten. Zwei Kollegen, der eine kann etwas, der andere nicht. Verhandlungsbedarf kann auch dann entstehen, wenn zwei zusammenarbeiten müssen, von denen einer seinen Job als notwendiges Übel ansieht, der andere dagegen ihn als die Chance seines Lebens begreift. Obwohl hierbei die Ebene der persönlichen Werte und Überzeugungen angesprochen wird, ist dieser Fall relativ leicht zu verhandeln. Ob jedoch mit nachhaltigem Ergebnis, das steht auf einem anderen Blatt. Welche Motive bewegen Menschen nun in konkreten Verhandlungssituationen? Schauen wir uns ein Beispiel aus der Praxis an.
Beispiel: Outsourcen oder Inhouse-Lösung? Die Geschäftsführer des Kfz-Zulieferbetriebes könnten eigentlich zufrieden sein: Das mittelständische Unternehmen erwirtschaftet mit seinen 250 Mitarbeitern einen Umsatz von 70 Mio. Euro. Das Beste daran ist, dass auch die Wachstumskurve solide nach oben zeigt. Das Problem liegt in einem mit dem Unternehmen gewachsenen Datenverarbeitungssys-
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tem, in dem unterschiedlichste, nicht miteinander kommunizierende Software-Lösungen zum Einsatz kommen. Beide Geschäftsführer sind sich einig, dass
die Unternehmensprozesse nicht mehr ausreichend und effizient gesteuert werden.
alle Bereiche des Unternehmens in ein einheitliches DV-System eingebunden werden müssen.
ein hohes Risiko durch externe Angriffe auf das Firmennetzwerk besteht.
für beide Geschäftsführer ein hohes Haftungsrisiko besteht.
mangels Transparenz im Finanzwesen und Controlling die Anforderungen von Basel II nicht erfüllt werden.
Über die Lösung sind beide einer Meinung: Auf der Wunschliste steht ein modernes ITSystem, mit dem alle Unternehmensfunktionen wie Personal, Einkauf, Verkauf, Materialwirtschaft, Logistik/Lager, Produktion etc. integriert abgebildet und bearbeitet werden können. Bei der Frage jedoch, ob das neue System gekauft werden soll oder ob es besser wäre, wenn ein IT-Partner die geforderten Funktionen komplett übernähme, herrscht Uneinigkeit. Beide Geschäftsführer tauschen Ihre Argumente aus. Herr Meier möchte kaufen, Herr Müller bevorzugt das Outsourcing. Meier: –
Wir wollen unsere Eigenständigkeit bewahren. Wenn wir diese Dinge in externe Hände geben, machen wir uns abhängig. (Motive „Unabhängigkeit“, „Freiheit“)
–
Eine externe Firma kennt unsere Firma am Ende besser als wir selbst. Was passiert, wenn sensible Daten nach außen gelangen? (Motive „Sicherheit, „Vertrauen“)
–
Diese wichtigen Aufgaben sollen im Unternehmen gelöst werden – alles aus einer Hand. (Motive „Individualität“, „Ordnung“, Selbstständigkeit“)
Müller: –
Wenn wir die dafür nötigen Kompetenzen im eigenen Haus aufbauen, kostet das viel Geld und Zeit. (Motiv „Sparen“)
–
Wir erhalten unsere Liquidität und können in neue Anlagen investieren. (Motive „Sicherheit“, Zukunftsorientierung“)
–
Wir sollten uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren – auf das, was wir am besten können. Andere Aufgaben müssen von externen Partnern gelöst werden, die eben die am besten können. (Motive „Ordnung, „Einfachheit“)
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Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
–
Wir müssen neue Wege gehen, um erfolgreich zu bleiben. (Motive „Fortschritt, Sicherheit“, Kreativität“)
Worauf die beiden sich letztendlich einigen, ist für unsere Betrachtung wenig relevant. Vielmehr interessiert uns, dass hinter den Argumenten der Geschäftsführer klare Grundhaltungen (Grundstrebungen) und Motive sichtbar werden.
Die vorhandenen von Thun’schen Grundstrebungen werden im Beispiel konkret unterfüttert. Die Motive sind zum einem die Sicherheit, Ordnung sowie möglicherweise auch die Fürsorge für das Unternehmen und die Mitarbeiter. Deutlich kommen bei Herrn Meier die Grundstrebungen Distanz (Unabhängigkeit) und Dauer (Sicherheit) zum Ausdruck. Auf der anderen Seite steht zwar ebenfalls der Wunsch nach Sicherheit, allerdings in einer anderen Ausprägung. (Dort die Sicherheit im Schneckenhaus, hier die Sicherheit in der Konkurrenzfähigkeit.) Dazu der Wunsch nach Erfolg, nach Innovation und Fortschritt und sicher nicht zuletzt nach Anerkennung für denjenigen, der mit modernen Maßnahmen dafür gesorgt hat, dass der Betrieb auch in Zukunft erfolgreich am Markt eine Rolle spielt. Bei Herrn Müller finden wir also die Grundstrebungen Nähe (Miteinader) sowie Wechsel (Innovation). Sie sehen auch: In diesem Verhandlungsausschnitt nutzten die Gesprächspartner Interessen und Motive gezielt, um mit überzeugungsstarken Argumenten das gewünschte Verhandlungsergebnis zu erreichen. So stellt sich die Frage: Was macht Argumente, die in Verhandlungen verwendet werden, zu plausiblen Argumenten, die tatsächlich unter die Haut gehen und Wirkung zeigen? Merke: Jedes gute Argument enthält als Nerv immer ein Motiv. Ein Argument ist für einen Verhandlungspartner dann plausibel, wenn das in dem Argument enthaltene Motiv sich mit einem tatsächlichen Interesse des Verhandlungspartners deckt und der Verhandlungspartner diesen Zusammenhang nachvollziehen und akzeptieren kann. Ein Argument ist dann plausibel, wenn der im Argument verwendete Sachzusammenhang mit dem im Argument explizit oder implizit verwendeten Motiv oder Interesse korrekt in den sachlogischen Zusammenhang gebracht wird. Überzeugend ist ein Argument dann, wenn es plausibel ist und das in diesem Argument verwendete Motiv mit einem tatsächlichen Motiv oder Interesse des Verhandlungspartners identisch ist.
Step 3
1.3.5
97
Parallele Motive
Im vorliegenden Beispiel werden engagiert unterschiedliche Positionen ausgetauscht. Die Grundhaltung des Geschäftsführers Meier ist sehr traditionell und bewahrend, die von Herrn Müller lässt sich eher als innovativ und zukunftsorientiert beschreiben. Deutlich ist zu erkennen, dass unterschiedlichen Argumenten der Geschäftsführer eine ähnliche oder sogar identische Motivlage zugrunde liegt. Beiden gemeinsam ist das Motiv der Sicherheit. Der Unterschied zum Motiv Anerkennung ist jedoch: Sicherheit hat höhere Priorität. Alles andere ist von nachrangiger Bedeutung. Denn ohne die Sicherheit ist auch das Erzielen von Anerkennung gefährdet. Offensichtlich ist, dass es keine Anerkennung geben kann, wenn das Unternehmen aus einem Grund scheitert, der mit dem Outsourcen in Verbindung gebracht werden kann. In dem gerade gezeigten Beispiel entdecken wir noch etwas Wichtiges und lernen: Meistens sind parallel mehrere Interessen im Spiel und es kann bzw. muss eine Rangordnung von Interessen und den auf ihnen basierenden Argumenten geben. Ganz selbstverständlich versucht jeder von uns, in alltäglichen Verhandlungen immer das Argument des Gegenübers mit einem eigenen, stärkeren Argument zu Fall zu bringen, auch ohne darüber nachzudenken oder sich vorab einen Plan oder eine Strategie zu Recht gelegt zu haben. Denn in der Regel geht es nicht um viel. Im geschäftlichen Kontext allerdings ist es ein absolutes Muss, sich über die Wirkung und Stärke der eigenen Argumente im Klaren zu sein. Da jeder der beiden geschäftsführenden Verhandlungspartner parallele Motive zu Felde führt, liegen in der Überdeckung der Motivstruktur die Optionen für eine konstruktive Lösungsfindung. Denn ein Ergebnis kann nur dort gefunden werden, wo beiden Seiten gleichermaßen gedient wird. Ein weiterer Punkt ist sehr gut zu erkennen: Die Argumente überzeugen. Auf einer vorangegangenen Seite konnten Sie etwas über die Überzeugungskraft von Argumenten lesen. Sie müssen plausibel und nachvollziehbar kongruent mit den Motiven sein. Dies ist hier gegeben. Erleichternd für die Verhandlungsführung des Herrn Müller ist, dass auch Herr Meier ein starkes Bestreben nach Sicherheit hat. Darum könnte dieses Argument bei ihm den Punkt machen.
1.3.6
Hinter die Dinge sehen
Zu beachten ist, dass Motive und die auf ihnen beruhenden Argumente stark mit den Konstruktionen zu tun haben, die jeder Einzelne in seinem Geiste gebaut hat. Es sind die individuellen, erlernten und anerzogenen Denkweisen und Beurteilungskriterien, die uns so oder so entscheiden lassen. Schon Marc Aurel formulierte: „Es sind nicht die Dinge, die uns bewegen, sondern unsere Meinungen über die Dinge.“ Über die Wahrnehmung der Wirklichkeit klärte uns Paul Watz-
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Methoden zur Analyse und Entwicklung von Interessen und Motiven
lawik („Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“) auf – wir erwähnten ihn bereits an anderer Stelle. Demzufolge sind Dinge so wie sie sind. Was sie aber für jeden Einzelnen bedeuten, ist immer eine individuelle Eigenanfertigung. Es sind unsere selbst konstruierten Wirklichkeiten und die damit verbundenen Gefühle, die uns dazu bringen, Dinge in einem bestimmten Licht zu sehen, sie anzunehmen oder abzulehnen. Einem Wüstenbewohner ist nichts so wertvoll wie ein Schluck Wasser. Können Sie sich vorstellen, dass jemand, der im Jahre 2002 in der Oderflut sein Hab und Gut verloren hat, genauso empfindet? Wohl kaum! Obwohl es in beiden Fällen an sich um Wasser geht, stellt sich die Wirklichkeit für beide völlig unterschiedlich dar. Wenn Sie der Meinung sind, dass das Automobil X sicher ist, dann werden Sie das Fahrzeug anders wahrnehmen, als wenn Sie der Meinung sind, dass das Automobil X unsicher ist. Das Automobil X ist in beiden Fällen dasselbe. Wenn zwei Menschen das Auto X betrachten – der eine hält es für sicher, der andere hält es für unsicher – betrachten beide zwar dasselbe Auto, aber ihre Meinungen sind unterschiedlich. Damit ist es wahrscheinlich, dass auch ihre Entscheidungen hinsichtlich dieses Autos verschieden sein werden. Es sind also nicht die Dinge, die uns bewegen, es sind unsere Eindrücke von und unsere Erfahrungen mit den Dingen. Und die sind völlig unterschiedlich bei jedem einzelnen Menschen. Diese persönlichen Bewertungskriterien sind in Verhandlungssituationen immer zu berücksichtigen. Sie haben die Möglichkeit, Motive anders zu interpretieren, indem Sie die Perspektive wechseln. Plötzlich erkennen Sie einen völlig anderen Verhandlungsrahmen und sind in der Lage, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Im Bereich des Verhandelns gibt es für die Parteien keine objektive Wahrheit, sondern nur eine subjektive. Entscheidend ist nicht, wie der Verhandlungsgegenstand beschaffen ist, sondern wie er von den Verhandlungsparteien gesehen wird. Und für diese individuelle Sichtweise spielen die Motive eine ganz entscheidende Rolle. Ihnen kommt insofern auch für die der Verhandlung vorausgehende Analysephase als auch für die anschließende Kommunikations- und Argumentationspraxis eine entscheidende Bedeutung zu.
1.3.7
Werbung will motivieren
Wenn Sie sich fragen, warum Sie dieses Buch lesen, dann werden Sie aus eigenem Erleben recht schnell vermutlich auf die Lösung kommen, dass Sie mit der Lektüre dieses Buches Ihren Erfolg steigern und den Misserfolg verringern werden. D. h., Sie erleben an diesem Beispiel selbst, welche Wirkung Motive haben, in dem Fall das Motiv Erfolg. Wie wir am vorhin geschilderten Beispiel gut sehen konnten, spielen häufig mehrere Motive in Verhandlungen gleichzeitig eine Rolle. Motive lassen sich in Verhandlungen oft beliebig bündeln, stapeln und verknüpfen. Immer, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ein Motiv befriedigt ist, sind sie im besten Sinne motiviert, erleben positive Energie und entwickeln Lustgefühle. Das ganze Leben ist darauf ausgerichtet, möglichst viel Lust zu erleben und möglichst viel Frust zu vermeiden. Zwischen diesen beiden Polen pendelt das Leben aller
Step 3
99
Menschen hin und her. Insofern ist die Grammatik des Motivierens für das Erreichen aller Verhandlungsziele entscheidend, denn einen großen Teil des Lebens verbringen wir mit Verhandlungen. Das Befriedigen aller im Leben möglichen Motive wäre gleichbedeutend mit der Vision vollkommenen Glücks: Ein Leben in vollkommener Sicherheit, Geborgenheit, mit Ruhe, getragen von Liebe und Zuwendung, angereichert durch Fürsorge und soziale Verantwortung, ein Leben voller Anerkennung in hervorgehobener Rangordnung, ein Leben voller Reichtum, sowohl an Zeit als auch an finanziellen Ressourcen, ein Leben in Unabhängigkeit und vollkommener Freiheit, mit viel Spaß und Freude, ohne Langeweile, voller Abwechslung, Abenteuer, voller Genüsse, getragen von Erfolg, ein Leben, das leicht von der Hand geht, inmitten von schönen Dingen und ästhetischem Feingefühl, in dem auch das gesellige Leben nicht zu kurz kommt, ein Leben voller Ressourcen, Frische und Kraft. Das sind die positiven Energien, die Beweggründe, auf die jede Kommunikationsstrategie aufbaut. An Motive zu appellieren heißt bewegen. „Zufälligerweise“ sind dies die in Umfragen meistgenannten Bedürfnisse von Konsumenten. Alle Konsumgüter werden mit diesen Visionen beworben. Alle Finanzdienstleister werben damit. Auf diesen Steinen lassen sich nicht nur trefflich Argumente bauen, auch jede Verhandlungsstrategie muss auf diesen Motiven basieren, um die Verhandlungsziele dem Gesprächspartner möglichst attraktiv erscheinen zu lassen.
1.3.8
Streben nach Glück
„Glück“, das wusste schon Aristoteles, „ist das Einzige, was der Mensch um seiner selbst willen anstrebt. Alles andere strebt der Mensch an, weil er hofft oder glaubt, damit glücklicher zu werden.“ Folgt man diesem Gedanken, dann verlieben sich Menschen deswegen, weil sie glauben, damit glücklicher zu sein. Und sie verlieben sich in einen anderen, weil sie glauben, das wiederum mache sie noch glücklicher. Die Motive bilden die Gesamtheit dessen, von dem Sie glauben oder spüren, dass Sie damit glücklicher werden. Dieses Streben hat natürlich auch Ihr Verhandlungspartner. So gesehen bedeutet erfolgreiche Verhandlungsführung, dass Sie den Verhandlungspartner beseelen, dasjenige, was Sie in der Verhandlung anstreben, sei auch sein eigener Wunsch. Er muss davon überzeugt sein, dass er dieses auch für sich möchte. Erreichen Sie das nicht, dann können Sie vielleicht einen oberflächlichen Erfolg erzielen, der aber nicht anhalten wird, sondern es wird das zutreffen, was schon Dale Carnegie formulierte: „A man convinced against his will is of the same opinion still“ – zu Deutsch: „Wer gegen seinen Willen überzeugt wird, ist nach wie vor im Grunde derselben Meinung.“ Was ein Mensch aber in tiefsten Inneren will, genau das ist in den Motiven und Interessen widergespiegelt.
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Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
2.
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
2.1
Interessen, Motive, Ziele
Wie steht es um die Interessenlage unserer beiden Hauptakteure Franz K. und Otto F. in dem beschriebenen Grenzkonflikt? Was bewegt sie, wo liegen grundsätzliche Unterschiede? Könnte es möglicherweise Schnittmengen in den Interessen und Motiven geben?
Rückblick Unser Protagonist Franz K. kennt Italien gut, liebt Land und Leute und genießt die italienische Lebensart. Als er das Angebot bekommt, eine schöne Anlage, die darüber hinaus noch gute Renditeaussichten hat, zu kaufen, überlegt er nur kurz und greift sofort zu. Da er selbstständig ist, muss er für seine eigene Altersversorgung aufkommen. Das Haus in Italien sichert ihm persönlich nicht nur die gewünschte Lebensqualität, sondern lässt auch eine gute Rendite erwarten. Seine Investitionen werden also langfristig gesichert sein. Aus diesem Grund reagiert er besonders empfindlich auf die drohende Wertminderung wegen der hohen Bäume, die den freien Blick auf den See verhindern. Auch eine ungeklärte Grenzsituation ist für ihn nicht tragbar, da sie den Wert des Objektes im Verkaufsfall deutlich mindern würde.
2.2
Motive von Franz K.
Seine Freude an italienischer Lebensart lässt sich plötzlich für Franz K. mit dem Motiv Werte schaffen verbinden. Unter dem Aspekt des Motivs Sicherheit muss er eine akzeptable und auch in der Zukunft tragfähige Lösung erreichen. Aus diesem Grunde strebt er klare, vertraglich abgesicherte Regelungen an. Dagegen widerstrebt Franz K. der aufziehende Konflikt. Viel lieber hätte er sich in seinem neuen Haus entspannt und Ruhe gefunden. Zum Ausgleich seiner stressigen Tätigkeit sucht er ja gerade die Ruhe in der neuen Umgebung. Doch die ist nicht in Sichtweite, solange der Konflikt schwelt oder gar eskaliert. Darüber hinaus ärgert sich Franz K., dass durch den Konflikt mit seinem Nachbarn die sozialen Kontakte mit Freunden und Bekannten in der Nachbarschaft belastet werden. Es kommt zwar nicht zu offenen Streitigkeiten, doch immer häufiger bemerkt er, dass die Angelegenheit im Dorf hitzig diskutiert wird. Natürlich fühlt er sich im Recht, aber was nützt ihm das! Der
Step 3
101
Konflikt beeinträchtigt unterschwellig die herzliche Geselligkeit im Dorf. Letztendlich tritt sein Grundmotiv Gerechtigkeit in den Hintergrund. Sein Wunsch nach sozialer Integration und Freundschaft ist stärker. Gerade an seinem neuen Wohnsitz in Italien verspürt er umso stärker das Bedürfnis nach Harmonie, je mehr sie in Gefahr gerät. Ein weiterer Grund für den Immobilienerwerb in Italien war, dass er dort viel mehr Zeit mit seiner Frau und seiner Tochter gemeinsam verbringen kann. Da er in Deutschland oft mehrtägig unterwegs ist, sieht er in Italien die Chance zu einem intensiveren Familienleben. Was ihm nämlich fehlt, ist Zeit mit seiner Familie und darauf freut er sich schon. Für Franz K. ist es wichtig, seiner Verantwortung als Familienmitglied nachzukommen und Liebe innerhalb der Familie zu spüren. Der heraufziehende Konflikt mit dem Nachbarn jedoch führt insbesondere bei seiner Frau dazu, dass die Freude an dem neuen Heim getrübt wird. Sie betrachtet die neue Entwicklung mit zunehmendem Unbehagen und bezweifelt immer stärker, dass sich die Probleme in Wohlgefallen auflösen werden. Sie möchte ihr Familienleben in Italien nicht durch Auseinandersetzungen gefährdet sehen. Eine schnelle Lösung ist deshalb ihr sehnlichster Wunsch.
Motive von Franz K. Werte schaffen Sicherheit Gerechtigkeit Freude
Harmonie Anerkennung Verantwortung Integration
Familie Geselligkeit Freundschaft
Wie sieht es nun beim Verhandlungsgegner Otto F. aus? Was bewegt ihn, mit Tricks zu arbeiten und nach anfänglicher Harmonie zunehmend den Streit zu forcieren?
2.3
Motive von Otto F.
Ein treibendes Motiv für Otto F. ist seine ausgeprägte Sparsamkeit. Renovierungen und Umbauten an seinem Haus erledigt er persönlich. Dass er die Gartenarbeit selbst macht, ist für ihn selbstverständlich. Er lebt sehr sparsam, verwahrt viele Dinge oder sammelt sie und trennt sich nur ungern von alten „Schätzen“. Sogar kleinste Tapetenreste von der letzten Renovierung hebt er jahrelang auf, weil er sie eventuell noch einmal verwerten kann. Seine Frau und er sind auch in ihrer persönlichen Lebensführung sehr genügsame Menschen. Von den zugezogenen Dorfbewohnern ist Otto F. der Platzhirsch. Er lebt seit über 30 Jahren in dem Dorf und hat durch geschicktes Verhandeln umfangreichen Grundbesitz erworben. Für ihn ist es wichtig, dass sein Motiv soziale Anerkennung befriedigt wird. Auch sieht er es gern, dass er zu unterschiedlichen Fragen des Dorflebens um seine Stellungnahme gefragt
102
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
wird. Er mag es, Einfluss zu haben. Er weiß, dass er im Dorf einen gewissen Status erworben hat, der ihn dazu legitimiert, Meinungen zu vertreten, sie sogar vorzugeben und auf deren Einhaltung zu achten. Obwohl es in der Praxis manchmal anders aussieht, findet er es wichtig, moralisch zu handeln. Er gibt sich dabei prinzipienfest und wertorientiert. Sein Ansehen in der Dorfgemeinschaft ist ihm wichtig. Umso deutlicher stellt er mit Fortschreiten der Auseinandersetzung die Frage der Ehre in den Vordergrund. Der von Nachbarn geäußerte Vorwurf, dass er nicht immer offen und ehrlich gehandelt habe, trifft ihn schwer. Einher mit seiner Sparsamkeit geht ein tiefer Wunsch, nämlich für seine Familie – die Kinder und Enkel – Werte zu schaffen. Es erfüllt ihn mit Freude, wenn seine Kinder die Sommerferien in Italien verbringen. Fast macht es den Eindruck, dass er seine italienische Ader auf diesem Wege vererben wolle.
Motive von Otto F. Sparsamkeit Ehre Integration
2.4
Anerkennung Statuserhalt Werte schaffen
Motive von beiden
Im tiefsten Herzen wünscht auch Otto F. sich den Ausgleich und die damit verbundene soziale Integration in das Dorfleben. Auch er liebt die italienische Lebensart – wenn auch etwas anders als Franz K. Beide sprechen sehr gut Italienisch, lieben die Musik (wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten). Gutes Essen, die italienische Kultur und Lebensart sind beiden wichtig. Auch das Motiv der Fürsorge für die Familien ist beiden wichtig. Kinder und Enkelkinder sind häufig zu Besuch. Voraussetzung für den Fortbestand des Erreichten ist, dass die geschaffenen Werte abgesichert und vermehrt werden, also Sicherheit und Wohlstand.
Motive von beiden Harmonie Sicherheit Fürsorge
Integration Wohlstand Werte schaffen
Familie
Step 3
2.4.1
103
Verstehen der Handlungsweisen unter Anerkennung der wesentlichen Motive des Verhandlungspartners
Die Motivlagen von Otto F. und Franz K. weisen sowohl eklatante Widersprüche als auch Gemeinsamkeiten auf. Viele der im Verhandlungsprozess auftretenden Reaktionen sind unmittelbar auf die Motiv- und Wertestruktur der beiden Protagonisten zurückzuführen. Entstehung, Eskalation und letztendlich die Lösung des Konfliktes sind aus den beiden Motivlagen herzuleiten. Die Suche nach übereinstimmenden Motivlagen kennzeichnet – ob bewusst oder unbewusst – den Fortgang des Verhandlungsprozesses. Sukzessive erkennen beide Beteiligten die Interessen des anderen als Teil des eigenen Problems an. Zwar werden inhaltliche Positionen teilweise hart verteidigt, die Person des Verhandlungspartners wird jedoch niemals diskreditiert. Das sachliche Interesse beider Verhandlungspartner wird gegenseitig nicht mit persönlichen Anwürfen vermischt. Beide sind hart in der Sache, aber nicht verletzend zu den beteiligten Menschen. Dadurch bleibt ein Grundkonsens über umgängliche Formen sozialen Zusammenlebens bestehen. Beide können sich während des gesamten, auch konfliktreichen Prozesses in die Augen schauen. So ist auch in der Zukunft ein gedeihliches Zusammenleben möglich – trotz massiver unterschiedlicher Interessen. Obwohl anfangs emotional stark erregt, zwingt sich Franz K. zu einer ruhigen und besonnenen Vorgehensweise. Das fällt ihm zwar nicht immer leicht, dennoch erkennt der die Notwenigkeit, sich fundiert mit den Interessen und Positionen von Otto F. auseinander zu setzen. Also richtet er seine Aufmerksamkeit auf dessen geäußerte Wünsche und Erfahrungen, auf die gefühlsmäßigen Erlebnisinhalte des Gegenübers. Er versucht mehr und mehr, seinen Nachbarn zu verstehen, hinterfragt dessen Sichtweise auf sich selbst und seine Reaktionen. Franz K. macht sich die Mühe, die emotionale Ebene, die Interessen, Gefühle und Erwartungen seines Verhandlungspartners zu verstehen, wo doch eine vorgefasste Ablehnung viel einfacher gewesen wäre. Sein Verhalten ist zunehmend von Empathie gekennzeichnet, ohne die innere Erlebniswelt des anderen zu übernehmen.
3.
Umsetzung in die Praxis
3.1
Meine persönlichen Motive, Interessen und Werte
Sind Sie sich immer völlig darüber im Klaren, warum Sie sich für das eine und gegen das andere entscheiden? Warum Sie Ihrer Tochter den Diskobesuch verbieten? Ist es die Sorge
104
Umsetzung in die Praxis
um die Sicherheit des Teenagers oder Bekräftigung Ihrer elterlichen Autorität? Oder beides? Denken Sie manchmal: „Das kann der doch nicht ernsthaft von mir wollen. Nein, da gebe ich nicht nach, wo kämen wir denn da hin?“ Prinzipielle Opposition oder berechtigte Wahrung von Interessen? Argumente können nicht treffen, wenn sie nicht plausibel sind. Und wie wir bereits wissen, benötigt Plausibilität ein wahrhaftiges Motiv. Umso wichtiger ist es, die eigene Motiv- und Interessenlage zu ermitteln. Mit dem folgenden kleinen Test möchten wir genau das erreichen. Sie werden überrascht sein. Hilfreich ist dieser Test, um zu verdeutlichen, welche Triebfeder(n) Sie auf ein Ziel hin steuern. Möglicherweise werden Sie danach erkennen, dass manche Verhandlungen andere Zielsetzungen hätten haben können, wenn Ihnen die Motive bewusster gewesen wären. 1. Auf die nun folgende Liste hatten wir Sie bereits vorher hingewiesen. Sie dient als Pool von möglichen Motiven und Werten, die in Ihrem Leben eine mehr oder weniger große Bedeutung haben. Schauen Sie sich die Liste an und finden Sie heraus, welche das für Sie persönlich sind. Abenteuer Aktivität Ansehen Begeisterung
Fürsorge Gemeinschaft Gerechtigkeit Glück
Schönheit Selbstständigkeit Sicherheit Spaß
Bewegung Dienen Ehrlichkeit Einfachheit Einzigartigkeit Erfüllung
Harmonie Herausforderung Humor Individualität Kreativität Lehren
Spiritualität Toleranz Veränderung Verantwortung Wahrheit Weisheit
Erkenntnis Fähigkeit Familie Freiheit Freude Freundschaft Frieden
Leistung Lernen Liebe Macht Mut Ordnung Ruhm
Weltverbesserung Werte schaffen Würde
Abbildung 12: Werte- und Motivliste
Step 3
105
2. Schreiben Sie nun die fünf wichtigsten Werte und Motive auf. Beschränken Sie sich vorerst auf fünf Begriffe – auch wenn es schwer fällt. So kommen Sie auf die wichtigsten Ergebnisse.
Meine wichtigsten persönlichen Motive/Werte 1. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 2. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 3. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 4. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 5. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
3. Prüfen Sie nun, ob Sie Ihre persönlichen Motiv- und Wertestrukturen in Ihren letzten Verhandlungssituationen wiederfinden. Geben Sie eine Bewertung ab, in welcher Intensität sie zum Ausdruck kamen (vgl. Fallbeispiele in Tabelle 2). Geben Sie die Intensität an von 5 = sehr stark bis 1 = kaum. Die vorgegebenen Situationen in der linken Spalte sind lediglich Beispiele, deren Bewertungsziffern ebenso. Sie müssen sie durch eigene, konkrete Fälle ersetzen. Nutzen Sie dafür die freien Felder in Tabelle 3.
Situationen
Werte Sicherheit
Freundschaft
Ansehen
Veränderung
Spaß
Autokauf
3
1
4
2
4
Gehaltserhöhung
5
1
5
1
3
Urlaub
1
3
3
4
5
Ansehen
Veränderung
Spaß
Tabelle 2: Beispiele für Motive und deren Prioritäten Situationen
Werte Sicherheit
Freundschaft
Tabelle 3: Ermittlung eigener Motive und deren Prioritäten
106
Umsetzung in die Praxis
Der Sinn dieses Tests besteht darin, dass Sie ganz klar erkennen, welches Grundbedürfnis Sie in der Vergangenheit zu einer Handlung oder Entscheidung motiviert hat. Auf dieselbe Art und Weise können Sie natürlich auch die Beweggründe Ihres Verhandlungspartners ermitteln. Wenn Sie diesen Test bei künftigen Verhandlungen konsequent anwenden, werden Sie Ihre Strategien sehr zielgerichtet aufbauen können.
3.2
Aus Motiven werden Verhandlungsziele
Als Geschäftsmann mögen Sie beispielsweise das Interesse haben, für Ihr Unternehmen in einem bestimmten Geschäftsfeld eine höhere Profitabilität zu erreichen. Es entspringt einer Kombination von Werten Ihres persönlichen Wertesystems, wonach Sie für sich, Ihre Familie und für Ihr Unternehmen mit seinen Mitarbeitern nach Sicherheit und Wohlstand streben. Dies wiederum führt neben anderen Maßnahmen dazu, dass Sie den Wunsch hegen, bei Ihren Hauptlieferanten Preisnachlässe durchzusetzen. Deshalb fordern Sie konkret zehn Prozent Rabatt. Ihre Interessen lassen Sie demzufolge Ihre Ziele definieren und daraus entwickeln Sie Ihre Verhandlungsposition. Aus dem Modell
Abbildung 13: Vom Motiv zur Forderung ergibt sich demzufolge:
Abbildung 14: Motiv Gewinnsteigerung
Step 3
107
Nach dem gleichen Muster können aus unterschiedlichen Motiven identische Forderungen entstehen:
Abbildung 15: Motiv Gesundheit
Abbildung 16: Motiv Freude
Abbildung 17: Motiv Anerkennung Das Gleiche gilt für Sparsamkeit, keine neue Garderobe kaufen oder 10 Kilo abnehmen.
108
Umsetzung in die Praxis
3.3
Systematische Erarbeitung von Interessen und Motiven (Checklisten)
Zielbestimmung am Beispiel „Verhandlung um Gehaltserhöhung“ Legen Sie vor Verhandlungsbeginn präzise Ihre Verhandlungsziele fest. Definieren Sie präzise Ihr Maximalziel, d. h. das für Sie bestmögliche Resultat. Ebenso wichtig ist, dass Sie klar definieren, was Sie mindestens in der Verhandlung erreichen wollen (MinimalZiel).
Nach der Analyse der Interessen und Motive ist es wichtig, die Prioritäten klar zu definieren. Bewerten Sie die Interessen und Motive und ordnen Sie ihnen Prioritäten zu. Interesse / Motiv
Wunsch / Ziel
Wichtigkeit
1.
+++
2.
+++
3.
++
4.
+
Tabelle 4: Prioritätentabelle +++
hohe Priorität
Das, was Sie auf jeden Fall erreichen müssen und weswegen Sie im Falle des Nichterreichens die Verhandlung platzen lassen würden. Hier haben Sie während der Verhandlung nur wenig Spielraum. ++
mittlere Priorität
Das, was Ihnen sehr wichtig ist und was Sie während der Verhandlung mit Verve verfolgen, weswegen Sie aber nicht die Verhandlung scheitern lassen würden. +
geringe Priorität
Das „nice-to-have“, das, was Ihnen gefallen würde und was Sie zu erreichen versuchen. Wenn Sie es nicht erreichen, würden Sie aber nicht die Verhandlung deswegen platzen lassen. Hier haben Sie den größten Handlungsspielraum.
Step 3
3.4
109
Arbeitshilfen
Auch in diesem Kapitel finden Sie wieder Arbeitshilfen und Gedankenstützen. Tragen Sie Ihre Ergebnisse in die dafür vorgesehenen Felder der Verhandlungs-Erfolgsplattform ein.
Fragen zu meinen Interessen Warum ist die Verhandlung nötig? Welches tiefer gehende Interesse liegt zu Grunde?
Interesse/Motiv
Wunsch/Ziel
1. 2. 3. 4.
Wichtigkeit
+++ +++ ++ +
Ausschnitt aus der Verhandlungs-Erfolgsplattform
Verhandlungsführende Personen
ZIEL
Unsere Seite:
Gegenseite:
Übergeordnetes Ziel
Positionen
Analyse Interessen / Motive / Werte
Beziehungshistorie (-zukunft)
Step 4
1.
Methodisch Optionen entwickeln
Jede Verhandlung beginnt mit mindestens zwei Optionen (Lösungen) für dasselbe Problem: Ihre eigene und die Ihres Gesprächspartners. Sie wollen z. B. einen höheren Preis, er hingegen will nur einen geringeren Preis akzeptieren. Die Herausforderung besteht darin, die Karten neu zu mischen und mindestens eine dritte Lösung zu schaffen, die für beide Seiten akzeptabel ist und im Idealfall beiden Seiten gegenüber der eigenen Forderung sogar noch einen Mehrwert bietet. Die Vision eines optimalen Verhandlungsergebnisses lautet: gegenseitige Gewinn-Maximierung. Dieses Ergebnis kann aber nur erzielt werden, wenn beide bereit sind, sich zu bewegen. Das Zentrum der eigentlichen Verhandlung bildet somit das gemeinsame Entwickeln und Sondieren möglicher Optionen. Es handelt sich dabei um einen kreativen Prozess.
1.1
Chancen und Risiken
1.1.1
Denken in Positionen schafft Distanz
„Warum sollte ich mir stundenlang den Kopf zerbrechen für ein paar Alternativen, die lediglich der anderen Seite nützen? Mein Ziel ist klar gesteckt!“ So oder ähnlich werden viele denken. Man weiß ja schließlich, was für einen herauskommen soll, und an dieser Vorstellung wird eisern festgehalten. „Okay, ein bisschen nachgeben kann man, wenn die andere Seite nicht sofort akzeptiert, aber das ist einkalkuliert. Wozu also noch Zeit mit Gedankenspielen verlieren?“ Diese Denkweise erschwert den Einigungsprozess enorm. Sie taugt lediglich dazu, sich auf einer zwischen den Standpunkten vorgegebenen Linie anzunähern. Jeder wird, wenn es nicht zum Scheitern kommen soll, von seinen Maximalvorstellungen abrücken müssen. Das ist schmerzlich, denn es findet keine Kompensation statt. Und was, wenn man mit einem Vorschlag überhaupt nicht mehr weiterkommt? Wenn man in der Sackgasse vor der Abschluss-
112
Methodisch Optionen entwickeln
wand steht? Dann muss man etwas anderes versuchen. Leider verfügen die meisten an dieser Stelle nicht über die Möglichkeit, etwas völlig anderes zu tun. Schlimmer noch: Sie verfügen nicht über die Flexibilität, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Sie sind derart fokussiert auf ihr Ziel, ihren Anspruch, dass lediglich ein „Entweder-Oder“ als Ergebnis in Frage kommt. Entweder gewinnt der eine oder der andere. Entweder zu meinem Preis oder kein Geschäft. Entweder ein befristeter Arbeitsvertrag oder kein Job. Entweder mein Preis oder eine Abnahmegarantie. Letzteres wäre schon fast kreativ zu nennen. Wenn jede Seite stur auf ihrer Initial-Forderung beharrt, ist keine Begegnung möglich. Verhandlungsführer lassen viel Umsatz liegen, weil sie keine oder lediglich eine unzureichende Einigung zu Stande bringen. Als ob das nicht schlimm genug wäre, geht jeder auch noch enttäuscht aus der Verhandlung heraus und gibt prompt der anderen Seite die Schuld am „faulen Kompromiss“ oder beklagt ihre unrealistischen Vorstellungen. Starrsinnig seien die gewesen und zu keiner Einigung bereit. Was völlig fehlt ist die Einsicht, dass zu einem Streit wie auch zu einer Einigung immer mindestens zwei Parteien gehören und man ja auch selbst etwas zum besseren Ausgang hätte beitragen können.
Zielfixiert Henne Henriette hat Hunger. Aufgeregt gackernd läuft das Huhn hin und her auf der Suche nach etwas Essbarem. Doch da ist nichts. Nicht ein einziges Salatblatt und auch kein noch so kleines Maiskörnchen. Und so wächst das Hungergefühl im Magen und das Verlangen wird größer. Doch was ist das?! Das sieht aus wie ein Häufchen Körner.
Henriette hat eine Handvoll leckerer Körner entdeckt. Ihr Pech ist nur, dass diese direkt hinter einem Maschendrahtzaun liegen – sichtbar, aber unerreichbar. Fest den Blick auf die Körner gerichtet marschiert Henriette drei Schritte links, drei Schritte rechts am Zaun entlang und ist der Verzweiflung nahe.
Step 4
113
Sie versucht, durch das Zaungitter zu picken, streckt den Schnabel so weit es geht durch die Maschen. Es hilft nichts, sie kommt nicht dran. Und wieder: drei Schritte rechts, drei links, den Blick auf die Körner fixiert. Neuer Versuch, den Schnabel durch das Gitter. Erfolglos. Henriette pickt nach dem Draht. Und geht wieder auf Wanderschaft: Drei links, drei rechts …
Henriettes Pein war völlig unnötig, denn der Zaun war lediglich 1,5 Meter breit und an beiden Seiten offen. Sie hätte einfach außen herum laufen müssen, um an das Futter zu gelangen. Doch ihre eindimensionale Denkstruktur ermöglichte es ihr nicht, sich mental oder real von dem leckeren Körnerfutter zu entfernen, um einen anderen als den direkten Weg zu sehen. Zu beobachten ist, dass Menschen dazu neigen, sich wie unser Huhn zu verhalten. Sie bleiben auf ausgetretenen Pfaden. Sie beharren auf dem einmal Gelernten. Selbst wenn die Nachteile der bisherigen Vorgehensweise immer offensichtlicher werden, bewegen sich Menschen höchst ungern aus dem Kreis ihrer Gewohnheiten heraus. Eher wird das Ziel im Ergebnis angepasst, als der Weg dorthin verändert. Wenn der Traumwagen zu teuer kommt, wird eben auf die Lederausstattung und die Sitzheizung verzichtet. Genau die Extras hätten aber den Wagen zum Traumwagen gemacht. Gut, wenigstens kommt man so in den Besitz des Wagentyps, das ist ja auch schon etwas. In Gesprächen, bei denen eine Übereinkunft erzielt werden soll, verhält sich das ebenso. Trifft man auf Widerstände, Probleme und Interessenkonflikte, ist kaum jemand in der Lage, einen Schritt zur Seite zu machen und neue Ansätze zu finden. Zu stark ist die Anziehungskraft des Ziels, das man vor Augen hat. Der Plan ist, das Ziel auf möglichst direktem Weg zu erreichen. Das erscheint ökonomisch, weil schnell und kostengünstig. Dass auf dem Weg viel Energie in Positions- und Grabenkämpfe fließen wird, betrachtet man als unvermeidlich, obligatorisch und somit als legitim. Man ist zielfixiert und dadurch völlig unbeweglich. Was dabei herauskommt, ist nichts als ein Minussummenspiel.
1.1.2
Wahlfreiheit durch Optionen
Der Grundgedanke, der hinter der systematischen Suche nach Optionen steht, ist manchen Ansätzen der Psychologie ähnlich. Sie besagt: Je mehr Optionen, desto besser. Wer nur eine einzige Option hat, also ohne Handlungsalternativen ist und damit ohne Entscheidungsspielraum, der ist Sklave seiner Wahrnehmung, ein Opfer, ein Stück Treibholz, selbst wenn er die Position des Mächtigeren innehat. Das führt zu Panik oder irrational erscheinender Aggression oder Flucht. Eine Frau, die beim Anblick einer Maus nur die eine Option hat, auf den Tisch zu springen und laut zu schreien, ist Sklavin dieser vermeintlichen Alternativlosigkeit. Die Therapie gegen die „Mausophobie“ besteht ganz einfach darin, ihr weitere Optionen verfügbar zu machen.
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Methodisch Optionen entwickeln
Manche Menschen neigen in scheinbar ausweglosen Situationen zu der Annahme, es gäbe keine Optionen. Sehr häufig erleben wir das bei zerrütteten Partnerschaften. Dort wird der Partner vor die Entscheidung gestellt, die eine existierende Lösung zu akzeptieren oder es eben sein zu lassen. Sobald es ans Verteilen der ehemals gemeinsamen Güter und der Kinder geht, gibt es plötzlich in vielen Dingen lediglich eine einzige Position: „Ich bekomme das Haus, was du machst, ist mir egal.“ Oder: „Ich behalte die Kinder, du den Wagen.“ Auch im Geschäftsleben treffen wir immer wieder auf solche Situationen: „Ich musste den Vertrag unterschreiben, es blieb mir nichts anderes übrig“ und „Der Kunde wollte den ursprünglichen Preis nicht zahlen, also blieb mir nur, einen Nachlass zu gewähren.“ Pauschale Forderungen sind unrealistisch. Sie entsprechen in der Regel nicht den wirklichen Bedürfnissen, sondern sind unreflektierte Rundumschläge. Unrealistische Forderungen nehmen keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der anderen Seite, aber ebenso wenig entsprechen sie den eigenen. Keinesfalls wird hierbei einkalkuliert, welche Anliegen die andere Seite hat und ob sie überhaupt in der Lage ist, die Forderung zu erfüllen. Wenn wir aber versuchen, das der Position zu Grunde liegende Interesse zu verstehen, eröffnen sich mit einem Mal sehr viele Möglichkeiten. Warum besteht der Partner auf das Haus, die Kinder, den Rabatt usw.? Dies sind die entscheidenden Fragen, wenn es um die Entwicklung von Wahlmöglichkeiten geht. Ein Motiv könnte zum Beispiel darin bestehen, dass der Partner das Haus verkaufen will, um genügend Geld für einen Neuanfang zu haben. Bestünde er auf dieser Forderung, müsste er einen Teil des Verkaufserlöses in den unweigerlich kommenden Rechtsstreit investieren. Eine Lösung könnte sein, das Haus zu verkaufen und den Erlös zu teilen. Eine andere könnte darin bestehen, dass der eine Partner dem anderen das Haus überlässt, dafür von ihm einen Ausgleich in Form einer Miete für die eigene Wohnung erhält. Warum wollte der Kunde den verlangten Preis nicht zahlen? Möglicherweise hatte er ein zweites, billigeres Angebot. In diesem Fall hätte man eine Zusatzleistung anbieten können, die den Abschluss aufgewertet hätte. Vielleicht konnte der Kunde den gesamten Betrag nicht innerhalb der verlangten Frist aufbringen. Hier hätte man über einen Teilzahlungsmodus verhandeln können. Oder über ein anderes Zahlungsziel. Oder… Möglichkeiten gibt es immer! Man kommt niemals in eine Situation, wo man „keine Wahl“ hat. Wenn die Möglichkeiten nicht klar auf der Hand liegen, kann man sie erschaffen. Man muss sie nur finden wollen. Das gilt für alle Parteien. Will man zu einem für alle Seiten zufrieden stellenden Ergebnis kommen, verbietet es sich ganz einfach, auf nur einer Lösung zu bestehen. Man braucht immer einen Plan B und noch besser einen zusätzlichen Plan C … und D und E und … Sich schon während der Verhandlungsvorbereitung möglichst viele Optionen zu verschaffen, bietet drei starke Vorteile: Viele Wahlmöglichkeiten steigern beträchtlich den persönlichen Bewegungsspielraum bzw. auch die Verhandlungsmacht.
Step 4
115
Wenn Sie eine Fülle von Optionen haben, können Sie leichter die Führung in der Verhandlung übernehmen und behalten. Je mehr Optionen Sie vorstellen, desto wahrscheinlicher werden Sie ein Ergebnis bekommen, das Ihren Vorstellungen entspricht. Wer für sich selbst verschiedene Optionen verfügbar macht, verbessert damit indirekt auch den Entscheidungsspielraum seines Verhandlungspartners. Dieser kann dadurch zwischen mehreren angebotenen Optionen wählen, hat Entscheidungsvarianten bekommen. Er entspannt sich innerlich, denn er war eigentlich auf Druck und Härte eingestellt. Stark anzunehmen ist, dass er sehr dankbar, wohlwollend und insgesamt positiv auf die Fülle von Möglichkeiten reagiert.
1.1.3
Flexibilität
Meist gibt es keinen geraden Weg zum Verhandlungsergebnis. Außer, man diktiert es, was aber unserer Auffassung einer partnerschaftlichen Verhandlung widerspricht. So verschieden die Menschen und ihre Interessen sind, so verschieden sind auch die Wege zum Verhandlungsergebnis. Denkbar ist, dass man auf dem Weg nach vorne auch einmal einen Schritt seitwärts, ja sogar zurückgehen muss, will man eine elegante Lösung finden. Unterschiedliche Konstellationen von Interessen, Sachthemen, Personen und Ausgangslagen können nicht mit immer demselben „Straightforward-Prinzip“ behandelt werden. Das bedeutet, dass ständig neue Konzepte und Lösungen erarbeitet werden müssen, sofern man den Wunsch nach Wahlfreiheit unter mehreren Optionen haben will. Indem man bereits in der Vorbereitungszeit viele Optionen anlegt, verschafft man sich enorme Flexibilität für die Verhandlung selbst.
Abbildung 18: Auch andere als der direkte Weg führen zum Ziel
116
Methodisch Optionen entwickeln
Flexibilität in Verhandlungen erfordert von Ihnen zwei weitere Grundmuster, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen: Mut und Konsequenz. Erkennen Sie, dass Sie auf dem gewählten Weg nicht weiterkommen? Dann bringen Sie den Mut auf, eine andere Option zu wählen. Und zwar ohne zu zögern. Setzen Sie konsequent auf eine neue Lösung. Dabei vergeben Sie sich nichts, niemand wird Ihnen das verübeln. Im Gegenteil: Sie behalten durch Ihre Flexibilität weiter die Führung in der Verhandlung.
1.1.4
Kreativität
Jede Verhandlung ist individuell und neu. Die Konstellation der Verhandlungspartner beispielsweise. Es werden Dinge angesprochen, die vorher noch nicht angesprochen wurden. Es treten Probleme auf, die noch nie zuvor da waren, die aber dennoch optimal gelöst werden müssen. Neues Denken ist gefragt, alte Wege müssen verlassen werden. Und immer da, wo Neues gedacht werden soll, ist Kreativität gefragt. Welche Vorstellung haben Sie von Kreativität? Robert Anton Wilson ist ein US-amerikanischer Schriftsteller und Bestsellerautor („Illuminatus!“, „Operation Mindfuck“), Zeitgenosse und Wegbegleiter des brühmt-berüchtigten Timothy Leary. Zweifelsohne einer der kreativsten Köpfe der jüngsten Vergangenheit. Bei einem Kolloquium beschrieb er Kreativität folgendermaßen: „Wenn man eine große Sammlung kreativer Arbeiten durchgeht, Gemälde, Kammermusiken, Dichter ihre Gedichte deklamieren, Skulpturen, wenn Wissenschaftler ihre neuesten Theorien vorstellen, Philosophen ihre letzten Meditationen darlegen - und wenn dir alles einleuchtend vorkommt, dann kannst du sicher sein, es ist alles drittrangiger Quatsch. Aber wenn du irgendwo hinkommst und jeder kommt dir verrückt vor, wie Paris in den Zwanzigern, mit Joyce und Pound und Gertrude Stein und Picasso und Brancusi und so weiter, wo sie alle verrückt zu sein schienen und alle zusammen etwas zu machen schienen, was keinen Sinn ergab, - Kreativität lag in der Luft! Denn Kreativität ist die ‚Verbindung von Ungewohntem’ und die Verbindung des Ungewohnten ist ‚Negative Entropie’4.“ Der Begriff selbst bedeutet Schöpferkraft. Der Kreator ist derjenige, der nie zuvor Dagewesenes erschafft und ins Leben ruft. Das heißt, kreatives Denken beschäftigt sich nie mit Vergangenem und Bekanntem. Es richtet sich immer in eine unbekannte Zukunft. Unendlich viele Möglichkeiten stehen offen. Ob diese zu sinnvollen oder realisierbaren Ergebnissen führen, spielt dabei keine Rolle. Das beste Beispiel für Kreativität liefert uns – nomen est omen – die Schöpfung selbst. Welch unglaubliche Artenvielfalt es auf unserem Planeten bereits gab! Flugsaurier deren Arme und Beine als Flügel dienten. 30 Meter lange Kolosse, zehn Mal schwerer als ein Elefant, aber mit einem Gehirn von der Größe eines Katzenhirns. Und demgegenüber eine Spezies, phy4 Entropie: Maß für den Grad der Ungewissheit über den Ausgang eines Versuchs. Wilson meint hier, dass das
Ergebnis eines Kreativprozesses umso unvorhersehbarer wird, je mehr Unbekannte Komponenten kreativ miteinander verbunden werden.
Step 4
117
sisch nicht besonders tauglich, dafür aber mit einem Verstand ausgestattet, der alles in den Schatten stellt. Man könnte den Eindruck bekommen, die Natur sei die Kreativ-Spielwiese, auf der Prototypen auf Lebenstauglichkeit geprüft werden, nach dem Versuch-und-IrrtumPrinzip. Kreativität ist der Motor des Lebens, der Gesellschaft, der Entwicklung. Kreative Köpfe erfinden technischen Fortschritt, finden Lösungen, schreiben Lieder und Texte, schaffen Kunstwerke und allen ist eines gemein: Sie finden Neues! Ohne Kreativität gäbe es keine Museen, in denen wir Kunstwerke bewundern. Es hätte keine Mondlandung gegeben, ja vielleicht wäre Amerika gar nicht erst entdeckt worden. Und (Achtung, Ironie:) das Schlimmste: Viagra wäre ohne Kreativität bestimmungsgemäß nur ein Herzmittel. Kreativität schöpft aus dem Vollen. Sie bedient sich ungewohnter, ungedachter und unglaublicher Aspekte. Daher sind ihre Möglichkeiten unendlich. Alles kann gedacht und miteinander verknüpft werden. Dazu benötigt sie die Freiheit, sich in alle Richtungen entwickeln zu können. Wie ein Schiff auf hoher See, wo kein Ufer in Sicht ist, kann sie (die Kreativität) in jede Richtung gehen und Erstaunliches zu Tage bringen. Kreativität übt Faszination aus – das haben Sie beim Lesen des Textes verspürt. Kreativität schafft Meisterwerke und macht Menschen zu Genies. Von uns wird wohl keiner die Mona Lisa, den Wankelmotor oder die DNS-Strukturen (neu) erfinden. Die Evolution hat dazu geführt, dass unterschiedliche Begabungen und Talente sich in komplexen Gesellschaften gegenseitig befruchten. Das heißt ganz konkret: Nutzen Sie die Chance, an der Kreativität anderer teilzunehmen und addieren Sie Ihren persönlichen Beitrag. Hierbei helfen drei Grundannahmen: 1. Neugierde schafft Kreativität Artur Fischer ärgerte sich, dass Bilder von der Wand herab fallen können. So erfand er den Fischer-Dübel. Mittlerweile haben er und seine Firma rund 5000 Patente angemeldet. Ein Beispiel für die Weiterentwicklung der ursprünglichen kreativen Idee. 2. Lesen verhindert Dummheit Die ständige Beschäftigung mit Neuem in unserer Umgebung, der Erwerb von Kenntnissen und die gedankliche Vernetzung von allem Erlernten schafft die Grundlage für Kreativität. 3. Bestehendes neu kombinieren Neues muss nicht von Grund auf neu sein. Die Kunst liegt häufig darin, Bestehendes innovativ zu verbinden, ähnlich wie Robert Anton Wilson das in seiner Ansprache zum Thema Entropie sagte. Kreativ ist ein Ergebnis, wenn es gut und neu ist. Im Automobilbau zählte das ABS (Antiblockiersystem) zu den maßgeblichen Erfindungen für die Fahrzeugsicherheit. Das EBS (Elektronisches Bremssystem) knüpfte an diese Erfindung an und bedeutete eine Weiterentwicklung. Der Nutzen des ABS wurde auf ähnlicher Technologie-Basis um den ESP-Nutzen (sicheres Fahren in Grenzsituationen) ergänzt.
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1.1.5
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
Vernunft tötet Kreativität
Das größte Verhängnis, das der Kreativität in die Quere kommen kann, ist die Vernunft. „Das klappt doch niemals“ oder „In die Richtung brauchen wir gar nicht weiter zu denken“ sind Sätze, die das Entwickeln einer originellen Lösung im Keim ersticken. Vernunft ist jedoch der Kreativität abträglich. Darum muss man sich beim Brainstorming von Ordnungsgedanken befreien. Kreativität braucht Risikobereitschaft. Wenn Sie sich kreativ an die Entwicklung möglicher Optionen machen, dann stellen Sie sich vor, dass Sie das Spielfeld finden wollen, auf dem die Verhandlung ausgetragen wird. In dieser Phase darüber zu entscheiden, ob das Spielfeld rund, eckig oval oder trapezförmig angelegt wird, ist nicht sinnvoll. Denn es geht zunächst lediglich um die Fläche, um die Ausdehnung. Ebenso wenig sollten Sie hier das Aussehen der Spielgeräte festlegen. Suchen Sie keine Regeln und Reglementierungen, denn das würde die Vielfalt an Ideen einschränken. Für Ideen darf es keine Zulassungsbeschränkungen wie etwa im Sport geben. Im Gegenteil, Ideen liegen auf unbekanntem Gebiet, dort, wo man bisher noch nie „hingedacht“ hat. Auf Bewährtes zurückgreifen ist nicht kreativ. Anschauliche Beispiele hierfür liefert uns die Filmindustrie mit ihren unsäglichen Fortsetzungen erfolgreicher Filme. In fast allen Fällen kann der Nachfolger in Sachen Originalität dem ersten Teil nicht das Wasser reichen. Später im Praxisteil werden wir uns damit eingehend beschäftigen. Dort stellen wir auch einige Werkzeuge für Ihre Kreativität vor.
2.
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
Trotz aller Gegensätze fanden wir in Step 3 gemeinsame Interessen auch bei den beiden Exilanten. Zum einen die Suche nach dem „Paradies“ mit Ruhe und Entspannung, zum anderen die Absicherung des Erreichten für die Zukunft. Möglichkeiten der Annäherung sind auf den ersten Blick nicht zu entdecken. Beide reklamieren das Recht auf ihrer Seite. Der Konflikt schaukelt sich nach und nach zu einer mittleren Katastrophe auf und veranlasst Franz K. zunächst, über sehr destruktive Optionen nachzudenken. Seine negativen Emotionen sind einfach zu überwältigend, als dass er sie von Beginn an ausblenden könnte. Er überlegt, was er tun könne.
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
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Destruktive Optionen von Franz K.: Abriss der in die Garage eingezogenen Mauer und Wiederaufbau auf der tatsächlichen Grundstücksgrenze Abriss des Anbaus und Versetzen des Anbaus auf die im Vorvertrag vereinbarte Position, diesmal allerdings ausgehend von der realen Grundstücksgrenze Abbruch der Gespräche Gerichtsverhandlung Diffamierung Herabwürdigung der Person Otto F’s. Selbstverständlich findet Franz K. mit einigem Nachdenken auch Optionen, die den Graben zwischen den Nachbarn nicht vertiefen würden: Konstruktive Optionen von Franz K.:
Duldung der Mauer in der Garage Duldung der versetzten Grenzmarkierungen Duldung des Grillplatzes Legalisierung der von Otto F. geschaffenen Tatsachen keine Rufschädigung.
Sicherlich war es nicht leicht, im Familienkreis ein objektives und sachliches Brainstorming abzuhalten. Welche Möglichkeiten hätte es geben können, diesen Konflikt zu entschärfen oder aus der Welt zu schaffen? Die Einzelinteressen von Otto F. gaben einiges her, was zum Entwickeln von Angeboten geeignet war. Zum Beispiel hätte Otto F. nur äußerst ungern auf seinen guten Ruf in der Gemeinde verzichtet. Ausführlich konnten Sie bereits im dritten Step darüber lesen. Auch Otto F. denkt darüber nach, welche Möglichkeiten er hat und welche er als Friedensangebot oder als Druckmittel nutzen könnte. Seine negative Seite würde sich in etwa dahingehend äußern: Destruktive Optionen von Otto F.:
Bäume wachsen lassen alle Vereinbarungen platzen lassen Diffamierung Weitere Maßnahmen durchführen, die Franz K. ärgern würden Abbruch der Gespräche.
Die positive Seite Otto F.’s würde sich vielmehr dahingehend bewegen: Konstruktive Optionen von Otto F.:
verhandlungsbereit bleiben abwarten als konstruktive Pause keinen zusätzlichen Druck mehr ausüben seiner eigenen Einschätzungen vertrauen, nicht der seines Familienrates
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Step 4
Franz K. sondierte Otto F.s Verhandlungsbereitschaft: „Nehmen wir einmal an, es gäbe Wege dahingehend, dass die unter dubiosen Umständen errichteten Dinge stehen bleiben könnten, wärest du dann zu einer Verhandlung bereit?“ Worauf Otto F. sehr überrascht reagierte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es eine Annäherung geben könnte. Bereit zu verhandeln, willigt er ein.
Rückblick Es beginnt ein Ideenfindungsprozess, der die einst streitbaren Nachbarn dazu bringt, verschiedene Lösungsmöglichkeiten im Sinne konstruktiver Optionen zu erwägen und miteinander zu kombinieren. Schließlich steht folgendes Ergebnis fest: Franz K. bietet an, dass Otto F.´s „illegale“ Baumaßnahmen bestehen bleiben können. Voraussetzung sei allerdings: Die Seesicht gilt nicht nur für Franz K. und seine Familie als Eigentümer der entsprechenden Liegenschaft, sondern wird als Dienstbarkeit notariell eingetragen. Das bedeutet, dass alle jetzigen und künftigen Besitzer des Grundstückes von Otto F. allen jetzigen und künftigen Besitzern der Liegenschaft von Franz K. die uneingeschränkte Seesicht gewährleisten müssen. Ferner wird vereinbart, dass diese notarielle Eintragung unverzüglich zu erfolgen hat und die daraus entstehenden Kosten von beiden Parteien je zur Hälfte getragen werden.
Franz bietet schließlich eine Lösung an, bei der Otto F. sein Gesicht in der Gemeinde nicht verliert und auf lange Sicht seine Baumaßnahmen legalisiert sieht. Franz K. profitiert dahingehend, dass auch er seine Investition und seinen Alterssitz absichert, darüber hinaus ein Abkommen erzielt, das ihm und allen nachfolgenden Generationen einen unverbauten Seeblick garantiert. Der Preis dafür sind rund acht Quadratmeter nutzlosen Grundstücks. Die Kreativleistung Franz K.s liegt nicht allein in der Entwicklung von Optionen für die anstehenden Verhandlung mit Otto F. Vielmehr schafft er ein neues Spielfeld, einen neutralen Ort der Begegnung: Er gründet einen dörflichen Chor, wo er die sich gegenüber stehenden Lager zum gemeinsamen Singen zusammenbringt. Diese Aktion liegt weit außerhalb des Problemkreises, hat aber enorme Wirkung auf den Komplex. Denn es macht den Menschen bewusst, dass die höherwertigen Interessen gemeinsame sind.
3.
Umsetzung in die Praxis
Um sich auf einer möglichst breiten Basis aufzustellen, müssen Sie kreativ an die Erfindung mehrerer realistischer Optionen gehen. Wer nämlich nur eine Option hat, steht unter Zwang,
Umsetzung in die Praxis
121
fühlt sich eingeengt und sucht nach Auswegen, die nicht vorhanden sind. Zwei Optionen bedeuten ein Dilemma, ab drei Optionen beginnt die Wahlfreiheit. Mindestens drei Optionen zu haben bedeutet, auf einer Stufe der inneren Freiheit zu stehen. Das ist wichtig, um in einer Verhandlung Stärke und Rückhalt zu besitzen. Je mehr Optionen Sie haben, desto mehr Erfolg werden Sie haben. Wie beim Lotto. Und je größer die Auswahl, je mehr Kästchen oder Zahlen Sie ankreuzen, desto eher ist ein Treffer dabei. Nicht anders sind die Wahlmöglichkeiten, die Optionen einer Verhandlung, zu sehen. Allein für sich selbst werden Sie schon ein paar Möglichkeiten in Betracht ziehen, mit denen Sie guten Gewissens abschließen würden. Könner bieten darüber hinaus dem Gegenüber einige für beide Seiten vorteilhafte Optionen an. Probleme bereitet oftmals allein das Erarbeiten der Vorschläge.
3.1
Kreativität ist Trumpf
Wenn der Name eines Gebäudes die Bewohner an einen unbeliebten Umstand im Zusammenhang mit seiner Errichtung erinnert, muss es nicht gleich abgerissen werden. Eine kreative Option wäre zum Beispiel, es umzubenennen. Kreativ war auch der Erfinder der Methode, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, was zunächst nicht als die nahe liegendste Lösung erscheint. Ideenreichtum ist meist dann gefordert, wenn die Not Einzug hält und altes Procedere nicht mehr geeignet ist. Kreativität muss zum Beispiel den Mangel an Geld ausgleichen.
Beispiel Aus der Haushaltsrede des FDP-Regionalfraktionsvorsitzenden Jürgen Hofer zum Stuttgarter Regionalhaushalt 2005: „… Aber gibt sie (die Stadt Stuttgart, d. A.) denn Gas, während andere bremsen müssen? Hat sie einen größeren finanziellen Spielraum? Mitnichten! Also bleibt die Frage: Was können wir tun? Wir können eine neue Kreativität an den Tag legen. Nicht einfach in die Kasse greifen, sondern nachdenken und Wege entwickeln, Politik zu machen, ohne zusätzliches Geld zu verbrauchen ...“
Was in Notzeiten gefordert wird, kann in den täglichen Situationen nicht falsch sein. Sehen Sie die Kreativität als Ihr Handwerkszeug. Die Situationen, Eckdaten und Bedingungen mögen jedes Mal unterschiedlich sein, Ihr Tool, die Kreativität, bleibt dasselbe. Sie müssen es lediglich mit den neuen Daten bestücken und in Betrieb nehmen. Nun ist Kreativität aber nicht jedermanns und jederfraus Ding. Es braucht Zeit, ist mühsam, aufwändig und der Nutzen wird nicht sofort offensichtlich, so lautet das Klischee. Fakt ist, dass sehr viele Menschen sich Kreativität ganz einfach nicht zutrauen und von daher meiden
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Step 4
wie den Teufel. Viele sind sogar davon überzeugt, selbst völlig fantasielos zu sein. Das kommt daher, dass kreatives Denken so gut wie nie gefördert oder trainiert wird. Kreatives Denken hat nichts mit Intelligenz zu tun. Es ist jedem von uns gegeben, muss allerdings trainiert werden, so wie ein Sportler seine Muskulatur für Höchstleistungen trainiert. Wir alle besitzen kreatives Potenzial. Doch die wenigsten von uns wissen es intensiv einzusetzen und zu ihrem Vorteil zu nutzen.
3.2
Kreativitätstechniken
3.2.1
Mind Mapping
Wir möchten an dieser Stelle nicht allzu tief in das Thema Kreativitätstechniken eintauchen. Es gibt davon recht viele, und die werden ausreichend in entsprechenden Publikationen beschrieben. Zumindest erwähnen sollten wir einige Techniken, zum Beispiel das Mind Mapping. Die von Tony Buzan in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Methode verknüpft das Denken der beiden Hirnhälften, die bekanntlich jeweils für die rationale bzw. für die assoziative Informationsverarbeitung zuständig sind. Normalerweise vernachlässigen wir unsere intuitive Hemisphäre im Vergleich zur analytischen, doch im Zusammenspiel der beiden Hirnhälften liegt großes Potenzial.
Abbildung 19: Schema des Mind Mappings Mind Mapping ist – obwohl bereits über 30 Jahre alt – noch immer eine anerkannte und hilfreiche Methode, die eigene Kreativität auf Trab zu bringen, Ziele zu konkretisieren und komplexe Zusammenhänge überschaubar ganzheitlich darzustellen, indem man sein zentrales
Umsetzung in die Praxis
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Anliegen genauso zentral auf einem Papier platziert und von dort aus Verbindungslinien zu den Nebenaspekten zieht. Man schreitet dabei vom Abstrakten in der Mitte zum Konkreten in die Verästelungen fort. Wie funktioniert das in der Praxis? Eine einfache Übung zur Veranschaulichung:
Übung Nehmen Sie ein Blatt Papier und legen es quer vor sich auf den Tisch. Quer, weil es zum einen den Raum bzw. die Fläche optisch öffnet für mehr Kreativität. Hochformat würde automatisch den angelernten Zwang des Links-nach-rechts-Schreibens auslösen. Beim Hochformat wird der Blick magnetisch von der linken oberen Ecke angezogen. Zum anderen wirkt das Querformat sofort als Stimulanz für die Intuition.
GLÜCK
Abbildung 20: Übung Anschließend schreiben Sie mit großen Buchstaben beispielsweise das Wort Glück in die Mitte. Nun liegt es an Ihnen, rund um das Wort Glück alles aufzuschreiben, was Ihrer Meinung nach mit Glück zu tun hat. Verbinden Sie Schlüsselbegriffe mit dem Zentrum. Zu jedem Schlüsselbegriff finden Sie weitere Details, die Sie wiederum mit ihm verbinden. So entsteht nach und nach ein Abbild Ihrer Vorstellung von dem, was Ihrer Meinung nach zum persönlichen Glück dazugehört. Gehen Sie dabei vom Abstrakten immer mehr ins Konkrete. Es entsteht ein Bild, das Stichworte zueinander in Beziehung setzt. Ganz nebenbei stoßen Sie so auf etwaige Probleme, deren Lösungen und verbleibende Aufgaben. Das Ganze könnte etwa so aussehen:
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Step 4
Abbildung 21: Mind Map „Glück“
Eine Mind Map ist wie die Landkarte Ihrer Assoziation. Das Wichtige dabei ist, dass Sie die Begriffe ungefiltert heraus lassen. Es gibt bei dieser Methode kein „Falsch“ oder „Richtig“ der Anordnung. Entspannen Sie sich und lassen sich auf dem Strom der Gedanken treiben. Wo, d.h. bei welchen Begriffen Sie ankommen werden, ist nicht wichtig. Seien Sie kritik- und anspruchslos. Ihre Mind Map muss keinen künstlerischen Wert haben. Wenn Sie zu hohe Ansprüche erfüllen wollen, behindern Sie sich damit selbst. Es geht auch nicht darum, dass jemand aus Ihrer Zeichnung schlau werden muss. Sie dient lediglich als Ihr persönliches Hilfsmittel zur Strukturierung Ihrer Gedanken. Ihre nächste selbst erstellte Mind Map könnte nun die zu Ihrer bevorstehenden Verhandlung sein. Schreiben Sie das Thema, beispielsweise „Akquisition von…“ oder „Kooperation mit…“ in die Mitte und gruppieren alles außen herum, was Ihnen dazu einfällt. Sie können für den Anfang auch Abbildung 22 als Ausgangsbasis nehmen. Tipps: Papier im Querformat, ohne Linien oder Karos. Das zentrale Thema ins Zentrum. Schlüsselworte an waagrechten Linien, je eins pro Linie. Vom Abstrakten nach außen ins Konkrete, vom Allgemeinen ins Spezielle. Tauchen unvereinbare Begriffe auf: Thema überdenken, neu beginnen.
Umsetzung in die Praxis
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Abbildung 22: Beispiel Mind Map "POD" Der Vorteil des Mind Mappings liegt unter anderem darin, dass Sie hiermit all Ihre mentalen Qualitäten verknüpfen und aktivieren. Das führt zu völlig anderen Ergebnissen als mit reinem „Nachdenken“ oder „Notizen machen“ möglich wäre. Zudem liegen die Ergebnisse in kurzer Zeit vor, denn eine Mind Map braucht außer ein paar Stiften und einem Blatt Papier keine besonderen Hilfsmittel. Es kann jederzeit an jedem Ort durchgeführt und auf jede Lebenssituation angewendet werden. Ganz wichtig ist: Machen Sie sich auch zu Ihren Verhandlungspartnern eine Mind Map zu deren wesentlichen Interessen, Motiven und Optionen. Diese kreative Form der Einschätzung hilft Ihnen ganz entscheidend, Ihren Gesprächspartner zu verstehen.
3.2.2
Clustering
Möglicherweise ist Clustering in der Phase der Ideenfindung noch effektiver als das Mind Mapping. Von der Durchführung her ähnlich wie das Mind Mapping sucht das Clustering noch weniger reglementiert nach Assoziationen. Es steht dem „Freien Assoziieren“ näher und verwendet in der Durchführung weniger Schreib- oder Zeichenvorschriften. Hauptelemente des Clusterns sind vielmehr Begriffe, die aus der emotionalen Welt stammen. Clustering ist dann ein Fließen von einer Assoziation zur nächsten. Daher wird beim Clustering die intuitive Hirnhälfte in stärkerem Maße eingesetzt, während das Mind Mapping die Stärken beider Hälften zu kombinieren sucht.
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Step 4
Beim Clustering setzen Sie einen Begriff in die Mitte des Blattes, umrahmen ihn und assoziieren spontan weitere Begriffe hinzu. Diese werden ebenfalls umrahmt und mit Linien verkettet.
Glück Verantwortung Liebe
Freude
Meine Familie
Verpflichtung
Haus Geld
Abbildung 23: Clustering
3.2.3
Brainstorming
Ein Brainstorming findet gegenüber dem Mind Mapping und dem Clustering am besten im Kreis von Mitarbeitern oder Freunden statt. Gesucht werden so viele Ideen wie möglich, die einer Problemlösung bzw. der Erarbeitung von Optionen dienen können. Und wirklich steht auch hier lediglich die Ansammlung von Gedanken auf dem Plan, nicht deren Bewertung und Sortierung. Daher muss vor Beginn des Brainstormings ganz deutlich verkündet werden, dass jeder der Teilnehmer die Freiheit hat, selbst die unwahrscheinlichsten Dinge zu äußern. Kritik an den Vorschlägen ist verboten. Niemand soll aus Angst vor Verspottungen seine Gedanken zurückhalten. Das ist gar nicht so einfach wie es sich liest. Zu sehr sind wir normalerweise auf Vernunft eingestellt. Nonsens zuzulassen, noch dazu in geschäftsmäßigem Umfeld, steht selten bis nie auf der Tagesordnung. Daher sollten Sie folgende Regeln beherzigen: 1. Moderator bestimmen 2. Kreative Umgebung schaffen 3. Keine Kritik an den Vorschlägen, nicht diskutieren 4. Über die nahe liegende Lösung hinaus denken 5. Ideen produzieren, keine fertigen Konzepte 6. Auch „verrückte“ Gedanken weiterspinnen 7. Aussichtsreiche Ideen weiterentwickeln
Umsetzung in die Praxis
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Beim Brainstorming ist es sehr hilfreich für die Teilnehmer, dass Fragen gestellt werden, um den Denkprozess in eine Richtung zu lenken. Möglich wäre z.B.
„Welche Zugeständnisse erwarten wir von der anderen Seite?“ „Was könnte die andere Seite von uns wollen?“ „Was möchten wir der anderen Seite anbieten?“ „Was können wir im Gegenzug real leisten?“ „Wenn wir eine Forderung erfüllen, was können wir als Ausgleich fordern?“
3.2.4
Rollenspiele
Wer sich lange mit einem Thema beschäftigt, kennt das: Irgendwann fühlt man sich so verheiratet mit der Materie, dass einem sowohl die Objektivität als auch die Flexibilität abgeht. Möglicherweise bemerkt derjenige nicht einmal, wie sehr er auf einem Gleis eingefahren ist, und so wird er immer wieder an einem vertrauten Muster festhalten. Sollten Sie selbst in eine solche „Mühle“ geraten, versetzen Sie sich in die Sichtweise verschiedener Experten, die sich unterschiedlich, je nach ihrer Fachrichtung zum Thema äußern. Auf unser Beispiel des Grenzkonflikts bezogen könnte man diesen von einem Bürgermeister, einem Grenzvermesser, einem Nachbarn, einem Anwalt, einem Immobilienmakler und einem Psychologen betrachten lassen. Klar ist, dass diese Experten wirklich etwas zur Diskussion beitragen können müssen. Sie können sich überlegen, welche Argumente und Vorschläge jeder Experte aus seiner Sicht vorbringen würde. Sie können natürlich versuchen, diese Rollen selbst zu spielen. Diese Methode ist verwandt mit der „6-Thinking-Hats“-Methode (Denkhüte) des Psychologen und Autors Edward de Bono. Die einzelnen Hüte stehen für weiß: analytisches Denken rot: emotionales Denken, Empfinden schwarz: kritisches Denken gelb: optimistisches Denken grün: kreatives, assoziatives Denken blau: ordnendes, moderierendes Denken In einer Gruppendiskussion wird den Teilnehmern entsprechend der Art und Weise, in der sie denken sollen, ein Hut oder ein anderes Zeichen in der zugehörigen Farbe gegeben. Anschließend muss sich jeder seiner Denkweise entsprechend zum Thema äußern.
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3.2.5
Step 4
Die Walt-Disney-Methode
Diese Methode sorgt ebenfalls für Optionen aus verschiedenen Richtungen. Ähnlich der 6Hüte-Methode verwendete der Erfinder der beliebten und berühmten Comic-Figuren dieses System, um die Kreativität seiner Angestellten zu kanalisieren. Die Teilnehmer der Diskussion müssen dabei drei verschiedene Haltungen einnehmen, die des Träumers, des Realisten und die des Kritikers. Der Träumer darf damit beginnen, optimale Szenarien zu entwickeln und zu äußern. Der Realist macht daraufhin Vorschläge zur Umsetzung unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen. Der Kritiker überlegt schließlich Verbesserungen oder Schwächen der Optionen.
3.3
Sondieren der Optionen
3.3.1
Ideenfindung und Bewertung trennen
Wenn Menschen Ideen entwickeln, geschieht das zumeist so: Man setzt sich an den Schreibtisch und denkt angestrengt nach. Gedanken tauchen auf. Dann greift das MuschelsuchPrinzip. Die Einfälle werden betrachtet wie Muschelschalen am Strand, nämlich oberflächlich, aber mit einer relativ klaren Vorstellung davon, wie eine besonders schöne Muschelschale auszusehen hat. Nur die schönsten werden in die Hand genommen und genauer inspiziert. Die wenigsten finden den Weg in die Tasche. Die meisten bleiben einfach auf dem Boden liegen, weil sie schon auf den ersten Blick den Bewertungskriterien nicht entsprechen. Sie werden nicht einmal umgedreht, sondern achtlos liegen gelassen. Schließlich geht es ja nicht um Menge, sondern Schönheit. Ob unter einer der hässlichen Schalen vielleicht sogar eine Perle liegt, bleibt unentdeckt. Wenn wir schließlich meinen, eine besonders gut für unsere Dekorationszwecke geeignete Muschel gefunden zu haben, wird die Suche schnell beendet. Dasselbe geschieht mit Ideen und Gedanken, unseren Lösungsideen. Die meisten werden nach kurzer, oberflächlicher Betrachtung verworfen, weil sie zu kompliziert, zu teuer, zu gewagt oder schlicht unpassend erscheinen. So etwas passt nicht ins vorgefertigte Suchmuster. Schließlich will man ja nicht irgendeine Idee finden, sondern den „großen Wurf“, den Vorschlag, dem sich niemand entziehen kann. Nur, wie der große Wurf genau auszusehen hat, weiß auch niemand so genau. So läuft man Gefahr, einerseits sehr viele Ideen zu verwerfen, andererseits zu früh zu sagen: „Das reicht aus.“
Umsetzung in die Praxis
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Abbildung 24: Ideen verwerfen verboten! Durch die vorschnelle Beurteilung von Ideen steht man sich selbst im Weg. Beim Entwickeln von Optionen kommt es zunächst nicht darauf an, ob eine Option sinnvoll ist, vielmehr besteht der erste Schritt im kritiklosen Sammeln von Ideen. Das Bewerten erfolgt erst in einem späteren Schritt. Wer von vorneherein auf der Suche nach dem ultimativen, dem optimalen Plan ist, der wird viele ausbaufähige Einfälle verwerfen, ohne deren Potenzial erkannt zu haben. Und wer meint, den optimalen Plan bereits gefunden zu haben, sollte trotzdem weiter nachdenken, solange das Meeting eben angesetzt ist. Überlegen Sie also zuerst die möglichen Lösungen und entscheiden Sie später.
3.3.2
Das Wort „Wenn“
„Wenn“ ist ein entscheidendes Wort im Kreativprozess, beim Auswerten der Lösungen und ganz besonders während der Gespräche. Es eröffnet immer eine bisher ungesagte Möglichkeit. Ein „Wenn“ will eine Möglichkeit zeigen, unter Verwendung von Lösungsmöglichkeiten und Optionen. Beispiel: „Wenn Sie großzügigere Lieferfristen setzen, sind wir bereit mit dem Preis runterzugehen.“ Oder: „Wenn wir für die Umsetzung sorgen, wären Sie dann bereit, die Logistik zu übernehmen?“ Oder: „Was wäre, wenn wir unsere Gewährleistung um sechs Monate verlängern?“
130
3.3.3
Step 4
Gemeinsame Interessen finden
Sie müssen Optionen finden, die beiden Seiten Vorteile bringen. Das können Sie aber nicht, wenn Sie nicht wissen, worauf die andere Seite hinaus will. Es ist entscheidend, die Interessen- und Motivlage der anderen Seite zu ergründen, wie wir es in Kapitel 3 beschrieben haben. Meist drehen sich Verhandlungen um Gegensätzliches. Der Verkäufer verlangt seinen Preis, den der Käufer zu reduzieren versucht. Auf den ersten Blick finden wir oftmals keine Gemeinsamkeiten. Doch es gibt sie, wenn man nur sucht. Denn auch wenn der Verhandlungsgegenstand offenbar keine Annäherung zulässt, existieren auf anderer Ebene in sehr vielen Fällen gemeinsame Interessen. Warum sollte man danach suchen? Wenn mit einem Verhandlungsergebnis gemeinsame Interessen beider Partner befriedigt werden, d.h. wenn eine Option die Interessen beider berücksichtigt, ist man eher geneigt, auch einmal einen suboptimalen Kompromiss einzugehen. Es erleichtert die Verhandlungslösung, wenn man sagen kann „Es ist zwar nicht das bestmögliche Ergebnis herausgekommen, aber im Hinblick auf eine gute Partnerschaft nehme ich das in Kauf.“ So könnte der KFZ-Händler einen großzügigen Nachlass geben, wenn er weiß, dass der Kunde künftig zu allen Inspektionen in seine Werkstatt kommt. Würde sich einer von beiden jedoch über den Tisch gezogen fühlen, käme es sicher zu keinem weiteren Geschäft mehr. Im Bereich der Werbeagenturen ist es zum Beispiel gang und gäbe, dass Externe ihre Forderungen an das Gesamtbudget anpassen, welches die Agentur von ihrem Kunden zur Verfügung hat. Das ist mal weniger, mal mehr. Externe wie auch die federführende Agentur profitieren letztlich beide davon, wenn die Honorarvereinbarung nicht starr nach Zeitpauschale gehandhabt wird. Gemeinsame Interessen zu betonen, weist den Weg in eine gemeinsame Zukunft. Man signalisiert, dass man an einem Fortbestehen der Beziehung interessiert ist. Dieser Umstand kann sehr dazu beitragen, dass die Verhandlung einen wohlwollenden Grundtenor bekommt.
3.3.4
Und wenn die Interessen völlig konträr liegen?
Wie erwähnt, liegen die Interessen in der Regel weit auseinander und erscheinen oftmals unvereinbar. Doch bei eingehender Betrachtung findet sich häufig doch eine Möglichkeit, und zwar nach folgendem Muster: Sie: „Ich muss jetzt los. Bin schon spät dran.“ Er: „Wie? Du hast doch gesagt, dass ich den Wagen haben kann. Ich habe einen Termin. Hast du das vergessen? Sie: „Tut mir leid, das habe ich in der Tat vergessen. Aber es geht nicht anders, mein Termin ist sehr wichtig…ich brauche das Auto und muss los.“
Umsetzung in die Praxis
131
Jetzt, wo die Fakten auf dem Tisch liegen, scheint eine Einigung lediglich dahingehend möglich, dass „Er“ nachgibt, denn „Sie“ benötigt den Wagen. Also müsste „Er“ auf seinen Termin verzichten. Auf ein Taxi zu warten – dafür reicht die Zeit nicht mehr. Die Krise scheint vorprogrammiert. Doch dann… Er: „Wo ist denn dein Termin?“ Sie: „In der Kreutzergasse, warum?“ Er: „Na prima! Dann fahre ich dich mit dem Wagen zu deinem Termin, fahre dann weiter zu meinem und hole dich anschließend wieder ab.“ Sie: „Okay, abgemacht.“ Zugegeben, nicht immer liegt eine Lösung derart nahe. Sie sehen aber an diesem einfachen Beispiel, dass man durchaus eine Lösung finden kann, wenn auch die Absichten zunächst völlig unvereinbar scheinen. Mit ein wenig gutem Willen für eine befriedigende Lösung finden sich auch bei scheinbar unüberbrückbaren Distanzen Wege zur Übereinkunft.
3.4
Bestandsaufnahme
Als Ergebnis des Brainstormings oder des Mind Mappings haben Sie einige Möglichkeiten identifiziert, die als ernsthafte Vorschläge in Frage kommen. Machen Sie eine Bestandsaufnahme. Welche Optionen liegen überhaupt vor? Welche Optionen stehen Ihnen, welche der anderen Seite zur Verfügung? Sie werden bemerken, dass nicht alle gefundenen Optionen von gleicher Qualität sind. Schon der erste Eindruck gibt uns ein Gefühl für die realistischen, akzeptablen Lösungen, aber auch für die Lösungen, denen sicherlich niemand freiwillig zustimmen wird. Wir unterscheiden demnach konstruktive Optionen Konstruktive Optionen erleichtern allen Beteiligten einen guten Ausgang der Gespräche. Sie weisen in eine Zukunft, die Vorteile für alle Seiten bereithält. Selbstverständlich wird es Unterschiede in der Reichweite oder dem Wirkungsgrad der Möglichkeiten geben. So könnte man beispielsweise vorschlagen, sich auf Teilaspekte final zu einigen und die restlichen, schwierigen Fragen zu einem anderen Zeitpunkt weiter zu erörtern. Auch wäre zumindest eine prinzipielle Einigung dort denkbar, wo man in der Sache noch Verhandlungsbedarf sieht. Es geht dabei immer um die Frage, welche Benefits es für den Einzelnen bringt, wenn beiderseitige Interessen befriedigt werden. Dies ist abzuwägen. und destruktive Optionen Destruktive Optionen würde man sich für den Fall bereitlegen, dass die Gespräche in eine ungünstige Richtung tendieren oder gar in einer Sackgasse angelangt sind. Um wieder Bewegung hineinzubringen, könnte man beispielsweise mit dem Abbruch der Gespräche
132
Step 4
drohen oder den angebotenen Konsens zeitlich befristet zur Wahl zu stellen. Einzelne Passagen aus Verträgen herauszunehmen wäre eine weitere Möglichkeit. Wenn keine Einigung in Sicht ist, muss jedem Verhandlungsteilnehmer klar sein, dass Konsequenzen folgen. Die meisten Menschen scheuen vor destruktiven Optionen zurück. Eigentlich möchte das niemand, weil dann sicher ist, dass man sich Feinde schafft. Es besteht eine kulturell begründete Hemmschwelle vor ultimativen, destruktiven Positionierungen in Verhandlungen. Lässt man die Bereitschaft zu unangenehmen Konsequenzen anklingen, signalisiert man damit dem Gegenüber eine gewisse Stärke. Um sich auf einem größeren „Spielfeld“ bewegen zu können, kann man sich allerdings diese Thematik doch einmal anschauen. Soll Ihre Strategie auf „Druck ausüben“ aufgebaut sein? Unter diesem Aspekt und um Hemmungen abzubauen, darf man auch einmal den rund 200 Jahre alten Macchiavelli durchblättern. Am Ende dieses Kapitels lohnt wieder ein Blick auf unsere Arbeitshilfen. Nutzen Sie die Tabellen, Kärtchen und Listen, um für sich und für die Verhandlungspartner Optionen zu finden, positive wie auch destruktive. Übertragen Sie die Ergebnisse in die VerhandlungsErfolgsplattform.
3.5
Erforschen Sie die Möglichkeiten – Pakete schnüren …
Nun haben Sie alle Möglichkeiten aufgelistet. Die eigenen und die der anderen. Gehen Sie nun daran, aus Einzeloptionen Pakete zu schnüren. Für den Fall, dass ein Angebot für sich nicht angenommen wird, erweitern Sie damit dessen Wirkung. Denken Sie dabei an die Sahne auf dem Kaffee. Die kostet Sie nicht viel, versüßt dem Partner den Deal unter Umständen beträchtlich. Wir kennen einen Fall zwischen einem Kunden und seinem Autohaus, bei dem es um eine Reklamation ging. Die Verhandlungen erwiesen sich als zäh und unergiebig. Der Kunde bestand natürlich auf Nachbesserung, das Autohaus lehnte das ab. Erst als der Kunde eine destruktive Option ins Spiel brachte, nämlich, dass er die Geschäftsbeziehung künftig nicht mehr fortführen würde, knickte der Händler ein und bot an, beim nächsten Wagen des Kunden, ganz gleich, welcher Hersteller, eine Gratis-Inspektion durchzuführen. Damit war beiden gedient. Enorm hohe Versicherungsprämien waren das größte Hindernis für Alfa Romeo, eine nennenswerte Anzahl von Fahrzeugen in Deutschland an den Mann zu bringen. Für einen Mittelklassewagen riefen die Versicherer Prämien auf, die denen für einen Porsche entsprachen. Um diesen Umstand zu kompensieren, machte Alfa den Interessenten das Angebot, für ein Jahr die Versicherungsprämien zu zahlen.
Umsetzung in die Praxis
133
Im Finanzwesen ist ein Sahnehäubchen auf dem Kaffee beispielsweise die Zusage von „unschädlichen“ Sondertilgungen bei der Kreditvergabe. Es geht beim Kombinieren der Optionen darum, Pakete zu schnüren, die der anderen Seite große Vorteile bringen, die aber die eigene Seite nichts oder wenig kosten. Auf keinen Fall sollten Sie Ihr zentrales Interesse zur Disposition stellen. Zugeständnisse um das eigentliche Anliegen herum sind dagegen legitim. Zum Sondieren der Optionen kann auch gehören, sich Klarheit zu verschaffen über die Sanktionen, die für den Fall der Nichtkooperation der anderen Seite angewandt werden können. Vielleicht müssen Sie dazu noch etwas arrangieren, damit Ihnen die Sanktionsmöglichkeit wirklich zur Verfügung steht. So böte sich an, die Gespräche bewusst in die Länge zu ziehen, um (Zeit-)Druck zu erzeugen. Diese Taktik wird beispielsweise von Gewerkschaften vorgelebt. Eine Variante wäre, erst zu verzögern und schließlich auf die Einhaltung von Fristen und Terminen zu bestehen. Als Sanktionen stünden beispielsweise folgende zur Auswahl: gemachte Zusagen widerrufen bestehende Verträge beenden Außenstände einfordern Anteile verkaufen Zahlungen verweigern Zahlungen bis zum Abschluss der Verhandlung zurückhalten … Welche Möglichkeiten tatsächlich in Betracht kommen, hängt von der Branche, der Beziehungsebene und dem Thema der Verhandlungen ab.
3.6
… oder Häppchen schneiden
Wie bereits erwähnt ist es sehr vorteilhaft, den Gesamtkomplex der Verhandlung zu segmentieren. Sie gewinnen dadurch auch Flexibilität hinsichtlich der Optionen. In überschaubare Häppchen zerteilt wirkt eine voll gestopfte Agenda weit weniger abstoßend und eher zu bewältigen. Das ist strategisch und auch psychologisch sinnvoll. Mehrere Punkte bieten sich an: 1. Es erleichtert den Abschluss von Teilbereichen. 2. Es nimmt Druck von den Verhandlungspartnern, sich mit dem Komplex im Gesamten beschäftigen zu müssen.
134
Step 4
3. Es nimmt den Druck von den Verhandlungspartnern, kritische Entscheidungen ohne Aufwärmphase zu treffen. 4. Eine schnelle Einigung bei unkomplizierten Themen vergrößert die Bereitschaft zur Einigung bei schwierigen Themen. 5. Eine schnelle Einigung bei unkomplizierten Themen erschwert den Rückzug einer Partei vor schwierigen Themen. Zu beobachten war diese Taktik in der deutschen Regierung zu Beginn der Arbeit der Großen Koalition im Jahre 2005. Da wurden so heiße Eisen wie die Föderalismusreform, die Gesundheitsreform und die Steuerreform nicht angefasst. Man wusste, dass in diesen Sachverhalten keine schnelle Lösung erzielt werden würde, zumal die personelle Besetzung der Ressorts noch gar nicht so klar war. Doch die Bevölkerung verlangte nach der Wahl Taten, keine Worte mehr. Zu lange hatte sie auf einen „Ruck“, der durch Deutschland gehen sollte, gewartet. Es mussten also dringend „Quick-Wins“, d. h. schnelle Erfolgsmeldungen, produziert werden. So rückte man zunächst Frau Merkels Auslandsauftritte medienwirksam in den Blickpunkt, vertrieb sich die Zeit mit unkritischen Gesprächen solange, bis die Voraussetzungen für die anstehenden großen Verhandlungen gegeben waren.
3.7
Arbeitshilfen
Checkliste Kreativ Optionen finden Gemeinsame Interessen ermitteln Auf beiderseitigen Vorteil achten Viele Themen denken. Daraus ergeben sich mehr Kombinationsmöglichkeiten und Bündel-Deals Sanktionen in Betracht ziehen Komplexe Themen in kleinere Teilbereiche segmentieren
Umsetzung in die Praxis
135
FREMDE OPTIONEN
EIGENE OPTIONEN
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EIGENE OPTIONEN KOMBINIEREN A…………………………..
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B…………………………..
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C…………………………..
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D…………………………..
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E…………………………..
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F…………………………..
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G…………………………..
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H…………………………..
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Step 4
TEILBEREICHE DES VERHANDLUNGSTHEMAS A…………………………..
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B…………………………..
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C…………………………..
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D…………………………..
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E…………………………..
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F…………………………..
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G…………………………..
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H…………………………..
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Ausschnitt aus der Verhandlungs-Erfolgsplattform
Optionen Konstruktive
Destruktive
Unsere Seite:
Unsere Seite: Gemeinsame:
Gegenseite:
Gegenseite:
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
137
Step 5
1.
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
Nun haben Sie eine ganze Menge – oder auch nur einige wenige – Optionen für Ihre Verhandlung gefunden. Idealerweise haben Sie sogar die der Gegenseite identifiziert. Was machen wir damit? Es liegt auf der Hand, dass nicht jede Option gleich effektiv ist, dass nicht jede Wahl für die Gegenseite gleichermaßen erstrebenswert ist. Auf der anderen Seite möchten Sie Ihre Ziele erreichen und wissen, dass dies nur möglich ist, wenn die andere Seite auf Ihre Angebote (Optionen) eingeht. Im Gegenzug werden Sie ebenso vor Entscheidungen gestellt werden.
1.1
Verhandlungsspielraum finden
„Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er woanders ankommt.“ So und mit einigen Abwandlungen kennen Sie sicher den Ausspruch von Mark Twain. Wer also keine Orientierung hat, kommt nicht zum Ziel. Darum müssen wir uns Klarheit verschaffen über die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten einer Einigung. Nur daran können wir uns ausrichten. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal an Step 3 anknüpfen. Dort haben wir erläutert, wie Sie zur Einschätzung Ihrer Ziele gelangen. Es ist von Bedeutung, dass Sie Ihre Ziele und auch die der Gegenseite genau kennen, denn nur so haben Sie eine Chance, die dazu passenden Optionen auf den Tisch zu legen. Möglicherweise haben Sie bereits vor dem eigentlichen Verhandlungstermin mit der Gegenseite konferiert und die jeweiligen Zielvorstellungen abgesteckt. Nach wie vor gilt: Die Einigung wird angestrebt, aber nicht um jeden Preis. Das bedeutet, dass einige Teilziele relativ unwichtig sind, andere dagegen überhaupt nicht verhandelbar, weil Voraussetzung. Zwischen diesen Polen bewegt sich das zu erreichende Verhandlungsergebnis. Diese Strecke stellt Ihren Verhandlungsspielraum dar.
138
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
Zu definieren sind folgende Punkte: Welches ist das beste Ergebnis? Welches Ergebnis ist das optimale? Welches Ergebnis ist realistisch zu erwarten? Welches Ergebnis wäre das schlechteste? An welcher Stelle breche ich die Verhandlung ab? Wie sieht das alles für die Gegenseite aus? Sicher ist Ihnen in der vorstehenden Liste etwas aufgefallen und Sie fragen sich nun, warum wir zwischen dem besten und dem optimalen Ergebnis unterscheiden. Nehmen wir an, Sie einigen sich mit einem Systemhaus über die Integration einer neuen Datenbankanwendung in Ihrem Unternehmen. Die Verhandlungen liefen zu Ihrer vollsten Zufriedenheit, der Lieferant ging auf all Ihre Vorstellungen ein. Es wurde ein Vertrag geschlossen und die Arbeiten können beginnen. Nach einiger Zeit jedoch stellt sich ein zeitlicher Verzug ein. Zunächst scheint das nicht weiter Anlass zur Sorge zu sein, doch die Verzögerung wächst stetig an. Schließlich so sehr, dass Ihre Planung in Gefahr gerät und Sie intervenieren müssen. In einem Krisengespräch stellt sich heraus, dass die Softwarefirma für diese Aufgabe zu schwach besetzt ist. Es gab einfach nicht genug Manpower, um die Aufgabe zeitgerecht zu bewältigen. Wäre dieser Umstand bekannt gewesen, hätten Sie den Auftrag wohl kaum vergeben. Die Firma brauchte aber den Auftrag, sonst wäre sie in finanzielle Bedrängnis geraten. Daher ging sie auf alle Forderungen ein, nur um auf alle Fälle den Job zu bekommen. Was aber ist nun aus dem „besten Ergebnis“ geworden? Das bedeutet ganz einfach, dass es zwar ein „bestes“ oder wünschenswertes Verhandlungsergebnis geben kann, aber es muss auch umzusetzen sein. Genau darin liegt der Unterschied zum „optimalen“ Ergebnis. Später kommen wir noch auf das wichtige Thema Ergebnissicherung zurück. Das optimale Ergebnis ist dann erzielt, wenn alle Beteiligten zu profitieren in der Lage sind. Wie gesagt, das muss nicht die ultimative Ausbeute an Teilzielen bedeuten. In der Realität kommt dies eher selten vor. Vorteilhafter ist ein Ergebnis, das ein Stück weit vom Wunschergebnis abweicht, das dafür aber von allen Teilnehmern geleistet werden kann und dabei Luft zum Überleben lässt. Das realistische Ergebnis sehen wir dann, wenn alle Teilziele und Optionen verhandelt worden sind. Bei diesem Kompromiss haben alle Parteien Zugeständnisse gemacht. Bereits in der Vorbereitung auf die Verhandlungen weiß man, dass die andere Seite die eine oder andere unserer Wunschvorstellungen nicht akzeptieren wird. Je intensiver wir uns mit der anderen Seite und deren Interessen im Vorfeld beschäftigt haben, desto klarer sehen wir die Möglichkeiten, die sich ergeben. Daraus können wir dann eine realistische Einschätzung des Verhandlungsergebnisses abgeben.
Step 5
139
Kommen wir mit nur wenigen erreichten Teilzielen durch, das heißt viele Zugeständnisse auf der eigenen, kaum Bewegung auf der anderen Seite, so müssen wir uns wohl oder übel mit einem schlechten Ergebnis bescheiden. Welches das schlechteste zu erwartende Ergebnis ist, hängt von den Alternativen ab (so genannte BATNAs5), die wir uns vorab zurecht legen. Auf diesen Aspekt werden wir später ausführlich eingehen. Aus dieser Einschätzung ergibt sich Ihr Verhandlungsspielraum.
optimal wünschenswert akzeptabel noch akzeptabel Minimum Abbruch! Abbildung 25: Koordinatenkreuz „Verhandlungsspielraum“ Eine Verhandlungslinie als kritische Marke muss definiert sein. Alles, was diese Linie unterschreitet, ist nicht mehr akzeptabel. Fragen Sie sich, bis zu welchem Punkt Sie bereit sind, weiter konstruktiv zu verhandeln. Wo ist Ihre Grenzmarke, die Sie nicht überschreiten werden, damit Sie nicht zu destruktiven Optionen greifen müssen? Bei Börsengeschäften ist diese Linie als „Stop/Loss-Marke“ bekannt. Sie schützt den Shareholder vor größeren Verlusten, weil die Aktie auf dem Weg nach unten genau an dieser Marke verkauft wird.
1.1.1
Den Kuchen vergrößern
In den allermeisten Fällen gehen Verhandlungspartner (oder -gegner) davon aus, dass es einen Kuchen gibt, der in eine festgelegte Anzahl von Stücken aufgeteilt werden kann. Und selbstverständlich will jeder das meiste. Das geht aber nicht, weil nicht beide das meiste bekommen können. Also wird einer mehr bekommen, der andere weniger, und dieser wird gemeinhin als der Verlierer bezeichnet. 5 Fisher, Ury, „Getting to Yes“; BATNA = Best Alternative To Negotiated Agreement.
140
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
Verlierer haben zumeist das Verlangen, eines Tages Rache zu nehmen und dann mehr Gewinner zu sein, als es der Gewinner jemals war – was wiederum einen Verlierer produziert. Dieser Verlierer hat wiederum das Verlangen, eines Tages Rache zu nehmen und dann mehr… Sie wissen, worauf das hinaus läuft: Eine endlose Schleife beginnt. Um von Beginn an dafür zu sorgen, dass jeder Verhandelnde gewinnt, muss also der Kuchen vergrößert werden, damit es keinen Streit gibt und jeder zufrieden sein kann. Das funktioniert so, indem wir der anderen Seite etwas anbieten, was für sie sehr erstrebenswert ist, für uns selbst aber eher untergeordneten Wert besitzt. Und umgekehrt: Wir erhalten etwas für uns Wertvolles, worauf der andere leicht verzichten kann. So wird Mehrwert geschaffen – der Kuchen vergrößert.
„Familienplanung“ Ehepartner A klagt, dass er für einige Dinge zu wenig Zeit hat, weil die Kinder vom Hort abzuholen sind. Die Lösung sieht so aus, dass Ehepartner B künftig die Kinder auf dem Heimweg vom Büro abholt, weil das sowieso auf dem Weg liegt. Dadurch gewinnt Ehepartner A Zeit und die ganze Familie profitiert davon.
oder
Lohnmodell bei einem Automobilhersteller Der Wettbewerbsdruck erfordert Einsparungen, sprich Lohnsenkungen. Ein unbeliebtes Thema in der Belegschaft, das weiß die Geschäftsführung aus Erfahrung. Darum formuliert sie zugleich Ausgleichsangebote an die Arbeitnehmerschaft: Beschäftigungsgarantien und gute Arbeitsbedingungen. Der Kuchen wird durch Verkürzung der Arbeitszeit und Kostenreduktion durch Lohnanpassung vergrößert. Der „Kuchen“ ist hier das Gesamtwohl des Konzerns, die Sicherung des Unternehmens bei Vorteilen auf der Arbeitnehmer- wie auch der Arbeitgeberseite.
Ein anderes – zugegebenermaßen sehr hypothetisches – Beispiel könnte so aussehen:
Rohstoffpreis Ein Staat X ist besorgt über den hohen Preis für Rohöl und verhandelt mit einem Ölförderland Y. (Natürlich wissen wir, dass der Ölpreis auf dem Weltmarkt zu Stande kommt und nicht in einzelnen Abkommen beschlossen wird. Insofern soll dieses Beispiel lediglich der Veranschaulichung dienen.) Freiwillig wollen die Ölförderer den Preis nicht reduzieren. Damit würden sie nur Geld verschenken. Also könnte der Kuchen vergrößert werden, indem aus dem Land X Trinkwasser in das Wüstenland geliefert wird und es im Gegenzug
Step 5
141
günstigeres Öl erhält. Diese Naturalien sind in den jeweiligen Ländern (noch) im Überfluss vorhanden und von daher leicht entbehrlich. Für das jeweilige Empfängerland allerdings ist die Vereinbarung Gold wert.
Nach diesem Prinzip funktioniert das, was wir im vorausgehenden Kapitel beschrieben haben: das Erarbeiten von Optionen. Optionen vergrößern den Kuchen und schaffen Mehrwert für alle Parteien. Dadurch wird die Bereitschaft eröffnet, auf ein Stück des Kuchens zu verzichten, zu Gunsten eines Stücks von der Torte.
1.2
Welche Optionen sind geeignet?
Wenn Sie gut über die Anliegen, Motive, Interessen, aber auch Taktik der Gegenseite Bescheid wissen, können Sie akzeptable Optionen herausarbeiten. Auf diese Weise bereiten Sie ein Übereinkommen der Interessen vor. Anders als bei der kritiklosen Suche nach den Optionen sind nun Entscheidungen gefragt. Aus der Reihe von Möglichkeiten müssen diejenigen gefiltert werden, die schließlich in der Verhandlung eingebracht werden. Wie im vorigen Abschnitt beschrieben sind Aspekte zu finden, die von der anderen Seite sehr hoch bewertet werden, selbst aber keinen großen Verlust bedeuten. Umgekehrt gilt die Überlegung, was die andere Seite schmerzlos anbieten könnte und gleichzeitig auf der eigenen Seite ein Gewinn wäre. Diese Aufgabe gelingt leicht bei integrativen Verhandlungen, wo es große Unterschiede gibt. Dort wird sich immer etwas finden, das einen Bedarf deckt. In der geschickten Auswahl der Optionen liegt einer der Schlüssel zum Erfolg der Gespräche. Stellen Sie sich vor, wie erstaunt Sie wären, würde die Gegenseite Ihnen eine Option vorschlagen, die Sie nicht erwartet haben, die Ihren Interessen aber erstaunlich weit entgegenkommt. Würden Sie da nicht gerne zustimmen? Doch Vorsicht! Es könnte ebenso ein geschickt ausgeworfener Köder sein, um Sie quasi in eine Bringschuld zu manövrieren. Wenden Sie diese Methode für sich an. Versetzen Sie sich in die Lage der anderen Seite. Und denken Sie dann über eine Option nach, die dort auf großen Beifall treffen würde und von der Sie selbst ebenfalls profitieren. Denn erfolgreiche Verhandlungsergebnisse werden für beide Seiten etwas Positives beinhalten. Als Beispiel: Wenn Sie beim Gehaltsgespräch keinen Vorteil für Ihren Chef anbieten können, dann sparen Sie sich die Zeit. Die Verhandlung wäre aussichtslos. Meist ist die andere Seite auf sich selbst und auf ein günstiges Ergebnis fokussiert. Deshalb wird sie keine Gelegenheit auslassen, einen Vorteil für sich in Anspruch zu nehmen. Bieten Sie Wahlmöglichkeiten an, die Probleme der Gegenseite lösen (von denen sie bis dahin vielleicht nicht einmal gewusst hat), so erleichtern Sie Ihrem Gegenüber nicht nur die Entscheidung, sondern Sie lenken die Verhandlung in die gewünschte Richtung.
142
1.3
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
Verleihen Sie Ihren Optionen Gewicht
„Manche Menschen haben die Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen, und entscheiden sich dann für die Spreu.“ Objektive Kriterien sind deswegen wichtig, weil sie zielorientiert Entscheidungshilfe bieten. Gute Kriterien erlauben, die Optionen im Hinblick auf ihren Beitrag zum angestrebten Ziel zu bewerten. Sie erlauben eine Antwort auf die Frage, zu welchem Grad das Ziel erreicht werden kann. Manchmal sind die Kriterien nicht so einfach und klar, dass jeder Laie sie irrtumsfrei beurteilen kann. Dann kann es hilfreich sein, ein Urteil durch Experten so einzuholen, dass es gegebenenfalls später in der Verhandlung belastbar bzw. durch andere unvoreingenommene Experten wiederholbar ist. Das hängt ganz von der Verhandlungscharakteristik ab. Sehr häufig wird eine neutrale Instanz in die Verhandlung einbezogen, um entweder von vorneherein oder in festgefahrenen Situationen für ein Fortschreiten zu sorgen. Das kann sein ein Moderator Experte Anwalt Mediator Schlichter/Ombudsmann. Gibt es beispielsweise Ärger mit einer Versicherung, wird ein Ombudsmann auf den Plan gerufen. Er schlägt einen Kompromiss vor, der beiden Seiten entgegenkommt. 125 Versicherungen haben sich verpflichtet, die Vorschläge des Ombudsmanns bei kleineren Fällen (bis 5000 Euro) anzuerkennen. Bei höheren Streitwerten kann der Ombudsmann nur einen unverbindlichen Vorschlag machen. Die Arbeit eines Mediators geht über die des Moderators hinaus. Ein Mediator wird darauf achten, dass die Gespräche sachlich verlaufen, er wird nicht nur die Standpunkte vergleichen, er wird vielmehr die Parteien zur kreativen Lösungsfindung motivieren und gemeinsam mit den verhandelnden Parteien die Vorschläge nach fairen Kriterien bewerten. Das Bestreben des Mediators liegt darin, den Bedürfnissen der Parteien in höchstem Maße gerecht zu werden. Er wird die Chancen und Risiken einer Verhandlung einschätzen, testen, ob die möglichen Ergebnisse realistisch sind, ob die Abbruchlinien fest sind. Er wird darüber hinaus sicherstellen, dass die Parteien sich der Konsequenzen der Ergebnisse bewusst und mit ihnen einverstanden sind.
Step 5
1.4
143
BATNA
Die Autoren Fisher und Ury prägten den Begriff BATNA, der übersetzt und ausgeschrieben soviel bedeutet wie die „Beste Alternative zum ausgehandelten Ergebnis“. Der Begriff beschreibt die Alternative, die für Sie persönlich eine gangbare Möglichkeit darstellt für den Fall, dass Sie Ihr Wunschergebnis in einer Verhandlung nicht durchsetzen können. Dies ist ein wichtiger Punkt, der besondere Beachtung verdient. Trotz allen Willens zu Kooperation und beiderseitigem Vorteil von Verhandlungsergebnissen dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: Ein günstiges bzw. wünschenswertes Ergebnis lässt sich in der Regel nur dann durchsetzen, wenn wir die Stärke besitzen, die Verhandlung in unserem Sinne zu beeinflussen. Sie werden nun sagen, dass Stärke ein objektives Kriterium ist und zum Beispiel aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage rührt. Wo Bedarf ist, da ist Schwäche, wer die Nachfrage befriedigen kann, hat die Macht. So sehen es professionelle Verkäufer. Doch was wäre, wenn der Nachfrager dem anderen klar machen kann, dass dieser zwar die Güter zur Bedarfsbefriedigung besitzt, er aber auf diesen sitzen bleiben wird, wenn er das Angebot des Nachfragers nicht akzeptiert? Schon nistet sich ein leiser Zweifel ein. Könnte er Recht haben? Ist meine Position möglicherweise nicht so stark wie angenommen? Vielleicht sollte ich Entgegenkommen signalisieren… Worauf wir hinaus wollen, ist, zu zeigen, dass Macht und Stärke subjektive, leicht zu manipulierende Gebilde sind. Sie existieren nur in den Köpfen der Verhandlungspartner. Es ist nicht die definitive Stärke, sondern vielmehr deren Wahrnehmung, der wir unterliegen. Das gilt selbstverständlich für alle teilnehmenden Parteien und ist somit völlig unterschiedlich ausgeprägt. Denn wie wir (in Step 1) bereits dargelegt haben, besitzt jeder Mensch sein ureigenes Wahrnehmungsfenster. Was also wirklich zählt, ist nicht der objektive Ursprung einer Position der Stärke, sondern die subjektive Wahrnehmung der Verhandelnden. Sie beeinflusst letztendlich den Verlauf und das Ergebnis der Gespräche. Verhandelnde wissen, dass es das Selbstvertrauen ist, das in vielen Situationen den Ausschlag zum Positiven hin gibt. Der Glaube an die Sache, an das Ziel, an das Produkt, in die eigene Person oder was auch immer. Argumente lassen sich leicht entkräften, Fakten unter Umständen widerlegen, Statistiken sagen nichts aus. Das Gefühl der Stärke kann selbst im Falle einer schlechten Ausgangsposition zum Erfolg verhelfen, wenn es zusätzlich auf etwas anderem als den reinen Objektivismen beruht. Die Stärke, die wir meinen, findet sich nicht während der Verhandlung, indem man nach ihr sucht, in einem wichtigen Punkt, einem guten Argument oder einem günstigen Umstand. Diese Stärke müssen Sie bereits vor der Verhandlung finden, indem Sie einen Plan B erarbeiten. Einen Plan B, der Sie vor den Druckmitteln der Gegenseite und schließlich vor sich selbst schützt. Dieser Plan wird nicht auf den Verhandlungstisch gelegt, sondern er greift erst und nur dann, wenn keine Einigung in Ihrem Sinne möglich ist. Es ist eine persönliche Alternative, die Sie für den Fall des Scheiterns vorbereitet haben.
144
Bewerten der Optionen anhand objektiver Kriterien
Mit einem B-Plan verschaffen Sie sich Unabhängigkeit vom eigentlichen Verhandlungsziel – das Sie selbstverständlich weiter verfolgen sollen, aber eben nicht um jeden Preis. Diese Art der Unabhängigkeit wirkt sich insofern günstig aus, als sie Ihnen den Rücken stärkt und so der anderen Seite signalisiert, dass Sie nicht zu jedem Zugeständnis bereit sind.
1.5
Gibt es eine ZOPA – und was ist das überhaupt?
Lama Zopa Rinpoche, der buddhistische Meister aus dem fernen Tibet, hat nichts mit dem Begriff ZOPA, den wir hier meinen, zu tun. Das Londoner Unternehmen, das unter dem Namen ZOPA eine Online-Kreditvermittlerbörse betreibt, schon eher. Der Ausdruck dient in seiner ursprünglichen Bedeutung tatsächlich als Namensgeber und Philosophiestifter für die besagte Firma. Denn auf deren Online-Portal treffen sich private Kreditgeber und Kreditsuchende, um über Geschäfte zu verhandeln. Das funktioniert so, dass die Kreditgeber ihre Bedingungen online bekannt geben und Kreditsuchende ihre Wünsche. Eine Software gleicht die Daten ab und listet potenzielle Geschäftspartner. Diese können dann in Kontakt und danach in die Verhandlungsphase eintreten. Das britische Unternehmen ZOPA vereint Angebot und Nachfrage auf einem virtuellen Marktplatz. Der Bereich, wo eine Einigung zwischen Geber und Nehmer möglich erscheint, die Schnittmenge der Verhandlungsspielräume also, dient dem Portal als Name. Und damit ist das Begriff-Rätsel gelöst. ZOPA ist die Zone of Possible Agreement, zu Deutsch der Bereich des möglichen Übereinkommens. Man mag auch Schnittmenge der Verhandlungsspielräume dazu sagen, d.h., es geht um den Bereich, in welchem beide Verhandlungsseiten eine Einigung finden können. Weil wir zwar gut übersetzen können, aber keine vom Deutschen abgeleitete Abkürzung finden, werden wir die angelsächsische Abbreviation ZOPA weiter verwenden. Die ZOPA ist wesentlich für einen erfolgreichen Abschluss. Existiert sie, so besteht eine gute Aussicht auf ein Übereinkommen. Denn eine ZOPA existiert in dem Bereich, wo sich die Verhandlungsspielräume der Partner überschneiden. Da sollte es – vorausgesetzt, die Verhandlungsspielräume sind allen bekannt – kaum Probleme geben, ein positives Ergebnis zu erzielen. Will ein Eigentümer sein Haus für mindestens 150.000 Euro verkaufen und ein Interessent hat ein oberes Limit von 160.000 Euro, so beträgt die ZOPA 10.000 Euro.
Step 5
145
Verhandlungsspielraum Partner B
Verhandlungsspielraum Partner B
ZOPA
Verhandlungsspielraum Partner A
Verhandlungsspielraum Partner A
Abbildung 26: Bereiche A und B übereinander gelegt ergeben die ZOPA. Gibt es keine Schnittmenge, gibt es wahrscheinlich auch kein positives Verhandlungsergebnis. Ein Ergebnis außerhalb der ZOPA kann dadurch zu Stande kommen, dass die persönliche Alternative einer Seite plötzlich keine echte Alternative mehr ist oder dass eine Seite aus irgendeinem Grund auf einen Kompromiss eingeht, obwohl die persönliche Alternative eigentlich vorteilhafter gewesen wäre. Dies passiert häufig dann, wenn die Verhandelnden sich im Vorfeld zu wenig Mühe bei der Definition ihrer persönlichen Alternativen gegeben haben. Ob eine ZOPA vorhanden ist und in welchem Umfang, hängt von der Eigenschaft der Verhandlung ab. In so genannten distributiven Verhandlungen, in denen also die Verhandelnden einen Kuchen unter sich aufteilen wollen, erscheint es schwieriger, eine Lösung zu finden, die beiden Seiten gerecht wird, denn schließlich möchte jede Seite soviel wie möglich vom Kuchen abhaben. Am Ende gerät diese Verhandlungsart oft zum Nullsummenspiel: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Es existiert keine Schnittmenge der Interessen. Wenn sich beispielsweise zwei Menschen um denselben Vollzeit-Job bewerben, existiert normalerweise keine ZOPA. Jeder der beiden will den Job, aber keiner würde freiwillig Gehalt und Verantwortung mit dem anderen teilen. In Verhandlungen, die Probleme von Parteien mit kompatiblen Interessen betreffen, sieht das anders aus. Integrative Verhandlungen versuchen, den Kuchen zu vergrößern, indem die gemeinsamen Interessen herausgestellt werden. Zusammen wird am größtmöglichen Mehrwert gearbeitet, den die Gespräche bieten können. Die Parteien können mit einer Vielzahl von Optionen jonglieren und sie miteinander verbinden. Auf diese Weise kann jede Seite von der anderen einen Gegenwert erhalten, der weder die eine noch die andere Partei viel kostet. Beide gewinnen, ohne das Maximum ihrer Vorstellungen zu erreichen. Würde – um bei dem Beispiel der Job-Bewerber zu bleiben – der Arbeitgeber die Stellenbeschreibung verändern, sodass ein zusätzlicher Arbeitsplatz entstünde, und würde sich jeder der Anwärter für jeweils einen davon entscheiden, so hätten sie eine ZOPA und alle wären schließlich Gewinner.
146
2.
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
Bezug zum Praxisbeispiel Grenzkonflikt
Zu sehr ist Franz K. davon überzeugt, mit dem Objekt das Optimum für die Gestaltung seines Altersruhesitzes gefunden zu haben, als dass er dessen Aufgabe an eine mittlere Position der Bewertungsliste gesetzt hätte. Nein, das wäre die ultimative Katastrophe, das Aus aller Träume und käme nur dann in Betracht, wenn Otto F. zu keinerlei Entgegenkommen bereit wäre. Dann lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Rückblick Trotz aller Unregelmäßigkeiten beschließt Franz K., den Kauf durchzuziehen. Zu sehr ist er vernarrt in das Objekt und außerdem felsenfest davon überzeugt, hier seinen Lebenstraum zu verwirklichen.
Für Franz K. begann die Phase des Evaluierens der Optionen. Zunächst musste er sich seiner Motivlage und der von Otto F. bewusst werden. Hätte er unser Buch zur Hand gehabt, so hätte er in dieser Situation Step 3 aufgeschlagen. Für ihn war klar, dass eine Aufgabe des Anwesens nicht in Frage kommen würde. Zu sehr hing er an dem neu gefundenen Paradies. Zur Perfektion war allerdings eines unumgänglich: die Seesicht.
2.1
Freier Blick auf den See – eine Option?
Hinter diesem scheinbar trivialen Ansinnen steckte weit mehr als nur der Wunsch nach dem Platz im Liegestuhl mit bester Aussicht als Ort der Entspannung. Denn neben diesem ebenfalls wichtigen Grund gab es noch einen entscheidenden: der Wert der Immobilie. Dieser wurde enorm von dem Faktor „Erholungswert“ bestimmt und der wiederum wäre umso größer, je mehr vom See sichtbar ist. Das heißt anders gesagt, ohne freien Blick auf den See wäre die Immobilie erheblich weniger wert. Man stelle sich vor, die Feriengäste müssten zwei Wochen lang auf einen dunklen Kastanienwald blicken! Dieser Umstand hätte die Finanzierung des Anwesens komplett zunichte gemacht. Immerhin wurden bei den Geld gebenden Banken Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Rendite angestellt, die das Objekt als Ferienwohnung erzielen würde. Zur Absicherung des Kredits musste ein Wertgutachten vorgelegt werden. Das wäre ohne die besagte freie Sicht auf den See eher bescheiden ausgefallen. Für Franz K. konnte das nur eines bedeuten: Würde er zu Gunsten einer Forderung von Otto F. auf die Seesicht verzichten, würde er nicht mit einer Finanzierung durch eine Bank rechnen
Step 5
147
können, die Akquisition käme nicht zu Stande und er müsste auf dieses „Paradies“ verzichten. Ergo: Seesicht als Option war nicht verhandelbar. Vielmehr stellte diese Forderung die Abbruchlinie dar, das ultimative Ziel. Sollte es in dem Gespräch zu keiner positiven und nachhaltigen Lösung bezüglich dieses Aspekts kommen, würde Franz K. die Verhandlung beenden. Die persönliche Alternative zu keiner Einigung bestand für K. lediglich darin, auf ein anderes Objekt zu hoffen und sich gleichzeitig unter allen Umständen einem Dauerstreit mit dem Nachbarn zu entziehen. Um das Ziel (freier Blick zum See) zu erreichen, gab es durchaus Optionen: den Rückbau aller Veränderungen seit dem Einzug beispielsweise. Da wären die Mauer in der Garage, der Lageranbau für das Holz sowie der Platz für den neuen Pizzaofen. Jede einzelne Maßnahme eine Option. Auch die seltsame Grenzziehung würde zur Diskussion stehen. Die Optionen bestünden darin, diese entweder rückgängig zu machen, oder aber sie mittels Eintragung zu legalisieren. Franz K. listet seine Möglichkeiten und bringt sie in die richtige Reihenfolge. Eine Übereinstimmung der Interessenlage ist ebenfalls ausgemacht: Beide, sowohl er als auch Otto F., sind darauf bedacht, ein harmonisches, friedliches Leben in sozialer Eintracht mit den Einheimischen wie auch mit den jeweiligen Nachbarn zu führen. Auf dieser ZOPA ließe sich aufbauen.
3.
Umsetzung in die Praxis
Um Ihre Möglichkeiten zu bewerten, sollten Sie sich Gedanken über Ihre eigene Motivlage und die der Gegenseite gemacht haben. Hinter einer Position stecken ein Interesse und ein Motiv. Diese haben für den Verhandelnden eine bestimmte Wichtigkeit, Priorität. Dazu verweisen wir hier noch einmal auf Step 3. Wie wir dort gesehen haben, leiten sich aus den Motiven die Verhandlungsziele ab. Dass es Möglichkeiten gibt, dorthin zu gelangen, haben Sie in Step 4 ermittelt. Dort haben wir lediglich alle Optionen gesammelt. Wie Sie entscheiden, welche davon realistisch umsetzbar, sinnvoll und auch wirksam sind, werden wir auf den nächsten Seiten zeigen.
3.1
Verhandlungsspielraum
Ihren Verhandlungsspielraum definieren Sie ganz einfach als die Differenz zwischen dem Maximum Ihrer Erwartungen und dem Minimum des Akzeptablen. Alles oberhalb des Minimums sind Ihre verhandelbaren Optionen. Nicht zu vergessen: Da sich natürlich mit jeder
148
Umsetzung in die Praxis
Option auch der Zielrahmen verändert, ist der Verhandlungsspielraum zunächst ein sehr flüchtiges Gebilde, dem feste Formen zu geben eine Herausforderung bedeutet. Wichtig ist, dass Sie Ihre Ziele klar definieren können und daraus eine Rangliste erstellen. Die Frage ist, was kann oder werde ich mit welcher Option erreichen? Welche Auswirkung wird eine angebotene Option auf den Verlauf der Verhandlungen haben? Ein paar W-Fragen zur Qualität Ihrer Ziele sollen Ihnen helfen, Antworten und eine Einschätzung zu finden. Positiv
Negativ
Was will ich erreichen?
Was brauche ich nicht?
Wie möchte ich die Ziele erreichen?
Wie möchte ich meine Ziele nicht …?
Wann ist der optimale Zeitpunkt?
Wann nicht?
Woran werde ich merken, dass ich am Ziel bin?
Woran merke ich, dass ich nicht am Ziel bin?
Tabelle 5: Qualitatives Bewerten der Ziele Es bedeutet einige Mühe, aber es lohnt sich, die Punkte konsequent durchzuarbeiten und zu verbalisieren, um Klarheit über die möglichen Verhandlungsergebnisse zu erhalten. Bestimmen Sie die Eckpunkte Ihres Verhandlungsspielraums, indem Sie Ihren Teilzielen – ähnlich wie in Step 3 – Prioritäten zuteilen. Nehmen wir an, Sie bereiten sich auf den Kauf eines Fahrzeugs vor. Überlegen Sie sich, was für Sie an erster Stelle der Prioritäten steht und bei welchem Ergebnis Sie einen anderen Händler aufsuchen werden.
Step 5
149
Ziel
Abbruch
Realistisches Ergebnis
Bestes Ergebnis
Priorität
Preis des Wagens
100 % Preisliste
90 % Preisliste
75 % Preisliste
++++
Sonderausstattung im Preis
Kein Abbruch
Metallic
Lackierung, Leder, ESP
++
Lieferzeit
6 Monate
4 Monate
10 Tage
++
Garantie
1 Jahr
2 Jahre
3 Jahre
+++
Finanzierung
Kein Abbruch
Leasing 6,5 %
Leasing 5 %
+
Tabelle 6: Prioritäten der Teilziele Dabei bedeutet: ++++
höchste Priorität
Das, was Sie auf jeden Fall erreichen müssen und weswegen Sie im Falle des Nichterreichens die Verhandlung platzen lassen würden. Hier haben Sie während der Verhandlung nur wenig Spielraum. +++
hohe Priorität
Sehr wichtig. Für den Fall, dass Sie einen sehr schweren Stand haben und Ihre Erwartungen kaum erfüllt sehen, ist dies eine Ebene, die Sie standhaft verteidigen sollten. Fällt diese Festung, stehen Sie mit dem Rücken zur Wand. ++
mittlere Priorität
Das, was Ihnen sehr wichtig ist, weswegen Sie aber nicht die Verhandlung scheitern lassen würden. +
geringe Priorität
Nicht tragisch, wenn Sie es nicht erreichen. Hier haben Sie den größten Handlungsspielraum.6
6 Nach Gavin Kennedy, The new negotiating edge, S. 111.
150
Umsetzung in die Praxis
Gehen Sie also mit konkreten Zielen in eine Verhandlung, die Sie möglichst in Etappenziele aufgeteilt haben: Was ist das Wichtigste für mich? Was ist verhandelbar? Was wünsche ich mir alternativ und als Ausgleich für eventuelle Zugeständnisse? Wo liegt die Schmerzgrenze? Jetzt, wo Sie Ihren Verhandlungsspielraum kennen, sollten Sie auch den Ihres Gegenübers ermitteln.
3.2
Optionen bewerten
Nach demselben Prinzip, nach dem Sie die Interessen ermittelt und in eine Reihenfolge der Wichtigkeit gebracht haben, müssen Sie nun die gefundenen Wahlmöglichkeiten bewerten. Teilen Sie sie in ein Raster ein nach „diskussionswürdig“, „unrealistisch“ oder „eventuell“ und beraten Sie sich mit Kollegen. Oder versuchen Sie selbst, zu einer Einschätzung zu kommen. Immerhin wissen Sie nun sehr viel über die Motivlage der Gegenseite. Wenn Sie sich in deren Lage versetzen, werden Sie schnell herausfinden, welche Optionen dort mehr und welche weniger gut angenommen werden würden. Zum Beispiel wissen Arbeitgeber, dass geldwerte Vergünstigungen wie Dienstwagen, Firmenhandy, Kleidungszuschuss usw. durchaus geeignete Möglichkeiten sind, um allzu üppige Gehaltsvorstellungen auf eine realistische Höhe zurück zu führen. Welche Möglichkeiten wollen Sie der anderen Seite anbieten? Welche davon würde sie annehmen, welche nicht, und welche wäre wünschenswert für den weiteren Verlauf und den Ausgang der Gespräche? Wenn Sie diese Überlegungen anstellen, werden Sie schnell an einen Punkt kommen, wo es ohne Papier und Stift nicht mehr weitergeht. Neben der Funktion des erweiterten Arbeitsspeichers bringt das Niederschreiben einen weiteren Vorteil für Sie mit: Sie verbalisieren die möglichen Optionsszenarien. Das „In-Worte-Fassen“ ist eine gute Übung dafür, sich über die Vorschläge völlig im Klaren zu werden. Nicht nur, dass Sie eventuelle Schwachstellen leichter entdecken, Sie bekommen gleichzeitig einen Eindruck davon, wie der Vorschlag im Gespräch wirkt. Kommt er verständlich und begreifbar rüber? Gibt es nicht nachvollziehbare Gedankensprünge? Baut der Vorschlag auf nur Ihnen bekannte Annahmen oder Fakten auf? Was muss zusätzlich erklärt werden? Die folgende Liste soll Ihnen helfen, die gefundenen Wahlmöglichkeiten auf ihre Effizienz zu prüfen.
Step 5
3.2.1
151
Checkliste für Ihre Optionen
9 Treffen sie den Kern der Verhandlung, befriedigen sie echte Bedürfnisse und Zielvorstellungen? 9 Können die Optionen realisiert werden? 9 Wessen Zustimmung ist notwendig? 9 Wie umfassend oder wie substanziell wirken sie? 9 In welchem Zeitraum wirken sie? Wann wirken sie? 9 Wer profitiert am meisten und wer weniger von den Vorschlägen? 9 Fördern die Optionen ein gutes Verhältnis unter den Partnern? 9 Sind die Optionen fair und gerecht? 9 War die Erarbeitung der Optionen frei von Ungerechtigkeiten und Vorbehalten?
3.2.2
Absichern der Optionen
Sind Sie sich über die Qualität Ihrer Lösungsvorschläge klar geworden und haben Sie sich für einige entschieden, gehen Sie nun daran, diese zu stärken. 9 Die Absichten der Verhandlungspartner einbeziehen 9 Glaubwürdigkeit stärken (mit Kriterien unterlegen) 9 Kritikpunkte formulieren 9 Konsequenzen formulieren
3.3
Kriterien anwenden
„Sie können mir viel erzählen! Ich bleibe bei meiner Meinung.“ Da ist er wieder, der Kampf um die Position, der die Verhandlung so immens schwierig machen kann. Jetzt haben Sie schon alle möglichen Optionen angeboten, aber die andere Seite ist nicht überzeugt. „Hört sich ja alles ganz gut an, aber…“ So weit wollen wir es nicht kommen lassen. Damit die Wahlmöglichkeiten, die Sie der anderen Seite anbieten möchten, auch wirklich hieb- und stichfest sind, damit sie überzeugen und nicht mit dem Verweis auf „Ansichtssa-
152
Umsetzung in die Praxis
che“ weggewischt werden können, empfiehlt es sich, auf sie möglichst objektive Kriterien anzuwenden und sie mit Anreizen zu versehen. Unser erstes Kapitel beschäftigte sich mit der Informationsgewinnung zum Verhandlungsthema. Dort betonten wir die Wichtigkeit, sich ausreichend über die tangierten Inhalte zu informieren. Mit diesem Wissen sollte es kein Problem darstellen, Kriterien zur Optionenbewertung aufzustellen. Sachliche Kriterien Sachliche Kriterien zeichnen sich dadurch aus, dass sie für alle Beteiligten gleich gültig, also fair sind und keinen Auslegungsspielraum zulassen. Als da wären: Gutachten Kosten Vorschriften Normen Gesetze Gerichtsurteile Marktsituation Benchmarks Studien Forschungsergebnisse. An diesen Standards wird niemand einfach vorbei diskutieren können, daher eignen sich faktische Belege sehr gut als Argument für eine Wahlmöglichkeit. Faire Kriterien Zur Anwendung fairer Kriterien bedarf es dazu der Bereitschaft auf beiden Seiten. Hierbei berufen sich die Parteien auf Einschätzungen und Bewertungen der gebrachten „Opfer“ im Vergleich zum Ergebnis auf beiden Seiten. frühere Vergleichsfälle gute Sitten Gepflogenheiten Gleichheit Ausgewogenheit. Suchen Sie immer nach Kriterien aus der Welt Ihres Gegenübers. Denn nichts kann so sehr hinken wie ein Vergleich, der nicht hundertprozentig passt. „Gute Sitten“ beispielsweise sind
Step 5
153
auslegbar. Hier bewegen wir uns im Bereich des Goodwills. Das heißt, wer hier nicht mitziehen will, der kann sich leicht über diese Kriterien hinwegsetzen, obwohl sie objektiv für jeden dieselbe Ausgangssituation darstellen. Es hängt vom guten Verhandlungswillen ab, ob diese Kriterien von allen anerkannt werden. Der Ausreden bieten sich viele an. Auch und gerade beim Punkt „Vergleichsfälle“ besteht die Möglichkeit der Interpretation. Sie könnten zu hören bekommen: „Hier liegt der Fall doch ganz anders. Die Zeiten haben sich geändert, das geschah in einem anderen Land…“ etc. etc. Dennoch kann es hilfreich sein, auf einen vergleichbaren Vorgang hinzuweisen, um der anderen Seite die Entscheidung zu erleichtern und im eigenen „Haus“ eine Rechtfertigung für das Verhandlungsergebnis parat zu haben.
3.4
Faire Methoden anwenden
Egal wie gut die Absicht auch ist, häufig fühlt sich der eine vom anderen übervorteilt. Das Misstrauen ist groß, und man ist versucht, in Positionskämpfe zu verfallen. Damit dies nicht geschieht, verständigt man sich auf faire Methoden, bevor man ans Verteilen geht. Bekannt ist das Verfahren „Ich schneide, du wählst“, bei dem der eine Verhandlungspartner die Beschaffenheit der Anteile festlegt, der andere darf anschließend einen Anteil für sich auswählen. Eine praktische Anwendung dieser Methode schlagen die Autoren Ury und Fisher vor: Sie empfehlen bei Sorgerechtsverhandlungen, dass sich Eltern zuerst über die Besuchsmodalitäten des anderen Partners einigen, bevor das Sorgerecht tatsächlich übertragen wird. Ob Sie zur Entscheidungsfindung eine Münze werfen, Streichhölzer ziehen oder SchnickSchnack-Schnuck spielen, das bleibt Ihnen überlassen; fair sind diese Methoden allemal, aber seriös? Wie weiter oben beschrieben können Sie sich auf eine neutrale Instanz (Experte, Mediator) berufen.
3.5
Das Ergebnis in den eigenen Reihen kommunizieren
In vielen Verhandlungen erleben wir, dass die entscheidenden Personen nicht anwesend sind. Dann fällt der Satz: „Ich muss erst den Boss fragen.“ Auch sehr gefürchtet ist: „Das werde ich alleine nicht entscheiden, ich möchte erst meine Frau/meinen Mann fragen.“ Sie kennen das, und oftmals ist das sowieso nur eine Taktik, um nicht sofort zu offenbaren, dass man die Bedingungen gerne akzeptiert. Immerhin soll der Eindruck einer schwierigen Entscheidung erweckt werden, hart an der Grenze zum Unannehmbaren. Haben Sie selbst
154
Umsetzung in die Praxis
einen ähnlichen Satz nicht auch schon einmal verwendet? Und entsprach das immer der Wahrheit? Nun, es gibt Fälle, wo in der Tat der Entscheider vorhanden, aber nicht anwesend ist. Dennoch muss dieser überzeugt werden, damit das Ergebnis zu Stande kommen kann. Das ist aus verständlichen Gründen nicht leicht, da schließlich nicht der komplette Lösungsfindungsprozess nachvollziehbar wiedergegeben werden kann. Oder doch? Überlegen Sie sich daher eine Möglichkeit, die dies bewerkstelligen kann. Fertigen Sie zum Beispiel ein Schaubild an, ein Diagramm, eine Skizze, die zeigt, wie das Ergebnis mit dem Ausgangpunkt in Relation steht. Bieten Sie an, dieses Handout zu produzieren und der anderen Seite zur Verfügung zu stellen für den Fall, dass Entscheider, Betriebsrat, Belegschaft o. A. über die Ergebnisse informiert werden müssen. Dazu gehört auch, dass Sie Argumente sammeln, mit denen die Verhandlungspartner das Ergebnis in den eigenen Reihen besser „verkaufen“ können, ohne die Gefahr, das Gesicht zu verlieren.
3.6
Die persönliche Alternative
Ihre persönliche Alternative – die „BATNA“ – dient zwei Zwecken: Zum einen liefert Sie Ihnen ein Bewertungskriterium über den Punkt, an dem die Verhandlung nicht mehr lohnt. Zum anderen können Sie sie als Maßstab für den vorgeschlagenen Konsens heranziehen. Eine persönliche Alternative könnte eine der folgenden Möglichkeiten sein: mit jemand anderem verhandeln eigene Ressourcen einsetzen vorhandene Mittel anderweitig einsetzen nichts unternehmen. Wobei letztere Alternative meist nicht ratsam wäre. Ein einfaches Beispiel: Sie verhandeln mit Ihrem potenziellen Arbeitgeber über einen neuen Job. Der Job ist interessant, aber nicht um jeden Preis anzunehmen. Sie haben klare Vorstellungen davon, wie Ihr Arbeitsvertrag aussehen soll. Für den Fall, dass Ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, haben Sie sich Ihre persönliche beste Alternative zurechtgelegt. Die könnte beispielsweise darin bestehen, ein anderes Angebot anzunehmen, das Ihnen bereits vorliegt und vergleichsweise bessere Bedingungen bietet. Wenn kein solches vorliegt, könnten Sie das Scheitern der Verhandlung zum Anlass nehmen, alles aufzugeben, ins Ausland zu gehen und Rosen zu züchten, weil Sie eigentlich sowieso
Step 5
155
schon mit dem Gedanken des Aussteigens geliebäugelt hatten. Für Sie persönlich wäre das vergleichsweise besser als dieser unannehmbare Vorschlag. Oder Sie könnten einer religiösen Gemeinschaft beitreten und allem Irdischen entsagen. Beim Kauf eines neuen Fernsehers zum Beispiel könnte die Alternative in einem anderen Modell oder einem anderen Händler bestehen. Oder, wenn das Gerät absolut nicht zu bekommen ist, wäre eine gute Alternative, das Geld in einen kleinen Urlaub zu investieren. Da sehen Sie dann auch etwas von der Welt. Die Möglichkeiten sind lediglich begrenzt von Ihrer persönlichen Vorstellungskraft. So amüsant das auch klingen mag, so seriös besorgt diese persönliche Alternative stabilen Rückhalt für Ihre Verhandlungsposition. Es liegt doch auf der Hand: Wer auf ein Wunschergebnis nicht zwingend angewiesen ist, der verhandelt mit größerem Selbstbewusstsein. Er signalisiert diese Stärke deutlich wahrnehmbar nach außen, was den Verhandlungspartner veranlasst, seine Position zu überdenken, sofern dieser mit einem „leichten Sieg“ gerechnet haben sollte. Je attraktiver die persönliche Alternative ist, desto stärker werden Sie sich fühlen. Wem dagegen nichts anderes bleibt, als sich entweder auf den ausgehandelten Kompromiss einzulassen, auch wenn der nicht gerade das „Gelbe vom Ei“ ist, oder mit leeren Händen nach Hause zu gehen, der ist eindeutig in einer misslichen Lage. Eine persönliche Alternative zum Verhandlungsergebnis kann auch eine Schutzfunktion haben. Sie kann vor dem Einwilligen in einen schlechten Kompromiss schützen. So ist ein Rückzug aus einer Verhandlung mitunter segensreicher, als mit allen Mitteln auf ein positives Ergebnis zu drängen. Wenn beispielsweise bei einer Gerichtsverhandlung die Aussichten auf Erfolg schlecht stehen und jeder Tag weitere Kosten verursacht, dann ist der Rückgriff auf die persönliche Alternative angebracht. Die könnte darin bestehen, den Prozess aufzugeben und das auf dieses Weise gerettete Geld in die Vermeidung künftiger Auseinandersetzungen (beispielsweise die Überarbeitung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen) zu investieren. Ob Ihre persönliche Alternative ein geeigneter Punkt ist in der Argumentation mit dem Verhandlungspartner, hängt vom Verhandlungsthema ab. Sie taugt nicht zum Entkräften von Fakten oder Argumenten. Aber Sie setzt ein klares Signal. Wenn Sie beispielsweise sagen können, dass Sie einen weiteren Anbieter in der Pipeline haben, dann kann die andere Partei das glauben oder für einen Bluff halten. Sie wird versuchen, Ihre Aussage zu prüfen. In die Runde zu werfen „Wenn der Deal nicht klappt, dann wandere ich aus und züchte Rosen“, davon und von ähnlichen romantisch-emotionalen Aussagen möchten wir gerne abraten. Überhaupt ist sehr genau abzuwägen, ob, wie und wann man die Alternative offenbart. Die andere Seite wird jedenfalls alles daran setzen, Ihre Alternative zu demontieren. Würden Sie schließlich ins Zweifeln geraten über ihre Attraktivität, verlören Sie damit Ihren Rückhalt.
156
Umsetzung in die Praxis
An Ihrer Handlungsfreiheit darf kein Zweifel bestehen. Darum müssen Sie sich auch darüber im Klaren sein, dass Sie Ihre persönliche Alternative auf jeden Fall realisieren werden und – ganz wichtig – dass Sie auch dazu in der Lage sind. Denn es macht keinen Sinn, eine Auswanderung in Betracht zu ziehen, wenn Ihre Familie nicht mitziehen würde. Es sei denn, Sie würden sie zurücklassen wollen.
3.7
Schließen Sie mit sich selbst einen Vertrag
Betrachten Sie die persönliche Alternative als Ihre Vereinbarung mit sich selbst – einen Vertrag, der zu erfüllen ist. Sie erschaffen sich mit einer solchen Alternative eine Wahlmöglichkeit, eine Freiheit, die es Ihnen erlaubt, sich selbst und ihren Zielen treu zu bleiben. Denn ganz gleich, wie das Ergebnis der Verhandlung aussieht, Sie werden auf jeden Fall etwas für sich selbst erreicht haben. Sie haben immer einen konkreten Aktionsplan zur Hand für die Zeit danach. Darin liegt die Kraft, die Sie abschöpfen können. Aus diesem Grunde ist es enorm wichtig, die persönliche Alternative so klar und konkret zu formulieren wie nur möglich. Darin liegt eben auch das Problem vieler Menschen, die sich nicht ausreichend vorbereiten. Sie denken zwar über Alternativen nach, aber auf einer zu sehr übergeordneten Ebene. Für unser Job-Beispiel würde das so aussehen, dass Sie sich im Falle des Scheiterns vorgenommen haben, Sie könnten ja die Stellenanzeigen noch einmal durchgehen. Oder dass Sie dann beginnen werden, über das Auswandern nachzudenken. Das ist nicht konkret genug, um eine echte, starke Alternative abzugeben. Sie würden nach Hause gehen mit einem negativen Verhandlungsergebnis und sich in einem diffusen Nebel der Handlungsunfähigkeit wiederfinden. Sie würden sich fragen: „Und was jetzt?“ Stellenangebote zu durchforsten ist kein Ziel, das Sie weiter bringen würde als all das, was Sie in der vorausgegangenen Verhandlung nicht erreicht haben. Es ist vielmehr das Einzige, was Ihnen zu tun geblieben ist. Wir möchten Ihnen ein paar Tipps geben, wie Sie zu einer Besten Alternative kommen: Schreiben Sie auf, was Sie im Falle des Scheiterns der Verhandlung tun werden. Konkretisieren Sie diese Wahlmöglichkeiten. Wählen Sie die viel versprechendste Möglichkeit aus. Vergleichen Sie Ihre Beste Alternative mit allen vorliegenden Angeboten. Liegt ein besseres Angebot des Verhandlungspartners vor, denken Sie über weitere Verbesserungen nach oder darüber, zu akzeptieren. Liegt Ihnen lediglich ein schlechteres Angebot als Ihre Alternative vor, denken Sie über eine Ablehnung nach. Bewegt sich die Gegenseite nicht in Ihrem Sinne, ziehen Sie Ihre Beste Alternative als Realität in Betracht.
Step 5
157
Sie sollten nicht nur Ihre eigene Alternative prüfen, sondern auch die der anderen Seite. Treffen Sie auf eine Alternative Ihres Gegenübers, und er macht Ihnen unmissverständlich klar, dass dies kein taktisches Manöver ist, dann versuchen Sie, innerhalb der ZOPA einen Konsens zu finden. Es ist zu bedenken, dass das Vorhandensein einer persönlichen Alternative die Bereitschaft vergrößert, den Verhandlungsraum zu verlassen. Das gilt für Sie selbst, aber natürlich genauso für die andere Partei.
3.8
Der Ausstiegspunkt
Wenn nur noch Vorschläge auf dem Tisch liegen, die weniger attraktiv als Ihre persönliche Alternative sind, bedeutet das den konsequenten Ausstieg aus der Verhandlung. Da geht nichts mehr, und lassen Sie sich nicht zu einem Kompromiss überreden. Ziehen Sie Ihre Linie deutlich und vor allem: Sichern Sie die Linie in Ihrem Team ab. Da muss Einigkeit herrschen! Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden unter Berufung auf Ihren Ausstiegspunkt das Meeting ohne Ergebnis beenden, doch jemand aus Ihrem Team sagt plötzlich „Na ja, vielleicht können wir doch noch einmal über unsere Preisstruktur nachdenken.“ Was dieser Satz mit Ihrer Autorität macht, ist wohl klar.
3.9
Vorsicht! Es gibt ein Leben nach der Verhandlung
Eine persönliche Alternative kann sich unter Umständen als Bumerang erweisen, als Schuss in den Ofen, wie man so schön sagt. Nämlich dann, wenn Sie gezwungen sind, Farbe zu bekennen, obwohl Sie vorher nur geblufft hatten. Sie können sich leicht vorstellen, welchen Eindruck es macht, wenn die Gegenseite davon Wind bekommt. Oder schlimmer noch, wenn Sie eine Alternative ausgesprochen haben, die dann nicht funktioniert. Wenn zum Beispiel das andere Job-Angebot plötzlich nicht mehr aktuell ist, Sie aber bereits damit offen gepokert haben. Es bliebe Ihnen nichts anderes übrig, als in der alten Firma zu bleiben, aber unter welchen negativen Umständen! Vorstellbar ist, dass das nächste Gespräch mit dem Chef Ihre Entlassung zum Thema haben wird. Wie bereits erwähnt: Achten Sie darauf, dass Sie Ihre Alternative auch wirklich realisieren können. Entwerfen Sie einen konkreten Plan für Ihr Verhalten „danach“. Hinterlassen Sie in den Gesprächen keine verbrannte Erde.
158
Umsetzung in die Praxis
3.10 Arbeitshilfen
Meine Seite 1.
Welche Optionen gibt es überhaupt?
2.
Realistische Alternativen bei keiner Einigung (Warum?)
Die andere Seite 1.
Welche Optionen gibt es überhaupt?
2.
Voraussichtliche beste Alternative der anderen Seite. (Welche erscheint ihnen am vorteilhaftesten?)
3.
Wie kann ich die Attraktivität der besten Alternative zerstören? (Beispielsweise: Zu teuer, keine Humanressourcen verfügbar, zu kurzfristig, kein vergleichbares Angebot zu meinem auf dem Markt.)
Optionen und Möglichkeiten zur Verbesserung der ... ...Lösungen
...Beziehung
Schauen Sie evtl. in den Kapiteln über Interessen und Optionen nach.
Gehen Sie sicher, dass diese keine Zugeständnisse in Sachfragen sind.
Step 5
159
Standards zur Problemlösung, auf die beide Seiten sich beziehen könnten (Präzedenzfälle, Benchmarks, frühere Praxis, akzeptierte Grundsätze usw.) Standard
Günstig für mich? Noten von 1-6
Warum? Auswirkung?
Faire Lösungsmöglichkeiten, welche ist praktikabel? 1.
Münze werfen
2.
Erst teilen, dann verteilen (Ich schneide, du wählst)
3.
Mediation
4.
Schlichtung
5.
Expertenmeinung
6.
Andere A
7.
Andere B
160
Umsetzung in die Praxis
So kann die andere Seite das Ergebnis im eigenen Haus erklären: 1.
………………………………………………………………………………… …………………………………………………
2.
………………………………………………………………………………… …………………………………………………
3.
………………………………………………………………………………… …………………………………………………
4.
………………………………………………………………………………… …………………………………………………
Ausschnitt aus der Verhandlungs-Erfolgsplattform
Kommunikationsplattform Aktionen, um destruktive Optionen der Gegenseite zu schwächen
Erwartete Einwände
Argumente
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Step 5
Teil III Verhandlungsdurchführung
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Verhandlungsdurchführung
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Verhandlungsdurchführung
Eine gute Verhandlungsvorbereitung ist ein Meilenstein für eine erfolgreiche Arbeit. Sie liefert „offline“ Antworten, Optionen, Argumente, Zielsetzungen, Hintergründe und vieles mehr, was Sie strategisch in den eigentlichen Gesprächen einsetzen können. Sie legen sich einen Plan zurecht, der sehr viele Eventualitäten abdeckt. Sie gewinnen Klarheit über Ihre Ziele und zumindest einige Sicherheit über die der anderen Seite. Die strategische Verhandlungsvorbereitung ist Ihr Gerüst, das Skelett, auf dem Ihr Verhandlungserfolg aufgebaut ist. Doch da ist dann immer noch die Verhandlung selbst – die „online“ Situation. Hier zeigt sich, wie gut Ihre Vorbereitung war. Hier zeigt sich auch, dass Sie vieles erdenken können, aber nicht alles. Hier gilt es, mit den Vorbereitungen flexibel und effektiv umzugehen. Wenn Sie nach 25 Jahren Ihres Lebens Schule und Studium hinter sich gelassen haben, dann wissen Sie vieles, aber die Anwendung unter realistischen Bedingungen müssen Sie erst danach leisten. Die Durchführung der Verhandlung bedeutet den Austausch von Angebot, Gegenangebot und Argumenten. Die können Sie vorbereiten, aber da ist immer noch die große Unbekannte: Die Verhandlungspartner. Und dieser ist so gut wie unberechenbar. Auch wenn Sie sich in seine mentale Welt hineinversetzen, bleibt er immer ein Individuum mit eigenem Denkmuster. Dass alles exakt so verläuft, wie Sie es geplant haben, ist unwahrscheinlich. Es wird anders kommen. Was Sie auch immer in Ihrem Kopf denken, können Sie nur aus Ihrer eigenen Wahrnehmung heraus entwickeln. Zwar hilft es, sich in die Lage der anderen Seite hineinzuversetzen, zu 100 Prozent wird das nicht gelingen. Daher bleiben Restrisiken, Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und der Zufall. Je besser Sie sich vorbereitet haben, desto zahlreicher sind Ihre Reaktionsmöglichkeiten. Je mehr Optionen Sie im Vorfeld ermittelt haben, desto flexibler kann Ihre Strategie sein. So öffnen Sie immer wieder eine Tür, wenn die andere Seite taktisch darauf aus ist, Sie auf eine bestimmte Situation zu fixieren oder wenn die andere Seite keine Lösung parat hat. Die kommenden Abschnitte sollen Ihnen helfen, Ihre Vorbereitung optimal in den eigentlichen Verhandlungsvorgang einzubringen. Wir geben Ihnen wertvolle Hinweise und Grundregeln, die, wenn Sie sie beherzigen, Sie in die Lage versetzen, die Verhandlung zu führen und zu einem positiven Abschluss zu gelangen. Wir werden auf folgende Aspekte eingehen: Verhandlungsziele Verhandlungspartner/-teams
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Verhandlungspartner/-teams
Verhandlungsort Verhandlungs-Zeitplan Gesprächsführung Verhandlungsstil
1.
Verhandlungspartner/-teams
Die weitaus häufigste Konstellation bei Verhandlungen ist wohl das Gespräch zwischen zwei Personen. Man denke an die Gespräche zwischen Ehepartnern, Mutter und Kind, Lehrer und Vater, Lehrer und Kind, Käufer und Verkäufer, Berater und Interessent oder Personalchef und Bewerber. Je nach Tragweite und Zielsetzung unterscheiden sich diese Gespräche durch den Grad ihrer Intimität. Größere Intimität lässt auch mehr positive Emotionen zu. Eine aufgelockerte Atmosphäre erleichtert das Erreichen von Zielen bei schwierigen Themen. Darin besteht aber gleichzeitig auch die Gefahr, über das Ziel hinaus zu schießen. Das bedeutet, dass man sich unter Umständen zu Zugeständnissen hinreißen lässt, die bei neutralen Stimmungslagen nicht zu Stande kämen. Andererseits können Zweierkonstellationen dazu führen, dass die Partner ihren negativen Emotionen freien Lauf lassen, aufbrausen und unsachlich bzw. polemisch werden. Denn es ist ja niemand anwesend, auf den man – abgesehen vom Gesprächspartner - Rücksicht nehmen müsste. Gleichbehandlung aller Teilnehmer ist das oberste Gebot bei geschäftlichen Gesprächen, an dem mehrere Personen, d. h. Gruppen, teilnehmen. Es ist von größter Bedeutung, dass jeder Teilnehmer über den Stand der Dinge informiert wird. Sollte eine Person später hinzukommen, muss auch sie in die Kommunikation einbezogen und auf den aktuellen Stand gebracht werden. Stellen Sie sich vor, ausgerechnet derjenige, der nicht im Bilde ist, wäre zwar nicht der Fachmann für das zur Verhandlung stehende Thema, aber der Entscheider. Das Ergebnis können Sie sich leicht ausmalen. Ebenso wichtig, wie die andere Seite auf gleichen Informationsstand zu holen, ist es, innerhalb der eigenen Gruppe die Rollen und Kompetenzen zu verteilen. Wer darf über Preise sprechen, wer über Termine, wer über Vertragsklauseln? Wem obliegt die Gesprächsführung? Es muss gewährleistet sein, dass kein Kollege dem anderen widerspricht, weder inhaltlich noch argumentativ. Dasselbe gilt für die hinzugezogenen Experten. Informieren Sie sich im Vorfeld über die erstellten Gutachten, Studien oder Statistiken, die Sie in Auftrag gegeben haben. Stimmen Sie
Verhandlungsdurchführung
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sich mit den Fachleuten ab, damit Sie vor Überraschungen sicher sein können. Dazu gehört auch, dass Sie eventuelle Beziehungen des Experten zur Gegenseite eruieren. Fatal wäre, wenn da „Leichen im Keller“ liegen würden.
2.
Zeit
Es liegt auf der Hand und wurde an anderer Stelle bereits erwähnt, dass nicht jeder beliebige Zeitpunkt sich für wichtige oder kritische Gespräche eignet. Ebenso offensichtlich ist, dass mit fortschreitender Dauer die körperliche und mentale Kondition der Teilnehmer nachlässt. Daraus resultieren veränderte Stimmungslagen. Diese Tatsache stellt kein Problem dar, wenn die Verhandler konstruktiv und beständig auf den Abschluss zusteuern und sicht- und spürbare Fortschritte machen. Beseelt von den Fortschritten treten der Faktor Zeit und eventuelle Befindlichkeiten in den Hintergrund. Anders verhält es sich, wenn die Gespräche schwierig sind, sich endlos im Kreis drehen oder unter negativen Vorzeichen ablaufen. Der Faktor Zeit ist eine nicht zu vernachlässigende Größe, die sogar bewusst taktisch genutzt werden kann. Ein Beispiel für das Nutzen und schlussendliche Durchkreuzen einer solchen Taktik stammt aus der Frühzeit der Bonner Republik. Bei Fraktions- oder Ausschusssitzungen pflegte Konrad Adenauer zunächst die Dinge zu behandeln, bei denen er sich der Stimmungslage recht sicher war oder die ihm nicht sonderlich bedeutsam waren. Es gelang ihm immer wieder, die Beteiligten dann in eine mehr oder weniger hitzige und vor allem Zeit raubende Diskussion zu verwickeln. Wenn dann die Uhr weit genug vorgerückt war und sich bei immer mehr Teilnehmern der Magen mit einem Knurren bemerkbar machte, dann kamen die kitzligen Themen auf den Tisch, die dann in der Regel ohne Vertiefungsdiskussion in Adenauers Sinne von der Gruppe entschieden oder abgesegnet wurden. Eines Tages jedoch, als eine Sache zur Entscheidung kam, die einem Teilnehmer sehr wichtig war, packte dieser eine große Zahl belegter Butterbrote aus mit der Bemerkung, das man sich das doch einmal sehr genau ansehen wolle. Nicht nur wurde die Sache gegen Adenauers Absicht entschieden, sondern er unterließ fortan diese Taktik, weil er wusste, dass sie entlarvt war. Zeit als taktische Maßnahme wird oftmals genutzt, um den Druck auf die andere Seite zu erhöhen. Wenn der Partner einen Abschluss der Verhandlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt wünscht oder sogar dringend benötigt, kann das Herauszögern dessen Position in der
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Verhandlungsort
Verhandlung schwächen. Er ist unter dem Eindruck der Zeitnot möglicherweise zu Zugeständnissen bereit. Zeit kann auch genutzt werden in Form der Unterbrechung einer Verhandlung, wenn die Emotionen aufgeputscht sind. In diesem Fall trägt eine Pause zur Entspannung und Deeskalation bei. Eine gängige und auch oft richtige Begründung ist, dass man die präsentierten Vorschläge oder Argumente prüfen will. Das signalisiert in der Regel dem Partner, dass man konstruktive Absichten hat. Es kann auch sein, dass Sie sich mit einer Unterbrechung der Verhandlung etwas Zeit nehmen wollen, um unter Einbeziehung der bis dahin vorgebrachten Gesichtspunkte Ihr Ziele und Ihr Vorgehen neu zu überdenken oder um neue Kräfte zu sammeln. Kommen Sie in der Pause zu keinen neuen Erkenntnissen, ist es ratsam, die Gespräche zu vertagen. Fassen Sie in diesem Fall die bisher erarbeiteten Ergebnisse und Differenzen schriftlich zusammen und vereinbaren sofort einen neuen Termin. Insgesamt lässt sich sagen, dass mehrere kurze Verhandlungsabschnitte effektiver sind als Marathonsitzungen. Es geht nicht darum, dass man auf jeden Vorstoß sofort reagiert und kontert. Vielmehr ist es verständlich, dass jeder neue Aspekt zunächst bedacht und beraten werden muss. Wenn Sie an einer effektiven und effizienten Verhandlung interessiert sind, dann empfiehlt sich das Mittel einer Agenda. Hier listen Sie die Themen in sinnvoller Reihenfolge, eventuell geben Sie auch die Zeitrahmen für jede Position vor. Grundsätzlich sollte kein Ergebnisdruck durch einen vorgegebenen Zeitrahmen ausgeübt werden. Planen Sie und Ihr Gesprächpartner entweder den Zeitbedarf großzügig oder nehmen Sie den Druck von Anfang an heraus, indem Sie bekannt geben, dass heute keine Ergebnisse erwartet werden.
3.
Verhandlungsort
Meist sind wir der Ansicht, wer etwas wünscht, der geht zu dem, von dem er dies bekommen möchte. Eine gängige Regel, die nicht ohne Risiken ist. So impliziert sie automatisch eine Rangordnung. Der Bittsteller kommt zum Wohlhabenden, könnte man diese (Un-)Sitte übersetzen. Und vor allem ist es nicht Ihre alleinige Entscheidung, denn immerhin könnte Ihr Gesprächspartner ebenso wie Sie eine Vorstellung vom Ort der Verhandlung äußern wollen. Grundsätzlich kommen drei Alternativen in Frage: Ich kann den Gesprächspartner besuchen, ihn in mein Büro einladen oder einen neutralen Ort vorschlagen. Einen Konferenzraum in einem Hotel zum Beispiel.
Verhandlungsdurchführung
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Als Gastgeber muten Sie sich in der Regel einiges an Arbeit und Umsicht zu. Denn von Ihnen wird es abhängen, dass die Verhandlung reibungslos und angenehm verläuft. Das beginnt bereits damit, dass Sie es dem Gast ermöglichen bzw. erleichtern, den Weg zu Ihnen zu finden. Schicken Sie ihm eine Wegbeschreibung in einer E-Mail oder als Fax. Selbstverständlich müssen auf dieser Skizze die vollständige Adresse sowie die Telefonnummer für Fragen von unterwegs vorhanden sein. Normalerweise sollte Ihr Personal über den Termin informiert sein, damit der Gast bei seiner Ankunft entsprechend empfangen wird. Wir haben schon erlebt – es ist also keine Fiktion, kein Schauermärchen und kein Scherz – dass wir bei unserem Eintreffen folgendermaßen empfangen wurden: „Zu Herrn X möchten Sie? Moment, ich schau mal nach…ähm… geht jetzt nicht, er hat gleich eine Besprechung.“ Überflüssig zu erwähnen, dass wir zu eben dieser Besprechung eingeladen waren. Sorgen Sie also dafür, dass Ihr Gast zügig zu Ihnen durchgeschleust wird und nicht auf sich selbst gestellt durch Flure und Etagen irrt. So gewährleisten Sie pünktliches Erscheinen Ihres Gastes (sofern dieser rechtzeitig eingetroffen ist). Genauso pünktlich müssen Sie für Ihren Gast zur Verfügung stehen. Die Location, wie man so schön auf Neudeutsch sagt, sollte angemessen ausgestattet sein. Dazu gehören Arbeits- und Ablageflächen. Büroutensilien wie Stifte, Papier sollten bereitliegen und nicht erst im Materiallager bestellt werden müssen. Die Technik muss vorbereitet sein. Möglicherweise werden Sie einen Kopierer benötigen, zumindest sollte jederzeit ein Mitarbeiter greifbar sein, der schnell ein paar Kopien anfertigen kann. Arbeiten Sie mit Präsentationen? Dann benötigen Sie unter Umständen einen Beamer, einen Laptop, eine Audioanlage, einen Laserpointer usw. Obligatorisch ist das Flipchart mit ausreichender Zahl von farbigen Stiften. In manchen Fällen ist es sogar sinnvoll, eine Aufzeichnungsmöglichkeit bereit zu halten, um wichtige Zwischenergebnisse zu fixieren. Reichen Sie Erfrischungen. Einige Flaschen kühler Getränke sind von Verhandlungstischen heute nicht mehr wegzudenken. Sie sorgen ebenso für einen klaren Kopf wie das zeitweilige Öffnen eines Fensters, um die verbrauchte Luft zu erneuern. Umso konzentrierter verläuft die Arbeit. Als Gastgeber haben Sie klar den „Heimvorteil“. Dieser macht so manche der vorgenannten Pflichten wett. In der gewohnten Umgebung haben Sie Zugriff auf „Ihre“ Informationen, Ihre Logistik und Strukturen im Betrieb. Sie können sich in aller Ruhe auf den Termin vorbereiten, ohne einen Gedanken an Stau, Hektik und schlechtes Wetter verschwenden zu müssen. Darum sind Sie in gewisser Weise Ihrem Partner gegenüber im Vorteil. Es ist demnach nur fair, dass Sie für optimale Rahmenbedingungen zu sorgen haben. Ihre wichtigste Aufgabe in der Rolle des Gastes ist es, perfekt vorbereitet und pünktlich zu erscheinen. Darüber hinaus gibt es wenig, was zu tun bliebe, außer eben konstruktiv mitzuarbeiten und sich ansonsten mit den Gegebenheiten der Örtlichkeit zufrieden zu geben. Der „neutrale Ort“ als Location erfreut sich bei geschäftlichen Verhandlungstreffen großer Beliebtheit. Mit gutem Grund: Er sorgt zum Beispiel für gleiche Bedingungen für alle Betei-
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Verhandlungsziele
ligten. Hier ist niemand im Heimvorteil, niemand muss den Gastgeber „spielen“, während der andere sich als Gast zurücklehnen kann. Hotels verfügen zumeist über geeignete, klimatisierte und technisch gut ausgestattete Konferenzräume und sorgen für die Bewirtung. Von dieser Last befreit verhandelt es sich viel entspannter; auch kritische Themen verlieren in diesem Rahmen etwas von ihrem „ungemütlichen“ Charakter. Ein weiterer großer Vorteil eines neutralen Treffpunktes besteht darin, dass er so gewählt werden kann, dass die Entfernung für alle Beteiligten verkürzt werden kann.
4.
Verhandlungsziele
Es lohnt sich in der Regel, bei der Formulierung der eigenen Verhandlungsziele nicht zu schüchtern zu sein. Je höher Sie Ihr Ziel ansetzen, desto besser ist Ihr Ergebnis. Doch bleiben Sie flexibel und realistisch, denn wenn Sie stur und zielfixiert (wie „Henne Henriette“, Sie erinnern sich) an Ihrem Maximalergebnis kleben, geraten Sie leicht in eine Sackgasse. Extreme Forderungen machen das Verhandeln nicht leichter. Wenn Sie dann auch keine Gegenleistung anbieten, marodisiert das Ihre Glaubwürdigkeit. „Der ist ja verrückt, völlig unrealistisch, mit dem kann man nicht verhandeln“, wird man Ihnen nachsagen. Können Sie dagegen Ihre Ansprüche faktisch belegen, dann steigen Sie mit der höchsten vertretbaren Forderung ein. Sie können davon ausgehen, dass Ihr Gegenüber diese lediglich als Ihre Einstiegsposition versteht, als Verhandlungsbasis mit Bewegungsspielraum und nicht als das Ende der Fahnenstange. Im Angelsächsischen Raum spricht man von: „aim high, shoot low“ – zu Deutsch etwa: „hoch anvisieren und tiefer treffen“. Stellen Sie sich als einen Schützen vor, der ein entferntes Ziel im Visier hat. Auf dem Weg zur Zielscheibe beschreibt das Geschoss in Folge der Erdanziehungskraft eine Kurve nach unten. Aus diesem Grund müssen Sie absichtlich etwas zu hoch zielen („aim high“), um das Scheibenzentrum zu treffen („shoot low“). (Sportschützen gleichen die ballistische Flugbahn des Geschosses aus, indem sie das Visier entsprechend verstellen und somit das Ziel „genau“ anvisieren können.) Daraus folgt auch: Wenn Sie gleich zu Beginn mit Ihrer Forderung dort einsteigen, wo Sie das realistische Ergebnis sehen, werden Sie mit Sicherheit davon abgeben müssen und darum unterhalb Ihrer Erwartungen abschließen. Seien Sie auch darauf gefasst, während der Verhandlung Ihre Vorstellung vom optimalen Ergebnis an die Realität anzupassen. Denn manchmal bekommt man eben nur das, was möglich ist und nicht das, was man möchte oder glaubt, verdient zu haben.
Verhandlungsdurchführung
169
AIM HIGH
Abbildung 27: Aim high, shoot low
5.
Verhandlungsstile
Es gibt unterschiedliche Verhandlungsstile, und es gibt unterschiedliche Typisierungen dieser Stile. Zum Beispiel, indem man ihnen jeweils eine Farbe zuordnet. Die Verteilung der Farben auf die Charaktere ist von der Farbpsychologie abgeleitet. Metapher
Beschreibung
Rot
aggressiv; will alles für nichts bekommen; blufft, nutzt auch unfaire Methoden und Tricks
Blau
kooperativ, beziehungsorientiert, bescheiden, ängstlich, unterwürfig
Pink
kooperativ, selbstbewusst, macht nur bedingte Angebote („Wenn Sie x geben, dann gebe ich y.”)
Tabelle 7: Verhandlungsstil charakterisiert nach Farben
170
Verhandlungsstile
Geläufiger sind jedoch die herkömmlichen Unterscheidungen des Verhandlungsstils in: Metapher
Beschreibung
Hart
Aussagen: „Verhandeln ist Willenskampf“, „Nur der Sieg zählt“
Weich
vermeidet Konflikte, eher nachgiebig
Sachgerecht
erstrebt Problemlösung und Wahrung der Beziehung
Tabelle 8: Verhandlungsstil charakterisiert nach Adjektiven Ein weicher Stil zum Beispiel ist gekennzeichnet von Furcht vor dem Scheitern der Verhandlungen, also die Furcht vor dem Nichtzustandekommen des Kontraktes. Weiche Verhandler7 reden oft zu viel und fürchten sich vor Drohungen. Sie versehen jedes ihrer Angebote mit einem Signal für weiteres Nachgeben. Darum ziehen sie fast jedes Verhandlungsergebnis einem Abbruch vor. Harte Verhandler setzen sich eher durch, bauen aber keine Beziehung und kein Vertrauen auf (und scheitern deshalb oft auf längere Sicht). Ob die Verhandler sich als Freunde (weich), Gegner (hart) oder Problemlöser (sachbezogen) sehen, hängt vom jeweiligen Stil ab. Eine ähnliche Unterteilung zu den beiden vorgenannten sei hier abschließend noch erwähnt. Sie lehnt sich an Verhaltensweisen aus der Tierwelt an. Metapher
Beschreibung
Hai
aggressiv, rücksichtslos, egoistisch
Karpfen
ängstlich, nachgiebig
Delphin
aggressiv gegenüber Haien, kooperativ gegenüber Karpfen und Delphinen
Tabelle 9: Verhandlungsstil charakterisiert nach Eigenschaften von Tieren Beide Extreme, sowohl der Verhandlungsstil Hai/Hart/Rot wie auch der Weich/Blau/Karpfen, führen meist nicht zu einem auf Dauer gesehen positiven Ergebnis. Der Karpfen wird sich immer als Verlierer sehen und wahrscheinlich aufgeben müssen. Der Hai macht sich keine Freunde und isoliert sich auf lange Sicht. Der Königsweg liegt wie sooft in der Mitte. Wir empfehlen, sich den Stil der selbstbewussten Kooperation (z. B. Pink, Delphin) anzueignen. Das bedeutet, standfest in der Sache zu bleiben und gleichzeitig flexibel in der Vorgehensweise zu sein. Gelingt Ihnen dies nicht, weil Ihr „Naturell“ anders angelegt ist, dann akzeptieren Sie nach dem 71/29-Prinzip bewusst die eben beschriebenen Konsequenzen und nehmen 7 Nach Gavin Kennedy: Essential Negotiation und Roger Fisher, William Ury: Das Havard-Konzept.
Verhandlungsdurchführung
171
sie in Ihre Kalkulation mit auf. Mehr über das 71/29-Prinzip und wie Sie negative Erfahrungen positiv in Ihre Zielerreichung einbauen können, erfahren Sie zum Beispiel in dem Buch „Personal Power“ des Autorenteams Lasko und Busch. Verhandlungs- und Verhaltensprofile lassen sich spieltheoretisch untersuchen. Das gilt auch für Verhandlungen im Tierreich (Säuger, Menschen darin eingeschlossen, lassen sich als in Eiweiß gegossene Spieltheorie betrachten). Nehmen wir zum Beispiel das Phänomen der „Wutkopulation“. Wenn der Inhaber eines Harems aus Hirschkühen in der Brunftzeit mit einem Herausforderer um den Harem kämpft, dann kann das mitunter sehr lange gehen. Zu gegebener Zeit legen die Rivalen Kampfpausen ein. Und in solchen Kampfpausen bespringt der Platzhirsch dann einige Kühe. Die Naturforscher früherer Zeiten wussten diesem Verhalten keinen besseren Namen zu geben als eben Wutkopulation. Dabei hat das wenig mit Wut zu tun, sondern viel mit Verhandeln. Der Platzhirsch signalisiert dem Rivalen „Selbst wenn du den Harem gewinnen solltest, nützt es dir doch nicht viel, denn die Kühe sind schon von mir trächtig“. Er mindert somit die Attraktivität des Verhandlungsgegenstandes, sodass für den Herausforderer das Ziel seiner Wünsche einen geringeren Stellenwert bekommt. Es ist zu beobachten, dass nach vollzogener „Wut“-Kopulation des Platzhirsches der Herausforderer mit geringerer Intensität kämpft, weil ihm mit einem Mal die rechte Motivation fehlt. Und in der Regel räumt er am Ende das Feld. Da Verhandeln nicht nur in Geschäftskontexten stattfindet, sondern fast überall im täglichen Leben, lohnt sich nach dem kurzen Ausflug ins Tierreich noch ein Blick auf andere Verhandlungskontexte und -formen. Das schulische Leben ist geprägt von Verhandlungen zwischen Lehrern und Schülern. Sehr schnell und intuitiv können Schüler ihre Lehrer den Verhandlungsprofilen zuordnen (z. B. Hai, Karpfen, Delphin). Damit Lehrer sich wie Delphine verhalten können, sollten sie genug über Verhaltensmuster wissen. Darüber hinaus sollten sie auch spürbare Sanktionen praktisch verfügen können, mit klaren Möglichkeiten der Eskalation. Wenn hier ein Defizit besteht, kann dieser Mangel zahlreiche Schüler- und Lehrerkarrieren negativ beeinflussen8.
8 Schlechte PISA-Ergebnisse und erschreckend hohe Frühinvalidität von Lehrern haben nicht nur mit Überre-
gulierung und Unterfinanzierung der Schulen zu tun, sondern auch mit Mängeln im Verhandlungs- und Steuerungsbereich.
172
6.
Eine Verhandlung ist eine Diskussion ist ein Gespräch
Eine Verhandlung ist eine Diskussion ist ein Gespräch
Die konkrete Verhandlungssituation ist in der Regel die eines Gespräches. Da gibt es diverse Vorgehensweisen, wie Verhandler ihre Position psychologisch verbessern wollen. Ähnlich zu den Imponier-Ritualen aus der Tierwelt gibt es Praktiken wie dem anderen beiläufig zu verstehen geben, dass man seine Leistungen / Beiträge nicht braucht den anderen warten lassen (ich bin wichtiger als du) den anderen tiefer sitzen lassen (ich bin größer als du) den anderen unbequem sitzen lassen (mir geht es besser als dir, ich bin stärker als du) nebenbei andere Dinge tun (du bist nicht wichtig für mich), etc. Solche Praktiken kann man spiegeln oder entlarven, man kann jedenfalls auf sie reagieren.9 Für den Ausgang der Verhandlung kann es nützlich sein, gemeinsam Optionen für den gemeinsamen Nutzen zu entwickeln. Wenn man dabei um ein Flipchart herumsteht und schreibt oder Skizzen zur Veranschaulichung zeichnet, dann drückt diese Situation Kooperation aus. Wenn sich dagegen zwei Parteien in eingefrorenen Körperhaltungen gegenübersitzen und einzuschüchtern versuchen, ist von Aufeinanderzugehen nichts zu entdecken. Wenn Sie es schaffen, dass Sie sich mit Ihrem Partner auf die Kriterien für die Qualität des Ergebnisses einigen können, dann können Sie sich gemeinsam an den Kriterien entlang zum Ergebnis hangeln. Natürlich kann es sein, dass Sie genau anhand dieser Kriterien zu dem Ergebnis kommen, dass der Partner bessere Angebote von anderer Seite hat – bei denen Sie z.B. aus Kostengründen nicht mithalten können. Aber dann zeigen die objektiven Kriterien, dass Sie kein Verhandlungsproblem haben, sondern dass Sie eine andere Baustelle aufmachen sollten, nämlich Ihre Strategie / Ihre Kostenlage wettbewerbsfähig zu machen.
9 z. B. „Kann ich die Toilette aufsuchen“ (nach längerer Wartezeit); „Können wir uns anders setzen, mich blen-
det die Sonne?“ etc.
Verhandlungsdurchführung
7.
Gesprächsführung
7.1
Darf man den Verhandlungs-Partner unterbrechen?
173
Verfolgen Sie Polit-Talkrunden im TV? Es gehört theoretisch zum guten Ton, einander ausreden zu lassen. Die Verhandlungs-Praxis sieht häufig anders aus. Verhandelnde wollen nicht gerne unterbrochen werden, selbst unterbrechen sie andere jedoch ständig. Interessanterweise ist die Quote der Unterbrechungen bei Verhandlungsführern, die sich gut kennen, deutlich höher als bei Personen, die zum ersten Mal miteinander verhandeln.
7.2
Fragen und Antworten
Verhandlungs-Profis stellen häufig Fragen, um damit lösungsrelevante Informationen zu erhalten. „Anfänger“ dagegen tendieren dazu, zu viel zu reden und viel zu wenig zu fragen. Doch wer viel redet, erfährt nichts. Antworten auf meine Fragen liefern mir wichtige Hinweise auf die Stimmungslage und die Situation meines Gegenübers. Ohne diese Informationen ist es unmöglich, ein treffendes Argument einzusetzen oder eine geeignete Option zu platzieren. Zudem werden oft die falschen Fragen gestellt oder schlechte Formulierungen verwendet. Falsche Fragen sind solche, auf die nur ein „Ja“ oder „Nein“ folgen kann, so genannte „geschlossene Fragen“. Eine solche Antwort ist nichts wert und lässt keinen Spielraum. Sollten Sie selbst des Öfteren in dieser Weise befragt werden, versuchen Sie den inneren Drang zur definiten Antwort zu unterdrücken. Fragen Sie im Gegenzug statt mit „Ja“ zu antworten beispielsweise: „Wenn wir hier zustimmen, wie würde dann Ihr Entgegenkommen aussehen?“ Offene Ablehnung ist ein Gesprächskiller. Wenig förderlich ist eine Aussage wie „Das stimmt nicht“. Denn während Sie noch erklären, warum die Aussage nicht korrekt ist, bereitet sich der Gesprächspartner schon auf seine Verteidigung vor und sucht nach Rechtfertigungen oder legt sich gar in Gedanken einen Gegenangriff zurecht. Für den Fall, dass Sie mit einem Argument überhaupt nicht konform gehen, fragen Sie besser nach der Grundlage für die Aussage. Die Frage „Wie kommen Sie darauf?“ klingt vielleicht nicht besonders höflich, erfüllt aber zur Not ihren Zweck. Sie ermöglicht der anderen Seite
174
Gesprächsführung
die Korrektheit der Aussage zu beleuchten und Ihnen, dies zu akzeptieren, ohne reumütig eine vorschnelle Ablehnung zurücknehmen zu müssen. Vermeiden Sie Fragen wie „Meinen Sie das ernst?“ oder „Ist das Ihr letztes Angebot?“. Stattdessen verwenden Sie offene Fragen wie „Auf welcher Grundlage haben Sie das errechnet?“, „Wie beurteilen Sie die Situation?“ Es sind die „W-Fragen“ (Wer, Wie, Wann, Warum, Was, Wo), die die meisten verwertbaren Informationen zu Tage fördern. Fragestellungen sollten frei sein von versteckten Vorwürfen, frei von jeder emotionalen Aufladung, sowohl in der Wortwahl als auch im Hinblick auf die Betonung. Die Fragen „Was haben Sie sich denn dabei gedacht?“ und „Wie sind Sie zu dem Ergebnis gekommen?“ zielen zwar auf dieselbe Antwort ab, unterscheiden sich in ihrer Qualität völlig. Leicht könnte die erste Frage als unterschwellige Kritik an der Glaubwürdigkeit des Gegenübers aufgefasst werden. Verhandlungsprofis hören aktiv zu, das heißt mit ungeteilter Aufmerksamkeit und voller Konzentration auf ihr Gegenüber. Auch wenn der Verhandlungspartner zu einer längeren Ausführung anhebt, so liefert diese eine Menge wertvolle und verwertbare Informationen zur Anpassung Ihrer Taktik oder Ihrer Argumentation an den Verlauf des Gesprächs. Verhandlungsprofis formulieren Zwischenergebnisse und Zusammenfassungen, um Ihrem Partner zu zeigen, dass Sie voll auf ihn fokussiert sind und seine Positionen und Interessen verstehen. Dieses Verständnis dem Verhandlungspartner zu signalisieren, ist schon ein wichtiger Meilenstein in Richtung konstruktiver Konfliktbewältigung. Insbesondere bei komplizierten Themen und Komplexen ist es wichtig, nach einigen inhaltsschweren Sätzen eine Zusammenfassung zu geben oder zu verlangen. „Verstehe ich Sie richtig, dass Sie …?“ ist eine geeignete Frage, die eine Zusammenfassung initiiert. Im Anschluss an eigene Ausführungen bieten Sie mit den Worten „Ich fasse zusammen“ dem Gegenüber die Gelegenheit, das Gesagte noch einmal mental zu rekapitulieren.
7.3
Die „Ja“-Straße
Im Sinne erfolgreicher Verhandlungen scheint es für Verhandlungsführer wichtig zu sein, Ihre Verhandlungspartner gut abzuholen, bevor sie sie anschließend zu ihrem Verhandlungsziel erfolgreich führen können. Das bedeutet, dass der Verhandlungsführer der anderen Seite deutlich macht, dass er sich in dessen Welt begibt, sie versteht und um eine gemeinsame Wertestruktur bemüht ist. Hier wird in der Verhandlungspraxis oft viel falsch gemacht, weil Verhandlungsführer zu direkt auf ihr Ziel zusteuern, ohne ihr Gegenüber mitzunehmen. Augenscheinlich ist das mehrfache, qualitativ hochwertige Abholen der Verhandlungspartner wichtig, um die Gesprächsatmosphäre positiv aufzuladen und die JA-Reaktionen der Verhandlungspartner zu sammeln. Es scheint wichtig zu sein, in Verhandlungen, die von Interessengegensätzen gekennzeichnet sind, zu frühe NEINs der Gegenseiten zu vermeiden.
Verhandlungsdurchführung
175
Hierzu ein kurzes Beispiel aus dem Verhandlungsalltag in der Familie. Vielleicht mag der eine oder andere Leser ähnliche Situationen im Familienalltag erlebt haben.
7.3.1
Eine perfekte Verhandlungsstrategie
Früh übt sich, wer einmal im Leben ein guter Verhandlungsführer sein möchte. Gleichgültig, ob es um die Schokolade an der Kaufhauskasse geht oder um das Fernsehen oder um die Playstation – Kinder können hartnäckige und gewiefte Verhandler sein. Meine Tochter kam im stolzen Alter von zehn Jahren eines freitagabends, als ich gerade von einem fünftägigen Seminar nach Hause kam, auf mich zu. Besser gesagt sie rannte auf mich zu, fiel mir um dem Hals und rief aus: „Papa, Papa, toll, dass du wieder da bist! Hör mal, am letzten Wochenende hast du doch gesagt, ich soll mein Taschengeld nicht zum Fenster rauswerfen, stimmt’s?“ Ich antwortete: „Ja, ja ...!“ „Und du hast auch gesagt, dass Sparen viel besser ist, als am Kiosk ständig Süßigkeiten zu kaufen!“ „Ja, ja …!“ „Und du hast auch gesagt, wenn ich mal ein größeres Sümmchen beisammen habe, dann kann ich mir etwas kaufen, wo ich viel längere Zeit Freude dran habe, das hast Du doch auch gesagt, oder?“ „Ja, ja ... natürlich!“ „Du Papa, 25 Mark habe ich jetzt gespart, wie findest du das?“ „Super, das finde ich toll!“ „Ja, also hör mal, du warst doch wieder die ganze Woche nicht da. („Hm!“) Damit ich nicht immer so alleine bin, wenn du weg bist… Du, also, in unserer Zoohandlung, da gibt es so ein süßes Kaninchen, Papa, wenn du das siehst, das wird dir auch sofort gefallen. Darf ich mir das kaufen von meinem selbst gesparten Geld?“
Dreimal dürfen Sie raten, wie meine Antwort lautete, obwohl der Gedanke, künftig Hausgenosse eines Kaninchens zu sein, für mich nicht sehr verlockend war. Wenn Sie vor dem Hintergrund des Verhandlungsdreiecks diese Situation analysieren, so erkennen Sie unschwer, dass meine Tochter mich mehrfach abgeholt hatte. Ich musste schätzungsweise sieben Mal mit dem Kopf nicken, bevor sie mich zu guter Letzt zu ihrem Verhandlungsziel führte.
176
7.4
Gesprächsführung
Exkurs – die EMMA-Strategie
Das Gesetz erfolgreicher Verhandlungsführung, nachdem der Gesprächspartner mehrfach abzuholen ist, bevor man ihn anschließend zum Ziel führt, liefert einen Grundsatz für erfolgreiche zielorientierte Kommunikation:
A:F t 2:1 (A = Abholen und F = Führen) Das bedeutet: Bevor Sie einen anderen Menschen zu einem Verhandlungsziel führen, lassen Sie ihn vorher mehrfach erleben, spüren, erfahren, dass Sie sich auf ihn einstellen. Erfolgreich verhandeln bedeutet, einem anderen Menschen in seiner Welt begegnen. Das Verhältnis A:F t 2:1 sagt zunächst nur etwas über die quantitative Relation von Abholen und Führen aus. Um einen Verhandlungspartner gut abzuholen, müssen wir auch die qualitative Dimension des Abholens genauer betrachten. Hier hilft die EMMA-Strategie (Abbildung siehe nächste Seite) des Schweizer Kommunikationswissenschaftlers Heinz Goldmann. Das Akronym EMMA steht für Erfahrungen Meinungen Motive und die aktuelle Situation. Diese vier Felder bilden die Determinanten jeder menschlichen Entscheidung. Jeder Mensch fragt sich, wenn er mit einer Verhandlungsposition konfrontiert wird: Passt oder widerspricht das Gehörte zu den Erfahrungen, die in diesem Felde vorher gemacht wurden? Wie denke ich darüber? Welche Meinung habe ich dazu? Wie bewerte ich die Situation? Entspricht das Gehörte meinen Bedürfnissen, Interessen, Motiven, Zielen? Passt das zu meiner aktuellen Situation? Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, zu sprechen oder eine Entscheidung zu fällen? Auch meine Tochter hatte die EMMA-Strategie angewandt, wenn auch unbewusst. Zum einen passte die aktuelle Situation: Vater kommt nach fünftägiger Abwesenheit zur Tür herein. (Wie gesagt ist es generell wichtig, bei Verhandlungen den richtigen Zeitpunkt zu finden.) Anschließend sprach sie eine gemeinsame Erfahrung an: das Gespräch des letzten Wochenendes. Weiterhin spiegelte sie meine Meinung „Sparen sei gut“ wider. Das wiederum bescherte mir ein Erfolgserlebnis in der Erzieher-Rolle („Sieh mal, ich setze das um, was du mir die ganze Zeit beizubringen versuchst!“). Gekrönt wurde ihre Strategie mit dem Satz „Du warst ja schon wieder die ganze Woche nicht da!“ – einem versteckten Vorwurf, der an das
Verhandlungsdurchführung
177
Motiv der Fürsorge bzw. der sozialen Verantwortung gerichtet war („Papa, du bist verantwortlich für mein Wohlergehen!“). Falls sie jetzt übrigens vermuten, meine Tochter lese heimlich in meinen Seminarunterlagen, liegen Sie falsch.
Abbildung 28: EMMA-Strategie Erfolgreiche Kommunikation, das macht dieses Beispiel auch deutlich, existiert völlig unabhängig von den entsprechenden Modellen, wie Sie sie zum Beispiel in diesem Buch lesen können. Eine Landkarte beispielsweise ist nicht das Gebiet, das Gebiet war schon da, bevor die ersten Landkarten entwickelt wurden. Genauso verhält es sich auch mit der Kommunikation. Erfolgreich verhandelten Menschen schon vor Jahrtausenden, lange bevor sich Kommunikationswissenschaftler dieses Themas annahmen. Was Kommunikationsstrategien und auch Bücher wie dieses leisten können, ist, derartige Fälle von Verhandlungs-Best-Practice zu analysieren und die derartigen Verhandlungen zugrunde liegenden Strukturen transparent zu machen, um hieraus zu lernen.
8.
Umsetzung des Verhandlungsergebnisses und Ergebnissicherung
Was nützt die Verabredung mit dem begehrenswertesten Menschen der Welt, wenn das Zusammensein nie stattfindet? Was nützt das beste Verhandlungsergebnis, wenn es nicht umgesetzt wird? Was nützen die schönsten Äpfel am Baum, wenn sie nie geerntet werden?
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Umsetzung des Verhandlungsergebnisses und Ergebnissicherung
Die Umsetzung ist die Erntezeit. All die Mühen und Überlegungen der Vorbereitungsphase, all die Geschicklichkeit, Zurückhaltung und Schlagfertigkeit jeweils zum rechten Moment der Durchführungsphase finden jetzt ihre Vollendung und Erfüllung. Haben Sie gut gearbeitet in den beiden ersten Phasen im Sinne des gemeinsamen Nutzens? Dann seien Sie unbesorgt, Ihr Partner wird nicht abspringen wollen. Haben Sie mit viel Raffinesse nur auf Ihren eigenen Vorteil hin gearbeitet? Dann kommt es jetzt darauf an, zum Beispiel mit der Gulliver-Strategie das Ergebnis zu sichern.10 Das erfolgt, indem sie das Knüpfen eines jeden Fadens so einrichten, dass der Argwohn des Partners nicht erwacht. Sie kennen sicher die fantastische Geschichte vom Seefahrer Gulliver, der auf der Insel der Liliputaner gestrandet, sofort an Ort und Fundstelle mit Hunderten von Liliputaner-Bindfäden im Schlaf gefesselt wird, ohne dass er erwacht. Lassen Sie zum Beispiel bei einer Abendgesellschaft ganz beiläufig – zum Beispiel im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Person oder im Rahmen eines Small Talks – fallen, dass Herr Meier ein Geschäftspartner ist. Sie beide haben gemeinsam noch viel vor und haben sich erst kürzlich geeinigt, „diese“ Unternehmung zu starten. Sie marschieren dann gleich ohne Unterbrechung weiter, indem Sie zunächst Herrn Meier ein Kompliment machen, dann dem Small-Talk-Partner und dann eine anfordernde Scherzfrage stellen oder einen wirklich guten Witz zum Besten geben. Die Situation wäre dann perfekt inszeniert, wenn sich Herr Meier schämen müsste, wiche er jetzt durch irgendwelche Einwände vor der Vereinbarung ab oder ginge er jetzt von Small Talk im Beisein Dritter auf die Besprechung von Details der Geschäftsinhalte über. Vielleicht können Sie auch gegenüber dem Dritten einen Erfolg des Herrn Meier erwähnen, über den dieser gerne spricht. Schneller als geglaubt kann auf diese Weise eine einmal erreichte Vereinbarung gerichtsfest beweisbar sein. Und eine solche mündliche Vereinbarung zwischen Vollkaufleuten ist so gültig wie eine geschriebene.11 Übrigens wenden Bazillen und Viren oft eine ähnliche Strategie an: möglichst stark werden, ohne die Wahrnehmungsschwelle des Immunsystems zu überschreiten.
10 Als Gulliver sich im Land der Zwerge befand, kam er diesen wie ein gefährlicher Riese vor. Als er schlief,
banden sie ihn mit Seilen fest. Jedes der Seile war für Gulliver wie ein schwacher Bindfaden. Aber die Gesamtheit der Seile band ihn so fest, dass er sich nicht daraus befreien konnte. 11 Vereinbarungen zwischen Maklern an der Börse werden in der Regel durch Zuruf und Handzeichen geschlossen. Ein schriftlicher Kaufvertrag zwischen Kleinbauern und Viehhändler sind eher die Ausnahme.
Nach der Verhandlung ist vor der Verhandlung – Epilog
Unsere Welt wird zunehmend komplex und unübersichtlich. Und zugleich wird sie in gewissem Sinne zunehmend transparent. Tricks, Gaunereien und Bubenstücke sind überhaupt nur da wirtschaftlich sinnvoll, wo man sich mit ziemlicher Sicherheit nicht ein zweites Mal begegnet. Die Gelegenheiten werden immer zahlreicher, bei denen sich auf zum Teil unerwartete Weise verbreitet – im Guten wie im Schlechten –, wie nutzbringend der Umgang mit Ihnen ist. Das Internet bringt es zum Beispiel mit sich, dass man sich immer leichter auf indirekte Weise über die Vertrauenswürdigkeit einer Person erkundigen kann. Das Akquirieren eines neuen Geschäftspartners ist in der Regel wesentlich aufwendiger als die Pflege eines vorhandenen Partners. Spieltheoretiker betonen, welchen Nutzen es hat, pfleglich und verlässlich mit dem Verhandlungspartner auch dann zu verfahren, wenn die eigentliche Zeit der Verhandlung längst vorbei ist. Dabei geht es nicht um Ethik oder Moral, sondern nur um den (eigenen langfristigen) Nutzen. Daneben hat es etwas mit dem Thema Lebensqualität zu tun. Wenn ein überraschendes Wiedersehen Ihnen ein freudiges Lächeln und eine Einladung einträgt – und wenn Sie selbst sich ebenfalls freuen, dann trägt das eher zur Lebensqualität bei, als wenn Sie in einem solchen Falle angestrengt wegsehen möchten oder die Straßenseite wechseln. Am Ende interessieren uns nicht die Dinge, sondern die Emotionen. Es geht im Kern nicht (nur) um die Sache, es geht um die Menschen, und die wollen glücklich sein. „Glück ist das Einzige, das die Menschen um seiner selbst willen erstreben. Alles andere erstreben sie nur, weil sie glauben, damit glücklich zu werden“, sagte Aristoteles. Gute Verhandlungen (und deren strategische Vorbereitung) sind Mosaiksteine, aus denen sich auch das Lebensglück der Menschen zusammensetzen lässt.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viele, allseits erfolgreiche Verhandlungen!
Anhang
Die Verhandlungs-Erfolgsplattform Im Abschnitt „Arbeitshilfen“ in jedem Kapitel dieses Buches fanden Sie bereits Teile aus unserer Verhandlungs-Erfolgsplattform. Hier nun stellen wir sie Ihnen in ihrer Gesamtheit vor. Die Tabelle können Sie bei den Autoren bestellen. Senden Sie zu diesem Zweck eine E-Mail direkt an einen der Autoren oder an den Verlag.
Verhandlungs-Erfolgsplattform Verhandlungsführende Personen
Übergeordnetes Ziel
Positionen
Entscheidungsträger
Geschäftliches/ Persönliches Interesse
Analyse Interessen / Motive / Werte
Beziehungshistorie (-zukunft)
ZIEL
Unsere Seite:
Gegenseite:
Direkt/ Indirekt Beteiligte ............................................................ ............................................................
Entscheidungsvorbereiter
Geschäftliches/ Persönliches Interesse
Informant
ET:
EV:
IN:
ET:
EV:
IN:
ET:
EV:
IN:
Geschäftliches/ Persönliches Interesse
............................................................ ............................................................ Political Poster (alle Beteiligten)
............................................................ ............................................................ ............................................................ ............................................................ ............................................................ ............................................................ ............................................................ ............................................................ ............................................................
............................................................ ............................................................ WEG
............................................................ Kommunikationsplattform
Optionen Aktionen, um destruktive Optionen der Gegenseite zu schwächen Konstruktive
Destruktive
Lösung / Aktionen
Argumente .......................................
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Unsere Seite:
Unsere Seite:
Gemeinsame:
Gegenseite:
Erwartete Einwände .......................................
Gegenseite:
Beziehungslamel
Literaturverzeichnis
ANDREAS, S./FAULKNER, CH.: Praxiskurs NLP, Paderborn, 1997. BENIEN, K.: Schwierige Gespräche führen. Modelle für Beratungs-, Kritik- und Konfliktgespräche im Berufsalltag, Reinbek, 2003. BERNE, E.: Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen, Reinbek, 2004. BERNE, E.: Was sagen Sie, nachdem Sie „Guten Tag“ gesagt haben. Psychologie des menschlichen Verhaltens, Frankfurt am Main, 1983. BUCHNER, D.: Packen Sie´s an. 5 Schritte zum Erfolg, Wiesbaden, 1994. COVEY, S. R. U. A.: Der Weg zum Wesentlichen, Frankfurt am Main, 1997. CRAWLEY, J./GRAHAM, K.: Mediation For Managers, London, 2005. DE BONO, E.: Denkschule, Landsberg a. Lech, 1986. DÖRNER, D.: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen, Reinbek, 1992. EDELMAN J./CRAIN, M. B.: The Tao Of Negotiation, New York, 1994. FISCHER-EPE, M./EPE, C.: Stark im Beruf – erfolgreich im Leben. Persönliche Entwicklung und Selbst-Coaching, Reinbek, 2004. FISHER R./URY W./PATTON B.: Das Harvard Konzept, Frankfurt am Main, 21. Auflage 2003. HALBERLEITNER, E. U. A.: Führen, Fördern, Coachen, Frankfurt am Main, 2001. HARRIS, T. A.: Einmal o. k. – immer o. k., Reinbek, 1990. KENNEDY, G.: The New Negotiating Edge, London, 2003. KENNEDY, G.: Everything Is Negotiable, London, 1984. KENNEDY, G.: Perfect Negotioation, London, 2004. KENNEDY, G.: Essential Negotiation, London, 2004. MASTENBROEK, W.: Verhandeln, Wiesbaden, 1992. SALDERN, M.: Führen durch Gespräche, Hohengehren, 1998. SCHÄFER, B.: Die Gesetze der Gewinner. Erfolg und ein erfülltes Leben, Frankfurt am Main, 2001. SCHMIDT, P. F.: Personale Begegnung, Würzburg, 1995. SCHULZ VON THUN, F.: Miteinander Reden 1. Störungen und Klärungen, Reinbek, 1981. SCHULZ VON THUN, F.: Miteinander Reden 3. Das innere Team und situationsgerechte Kommunikation, Reinbek, 1998. SCHWARZ, A./SCHWEPPE, R.: Praxisbuch NLP. Denk dich nach vorn, Frankfurt am Main, 2003.
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Die Autoren
Raimund Schmitz hat seit 1986 als Trainer und Coach Tausende von Führungskräften und Mitarbeitern vieler namhafter Industrie-Unternehmen in Themen wie Verhandlungsführung, Präsentation, Neukunden-Akquisition geschult. Nach seiner Tätigkeit als Leiter des Instituts für erfolgreiches Kommunizieren und Verkaufen in Kerpen ist er heute GesellschafterPartner der Winner’s Edge Gesellschaft für Führungs-, Strategie- und Verkaufscoaching in Leichlingen. Seine Haupttätigkeitsfelder sind dort im Felde der permanenten Qualitätsverbesserung der Einsatz von Potenzial-Analysen sowie die ständige Weiterentwicklung des Winner’s-Edge-KompetenzCenters Training. Er lebt und arbeitet den größten Teil des Jahres in Italien und leitet die dortige Winners-Edge-Niederlassung.
Ulrich Spilker ist seit 1985 als Berater, Trainer, Moderator und Coach sowohl in mittelständischen als auch in renommierten Großunternehmen tätig. Seine inhaltlichen Schwerpunkte liegen in den Themenbereichen Führung, Coaching, Vertrieb und Verkauf. Nach fünfjähriger Tätigkeit als Berater und Trainer bei der DETECON (Deutsche Telepost Consulting GmbH) leitete er 13 Jahre das Vertriebstraining bei T-Mobile. Heute ist Ulrich Spilker Gesellschafter und Partner der Winner’s Edge Gesellschaft für Führungs-, Strategie- und Verkaufscoaching in Leichlingen.
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Die Autoren
Prof. h. c. Dr. rer. nat. Josef A. Schmelzer, Unternehmensberater und Coach, beschäftigt sich mit der Nutzensteigerung von Systemen und Organisationen durch Innovation und optimalen Einsatz der Ressourcen. Strategie kennt er u. a. aus der Zusammenarbeit mit Igor Ansoff, einem Begründer der Strategie für Unternehmen. Er ist Initiator einiger Organisationen und Unternehmen, u.a. einer der Initiatoren von Winner’s Edge.