Nicole Burzan Soziale Ungleichheit
Studientexte zur Soziologie Herausgeber: Heinz Abels, Nina Baur, Werner Fuchs-Hein...
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Nicole Burzan Soziale Ungleichheit
Studientexte zur Soziologie Herausgeber: Heinz Abels, Nina Baur, Werner Fuchs-Heinritz, Wieland Jäger, Uwe Schimank, Rainer Schützeichel
Die „Studientexte zur Soziologie“ wollen eine größere Öffentlichkeit für Themen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe soll in klassische und aktuelle soziologische Diskussionen einführen und Perspektiven auf das soziale Handeln von Individuen und den Prozess der Gesellschaft eröffnen. In langjähriger Lehre erprobt, sind die Studientexte als Grundlagentexte in Universitätsseminaren, zum Selbststudium oder für eine wissenschaftliche Weiterbildung auch außerhalb einer Hochschule geeignet. Wichtige Merkmale sind eine verständliche Sprache und eine unaufdringliche, aber lenkenden Didaktik, die zum eigenständigen soziologischen Denken anregt.
Nicole Burzan
Soziale Ungleichheit Eine Einführung in die zentralen Theorien 4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2. Auflage 3. Auflage 4. Auflage
2004 2005 2007 2011
Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt | Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17534-8
1 Einleitung
5
Inhalt
1
Einleitung................................................................................................... 7
Teil I: Ältere Ansätze zur sozialen Ungleichheit 2
Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle................................ 15 2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell ...................................... 15 2.2 Max Weber: Klassen und Stände ........................................................ 20 2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers .................................................. 26 2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie .......................................... 31
3
Klassen und Schichten in der Diskussion.............................................. 41 3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft................. 41 3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive............................ 43 3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status...................... 47 3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren .............................. 58 3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- und Schichtmodellen.................................................................................. 64 3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- und Schichtmodellen.......................... 66
Teil II: Neuere Ansätze zur sozialen Ungleichheit 4
Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle............................................ 73 4.1 Neuere Schichtansätze ........................................................................ 73 4.2 Neuere Klassenmodelle....................................................................... 78
6
0 Inhalt
5
Lebensstile und Milieus .......................................................................... 89 5.1 Lebensstile .......................................................................................... 89 5.2 Milieus .............................................................................................. 103 5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung ................................................ 120
6
Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu ................................................................................................ 125 6.1 Soziale Positionen und Klassen ........................................................ 125 6.2 Der Raum der Lebensstile................................................................. 129 6.3 Einordnung und Kritik ...................................................................... 134
7
Soziale Lagen ......................................................................................... 139 7.1 Soziale Lagen als Ungleichheitskonzept........................................... 139 7.2 Prekäre Lagen und Exklusion ........................................................... 147
8
Individualisierung – Entstrukturierung sozialer Ungleichheit? ....... 155
9
Zum Wandel sozialer Ungleichheiten.................................................. 169
10
Fazit ........................................................................................................ 175
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 179 Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 203
1 Einleitung
7
1 Einleitung 1.
Einleitung
Was ist das Thema der „Sozialen Ungleichheit“? Ein erster Anhaltspunkt besteht darin, dass es keinesfalls um beliebige Andersartigkeiten geht, sondern um die ungleiche Verteilung von Lebenschancen. So ist es nicht die Schuhgröße oder die Haarfarbe, die soziale Ungleichheit ausmacht (obwohl sich selbst in körperlichen Merkmalen Ungleichheiten widerspiegeln können), sondern z.B. ein höheres oder niedrigeres Einkommen oder ungleich verteilte Chancen je nach Geschlecht. Gerade in modernen, differenzierten Gesellschaften sind die „Unterschiedlichkeiten“ recht groß. Welche Verschiedenheiten auch soziale Ungleichheit bedeuten, ist bereits eine wichtige Frage, die sich theoretische Ansätze zur sozialen Ungleichheit stellen. Die zentralen Ursachen und Merkmale sozialer Ungleichheit können nämlich im Zeitverlauf und in verschiedenen Gesellschaften durchaus variieren und werden selbst in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt je nach theoretischem Hintergrund unterschiedlich gesehen. Sind z.B. die Nationalität, der Stadt-Land-Unterschied oder die Wohnverhältnisse eigenständige Kriterien sozialer Ungleichheit, oder sind sie eher abgeleitet von solchen Merkmalen, mit denen sie gegebenenfalls einhergehen, z.B. mit der Bildung oder dem Beruf? Die Definition im Lexikon zur Soziologie, soziale Ungleichheit sei jede Art verschiedener Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft bzw. der Verfügung über gesellschaftlich relevante Ressourcen (Krause 2007: 686), erfasst diese Mehrdimensionalität und Relativität von Ungleichheit, denn was „gesellschaftlich relevant“ ist, muss durchaus nicht konstant bleiben, ebenso wenig die Formen der gesellschaftlichen Teilhabe. Soziale Ungleichheit ist somit eine gesellschaftliche Konstruktion, die an ihre historische Zeit gebunden ist und nie „objektiv“ sein kann. Modelle sozialer Ungleichheit geben ihre jeweilige Sichtweise davon wieder, welches wichtige Ursachen und Merkmale sozialer Ungleichheit sind (materielle wie Besitz und immaterielle wie z.B. Macht). Sie beantworten aber auch die Frage, ob sich nach diesen Kriterien eine bestimmte Struktur abgegrenzter Gruppierungen ergibt, und falls ja, welche. Gibt es zum Beispiel zwei sich feindlich gegenüberstehende Klassen, sieben hierarchisch angeordnete Schichten oder ein komplexes Gebilde aus über- und nebeneinander stehenden Milieus, die sich überschneiden können? Solche Modelle abstrahieren natürlich immer von den Differenzierungen der N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung
Realität, dies gilt für zwei Gruppen ebenso wie für zehn. Dennoch beanspruchen sie, wichtige Prinzipien z.B. der Über- und Unterordnung oder der gesellschaftlichen Entwicklung (hier sind die Schwerpunkte je nach Ansatz verschieden) durch ihre spezifische Einteilung abbilden zu können. Die soziologische Perspektive, soziale Ungleichheit als ein veränderbares Konstrukt anzusehen und in der Konsequenz nach Ursachen für bestimmte Ungleichheitsstrukturen und ihren Wandel zu forschen, ist nicht selbstverständlich. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass man im antiken Griechenland Ungleichheit durchaus als „natürlich“ ansah. Beispielsweise legt Aristoteles (in seiner „Politik“) dar, dass Herren und Sklaven oder Männer und Frauen von Natur aus besser/schlechter bzw. zum Herrschen/zum Dienen bestimmt seien – und das sei nicht nur notwendig, sondern auch nützlich. In den Über- und Unterordnungsverhältnissen verwirklicht sich danach die Natur des Menschen, was soziale Ungleichheit legitimiert. Eine Variante dieser Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen ist eine gottgegebene Ungleichheit. In einer strengen Form tritt die religiöse Begründung in der Kastengesellschaft auf, die den hierarchischen Aufbau der Gesellschaft als nicht veränderlich ansieht und dies über strenge Endogamie und Kommunikationsschranken kontrolliert. Aber auch in der feudalistischen Ständegesellschaft hatten Menschen einen bestimmten Rang durch Geburt und Herkunft inne (z.B. Adel, Klerus, Bürger oder Bauer). Dieser wurde zudem rechtlich gestützt, z.B. durch die Rechte und Pflichten, die mit dem Lehnswesen verbunden waren. Die Kasten und Stände weisen ein Merkmal auf, das später in milderer Form auch für andere Gruppierungen wie Klasse oder Schicht zumindest unterstellt wird: Die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe bestimmt eindeutig die gesamte Lebensweise der Individuen. In modernen Gesellschaften geht man nicht mehr von „natürlichen“ oder „gottgegebenen“ Ursachen sozialer Ungleichheit aus. „Angeborene“ Merkmale wie das Geschlecht oder die Rasse spielen zwar eine Rolle für die Lebenschancen, aber sie sind keine Legitimation mehr für soziale Ungleichheiten. Der Wandel vollzog sich – das sei hier nur in Stichworten angedeutet – durch gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen seit der Aufklärung, später mit der Auflösung der Ständegesellschaft und der Industrialisierung. Das Gleichheitspostulat, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Eingang in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und in Schlagworte der französischen Revolution fand, markiert eine Veränderung der Sichtweise, die man jetzt erst als soziologisch bezeichnen kann: Wenn Ungleichheit nicht natürlich, sondern durch Menschen formbar und veränderbar ist, stellt sich erst die Frage nach ihren Ursachen und Mechanismen.
1 Einleitung
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J. J. Rousseau liefert 1754 eine frühe und für seine Zeit durchaus revolutionäre Antwort auf die Frage: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen?“ (so ein Aufsatztitel) aus dieser Sichtweise. Sie lautet (nicht ohne Dramatik): „Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel Krieg, wie viel Mord, Elend und Gräuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und den Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört’.“ (Rousseau 1981 (zuerst 1754): 93).1
Mit anderen Worten: Der Ursprung der Ungleichheit lag für Rousseau primär im Eigentum – ein Gedanke, den auch einige spätere Ansätze, insbesondere Klassenmodelle, aufgreifen. Gleichheitspostulate bedeuten selbstverständlich nicht realisierte Gleichheit, selbst auf einer rechtlichen Ebene nicht (z.B. gab es bis 1918 in Preußen das Drei-Klassen-Wahlrecht). Und zu allen Zeiten, in denen man überhaupt über die Legitimität sozialer Ungleichheit diskutierte, gab es dazu unterschiedliche Positionen. So sah beispielsweise der Liberalismus ab dem 18. Jahrhundert Eigentum keineswegs als Sündenfall, sondern eher als Grundrecht an und lehnte soziale Ungleichheit nach dem Leistungsprinzip unter der Voraussetzung von Chancengleichheit nicht ab. Diese frühe Kontroverse weist auf eine weitere Frage hin, die sich auch spätere Forscher stellten: Ist soziale Ungleichheit ungerecht und muss sie möglichst überwunden werden, oder ist sie mindestens teilweise, unter bestimmten Bedingungen gerecht und sogar notwendig für das gesellschaftliche Zusammenleben? (vgl. zum Zusammenhang von Ungleichheit und Gerechtigkeit auch Müller/Wegener 1995, zu sozialer Gerechtigkeit z.B. Miller 2008, Becker/Hauser 2009). Diese Frage haben Theoretiker unterschiedlich und auch abhängig vom jeweiligen historischen Kontext beantwortet. So entwarf etwa Marx seine Klassentheorie, die die Ausbeutungsverhältnisse hervorhebt, im 19. Jahrhundert, als im Zuge der Industrialisierung soziale Ungleichheiten deutlich sichtbar hervortraten und insbesondere die soziale Lage der Arbeiter im Allgemeinen schlecht war. Der folgende Überblick über Theorien sozialer Ungleichheit von Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Analysen der Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts soll die Ansätze daraufhin vergleichen, welche Fragen und Pro1
Die Zitate wurden der geltenden Rechtschreibung angepasst.
10
1 Einleitung
bleme sie in den Vordergrund stellten und wie sie sie beantworteten. Solche Fragen sind etwa:
Welche Ursachen hat soziale Ungleichheit? Durch welche Merkmale tritt sie in Erscheinung, nach welchen zentralen Kriterien ordnen Menschen andere einem bestimmten Rang zu? Gibt es eine bestimmte (z.B. hierarchische oder andere) Struktur sozialer Ungleichheit, die sich für eine bestimmte Gesellschaft zu einem Zeitpunkt anhand spezifischer Begriffe (wie Stand, Klasse oder Schicht) zu einem Modell verdichten lässt? Welche Auswirkungen hat die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe im weiteren Sinne auf die Lebensweise, auf Verhalten und Einstellungen, das Bewusstsein und gegebenenfalls auf die Bildung kollektiver Akteure? Gibt es hier überhaupt kausale Zusammenhänge? Welche Folgen hat soziale Ungleichheit für die Integration einer Gesellschaft? Wie sehen Beziehungen zwischen verschiedenen Statusgruppen aus? Was lässt sich über Veränderungsprozesse aussagen, sowohl im Sinne individueller Mobilität als auch im Sinne des Wandels von Strukturen?
Bei der Erläuterung der Ansätze werden diese Fragen nicht systematisch abgehandelt, sondern sie stehen als Leitfragen im Hintergrund. Sie stellen damit eine Verbindung zwischen älteren und neueren Ansätzen her. Denn die älteren Ansätze sind nicht nur für an der Geschichte der Theorieentwicklung Interessierte Bestandteil der Darstellung. Durch die Diskussion, welche Fragen und Antworten für frühere Modelle wichtig waren, lässt sich im Vergleich zeigen, wo und wie spätere Modelle bestimmte Elemente wieder aufgenommen haben. Weil es bis heute – dies kann man durchaus vorwegnehmen – nicht den „Königsweg“ der Ungleichheitstheorie gibt, der alle genannten Fragen umfassend beantwortet, lassen sich im Vergleich die jeweiligen Schwerpunkte sowie die Stärken und Schwächen der Ansätze besser erkennen. Außerdem soll Pauschalurteilen entgegengewirkt werden, die sich aus einer verkürzten Sichtweise älterer Theorien aus der flüchtigen Retrospektive ergeben könnten (als Beispiele: Marx hatte Unrecht, daher ist seine Theorie nur noch von historischem Interesse; oder: wie konnte Schelsky nur annehmen, dass alle Gesellschaftsmitglieder sich auf einem mittleren (Rang-)Niveau einpendeln?). Die folgenden Kapitel können nicht umfassend alle Theorien und Modelle behandeln, die es zum Thema der sozialen Ungleichheit gegeben hat und gibt. Eine zentrale Einschränkung besteht beispielsweise darin, dass der Schwerpunkt auf der deutschen Diskussion liegt, das heißt auf Ansätzen deutscher Autorinnen
1 Einleitung
11
und Autoren und solchen, die in der deutschen Rezeption vergleichsweise bedeutsam waren oder sind (als Überblick über wichtige Werke zur internationalen Ungleichheitsforschung s. Müller/Schmid 2003; für die US-amerikanische Perspektive Grusky 2008). Auch mit dieser Einschränkung besteht jedoch kein Vollständigkeitsanspruch. Die Arbeit dient als Einführung, von der aus man im nächsten Schritt sowohl in die Tiefe als auch in die Breite weiter lesen kann. Welche Ansätze wurden nun ausgewählt? Grob wird unterschieden zwischen „älteren“ und „neueren“ Ansätzen, wobei der „Schnitt“ Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gesetzt wurde. Die „älteren“ Ansätze zeichnen sich (in den meisten Fällen) dadurch aus, dass sie entweder Klassen- oder Schichtmodelle (zum Teil auch Zwischenpositionen) vertreten und dabei nicht selten die Argumente des jeweils „anderen“ Lagers heftig ablehnen (Kap. 2, 3). Erst mit den „neuen“ Ansätzen stellten Ungleichheitsforscher sowohl Klassen als auch Schichten radikaler in Frage (Näheres zu diesem Prozess in Kap. 3.6). Die theoretische Landschaft differenzierte sich (ebenso wie die soziale Ungleichheit?):
Zum einen gibt es weiterhin Klassen- und Schichtmodelle in einer modifizierten Form (Kap. 4). Zweitens gibt es Modelle, die andere Begriffe wählen, um die Sozialstruktur zu kennzeichnen, z.B. Lebensstile, Milieus oder die soziale Lage (Kap. 5-7). Schließlich gibt es Ansätze, die ganz davon absehen, ein bestimmtes Strukturmodell sozialer Ungleichheit zu entwerfen, was andere Autoren teilweise als radikale „Entstrukturierung“ interpretieren (Kap. 8).
Im Überblick handelt es sich um folgende Ansätze, die entweder eng mit einem bestimmten Theoretiker verknüpft sind oder für die beispielhaft ein Vertreter genannt wird. Der Überblick soll eine grobe Einordnung der Ansätze ermöglichen, ohne sie in ihren Nuancen angemessen wiederzugeben. Die Darstellung folgt ungefähr einer zeitlichen Achse nach der Entstehungszeit der Ansätze.
12 Abbildung 1:
1 Einleitung Überblick über Ansätze zur sozialen Ungleichheit
Bis Ende der siebziger Jahre: Klassen
Schichten
Andere Ansätze
Marx Weber Geiger Funktionalistische Schichtungstheorie (z.B. Parsons) Prestigemodelle (z.B. Warner, Scheuch)
Nivellierte Mittelstandsgesellschaft (Schelsky)
Dahrendorf Neomarxismus
Ab etwa Anfang der achtziger Jahre: Klassen Schichten Lebensstile und Milieus z.B. Wright, z.B. Geißler z.B. Goldthorpe, Bourdieu, Bourdieu Schulze
Soziale Lagen z.B. Hradil, Schwenk
Individualisierung z.B. Beck
Die folgenden Kapitel sollen nun die Charakteristika der einzelnen Ansätze aufzeigen und mit Blick auf die genannten Leitfragen ihre Stärken und ausgewählte Kritikpunkte herausarbeiten.
1 Einleitung
13
Teil I: Ältere Ansätze zur sozialen Ungleichheit
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell
15
2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell Karl Marx (1818-1883) entwarf seine Klassentheorie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar ist er nicht der „Erfinder“ des Klassenbegriffs oder seiner Verwendung im ökonomischen Bereich.2 Wohl aber ist sein Konzept – und insgesamt sein Gedanke, Gesellschaft als Klassengesellschaft zu begreifen – grundlegend und bis heute einflussreich geblieben. Marx begreift die gesamte historische Entwicklung als Geschichte von Klassenkämpfen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (Marx/Engels 1974 (zuerst 1848): 23f.).
Die verschiedenen Stufen dieser Klassenkämpfe zeichnen sich durch je spezifische Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse aus. Besitzer von Produktionsmitteln herrschen dabei über Nichtbesitzende.3 Das zeigt erstens, dass nach dieser Vorstellung die Arbeit bzw. der Bereich der Produktion die Grundlage des menschlichen Daseins und Zusammenlebens darstellt und zweitens, dass Marx eindeutig das Privateigentum (an Produktionsmitteln) als Ursache sozialer Ungleichheit ansieht (ein Gedanke, der ähnlich bereits bei Rousseau zu finden war). 2 Z.B. hatten bereits die Physiokraten (z.B. Quesnay, 1694-1774) im Rahmen volkswirtschaftlicher Überlegungen Klasseneinteilungen vorgenommen, und der französische Sozialphilosoph SaintSimon (1760-1825) unterschied zwischen einer produktiven und einer müßiggehenden Klasse. 3 Zur Begriffsklärung: Produktivkräfte heißen die materiellen und personellen Faktoren, die die Produktion gewährleisten. Dazu gehören z.B. die menschliche Arbeitskraft oder die Kenntnisse und Fähigkeiten, die unter anderem je nach dem Stand des technisch-naturwissenschaftlichen Wissens variieren. Produktionsverhältnisse sind Verhältnisse, die Menschen im Produktionsprozess eingehen – je nach dem historischen Stand der Produktivkräfte –, vor allem Rechts-, Eigentums- und damit Herrschaftsverhältnisse. Produktionsmittel sind z.B. Grundstücke und Energiequellen, Maschinen, Werkzeuge und Werkstoffe.
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Eine Klasse ist entsprechend bestimmt durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Auf dieser Basis lautet Marx’ Diagnose der bürgerlichen oder kapitalistischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert: „Die ... moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. ... Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (a.a.O.: 24).
Die Bourgeoisie zeichnet sich durch den Besitz von Produktionsmitteln aus. Die nicht besitzenden Arbeiter erarbeiten einen Mehrwert, über den ausschließlich die Produktionsmittelbesitzer verfügen können. So häufen sie, etwa durch die Ausbeutung der Arbeiter, Kapital an und gewinnen zunehmend Mittel zur Erlangung ökonomischer und damit gesellschaftlicher Macht. Die Bourgeoisie stellt also die herrschende Klasse dar. Das Proletariat, das keine Produktionsmittel besitzt, ist die Klasse der Arbeiter, die zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen: „Die Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel“ (a.a.O.: 31). Sie erhalten nur einen geringen Lohn und sind nicht nur materiell von Verelendung bedroht, sondern werden auch sozial und politisch unterdrückt. Dadurch, dass Selbstbestimmung nicht möglich ist, werden sie zunehmend zu entfremdeten Individuen. Zwischenklassen lösen sich zugunsten der dichotomen Gegenüberstellung dieser zwei Klassen zunehmend auf, weil z.B. kleine Industrielle oder Kaufleute nicht genügend Kapital zur Verfügung haben, um dem Konkurrenzkampf standzuhalten und schließlich zum dadurch wachsenden Proletariat stoßen (zur Beschreibung sozialer Ungleichheitsverhältnisse im 19. Jahrhundert aus historischer Perspektive vgl. z.B. Kaelble 1983, Rothenbacher 1989). Es sei noch einmal betont, dass die Herrschaft der „herrschenden“ Klasse zwar auf ökonomischen Ursachen basiert, sich aber nicht allein auf den ökonomischen Bereich erstreckt, sondern auch auf Bereiche wie Politik, Kultur, Recht und Religion, den „Überbau“. Nach Marx prägt „das Sein das Bewusstsein“, die ökonomische Lage wirkt sich ursächlich auf die Lebensverhältnisse der Einzelnen und die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Unter anderem bedingt wirtschaftliche Macht politische Macht. Deshalb reicht es auch aus, Klassen nach dem Kriterium des Besitzes oder Nichtbesitzes von Produktionsmitteln einzuteilen. Nochmals in den Worten von Marx heißt es zur Klassenlage: „Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der anderen Klas-
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell
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sen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse.“ (Marx 1973 (zuerst 1852): 198).
Und weiter: „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen.“ (a.a.O.: 139).
Solange sich die Mitglieder einer Klasse allein objektiv in der gleichen Klassenlage befinden (das heißt Produktionsmittel besitzen oder nicht), bilden sie in der Terminologie von Marx eine Klasse an sich. Wenn mit der Klassenlage ein gemeinsames Klassenbewusstsein und daraus folgend solidarische Handlungsweisen verbunden sind, wird die Klasse zu einer auch subjektiv bestehenden Klasse für sich. Der objektive Interessengegensatz, der mit den gegensätzlichen Klassenlagen verbunden ist (die Bourgeoisie will die bestehenden Verhältnisse bewahren, das Proletariat will sie überwinden), führt im Laufe der Entwicklung zu einem verschärften Klassenkonflikt, weil die schrumpfende Bourgeoisie immer reicher wird und das wachsende Proletariat immer mehr verelendet. Der Klassenkonflikt ist also keine kurzfristige Übergangserscheinung im Entwicklungsprozess der Industriegesellschaft. Die Klassengegensätze laufen dann – als immanente Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise – auf die Revolution des Proletariats hinaus, das zu diesem Zeitpunkt eine Klasse für sich geworden ist. In diesem Szenario wird das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft, eine gerechte soziale Ordnung, die klassenlose Gesellschaft, entsteht. Der Klassenkonflikt fungiert damit als Motor des gesellschaftlichen Wandels insgesamt. Die Prinzipien des Klassenbegriffs nach der Klassentheorie von Marx, die für spätere Klassenmodelle einflussreich waren, sollen nun noch einmal zusammengefasst werden:
Sein Klassenbegriff hat eine ökonomische Basis. Der Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln ist entscheidend für die Klassenzugehörigkeit und damit für die soziale Lage in einem umfassenden Sinne sowie für Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Soziale Ungleichheit lässt sich so mittels des Klassenbegriffs erklären. Klassen stehen sich antagonistisch gegenüber: Aufgrund gegensätzlicher Interessen besteht ein Klassenkonflikt, wobei sich das Hauptaugenmerk auf zwei relevante Klassen richtet, die sich im Klassenkampf dichotom gegenüberstehen. Allgemein kommt der Betrachtung der Beziehungen zwischen den Klassen in der Klassentheorie damit große Bedeutung zu.
18
2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle Unter bestimmten Bedingungen zeichnen sich die Mitglieder einer Klasse auch durch ein gemeinsames (Klassen-) Bewusstsein aus, das solidarisches Handeln ermöglicht. Klassen sind damit keinesfalls nur sozialstatistische Kategorien, sondern „Akteure im gesellschaftlichen Kräftespiel“ (Kreckel 1990: 55). Die Analyse der Dynamik des Klassenkonflikts kann sozialen Wandel erklären.
Marx’ Klassenmodell ist in allen erwähnten Punkten Basis für Auseinandersetzungen und Kritik geworden. Zunächst ist eine Beschäftigung mit seinem Klassenbegriff schon aus dem Grunde nicht einfach, weil Marx keine eindeutige formale Definition des Begriffs liefert (z.B. bricht ein Kapitel über „die Klassen“ bereits nach wenigen Zeilen ab; Marx 1974 (zuerst 1894): 892f.) und weil seine Klassentheorie laut Dahrendorf „das problematische Bindeglied zwischen soziologischer Analyse und philosophischer Spekulation [bildet]“ (Dahrendorf 1957: 6). Inhaltlich stellen Kritiker in Frage, ob ökonomische Bestimmungsgründe allein die Phänomene der Lebenslage sowie der Machtverhältnisse in der Gesellschaft und in gesellschaftlichen Teilbereichen erklären. Sie bezweifeln weiterhin, dass die Berücksichtigung von zwei Hauptklassen ausreiche, um eine sinnvolle Sozialstrukturanalyse durchzuführen. Ein Kritikpunkt lautet ferner, dass Marx zwar die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in ihrer Struktur erkläre, dass sich aber die weitere Entwicklung nicht mehr mit dem Marxschen Modell vereinbaren lasse: Unter anderem begründen die Kritiker dies mit der Existenz „neuer“ Mittelklassen, die sich z.B. mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und damit der Gruppe der Angestellten herausgebildet haben. Der Hinweis auf soziale Mobilität und auf die allgemeine Wohlstandszunahme zeigt, dass die Verelendung breiter Massen nicht stattgefunden hat. Geiger formuliert beispielsweise: „Offenbar ist im Gegenteil die Lage und Stellung des Arbeiters innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erheblich günstiger geworden. Die Verelendungstheorie wurde daher schon vor dem Ersten Weltkrieg von den sozialdemokratischen Revisionisten (E. Bernstein) preisgegeben … Marx [hat] die Verelendungstheorie rein deduktiv dem Kapitalismus angedichtet. Sie liegt nicht in der Wirklichkeit des Kapitalismus, sondern in Marx’ Idee des Kapitalismus“ (Geiger 1975 (zuerst 1949): 58f., Hervorhebung i. O.).
Ein anderes Argument lautet: Nicht nur durch die ausgebliebene Verelendung, sondern auch dadurch, dass Klassenkonflikte institutionalisiert wurden, sind sie insgesamt stark abgeflaut (z.B. regeln heute meist Tarifverträge das Lohnniveau). Die Prognosen – die der proletarischen Revolution und der daraus folg-
2.1 Karl Marx: Das „klassische“ Klassenmodell
19
enden klassenlosen Gesellschaft – bieten eine besondere Angriffsfläche, weil man Jahrzehnte später leicht diagnostizieren konnte, die klassenlose Gesellschaft sei nicht realisiert worden, und zwar auch nicht in den „sozialistischen Ländern“, in denen eine formale (weitgehende) Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht zur Überwindung von Herrschaft und Unterdrückung geführt hatte. Schließlich hat auch die Annahme des entstehenden Klassenbewusstseins und damit des solidarischen Klassenhandelns zu Diskussionen geführt. Damit einher ging die Frage, ob man sich unter Klassen überhaupt eine konkrete Menschengruppe vorstellen dürfe oder ob sie nicht eher als theoretisches Konstrukt anzusehen seien. Elster bezweifelt, dass die Klassenstruktur in allen Gesellschaften die Haupterklärung für soziale Konflikte zwischen organisierten Gruppen darstelle (Elster 1985). A. Giddens begegnet einigen dieser Probleme – z.B. der Frage nach der Anzahl der Klassen – mit dem Hinweis darauf, dass bei Marx ein abstraktes und ein konkretes Klassenmodell nebeneinander existieren. Es gibt nach seiner Darstellung auch bei Marx mehrere Klassen (z.B. Klassen, die in einer Übergangszeit bestehen oder Untergruppen von Hauptklassen), die zwar für die Beschreibung einer bestimmten Gesellschaft wichtig sein können, in dem abstrakten Modell der Klassengesellschaft und ihrer Entwicklung jedoch keine zentrale Rolle spielen (1979: 34 f.). Damit kann man Marx nicht vorwerfen, gesellschaftliche Phänomene wie Zwischenklassen einfach übersehen zu haben. Ähnlich argumentiert T. Geiger, der seiner Kritik an Marx einige „unbegründete Einwände gegen die Lehre des Marxismus“ voranstellt (1975 (zuerst 1949): Kap. III). Dazu gehört die Konzentration auf zwei Klassen, durch die Marx das dominante Schichtungsprinzip (vgl. dazu Geigers Ansatz in Kap. 2.3) abbildet, aber nicht den Anspruch erhebt, eine vollständige Zustandsbeschreibung mit weiteren Trennungslinien und inneren Konflikten zu liefern. Dies ist auch deshalb der Fall, weil Marx einen Schwerpunkt auf die dynamische Analyse von Gesellschaftsentwicklungen legt. Zusammenfassung Nach Marx bestimmt der Besitz von Produktionsmitteln die konflikthaften Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Die Analyse des Klassenkampfs und seiner Rolle für den sozialen Wandel ist ein wichtiges Element des Ansatzes. Trotz verschiedener Kritikpunkte an Marx’ Modell (z.B. es sei zu undifferenziert und seine Prognose sei nicht eingetreten) ist es in der Folgezeit nicht einfach „ad acta“ gelegt worden. Die Vorstellung späterer Ungleichheitsansätze zeigt, dass sich andere Forscher mit seinen Argumenten auseinandergesetzt und einzelne
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Elemente aufgenommen oder verworfen haben. Somit spielen Klassen auch in der späteren Diskussion eine bedeutsame Rolle. Lesehinweise:4
Marx, Karl; Friedrich Engels (1848): Manifest der kommunistischen Partei, Stuttgart: Reclam 1974, Kap. I (S. 23-37) Dahrendorf 1957, Kap I: Das Modell der Klassengesellschaft bei Karl Marx, S. 1-33, unter anderem fasst Dahrendorf die Hauptgedanken Marx’ zur Klassentheorie zusammen, indem er das Kapitel für Marx anhand vieler Zitate von ihm „zu Ende“ schreibt (S. 7-16).
2.2 Max Weber: Klassen und Stände Auf das Konzept von Max Weber (1864-1920) stützen sich später Vertreter einer „gemäßigten“ Klassentheorie (Kreckel 1990), aber auch Vertreter von Schichtund Lebensstilansätzen. Es ist also für die weitere Konzeptionierung sozialer Ungleichheit stark anschlussfähig. Ein zentraler Unterschied zu Marx besteht darin, dass Weber ein differenziertes, mehrdimensionales Modell vorlegt, das heißt er betont nicht allein den ökonomischen Aspekt und gibt auch die Beschränkung auf zwei relevante Klassen – Bourgeoisie und Proletariat – auf. Weber spricht nicht allein von „Klassen“, sondern zieht zur Charakterisierung der Sozialstruktur, der Machtverteilung in einer Gesellschaft, zusätzlich „Stände“ und „Parteien“ heran. Zudem teilt er Klassen auf: Er unterscheidet verschiedene Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen. Klassen Weber spricht dann von Klassen, wenn „1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des
4 Verschiedene der unter den Lesehinweisen genannten Texte finden sich (gekürzt) auch in dem Reader von Solga et al. (2009).
2.2 Max Weber: Klassen und Stände
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(Güter- oder Arbeits-) Markts dargestellt wird (‚Klassenlage’)“ (1980 (zuerst 1922): 531).
Eine Klasse ist also gekennzeichnet durch die Art der Verfügung über Besitz und des Erwerbs von Gütern sowie die Chancen, die sie dadurch auf dem Markt hat. Klassenlage heißt dann „die typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals ..., welche aus Art und Maß der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit über die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt“ (a.a.O.: 177).
Und weiter heißt es: „‚Klassenlage’ ist in diesem Sinn letztlich: ‚Marktlage’.“ (a.a.O.: 532).5 Auch bei Weber basieren Klassen nach diesen Ausführungen zentral auf Besitz. T. Herz betont, dass Weber mit dem Merkmal der Verfügungsgewalt auch über Leistungsqualifikationen (nicht allein über Güter) die Basis der Klassenbildung erweitere (1983: 34). Weitere Differenzierungen ergeben sich nun dadurch, dass Weber Klassen unterteilt in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen. Bei Besitzklassen bestimmen primär Besitzunterschiede die Klassenlage (Weber a.a.O.: 177). „Positiv privilegierte Besitzklassen“ (a.a.O.: 178) sind z.B. Besitzer von Arbeitsanlagen und Apparaten, Bergwerken etc., negativ privilegierte z.B. Verschuldete und Arme. Dazwischen gibt es „Mittelstandsklassen“ (ebd.). Diese Durchbrechung der Dichotomie ist auch bei den Erwerbsklassen zu finden, in denen primär „die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen“ die Klassenlage bestimmen (a.a.O.: 177). Als entgegengesetzte Beispiele führt Weber hier Unternehmer (z.B. Händler) bzw. Arbeiter an. Soziale Klassen, so lautet die Definition, „soll die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen heißen, zwischen denen ein Wechsel a) persönlich, b) in der Generationenfolge leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt.“ (a.a.O.: 177) Soziale Klassen bündeln also die Klassenlagen, innerhalb derer man wechseln kann, über die hinaus Mobilität jedoch typischerweise weniger stattfindet. Für seine Zeit führt Weber vier soziale Klassen an: die Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum, die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit sowie die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten (a.a.O.: 179). 5 Ritsert macht darauf aufmerksam, dass sich Webers Begriffsbestimmungen von „Klasse“ an den verschiedenen Stellen in „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht völlig entsprechen. So werde in der zweiten Definition (Weber 1980: 531f.) die Bedeutung des Marktes als definiens für Klasse noch stärker hervorgehoben (Ritsert 1998: 77, 82).
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Soziale Klassen weisen zum einen auf das Phänomen der sozialen Mobilität hin, zum anderen bündelt dieser Begriff in gewisser Weise die unübersichtliche Vielfalt der unterschiedlichen Besitz- und Erwerbsklassen. Im Unterschied zu Marx führt die Zugehörigkeit zu einer Klasse (bzw. zu einer sozialen Klasse) im Zuge sozialen Wandels nicht notwendig zu einem Klassenbewusstsein oder gemeinsamem Handeln: „Eine universelle Erscheinung ist das Herauswachsen einer Vergesellschaftung oder selbst eines Gemeinschaftshandelns aus der gemeinsamen Klassenlage keineswegs.“ (a.a.O.: 532 f.) Die Entwicklung zu einer „Klasse für sich“ (in Marx’ Terminologie) ist nur eine potentielle, nicht einmal besonders wahrscheinliche Möglichkeit. Klassenlagen und daran anknüpfende Interessenlagen sind bei Weber insgesamt weitaus vielfältiger und uneindeutiger als bei Marx (vgl. Kreckel 1982). Bedingungen, die Klassenhandeln begünstigen, sind z.B. eine massenhaft ähnliche Klassenlage, räumliche Nähe, Führung auf einleuchtende Ziele und ein Handeln gegen einen unmittelbaren Interessengegner, z.B. einen konkreten Unternehmer im Gegensatz zu Aktionären (Weber a.a.O.: 179). Stände Wie lassen sich nun nach Weber Stände von diesem Verständnis der Klassen absetzen? Während Klassen in der Sphäre der Wirtschaft angesiedelt sind, geben Stände eher eine „soziale“ Ordnung im engeren Sinne wider. Weber definiert „ständische Lage“ als „jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre’ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft.“ (a.a.O.: 534)
Der Stand basiert also auf Ehre, auf sozialem Prestige und drückt sich primär in einer bestimmten Lebensführung6 aus. Dazu gehören unter anderem die Personenkreise, mit denen man Umgang pflegt (was auch zur „Schließung“ gegenüber anderen Gruppen führt; zu diesem Begriff vgl. Weber a.a.O.: 23-25, weiterführend die Beiträge in Mackert 2004) oder die Befolgung spezifischer Werte. Durch das Element der Lebensführung berücksichtigt Weber eine subjektive Komponente für die Erklärung der Sozialstruktur. Stände sind in der Regel Gemeinschaften, allerdings amorphe Gemeinschaften, das heißt die Mitglieder müssen sich nicht persönlich kennen (a.a.O.: 534). Stände können beispielsweise Berufsstände (Offiziere, Ärzte etc.), Geburtsstände (aufgrund der Abstammung, 6
Dies ist ein Element in Webers Konzept, an das spätere Lebensstilansätze anknüpfen, vgl. Kap. 5.1.
2.2 Max Weber: Klassen und Stände
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z.B. der Adel) oder politische Stände sein (a.a.O.: 180). Im Unterschied zur sozialen Klasse gibt Weber keine bestimmte Anzahl charakteristischer Stände für seine Zeit an. Giddens stellt zum Verhältnis von Klasse und Stand fest, dass es sich nicht allein um eine Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Aspekten der Differenzierung handelt, sondern dass auch der Unterschied zwischen Produktion (Klassen) und Konsumtion (in Form einer spezifischen Lebensführung bei den Ständen) relevant ist (1979: 49; Weber a.a.O.: 538). Kann man so einerseits von zwei getrennten Prinzipien, dem Markt- und dem ständischen Prinzip, sprechen, die jeweils für sich die Struktur sozialer Ungleichheit beeinflussen und quer zueinander liegen können, so sind andererseits Verknüpfungen keinesfalls ausgeschlossen: „Ständische Lage kann auf Klassenlage ... ruhen. Aber sie ist nicht durch sie allein bestimmt: Geldbesitz und Unternehmerlage sind nicht schon an sich ständische Qualifikationen, – obwohl sie dazu führen können.“ (Weber a.a.O.: 180).
Verknüpfungen zwischen Klasse und Stand sind insgesamt weder unmöglich noch zwangsläufig. Offiziere, Beamte und Studenten können z.B. dem gleichen Stand angehören, ohne sich in der gleichen Klassenlage zu befinden. Oft ist jedoch eine bestimmte ständische Lebensführung doch ökonomisch mit bedingt, weil sie sich zumindest unter anderem im Konsum ausdrückt. Wenn man Webers begrifflichen Differenzierungen folgt, ließe sich zudem hinzufügen, dass soziale Klassen den ständischen Gemeinschaften näher kommen als z.B. die Erwerbsklassen. Die möglichen Beziehungen zwischen Klasse und Stand behandelt Weber jedoch nicht eingehend im Einzelnen. Hradil betont das Spannungsverhältnis beider Prinzipien, wenn er darauf hinweist, dass ausgeprägte Ständebildungen die freie Marktkonkurrenz, eine Grundlage der Klassengliederung, behindern (Hradil 1987: 75; vgl. Weber a.a.O.: 538). Über die Dominanz eines der beiden Prinzipien sagt Weber, dass eine „(relative) Stabilität der Grundlagen von Gütererwerb und Güterverteilung“ (a.a.O.: 539) eine ständische Gliederung begünstigt, während in Zeiten technisch-ökonomischer Erschütterung und Umwälzung die Klassenlage in den Vordergrund rückt (ebd.). Kreckel ist der Ansicht, dass das ständische Prinzip zwar „ein Erbe aus vorkapitalistischer Zeit“ sei (1982: 623), aber nicht mit ihr zusammen sterbe, sondern weiter bestehe. Wenn Jahrzehnte später Ungleichheitsforscher darauf hinweisen, dass nicht nur ökonomische Faktoren für soziale Ungleichheit maßgeblich seien (vgl. Kap. 3.6, Teil II), können sie sich damit auf Webers Ausführungen berufen, die bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Parteien Eine weitere Differenzierung trifft Weber mit dem Begriff der „Partei“. Parteien sind „primär in der Sphäre der ‚Macht’ zu Hause. Ihr Handeln ist auf soziale ‚Macht’, und das heißt: Einfluss auf ein Gemeinschaftshandeln gleichviel welchen Inhalts ausgerichtet: es kann Parteien prinzipiell in einem geselligen ‚Klub’ ebensogut geben wie in einem ‚Staat’. Das ‚parteimäßige’ Gemeinschaftshandeln enthält, im Gegensatz zu dem von ‚Klassen’ und ‚Ständen’, bei denen dies nicht notwendig der Fall ist, stets eine Vergesellschaftung.“ (Weber 1980: 539)
Man kann sagen, dass mit „Partei“ eine institutionalisierte Interessengruppe gemeint ist. Hradil stellt „Partei“ gleichrangig neben „Klasse“ und „Stand“, weil sie nach der ökonomischen und sozialen nun die politische Dimension sozialer Ungleichheit vertrete (1987: 62f.). Kreckel sowie Giddens machen aber auch darauf aufmerksam, dass man Macht nicht als dritte Dimension oder drittes Prinzip sozialer Ungleichheit sehen dürfe. Macht sei eher Oberbegriff, weil sowohl Klassen als auch Stände und Parteien Phänomene der Machtverteilung sind. Macht ist somit weder auf ökonomische, noch soziale oder politische Aspekte beschränkt (Kreckel 1982: 620; Giddens 1979: 49). Als Unterschied zu Marx kann man aus den Differenzierungen, die Weber vorgenommen hat, folgern, dass nach Webers Verständnis nicht der Klassencharakter das entscheidende Merkmal des modernen Kapitalismus darstellt, sondern die wachsende Bedeutung der Zweckrationalität mit bürokratischen Organisationen als ihrem Rahmen. Wenn man (wie Marx) den Klassenkampf als wichtigsten dynamischen gesellschaftlichen Prozess ansieht, vernachlässigt man nach Weber die Bedeutung der ständischen Lage (wenngleich die Klassenlage im modernen Kapitalismus der vorherrschende Faktor ist) und überschätzt gleichzeitig die Rolle der Ökonomie, wenn man aus ihr z.B. auch politische Konstellationen als sekundär ableitet (vgl. auch Giddens 1979: 58-60). Die Bedeutung von Webers Ausführungen wird häufig darin gesehen, dass er Wegbereiter war für mehrdimensionale (empirische) Analysen sozialer Ungleichheit. Einige heben sein Konzept als Etappe in der Entwicklung des Schichtkonzepts hervor, unter anderem durch die Berücksichtigung von Prestige (vgl. Kap. 3.3). Positiv werden ebenfalls seine präzisen begrifflichen Klärungen bewertet (z.B. von Giddens 1979: 50). Aber es gibt auch Kritik, die sich häufig auf den geringen Erklärungsbeitrag des Konzepts richtet. Hradil bemängelt beispielsweise, dass Weber keinen hin-
2.2 Max Weber: Klassen und Stände
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reichenden Zusammenhang zwischen objektiven und subjektiven Aspekten, zwischen sozio-ökonomischen, -kulturellen und -politischen Phänomenen sozialer Ungleichheit herstellt (1987: 64). Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich auf eine mangelnde Ursachenhinterfragung. Giddens weist darauf hin, dass Weber keine systematischen Hinweise auf die Bedingungen gibt, die z.B. Klassenbewusstsein hervorrufen (1979: 95). Webers abstrakte begriffliche Erörterungen sind lediglich unfertige Entwürfe, denen er eher in seinen historischen Arbeiten weiter nachgeht (a.a.O.: 50). Solche Entwürfe setzen sich damit weniger der Kritik aus als systematische Modelle eines Ungleichheitsgefüges mit seinen Ursachen und Dynamiken. G. Berger fasst zusammen: Weber habe weniger das Ziel, „eine Theorie über Ursachen und Formen der Ungleichheit im sozialen Wandel (vorzulegen), sondern eher einen konzeptionellen Rahmen für deren multidimensionale Analyse.“ (1989: 336). Zusammenfassung Weber entwickelt einen differenzierten Ansatz, in dem er vornehmlich ökonomisch definierte Klassen (Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen) und auf sozialer Ehre beruhende Stände, daneben Parteien unterscheidet. Diese Differenzierungen stellen den Ausgangspunkt für viele spätere mehrdimensionale Analysen sozialer Ungleichheit dar. Neuere Ansätze zur sozialen Ungleichheit sind jedoch nicht nur von den klassischen Theorien Marx’ und Webers beeinflusst, sondern müssen sich ebenfalls mit der Schichtungsforschung auseinandersetzen, die zunehmend an Bedeutung gewann. Zwei Ansätze dazu aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden daher im Folgenden vorgestellt. Lesehinweis: Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen, 5., revidierte Auflage 1980 (14.-18. Tsd), S. 177-180 („Stände und Klassen“); 531-540 („Klassen, Stände, Parteien“)
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers Die Themen Klassen- und Schichtstruktur sowie Mobilität bildeten einen Schwerpunkt der Arbeit Theodor Geigers (1891-1952), weitere Felder waren z.B. die Rechtssoziologie, die Ideologiekritik und die Analyse von Werbung und Propaganda (vgl. als Überblick Geißler/Meyer 1999, ausführlicher Meyer 2001b). Geiger grenzt sich ausführlich gegen Marx ab, am Rande gegen Weber und setzt bisherigen Klassenbegriffen und -modellen (auch anderer Autoren, z.B. W. Sombart oder G. Schmoller) ein eigenes Schichtmodell entgegen, das S. Hradil als „nicht-marxistisches Klassenmodell“ einordnet (1999: 118). Was versteht Geiger unter einer Schicht? „Jede Schicht besteht aus vielen Personen (Familien), die irgendein erkennbares Merkmal gemein haben und als Träger dieses Merkmals einen gewissen Status in der Gesellschaft und im Verhältnis zu anderen Schichten einnehmen. Der Begriff des Status umfasst Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glücksmöglichkeiten, aber auch Privilegien und Diskriminationen, Rang und öffentliches Ansehen.“ (1955: 186, Hervorhebungen im Original).
Eine Schicht beschreibt damit eine bestimmte soziale Lage und dient bei Geiger als Oberbegriff, der die Sozialstruktur einer Gesellschaft kennzeichnet. Andere Begriffe, z.B. Kaste, Stand oder Klasse, sind nur Beispiele für historische Sonderfälle einer Schichtung. Auch die Klasse ist also eine spezielle Form der Schichtung, und zwar eine Form, bei der die Produktionsverhältnisse das „dominante Schichtungsprinzip“ darstellen. Zwei Aspekte dieser Sichtweise sollen für ein genaueres Verständnis weiter erläutert werden: a. b.
Stellt Geiger eine Verbindung her von Schichten, also von den sozialen Lagen, zu bestimmten subjektiven Haltungen bzw. zu einem gemeinsamen Bewusstsein? Was ist mit dem „dominanten Schichtungsprinzip“ gemeint?
Ad a) Geiger nimmt eine Unterscheidung auf, die differenziert zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Schichtbegriffen (z.B. 1930: 213; 1955: 192-194). „Objektive“ Begriffe richten sich ausschließlich auf äußere Merkmale der sozialen Lage, z.B. das Einkommen. Geiger kritisiert eine solche Vorgehensweise als sozialstatistische Klassifikation, die kaum eine soziologische Aussagekraft hat, weil man recht beliebig Personengruppen nach Kriterien gruppieren kann. Die „subjektive“ Ausrichtung konzentriert sich auf eine bestimmte gemeinsame
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers
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Haltung oder Denkweise, eine psychische Verfassung der Mitglieder, die nicht an Merkmale der sozialen Lage gebunden wird. „Gemischte“ Begriffe schließlich stellen einen Zusammenhang zwischen Lage und Haltung her, doch in einer aus Geigers Sicht ebenfalls unbefriedigenden Weise, weil zu den Schichten nur solche Personen einer gemeinsamen sozialen Lage gehören würden, die sich auch solidarisch fühlen und so verhalten. Wie sieht Geigers Lösung demgegenüber aus? „Indem man Lagen und Haltungen zuerst getrennt erfasst, dann aber die Verteilung der Lagen und die der Haltungen miteinander vergleicht, wird man gewisse Haltungen als typisch für gewisse Lagen erkennen. Man hat dann die Haltung in einer Schicht lokalisiert.“ (1955: 194). Die Haltung oder – in Geigers Terminologie – die „Mentalität“ ordnet er einer Schicht also quasi im Nachhinein zu. Solch eine Zuordnung ist nicht deterministisch, sondern sagt eher aus, dass viele, aber nicht alle Schichtmitglieder eine bestimmte Mentalität haben (es wäre zu diskutieren, ob es immer eine „vorherrschende“ Mentalität in einer Schicht gibt). Eine andere Mentalität ist nicht „falsches Bewusstsein“ und führt auch nicht dazu, die Betreffenden der Schicht nicht mehr zuzuordnen, sie ist lediglich nicht der Normaltypus. Diese Mentalität, die durch die soziale Lebenswelt geprägte „geistig-seelische Disposition“ (1967 (zuerst 1932): 77) wiederum ist eine „bewegende Kraft in der Entwicklung des Wirtschaftslebens“ (a.a.O.: 4). Abbildung 2:
Verknüpfung von Schicht und Mentalität nach Geiger Schicht ( = Lagemerkmale) Zuordnung im Nachhinein Vorherrschende bzw. typische Mentalität
Dieses Konzept von Schichten und ihren Mentalitäten hat Geiger in einer Studie umgesetzt, in der er Daten der Volkszählung von 1925 analysiert: „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932. Dort stellt er ein Fünf-SchichtenModell auf, zu dem folgende Schichten gehören:
Kapitalisten (0,9% der Berufszugehörigen) mittlere und kleinere Unternehmer („alter Mittelstand“, 17,8%) Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation („neuer Mittelstand“, 17,9%)
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle Tagewerker für eigene Rechnung („Proletaroide“, 12,7%) sowie Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation („Proletariat“, 50,7%; Geiger a.a.O.: 24, 73)
Eine exakte Erforschung der zugehörigen Mentalitäten kann Geiger nicht vornehmen, dazu hätte er eine große Fülle empirischen Materials über das Alltagsleben der Menschen benötigt, z.B. über ihre Freizeitverwendung, den Lesegeschmack, die Formen der Geselligkeit etc. (Geiger a.a.O.: 80).7 Dennoch macht er einige Bemerkungen zu den Charakteristika der Schichten. So ist – dies sei nur als ein Beispiel herausgegriffen – für die mittleren und kleinen Unternehmer, also für Bauern, Handwerker und Händler, die hohe Zahl mithelfender Familienangehöriger bezeichnend, damit bestimmt die „Familien- und Heimkultur … noch weitgehend den gesamten Lebensduktus“, was sich beispielsweise in einer religiösen Haltung äußert (1967 (zuerst 1932): 85). Diese Unternehmer befinden sich im „Verteidigungszustand“ nicht allein gegen wirtschaftliche Bedrängnis, sondern auch gegen drohenden Prestigeverlust (a.a.O.: 87). In ähnlicher Weise charakterisiert Geiger auch die anderen, in sich differenzierten Schichten und berücksichtigt dabei kritisch, welche Schichten anfällig für die Ideologie des Nationalsozialismus sind (beispielsweise gehören die kleineren Händler dazu; a.a.O.: 86). Ad b) Was ist mit dem „dominanten Schichtungsprinzip“ gemeint? Geiger stellt sich den Begriff der Schichtung zunächst so allgemein vor, dass man unterschiedliche Schichten nach unterschiedlichen Merkmalen bilden kann. So würde sich eine andere Schichtung nach dem Einkommen als nach dem Beruf oder nach der Religionszugehörigkeit ergeben. Diese Schichtstrukturen „überkreuzen, durchdringen und überdecken einander“ (1967 (zuerst 1932): 5). Es sind jedoch nicht alle Schichtmerkmale gleichermaßen in einer Gesellschaft wichtig. In einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ist vielmehr eine Schichtung dominant, andere sind subsidiär. In einer ständischen Gesellschaft ist dann etwa die Schichtung nach der Berufsart dominant. Mit Hilfe dieser Trennung von dominanter und subsidiärer Schichtung gelingt es auch, das Schichtmodell zu einem dynamischen zu machen, das heißt Prozesse zu analysieren, denn eine dominante Schichtung muss im Zeitverlauf nicht gleich bleiben, sondern kann in den Hintergrund treten, während andere an Bedeutung gewinnen. Nach dieser Sichtweise könnte man z.B. sagen, die ständische Gesellschaft mit einer Schichtung nach Berufsarten sei abgelöst worden von einer Klassengesellschaft mit einer Schich7
So geht später Bourdieu vor, doch erforscht er nach seiner Terminologie nicht Mentalitäten, sondern Lebensstile (vgl. Kap. 6).
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers
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tung durch das Produktionsverhältnis und wandelte sich von da aus wiederum weiter. Diese Sichtweise Geigers stellt eine wichtige Abgrenzung zu Marx dar. R. Geißler stellt fest, dass Geiger im Laufe seines wissenschaftlichen Arbeitens immer größere Distanz zu Marx gewonnen habe. Während Geiger in den allerersten Arbeiten noch das Zweiklassenmodell vertreten habe, stellt er in der genannten Studie von 1932 das Fünf-Schichten-Modell vor, in dem Buch „Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ von 1949 äußert er schließlich starke, teilweise auch recht polemisch formulierte Kritik an Marx’ Theorie; Geißler bezeichnet das Buch daher als „den ‚Anti-Marx’ Geigers“ (Geißler 1985: 390, 398-401). Geiger kritisiert dort beispielsweise, dass eine Verelendung der Arbeiterklasse nicht eingetreten sei, dass die Klassen sich zunehmend differenziert und schon gar nicht ein kollektives Klassenbewusstsein entwickelt hätten. Er schließt daraus: „Das marxistische Modell der industriellen Klassengesellschaft war vermutlich der Periode des Hochkapitalismus nicht unangemessen … Es ist nun aber zu bedenken, dass die Gesellschaft seit dem Durchbruch des Industrialismus von tiefer Unrast ergriffen ist“ (Geiger 1975 (zuerst 1949): 156). Abgesehen von einigen prinzipiellen Einwänden gegen Marx hat dieser aus Geigers Sicht also ein recht angemessenes Bild einer bestimmten Epoche entworfen, doch führt der soziale Wandel dahin, dass man nun andere Schichtungen als dominant herausarbeiten muss, um die Sozialstruktur der Gesellschaft zu charakterisieren. Stellt Geigers Ansatz die Lösung der Sozialstrukturanalyse dar? Obwohl er für einige spätere Modelle einflussreich war, gibt es auch an seinem Modell Kritikpunkte. Unter anderem stellt sich die Frage, wie man denn die bedeutsamsten Unterscheidungsmerkmale, die dominante Schichtung unter allen anderen Schichtungen einer Gesellschaft erkennen kann. Bei Geiger hört es sich so an, als ob sich, falls der Forscher nur genügend unvoreingenommen sei, die dominante Schichtung fast naturwüchsig herausschäle, z.B. möchte er zunächst alle Erscheinungen gesellschaftlicher Schichtung beschreiben, „wie sie sind“ (1955: 199).8 Seiner Meinung nach drängen sich gewisse Unterschiede der Lage als schicksalsbestimmend auf (1955: 195) – und dies sagt er, obwohl er andererseits zwei Schwierigkeiten selbst benennt: „Je näher der Betrachter insbesondere seiner eigenen Zeit kommt, desto schwerer fällt ihm die Unterscheidung zwischen typischen Perioden und den Übergangszuständen zwischen ihnen … ein anderer Umstand aber dürfte weit wichtiger sein. Die 8 Im Gegensatz dazu bestimmt z.B. Weber Mobilität als Kriterium für die Bündelung zahlreicher Besitz- und Erwerbsklassen zu „sozialen Klassen“.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle neuzeitlichen Gesellschaften sind tatsächlich in höherem Grade labil, sind hektischeren Veränderungen unterworfen als die Gesellschaften der Vorzeit“ (1975 (zuerst 1949): 151f.).
Daher findet er es auch „zweifelhaft, ob der Augenblick für die Durchführung solcher Untersuchungen [zur gesellschaftlichen Struktur, N.B.] günstig wäre. Alles scheint heute im Gleiten zu sein, eine klar sich abzeichnende Struktur ist kaum zu finden. Wohl aber lassen gewisse Tendenzen einer Schichtverlagerung sich aufzeigen.“ (a.a.O.: 147).
Es stellt sich die Frage, ob angesichts der oben genannten Schwierigkeiten der Augenblick überhaupt einmal wieder günstig werden kann, ob man das Modell angesichts des schnellen sozialen Wandels nicht modifizieren muss. So stellt auch Geißler fest, dass es Geiger insgesamt nicht gelingt, einen Begriff für das dominante Schichtungsprinzip seiner Zeit zu prägen und damit „den Kern des Wandels begrifflich und theoretisch zu erfassen“ (1985: 399). Eine Anwendung auf Geigers Gegenwartsgesellschaft ist diesem selbst also nicht gelungen, der oft positiv bewertete Hinweis auf dynamische Aspekte bleibt damit recht vage. Trotz dieser Kritik ist Geigers Modell nicht ohne Einfluss geblieben. Zwar wirkte er nicht schulbildend, und es gibt keine umfassende systematische Weiterentwicklung seines Werkes (Geißler/Meyer 1999: 290). Jedoch beruft sich beispielsweise R. Dahrendorf (dessen Konzept in Kap. 3.2 behandelt wird) auf ihn, und auch R. Geißler betont, dass viele Punkte, die Kritiker gegen spätere Schichtmodelle vorbrachten, auf Geigers Konzept nicht zuträfen, und nimmt daher Gesichtspunkte aus Geigers Modell auf (Kap. 4.1). Zudem betont Geißler 1985, dass sich die Ungleichheitsforschung nicht wesentlich weiterentwickelt habe. Bisher sei es „nicht gelungen, die Strukturen und die Dynamik der sozialen Ungleichheit in spätkapitalistischen Gesellschaften auf den Begriff zu bringen. Der Marx der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht in Sicht.“ (1985: 407). Daher möchte er den Schichtbegriff, insbesondere den Schichtbegriff Geigers, nicht voreilig verabschieden. Auch Schroth betont Geigers Aktualität, er liege „voll im Trend der gegenwärtigen Sozialstrukturforschung“ (1999: 32) und erfülle in jeder Hinsicht die Anforderungen, die an eine gegenwärtige Schichtanalyse zu stellen seien (1999: 34). Zusammenfassung In Abgrenzung insbesondere zu Marx entwirft T. Geiger ein Schichtmodell, das aus mehreren Schichten besteht. Das „dominante Schichtungsprinzip“, das für
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
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die Einteilung der Schichten, der spezifischen sozialen Lagen, besonders bedeutsam ist, kann sich allgemein je nach Gesellschaft und auch im Zeitverlauf wandeln. Zudem bleibt Geigers Ansatz nicht bei der begründeten Klassifikation sozialer Lagen stehen, sondern verknüpft diese im nächsten Schritt mit typischen Mentalitäten. Allerdings ist es Geiger nicht gelungen, die Schichtungsstruktur seiner Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen, das dominante Schichtungsprinzip herauszuarbeiten, das historisch laut Geiger die Klassengesellschaft abgelöst hat. Lesehinweise:
Geiger, Theodor (1955 erschienen): Theorie der sozialen Schichtung; in: ders. (1962): Arbeiten zur Soziologie, hg. von Paul Trappe, Neuwied/Berlin: Luchterhand, S. 186-205 Als Überblick in der Sekundärliteratur: Geißler, Rainer (1985): Die Schichtungssoziologie von Theodor Geiger. Zur Aktualität eines fast vergessenen Klassikers; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37, S. 387-410
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie Die funktionalistische Sicht der sozialen Schichtung nimmt eine ganz andere Perspektive auf soziale Ungleichheit ein. Sie wurde in den Grundlagen in den USA von T. Parsons (1902-1979) entwickelt (z.B. 1940, 1949). Die deutsche Rezeption hat sich zudem auch auf einen Aufsatz von K. Davis und W.E. Moore von 1945 konzentriert, der 1967 in deutscher Sprache erschien. Diese Perspektive fragt nicht, wie man möglicherweise Ungerechtigkeit oder Unterdrückung beseitigen könnte, sondern sie denkt darüber nach, wofür soziale Schichtung wohl nützlich sein könnte, ob sie für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben einen – vielleicht sogar notwendigen – Beitrag leistet. In der deutschen Diskussion um soziale Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg war insbesondere ab Anfang der sechziger Jahre der Strukturfunktionalismus einflussreich, aber auch die Auseinandersetzung mit der Klassentheorie verschwand nicht ganz, so dass die funktionalistische Schichtungstheorie schnell auch Kritik hervorrief (z.B. Mayntz 1961). Ein Kritikpunkt bestand gerade darin, dass Elemente wie Macht und soziale Konflikte in der Theorie vernachlässigt würden. Doch sollen vor der Kritik einige Grundzüge der funktionalistischen Sichtweise sozialer Ungleichheit dargestellt werden.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
T. Parsons T. Parsons versteht in seiner strukturfunktionalistischen Theorie Gesellschaft als ein System mit verschiedenen Subsystemen, die für die Gesellschaft bestimmte Funktionen erfüllen, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Beispielsweise ist, wenn man gesellschaftliche Institutionen betrachtet, die Politik unter anderem dafür zuständig, gemeinsame Handlungsorientierungen, z.B. in Form von Gesetzen, zu formulieren und zwischen verschiedenen Interessengruppen zu vermitteln (vgl. als einführende Sekundärliteratur zu Parsons z.B. Münch 2007). Im Zusammenhang mit sozialer Schichtung fragt Parsons entsprechend, inwiefern sie dazu beiträgt, dass gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert. Soziale Schichtung bedeutet für Parsons „die differentielle Rangordnung …, nach der die Individuen in einem gegebenen sozialen System eingestuft werden und die es bedingt, dass sie in bestimmten, sozial bedeutsamen Zusammenhängen als einander über- und untergeordnet behandelt werden“ (Parsons 1940: 180).
Stabile soziale Systeme brauchen Normen, die diese Beziehungen der Über- und Unterordnung regeln, und die soziale Schichtung stellt ein solches Regelsystem, eine solche Ordnung dar, trägt damit zur Systemstabilität bei. An diese Aussage schließen sich zwei Fragen an. Erstens: Warum sollten sich die Menschen in eine solche Ordnung einfügen (anstatt sich, wie in den Vorstellungen von Marx, zusammenzuschließen und gegen Höhergestellte aufzubegehren)? Und zweitens: Nach welchen Merkmalen erfolgt eine Bewertung als über- oder untergeordnet? Zum ersten Punkt: Hierzu lautet Parsons’ These, grob gesagt, dass sich die Motive und Bewertungsmaßstäbe Einzelner einerseits und gesellschaftliche Normen andererseits im Wesentlichen entsprechen: „Wenn das Individuum also den institutionellen Normen nicht entspricht, so handelt es damit seinem eigenen Interesse entgegen.“ (Parsons 1940: 185). Diese Übereinstimmung kommt dadurch zustande, dass man bestimmte moralische Muster bereits in der Kindheit verinnerlicht, außerdem gibt es Sanktionen durch die soziale Umwelt, die das Handeln kontrollieren (was andeutet, dass keine vollkommenen Harmonievorstellungen angebracht sind über die Verknüpfung zwischen Individuum und „Gesellschaft“). Ein wichtiges Handlungsmotiv besteht darin, die Anerkennung anderer zu erlangen, was durch die Befolgung sozialer Normen gelingen kann. Schichtung ist daher auch ein wichtiges Mittel zur Handlungsorientierung: „Die soziale Schichtung bildet also einen der Zentralpunkte für die Strukturierung des Handelns in sozialen Systemen“ (a.a.O.:186).
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
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An welchen Merkmalen können sich die Individuen nun orientieren, um sich und andere in einer Schichtungsskala einzuordnen? Parsons nennt sechs Grundelemente:
Die Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe (das heißt eine Position, die man durch die Herkunftsfamilie innehat oder durch Heirat erlangt) Persönliche Eigenschaften (z.B. das Geschlecht oder das Alter) Leistungen (im Unterschied zu den Eigenschaften Ergebnisse von Handlungen, z.B. beruflicher Erfolg) Eigentum (wobei z.B. Reichtum selten ein primäres Statuskriterium darstellt, sondern eher ein Symbol für den Leistungserfolg ist) Autorität (das institutionell anerkannte Recht auf Einfluss, z.B. als Inhaber eines Richteramtes oder als Eltern) Macht (im Unterschied zur Autorität handelt es sich hier um nicht institutionell anerkannten Einfluss). „Der Status eines jeden Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft kann als Resultante der gemeinsamen Wertungen betrachtet werden, nach denen ihm sein Status in diesen sechs Punkten zuerkannt wird“ (a.a.O.: 189).
Jemand ist also z.B. ledig, männlich und Krankenpfleger mit einem bestimmten Einkommen etc. und wird entsprechend eingeordnet. Welche Merkmale besonders gewichtet werden, wie sie im Einzelnen bewertet werden, ist je nach Gesellschaft und Zeitpunkt verschieden. Beispielsweise wäre der erste Punkt, die Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe, in einer Kastengesellschaft das eindeutig dominierende Rangkriterium. Für die Schichtungsskala der USA, also einer modernen, industrialisierten Gesellschaft, hält Parsons (1940, 1949) zwei Grundelemente fest: zum einen Leistungen im Berufssystem (was ein Mindestmaß an Chancengleichheit voraussetzt) und zum anderen bestimmte Verwandtschaftsbande, und zwar Solidarität in einer Kernfamilie mit klarer Geschlechtsrollentrennung, in der vor allem der Mann den beruflichen Status der gesamten Familie festlegt. Über die offensichtliche zeitliche Gebundenheit des konkreten Beispiels hinaus will Parsons durch die sechs Bewertungskriterien ein analytisches Instrument entwerfen, mit dem man die Schichtung verschiedener Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten beschreiben kann. Diese Sichtweise betrachtet er als eine Weiterentwicklung von Marx’ Ansatz, dem er zwar eine wichtige Rolle in der soziologischen Theorieentwicklung zugesteht, der aber
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle „die Tendenz [hatte], die sozioökonomische Struktur der kapitalistischen Wirtschaft als eine einzige, unteilbare Einheit zu behandeln, statt analytisch zwischen einer Reihe verschiedener Variablen zu unterscheiden“ (Parsons 1949: 207).
So dürfe eine zeitgemäße Sozialstrukturanalyse nicht allein die Gewinnorientierung und die Ausbeutung durch kapitalistische Unternehmer berücksichtigen, sondern an zentraler Stelle z.B. auch die Berufsrollenstruktur. Auch der Klassenkonflikt erscheine so nicht mehr unvermeidlich, sondern sei an bestimmte Bedingungen gebunden. K. Davis/W.E. Moore Auch K. Davis und W. E. Moore stellen in ihrer Arbeit von 1945 deutlich heraus, dass aus ihrer Sicht die Schichtung jeder Gesellschaft eine funktionale Notwendigkeit darstellt. Schichtung ist also grundsätzlich aus gesellschaftlichem Blickwinkel etwas Positives, nicht etwas, das man überwinden müsste. Da sich die Argumente auf das allgemeine System der Positionen in einer Gesellschaft richten und nicht auf die einzelnen Individuen, sagen sie in keiner Weise, wie die Autoren selbst betonen, etwas darüber aus, ob die Lebenslage eines Einzelnen beispielsweise gerecht oder beklagenswert ist und wie er seine Chancen gegebenenfalls verbessern kann. Nach einer Unterscheidung von R.K. Merton könnte man sagen: Trotz manifester Unzufriedenheit mit bestehenden Ungleichheiten gibt es eine latente Funktionalität sozialer Schichtung. Analytisch trennt diese theoretische Perspektive dadurch zwischen Motiven und objektiven Folgen sozialen Handelns (Merton 1995: Kap. 1). Mit den Worten von Davis/Moore ist soziale Ungleichheit „ein unbewusst entwickeltes Werkzeug, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sicherstellt, dass die wichtigsten Positionen von den fähigsten Personen gewissenhaft ausgefüllt werden“ (1973 (zuerst 1945): 398).
Was bedeutet das genauer? Eine Gesellschaft muss bestimmte Positionen besetzen, als wichtige Hauptfunktion nennen die Autoren beispielsweise die Aufgaben von Staat und Regierung, die Normen durchsetzen, Entscheidungen treffen, insgesamt planen und lenken sollen, oder die Integrationsfunktion, der z.B. die Religion dient. Geeignete Personen müssen nun dazu motiviert werden, diese Positionen zu besetzen und die Aufgaben zu erfüllen, daher sind die Positionen mit entsprechenden Belohnungen verknüpft (z.B. Einkommen oder Ansehen). Wann hat nun eine Position welchen Rang inne? Die zwei Determinanten, die Davis und Moore nennen, sind erstens die Bedeutung oder die Funktion der
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
35
Position für die Gesellschaft und zweitens die erforderliche Begabung und/oder Ausbildung, die zur angemessenen Ausübung der Position notwendig ist. Abbildung 3:
Einflussfaktoren für den Rang einer Position nach Davis/Moore
Funktionale Bedeutung einer Position
Æ
Relative Knappheit des Personals (da Begabung/Ausbildung erforderlich)
Æ
Rang einer Position
Die Bedeutung der Position ist dabei eine notwendige, aber nicht allein hinreichende Bedingung. Beispielsweise ist es ganz sicherlich eine notwendige gesellschaftliche Aufgabe, den Hausmüll regelmäßig zur Entsorgung abzutransportieren, aber die Posten bei der Müllabfuhr rangieren im Belohnungssystem nicht gerade besonders weit oben. Die Autoren erklären dies so: Die Gesellschaft „muss diese Positionen lediglich mit so starken Anreizen ausstatten, dass eine angemessene Besetzung gewährleistet ist … wenn eine Position ohne Schwierigkeiten besetzt werden kann, braucht sie trotz ihrer Bedeutung nicht hoch belohnt zu werden.“ (1973 (zuerst 1945): 399).
Weil die meisten wichtigen Positionen spezielle Fähigkeiten erfordern, sieht der Normalfall so aus, dass geeignete Personen dafür knapp sind, weil nicht jeder die gleichen Begabungen hat und Ausbildungen Zeit, Geld und Mühe erfordern. Um die entsprechend Begabten z.B. für eine technische Expertenposition zu „locken“ und für eine langwierige Ausbildung zu interessieren, sind mit solchen Positionen dann relativ hohe Belohnungen verbunden. Auch Davis und Moore beanspruchen, auf diese Weise ein allgemeines Modell aufzustellen, das nicht nur für eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gilt. Die beiden Determinanten für den Rang einer Position halten sie für universal, aber einer Position kann in verschiedenen Gesellschaften (etwa mit unterschiedlichem Spezialisierungsgrad) unterschiedliche Bedeutung zukommen. So könnte z.B. die Integrationskraft der Religion im Vergleich zweier Gesellschaften unterschiedlich wichtig sein. Wie oben bereits angedeutet, gab es zu diesem Ansatz verschiedene Kritikpunkte. In der Kontroverse, die hier nicht nachvollzogen werden kann (vgl. z.B. die Beiträge in Bendix/Lipset 1966: 47-96, unter anderem von M. Tumin), mischen sich dabei Gesichtspunkte, die sich speziell auf die funktionalistische Schichtungstheorie richten, und solche, die den Strukturfunktionalismus generell betreffen. Hier sei beispielhaft auf zwei wichtige Kritikpunkte hingewiesen.
36
2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
1.
R. Mayntz führt an, dass das Modell stillschweigend von Voraussetzungen ausgeht, die die Autoren (sie bezieht sich vorwiegend auf Davis bzw. Davis/Moore) nicht explizit genug machen und deren Gültigkeit anzuzweifeln ist. Diese Voraussetzungen lauten, „dass erstens Talent angeboren und knapp ist, dass zweitens niemand ohne Aussicht auf besondere Belohnung nach schwierigeren Aufgaben strebt, und dass drittens soziale Positionen im freien Wettbewerb errungen werden“ (1961: 13). Wenn dagegen beispielsweise Führungsqualitäten im politischen Bereich gar nicht so knapp wären oder diejenigen mit entsprechenden Fähigkeiten solche Aufgaben auch ohne besondere Belohnungen gern, etwa aus sachlichem Interesse oder sozialem Pflichtgefühl übernähmen, wäre das Modell von Davis und Moore weit weniger plausibel. Selbst wenn man z.B. das Handeln aus sozialem Pflichtgefühl als unwahrscheinlich oder illusionär annimmt, zeigt sich an diesem Sachverhalt doch, dass hinter dem funktionalistischen Modell ein ganz bestimmtes Menschenbild steht (Mayntz: ebd.). Auf den ersten Blick scheint es nicht unlogisch, unter der Voraussetzung von weitgehender Chancengleichheit vielleicht auch gerecht, wenn bedeutsamere Leistungen höher belohnt werden (teilweise hat sich diese Vorstellung eines Leistungsprinzips ja bis heute erhalten). Bei genauerem Nachdenken tauchen dann aber doch einige Fragen auf, die die Bewertung von Positionen betreffen: Nach welchem Maßstab beurteilt man, ob eine Position funktional bedeutsam ist? Gibt es Maßstäbe oder zumindest Einigkeit darüber, welche Funktionen für das Bestehen des Systems relevant sind, welcher Zielzustand für das System anzustreben ist? Wer wertet überhaupt und teilt Positionen zu? Kommt man zu der Antwort, dass die herrschenden Gruppen in einer Gesellschaft solche Bewertungen vornehmen oder zumindest großen Einfluss darauf haben, setzt sich der theoretische Ansatz dem Vorwurf aus, bestehende Ungleichheitsverhältnisse nicht nur hinsichtlich Macht und Ungerechtigkeiten zu ignorieren (ganz im Gegensatz zu Klassentheorien), sondern diese Verhältnisse sogar zu legitimieren.
2.
G. Lenski In einer Veröffentlichung von 1966 (im amerikanischen Original) versucht Gerhard Lenski, von „konservativen“ und „radikalen“ Ungleichheitstheorien ausgehend, man könnte in der hier verwendeten Terminologie sagen: von funktionalistischer Schichtungstheorie und Klassentheorie ausgehend, einen Schritt in Richtung einer Synthese zu unternehmen. Dies tut er dadurch, dass er zunächst Schichtung umdefiniert als „den Verteilungsprozess in menschlichen Gesell-
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
37
schaften, den Prozess, durch den knappe Werte verteilt werden“ (Lenski 1977: 12). Im nächsten Schritt stellt er dann zwei Prinzipien dieses Verteilungsprozesses zur Klärung der Ursachen sozialer Ungleichheit heraus: Bedürfnis und Macht. Diese Prinzipien konkretisiert er in zwei Verteilungsgesetzen. Das erste lautet: Die Menschen teilen das Produkt ihrer Arbeit insoweit, als es zur Sicherung ihres Überlebens und der kontinuierlichen Produktivität jener notwendig ist, deren Handlungen für sie selbst notwendig oder nützlich sind. Dieses Gesetz beruht auf der Annahme, dass Menschen in erster Linie aus Eigeninteresse handeln, dieses aber meist nur durch Kooperation realisieren können. Die Verteilung der Güter auf dieser Stufe verursacht, so Lenskis Annahme, keine bedeutsamen Verteilungskonflikte, denn an einer weiteren Kooperation zur Überlebenssicherung ist jeder interessiert. Das ändert sich mit der Produktion eines Mehrwerts, also von Gütern, die nicht unmittelbar zum Überleben dienen. Dadurch dass erstrebenswerte Güter immer knapp sind, kommt es zu Konflikten. Das zweite Verteilungsgesetz sagt entsprechend aus: „Macht [bestimmt] weitgehend darüber, wie der Surplus einer Gesellschaft verteilt wird“ (a.a.O.: 71). Macht ist in der Folge auch ein bedeutsamer Einflussfaktor, die „Schlüsselvariable“, für Privilegien (der Besitz oder die Kontrolle eines Teils des Surplus) und für Prestige (a.a.O.: 73). Die Bedeutung des Verteilungsprinzips durch Macht wächst indes mit dem technologischen Fortschritt einer Gesellschaft (a.a.O.: 74). Lenskis Schwerpunkt liegt auf diesen dynamischen Aspekten von Ungleichheit, doch macht er auch Aussagen über die Struktur von Verteilungssystemen. Mitglieder einer Klasse befinden sich im Hinblick auf Macht (und auch im Hinblick auf Privilegien und Prestige) in einer ähnlichen Position, sie haben ähnliche Interessen, die jedoch nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein führen müssen (a.a.O.: 109-112). Das Verteilungssystem einer Gesellschaft insgesamt besteht aus mehreren Klassensystemen mit unterschiedlicher Gewichtung, denen jeweils ein bestimmtes Klassenkriterium zugrunde liegt, z.B. aus einem politischen Klassensystem und nachrangig aus einem Besitz-, Berufs- und ethnischen Klassensystem. Jedes Klassensystem teilt sich in verschiedene Klassen auf. Ein Individuum hat in jedem Klassensystem eine Position, erhält so ein spezifisches Profil, ist z.B. unpolitisch, Kaufmann aus dem Mittelstand und spanischer Herkunft (a.a.O.: 116f.). Wenn man nun noch die Klassensysteme unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleicht – Lenski nennt z.B. Bedeutung, Spannweite, Mobilitätsgrad, Gegnerschaft etc. (a.a.O.: 118-120) – ergibt sich ein komplexes Gefüge, das zwar viele Dimensionen berücksichtigt, aber auch Gefahr läuft, unübersichtlich zu werden. Kritische Stimmen haben sich jedoch eher auf Lenskis Schwerpunkt, den Syntheseversuch, gerichtet. Beispielsweise bezweifelt Wiehn, dass es eine Gesellschaft ohne Mehrwert geben könne. Viele Gesichtspunkte bleiben unklar,
38
2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
z.B. wie teilen die Menschen in einer Gesellschaft ohne Mehrwert (Gleichverteilung?), oder wo kommt mit dem Mehrwert die Macht her? (z.B. Wiehn 1968: 132, 136f.). Wiehn hält die Synthese letztlich für misslungen, doch habe Lenski auf wichtige Punkte aufmerksam gemacht, die über bisherige Ansätze hinausführen (z.B. Macht als Zentralkriterium; 1968: 137). Es sind also eher einzelne Aspekte als der Gesamtansatz Lenskis, die für spätere Ansätze Anregungen gaben (z.B. auch bei Dahrendorf 1966a: 346), doch ist er ein vergleichsweise frühes Beispiel für einen Versuch, durch ein mehrdimensionales Modell Einseitigkeiten anderer Theorien zu überwinden. Zusammenfassung Der funktionalistische Schichtungsansatz geht davon aus, dass die soziale Schichtung dazu beiträgt, dass Gesellschaft „funktioniert“, dass eine stabile soziale Ordnung möglich ist. Je mehr eine Position solche Leistungen erbringt, desto höher ist sie in der Rangordnung angesiedelt. Wenngleich konkrete Schichtungen je nach Gesellschaft variieren können, stehen doch bestimmte Elemente fest, die die Einordnung in die Schichtungsskala bedingen (s. die sechs Punkte bei Parsons) bzw. die den Rang einer Position beeinflussen (Davis/Moore). Einen im Versuch positiv zu würdigenden, im Ergebnis jedoch fraglichen Ansatz zur Verbindung von funktionalistischer Schichtungstheorie und konfliktorientierter Klassentheorie hat Lenski vorgelegt. Der funktionalistische Ansatz hat mit Geigers Schichtungsmodell gemeinsam, dass beide von mehrdimensionalen Schichtungen ausgehen, deren zentrale Merkmale nach Gesellschaft und Zeit variieren können. Ein Klassenkonflikt ist bei beiden keineswegs zwingend. Darüber hinaus haben sie jedoch ein unterschiedliches Erkenntnisinteresse: Bei Geiger ist es die Verknüpfung von Schichtung und Mentalität, beim funktionalistischen Ansatz der Beitrag der Schichtung zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Sowohl Klassen- als auch Schichtmodelle in ihren unterschiedlichen Ausführungen sahen sich nach wie vor jeweils verschiedenen Kritikpunkten ausgesetzt. Sie bildeten aber in der folgenden Zeit – noch bis etwa Anfang der achtziger Jahre – die Grundlage, auf der theoretische Modelle und Kontroversen zur sozialen Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse aufbauten, wie das folgende Kapitel zeigt.
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
39
Lesehinweis: Davis, Kingsley; Wilbert E. Moore (1945): Einige Prinzipien der sozialen Schichtung; in: Heinz Hartmann (Hg.) (1967): Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart: Enke, 2., umgearbeitete Auflage 1973, S. 396-410
3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion Die Konkurrenz verschiedener Klassen- und Schichtmodelle von den fünfziger Jahren bis in die siebziger Jahre
Zwischen den 1950er und 1970er Jahren gab es keine eindeutige Vorherrschaft eines bestimmten Autors oder Modells (wenngleich Autoren immer wieder auf das unten beschriebene „Zwiebelmodell“ als für die sechziger Jahre angemessen verweisen), aber mit wenigen Ausnahmen betrachten die verschiedenen Modelle einen der Begriffe Klasse oder Schicht als angemessen. Eine Auswahl von in Westdeutschland stärker diskutierten Ansätzen soll hier vorgestellt werden. 3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft In den fünfziger Jahren entstand eine These, die sowohl den Klassen- und Schichtbegriff ablehnte als auch überhaupt Modelle der vertikalen Strukturierung zur Charakterisierung der Sozialstruktur. Laut dieser These war die Gesellschaft nämlich auffällig „nivelliert“. Obwohl diese Perspektive bald ihre Kritiker fand, ist das Schlagwort von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft eines, das nicht in seiner Geltung, wohl aber in seinem Bekanntheitsgrad bis heute erhalten geblieben ist. In einem Aufsatz von 1953 stellt Schelsky seine Auffassung in einigen Thesen vor: 1.
In den letzten zwei Generationen hat es umfangreiche Auf- und Abstiegsprozesse gegeben, insbesondere Aufstiege von Industriearbeitern und zum Teil von Verwaltungsangestellten in den „neuen Mittelstand“ und andererseits Abstiege des ehemaligen Besitz- und Bildungsbürgertums (z.B. durch Vertreibungen). Diese Mobilität führte „zu einem relativen Abbau der Klassengegensätze, einer Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten Berufsgruppen und damit zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird.“ (1953: 332). Staatliche Regulierungen wie die Sozial- und Steuerpolitik unterstützen diese Nivellierung.
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
2.
Der Nivellierung folgt weitgehend eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen, die Schelsky als „kleinbürgerlich-mittelständisch“ bezeichnet. Soziale Mobilität ist damit kein Umschichtungsvorgang mehr, sondern vorrangig eine Entschichtung. Schelsky ist nicht so naiv anzunehmen, dass alle Unterschiede eingeebnet wären: „Selbstverständlich bleibt eine Analyse der sozialen Schichtung auch in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nach den alten Kriterien möglich, da deren Kennzeichen ja nicht ganz verwischt sind.“ (1953: 333). Allerdings glaubt er nicht, dass man aus solchen Gruppierungen einheitliche Interessen und Bedürfnisse ableiten könne. Schon gar nicht stehen sich zwei große feindliche Klassen gegenüber, wie es als Betrachtungsweise der frühindustriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert noch angemessener war. Eher schon gibt es im Produktionssystem Konflikte der Arbeiter mit einem anonymen bürokratischen System oder zwischen organisierten Interessenvertretungen (vgl. auch Schelsky 1956: 339-342). Das Bewusstsein der Menschen hält dagegen noch oft an der Rangfolge der Prestigeschichtung fest, wie sie der früheren Klassengesellschaft entsprach, oder betont sie sogar besonders. Die Ursache sieht Schelsky in Sicherheitsund Geltungsbedürfnissen, die eine in hohem Maße mobile Gesellschaft nicht befriedigen kann. Auch Organisationen wie Gewerkschaften oder Unternehmerverbände erhalten die Ideologie eines Klassenkonflikts zu ihrer Legitimierung teilweise aufrecht (1956: 343f., 1961). In der nivellierten Gesellschaft sind den Aufstiegsbedürfnissen definitionsgemäß relativ enge Grenzen gesetzt, weil die „soziale Leiter“ insgesamt kürzer geworden ist. Soziale Unsicherheiten bleiben so bestehen, auch können daraus soziale Spannungen erwachsen. Die Nivellierung bedeutet also nicht ein harmonisches Zusammenleben. Das so genannte „Mittelstandsproblem“ einer unklaren Klassenzuordnung mittlerer Schichten (insbesondere Angestellter) stellt sich kaum mehr, weil es in der nivellierten Gesellschaft zu einer Problematik der Gesamtgesellschaft geworden ist.
3.
4.
5.
6.
Obwohl Schelskys These fast einhellig abgelehnt wurde, diente sie oft als willkommene Folie, um sich abzugrenzen. Beispielsweise kann Dahrendorf die Behauptung der Angleichung wirtschaftlicher Positionen (welcher Maßstab liegt hier zugrunde?) nicht nachvollziehen, auch große Mobilität hält er für fraglich, wenn allenfalls jedes zehnte Arbeiterkind Aufstiegschancen habe (Dahrendorf 1965: 148). Ebenso halten Bolte et al. (1967) die Nivellierungstendenzen für „zweifellos überbetont“ (1967: 284). Zudem bleibt wie beim funktionalistischen
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive
43
Schichtungsansatz die Frage nach Konflikten unterbelichtet, Dahrendorf spricht die Gefahr der Zementierung von Herrschaftsverhältnissen durch eine solche Sichtweise an (1965: 148). Sein eigenes Modell (s.u.) hält Konflikte dagegen für zentral. Über dreißig Jahre später stellte sich erneut die Frage, inwiefern es überhaupt noch Schichten gebe und ob soziale Lagen mit spezifischen Interessen verknüpft seien. Es handelt sich jedoch nicht um eine Reaktualisierung Schelskys, weil das (weiterhin kontrovers diskutierte) Thema unter veränderten Ungleichheitsbedingungen aufkam (vgl. dazu insbesondere Kap. 8). Lesehinweis: Schelsky, Helmut (1953): Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft; in: Schelsky, Helmut: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1965, S. 331-336 3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive Wenn R. Dahrendorf in den sechziger Jahren nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen sucht, findet er natürlich bereits mehrere Antworten auf diese Frage: das Privateigentum, die Arbeitsteilung und die funktionale Notwendigkeit der Schichtung. Dahrendorf selbst bietet eine andere Lösung an: „Der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen liegt also in der Existenz von mit Sanktionen versehenen Normen des Verhaltens in allen menschlichen Gesellschaften“ (1966b: 370).
Was bedeutet das genauer? Dahrendorf geht davon aus, dass jedes gesellschaftliche Zusammenleben mit der Regelung des Verhaltens durch verfestigte Erwartungen (Normen) verbunden ist, die durch Sanktionen verbindlich werden. Daraus folgt für ihn, „dass es stets mindestens jene Ungleichheit des Ranges geben muss, die sich aus der Notwendigkeit der Sanktionierung von normgemäßem und nicht-normgemäßem Verhalten ergibt“ (a.a.O.: 368).
Er betont, dass er damit keine zufällige individuelle Ungleichheit je nach persönlichen Fähigkeiten und dem Willen zur Normerfüllung meint, sondern eine
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Ungleichheit sozialer Positionen. Normenkonformität wird belohnt,9 die Fähigkeit dazu hängt von der Position ab. Hradil nennt als Beispiel, dass – angenommen, Verhaltensautonomie und Grad der „Geistigkeit“ einer Arbeit seien zentrale Bewertungsmaßstäbe – ein Landarbeiter auch dann, wenn er seine Arbeit gut verrichtet, nicht hoch in der gesellschaftlichen Wertung stehen wird, weil diese Arbeit zu unselbständig und zu ungeistig ist (Hradil 1999: 120).10 Mit den Worten Dahrendorfs: „Derjenige [wird] die günstigste Stellung in einer Gesellschaft erringen, dem es kraft sozialer Position am besten gelingt, sich den herrschenden Normen anzupassen – und umgekehrt … [sind] die geltenden oder herrschenden Werte einer Gesellschaft an ihrer Oberschicht ablesbar“ (1966b: 376).
Der letzte Teil des Zitats weist darauf hin, dass in dem zentralen Begriffs-Dreigespann Norm – Sanktion – Herrschaft (a.a.O.: 375) die Herrschaft den Strukturen sozialer Schichtung logisch vorausgeht. Die Herrschenden setzen die geltenden Normen fest, die durch entsprechende Sanktionen durchgesetzt werden. Schichtung bildet daher mindestens prinzipiell die Herrschaftsstruktur ab (nicht im Detail, weil z.B. auch Traditionen eine Rolle spielen; 1966a: 347). Im Zusammenhang mit der Herrschaftsstruktur spricht Dahrendorf zwar wie Marx von herrschenden und beherrschten Klassen, die im Konflikt zueinander stehen. In Abgrenzung zu Marx argumentiert er aber, dass der Klassenkonflikt in der Industrie an Intensität und Schärfe verloren habe, unter anderem durch die Institutionalisierung der Interessengegensätze. Zudem stellt er fest, dass „der industrielle Klassenkonflikt in entwickelten Industriegesellschaften zunehmend nicht mehr die gesamte Gesellschaft [beherrscht], sondern … auf den Bereich der Industrie beschränkt [bleibt]“ (1957: 234f.).
Daraus folgt, dass „herrschende und beherrschte Klassen der Industrie nicht mehr Teil der entsprechenden Klassen im politischen Bereich sein müssen. Die Klassentheorie erlaubt den Schluss, dass in einer Gesellschaft so viele diskrete herrschende bzw. beherrschte Klassen bestehen können, wie es Herrschaftsverbände gibt“ (a.a.O.: 238).
9 Die Normenkonformität verweist auf das allgemeine Modell des homo sociologicus, in dem der (in Rollen) Handelnde seine Handlungsorientierungen zentral durch Normen erhält (vgl. Dahrendorf 1958, Schimank 2000). 10 Ein Problem besteht laut Hradil allerdings dann, wenn eine Position nicht konsistent bewertet wird, wenn mit ihr z.B. ein hohes Einkommen, aber wenig Ansehen verbunden ist (1999: 120).
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive
45
Vielfältige Herrschaftsverbände haben also den einen ausschlaggebenden Herrschaftsverband, der sich bei Marx aus dem Besitz an Produktionsmitteln ergab, abgelöst. Trotz dieser Modifikation von Marx grenzt sich Dahrendorf selbst aber dadurch, dass die Konfliktperspektive allgemein für ihn wichtig ist, von einer funktionalistischen „Integrationstheorie“ der Sozialstruktur (1957: 159, 218) ab.11 Aus der Sicht dieser Konfliktperspektive ist soziale Ungleichheit dann beispielsweise auch der „Stachel, der soziale Strukturen in Bewegung hält“ (1966b: 379). Bei diesen sozialen Konflikten geht es um die Verteidigung oder Vergrößerung von Lebenschancen. Darunter versteht Dahrendorf eine Funktion aus Optionen und Ligaturen. Das heißt, dass die Lebenschancen nicht allein aus einer spezifischen Kombination aus Angeboten und Anrechten (z.B. beruflichen Möglichkeiten) bestehen, sondern auf der anderen Seite auch aus kulturellen Bindungen (etwa in der Familie oder in der Gemeinde), die dem Einzelnen Orientierung bieten (Dahrendorf 1979, 1992). Etwas unklar bleibt allerdings, wie sich durch den sozialen Konflikt ein Wandel von herrschenden Gruppen und Normen vollzieht. Wie kommen neue Gruppen in eine herrschende Position, wenn die Konformität mit geltenden Normen belohnt wird? Insgesamt lässt Dahrendorf sich so einordnen, dass er – mit den genannten Modifikationen – einerseits vom Marxismus beeinflusst ist (auch in späteren Arbeiten betont er, dass man den sozialen Wandel durch Klassenkonflikt als einen der stärksten makrosoziologischen Ansätze nicht leichtfertig aufgeben solle (1987: 27)), abgesehen von seinen Kritikpunkten an der funktionalistischen Sichtweise andererseits aber auch etwas von dieser übernimmt, indem er Ungleichheit durch die Existenz von Normen und daran geknüpfte Sanktionen erklärt. Seine allgemeine Argumentation zur Schichtung hat Dahrendorf durch ein konkretes Modell der Schichtung in Deutschland (mit dem Anspruch auf Übertragungsmöglichkeiten für andere westliche Gesellschaften) ergänzt (1965). Dazu lehnt er sich an die Studie Geigers von 1932 an, die er für „lebendiger“ (1965: 104) hält als einige zeitgenössische Schichtungsmodelle (z.B. Moore/ Kleining 1960, Scheuch 1961). Allerdings müsse man die Studie für die gegenwärtige Schichtung modifizieren. Der Rückgriff auf Geiger erklärt auch, dass Dahrendorf im Kontext seines Modells von Schichten (ohne eingehende Abgrenzung zu Klassen) spricht. Dahrendorfs eigenes Modell sieht so aus:
11
Zur Einordnung und (relativ negativen) Beurteilung der „gegenwärtigen Lage der Theorie der sozialen Schichtung“ vgl. auch den so lautenden Aufsatz Dahrendorfs (1966a).
46 Abbildung 4:
3 Klassen und Schichten in der Diskussion Die soziale Schichtung in Deutschland nach Dahrendorf
Quelle: Dahrendorf 1965: 105 Die Eliten sind eine heterogene Gruppe führender Positionen (die Idee der vielfältigen Herrschaftsverbände findet sich hier wieder). Die Dienstklasse bilden Beamte und Verwaltungsangestellte aller Ränge, die im „Dienst“ der Herrschenden stehen und für die individuelle Konkurrenz prägender ist als kollektive Solidaritäten. Der Mittelstand besteht aus Selbständigen, die aufgrund ihrer defensiven Haltung keine prägende Schicht (mehr) sein können. Letzteres gilt auch für die Arbeiterelite (z.B. Meister). Im „falschen“ Mittelstand findet man ausführende Berufe im Dienstleistungsbereich, z.B. Kellner oder Chauffeure, deren Angehörige sich von ihrem Selbstbewusstsein her jedoch eher zur Mittelschicht zählen. Die Arbeiter sind in sich vielfach gegliedert (z.B. nach Branche oder Qualifikation), haben aber eine eigene Mentalität, was für die Unterschicht (z.B. Dauererwerbslose, Kriminelle) nicht gilt (1965: 105-115). Das Modell beansprucht nicht, Schichtung im Detail abzubilden, z.B. beruhen die Größenangaben auf „informierter Willkür“ (1965: 104). Sieht man das Modell als Gebäude an, finden sich in jedem „Zimmer“ noch Ecken und Nischen, Wände zwischen den Zimmern sind verstellbar und durchlässig (a.a.O.: 114). Doch ist es ein Versuch, eine absichtlich recht allgemein gehaltene Argu-
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
47
mentation zur Schichtungstheorie durch ein konkretes Modell zu ergänzen (das allerdings zu dieser Argumentation in keinem sehr engen Zusammenhang steht). Dieses Modell bildete Anfang der neunziger Jahre die Vorlage für eine modernisierte Variante durch R. Geißler (vgl. Kap. 4.1). Den Prototyp für die Schichtung der sechziger Jahre bildete allerdings ein anderes Modell: die „Zwiebel“ von Bolte et al. (1967), die im folgenden Abschnitt erläutert wird. Lesehinweis: Dahrendorf, Ralf (1966b): Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen; in: ders. (1974): Pfade aus Utopia, München: Piper, S. 352-379; 2., überarbeitete und erweiterte Auflage des Aufsatzes von 1961 (Abschnitt I-VI: theoriehistorische Skizze, danach eigener Ansatz) 3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status In den fünfziger und sechziger Jahren wurde das Ungleichheitsgefüge häufig durch Prestigemodelle charakterisiert. Unter „Prestige“ ist laut Lexikon zur Soziologie die „Bezeichnung für die Wertschätzung, die eine Person oder eine Gruppe (z.B. eine Berufsgruppe) bzw. die Inhaber eines sozialen Status genießen“ zu verstehen (Klima 2007: 506).
Prestige ist damit dem Status recht nahe, der die Stellung eines Positionsinhabers ausdrückt. Der Status z.B. einer Berufsposition wie der des Polizisten kann beispielsweise auf Prestige (also auf der Wertschätzung) beruhen, aber z.B. auch auf der Qualifikation oder dem Einkommen. Das Prestige ist das soziale Ansehen, das man nicht verwechseln darf mit einem Ansehen aufgrund persönlicher Merkmale. Das Prestige des Polizisten ist also unabhängig davon, ob ein einzelner, mir bekannter Polizist besonders fleißig, fähig usw. ist oder nicht. Ein weiteres begriffliches Problem ist die Einordnung von „Prestige“ als objektives oder subjektives Ungleichheitsmerkmal. Einerseits kann man Prestige als objektive Ressource ansehen, die ebenso wie z.B. das Einkommen in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Andererseits ist Prestige immer das Ergebnis einer subjektiven Wertung, ist nicht nach einem festen Maßstab zählbar wie z.B. das monatliche Einkommen in Euro. Für Wegener sind beide Aspekte des Be-
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
griffs „Prestige“ untrennbar verknüpft: „Sein Spezifikum ist, dass es sowohl subjektive Meinungsbildung als auch Abbild einer sozialen Strukturkomponente ist“ (Wegener 1988: 22). Exkurs zum „Status“ Auf die Nähe zwischen dem Status und dem Prestige wurde bereits hingewiesen. Das Lexikon zur Soziologie definiert „Status“ als „mehr oder minder hohe Position in der Schichtungshierarchie … hinsichtlich eines beliebigen hierarchiebildenden Schichtkriteriums“ (Laatz 2007: 632). Der Autor fügt jedoch hinzu, dass der Begriff überwiegend auf Hierarchien sozialer Wertschätzung angewandt werde (anhand eines Kriteriums, z.B. Besitz, Beruf oder Macht; ebd.). Hradil ergänzt, der Bezug auf die Stellung im Prestigegefüge sei vor allem für die – in diesem Kapitel behandelte – ältere Schichtungsforschung charakteristisch, die neuere Literatur sehe Status als bessere oder schlechtere Stellung im Oben oder Unten verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit an. Dies ist indes nicht immer ganz unproblematisch, etwa bei vieldimensionalen Aspekten wie „Arbeitsbedingungen“ oder Beziehungsungleichheiten, z.B. anhand von „Sozialintegration“. Hinzu kommt, wie später noch zu zeigen sein wird, das Problem einer zunehmenden Statusinkonsistenz, dass also beispielsweise jemand mit einem hohen Einkommen eine niedrige Bildung hat, dass allgemein sein Status nach verschiedenen Ungleichheitsmerkmalen keine ähnlichen Ausprägungen aufweist (Hradil 1999: 29). Auch unabhängig von dieser Entwicklung variieren Statuskriterien je nach Gesellschaft und innerhalb einer Gesellschaft nach Milieu, Zeitpunkt etc. So kann in einem Milieu der Besitz eines besonders schnellen und teuren Autos als Statussymbol fungieren, was Mitglieder eines anderen Milieus vielleicht höchstens milde belächeln. Die Variation von Statuskriterien im Zeitverlauf hat wiederum etwas damit zu tun, dass sich Statussymbole, die die soziale Umwelt als solche wahrnehmen und anerkennen muss, wandeln. Wenn sich viele Menschen einen Mittelklassewagen leisten können oder das Abitur machen, verliert das Statussymbol durch diese „Inflation“ an Exklusivität, an Wert. In den bisher dargestellten Ansätzen ist der Status, mindestens indirekt, bereits bei Weber zur Sprache gekommen in dem Begriff des Standes, der eine soziale Statusgruppe beschreibt (allerdings berücksichtigt der Begriff des Standes Beziehungen zwischen Gruppen noch etwas stärker als die oft auf Verteilungsungleichheiten konzentrierten Statusgruppen). Parsons nennt ausdrücklich Kriterien (Eigentum, Leistungen, Autorität etc.), aus denen der Gesamtstatus eines Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft resultiert.
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
49
Auch spätere Ansätze thematisieren den Status zumindest implizit. Abels bemerkt beispielsweise, dass man Bourdieu (vgl. Kap. 6) auch als „Schilderung eines Klassenkampfes um den sozialen Status“ lesen könne (a.a.O.: 252). Status spielt schließlich eine Rolle in theoretischen Ansätzen, die sich nicht in erster Linie mit sozialer Ungleichheit beschäftigen. Beispielsweise sieht der Symbolische Interaktionismus die wechselseitige Statusbestimmung als ein Element zur Definition der Situation an. In der Rollentheorie ist die Rolle der dynamische Aspekt eines Status, also eines Platzes, den ein Individuum zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten System einnimmt (Linton 1973 (zuerst 1945)). Dabei kann man zwischen zugeschriebenem (z.B. aufgrund von Alter oder Geschlecht) und erworbenem Status (aufgrund von Leistung) unterscheiden (vgl. Abels 2001: Kap. 7). Vor weiteren begrifflichen und kritischen Anmerkungen soll nun an einigen Beispielen gezeigt werden, wie Prestigemodelle das gesellschaftliche Ungleichheitsgefüge in den fünfziger/sechziger Jahren darstellten. Dieses Gefüge verstehen die Autoren als Schichtung (nicht etwa als Klasse). Für einige dieser Studien dienten US-amerikanische Forschungen als Vorbild, z.B. von W.L. Warner et al., die in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem Gemeinden – als eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft – auf ihre Ungleichheitsstrukturen untersuchten (vgl. z.B. Warner et al. 1963). Warner verwendet den Begriff „class“ recht offen im Sinne von Schichten, die sich durch bewertende Einstufungen konstituieren: „By social class is meant two or more orders of people who are believed to be, and are accordingly ranked by the members of the community, in socially superior and inferior positions“ (1963: 36).
Prestige ist damit das zentrale Kriterium. An die Schicht sind weitere Merkmale gebunden, z.B. Heiratskreise oder allgemein Vor- und Nachteile für die Mitglieder. Nach der Verwendung von zunächst aufwändigeren Erhebungsmethoden arbeiteten Warner et al. mit einem Index zur Feststellung von Prestige, der die Merkmale Beruf, Art des Einkommens, Haustyp und Wohngegend enthielt. Im Ergebnis fand Warner drei übereinander liegende Schichten, die jeweils zweigeteilt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dabei in der unteren Mitte/dem oberen Unten angesiedelt (in der Gemeinde „Yankee City“ z.B. zusammen über 60%; Warner 1963: 43). Herzog betont, dass Warner auf diese Weise „reale“ Schichten voneinander abgrenzen will, mit denen entsprechende Verhaltensmuster und ein Bewusstsein von den sozialen Unterschieden einhergehen (1965: 79).
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Wie kam es dazu, dass gerade diese amerikanischen Forschungen als Vorbild für deutsche Untersuchungen ab den fünfziger Jahren dienten? Hradil nennt mehrere Gründe (1987: 80f.): Abgesehen von finanziellen Hilfen der USA für empirische Erhebungen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Klima des Strebens nach gleichen Wettbewerbschancen in der sozialen Marktwirtschaft, zu dem die relativ „konfliktfreien“ Prestigemodelle besser passten als z.B. den Konflikt oder die ökonomischen Ungleichheiten betonenden Klassenmodelle. Zudem spielte eine allgemeine Hegemonie des Strukturfunktionalismus eine Rolle (vgl. Kap. 2.4), mit dem Prestigekonzepte verbunden sind, unter anderem, weil sie einen relativen Wertekonsens (z.B. Prestigeeinstufungen betreffend) unterstellen. Auch bei der funktionalistischen Schichtungstheorie geht es darum, gesellschaftliche Bewertungen von Positionen als Grundlage für ein hierarchisches Belohnungssystem, das Schichtgefüge, anzusehen. Nach dieser Einordnung von Prestigemodellen im weiteren Sinne zu amerikanischen Vorbildern sollen folgende Beispiele genauer dargestellt werden: 1. 2. 3.
H. Moore / G. Kleining (1960): Gesellschaftsschichten nach sozialer Selbsteinstufung E.K. Scheuch (unter Mitarbeit von H. Daheim) (1961): Prestigeschichten durch Indexbildung K.M. Bolte et al. (1967): Das „Zwiebel“-Modell
H. Moore / G. Kleining In dem Ansatz von Moore und Kleining ist – wie in vielen Untersuchungen – der Beruf für die Schichteinstufung zentral, und zwar wählten sie als methodisches Verfahren die soziale Selbsteinstufung (SSE). Die Befragten erhielten eine Liste mit neun Gruppen zu je vier Berufen als Beispiel und sollten sich selbst in die Gruppe einordnen, die dem eigenen Beruf am nächsten kam. Die Forscher schlossen dann von dieser Eingruppierung auf die soziale Schicht (die Zuordnungen hatten sie zuvor durch eine Reihe von Tests und durch Anlehnung an die Untersuchungen von Warner et al. entwickelt). Die Schichteinstufung, die sich ergibt, hat nach dem Anspruch der Autoren einen Erkenntnisgewinn über die Berufsgliederung hinaus. Anhand der Berufe und ihrer Rangfolge lässt sich die Schicht bestimmen, diese wiederum hat Einfluss auf andere Lebensbereiche: „Wir finden ganz ähnliche Differenzierungen [wie für den Berufsaspekt, N.B.] auch auf vielen anderen Gebieten, zum Beispiel im Sektor der Familie (etwa der Kinder-
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
51
erziehung), des Konsums, der Meinungen … der Kleidung, der Sprache und so weiter“ (1960: 92).
Für die obersten und die untersten Schichten gelte dies allerdings nur eingeschränkt, weil sich diese Menschen nicht in erster Linie durch ihre berufliche Tätigkeit definierten. Außerdem gilt für die Schichteinstufung, dass sie vom Mann und seinem Beruf ausgeht und dann auf seine Familie übertragen wird, weil man davon ausgeht, dass die Familie die kleinste Einheit der Gesellschaftsordnung und daher einheitlich einer Schicht zuzuordnen ist. Danach ist die Einstufung des Mannes auch auf die Frau und gegebenenfalls Kinder übertragbar. Das Ergebnis lautet, dass es eine breite Mitte gibt: Die untere Mittelschicht und die obere Unterschicht machen insgesamt 58% der Bevölkerung aus, die übrigen verteilen sich gleichermaßen darunter und darüber. Sowohl die untere Mittelschicht als auch die obere Unterschicht untergliedern die Autoren nochmals in einen industriellen und einen nicht-industriellen Teil. Die Charakterisierung der einzelnen Schichten umfasst nicht allein die Angabe zugehöriger Berufe, sondern auch weitere Charakteristika (die die Forscher durch offene Befragungen ermittelten). So gehören etwa zur mittleren Mittelschicht „mittlere“ Angestellte wie Bürovorsteher, Fachschullehrer oder Inhaber mittelgroßer Geschäfte. Typisch ist beispielsweise ihre „bürgerliche“ Einstellung, sie sehen sich als über dem Durchschnitt der Bevölkerung platziert und sind gewissenhafte Spezialisten, die die bestehende Ordnung stützen. Insgesamt fanden Moore und Kleining eine recht große Übereinstimmung mit den Ergebnissen Warners, was sie so erklären, dass es sich in beiden Fällen um die Untersuchung einer typisch industriellen Gesellschaft handele. Der Schichtenaufbau in Deutschland sei allerdings noch differenzierter (a.a.O.: 90). Im Überblick verteilen sich die Schichten wie folgt:
52 Abbildung 5:
3 Klassen und Schichten in der Diskussion Schichtenaufbau in Deutschland nach Moore/Kleining
Schicht Oberschicht Obere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht Untere Mittelschicht: - nicht industriell - industriell Obere Unterschicht: - nicht-industriell - industriell Untere Unterschicht Sozial Verachtete Quelle: Moore/Kleining 1960: 91
Anteil 1% 5% 15% 17% 13% 10% 18% 17% 4%
Bis in die siebziger Jahre gab es Folgestudien mit Hilfe der Selbsteinstufung; die Resultate erwiesen sich dabei als relativ stabil (Kleining/Moore 1968: 546f.; Kleining 1975: 273). E.K. Scheuch Eine andere Methode zur Messung von Prestige ist die Verwendung von Indizes (wie z.B. auch bei Warner et al.). Dabei sucht man nach Kriterien, nach Indikatoren, die in gebündelter Form das Prestige anzeigen. Wiederum ist der Beruf bzw. ist die Berufsgruppe (z.B. anhand der Internationalen Standardklassifikation der Berufe ISCO) ein zentrales Kriterium. Teilweise berücksichtigt man jedoch auch mehrere Kriterien. Dabei ordnet der Forscher z.B. je nach Einkommenshöhe, Nationalität usw. Punktwerte zu und addiert diese mit entsprechender Gewichtung zu einem Gesamtwert, der das Prestige anzeigt. Wie man die Punktwerte und Gewichtungen vergibt, ergibt sich aus Bewertungen, die man z.B. zuvor durch Befragungen erhoben hat (z.B. erhielten in der Untersuchung von Scheuch Personen für ihre Schulbildung bei mittlerer Reife 9 Punkte und bei einem Hochschulabschluss 20 Punkte). Bei der Entwicklung des Instruments orientierte sich Scheuch ebenso wie Moore und Kleining an einigen amerikanischen Vorbildern, ohne diese ungeprüft zu übertragen. Scheuch verwendete in einer ersten Fassung einen Index mit neun Variablen, reduzierte sie aber später auf drei Merkmale, die als „die“ Merkmale schlechthin zur deskriptiven Bestimmung einer Schichtzugehörigkeit gelten: Schulbildung, Beruf und Einkommen (1961: 68).
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
53
Ausdrücklich betont auch Scheuch, dass das Sozialprestige „ein besonders guter Zugang zur Erklärung der sozialen Schichtung“ ist oder auch „ein Symptom für Prinzipien des hierarchischen Aufbaus der Gesellschaft“ (a.a.O.: 66). Seine Einteilung ähnelt, wenngleich methodisch auf einem etwas anderen Weg erhoben, den Ergebnissen von Moore und Kleining. Auch im Modell von Scheuch konzentrieren sich die meisten Menschen in der unteren Mittelschicht bzw. oberen Unterschicht. Abbildung 6:
Soziale Schichtung nach Scheuch
Schicht
Anteil der Eingeordneten* Oberschicht 2,5% Obere Mittelschicht 6,1% Mittlere Mittelschicht 14,6% Untere Mittelschicht 20,7% Obere Unterschicht 36,6% Untere Unterschicht 19,5% * 18% ließen sich aufgrund unvollständiger Angaben nicht einordnen. Quelle: Scheuch 1961: 103, Hradil 1999: 287 K.M. Bolte Wenn man sich die beiden Tabellen zur Verteilung der Schichten anschaut, kann man sich durchaus das Bild einer Zwiebel mit schmalen Bereichen oben und unten sowie einer breiten „unteren Mitte“ vorstellen. Bolte et al. ziehen diese Schlussfolgerung nach der Betrachtung auch weiterer Untersuchungen zum Thema (z.B. untersuchte Mayntz (1958) den Statusaufbau in Euskirchen12 mit Hilfe eines multiplen Index, legte jedoch keine Schichtgrenzen fest, vgl. Bolte et al. 1967: 294f.). Zudem hatte Bolte selbst eine Untersuchung zu Statusunterschieden in norddeutschen Wohngemeinden durchgeführt (Bolte 1963). Dort stellte er verschiedene Typen von Statusdifferenzierungen auf, die sich insbesondere danach unterschieden, ob Schichten, soziale „Ballungen“ oder eher Kontinua das Statusgefüge prägten. Der Begriff der Schichten war hier für Gruppierungen vorbehalten, die sich hinsichtlich ihres Ranges als eigenständige Gruppe empfanden (anderen gegenüber also als höher oder tiefer stehend), sich entsprechend verhielten und daher klar abgegrenzt werden konnten. Solche Abgrenzungen verlaufen bei sozialen „Ballungen“ fließend und sind bei einem 12
Zur Struktur Euskirchens im Zeitvergleich s.a. Friedrichs et al. 2002.
54
3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Kontinuum gar nicht bestimmbar (1963: 157; Typen auch in Bolte et al. 1967: 285-293). Dadurch, dass das Zwiebelmodell eine zusammenfassende Sichtweise aus den Resultaten mehrerer Untersuchungen ist, verschwimmt der Unterschied, ob es sich hier um einen Statusaufbau oder – wie es in späteren Auflagen des Buches unpräziser und nichts ausschließend heißt – einen „Prestigestatusaufbau“ (z.B. Bolte/Hradil 1988: 220) handelt. Prestige geht in die Betrachtung des Status jedenfalls ein. Statusgruppen bilden allein noch nicht „reale“ Schichten, sondern diese werden im von Bolte benutzten Wortsinn verwendet. Daraus ergibt sich, dass die „Zwiebel“ nicht in vertikal übereinander liegende Bereiche gegliedert ist, sondern es entstehen Überlappungen, die Abbildung 7 wiedergibt. Bolte et al. gehen davon aus, dass der Beruf in bestimmten Grenzen das Einkommen, den Lebensstil, den Umgang mit anderen etc. prägt. Es gibt aber keine eindeutige Verknüpfung des Berufsstatus mit anderen Statuslagen. Entsprechend gilt: „In unserer Gesellschaft gibt es vielfältige Statusdifferenzierungen, aber der Statusaufbau der Gesellschaft ist nicht in klar abgegrenzte Schichten unterteilt. Am stärksten sind Schichtungstendenzen oben und vor allem ganz unten im Statusaufbau. Zwischen diesen … gibt es einen weitgehend fließenden Übergang vom Höher zum Tiefer, in dem viele Gesellschaftsmitglieder nicht einmal einen präzise bestimmbaren gesellschaftlichen Status haben … Insgesamt ist die Mitte … eine Art Sammelbecken der differenziertesten Bevölkerungsgruppen, die nicht nur über- und untereinander, sondern auch nebeneinander erscheinen“ (1967: 313f.).
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status Abbildung 7:
55
Das Ungleichheitsgefüge Deutschlands in den 60er Jahren nach Bolte
Quelle: Bolte et al. 1967: 316 Diese Nicht-Bestimmbarkeit von Status deutet zum einen auf das Problem des Ansatzes hin, wie mit (zunehmenden) Statusinkonsistenzen umzugehen ist, wenn jemand also z.B. eine niedrige Bildung, aber ein mittleres Einkommen und ein hohes Ansehen als ehrenamtlicher Vereinsvorsitzender hat. Die Unschärfe des Bildes zeigt aber auch, dass sich bereits in den sechziger Jahren die Diskussion andeutete, die etwa ab dem Ende der siebziger Jahre intensiver geführt wurde und in der man eine (rein) vertikale Gliederung der Gesellschaft in Schichten als nicht mehr angemessen ablehnte.
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Hradil schreibt zum Stellenwert von Prestigemodellen, dass diese bis weit in die sechziger Jahre hinein so dominierten, dass „soziale Schichtung“ weitgehend mit Prestigedifferenzierung gleichgesetzt wurde (1987: 81). Auch in den siebziger Jahren gab es noch weitere Untersuchungen zum Prestige, die dabei jedoch teilweise nicht allein auf allgemeine Merkmale (wie z.B. den Schulabschluss), sondern auf konkretere Kriterien zurückgriffen. So fand Pappi in einer Gemeindeuntersuchung drei Schichten dadurch, dass er nach dem Beruf und dem der drei engsten Freunde fragte (Pappi 1973). Reuband (1975) untersuchte, wie eng Befragte mit bestimmten Berufsgruppen verkehren wollten. K.U. Mayer (1977) ordnete Prestigegruppen anhand des Heiratsverhaltens. Heiratsbarrieren zwischen Berufsgruppen wiesen auf Prestigeabstufungen der Berufe hin, im Gegensatz zu Pappi schließt Mayer von den Statusgruppierungen jedoch nicht auf klar abgegrenzte Schichten: „Sie [die Statusgruppen; N.B.] sind jedoch eher durch graduelle Distanzen und kleine Zwischengruppen als durch wenige hohe Schichtbarrieren voneinander getrennt.“ (1977: 224).
In den siebziger Jahren ging jedoch insgesamt die Verwendung von Prestigemodellen zurück. Die letzte umfassende Studie zu Berufsschichtungsskalen z.B. wurde 1979/80 durchgeführt (in dieser Skala stand der Arztberuf an erster Stelle vor dem des Richters und des Professors; lt. Hradil 1999: 283). Verschiedene Kritikpunkte an den Modellen und auch soziale Wandlungsprozesse sind dafür verantwortlich. Zentrale Kritikpunkte richten sich auf a. b.
die Unschärfe des Begriffs „Prestige“, den Erklärungswert des Prestigeaufbaus für gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen.
Ad a): Der Begriff „Prestige“ bleibt über die Alltagsbedeutung der Wertschätzung hinaus oft unklar, so dass nicht immer deutlich wird, was die Forscher messen. Es wurde bereits erwähnt, dass Prestige ein subjektives oder ein objektives Ungleichheitsmerkmal sein kann. Oft ist beides verknüpft, wenn Ansätze davon ausgehen, dass subjektive Bewertungen einen Reflex auf objektive soziale Ungleichheiten darstellen, wenn also etwa die Bewertung des Polizistenberufes auch etwas über die Qualifikation oder die Einflusschancen aussagt. O.D. Duncan zeigte beispielsweise, dass Prestige in hohem Maße mit der Einkommenslage und dem Schulabschluss einhergeht (lt. Wegener 1985: 210). Daraus schlossen Kritiker allerdings, dass man in dem Fall besser diese Merkmale selbst als ein Ersatzmerkmal messen sollte, sie sprechen dem Bewertungsprozess also keine
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
57
eigenständige Bedeutung zu (vgl. Herz 1983: 145). Etwas vage bleibt oft auch die Abgrenzung zum Status als eher „objektiver“ Dimension und insgesamt, wie die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge von Prestige, Statusmerkmalen, Lebenslagen und Lebensführung aussehen. Die Begriffsunschärfe kommt auch zum Ausdruck, wenn kritische Stimmen vorbringen, dass Prestigemodelle die eigenständige Bedeutung „objektiver“ Mermale jenseits ihrer Bewertung zu wenig berücksichtigen (unter anderem als Reaktion darauf, dass sich in den sechziger Jahren erste wirtschaftliche Rezessionen ankündigten und damit der Glaube an Chancengleichheit und das dazu „passende“, relativ konfliktfreie Bild des Prestigeaufbaus hinterfragt wurden). Als „objektive“ Kriterien wurden dann aber oft genau die gleichen Merkmale gemessen wie in den vorigen Modellen, also z.B. die Bildung oder das Einkommen. Einerseits ist Prestige vom persönlichen Ansehen getrennt. An anderen Stellen geht dieses Ansehen aber doch mit ein, wenn die relationale Bedeutung von Prestige, also sein Ausdruck in konkreten Interaktionen hervorgehoben wird. Orientiert man sich in Untersuchungen an solchen konkreteren Interaktionen (z.B. in Gemeindestudien), kann dies den Vorteil haben, eine „lebensnähere“ Beschreibung zu liefern, andererseits lassen sich entsprechende Ergebnisse teilweise schlecht auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Ad b): Gibt es eine Verbindung vom Prestigeaufbau (z.B. der Berufe) zu „realen“ Schichten mit spezifischen Verhaltensmustern und Einstellungen, vielleicht auch einem Wir-Gefühl? Die Abgrenzung von (dazu oft nur vertikalen) Unterteilungen empfinden Kritiker häufig als künstliche und willkürliche Unterscheidung, die mit realen Abgrenzungen nichts zu tun hat. Hier spielt auch das Unbehagen am methodischen Vorgehen eine Rolle: Wenn z.B. Berufe bewertet werden sollen, trifft der Forscher eine – möglicherweise verzerrende – Auswahl an Berufen, die er als bekannt und eindeutig bewertbar voraussetzt. Bei einer Indexbildung ist möglicherweise die Vergabe von Punkten und Gewichtungen zur Ermittlung einer Gesamtzahl recht beliebig. Ist es zudem vergleichbar, wenn etwa hohes Einkommen und niedrige Bildung die gleiche Gesamtzahl ergeben wie umgekehrt hohe Bildung und niedriges Einkommen? Es ist also bereits schwierig, die Prestigeabstufung selbst zu ermitteln. Es ist im nächsten Schritt noch problematischer, Einschnitte in dieser Skala festzulegen, die eigenständige Einheiten (Schichten) bilden. Entsprechend wurde oft die Kritik geäußert, dass für solche Entscheidungen ein theoretischer Ansatz notwendig sei.
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Diese Kritikpunkte gelten für Prestigemodelle bereits unter den sozialstrukturellen und gesellschaftlichen Bedingungen der sechziger Jahre. Der soziale Wandel führt zusätzlich dazu, dass sich Wertmaßstäbe stärker ausdifferenzieren, eine einheitliche Prestigeskala also kaum mehr gemessen werden kann. Weiterhin stellen Statusinkonsistenzen nicht mehr nur eine Ausnahme dar, sondern kommen häufiger vor. Eine bestimmte Bildung geht also z.B. nicht unbedingt mit einem bestimmten Einkommen oder Wohntyp einher. Damit ist das allgemeine Sozialprestige weniger eindeutig am Beruf ablesbar als zuvor. Auf diesen Punkt der Bedeutung des sozialen Wandels wird später im Zusammenhang mit der Kritik an den Klassen- und Schichtmodellen allgemein genauer zurückzukommen sein. Zunächst blieben in den siebziger Jahren jedoch Schichten ein vorherrschendes Modell zur Abbildung von Ungleichheitsstrukturen, außerdem gab es eine Renaissance von Klassenmodellen. Lesehinweis: Bolte, Karl Martin; Stefan Hradil (1988): Soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Leske + Budrich, 6. Auflage, Kap. 6.4: Ungleichheit des Prestiges, S. 190-224 3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren In den siebziger Jahren gab es als eine Nebenströmung des „mainstreams“ der Schichtungsforschung ein Aufleben neomarxistischer Ansätze, die konträr zu Schichtansätzen die Sozialstruktur durch Klassenmodelle besser erfasst und erklärt sahen. Diese Strömung ergab sich aus der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ab den späten sechziger Jahren (eine Rolle als Träger von Kritik spielte z.B. der studentische Protest 1968, unter anderem gegen die Notstandsgesetze und für eine Hochschulreform; zudem gab es erstmals seit Beginn des „Wirtschaftswunders“ wieder sinkende ökonomische Wachstumsraten, 1966/67 auch eine Rezession, vgl. Görtemaker 2002). Dieser allgemeinen Kritik entsprach eine Kritik an Schichtmodellen, die die nach wie vor bestehenden großen sozialen Gegensätze zwischen den Klassen vernachlässigen würden. Im Unterschied zu bisherigen theoretischen Positionierungen ordnen sich Vertreter dieser Ansätze meist eindeutig einer (linken) politischen Richtung zu. Leisewitz etwa beginnt sein Buch über „Klassen in der Bundesrepublik Deutschland heute“ (1977) damit, dass die Klassengesellschaft als zutreffendes
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren
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Bild von Gesellschaft nicht nur von konservativen Publizisten, sondern auch von führenden Sozialdemokraten abgelehnt werde (1977: 7), etwas später stellt er die marxistische Klassentheorie einem „bürgerlichen Gesellschaftsbild“ gegenüber (a.a.O.: 17). In dieser Gegenüberstellung wird deutlich, worin Leisewitz die Unterschiede und damit – aus seiner Sicht – die Vorteile der Klassenanalyse auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht:
Nur die Klassentheorie kann die Ursachen von Über- und Unterordnungen erklären, und zwar aus den grundlegenden Verhältnissen in der bürgerlichen Gesellschaft: aus der Stellung in der Wirtschaft und dem Eigentum an Produktionsmitteln. Es gibt nicht nur unterschiedliche, sondern auch gegensätzliche Klasseninteressen, was notwendigerweise zu Konflikten führt. Klassenmodelle liefern nicht allein eine beschreibende Momentaufnahme, sondern sehen dynamisch den Klassenkampf als zentrale Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Dazu ist es allerdings notwendig, politische Unterstützung zu leisten, so müsse man die Tatsache, dass die Bundesrepublik eine Klassengesellschaft sei, in der die Arbeiter und Angestellten ihre Interessen nur gegen die Unternehmer und ihren Staat durchsetzen könnten, unter den Arbeitern und Angestellten erst verbreiten (a.a.O.: 22).
Zwei prominente Beispiele für neomarxistische Untersuchungen aus dieser Zeit sind die Analysen des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF 1974, Leisewitz 1977) und des Projekts Klassenanalyse (PKA; 1973, 1974; Bischoff et al. 1982). Ihre Ansätze und Ergebnisse sollen hier kurz skizziert werden. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie neben der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse auch von der Existenz von Mittelklassen ausgehen. Die Untersuchungen des IMSF und des PKA Das IMSF zählt, wie bereits Marx, Produktionsmittelbesitzer oder z.B. Manager zur Bourgeoisie. Es unterteilt die mittleren Klassen in selbständige Mittelschichten (ihre Produktionsmittel sind so gering, dass sie auch ihre eigene Arbeitskraft einsetzen müssen und keine Kapitalakkumulation in großem Stil betreiben können), die lohnabhängigen Mittelschichten (Leitungs- und Aufsichtspersonal, der Verkauf ihrer Arbeitskraft hat weniger entfalteten Warencharakter als bei den Arbeitern) sowie die selbständige und lohnabhängige Intelligenz (z.B. Ärzte, Künstler, Spezialisten mit Hochschulabschluss). Leisewitz spricht ausdrücklich von Mittelschichten, weil es sich um Gruppierungen han-
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
dele, die zwar in sozialen Beziehungen eine Rolle spielen können, beispielsweise als Bündnispartner für die beiden Klassen, die jedoch kaum selbst Initiative ergreifen oder eine eigenständige politische Position einnehmen, damit keinen Klassencharakter haben (Leisewitz 1977: 150). Zur Arbeiterklasse gehören schließlich Lohnabhängige, bei denen der Warencharakter der Arbeitskraft weitgehend entfaltet ist, die also nicht z.B. Spezialisten oder in einer leitenden Funktion sind, oder Arbeitslose. Zur Verteilung der Erwerbsbevölkerung auf die Klassen ergeben sich folgende Zahlen: 1950 betrug das Verhältnis von Arbeiterklasse, Mittelschichten und Bourgeoisie 65% zu 32% zu 3%, 1974 dagegen 72% zu 22% zu 2%13 (bei der Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung ergeben sich nur geringe Abweichungen, Leisewitz 1977: 180-186, 193-196). Die ohnehin große Arbeiterklasse hat sich hiernach – im Wesentlichen auf Kosten der Mittelschichten – also nochmals erweitert. Erbslöh et al., die die Prinzipien des IMSF auf Zahlen von 1985 anwenden, kommen für diesen Zeitpunkt für die Erwerbsbevölkerung auf 73,5% zu 26,7% zu 0,8%, konstatieren also eine gleich bleibend sehr große Arbeiterklasse (Erbslöh et al. 1990: 70-72). Das Projekt Klassenanalyse (PKA) geht in erster Linie von „ökonomischen Formbestimmungen“ aus und definiert die Bourgeoisie ähnlich wie das IMSF als Produktionsmittelbesitzer (mit einem Mindestumfang an Produktionsmitteln, konkret bedeutet das, mindestens vier Beschäftigte zu haben). Die Kapitalisten setzen sich zusammen aus aktiven, fungierenden Kapitalisten und Kapitaleigentümern. In der Mitte gibt es Kleinunternehmer mit nur geringem Profit (ähnlich der selbständigen Mittelschicht beim IMSF) und die lohnabhängige Mittelklasse, zu der nach dieser Klassifizierung Arbeitnehmer gehören, deren Arbeitgeber nicht gewinnorientiert tätig ist (z.B. der Staat oder Wohlfahrtsverbände). Die Lohnabhängigen dieser Klasse verkaufen zwar auch ihre Arbeitskraft, jedoch nicht an einen Kapitalisten im obigen Sinne. Zur Arbeiterklasse gehören neben den Arbeitslosen Arbeiter mit gewinnorientierten Arbeitgebern, die sich aufteilen in kommerzielle Lohnarbeiter (die mit bereits produzierten Waren umgehen, also im „Zirkulationsprozess des Kapitals arbeiten“, PKA 1973: 263) und produktive Arbeiter, die direkt im Produktionsprozess tätig sind. Innerhalb der Arbeiter gibt es nochmals eine hierarchische Schichtung nach ihrer Qualifikation (von einfachen über technisch-wissenschaftliche Tätigkeiten bis zu Leitungsfunktionen). Diese Einteilung rechnet Personen mit höherer Qualifikation also nicht per se zur
13
Dass sich die Zahlen für 1974 nicht zu 100% addieren, ist ein Fehler, der bereits in den Angaben bei Leisewitz besteht, die Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung summiert sich dagegen auf 100%, hier ist das prozentuale Verhältnis von Arbeiter-, Mittelklasse und Kapitalisten 73:24:3 (Leisewitz 1977: 180-186, 193-196).
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren
61
Mittelklasse, was bei der Einteilung des IMSF durchaus ein bedeutsamer Faktor war. Die Zahlenverteilung zeigt hier für 1978 ebenfalls – wie beim IMSF – eine große Arbeiterklasse von fast zwei Dritteln der Erwerbsbevölkerung.14 31% gehören zur Mittelklasse (20% lohnabhängige Mittelklasse, 11% Kleinbourgeoisie) und 3% zur Kapitalistenklasse (Bischoff et al. 1982: 72). Abbildung 8:
Die Klassenstruktur der Erwerbsbevölkerung 1978 lt. Modell des PKA Arbeiterklasse (kommerzielle und produktive Arbeiter, Arbeitslose)
3%
31%
Mittelklassen (kleine Selbständige oder Arbeitgeber ohne Gew innorientierung) 66%
Bourgeoisie
Quelle: Bischoff et al. 1982: 72 Das PKA schätzt die Arbeiterklasse der siebziger Jahre etwas kleiner ein als das IMSF, und zwar zugunsten der Mittelklasse, während die Bourgoisie bei beiden Ansätzen etwa 2 bis 3% ausmacht. Der hohe Anteil der Arbeiterklasse setzt sich fort, wenn man die Fortschreibung der Kategorien des PKA durch Erbslöh et al. für 1985 betrachtet, allerdings expandiert auch die lohnabhängige Mittelklasse (Erbslöh et al. 1990: 78f.). Alle neomarxistischen Klassenmodelle gehen also (wie Marx über ein Jahrhundert zuvor) von einer großen Arbeiterklasse und einer nur sehr kleinen Bour14 Einen noch höheren Anteil der Arbeiterklasse berechnen Tjaden-Steinhauer/Tjaden mit über 83% für 1970. Zur Arbeiterklasse gehören hier alle lohnabhängigen Arbeiter, Angestellten und Beamten außer einer Spitzengruppe, die Kapitalisten machen knapp 2% der Erwerbsbevölkerung aus, für Sondergruppen (z.B. kleine Selbständige) verbleiben etwa 15% (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 1973: 198-200).
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geoisie aus. Graphisch vorgestellt sind die Modelle damit weit entfernt von dem Zwiebelmodell der Schichtungsforschung, eher handelt es sich um eine Pyramide oder einen sehr bauchigen Regentropfen; dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass die Modelle von unvereinbaren Interessengegensätzen der Klassen ausgehen, eine auch nur graphische Nähe damit dem Konzept möglicherweise nicht angemessen ist. Wie sind diese Ansätze zu bewerten? Die Bemerkung, dass es sich hier um eine Nebenströmung handelt, deutet Kritik von anderen Seiten bereits an. Spätestens, wenn man Mittelklassen im Modell hinzufügt und die Klassen in sich auch noch weiter differenziert, gibt es ein Problem, das auch Schichtkonzepte haben: Wo sind Grenzlinien zu ziehen? Die Klassenansätze wollen einerseits die theoretisch getroffene Vorannahme aufrechterhalten, dass die Produktionsverhältnisse der zentrale Faktor für die Klassenbildung sind, andererseits wollen sie durch Differenzierungen die Lebensnähe ihres Modells demonstrieren. Die Beispiele zeigen, dass die Lösungen dafür, wer in welche Klasse gehört, durchaus recht unterschiedlich sein können. Lohnabhängige mit höheren Qualifikationen können etwa laut PKA durchaus noch zur Arbeiterklasse zählen, während das IMSF sie zur Mittelschicht zählen würde. Im Modell des PKA befinden sich durch die sehr weite Definition der Arbeiterklasse ungelernte Arbeiter und hochqualifizierte Angestellte in der Privatwirtschaft in der gleichen Klasse, während ein im öffentlichen Dienst Angestellter mit der gleichen Qualifikation zur Mittelklasse gehört. Ab wann die Arbeitskraft einen „weitgehend entfalteten“ Warencharakter hat – dies ist eine Kategorie, nach der das IMSF einteilt –, ist kaum klar allgemein festzulegen. Die skeptische Frage, die sich ergibt, lautet, ob bei diesen – unterschiedlichen – Einteilungen der postulierte Interessengegensatz zwischen den Klassen deutlich zum Ausdruck kommt. Diese Frage untersuchen auch Erbslöh et al. anhand ihrer Fortschreibungen der Modelle. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Zuordnung zu einem Bewusstseinsindex (zwischen den Polen „pro Arbeit“ und „pro Kapital“) nicht vollständig stimmig ist (z.B. waren beim Modell des PKA die Mittelschichten weniger „kapitalistisch“ eingestellt als die Gesamtgruppe der Arbeiter, beim Modell des IMSF war die Systematik innerhalb der Mittelschichten nicht ganz stimmig; Erbslöh et al. 1990: 73, 81f.). Trotz der theoretischen Anbindung (deren Fehlen der Schichtungsforschung oft als Mangel vorgehalten wurde) gelingt es den neomarxistischen Klassenmodellen also anscheinend nicht, lebensnähere Modelle als die Schichtungsforschung zu entwickeln. Hradil betrachtet dies sogar als „das grundsätzliche Dilemma marxistischer Ungleichheitstheoretiker, die zwischen der Marxschen Theorie einerseits und Lebensnähe andererseits zu wählen haben“ (1999: 356).
3.4 Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren
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Zwar gibt es auch aus späterer Sicht Stimmen, die die Vorteile dieser Analysen hervorheben. So schreibt M. Koch 1994: „Der Ansatz des Projekts Klassenanalyse (PKA) gilt als der bislang gelungenste Versuch, ausgehend von den Kategorien des Verwertungsprozesses, den ökonomischen Formbestimmungen, zu einer auch empirisch fundierten Differenzierung der Klassenstruktur vorzudringen“ (1994: 42).
Doch sind solche Bewertungen die Ausnahme, eher betonen Autoren, wie unergiebig die Auseinandersetzungen zwischen Klassen- und Schichttheoretikern schon in den siebziger Jahren waren (Hradil 1999: 357) oder dass die neomarxistischen Modelle zumindest heute kaum noch vertreten würden, weil sie wenig überzeugend seien (z.B. Geißler 1992: 66). Dies heißt allerdings nicht, dass der Klassenbegriff in der heutigen Ungleichheitsforschung vollständig obsolet geworden ist (vgl. Kap. 4.2), sondern nur, dass er in dieser vergleichsweise engen Auslegung Marxscher Theorie weniger verwendet wird. Geißler macht zudem darauf aufmerksam, dass die Kontroverse zwischen Klassen und Schichten in den siebziger Jahren immerhin dazu geführt habe, dass auch Schichtungstheoretiker ökonomische Faktoren und die insgesamt weiterhin bestehenden markanten Unterschiede in den Lebensbedingungen verstärkt berücksichtigt hätten (1992: 66). Es ließe sich hinzufügen, dass die Klassenforscher die genannten Vorteile, die sie für sich beanspruchten (die theoretische Ausrichtung, keine Vernachlässigung der Konfliktperspektive und längerfristiger Verläufe), zwar nicht in ein alle überzeugendes Modell umsetzen konnten, diese Aspekte aber in der ungleichheitstheoretischen Debatte zumindest in der Diskussion blieben. In den siebziger Jahren gab es keine Lösung in der Kontroverse um Klassen und Schichten. Die Suche nach einer Lösung innerhalb dieser theoretischen Richtungen wurde dann ab den achtziger Jahren davon abgelöst, beide zu kritisieren und nach anderen Modellen zu suchen, die das Ungleichheitsgefüge in einer mittlerweile erheblich veränderten Gesellschaft angemessen abbilden konnten. Lesehinweis: Erbslöh, Barbara et al. (1990): Ende der Klassengesellschaft? Eine empirische Studie zu Sozialstruktur und Bewusstsein in der Bundesrepublik, Regensburg: Transfer, S. 65-82
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- und Schichtmodellen Die Diskussion um Ungleichheitsmodelle in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts umfasst verschiedene Ansätze. Schelsky lehnt in den fünfziger Jahren eine klare Schichtung zugunsten einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ganz ab. Dahrendorf geht davon aus, dass die Schichtstruktur von den Normen abhängt, die die Herrschenden mit Hilfe von Sanktionen durchsetzen. Dabei gibt es nicht nur eine Klasse von Herrschenden, sondern vielfältige Herrschaftsverbände. In seinem „Haus-Modell“ konkretisiert er die soziale Schichtung in Deutschland Mitte der sechziger Jahre. Prestigemodelle betonen, dass Schichtstrukturen durch das soziale Ansehen, durch die Wertschätzung von Positionen erkennbar seien. Insbesondere die Wertschätzung des Berufes, Bildung und Einkommen spielen dabei eine zentrale Rolle. In den siebziger Jahren stellen neomarxistische Ansätze eine Nebenströmung neben der Schichtungsforschung dar, die wiederum stärker auf Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse aufmerksam machen will. Von den einzelnen Varianten und Entwicklungstendenzen abstrahierend, sind zusammenfassend folgende Merkmale für Klassenmodelle kennzeichnend:
Ökonomische Aspekte stehen im Vordergrund. Insbesondere die Stellung im Produktionsprozess und der Besitz oder der Nicht-Besitz von Produktionsmitteln sind für die Klassenlage der Individuen verantwortlich, so dass sich als Hauptklassen das Proletariat und die Bourgeoisie ergeben. Zwischenklassen können aber zusätzlich Berücksichtigung finden (z.B. bei Webers Verständnis von „Klasse“ oder bei den neomarxistischen Modellen). Die Zugehörigkeit zu einer Klasse hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, auf innere Haltungen der Individuen und ihr Handeln. Spezifische Klasseninteressen können unter Umständen zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein führen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Relationen zwischen den Klassen, deren Interessen die Forscher als gegensätzlich ansehen: Die Modelle betonen den Klassenkonflikt, allerdings nicht überall in gleich scharfer Form (z.B. hebt Dahrendorf hervor, dass der Klassenkonflikt durch eine Institutionalisierung an Intensität verloren habe). Teilweise ergreifen die Autoren dabei die Partei der unterdrückten Arbeiterklasse. Die Betrachtung dieser Relationen bringt es mit sich, dass das theoretische Interesse nicht nur auf eine Momentaufnahme gerichtet ist, sondern auf Prozesse. Damit sind weniger individuelle Mobilitätsprozesse gemeint (im Klassenmodell hat z.B. das Proletariat wenig Aufstiegschancen), sondern
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- und Schichtmodellen
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längerfristig der Klassenkonflikt als der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Klassenmodelle wollen in erster Linie anhand des theoretischen Modells die Ursachen der sozialen Ungleichheit und den sozialen Wandel analysieren. Weniger geht es um eine möglichst genaue Beschreibung der Lebensbedingungen.
Demgegenüber lassen sich Schichtmodelle im engeren Sinne auf entsprechend allgemeiner Ebene quasi spiegelbildlich so kennzeichnen:
Die Beschreibung ungleicher Lebensbedingungen, damit ungleicher Lebenschancen, steht im Vordergrund. Auch Vertreter von Schichtmodellen gehen davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer – in sich relativ homogenen – Schicht Einfluss auf Einstellungen und Verhalten hat (z.B. auf Heiratskreise); eine Schicht stellt jedoch nicht automatisch eine Interessengruppe dar. Die Schichten müssen sich nicht antagonistisch gegenüber stehen. Die Kriterien zur Zuordnung in eine bestimmte Schicht sind häufig, theoretisch aber nicht notwendigerweise, sozioökonomisch orientiert, gegebenenfalls mit bestimmten soziokulturellen Ergänzungen: Häufig zentral sind die äußeren Merkmale Beruf (bzw. Berufsprestige), Bildung und Einkommen (bei eindimensionalen Modellen ist meist die Stellung im Beruf das ausschlaggebende Kriterium; z.B. Hartfiel 1978: 99). Die Bedeutung der einzelnen Kriterien für die Schichtzugehörigkeit kann je nach Gesellschaft und betrachtetem Zeitraum variieren. Nach den ausgewählten Kriterien ergibt sich eine vorwiegend vertikale Abstufung von mindestens drei Schichten. Es handelt sich also um einen hierarchischen Aufbau mit Untergliederungen, nicht etwa um die Vorstellung eines Kontinuums. Wie die Ansätze die genaue Abgrenzung von Schichten vornehmen, ist nicht theoretisch vorbestimmt, und an den Übergängen können die an sich klar voneinander getrennten Schichten unscharf sein. Eine Prozessbetrachtung meint in der Schichtungsforschung eher die Auswirkungen individueller Mobilität, die als durchaus möglich angesehen wird (indem z.B. der Einzelne mehr leistet und so beruflich aufsteigt). Aufgrund der Mobilitätschancen geht es nicht in erster Linie darum, Ungleichheiten möglichst zu beseitigen, sondern die Ansätze sehen soziale Ungleichheit mindestens teilweise als notwendig für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung an (so der funktionalistische Schichtungsansatz).
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Im Vergleich dieser Charakteristika könnte ein Klassentheoretiker gegen Schichtungsansätze – vielleicht etwas überspitzt formuliert – argumentieren, diese seien zu statisch und zu wenig theoretisch angelegt. Sie seien lediglich beschreibend mit willkürlichen Abgrenzungen, ohne die Ursachen der Ungleichheit und den sozialen Wandel angemessen zu berücksichtigen. Außerdem beachteten Schichtmodelle die sich aus den bedeutsamen sozialen Ungleichheiten ergebenden Konfliktpotentiale und Herrschaftsverhältnisse zu wenig, seien mehr auf Harmonie und Integration hin orientiert. Umgekehrt könnte ein Schichtungsforscher Klassenmodelle ablehnen mit dem Hinweis, diese seien zu undifferenziert, weil sie mit dem Hauptkriterium des Eigentums an Produktionsmitteln zu wenige Merkmale berücksichtigten. Auch Mobilitätsprozesse würden vernachlässigt. Könnte die Analyse gerade noch für gesellschaftliche Verhältnisse im 19. Jahrhundert stimmig sein, so sei sie doch für die Gesellschaft im 20. Jahrhundert schlicht realitätsfern, sowohl hinsichtlich der Konstruktion und Abgrenzung der Klassen als auch hinsichtlich der Annahme eines unvereinbaren Interessengegensatzes. Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten von Klassen- und Schichtmodellen. Dazu gehört, dass beide Ansätze die Gesellschaft vertikal in ungleichheitsrelevante Gruppen unterteilen, meist anhand von ökonomisch ausgerichteten Dimensionen. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht führt außerdem in der Regel zu typischen Handlungsorientierungen. 3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- und Schichtmodellen Die Kritik, die Ungleichheitsforscher ab den achtziger Jahren an den Klassenund Schichtmodellen äußerten, geht über die theoretischen Probleme hinaus, für die diese Modelle bis in die siebziger Jahre keine Lösung gefunden hatten. Einschneidende Prozesse sozialen Wandels (insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren) ließen die traditionellen Herangehensweisen zur Erfassung und Erklärung sozialer Ungleichheit noch weniger angemessen erscheinen. Ein wichtiger Aspekt des Wandels in Deutschland ist die soziale Differenzierung, die sich mit einem erhöhten Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung, mit der Absicherung durch den Wohlfahrtsstaat und der Bildungsexpansion immer weiter ausbildete. Einen (allein allerdings noch nicht hinreichenden) Hinweis auf die Ausdifferenzierung stellt beispielsweise die veränderte subjektive Zuordnung dar: Die wenigsten identifizieren sich heute noch mit einer sozialen Großgruppe wie z.B. der „Arbeiterklasse“. Und auch die Vielfalt der Familien- und Haushaltsformen weist auf die Differenzierungsprozesse hin, die Beck zusammenfassend als „Individualisierungsschub“ kennzeichnet (vgl. Kap. 8).
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- und Schichtmodellen
67
Verschiedene Autoren kritisieren die traditionelle Ungleichheitsforschung als unzureichend, weil sie eben diese Differenzierung und Pluralisierung von Lebensweisen nicht erfasse (als Beispiele Bolte 1990, Hradil 1999: 358f.). Pluralisierung schließt – so z.B. Hradil (1992) – ein, dass ähnliche objektive Lebensbedingungen (z.B. der gleiche Beruf) häufig mit sehr verschiedenen Lebensstilen und auch unterschiedlichen subjektiven Zuordnungen zu bestimmten Milieus (zu diesen Begriffen vgl. Kap 5) verbunden sind, wobei die Vielfalt von Gruppierungen mit je typischen Lebensweisen und Werthaltungen erheblich zugenommen hat. So könnte ein dreißigjähriger Schlossergeselle einen Teil seiner Freizeit im Schrebergarten verbringen, während sein gleichaltriger Kollege gerne Punkkonzerte besucht. Eine einfache Zuordnung von einigen wenigen „objektiven“ Merkmalen – wie z.B. dem formalen Bildungsabschluss – zu einer bestimmten Schicht oder Gruppierung oder zu subjektiven Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen trifft hiernach den Kern der Sozialstruktur heute nicht mehr. Durch die genannten sozialen Prozesse ergeben sich zudem „neue“ Ungleichheiten bzw. eine neue Aufmerksamkeit für bestimmte Aspekte sozialer Ungleichheit in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion. Viele Aspekte lassen sich nicht (mehr) auf die bislang üblichen Dimensionen wie Bildung oder den Beruf zurückführen. Dazu zählen z.B. Freizeit, soziale Sicherheit (z.B. Arbeitsplatzsicherheit) oder Wohnen. Allgemeiner gesagt treten die Lebensverhältnisse als Dimensionen neben Ressourcen (wie z.B. das Erwerbseinkommen). So kann man die Perspektive beispielsweise auch auf Nichterwerbstätige oder auf die Ungleichverteilung (wohlfahrts-)staatlicher Leistungen und Einrichtungen erweitern. Ein häufiges Stichwort im Zusammenhang mit der Erweiterung von Ungleichheitsdimensionen sind „horizontale“ Ungleichheiten. Hierbei handelt es sich um Merkmale, die für sich genommen keine Rangfolge implizieren, z.B. die Ausprägungen von Nationalität, Geschlecht, Region oder Kohorte (im Gegensatz zu vertikalen Merkmalen wie z.B. mehr oder weniger Einkommen, höhere oder niedrigere Bildung etc.). Diese Ungleichheiten sind nicht neu, die Merkmale erhalten aber in neueren Modellen sozialer Ungleichheit eine eigenständige Bedeutung. Auch sie lassen sich nicht umstandslos auf wenige andere Merkmale (z.B. die Bildung) zurückführen. Die Nationalität oder das Geschlecht beispielsweise könnten die beruflichen Aufstiegschancen auch bei sonst gleicher Qualifikation positiv oder negativ beeinflussen. Mit horizontalen Ungleichheiten ist auf der Ebene des Ungleichheitsgefüges aber damit zusammenhängend auch gemeint, dass sich mehrere Gruppen auf der gleichen vertikalen Stufe ausdifferenzieren können (z.B. bei Milieumodellen, die auf einer horizontalen Achse z.B. nach Altersgruppen oder Werten differenziert sind, vgl. Kap. 5.2). Mit der Berücksichtigung zahlreicher Ungleichheitsmerkmale ist die Annahme verbunden, dass Statusinkonsistenzen häufiger werden, die traditionelle
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Modelle kaum in ihr Konzept integrieren können. Ging man früher eher davon aus, dass der Status einer Person in den verschiedenen Lebensbereichen gleich oder ähnlich sei (so dass z.B. eine Person mit einer bestimmten Bildung auch ein bestimmtes Einkommen hat, sich in einer entsprechenden Wohnsituation befindet etc.), so sind heute häufiger Inkonsistenzen festzustellen, nicht allein aufgrund der Existenz neuer Dimensionen, sondern auch aufgrund ihrer vielfältigen Kombinationen (vgl. dazu die Konsistenzberechnung bei Schwenk 1999: 24). In besonderem Ausmaß sind Personen in mittleren Statuszonen von Statusinkosistenzen betroffen, z.B. ein mittlerer Beamter mit einer hohen sozialen Sicherheit, aber relativ geringem Einkommen (s.a. Hradil 1987: Kap. 1; ders. 1992: 160). Die Kritik lautet also: Herkömmliche Modelle konzentrieren sich zu stark auf wenige, meist ökonomische Ursachen und Dimensionen sozialer Ungleichheit (zentral z.B. auf den Beruf) und berücksichtigen damit vorwiegend vertikale Abstufungen von Gruppen Erwerbstätiger (die Einordnung anderer Personen nehmen sie oft nur abgeleitet vor, über den „Haushaltsvorstand“ oder einen früheren Beruf). Von zusätzlichen Merkmalen nehmen diese Modelle – fälschlicherweise – an, dass sie typischerweise mit den Klassen oder Schichten einhergehen. Zu solchen Merkmalen zählen weitere Lebensbedingungen wie Umweltbedingungen oder die ethnische Zugehörigkeit, aber auch Denk- und Handlungsmuster. Zudem betrachten die Analysen meist nur einen Nationalstaat ohne Vergleiche mit anderen Ländern. Weitere Kritikpunkte an Klassen- und Schichtmodellen, die mit der dargestellten Vernachlässigung von Differenzierung und ihren Konsequenzen zusammenhängen, lauten: Die Modelle sind zu abstrakt. Als künstliche Konstruktion mit künstlichen Abgrenzungen besitzen sie keine Entsprechung in der Erfahrungswelt oder im Bewusstsein der Individuen. Diese ordnen sich und andere im Alltag nicht nach den Schemata dieser Modelle ein. Mit Bolte ließe sich ergänzen, dass das Fehlen eines dominanten und sichtbaren Kriteriums sozialer Ungleichheit (z.B. eindeutige Statussymbole) eine Einordnung in die Großgruppe einer Schicht zusätzlich erschwert (Bolte 1990: 40f.). Die Modelle (insbesondere der Schichtbegriff) sind zudem zu statisch. Den Wandel der Sozialstruktur und Bewegungen der Individuen innerhalb der Sozialstruktur erfassen sie nur unzureichend. Aufgrund dieser Argumente fehlt den herkömmlichen Konzepten nach Meinung der Kritiker somit der notwendige theoretische Erklärungswert (vgl. auch Geißler 1994: 12-17). Diese Mängel führten unter anderem in der wissenschaftlichen Diskussion dazu, „Schichtung“ oft durch „Ungleichheit“ als neutraleren Oberbegriff für den zentralen Forschungsgegenstand zu ersetzen.
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- und Schichtmodellen
69
Als Zusammenfassung soll zur Beurteilung der bisherigen Modelle folgendes Zitat dienen: „Vielleicht stellt die mit der Berufshierarchie verknüpfte Schichtungsstruktur nach wie vor den ‚harten Kern’ des Gefüges sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften dar. Insgesamt kann es aber kaum mehr als Schichtungsgefüge beschrieben werden. Dazu spielen außerökonomische Ursachen, außerberufliche Determinanten, ‚neue’ Dimensionen, komplexe Soziallagen und nichtdeterminierte Milieu- und Lebensstilbindungen eine zu wichtige Rolle“ (Hradil 1992: 162).
Diese von fast allen Ungleichheitsforschern in dieser Zeit geäußerte Kritik führte dazu, nach der Aufkündigung des „Minimalkonsenses strukturierter sozialer Ungleichheit“ (H.-P. Müller 1992: 11) nach modifizierten oder neuen Modellen zur Darstellung und Erklärung sozialer Ungleichheitsphänomene zu suchen. Die verschiedenen Lösungen sollen im folgenden Teil vorgestellt werden.
3.6 Kritik an den „alten“ Klassen- und Schichtmodellen
Teil II: Neuere Ansätze zur sozialen Ungleichheit
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4.1 Neuere Schichtansätze
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
4.1 Neuere Schichtansätze Als Vertreter dieser Position ist insbesondere Rainer Geißler zu nennen. Er bestreitet keineswegs gesellschaftliche Veränderungen, die die Modifizierung und Erweiterung bisheriger Schichtmodelle notwendig machen. Er ist aber andererseits der Ansicht, dass viele neuere Ansätze zur Erforschung sozialer Ungleichheit (die in den folgenden Kapiteln näher dargestellt werden) über das Ziel hinausgeschossen seien und nun die durchaus fortbestehende und für die Lebenschancen relevante soziale Schichtung vernachlässigen würden, somit auch die sozialkritische Haltung einer solchen Theorieperspektive verloren gehe. Sein Haupteinwand gegen Modelle, die er als Mainstream der Sozialstrukturanalyse seit den achtziger Jahren ansieht, lautet zusammengefasst: „Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz, dass vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und wegdynamisiert werden.“ (Geißler 1996: 323).
Er selbst vertritt demgegenüber die Position, dass „nicht die Auflösung der Klassen und Schichten ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses [ist], sondern die Herausbildung einer dynamischeren und pluraleren Schichtstruktur“ (a.a.O.: 332). Schicht versteht er im Sinne Geigers als Oberbegriff, der konkreter „Gruppierungen mit ähnlicher Soziallage und damit verknüpften typischen Subkulturen und Lebenschancen“ meint (Geißler 2002: 11715). In fünf Thesen nennt er weitere Kennzeichen einer modernen Klassen- und Schichtstruktur (1996: 332-335): 1.
Vertikale Strukturen sind nur eine Dimension in einem multidimensionalen Gefüge, in dem auch z.B. Geschlecht oder Ethnie eine Rolle spielen.
15 Die sechste Auflage des Buches von 2011 weist hinsichtlich des Schichtmodells keine wesentlichen Änderungen auf.
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
2.
Die vertikale Dimension ist in diesem Gefüge weiterhin dominant. Die Bildung und der Beruf beeinflussen in hohem Maße die Lebenschancen – definiert als Chancen auf die Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im allgemeinen als erstrebenswert angesehen werden (Geißler 1994: 4) (während z.B. die Lebensstilforschung das Alter als weiteren wichtigen Einflussfaktor hervorhebt, vgl. Kap. 5.1). Beispielsweise gibt es immer noch große schichtspezifische Unterschiede im schulischen Bildungsbereich, die die Reformen in den sechziger Jahren nicht beseitigt haben (weitere Beispiele zum Einfluss sozialer Schichtung auf verschiedene Lebensbereiche in Geißler (Hg.) 1994, 2002). Schichten sind nicht durch klare Grenzen getrennt. Mit bestimmten Bildungs-Berufs-Kombinationen sind typisch, aber nicht notwendigerweise, Ressourcen, Haltungen und Lebenschancen verknüpft. Die moderne Schichtstruktur ist eher latent und einer Alltagsbeobachtung oft entzogen. Jenseits dieser „lebensweltlichen Oberfläche“ (Geißler 1996: 333) oder von Moden in der sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion bestehen sie in der „Tiefenstruktur“ einer Gesellschaft jedoch weiter fort. Ein Kern von stark schichtspezifisch geprägten Segmenten der Sozialstruktur ist – wie in einem Modell konzentrischer Kreise – umgeben von Zonen mittlerer oder nur sehr schwach schichtspezifischer Segmente. Damit beeinflusst die Schichtzugehörigkeit bestimmte Handlungsweisen stärker als andere: Etwa ist die Teilnahme an Bundestagswahlen relativ schichtneutral, während aktive Parteiarbeit in hohem Maße durch die Schicht geprägt ist. Solche Modifizierungen stellen den schichtspezifischen Kern jedoch nicht in Frage.
3. 4.
5.
Gegenüber einem Klassenmodell sieht Geißler die Vorteile eines Schichtgefüges darin, dass Schichten (im engeren Sinne) weniger auf die Stellung des Menschen im Wirtschaftsprozess fixiert seien (1994: 23). Geißler weist darauf hin, dass bereits Theodor Geiger viele Kennzeichen einer modernen Sozialstruktur erkannte (vgl. Kap. 2.3), z.B. die multidimensionale Sichtweise mit einer Offenheit für neue Formen sozialer Ungleichheit oder die Erkenntnis, dass sich Schichten überlappen können und dass sie Mentalitäten typischerweise, aber nicht deterministisch prägen. Die Hauptströmungen der neueren Sozialstrukturanalyse hätten Geigers Erkenntnisse danach zu Unrecht vernachlässigt, sie hätten Einseitigkeiten durch eine Berücksichtigung Geigers vermeiden können (vgl. auch Geißler 1985: 404-406). Schroth stellt ebenfalls Geigers Aktualität heraus und nimmt eine empirische Untersuchung von Geigers Schichtmodell mit Daten von 1993 und 1996 vor (Schroth 1999: Kap. 5). Es
4.1 Neuere Schichtansätze
75
zeigten sich unter anderem deutliche Mentalitätsunterschiede in einer unteren und in einer gehobenen Soziallage, weniger deutliche jedoch in den Mittellagen (a.a.O.: 103). Geißler beruft sich bei der Erarbeitung eines konkreten Modells der sozialen Schichtung neben Geiger auf Dahrendorf (der seinerseits auf Geiger zurückgreift und dessen Konzept ebenfalls den Begriff der Lebenschancen beinhaltet) und möchte dessen Haus-Modell (vgl. Kap. 3.2) modernisieren. Eine wichtige Rolle bei der Schichteinteilung spielt der Beruf, der laut Geißler nach wie vor mit verschiedenen anderen Merkmalen einhergeht: Er „[bündelt] verschiedene Faktoren wie Funktion in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Qualifikation, Einkommen, Prestige und Einfluss“ (2002: 118).16 Weiter zieht er Mentalitäten, Subkulturen, Lebenschancen und Ethnie heran (ohne dies genauer auszuführen). Es ergibt sich das in Abbildung 9 dargestellte Bild für die soziale Schichtung der westdeutschen Wohnbevölkerung im Jahr 2000.
16 Demgegenüber hatte Geißler 1994 vermutet, dass die Berufsdimension langfristig an strukturprägender Kraft einbüße, die Bildungsdimension dafür an Bedeutung gewinne (1994: 24).
76 Abbildung 9:
4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle Das Schichtmodell nach Geißler
Quelle: Geißler 2002: 119 Im Vergleich zu Dahrendorfs Modell für die sechziger Jahre „hat sich das vergleichsweise einfache Wohnhaus … inzwischen in eine ansehnliche Residenz mit Komfortappartements verwandelt … zum anderen sind die Decken und Wände noch durchlässiger geworden“ (2002: 120). Im Vergleich zu den achtziger Jahren (Geißler 1992: 76) hat vor allem die höhere Dienstleistungsschicht an Bedeutung gewonnen, während sich der Anteil einiger anderer Schichten reduziert hat (z.B. sank der Anteil der Arbeiterelite von 12% auf 2%). Für Ostdeutschland fehlt bislang der Entwurf eines differenzierten Schichtmodells. Nach der subjektiven Schichteinstufung wandelte sich das ostdeutsche Selbstverständ-
4.1 Neuere Schichtansätze
77
nis erst um die Jahrtausendwende in Richtung „Mittelschichtengesellschaft“, die Einordnung in die Arbeiterschicht fällt weiterhin stärker aus als im Westen (Geißler 2011: 102; vgl. auch Noll/Weick 2011). Allerdings ist eine subjektive Schichteinstufung allein kein Nachweis für die Existenz einer geschichteten Gesellschaft, Befragte hätten sich vielleicht ebenfalls z.B. in vorgegebene Milieus eingeordnet. Kritisch ist gegen Geißler einzuwenden, dass er andere Ansätze zur sozialen Ungleichheit (abgesehen von einigen Ausnahmen) relativ pauschal abwertet. Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, geht es bei anderen neueren Ansätzen durchaus nicht allein darum, sich an der bunten Vielfalt sozialer Erscheinungsformen zu erfreuen, sondern ebenfalls darum, differenzierte Zusammenhänge zur Sozialstruktur festzustellen. Das schließt auch – aber nicht allein – die Prägung durch vertikale Merkmale ein. Einige Milieumodelle (z.B. die SINUS-Milieus, vgl. Kap. 5.2) sind sogar ausdrücklich eng mit einem Schichtmodell verbunden, erweitern es aber um einige Dimensionen. An anderer Stelle spricht Geißler zumindest von einer mittlerweile existierenden, aus seiner Sicht sinnvollen Paradigmen-Vielfalt, wobei verschiedene Ansätze unterschiedliche Ausschnitte einer komplexen Sozialstruktur erhellten (2011: 119). Den Entwurf seines eigenen, modernisierten Haus-Modells macht Geißler ferner nicht sehr transparent: Wie hat er die konstituierenden Merkmale miteinander verknüpft? Wie sind im Ergebnis Schichtzugehörigkeit und Mentalitäten miteinander verbunden, und ist tatsächlich noch davon auszugehen, dass mit dem Beruf viele andere Merkmale einhergehen? Der früheren Schichtungsforschung war unter anderem ja gerade vorgeworfen worden, zunehmende Inkonsistenzen nicht erfassen zu können. Zudem gibt Geißler selbst an, die Schichtstruktur sei „latenter“ geworden (wodurch er sich der empirischen Prüfung seiner Thesen ein Stück weit entzieht). Auch die Zuordnung zu einer Schicht nach dem Status des Haushaltsvorstandes, die Geißler vornimmt, ist umstritten. Er sollte gegebenenfalls genauer herausstellen, worin die Modernisierung seines Konzeptes (bei aller Betonung der nach wie vor dominanten vertikalen Dimension) in dem konkreten Modell besteht. Die Betonung der gesellschaftskritischen Absicht durch die Verknüpfung mit Lebenschancen stellt schließlich einen wichtigen Aspekt in Geißlers Ansatz dar, den es im Laufe der Entwicklung der Ungleichheitsmodelle bereits einmal gegeben hat. Warfen früher Klassentheoretiker den Verfechtern von Schichtansätzen vor, die Themen Macht, Herrschaft und soziale Ungerechtigkeiten zu vernachlässigen, wiederholt sich nun das Argument bei Geißler als Vertreter eines modernisierten Schichtmodells gegenüber anderen Ansätzen sozialer Ungleichheit, die z.B. andere Begriffe zur Kennzeichnung eines Ungleichheitsgefüges als Klasse oder Schicht benutzen.
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
Zusammenfassung In Anlehnung an das Schichtungsmodell Geigers betont Rainer Geißler die Nützlichkeit eines dynamischen und pluralen Schichtmodells. Bei aller Modernisierung dürften für die Gegenwart angemessene Modelle sozialer Ungleichheit die Bedeutung vertikaler Strukturen nicht vernachlässigen. Lesehinweis: Geißler, Rainer (1996): Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48. Jg., H. 2, S. 319-338 4.2 Neuere Klassenmodelle So wie Schichtmodelle heben auch Klassenansätze hervor, dass man bisherige Strukturierungen sozialer Ungleichheit bei allen Veränderungen und trotz berechtigter Kritikpunkte an den älteren Ansätzen nicht leichtfertig aufgeben sollte. Dies beruht unter anderem auf der Ansicht, dass bestehende vertikale Ungleichheitsaspekte und Herrschaftsverhältnisse in anderen Modellen schnell unterbelichtet sein könnten (so stellt etwa Hadler (2003) fest, dass die Bevölkerung in dreißig von ihm untersuchten Ländern nach wie vor vertikale Konflikte wahrnehme). Die Autoren versuchen in ihrer Argumentation daher, den weiterhin bestehenden Erklärungsbeitrag gerade von Klassenmodellen zu verdeutlichen. Klassenmodelle gibt es zum einen in der englischsprachigen Diskussion mit Einfluss auch auf deutsche Sozialstrukturansätze. Als international beachtete Beispiele – auch in Form empirischer Umsetzungen – werden in diesem Zusammenhang öfter z.B. die Ansätze aus den achtziger Jahren von E.O. Wright oder J.H. Goldthorpe genannt. Dabei ist Wright (USA) einer marxistisch orientierten Richtung zuzuordnen, während Goldthorpe (GB) eher eine Fortführung von Webers Konzept zugeschrieben wird. Beide Ansätze sollen in ihren Grundzügen kurz dargestellt werden. Als Beispiel für deutsche Autorinnen und Autoren, die mit dem Klassenbegriff operieren, soll im Anschluss daran die Argumentation von W. Müller skizziert werden, der unter anderem auf eine differenzierte Variante des Klassenschemas von Goldthorpe zurückgreift. R. Kreckel benutzt eine andere Begrifflichkeit, die von „Zentrum“ und „Peripherie“, doch rückt er durch die Betonung
4.2 Neuere Klassenmodelle
79
der primären Asymmetrie von Kapital und Arbeit ebenfalls in die Nähe von Klassenmodellen. Der Ansatz des französischen Soziologen P. Bourdieu wird in einem gesonderten Kapitel behandelt, weil er ein eigenes Klassenmodell mit einem anderen Ansatz (Lebensstilen) zu einem komplexen Theoriegefüge verknüpft (vgl. Kap. 6). E.O. Wright Erik Olin Wright legte Ende der siebziger Jahre ein Klassenmodell vor, das er in der Mitte der achtziger Jahre zu einer neuen Version überarbeitete (Wright 1985a, 1985b, 1989). Wie schon die neomarxistischen Ansätze der siebziger Jahre geht er nicht nur von Bourgeoisie und Proletariat, sondern auch von der Existenz von Mittelklassen aus. In dem „alten“ Modell fügt er den beiden Hauptklassen eine dritte hinzu, das Kleinbürgertum, und identifiziert zudem widersprüchliche Zwischenklassen (z.B. Manager oder „semi-autonome“ Arbeitnehmer). Die Notwendigkeit für eine neue Variante seines Modells sah er unter anderem deshalb gegeben, weil das bisherige Modell den Aspekt der Ausbeutung noch zu wenig berücksichtigte, zudem gab es theoretische und empirische Probleme beim Umgang mit den bisherigen Zwischenklassen. In der neueren Variante (1985a), die unter anderem auf spieltheoretische Anregungen (von J. Roemer) zurückgreift, beruhen die Klassenverhältnisse auf der Ausbeutung anhand von drei Ressourcen dazu: Produktionsmittelbesitz, daneben aber auch Organisationsmacht und Qualifikation. Ausbeuter verfügen über diese Mittel, Ausgebeutete nicht, dazwischen gibt es Klassen, die entweder eine geringe Menge dieser Ressourcen besitzen („alte“ Mittelklasse) oder zwar von einer Dimension viel, von anderen aber nichts („neue“ Mittelklasse; Wright 1985b: 47). Das folgende Schaubild zeigt die zwölf Klassen, die sich nach diesem Konstruktionsprinzip ergeben:
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
Abbildung 10: Das Klassenmodell nach Wright Besitz an Produktionsmitteln
Ausbeuter
Nichtbesitz an Produktionsmitteln (Lohnarbeit) Ausbeuter weder Ausbeuter ausgebeutet noch ausgebeutet 1) Bürgertum (Bourgeoisie) 4) fachlich 7) fachlich 10) fachlich Diese haben genügend qualifiteilweise qualifi- nicht qualifiKapital, um Arbeitnehmer zierte zierte Manager zierte Manager zu beschäftigen und selbst Manager nicht arbeiten zu müssen 2) Kleine Arbeitgeber 5) fachlich 8) fachlich 11) fachlich Diese haben genügend qualifiteilweise qualifi- nicht qualifiKapital, um Arbeitnehmer zierte zierte Aufsichts- zierte Aufzu beschäftigen, müssen Aufsichts- personen sichtspersonen aber selbst mitarbeiten personen
weder Ausbeuter noch ausgebeutet ausge- 3) Kleinbürger beutet Diese haben genügend Kapital zur Selbständigkeit, aber nicht zur Beschäftigung von Arbeitnehmern
Ausstattung mit Organisationsmacht
6) fachlich 9) fachlich 12) „Proletarier“ qualifiteilweise qualifi- (Arbeiterklasse) zierte zierte Arbeiter NichtManager Ausstattung mit Qualifikation
Quelle: Hradil 1999: 114 (Übersetzung des Modells in Wright 1985a: 88) Damit legt Wright ein in recht hohem Maße differenziertes Klassenmodell vor, in dem die Asymmetrie zwischen Arbeit und Kapital jedoch weiter einen zentralen Stellenwert einnimmt (vgl. zur Quantifizierung der Klassen z.B. Wright 1997). Dabei haben die Mittelklassen durchaus einen Einfluss auf den Klassenkonflikt: „It is no longer axiomatic that the proletariat is the unique, or perhaps even universally the central, rival to the capitalist class for class power in capitalist society“ (Wright 1985a: 89).
In einer empirischen Überprüfung für die Bundesrepublik Deutschland bescheinigen Erbslöh et al. (1990) Wrights Modell Erklärungskraft für Einkommensunterschiede und mit Einschränkungen auch für ein typisches Bewusstsein (das Modell erklärte diese Unterschiede besser als z.B. die Ansätze des PKA oder IMSF, auch stellte das neuere Modell Wrights tatsächlich eine Verbesserung gegenüber der älteren Variante dar). Die Autoren kommen zu einer insgesamt positiven Einschätzung von Wrights Ansatz und damit dem Klassenmodell. Zumindest ist „Klasse“ ihres Erachtens eine nützliche Kategorie für die Analyse sozialer Ungleichheit, wenngleich nicht unbedingt die einzige, etwa lassen sich askriptive Dimensionen wie das Geschlecht nur schwer in das Klassenmodell integrieren.
4.2 Neuere Klassenmodelle
81
Dies weist auf Kritik auch an Wright hin: Zwar möchte er Klasse und Geschlecht weder als einheitliche, noch als vollkommen getrennte Ungleichheitsstrukturen ansehen, und er unternimmt mit der Kategorie von „mittelbaren Klassenbeziehungen“ (durch Beziehungen zu Familienmitgliedern oder dem Staat) einen Vorstoß, beide zu verbinden (Wright 1998). Doch vernachlässigt sein Modell tendenziell nicht nur das Geschlecht, sondern auch andere – außerwirtschaftliche – Aspekte sozialer Ungleichheit. Auch weitere Aspekte, die für die Klassenanalyse traditionell bedeutsam sind, sind bei Wright weniger zentral. Zwar gibt es beispielsweise einen Hinweis auf verschiedene Kombinationen von relevanten Ausbeutungsressourcen je nach Gesellschaftstyp. Jedoch kritisiert z.B. Hradil, dass Wright ingesamt weniger Prozessen nachgehe, z.B. Prozessen der Bildung von Klassenbewusstsein oder von politischen Konflikten. Dies führt Hradil zu der Kritik, dass Wright mit seiner Ausdifferenzierung eher in die Breite als in die Tiefe gegangen sei (Hradil 1999: 115). Erbslöh et al. (1990) sowie Koch (1994) führen zudem ein theoretisches Problem an: Die Dimensionen der Qualifikation und Organisationsmacht können zu mehr oder weniger Ausbeutung durch das Kapital führen, dass sie jedoch ein Ausbeutungsverhältnis zwischen den Arbeitnehmern begründen sollen, erscheint ihnen weniger plausibel. Erbslöh et al. finden es daher sinnvoller, von einem Modell mehrdimensionaler Handlungsressourcen als von Ausbeutung zu sprechen. Koch resümiert: Der Verdienst von Wrights Ansatz liege in einer empirischen Fundierung der Klassenanalyse, jedoch bleibe es unklar, „welche Probleme der Klassentheorie durch ihre ausbeutungs- und spieltheoretische Rekonstruktion eigentlich gelöst worden sind“ (Koch 1994: 87). J.H. Goldthorpe Wie oben angedeutet, ist John H. Goldthorpes Beitrag als nicht-marxistisches Klassenmodell einzustufen, das unter anderem auch in Deutschland bei der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) empirisch eingesetzt wurde (siehe z.B. im Datenreport des Statistischen Bundesamtes 2008: 177). Hradil sieht es sogar als das derzeit international am meisten verwendete Schema an (1999: 363). Diese empirische Umsetzung entspricht Goldthorpes Vorstellung von der Klassenanalyse als Forschungsprogramm (Goldthorpe 1996: 481). Das Modell fußt zentral auf dem Beruf, der die Arbeitssituation und die Marktlage reflektieren soll und damit Macht- und Marktorientierung (Marx und Weber) verbindet. Goldthorpe entwickelte, ebenso wie Wright, mehrere Varianten des Modells. Nach der theoretischen Leitidee sind verschiedene Merkmale für die Klassen konstitutiv wie Einkommensquelle und -höhe, die Arbeitsplatz-
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
sicherheit oder Beförderungschancen, faktisch erfolgt die Einteilung nach beruflicher Stellung und der internationalen Standardklassifikation von Berufen ISCO (Zerger 2000: 53). Charakteristisch sind für das Modell insbesondere die „Dienstklassen“ (die es z.B. auch im Modell von Dahrendorf gab). Für eine Zuordnung sind weniger die Arbeitsinhalte wichtig (dass man eine Dienstleistung erbringt), sondern das Dienstverhältnis, das eine relative Autonomie in dem Sinne meint, dass die Arbeit nur begrenzt einer Kontrolle unterliegt (und unterliegen kann). Dies gilt für die obere Dienstklasse noch ausgeprägter als für die untere Dienstklasse. Wenn man Klassenpositionen insgesamt als Positionen versteht, die durch Beschäftigungsverhältnisse definiert werden, so ist im „Dienstleistungsverhältnis“ sowohl die Überwachung der Arbeit schwierig als auch die Spezifität des Humankapitals (Qualifikation, Wissen) hoch, während es beim „Arbeitsvertrag“, z.B. von Arbeitern, umgekehrt ist. In der Realität kommen natürlich auch Mischformen vor, z.B. verfügen Routineangestellte über eher geringe spezifische Qualifikationen, doch ist die Kontrolle ihrer Tätigkeit vergleichsweise schwierig (Goldthorpe 2007). Die Klassen nach Goldthorpe (nach den Mitautoren eines Aufsatzes, Erikson und Portocarero, auch EGP-Klassenschema genannt) lauten in der häufiger benutzten Sieben-Klassen-Variante: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
(Obere und untere) Dienstklasse Nicht-manuelle Berufe mit Routinetätigkeiten (damit gehören also nicht alle Dienstleistenden zur „Dienstklasse“) Kleinbürgertum Landwirte Facharbeiter An-/Ungelernte Landarbeiter (Erikson/Goldthorpe 1992: 38f.).
Im Jahr 2006 wurden in Deutschland laut Allbus etwa 36% (West) bzw. 27% (Ost) der Befragten den Dienstklassen zugeordnet; leitende, Fach- und einfache Arbeiter/innen machten 33% (West) bzw. 42% (Ost) aus (Statistisches Bundesamt 2008: 177). Forschungsergebnisse führen in dieser Perspektive insgesamt zur Schlussfolgerung: „What is revealed is a remarkable persistence of class-linked inequalities of classdifferentiated patterns of social action, even within periods of rapid change at the level of economic structure, social institutions, and political conjunctures” (Goldthorpe/Marshall 1997: 61).
4.2 Neuere Klassenmodelle
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Mobilität (die für Goldthorpe insgesamt ein wichtiges Thema darstellt) in und aus der Dienstklasse ist am ehesten als Auf- bzw. Abstieg interpretierbar, weitere Bewegungen zwischen den Klassen sind uneindeutiger, so dass nicht ganz deutlich wird, inwieweit das Modell als hierarchisch zu verstehen ist. Mit der Konzentration auf Berufsgruppen, so ein weiterer Kritikpunkt, erscheint die Grenzziehung zwischen Klassen ein wenig willkürlich. Ein Kritikpunkt an anderen Klassenmodellen gilt zudem auch hier: Die Konzentration auf die Wirtschaft und damit die Vernachlässigung anderer Ungleichheitsbereiche und nicht-erwerbstätiger Personen. Zerger äußert anhand einer eigenen empirischen Überprüfung von Goldthorpes Modell Zweifel an dessen Leistungsfähigkeit, weil es nur bedingt klassenspezifische Einkommenslagen erkläre. Darüber hinaus sei die Klassenlage nur für bestimmte Einstellungen und selbst dann nicht für alle Klassen gleichermaßen einflussreich. Auch das Wahlverhalten sei eher von anderen Faktoren wie z.B. der Kohorte als von der Klassenlage abhängig (Zerger 2000: Kap. V). Aber es gibt auch positivere Einschätzungen. So kommt W. Müller mit einer differenzierten Variante des Goldthorpe-Schemas (ebenfalls für das Wahlverhalten) zu dem Ergebnis, dass alte Konfliktfronten der Klassenspaltung im Wesentlichen erhalten geblieben seien (1998a: 37-40). W. Müller Walter Müller kann damit als Beispiel unter deutschen Forscherinnen und Forschern genannt werden, die mit einer modernen Form von Klassenanalyse arbeiten. Auch an der älteren Diskussion um Modelle der Sozialstruktur nahm er bereits teil, beispielsweise schrieb er 1977 einen Beitrag zu „Klassenlagen und sozialen Lagen in der Bundesrepublik“ (Müller 1977). Müller lehnt sich an den Klassenbegriff Max Webers an, so dass neben dem Besitz z.B. die Qualifikation einen wichtigen Faktor darstellt. Müller nimmt Differenzierungen verschiedener Klassenlagen vor, unter anderem unterscheidet er die abhängig Erwerbstätigen in Personen mit manuellen und nicht-manuellen Tätigkeiten und weiterhin nach der Qualifikation. Auch in späteren Veröffentlichungen wendet er sich gegen eine Überbetonung von Tendenzen der Entstrukturierung, insbesondere gegen die Individualierungsthese (vgl. Kap. 8). Keinesfalls möchte er weitreichende Entwicklungen seit der Nachkriegszeit verleugnen, doch ist er der Meinung, dass man die Analyse der durch gesellschaftliche Bedingungen fortgesetzt produzierten sozialen Ungleichheit und ihrer Folgen nicht vernachlässigen dürfe (1996: 14). Auch heutzutage ist danach das Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
einer der zentralen gesellschaftlichen Konflikte, der durch das Eingreifen des (Wohlfahrts-)Staates und durch Differenzierungen im Bereich der lohnabhängigen Arbeit neue Formen angenommen hat (a.a.O.: 16). Unter anderem sind verschiedene Konfliktarenen entstanden (so auch Kreckel, s.u.). Für Analysen der Sozialstruktur unter diesen Bedingungen sieht W. Müller – und das ohne eine „Wiederbelebung“ von Marx – den Klassenbegriff als am besten geeignet an. Dieser scheint ihm flexibler zu sein als der seines Erachtens einseitiger rein auf Hierarchien gerichtete Schichtbegriff (a.a.O.: 17). Sein Verständnis von Klasse schließt nicht ein, dass es sich um einen kollektiven Akteur handelt. Auch bestimmt nicht das Sein umstandslos das Bewusstsein. Müller möchte jedoch nicht als Folge den Klassenbegriff für die Mikroebene des Handelns und der Deutungen vollkommen abschreiben. Hinsichtlich der Kriterien für die Klassenlage sollen multivariate Modelle zeigen, welche Ungleichheitsdimensionen theoretisch und empirisch das überzeugendste Erklärungspotential haben. Eine Diagnose der abnehmenden Erklärungskraft von Klassenzugehörigkeit ist aus dieser Sicht auch eine Folge davon, dass die meisten Studien keine adäquaten Begriffe und Operationalisierungen verwenden würden (Müller 1998a: 6; zu einer ‚Europäischen Sozioökonomischen Klassifikation‘, EseC, s. Müller et al. 2006). Auf der Basis dieses modernisierten Klassenkonzeptes beschäftigt sich Müller mit verschiedenen Feldern sozialer Ungleichheit, z.B. mit der Erklärungskraft der Klassenzugehörigkeit für das Wahlverhalten (1997, 1998a) und mit sozialen Ungleichheiten im Bereich der Bildung. Wie erwähnt, stellt er für das Wahlverhalten eine fortbestehende Strukturierung durch die Klassenzugehörigkeit fest (1998a: 37-40). Auch im Bildungsbereich gibt es nach wie vor Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung; die Mechanismen der sozialen Reproduktion von Bildungsungleichheit sind Müller zufolge sehr stark (1998b: 90). Ein relativer Abbau von Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung ist zudem ein langfristiger Prozess, in dem die Bildungsexpansion in den sechziger Jahren keine Hauptrolle spielte. Weiter gibt es keine Entkopplung von Bildungs- und Beschäftigungssystem: „Die Befunde weisen eher in Richtung der meritokratischen Logik“ (1998b: 100). Und an anderer Stelle heißt es ähnlich: „Das Ergebnismuster der langfristigen Veränderungen der Bildungserträge [ist] nicht das einer generellen Bildungsinflation, es ist eher eines, das als zunehmende bildungsbezogene Schließung der vorteilhaftesten Berufspositionen gekennzeichnet werden könnte“ (2001: 58). Es gibt also danach keinen generellen Rückgang der Bildungserträge oder eine zunehmende Heterogenität innerhalb einer Bildungsgruppe. Die Befunde betreffen allerdings nicht die jüngsten Erwerbskohorten, für die einzelne Ergebnisse in eine andere Richtung weisen könnten (2001: 59). Insgesamt findet Müller durch die Befunde jedoch sein Argument bestätigt, dass der Einfluss sozialstruktureller Merkmale – die er am ehesten als Klassenlage
4.2 Neuere Klassenmodelle
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fassen will – auch über gesellschaftliche Veränderungen hinweg groß ist. Dies ist jedoch kein konsensuelles Ergebnis, wie die Beschäftigung mit anderen neueren Ungleichheitsansätzen zeigen wird. R. Kreckel Reinhard Kreckel hat in einer Veröffentlichung zur „politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit“ (1992)17 ein Modell zur Erfassung sozialer Ungleichheiten in modernen westlichen Gesellschaften vorgestellt, das neben anderen Einseitigkeiten herkömmlicher Modelle insbesondere die Konzentration auf die vertikale Ebene vermeiden soll. Dieses Modell zeigt eine gewisse Nähe zum Klassenansatz, daher wird es an dieser Stelle dargestellt, doch benutzt es an zentraler Stelle auch eigene Begrifflichkeiten. Laut Kreckel gibt es durchaus weiterhin einen Konflikt um Ressourcen (um distributive Ressourcen: Reichtum und Wissen/Zeugnisse sowie um relationale Ressourcen: hierarchische Organisation bzw. Rang und Zugehörigkeit; Kreckel 1992: 94). Daher müsste man eher die Stabilität von Gesellschaften erklären als in ihr stattfindende Konflikte. Ansätze zu dieser Erklärung liefert Kreckel, indem er zum einen auf einen Konsensaspekt (durch die Akzeptanz einer Prestigeordnung) und zum anderen auf den Zwangsaspekt (durch die Rechtsordnung, das Gewaltmonopol des Staates) verweist. Kreckels Alternative zur begrifflichen Erfassung sozialer Ungleichheit hat den Anspruch, diese asymmetrischen Verhältnisse zu berücksichtigen, aber gleichzeitig über eine einseitig vertikale Perspektive hinaus zu gelangen. Dazu wählt er die Metapher von „Zentrum“ und „Peripherie“. Diese Begriffe gibt es z.B. bereits in Forschungen zur so genannten „Dritten Welt“, sie verweist auf Asymmetrien und zugleich auf eine Vielfalt von Interdependenzen. Periphere Lagen sind dabei „strukturell verankerte Bedingungskonstellationen, aus denen sich für die Betroffenen Benachteiligungen hinsichtlich ihrer Zugangsmöglichkeiten zu … Gütern und hinsichtlich ihres Spielraums für autonomes Handeln ergeben“ (a.a.O.: 43). Sie zeichnen sich durch geringere Organisations- und damit Konfliktfähigkeit aus als zentralere Lagen. Mehrere Konfliktlinien sind in solch einem Modell denkbar, Zentrum-Peripherie-Kräftefelder können sich z.B. überlappen (in der Regel ergeben sich keine klaren Polarisierungen, beispielsweise gibt es auch Semiperipherien). Das Schichtmodell mit einer einheitlichen Hierarchisierung ist nach dieser Vorstellung dann nur als ein Sonderfall zu betrachten. 17 Die Auflage von 2004 ist um die Aspekte Ungleichheit im vereinten Deutschland und in einer „globalisierten“ Weltgesellschaft erweitert.
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
Anschaulich wird das Modell in einem Bild konzentrischer Kreise. Für die Bundesrepublik Deutschland lässt es sich so konkretisieren: Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor „die zentrale Drehscheibe sozialer Ungleichheit“ (a.a.O.: 153). Im Zentrum des Kräftefeldes steht – und damit geht Kreckel über eine rein ökonomische Betrachtung hinaus – das korporatistische Dreieck von Arbeit, Kapital und Staat. In den weiteren Kreisen befinden sich – in ihrer organisierten Interessenvertretung abnehmend – Verbände, neue soziale Bewegungen (z.B. die Umweltbewegung) und schließlich die sozial strukturierte Bevölkerung. Parteien sind Vermittlungsinstanzen, die quer zu den Kreisen liegen können. Es ergibt sich folgendes Modell: Abbildung 11: Das Zentrum-Peripherie-Modell nach Kreckel
Quelle: Kreckel 1992: 164 Innerhalb der primären Asymmetrie von Kapital und Arbeit haben die Arbeitgeber deutliche strategische Vorteile (durch ihre Ressourcenausstattung, Organisationsfähigkeit, homogenere Interessenlage), eine Analyse muss jedoch auch weitere Gegensätze berücksichtigen, etwa zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit (z.B. Empfänger von Transferleistungen ohne organisatorische Interessenvertretung). Kreckel führt weiter sekundäre Asymmetrien innerhalb der von Arbeit
4.2 Neuere Klassenmodelle
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und Kapital an, die z.B. durch Segmentation und Schließungsstrategien auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Illegale Einwanderer haben danach z.B. eine viel schlechtere arbeitsmarktstrategische Lage als Erwerbspersonen mit Leitungsund Managementfunktionen. Diese Ausführungen deuten die mehrdimensionalen Asymmetrien an, die man noch ergänzen müsste durch askriptive Merkmale, z.B. das Geschlecht. Auch das (abstrakte) Geschlechterverhältnis bildet einen für Ungleichheit relevanten strukturellen Gegensatz (nicht von Arbeit und Kapital, sondern von Produktion und Reproduktion). Konkret wirkt sich das Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt neben der nationalen und ethnischen Zugehörigkeit als Hauptkriterium für eine illegitime strukturelle Benachteiligung aus (a.a.O.: Kap. IV). Das Zentrum-Peripherie-Modell gerät bei der Berücksichtigung dieser Merkmale jedoch (ähnlich wie die Klassenmodelle) an seine Grenzen, Kreckel konnte sie, wie er selbst anmerkt, nur „mühsam einfangen“ (a.a.O.: 51). Zur Frage, ob sich die „sozial strukturierte Bevölkerung“ in Form von Klassen, Milieus oder anderen Gruppierungen fassen lässt, meint Kreckel, dass das komplexe Mischungsverhältnis von klassenspezifischen, milieuspezifischen und atomisierten Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit nicht theoretisch, sondern nur empirisch bestimmbar sei (a.a.O.: 137). Damit lässt sich von dem Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital auch nicht umstandslos auf eine Klasse schließen, die einen kollektiven Akteur darstellt. Kritische Punkte, die andere Autoren gegen Kreckel äußern, lauten beispielsweise, sein Ansatz sei zu deskriptiv (H.-P. Müller 1992: 47f.). Hradil dagegen glaubt, dass Kreckel mehr als beabsichtigt der herkömmlichen Klassentheorie verpflichtet sei, weil er kulturelle Bestimmungsgründe sozialer Ungleichheit und Ursachen im Bereich des Staates im engeren Sinne letztlich vernachlässige. Als Vorteil betont Hradil jedoch die Berücksichtigung von Organisationen (1999: 136). Insgesamt wird Kreckels Konzept an verschiedenen Stellen erwähnt als eigenständige Position zur sozialen Ungleichheit mit einer gewissen Nähe zu Klassenmodellen. Da jedoch bislang keine systematische Weiterentwicklung oder Konkretisierung des Modells vorliegt, ist es eher an der „Peripherie“ der Ungleichheitsdiskussion zu verorten. Die Diskussion um neuere Klassenmodelle erschöpft sich nicht in den hier genannten Ansätzen, sondern wird immer wieder mit Hilfe weiterer Konzepte oder neuer Varianten fortgesetzt. Ein Beispiel ist das Modell von D. Oesch (2006, 2007; vgl. auch Vester 2010), der neben Unternehmern/Arbeitnehmern und Qualifikationsstufen verschiedene berufliche Arbeitslogiken (organisatorische, technische, interpersonelle Tätigkeiten) unterscheidet sowie nach dem Geschlecht differenziert. In einem anderen Konzept schlagen Grusky/Weeden (2005) eine Untergliederung in mannigfache Mikroklassen aus Berufen/Berufs-
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
gruppen vor, die Einstellungen und Lebensstile beeinflussen (vgl. auch Rössel 2009: 121-124). Die Darstellung sowohl von neueren Schichtungsansätzen als auch von Klassenansätzen legt den Schluss nahe, dass diese in neueren Versionen ab den achtziger Jahren nur noch wenig voneinander entfernt liegen und daher keine ideologischen Grundsatzdebatten herausfordern. Beide greifen in hohem Maße auf die Berufsstruktur zurück und erarbeiten auf dieser Grundlage mehrdimensionale Konzepte, die dadurch realitätsnah und erklärungskräftig sein sollen. Diesen Anspruch können sie jedoch oft nur zum Teil einlösen. Unter anderem bleibt der Kritikpunkt bestehen, der auch schon für die älteren Modelle galt, dass mit der Konzentration auf den wirtschaftlichen Bereich und auf Erwerbspersonen bereits auf der „objektiven“ Ebene bestimmte Aspekte leicht ausgeblendet bleiben (z.B. das Geschlecht). Im Rahmen von Erwerbsarbeit könnten zudem Folgen des Wandels von Arbeitsstrukturen (man denke z.B. an Stichworte wie den „Arbeitskraftunternehmer“, Pongratz/Voß 2001) in breiterer Form in die Modelle integriert werden. Die Mikroebene von Einstellungen und Handeln thematisieren die Ansätze eher in dem Sinne, dass sie einen angenommenen Einfluss von Klasse oder Schicht auf diese prüfen. Diesen Einfluss unterstellen sie grundsätzlich aber erst einmal, es erfolgt keine eingehende Konzeptionierung dieser „Mikro“-Ebene selbst. Dies stellt sich anders dar bei den Lebensstil- und Milieumodellen, die im Folgenden vorgestellt werden. Zusammenfassung Neuere Klassenmodelle heben die weiterhin bestehenden vertikalen Aspekte sozialer Ungleichheit hervor, berücksichtigen aber auch Differenzierungen und wollen durch verschiedene Konzeptualisierungen von Mittelklassen ihre Modelle empirisch anschlussfähig machen. R. Kreckel fügt durch das Zentrum-Peripherie-Modell zudem eine neue Begrifflichkeit hinzu. Lesehinweise:
Wright, Erik O. (1985b): Wo liegt die Mitte der Mittelklasse? In: PROKLA: Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik 58, S. 35-62 Goldthorpe, John H. (2007): Soziale Klassen und die Differenzierung von Arbeitsverträgen; in: Nollmann, Gerd (Hg.): Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse, Wiesbaden: VS, S. 39-71
5.1 Lebensstile
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5 Lebensstile und Milieus
5.1 Lebensstile Lebensstile und Milieus gehören, teilweise in enger Verbindung, zu den Begriffen, die im Zuge der Kritik an Klassen und Schichten in der Soziologie (wieder-)entdeckt wurden, um das Ungleichheitsgefüge in einer modernen Gesellschaft angemessen zu erfassen. Gestiegene Optionen von Menschen, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt materiell oft mehr leisten konnten, führten dazu, dass eine Verbindung von Klasse oder Schicht und der Lebensführung der Menschen weniger eng wurde, dass sich diesen Ansätzen zufolge vielfältigere Lebensstile und Milieus herausbildeten (häufig wird auch ein Zusammenhang von Individualisierungsprozessen und der Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Milieus hergestellt, was aber nicht unumstritten ist, vgl. Kap. 8). Den Begriff des „Stils“ gibt es schon lange, bis in das 17. Jahrhundert war er fast ausschließlich auf Sprache und Schrift gerichtet, dann verwendete man ihn auch für die bildende Kunst. Im 18. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel von einer Sicht sehr eingegrenzter legitimer Epochalstile zu einer Perspektive von „stilistischem Pluralismus“, was der heutigen Bedeutung von Lebensstilen näher kommt (Drieseberg 1995: Kap. 1). Erste soziologische Zugänge gibt es bereits bei den Klassikern der Soziologie, etwa bei Max Weber, Georg Simmel oder Thorstein Veblen. M. Weber benutzt den Begriff der Lebensführung (englisch dann als „style of life“ übersetzt) als charakteristisches Merkmal eines Standes. Im Gegensatz zur ökonomisch geprägten Klasse basiert der Stand bei Weber auf dem sozialen Prestige, auf Ehre (vgl. Kap. 2.2). Ein Stand hat eine spezifische Lebensführung, z.B. typische Formen des Konsums, bestimmte Werte usw. So ist etwa das Prinzip, Zeit und Geld nicht müßig zu vergeuden und sich keinem unbefangenen Kunst- und Lebensgenuss hinzugeben, ein charakteristisches Lebensstil-Merkmal der asketisch-protestantischen Ethik (Weber 1980: 719 (zuerst 1922)). Die gemeinsame Lebensführung von Mitgliedern eines Standes ist damit gerade keine allein „moderne“ Erscheinung, sondern hat zumindest feudalistische Ursprünge. Ein wichtiges Merkmal auch neuerer Lebensstilansätze ist bereits bei Weber enthalten: Durch die Lebensführung versichert man sich der Zugehörig-
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Lebensstile und Milieus
keit zu einer bestimmten Gruppe, deren Anspruch auf soziale Anerkennung man so auch nach außen demonstriert. G. Simmel betont, dass der Einzelne im Zuge der Modernisierung (im Sinne der Durchsetzung des Geldverkehrs, zunehmender Arbeitsteilung, Industrialisierung etc.) durch seinen Lebensstil versucht, Identität zu finden. Die Modernisierungsprozesse bringen Wahlmöglichkeiten mit sich, doch unter anderem dadurch, dass sich die Lebenswelt nicht mehr einheitlich darstellt, gibt es auch eine Identitätsgefährdung (Simmel spricht auch von einem Übergewicht der objektiven gegenüber der subjektiven Kultur, s. z.B. 1977 (zuerst 1900): Kap. 6; 1983 (zuerst 1911)). Die zunehmenden Wahlmöglichkeiten haben also nicht allein positive Seiten für das Individuum. Daher: „Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlastung und Verhüllung des Persönlichen, die das Wesen des Stiles ist. Der Subjektivismus und die Individualität hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, und in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, liegt eine Milderung und Abtönung dieser akuten Personalität zu einem Allgemeinen und seinem Gesetz“ (1993 (zuerst 1908): 382).
Veblen (1997, zuerst 1899) behandelt den spezifischen Stil der „feinen Leute“ („leisure class“) im späten 19. Jahrhundert. Auch bei ihm klingt bereits die Funktion eines Lebensstils an, durch expressive Handlungspraktiken (z.B. im Konsumbereich) soziale Anerkennung zu erlangen und sich nach „unten“ abgrenzen zu wollen. Demonstrativer Müßiggang symbolisiert z.B., dass sich die „feinen Leute“ freie Zeit leisten können. Heutige soziologische Lebensstilansätze folgen jedoch oft weniger in systematischer Form diesen Traditionen – wenngleich Autoren häufig die Klassiker erwähnen –, sondern entwickelten sich eher aus Lebensstilansätzen, die in der Marktforschung Anwendung fanden (vgl. im Überblick: Kramer 1991). Das Ziel von Lebensstil- oder „lifestyle“-Analysen besteht dort beispielsweise darin, Produkte und Produktwerbung auf einzelne Käufertypen abstimmen zu können. In der „outfit“-Studie (Spiegel-Dokumentation 1994) etwa ist eine „geltungsbedürftige Frau“ eine Person, für die aktuelle modische Trends wichtig sind, die ruhig etwas extravagant sein können, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie neigt zu Spontankäufen, bestimmte Marken würde sie allerdings nie kaufen. Es handelt sich meist um Jüngere mit einfacher Bildung und einer „Fun&Action“Orientierung (a.a.O.: 54). Auch die allgemeinere Konsum- und zum Teil die Wahlforschung (z.B. Gluchowski 1987) wenden Lebensstile ähnlich an. Dieses Vorgehen kommt einer alltagssprachlichen Bedeutung von Lebensstilen entgegen. Mit Hilfe des Lebensstils lassen sich zusammenfassende Aussagen über einen Einzelnen in der heutigen Zeit treffen, jemand ist z.B. „abge-
5.1 Lebensstile
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dreht“ oder „konventionell“. Auch ist es oft bereits positiv assoziiert, wenn etwas „stilvoll“ ist (mit leichter Tendenz zur Einseitigkeit, was man an der Werbung einer Möbelfirma für ein Sofa ablesen kann: „Kann man gleichzeitig Stil haben und lebendig sein?“). Aber was ist ein Lebensstil? Wo hört eine einzelne Vorliebe auf, wo fängt der Lebensstil an? Ist der Lebensstil nicht gerade etwas Persönliches, was mit sozialen Zusammenhängen weniger zu tun hat? (Was hat beispielsweise die Gesellschaft damit zu tun, wenn jemand gern Pfirsiche isst?) Wenn jemand modische Jeans trägt und gerne GEO-Hefte liest, ist das dann schon ein Lebensstil? Welche Begründung berechtigt dazu, bestimmte Kombinationen von Aktivitäten, Eigenschaften, Einstellungen etc. zu einem Lebensstil zusammenzufassen, so dass es nicht unendlich viele individuelle Lebensstile gibt, sondern Lebensstilgruppen? Diese Klärung, was ein Lebensstil ist und wovon er abhängt, ist dabei für ungleichheitstheoretische Zwecke in einer anderen Form vorzunehmen als etwa in der Marktforschung. Es reicht nicht aus, Beschreibungen darüber zu liefern, welche Merkmale häufig gemeinsam auftreten, z.B. eine bestimmte Wohnungseinrichtung und ein bestimmter Musikgeschmack. Der soziologische Zugang stellt sich zwar auch die Fragen, was ein Lebensstil ist, durch welche Dimensionen er konstituiert wird und wovon Lebensstile abhängen. Diese Fragen stehen jedoch in einem weiteren Rahmen z.B. der Fragen, wie das Ungleichheitsgefüge in der Gesellschaft aufgebaut ist, welche Lebenschancen mit den einzelnen Lebensstilen verbunden sind, in welchem Verhältnis die Lebensstilgruppen zueinander stehen und möglicherweise auch, wie Entwicklungen von Lebensstilen aussehen (hinsichtlich individueller Wechsel oder Veränderungen im Gefüge verschiedener Lebensstile). Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass der Anspruch der Lebensstilmodelle darin besteht, soziale Ungleichheit differenzierter und insgesamt angemessener analysieren zu können als allein (zumindest die älteren) Klassen- und Schichtmodelle. Im Folgenden soll nun zunächst gezeigt werden, was unter Lebensstilen im soziologischen Sinne verstanden wird und welche Vorteile eine Lebensstilanalyse nach Meinung ihrer Vertreter hat. Zwei Beispiele konkretisieren die Vorstellung des Ansatzes. Einige ungeklärte Fragen und Probleme der Lebensstilforschung sollen schließlich im Anschluss an die Vorstellung der Milieukonzepte für beide Ansätze gemeinsam thematisiert werden. Stellte H. Lüdtke Ende der achtziger Jahre noch fest, dass es fast so viele Klassifikationen für Lebensstile wie Forschungsansätze gebe (1989: 103), zeichnete sich einige Jahre später doch bei allen Unterschieden im Detail ein gewisser Konsens darüber ab, worum es geht. Einige Beispiele verdeutlichen dies. Das Wörterbuch der Soziologie spricht sehr allgemein von „Ausdrucksformen der
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5 Lebensstile und Milieus
alltäglichen Daseinsgestaltung“ in ganzheitlich-umfassender Weise (Hillmann 2007: 489), H.-P. Müller von raum-zeitlich strukturierten Mustern der Lebensführung, die von materiellen und kulturellen Ressourcen, der Familien- und Haushaltsform und Werthaltungen abhängen. Als wichtige Dimensionen von Lebensstilen nennt er verschiedene Verhaltensformen, und zwar expressives Verhalten (z.B. Freizeitaktivitäten und Konsummuster), interaktives Verhalten (wie Geselligkeit oder das Heiratsverhalten), evaluatives Verhalten (Werte, Wahlverhalten usw.) und schließlich kognitives Verhalten (z.B. subjektive Zugehörigkeiten) (Müller 1992: 376-378). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Stilisierungsneigung, das heißt etwa seinen Geschmack und die Art der Lebensführung nach außen zu demonstrieren, in verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich ist. Das Verhalten, vor allem im Konsum-, Freizeit und sozialen Bereich, nennt auch Hradil (1992: 28) als kleinsten gemeinsamen Nenner von Lebensstilkonzepten. Später drückt er allgemeiner aus: „Der Lebensstilbegriff … konzentriert sich auf die Prinzipien, Ziele und Routinen, nach denen die Einzelnen ihr Leben relativ beständig ausrichten“ (2001a: 273). Bedeutsam ist nun zusätzlich für die Lebensstilanalyse, dass der aus spezifischen Haltungen und Verhaltensweisen bestehende Lebensstil bestimmte Funktionen erfüllt, die teilweise schon bei den kurz skizzierten Ansätzen der soziologischen Klassiker erwähnt wurden.
Er sichert Verhaltensroutine, allgemein eine Handlungsorientierung im Alltag, ständige Grundsatzentscheidungen über Verhaltensweisen sind nicht notwendig. Dadurch, dass man einen Lebensstil mehr oder weniger demonstrativ zum Ausdruck bringt, kann der Lebensstil Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und andererseits die Abgrenzung von anderen Gruppen durch diese Distinktion betonen. Durch diese Kennzeichen fördert der Lebensstil neben der sozialen ebenfalls die persönliche Identität (ähnlich auch Lüdtke 2000: 118).
Welche Vorteile beanspruchen nun Lebensstilmodelle gegenüber den früheren Klassen- und Schichtungsansätzen? Man kann sie quasi spiegelbildlich aus der Kritik an diesen älteren Modellen herauslesen: Lebensstile sind in ihrer Bestimmung weniger einseitig auf „objektive“ Merkmale (z.B. ein bestimmtes Einkommen) festgelegt, sondern setzen einen Schwerpunkt bei kulturellen und symbolischen Faktoren, auf das Verhalten einer Person, also etwa, was jemand in seiner Freizeit mit wem tut. Die Erweiterung besteht damit in der im weiteren Sinne kulturellen Komponente und auch darin,
5.1 Lebensstile
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dass man nicht unhinterfragt von bestimmten objektiven Merkmalen auf das Verhalten und die Einstellungen einer Person schließt, sondern fragt, wie jemand mit bestimmten Ressourcen und Restriktionen umgeht. Beispielsweise ist eine Zuordnung durch den Besitz von Statussymbolen nicht mehr so einfach möglich, sie zeigen viel weniger eindeutig als noch vor einigen Jahrzehnten die soziale Stellung einer Person an. Die gestiegenen Wahlfreiheiten finden also systematisch Berücksichtigung (allerdings in unterschiedlichem Ausmaß, wie die Debatte um Strukturierungs- versus Entstrukturierungsansätze zeigt, s.u.). So beachten Lebensstilansätze die subjektive Seite stärker. Gleichzeitig nehmen sie eine ganzheitlichere Sicht ein als es etwa der Fall in Ansätzen war, die sich vorrangig auf Merkmale Berufstätiger konzentrierten. Dadurch beanspruchen Lebensstilkonzepte, ein lebensnahes Modell zu entwerfen, das die Makroebene der Struktur mit der Mikroebene der Handlungen verknüpft. Wenn es darum geht, verschiedene Lebensstile zu einem Modell des Ungleichheitsgefüges zusammenzufassen, ist dieses dem Anspruch nach differenzierter als Klassen- und Schichtmodelle, weil es vielfältige Einflussfaktoren berücksichtigt, die dazu führen, dass Lebensstile nicht nur vertikal strukturiert sind, sondern auch nebeneinander liegen können. Beispielsweise könnten Menschen mit der gleichen Qualifikation (einem vertikalen Merkmal), aber unterschiedlichem Alter (einem „horizontalen“ Ungleichheitsmerkmal) unterschiedliche Lebensstile haben, die jedoch nicht mit unterschiedlich großen Lebenschancen verbunden sind. Zudem müssen sich Lebensstilgruppen nicht feindlich gegenüberstehen, Relationen zwischen ihnen können jedoch zum Thema werden, indem man die distinktive Funktion der Lebensstile hervorhebt. Teilweise unterscheiden Autoren, unter anderem zu Abgrenzungszwecken, zwei Richtungen innerhalb der Lebensstilforschung. So spricht Konietzka (1994) von Strukturierungs- gegenüber Entstrukturierungsmodellen (ähnlich unterscheiden Funke/Schroer eine strukturtheoretische und ein kulturalistische Sichtweise; 1998: 220). Im Strukturierungsmodell sind Lebensstilgruppen durch strukturelle Kriterien, wie z.B. das Alter, das Geschlecht, aber auch durch vertikale Merkmale der sozialen Lage wie das Bildungsniveau geprägt. Solche Modelle liefern eine differenzierte Darstellung (mit dem Anspruch auf die genannten Vorteile gegenüber der Schichtungsforschung), die die bisherige Sozialstrukturanalyse ergänzt, aber nicht ersetzt. Konietzka ordnet hier z.B. die Arbeiten von P. Bourdieu (1997 (zuerst 1979)), H.-P. Müller (1992) oder W. Zapf (Zapf et al. 1987) ein. Diese Hauptströmung lässt sich abgrenzen von Entstrukturierungsmodellen. Aus dieser Perspektive sind Lebensstile ein grundlegend alternatives Konzept sozialer Ungleichheit, in dem nicht mehr durch Ressourcen oder allgemein: strukturelle Kriterien definierte soziale Gruppen bedeutsam sind, sondern solche, die durch Lebensstiltypen konstituiert
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5 Lebensstile und Milieus
sind. Lebensstile werden dann selbst zum Einflussfaktor, zum erklärenden Merkmal, etwa für Handlungsorientierungen oder für die empfundene Lebensqualität. Damit stellen sie einen eigenständigen Modus sozialer Differenzierung dar, der im soziokulturellen Bereich angesiedelt ist. Eine relative Loslösung von strukturellen Merkmalen betonen solche Modelle also zugunsten der tendenziell nach ihren Präferenzen handelnden Individuen. Zu dieser Richtung zählt Konietzka beispielsweise die Ansätze von Karl H. Hörning et al. und von H. Lüdtke. Hörning et al. sehen bei einer ähnlichen Dichotomisierung von Ansätzen (in Struktur- vs. Kulturansätze) Lüdtke dagegen als Vertreter des Strukturansatzes an (Hörning et al. 1996). Dies deutet darauf hin, dass insgesamt eher von graduellen Unterschieden auszugehen ist, bei denen Extrempositionen kaum besetzt sind. Von einer völligen Entstrukturierung des Verhältnisses zwischen sozialer Lage und Bewusstsein dürfte kaum jemand ausgehen. Bereits generell ist die Lebensstilanalyse ein Mittelweg zwischen relativ stark hierarchisch strukturierter sozialer Ungleichheit und einer bunten Vielfalt an Ungleichheitsformen, die auf vergleichsweise großen Wahlmöglichkeiten der Einzelnen beruhen. Innerhalb der Lebensstilanalyse sind dann wiederum Ansätze erkennbar, die von der Tendenz her ein wenig in die eine oder die andere Richtung ausschlagen. Aus dieser Perspektive könnte man Hörning et al. tendenziell dann in die Richtung der Entstrukturierung einordnen, wenn sie schreiben: „Es geht darum, den Lebensstil als eine eigenständige Kategorie in seinem theoretischen Gehalt voranzutreiben. In Absetzung von bisherigen Lebensstilen [das heißt Lebensstilkonzepten, N.B.] gehen wir von der Autonomie der Lebensstile aus … der Lebensstil ist nicht als abhängige Variable struktureller Bedingungen zu verstehen. Diese finden vielmehr erst im Lebensstil ihre je unterschiedlichen Ausformulierungen.“ (1996: 34f.; Hervorhebungen i. O.).
Die Lebensstile selbst strukturieren hiernach, nicht andere Merkmale. Lüdtke gibt einen Hinweis auf die recht großen individuellen Wahlfreiheiten, wenn er als Ergebnis einer empirischen Analyse feststellt: „Lebensstile sind nicht stärker kontextabhängig als präferenzengesteuert“ (1990: 451). Diese insgesamt doch noch recht vorsichtige Aussage ist allerdings in dem Kontext zu sehen, dass er die Lebensstilanalyse als Instrument sieht, um Mikro- und Makroperspektiven in der Ungleichheitstheorie verknüpfen zu können. Eine völlige Lösung von Strukturen ist nicht erkennbar, wofür z.B. auch die Argumentation Lüdtkes spricht, dass Lebensstile eher (aber immerhin) mit komplexen Milieus als mit sozioökonomischen Lagen verbunden seien, die in der vertikalen Schichtungsdiskussion üblicherweise thematisiert wurden (a.a.O.: 450).
5.1 Lebensstile
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Zwei deutsche Beiträge aus den neunziger Jahren, in denen Lebensstiluntersuchungen am häufigsten durchgeführt wurden, sollen die Darstellung der Lebensstilanalyse hier weiter konkretisieren, und zwar die Beiträge von W. Georg und von A. Spellerberg.18 Der viel beachtete Ansatz P. Bourdieus wird später in einem eigenen Kapitel näher vorgestellt (Kap. 6). Lebensstile nach W. Georg W. Georg möchte die Lebensstile nicht zur Ablösung, sondern ausdrücklich zur Ergänzung der Sozialstrukturanalyse durch Klassen- und Schichtenmodelle nutzen. Und zwar ordnet er die Thematik ungleicher Ressourcen weiterhin der Klassen- und Schichtungsforschung zu, während sich die Lebensstilanalyse mit den symbolischen Ausdrucksformen der Ungleichheit und im weiteren Schritt ihren Auswirkungen, das heißt Prozessen sozialer Schließung bzw. der Sozialintegration, beschäftigt. Im Einklang mit der obigen Begriffsbestimmung definiert Georg Lebensstile als „relativ stabile, ganzheitliche und routinisierte Muster der Organisation von expressiv-ästhetischen Wahlprozessen“ (1998: 92). Grundvoraussetzung für diese Wahlprozesse ist das Vorhandensein von Wahloptionen und Gestaltungsspielräumen der Akteure, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich vergrößert haben. Im Vordergrund der Bestimmung der Lebensstile stehen bei ihm „expressiv-ästhetische“ Aspekte, die auf die Betonung von Geschmack und Verhalten als Dimensionen für einen Lebensstil hindeuten. Bei ihm macht also die „wahrnehmbare, klassifizierbare und prestigeträchtige Stilisierungspraxis“ (a.a.O.: 93) im Alltag einen Lebensstil aus, mit der die Menschen auch eine „gewisse repräsentative Außenwirkung“ erzielen möchten (a.a.O.: 98). Zu dieser Praxis gehören konkret z.B. die Freizeitaktivitäten, der Musikgeschmack, die Wohnungseinrichtung, die Kleidung, der Kulturkonsum, Lesegewohnheiten, Mitgliedschaften und das Interaktionsverhalten. Von den Dimensionen, die einen Lebensstil ausmachen, sollte man klar die Einflussfaktoren unterscheiden, die zu einem bestimmten Lebensstil führen. Diese Einflussfaktoren bestimmt Georg auf zwei Ebenen: die soziale Lage und die mentale Ebene. Die soziale Lage umfasst sowohl vertikal verteilte Handlungsressourcen (z.B. Einkommen, Bildung, soziale Netzwerke) als auch hori18 Die Ansätze wurden ausgewählt, weil sie Lebensstile allgemein untersuchen (nicht nur z.B. Wohnstile, Lebensstile von Musikern oder „nachhaltige“ Lebensstile im Sinne der Förderung eines ökologischen Bewusstseins, siehe dazu z.B. Brand 2002, Lange 2005). Darüber hinaus ist die Auswahl natürlich relativ willkürlich, weitere Ansätze könnten genannt werden, z.B. von Konietzka (1995), Wahl (1997/2003), Hartmann (1999), Schroth (1999) etc.
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5 Lebensstile und Milieus
zontal differenzierte Lebensbedingungen wie Alter, Kohortenzugehörigkeit oder Region. Die mentale Ebene schließt gemeinsame Wertorientierungen, Einstellungen und Lebensziele ein. Diese Ebene richtet sich insbesondere auf identitätsstiftende bzw. distinktive Funktionen von Lebensstilen über symbolische Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Georg unterstellt nicht vorab einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und mentaler Ebene einerseits und Lebensstilen andererseits, sondern dieser ist empirisch zu prüfen. Dabei soll sich auch herausstellen, welche Merkmale der sozialen Lage gegebenenfalls besonders bedeutsam für die Ausbildung von Lebensstilen sind. Graphisch lässt sich Georgs Konzept so darstellen: Abbildung 12: Das Lebensstilkonzept nach W. Georg Soziale Lage: Ressourcen, Restriktionen, horizontale Merkmale
Mentale Ebene: z.B. Werte und Ziele Verknüpfung: empirische Frage Lebensstile: Ästhetisch expressives Verhalten
Quelle: nach Angaben in Georg 1998: 98 Was findet Georg nun empirisch heraus? Er analysiert Daten einer Werbeagentur in Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut von 1990 (Lifestyle ’90, repräsentativ für die westdeutsche Bevölkerung ab 14 Jahren) und ermittelt anhand einer Clusteranalyse sieben Lebensstile: Typ 1: Hedonistisch-expressiver Lebensstil (10,2%) Typ 2: Familienzentrierter Lebensstil (19,2%) Typ 3: Kulturbezogen-asketischer Lebensstil (11,3%) Typ 4: Konservativ-passiver Lebensstil (14,9%) Typ 5: „Prestigebezogene Selbstdarstellung“ (11,1%) Typ 6: Zurückhaltend-konventioneller Lebensstil (16,1%) Typ 7: „Selbstdarstellung, Genuss und Avantgardismus“ (11,6%)
5.1 Lebensstile
97
Die Charakteristika der einzelnen Stile sollen in diesem Rahmen nicht im Einzelnen geschildert werden, zur Veranschaulichung dient ein Beispiel: Der konservativ-passive Lebensstil ist unauffällig (z.B. bei der Kleidung) und traditionell (z.B. bei der Ernährung), der Wohnstil lässt sich als „konventionelle Gemütlichkeit“ charakterisieren. Das Alter dieser Menschen liegt über dem Stichprobendurchschnitt, die soziale Lage kennzeichnet unterdurchschnittliches Einkommen und niedrige Bildung. Zur Mentalität lassen sich unter anderem ein relativ rigides Festhalten an stereotypen Geschlechtsrollen und konservative Werte feststellen (1996: 170f.). Die Merkmale der sozialen Lage, die die Lebensstile insgesamt am stärksten beeinflussten, waren Alter (wobei Georg einen Kohorteneffekt vermutet, das heißt er nimmt generationstypische Lebensstile an, weniger einen Alterseffekt), die Lebenszyklusvariable „mit Partner zusammenlebend oder verheiratet (beides mit Kind)“, Bildungsniveau und Geschlecht noch vor dem Einkommen und dem beruflichen Status (1996: 175-179). Damit unterscheidet sich das Modell deutlich von Schichtmodellen, die dem beruflichen Status eine besondere Bedeutung beimessen. Regressionsmodelle mit verschiedenen Mentalitätsskalen zeigen, dass auch die mentale Ebene eine eigenständige Prädiktionskraft für Lebensstile besitzt. Als einzelner Mentalitätsskala kommt der „traditionellen Wertorientierung“ die größte Bedeutung für den Lebensstil zu (1998: 230-235). Einige der Einflussfaktoren (z.B. das Geschlecht oder das Alter als Kohorteneffekt) sowie der Hinweis in der Definition des Begriffs „Lebensstil“ auf „relative Stabilität“ deuten darauf hin, dass sich nach Georgs Verständnis ein Grundmuster des Lebensstils relativ früh in der Biographie herausbildet. Andererseits schließt Georg lebenszyklische Veränderungen nicht aus, gerade wenn man die Bedeutung des Merkmals „mit Partner und Kind zusammenlebend“ betrachtet. Doch ist die Entwicklungsdynamik von Lebensstilen insgesamt kein Thema, das Georg in besonderem Maße weiter verfolgt. Dies trifft auch auf viele andere Lebensstilanalysen zu. Lebensstile nach A. Spellerberg A. Spellerberg bezeichnet Lebensstile als „individuelle Organisation und expressive Gestaltung des Alltags“ (1995: 230), stimmt also mit anderen Definitionen überein und betont dabei die expressive Komponente. Die Dimensionen leitet sie aus dem Konzept von H.-P. Müller ab, indem sie interaktive (z.B. das Freizeitverhalten), expressive (z.B. Musik- und Einrichtungsgeschmack oder Lesegewohnheiten) und evaluative Dimensionen (z.B. Lebensziele) unterscheidet. Eine Variante zu dem Konzept von Georg besteht übrigens darin, dass bei Spellerberg
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5 Lebensstile und Milieus
Werte zu den Merkmalen gehören, die einen Lebensstil ausmachen, während Georg die mentale Ebene zu den Einflussfaktoren zählt. Das Konzept soll hier nicht im Detail dargestellt werden, spezifisch für den Ansatz ist unter anderem, dass er auf der Datenbasis des Wohlfahrtssurveys (1993) ost- und westdeutsche Lebensstile vergleicht und Zusammenhänge zur Lebensqualität herstellt. Die Lebensstilgruppen teilt Spellerberg nach dem Aktionsradius (häuslicher Umkreis vs. außerhäuslich) und nach kulturellen Vorlieben (ähnlich den alltagsästhetischen Schemata bei G. Schulze) ein und findet für Ost- und Westdeutschland jeweils neun Lebensstilgruppen heraus, die sich in einigen Punkten durchaus auffällig unterscheiden, z.B. gibt es einen „erlebnisorientierten Häuslichen“ nur in Ostdeutschland; die Vorliebe für Hochkultur differenziert sich im Westen Deutschlands in drei Stile, während sich hierzu im Osten nur ein Typus findet etc. (1996: 122, 145). Hinsichtlich der wichtigsten Einflussfaktoren gibt es Übereinstimmungen mit anderen Untersuchungen: Das (als Kohorteneffekt gedeutete) „Alter, Bildung und Geschlecht weisen die stärksten Zusammenhänge zum Lebensstil auf“ (1996: 192). In einer zweiten Untersuchung von 1996 (Schneider/Spellerberg 1999, Kap. 4) ergeben sich leicht andere Ergebnisse, teilweise bedingt durch die Berücksichtigung auch Älterer (über 61 Jahre). Insgesamt zeigt sich eine Tendenz zur Angleichung von Lebensstilen in Ost- und Westdeutschland: Unterhaltung, Geselligkeit und Genussorientierung haben jeweils an Bedeutung gewonnen; traditionelle Lebensstile sind in Ostdeutschland weniger verbreitet als noch 1993; im Westen hat der Anteil hochkulturell Interessierter leicht abgenommen (Schneider/Spellerberg 1999: 119). Die Einflussfaktoren sind ähnlich geblieben: Im Westen weisen Alter, Bildung, Einkommen und Geschlecht (in dieser Reihenfolge) die größte Bedeutung für die Lebensstilzuordnung auf, im Osten sind es ähnlich Alter, Geschlecht, Bildung und Kinder im Haushalt (a.a.O.: 120-123).
5.1 Lebensstile Abbildung 13: Lebensstile in West- und Ostdeutschland nach Schneider/Spellerberg
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5 Lebensstile und Milieus
Quelle: Schneider/Spellerberg 1999: 106, 113 Für einen Zusammenhang mit der Lebensqualität dienen die Lebensstile als unabhängige Variable, sind in dem Fall also selbst ein möglicher erklärender Faktor. Zunächst lässt sich dazu als aufschlussreich feststellen, dass man mit Hilfe von Lebensstilen Gruppen ermitteln kann, die sich nach ihren Bewertungsmaßstäben für Lebensqualität unterscheiden. Weitergehende Aussagen sind weniger eindeutig: „Es hat sich gezeigt, dass Lebensstile im Westen eine hohe Erklärungskraft für das Wohlbefinden haben, während in Ostdeutschland häufiger die materielle Situation im Vordergrund steht.“ (Spellerberg 1996: 221). Immer, wenn Lebensstile als erklärendes Merkmal dienen, muss man insgesamt darauf achten, dass man Zirkelschlüsse vermeidet. Wenn der Forschende z.B. Stile durch Werte konstituiert und gleichzeitig (allerdings andere) Werte durch Lebensstile erklären möchte, sollte er sich einer gewissen Gratwanderung bewusst sein. Dies gilt auch für die Erklärung von Wohnverhalten durch Lebens-
5.1 Lebensstile
101
stile (Spellerberg/Schneider 1999), wozu die Autorinnen feststellen, dass sich das Lebensstilkonzept und die Klassifikation nach Lebensphasen als Erklärungsfaktor tragfähiger zeigten als ein Schichtindex (a.a.O.: 285). Exkurs zu Methoden in der Lebensstilforschung Da die Lebensstil- und Milieuanalyse einen starken empirischen Bezug hat, sollen an dieser Stelle einige Hinweise zu den Erhebungs- und Auswertungsmethoden gegeben werden. Als Erhebungsinstrument dient häufig die Befragung (bzw. die Sekundäranalyse früherer Befragungen), stellenweise kombiniert mit Beobachtungen (Garhammer merkt hierzu kritisch an, dass Zeitbudgetstudien fragwürdige subjektive Häufigkeitseinschätzungen von Verhaltensweisen ergänzen sollten; 2000: 309 – jedoch haben Zeitbudgetstudien wiederum eigene Nachteile bzw. Grenzen). Hinsichtlich der Methoden zur Auswertung erhobener Daten verwenden sowohl Georg als auch Spellerberg in ihrer Untersuchung die Clusteranalyse zur Bestimmung von Lebensstilgruppen. Es handelt sich hier um ein multivariates Verfahren (das heißt man betrachtet mehr als zwei Merkmale gleichzeitig). Angenommen, man hat bei 1.000 Personen die Häufigkeit von 20 Freizeitbeschäftigungen erhoben: Nun geht es nicht um die Verschiedenartigkeit von 1.000 Varianten, sondern man versucht, ähnliche Kombinationen zu „Klumpen“, zu Clustern, zusammenzufassen. Statistische Maßzahlen geben hierbei Regeln vor, wann Fälle als ähnlich zu betrachten sind (durch Ähnlichkeits- oder Distanzmaße) und auch dafür, wie viele Cluster sinnvollerweise gebildet werden sollen. Im nächsten Schritt kann man die Cluster, z.B. auf der Grundlage von Freizeitbeschäftigungen, auf mögliche Einflussfaktoren prüfen. Sind z.B. in einem Cluster mit auffallend vielen außerhäuslichen Freizeitbeschäftigungen mehr Männer oder mehr Frauen oder Menschen einer bestimmten Altersgruppe vertreten? (vgl. ausführlicher zur Clusteranalyse Weltner 1976; Backhaus et al. 2011: Kap. 8). Ein anderes multivariates Verfahren in der Lebensstilforschung ist unter anderem durch die Untersuchungen P. Bourdieus bekannt: die Korrespondenzanalyse. Charakteristisch ist die graphische Darstellung als Koordinatensystem, auf diese Weise lassen sich in einem Schritt abhängige Merkmale (z.B. Freizeitbeschäftigungen) mit möglichen Einflussfaktoren verknüpfen, nicht erst im Nachhinein, wie bei der Clusteranalyse (s. zur Veranschaulichung Abbildung 21 in Kap. 6). Als grobe Faustregeln für eine Interpretation können unter anderem gelten: Räumlich nah beieinander liegende Merkmale symbolisieren zwar tatsächliche Ähnlichkeiten und Zusammenhänge (entsprechend ist es bei den Distanzen), aber dadurch, dass es sich um ein Vektormodell handelt, sind keine einfachen Distanzaussagen möglich. Wenn beispiels-
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5 Lebensstile und Milieus
weise eine der Achsen das Geschlecht abbildet, wird niemand „männlicher“ oder „weiblicher“ mit einer Eintragung höher oder niedriger auf der Achse. Eher ist es so, dass die Freizeitbeschäftigungen und die Einflussfaktoren jeweils eine Eintragung im Koordinatensystem erhalten; räumliche Nähe weist dann auf einen Zusammenhang hin (wenn z.B. eine Vorliebe für Bungee-Jumping, Rudern und Kneipenbesuche mit Freunden in der Nähe von männlichen Fachhochschulabsolventen anzutreffen wären). Je weiter dabei die Eintragungen vom Nullpunkt des Achsenkreuzes entfernt sind, desto mehr Aussagekraft kommt dem Einflussfaktor zu (genauer zur Korrespondenzanalyse Blasius 2001, zum Vergleich von Cluster- und Korrespondenzanalyse in der Lebensstilforschung Blasius/Georg 1992, zu Problemen beider Methoden auch Stein 2006: 136-140). Eine weitere multivariate Methode, die die Lebensstilforschung benutzt, ist die Faktorenanalyse (Backhaus et al. 1990: Kap. 3; zu multivariaten Verfahren bei der Auswertung mit SPSS Fromm 2007). Die „Konjunktur“ zahlreicher Lebensstiluntersuchungen hat nach den 1990er Jahren nachgelassen. Dies steht im Kontext eines verschiedentlich konstatierten generellen Umschwungs der Ungleichheitsforschung angesichts von Prozessen wie zunehmender Arbeitslosigkeit, Deregulierung von Erwerbsarbeit, Krise des Sozialstaats etc. hin zu wieder stärkerer Betonung vertikal strukturierter sozialer Ungleichheit (siehe auch Kap. 7.2) bzw. angesichts der Erkenntnis, dass ein Schwarz-Weiß-Bild von strukturiert („früher“) vs. pluralisiert („heute“) der Realität zu keinem Zeitpunkt angemessen war. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Lebensstile keinen Stellenwert mehr als Ungleichheitsansatz hätten. Es gibt zum einen weiterhin empirische Untersuchungen zu und Spezifizierungen von Lebensstilen wie auch von Milieus.19 Als ein Beispiel kann die Studie von P. Stein (2006) genannt werden, die den Einfluss der sozialen Position, der sozialen Herkunft und der sozialen Mobilität auf Lebensstile, insbesondere auf kulturelle Orientierungen, analysiert. In einer anderen Untersuchung überprüft Otte (2004) mit Hilfe einer dem eigenen Anspruch nach theoriegeleiteten, auf einer Synthese früherer Modelle beruhenden Typologie mit den Dimensionen Ausstattungsniveau und Modernität bzw. biographischer Perspektive die Erklärungskraft von Lebensstilen, z.B. für Partizipation in städtischen Szenen und Urlaubszielwahlen. Die statistische Erklärungskraft der Typen ist zwar mäßig und zeigt sich am ehesten in multivariaten Modellen; für einige Anwendungsbereiche, z.B. die Wohngebietswahl, sieht Otte auch nach wie vor eine Strukturierung durch „klassische“ Sozialstrukturmerkmale. Trotz dieser differenzierten Ergebnisse bildet die Studie jedoch ein Beispiel für die fortgesetzte Anwendung von Lebensstil19 Zu weiteren Publikationen über Milieus s. z.B. Hradil 2006b, die Beiträge in Bremer/Lange-Vester 2006 oder Vester et al. 2007.
5.2 Milieus
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analysen. In einem weiteren Sinne gilt dies auch für Rössels Plädoyer für eine „plurale Sozialstrukturanalyse“ (Rössel 2005), wobei er betont, dass sich Klasse, Milieu und Lebensstile nicht gegenseitig substituieren ließen und er zudem (handlungs-)theoretische Neuorientierungen vorschlägt, indem er etwa im Kontext von Lebensstilen lieber von kulturellen Präferenzen sprechen möchte (näher dazu in Rössel 2004, 2005, 2006b, 2009: 329-332). Zum anderen deuten verschiedene Bilanzierungen von Lebensstilanalysen (z.B. Meyer 2001a, Hermann 2004, Otte 2005, Rössel 2006b) auf eine fortbestehende Diskussion des Ansatzes hin – selbst wenn diese Bilanzen teilweise skeptisch ausfallen (siehe Kap. 5.3). Vor einer Abwägung der Kritikpunkte sollen nun jedoch zunächst die Spezifika von Milieumodellen erläutert werden. 5.2 Milieus Im Zuge der Einsicht, dass äußere Einflüsse (und nicht etwa z.B. allein Vererbung) das menschliche Dasein prägen, wurden bereits bei Comte, Durkheim und später z.B. bei Lepsius Überlegungen zum Milieu angestellt (Hradil 1992: 2125). Als Entwicklungstrends des Begriffs bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts stellt Hradil neben einem allgemeinen Aufschwung des Begriffs die zunehmende Betonung sozialer gegenüber natürlichen Umweltfaktoren und die Öffnung für subjektive Aspekte fest (das heißt für die Frage, welche Faktoren subjektiv bedeutsam sind). Aufgrund der Bevorzugung von Schichtmodellen mit deren Betonung objektiver Aspekte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Milieukonzepte dann aber erst wieder in den achtziger Jahren an Bedeutung, unter anderem durch die Untersuchungen des SINUS-Instituts. Das Lexikon zur Soziologie definiert „Milieu“ als Gesamtheit der äußeren, natürlichen (z.B. Klima) und der sozialen Umwelt (z.B. Gesetze) des Einzelnen bzw. einer Gruppierung, die auf die Entwicklung, Entfaltungsmöglichkeit und die Modalität sozialen Handelns Einfluss nimmt (Rammstedt 2007: 432). Hradil bestimmt den Begriff so: Milieus sind „Gruppen Gleichgesinnter, die gemeinsame Werthaltungen und Mentalitäten aufweisen und auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Menschen einzurichten und ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen und zu gestalten“ (1999: 41).
Kleinere Milieus, z.B. Stadtviertelmilieus, sind zudem häufig durch ein WirGefühl verbunden (ebd.). Im weiteren Sinne sind Milieus aber durchaus größere gesellschaftliche Gruppen, die Angehörigen müssen sich nicht unbedingt gegenseitig kennen oder räumlich nah (z.B. im „Rotlichtmilieu“) zusammenleben.
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5 Lebensstile und Milieus
Unterschiedliche Werte zu haben kann z.B. heißen, dass materielle Sicherheit Angehörigen eines „alternativen“ Milieus weniger wichtig ist als einem Beamten, oder Erfolg für Aufstiegsorientierte ein bedeutenderes Ziel ist als für „Hedonisten“. Milieus sind keinesfalls unabhängig von sozioökonomischen und soziodemographischen Bedingungen. Aber die Milieuangehörigen „filtern“ die „objektiven“ Bedingungen in milieuspezifischer Weise. Je nach Ansatz ist die Verknüpfung mit den „objektiven“ Merkmalen der sozialen Lage sogar recht eng, z.B. gibt es bei den SINUS-Milieus (s.u.) innerhalb von sozialen Schichten jeweils mehrere Milieus nebeneinander, die sich durch ihre Werte bzw. Grundorientierungen unterscheiden. Grenzen zwischen den einzelnen Milieus verlaufen dabei mit fließenden Übergängen. Schichten werden also nach diesem Ansatz differenziert oder ergänzt durch das Modell von Milieus, die nicht (allein) hierarchisch angeordnet sind. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen Lebensstilund Milieukonzepten? Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Lebensstil- und Milieumodelle dienen als Alternative zu Klassen- und Schichtkonzepten der traditionellen Art. Sie unterstellen keine einfache Kausalbeziehung von Handlungsbedingungen zu ihrer Wahrnehmung und Nutzung sowie zu Werten und Verhaltensweisen. Vielmehr kommen dem Handeln und den Entscheidungen sowie der Lebensweise der Akteure selbst relativ große Bedeutung zu. Die Modelle können mehrere Dimensionen integrieren und dadurch Realitätsnähe anstreben. Jedoch gibt es keine vollständige Loslösung von „objektiven“ Lebensbedingungen. Die Modelle ordnen den Lebensstilen und Milieus bestimmte Personengruppen zu oder fassen sie zu Typen zusammen. Milieus können sich teilweise sogar durch bestimmte Lebensstile konstituieren (z.B. bei Nowak/Becker 1985), es besteht also auch eine Ergänzungsmöglichkeit beider Konzepte (so auch bei Schulze 1992, s.u.). Bei dieser engen Verknüpfung beider Begriffe ist eine Abgrenzung nicht ganz einfach. Tendenziell lässt sich aber festhalten: Verhalten ist ein wichtiges Moment für Lebensstilkonzepte; dabei stehen die Aspekte der (zumindest teilweise bestehenden) Wahlfreiheit und der Expression im Vordergrund. Diese Wahlfreiheiten (und auch die Expressivität) unterstellt der Milieubegriff nur in begrenzterer Form, dort geht es stärker um milieuspezifische Wahrnehmungen und Nutzungen gegebener Bedingungen. Milieu ist also in einigen Begriffsbestimmungen (z.B. Hofmann/Rink 1996, Strasser/Dederichs 2000: 91) etwas näher an den „objektiven“ Gegebenheiten orientiert als Lebensstile, etwas mehr Meso- als Mikroebene (dennoch erhebt auch die Lebensstilforschung den Anspruch, gerade Makro- und Mikroebenen zu verbinden).
5.2 Milieus
105
Hradil unterscheidet zwischen „tiefsitzenden“ Werthaltungen als kennzeichnend für Milieus und demgegenüber typischen Verhaltens- und Meinungsroutinen von Lebensstilen (1999: 42). Eine klare Abgrenzung bedeutet dies allerdings nicht, wenn etwa Mentalitäten ihrerseits wiederum Verhaltensweisen prägen (a.a.O.: 430). Auch das Argument, Lebensstile würden sich schneller ändern und seien stärker Moden unterworfen als Milieuzugehörigkeiten (a.a.O: 42), ist zumindest nicht für alle Lebensstilansätze plausibel. Beispielsweise liegt bei Bourdieu dem Lebensstil ein sicherlich ebenfalls „tiefsitzender“ Habitus zugrunde (vgl. Kap. 6). Auch andere Begriffsbestimmungen von Lebensstil weisen auf die relative Stabilität hin, weil es beim Lebensstil nicht darum geht, ob man – etwa beim Kleidungsstil – enge oder weite Hosen je nach Mode trägt, sondern um dahinter stehende Prinzipien wie z.B. „modische“ oder „solide“ Kleidung tragen. Otte sieht Lebensstile als den „expressiven Kern“ von Milieus an, zu denen zusätzlich die Zuordnung von Kontextbedingungen (z.B. die soziale Lage oder Netzwerke) gehört (1997: 306). Allerdings bleiben auch Lebensstilanalysen meist nicht auf einer individuellen Ebene stehen, sondern verknüpfen Lebensstile mit sozialstrukturellen Trägergruppen. Es lässt sich festhalten, dass die Rolle von Werten in den einzelnen Konzepten unterschiedlich ist: Bei Lebensstilmodellen sind sie manchmal konstituierendes Merkmal, manchmal ein Einflussfaktor; bei einigen Milieumodellen sind sie eine zentrale Dimension, aber bei dem unten beschriebenen Ansatz von Schulze ist die „Lebensphilosophie“ nur ein Merkmal unter mehreren. Die Kennzeichen von Milieumodellen erschließen sich noch deutlicher, wenn im Folgenden einige konkrete Ansätze vorgestellt werden. Die SINUS-Milieus Der Ausgangspunkt einer Studie von U. Becker und H. Nowak (1985) im Auftrag des SINUS-Institutes bestand darin, Lebenswelten über subjektive Lebenslagen und -stile zu erfassen. Dementsprechend definieren sie soziale Milieus: „Soziale Milieus fassen ... Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, die also subkulturelle Einheiten in der Gesellschaft bilden.“ (Nowak/Becker 1985: 14)
Die Untersuchung dieser Lebensweisen ist eng an die Interessen der Marktforschung geknüpft, anhand der Milieus (und entsprechend typischer Konsumstile ihrer Angehörigen) sollen Produzenten von Konsumgütern ihre Zielgruppen erkennen und die Werbung darauf abstimmen können.
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5 Lebensstile und Milieus
Nach qualitativen Interviews Ende der siebziger Jahre gab es 1982 die erste quantitative Überprüfung. Es ergaben sich laut Becker/Nowak acht Milieus in einem Koordinatensystem, dessen waagrechte Achse nach traditionellen bis postmateriellen Wertorientierungen20 geordnet war und dessen senkrechte Achse eine Schichteinteilung darstellte. Das Modell wurde seither in repräsentativen Erhebungen auf Veränderungen der Milieugrößen untersucht, teilweise wurden die Milieus neu zugeschnitten und/oder umbenannt. Nach einer spezifischen Systematik für Ostdeutschland 1991 gab es ab 2000 ein gesamtdeutsches Milieumodell. Das Modell wird auch auf andere Zielgruppen als die Bevölkerung Deutschlands angewandt, z.B. auf Migrant/innen in Deutschland oder auf die Bevölkerung anderer Länder. Die Achsen des Modells bilden weiterhin horizontal die Grundorientierungen (2010 lauten die Ausprägungen „Tradition“, „Modernisierung/Individualisierung“ und „Neuorientierung“) und vertikal soziale Lagen auf der Basis von Bildung, Beruf und Einkommen. Die Anpassung der Milieukonstruktion erfolgt fortlaufend (z.B. dominierten noch 2007 die „Konsum-Materialisten“ die modernisierte Orientierung in der unteren Mittelschicht bzw. Unterschicht, 2010 findet man hier das Milieu der „Prekären“; www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html). Für das Jahr 2010 sind die sich teilweise überlagernden Milieus wie folgt verteilt:
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„Traditionelle“ Werte sind z.B. Pflichterfüllung oder materielle Sicherheit, „postmaterielle“ Werte z.B. Selbstverwirklichung oder Partizipation; vgl. zum Wertewandel Inglehart 1977, 1995; Meulemann 1996; Gensicke 1996; Klages/Gensicke 1999; Oesterdieckhoff/Jegelka 2001.
5.2 Milieus
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Abbildung 14: Die Sinus-Milieus 2010
Quelle: Sinus Institut (http://www.sinus-institut.de/uploads/tx_mppress/Modellwechsel_2010_neue_Charts.pdf)
Am Beispiel der „Expeditiven“ soll angedeutet werden, welche (schlagwortartigen) Merkmale sich hinter einer Milieubezeichnung verbergen: Sie sind die unkonventionelle, kreative Avantgarde, hyperindividualistisch, mental und geografisch mobil, digital vernetzt und immer auf der Suche nach Veränderungen (das Modell geht somit davon aus, dass sich die Wertorientierungen auch in typischem Verhalten ausdrücken). Nach einem ähnlichen Schema identifiziert das Institut auch länderübergreifende, so genannte „Meta-Milieus“. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen verschiedener Länder, aber vergleichbarer Milieus oft mehr miteinander verbindet als mit ihren Landsleuten, die anderen Milieus zugehören. Zu solchen gemeinsamen Grundorientierungen gehören in Westeuropa laut Sinus traditionelle, etablierte, intellektuelle, moderne Mainstream-, konsum-materialistische, sensationsorientierte und „modern performing“-Milieus. Die sowohl vertikal als auch horizontal in der Mitte angesiedelte „modern mainstream“-Orientierung beispielsweise zeichnet sich durch den Wunsch nach einem angenehmen und harmonischen Leben sowie durch das Streben nach materieller und sozialer Sicherheit aus (vgl. Hradil 2006b: 10).
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5 Lebensstile und Milieus
Kritisch wendet G. Schulze zu den Sinus-Milieus ein, dass subjektive Dimensionen (über Werthaltungen) nur eindimensional erfasst würden und die Aufnahme von Kategorien der Schichtungsforschung verwundere, nachdem doch gerade der Zweifel an empirisch auffindbaren Schichten die Forschenden geleitet hätte (1990: 421). H.-P. Müller führt an, dass die Determinanten z.B. der Milieubildung und des Milieuwechsels ausgeblendet bleiben und dass das Modell zwar individuellen Wertewandel, aber nicht ausreichend den Zusammenhang zum sozialstrukturellen und institutionellen Wandel berücksichtige (Müller 1989: 63). Milieus nach Vester et al. Vester et al. (1993, 2001) untersuchen aus einer enger soziologischen Perspektive ausdrücklich „soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“. Sie bezeichnen Milieus, auch mit Verweis auf Bourdieu, als Gruppen mit ähnlichem Habitus und ähnlicher Alltagskultur (2001: 24) und stellen fest: „Die sozialen Milieus … haben sich seit der Entstehung der Bundesrepublik erheblich verändert. Als fest gefügte politische Großgruppen, die sich als kämpfende Lager scharf gegeneinander abgrenzen, bestehen sie nicht mehr. Als lebensweltliche Traditionslinien, die sich nach dem Stil und den Prinzipien ihrer alltäglichen Lebensführung unterscheiden, wirken sie fort … Gleichwohl sind diese großen Traditionslinien heute immer noch durch erhebliche Kulturschranken und gegenseitige Vorurteile voneinander getrennt.“ (Vester et al. 2001: 13).
Die Veränderungen der Milieus kennzeichnen die Autoren so, dass die historischen Traditionslinien der Milieus fortbestehen, sich aber differenziert und modernisiert haben. Sie haben sich, wie Familienstammbäume, in neue Zweige mit stärkeren „postmateriellen“ oder „individualisierten“ Einzelzügen aufgefächert (a.a.O.: 16, 33). Die sozialen Milieus nach Vester et al. in Westdeutschland sehen dann 2003 so aus:
5.2 Milieus Abbildung 15: Die sozialen Milieus in Westdeutschland 2003
Quelle: Bremer/Lange-Vester 2006: 14
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5 Lebensstile und Milieus
Dabei bildet die vertikale Achse wiederum Herrschaft ab, das Mehr oder Weniger von sozialen Chancen, Wohlstand, Macht und Einfluss. Horizontal machen die Autoren Unterschiede an den Einstellungen zur Autorität fest, von autoritärer bis zu avantgardistischer Grundeinstellung. Auch dieses Milieumodell geht also von unterschiedlichen Werteinstellungen auf der horizontalen Ebene aus. Die Veränderungen der letzten 25 Jahre, das war bereits zwischen 1982 und 1995 zu erkennen (Vester et al. 2001: 48/49) und zeigt sich im Modell von 2003 wieder, bewegen das Ungleichheitsgefüge dabei nicht in seinen Grundprinzipien, sondern demonstrieren langsame Veränderungen meist innerhalb der größeren Trennlinien. So waren beispielsweise das bildungsbürgerliche und das gehobene Dienstleistungsmilieu 1995 noch zusammengefasst zum „liberal-intellektuellen Milieu“, das zu der Zeit circa 10% ausmachte. Ein Novum der Milieudarstellung 2003 gegenüber 1995 besteht zudem in der Hervorhebung von „Trennlinien“ der Distinktion und der Respektabilität (siehe auch Bremer/Lange-Vester 2006: 15). Wenn Vester – ohne die horizontale Differenzierung von Milieus aufzugeben – eine verstärkte vertikale Dreiteilung der Gesellschaft feststellt, in der unterprivilegierte Verliergruppen zunehmend von den „respektablen“ Standards sozialer Teilhabe ausgeschlossen würden (Vester 2005: 28), so verknüpft er den mehrdimensionalen Milieuansatz mit einer wiedergekehrten Aufmerksamkeit für prekäre soziale Lagen und Ausgrenzung (siehe Kap. 7.2). Milieumodelle weisen in diesem Kontext unter anderem darauf hin, dass die Akteure sich nicht passiv äußeren Verhältnissen anpassen, sondern ihre bisherigen Lebensweisen und Haltungen mit veränderten Bedingungen immer wieder – auf milieuspezifische Weise – neu abstimmen. So erläutert Vester, dass zumindest ein Teil der unterprivilegierten, besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Milieus trotz der schwierigen äußeren Bedingungen nicht resigniert, sondern z.B. informelle Gelegenheitsarbeiten annimmt und auf die damit einhergehenden Unsicherheiten teilweise besser vorbereitet ist als Menschen in den „mittleren“ Milieus, für die Beständigkeit und Zuverlässigkeit wichtige Werte darstellen (Vester 2006: 269273). Die Erlebnisgesellschaft Gerhard Schulze leistete insbesondere mit seiner Veröffentlichung „Die Erlebnisgesellschaft“ von 1992 einen populär gewordenen Beitrag zum Thema. Die Individuen in der Erlebnisgesellschaft, die er für Deutschland ab den achtziger Jahren konstatiert, sind erlebnisorientiert im Sinne einer unmittelbaren Form der Suche nach Glück (sie wollen es möglichst sofort), das Projekt des „Schönen
5.2 Milieus
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Lebens“ tritt als ein Massenphänomen auf, und der Erlebniswert von Gütern gewinnt gegenüber dem Gebrauchswert an Bedeutung (z.B. möchte man vielleicht lieber einen schicken Geländewagen fahren statt „irgendein“ gegebenenfalls sparsameres Auto). Das erlebnisorientierte (synonym: innenorientierte) Handeln hat also das Ziel, schöne Erlebnisse für sich selbst herbeizuführen. Was Menschen jeweils als schön empfinden, ist dabei milieuabhängig, jedoch gibt es letztlich keine Festlegungen für ein „schönes“ Erlebnis: Unsicherheiten, welche Entscheidung man treffen soll, und Enttäuschungen (eine besuchte Veranstaltung war z.B. nicht das erhoffte „Event“) bleiben typische Begleiterscheinungen der Erlebnisorientierung. Nicht jede Handlung muss zudem innenorientiert sein, sondern diese Haltung ist graduell zu verstehen. Beispielsweise zieht man seine Kleidung gegebenenfalls nicht nur an, um sich schön zu fühlen, sondern auch – das wäre außenorientiert –, um einen guten Eindruck zu erzielen. Als Tendenz gilt aber in der Erlebnisgesellschaft: „Handelt man erlebnisrational, wird man andere Entscheidungen treffen, als wenn es etwa darum geht, das Überleben sicherzustellen, kollektiven Zielen zu dienen oder göttlichen Geboten zu folgen“ (Schulze 1992: 41; zur fortgesetzten Erlebnisorientierung auch Schulze 2000).
Dies deutet an: Auch für die Erlebnisgesellschaft gilt als Vorbedingung, dass die Gesellschaft eine relative Wohlstandsgesellschaft ist, die den Individuen vergleichsweise große Wahloptionen eröffnet. Das erlebnisorientierte Handeln formt sich nun nach Schulze im persönlichen Stil zu einem stabilen, situationsübergreifenden Muster. Der persönliche Stil ist ein deutliches Zeichen bei der Konstitution sozialer Milieus, was zeigt, dass Lebensstil- und Milieukonzepte eng miteinander verbunden sein können, in diesem Fall sogar innerhalb eines Ansatzes. Nach Schulzes Terminologie lassen sich Stiltypen durch alltagsästhetische Schemata zum Ausdruck bringen. Diese sind zum einen durch bestimmte Zeichen charakterisiert (wie gehabt: z.B. Kleidung, Möbel, besuchte Veranstaltungen, bevorzugte Fernsehsendungen), zum anderen durch bestimmte Bedeutungsebenen, die Schulze durch Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie näher bestimmt. Es gibt nach Schulze drei hauptsächliche alltagsästhetische Schemata, und zwar das Hochkultur-, das Trivial- und das Spannungsschema (vgl. Schulze 1992, besonders Kap. 2 und 3). Der Musikgeschmack ist ein Beispiel, um die Schemata näher zu konkretisieren. Im Hochkulturschema interessiert man sich – etwas pauschal kategorisiert – für klassische Musik, im Trivialschema hört man Schlager und bei einer Nähe zum Spannungsschema Rockmusik. Mit einem Wort lässt sich das Hochkulturschema als „schöngeistig“ charakterisieren, schließt dabei aber eine gewisse Selbstironie ein. Auf der Genuss-
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ebene ist die Kontemplation kennzeichnend. Dazu gehört auch eine Zurücknahme des Körpers, z.B. sind laute Heiterkeitsausbrüche verpönt. Auf der Distinktionsebene wählt Schulze die Kennzeichnung „anti-barbarisch“, kulturelle Feindbilder sind insbesondere der Bier trinkende Viel-Fernseher oder der Bildzeitungsleser. Überspitzt gesagt, liest man zudem ein Buch oder besucht ein Museum nicht für den Genuss, sondern weil man etwas auf sich hält. Die Lebensphilosophie zeichnet sich durch eine relative Neutralität gegenüber Inhalten aus, es gibt eher eine Begeisterung für Perfektion. Das Trivialschema wird häufig abfällig beurteilt, die Inkarnation dieser Vorstellung bildet der Gartenzwerg. Das hervorstechende Merkmal auf der Ebene des Genusses ist hier die Gemütlichkeit. Erlebnisse sollen nicht anstrengen, man ist eher auf der Suche nach dem Gewohnten. Hinsichtlich der Distinktion gab es lange eher eine Abgrenzung anderer von dem Trivialschema als eine eigene distinktive Position, die sich aber mittlerweile entwickelt hat, und zwar ist sie anti-exzentrisch. Die Lebensphilosophie des Schemas lautet Harmonie als Kultur der schönen Illusion (wie sie etwa Happy Ends in Erzählungen repräsentieren). Das Spannungsschema schließlich ist das historisch jüngste Schema, für das Unruhe, Abwechslung und Bewegung typisch sind. Dies drückt sich auch auf der Genussebene als Suche nach Action, nach immer Neuem aus, der Körper wird dabei expressiv eingesetzt, z.B. in der Disco oder beim Sport. Die Distinktionsweise ist anti-konventionell, Feindbilder sind z.B. biedere Familienväter oder „Sonntagsfahrer“. Die Lebensphilosophie ist hier schließlich eine des Narzissmus: Im Hochkulturschema wird das Ich an den Ansprüchen gemessen, im Trivialschema an der Ordnung, im Spannungsschema jedoch ist das Ich nur mit sich selbst konfrontiert. Der Maßstab ist hier die subjektiv erfolgreiche Unterhaltung oder Selbstverwirklichung.
5.2 Milieus
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Abbildung 16: Alltagsästhetische Schemata nach Schulze Alltagsästhetische Schemata
Typische Zeichen (3 Beispiele)
Bedeutungen
Hochkulturschema
Klassische Musik, Kontemplation Museumsbesuch, Lektüre „guter Literatur“
Genuss
Trivialschema Deutscher Schlager, Fernsehquiz, Arztroman Spannungsschema
Gemütlichkeit
Rockmusik, Action Thriller, Ausgehen (Kneipen, Discos, Kinos usw.)
Distinktion
Lebensphilosophie
Anti-barbarisch Perfektion
Anti-exzentrisch
Harmonie
Anti-konventio- Narzissmus nell
Quelle: Schulze 1992: 163 Es gibt nun keine einseitige Zuordnung zu nur einem Schema, die Affinität zu einem Schema allein macht noch kein Milieu aus, sondern die Position eines Individuums bestimmt sich durch Nähe bzw. Distanz zu allen Schemata: Abbildung 17: Milieus und alltagsästhetische Schemata nach Schulze Milieuspezifische Varianten der Erlebnisorientierung
Übersetzung in den dimensionalen Raum alltagsästhetischer Schemata (Stiltypen) „+“ bedeutet Nähe, „-“ bedeutet Distanz Hochkulturschema Trivialschema
Spannungsschema
Streben nach Rang (Niveaumilieu)
+
-
-
Streben nach Konformität (Integrationsmilieu)
+
+
-
Streben nach Geborgenheit (Harmoniemilieu)
-
+
-
Streben nach Selbstverwirklichung (Selbstverwirklichungsmilieu)
+
-
+
Streben nach Stimulation (Unterhaltungsmilieu)
-
-
+
Quelle: Schulze 1992: 165
114
5 Lebensstile und Milieus
Fünf typische Kombinationen (eine gleichzeitige Nähe von Trivial- und Spannungsschema ist eher untypisch) bilden schließlich die sozialen Milieus. Diese definiert Schulze als „Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben“ (1992: 174). Dabei meint Binnenkommunikation innerhalb einer sozialen Großgruppe natürlich nicht, dass jeder jeden kennt, sondern dass Angehörige desselben Milieus mit größerer Wahrscheinlichkeit aufeinander treffen, z.B. im Freundeskreis oder in Vereinen (ebd.). Die spezifischen Nähe-Distanz-Kombinationen zu den alltagsästhetischen Schemata beschreiben also die Milieus: Abbildung 18: Das Milieumodell von Schulze Bildung
Selbstverwirklichungs milieu
Niveaumilieu
Integrationsmilieu Unterhaltungsmilieu Harmoniemilieu
Alter Quelle: Schulze 1992: 384 So weist das Selbstverwirklichungsmilieu die gleichzeitige Affinität zum Hochkultur- und zum Spannungsschema auf. Dort sind Menschen zu finden, die sich unter anderem für Kleinkunst, aber auch für klassische Musik und Rock und Pop interessieren, einen großen Freundeskreis haben sowie Individualtourismus und
5.2 Milieus
115
Naturkostläden mögen (ausführliche Milieubeschreibungen in Schulze 1992, Kap. 6).21 Wer zu welchem Milieu gehört, ist jedoch nicht zufällig, sondern insbesondere durch zwei Dimensionen festgelegt, die für Interaktionspartner vergleichsweise leicht erkennbar sind: Alter und Bildung, wobei das Alter dichotom unterteilt ist in jünger und älter als etwa 40 Jahre (Schulze legt sich nicht fest, ob es sich um einen Alters- oder Kohorteneffekt handelt). Bildung ist in niedrigere und höhere, bei den älteren Milieus zudem in mittlere Bildung gegliedert, so dass die fünf Milieus vergleichsweise klar zuzuordnen sind (ohne dass es einen Determinismus gibt). Eine hierarchische Struktur durch das Bildungsniveau wird dabei gebrochen durch die Altersdimension, was Schulze mit „gespaltener Vertikalität“ bezeichnet: „Eindeutig überlagert eine moderne, fast ausschließlich erlebnisorientierte Altersschichtung die traditionelle Bildungs- und Berufsschichtung, deren soziale Interpretation als hierarchische Ungleichheit dadurch immer mehr verdrängt wird … Der Vertikalisierungseffekt der Bildung wird durch den Horizontalisierungseffekt des Lebensalters konterkariert“ (a.a.O.: 401).
Der Gesamtzusammenhang von sozialer Lage und Milieus sieht wie folgt aus: „Jedes Milieu enthält eine Mehrzahl von sozialen Lagen; bestimmte soziale Lagen treten in mehreren Milieus auf; gleichzeitig ist aber auch eine deutliche milieuübergreifende Abstufung zu erkennen – nicht nur für Sozialwissenschaftler, sondern auch für die Menschen im Alltag“ (ebd.).
Dieses Erkennen führt jedoch nicht zu einer hierarchischen Einordnung oder gar einem Milieukonflikt entsprechend einem Klassenkonflikt: „Zwischen den Milieus herrscht ein Klima von Indifferenz oder achselzuckender Verächtlichkeit, nicht geregelt und hierarchisiert durch eine umfassende Semantik des Oben und Unten“ (a.a.O.: 405).
Zwar gibt es nach wie vor eine stabile vertikale Ordnung etwa von Berufen nach dem Prestige, doch ist das Berufsprestige für den Gesamtstatus einer Person, für ihre Einschätzung durch andere weniger wichtig geworden. Ein Kritikpunkt, den manche Autoren an Schulzes Modell (und gelegentlich an Lebensstilanalysen allgemein) äußern, lautet, dass es nur in Phasen relativ 21
Die Ergebnisse beruhen auf einer Befragung von etwa 1000 Personen zwischen 18 und 70 Jahren in Nürnberg von 1985. Die alltagsästhetischen Schemata bestimmten die Forscher anhand von Faktorenanalysen und Verfahren der klassischen Testtheorie.
116
5 Lebensstile und Milieus
großen Wohlstands gültig sei (im Deutschland der achtziger Jahre also gerade noch zutreffend gewesen sein mag), bei zunehmender Knappheit jedoch an Geltungskraft verliere. Beispielsweise schreibt Neckel: „Gerhard Schulze indes entwirft eine Kultursoziologie über Leute, die Geld ausgeben, aber keines verdienen müssen“ (1998: 211). H.-P. Müller betont die wieder zunehmende Bedeutung von Bildung, Beruf und Einkommen in der „neubundesdeutschen Knappheitsgesellschaft“ (1995: 933f.). Dagegen ist einzuwenden, dass man Erlebnisorientierung auch weiter fassen kann und dann z.B. Genuss eine Pflicht sein kann, um die eigene Stellung im sozialen Raum zu legitimieren (so geht es dem neuen Kleinbürgertum nach Bourdieu), oder dass Gewalt bei Jugendlichen Folge einer Erlebnisorientierung sein kann, die dann gerade eine soziale Reaktionsform auf Krisensituationen ist (so etwa Funke 1997: 324-326). Auch Müller-Schneider ist der Meinung, dass sich die innenorientierte Erlebniskultur nicht allein (möglicherweise sogar immer weniger) auf Konsum richtet, sondern auch auf andere Bereiche, z.B. auf die Gestaltung des Liebeslebens und anderer Kontakte oder auf die Freizeit, für deren Erweiterung manche Menschen Einkommenseinbußen in Kauf nehmen. Außerdem seien die gegenwärtigen Einkommenseinbußen angesichts der Wohlstandsentwicklung der vorangegangenen Jahrzehnte zu relativieren (1998: 148-154). Als Ergebnis eines Zeitvergleichs der Daten aus dem Jahr 1985 mit Daten aus den Jahren 1993 und 1998 resümiert er, dass sowohl die alltagsästhetischen Schemata als Stilmuster als auch die Prägung durch Bildung und Lebensalter, nicht jedoch durch die Einkommensstärke, stabil geblieben seien (Müller-Schneider 2000: 37). Schnierer warnt demgegenüber, die Werte der erlebnisorientierten Akteure könnten auch ein ideologischer Schleier sein, der Schulze wie auch den Akteuren selbst den Blick auf den Wettbewerb um begehrte soziale Positionen in seiner Härte verstelle. Die Nicht-Erreichbarkeit dieser Positionen bekommt dann z.B. dadurch ein Ventil, dass man sagt: „Ich habe ohnehin keine Lust, mich für den beruflichen Aufstieg ‚kaputtzumachen’ “ (Schnierer 1996: 80f.). Eine empirische Bestätigung der Erlebnisgesellschaft wiederum liefert Lechner (2003). Nach seinen Befunden ist eine alltagsästhetisch dominierte Milieustruktur Mitte der neunziger Jahre auch in Ostdeutschland (konkret in Chemnitz) festzustellen. Hinsichtlich einer vor allem in den USA ausgearbeiteten These des „kulturellen Allesfressers“ (cultural omnivore), wonach die Orientierung an Hochkultur von einer Vorliebe für kulturelle Vielfalt abgelöst worden sei, kommt Rössel anhand einer Untersuchung von Kinobesucherinnen und -besuchern in Leipzig zu dem Schluss, dass dieses Konzept nicht umstandslos auf die deutsche Situation zu übertragen sei. Anstelle eine „Hochkultursnobismus“ (dies auch mit Bezug auf Bourdieus Ansatz, siehe Kap. 6) sei eher eine „dosierte Grenzüber-
5.2 Milieus
117
schreitung zwischen einem hochkulturellen und einem populären Geschmack“ erkennbar (Rössel 2006a: 270). Danach ist die Aussagekraft alltagsästhetischer Schemata nicht als überholt anzusehen. Allgemein lässt sich zu Milieu- und Lebensstilansätzen anhand dieser Kontroverse nochmals festhalten: Sie unterstellen keine Loslösung von sozialstrukturellen Merkmalen, aber der Zusammenhang zwischen diesen Strukturen und dem typischen Handeln der Akteure ist komplexer geworden. Alltägliche Lebensführung An dieser Stelle soll noch ein weiteres Konzept dargestellt werden, das durch den Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung auch ungleichheitstheoretische Fragen behandelt und das konzeptionell in der Nähe von Milieu- und Lebensstiluntersuchungen (allerdings mit einem etwas anderen Schwerpunkt) liegt: Der Ansatz der Alltäglichen Lebensführung. Ab Mitte der achtziger Jahre haben verschiedene Forscher, ausgehend vom Sonderforschungsbereich „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ der Universität München, das Konzept der Alltäglichen Lebensführung entwickelt (vgl. z.B. Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995, Kudera/Voß 2000, Voß/Weihrich 2001, Weihrich/Voß 2002, www.arbeitenundleben.de/alf-start.htm). Die Ausgangsüberlegung besteht darin, dass im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels die Beziehung zwischen Arbeit und „Leben“ komplizierter wird, dass zunehmende Entscheidungsmöglichkeiten auch Aushandlungsprozesse mit sich bringen, dass jeder in seinem Alltag viele Dinge und Rollen „unter einen Hut“ bekommen muss. Die Akteure sind den Strukturbedingungen nicht ausgesetzt, sondern konstruieren ihre Lebensführung (der Begriff orientiert sich grob an Webers Überlegungen) auch selbst. Unter Lebensführung verstehen die Forscher dabei, „was Personen immer wieder tagaus tagein in ihren verschiedenen Lebensbereichen (Beruf, Haushalt, Familie, Freundeskreis, Vereine u.a.m.) tun.“ (Rerrich/Voß 2000: 150). Das Konzept betont das Gesamtarrangement der Handlungspraxis im Alltag der Akteure (wenngleich auch ihre subjektiven Deutungen nicht unerheblich sind) und richtet sich dabei zum einen auf deren aktive Konstruktionsleistung zwischen äußeren Bedingungen und eigenen Präferenzen, zum anderen aber auch auf die Entwicklung einer gewissen Eigenlogik der Lebensführung gegenüber den Akteuren (Voß 1995, Rerrich/Voß 2000). Eine häufig erwähnte Basis der Analyse ist eine „subjektorientierte“ Perspektive (vgl. Voß/Pongratz 1997), doch beansprucht das Konzept auch, eine Verbindung zwischen Mikro- und Makroperspektive herzustellen, weil es Vergesellschaftungen, den Rahmen sozialer Bedingungen andererseits nicht unterschlägt. Bolte sieht Lebensführung
118
5 Lebensstile und Milieus
als „zentrales Kupplungssystem“ zwischen Individuum und Gesellschaft (Bolte 2000: 145). Nicht zu verwechseln ist dieses Konzept der Alltäglichen Lebensführung übrigens mit Ottes Begriff der Lebensführung, den er verwendet, um in der Lebensstilanalyse neue Akzente zu setzen (2004).22 Das hier charakterisierte Konzept der Alltäglichen Lebensführung haben Forscher in verschiedenen empirischen Untersuchungen angewandt. Sie kamen dabei zu Typisierungen der Alltäglichen Lebensführung spezifischer Untersuchungsgruppen, die daher nicht unbedingt vergleichbar sind. Bolte (2000) arbeitet übergreifende Typen mit den Dimensionen Außengeleitetheit vs. Eigeninitiative, gleichförmig vs. variabel sowie kurzfristig vs. dauerhaft heraus. Es ergeben sich verschiedene Varianten „außen geleitet konstanter“ Lebensführung, „mitbestimmter“ Lebensführung und „selbst bestimmter“ Lebensführung, außerdem die „resignative“ und die „chaotische“ Lebensführung. Die Form der Lebensführung sagt dabei noch nichts über die subjektive Zufriedenheit aus. Das allgemeine Konzept der Alltäglichen Lebensführung stellt also eine Verbindung zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen her, ein Anspruch, den vergleichbar auch die Milieu- und Lebensstilanalysen formulieren. Die Mikro-Makro-Verknüpfung der Alltäglichen Lebensführung ist dabei nicht per se auf soziale Ungleichheit gerichtet. Dieser Zusammenhang ist jedoch herstellbar. Rerrich/Voß (2000) zeigen etwa an zwei Fallbeispielen, dass die betrachteten Männer gleichen Alters aus der Perspektive von Dimensionen „klassischer“ Ungleichheitsforschung unterschiedlich einzuordnen sind. Der eine, angelernter Arbeiter im Schichtsystem mit bäuerlicher Herkunft, hat es schlechter getroffen als der andere, Sohn eines Landarztes und qualifizierter Journalist. Auf den zweiten Blick, wenn man auch die Lebensführung berücksichtigt, wird das Bild mindestens ambivalenter. Der vermeintliche „Underdog“ präsentiert sich zufrieden, er hat ein Eigenheim, seine Frau verrichtet die Hausarbeit, einen großen Teil seiner arbeitsfreien Zeit widmet er seinen Hobbys. Der freiberufliche Journalist hingegen ist ständig auf der Suche nach neuen Aufträgen, das Preisniveau ist in der Großstadt zudem recht hoch, er empfindet seine Lebenssituation wesentlich prekärer. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Alltägliche Lebensführung die soziale Lage relativieren kann, unter anderem durch die aktive Aneignung der äußeren Bedingungen. In ihren Worten:
22
Otte fügt in seinem Verständnis von Lebensführung manifeste Lebensstile mit latenten Wertorientierungen zusammen (2004: 57). Dabei geht es gerade nicht um das Gesamtarrangement, durch das der Akteur den Alltag „unter einen Hut“ bekommt, wenngleich es im Detail Überschneidungen geben kann (z.B. bei Ausdrucksformen einer offenen vs. geschlossenen biographischen Perspektive).
5.2 Milieus
119
„In der alltäglichen Lebensführung laufen die verschiedenen ungleichheitsrelevanten Faktoren aus dem sozialen Lebensumfeld von Personen zusammen, woraus nicht direkt daraus ableitbare, sondern relativ kontingente Interferenzaspekte für soziale Benachteiligungen oder Privilegierungen der Betroffenen entstehen“ (Rerrich/Voß 2000: 158).
Jürgens (2002) stellt eine andere Lesart der Befunde vor. Wenn man die Lebensbedingungen differenzierter sieht als Rerrich und Voß in ihrem ersten Schritt der Fallanalyse, haben die beiden Personen unterschiedliche Positionen im sozialen Raum (gemäß Bourdieus Konzept) bzw. sind einem anderen Milieu (mit Verweis auf Vester et al.) zuzuordnen. Bereits auf der – differenziert betrachteten – „objektiven“ Ebene würden die Unterschiede der beiden Männer also deutlich werden, nicht erst die Alltägliche Lebensführung macht den Unterschied aus. Damit ist das Konzept der Alltäglichen Lebensführung aus Jürgens’ Sicht für die Ungleichheitsforschung jedoch nicht obsolet geworden. Die Lebensführung kann durchaus eine Ressource oder eine Restriktion darstellen, z.B. kann sich der Journalist leichter an veränderte Rahmenbedingungen anpassen (er hat eine „offenere“ Lebensführung). Milieu- oder Lebensstilstudien erfassen zudem weniger die alltäglichen Koordinations- und Synchronisationsleistungen der Individuen. Ein weiteres Potential der Alltäglichen Lebensführung liegt in der Untersuchung verschränkter Lebensführung, z.B. in Paarbeziehungen (Ansätze dazu in Jürgens 2001) oder auch im Erwerbsleben. Daher können die Forschungsrichtungen gegenseitig füreinander anregend sein: „Genese und sozialstrukturelle Verortung von Lebensführung sind ebenso zentral wie die systematische Aufdeckung alltäglicher Vereinbarkeitsleistungen, in denen sich soziale Ungleichheiten widerspiegeln und reproduzieren“ (Jürgens 2002: 88). Mit der dichten Beschreibung typischer Alltäglicher Lebensführungen kann das Konzept einen wichtigen Bestandteil für weitere Untersuchungen liefern, den andere Ansätze in dieser Form bislang nicht berücksichtigten (die „sozialen Lagen“ etwa streben eher komplexe Beschreibungen auf der „anderen“, der objektiven Seite, an, Lebensstile und Milieus sind zwar ebenfalls ganzheitlich orientiert, doch fehlen ihnen die erwähnten Elemente, insbesondere legen sie weniger Gewicht auf das Gesamtarrangement der Lebensführung im Alltag). Eine Aggregation der Ergebnisse des Konzepts Alltägliche Lebensführung zu einem Modell sozialer Ungleichheit bzw. eine systematische Verknüpfung z.B. mit Milieumodellen gibt es jedoch bislang nicht. Auf eine weitere mögliche Ergänzung macht Nollmann (2003) aufmerksam. Er weist – ohne ausdrückliche Abgrenzung zu bestimmten Lebensstil- oder Milieumodellen – darauf hin, dass die empirische Analyse der Transformationsprozesse von „Verschiedenheit“ in soziale, bewertete Ungleichheiten noch in den Kinderschuhen stecke. Er spricht somit durch die Betonung von Konstruktions-
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5 Lebensstile und Milieus
leistungen einer „Kultur“ der sozialen Ungleichheit einen noch höheren Stellenwert zu als dies viele Lebensstil- und Milieumodelle tun. Inhaltlich argumentiert er unter diesem Blickwinkel, dass soziale Ungleichheit zugenommen habe, weil z.B. Geschlechterungleichheiten unabhängig vom Ausmaß der Ungleichverteilungen in den letzten Jahrzehnten stärker als soziale Ungleichheiten wahrgenommen und öffentlich thematisiert würden. Diese Sichtweise ist sicherlich selbst wieder diskussionswürdig, doch thematisiert auch sie eine möglicherweise sinnvolle Erweiterung der Ungleichheitsperspektive. 5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung Wieder zurück zum „mainstream“ der Lebensstil- und Milieuanalyse: Ist sie das analytische Instrument der Wahl zur Beschreibung und Erklärung sozialer Ungleichheit? Dass dies umstritten ist, deuten Kritikpunkte und offene Fragen ebenso an wie die Wiederbetonung vertikaler Strukturen in der Ungleichheitsdebatte der letzten Jahre. Die Kritiker beziehen sich dabei häufig auf Lebensstile, durch die Nähe und Überschneidungen zu Milieustudien richten sich die Argumente jedoch oft auch auf diese.
Ein Vorwurf lautet, die Lebensstilforschung gehe zu beschreibend vor ohne genügend Theorieanbindung. Dies ändere sich auch nicht durch einen pauschalen Verweis auf soziologische Klassiker oder die Individualisierungsthese Becks (Bourdieu kann man diesen Vorwurf am wenigsten machen, in diesem Fall tritt eher die Kritik auf den Plan, dass er den Einfluss ökonomischer Aspekte auf den Lebensstil letztlich als zu groß ansetze, vgl. das folgende Kapitel). Garhammer formuliert den Einwand so: „Kaum eine der Arbeiten … stellt … die Frage, die doch erst mal zu klären wäre: Was bedeutet es für die moderne Gesellschaft, wenn das Leben zu einer Stilfrage wird?“ (2000: 297). Und im Weiteren: „Der Nachweis durch Hartmann, Georg und Wahl [Arbeiten, die er zu einer Sammelbesprechung heranzieht, N.B.], wie viel Varianz des Freizeitverhaltens durch Bildung und Alter, durch Geschlecht und Lebensform, durch Berufsstatus und Einkommen aufgeklärt wird, ist eindrucksvoll. Er greift aber zu kurz, insofern er konkurrierende Erklärungen immer nur durch die Brille des Empirikers bespricht, d.h. als Methode zur Aufklärung von Varianz. So wird der Diskurs über das ‚Warum’ der Zusammenhänge von sozialer Lage ebenso verstellt wie darüber, ob die Diagnose der ‚Erlebnisgesellschaft’ überzeugend ist.“ (2000: 301). Der Empiriker kann dann fast beliebig viele unterschiedliche Lebensstile feststellen. Zwar wird immer wieder auf grundsätzliche Überschnei-
5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung
121
dungen der empirischen Ergebnisse hingewiesen, z.B. von Schulze – unter anderem zu den Sinus-Milieus (1992: 393) – oder in der Zusammenstellung von Typenvergleichen bei Hartmann (1999: Kap. 5). Es bleibt aber letztlich offen, ob eher die Brille der Forscher schärfer, differenzierter geworden ist, oder ob sich tatsächlich mehr Gruppen ausdifferenziert haben, die für die Handlungsorientierungen und das soziale Zusammenleben von Bedeutung sind. Einige Autoren weisen darauf hin, dass die Erklärungskraft von Lebensstilen möglicherweise je nach Anwendungsbereich variiert. So äußert sich Hermann (2004) positiv hinsichtlich der Erklärung von Mortalitätsrisiken durch Lebensstile, Rössel spricht die Relevanz von Lebensstilen vor allem in „ästhetisierbaren“ Handlungsbereichen (2006b: 463) wie Konsum und Freizeit an. Es ist dabei jedoch darauf zu achten, ob die Spezifizierung dazu führt, dass ungleichheitstheoretische Fragestellungen auf der Makroebene dann nicht mehr im Zentrum der Analyse stehen (ähnlich Otte 2005: 24). Solga et al. kritisieren einen theoretischen Mangel auch bei Milieukonzepten. Es sei unklar, ob Milieus überhaupt Determinanten, Ursachen oder Dimensionen sozialer Ungleichheit seien (2009: 40). Wenn man die Vielfalt von Lebensstilgruppen betont, die teilweise nebeneinander liegen und die sich oft eher indifferent als antagonistisch gegenüberstehen, geht damit zudem die Gefahr einher, dass Herrschaftsstrukturen unterbelichtet bleiben (ein möglicher blinder Fleck, den bereits die Klassentheorie gegen die Schichtungsforschung vorgebracht hatte). Meyer befürchtet einen Verlust des kritischen Impetus und entsprechend eine legitimatorische Rückendeckung für die bestehende Ungleichheitsordnung (2001a: 265f.). Allerdings könnte man dagegen argumentieren, dass man bei einer Berücksichtigung der integrativen bzw. distinktiven Funktion von Lebensstilen zumindest potentiell durchaus kritisch Verhältnisse zwischen den Lebensstilgruppen an zentraler Stelle diskutieren könnte. Auch zwei weitere Kritikpunkte weisen Befürworter der Lebensstilanalyse als eher einseitige Sichtweise zurück: Erstens spricht gegen die Kritik an einer zu großen Vielfalt von Ansätzen mit unterschiedlichem Gegenstand, Operationalisierungen und herausgefundenen, allenfalls bedingt vergleichbaren Lebensstilen der immer wieder zu lesende Hinweis auf einen grundsätzlichen Konsens darüber, was ein Lebensstil ist (s.o. zur Begriffsklärung), welche es gibt (Parallelen sind trotz der unterschiedlichen Benennungen und Klassifikationen festzustellen) und wovon sie abhängen (und zwar in nennenswertem Ausmaß vom Alter, der Bildung und dem Geschlecht). Der zweite Aspekt besteht in der möglicherweise zu starken Betonung von individuellen Wahlfreiheiten und einer Präferenzensteuerung, die sich kaum nach strukturellen Kriterien richte. Die Diskussion um Strukturierungs- vs.
122
5 Lebensstile und Milieus Entstrukturierungsmodelle innerhalb der Lebensstilanalyse, bei der Entstrukturierungsmodelle seltener sind und teilweise von anderen zusätzlich radikalisiert werden, zeigt, dass „Entstrukturierung“ keine Position der Lebensstilanalyse allgemein ist, und dies noch weniger in den letzten Jahren. Auch Hradil relativiert dieses Argument recht heftig: „Lebensstile [bestehen] keineswegs unabhängig von äußeren Bestimmungsgründen. Anders als Thomas Meyer kenne ich auch niemanden, der das behauptet“ (2001a: 275). An verschiedenen Stellen, unter anderem in mehreren Bilanzierungen der Lebensstilforschung (Hermann 2004, Otte 2005, Rössel 2006b) wird teilweise mit etwas bedauerndem Unterton konstatiert, dass Lebensstile lediglich als Ergänzung zur klassischen Ungleichheitsforschung fungieren könnten, nicht als deren Ersatz (z.B. Rössel 2006: 454/455, Otte 2005: 22). Der weggefallene oder ohnehin fehlende Anspruch, Lebensstile als etwas gänzlich Neues, eine vertikale Gesellschaftsstruktur ablösendes Modell postulieren zu müssen, kann für Aussagen mittlerer theoretischer Reichweite allerdings durchaus konstruktiv sein, sofern die Konstatierungen nicht dabei stehen bleiben, bereits das Phänomen eines Mischungsverhältnisses von Struktureinflüssen und Optionen als entscheidenden Erkenntnisgewinn anzusehen. Die Postulierung einer „Lebensstilgesellschaft“ als Gegenwartsdiagnose (Richter 2005) dürfte, zumal als Aussage jüngeren Datums, dagegen eher eine Minderheitenposition im ungleichheitstheoretischen Kontext darstellen. In Zusammenhang mit Lebensstilen, sofern diese als Erklärungsmerkmal dienen sollen, ist jedenfalls ein Hinweis notwendig: Immer, wenn Forscher Lebensstile selbst als erklärenden Faktor einsetzen, müssen sie darauf achten, Zirkelschlüsse zu vermeiden. So ist es nicht ganz unproblematisch, etwa Konsumverhalten aus Lebensstilen zu erklären, die unter anderem durch ähnliche Merkmale konstituiert sind (z.B. stellt Klocke (1994) die Erklärungskraft von Lebensstilen für Käufertypen auf dem Second-Hand-Markt heraus). Zwar relativiert Hradil auch hier plausibel, dass es nicht per se tautologisch sei, wenn man aus allgemeinen Handlungstypen konkretes – auch ungleichheitsrelevantes – Verhalten erkläre (2001a: 279), z.B. findet Otte heraus, dass sich Wahlverhalten teilweise besser durch Lebensstile als durch ein Klassenmodell erklären lässt (1997). Doch ist hier zumindest Vorsicht für den Forscher geboten, der den soziologischen Erklärungswert nicht aus dem Auge verlieren sollte. Wenn man einen Mann bestimmten Alters mit einem bestimmten Outfit im CD-Geschäft vor bestimmten Regalen antrifft, kann man nicht sicher sagen, ob er gern Spinat isst. Vielleicht kann man etwas über Tendenzen oder Wahrscheinlichkeiten sagen, nur wäre das soziologisch nicht gerade spannend, es sei denn, das Spinat-Essen hätte eine (z.B. distinktive) Bedeutung. Interessanter wäre die
5.3 Kritische Fragen, Zusammenfassung
123
Verbindung zu Lebenschancen oder Handlungsorientierungen. Somit zeigt sich: Man muss eine erklärende Verknüpfung verschiedener Ebenen herstellen, z.B. zwischen Handlungstypen und ungleichheitsrelevantem konkreten Verhalten oder zwischen Handlungstypen und Lebenschancen, um über eine für Marktforscher interessante Aussage hinaus zu gelangen. Damit ist wiederum die Herausarbeitung von Erklärungsmechanismen auf einer theoretischen Ebene angesprochen. Eine weitere Frage an die Lebensstilforschung richtet sich schließlich auf die Entstehung und die Entwicklungsbedingungen von Lebensstilen. Unter welchen Umständen und in welche Richtung können sich Lebensstile verändern? Ohne diesen Aspekt hätte man lediglich ein statisches Modell entworfen. Auch bedürfte es einer Begründung, wenn gerade ein Modell, das insgesamt von vergleichsweise großen Wahlmöglichkeiten der Individuen ausgeht, Kontinuität von Lebensstilen unterstellen würde. Verschiedentlich streifen Forscher diesen Punkt, indem sie z.B. auf die Rolle des Alters oder der Lebensphase als Einflussfaktor für den Lebensstil hinweisen. Vester et al. (2001) stellen zudem Milieus im Zeitvergleich vor (und untersuchen damit unter anderem Kohorteneffekte). Doch gibt es insgesamt eher ansatzweise als systematisch Überlegungen dazu zu erklären, wann gegebenenfalls einzelne Menschen ihren Lebensstil in eine bestimmte Richtung ändern. Dies spricht nicht gegen die Lebensstilanalyse im Grundsatz, doch ist hier zumindest weiterer Forschungsbedarf festzustellen bzw. eine stärkere Verknüpfung mit der Lebenslaufforschung sinnvoll.
Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten: Verschiedene Milieu- und Lebensstilkonzepte suchen einen Mittelweg zwischen einer Strukturiertheit nach dem nicht mehr adäquaten Muster traditioneller Klassen und Schichten auf der einen Seite und einer vollkommen entstrukturierten Vielfalt individuellen Wahlhandelns auf der anderen Seite. Objektive Bedingungen und subjektive Wahrnehmungs- und Handlungsweisen sind verknüpft, aber auf komplexe Art und Weise. In der Konzeptionalisierung dieses Mittelweges bzw. dieser Ergänzung bisheriger Ungleichheitsmodelle ist der gemeinsame Nenner von sonst im Detail recht unterschiedlichen Modellen zu sehen. Neben dem Vorteil, viele Aspekte in dem Modell berücksichtigen und damit das Ungleichheitsgefüge einer modernen Gesellschaft angemessen erfassen zu können, sind die Ansätze jedoch auch der Kritik ausgesetzt: Sie könnten z.B. Gefahr laufen, einen theoretischen, erklärenden Anspruch aufzugeben, bestehende vertikale Ungleichheiten bzw. sogar
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5 Lebensstile und Milieus
zunehmende Restriktionen nicht genügend zu beachten oder Entwicklungen und Beziehungen sozialer Gruppen zu vernachlässigen. Lesehinweise
Die Lebensstilforschung in den 1990er Jahren bilden z.B. die Sammelbände von Dangschat/Blasius (Hg.) 1994, Schwenk (Hg.) 1996, Hillebrandt et al. (Hg.) 1998 ab. Bilanzierungen des Lebensstilkonzepts finden sich etwa bei T. Meyer (2001a), Hradil (2001a), Otte (2005) und Rössel (2006b). Das Konzept von Schulze gibt es zusammengefasst in: Schulze, Gerhard (1990): Die Transformation sozialer Milieus in der Bundesrepublik Deutschland; in: Berger, Peter A.; Stefan Hradil (Hg.) (1990): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile; Soziale Welt Sonderband 7, Göttingen, S. 409432 Weitere Texte zu Lebensstilen und Milieus finden Sie im Reader von Heike Solga et al. (Hg.) (2009): Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse, Frankfurt am Main: Campus, Kapitel III.
6.1 Soziale Positionen und Klassen
125
6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) hat ein Modell entwickelt, das sowohl Klassenmodelle in einer eigenständigen Form weiterführt als auch Lebensstile als einen zentralen Bestandteil integriert. Die Elemente seines Konzepts sollen an dieser Stelle im Zusammenhang vorgestellt werden. 6.1 Soziale Positionen und Klassen Pierre Bourdieu entwirft ein Modell des sozialen Raums, dessen erste Ebene er als Raum objektiver sozialer Positionen konstruiert.23 Bedeutsam ist hier vor allem die Ausweitung des Kapitalbegriffs. An zentraler Stelle berücksichtigt Bourdieu nicht allein ökonomisches, sondern auch kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu 1983). Eine soziale Position ist dann abhängig vom Kapitalvolumen, der Kapitalstruktur und schließlich einem zeitlichen Faktor, der sozialen Laufbahn. Diese Gedanken sollen nun etwas genauer erläutert werden. Kapital in dem weit gefassten Verständnis ist zentral für die Stellung im sozialen Raum: „Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.“ (Bourdieu 1983: 183).
Das Kapital setzt sich im Einzelnen aus folgenden Arten zusammen: Das ökonomische Kapital bezeichnet das Kapital, das im engeren Sinne bislang als solches verstanden wurde, also etwa Eigentum und Vermögen. Es ist relativ direkt in Geld konvertierbar. 23 In diesem Rahmen kann nur ein kleiner Ausschnitt von Bourdieus theoretischem Gesamtkonzept vorgestellt werden. Vgl. zu Bourdieus Werk im weiteren Rahmen z.B. Eder (Hg.) 1989, FuchsHeinritz/König 2005, Barlösius 2006, Rehbein 2006, Bohn/Hahn 2007, Schwingel 2009; zum Zusammenhang zwischen Klasse und Feld z.B. Kieserling 2008.
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
126 6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu Das kulturelle Kapital nimmt drei Formen an: a.
b.
c.
Das inkorporierte Kulturkapital meint Bildung, Wissen (allerdings nicht allein in der Schule erworbenes Wissen, auch z.B. die Erziehung in der Familie spielt eine Rolle). Der Erwerb erfordert (Lern-) Zeit, man kann es nicht kurzfristig kaufen oder verschenken. Die Umstände der ersten Aneignung dieses Kapitals prägen die Person in hohem Maße, z.B. ihre Sprechweise. Objektiviertes Kulturkapital hat die Form von kulturellen Gütern, die man besitzt, z.B. Bücher, Gemälde, Instrumente. Sie sind leichter auf andere übertragbar, gewinnen aber nur dann als Aktivposten an Bedeutung, wenn der Handelnde es sich aneignet und strategisch einsetzt (er braucht z.B. inkorporiertes Kapital, um ein Gemälde auch als hochwertig erkennen zu können). Institutionalisiertes Kulturkapital bezeichnet (schulische) Titel. Der Inhaber hat ein Zeugnis kultureller Kompetenz mit einem relativ dauerhaften und rechtlich garantierten Wert, der Titel ist also institutionell anerkannt und sichert eine gewisse Übertragbarkeit in ökonomisches Kapital, die sich im Zeitverlauf allerdings ändern kann. Ein Abiturient kann heutzutage beispielsweise weniger sicher aufgrund seines Abschlusses davon ausgehen, eine gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war.
Mit sozialem Kapital meint Bourdieu Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen (z.B. Absolventen einer exklusiven Schule), man hat ein Netzwerk von Beziehungen. Jemand kennt die entscheidenden Leute und kann an bestimmten Fäden ziehen, um seine Ziele zu erreichen, er ist in einem weiten Wortsinn „kreditwürdig“. Dieses Kapital ist erheblich von der familiären Herkunft abhängig, es bedarf aber auch einer dauerhaften Beziehungsarbeit, um dieses Kapital aufrechtzuerhalten. (vgl. zur Verknüpfung des sozialen Kapitals mit der Netzwerkanalyse bzw. einer relationalen Soziologie z.B. Fuhse 2010). Am Beispiel des sozialen Kapitals zeigt sich besonders, dass ökonomisches Kapital nicht ohne „Transformationsarbeit“ (Bourdieu 1983: 195) in andere Kapitalarten übertragbar ist (und auch umgekehrt). Beim Aufbau des sozialen Kapitals handelt es sich um „eine scheinbar kostenlose Verausgabung von Zeit, Aufmerksamkeit, Sorge und Mühe“ (a.a.O.: 196), die gerade nicht ausdrücklich dadurch gekennzeichnet sein darf, dass nur finanzielle Interessen die Beziehung herstellen. Nichtsdestoweniger stehen die Kapitalarten in einem engen Zusammenhang. Das ökonomische Kapital in einer Familie beeinflusst z.B., wie viel Zeit und Geld Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder investieren können.
6.1 Soziale Positionen und Klassen
127
Bourdieu nennt zudem noch eine weitere Kapitalart, die eine andere Ebene betont als die bisherigen Arten: das symbolische Kapital bezeichnet das Prestige oder Renommee einer Person, es ist die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien“ (Bourdieu 1985: 11). Hierzu gehören z.B. das institutionalisierte kulturelle Kapital (Titel) oder generell das soziale Kapital. Dadurch, dass das symbolische Kapital soziale Anerkennung widerspiegelt, hat es eine wichtige Funktion bei der alltäglichen Legitimation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse (Schwingel 1995: 89). Um die Position einer Person im sozialen Raum zu bestimmen, genügt es nun nicht, das Volumen, also die quantitative Menge des Kapitals insgesamt in den drei genannten Formen zu bestimmen. Eine Klasse ist laut Bourdieu nicht durch ein Merkmal, eine Summe oder eine Kette von Merkmalen definiert, sondern „durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen“ (Bourdieu 1997 (zuerst 1979): 182). Bedeutsam ist neben dem Kapitalvolumen als zweiter Faktor die Kapitalstruktur, das heißt das Verhältnis der Kapitalarten (insbesondere von ökonomischem und kulturellem Kapital). Überwiegt also etwa das kulturelle Kapital das ökonomische Kapital einer Person oder umgekehrt? Der erfolgreiche Profifußballer mit niedrigem Bildungsabschluss würde nach diesem zweiten Kriterium anders eingeordnet als die promovierte Historikerin, die in Teilzeitanstellung in einem Museum Ausstellungen organisiert, der Ingenieur (mit einem größeren Anteil an ökonomischem Kapital) anders als der Lehrer (mit einem größeren Anteil an kulturellem Kapital). Ein dritter Faktor kommt schließlich hinzu, bei der sozialen Laufbahn wird die Kombination der Kapitalarten im Zeitverlauf betrachtet. Handelt es sich z.B. bei einer Person um einen „Aufsteiger“ oder einen „Absteiger“ (unter anderem gibt es das „absteigende Kleinbürgertum“, s.u.) oder sind in einer Gruppierung heterogene Lebensverläufe typisch? Eder (1989) versucht, Bourdieus Modell (s. Diagramm 1997 (zuerst 1979): 212f.) auf deutsche Verhältnisse zu übertragen und trägt folgende Berufsgruppen in vier Felder ein, die sich (anhand einer Korrespondenzanalyse) ergeben, wenn das Kapitalvolumen die senkrechte Achse und die Kapitalstruktur die waagrechte Achse eines Koordinatensystems bilden.
128 6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu Abbildung 19: Der Raum objektiver Klassenlagen in Deutschland
Quelle: Eder 1989: 21 Laut Bourdieu ergaben sich in der französischen Gesellschaft der sechziger Jahre anhand von Korrespondenzanalysen drei Hauptklassen (das Modell an sich beansprucht jedoch Gültigkeit für Klassengesellschaften allgemein): a.
b.
Die herrschende Klasse lässt sich in zwei Gruppen unterteilen, diejenigen, die über besonders hohes ökonomisches Kapital verfügen (z.B. Unternehmer aus der Handelsbranche) und solche mit hohem kulturellen Kapital (z.B. Künstler oder Hochschullehrer); dazwischen (der Anteil von ökonomischem und kulturellem Kapital ist ausgeglichener) finden sich freiberuflich Tätige (Bourdieu 1997 (zuerst 1979): Kap. 5, insbesondere Diagramm S. 409). Die Mittelklasse ist dreigeteilt in: das absteigende Kleinbürgertum, z.B. Handwerker und kleine Händler: Sie sind durch objektive Merkmale sowie durch ihre Verhaltensweisen und Meinungen an eine überholte Vergangenheit gebunden; teilweise stammen sie selbst von kleinen Handwerkern und Händlern ab und sind mangels ökonomischen und vor allem kulturellen Kapitals dazu verurteilt, in einer gefährdeten Branche, z.B. dem kleinen Lebensmittelhandel, zu bleiben (Bourdieu a.a.O.: 541-549);
6.2 Der Raum der Lebensstile
129
c.
das exekutive Kleinbürgertum (ausführende berufliche Tätigkeiten, z.B. Büroangestellte, Volksschullehrer) (a.a.O.: 549-560); und das neue Kleinbürgertum (Berufe in Branchen mit starkem Wachstum, unter anderem Verkaufs- und Vertreterberufe, Berater, Kulturverbreitung, z.B. Werbeagenten, Eheberater, Journalisten; heterogene Laufbahnen sind charakteristisch; a.a.O: 561-572). Die Volksklasse oder die Beherrschten, in der Arbeiter eingeordnet sind, im untersten Bereich etwa angelernte Arbeiter, Hilfsarbeiter und Landarbeiter. (a.a.O: 212f., Kap. 7).
Diese Darstellung soll jedoch nicht den Eindruck einer statischen Perspektive vermitteln. Die Menschen im sozialen Raum sind „ausgehend von ihrer Stellung in ihm, in einen fortwährenden Kampf untereinander verwickelt – um die Veränderung dieses Raums. Der gesellschaftliche Raum ist – wie der geographische – im höchsten Maße determinierend; wenn ich sozial aufsteigen möchte, habe ich eine enorme Steigung vor mir, die ich nur mit äußerstem Kraftaufwand erklettern kann; einmal oben, wird mir die Plackerei auch anzusehen sein, und angesichts meiner Verkrampftheit wird es dann heißen: ‚Der ist doch nicht wirklich distinguiert!’ … Dieser Raum ist also von einer penetranten Realität und wir kämpfen unablässig gegen ihn an … allerdings ist dieser Raum veränderbar.“ (Bourdieu 1992a: 37).
Wie sind die sozialen Positionen, die Klassen mit Lebensstilen verbunden? Darauf geht der nun folgende Abschnitt ein. 6.2 Der Raum der Lebensstile In einer Radiosendung des ORF zum Werk Bourdieus (Titel: „Die verborgenen Mechanismen der Macht“ vom 24.10.1998) fragt sich der Sprecher, warum Pierre Bourdieus Buch „Die feinen Unterschiede“ von 1982 (französisch 1979: „La Distinction“) ein Bestseller werden konnte (und übrigens bei Kaesler/Vogt 2000 zu den Hauptwerken der Soziologie zählt) trotz zahlreicher soziologischer Fachbegriffe, langer Sätze, einer verschlungenen Argumentation und nicht auf den ersten Blick völlig erschließbarer Darstellungen multivariater Analysen. Die Antwort lautet: Das Thema trifft den Nerv einer „abgeklärten Erlebnisgesellschaft“. Glaubte man bisher, der persönliche Geschmack sei ein Mittel gegen die bedrohte Einzigartigkeit des Individuums, dem allgemeinen Zwang zur Konformität erfolgreich abgerungen, so widerspricht Bourdieu hier ganz ausdrücklich:
130 6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu Der Lebensstil ist gesellschaftlich geprägt durch die Klassenzugehörigkeit, man wählt ihn keinesfalls so frei, wie man es vielleicht angenommen hatte. Bourdieu verknüpft also sein Klassenmodell eng mit Lebensstilen, die Klassenzugehörigkeit drückt sich am ehesten in den verschiedenen Lebensstilen, also in einer typischen Handlungspraxis aus. Erst durch die Verbindung von den sozialen Positionen als Strukturebene mit der Praxisebene der Lebensstile ergibt sich dabei ein vollständiges Bild des sozialen Raums. Der Zusammenhang zwischen sozialer Position und Lebensstil ist aber weder deterministisch noch mechanisch. Wenn man beispielsweise feststellt, dass Menschen in Mittel- und Oberschichten mehr Reis essen als Menschen in Unterschichten, dann heißt das nicht, dass wirklich jede(r) Oberschichtsangehörige Reis vorzieht, sondern dass es typischerweise so ist. Zudem handelt es sich nicht nur um einzelne Praktiken wie „Reis essen“ (als Beispiel für Ernährungsgewohnheiten), sondern um Handlungsweisen, die oft subtiler sind und die man sich im Zuge der Sozialisation angeeignet hat, die dafür auch deutlicher die soziale Position, in den oberen Klassen die Abgrenzung nach „unten“ zum Ausdruck bringen. Dazu gehört etwa die Selbstgewissheit der oberen Klassen, die Spielregeln des Umgangs miteinander zu kennen, eine lässige Distanz zu Kultur und Bildung, die die Mittelklassen nicht haben (diese nehmen etwa Bildung viel ernster). Das Beispiel deutet an, inwiefern der Zusammenhang zwischen sozialer Position und Lebensstil nicht mechanisch ist: Der Raum der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile sind durch den Habitus miteinander verknüpft, das Modell erhebt damit auch einen erklärenden Anspruch. Was ist mit dem Habitusbegriff gemeint? Der Habitus ist keinesfalls nur eine Gewohnheit, sondern eine allgemeine Grundhaltung gegenüber der Welt und meint bestimmte kollektive Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die den Einzelnen nur zu einem kleinen Teil bewusst sind. In Bourdieus Worten: „Der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem … dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile (Bourdieu 1997 (zuerst 1979): 277f., Hervorhebungen im Original).
Und an anderer Stelle heißt es in etwas einfacherer Formulierung: „Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von
6.2 Der Raum der Lebensstile
131
Grenzen … Deshalb sind für ihn [jemanden mit einem kleinbürgerlichen Habitus, N.B.] bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich; es gibt Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im Voraus bekannt“ (1992a: 33).24
Abbildung 20: Der soziale Raum nach Bourdieu Soziale Position (Struktur)
- Habitus -
Herrschende Klasse Mittelklasse, Kleinbürgertum Volksklasse, beherrschte Klasse
Æ Æ Æ
Lebensstil (Praxis) Legitimer Geschmack Mittlerer / prätentiöser Geschmack Populärer/„Notwendigkeitsgeschmack“
Den erklärenden Anspruch des Modells mit Hilfe des Habitus formuliert auch Eder: „Unterschichten essen mehr Kartoffeln, Mittelschichten und Oberschichten eher mehr Reis. Was hat man erklärt? Nichts, weil man nicht unterscheiden kann, was Reis Essen für unterschiedliche Schichten bedeutet.“ (Eder 1989: 26).
Und etwas später resümiert er: „Es interessieren nicht die Meinungen, ihre Inhalte, sondern die Struktur, die Selektion von möglichen Meinungen ... zugrunde liegt. Es geht darum, kollektiven Erfahrungs- und Wahrnehmungsschemata zu identifizieren, die klassenspezifische Reproduktion von Meinungen regulieren.“ (Eder 1989: Hervorhebung i. O.).
der die die 28,
Wie sind soziale Positionen und Lebensstile konkret verbunden? Die genannte Studie „Die feinen Unterschiede“ gelangt auf der Basis von Interviews (die in den sechziger Jahren geführt wurden), Beobachtungen (z.B. der Wohnungseinrichtung und Kleidung der Befragten) sowie von Sekundäranalysen zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen: Der „legitime Geschmack“ der oberen Klassen zeichnet sich durch Sinn für Distinktion und teilweise durch Vorliebe für Luxusartikel aus. Die Gruppe in24
Vgl. zum Habitus auch Krais/Gebauer 2002 sowie Barlösius 2004: Kap. 5.2.
132 6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu nerhalb der herrschenden Klasse mit einem hohen Anteil an ökonomischem Kapital (z.B. Unternehmer) zeigt z.B. eine Vorliebe für Boulevardtheater und Varieté, Boutiquen, Luxuswagen, Aufenthalte in Drei-Sterne-Hotels in Badeorten etc. Diejenigen mit höherem kulturellem Kapital (z.B. Lehrer) dagegen bevorzugen im Theater klassische oder avantgardistische Stücke, außerdem Museen, klassische Musik, Flohmärkte und Wandern (1997 (zuerst 1979): 442). Die vergleichsweise geringeren ökonomischen Mittel lassen bei ihnen einen „asketischen Ästhetizitismus“ (a.a.O.: 449) entstehen. Den Bourgeois kennzeichnet insgesamt eine „Ungezwungenheit aus Vertrautheit“ im Umgang mit Kultur und Bildung, die bereits in der familiären Erziehung entstanden ist (a.a.O: 121). Charakteristisch für den mittleren oder „prätentiösen Geschmack“ ist der Versuch, den oberen Klassen nachzueifern, unter anderem durch Bildungsbeflissenheit. Die Selbstsicherheit der oberen Klassen fehlt den Kleinbürgern dabei jedoch. Während nur die herrschende Klasse „ihre Lebensform zu einer Kunstform erheben“ kann, ist „der Eintritt des Kleinbürgers in dieses Spiel der Distinktion und Unterscheidung demgegenüber nicht zuletzt durch die Furcht gekennzeichnet, anhand von Kleidung oder Mobiliar … sichere Hinweise auf den eigenen Geschmack zu liefern und sich so deren Klassifizierung auszusetzen“ (a.a.O.: 107).
Der (etwas gezwungene) Bildungseifer zeigt sich unter anderem in der Anhäufung von Zeugnissen „bedingungsloser kultureller Beflissenheit“ (a.a.O.: 503), wozu z.B. der Besuch „lehrreicher“ Aufführungen gehört. Bourdieu spricht sogar von „Ergebenheit“ gegenüber der Kultur (a.a.O.: 503). Kleinbürger sind typische Abnehmer von Massenkultur, die vergleichsweise leicht zugänglich ist, aber auch die äußeren Anzeichen der legitimen Kultur aufweist. Die einzelnen Varianten des kleinbürgerlichen Geschmacks (Bourdieu differenziert ein absteigendes, exekutives und neues Kleinbürgertum, s.o.) können hier nicht ausführlich beschrieben werden (a.a.O.: Kap. 6), als Beispiele seien nur genannt: Das absteigende Kleinbürgertum bevorzugt eine ordentliche und pflegeleichte Wohnungseinrichtung, in der Musik „die deklassierten Stücke der bürgerlichen Kultur“ (a.a.O.: 541), z.B. „An der schönen blauen Donau“. Das exekutive Kleinbürgertum kennzeichnet der Bildungseifer in besonderem Maße. Seine Angehörigen kaufen ihre Möbel in Kaufhäusern und interessieren sich des Öfteren für Fotografie und Filme. Eine phantasiereiche Wohnungseinrichtung und schicke Kleidung sind für das neue Kleinbürgertum (und zwar eher in Paris als in der Provinz) typisch. Der populäre oder „Notwendigkeitsgeschmack“ der unteren Klassen schließlich orientiert sich am Praktischen. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass es Bourdieu nicht etwa darum geht, eine angeborene Unfähigkeit z.B. zu
6.2 Der Raum der Lebensstile
133
einer ästhetischen Wahrnehmung festzustellen, sondern die distinktiven Strategien der höheren Klassen zu betonen, die die Macht haben, ihren Geschmack als den legitimen zu definieren und gegen einen allgemeinen Zugang zu verteidigen. Schaffen es bereits die Kleinbürger bei allem Eifer nicht, die lässige Selbstsicherheit der herrschenden Klasse zu erreichen, fehlt es der Volksklasse noch stärker an materiellem und kulturellem Kapital. Sie passt sich an den Mangel an. Beispielsweise geben Arbeiter häufiger als alle anderen Klassen an, dass sie eine pflegeleichte Wohnungseinrichtung und preiswerte Kleidung (die nicht ausgefallen, dafür haltbar sein soll) bevorzugen (a.a.O.: 592f.). „Aus den Grundeinstellungen des Habitus geht die Anpassung an die objektiven Möglichkeiten hervor, die zu all den realistischen Entscheidungen führt, die, den Verzicht auf ohnehin unzugängliche symbolische Gewinne voraussetzend, Verhalten und Objekte auf ihre technische Funktion reduzieren: ‚sauberer’ Haarschnitt, ‚nettes einfaches Kleid’, ‚stabile’ Möbel usw.“ (a.a.O.: 594).
Am Beispiel des Nahrungsmittelkonsums veranschaulicht die folgende Abbildung nochmals die Geschmacksrichtungen der verschiedenen sozialen Positionen: Abbildung 21: Die Verteilung des Nahrungsmittelkonsums im sozialen Raum nach Bourdieu
Quelle: Bourdieu 1997 [1979]: 306
134 6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu Wenngleich „die feinen Unterschiede“ eine wichtige Untersuchung im Rahmen eines theoretischen Zugangs zu sozialer Ungleichheit bei Bourdieu markieren, gibt es natürlich auch in seinen anderen Schriften Beiträge zum Thema, die sich gegenseitig ergänzen. Als Beispiel einer etwas jüngeren Studie dient an dieser Stelle „La misère du monde“ von 1993 (deutsch: Das Elend der Welt, 1997) von Bourdieu und Mitarbeitern. Im Zentrum stehen Passagen aus offenen Interviews mit Befragten, die deren Perspektive ihrer „Misere“ (der Begriff ist weniger eng als die Übersetzung) in den Vordergrund stellen. Es gibt keine übergreifende theoretische Interpretation, sondern knappe Zusammenfassungen und Kommentare. Dennoch ist der soziologische Anteil nicht zu verkennen, nicht allein z.B. durch die Auswahl der Interviews, sondern etwa auch durch Wechselbezüge zu theoretischen Konzepten Bourdieus (dies betont auch Schultheis 1997: 833). In durchaus politischer Positionierung wendet sich Bourdieu gegen (unter anderem durch neoliberalistische Strömungen Anfang der achtziger Jahre entstandene) Miseren, z.B. von Arbeitslosen oder (mittelbar leidenden) Sozialarbeitern. Wichtig im ungleichheitstheoretischen Zusammenhang ist auch hier: Das Elend der sozialen Stellung leitet sich nicht allein aus objektiven Bedingungen her, sondern aus subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen. Der Habitus betont hier nicht in erster Linie die Verknüpfung von Positionen und Lebensstilen, sondern von Positionen und subjektiven Perspektiven. Barlösius unterstreicht die im Gegensatz zu den „feinen Unterschieden“ andere erklärende Herangehensweise: „Während er [Bourdieu, N.B.] in ‚La Distinction’ die Wechselwirkung zwischen beiden Räumen [Sichtweisen und Positionen, N.B.] im Wesentlichen von den Positionen her reproduziert, geht er in der späteren Studie umgekehrt vor: Er reproduziert die Sichtweisen und Standpunkte, um von diesen aus die Spezifika der distinktiven Habitus zu rekonstruieren“ (1995: 6).
Schultheis und Schulz haben 2005 – ebenfalls mit dem dezidierten Anspruch einer Gesellschaftsdiagnose – eine Replikationsstudie für Deutschland unter dem Titel „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ herausgegeben, die ähnlich wie das „Elend der Welt“ im Kern aus Interviews besteht, unter anderem mit Betroffenen einer „brüchigen Arbeitswelt“ oder mit Menschen „jenseits der Mitte“ hinsichtlich ethnischer, regionaler oder sozialer Merkmale. Letztlich sind die makrotheoretischen Bezüge hier allerdings größtenteils recht implizit. 6.3 Einordnung und Kritik Inwiefern ist Bourdieus Ansatz ein Klassenmodell in der Tradition von Marx und Weber, inwiefern gibt es charakteristische Unterschiede, die Müller im positiven
6.3 Einordnung und Kritik
135
Sinne für eine radikale Revision der „Marx-Weberschen Melange“ hält (1994: 127)?
Das verfügbare Kapital spielt für die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle (so auch in anderen Klassenmodellen), dabei ist das ökonomische Kapital von Bedeutung, darüber hinaus jedoch auch andere Kapitalarten: das kulturelle und das soziale Kapital. Eine Erweiterung erfährt die Konstitution von Klassen auch dadurch, dass die soziale Position nicht allein ein Resultat aus der Summe der Kapitalien ist (das wäre einem Schichtmodell ähnlich), sondern auch ihre Struktur und soziale Laufbahnen sind relevant. Empirisch lassen sich nach diesen Prinzipien drei nochmals in sich differenzierte Klassen identifizieren. Der soziale Raum umfasst nicht allein die sozialen Positionen, sondern auch – vermittelt durch den Habitus – Lebensstile. Das Konzept integriert auf diese Weise kulturelle Momente der Lebensführung (bei Weber bereits angedeutet durch den „Stand“), ohne dass Bourdieu die ungleichen Lebenschancen aus dem Auge verliert. Eder spricht in diesem Zusammenhang von der „kulturtheoretischen Wendung“ der Klassenanalyse (1989: 15). Verschiedentlich weisen Autoren darauf hin, dass Bourdieu damit implizit auch die Konzepte von Geiger (Schichtmentalitäten, vgl. Kap 2.3) oder Veblen (der sich mit dem Stil der „feinen Leute“ beschäftigte; s. den Hinweis in Kap. 5.1) weiter führt. Klassen und Lebensstile sind in einem Ansatz eng verknüpft. Von den sozialen Positionen kann man aufgrund eines klassenspezifischen Habitus einen Zusammenhang zu den Lebensstilen, also zu Handlungspraktiken herstellen. Auch bei Bourdieu hat somit die Klassenzugehörigkeit Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. Der Zusammenhang ist allerdings nicht deterministisch zu verstehen. Ferner ergibt sich dadurch, dass der Habitus keineswegs vollständig bewusst ist, aus der Klassenlage nicht automatisch ein Klassenbewusstsein oder gar ein revolutionäres Potential (Eder spricht von einem „kollektiven Klassenunbewusstsein“, 1989: 17). Bourdieu bezeichnet es explizit als Fehler (etwa von Marx), „Klassen auf dem Papier“ als reale Klassen zu behandeln, also von einer objektiven Homogenität der Bedingungen auf eine vereinigte Gruppe zu schließen (1992b: 141). Den Relationen zwischen den Klassen trägt Bourdieu Rechnung, indem er beispielsweise Distinktionsstrategien der herrschenden Klasse oder die Aufstiegsbestrebungen der Kleinbürger herausarbeitet. Es handelt sich dabei weniger um einen offenen Kampf, eine größere Rolle spielen subtile Strate-
136 6 Klassen und Lebensstile in einem Modell: Der soziale Raum bei Bourdieu
gien, z.B. der Machterhaltung. Zu einem ökonomischen Klassenkonflikt tritt somit verstärkt ein symbolischer um Werte und legitime Standards. Wie in anderen Klassenmodellen ist es auch für Bourdieu wichtig, Ursachen und Prozesse sozialer Ungleichheit zu analysieren.
Am Schluss dieses Abschnitts sollen nun noch einige kritische Fragen an Bourdieus Modell genannt werden:
Ist das Modell auf andere Gesellschaften als Frankreich zu anderen Zeitpunkten als für die sechziger/siebziger Jahre übertragbar? Blasius und Winkler (1989) finden beispielsweise in einer Überprüfung für Deutschland Bestätigungen („grobe Unterschiede“ zwischen den Klassen), aber auch Ergebnisse, die Fragen aufwerfen. So äußern sie methodische Kritik am Vorgehen bei der Korrespondenzanalyse, bezweifeln Unterschiede einzelner Gruppen innerhalb der Klassen und machen nicht berufstätige Gruppen, z.B. von Hausfrauen, aus, die Bourdieu nicht berücksichtigt habe. Ist das Modell nicht letztlich doch, trotz des Verbindungsgliedes des Habitus, deterministisch angelegt, wobei insbesondere die ökonomischen Faktoren als prägend gelten? Hradil z.B. schreibt: „Für Pierre Bourdieu sind es die homogenen Lebensbedingungen einer sozialen Klasse, welche wiederum zu ‚homogenen Konditionierungen und Anpassungsprozessen’ führen und so die Handlungsdisposition ‚Habitus’ hervorbringen. Bourdieu verfolgt somit, trotz seiner unkonventionellen Wortwahl, die ganz konventionellen deterministischen Vorstellungen, die in der Klassentheorie schon immer ... vorherrschen“ (Hradil 1987: 164). Honneth kritisiert ebenfalls den „utilitaristischen Rahmen“ (1984: 162) Bourdieus als zu eng: „Die ökonomischen Zentralbegriffe ... zwingen ihn, alle Formen sozialer Auseinandersetzungen nach dem Typus von Verteilungskämpfen zu begreifen, obwohl doch der Kampf um die soziale Geltung von Moralmodellen ganz offensichtlich einer anderen Logik gehorcht.“ (a.a.O.: 161). A. Weiß stellt in Frage, warum heterogene soziale Ungleichheiten in eine einheitliche Struktur des sozialen Raums münden sollten (2004: 217). Berücksichtigt das Modell sozialen Wandel in ausreichendem Maße? Einerseits gibt es ja beispielsweise den Aspekt der sozialen Laufbahnen. Andererseits schließt das Konzept zwar nicht aus, dass sich der Habitus wandeln kann (insbesondere in differenzierten, modernen Gesellschaften), doch schließt er auch Momente der Stabilität und Trägheit ein, ein Habitus ändert sich gerade nicht von heute auf morgen grundlegend. Wie kann das Modell dann den Wandel genau erklären? (vgl. dazu auch den Abschnitt zu Bourdieu in Kap. 9)
6.3 Einordnung und Kritik
137
H.-P. Müller weist auf einige Unklarheiten des Modells und weitere Kritikpunkte hin, z.B. sei der Zusammenhang zwischen Klassen und Berufsgruppen recht locker ohne nähere Begründungen (ist z.B. der Habitus klassen-, klassenfraktions- oder berufsgruppenspezifisch?). Bourdieu nennt die Bedeutung der Familie, ohne in der Konsequenz Sozialisationsprozesse genauer zu untersuchen. Weil zumindest „Die feinen Unterschiede“ wenig auf qualitativem Material beruhen, erfährt man in dieser Untersuchung wenig über die Gebrauchsweisen der Kultur. Funktionieren kulturelles und soziales Kapital nach der Logik des ökonomischen Kapitals oder gibt es nicht doch größere Wesensunterschiede? etc. (Müller 1992: 342-351).
Obwohl einige Kritikpunkte hier lediglich angedeutet werden konnten, wird doch deutlich, dass andere Autoren Bourdieus Konzept durchaus ernst nehmen und Anregungen kritisch aufnehmen. Ein wichtiger Anwendungsbereich ist die Analyse in Deutschland nach wie vor ausgeprägter Bildungsungleichheiten (vgl. z.B. Becker/Lauterbach 2010), für die etwa die Konzepte der differenzierten Kapitalarten und des Habitus genutzt werden (vgl. z.B. Engler/Krais 2004, Georg 2006, Kramer/Helsper 2010, Schmitt 2010). Lesehinweise:
Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital; in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt Sonderband 2, Göttingen: Schwartz, S. 183-198 Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 9. Auflage 1997 (frz. 1979), Kap. 5-7 Sprachlich etwas einfacher: Bourdieu, Pierre (1992a): Die verborgenen Mechanismen der Macht, hg. von Margareta Steinrücke, Hamburg: VSA (Taschenbuchausgabe 2005) Als Sekundärliteratur siehe die Hinweise in Fußnote 23 sowie als Hintergrundinformation auch die DVD „Soziologie ist ein Kampfsport. Pierre Bourdieu im Porträt“ von Pierre Carles, filmedition suhrkamp, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008
7.1 Soziale Lagen als Ungleichheitskonzept
139
7 Soziale Lagen
7.1 Soziale Lagen als Ungleichheitskonzept Das Konzept sozialer Lagen hat das Ziel, alternativ zu Klassen und Schichten ein Modell zu entwickeln, das mehr Dimensionen der sozialen Ungleichheit erfasst und das damit für alle (erwachsenen) Gesellschaftsmitglieder alle relevanten Merkmale berücksichtigen kann. Es soll auf diese Weise die Berufszentriertheit, die z.B. auch erweiterten Schichtmodellen noch als verengte Sichtweise vorgeworfen wird, überwinden. Hradil definiert „soziale Lagen“ allgemein wie folgt: Es sind „typische Kontexte von Handlungsbedingungen, die vergleichsweise gute oder schlechte Chancen zur Befriedigung allgemein anerkannter Bedürfnisse gewähren“ (1987: 153). Charakteristische Merkmale eines Lagemodells sind:
Es ist mehrdimensional. Als Oberdimensionen schließt es neben ökonomischen Ungleichheiten z.B. auch wohlfahrtsstaatlich erzeugte (z.B. soziale Absicherung, Arbeits- und Freizeitbedingungen) und soziale Ungleichheiten (z.B. soziale Beziehungen, Privilegien/Diskriminierungen) mit ein. Hradil erläutert: „So mag beispielsweise die Lebenslage eines Menschen durch geringe Einkünfte, viel Freizeit, eine billige, gesundheitlich und ökologisch gut gelegene Wohnung, hohe Integration in die Gemeinde, schlechte Arbeitsbedingungen im Schichtdienst und geringe Qualifikation gekennzeichnet sein.“ (1999: 40). Statusinkonsistenzen können Forscher auf diese Weise berücksichtigen. Die Dimensionen sind nicht additiv miteinander verbunden. Hradil unterscheidet zwischen primären oder dominierenden Ressourcen (wenn jemand z.B. sehr viel oder sehr wenig Geld zur Verfügung hat, ist dies ein wichtiger Hinweis auf die Dominanz dieses Merkmals) und weniger wichtigen Dimensionen für jeweils bestimmte Lagen. In einer Lage könnte also das Geld primäre Ressource sein, in einer anderen dagegen die formale Bildung (die „dominante“ Ressource erinnert an T. Geigers dominantes Schichtungsprinzip, das anstatt für eine Epoche nun jeweils für eine soziale Lage angewandt wird). Der Ansatz will Kontexteffekte und Kompensationsmöglichkeiten von Dimensionen untereinander durch diese nicht additive Verknüpfung der
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
140
7 Soziale Lagen Dimensionen berücksichtigen. Schwenk (1999) hält es in einer empirischen Umsetzung für schwierig, Gewichtungen einzelner Merkmale im Vorhinein festzulegen. Er will daher die Dimensionen vorläufig gleichgewichtig behandeln, eine spätere Untersuchung von Lage-Konstellationen kann dann gegebenenfalls die Dominanz bestimmter Lebensbedingungen herausstellen (1999: 92f.). Das Ziel, charakteristische Lage-Profile mit lebensweltlicher Nähe zu entwickeln, behält er bei. Lagen bilden in erster Linie die „objektiven“ Lebensbedingungen ab. Wie die Menschen die ungleichen Lebensbedingungen wahrnehmen und in einer konkreten Handlungspraxis mit ihnen umgehen, müsste ein weiterer Untersuchungsschritt klären (Hradil schlägt beispielsweise vor, die Lagen mit Milieus zu verknüpfen, welche als Filter oder Verstärker der ungleichen Lebensbedingungen wirken können; 1987: Kap. 4.3). Während etwa die Lebensstilforschung einen Schwerpunkt auf die Handlungspraxis legt und oft auf dieser Basis gebildete Typen auf mögliche Einflussfaktoren prüft, setzen die sozialen Lagen auf der „anderen“ Seite an. Eine sorgfältige Beschreibung der komplexen Lebenslage ist danach für weitere Forschungen nützlicher als ein Arbeiten mit einzelnen Merkmalen (z.B. Bildungsabschluss) oder sozialen Schichten (so auch B. Geissler 1994). Aus der Konstruktion der Lagen ergibt sich, dass diese nicht notwendig hierarchisch übereinander angeordnet sein müssen. Zwar geben die Vertreter die Vorstellung eines Strukturmodells nicht auf, es lassen sich etwa eindeutig vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen identifizieren.25 Von einer strikt vertikalen Anordnung gehen sie jedoch nicht aus.
Obwohl Hradil den Begriff der sozialen Lage nicht „erfunden“ hat (z.B. gibt es ihn schon bei F. Engels, M. Weber und in einem sozialpolitischen Kontext bei G. Weisser und O. Neurath; s. Hradil 1999: 40; Schwenk 1999: Kap. II.1), hat er ihn innerhalb neuerer Konzepte zur sozialen Ungleichheit vor allem durch seine Veröffentlichung von 1987: „Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus“ bekannt gemacht. Der Gedanke der Mehrdimensionalität (hier insbesondere auf der Strukturebene) ist dabei charakteristisch, aber ebenfalls nicht neu, wenn man sich die vorigen Kapitel in Erinnerung ruft (z.B. Weber, Geiger, Lenski; bei den neueren Ansätzen z.B. Bourdieu). Bereits die früheren Autoren standen vor der Schwierigkeit, die vielfältigen Dimensionen in ein (noch übersichtliches) Strukturmodell sozialer Ungleichheit umzusetzen. Hradil konkretisiert seine Überlegungen 25
Letzteres Phänomen (wenn also nachteilige Lebensbedingungen kumulieren) beschreiben andere Autoren (unter anderem in der Armutsforschung) auch mit dem Begriff der „Exklusion“ (vgl. Kap. 7.2 in diesem Buch; Kronauer 2010).
7.1 Soziale Lagen als Ungleichheitskonzept
141
in einem Modell sozialer Lagen mit primären und sekundären Dimensionen. Die Lagebezeichnungen rücken dabei die Stellung im oder zum Erwerbsleben weiterhin in den Vordergrund (Abbildung 22). Abbildung 22: Soziale Lagen nach Hradil Ungleiche Lebensbedingungen und ihre Ausprägungen Name der Lage Primäre Dimensionen Macht-Elite
Formale Macht 1
Reiche
Geld 1
Bildungselite
Sekundäre Dimensionen Geld 1-2, Formale Bildung 1-2, Prestige 1-2 Formale Bildung 1-3, Prestige 1-2, Formale Macht 1-3
Formale Bildung 1 Geld 2-3, Prestige 1-2, Formale Macht 2-3
Manager
Formale Macht 2
Geld 1-2, Formale Bildung 1-2, Prestige 2, Arbeitsbedingungen 2-4, Freizeitbedingungen 3-4
Experten
Formale Bildung 2
Geld 1-3, Prestige 2-3, Formale Macht 2-4, Arbeitsbedingungen 2-4, Freizeitbedingungen 2-4
Studenten
Formale Bildung 3
Geld 3-5, Arbeitsbedingungen 1-3, Freizeitbedingungen 1-3
„Normalverdiener“ mit geringen Risiken
Geld 3-4 Risiken 1-2
Formale Bildung 3-4, Prestige 3-4, Formale Macht 3-4, Arbeitsbedingungen 1-3, Freizeitbedingungen 1-2, Wohnbedingungen 2-3
„Normalverdiener“ mit mittleren Risiken
Geld 3-4 Risiken 3-4
Formale Bildung 3-4, Prestige 3-4, Formale Macht 3-4, Arbeitsbedingungen 2-4, Freizeitbedingungen 2-4, Wohnbedingungen 2-4, Soziale Absicherung 2-4
„Normalverdiener“ mit hohen Risiken
Geld 3-4 Risiken 5-6
Formale Bildung 4-5, Prestige 4-5, Formale Macht 4-5, Arbeitsbedingungen 3-5, Freizeitbedingungen 2-4, Wohnbedingungen 3-4, Soziale Absicherung 3-5
Rentner
Geld 2-4 Soziale Rollen 5-6
Prestige 4, Soziale Absicherung 3-5, Freizeitbedingungen 3-4, Wohnbedingungen 2-5, Demokratische Institutionen 4-5, Soziale Beziehungen 3-5
Arbeitslose (langfristig)
Geld 4-5 Risiken 5-6
Formale Bildung 4-5, Prestige 4-5, Soziale Absicherung 4, Wohnbedingungen 2-5, Demokratische Institutionen 4-5, Soziale Beziehungen 3-5, Soziale Rollen 45
Arme (keine Erwerbspersonen)
Geld 6
Prestige 5, Soziale Absicherung 4-5, Freizeitbeziehungen 3-5, Wohnbedingungen 4-5, Demokratische Institutionen 4-5, Soziale Beziehungen 3-5
Randgruppen
Geld 3-5, Formale Bildung 4-5, Soziale Absicherung 3Diskriminierung 55, Wohnbedingungen 3-6, Demokratische Institutionen 6 4-6, Soziale Rollen 4-6
Quelle: Hradil 1987 bzw. Schwenk 1999: 82. Die Ausprägungen der Dimensionen reichen von 1=sehr gut bis 6=sehr schlecht.
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7 Soziale Lagen
Schwenk hat eine systematische und umfassende empirische Anwendung des Modells von Hradil zum Ziel (1999: 87). Er zieht in einer Sekundäranalyse sieben Merkmale (die jeweils einen Index aus mehreren Variablen darstellen) für eine Clusteranalyse sozialer Lagen heran (zu seinen Methoden im Einzelnen Schwenk 1999: III 1.3). Für die sozialen Lagen ergeben sich typische Profile. Beispielsweise bildet „W6“ eine Lage mit meist unterdurchschnittlichen Ausprägungen der Merkmale, z.B. bei der Bildung, dem Einkommen und insbesondere bei der Wohnungsausstattung. Diese Lage umfasst oft ältere NichtErwerbstätige oder Arbeiter, häufig Frauen mit geringer Bildung, die in großstädtischen Gebieten leben, schlecht sozial eingebunden, häufig katholisch sind, selten SPD wählen und insgesamt eine benachteiligte soziale Lage bilden (1999: 154f.). Abbildung 23: Profil einer sozialen Lage nach Schwenk
Quelle: Schwenk 1999: 154 Auf bestimmte andere (soziodemographische) Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Erwerbstätigkeit untersucht allerdings auch Schwenk die soziale Lage erst im Nachhinein. Eine andere Abweichung gegenüber dem abstrakten Modell besteht darin, dass nicht allein „objektive“ Merkmale in die Konstruktion der Lagen eingehen. So gehört zum Merkmal „Anomie“ auch die Einschätzung, ob man sich oft einsam fühle (Schwenk 1999: 107). Daraus lässt sich schließen, dass Lagemodelle zwar komplexer und weniger auf Berufstätigkeit konzentriert
7.1 Soziale Lagen als Ungleichheitskonzept
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sind als Schichtmodelle, dass man sie im Einzelnen auf ihre Konsequenz im Hinblick auf ihre Ansprüche jedoch jeweils überprüfen sollte. Schwenk fasst die Lagen (neun für Ost- und zehn für Westdeutschland) aufgrund ihrer Komplexität nicht zu einem einzigen Ungleichheitsmodell für Deutschland zusammen; er unterscheidet vorteilhafte, nachteilige und kombinierte Lebensbedingungen. Solch eine Struktur dient damit eher als Basis für weitere Analysen, z.B. für die Gegenüberstellung von sozialen Lagen und Lebensstilen oder Milieus (diese müsste man dann allerdings – so ist zu ergänzen – trennscharf von den sozialen Lagen abgegrenzt konstruieren). Den Begriff der sozialen Lagen verwenden außerdem etwa auch Habich/Noll (2008). Sie verstehen soziale Lagen in einem weiteren Sinne als Schichten oder Klassen, insofern sie „weitere Ungleichheitsdimensionen [umfassen], darunter auch so genannte neue soziale Ungleichheiten, die alte Ungleichheiten überlagern, verstärken oder abschwächen können. Daher werden neben objektiven Merkmalen der Benachteiligung zum Teil auch subjektive Merkmale betrachtet“ (Habich/Noll 2008: 173).
Unter anderem wird nach dem Erwerbsstatus (inklusive einiger nicht erwerbstätiger Gruppen, z.B. Rentner), dem Geschlecht, der Region (Ost-/Westdeutschland) und dem Alter differenziert (Abbildung 24).26
26 Vgl. zur begrifflichen Abgrenzung der Lagemodelle von Hradil bzw. Schwenk einerseits und Habich/Noll andererseits Hradil 1999: 367-369, Schwenk 1999: 47-50, 59.
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Abbildung 24: Soziale Lagen in West- und Ostdeutschland 2006, in %
Quelle: Habich/Noll 2008: 174
Kritisch lassen sich, ohne auf die Details der Modelle einzugehen, an dieser Stelle zwei Punkte anführen: Zum einen verweist z.B. H.-P. Müller darauf, dass Hradils Modell sozialer Lagen für eine einfühlsame Deskription von empirischen Lebensverhältnissen gut geeignet sein möge, jedoch keinen Erklärungsbeitrag leiste, also z.B. nichts darüber aussage, wie Lagen mit Milieus verknüpft sind (Müller 1992: 48). Geißler formuliert noch schärfer, dass die Milieus frei über den Lagen schwebten und Hradil den Zusammenhang zwischen Struktur- und Handlungsebene nicht herstelle (1998: 222). Hradil sieht dagegen den deskriptiven Anspruch nicht einseitig als Nachteil. Um die Vielfalt der Bestimmungsgründe sozialer Ungleichheit zu erfassen, komme den beschreibenden Modellen „logische und zeitliche“ Priorität zu (1987: 71). Ebenso ist Noll der Ansicht, dass verallgemeinernde Aussagen über die gegenwärtige Struktur sozialer Ungleichheit nicht angemessen sind, sondern dass detaillierte komparative Studien unter der Berücksichtigung mehrerer Staaten benötigt werden (Noll 2001: 426). Als einen zweiten kritischen Punkt gegen (Hradils) Lagemodell sieht Müller, dass sich gerade die nichts ausschließende Komplexität empirisch schwer umsetzen lasse (1992: 48). Schwenks Arbeit ist ein Versuch, dieses mögliche Manko zu widerlegen, doch zeigt sich an seiner Umsetzung des Konzepts, dass er empirisch einige Eingrenzungen machen musste. Beispielsweise konnte er keine primären Ressourcen oder andere
7.1 Soziale Lagen als Ungleichheitskonzept
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systematische Gewichtungen festlegen. Auch muss man eine Auswahl konstituierender Merkmale treffen (z.B. berücksichtigt Schwenk – dies übrigens im Unterschied zu Geißlers Schichtmodell (Kap. 4.1) – die Nationalität nicht als Merkmal). Der Unterschied, den Hradil zwischen Lagemodellen macht, die die unmittelbar erfahrbaren Lebensbedingungen eines Menschen erfassen und solchen (z.B. vom WZB), die Bestimmungsgründe von Lebensbedingungen festlegten, von denen man nur mittelbar auf die Lebensbedingungen schließen könne (1999: 368f.), wird in einer konkreten Umsetzung dann schnell relativ. Zum Einfluss so genannter „neuer“ oder „horizontaler“ Merkmale sozialer Ungleichheit soll an dieser Stelle noch eine Anmerkung gemacht werden. Weil sich die Ausführungen in diesem Rahmen vor allem darauf konzentrieren, wie die einzelnen Konzepte soziale Ungleichheit als Modell erfassen und welche theoretischen Ansprüche damit verbunden sind, kann nicht im Einzelnen darauf eingegangen werden, welche dieser Merkmale der eine oder andere Ansatz besonders oder nur nachrangig/gar nicht berücksichtigt und wie genaue empirische Ergebnisse dazu aussehen (vgl. zu sozialstrukturellen Informationen im Überblick z.B. Hradil 2001b, Schäfers 2004, Klein 2005, Geißler 2011, Statistisches Bundesamt 2008, Huinink/Schröder 2008, Rössel 2009; zur Sozialstrukturanalyse im europäischen Vergleich einführend Hradil 2006a, Mau/Verwiebe 2009). Auf die Rolle des Wohlfahrtsstaates etwa als Ungleichheitsdimension hat unter anderem bereits Lepsius (1979) aufmerksam gemacht, der Webers Klassen durch „Versorgungsklassen“ ergänzt (die Ungleichheiten durch wohlfahrtsstaatiche Leistungen und Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen abbilden). Esping-Andersen (1990) unterscheidet mehrere Typen des Wohlfahrtsstaates, die soziale Ungleichheit beeinflussen. Der Stellenwert von Merkmalen wie z.B. Alter, Geschlecht, Wohnort oder Ethnie ist in neueren Modellen (und zwar nicht nur in Lagemodellen!) generell höher, als es bei traditionellen Klassen- und Schichtkonzepten der Fall war – die selbstverständliche Entsprechung von Klassen- und Schichtmerkmalen einerseits und anderen Ungleichheitsmerkmalen andererseits oder deren völlige Vernachlässigung war ja gerade auch ein Kritikpunkt an den älteren Modellen gewesen (vgl. Kap. 3.6). Lebensstil- und Milieumodelle betonen beispielsweise oft den prägenden Einfluss von Alter und Geschlecht. In Schwenks Lagemodell gehen Wohn(umwelt)-Bedingungen ein, in das Lagemodell von Habich/Noll mögliche Ost-WestUnterschiede, und R. Geißler unterscheidet in seinem Schichtmodell in- und ausländische Gruppen. Weitere Ungleichheitsfaktoren sind etwa der mit dem Geldwohlstand konkurrierende Zeitwohlstand (Rinderspacher 2002), die „längst tot geglaubte Dimension“ des Unterschieds zwischen städtischen und peripheren ländlichen Gebieten (Barlösius/Neu 2002: 1) oder auch die Berücksichtigung der
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subjektiven Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten (z.B. Faik/Becker 2009, Sachweh 2010). Die Berücksichtigung des Geschlechts wird in Ungleichheitskontexten seit längerer Zeit eingefordert (vgl. z.B. Beer 1987, Frerichs/Steinrücke 1993, Cyba 2000, Gottschall 2000, Schäfgen 2000, Aulenbacher et al. 2010). Eine ausdrücklich Mehrdimensionalität anstrebende Richtung mit besonderer Berücksichtigung des Geschlechts ist dabei die Intersektionalitätsforschung (Klinger et al. 2007, Winker/Degele 2009, Lutz et al. 2010). Wie bei einer Straßenkreuzung überschneiden sich Diskriminierungsformen wie Klasse, Geschlecht und Ethnie, sind also nicht nur additiv miteinander verbunden – wenn beispielsweise USamerikanische schwarze Jugendliche aus der Unterschicht ihre Männlichkeit hervorheben, um einen Statusgewinn zu erzielen oder wenn (teilweise illegalisierte) Migrantinnen als günstige Pflegekräfte tätig sind (zu Letzterem s. Lutz 2007). Winker/Degele (2009) unterscheiden als zentrale Kategorien neben Geschlecht, Klasse und Ethnie/Rasse zudem den Körper, wozu Aspekte wie (zugeschriebene) Attraktivität, eine Behinderung, das Alter etc. zählen, dies zudem auf den drei Ebenen der Sozialstruktur, der Repräsentationen und der Identität. Wieder zeigt sich: Ein umfassendes Modell sozialer Ungleichheit steht vor der Aufgabe, relevante Merkmale auszuwählen und ihren Stellenwert zu gewichten (zur Gewichtung von Ungleichheitsdimensionen vgl. auch Berger/Schmidt 2004). Schließlich ist im Kontext einer mehrdimensionalen Erfassung von Ungleichheit auf die internationale Perspektive aufmerksam zu machen. Ansätze, soziale Ungleichheit auch in einem europäischen Rahmen zu sehen, gibt es z.B. bei M. Heidenreich (2006). Er selbst äußert sich zurückhaltend optimistisch zu einer Europäisierung von Ungleichheitsdiskursen und Sozialpolitiken, ohne dass er nationale Blickrichtungen der Ungleichheitsforschung damit als überholt ansähe (2006: 14/15). Kreckel geht in seinem Plädoyer für eine internationale Ungleichheitsforschung weiter, er spricht von einer nicht nur Länder vergleichenden, sondern staatenübergreifenden Perspektive, z.B. wenn der Zusammenhang von Weltökonomie und globaler Ungleichheit analysiert wird. Und selbst „wenn die soziologische Ungleichheitsforschung ihr empirisches Augenmerk auf lokale oder nationale Ungleichheitsverhältnisse konzentriert, darf sie deren … globale Bedingtheit nicht außer Acht lassen“ (Kreckel 2006: 32). Diese übergreifende Sichtweise eines „transnationalen“ Raums findet sich beispielsweise auch bei Berger/Weiß (2008) oder Pries (2010). U. Beck (s. Kap. 8) ist ebenfalls ein prominenter Vertreter einer kosmopolitischen Perspektive „jenseits des methodologischen Nationalismus“ (Beck/Grande 2010; vgl. auch Beck 2008, Beck/Beck-Gernsheim 2010).
7.2 Prekäre Lagen und Exklusion
147
Zusammenfassung Kennzeichnend für mehrdimensionale Ungleichheitsmodelle wie dem der sozialen Lagen oder der Intersektionalität ist zusammenfassend, dass sie durch die Berücksichtigung vielfältiger Ungleichheitsmerkmale eine differenzierte Beschreibung von („objektiven“) Lebensbedingungen anstreben und somit einen Vorteil auch gegenüber neueren Schichtmodellen beanspruchen, die nach wie vor auf die Berufstätigkeit und vorrangig auf die vertikale Ebene sozialer Ungleichheit konzentriert seien. 7.2 Prekäre Lagen und Exklusion Im Zusammenhang mit Lebensstilen und Milieus wurde angesprochen, dass die Ungleichheitsdiskussion in den letzten Jahren (wieder) dazu neigt, vertikale Ungleichheiten zu betonen und somit gelegentlich z.B. Lebensstilanalysen, die eine gewisse – nicht vollständige – Lösung individueller Handlungsmuster von Klassen- oder Schichtzugehörigkeiten postulieren, als begrenzte Phase im Ungleichheitsdiskurs anzusehen. Barlösius etwa konstatiert, die Strukturierungsthese habe seit Ende der 1990er Jahre an Plausibilität zurückgewonnen (2004: 19), Vester geht mit recht großer Selbstverständlichkeit von einer „Wiederkehr sozialer Klassenunterschiede“ aus (2005: 21), in vielen Veröffentlichungen findet man weitere Beispiele.27 Eine vorläufige Zuspitzung, die auch die öffentliche Diskussion über Ungleichheit in den Massenmedien erreichte, ist in Begriffen wie Prekariat (als Wortkombination von prekär und Proletariat) bzw. Prekarität oder „Prekarisierung“ (Castel/Dörre 2009; Manske/Pühl 2010), Exklusion, Ausgrenzung von „Überflüssigen“, „Ausgeschlossenen“ (Bude/Willisch 2006, 2008, Bude 2008, Kronauer 2010) oder auch einer „neuen Unterschicht“ (Chassé 2009) zu sehen. Gemeinsam ist diesen Begrifflichkeiten, dass sie den Blick auf – teilweise extrem – benachteiligte soziale Lagen richten, wobei soziale Lage hier in einem weiten Sinne gemeint ist, nicht als spezifisches, im vorigen Abschnitt erläutertes Modell. Diese Perspektive auf Benachteiligungen wirkt jedoch auch
27 Dass damit nicht zwingend eine eindimensional gefasste Restrukturierung verbunden sein muss, zeigen beispielhaft Lessenich/Nullmeier, die in den von ihnen diskutierten multiplen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft, z.B. zwischen Arm und Reich oder sicheren und prekären Lagen, „kein eindeutig-eindimensionales Muster sozialer Über- und Unterprivilegierungslagen erkennen“ (2006: 15) Dies gilt auch dann, wenn im Weiteren festgestellt wird, dass sich sicherlich keine Wiederkehr der Klassengesellschaft vollziehe, dass aber „die Diagnose bloß nebeneinander existierender Spaltungen, die nicht kumulieren …, die potentiellen Wirkungen wachsender sozialer Ungleichheit eher zu unterschätzen [scheine]“ (a.a.O.: 15/16).
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auf allgemeine Vorstellungen von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft zurück. Bedingungsfaktoren dieser Veränderungen im Diskurs sind unter anderem – dies kann hier nur in Stichworten angedeutet werden – in der gestiegenen Arbeitslosigkeit zu sehen, damit im Zusammenhang in Prozessen der Flexibilisierung und Deregulierung von Erwerbsarbeit, was sich z.B. auf die Arbeitszeit, die Arbeitsplatzsicherheit, atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit etc. richtet. „Prekär“ bezog und bezieht sich zu einem Teil insbesondere auf die Prekarität von Arbeitsverhältnissen in diesem Sinne (vgl. Dörre 2005, Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006). Schließlich ist die Krise des Wohlfahrtsstaats, der sozialen Sicherungssysteme, zu nennen. Bei der Verwendung von Begriffen wie Ausgrenzung und Exklusion richtet sich der Blick nicht auf Benachteiligungen im Allgemeinen, sondern die Begriffe deuten darauf hin, dass eine Grenze überschritten worden ist, hinter der es den Benachteiligten nicht allein deutlich schlechter geht als einem – wie auch immer bestimmten – Durchschnitt der Bevölkerung, sondern hinter der sie nicht mehr eindeutig zur Gesellschaft hinzugehören, in dem Sinne, dass sie ausgeschlossen sind von vielen Konsummöglichkeiten und von gesellschaftlicher Teilhabe. Umgekehrt werden sie für ein Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen scheinbar auch nicht zwingend benötigt, wenn z.B. ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft keine Nachfrage findet (zu „Überflüssigen“ siehe auch Hark 2005). Exklusion zielt in der Armutsforschung (vgl. Barlösius/Ludwig-Mayerhofer 2001) außerdem oft darauf ab, kumulierende Benachteiligungen zu erfassen, wenn z.B. der Verlust der Arbeitsstelle dazu führt, dass man weniger konsumieren kann, in eine kleinere Wohnung umziehen muss, sein Auto verkauft und schließlich weniger soziale Kontakte hat, was wiederum eine schlechte Ausgangsbedingung dafür darstellt, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Schließlich bildet Exklusion im Begriffspaar Inklusion – Exklusion innerhalb der Differenzierungstheorie eine Möglichkeit, die vorrangige Perspektive einer funktionalen Differenzierung von Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme mit Aspekten der (vertikalen) sozialen Ungleichheit zu verknüpfen (Luhmann 1997: 618-634, Göbel/Schmidt 1998, Schimank 1998, Barlösius 2004: 186-210, Schwinn 2004, 2007, Farzin 2006, Stichweh/Windolf 2009, Münch 2009). Exklusion bedeutet differenzierungstheoretisch im engeren Sinne zunächst, dass Personen aus der Blickrichtung von Teilsystemen nur in einer ganz bestimmten Weise wahrgenommen, inkludiert, werden, nämlich hinsichtlich ihres binären Codes. Dies bedeutet für das Gesundheitssystem etwa, dass jemand nur danach beurteilt wird, ob er krank oder gesund ist. Seine Bildungsqualifikation oder ob er zugleich in einen Rechtsstreit verwickelt oder Wähler ist, spielt hier keine Rolle. Richtet sich das Teilsystem allerdings in seiner spezifischen Ausrichtung nicht
7.2 Prekäre Lagen und Exklusion
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an alle Gesellschaftsmitglieder, so ist dies begründungspflichtig, daher wurden in modernen Gesellschaften solche prinzipiellen Exklusionen reduziert (Marshall 1992). Beispielsweise wurde im Zeitverlauf immer mehr Gruppen das Wahlrecht zuerkannt, der Ausschluss unter 18jähriger auch heutzutage stützt sich darauf, dass Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren noch nicht wahlmündig seien. Diese Sicht von Exklusion als noch nicht inkludiert im historischen Verlauf ist zu unterscheiden von Ausgrenzungen dort, wo Zugangsrechte prinzipiell gewährt waren, z.B. beim dauerhaften Verlust des Arbeitsplatzes. Da es diese Exklusionsformen aber real gibt, bietet es sich über die Begriffe der Exklusion und Inklusion an, nach Verbindungen zwischen der gesellschaftlichen Strukturierung durch funktionale Differenzierung und durch soziale Ungleichheit zu suchen. Solche Verbindungen werden sowohl theoretisch hergestellt (z.B. durch Schwinn 2005 oder Stichweh 2005: 163-196) als auch teilweise empirisch hinterfragt (z.B. Burzan/Schimank 2004 und Burzan et al. 2008, dort werden Inklusionsprofile als Muster der Inklusion in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme und deren Prägung durch die soziale Lage untersucht). Exklusion als Ausgrenzung aus zentralen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist also Thema der allgemeinen Ungleichheits- und der Armutsforschung ebenso wie der Diskussion über Schnittstellen zwischen Ungleichheits- und Differenzierungstheorie. Ein Problem besteht darin, dass der Exklusionsbegriff an Schärfe verlieren kann, wenn er sehr heterogen verwendet wird, andererseits in Teilen nur eine dichotome Unterteilung von „drin“ und „draußen“ kennt. R. Castel etwa macht auf die „Fallstricke des Exklusionsbegriffs“, der sich – in Frankreich bereits seit Beginn der 1990er Jahre – zum Allzweckwort entwickelt habe, aufmerksam (2000a). Er sieht die Gefahren,
dass Exklusion zu unspezifisch und undifferenziert verwendet wird, wenn sie vorrangig „einen Mangel bezeichnet, ohne zu sagen, worin er besteht und woher er kommt“ (Castel 2000a: 12); dass die Sicht auf den Zustand des Ausgeschlossenseins bzw. auf die Ausgeschlossenen den Blick auf Prozesse, die zu Exklusion führen, versperrt. Angesichts dessen, dass Exklusion heutzutage meist eine Degradierung, einen Abstieg gegenüber einer früheren sozialen Position bedeute und feste Grenzziehungen z.B. zwischen Prekarisierung und Exklusion unmöglich seien, sei es umso bedeutsamer, Exklusion als „Auswirkung von Prozessen [zu] sehen, die die gesamte Gesellschaft durchqueren und ihren Ursprung im Zentrum und nicht an der Peripherie des sozialen Lebens haben. Zum Beispiel in der Entscheidung von Unternehmen, die Karte der Flexibilität ganz auszuspielen, oder in der Entscheidung des Finanzkapitals, anderswo zu investieren“ (a.a.O.: 14; Hervorhebung im Original).
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7 Soziale Lagen dass schließlich daraus eine sozialpolitisch einseitige Konzentration auf Ausgeschlossene erwachsen könnte. Anstelle eines solchen Fokus auf vermeintliche Randgruppen und damit einer eher technischen Problembehandlung müssten grundsätzlichere Maßnahmen ergriffen werden, um bei den gesellschaftlichen Ursachen von Ausgrenzungsprozessen statt allein bei den Symptomen anzusetzen (a.a.O.). M. Kronauer schließt an, dass der Kampf gegen Exklusion – überdies ein erklärtes Ziel der Europäischen Union – als Wiedereingliederung Ausgegrenzter verstanden auch deshalb zu kurz greife, weil die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg zunehmend auf die Betroffenen verschoben werde, wenn beispielsweise sozialstaatliche Leistungen verstärkt an Vorleistungen gebunden würden (Kronauer 2006: 42/43).
Gegen die unter Umständen wenig komplexe Unterscheidung, exkludiert oder nicht exkludiert zu sein, setzen einige Autoren, wiederum in Anschluss an Castel (2000a/b), ein Modell dreier Zonen sozialer Kohäsion: Es handelt sich dabei um die Zone der Integration – hier sind gefestigte Arbeitsverhältnisse und stabile soziale Beziehungen charakteristisch –, die Zone der Verwundbarkeit mit Arbeitsplatzunsicherheit und wenig tragfähigen sozialen Netzen in einer insgesamt von Unkalkulierbarkeit geprägten Situation und schließlich die Zone der Abkoppelung oder Entkoppelung, in der sowohl die Beteiligung an Erwerbsarbeit als auch soziale Beziehungen in hohem Maße problematisch sind und es zu sozialer Isolation kommen kann (Castel 2000b: 13, siehe auch z.B. Kronauer 2006: 3538, Vogel 2006: 344/345). Solch eine Zoneneinteilung, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden kann, vermittelt eine andere Vorstellung von einer Mittelkategorie als solche, in der die „Mitte“ eine Normalität in dem Sinne darstellt, dass hier eine materiell abgesicherte Lebensführung möglich ist – wie es etwa die Vorstellung von Mittelschichten tut. Sondern hier ist bereits die Mittelkategorie systematisch mit prekären Lebenslagen verbunden, was ja auch wiederum anknüpft an den oben angesprochenen Gedanken, dass Exklusionsprozesse im Zentrum der Gesellschaft und ihren Institutionen ihren Ursprung haben. Brisanz erhält diese Aussage vor allem durch die These, dass sich die Zone der Verwundbarkeit, etwa durch den Rückgang unbefristeter Arbeitsverhältnisse, durch hohe Arbeitslosigkeit etc., ausweite. (zur Öffnung der Ungleichheitsschere und der These einer schrumpfenden Mittelschicht Grabka/Frick 2008, Goebel et al. 2010, zur Diskussion der gesellschaftlichen Mitte z.B. Herbert-QuandtStiftung 2007, Vogel 2009, Münkler 2010, Burzan/Berger 2010) Hier schließt nun auch der Begriff der Prekarität oder Prekarisierung an. Prekäre Arbeitsbedingungen und weiter gefasst prekäre Lebensverhältnisse stehen dabei im Blickpunkt. Prekär als unsicher oder heikel deutet darauf hin, dass es um
7.2 Prekäre Lagen und Exklusion
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Menschen in Lebensverhältnissen geht, die – noch – etwas zu verlieren haben, die also zumindest aktuell nicht am unteren Ende des Ungleichheitsgefüges stehen, deren soziale Position jedoch gefährdet ist. Die Begrifflichkeit des „prekären Wohlstandes“ ist sogar in sozialstatistische Kategorien eingegangen, bezeichnet etwa im Datenreport des Statistischen Bundesamtes die Spanne von 50-75% des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens (während unterhalb der 50%-Grenze relative Armut besteht; der Anteil derjenigen in einer prekären Wohlstandssituation betrug demzufolge nach Daten des SOEP 25% im Jahr 2006, Statistisches Bundesamt 2008: 165). B. Vogel weist darauf hin, dass prekärer Wohlstand – zusammen mit sozialer Verwundbarkeit – auf „uneindeutige und spannungsreiche soziale Lagen zielt … Denen, die in dieser Zone der Gesellschaft leben, darf in ihrem sozialen und beruflichen Alltag nichts ‚dazwischenkommen’ – nicht der Verlust des Arbeitsplatzes, keine chronische Krankheit, keine Ehescheidung oder andere familiäre Probleme … die eigene Lebens- und Haushaltsführung [gleicht] einem fragilen Kartenhaus, das nur geringer Erschütterungen bedarf, um in sich zusammenzustürzen.“ (Vogel 2006: 346).
Zugleich „[setzt] die Prekarität des Wohlstands Wohlstand voraus, und das Gefühl der Verwundbarkeit kennen nur diejenigen, denen soziale Sicherheit und Stabilität nicht fremd ist“ (ebd.).
P. Böhnke (2006a/b) grenzt ebenfalls dezidiert Ausgrenzung oder Marginalisierung einerseits von Verunsicherung andererseits ab. Ausgrenzungsrisiken wie Armut oder Langzeitarbeitslosigkeit „stehen nach wie vor in erster Linie mit Qualifikationsmangel und Ausbildungslosigkeit in Verbindung. Die Ergebnisse bestätigen die These nicht, dass sich prekäre Lebenslagen sprunghaft ausbreiten und sich von schichtspezifischen Risikofaktoren lösen“ (Böhnke 2006a: 214; eine ähnliche Diagnose eines starken Zusammenhangs von Armut bzw. Prekarität und sozialer Klassenlage findet sich bei Groh-Samberg 2004, 2009; Groh-Samberg/Hertel 2010).
Also: Keine dramatische Zunahme von Bevölkerungsanteilen in stark benachteiligten Lebenslagen, aber auf der anderen Seite reichen Verlustängste und Verunsicherungen bis in mittlere soziale Lagen hinein, z.B. Angst vor Arbeitslosigkeit oder zunehmende Konfliktwahrnehmungen, etwa zwischen Arm und Reich (Böhnke 2006b: 119). Diese Aussage zieht nun nicht die Schlussfolgerung nach sich, die Verunsicherung sei nur eingebildet und entbehre objektiver Grundlagen, sondern Böhnke will zwischen Verunsicherung und
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Ausgrenzung deshalb unterscheiden, „um auf beide Formen von Benachteiligungen angemessen reagieren zu können“ (2006b: 120).28 Hinzufügen ließe sich, dass es in Längsschnittbetrachtungen interessant wäre zu untersuchen, wie sich Abstiegsängste auf der Handlungsebene zu späteren Zeitpunkten auswirken, zu welchen Lebenslaufereignissen sie typischerweise führen, um die Zusammenhänge zwischen „objektiven“ sozialen Lagen und „subjektiver“ Verunsicherung nicht zuletzt theoretisch genauer zu analysieren (zur Unsicherheit in mittleren Lagen vgl. z.B. Kämpf 2008, Burzan/Berger 2010; zur Unsicherheit in einem allgemeinen Rahmen etwa Böhle/Weihrich 2009, Soeffner 2010). Popularität in der öffentlichen Wahrnehmung erlangte der Begriff der Prekarität außerdem im Zusammenhang mit den Ergebnissen einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu politischen Milieus aus dem Jahr 2006, insofern dort eines der Milieus als „abgehängtes Prekariat“ bezeichnet wurde (Neugebauer 2007). Hierin zeigt sich eine Überschneidung von Ungleichheitskonzepten: Zum einen baut die Studie auf einem Milieukonzept auf, wobei die Milieus durch Werte konstituiert sind, die für den dort fokussierten politischen Zusammenhang wichtig sind (es handelt sich um die Positionierung anhand der Wertekonflikte Libertarismus – Autoritarismus, soziale Gerechtigkeit – Marktfreiheit und Religiosität – Säkularität). Allerdings hat die Studie keine Abbildung des Ungleichheitsgefüges im engeren Sinne zum Ziel, sondern ein spezifisches Interesse, das sich auf politische Einstellungen und das Wahlverhalten richtet. Zum anderen ist durch die Bezeichnung des „abgehängten Prekariats“ die in diesem Abschnitt beschriebene Diskussionslinie integriert, auch in dem Sinne, dass Perspektiven und Verunsicherungen berücksichtigt werden – es gibt etwa ein weiteres Milieu, das als „bedrohte Arbeitnehmermitte“ charakterisiert wird. Das „abgehängte Prekariat“ macht nach diesen Befunden 8% der Bevölkerung aus, ist in Ostdeutschland deutlich stärker vertreten als in Westdeutschland, insbesondere bei Männern, und entstammt nach Schichtkriterien der Unter- bzw. unteren Mittelschicht; der Arbeitslosenanteil ist in diesem Milieu am höchsten. Vielfach waren die hier Zugeordneten bereits mit Abstiegserfahrungen konfrontiert. Ihren Einstellungen nach empfinden sie ihre Lebenssituation auch selbst als prekär und machen sich große Sorgen um die Zukunft. Politischen Reformen stehen sie skeptisch gegenüber, was mit einem hohen Nichtwähleranteil, aber auch mit Stimmen für linke und rechte Randparteien einhergeht (Neugebauer 28
Bude/Lantermann (2006) bekräftigen mit Hilfe von Daten aus einer Befragung Erwerbstätiger, dass „objektiver“ Ressourcenmangel nicht einlinig zu einem Gefühl des Ausgeschlossenseins führt. Vergleichsweise prekäre Lagen wurden nicht unbedingt als solche empfunden, und umgekehrt konnte ein Exklusionsempfinden bei pessimistischer Zukunftsperspektive auch dann entstehen, wenn die aktuelle Lebenslage nicht prekär war (2006: 244).
7.2 Prekäre Lagen und Exklusion
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2007: 69, 82-84; vgl. auch die Aufnahme eines „prekären Milieus“ innerhalb der Sinus-Milieus, Kapitel 5.2 in diesem Band). Es ist nicht die Größenordnung dieser Gruppe (8%), die Aufmerksamkeit erregt, auch sind nicht alle Milieus im sozialstrukturell „unteren“ Bereich hier zu verorten, es gibt außerdem „selbstgenügsame Traditionalisten“ (11%, darunter viele Rentner) und „autoritätsorientierte Geringqualifizierte“ (7%, ebenfalls mit höherem Durchschnittsalter; a.a.O.: 79-82).29 Kennzeichnend ist vielmehr die Problemperspektive, nach teilweise bereits erfahrenen Abstiegen auch in Zukunft voraussichtlich von Ressourcen und gesellschaftlicher Teilhabe „abgehängt“ zu sein. Weniger akut und von einer besseren Versorgungslage ausgehend sind diese Sorgen und Verunsicherungen dann auch für die „bedrohte Arbeitnehmermitte“ charakteristisch. Die Studie ist ein Beispiel dafür, dass sich neuere Ungleichheitsmodelle – hier Milieumodelle – nicht der vertikalen Ungleichheitsachse sowie Ausgrenzungsprozessen und verfestigten Benachteiligungen verschließen müssen, sondern sie umgekehrt zumindest potentiell durch ihre mehrdimensionale Anlage berücksichtigen können. Anders formuliert: Der soziale Wandel, auf den die ungleichheitstheoretische Diskussion reagiert, muss nicht zu einem vorrangigen Blick auf allein vertikale Abgrenzungen oder – zur Verdeutlichung etwas überspitzt – zur reumütigen Rückkehr zu „alten“ Schichten- und Klassenmodellen führen, sondern Ungleichheitsmodelle können mehrdimensional sein, ohne damit die Beliebigkeit sozialer Lagen zu postulieren. Die Anforderungen an mehrdimensionale Modelle, verschiedene Ungleichheitsmerkmale zu gewichten, das Verhältnis vertikaler und horizontaler Dimensionen zu bestimmen und eine Aussage über die Relationen zwischen den Lagen zu treffen, bleiben allerdings auch hierbei bestehen. Die Sicht auf Ungleichheit nimmt mit einer Perspektive auf Prekarisierung und Verunsicherung stärker zeitliche Aspekte in den Blick, als es ein Ungleichheitsmodell tut, das seinen Schwerpunkt auf Ungleichheitsverteilungen zu einem bestimmten Zeitpunkt setzt. Dies schließt Lebensverläufe ebenso ein wie (möglicherweise fehlende) Zukunftsperspektiven und subjektive Aufstiegschancen/Abstiegsängste mit ihren Auswirkungen auch auf die „objektive“ Ebene von Mobilitätsprozessen. Begriffe wie Verunsicherung in der Gesellschaftsmitte können damit Chancen bieten, nicht nur eine sachliche, sondern auch eine zeitliche Aspekte betreffende Erweiterung der Ungleichheitsdebatte anzuregen,
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Zur Vervollständigung des Bildes seien auch die anderen Milieus genannt: In der Mitte befinden sich neben der bedrohten Arbeitnehmermitte (16%) die zufriedenen Aufsteiger (13%), im oberen Bereich (insgesamt 45%) sind Leistungsindividualisten (11%), etablierte Leistungsträger (15%), kritische Bildungseliten (9%) sowie das engagierte Bürgertum (10%) angesiedelt (Neugebauer 2007: 68-79).
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sofern sie sich auf das Ungleichheitsgefüge als Ganzes beziehen und damit einen auch ungleichheitstheoretischen Anspruch haben. Zusammenfassung Prekäre Lagen und Exklusion richten sich auf auffällige Benachteiligungen in der Gesellschaft, die jedoch auch in die Mitte der Gesellschaft verweisen, sowohl hinsichtlich der zugrunde liegenden Ausgrenzungsprozesse als auch im Sinne der Betroffenheit durch Verunsicherung und Abstiegsangst. Damit trifft diese Perspektive auch Aussagen über die Vorstellung von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft insgesamt und bietet Potential für die Betonung zeitlicher Aspekte. Ein in sich geschlossenes Modell sozialer Ungleichheit auf dieser Basis, gegebenenfalls in Verbindung mit z.B. Klassen- oder Milieuansätzen, liegt allerdings bislang nicht vor. Lesehinweise:
Hradil, Stefan (1987): Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus, Opladen: Leske + Budrich, insbesondere Kap. 4.2: Soziale Lagen (S. 145-158) Bude, Heinz; Willisch, Andreas (Hg.) (2006): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition Castel, Robert; Klaus Dörre (Hg.) (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Campus
8 Individualisierung – Entstrukturierung soler Ungleichheit?
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8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer Ungleichheit? 8.
Individualisierung – Entstrukturierung soler Ungleichheit?
Die Individualisierungsthese (insbesondere von U. Beck) ist eine Position zur sozialen Ungleichheit, die weder die Begriffe Klasse oder Schicht für gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse modifiziert noch andere Begriffe wie z.B. Milieu verwendet, um auf diese Art ungleichheitsrelevante Gruppen zu identifizieren. Sie behauptet vielmehr, so der provokante Titel eines Aufsatzes Becks von 1983, dass wir uns „jenseits von Klasse und Stand“ (bzw. „Schicht“, Beck 1986: 121) befinden, womit gemeint ist, dass überhaupt keine gesellschaftlichen Großgruppen mehr existieren, die nicht nur rein statistische Zusammenfassungen, z.B. ähnlicher Einkommensgruppen, darstellen. „Objektive“ Bedingungen und „subjektive“ Lebensweise fallen danach recht stark auseinander. Einige Autoren sehen Beck daher als prominentesten Vertreter von Richtungen, die man als Entstrukturierungsansätze oder Auflösungsthesen bezeichnen könnte. R. Geißler beispielsweise, der selbst für die Beibehaltung des Schichtbegriffs plädiert (s. Kap. 4.1), deutet und kritisiert die Individualisierungsthese als Übersteigerung von Pluralisierung, wenn Beck „nicht nur eine Pluralisierung, sondern sogar eine Individualisierung der Lebensbedingungen zu erkennen“ meine (Geißler 2002: 137). Auch H.-P. Müller spricht von „radikalen Strategien“, die das Paradigma strukturierter sozialer Ungleichheit in eine „Phänomenologie“ sozialer Ungleichheit überführen wollen (1992: 45), oder von der Vorstellung eines „Patchworks“ sozialer Unterschiede (a.a.O.: 38). Er führt Beck als ein Beispiel für solche Strategien an, die angesichts Pluralisierung und Individualisierung eher eine Beschreibung der Vielfalt sozialer Ungleichheit liefern. Sie versuchen laut Müller, „die verschiedenen Formen und Fragmente sozialer Unterschiede detailliert empirisch zu ermitteln und die Ergebnisse in Einzelbeobachtungen zusammenzufassen, ohne noch den Anspruch eines einheitlichen theoretischen Bezugsrahmens zu erheben. Gerade die Unmöglichkeit, Formen und Wirkungsweisen verschiedener Ungleichheitsfaktoren in einen allgemeinen Rahmen zu integrieren, wird als Ausdruck der Komplexität der Gesellschaft und der Pluralität ungleichheits-bedeutsamer Differenzierungen angesehen.“ (Müller 1992: 45). N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wie viel Radikalität man Becks These unterstellt, liegt an der Deutung des mehrdimensionalen und damit missverständlichen Begriffs der Individualisierung. Der folgende Abschnitt wird daher die Individualisierungsthese in ihren Grundzügen zunächst darstellen, bevor nochmals darauf eingegangen wird, was sie im ungleichheitstheoretischen Rahmen bedeutet. Die Individualisierungsthese ist nicht allein eine Position zu Ungleichheitsverhältnissen, sondern zugleich eine Gegenwartsdiagnose für westliche Gesellschaften seit etwa den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts (Individualisierungsschübe gibt es auch in anderen Zeiträumen, zur Individualisierung bei soziologischen Klassikern und anderen Autoren vgl. z.B. Kippele 1998, Bauman 2001, Schroer 2001, 2008, Howard 2007, Kron/Horáþek 2009; hier soll vor allem auf die Diagnose Becks für den genannten Zeitraum eingegangen werden). Die These bündelt gesellschaftliche Entwicklungen in einem charakteristischen Begriff, eben in der Individualisierung, locker verbunden mit weiteren Schlagworten, der „Risikogesellschaft“ bzw. der „Weltrisikogesellschaft“ sowie der „Reflexiven Moderne“.30 Beck stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Entwicklungen sich vor allem seit den sechziger Jahren und insbesondere in Deutschland vollzogen haben, verallgemeinert seine Gedanken aber auch generell auf moderne Gesellschaften. Er stellt fest, dass es einen Individualisierungsschub gegeben hat, der durch drei Dimensionen gekennzeichnet ist (1986: 206): 1.
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Freisetzung aus traditionellen Bindungen, z.B. aus Ständen oder sozialen Klassen, aber auch traditionellen Geschlechtsrollen. Durch die Freisetzung gibt es mehr Mobilität und Wahlfreiheiten als vorher. Ein Beispiel ist, dass man seinen Beruf unabhängiger davon wählen kann, welchen Beruf die Eltern haben, Arbeiterkinder müssen nicht unbedingt wieder Arbeiter werden. Auch kann man in höherem Maße selbst entscheiden, ob man z.B. heiratet oder nicht und Kinder hat oder nicht. Man wird etwa als vierzigjährige unverheiratete Frau ohne Kinder nicht mehr gesellschaftlich diskriminiert, man sagt nicht, die Frau habe keinen Mann „abbekommen“. Allgemein sind
Zur Individualisierung als Gegenwartsdiagnose vgl. z.B. Schroer 1997, 2000, Volkmann 2000, zur Reflexiven Moderne Beck/Lau 2005, zur Weltrisikogesellschaft Beck 2007b – dort geht er weniger auf Individualisierung ein, wenngleich er biographische Risiken als Dimension neben den dort behandelten ökologischen, Finanz- und Terrorrisiken nennt, sondern verweist auf künftige Forschungen zum Zusammenhang z.B. zwischen Individualisierung und Kosmopolitisierung im Rahmen einer Theorie der reflexiven Modernisierung, a.a.O.: 37; zur Kosmopolitisierung etwa auch Beck 2008, Beck/Beck-Gernsheim 2010, Beck/Grande 2010.
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Handlungsorientierungen, die dadurch entstehen, dass man in eine bestimmte Familie und soziale Lage hineingeboren wurde oder ein bestimmtes Geschlecht hat, geringer geworden. Diese Freiheit hat aber nicht nur positive Seiten, was die zweite Dimension ausdrückt: Entzauberung: Dadurch, dass es keine festen Handlungsorientierungen mehr gibt, muss man selbst entscheiden, ohne sicher zu wissen, was die richtige Wahl ist. Die Freiheit bringt also auch Unsicherheiten und Risiken mit sich. Heute kann man sich z.B. eher wieder von einem Partner trennen, aber diese Freiheit bringt auch das Risiko mit sich, dass man von seinem Partner verlassen wird und sein Leben dann neu ohne ihn organisieren muss. Eine Frau könnte sich z.B. weniger denn je darauf verlassen, durch eine Heirat lebenslang ökonomisch abgesichert zu sein. Auch bei der beruflichen Wahl ist man auf sich gestellt, es ist unsicher, ob man später eine gute Arbeitsstelle bekommen wird etc. Welchen Beruf der Vater hatte, ist heute kaum noch ein zuverlässiges Kriterium, um eine Wahl zu treffen. In Becks Worten: „Die handlungsleitenden ‚Meso-Sicherheiten’ sozialer Milieus schmelzen weg, und die Individuen müssen auch innerhalb weiter bestehender Einkommenshierarchien und innerhalb weiter existierender Familien ihre Biographie durch aufbrechende Entscheidungszwänge und Entscheidungsrisiken hindurch selbst planen, organisieren, zusammenhalten, in einem kontinuierlichen Versuch-und-Irrtum-Verfahren“ (Beck/BeckGernsheim 1993: 179). Die Risiken werden außerdem verstärkt den einzelnen Individuen zugeschrieben: Wenn jemand z.B. arbeitslos wird, liegt es nahe, dass er sich Mühe geben muss und dass er vielleicht früher eine falsche Berufsentscheidung getroffen hat. Selbst wenn man weiß, dass es strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung gibt, führen sie nicht mehr z.B. zur Solidarisierung einer Klasse von Arbeitslosen, es sind individualisierte Arbeitslose. Individualisierung kann somit auch als gesellschaftlicher Zurechnungsmodus verstanden werden, der die Selbstverantwortung und Selbststeuerung akzentuiert (so auch Wohlrab-Sahr 1997). Insgesamt bedeutet Individualisierung also mehr Freiheit, aber auch mehr Unsicherheit für das Individuum. Eine dritte Dimension kommt hinzu: Reintegration in die Gesellschaft: Die Freiheit des Individuums ist nach der Individualisierungsthese nicht unendlich. Es gibt eine neue Art der Wiedereinbindung, nur nicht mehr z.B. durch Klassen vermittelt. Individuum und Gesellschaft stehen sich unmittelbarer gegenüber. Nicht nur gibt es jetzt einen Zwang, sich zu entscheiden (z.B. ob und welchen Beruf jemand ergreift), sondern die Entscheidungen sind begrenzt, vor allem durch Institutionen, also z.B. den Arbeitsmarkt, rechtliche und sozialstaatliche Regelungen usw. Z.B. gibt es die Schulpflicht, wenn man Ärztin werden will,
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8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer Ungleichheit? muss man dafür eine bestimmte Ausbildung an der Universität durchlaufen, der Arbeitsmarkt bietet bestimmten Personen (je nach Qualifikation, Branche, räumlicher Mobilität, Wunsch nach Teilzeit etc.) weniger Chancen als anderen etc. Institutionelle Anerkennung von Pluralität (z.B. im Familienrecht) und die Adressierung von (politischen und sozialen) Grundrechten sowie Reformen (z.B. Arbeitsmarktreformen) an das Individuum anstatt an ein Kollektiv sind Bestandteile der von Beck des Öfteren hervorgehobenen „institutionellen Individualisierung“ (z.B. Beck 2008: 303). Neben der Integration durch Institutionen spielt zudem der Modus der Selbstintegration, das heißt das Eingehen freiwilliger Bindungen, eine Rolle (Beck 1997).
Beck spricht im Zusammenhang mit Freisetzung und Reintegration auch von Doppelgesichtern der Individualisierung. Die Freiheit ist nur die eine Seite, Restriktionen in neuer Form sind die andere Seite. Ein Beispiel: Frauen sind heute oft qualifizierter als früher und möchten gern einer entsprechenden Erwerbsarbeit nachgehen, aber andererseits lässt der Arbeitsmarkt dies nicht immer zu. Dabei entsteht – wie geschildert – der Eindruck, die Entscheidungen des Individuums hätten zu seiner Situation geführt. Spätestens auf den zweiten Blick sieht man aber die Institutionenabhängigkeit daran, dass es bei zehn Millionen Menschen nicht zehn Millionen ganz unterschiedliche Lebensverläufe gibt. Natürlich hat im Detail jeder ein einzigartiges Leben und es gibt weniger „Normallebensläufe“ als z.B. Ende der fünfziger Jahre. Zu der Zeit gab es eher das bürgerliche Ideal, dass der Mann für die Erwerbstätigkeit und die Frau (gegebenenfalls neben einer Erwerbstätigkeit) in erster Linie für den Haushalt und die Kinder zuständig ist. Aber auch in einer individualisierten Gesellschaft gibt es Standardisierungen, z.B. von Ausbildungsverläufen oder Freizeitbeschäftigungen (wie Fernsehen). Soweit zum Begriff der Individualisierung nach Beck: Eine Freisetzung aus bestimmten sozialen Bindungen wird dabei also begleitet durch Risiken, Unsicherheiten und zudem neue Einbindungen. In diesem Prozess ändert sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Verhältnis wird direkter, es ist nicht mehr in erster Linie vermittelt durch soziale Instanzen wie die soziale Schicht oder Klasse. Individualisierung hat zum einen Folgen für das Individuum, es darf und muss wählen und Entscheidungen treffen, dabei muss es auch Handlungsweisen mit anderen abstimmen und auf Risiken gefasst sein. In längerfristiger Perspektive ergibt sich durch diese Wahlfreiheiten der einzelnen eine „Bastelbiographie“, die mehr Varianten aufweist als frühere „Normalbiographien“. Jeder bastelt sich seinen Lebenslauf aus den (nicht unendlichen) Möglichkeiten zusammen. Auf der Makroebene bestehen Folgen in der erwähnten Standardisierung
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und Pluralisierung (z.B. von Formen des Zusammenlebens: verheiratet oder nicht, Kinder oder nicht oder aus einer früheren Beziehung, Alleinerziehende, homosexuelle Paare etc.). Welche Ursachen hatte dieser Individualisierungsprozess? Eine wichtige Ursache ist der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen konnten sich mehr Dinge leisten. Beck nennt dies den „Fahrstuhleffekt“: Nicht die ökonomischen Unterschiede sind verschwunden, sondern die Reicheren sind noch ein bisschen reicher geworden, die Menschen in schlechteren ökonomischen Lagen haben ebenfalls hinzugewonnen. Die meisten haben also ein wenig mehr Geld, die Unterschiede zwischen ihnen sind aber ungefähr gleich geblieben, alle (jedenfalls viele) sind mit dem Fahrstuhl eine Etage höher gefahren. Gestiegenes Einkommen wird bei diesem Effekt noch dadurch begleitet, dass man bei insgesamt gestiegener Lebenserwartung eine geringere Arbeitszeit (auch Lebensarbeitszeit) hat. Inwiefern bewirkte dieser ökonomische Aufschwung Individualisierung? Zwar sind Unterschiede zwischen arm und reich relativ gleich geblieben, aber dadurch, dass sich auch die Ärmeren, etwa die Arbeiter, mehr leisten können, z.B. ein Auto, Reisen, eine hübsche Wohnung, sind die Ungleichheiten subjektiv weniger wichtig geworden, der potentielle Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen sozialer Lage ist weniger wichtig, die individuelle Bindung an eine Klasse verliert an Bedeutung. Für diesen Bedeutungsverlust ist außerdem der Einflussfaktor „Mobilität“ relevant: Durch verstärkte räumliche und soziale Mobilität verbringt man nicht mehr sein ganzes Leben in dem gleichen sozialen Umfeld (man zieht z.B. in eine andere Stadt und/oder wechselt die Arbeitsstelle), auch in diesem Sinne verlieren also traditionelle Bindungen an ihrer unbedingten Bedeutung. Ein zweiter Grund neben dem wirtschaftlichen Aufschwung ist die wohlfahrtsstaatliche Absicherung, z.B. wird das Studieren durch Bafög möglicherweise erleichtert. Eine Frau, die mit einem Kind ihren Mann verlassen will, muss dadurch vielleicht ökonomische Einbußen hinnehmen, wenn der Mann bisher Haupternährer war und sie auch in Zukunft wegen des Kindes keine Vollzeitstelle annehmen könnte. Sie fällt aber nicht ins finanzielle Nichts, es gibt Unterhaltsregelungen und im Notfall die Sozialhilfe. Solche Umstände können Entscheidungen (z.B. den Partner zu verlassen) erleichtern. Ein dritter Grund ist schließlich die Bildungsexpansion in den sechziger Jahren, von der vor allem die Frauen profitiert haben. Mit mehr Ausbildung stehen ihnen mehr Entscheidungsfreiheiten offen, auch ihre Werte verändern sich zum Teil (z.B. weg von traditionellen Idealen oder der Hinnahme von Ungleichheiten). Hinzu kommen gerade für die Situation von Frauen weitere Faktoren, z.B. mehr technische Hilfen bei der Hausarbeit oder eine erleichterte Familienplanung durch die Antibabypille. Ein Ergebnis dieser Entwicklungen und vor allem der Bildungsexpansion ist, dass Frauen und Männer stärker als
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Paar aushandeln müssen, wer geht wie viel arbeiten, wer macht die Hausarbeit und passt auf die Kinder auf etc. Die Arbeitsteilung ist nicht mehr selbstverständlich, auch wenn sie häufig noch in etwa geschlechtsspezifisch abläuft (zumindest ist die Frau meist noch hauptsächlich für den Haushalt und die Kinder zuständig, ob sie erwerbstätig ist oder nicht, vgl. z.B Dressel/Cornelißen/Wolf 2005 oder Mühling et al. 2006). Die Option, sich einen anderen Partner zu suchen anstatt weitere Kompromisse einzugehen, beeinflusst die Diskussionen stärker als es etwa noch in den fünfziger Jahren der Fall war. Beck prägte für diesen Sachverhalt das griffige Schlagwort der „Verhandlungsfamilie auf Zeit“. Es gibt durch die vielen Dimensionen des Begriffs (und auch durch Becks Darstellungsweise) verschiedene Missverständnisse, jeder versteht unter Individualisierung etwas anderes, kritisiert dann wiederum die anderen, nicht präzise genug zu sagen, was sie meinen usw., auch empirische Überprüfungen sind nicht einfach zu konzeptionieren. Wichtige Kritikpunkte richten sich neben oder im Kontext der Mehrdeutigkeit des Konzepts z.B. auf die Frage des Vergleichszeitraums, die Universalität der Geltung von Individualisierung oder auf die Frage, inwiefern Individualisierung tatsächlich mit Pluralisierung zusammenhängt beziehungsweise zusammenhängen muss.31 Beck wehrt sich gegen einige Deutungen des Begriffs. Auf individueller Ebene heißt Individualisierung beispielsweise nicht unbegrenzte Freiheit oder Autonomie, Selbstverwirklichung oder Emanzipation. Er bedeutet aber auch nicht Einsamkeit (nachdem Beck die Existenz von Großgruppen wie der Klasse oder die bestimmende Bedeutung der Familie für alle Lebensentscheidungen verneint, könnte man auf die Idee kommen, das Individuum sei nun einsam). Individualisierung meint „nicht Atomisierung, nicht Vereinzelung, nicht Vereinsamung, nicht das Ende jeder Art von Gesellschaft ... nicht Netzwerklosigkeit“ (Beck/Beck-Gernsheim 1993: 179, Hervorhebungen i. O.). Es gibt die oben genannten Wiedereinbindungen, und es gibt auch Bindungen an Personen und Personengruppen, nur nicht so unbedingt feststehende (z.B. lebenslang zum Ehepartner) oder solche zu Großgruppen wie der Klasse, wie es in der Vergangenheit eher der Fall war. Trotz dieser Entgegnungen bleibt jedoch die Anforderung bestehen, Begriffe (z.B. Wahlfreiheit, Entscheidung, Wiedereinbindung) im Rahmen der Individualisierungsthese zu präzisieren und damit einer empirischen Überprüfung zugänglich zu machen.
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Vgl. zu theoretisch oder empirisch angelegter Prüfung und Kritik der Individualisierungsthese z.B. Hondrich 1997, Friedrichs 1998, Hartmann 2001, Simonson 2004, Kohler 2005, Scherger 2007, Atkinson 2007 (s. auch Beck 2007a), Berger/Hitzler 2010; Konkretisierungen und Auseinandersetzungen mit ‚Individualisierung’ finden sich zudem z.B. in einigen von Beck herausgegebenen Sammelbänden: Beck/Beck-Gernsheim 1994, Beck 1997, Beck/Sopp 1997; als Gesamtdarstellung des Konzepts vgl. auch Junge 2002, Schroer 2008.
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Weiterhin gibt es das Argument, nur besser verdienende, junge qualifizierte Menschen seien individualisiert, weil nur sie die Entscheidungsspielräume hätten, die Beck beschreibt (z.B. Burkart 1993). Solch eine Einschätzung beruht aber ebenfalls auf der Deutung, Individualisierung meine in erster Linie Entscheidungsfreiheit. Man muss aber auch die andere Seite, die Wiedereinbindung (z.B. durch Institutionen) im Blick haben, dann kann man das Argument nicht so stehen lassen. Eine Person mit Hauptschulabschluss etwa hat vielleicht weniger Ausbildungswege zur Verfügung als eine Person mit Abitur. Aber erstens hat auch der Abiturient nicht unendliche Möglichkeiten (z.B. Studienbeschränkungen durch einen numerus clausus), andererseits geht es auch beim Hauptschüler nicht darum, ohne langes Nachdenken wie vielleicht der Vater Arbeiter zu werden, eventuell sogar beim gleichen Großunternehmen, er muss ebenfalls unter einigen Möglichkeiten abwägen, kann dabei nicht auf traditionell feststehende Wege zurückgreifen, hat aber andererseits zumindest theoretisch die Möglichkeit, sich weiter zu qualifizieren und die beruflichen Möglichkeiten damit zu verbessern. Nollmann und Strasser verstehen Individualisierung ohnehin vor allem als Deutungsmuster (welches den Einzelnen als Entscheidungszentrum seines Lebens ansieht), das man nicht ohne weiteres auf die Sozialstruktur, etwa auf Entstandardisierung oder auch Desintegration, „hochrechnen“ könne (2004: 99). Folglich widersprechen aus dieser Perspektive Phänomene, die z.B. eher die Restriktionen des Handelns anzeigen, der Individualisierungsthese nicht. Insgesamt kann man für die gesellschaftliche Ebene sagen, dass Individualisierung nicht eine vollkommene Entstrukturierung oder die Aufhebung der sozialen Ungleichheit bedeutet. Zu Becks Perspektive auf Ungleichheit lässt sich nun nochmals auf der Basis dieser Erläuterungen sagen: Nicht Klassen- und Schichtmodelle in neuer Form, nicht Modelle mit anderen Begriffen, sondern die Verneinung von Großgruppen überhaupt scheint angemessen. Da die Ungleichheitsrelationen ähnlich bleiben, wie beim Fahrstuhleffekt erklärt, handelt es sich nicht um eine Entstrukturierung der Gesellschaft, nicht um eine Auflösung von Ungleichheiten und damit auch nicht um eine Neuauflage von Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“ (vgl. Kap. 3.1), aber man kann laut Beck die Sozialstruktur mit Großgruppen nicht mehr angemessen beschreiben: „Wir leben trotz fortbestehender und neu entstehender Ungleichheiten heute in der Bundesrepublik bereits in Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft … Auf der einen Seite sind die Relationen sozialer Ungleichheit in der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik weitgehend konstant geblieben. Auf der anderen Seite haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung radikal verändert [durch den Fahrstuhleffekt, N.B.] … In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst. Gleichzeitig wird ein Prozess der Indivi-
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8 Individualisierung – Entstrukturierung sozialer Ungleichheit? dualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt“ (1986: 121f., Hervorhebung i. O.).
In einer späteren Veröffentlichung verdeutlicht er zudem: „Individualisierung ist allerdings kein bloß subjektiver Sachverhalt, demgegenüber eine objektive ‚Sozialstruktur’ der ‚Klassen’ und ‚Schichten’ fortbesteht, die für das Denken der Individuen verschlossen ist. Individualisierung ‚verflüssigt’ die ‚Sozialstruktur’ der modernen Gesellschaft“ (2001: 3).
Diese Position steht im Gegensatz z.B. zu der These Geißlers, dass die moderne Schichtstruktur durchaus weiterhin besteht, jedoch in weiten Teilen latent und der Alltagsbeobachtung schwerer zugänglich ist (1996: 333; vgl. Kap. 4.1). Beck nimmt hier allerdings nur die Position dazu ein, was es nicht mehr gibt (nämlich z.B. Klassen), bestreitet dabei auch Ungleichheit nicht. Beck legt jedoch mit der Individualisierungstheorie kein eigenes Modell dafür vor, wie man Ungleichheit in der Gesellschaft dann heute noch erfassen kann. Er spricht davon, dass es zeitlich begrenzte Zusammenschlüsse geben kann, es gibt also noch Bindungen und Interessengruppen, z.B. bei Bürgerinitiativen. Dies ist aber nur ein spezielles Beispiel. Es sagt nichts darüber aus, wie die Ungleichheitsstruktur einer Gesellschaft insgesamt soziologisch zu erfassen wäre. Individualisierung wird mit anderen Konzepten der Ungleichheitsforschung teilweise verknüpft. So beruft sich insbesondere die Lebensstilforschung der 1980er und 1990er Jahre oft auf die Individualisierung. In Einleitungen etwa ist dort häufig zu lesen, Individualisierung und Pluralisierung hätten dazu geführt, dass Klassen- und Schichtmodelle an Erklärungskraft verloren und sich dafür differenzierte Lebensstiltypen oder Milieus herausgebildet hätten, die über- und nebeneinander liegen, sich zum Teil auch überlappen. Trotz der vielfältigen Kritik an Becks Ausführungen stellen die meisten Autoren einige Grundzüge des beschriebenen Prozesses kaum in Frage. Einige Autoren bezweifeln jedoch den oft selbstverständlich hergestellten Zusammenhang von Individualisierung als Ursache einerseits und Pluralisierung und Ausbildung von Lebensstilen als Folge andererseits. Huinink und Wagner beispielsweise sind der Ansicht, dass „Individualisierung weder eine notwendige, noch eine hinreichende Voraussetzung für Pluralisierung von Lebensformen ist“ (1998: 92). Nicht nur werde die Homogenität von Lebensformen in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften oft überschätzt und die homogenisierende Wirkung von Reintegrationsmechanismen nach einem Abbau traditionaler Selbstverständlichkeiten gleichzeitig unterschätzt. Es käme hinzu, dass (insbesondere in Teilgruppen der Bevölkerung) auch bei normativ schwachen Vorgaben homogenes Verhalten entstehen kann,
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wenn es sich als erfolgreich im Rahmen der Lebenslage dieser Teilgruppe erwiesen hat (a.a.O.: 91f.). Das Zusammenleben als Verheiratete mit Kindern etwa erfolgt dann weniger, weil es immer schon so war oder Abweichungen diskriminiert würden, sondern weil man sich im Rahmen institutioneller Vorgaben für diese Lebensform entschieden hat (diese Kausalzusammenhänge sind natürlich komplexer, als sie hier dargestellt werden können). Beck selbst schreibt dazu: „Nonkonformismus schließt die Möglichkeit ein, konventionell und traditionell zu leben“ (2001: 4). Konietzka bezweifelt die Verknüpfbarkeit von Individualisierung (soweit belegbar) und der Ausbildung von Lebensstilen. Becks Argumentation richte sich eher auf die Rahmenbedingungen des Handelns, auf die Lebenslage, als auf das Handeln selbst, wie dies bei Lebensstilen der Fall sei. Zudem könne man sich entweder dafür entscheiden, Lebensstile oder stattdessen Individualisierung als neue Vergesellschaftungsform anzusehen. Beides gleichzeitig schließe sich aus, weil Individualisierung das Individuum als „Reproduktionseinheit des Sozialen“ ansehe und damit jede gruppenspezifische Sicht ablehne. Schließlich sieht Konietzka einen Widerspruch zwischen den neuen Kontrollstrukturen, der Institutionenabhängigkeit und Standardisierung bei Beck einerseits und andererseits den Lebensstilen, die trotz bestimmter Strukturbindungen die Präferenzen der Individuen (man müsste hinzufügen: teilweise) stärker betonen (Konietzka 1994: 153-158). Zusammenfassung der Individualisierungsthese Individualisierung ist ein Prozess, der laut U. Beck in modernen Gesellschaften (zumindest in westlichen Gesellschaften) seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts festzustellen ist. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Prozess, in dem die Individuen aus traditionellen Bindungen (z.B. Klasse und Schicht) freigesetzt werden, was neue Freiheiten, aber auch Unsicherheiten mit sich bringt. Neue Formen der Wiedereinbindungen sind nicht mehr in erster Linie durch Großgruppen wie die Klasse vermittelt, die Einbindung (und damit die Grenze der Wahlfreiheiten) erfolgt unter anderem über Institutionen wie den Arbeitsmarkt. Das bedeutet nicht, dass der Einzelne keine Bindungen mehr hat, sie sind nun aber anderer Art, insbesondere in einer längerfristigen Perspektive. Auch bestehen bestimmte Ungleichheiten, z.B. zwischen Einkommensgruppen, durchaus fort oder können sich sogar verschärfen. Ein Ungleichheitsgefüge aus stabilen gesellschaftlichen Großgruppen, deren Mitglieder eine identitätsstiftende Bindung zur Gruppe haben oder die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit ähnlich verhalten, gibt es nach dieser Auffassung jedoch nicht mehr. Dann werden die
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„in allen möglichen ‚Soziotopen’ sich entwickelnden habituellen Eigen- und Besonderheiten, die speziellen Praktiken und Riten, die identitätsstiftenden Emblematiken und Symboliken, die Relevanzsysteme und Wissensbestände, die Deutungsschemata und Distinktionsmarkierungen … zu zentralen Gegenständen einer individualisierungstheoretisch orientierten Diagnose des Wandels der modernen Gegenwartsgesellschaft“ (Hitzler 1999: 244f.). Eine solche Position ist jedoch auch dann, wenn man Individualisierung nicht als vollständige Entstrukturierung versteht, aus theoretischer und empirischer Sicht umstritten. Individualisierung als vollständige Entstrukturierung wird insgesamt nicht nur von kritischen Stimmen abgelehnt, sondern ist gar nicht zwingend eine Aussage der Individualisierungsthese selbst. Folglich kann es nicht darum gehen, im Zuge von Re-Strukturierungsdiskussionen Individualisierung (wie auch einige Lebensstilanalysen, siehe Kap. 5.1 und 5.3) als einseitig die Vielfalt von Unterschieden betonend und damit als – zumindest mittlerweile – überholt abzulehnen, sondern die Integration sozialer Wandlungsprozesse mit ihren Folgen für Lebensläufe seit den 1960er Jahren, wie sie unter anderem Beck beschrieben hat, bleibt auch für neuere Ungleichheitsmodelle eine Herausforderung. Verzeitlichung sozialer Ungleichheiten bei P.A. Berger Eine ähnliche Betonung instabiler Strukturen wie bei Beck und zumindest von Tendenzen der Entstrukturierung findet man bei Peter A. Berger. Insbesondere macht er auf die Bedeutung einer verzeitlichten oder dynamisierten Perspektive sozialer Ungleichheit aufmerksam, darauf also, dass Personen ihren Status im Lebenslauf zunehmend häufiger wechseln. Zu dieser Bewegung in Strukturen tritt noch die Bewegung von sozialen Strukturen (in geraffter Form z.B. Strukturen Ostdeutschlands nach der Vereinigung). Diese Perspektive bedeutet auch bei Berger nicht die Annahme einer vollkommenen Entstrukturierung oder die Auflösung sozialer Ungleichheiten überhaupt. An verschiedenen Stellen seiner Veröffentlichungen finden sich Hinweise darauf, z.B. heißt es: Die „inter- und intragenerationellen Auflockerungstendenzen im westdeutschen Mobilitätsregime sind freilich nicht gleichbedeutend mit einer Außerkraftsetzung hergebrachter Mechanismen der Statusvererbung oder gar einem ‚Ende’ der Reproduktion sozialer Ungleichheiten“ (1996: 245).
Dennoch sieht er es als Mangel der bisherigen Sozialstrukturanalyse, die Verzeitlichung von Ungleichheiten und die Dauer des Verbleibs in einer bestimmten Lage zu wenig zu beachten. Selbst bei mehreren betrachteten Zeitpunkten neige
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sie dazu, Stabilität zu überschätzen und Fluktuationen zu unterschätzen. Die Armutsforschung kann beispielsweise zeigen, dass eine relative Konstanz von Armutsanteilen zu zwei Zeitpunkten mit erheblichen Zu- und Abgangsbewegungen innerhalb dieses Zeitraums verbunden sein kann (1996: 20/21). Berger kommt zu dem Schluss, dass es zwar einerseits in bestimmten Hinsichten durchaus ausgeprägte „meritokratische“ Züge der gegenwärtigen „Erwerbsgesellschaft“ gebe, dass es aber andererseits „wachsende Instabilitäten und Unsicherheiten“ gibt, „die die strukturprägende und legitimierende Kraft der meritokratischen Triade aushöhlen“ – und dies nicht nur am unteren Ende der Statushierarchie (Berger/Konietzka 2001: 22). Diese Instabilitäten, allgemein die Dauer des Verbleibs in sozialen Lagen (in einem weiten Wortsinn) müsste die Ungleichheitsforschung konsequent als Element der objektiven Lebensbedingungen berücksichtigen (Berger 1990: 324). Hinzu kommt Bergers Hinweis, dass man beim Schluss von objektiven Ungleichheitsmustern auf die „kulturelle“ oder „subjektive“ Ebene, also auf Werte, Mentalitäten, Stile etc., durchaus die wissenssoziologischen und konstruktivistischen Untertöne etwas ernster nehmen solle als dies (auch neuere) sozialstrukturelle Arbeiten tun. Die genannte Verknüpfung solle daher sorgfältig konzeptionell überlegt sein (Berger 2001: 210). Auf jeden Fall impliziert dieser Gedanke den Vorschlag, nicht abgehoben von Positionen auszugehen, die zu besetzen sind, sondern von den Personen, die (ungleichheitsrelevante) Lebensläufe haben, Statusbiographien erleben. Zunehmende Instabilitäten und Diskontinuitäten sieht Berger nicht einseitig als Gefahr für die soziale Integration an. Kurze Verbleibsdauern in einem Status können zwar zu einer Schwächung der Integration führen, möglich ist aber auch eine flexiblere Haltung gegenüber vormals fremden Normen und Lebensstilen als Basis für eine andere Form der Integration als zuvor. So ist nicht a priori entscheidbar, ob sich eher eine Statusunsicherheit oder Erfahrungsvielfalt ergibt. Diese Ambivalenz entspricht auf einer kollektiven Ebene dem Doppelgesicht von Individualisierung für die Einzelnen, die als Chance, aber auch als Risiko zum Ausdruck kommen kann (Berger 1996). Eine empirische Prüfung von Häufigkeitsverteilungen zwischen den beiden Polen nimmt er allerdings nicht vor. Berger versucht jedoch, hinsichtlich von Erwerbsverläufen eine Bündelung von Befunden zu sozialstrukturellen Bewegungen vorzunehmen, indem er „Bewegungstypen“ ausmacht: Aufsteiger, Stetige, Unstetige und Absteiger (1996: 232236). Diese verbindet er in einem nächsten Schritt mit Formen der Alltäglichen Lebensführung (vgl. Kap. 5), so dass sich folgendes Schema ergibt:
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Abbildung 25: Bewegungstypen und Formen alltäglicher Lebensführung nach Berger
Quelle: Berger 1996: 240 Berger ist sich dabei allerdings bewusst, dass man bei der Berücksichtigung weiterer Faktoren (als nur von Erwerbsverläufen) und weiteren Untersuchungszeitpunkten Stabilitätsquoten fast beliebig „klein rechnen“ kann (1996: 242). Das Schema ist somit eher als ein heuristischer Schritt zu werten, um die Forderung nach einer dynamischen Sicht nicht im luftleeren Raum enden zu lassen. Mit dem Hinweis auf die zentrale Rolle von Personen und ihren Statusverläufen setzt Berger sich von mehr die Makroebene betonenden Ansätzen wie Klassenmodellen ab. Andererseits nimmt er mit der konsequenten Berücksichtigung von Ungleichheitsdynamiken (und zwar nicht nur in, sondern auch von Strukturen) eine zentrale Forderung der Klassenansätze auf, die diese von Schichtmodellen und teilweise auch anderen neueren Ansätzen sozialer Ungleichheit unterscheiden. Die Konsequenz, mit der Berger auf die Instabilität von (andererseits nicht vollkommen negierten) Ungleichheitsstrukturen hinweist, bringt seinen Ansatz in die Nähe der Argumente von Becks Individualisierungsthese. Dass übrigens eine Berücksichtigung von Lebensläufen nicht unbedingt zum Konzept Bergers führen muss, zeigen beispielsweise die Arbeiten von Karl Ulrich Mayer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin (vgl.
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z.B. Mayer/Blossfeld 1990). Weniger „radikal“ als Berger schreibt er z.B., „dass soziale Ungleichheiten auf mehrfache Weise im Verlauf des individuellen Lebens entstehen und sich kumulativ verfestigen … Ressourcen der Herkunftsfamilie [müssen] während des eigenen Lebens erst in sichere Statuspositionen und Klassenlagen umgesetzt werden“ (Mayer/Blossfeld 1990: 297). Zwar schreibt auch er, dass sich Personen während ihres Lebenslaufs unterschiedlich lange in verschiedenen Klassenlagen aufhalten können (ebd.) und plädiert für einen „diachronen Klassenbegriff“ (a.a.O.: 302), aber bereits das stärkere Festhalten am Klassenbegriff unterscheidet ihn von Berger. Thesen, die er anhand von Untersuchungen untermauert, zeigen dann auch eher eine fortbestehende Prägung von „Klasse und Schicht“ unter Berücksichtigung des Lebenslaufs. Beispielsweise bestimmt die soziale Herkunft nach wie vor die Qualität der beruflichen Ausbildung (vergleichbar mit den Ergebnissen von W. Müller, vgl. Kap. 4.2). Entstrukturierung und Individualisierung lehnen diese Autoren insgesamt als zu einseitiges (und auch nicht direkt empirisch prüfbares) Ergebnis von Ungleichheitsanalysen ab (Mayer/Blossfeld 1990). Wie oben angesprochen, bleibt es nach wie vor eine Aufgabe der Lebenslaufforschung (Hillmert/Mayer 2004, Blossfeld et al. 2007, Mayer/Schulze 2009, Mayer/Solga 2010, Solga et al. 2009: Kapitel IV) zum einen und der Ungleichheitsforschung zum anderen, ihre Konzepte und Befunde über die Dynamik sozialer Ungleichheiten unter Berücksichtigung des Lebenslaufs aufeinander zu beziehen. Lesehinweise:
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, insbesondere: Zweiter Teil; Zur Diskussion und Kritik: Berger, Peter A.; Ronald Hitzler (Hg.) (2010): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse“? Wiesbaden: VS
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Zum Wandel sozialer Ungleichheiten
Der Schwerpunkt der bisherigen Darstellung lag auf den Fragen, wie die einzelnen Ansätze soziale Ungleichheit verstehen, welche Struktur sie postulieren, wie sie soziale Ungleichheit erklären und teilweise auch, welche Folgen diese für das gesellschaftliche Zusammenleben hat. Dabei ist immer auch das Thema angeklungen, wie sich soziale Ungleichheiten wandeln, entweder durch die Mobilität von Individuen oder durch die Veränderung des gesamten Ungleichheitsgefüges. Die Analyse des Wandels ist bedeutsam, um über eine rein statische Sicht hinaus zu gelangen und um die theoretischen Ansätze zur sozialen Ungleichheit auch angesichts zukünftiger Entwicklungen anschlussfähig zu halten (was nicht bedeutet, dass die Ansätze eine Prognose vornehmen). Dieser Abschnitt soll in komprimierter Form die bisher dargestellten Ansätze nochmals zusammenfassend und vergleichend unter der Fragestellung durchgehen, ob und in welcher Weise sie den Gesichtspunkt der Veränderung sozialer Ungleichheiten berücksichtigen. Dabei wird jedoch nicht der Anspruch erhoben, die Rolle des sozialen Wandels in den einzelnen Ansätzen umfassend zu diskutieren (vgl. Weymann 1998, Jäger/Meyer 2003) oder einen Überblick über die Mobilitätsforschung zu geben (vgl. Breen 2004, Groß 2008, Pollak 2008).
Marx: Es wird üblicherweise als ein Vorteil marxistischer Klassenmodelle angesehen, dass sie explizit eine dynamische Analyse intendieren. Dabei steht weniger die individuelle Mobilität im Vordergrund (Marx nimmt an, dass das Proletariat zu Lasten der Bourgeoisie wächst, Aufstiegschancen sind relativ gering). Der Ansatz konzentriert sich stärker auf gesamtgesellschaftlichen Wandel, dessen Motor hiernach der Klassenkonflikt ist. Mit einer relativ präzisen Festlegung darauf, wie die Entwicklungsgesetzlichkeiten der kapitalistischen Gesellschaft aussehen, setzt sich das Modell aber auch gleichzeitig verstärkt Kritik aus, weil die weitere Entwicklung zumindest im Nachhinein die Prognose widerlegen kann. Vertreter und Kritiker der Klassentheorie sind uneinig darüber, ob man Marx’ Ansatz im Hinblick auf den Wandel nun verwerfen sollte (höchstens also die Diagnose für das 19. Jahrhundert Erklärungskraft habe) oder ob bestimmte Nebenbedingungen die Entwicklung zwar anders verlaufen ließen, verschiedene Aspekte
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9 Zum Wandel sozialer Ungleichheiten (wie der Klassenkonflikt) jedoch nach wie vor zentrale Faktoren für sozialen Wandel bleiben. Weber: Weber setzt seinen konzeptionellen Rahmen mit nur wenigen systematischen Konkretisierungen in geringerem Maße der Gefahr aus, durch zukünftige Entwicklungen falsifiziert zu werden. Auch er deutet jedoch zumindest Wandlungsaspekte an, wenn er z.B. schreibt, dass je nach Stabilität oder Umwälzung der technisch-ökonomischen Situation die Stände- oder die Klassengliederung in den Vordergrund rückt. Die Definition der „sozialen Klassen“ berücksichtigt ausdrücklich Mobilität. Zwischen verschiedenen (Besitz- und Erwerbs-)Klassen ist durchaus Mobilität möglich, für einen bestimmten untersuchten Zeitpunkt grenzen die sozialen Klassen die Vielfalt ein auf solche Klassenlagen, über die hinaus Mobilität jeweils wenig typisch ist. Soziale Klassen scheinen dann sogar ein recht behäbiges Konstrukt zu sein, weil man erst dann von ihnen spricht, wenn über sie hinaus nicht nur persönliche, sondern auch Intergenerationenmobilität untypisch ist. Geiger: Geigers Modell beinhaltet einen dynamischen Aspekt durch den Begriff des „dominanten Schichtungsprinzips“, das sich im Laufe der historischen Entwicklung ändern kann. Allerdings ist es schwierig, gerade für die eigene Gegenwart und unter Bedingungen schnellen sozialen Wandels ein dominantes Schichtungsprinzip konkret zu identifizieren. In seinem Spätwerk nimmt Geiger zudem konkretere Mobilitätsanalysen vor (z.B. für die dänische Stadt Aarhus). Geißler kommentiert hierzu kritisch, dass das Mehr an Präzision, Differenzierung und Realitätsnähe seinen Tribut an Relevanz gefordert habe, weil Geiger bestimmte theoretische Fragen, z.B. nach dem dominanten Schichtungsprinzip, hier gar nicht mehr stellt (Geißler 1985: 401f.). Funktionalistische Schichtungstheorie: So wie Marx’ Modell für die dynamische Analyse steht, wird dem funktionalistischen Ansatz oft der Fokus auf Ordnung zugeschrieben aufgrund der Fragestellung, inwiefern Schichtung zur Systemstabilität beiträgt. Im Einzelnen lassen sich jedoch auch hier Wandlungsaspekte finden. Parsons nennt etwa verschiedene Merkmale zur Einordnung in die Schichtungsskala (z.B. Eigentum oder Leistung), deren Gewichtung im Zeitverlauf variieren kann. Ebenso verhält es sich mit der funktionalen Bedeutung einer Position, die deren Rang festlegt (Davis/Moore). Für moderne Gesellschaften deutet der Ansatz an, dass Leistung ein wichtiger Einflussfaktor für den Rang einer Position ist. Mobilität scheint damit in hohem Maße der individuellen Eigenverantwortung zu unterliegen, was vielfach kritisiert wurde. Die Ausführungen im Kapitel 2.4
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haben jedoch auch gezeigt, dass Pauschalurteile hierzu nicht angemessen sind. Verschiedene Klassen- und Schichtmodelle (fünfziger bis siebziger Jahre): Nach Schelsky hat eine massenhafte Mobilität zu einer bestimmten neuen Struktur geführt, nämlich zu der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Er macht jedoch kaum Angaben zu allgemeinen Entwicklungsbedingungen, höchstens schließt er soziale Spannungen aufgrund der definitionsgemäß geringen Aufstiegsmöglichkeiten in einer nivellierten Gesellschaft nicht aus. Laut Dahrendorf setzen – grob formuliert – die Herrschenden die geltenden Normen fest, deren Befolgung sie durch eine vergleichsweise hochrangige Position belohnen. Zur Frage, wie sich Strukturen unter diesen Bedingungen ändern, gibt er einige Hinweise, z.B. sieht er die Ungleichheit als „Stachel“ an, der Strukturen in Bewegung hält, und nach einer Institutionalisierung des Klassenkonflikts haben vielfältige Herrschaftsverbände einen zentralen Herrschaftsverband aufgrund des Produktionsmittelbesitzes abgelöst. Doch könnten Antworten auf die Frage nach dem Wandel von Normen und damit von Ungleichheit ausführlicher und systematischer sein. Die Prestigemodelle im weiteren Sinne ähneln hinsichtlich der Aussagen zum Wandel dem funktionalistischen Schichtungsmodell, weil sie das Schichtgefüge tendenziell als hierarchisches Belohnungssystem ansehen. Zudem steht in den Schichtmodellen die Beschreibung einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt im Vordergrund. Auf der Basis von teilweise durchgeführten Folgestudien ergeben sich eher Änderungen im Detail (damit höchstens ein Wandel von Häufigkeitsverteilungen in den Schichten aufgrund von individueller Mobilität, nicht größere Strukturveränderungen). Für neomarxistische Ansätze gilt im Wesentlichen, was über das marxistische Klassenmodell gesagt wurde. Schichtung nach Geißler: Geißler berücksichtigt sozialen Wandel durch die Betonung, dass sich eine dynamischere und pluralere Schichtstruktur herausgebildet habe. In der Nachfolge früherer Schichtungsanalysen meint er damit jedoch eher das Ergebnis eines Dynamisierungs- und Pluralisierungsprozesses, das sich in einem modernisierten Schichtmodell aufzeigen lässt, als konkrete Entwicklungsbedingungen. Das modernisierte Schichtmodell ist zudem vergleichsweise durchlässig, was auf die Möglichkeiten individueller Mobilität verweist. Neuere Klassenmodelle: Eine durchgängige Fokussierung auf Wandlungsprozesse lässt sich hier nicht feststellen, was nicht heißt, dass sie vollständig ausgeblendet bleiben (z.B. beschäftigt sich Goldthorpe mit Mobilität, Wright thematisiert verschiedene zentrale Ausbeutungsressourcen im Zeitverlauf). Insgesamt steht jedoch der Entwurf eines mehrdimensionalen Mo-
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9 Zum Wandel sozialer Ungleichheiten dells tendenziell stärker im Vordergrund als eine Theorie zur Entwicklung von Gesellschaft. Einige Autoren thematisieren Klassenstrukturen allerdings nach wie vor im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung (z.B. Eder 2001). Lebensstile und Milieus: In den Untersuchungen gehen die Autoren oft von einer relativen Stabilität des Lebensstils aus. Die Aspekte der relativen Wahlfreiheit von Lebensstilen und wichtige Einflussfaktoren wie Alter (nicht nur, aber auch als Kohorteneffekt) und lebenszyklische Veränderungen relativieren die Stabilitätsvorstellung aber andererseits und zeigen Anknüpfungspunkte für die Berücksichtigung von Veränderungen auf. Lebenszyklische Veränderungen (z.B. die Geburt des ersten Kindes) können z.B. horizontale Mobilität zu einem anderen Lebensstil bewirken, und wenn man die Milieus von Schulze als Kohorteneffekt begreift, müssten sich spätestens nach einigen Jahrzehnten die (gegebenenfalls modifizierten) „jungen“ Milieus horizontal auf der Abszisse verschieben, während „neue Milieus“ nachrücken. Teilweise gibt es Betrachtungen im Längsschnitt, die einen Wandel im Gefüge von Lebensstiltypen oder Milieus aufzeigen (z.B. Spellerberg; Vester et al.). Doch könnten die Ansätze insgesamt noch systematischer nach allgemeinen Entwicklungsbedingungen forschen, z.B. durch eine engere Verknüpfung mit der Lebenslaufforschung. Bourdieu: Bourdieu konzipiert den Raum sozialer Positionen durch das Kapitalvolumen, die Kapitalstruktur und die soziale Laufbahn. Durch das letztgenannte Kriterium rücken Veränderungsmöglichkeiten an eine zentrale Stelle. In der Analyse konkreter gesellschaftlicher Klassen findet sich dieses Kriterium wieder, wenn Bourdieu beispielsweise das „absteigende Kleinbürgertum“ beschreibt. So kann er Mobilitätserscheinungen in diesem Rahmen nicht nur diagnostizieren, sondern konzeptionell einordnen. Weiter ist die Konfliktperspektive der Klassenmodelle auch bei ihm erkennbar, wenn er schreibt, dass die Menschen in einem fortwährenden Kampf um die Veränderung des sozialen Raums verwickelt sind. Der zentrale Begriff des Habitus deutet bei allen prinzipiellen Wandlungsmöglichkeiten (insbesondere in hoch differenzierten Industriegesellschaften) auch auf eine gewisse Stabilität (positiv formuliert: die die Identifizierung von Strukturen erst ermöglicht) und Trägheit hin. Wie vollzieht sich der Wandel sozialer Ungleichheiten genau, wenn der Habitus sich gerade nicht in rasantem Tempo ändert? Ansätze Bourdieus zu dieser Frage sind zumindest vorhanden, wie etwa Ebrecht (2002) hervorhebt: Die Handlungspraxis entspricht nur dann dem Habitus ganz genau, wenn Entstehungs- und Anwendungsbedingungen des Habitus zusammenfallen (was in einer modernen Gesellschaft nicht mehr den Regelfall darstellt). Als Beispiel für die Entstehung eines innova-
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tiven Habitus nennt Ebrecht die Kombination zweier alter, nacheinander inkorporierter Habitusformen, z.B. in der Kindheit und in der Jugend (Ebrecht 2002: 234f.). So verknüpft er das Habituskonzept konkret mit Wandlungsaspekten. Soziale Lagen: Ein wichtiges Stichwort lautet hier die nicht-additive Verknüpfung der Ungleichheitsdimensionen. Die Gewichtung verschiedener Dimensionen kann prinzipiell nicht nur von Lage zu Lage, sondern auch im Zeitverlauf variieren. Eine empirische Umsetzung ist jedoch mit Problemen verbunden. Im Vordergrund des Ansatzes steht zudem eher das Ziel, eine sorgfältige Beschreibung komplexer Lebenslagen in einer modernen Gesellschaft zu liefern, weniger die Analyse von Veränderungsmechanismen. Der Blick speziell auf prekäre Lagen bietet ein Potential zur Berücksichtigung zeitlicher Aspekte, z.B. hinsichtlich der Wechselwirkungen von bisherigem Lebenslauf und Zukunftsperspektiven einerseits und Mobilitätsprozessen andererseits. Zur theoretischen Ausarbeitung dieses Potentials besteht allerdings noch erheblicher Forschungsbedarf. Dies gilt auch für die TheorieEmpirie-Verknüpfung im Kontext der Intersektionalitätsforschung. Individualisierung: Die Darstellung von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen bildet einen Kern der Individualisierungsthese und weiterer Annahmen zur gesellschaftlichen Entwicklung von Ulrich Beck (etwa zur reflexiven Moderne oder zur Risikogesellschaft; Beck 1986; kritisch z.B. Münch 2002). Ein Teil der Diagnose lautet: Stetiger Wandel mit einer komplizierten Kombination aus Pluralisierung und Standardisierung. Neben der Postulierung der Auflösung von Klassen und Schichten finden auch einige hypothetische Zukunftsszenarien darin Platz. Dadurch, dass ein bestimmtes Ungleichheitsgefüge mit einer bestimmten Struktur jedoch nicht Bestandteil der Individualisierungsthese ist, kann eine solche auch nicht auf konkrete Veränderungen und Veränderungsmechanismen untersucht werden. In Bergers Ansatz bilden Ungleichheitsverläufe ein wichtiges Thema, auf dem die Argumentation insgesamt basiert.
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Der Wandel von Ungleichheiten ist nur ein (wichtiges) Thema ungleichheitstheoretischer Ansätze. Wenn man sich die zu Anfang gestellten Leitfragen in Erinnerung ruft, wird nun nach der Darstellung und Diskussion sowohl der älteren als auch der neueren Ansätze deutlich, dass diese nach wie vor unterschiedliche theoretische Schwerpunktsetzungen vornehmen. Auch die neueren Ansätze sehen es entweder nicht als ihre Aufgabe an oder sind meist nicht – zumindest nicht konsensfähig – in der Lage, die theoretischen Anforderungen oder auch die komplexe Realität in ein einziges theoretisches Modell zu integrieren, das zudem noch empirisch umsetzbar wäre. Unter den neueren Ansätzen setzen Lage- und tendenziell Schichtmodelle beispielsweise einen Schwerpunkt auf die (mehrdimensionale) Beschreibung von Ungleichheit. Die „kulturelle“ Ebene sozialer Ungleichheit (die Lebensweise, Verhalten und Einstellungen) beleuchten insbesondere Milieu- und Lebensstilansätze. Nicht aus allen Lebensstil- und Lagemodellen und ebenfalls nicht aus dem Individualisierungskonzept lässt sich ein Strukturmodell des gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüges ablesen (welche Gruppen liegen wie über-, nebenoder gegeneinander?), was bei Klassen-, Schicht- und Milieumodellen eher der Fall ist. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse finden, wie das vorige Kapitel zeigte, überall ihren Niederschlag, dem Anspruch der Konzepte nach aber insbesondere bei Klassenmodellen und bei der Individualisierungsthese, was in beiden Fällen mit der Zielsetzung einhergeht, diese Prozesse auch in ihren Ursachen zu erklären. Die Aspekte aus den Leitfragen, die sich auf die Beziehungen zwischen ungleichheitsrelevanten Gruppen (also auf eine Mesoebene) oder auf die Folgen sozialer Ungleichheit für die Integration richten, sind weiterführende Fragen, die kein Ansatz in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Zwar liegen Konzepte zur Beantwortung dieser Fragen vor, auf die z.B. Stichworte wie Distinktion, Indifferenzklima zwischen Milieus, Klassenkonflikt oder die Reintegrationsdimension in einer individualisierten Gesellschaft hinweisen können. Doch gibt es hier und bei einigen weiteren Aspekten (z.B. mahnt Levy an, meso-soziale Strukturen wie die Rolle von Institutionen bei der Sozialstrukturanalyse stärker zu berücksichtigen, Levy 2002) sicherlich weiteren Forschungsbedarf. Die Komplexität der Ungleichheitsverhältnisse bringt es mit sich, dass selbst entgegengesetzte modellhafte Abstraktionen empirische Belege für ihr N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Vorgehen anführen können. So können die Klassenansätze auf der Ebene einzelner empirischer Phänomene durchaus plausibel machen, dass soziale Herkunft und Bildungsabschlüsse das (Berufs-)Leben auch heutzutage gravierend beeinflussen. Genauso können Autoren, die auf Individualisierung, Statusinkonsistenzen oder die recht kurze Verbleibdauer in einem bestimmten Status aufmerksam machen wollen, empirische Phänomene finden, die ihre Thesen stützen. Seit etwa Mitte der neunziger Jahre neigt die Ungleichheitsdiskussion dabei wieder mehr der Tendenz zu, die strukturellen Ressourcen und Restriktionen zu betonen, ohne jedoch die kulturellen (bzw. subjektiven, symbolischen etc.) Aspekte völlig zu vernachlässigen. Stichworte wie Knappheit, Re-Stratifizierung, Prekarisierung und vertikale Ungleichheit zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und einer angespannten Finanzlage des Staates erlangten wieder eine höhere Bedeutung, was jedoch nicht zu größerer konzeptioneller Einmütigkeit geführt hat. Es geht also bei der theoretischen Modellierung nicht um eine möglichst naturgetreue Abbildung detaillierter Verhältnisse (ohne den Anspruch der Realitätsnähe andererseits aufzugeben). In früheren sowie späteren Ansätzen zeigt sich, dass die Berücksichtigung von Multidimensionalität an ihre Grenzen stößt (z.B. bei Lenski oder bei den sozialen Lagen Hradils), insbesondere, wenn die Ansätze nicht allein die „objektive“ Ebene von Lebensbedingungen, sondern auch die „subjektive“ Ebene typischer Handlungspraxen und Haltungen einschließen sollen. Ebenfalls zeigt sich, dass die Modelle, die in Teilen auch bestimmten „Moden“ unterliegen (z.B. der Betonung oder der Abschwächung sozialer Gegensätze), nie vollständig „objektive“ Abbildungen von Strukturen und deren Entwicklung sein können. Sie tragen damit auch selbst dazu bei, gesellschaftliche Vorstellungen sozialer Ungleichheit zu (re-)produzieren. So könnten beispielsweise Vorstellungen von oben und unten oder verschiedene Funktionen horizontal zueinander liegender Gruppen unter anderem auch durch entsprechende Modelle mit manifestiert werden (siehe zum Themenfeld der Repräsentationen sozialer Ungleichheit auch Barlösius 2004: insbesondere 229245, dies. 2005). Die genannten Grenzen ziehen fast zwangsläufig Schwerpunktsetzungen nach sich, die anhand der skizzierten Stärken und Kritikpunkte der einzelnen Ansätze deutlich geworden sein sollten. Neuere Ansätze stehen dabei ausnahmslos vor der nicht einfachen Aufgabe, Differenzierungsprozesse und den Einfluss fortbestehender (auch vertikaler) Ungleichheitsfaktoren zu integrieren und dabei Mechanismen von Zusammenhängen (etwa von Sozialstruktur und Lebensführung) herauszuarbeiten, die auch Hinweise auf Entwicklungsprinzipien der Ungleichheitsverhältnisse geben. Es wird eine – sicherlich interessante – Diskussion für die Zukunft bleiben, welche (verfeinerten) Lösungsansätze für dieses Problem entwickelt werden.
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Zuletzt sei ein Punkt angesprochen, der den Blick ein wenig über Fragen sozialer Ungleichheit im engeren Sinne hinausführt: Die Ungleichheitsforschung thematisiert zweifellos zentrale soziologische Fragen des Wechselverhältnisses zwischen Handeln und Strukturen. Ist sie damit auch anschlussfähig für andere soziologische Theorien? In einigen Fällen kann diese Frage sicherlich bejaht werden, insbesondere für einige Ansätze mittlerer Reichweite (z.B. Gender-Forschung, Netzwerkanalyse, Lebenslaufmodelle, Organisationssoziologie, sozialer Wandel, Bezüge zur Rational-Choice-Theorie, letzteres z.B. bei Lüdtke 1990 oder Friedrichs 1998). Andere Verbindungen könnten noch systematischer verfolgt werden, etwa die zur Differenzierungstheorie. Ungleichartigkeit (unter anderem gesellschaftlicher Teilsysteme) mit Fragen nach der Systemintegration steht hier der Ungleichheit mit Fragen insbesondere der Sozialintegration angesichts von Verteilungskonflikten gegenüber (vgl. z.B. Schwinn 2004). Es muss nicht darum gehen, die eine integrierte Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die alle Fragen nicht nur der sozialen Ungleichheit, sondern der Soziologie insgesamt beantworten kann, aber Forscherinnen und Forscher können darauf abzielen, die jeweils „blinden Flecken“ ihrer Perspektive mitzudenken und ihr Konzept für andere Theorierichtungen anschlussfähig zu halten. Auch in diesem Punkt darf man auf die weitere Diskussion gespannt sein.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25:
Überblick über Ansätze zur sozialen Ungleichheit ................ 12 Verknüpfung von Schicht und Mentalität nach Geiger .......... 27 Einflussfaktoren für den Rang einer Position nach Davis/Moore........................................................................... 35 Die soziale Schichtung in Deutschland nach Dahrendorf ...... 46 Schichtenaufbau in Deutschland nach Moore/Kleining ......... 52 Soziale Schichtung nach Scheuch .......................................... 53 Das Ungleichheitsgefüge Deutschlands in den 60er Jahren nach Bolte .............................................................................. 55 Die Klassenstruktur der Erwerbsbevölkerung 1978 lt. Modell des PKA..................................................................... 61 Das Schichtmodell nach Geißler ............................................ 76 Das Klassenmodell nach Wright ............................................ 80 Das Zentrum-Peripherie-Modell nach Kreckel ...................... 86 Das Lebensstilkonzept nach W. Georg .................................. 96 Lebensstile in West- und Ostdeutschland nach Schneider/Spellerberg ............................................................ 99 Die Sinus-Milieus 2010........................................................ 107 Die sozialen Milieus in Westdeutschland 2003.................... 109 Alltagsästhetische Schemata nach Schulze .......................... 113 Milieus und alltagsästhetische Schemata nach Schulze ....... 113 Das Milieumodell von Schulze ............................................ 114 Der Raum objektiver Klassenlagen in Deutschland ............. 128 Der soziale Raum nach Bourdieu......................................... 131 Die Verteilung des Nahrungsmittelkonsums im sozialen Raum nach Bourdieu............................................................ 133 Soziale Lagen nach Hradil ................................................... 141 Profil einer sozialen Lage nach Schwenk............................. 142 Soziale Lagen in West- und Ostdeutschland 2006, in %...... 144 Bewegungstypen und Formen alltäglicher Lebensführung nach Berger .......................................................................... 166
N. Burzan, Soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-531-93154-8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011