Taichi Yamada
Sommer mit Fremden
ROMAN Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler
Goldmann Ver...
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Taichi Yamada
Sommer mit Fremden
ROMAN Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler
Goldmann Verlag
Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel »Ijintachi to no Natsu« bei Shinchosha Co. Ltd. Tokio. Verlagsgruppe Random House 1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 1987 by Taichi Yamada
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH German translation rights arranged with Taichi Yamada through Japan-Foreign Rights Centre Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-31092-0 www.goldmann-verlag.de
Nach seiner Scheidung zieht der 48-jährige Drehbuchautor Harada in ein Apartment im 7. Stock eines Tokioter Bürokomplexes. Zunächst leidet er sehr unter der Einsamkeit. Dann lernt er die etwas eigenartige Kei kennen und beginnt, nachdem er sie beim 1. Treffen noch brüsk abgewiesen hatte, eine Beziehung mit ihr. Zur selben Zeit geschieht Harada jedoch Seltsames: Als er nach Jahren wieder den Bezirk besucht, in dem er einst aufgewachsen war, trifft er seine Eltern, und zwar genau in der Gestalt, wie er sie in Erinnerung hatte, als sie vor 36 Jahren ums Leben kamen! Und sie benehmen sich, wie wenn nie etwas geschehen wäre; Harada selbst aber gerät in einen tiefen emotionalen Zwiespalt zwischen der Freude über die so lange vermisste Geborgenheit, dem Grauen über die irreale Erfahrung und dem Zweifel an seinen Verstandeskräften. Der japanische Autor Yamada veröffentlichte diesen spannenden fantastischen Psychothriller erstmals 1987. Die deutsche Übersetzung hält sich sprachlich eng am Original, wodurch auch die poetische Eigenart des Romans sehr schön zur Geltung kommt. Breit empfohlen.
1
Nach der Trennung von meiner Familie wohnte ich in dem Apartment, das ich zuvor nur als Büro genutzt hatte. Mein Beruf war das Schreiben von Drehbüchern. Deshalb verbrachte ich viel Zeit allein in meinem Zimmer. Vor kurzem hatte ich noch eine Freundin gehabt, die mich aber verließ, während ich mit meiner Frau über die Trennung diskutierte. Das war mir nicht ganz unrecht gewesen. Die Scheidung hatte mich emotional so beansprucht, dass mir vorläufig das Bedürfnis nach menschlicher Nähe abhanden gekommen war, die sexuelle Seite eingeschlossen.
Nachdem ich etwa drei Wochen allein gelebt hatte, fiel mir auf, wie still es nachts in dem Gebäude war. Zu still. Es war jedoch keine Stille, wie man sie in der Einsamkeit der Berge empfindet. Sie musste gegensätzlich geartet sein. Das siebenstöckige Apartmenthaus lag direkt an der Tokioter Stadtautobahn 8, auf der sich der Verkehrsstrom vierundzwanzig Stunden ununterbrochen fortsetzte. Anfangs fand ich keinen Schlaf. Jede Nacht, wenn ich im Bett lag, fuhren schwere Laster vorüber, ihr dumpfes Dröhnen verursachte mir Beklemmungen. Der Verkehrslärm der Straße verebbte nur für wenige Minuten, um dann umso heftiger anzuschwellen. Mein Puls erhöhte sich, mich überkam das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Nach etwa zehn Tagen hatte ich mich an die Umstände gewöhnt.
Ich hatte bereits früher, als die Wohnung nur Büro war, mehrmals in Erwägung gezogen, dort zu übernachten, den Gedanken aber stets verworfen. Unmöglich, dort Schlaf zu finden! Nach dem Kostenaufwand für die Scheidung konnte ich mir allerdings keine andere Wohnung leisten und dachte, dass ich mich sogar an diesen Ort würde gewöhnen können. Allmählich verlor sich der Lärm ebenso wie das Rauschen der Klimaanlage im Hintergrund meines Bewusstseins, und ich war erstaunt, manchmal keinen anderen Laut mehr wahrzunehmen als das Ticken der Wanduhr. So begann ich, meinen eigenen Sinnen zu misstrauen. Zum ersten Mal geschah es in einer Nacht Mitte Juli. Es war kurz nach elf, ich saß noch am Schreibtisch. Da kroch mir plötzlich ein kalter Schauder über den Rücken, ein Gefühl befiel mich, verloren im dunklen leeren Raum zu schweben. Zu still hier. Für eine Weile gelang es mir, mein Unbehagen zu verdrängen. Ich schrieb weiter und schlug Schriftzeichen im Wörterbuch nach. Wenn die Nacht kam, spürte ich schon seit einigen Tagen eine vage Furcht aus den Tiefen meines Bewusstseins emporsteigen. Ich unterbrach mein Schreiben und lauschte, ob noch ein anderes Geräusch als das der fahrenden Autos zu hören war. Nichts. Hatte ich in Folge meiner Scheidung eine Nervenerkrankung entwickelt? Zumindest war es ungewöhnlich, wenn man ein Apartment, das neben einer Hauptverkehrsstraße lag, als zu ruhig empfand. Die Scheidung wollte ich allerdings selbst. Meine Frau hatte erst nach anfänglichem Widerspruch eingeräumt, dass Gleichgültigkeit das dominierende Element in unserer Ehe sei und auch sie die Leere zwischen uns spüre. Am Ende willigte sie dann doch in die Scheidung ein. Abgesehen von einigen Unstimmigkeiten hinsichtlich
finanzieller Dinge war es keine schlechte Scheidung gewesen. Ich spürte jedenfalls wieder mehr Lebensmut, mehr als jemand, der, bemüht, die Fassade aufrechtzuerhalten, weiterlebte wie immer. »Es war gut, dass du es offen ausgesprochen hast«, hatte sie zum Schluss gesagt. Ganz so hatte sie es wohl nicht gemeint, aber in ihren Worten verbarg sich eine Empfindung, die dieser Aussage in etwa entsprach. Konnte es sein, dass ich, der die Scheidung vorangetrieben hatte, sich nun einsam fühlte? Dann war es eben zu ruhig. Weshalb sollte mich die Stille irritieren? Ich stand auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Ich bemühte mich nicht weiter. Ohnehin wären nur Hitze, Abgaswolken und Motorenlärm ins Zimmer gedrungen. Ich sah auf den Parkplatz hinunter. Obwohl er nicht ganz zu überblicken war, konnte ich schätzen, wie viele Wagen dort parkten. Zurzeit stand nur ein rosafarbener Kombi auf der mit weißen Linien unterteilten Betonfläche. Tagsüber war der Parkplatz immer voll besetzt. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, fuhr ein Wagen nach dem anderen fort. Der rosa Kombi hatte bereits am Vorabend dort gestanden. Ich hatte auch schon gestern auf den Parkplatz hinuntergesehen. Mich beschäftigte vermutlich die Trennung von meinem Sohn. Er war jetzt Student im vierten Semester. Konnte ich so unter der Trennung von einem Sohn leiden, der ganz in seiner eigenen Welt lebte und den ich kaum zu Gesicht bekam? Unwahrscheinlich. Ich nahm den Wohnungsschlüssel vom Schreibtisch und steckte ihn ein. Ohne das Licht auszuschalten, trat ich aus der
Wohnung in den Flur, vergewisserte mich, dass der Eindruck übermäßiger Stille nicht auf einen labilen Geisteszustand zurückzuführen war, sondern in der Tat mit der Abwesenheit von Menschen zusammenhing. Im Grunde verstand es sich von selbst, dass in diesem üblen, von Abgasgestank und Lärm durchdrungenen Haus niemand wohnen wollte. Es eignete sich bestenfalls als Büroraum. Die Fenster der anderen vier Wohnungen im 7. Stock, die zum Flur wiesen, waren dunkel. Ich drückte den Knopf am Aufzug. Ich wusste, dass es im Haus zahlreiche Büroräume gab. Dass es so viele waren, überraschte mich. Insgesamt 41 Parteien. Die Angestellten gingen fast alle abends nach Hause, so hielten sich wahrscheinlich nur noch sehr wenige Personen in den einzelnen Etagen auf. Der Aufzug öffnete sich. Ich betrat den menschenleeren Kasten. An den Moment, in dem die Tür aufging, konnte ich mich nie gewöhnen. Die Vorstellung, plötzlich mit anderen Menschen konfrontiert zu sein, erschreckte mich, und ich war jedes Mal erleichtert, wenn da niemand war. Im Erdgeschoss stieg ich aus, durchquerte das Halbdunkel der stickigen, nicht klimatisierten, engen Lobby, drückte die Haustür auf und trat ins Freie. Ich ging zum Parkplatz. Jetzt am Abend hatte sich die Luft etwas abgekühlt, war aber noch immer erfüllt von Lärm und Abgasen. An einer Stelle, die ich von meinem Fenster aus nicht hatte einsehen können, parkten zwei weitere Pkw. Den rosafarbenen Kombi schmückte ein Bild von drei lachenden Eichhörnchen. Ich erkannte, dass es der Lieferwagen einer Firma für Kinderbekleidung war. Ich betrachtete die Südostseite des Gebäudes. Alle Wohnungen hatten ein Fenster in diese Richtung des
Parkplatzes. Hielt sich dort jemand auf, müsste also von hier aus Licht zu sehen sein. Eines war hell. Mein Fenster im 7. Stock. Alle anderen waren dunkel. »Seltsam«, murmelte ich, während ich auf die schwarzen Reihen der Fenster starrte. Entgegen meiner Vermutung, dass wenigstens ein oder zwei Wohnungen bewohnt seien, war alles menschenleer. Es war nach elf Uhr abends, und kein einziges Fenster erleuchtet. Es waren also nicht meine Nerven, es war wirklich nur zu still. Ich hatte ein wenig Selbstvertrauen wieder gewonnen und ging zum Eingang zurück. Es war komplizierter, in das Gebäude hineinzugelangen, als es zu verlassen. Zuerst musste man den Schlüssel in ein Schloss neben der Tür einführen, ihn dann herumdrehen. Nun entriegelte sich die Tür etwa 20 Sekunden lang, und man konnte eintreten. Übrigens war es auch möglich, ohne Schlüssel ins Haus zu kommen. Neben der Sprechanlage befand sich eine Tastatur, in die man die Nummer seiner Wohnung eingab und dann seinen Namen nannte. Die Haustür wurde von der Wohnung aus entriegelt, und man hatte ebenfalls zirka 20 Sekunden Zeit, den Flur zu betreten. Offenbar hielt man diese Sicherheitsvorkehrungen für ausreichend, denn der Portier war nachts nicht mehr anwesend. »Ich bin allein. Ich bin ganz allein im Haus.« Fast trotzig warf ich mich auf ein Sofa in der Ecke der Lobby. Ein bisschen unheimlich war es zu wissen, man war völlig allein in diesem großen Haus. Auf der anderen Seite verspürte ich ein naives, übermütiges Freiheitsgefühl, das mich an meine Kindheit erinnerte. Doch das dauerte höchstens eine Minute an. Draußen bewegte sich etwas, und ich fuhr erschreckt zusammen.
Jemand stand vor der Glastür. Vorsichtig spähte ich genauer in die Richtung. Es war eine Frau, die einen Schlüssel aus ihrer Tasche hervorsuchte. Sie war nicht mehr ganz jung, meiner Schätzung nach Mitte dreißig. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Ich erstarrte, war es ja etwas ungewöhnlich, dass ein einzelner Mann um diese Zeit in der Lobby saß. Sicher würde die Frau einen Schreck bekommen. Die Tür wurde entriegelt und öffnete sich. Ich senkte den Blick. Die Frau ging mit eiligen Schritten in Richtung Aufzug. Weiße Schuhe und wohlgeformte Beine durchquerten mein Blickfeld. Ohne innezuhalten ging sie an mir vorüber. Zum Glück schien sie mich nicht zu bemerken. Die Frauenbeine verschwanden rasch durch die geöffnete Aufzugtür, die sich mit einem mechanischen Geräusch schloss. Ich hob den Kopf und sah, dass das Aufzugslämpchen im 3. Stock aufleuchtete.
2
Vier oder fünf Tage später rief mich Mamiya an, der Produzent beim Fernsehsender R war. »Kann ich später bei dir vorbeikommen?«, fragte er. Es war am frühen Abend. Mamiya war wie ich siebenundvierzig, und wir hatten in den letzten zehn Jahren gemeinsam sechs Fernsehfilme produziert. Darunter waren zwei Serien und ein kurzer Spielfilm, die ich in meiner Biographie als Hauptwerke anführen würde. Ich mochte Mamiya aber nicht nur deshalb. Mir gefiel seine zurückhaltende Art. Obwohl wir schon lange zusammenarbeiteten, hatten wir nie über private Dinge gesprochen und stets die Form gewahrt. »Tut mir leid, dass ich dich so überfalle«, sagte er. »Kein Problem. Komm doch vorbei.« Ich freute mich, von ihm zu hören. Fast ein Jahr lang hatte er sich nicht gemeldet. Ich fülle meinen Terminplan immer in der Reihenfolge der eingehenden Aufträge. Selbst wenn ich damit rechne, in Kürze ein besseres Angebot zu bekommen, lehne ich nie einen Auftrag ab, wenn er zeitlich zu bewältigen ist. Obwohl ich die ganze Zeit auf eine Zusammenarbeit mit Mamiya gehofft hatte, war ich nun leider schon mit anderen Aufträgen eingedeckt. Ich fand, er hätte sich früher melden können, würde aber zusagen, selbst wenn es für mich sehr anstrengend werden würde. Ich kannte einen für uns wichtigen Schauspieler, der sich nach Alkoholgenuss nicht mehr unter Kontrolle hatte. Man konnte nicht so weit gehen, sein Benehmen als Randale zu bezeichnen, doch veranstaltete er einmal in einer eleganten Bar in Aoyama eine Nackttanzaufführung. Dort war so etwas fehl
am Platz, die missbilligenden Blicke von den Nachbartischen waren unübersehbar. Im Grunde hätte man den Mann von seinem Vorhaben abbringen müssen. Ich fürchtete bloß, jeder Versuch in diese Richtung würde ihn nur anstacheln, und unternahm nichts. Plötzlich erhob sich Mamiya, der neben mir saß. Ich und die anderen vier oder fünf Männer an unserem Tisch vermuteten, er wolle den Schauspieler zur Ordnung rufen. Doch jetzt fing auch Mamiya an zu tanzen und sich auszuziehen, stimmte mit dem Schauspieler ein obszönes Duett an. Es klang gar nicht so schlecht, wieder einmal war ich von Mamiyas Talenten überrascht. Er beeindruckte mich stets aufs Neue, wurde mir von Mal zu Mal sympathischer. Mamiya lebte allein, zumindest offiziell. Ich hatte gehört, dass er ein kleines Flugzeug besitzen und den größten Teil seiner Freizeit auf dem Sportflugplatz Chofu verbringen würde. Er selbst hatte mir nie davon erzählt. Wir sprachen ausschließlich über die Projekte, mit denen wir gerade zu tun hatten. Das war mir nicht unangenehm, und so vermied auch ich bewusst alle privaten Themen. An diesem Tag nun setzte sich Mamiya auf einen Stuhl und fragte, als ich ein Bier für ihn aus dem Kühlschrank nahm, ob ich denn selbst kochen würde. Damit verletzte er die Regeln unserer Beziehung. Ich hatte keinerlei Interesse, diese Dinge mit ihm zu erörtern. »Ich habe vor kurzem ein zweistündiges Feature von dir gesehen«, lenkte ich das Gespräch auf seine Arbeit. »Du lässt dich überhaupt nicht mehr blicken«, sagte Mamiya. Wieder ging ich nicht auf seine Bemerkung ein und betonte, während ich ihm das Bier eingoss, wie sehr mir dieses Feature gefallen habe. »Freut mich«, sagte er ohne ein Lächeln. Er trank einen Schluck und stellte sein Glas wieder ab. »Soll das eine Art Beileidsbesuch sein?«
»Natürlich nicht.« Zum ersten Mal lächelte er ein wenig. »Ich dachte schon, du willst mir hier die übliche Trauermiene für den geschiedenen Mann vorführen.« »Das war nicht meine Absicht.« »Was möchtest du denn?« »Also…« Er senkte den Blick. »Ist es etwas Unangenehmes?« In der Regel bedeutet der plötzliche Besuch eines Produzenten bei einem Drehbuchautor nichts Gutes. Entweder muss die Sendezeit für einen Film einer Quizsendung geopfert werden oder eine Serie wird wegen schlechter Einschaltquoten abgesetzt. Der Hauptdarsteller war eventuell wegen Marihuana inhaftiert worden, oder man hatte eine Passage umzuschreiben, weil eine frisch verheiratete Schauspielerin sich weigerte, eine Kussszene zu spielen. Da Mamiya und ich zu der Zeit kein gemeinsames Projekt hatten, konnte ich sein düsteres Gesicht nicht deuten. »Solltest du dich nicht mehr um deinen Sohn kümmern?«, fragte er unerwartet. Ich fühlte mich zu Unrecht kritisiert. Außerdem, was ging Mamiya mein Verhältnis zu meinem Sohn an? Ich bemühte mich, Ruhe zu bewahren. »Wie kommst du denn darauf?« »Ich habe deine Frau getroffen.« Sie mussten sich zufällig über den Weg gelaufen sein. Die Vorstellung, was meine Frau ihm alles über unsere Scheidung erzählt haben mochte, ärgerte mich. Mamiya war wirklich der Letzte, mit dem ich über diese Dinge sprechen wollte. »Hat sie dich gebeten, mir das zu sagen?« »Nein. Wäre es denn nicht gut, wenn du es zur Regel machen würdest, dich einmal im Monat mit deinem Sohn zu treffen? Ist übrigens meine Idee. Niemand hat mich um irgendetwas gebeten.«
Ich wunderte mich über Mamiyas Engagement und seine Ernsthaftigkeit. »Das wäre vielleicht sinnvoll bei einem Kind in der Pubertät«, sagte ich, »aber mein Sohn ist neunzehn. Er kann jederzeit zu mir kommen, wenn er will.« »Möchtest du ihn von dir aus nicht sehen?« »Darum geht es doch gar nicht. So eine monatliche Verpflichtung würde ihn nur belasten. Die Vorstellung, einmal im Monat mit dem alten Herrn essen gehen zu müssen, hätte mich als Neunzehnjährigen auch nicht begeistert.« Mamiya nickte, als ob er mir beipflichten würde. »Trotzdem freue ich mich über deine Anteilnahme«, sagte ich. »Ich bin zwar einigermaßen überrascht und hätte dich nicht so eingeschätzt. Ich dachte immer, du bist jemand, der über solche Dinge nicht redet.« Ich schenkte ihm Bier nach. »Wie es scheint, habe ich doch eine weiche Seite. Eigentlich wollte ich niemanden mit meinen Sorgen belasten. Jetzt freut es mich tatsächlich, dass du mich darauf ansprichst. Ich hätte allerdings eher erwartet, dass es um unsere Arbeit geht, und bin etwas irritiert.« »Es geht auch um die Arbeit«, sagte Mamiya. »Also doch«, sagte ich voreilig. »Nur wegen meines Sohnes vorbeizukommen, wäre ja auch übertrieben. Um welches Projekt handelt es sich?« »So habe ich das nicht gemeint.« »Wie denn?« »Ich kann nicht mehr mit dir zusammenarbeiten.« »Verlässt du die Produktion?« »Nein.« Mamiya saß regungslos da. »Was ist denn los?« Ich lächelte gequält.
»Soll das heißen, ein geschiedener Drehbuchautor bekommt keine Aufträge mehr?« Mamiya antwortete nicht. »Könntest du dich vielleicht etwas präziser äußern?« Ich verstand gar nichts mehr. Er öffnete den Mund ein wenig, als wollte er etwas sagen, presste aber die Lippen sofort wieder zusammen. Sein Kinn zitterte. Dann begann er ganz langsam zu sprechen, damit mir kein Wort entging. Ein zweites Mal wollte er es mir nicht erklären. »Ich möchte gerne eine Beziehung mit Ayako eingehen.« Der Name meiner Frau. Ich verstand seine Worte, ohne ihren Inhalt zu realisieren. Das war tatsächlich eine unerwartete Entwicklung. »Mit ihr?«, fragte ich ungläubig. »Seit ich weiß, dass ihr geschieden seid, kann ich meine Gefühle für sie nicht länger unterdrücken. Ich will mit ihr zusammenleben.« Es war seltsam, eine Liebeserklärung an die Frau zu hören, von der ich mich getrennt hatte. Zwei Empfindungen stiegen in mir auf: ein Reuegefühl die Scheidung betreffend und das Gefühl, einen Mann vor mir zu haben, der dabei war, einen falschen Weg einzuschlagen, und ihn nicht davon abbringen zu können. »Aha.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein. »Ja.« Mamiya hatte auch nicht mehr zu sagen. Während der Zeit, in der unsere Scheidung lief, hatte meine Frau mir nicht den geringsten Hinweis gegeben. Als hätte er meine Gedanken gelesen, blickte Mamiya auf. »Ayako weiß nichts davon.« Wie konnte er sie so einfach beim Vornamen nennen? Die Bezeichnung »deine Frau« wäre zwar nicht mehr korrekt, da sie ja nicht mehr meine Frau war, aber zumindest ihren Namen
hätte er taktvoll vermeiden und lieber von »ihr« sprechen können. Sie wusste also angeblich noch nichts? »Das mag ja sein«, sagte ich. Sie mussten es so darstellen, ansonsten hätte Ayako keine Rechtfertigung gehabt, so viel Geld wie möglich von mir zu nehmen. Die Scheidung lag kaum einen Monat zurück. Schwer zu glauben, dass sie nichts wusste. »Du findest vielleicht, dass dich das nichts mehr angeht, weil ihr ja geschieden seid«, fuhr Mamiya fort, »aber so einfach ist das meiner Ansicht nach nicht…« Damit gab er mir zu verstehen, dass es ihm freistand zu tun, was er wolle. Und dafür, dass er ein offenes Gespräch mit mir führte, forderte er unausgesprochen Respekt ein. »Du hast also nicht mit ihr über deine Absichten gesprochen?«, fragte ich. »Nein.« Die Antwort war zu knapp. Deshalb blieben mir Zweifel. »Dann könnte es auch sein, dass sie nicht darauf eingeht.« »Richtig.« »Sehr anständig von dir, in diesem Stadium mein Einverständnis einzuholen.« »Du bist mir sehr wichtig.« Hohle, leere Worte. In der Fernsehbranche gebrauchte man solche Floskeln wie billige Münzen. Da es immer jemanden gab, bei dem dies auch Wirkung zeitigte, war ihr Gebrauch am Arbeitsplatz legitim. Es traf mich aber, dass er mich privat auf diese Weise adressierte. Damit sagte er, er verzichte auf die Arbeit mit einem so »wichtigen« Mann und wählte stattdessen die Frau. Er tat niedergeschlagen, empfand in Wirklichkeit aber nicht den geringsten Schmerz. Alles war nur gespielt. Vermutlich genoss er es sogar, mir all das mitzuteilen. Ihm war nicht einmal bewusst, dass er mit mir spielte. Mamiya hatte mich aufgesucht, um mir zu erzählen, dass er meine Arbeit und
meine Frau gegeneinander abgewogen und sich für meine Frau entschieden hatte. Plötzlich fühlte ich tiefe Enttäuschung. Ich spürte, wie ein Schluchzen in mir aufstieg. Ich legte den Kopf zurück und starrte in einen Winkel an der Decke, als hätte ich dort ein Spinnennetz entdeckt. »Wahrscheinlich wird mein Wunsch nie in Erfüllung gehen.« Es klang wie eine Phrase aus einem Untertitel. »Das muss nicht sein.« Ganz bestimmt hatte er sie schon gefragt. Immerhin hatte er zugegeben, sie gesehen zu haben. Und sie hatten über meinen Sohn gesprochen. Ayako hatte also ihren neuen Mann vor mir verheimlicht, um so viel wie möglich aus mir herauszuholen. Das Schlimmste, was ich jetzt tun konnte, wäre Jammern gewesen. Auch ein Wutausbruch würde einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen. Könnte ich euch nur irgendwie zu verstehen geben, dass ich eure schmutzige Handlungsweise durchschaut habe! »Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet«, sagte Mamiya. »Ganz meinerseits«, antwortete ich förmlich, um meine Fassung zu bewahren. »Vergib mir«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Ich ertrage es nicht, noch länger zu bleiben.« Abgedroschener Kitsch, wie aus einem billigen Melodram. Er schämte sich nicht einmal, obwohl gerade er und ich immer versucht hatten, solche banalen Dialoge zu vermeiden. Mamiya, der nun völlig auf das Terrain Fernsehschnulze gewechselt war, erhob sich, sagte »Also dann« und verbeugte sich noch einmal tief. »Viel Erfolg.« Mit dieser dümmlichen Äußerung begab ich mich auf sein Niveau. »Verzeih mir«, sagte er und eilte fluchtartig zur Tür.
Das Ganze war durch und durch zu einer Farce geraten, genau wie im Fernsehdrama. Er zog seine Schuhe an. Gleich würde er sich aufrichten und so tun, als ob er noch etwas sagen wollte. Doch von Gefühlen überwältigt, würde er kein Wort herausbringen, sich leicht verbeugen und, als ob er Emotionen unterdrücken müsse, die Tür öffnen. Dieses Gebaren war typisch für jene andere Welt, die Mamiya und ich in unserer Arbeit immer hatten durchbrechen wollen. Mamiya verliebte sich nun genau dem alten Muster entsprechend, und ich sah ihm dabei zu. Dann fiel die Tür ins Schloss.
An diesem Abend war ich nicht mehr in Stimmung für weitere Besuche. Als es um 22 Uhr 24 klingelte, befand sich die Wohnung im gleichen Zustand wie am frühen Abend. Mamiyas Glas stand noch da. Ich hatte es nicht aus Wut zu Boden geworfen. Für das Abendessen hatte ich keinerlei Vorbereitung getroffen und deshalb auch nichts zu mir genommen. Ich lag nur im Bett, in dem sechs Tatami großen Zimmer neben meinem Wohn- und Arbeitszimmer, und hörte FM. Die Glocke erklang. Ich hatte keine Ahnung, wer es sein konnte. Die Kollegen vom Sender, mit denen ich zurzeit zusammenarbeitete, kamen nie ohne Voranmeldung. Vertreter konnten wegen der verriegelten Eingangstür nicht ins Haus. Nicht wenigen war meine Adresse gewiss bekannt, und käme jemand von ihnen vorbei, wäre es nicht weiter seltsam. Unangemeldet war dies selten der Fall. Die Frau, die mich kürzlich verlassen hatte, kam noch am ehesten in Frage, doch aus der Art unseres Abschieds konnte ich schließen, dass ich sie wohl nie Wiedersehen würde. Wir hatten nicht besonders gut zusammengepasst, nicht einmal in sexueller Hinsicht.
»Ja?« »Entschuldigen Sie die Störung.« Eine unbekannte Frauenstimme meldete sich durch die Sprechanlage. »Ja bitte?« »Ich stehe vor Ihrer Tür. Ich wohne hier im Haus«, erklärte sie, da man am Klingelton nicht feststellen konnte, ob jemand vor der Haus- oder vor der Wohnungstür stand. »Moment, bitte.« Ich seufzte müde. Ich konnte sie ja nicht einfach ignorieren. Ich öffnete die Tür. Es war die Frau, die ich vor ein paar Tagen nachts in der Lobby gesehen hatte. »Störe ich Sie?«, fragte sie. Sie trug eine Art Hauskleid aus Baumwolle, hellgrün mit großen Blumen. Natürlich störte sie mich, aber das konnte ich ihr nicht offen sagen. »Worum geht es?« Das Gesicht der Frau war weiß. Zu ihrem Hauskleid passte das starke Make-up nicht recht. »Wissen Sie Bescheid?« Es hörte sich an, als wolle sie über kursierende Gerüchte sprechen. »Worüber?« »Dass wir nachts meist ganz für uns in diesem Haus sind«, sagte sie mit gesenktem Blick. Ich verspürte einen unangenehmen Stich, wie von einem Insekt. Wäre es nicht normal, dass eine Frau, die sich nachts allein mit einem unbekannten Mann in einem Gebäude wähnte, ihre Tür doppelt und dreifach verriegeln würde? »Nein, wusste ich nicht«, sagte ich in gleichgültigem Ton. Mit einem verlegenen Lachen senkte sie den Blick. Meine kühle Antwort schien sie zu verletzen. In einer anderen Situation hätte ich hastig etwas Nettes hinzugefügt, aber in
dieser Nacht blieb ich unnachgiebig und starrte sie nur wortlos an. »Das war’s schon«, sagte sie niedergeschlagen. Dann hielt sie mir eine Papiertüte entgegen, anscheinend mit einer Flasche darin. »Auf unsere Bekanntschaft.« Sie kicherte, als würde sie sich über sich selbst lustig machen. »Es ist Champagner«, sagte sie fröhlich. »Ich habe ihn schon angebrochen, aber ich kann die Flasche allein nicht austrinken. Vielleicht könnten Sie mir dabei helfen. Wenn ich ihn bis morgen stehen lasse, wird er schal.« Sie lachte wie über einen Witz. »Nett von Ihnen.« Ich rang mir ein Lächeln ab, rührte mich aber nicht von der Stelle. »Nicht, dass es etwas zu feiern gäbe«, meinte sie. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, sie sei betrunken. »Neulich habe ich die Flasche entdeckt. Ich habe sie vor ungefähr zwei Jahren geschenkt bekommen. Heute habe ich sie dann aufgemacht. Ich bin angetrunken, oder? Alkohol vertrage ich nicht so viel. Sonst wäre ich kaum zu Ihnen gekommen. Darf ich?« »Wie bitte?« »Darf ich reinkommen?« Ich wollte es nicht. Die Frau war einigermaßen hübsch, aber ihre Aufdringlichkeit stieß mich ab. Während ich noch nach Worten suchte, sagte sie atemlos: »Nein, nicht wahr? Ich konnte den Gedanken, heute Abend allein zu sein, eben einfach nicht ertragen. Ich habe den halben Abend mit mir gekämpft und dann meinen ganzen Mut zusammengenommen. Die Vorstellung, dass in diesem großen Gebäude inmitten der Nacht nur ein, zwei Menschen sind, macht mir Angst. Ich wohne im 3. Stock. Sie könnten auch zu mir kommen, wenn Sie mögen.«
Ich fühlte mich selbst schon wie betrunken. »Ich habe einen eiligen Auftrag zu erledigen.« Allmählich wurde ich wütend. Was für eine unverschämte Person! Nicht die Frau, die da vor mir stand, sondern die, mit der ich bis vor etwa vierzig Tagen verheiratet gewesen war. »Sie haben zu arbeiten?«, fragte die Frau. »Wie bitte?« »Sie arbeiten noch um diese Zeit…?« »Allerdings, und es eilt.« Nachdem ich unser sechs Jahre altes Einfamilienhaus mit dem 300 Quadratmeter großen Grundstück, alle Wertpapiere und Ersparnisse auf ihren Namen überschrieben hatte, gab Ayako sich vor dem Schiedsmann großzügig und verzichtete auf den Unterhalt für unseren Sohn. »Du willst die Sache doch zu einem guten Ende bringen«, erklärte sie. Mamiya steckte wohl dahinter. »Ach so«, sagte die Frau. »Was?« »Ist wohl nicht zu ändern, dass Sie beschäftigt sind?« »Genau.« »Also dann, entschuldigen Sie.« »Kein Problem.« Ich griff nach der Tür. »Einen Moment«, rief die Frau, aber ich hatte die Tür bereits geschlossen, als ich sie noch sagen hörte, dass sie mir die Flasche dalassen wolle. In Gedanken war ich schon ganz woanders. Mein Zorn auf Ayako und Mamiya schlug wie eine Woge über mir zusammen, und ich drehte den Schlüssel geräuschvoll um. Ich ging wieder ins Bett zurück und drehte das Radio auf. Unsicherheit beschlich mich. Hätte ich sie nicht vielleicht doch hereinbitten sollen? Jemandem, der sich so verhielt, musste es ziemlich schlecht
gehen. Nein, das war wahrscheinlich nur meine Auslegung. Die Frau verhielt sich vermutlich ohne groß nachzudenken so. Andererseits hatte sie erzählt, sie habe sich überwinden müssen. Was, wenn ihr nun etwas zustieß, weil ich mich nicht um sie gekümmert hatte? Wenn sie aus Einsamkeit Selbstmord beging? Sehr unwahrscheinlich. Diesen Eindruck hatte sie nicht gemacht. Ich öffnete noch einmal die Tür. Die Frau war verschwunden. Ich lauschte, aber außer Verkehrslärm war nichts zu hören. Im Moment war ich nicht in der Lage, mich um die Sorgen anderer Leute zu kümmern. Daran war nicht zu denken. Ziemlich feige entschuldigte ich mich vor mir selbst und ging zurück in die Wohnung. Ich konnte nicht einschlafen und trank Whisky. Am Rande meines Bewusstseins beschäftigte mich die fremde Frau, doch je mehr ich trank, desto stärker kämpfte ich mit dem Schlag, den meine geschiedene Frau und Mamiya mir versetzt hatten. Dann kam der Morgen, und das Gebäude füllte sich allmählich mit Geräuschen: Schritte hier und da, Türenschlagen, Telefone, Stimmen. Bald breitete sich die alltägliche Gegenwart der Menschen, die das Haus als Büro nutzten, auch auf die benachbarten Räume aus. Unversehens wurde es Mittag. Ein paar Mal überlegte ich, mich zu vergewissern, ob es der Frau gut ging, hatte dazu aber keine Energie.
3
Zwei Tage später sah ich die Frau wieder. Es war ein regnerischer Nachmittag. Ich war auf dem Weg zu einem Sender, als ich sie in die Lobby treten sah. In der einen Hand trug sie einen Schirm, in der anderen ihre Handtasche und drei volle Einkaufstüten. Sie bemerkte mich. »Hallo«, grüßte ich zuerst. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. »Guten Tag«, sagte sie mit etwas zu heller Stimme und verbeugte sich leicht. »Tut mir leid, dass ich Sie neulich nachts gestört habe.« Ihr Blick zeigte einen Anflug von Verlegenheit, der sie viel hübscher erscheinen ließ als bei unserer letzten Begegnung. »Ich habe mich auch nicht von meiner besten Seite präsentiert.« »Immerhin hatte ich Sie bei einer wichtigen Arbeit unterbrochen.« »Kommen Sie doch mal auf ein Glas vorbei, wenn Sie Lust haben.« »Danke. Da muss ich mich ja schämen.« Wir verabschiedeten uns voneinander und gingen unserer Wege. Aus einer ihrer Plastiktüten schauten grüne Blätter hervor, die wie Mangold aussahen. Einerseits war ich erleichtert, andererseits ein wenig enttäuscht. Am Abend zuvor war ich um kurz nach zehn vor das Haus gegangen, um zu sehen, ob im 3. Stock Licht brannte. Es fing schon an zu regnen. Im Erdgeschoss, im 3. und im 5. Stock war jeweils ein Fenster erleuchtet. Im 3. Stock war keines Menschen Silhouette zu sehen.
Ein hell erleuchtetes Fenster musste natürlich nichts heißen. Licht konnte auch dann brennen, wenn man tot im Zimmer lag. Ich stand im Regen und starrte eine Weile zu ihrem Fenster hinauf. Schließlich kehrte ich in meine Wohnung zurück, ohne etwas zu unternehmen. Mich bedrückten unheilvolle Gedanken über die Frau und ihre Einsamkeit. Eine Plastiktüte mit Gemüse stellte nun, konträr zu diesen Überlegungen, die Realität dar. »So ist das eben«, dachte ich mit einem sauren Lächeln, während ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte. »Sterben tut es sich eben nicht so leicht.«
Dann kam der bewusste Tag. Es war Anfang August. Noch immer ging ich selten aus. Partys oder Bars mied ich völlig. Ich war schon von Natur aus kein geselliger Mensch, aber meine Scheidung und die Sache mit Mamiya hatten mich geradezu menschenscheu gemacht. Ich hatte die Frau in der Lobby zu einem Drink eingeladen, die Tage vergingen jedoch, ohne dass ich Lust dazu hatte. Sie meldete sich ebenfalls nicht. Derlei Einladungen sind ja häufig nicht mehr als eine Floskel. Den Leuten in der Unterhaltungsbranche kommen oberflächliche Versprechungen und Einladungen so leicht über die Lippen wie Atemzüge, keiner nimmt sie ernst. »Wir müssen mal einen Abend ausgehen, ohne übers Geschäft zu reden.« »Für eines Ihrer Projekte würde ich jederzeit alle anderen Angebote absagen.« »Also, wenn nicht bald etwas passiert, sieht es mit den japanischen Fernsehserien schlecht aus. Wir sollten uns ernsthaft zusammensetzen und etwas dagegen tun – irgendwann.«
»Warum bekomme ich eigentlich nie eine Rolle in Ihren Filmen? Was, ich hatte gerade eine? Ach, das war Ihr Drehbuch, stimmt ja! Schlimm, wenn man so vergesslich ist! Wirklich ein ausgezeichnetes Drehbuch. Ich habe noch nie so hart an einer Rolle gearbeitet, nicht für das Fernsehen jedenfalls.« Im Laufe meiner achtzehnjährigen Karriere als Drehbuchautor habe ich es so gut wie aufgegeben, diese Aussagen ernst zu nehmen. Die Frau war zwar nicht beim Fernsehen, aber als Bewohnerin einer japanischen Großstadt sicher ähnlich geprägt. Bestimmt kam auch sie im Alltag nicht ohne leere Phrasen aus. Worüber sollten wir uns überhaupt unterhalten? Ich verspürte nicht die geringste Neigung, mir ihre Lebensgeschichte anzuhören. Gegen eine sexuelle Beziehung hätte ich nichts einzuwenden, solange es nur dabei blieb, aber auf die lästigen emotionalen Verwicklungen konnte ich verzichten. Nun jener Tag Anfang August. Genauer gesagt war es der 4. August. Ich wollte in einem Kaufhaus auf der Ginza eine Krawatte kaufen und erklärte der Verkäuferin, ich bräuchte sie »als Geschenk«. Sie legte vier oder fünf Modelle auf die gläserne Theke, die ich ausnahmslos zu langweilig fand. »Für einen Herrn über vierzig…« »Na ja, so zwischen fünfundvierzig und fünfzig.« »… finde ich die Farben eigentlich nicht zu gedeckt, aber…« Sie holte rasch noch vier oder fünf andere Krawatten hervor, deren Muster so aufdringlich waren, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. »Hätten Sie vielleicht etwas dazwischen?«, fragte ich. Sie verstand nicht, was ich mit »dazwischen« meinte. »Wie zum Beispiel…?«
Eben eine, die weder zu dezent noch zu auffällig sei. Dabei ließ ich meinen Blick über die in der Vitrine ausgestellten Krawatten schweifen und musste feststellen, dass ich Unmögliches verlangte. Ich wollte etwas, das es nicht gab. Ebenso war es wohl mit meinem lang ersehnten Alleinleben. Das, was ich mir ersehnt hatte, war nicht zu bekommen. Zu viel Ruhe ging mir auf die Nerven, aber zu lebhaft wollte ich es auch nicht haben. Wie bei den Krawatten. Ich war auf der Suche nach einem Leben, das es nicht gab. Schließlich verließ ich das Geschäft mit einer cremefarbenen Krawatte mit einem grellen orange-gelb-grünen Muster, das wie aufgemalt wirkte. Ich bezweifelte, dass ich sie je tragen würde. Meine Lüge, dass die Krawatte ein Geschenk sei, widerte mich zusätzlich an. Konnte es etwas Erbärmlicheres geben als einen erwachsenen Mann, der sich selbst zum Geburtstag eine Krawatte schenkte? Auf eine derart peinliche Idee wäre ich in meiner Jugend nie gekommen. Von der Sache konnte man keinem erzählen. Auf Reisen ins Ausland dachte ich immer, dass die Welt sich mir öffnen würde, wenn ich nur die Sprachen der verschiedenen Länder beherrschte. Dann könnte ich ohne Hemmungen Menschen ansprechen und Frauen verführen. Doch im Grunde wusste ich ganz genau, dass es mir nie leicht fallen würde, fremde Menschen anzusprechen oder Frauen zu verführen, ganz gleich, wie fließend ich ihre Sprache auch sprechen mochte. Ich konnte nicht aus meiner Haut, der Haut eines geschiedenen Mannes in mittleren Jahren. »Man müsste doch trotzdem…«, murmelte ich.
Es war am frühen Abend. Schon seit dem Morgen war es sehr heiß gewesen, eine Schmutzschicht lag über der Stadt. Ich
wanderte durch die noch immer schwüle Luft und konnte mich nicht entschließen, nach Hause zurückzukehren. Wenn ich jetzt in meine Wohnung ging, duschte und zwei, drei Stunden in meinem klimatisierten Büro arbeitete, hätte ich es am nächsten Tag bequem. Ich würde mich nach der Arbeit auf die Couch legen, einen Whisky trinken und mir ein FelliniVideo anschauen. Das wäre dann allerdings der gleiche Ablauf wie am Tag zuvor. Ich sehnte mich nach Abwechslung, und das nicht nur, weil ich Geburtstag hatte. Ich war mir bewusst, dass ich mich in einem depressionsartigen Zustand befand. Ich musste mich daraus lösen, musste beginnen, ein anderes Leben zu leben. Eine Geisteslage, in der man sich schon selbst Krawatten schenkte, war an Widrigkeit nicht mehr zu überbieten. In diesem Moment blieb ich stehen. Mein Blick hatte irgendetwas erfasst. Ich sah vor mir den Eingang zu einem U-Bahnhof. Es war der Eingang Ginza. Ein Schild über der Treppe, die hinunterführte, verwies auf die zwei Richtungen Shibuya und Omotesando sowie Asakusa und Ueno. Die Zeichen »Asakusa« hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Mir war, als hätte ich sie schon lange nicht mehr gelesen. Asakusa ist der Stadtteil, in dem ich geboren wurde. Plötzlich wusste ich, wohin ich wollte, und lief mit eiligen Schritten die Treppe hinunter. Jahrelang, vielleicht sogar über ein Jahrzehnt, war ich nicht mehr dort gewesen. Ich bin im Jahre Showa 14 (1939) geboren. Damals lebten meine Eltern in einer Wohnung in der Nähe von Tawaramachi. Mein Vater war Sushi-Koch, meine Mutter arbeitete als Küchenhilfe im gleichen Lokal. Er wurde zweimal zum Militärdienst eingezogen, einmal vor und einmal nach meiner
Geburt. Meine Mutter war kurz vor der Kapitulation mit mir in ihren Heimatort in Tochigi gegangen, aber als mein Vater nach Kriegsende Showa 21 (1946) von den Philippinen zurückkehrte, zogen wir drei sofort wieder nach Asakusa. Meine Eltern kochten aus allem Essbaren, das sie bekommen konnten, einen so genannten Vitamin-Eintopf, den sie auf dem Schwarzmarkt verkauften. Ich war damals noch in der Grundschule und half ihnen. Ich erinnerte mich gut daran, wie meine Mutter in einer Schüssel Mehl mit Wasser anrührte und diese Mischung mit kreisenden Bewegungen in einen großen Topf goss, um die Suppe zu binden. Ganz jung war ihre Erscheinung, wie sie da im Dunst stand.
Showa 25 (1950), als der Koreakrieg ausbrach, nahm mein Vater wieder seine Arbeit als Sushi-Koch auf. Das Lokal lag in Nihonbashi, aber wir blieben weiter in dem Mietshaus in Asakusa. Meine Eltern liebten Asakusa. Unsere Wohnung lag im ersten Stock über einer Klempnerwerkstatt hinter dem Hongan-Tempel. Damals wurde meine Mutter zum zweiten Mal schwanger. Doch leider sollte ich nie erfahren, ob ich einen Bruder oder eine Schwester bekommen hätte. Als mein Vater nach Neujahr mit meiner Mutter auf dem Gepäckträger mit dem Fahrrad unterwegs war, wurden sie vor dem Internationalen Theater von einem Auto erfasst. Beide waren auf der Stelle tot. Der Fahrer des Unfallfahrzeugs wurde nie aufgespürt. Später äußerten mein Onkel aus Nagoya und einige andere den Verdacht, es habe sich um einen Jeep der Besatzungsmacht gehandelt, und die Polizei habe den Fall deshalb nicht weiter verfolgt. Mir hatte man nur gesagt, es sei ein schwarzer Pkw gewesen.
Ich war damals zwölf. Man schickte mich in den Heimatort meines Vaters in der Präfektur Aichi. Mein Großvater war Bauer, besaß aber nur wenig und überdies nicht besonders ertragreiches Land. Daher blieb von der Ernte nur wenig zum Verkauf übrig, das meiste aßen wir selbst. Mein Großvater hatte wohl Mitleid mit mir, denn er zwang mich nicht zur Feldarbeit. Ich bemühte mich jedoch freiwillig, ein echter Bauernjunge zu werden. Wollte ich in der Schule überleben, musste ich den Geruch der Großstadt möglichst schnell loswerden. In dem Sommer, als ich in der II. Klasse war, starb mein Großvater, und ich war wieder allein. Mein Onkel aus Nagoya verkaufte die Äcker. Ich zog in sein Haus und besuchte noch anderthalb Jahre eine Schule in Nagoya. Anschließend studierte ich in Tokio. Mein Onkel sagte, ich bräuchte mir keine Sorge zu machen, und versprach, mein Studium bis zum Ende zu finanzieren. Später, bei der Trauerfeier für ihn, erzählte mir eine entfernte ältere Verwandte, er habe mich betrogen und mir weniger Geld zukommen lassen, als mir zustand. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die paar Äcker meines Großvaters viel eingebracht hatten, und stellte die guten Absichten meines Onkels nie in Frage. Nach der Haltestelle Nihonbashi leerte sich die U-Bahn, in Kanda und Ueno stiegen zusätzlich Menschen aus, und an der Endstation Asakusa waren in jedem Wagon nur noch drei, vier Fahrgäste. Als ich am Ausgang Kaminari-mon nach oben trat, war es bereits dunkel. Entgegen der Befürchtung, die mich in der stetig leerer werdenden U-Bahn überkommen hatte, waren die Straßen hell erleuchtet und voller Passanten. Ich schlenderte durch die Nakamise-Gasse. Zum KannonTempel und durch das Amüsierviertel im 6. Bezirk zu gehen,
machte mir nichts aus, ich fürchtete mich jedoch davor, Gegenden zu durchstreifen, die mit Erinnerungen an meine Kindheit verknüpft waren. Früher war ich oft nach Asakusa gekommen, hatte mich aber nie in die Nähe des Internationalen Theaters, des Hongan-Tempels oder der Station Tawara-machi gewagt. Obwohl die Örtlichkeiten abseits der Hauptgeschäftsstraßen lagen, hatten sie sich sicher in den vergangenen dreißig Jahren völlig verändert. Dennoch fürchtete ich mich. Ich hatte Angst, dass die Klempnerwerkstatt, über der ich mit meinen Eltern gewohnt hatte, unverändert bestand und alle meine über die Jahre verdrängten Erinnerungen bei ihrem Anblick wie eine Flut über mich hereinbrechen würden. Seit meinem 12. Lebensjahr hatte ich kaum geweint. Sollte ich bei meinem Rundgang auf etwas stoßen, das mich intensiv an die Zeit mit meinen Eltern erinnerte, würde der Panzer, den ich mir mühsam zugelegt hatte, vielleicht zerbrechen. Nackt würde ich dastehen und jämmerlich in Tränen ausbrechen. Aber was redete ich mir denn ein! Schließlich war ich ein erwachsener Mann. Außerdem hatte man das Internationale Theater längst abgerissen und an seiner Stelle ein großes Hotel gebaut. Im Kannon-Tempel warf ich 100 Yen in einen Opferstock und faltete die Hände. Es blitzte. Ein älterer Europäer senkte seinen Fotoapparat und schaute unsicher und entschuldigend zu mir herüber. Als ich ihm lächelnd zunickte, winkte er mir erleichtert zu. An der Seite der Haupthalle verließ ich das Tempelgelände. Dort war es dunkler und fast menschenleer. Als ich mich auf den Weg in Richtung Amüsierviertel machte, tauchte neben mir ein Mann auf und lief dicht neben mir her.
»Wollen Sie ein bisschen Spaß haben?«, sprach er mich heiser an. »Nein danke. Ich habe etwas zu erledigen.« Ich ging zur Rathausstraße zurück und aß dort in einem Lokal ein Aalgericht. Es war schon nach halb acht, als ich das Viertel mit den alten Lichtspielhäusern erreichte. Es wirkte trostlos. Es gab noch sieben oder acht Kinos, aber die Straßen waren menschenleer, was nicht weiter seltsam war, denn die letzte Vorstellung hatte schon begonnen. Mir fiel ein, dass ich es bei meinem letzten Besuch tagsüber ebenfalls trostlos gefunden hatte. Wahrscheinlich war es hier jetzt immer so. Jäh ragte ein hell erleuchteter, hoher Komplex besiedelt mit vielen verschiedenen Geschäften vor mir auf, der beim letzten Mal noch nicht da gewesen war. Durch seine etwas zurückgesetzte Lage kam er erst ins Blickfeld, wenn man direkt davor stand. Ähnliche Gebäude findet man in Shibuya oder Kichijoji an jeder großen Einkaufsstraße. In diesem Viertel schien es irgendwie fehl am Platz. Es passte nicht zu den schmutzigen alten Häusern daneben und wirkte wie versehentlich aus einer anderen Welt hierher versetzt. Nicht die mit Brettern vernagelten Eingänge der geschlossenen Kinos oder die brach liegenden Grundstücke schlugen Wunden in das Viertel, sondern vielmehr dieses saubere und helle Hochhaus. Natürlich würde sich nun alles andere rapide im Stil des neuen Shopping-Gebäudes fortentwickeln, so dass mein Eindruck bald verwischt sein würde. Wieder trat ein Mann an mich heran. »Wie wär’s mit einem süßen Mädchen? Gerade achtzehn, ganz jugendfrisch.« »Danke, ich hatte eben erst das Vergnügen.« »Dann vielleicht beim nächsten Mal.«
Als ich mich, überrascht von seinem höflichen Ton, nach dem Mann umwandte, lächelte er mir noch einmal zu. In der Regel machten Männer wie er nach einer Ablehnung eine schroffe Kehrtwende. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich ein zweites Mal anblicken würde. Sein Lächeln war auch kein höhnisches Grinsen nach dem Motto »Ach ja, ganz bestimmt«, und so lächelte ich sogar zurück. Kurze Zeit später blieb ich unwillkürlich stehen. Wenn man zum Asakusa-Toei-Kino am Ende der Straße geht, stößt man linker Hand auf das Internationale Theater. Besser gesagt, den Hotelkomplex, der jetzt den Platz des Theaters einnimmt. Und den wollte ich auf keinen Fall betrachten. Ich beschloss, mich auf den Heimweg zu machen. Die Revuegirls vom Internationalen Theater hatte ich nicht oft gesehen, das Gebäude an sich gehörte jedoch bis zu meinem 12. Lebensjahr zu meinem Alltag. Meine letzte Erinnerung daran war das Blut meiner Eltern auf der breiten Straße davor. Sie verlief Richtung Tawara-machi. Unversehens stand ich vor dem Asakusa-Varietétheater. Über Lautsprecher wurde eine Rakugo-Darbietung – ein komödiantischer Monolog – nach draußen übertragen. Es wurden noch Zuschauer eingelassen, aber niemand ging hinein. Ich war der Einzige, der stehen blieb. Ich stellte mir einen fast leeren Saal vor. Vielleicht wäre es nett, sich ein oder zwei Stücke anzuhören, bevor ich nach Hause fuhr. Außerdem hatte man den Eintritt bereits um 500 Yen auf 1000 Yen herabgesetzt. Zu meiner Überraschung war der Saal voll. Selbst ein Großteil der runden Notsitze war besetzt, einige Zuschauer standen sogar. Die Stimmung war von einer Ausgelassenheit, die man gar nicht vermutet hätte. Gerade brach Gelächter aus. Ein junger Rakugo-Künstler war zur Bestform aufgelaufen, die Stimmung im Publikum war gut.
Sein vier- bis fünfminütiger Monolog wurde mit starkem Beifall honoriert. In diesen hinein erklang eine Durchsage. »Alle Mitglieder des Geschäftsinhaberverbands XX sowie die Gäste der Hato-Bus-Stadtrundfahrt: Die Zeit zum Aufbruch ist gekommen.« Eine Großzahl der Zuschauer erhob sich und bewegte sich langsam in Richtung Ausgang. Als Drehbuchautor habe ich indirekt selbst mit Publikum zu tun, und es war für mich wie ein Albtraum, untätig zusehen zu müssen, wie alle nach draußen strömten. Unterdessen kündigte eine Melodie die nächste Nummer an, und ein neuer Rakugo-Erzähler betrat die Bühne. Nichtsdestoweniger kehrte der Großteil der Zuschauer ihm den Rücken zu und strebte unaufhaltsam zum Ausgang. »Danke schön. Ich danke Ihnen!«, schrie der Mann, er mochte Mitte fünfzig sein, ihnen nach. Die noch verbliebenen Zuschauer lachten. »Zum Ausgang, bitte dort entlang. Beeilen Sie sich, sonst verpassen Sie noch den Bus. Ich danke Ihnen«, schluchzte er affektiert und unter tiefen Verbeugungen. »Besten Dank.« Der Exodus nahm unvermindert seinen Lauf. »Bitte, zum Ausgang da lang.« Er gab vor, den Tränen nahe zu sein, und ließ mit qualvoller Mimik seine Zunge sehen. »HatoBusrundfahrten sind göttlich! Vergessen Sie nicht, zu Hause damit anzugeben, dass Sie einen Blick von mir erhascht haben!« Im Zuschauerraum wurde es wieder ruhig. Es war nun ziemlich leer. »Diese Busgäste setzen mir ungemein zu«, stöhnte er. »Unter uns gesagt«, flüsterte er. »Die kommen hier zum halben Preis rein. 750 Yen pro Person. Deshalb sind es so viele. Aber zwei zahlen gerade mal so viel wie einer. Dann stapfen sie mir nichts, dir nichts wieder hinaus, ohne sich auch nur umzudrehen. Sobald man ihnen sagt, es ist Zeit, setzt die
Massenflucht ein. Ich hasse sie. Tut mir leid, aber ich verabscheue diese Stadtrundfahrten.« Da der Scherz die Tonlage verfehlt hatte, wurde es still. Auf einmal rief einer: »Hier sind noch Hato-Bus-Leute!« Ich war erstaunt. Der Rakugo-Mann beeilte sich, seine Verlegenheit zu überspielen. »Im Ernst? Das ist doch nicht wahr! Oder? Wirklich?« »Reingefallen«, rief die Stimme, und die Zuschauer lachten. »Das war gemein von Ihnen, fies. Ich hatte fast einen Leberstillstand, äh, Herzstillstand. Ich liebe die Hato-Busse. Ehrlich, ich bin ihr größter Fan. Also wirklich, man macht keine Scherze, wenn es um die Existenz geht. Schließlich ernährt mich das Busunternehmen!« Der Rakugo-Vortrag entwickelte sich zu einem Erzählpotpourri. »Kaum kommt man auf die Bühne, da stapfen auch schon drei Viertel der Zuschauer aus dem Saal, da vergeht einem doch die Lust! Obwohl ich Ihnen, verehrtes sitzen gebliebenes Publikum, das nicht vorwerfen kann.« Ich erhob mich von meinem Hocker in den hinteren Reihen und bewegte mich etwas. »Bitte, jagen Sie mir keinen Schrecken ein«, rief mir der Rakugo-Künstler zu. »Müssen Sie so aufspringen, wo ich gerade dachte, ich hätte den Dammbruch nun endlich aufgehalten? Fast hätte ich Sie auf Knien angefleht, nicht zu gehen. Und jetzt sind Sie sogar nach vorne gekommen. Ich danke Ihnen! Nur keine Hemmungen. Kommen Sie nur, kommen Sie dorthin, wo Sie meine Spucke erreicht.« Lachend blickten die anderen Zuschauer zwischen uns hin und her. Der Rakugo-Mann wechselte das Thema und lästerte nun über irgendwelche Prominente aus dem Fernsehen.
Ich war nicht nach vorne gegangen, um ihn besser hören zu können. Das hätte sich nicht gelohnt. Aus diesem Grund den Platz zu wechseln, wäre Unsinn gewesen. Eigentlich war ich nach vorne umgezogen, um den Mann näher zu betrachten, der den Scherz mit den noch anwesenden Touristen gemacht hatte. Von meinem ursprünglichen Platz aus hatte ich nur seinen Hinterkopf sehen können. Seine Stimme und sein Rücken hatten mich an meinen Vater erinnert. Meinen verstorbenen Vater. Ein bisschen seltsam fand ich es schon, eigens aus diesem Grund den Platz zu wechseln. Dann ähnelte er eben meinem Vater, und wenn schon? Er war mit neununddreißig gestorben. Wenn er jetzt noch lebte, wäre er fünfundsiebzig. Es wäre verständlich gewesen, wenn ein älterer Herr mich an meinen Vater erinnert hätte. Dagegen schlich ich einem Mann in den Dreißigern nach. Schon etwas eigenartig. Um mein leicht merkwürdiges Verhalten vor mir selbst zu leugnen, fiel ich laut in das Gelächter der anderen ein, obwohl ich kaum etwas von der Darbietung mitbekommen hatte. Ich musste mir den Mann ansehen. Seine Stimme hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit der meines Vaters aus meiner Erinnerung. Überhaupt seine ganze Erscheinung, wie sie sich mir in seiner Rückenansicht zeigte. Verzweifelt wünschte ich mir, sein Gesicht zu betrachten: um mich zu vergewissern, dass er meinem Vater doch nicht so ähnlich sah. Niemand konnte einem anderen in jeder Hinsicht gleichen. Ich sehnte mich nach einer beruhigenden Enttäuschung. Die Darbietung ging zu Ende. Ich sah zu dem Mann hin. Er war mein Vater. Zumindest im Profil war er sein absolutes Ebenbild. Hastig wandte ich den Blick ab. Was es nicht alles gab. Dass sich zwei Menschen so ähnlich sehen konnten!
Wieder ertönte eine Melodie, und zwei Jongleure, ein Mann und eine Frau, sprangen auf die Bühne. Mir fehlte der Mut, noch einmal zu dem Mann hinzuschauen. Ich hatte ihn ja nur eine Sekunde lang gesehen. Und das aus ziemlicher Entfernung. Also konnte ich eigentlich gar nicht beurteilen, ob er meinem Vater wirklich so ähnlich sah. Wahrscheinlich sah er von vorne völlig anders aus. So etwas kam ja öfter vor. Ich verspürte nun den unbezähmbaren Drang, den Mann von vorne zu sehen. Aber es war ja unmöglich, dass mein Vater in seiner damaligen Gestalt heute noch lebte, und damit völlig sinnlos, sich vergewissern zu wollen. Der Jongleur balancierte einen Ball auf einem Spazierstock, den er auf seine Stirn gesetzt hatte, und trippelte bald nach links, bald nach rechts. Während ich seine Bewegungen verfolgte, warf ich verstohlene Blicke zu dem Mann hinüber. Er sah mich an. Es verschlug mir fast den Atem, als er mir zulächelte und kurz nickte. Kalte Schauer liefen mit den Rücken hinunter. Ich wandte den Blick ab und starrte zu Boden, während ich angestrengt versuchte, meine Erregung zu beherrschen. Warum hatte er mich angesehen? Wieso hatte er gelächelt und mir so freundlich zugenickt? Natürlich – weil der Rakugo-Künstler mich vorhin auf den Arm genommen hatte. Er hatte zu mir herübergesehen, unsere Blicke hatten sich zufällig gekreuzt. Mehr als die Frage »Amüsieren Sie sich gut?« hatte sein Lächeln nicht zu bedeuten gehabt. Er war eben ein umgänglicher Mensch. Wie der Zuhälter vorhin auf der Straße, der auch so freundlich gelächelt hatte. Es gefiel mir in Asakusa. Hier gab es noch freundliche Menschen. Wie hatte nun sein Gesicht ausgesehen? Eigentlich konnte ich die angenommene Ähnlichkeit gar nicht beurteilen.
Schließlich war ich erst zwölf gewesen, als mein Vater ums Leben kam. Es war ausgeschlossen, dass ich noch jeden Winkel seines Gesichts im Gedächtnis hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit war gewiss nicht zu leugnen, aber bis zu welchem Grad die beiden einander glichen, ließ sich nicht feststellen. Mit anderen Worten, der Mann entsprach nur einem Bild meines Vaters, das ich von Fotos kannte. Sie sahen sich wirklich sehr ähnlich. In der Tat war er meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, und doch konnte er es unmöglich sein. Die Jongleure hatten ihre Darbietung beendet, die Zuschauer klatschten halbherzig. Worüber regte ich mich denn so auf? Der Mann fand mich bestimmt schon sonderbar. Als er mir zulächelte, hatte ich einfach weggesehen. Vielleicht war er sogar etwas verstimmt. »He«, sagte jemand ganz in meiner Nähe. Als ich aufschaute, sah ich den Mann im Gang neben meiner Sitzreihe stehen. »Gehen wir?«, fragte er. »Meinen Sie mich?« Meine Stimme zitterte. Die Ähnlichkeit mit meinem Vater war wirklich erstaunlich. Ohne meine Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Von hinten wirkte es, als sei er sich sicher, dass ich mit ihm kam. Musik kündigte den nächsten Auftritt an. Eilig folgte ich dem Mann.
4
Der Mann stand draußen. Es war dunkel und das Vergnügungsviertel wie ausgestorben. Als er mich herauskommen sah, zeigte er auf ein Plakat neben dem Eingang. »Ich mag den Kerl nicht«, sagte er. Im gleichen Moment ertönte die Stimme des Rakugo-Künstlers aus dem Lautsprecher. »Ich auch nicht.« »Dachte ich mir.« Der Mann setzte sich in Bewegung. »Als Hauptattraktion ist er einfach nicht gut genug.« Er wandte sich in Richtung Internationale Allee. »Kommst du mit?« »Wohin?« »Zu uns.« Mit einer kurzen Hüftbewegung schob der Mann seine Hose höher. »Darf ich?« »Sicher. Was gibt’s da zu fragen?« Obwohl er augenscheinlich gut zehn Jahre jünger war als ich, gab er sich überlegen. »In Asakusa schließen die Geschäfte früh. Nach zehn ist einfach nichts mehr los.« An der Internationalen Allee mussten wir an einer Ampel warten. Die Straße war breit, aber früher war sie mir breiter vorgekommen. Es hatte auch weniger Verkehr gegeben. »Kommst du öfter her?« »Wohin?« »Nach Asakusa.« »Dann und wann.«
»Aha.« Der Mann überquerte mit großen Schritten den Zebrastreifen, und ich folgte ihm. Eigentlich sagen mir Männer wie er nicht so sehr zu, aber ich empfand nicht das Bedürfnis, mich von ihm zu verabschieden. Im Gehen suchte er nach etwas in seinen Hosentaschen und drehte sich dann zu mir um. »Ich hole schnell Zigaretten«, sagte er. »Das Haus liegt in dieser Richtung. Warte hier.« Er bedeutete mir, auf der anderen Straßenseite an der Ampel stehen zu bleiben, und bewegte sich mit wiegendem Gang in Richtung des früheren Internationalen Theaters. Dort stand ein Zigarettenautomat, in den er ein paar Münzen warf. Sein weißes Baumwollhemd mit Henley-Kragen hing lose über der weißen Baumwollhose. Er trug das Haar kurz geschnitten und machte insgesamt einen ordentlichen, sauberen Eindruck, was mich ein wenig erleichterte. Wahrscheinlich wäre es mir unangenehm gewesen, wenn ein Mann, der meinem Vater so sehr ähnelte, verwahrlost gewirkt hätte. Der Mann kam zurück. »Hast du es gesehen?« »Was?« »Das riesige Hotel.« »Ja.« Allerdings war hier die Sicht auf das Hotel von den umliegenden Häusern versperrt. Das schien ihn jedoch wenig zu kümmern, und er schritt wieder rasch vor mir her. Ich folgte ihm. Unbeschwert durchquerte ich das Viertel, das ich seit meinem 12. Lebensjahr nicht mehr betreten hatte. Wie ich es in Augenschein nahm, unterschied es sich nicht von den anderen angejahrten Altstadtvierteln in Tokio.
Wir waren also auf dem Weg zu ihm nach Hause. Seltsam, dass ich mich nicht dagegen sträubte. Dabei war ich nicht einmal betrunken. Wieso war ich bereit, einen Mann nach Hause zu begleiten, den ich eben erst kennen gelernt hatte? Natürlich, weil er mich an meinen verstorbenen Vater erinnerte. Dieser Umstand hatte jegliches Misstrauen in mir zerstreut. Aber er – warum nahm er mich mit zu sich nach Hause? Ich war offensichtlich viel älter als er und konnte ihn kaum an seinen toten Sohn erinnern. »Bier wäre jetzt gut, was?«, fragte der Mann. »Wie bitte?« Da er mich so sehr an meinen Vater erinnerte, antwortete ich unwillkürlich in höflichem Ton. »Bei der Hitze willst du bestimmt ein Bier, oder?«, sagte der Mann und blieb vor einem Bierautomaten stehen, um ein paar Münzen in seiner Hand zu zählen. »Wir haben nur eine Flasche im Kühlschrank. Sie sagt, mehr gibt’s nicht, weil ich dann nur alle auf einmal austrinke.« »Ich möchte bezahlen.« »So weit kommt’s noch.« Krachend fiel eine 500-ml-Dose aus dem Automaten. Er nahm sie heraus. »Eiskalt. Umwickle sie lieber mit einem Taschentuch«, sagte er und gab sie mir. »In Ordnung.« Offenbar wollte er noch eine kaufen. »Wird das nicht zu viel?« »Ach was, die paar Schlucke.« Eine weitere Dose fiel geräuschvoll in die Klappe. »Hast du das Taschentuch?« »Ja.« Die zweite Dose trug er selbst. Wir setzten uns in Bewegung. »Kein Taschentuch?«
»Mir macht das nichts aus«, meinte er großspurig. Ich wollte gerade sagen, dass es mir auch nichts ausmache, doch plötzlich wallte in mir eine unerklärliche Freude auf. Es bereitete mir Vergnügen, diesem imposanten Mann zu folgen. Ich stellte mir vor, hinter meinem Vater herzugehen, und fühlte mich so geborgen wie schon lange nicht mehr. Mir macht das nichts aus, aber du solltest die Dose in einem Taschentuch tragen, hatte er zu mir gesagt. Ich bekam Lust, ihm scherzhaft auf dem Rücken zu klopfen und mit ihm herumzualbern. »Hier ist es. Im zweiten Stock.« Der Mann bog in eine Gasse ein. Wir gelangten unmittelbar an eine eiserne Außentreppe, die der Mann geräuschlos und zügig in den zweiten Stock hochstieg. Ich tat es ihm nach. Drei Wohnungstüren reihten sich aneinander, er ging bis zur letzten. »Ich bin’s«, sagte er und trat leicht gegen die Tür. Ich blieb in kurzer Entfernung stehen, während es mich ein ums andere Mal kalt überlief. Er hatte eine Frau. Sicher, er hatte ja vorhin bemerkt: »Sie sagt, wenn es mehr wären, würde ich sie doch nur auf einmal austrinken.« Es gab also jemanden, der das sagte, wahrscheinlich die Ehefrau. Seit seiner Bemerkung hatte ich in meinem Hinterkopf etwas geahnt und befürchtet. Ich wollte seine Frau nicht kennen lernen. Meine Freude an dem Mann, der meinem Vater so ähnlich sah, würde vielleicht zerstört, und ich würde in die Realität zurückgeschleudert. Doch nein, das war es nicht. Zumindest war das nicht alles. Auf der anderen Seite spürte ich eine geheime Hoffnung, eine geheime Angst. Aber das konnte ja gar nicht sein. Unmöglich. »Worauf wartest du noch, komm rein.« Der Mann verschwand in der Wohnung. Ich zögerte.
Eine Frau lugte aus der Tür. »Nur herein«, sagte sie und zog sich mit einem Lächeln wieder in die Wohnung zurück. Alles um mich herum begann sich zu drehen. Das konnte nicht wahr sein! Was war nur mit mir los? Mir war klar, dass ich nicht schlief. Ein Traum konnte niemals so realistisch sein. »Was ist? Komm rein!«, rief der Mann. »Komm doch rein«, wiederholte die Frau. Es war die Stimme meiner Mutter. Die Frau, die ich in der Tür gesehen hatte, war meine Mutter. Ich zitterte und konnte mich nicht mehr bewegen. Tränen stiegen mir in die Augen, ein leiser klagender Laut entrang sich meiner Brust. »Was machst du denn da? Komm jetzt rein.« Der Mann sah nach mir. »Ja…« »Zier dich nicht so albern.« Er ging wieder in die Wohnung zurück. »Ja…« Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Wenn ich jetzt wegginge, wäre alles zu Ende. Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Darin hatte ich Übung, da ich schon lange allein war. Ich trat über die Schwelle und sagte heiter: »Tut mir leid, dass es schon so spät ist.« »Macht nichts«, sagte meine Mutter, die mit fünfunddreißig ums Leben gekommen war. Diese Frau war ihr Ebenbild. »Es ist doch noch früh am Abend. Setz dich«, sagte mein Vater. Die Wohnung, die aus einer Küche und einem acht Tatami großen Raum bestand, war alt, wirkte aber sauber und aufgeräumt. Sie haben es recht hübsch hier, dachte ich, und
versuchte, mich mit aller Gewalt auf derlei Dinge zu konzentrieren. Der Kühlschrank war nicht besonders alt, die Thermoskanne funktionierte nach dem Drucktastensystem. Und sieh an, sie hatten einen Kalender vom Rox, dem neuen Gebäude mit den Ladengalerien. Demnach konnten sie wirklich nicht meine Eltern sein. »Schau mal«, sagte der Mann. »Was denn?« »Ferngesteuerte Autos. Sie ist verrückt danach.« Drei ziemlich große Modellrennwagen standen auf Zeitungspapier in einer Ecke des Zimmers. »Sie?« Ich traute mich nicht, zu ihr hinzusehen. »Es ist nicht zu fassen. Eine erwachsene Frau in ihrem Alter spielt jede freie Minute mit Modellautos. Sie hat schon vier oder fünf davon zu Schrott gefahren.« Seine Frau lachte. Mutig warf ich einen Blick in ihre Richtung. Die blasse, zierliche Frau, mit den vollen Lippen war das Ebenbild meiner Mutter. Aber sie begeisterte sich für ferngesteuerte Modellautos und konnte unmöglich meine Mutter sein.
5
Kurz nach elf stieg ich auf der Internationalen Allee in ein Taxi. Die beiden hatten mich bis dorthin begleitet. »Komm bald mal wieder.« Ich fühlte mich wie ein Junge vom Land, der vor dem Aufbruch nach Tokio am heimatlichen Bahnhof seinen Eltern Lebewohl sagt. Der Abschied fiel mir schwer. Tränen trübten meinen Blick und ließen die beiden Zurückbleibenden in der Ferne verschwimmen. »Das waren Verwandte, die ich lange nicht mehr gesehen habe«, erklärte ich dem Taxifahrer. Er gab keine Antwort. »Es war so schön«, fügte ich ungeachtet seines merklichen Desinteresses hinzu und weinte ein bisschen. Der Taxifahrer hielt mich vermutlich für betrunken, was den Tatsachen entsprach. Zusätzlich zu dem Bier hatte ich Whiskey getrunken. Es tat gut zu weinen. »Es war so schön«, murmelte ich noch einmal vor mich hin. »Wie schön, die Familie nach langer, so langer Zeit wieder zu sehen.« Wo doch dieser Mann und seine Frau in Wirklichkeit nicht einmal meine Verwandten waren. Immer wieder hatte ich die Frage, die mir so drängend auf der Zunge lag, hinunterschlucken müssen. Manchmal musste ich mir buchstäblich den Mund zuhalten, um nicht herauszuplatzen: »Ihr seid meine Eltern, nicht wahr?« Aber ein Ehepaar, das erst Mitte oder Ende dreißig war, konnte doch unmöglich einen siebenundvierzigjährigen, nein, ab heute sogar achtundvierzigjährigen Sohn haben. Dennoch
hatte ich mich in ihrer Gegenwart wie ein Kind gefühlt, obwohl ein Kind natürlich keinen Whiskey trinken darf. Als ich schon etwas angeheitert war, hatte ich den Mann aus Versehen einmal »Vater« genannt, worauf er ganz selbstverständlich »Was denn?« fragte, als wäre ich tatsächlich sein Kind. Auch die Frau benahm sich wie eine Mutter. »Hier, leg dir das Handtuch über den Schoß, damit du dich nicht bekleckerst.« Selbst wenn ich noch so betrunken wäre, würde ich mich nicht mit den Dosenmuscheln schmutzig machen. »Siehst du, schon passiert. Kaum sage ich es, da ist es danebengegangen.« Die Erinnerung an alles stimmte mich so froh, dass ich im Taxi für mich noch einmal rekapitulierte, was sie gesagt hatten: »Siehst du, schon passiert. Kaum sage ich es, da ist es danebengegangen.« »Komm bald mal wieder vorbei.« »Was, du arbeitest fürs Fernsehen? Wie intelligent und erfolgreich du bist!« »Ich bin weder intelligent noch erfolgreich, Mutter. Ich führe ein einsames Leben, bin ganz allein.« »Komm bald wieder vorbei.« Schließlich riss dem Taxifahrer der Geduldsfaden. »Ersparen Sie mir wenigstens Ihre feuchte Aussprache. Wenn Sie noch lauter werden, muss ich Sie aus dem Wagen werfen.« Was immer er mir auch sagen mochte, kümmerte mich nicht. Ich hielt zwar den Mund, um nicht vorzeitig abgesetzt zu werden, aber in meinem Innern wiederholte ich unentwegt das, was die beiden zu mir gesagt hatten. Die Lichter der Stadt glitzerten herrlich, und ich fand sogar die Farben der Ampeln wunderschön.
In der verkaterten Stimmung des darauf folgenden Tages erschien mir alles unwirklich. Mir war beinahe, als hätte ich das Ganze nur geträumt, während ich auf einer Parkbank meinen Rausch ausgeschlafen hatte. Tief in meinem Inneren war noch ein klein wenig von der Süße des vergangenen Abends geblieben. Ich musste in die Wirklichkeit zurückkehren. Zur Vorbereitung für eine neue Serie zog ich mit dem Produzenten und dem Regisseur vier Tage lang ausführlich durch mehrere Tennis- und Billardclubs. Der Produzent hatte vorgeschlagen, den zunehmend populärer werdenden Billardsport zum Hauptthema der Serie zu machen. Da hier jedoch Innenaufnahmen überwiegen würden, wollte er zum Ausgleich Tennis hinzunehmen, ein Sport, der viele Außenaufnahmen bei hellem Tageslicht ermöglichte. Ich war nicht in der Position, eine Meinung dazu zu äußern. Es gab immer weniger Fernsehfilmproduktionen, und ich wollte mir einen Serienauftrag nicht verderben. Am Abend des vierten Tages verabschiedete ich mich in einer Bar in Ryudo-cho von den Kollegen und kam kurz nach zehn nach Hause. Ich hatte mich verpflichtet, innerhalb der nächsten zwei Tage eine Projektbeschreibung anzufertigen. Dazu gehörten eine Skizze der Handlung mit den Namen der Figuren, die Bestimmung der Zuschauerzielgruppe sowie eine Prognose hinsichtlich möglicher Einschaltquoten. Ich schalte die Klimaanlage ein und duschte. Während ich mich abtrocknete, hörte ich die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. In einer ging es um ein zweistündiges TV-Drama. Dann ertönte die Stimme eines jungen Schauspielers: »Hallo, wir hatten so unsere Probleme, aber ich werde Ari jetzt doch heiraten. Ich bin entschlossen, glücklich zu werden. Sie möchte die Hochzeit im November
auf Fidschi feiern. Sensei, wollen Sie nicht auch kommen? Bitte, Sensei! Feiern Sie mit uns!« Ich war nicht sein Sensei – sein Lehrer –, aber die jungen Schauspieler redeten uns Drehbuchautoren häufig so an. Wenn ich ihn verbesserte, würde ich ihn nur in Verlegenheit bringen. Außerdem wirkte es etwas arrogant. Feiern Sie mit uns auf Fidschi! Der Mann hatte Nerven. Aber für einen jungen prominenten Schauspieler war das wohl der übliche Tonfall. Der nächste Anruf war von einer Frau. »Hier spricht Fujino aus dem 3. Stock. Ich wollte Sie nur einmal kurz anrufen. Entschuldigen Sie.« Die Klimaanlage zeigte allmählich Wirkung. Ich ging ins Schlafzimmer, um mir einen Pyjama zu holen. Die Stimme schien einer bereits halbvergessenen Person zu gehören, obwohl es kaum zehn Tage zurücklag, dass ich im Regen zu ihrem Fenster hinaufgestarrt hatte. Seither war ich in Asakusa gewesen. Mein Erlebnis an jenem Abend – sofern es sich nicht um die Wahnvorstellung eines halb Betrunkenen gehandelt hatte – besaß eine solche Intensität, dass alles Vorherige in ferner Vergangenheit zu liegen schien. Nein, ganz so war es auch wieder nicht. Sogar die Ereignisse in Asakusa schienen weit zurückzuliegen. Vier Tage Recherchearbeiten hatten alles Vorherige überlagert. Die Geschichte, die ich schreiben sollte, beherrschte meine Gedanken. Ob die Frau die ganze Zeit auf meinen Anruf gewartet hatte? Hatte sie sich Nacht für Nacht in dem leeren Gebäude gefürchtet? Wahrscheinlich. Es hatte sich ja seither nichts geändert. Früher hatte auch mich die Stille im Gebäude verfolgt. Doch inzwischen hatte ich völlig vergessen, dass es mir hier einmal zu ruhig erschienen war. Mein Kopf war voll von
Überlegungen zu meinem ersten größeren Auftrag nach der Scheidung. Wie kam das? Es musste mit meinem Besuch in Asakusa zusammenhängen. Jener Abend hatte bei mir zu einem Gemütsumschwung geführt. Die beiden hatten mich aus dem dunklen Sumpf meiner Einsamkeit gezogen. Und doch empfand ich dieses Ereignis schon fünf Tage später als ferne Vergangenheit? Was hatte das zu bedeuten? Ich fühlte mich wie ein miserabler Sohn. Ich machte mir Vorwürfe, ein Mann, der nur an sich denkt und seine Eltern vernachlässigt. Was für ein Leben führte ich überhaupt? Eigentlich reagierte ich nur auf Ereignisse, die sich täglich ergaben, und regte mich kurzfristig darüber auf. Dann rückten sie sogleich wieder in die Ferne, ohne Bestandteil meiner Erinnerungen zu werden. Jeden Tag reagierte ich auf neue Ereignisse, ohne jemals zur Reife zu gelangen, und ehe ich mich versah, würde ich alt und gebrechlich sein. Wie hatte ich ein Ereignis wie dieses schon nach wenigen Tagen so verdrängen können? Zwei Menschen, die meinen verstorbenen Eltern verblüffend ähnlich sahen, hatten mich mit einer Güte aufgenommen, wie sie nur Eltern zu eigen ist, hatten mich getröstet und sich mit mir gefreut. Würde sich da nicht jeder normale Mensch vergewissern wollen, ob er einer Halluzination erlegen war? Hatte ich denn Wasser in den Adern und bestand nur aus Gleichgültigkeit? Ich verspürte einen starken Drang, auf der Stelle nach Asakusa zu fahren und an die Tür des Ehepaars zu klopfen. Ich versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, bemühte mich mit allen Kräften, schalt mich selbst einen
oberflächlichen Drehbuchautor. Es war zu spät, um noch nach Asakusa zu fahren. Was glaubst du eigentlich, wie viel Uhr es schon ist? Dir ist beinahe so etwas wie ein Wunder zugestoßen. Keine Sache, der man aus einer Laune heraus nachgehen darf. Die näher liegende Frage war, ob ich die Frau aus dem 3. Stock zurückrufen sollte. Immerhin hatte ich ihr versprochen, dass wir einmal in aller Ruhe etwas zusammen trinken und reden würden. Als ich den Hörer aufhob, fiel mir ein, dass ich ihre Nummer nicht wusste. Dass sie Fujino hieß, hatte ich an dem regnerischen Abend festgestellt. Ich schlug im Telefonbuch nach. Es gab einen Eintrag mit dem Vornamen Kei. Nach zweimaligem Läuten antwortete eine klare Stimme: »Fujino.« »Ich bin’s, Harada aus dem 7. Stock.« »Guten Abend.« »Entschuldigen Sie die späte Störung.« »Wollen wir etwas trinken?« »Hätten Sie Zeit?« »Natürlich, es ist doch Samstag.« Munter versprach sie, in zehn, nein, in fünf Minuten bei mir zu sein. Dies war nicht der Tonfall einer Person, die sich vor der Nacht fürchtete. Da ich geglaubt hatte, einer Frau, die der Einsamkeit müde war, die Hand zu reichen, brachte mich ihre gute Laune etwas aus dem Konzept. Aber so würde sie wenigstens nicht in trüber Stimmung bei mir erscheinen. Sie hatte Recht, es war tatsächlich Samstag. Wenn kein Stück von mir im Fernsehen lief, vergaß ich häufig den Wochentag. »Ich heiße Kei«, sagte sie.
Sie setzte sich auf die Couch und öffnete den Deckel eines rechteckigen Plastikbehälters, den sie mitgebracht hat. Darin lagen ein Messer und mehrere Sorten Käse. »Laut Geburtsurkunde heiße ich Katsura mit Vornamen. Aber Katsura – ein Baum – und Fujino – Glyzinien – passen nicht zusammen. Deshalb benutze ich lieber die Lesung Kei. Denken Sie einfach an die englische Aussprache des Buchstabens K oder stellen Sie sich meinen Namen in Katakana geschrieben vor.« »Sie haben ja eine Menge verschiedene Käsesorten mitgebracht.« »Leider habe ich schon ziemlich viel davon aufgegessen, und es ist nur noch wenig übrig.« »Darf ich mal den mit dem schwarzem Schimmel probieren?« »Wirklich den?«, erkundigte sie sich verwundert. »Ist das denn eine bedenkliche Sorte?« »Die meisten Leute schütteln sich.« »Dann nehme ich nur eine kleine Scheibe.« »Eigentlich setze ich den Käse als Psychotest ein. Die Wahl verrät mir etwas über die Person.« »Und was sagt eine Scheibe Schimmelkäse über mich?« »Sie sind noch jung geblieben.« »Um das festzustellen, brauchen Sie den Käse?« »Nein, Sie sehen natürlich auch jung aus. Übrigens gibt es sogar Teenager, die nur Schmelzkäse essen.« »Deshalb kann man sie nicht als alt bezeichnen.« »Doch, solche Leute sind alt.« »Hier bitte, Shochu on-the-rocks.« »Und ein Stück Schimmelkäse für Sie.« Wir lachten und tranken – sie den japanischen Schnaps, um den sie eigens gebeten hatte, und ich einen Brandy.
Sie war fröhlich. Ihre Figur in den Jeans und dem gelben TShirt war weich gerundet, wie es zu einer Frau Mitte dreißig passte – im Gegensatz zu ihrem munteren Geplauder und ihrer Ausgelassenheit. »Wir sind uns vorgestern Morgen begegnet, erinnern Sie sich? Doch, doch. Der Aufzug ging auf, Sie stiegen aus mit ernstem Gesicht und gingen einfach weiter, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Woran denken Sie denn in so einem Moment? Aha, an Ihr Stück. Geht es darin um Mord? Ach so, um Sport. Dabei fällt mir ein, dass die japanischen Sportler oft auch so finster blicken wie Sie.« Ihre Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt. Vielleicht war sie zu stolz, um ihre Niedergeschlagenheit zu zeigen. Allerdings stünde das im Widerspruch zu ihrem Verhalten damals, als sie einsam und halb betrunken bei mir geklingelt hatte. »Ich gebe es auf«, murmelte sie plötzlich kaum hörbar. »Was?« »Ich bin müde.« »Setzen Sie sich auf meinen Stuhl. Die Couch ist unbequem zum Sitzen.« »Ich hatte mir vorgenommen, es bei einer heiteren Plauderei zu belassen.« »Machen Sie es sich doch nicht so schwer.« »Ich habe mich schon entlastet.« Sie lachte entspannt. Zum ersten Mal schienen ihre Erscheinung und ihr Tonfall im Einklang. »Auch das heitere Plaudern kostet Energie. Wenn man die dreißig überschritten hat, muss man ein wenig langsamer treten.« »Möchten Sie jetzt gern einen Brandy?« »Danke, ich habe noch.« In der Stille dröhnte wieder Verkehrslärm von der Straße zu uns herauf.
»Möchten Sie Musik hören?« »Nein.« Sie lächelte. »Ich höre immer Musik, wenn ich allein bin.« »Tut mir leid, aber dieser Käse ist selbst scheibchenweise nur schwer genießbar.« »Im Ausland gibt es Menschen, die ihn gerne essen, oder?« »Man würde ihn ansonsten wohl kaum herstellen.« »Mir gefällt es, mich an Geschmacksrichtungen zu gewöhnen, die mir zunächst nicht liegen. Am Anfang schmeckt etwas ganz schrecklich, nachdem ich es mehrmals gegessen habe, lerne ich es aber zu schätzen. Für diesen Teil habe ich auch gelernt, Europa besser zu verstehen.« »Also eine ganz Strebsame.« »Ja. Ich kann mich nicht spontan amüsieren.« »Aber Sie amüsieren sich doch, oder?« »Schon, aber ich brauche Zeit.« Beinahe hätte ich sie gebeten, sich die Zeit zu nehmen, mich besser zu verstehen, um dann meine Vorteile zu erkennen, schwieg aber. Ich schreckte davor zurück, mich allzu tief mit ihr einzulassen. Allerdings war sie eine schöne Frau. Zuerst waren mir ihre zu hohe Stirn und ihre zu üppigen Lippen aufgefallen, im Laufe unserer Unterhaltung bemerkte ich jedoch, dass ihre Augen eine starke Anziehungskraft besaßen. Mehrmals ertappte ich mich, wie ich hineinblickte. Die Augen ließen mich ihre Schwachpunkte vergessen. »Haben Sie auch Praktikanten?« »Nein.« »Die Leute vom Fernsehen erwecken den Eindruck, sie würden in der gleichen Welt wie ihre Zuschauer leben. Wenn ich jedoch höre, dass zum Beispiel ein Komiker mehrere Praktikanten hat, mit denen er ziemlich ernsthaft und streng verfährt, fühle ich mich fast hintergangen.«
»Ich bin ganz allein. Vielleicht sollte ich Ihnen dazu ein bisschen Genaueres berichten.« »Das brauchen Sie nicht.« »Ich weiß ja auch nicht, ob Sie allein sind.« »Ich habe schreckliche Verbrennungen«, sagte sie leichthin. »Besonders hier.« Sie legte die Hand auf die Brust. »Die Stelle wurde abgeschliffen, aber es sind Narben und Verfärbungen geblieben.« Sie trank ihren Reisschnaps aus. »Das ist eigentlich kein Thema für ein nachbarliches Geplauder. Die Leute in dem Haus, in dem ich früher gewohnt habe, fragten mich ständig, warum ich noch immer ledig sei, und das setzte mir auf die Dauer zu.« Ich suchte nach Worten. »Das kann hier zumindest nicht passieren. Endlich einmal kann ich etwas an diesem Haus loben«, sagte ich endlich. »Kann ich jetzt einen Brandy haben?« »Moment, ich gebe Ihnen ein neues Glas.« Ich schenkte ihr Brandy ein. »Es hat alle anderen fortgejagt, damit ich Sie kennen lernen kann. Es gefällt mir, wie wir jetzt reden. Seit Sie hier sind, fühle ich mich wohl. Mit fast fünfzig hat man nicht oft Gelegenheit, den Abend mit einer schönen jungen Frau wie Ihnen zu verbringen.« »Und dazu noch mit einer, die eine Behinderung hat. Also brauchen Sie sich keinen Zwang anzutun.« »Ich habe das nicht in sexueller Hinsicht gemeint.« »Es wäre mir lieber, wenn Sie es so gemeint hätten. Im Dunkeln habe ich keine Probleme. Auch nicht, wenn das Licht an ist und Sie von hinten kommen. Mein Rücken ist schön.« Sie verharrte eine Weile still. Auch ich bewegte mich nicht. Vorsichtig, wie um jedes Geräusch zu vermeiden, stellte sie ihr Brandyglas auf dem Tisch ab.
Wieder suchte ich nach Worten. »Wie üblich«, sagte sie leise, »zerstöre ich alles. Kann ich ein Glas Wasser bekommen?« Sie wollte schon aufstehen. Ich ging zum Spülbecken, um Wasser zu holen. Die Frau setzte sich wieder nieder und legte beide Hände in den Schoß. »Bitte. Möchten Sie Eiswürfel?« »Nein danke.« Sie nahm einen Schluck. »Ich verabschiede mich.« »Bleiben Sie bitte noch ein wenig. Betrinken wir uns.« »Das würde alles nur noch schlimmer machen.« »Wieso denn? Es ist doch nichts Schlimmes passiert, keine Katastrophe. Alles, was authentisch ist, ist schön.« Ihr Geständnis war wirklich nicht im Geringsten affektiert gewesen. Es hätte vielleicht wie ein bloßes Lippenbekenntnis geklungen, wenn ich es gesagt hätte. Ihre Worte gingen mir jedoch zu Herzen. »Würden Sie mir einen Kuss geben?«, fragte sie mit gesenktem Blick. »Natürlich…«, erwiderte ich schnell, denn ich wollte keine Leere zwischen uns aufkommen lassen. Würde ich sie allerdings in diesem Moment küssen, käme ich mir vor wie ein ehrenamtlicher Sozialarbeiter. Wir sollten besser versuchen, eine Ebene der Gleichheit zu erreichen. »Du bist schön.« »Weil du es nicht sehen kannst.« Sie sank in sich zusammen, als wäre alle Kraft aus ihr gewichen. Ich setzte mich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du bist schön.« »Hör auf damit.«
Mit meinem Lob auf ihre Schönheit rügte ich vielleicht eine verborgene Hässlichkeit. Aber mir kamen keine anderen Worte in den Sinn. Warum sprach ich so viel? In einem solchen Augenblick sehnt eine Frau sich nicht nach Worten. So war es doch wohl. Und was man mit dem Kuss sagen wollte, übermittelt sich dann auf geheimnisvolle Weise wie von selbst…
Weiter reichte mein Gedankengang nicht. Ich küsste sie. Es war ein langer Kuss. Ein Kuss, der direkt zum Geschlechtsverkehr führen konnte. Doch als ich ihre Brust berühren wollte, entwand sie sich mir wie eine Ertrinkende und kehrte mir den Rücken zu. »Du kannst doch nichts für deine Brandverletzung.« Im gleichen Moment erschienen mir meine Worte lächerlich. Eine sexuelle Begegnung, die mich vor solch eine Aufgabe stellte, hatte ich zum ersten Mal. »Ich gehe mal in dein Bad«, sagte sie leise. »Ich brauche ein Handtuch, damit ich meine Brust bedecken kann.« Sie stand auf und verschwand im Bad. Ich blieb gelassen und war sicher, dass ich keinerlei Abscheu vor dem Anblick der Keloide oder Operationsnarben spüren würde. Viel eher empfand ich ein Gefühl der Zärtlichkeit gegenüber der Frau und ihrem Leiden. Am besten wäre es, ich würde die Narben sehen. Es erschien mir eigensüchtig, mit ihr a tergo zu verkehren, um den Blick auf die Verletzungen zu vermeiden. Das konnte ich nicht. Ich hörte die Dusche. Wenn ich jetzt das Bad betrat, würde ich sie erschrecken. Ungestüm war zu vermeiden. Ich musste die Narben in aller Ruhe betrachten können und ihr dann sagen, dass sie keine Rolle spielten. So musste ich es anfangen.
Als sie jedoch nackt bis auf ein blaues Badetuch aus dem Bad kam, sah sie mir fest in die Augen und sagte: »Versprich es mir. Du darfst mir das Handtuch nicht wegnehmen, auch wenn es ein Leichtes für dich wäre.« Es würde mir nichts ausmachen, sagte ich, ganz gleich, wie schlimm ihre Narben seien. Es würde nichts an meinen Gefühlen für sie ändern. »Nein.« Sie blieb fest. Ihr entschlossener Ton sagte mir, dass wir uns ohne mein Versprechen keinen Schritt annähern würden. »Gut, wenn es dir so zuwider ist.« Ich nickte. »Versprochen?« »Versprochen.« Noch immer bewegte sie sich nicht von der Stelle. »Vielleicht ist der Vergleich übertrieben, aber es ist wie in einer dieser Geschichten aus der Mythologie, in denen eine Frau ihrem Mann verbietet, sie anzusehen. Er tut es dennoch, und ihr Verhältnis ist unwiederbringlich zerstört.« »Es gibt aber noch andere Geschichten«, sagte ich. »Auch wenn sie nicht der Mythologie entstammen.« »Was für welche denn?« »Ein junges Mädchen ist überzeugt, es sei hässlich. Obwohl die Erwachsenen es schön finden, will es sich das Leben nehmen, weil es seine Beine für zu dick hält. Oder ein Mädchen will nicht mehr leben, weil seine Pickel nicht verschwinden.« Eine Weile stand sie reglos und mit gesenktem Blick da. War sie verärgert? Traute sie mir nicht und bereute es, hier geduscht zu haben? Dann sah sie mich mit einem etwas müden Blick an. »Nimm es nicht zu leicht.« »Du hast Recht. Entschuldige.« »Versprich mir, niemals meine Narben anzusehen.«
»Ich verspreche es.« Sie kam langsam näher. Das Weiß ihrer Schultern, die jetzt ganz nah waren, machte mich leicht trunken. Kei stand direkt vor mir. Auf ihrer hohen Stirn funkelten noch ein paar Wassertropfen. Als ich sie in die Arme nehmen wollte, kehrte sie mir wendig den Rücken zu. Auf ihrer vollen weißen Schulter war ein kleines Muttermal. »Du hast da ein hübsches Muttermal.« »Ich habe noch genauso eins an der Hüfte und auch am Po«, sagte sie, als ich es berührte. Sie schüttelte ihr Haar, wie um ihre Anspannung zu lösen, und lachte leise. »Tatsächlich. Das auf der Hüfte ist auch hübsch.« Es war ganz flach und sah aus wie ein Tuschespritzer. Ich ging auf die Knie. »Und das auf deinem Po ist ebenso entzückend.« Ich streichelte ihre wohlgerundeten weißen Pobacken und drückte meine Lippen auf das Muttermal auf der linken Seite.
6
Die nächsten beiden Tage widmete ich meiner Projektbeschreibung. Am frühen Nachmittag des dritten Tages brach ich nach Asakusa auf. Mein Verlangen, dorthin zu fahren, war an jenem Abend durch die Begegnung mit Kei gemildert worden. Ebenso wie mein Erlebnis in Asakusa die Sorge um Kei verdrängt hatte, verdrängte nun die Beziehung zu ihr die Ereignisse dort. Ganz vergessen hatte ich mein Erlebnis jedoch nicht. Der liebevolle Klang der Worte, mit denen die beiden mich aufgefordert hatten, bald wiederzukommen, war noch frisch in meinen Empfindungen. Ich war nicht mehr so trostbedürftig wie an jenem Abend und wollte nun herausfinden, inwieweit mein seltsames Erlebnis von einer nächtlichen Atmosphäre beeinflusst gewesen war, die solche Gefühle im Allgemeinen verstärkt. Daher machte ich mich nun absichtlich im grellen Licht eines Hochsommertages auf den Weg. Die Sonne sollte im wahrsten Sinne des Wortes die Wahrheit an den Tag bringen. Außerdem fürchtete ich mich ein wenig davor, den beiden noch einmal im Dunkeln zu begegnen. Sie waren meinem Vater und meiner Mutter, wie sie seit sechsunddreißig Jahren in meinem Gedächtnis weiterlebten, wirklich unfassbar ähnlich. Andererseits ließ sich anhand der Erinnerungen eines Zwölfjährigen nicht im Detail feststellen, wie weit die Übereinstimmungen reichten. Dennoch hatte ich die zwei auch wegen des Gefühls von Geborgenheit, das sie mir gaben, beinahe für meine Eltern gehalten. Als Kind war ich einmal von einem anstrengenden Schulausflug nach Hause gekommen. Ich warf den Rucksack
ab, den mir meine Mutter aus einem Proviantsack der Kaiserlichen Armee genäht hatte, zog Hemd, Hose und Socken aus, legte mich auf die Tatami und döste. Dabei ließ ich sämtliche Schutzschilde und Anspannungen fallen und beobachtete, wie meine Mutter das Abendessen zubereitete. Ein ähnliches Gefühl der Geborgenheit hatte mich an dem bewussten Abend ebenfalls erfüllt. Seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich nichts Derartiges mehr empfunden. Natürlich hatte ich auch unbelastete Zeiten mit meiner geschiedenen Frau erlebt, aber diese Behaglichkeit hatte ich nie gespürt. Vielleicht hatte ich durch die Hemmungen, bei der eigenen Frau Geborgenheit zu suchen, ihren Beschützerinstinkt blockiert. Ich fand, dass es die Beziehung zwischen Mann und Frau beeinträchtigte, wenn ein Ehemann zu sehr an die mütterlichen Instinkte seiner Frau appellierte, die sich meiner Ansicht nach auf die Kinder beschränken sollten. Oft genug hatte ich Äußerungen wie: »Dieser Mann ist völlig unfähig, ich muss alles für ihn machen« oder: »Ich habe an ihren Mutterinstinkt appelliert, da hat sie ja gesagt« gehört, aber ich selbst war außerstande gewesen, mich von meiner Frau verwöhnen zu lassen. Ich vermutete, dass die seelische Anspannung, der ich seit meinem zwölften Lebensjahr unterworfen war, mich zu einer Person gemacht hatte, die sich nicht fallen lassen konnte. Menschen mit einer glücklichen Kindheit besitzen Urvertrauen und werden dafür geliebt. Ich dagegen hatte keine glückliche Kindheit gehabt, deshalb war auch die Beziehung zu meiner Frau allmählich erkaltet. Obwohl sie unter der Kälte zwischen uns gelitten hatte, sprach sie von sich aus nie von Scheidung. Also hatte ich derjenige sein müssen, der die Scheidung herbeiführte. So sah ich die Dinge. Während unseres Schlichtungstermins hatte sie noch immer behauptet, sie liebe
mich, und nun ging sie eine Beziehung mit Mamiya ein. Aber das war schon in Ordnung, ich sah kein Problem mehr darin. Es war damals darauf hinausgelaufen, dass ich aktiv die Scheidung vorangetrieben, damit die Verantwortung auf mich genommen und, auch wenn es nicht viel war, Geld, Haus und Grundstück verloren hatte. Die ganze Sache hatte mich emotional aufgezehrt. Ich sehnte mich nach Passivität. Nach Sorglosigkeit, danach, einfach das zu tun, was Vater und Mutter mir sagten. »Hier, leg dir mal das Handtuch über den Schoß, damit du dich nicht bekleckerst. Siehst du, jetzt ist es passiert. Kaum sage ich es, schon ist es geschehen.« Eventuell hatte ich mich nach der Erleichterung, gelenkt zu werden, innerlich zutiefst gesehnt. Und diese Sehnsucht hatte sich an jenem Abend in der Begegnung mit meinen Eltern verkörpert. Das Erlebnis war zu real, um als Hirngespinst abgetan zu werden. Es war überzeugender, darin eine zeitweilige emotionale Störung zu sehen. Eine Schwäche zuzugeben, die zu geistigen Störungen führte, war nicht gerade erfreulich, aber es war noch immer die plausibelste Erklärung. Diesmal stieg ich am Bahnhof Tawara-machi aus. Mir fiel ein, dass ich mich geärgert hatte, als kürzlich ein Nachrichtensprecher im Fernsehen »Tawara-cho« statt »Tawara-machi« sagte, also das letzte Schriftzeichen anders gelesen hatte. Ich hatte das Gefühl, meine Geburtsstätte würde missachtet. »Es heißt Tawara-machi.« Obwohl ich selten dorthin kam, pflegte ich doch noch ein wenig Lokalpatriotismus. Als ich aus der vertrauten U-Bahn-Station auf die Straße trat, brannte die hochsommerliche Sonne erbarmungslos auf das leicht verfallene Viertel herab. Dass ich, ungeachtet meiner Vorfreude auf das Wiedersehen mit den beiden, die Sonne
erbarmungslos und das Viertel leicht verfallen fand, schrieb ich meiner Unsicherheit zu. Meine Beine fühlten sich schwer an. Allmählich gewann der Gedanke, das Ganze lieber zu lassen, die Oberhand. Ich konnte nicht mehr daran glauben, dass alles tatsächlich passiert war, und war ziemlich sicher, dass ich nur enttäuscht würde, wenn ich die Sache weiter verfolgte. Warum zog es mich dorthin, wo meine schönen Erinnerungen gewiss nur zerstört werden würden? Andererseits hatte ich bereits in Jiyugaoka Kuchen und Sake als Mitbringsel für die beiden gekauft. Schließlich hatten sie mich bewirtet, also musste ich mich revanchieren. Bestimmt waren sie jetzt, mitten am Tag, sowieso nicht zu Hause. Ich würde die Sachen einfach bei den Nachbarn abgeben. Ohne Probleme fand ich die Gasse, in die ich einbiegen musste. Da ich noch nüchtern gewesen war, als der Mann mich durch das Viertel führte, erinnerte ich mich mühelos an den Weg. Richtig, da war die Eisentreppe. So wie damals der Mann versuchte ich, beim Hinaufsteigen möglichst wenig Lärm zu machen. Die ganze Zeit fürchtete ich und wünschte zugleich, dass die Wohnung unauffindbar sein würde. Der Gang im 1. Stock des kleinen Mietshauses existierte aber tatsächlich, und die bewusste Wohnungstür stand offen, von einem blauen Plastikmülleimer am Zufallen gehindert. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie mich erwarteten. Die Tür stand gewiss nur aus Gründen der besseren Belüftung offen. Obwohl ich mich bemühte, die Stufen geräuschlos nach oben zu steigen, konnte man meine Schritte bestimmt hören. Ewig konnte ich dort also nicht herumstehen. Als hätte mir jemand
einen Schubs gegeben, ging ich zielstrebig zu der hinteren Tür und klopfte. »Hallo.« Zaghaft blickte ich ins Innere der Wohnung. »Ach, du bist es.« Es war meine Mutter. Sie, oder die Frau, die in meinen Augen exakt so aussah wie meine Mutter in ihrer Jugend, saß an einem kleinen niedrigen Tisch vor einem Plastikgefäß, dessen Hebel sie drehte. »Entschuldige den unangemeldeten Besuch.« »Ist schon in Ordnung. Wir haben ja kein Telefon. Besuch kommt bei uns immer unangemeldet.« Sie drehte weiter an dem Hebel. »Es ist immer so heiß seit kurzem.« »Ja, stimmt.« Ein ähnliches Plastikgefäß hatte ich noch nie gesehen. »Was ist das?«, fragte ich beim Eintreten. Ich werde von vielen als eher zurückhaltend beschrieben, doch diese Wohnung betrat ich ganz natürlich und ohne zu fragen, wie mein eigenes Zuhause. »Ich mache Eiskrem.« »Ach ja.« »Er findet das Eis aus der Fabrik zu süß.« »Ich sehe das Gerät zum ersten Mal.« »Im Fernsehen machen sie Werbung dafür.« Diese Frau war unmöglich meine Mutter. Solche Eismaschinen hatte es Anfang der 1950er mit Sicherheit nicht gegeben. Sie lebte in der Gegenwart. »Zieh lieber deine Hose aus.« »Wie bitte?« »Sie zerknittert doch.« »Macht mir nichts.« Allein in einem fremden Haus mit einer Frau war es ja nicht gut möglich, sich einfach seiner Hose zu entledigen.
»Zieh wenigstens das Hemd aus.« »Möchte ich eigentlich auch nicht.« »Warum nicht?« »Dann bin ich doch im Unterhemd.« »Mach schon. Tu nicht so vornehm.« »Darum geht es nicht…« »Kannst du mal drehen?« »Wo?« »Hier, am Gerät.« Und schon drehte ich die Kurbel der Eismaschine für sie. »Ich wische dir den Schweiß ab.« Sie holte ein ordentlich gefaltetes Handtuch aus einem Karton und ging zur Spüle. »Da sind Kekse und Sake, die sind für euch.« »Danke. War doch nicht nötig.« »Letztes Mal habt ihr mich so gut bewirtet.« »Ein netter Abend, oder?« »Ja. Wo ist denn der Vater?«, rutschte es mir heraus. Eigentlich war es seltsam, von einem verheirateten Mann ohne Kinder als dem »Vater« zu sprechen. Es schien sie nicht zu stören. »Er hat heute Frühschicht. Bis sieben Uhr abends. Er kommt so gegen acht nach Hause.« »Bei der Frühschicht kommt man um acht nach Hause?« »Das Lokal hat bis zwei Uhr nachts geöffnet.« Sie wollte mir mit dem feuchten Tuch das Gesicht abwischen. Spontan wich ich zurück. »Halt still«, sagte sie streng, wie zu einem kleinen Kind. Während ich die Kurbel drehte, wischte sie mir Gesicht und Hals ab. »Also kommt er manchmal erst gegen drei Uhr nachts nach Hause.« »Spürst du schon einen Widerstand?«
»Was?« »Beim Drehen.« »Nein.« »Dann brauchst du nicht so kräftig zu drehen.« »Wo ist denn das Lokal?« »In Shintomi-cho.« »Ziemlich weit.« »Bis vor kurzem hat er noch in Asakusa gearbeitet. Aber sobald ihm etwas nicht passt, kündigt er sofort.« »Ach wirklich.« »Er ist ein ziemlich guter Sushi-Meister, verschwendet keine Zutaten, seine Sushi sind immer wunderbar, die Theke hält er auch sauber. Außerdem sieht er gut aus, kann mit den Gästen umgehen und ist kein Angeber. Eigentlich gibt es an ihm nichts auszusetzen.« »Verstehe.« Sie wusch das Handtuch in der Spüle aus. »Aber er hat keine Ausdauer. Er hört oft einfach so auf.« »Verstehe.« Da ich meinen Vater im Lauf der Zeit idealisiert hatte, erstaunte mich diese Schwäche etwas. Doch nein, schließlich sprach sie von ihrem Mann und nicht von meinem Vater. Das durfte ich nicht andauernd verwechseln. »Sushi-Lokale gibt es genug. Und als Mitglied im Gastronomieverband bekommt er problemlos immer wieder neue Stellen. Das hat ihn etwas überheblich gemacht. SushiKöche, die ständig damit prahlen, dass Sushi ihr Leben sei, sind ihm ein Gräuel. Deshalb will er auch nichts mit den renommierten Lokalen zu tun haben.« »Solange ihr davon leben könnt.« »Ja, das geht schon. Eine bessere Wohnung könnten wir uns zwar nicht leisten, aber mir macht das nichts aus. Wenn man einmal anfängt, Ansprüche zu stellen, gibt es kein Halten
mehr. Ich bin zufrieden, wenn wir einigermaßen glücklich zusammenleben können.« »Verstehe.« »Möchtest du ein Bier?« »Nein danke.« Ich konnte mitten am Tag, noch dazu in Abwesenheit ihres Mannes, kein Bier annehmen. »Du bist viel zu bescheiden. Letztes Mal hast du auch ständig abgelehnt, nein danke, nein danke, und dann doch alles getrunken, was wir auf den Tisch gestellt haben.« Sie öffnete eine Flasche Bier. Also musste ich es wohl oder übel trinken. Etwas angeheitert fand ich das Ganze dann gar nicht mehr so merkwürdig. Ich hatte eben zufällig einen netten Herrn kennen gelernt, der mich zu sich nach Hause einlud. Seine Frau war ebenfalls eine nette, heitere Person, wir hatten gemütlich zusammen getrunken, und ich war wieder nach Hause gegangen. So etwas geschah öfters einmal. Aus reiner Gefühlsseligkeit hatte ich in den beiden meine Eltern gesehen. Davon abgesehen, war an der Sache nichts unerklärlich. Auf den Oberarmen der Frau, die ihr schlichtes Kleid mit den rosa Längsstreifen nicht verbarg, waren Mückenstiche zu sehen. Unmöglich, dass meine tote Mutter derart lebensecht vor mir stand. Außerdem wäre mein verstorbener Vater bestimmt zu Hause, wenn sein Sohn zu Besuch käme, und würde nicht bis sieben Uhr in einem Sushi-Lokal in Shintomicho arbeiten. Ich musste mir eingestehen, dass ich offenbar anfällig für Wahnvorstellungen war. »Also, letztes Mal«, setzte ich an, »das war ein schöner Abend, ich wollte mich nur dafür bedanken.« »Wir hatten gehofft, du lässt dich früher wieder blicken.« Sie schenkte mir Bier nach.
Dabei warf ich einen Blick auf ihr Profil, das dem meiner Mutter völlig glich. Die Ähnlichkeit war kaum zu begreifen! Ich fand es sonderbar, dass ich allein mit einer Frau Mitte dreißig Alkohol trank und keinerlei erotische Spannung zwischen uns aufkam. Nein, eigentlich war das gar nicht so seltsam, sondern ganz natürlich, wenn jedes sexuelle Empfinden angesichts ihrer unwahrscheinlichen Ähnlichkeit mit meiner Mutter verdrängt wurde. Was wäre, wenn ihr Mann jetzt zurückkäme? Würde er die Erklärung akzeptieren, dass ihre Ähnlichkeit mit meiner Mutter keine derartigen Gedanken zuließ? Nein, würde er wohl nicht. Ich sollte lieber bald nach Hause gehen. Das Bier hätte ich auch nicht trinken und überhaupt nicht so lange bleiben sollen. Ich beabsichtigte auf keinen Fall, einen Konflikt zwischen dem netten Ehepaar hervorzurufen. Ich wollte gerade sagen, dass es nun Zeit für mich würde, schluckte die Worte jedoch hinunter. Wenn ich jetzt ginge, würden mir die gleichen Zweifel bleiben wie bisher. Noch immer fiel es mir schwer zu glauben, dass die Begegnung mit zwei Menschen, die meinen Eltern so sehr ähnelten, reiner Zufall war. Eigens deshalb war ich gekommen. Zumindest wollte ich ihr die Frage der Fragen stellen, die mich hierhergeführt hatte. »Hättest du gern ein Stück Gurke?«, erkundigte sie sich. »Entschuldigung, aber es wird allmählich Zeit für mich…« »Schon?« »Ja.« »Du bist doch gerade erst gekommen.« »Ich habe noch etwas zu erledigen. Ich komme bald mal wieder. Viele Grüße jedenfalls.« »Musst du wirklich gehen?« »Ja, schade. Leider…« »Zu einem Fernsehstudio?«
»Ja, in Akasaka.« »Ich dachte, wir drei essen gemütlich zusammen zu Abend.« »Ich wollte nur schnell ein kleines Dankeschön vorbeibringen. Und jetzt trinke ich schon wieder Bier bei euch.« »Sei nicht so zurückhaltend.« Ich stand auf und verbeugte mich bewusst förmlich. »Vater wird enttäuscht sein.« »Ich komme ja wieder.« Dann wollte ich aussprechen, was mich beschäftigte, doch die Angst kroch mir den Rücken hinauf. »Sie haben einen Taifun angesagt, aber er scheint vorbeigezogen zu sein«, sagte sie hinter mir, während ich mir die Schuhe anzog. Auch ihre Stimme klang genau wie die meiner Mutter. »Ich möchte etwas fragen, auch wenn es vielleicht ein bisschen seltsam klingt.« »Was denn?« »Wie heißt ihr eigentlich mit Familiennamen? An der Tür ist kein Namensschild.« »Was redest du da? Harada natürlich, das weißt du.« Mir nichts, dir nichts nannte sie meinen Namen und lachte. »Die Hitze ist dir wohl zu Kopf gestiegen? Wo gibt es ein Kind, das nach dem Namen seiner Eltern fragt?« Einen Augenblick lang empfand ich völlige Hilflosigkeit, als ob jemand ausholte, um mir mit einem Hammer auf den Kopf zu schlagen. Dann traf mich der Hammer. »Sicher. Ich bin ganz zerstreut«, presste ich hervor. Ich war nicht fähig, mich umzudrehen. »Also dann.« Ich verabschiedete mich mit einer Verbeugung. »Wir warten auf dich.« »Ja.« »Pass auf dich auf.«
»Wiedersehen.« Ich bemühte mich um einen möglichst normalen Gang. Entsetzen wallte in mir hoch. Immer schneller stieg ich die Eisentreppe hinab, und als ich von der Gasse in die große Straße einbog, rannte ich. Jede Zelle meines Körpers quoll über vor Entsetzen und Aufregung. Gott, lieber Gott, schrie es in meinem Kopf. Ich war Atheist, nun bat ich irgendeinen Gott um Hilfe. Ich hielt ein Taxi an. Im nächsten Augenblick entschuldigte ich mich bei dem Fahrer und bat ihn weiterzufahren. Plötzlich hatte ich panische Angst davor, mit dem Fahrer allein in einem derart engen Raum zu sein. Ich fürchtete, er könnte sich zu mir umdrehen und hätte das Gesicht meines Vaters. Dann eilte ich zur U-Bahnstation Tawara-machi. »Ich habe zu viele Horrorfilme gesehen.« Erst als die Passanten mich anstarrten, wurde mir bewusst, dass ich laut sprach. Folgte mir vielleicht die Mutter? Von Grauen gepackt wandte ich mich auf meinem Weg noch einmal um. Hinter mir war niemand.
7
Gegen Abend zog ein Gewitter auf. Von einer Bar im obersten Stockwerk eines Hotelturms beobachtete ich die Blitze und den strömenden Regen, der gegen die Scheiben peitschte und das zuckende Licht verschwimmen ließ. Vor Enttäuschung hätte ich am liebsten die Scheiben eingeschlagen. Ich wollte die Pfeile, die auf die Erde schossen, vor mir sehen, scharf und grell. Wollte allem Undurchsichtigen, Undefinierbaren, allem Dunklen und Verschwommenen entkommen. Ich hatte das Bedürfnis nach einer hellen, sauberen Welt, in der alles deutlich und klar erkennbar war. Mit Absicht hatte ich Kneipen im Keller oder im Erdgeschoss gemieden und mir eine gut beleuchtete Bar ausgesucht. Sie wurde nun jedoch durch die Gewitterwolken und die einbrechende Dunkelheit von der Finsternis in Besitz genommen. Mir graute es vor meiner leeren Wohnung. Von der Wohnung hatte ich im Grunde nichts zu befürchten. Mir war klar, dass ich eigentlich nur Angst vor mir selbst hatte. Hilflos war ich einem Wahn ausgesetzt, in dem mir meine längst verstorbenen Eltern erschienen, wie ich sie in Erinnerung hatte. Dabei hatte ich nicht einen Moment das Gefühl gehabt, mir alles nur einzubilden. Meine Mutter war mir so gegenwärtig und real vorgekommen wie das Glas, das jetzt vor mir stand. Wie hätte ich sie für eine Illusion halten können? Ich spürte ja sogar noch die Wirkung des Bieres, mit dem sie mich bewirtet hatte.
Dennoch musste es sich um Einbildung handeln. So etwas konnte es einfach nicht geben. Mir fehlte offenbar die Kraft, mich von dieser Halluzination zu befreien, mich von ihr zu heilen. Ich verspürte ein Gefühl der Ohnmacht, ähnlich einem Druck im Magen. Der Verlust meiner Eltern im frühen Alter von zwölf musste meine Persönlichkeit geschädigt haben. Verletzungen erlitten aber sicher auch Menschen, die bei ihren Eltern groß geworden waren. Jeder trug etwas mit sich herum. Ich hatte immer angenommen, dass wir alle uns in diesem Punkt mehr oder weniger glichen. Ein Unterschied bestand darin, wie man als Erwachsener damit umging. Ich hatte stets geglaubt, auf meine Art mit meinen Verletzungen fertig geworden zu sein. Nie hätte ich damit gerechnet, dass sie mich plötzlich in dieser Form überfallen würden. In den Halluzinationen manifestierte sich vermutlich die Sehnsucht nach etwas, das mir seit dem Verlust meiner Eltern fehlte. Ein Mangel, den ich nie deutlich empfunden hatte. Wenn ich an die tröstliche Geborgenheit dachte, die ich in der Gesellschaft der beiden verspürte, wurde mir jedoch klar, dass ich mich unbewusst stark nach elterlicher Liebe gesehnt haben musste. Natürlich passte es in die heute gängige Vorstellung, dass diese Sehnsucht in den einsamen Tagen nach meiner Scheidung zu Halluzinationen geführt hatte. Eine richtige Erklärung war das aber nicht. Konnten Halluzinationen wirklich so real sein? Dann konnten auch die Bar, das Hotel, der Donner, die Blitze und der strömende Regen Hirngespinste sein. Meine Mutter war heute Mittag für mich ebenso real gewesen, wie die Menschen und die Ausstattung in der Bar es im Augenblick waren – genau wie mein Vater an jenem Abend. Das ließ sich nicht leugnen. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren.
Ich gestand es mir nur ungern ein. Immerhin war es möglich, dass meine Erlebnisse einen nervlichen Zusammenbruch ankündigten. Diesen galt es unbedingt zu verhindern. Am besten war es, keinen Alkohol mehr zu trinken und nach Hause an die Arbeit zu gehen. Die Aufrechterhaltung meiner alltäglichen Routine konnte ein erster Schritt im Kampf gegen meine Wahnvorstellungen sein. Ich nahm demnach ein Taxi und fuhr nach Hause. Als ich ausstieg, hatte der Regen aufgehört. Der Platz vor dem Gebäude lag im Mondschein.
Im Aufzug plante ich, als Erstes alle Lichter in der Wohnung anzuschalten, auch die Stehlampe, die Leselampe über meinem Bett und sogar das Licht in der Toilette. Ich musste das Grauen loswerden, das mich noch immer in Gestalt der Stimme meiner Mutter verfolgte: »Wo gibt es ein Kind, das nach dem Namen der Eltern fragt?« Nachdem ich die Tür zu meiner dunklen Wohnung aufgeschlossen hatte, machte ich das Licht im Wohnzimmer an. Dann kamen das Schlafzimmer, die Toilette und die Stehlampe an die Reihe. Plötzlich war sie da, die Panik. Das Licht im Bad ließ sich nicht einschalten. Mehrmals drückte ich den Schalter, doch es blieb dunkel. Jäh spürte ich eine unheimliche Gegenwart und war vor Schreck wie gelähmt. Mich packte die vitale Angst, dass nacheinander eine geisterhafte Hand, ein Ellenbogen, ein Gesicht, ein ganzer Körper vor mir erscheinen, überdimensional vor mir aufragen und mir den Weg versperren würde. Ich schnappte nach Luft mit weit geöffnetem Mund, unterdrückte mit aller Kraft einen Schrei und schlug heftig die Badezimmertür zu.
Reiß dich zusammen, du Idiot, tadelte ich mich. Die Glühbirne ist geplatzt. Das war alles. Warum zitterte ich deshalb? Trotz dieser Überlegungen konnte ich mich eine Weile nicht bewegen. Dann hörte ich ein Geräusch. Was war das? Es klingelte an der Tür. Nichts Ungewöhnliches. Jemand kam vorbei und klingelte. Ganz normal. Aber wer? Wenn es nun mein Vater war? Oder meine Mutter? Ich ging zur Sprechanlage, merkte, wie ich beinahe in den Wogen meiner Angst ertrank, und verachtete mich dafür. »Es reicht«, sagte ich leise zu mir selbst und nahm den Hörer ab. »Ich bin’s, Kei.« War ich froh! Ich öffnete die Tür und hatte Kei in einer hellgrünen Bluse und einem gelben Rock vor mir. »Darf ich?«, fragte sie, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Ich erzählte ihr nichts von meinen Erlebnissen. Ich war mir nicht sicher, was man in meiner Situation für gewöhnlich tun würde, und neigte zum Argwohn. Mehrmals dachte ich daran, ihr alles zu offenbaren, unterdrückte den Impuls aber jedes Mal. Schließlich war ich nicht überfallen und ausgeraubt worden. Meine Halluzinationen konnten durchaus krankhafter Natur sein. Kei sollte nicht wissen, dass ich mich vor etwas Irrealem fürchtete. Sie sagte, sie habe mich vom Fenster aus ins Haus hineingehen sehen und mich sehr blass und erschöpft aussehend gefunden. »Das lag sicher am Mond. Ich fühle mich kein bisschen erschöpft«, sagte ich leichthin. Kei war erst dreiunddreißig und ich immerhin fünfzehn Jahre älter. Ich versuchte unwillkürlich, jedes Anzeichen von Müdigkeit zu verbergen. »Stimmt das auch?«, sagte sie. Ich nahm sie in die Arme. »Du sahst irgendwie nicht normal aus.«
»So schlimm?« Ich schlug einen scherzhaften Ton an, nahm ihre Beobachtung jedoch halbwegs ernst. Immerhin ist die weibliche Intuition sprichwörtlich. »Wirklich«, sagte sie. »Es klingt vielleicht unheimlich, aber irgendwie kam es mir so vor, als würdest du dich in einer anderen Dimension bewegen.« »Wie bei einer Erscheinung?« »Ja, genau. Deshalb war ich nicht ganz sicher, ob du tatsächlich da bist oder nicht.« »Sehe ich jetzt aus wie eine Erscheinung?« »Nein. Man kann sogar deine Nasenhaare sehen.« Wir lachten und schmiegten uns aneinander. »Nein«, sagte sie wieder. Sie wehrte sich weiter entschieden dagegen, dass ich ihre Brust sah oder berührte, und so liebkoste ich den runden, weißen Po mit dem Muttermal. Ich erfuhr, dass sie in der Buchhaltung einer Lebensmittelfirma arbeitete und aus einem Dorf stammte, das eine Busstunde von der Stadt Toyama entfernt lag. Den folgenden Tag verbrachte ich vom Nachmittag an bis Mitternacht in einer Pool-Bar, in der ich bereits einmal eine Stunde recherchiert hatte. Ich hatte zu dem Projekt noch keinen endgültigen Bescheid bekommen. Man hatte mir nahe gelegt, die erste Folge möglichst rasch zu schreiben, da es zeitlich zu knapp würde, wenn wir zuerst auf die Zusage für die Dreharbeiten warteten. Der Produzent war zuversichtlich. Der Verwirklichung unseres Vorhabens stünde nichts im Wege, es sei denn, die Sponsoren würden sich ausdrücklich sperren. Bei Aufträgen von so genannten »freien«, von keinem Sender abhängigen Produktionsfirmen, fing ich nie an zu schreiben, bevor die offizielle Entscheidung gefallen war. Es geschah nicht selten, dass auch als relativ sicher geltende Projekte nicht realisiert
werden konnten, weil die Sender sie ablehnten. Doch dieses Mal handelte es sich um eine Eigenproduktion, die bereits von den entsprechenden Stellen abgesegnet worden war. Also war dies meine letzte Gelegenheit zu Recherchen. Am nächsten Morgen begann ich zu schreiben. Gegen neun Uhr abends rief Kei mich an. Sie schlug vor, etwas zu trinken, mit ein paar Stückchen Grillaal dazu. Ich war bester Stimmung, da ich am ersten Tag bereits 53 Seiten mit je 200 Zeichen geschrieben hatte. Sie blieb bis elf, und wir trennten uns unter Küssen. Ich hätte gern mit ihr geschlafen, aber Kei wollte nichts davon wissen. »Ich möchte nicht, dass du den Eindruck erhältst, ich würde dich nur für Sex anrufen.« »Den Eindruck habe ich doch gar nicht«, sagte ich. In meinem Alter musste ich nicht unbedingt Sex haben und drängte sie nicht. Außerdem würde ich so am nächsten Morgen weniger müde sein. Wir küssten uns, bevor sie meine Wohnungstür öffnete, und noch einmal danach. Dann begleitete ich sie zum Aufzug und wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte. Am nächsten Tag stand ich um sieben Uhr auf, fing um acht an zu arbeiten und schaffte bis zum Abend 68 Seiten. Mit dem, was ich gestern geschrieben hatte, machte das 121 Seiten. Normalerweise ausreichend für eine Folge. Da in dieser Serie jedoch besonders viel und schnell gesprochen werden sollte, brauchte ich meinem Gefühl nach noch 40 Seiten, auch wenn ich die Billard- und Tennisszenen, bei denen nicht geredet wurde, mitrechnete. Erschöpft von der Arbeit aß ich bei einem Italiener um die Ecke zu Abend. Auf dem Heimweg holte ich mir einen EddieMurphy-Film aus der Videothek, den ich mir bei einem Bier ansah. Irgendwann musste ich auf der Couch eingeschlafen sein. In der Nacht wachte ich auf, ging aber, ohne mich
überflüssigen Grübeleien hinzugeben, sofort wieder ins Bett und schlief weiter. Durch meine Arbeit und die anderen Erledigungen, mit denen ich mich den ganzen Tag beschäftigte hatte, war es mir gelungen, den Gedanken an meine Eltern zu verdrängen. Am dritten Tag beendete ich die erste Folge mit insgesamt 165 Seiten. Vielleicht ein bisschen zu viel. In der ersten Folge mussten jedoch die Charaktere und Schauplätze, wie zum Beispiel Gebäude, eingeführt werden. Der gesprochene Text würde ohne die Regieanweisungen nur knapp 160 Seiten ausmachen. So schnell kam ich selten voran. Bisweilen schaffte ich gerade mal drei Seiten an einem Tag, die ich dann am nächsten vielleicht auch noch wegwerfen musste. Wenn das mehrmals vorkam, zog ich stets ernsthaft einen Berufswechsel in Erwägung. Doch nun platzte ich förmlich vor Energie. Der Text floss mir nur so aus der Feder, die Charaktere wirkten lebendig und würden sich gut in weitere Folgen einfügen. Es war erst drei Uhr nachmittags. Ich musste das Manuskript zwar noch einmal durchlesen, aber das hatte Zeit bis morgen. Mit etwas Abstand fiel es mir leichter, Fehler zu entdecken. Ich hatte keine Lust, alleine in der Wohnung zu bleiben. Kei war bestimmt noch nicht von der Arbeit zurück. Ich kannte niemanden, den ich nachmittags um drei anrufen konnte, damit er mich unterhielt. Früher war ich oft mit meiner Frau ins Kino gegangen, aber mit der Zeit hatte ich bemerkt, dass sie meine Freude über eine abgeschlossene Arbeit, die ja wirklich nur meine eigene war, nicht recht teilen konnte. So hatte ich gelernt, meine Begeisterung im Zaum zu halten. Bei Kei wollte ich mich vor solchen Dingen hüten. Dass mir die erste Folge so leicht von der Hand gegangen war, sah ich als gutes Vorzeichen für das weitere Gelingen der
Serie. Daher war meine Freude auch größer als bei einem Einteiler. Mit Sicherheit hatte ich die Erwartungen des Produzenten und des Regisseurs weit übertroffen. Obwohl ich das Projekt anfangs nicht sonderlich überzeugend gefunden hatte, konnte ich mich damit anfreunden, nachdem ich einmal mit dem Schreiben begonnen hatte. Es war mir gelungen, die Geschichte und die Charaktere nach meinen Vorstellungen zu gestalten. Ich fuhr mit der U-Bahn zur Ginza und trank in einem nachmittäglich leeren Lokal ein Bier. Allmählich stieg wieder die verdrängte Erinnerung an meine Eltern in mir hoch. Es war, als würde ich mich langsam zu ihnen umzudrehen. Meine Eltern strahlten mich an. Natürlich waren sie in Wirklichkeit nicht auch in diesem Lokal, dennoch sah ich in meinem Herzen, wie sie mich liebevoll beobachteten. »Wir erwarten dich. Pass gut auf dich auf«, sagte Mutter. Warum war ich eigentlich so entsetzt geflohen? Wenn ich es mir recht überlegte, hatten die beiden mir nie den geringsten Schaden zugefügt. Meine Mutter würde sich gewiss mit mir freuen, selbst wenn ich ein bisschen mit dem Erfolg bei meinem Drehbuch angeben würde. Was ich in Asakusa erlebt hatte, war bestimmt nicht alltäglich. Das Ganze hatte eventuell nur in meiner Einbildung stattgefunden. Im Nachhinein sah ich jedoch keinen Grund, warum ich mich dieser Phantasie nicht hingeben sollte. Würden mich die Halluzinationen permanent, auch bei der Arbeit und zu Hause plagen, müsste ich mich wohl einer Therapie unterziehen, um mich dann ein für alle Mal von ihnen zu befreien. Ich hatte sie aber nur in Asakusa. Sie waren tröstlich und gaben mir Kraft. Warum sollte ich mich dagegen wehren?
Die Stimme der Frau hatte mir beim Abschied die Gewissheit gegeben, dass sie meine Mutter war. Dennoch hatten wir noch kein Wort als Mutter und Sohn gewechselt. Dreißigjährige Eltern mit einem achtundvierzigjährigen Sohn konnten nicht von dieser Welt sein. Was meine Einbildungskraft mir gestattete, wollte ich zulassen. Seltsamerweise war meine Angst völlig verschwunden. Ich sah nur noch das liebevolle Lächeln meiner Eltern, mit dem sie mich willkommen hießen. Ich hatte ein solches von Herzen kommendes, alles verzeihendes Lächeln kurzzeitig von meiner Frau gekannt. Damals war unser Sohn noch klein. Ich hielt mich nicht für weniger glücklich als andere Menschen. Dass die Sehnsucht nach dem Lächeln meiner Eltern mich halluzinieren ließ, lag wohl an meinem fehlenden Geborgenheitsgefühl. Wenn ich diese Sehnsucht nun verdrängte, würde meinen Eltern, die ich in Asakusa zum Leben erweckt hatte, nichts anderes übrig bleiben, als wieder zu verschwinden. War es möglich, dass sie gar nicht existierten? Dass sie ohne meine Gegenwart nur eine leere Vision waren? Auch wenn sie an Tagen, an denen ich anwesend war, zu arbeiten, ihrem Tagesgeschäft nachzugehen und sich zu amüsieren schienen? Ich stellte mir vor, wie meine Eltern in ihrer Bewegung zu Wachsfiguren erstarrten. War ich der Einzige, der sie zum Leben erwecken konnte? Ich stand auf, ging hinaus auf die sonnige Straße und hob die Hand, um ein Taxi anzuhalten.
8
Ich bog von der Einkaufsstraße in die Gasse ein. Als ich leise die Eisentreppe hochstieg, überfiel mich erneut die Furcht. Ich blieb stehen, bevor ich oben angelangt war. Wer oder was waren diese Leute eigentlich? Zauberfüchse oder hexende Dachse? Bei seinem Tod war mein Vater 39. Meine Mutter war 35, als sie starb. Es war absolut undenkbar, dass sie 36 Jahre später wieder am Leben waren und hier existierten, als wäre nichts geschehen. War die Wirklichkeit auch nicht immer eindeutig, gab es doch das Mögliche und das Unmögliche. Bedeutete es für einen achtundvierzigjährigen Mann das Ende, wenn er diesen Unterschied nicht mehr zu erkennen vermochte?, fragte ich mich. Hatte ich bereits aufgehört zu leben, als ich das Unwirkliche als wirklich akzeptierte und mit dem Taxi hierher gefahren war? Dieses Gefühl hatte ich nicht. Ich war immerhin in der Lage, mich auf mein Drehbuch zu konzentrieren. Die Arbeit gelang mir nicht schlecht, was ich als befriedigend empfand. Eigentlich war ich an keinem Punkt, an dem ich aus Verzweiflung der Realität hätte entfliehen wollen. Dennoch würde ich, wenn ich die Treppe ganz hochstieg und dem Gang im zweiten Stock bis zur letzten Tür folgte, zweifellos meinen Eltern begegnen – oder zumindest einem Ehepaar, das ihnen erstaunlich ähnelte und sich genau wie sie verhielt. Sie erschienen mir so real wie nur irgendjemand, so
lebendig, dass ich mich unwiderstehlich zu ihrer liebevollen Fürsorge hingezogen fühlte. Eventuell hatte ich bereits die ersten Schritte in ein unheimliches Reich getan. Was hatte ich aber zu gewinnen, wenn ich jetzt umkehrte? Ein geistig gesunder Mensch würde diese Eisentreppe gewiss nicht hochgehen. Was brachte mir andererseits das Beharren auf meine psychische Gesundheit? Ich bezweifelte, dass ich noch viel von meinem Leben zu erwarten hätte, falls ich jetzt umkehrte. Ich stieg in den zweiten Stock. Noch ein paar Schritte bis zu meinen Eltern. Bei diesem Gedanken verspürte ich eine Art zittrige Schüchternheit. Bei jedem Schritt wurden mir die Knie weicher. Wie würde es sein, fragte ich mich aufgeregt, wenn ich meinen Eltern zum ersten Mal als ihr Sohn gegenübertreten würde? Ich hatte ihnen so viel zu erzählen. Sie sollten alles erfahren, was ich seit meinem zwölften Lebensjahr erlebt hatte. »Hideo!« Hinter mir rief plötzlich jemand meinen Namen. Es war die Stimme meines Vaters. Ich konnte mich nicht sofort umdrehen. »Was ist los?« Schon war die Stimme ganz nah. Mein Vater klopfte mir auf die rechte Schulter, während er rasch an mir vorbei auf die Wohnung zuging. »Hast du Lust, ein paar Bälle zu werfen?«, fragte er, ohne sich umzuwenden. »Wo denn?«, fragte ich zurück, aber er war bereits hineingegangen. Ich folgte ihm und blieb wie beim letzten Mal vor der Tür stehen, die zum Durchlüften offen gehalten wurde. »Gibt es hier in der Nähe einen Platz?« »Oh, wann bist du denn gekommen?« Meine Mutter stand an der Spüle und lächelte mir zu. »Er hat ganz abwesend im Gang gestanden.«
Mein Vater grinste, setzte sich ans hinterste Fenster und riss ein Päckchen Zigaretten auf, das er wohl gerade geholt hatte. »Hallo«, sagte ich und klang dabei wie ein Zwölfjähriger. »Komm rein«, sagte meine Mutter. »Ja, komm endlich rein«, wiederholte mein Vater. »Wir haben nur ein Mal auf dem Platz vor dem Internationalen Theater Baseball gespielt«, sagte ich, während ich mir die Schuhe auszog. »Stimmt’s, Vater?« »Das kann nicht sein, bestimmt öfter.« »Doch. Deshalb kann ich mich so gut daran erinnern. Ich habe mir immer gewünscht, öfter mit dir zu spielen.« »Also, dann los.« »Ja, geht nur«, sagte meine Mutter. »Gibt es hier einen Park?« »Wir spielen einfach auf der Straße vor dem Haus.« »Geht das denn?« »Ist doch alles zu. Bis zum 17. ist es hier völlig ruhig.« Richtig, während des Obon-Festes war Tokio fast menschenleer. Dass es in dem Bierlokal so leer gewesen war, hatte sicher auch nicht nur an der Tageszeit gelegen. Er holte zwei abgenutzte Baseballhandschuhe aus dem Wandschrank. Ich konnte mich nicht an sie erinnern. »Schöne Handschuhe.« »Ach so, ja. Mit dir habe ich immer einen Gummiball benutzt.« Genau, so war es gewesen. Er besaß zwar einen harten Ball, den er aber nicht nahm, als er mit mir spielte. Er fand, ich sei noch zu klein dafür. Es war mein größter Wunsch gewesen, einmal mit dem harten Ball zu spielen. Aber wir spielten nur das eine Mal, mit dem weichen aus Gummi. Mein Vater war damals so begeistert vom Baseball mit seinen Sushi-Kollegen, dass er nicht viel Zeit für seinen Sohn hatte. »Also, wir gehen dann.«
»Viel Spaß!«, rief meine Mutter uns nach. Es stellte sich heraus, dass man auf der Straße unmöglich spielen konnte. Die meisten Geschäfte hatten in der Tat ihre Läden heruntergelassen, der Autoverkehr war geringer als sonst, aber einen Ball hin- und herwerfen konnte man dort nicht. »Egal«, sagte mein Vater. »Dann gehen wir eben anderswohin.« Rasch setzte er sich in Bewegung. Ich musste schmunzeln. Als Kind hatte ich meinen Vater für unfehlbar und entschlossen gehalten. In Wirklichkeit war er ein unbekümmerter Mensch, der, ohne groß nachzudenken, einen Vorschlag machte, und wenn er bemerkte, dass es nicht klappte, sich eben einfach nach etwas anderem umsah. Ich freute mich über diese Entdeckung. Es war die Freude eines Achtundvierzigjährigen. Als wir auf der Straße vor dem Hongan-Tempel ankamen und der erste Wurf meines Vaters auf meinen Handschuh traf, war ich sofort wieder zwölf Jahre alt. Es war ein ausgezeichneter Wurf, sehr gezielt. »Großartig, Vater.« »Na sicher.« Hin und wieder mussten wir wegen eines Passanten oder eines Autos unterbrechen, trotzdem spielten wir fast eine Stunde lang. Jedes Mal, wenn der Ball mal härter mal weicher in meiner Hand aufschlug, hatte ich das Gefühl, meinem lang entbehrten Vater ein Stückchen näher zu kommen. Sooft wir einem Auto Platz machen mussten, stellte ich fest, dass es zweifellos moderne Wagen aus der Gegenwart waren. Ebenso erleichtert und froh nahm ich zur Kenntnis, dass auch mein Vater dem Verkehr ausweichen musste. »Es kommt einer.« »Alles frei.«
Ich genoss jede einzelne Unterbrechung, bei der wir uns an die hohe Mauer des Hongan-Tempels drücken mussten. »Es wird allmählich Zeit«, sagte mein Vater. »Mama schimpft, wenn sie so lange allein ist, wo du doch zu Besuch bist.« Solche Bemerkungen waren etwas ganz Neues für mich. Die beiden unterschieden sich doch in vielem von der Vorstellung, die ich als Zwölfjähriger von ihnen gehabt hatte. Beispielsweise fand ich den Gang meines Vaters, der wie ein echter Könner seines Fachs mit lässig schwingenden Armen einherstolzierte, ausgesprochen liebenswert.
Auf dem Esstisch standen gekochte grüne Sojabohnen, kalter Tofu in Dressing und drei Gläser. »Leider haben wir keine Dusche«, sagte Mutter. »Wo sollte die bitte auch hin?«, gab mein Vater zurück. Er wischte sich den nackten Oberkörper mit einem Handtuch ab. Seine Haut war sehr hell, aber er war gut gebaut und muskulös. Ich zog mich ebenfalls bis aufs Unterhemd aus und trat nach ihm an die Spüle, um den Schweiß abzutupfen. Man schaltete den Fernseher ein. Ein Spiel der Baseballmeisterschaft der Oberschulen wurde übertragen. Der Ventilator lief. »Hideo, setz dich hierher«, befahl meine Mutter. Ich setzte mich zwischen meine Eltern und bekam ein Bier eingeschenkt. »Vater, hast du heute Spätschicht?« »Habe aufgehört.« »Er hat mal wieder gekündigt.« »Schimpf nicht. Bisher habe ich dich ja nicht verhungern lassen, oder?« »Stimmt schon, aber…«
»In dem Laden weitermachen? Außer mir brachte da keiner richtige Sushi zustande. Und das bei einem Lokal mit Theke und fünf Tischen. Sie wollten, dass ich mindestens bis Ende August bleibe. Ihr Sushimeister kommt erst im September wieder aus dem Krankenhaus. Und was ist bis dahin mit den Gasten? Allein habe ich es nicht geschafft. Es war schon manchmal peinlich, was sie den Leuten als Sushi vorgesetzt haben. Einige haben sich schon gewundert. Zum Glück sind die Gäste neuerdings recht bescheiden und beschweren sich nicht lauthals. Deshalb ist bei weitem nicht alles in Ordnung, oder?« »Natürlich, du hast Recht. Aber mach vor Hideo nicht so ein Theater.« »Du hast davon angefangen.« Ich war glücklich. Als meine Eltern starben, hatten sie noch keinen Fernseher. Und Bier, Sojabohnen oder Tofu waren nicht leicht zu beschaffen gewesen. Der Ventilator war auch neu. Schön für euch, Mutter. Ich bin froh, dass es euch so gut geht, Vater. »Nipp nicht so sparsam an deinem Bier, ist doch kein Whisky«, sagte mein Vater. »Ja, nur keine Hemmungen. Wir haben genug Geld«, fügte meine Mutter hinzu. Ich trank mein Glas aus, und sie schenkte mir nach. Ich hätte ihnen gerne eine Dusche einbauen lassen. Eine Klimaanlage wäre ebenfalls nicht übel. Und ein paar Kästen Bier könnte ich ihnen zudem liefern lassen. Wahrscheinlich zwecklos. Wie auf einem Filmset war alles, so lebensecht es auch aussah, eben doch nicht real. Kaum würde ich die Wohnung verlassen, würden sie vermutlich aufhören, sich zu bewegen, blass und leblos werden. »Du lebst vom Schreiben, hast du gesagt, oder?«
»Er schreibt Drehbücher fürs Fernsehen, ist das nicht wunderbar?«, äußerte meine Mutter. »Was ist so wunderbar daran? Diese Schreiberlinge haben keine Ahnung vom wirklichen Leben. Das sind eitle Typen und Feiglinge. Ehrlich gesagt, mag ich solche Leute nicht.« »Wie redest du denn von deinem Sohn?« »Ich hab ja nicht gesagt, dass er einer von denen ist. Ich habe nur gemeint, dass die meisten so sind. Sie haben kein Gefühl, diese Schreiberlinge.« Es amüsierte mich, dass mein Vater, der viel jünger war als ich, sich so besserwisserisch benahm. Doch dann stieg ein Gefühl der Leere in mir auf. Solche Worte passten zwar zu meinem Vater, aber war ich nicht derjenige, der ihm alles in den Mund legte? Diese Menschen waren nicht meine früheren Eltern, sondern ein Produkt meines Gehirns. Meine toten Eltern würden niemals zurückkehren. Ich musste der Selbsttäuschung möglichst bald ein Ende setzen. Dann wiederum fragte ich mich, wie ich meine Eltern, die sehr real und nicht im Geringsten wie Halluzinationen wirkten, für bloße Fantasieprodukte halten konnte. »Vater«, sagte ich. »Lass mich deine Hand schütteln.« »Meine Hand willst du schütteln?« »Deine auch, Mutter.« »Willst du schon gehen?« »Iss noch mit uns zu Abend.« Wie traurig, wenn ich auch derjenige wäre, der die beiden diese Sätze sagen ließ. »Ich will nicht gehen. Ich wollte euch nur die Hände schütteln.« »In Ordnung.«
Mein Vater streckte die Hand aus, und ich ergriff sie. Ich spürte ihren Druck. Es fühlte sich keineswegs so an, als ob ich meine eigene Hand drückte. »Jetzt ich.« Meine Mutter streckte mir ihre Hand entgegen. Sie war etwas rau, und im Vergleich zu der meines Vaters zarter und kleiner. Ich versuchte, mir genau einzuprägen, wie sich ihre Hand in der meinen anfühlte. Es konnte unmöglich alles Einbildung sein. »Übrigens Vater«, rief ich auf der Suche nach einem weiteren Beweis für etwas, das keinesfalls aus mir selbst kommen konnte. »Du spielst gern Hanafuda-Karten, oder?« Ich erinnerte mich, dass er früher mit jemandem Karten gespielt hatte. »Wie kommst du denn auf einmal darauf?« »Habt ihr die Karten noch, Mutter?« »Ja, obwohl wir schon lange nicht mehr gespielt haben.« »Könntet ihr mir ein Spiel beibringen?« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung vom Kartenspiel. Wenn sie mir ein unbekanntes Spiel beibrachten und ich es später beherrschte, konnte der Vater nicht mein Hirngespinst sein. »Was? Einer, der schreibt, kann nicht mal Karten spielen?« »Ich war einmal ganz versessen auf Mahjong.« »Welches willst du lernen? Liebelei?« »Egal. Achtundachtzig kann man zu dritt spielen, oder?« »Also kennst du dich doch aus.« »Das ist das Einzige, das ich kenne.« »Wie wär’s mit Blumenquartett?«, fragte meine Mutter. Ich kannte den Unterschied zwischen den Spielen ohnehin nicht. »Dann wählen wir das.«
Wenn sie mir ein Kartenspiel beibringen konnten, existierten sie eindeutig außerhalb von mir, nicht nur in meiner Einbildung, und sie mussten eigene Substanz besitzen. Mein Vater nahm die Spielkarten aus einem Karton, den meine Mutter ihm hingestellt hatte, und mischte sie routiniert. »Also, du weißt, dass die Karten nach Monaten aufgeteilt sind?« »Nach Monaten?« »Also wirklich, nicht einmal das weißt du. Komm, wir schieben den weg.« Er rückte den Esstisch beiseite. Fast wäre eine Flasche umgekippt, aber ich griff rasch danach, und Mutter schob den Tisch vorsichtig weg. »Das Blumenquartett, das sie vorgeschlagen hat, wird auch Idiotenquartett genannt. Weil jeder Idiot es spielen kann. Pass auf.« Mein jugendlicher, schneidiger Vater saß, ein Knie angezogen, auf dem Boden und erklärte mir, ziemlich von sich eingenommen, das Spiel.
9
Am nächsten Abend war ich mit dem Produzenten der neuen Serie in einem Café verabredet. Ich war kurz vor ihm da. Er wurde ein bisschen blass, als er mich erkannte. Eilig setzte er ein Lächeln auf, aber ich ahnte, dass etwas nicht stimmte. In letzter Zeit gab es immer Probleme mit den Projekten. Mein Manuskript für die erste Folge hatte ich zügig niedergeschrieben und musste auch beim zweiten Durchgang kaum Verbesserungen einfügen. Es war fast zu glatt gegangen. Vermutlich kam jetzt irgendetwas nach. »Sie arbeiten schnell.« Er bestellte eine geeiste Milch und wischte sich mit dem feuchten Tuch, das die Bedienung ihm gebracht hatte, den Schweiß ab. »Ich war gut in Form.« »Ist doch prima«, meinte er, ohne mich dabei anzusehen. Er nahm einen großen braunen Umschlag aus seiner schmalen Ledertasche. »Ich hätte Sie anrufen sollen, um Ihnen zu sagen, Sie möchten Ihren Siegelstempel mitbringen.« »Wieso denn?« »Alle Formalitäten sollen nun noch vor der Übergabe des Manuskripts erledigt werden.« Er zog den Vertrag von der Sendeanstalt aus dem Umschlag. »Nur das Übliche. Es steht das Gleiche darin wie immer, abgesehen von den Honorarabmachungen für das Drehbuch. Setzen Sie Ihren Stempel bitte unter die drei Punkte, die ich mit den kleinen Kreisen markiert habe.«
»Demnach ist jetzt alles fest?« »Ja, ja. Alles o.k. auch die Sponsoren haben zugestimmt. Sendebeginn soll in der zweiten Oktoberwoche sein. In der ersten zeigen wir einen Pilotfilm. Gestern bin ich in Osaka beim Pharmakonzern R. gewesen, um fünf Uhr wieder zurückgefahren und direkt zur Kosmetikfirma M. gelaufen. Heute Morgen um zehn hatte ich schon wieder einen Termin bei dem Autohersteller K. Im Grunde ist das gar nicht die Aufgabe des Produzenten. Seit kurzem muss ich den Sponsoren das Projekt persönlich vorstellen, obwohl dies eigentlich die Pflicht der Verkaufsabteilung ist. Bin völlig erledigt. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht früher Bescheid geben konnte. Der Terminplan ist ein bisschen eng. Wir fangen schon in der ersten Septemberwoche mit den Außendrehs an.« »Hier ist das Manuskript für die erste Folge.« Ich reichte ihm die Seiten. »Vielen Dank. Ich lese es durch, und falls etwas sein sollte, rufe ich Sie an.« »Ja, bitte.« Die gekühlte Milch wurde gebracht. Offenbar gab es nun, soweit momentan abzusehen, doch keine Schwierigkeiten. Aber die würden bestimmt noch kommen. Vielleicht ist die Hauptdarstellerin im dritten Monat schwanger, dachte ich, der Vater des Kindes unbekannt. Sie will das Kind selbstredend behalten. Die Dreharbeiten dauern drei Monate. Das heißt, gegen Ende ist ihr Bauch zu auffällig, weil sie dann im sechsten Monat ist. Natürlich könnte man ihn durch geschickte Kleidung kaschieren. Sollte man vielleicht auf Tennisszenen mit ihr verzichten? Außerdem wusste man nicht, wie das Umfeld auf eine unverheiratete Mutter reagierte. Die Reaktion konnte positiv sein und ein Plus darstellen.
Genauso gut konnte auch das Gegenteil eintreten. Eine Umbesetzung ist nicht einfach, wenn überhaupt, dann jetzt etc… Ich fand meine Überlegungen selbst übertrieben, doch mit Katastrophen wird man besser fertig, wenn man mit dem Schlimmsten rechnet. »Ah«, meinte der Produzent, als sei ihm etwas eingefallen. Endlich ist es so weit, dachte ich. »Gibt es noch etwas, das ich über die erste Folge wissen sollte?« »Ich glaube, wir haben während der Recherchearbeiten bereits etliches besprochen.« »Stimmt.« »Lesen Sie es einfach durch.« »Sie wirken sehr von der Sache überzeugt.« Der Mann versuchte offensichtlich, mir etwas mitzuteilen. Sein Blick huschte unruhig hin und her, eine Sache schien ihn zu beschäftigten. »Es scheint da ein Problem zu geben. Oder täusche ich mich?« Ich lächelte gequält. »Wie bitte?« »Da ist doch etwas, oder?« »Wie kommen Sie darauf?« »Ihrem Gesichtausdruck nach ist nicht alles in Ordnung. Mir ist das gleich aufgefallen, als Sie hereinkamen und mich sahen. Ihre Miene hat sich verändert.« »Ach das«, sagte er und lachte. »Was?« »Es geht mich ja im Grunde nichts an, und Sie nehmen es mir vielleicht sogar übel.« »Es geht um mich?« »Sie sind doch nicht krank, oder?« »Warum fragen Sie?«
»Wissen Sie, wir Produzenten sind immer ein bisschen paranoid, weil jederzeit etwas passieren kann.« »Es geht mir gut.« »Dann liegt es wohl an den Lichtverhältnissen.« »Sehe ich irgendwie schlecht aus?« »Ja, Sie sind etwas blass. Es gibt nichts Schlimmeres als einen kranken Drehbuchautor. Passen Sie gut auf sich auf, bis alles fertig ist. Danach können Sie von mir aus sterben.« Wir lachten und plauderten noch über dieses und jenes, ehe wir uns verabschiedeten.
Unterwegs versuchte ich, mich in den Schaufensterscheiben zu spiegeln, die Gesichtsfarbe konnte ich dabei nicht erkennen. Subjektiv fühlte ich mich keineswegs krank. Gestern hatte ich mit meinen Eltern zu Abend gegessen und schon um elf im Bett gelegen. Am Morgen hatte ich die erste Folge noch einmal durchgelesen, was etwa anderthalb Stunden gedauert hatte. Keine merkwürdigen Spekulationen, dachte ich. Aber die Sache beschäftigte mich. Mein Vater und meine Mutter befanden sich im Jenseits. Es war wohl denkbar, dass ein Mensch, der mit solchen Wesen verkehrte, seiner Lebenskraft beraubt wurde. Zumindest kommt so etwas öfter in Legenden und Romanen vor. Als ich mich vor dem Ausgehen rasiert hatte, hatte ich nicht sonderlich blass ausgesehen. Allerdings würde es mich nicht wundern, wenn ich von meiner Lebensenergie eingebüßt hätte. Es drängte mich, mein Aussehen so schnell wie möglich in einem Spiegel zu überprüfen. Angst vor dem, was mich erwartete, hatte ich nicht. Eher verspürte ich eine Art Erleichterung, denn ich fürchtete, dass meine Eltern unermessliche Opfer bringen mussten, damit sie mir auf dieser
Welt erscheinen konnten. Um ihnen dafür zu danken, hätte ich liebend gern einen Verlust an Vitalität in Kauf genommen. Insgeheim sehnte ich mich wahrscheinlich sogar danach, blass auszusehen, war es ja bislang nur ich, der als Empfangender von den beiden profitierte. Mir fiel ein indisches Restaurant ein, das ich einige Male besucht hatte. An der Kasse hing ein großer Spiegel. Auch wenn es noch etwas zu früh war, wollte ich dort zu Abend essen und dann nach Hause gehen. Da die erste Folge für die zweite Oktoberwoche geplant war, musste ich bis Ende August noch drei Folgen liefern. Das bedeutete eine Folge in fünf Tagen – ziemlich ehrgeizig. Ich lächelte selbstironisch. Von Energielosigkeit keine Spur. Außerdem sah mein Gesicht im Spiegel des indischen Restaurants überhaupt nicht blass aus.
»Du bist bleich«, sagte Kei, als sie mir gegen neun Uhr abends einen Besuch abstattete. »Was meinst du?« Ich war ein wenig verstimmt. Ich hatte sie nicht um ihre Meinung gebeten, hatte mich auch zu Hause noch einmal im Spiegel gemustert und mich vergewissert, dass alles in Ordnung war. »Mach keine Späße mit mir. Ich bin jemand, der die Dinge ernst nimmt.« Noch während ich sprach, lief ich ins Bad und betrachtete mich noch einmal im Licht der beiden weißen 100-WattBirnen. »Ich gebe zu, ich bin nicht mehr der Jüngste. So auffallend schlecht, dass es der Erwähnung wert wäre, sehe ich aber nicht aus.«
Sie stellte sich neben mich, und unsere Blicke trafen sich im Spiegel. »Sicher, ich habe Tränensäcke. Die hatte ich schon immer. Ein achtundvierzigjähriger Stadtmensch ist eben blass.« »Na ja«, sagte sie. »Gestern Abend habe ich dich vom Fenster aus gesehen. Als du nach Hause gekommen bist.« »Ich habe auch zu dir hinaufgesehen.« »Mein Fenster war dunkel, oder?« »Ich dachte, du bist noch nicht zu Hause.« »Ich schaue oft aus dem Fenster. Damit man es nicht als Zeichen meiner Einsamkeit bewertet, schalte ich vorher das Licht aus.« »Du hättest mich rufen können.« »Ich hatte Angst.« »Vor mir?« »Es ging so ein bleicher Schimmer von dir aus.« »Na, na, na, schau mich doch jetzt im Spiegel an. Du behauptest, ich würde schlecht aussehen. Im Vergleich zu einem Surferboy bin ich sicher mehr als blass. Das ist bei mir aber immer so. Ich fühle mich nicht einmal erschöpft. Es gibt keinen Anlass zur Sorge. Bitte, hör auf, mir Furcht einzuflößen.« »Dann siehst du es offenbar selbst nicht.« Ihr Blick schien mich zu durchbohren. »Nimmst du wirklich nicht wahr, wie elend du aussiehst?« »Ich sehe elend aus? Du bist doch viel blasser«, fuhr ich ihr Spiegelbild erregt an. »Ich kann mich selbst bestens sehen. Da, ich hebe meinen rechten Arm, jetzt senke ich ihn wieder. Ich lege ihn um deine Schulter. Mit der linken Hand fasse ich mir an die Nase, und jetzt strecke ich die Zunge heraus.« Ich streckte die Zunge heraus. »Wenn ich nicht mein Selbst sehe, was sehe ich dann?« »Hör auf, so zu albern.«
Ihr durchdringender Blick erschreckte mich. »Ich will nicht albern sein, todernst aber auch nicht. Ich fühle mich völlig fit. So fit, dass ich mich jetzt nach dir sehne.« Ich küsste sie. Kei wollte etwas einwenden und wehrte sich kurz, gab dann jedoch nach. Als unsere Lippen sich voneinander gelöst hatten, fragte sie: »Ist vielleicht irgendetwas vorgefallen? Etwas Komisches?« »Etwas Lustiges?«, erkundigte ich mich, obwohl ich genau wusste, was sie meinte. Wenn ich ihr nun von meinen Eltern erzählte, würde sie sofort Schlüsse ziehen, sich schrecklich aufregen und die Eltern vielleicht sogar als böse Geister beschimpfen. Ich wollte nicht, dass sie sie für etwas hielt, das man austreiben musste. »War da was?«, fragte sie. »Nicht, dass ich wüsste.« »Du lügst.« »Wie kommst du denn darauf?« »Weil du ein schlechter Lügner bist.« »Jeder würde sich schuldig fühlen, wenn man ihn so anfunkelt wie du mich gerade.« »Lenk nicht ab. Ganz bestimmt geht es um etwas Ernstes. Ich fühle das.« »Freut mich.« »Nicht ausweichen.« »Ich hätte nicht gedacht, dass du so besorgt um mich bist.« »Das versteht sich von selbst. Oder nicht?« »Wie meinst du das?« Sie zögerte einen Moment und wandte den Blick ein wenig zur Seite. Doch sofort nahm sie mich wieder ins Visier. »Ich dachte, ich wäre deine Freundin.« »Und ich dein Freund. Nur…« »Was nur?« »Verlangen kann ich nichts von dir.«
»Warum denn nicht?« »Immerhin bin ich fünfzehn Jahre älter als du.« »Es ist schmeichelhaft für eine Dreiunddreißigjährige, für zu jung gehalten zu werden. Schließlich habe ich einen Makel. Also bitte keine unnötigen Umstände. Sind wir ein Liebespaar oder nicht?« »Natürlich.« »Könnten wir uns dann vielleicht anderswo weiterküssen?« Nachdem wir einen langen Kuss getauscht hatten, zogen wir ins Wohnzimmer um. Ich hoffte, das Gespräch über mein angegriffenes Aussehen wäre beendet. Als wir auf der Couch saßen und ich sie liebkosen wollte, freilich ohne ihre Brust zu berühren, verkrampfte sich Kei mit einem Mal. »Du darfst keine Geheimnisse vor mir haben.« »Ich habe keine Geheimnisse.« »Dann sag mir nur eines.« »Mach dir keine Sorgen.« »Fandest du vorhin ehrlich, dass du im Spiegel nicht angegriffen aussahst?« »Wer wirkt denn mit achtundvierzig nicht ein bisschen müde?« »Du hast dunkle Ringe unter den Augen, und deine Wangen sind richtig eingefallen.« Sie sah mir ins Gesicht. Schweigend erwiderte ich ihren Blick. »Du siehst wirklich schlecht aus. Auch im Spiegel.« Ich erinnerte mich vage an einen Roman, in dem ein gesunder Mann erkrankte, weil seine Umgebung es ihm einredete. Allerdings glaubte ich nicht, dass sie dabei war, das Gleiche zu tun. Ich konnte an mir weder dunkle Augenringe noch eingefallene Wangen bemerken. Ich fand mich sogar etwas füllig. Das bedeutete, einer von uns war einer Täuschung
erlegen. Nach dem Mehrheitsprinzip hatte Kei Recht, da auch der Produzent nicht der Meinung war, dass ich aussah wie das blühende Leben. Kei und ich saßen reglos da und überlegten. Ein Gefühl der Angst breitete sich in meiner Magengegend aus. Falls das Ich, das der Spiegel wiedergab, nicht meiner Gestalt entsprach, hatte ich keine Möglichkeit, mein Aussehen zu überprüfen. Konnte es etwas so Unsinniges geben? Auf der anderen Seite hatte sich bereits so viel Unbegreifliches ereignet, dass gesunder Menschenverstand ohnehin kein Kriterium mehr war. »Also gut, ich werde es dir erzählen«, sagte ich, »wenn du mir versprichst, keine unheilvolle Bedrohung darin zu sehen.« Sie nickte wortlos. »Ich empfinde nur Glück. Und vielleicht sehe ich erschöpft aus. Im Vergleich zu anderen Dingen, die mich tatsächlich aufreiben, geschieht aus meiner Sicht nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Ich hatte ein wundervolles Erlebnis, kann aber nicht leugnen, dass es vollkommen irreal erscheint.« Ich begann mit dem Abend, an dem ich meinem Vater im Theater begegnet war. Sie zeigte keine Verwunderung. Vielleicht unterdrückte sie jede Regung aus Sorge, ich würde in meiner Geschichte innehalten. Auch dies bewies ihre ernsthafte Anteilnahme. Wir hatten eine Liebesbeziehung, kannten uns jedoch noch nicht lange. Daher rührte es mich, wie besorgt sie dem Grund meiner Abgezehrtheit nachspürte. Man mag mich für verstiegen halten, aber ich empfand ein Gefühl der Liebe. Mir wurde auf einmal bewusst, dass mir schon lange keine solche Aufmerksamkeit von einem Mitmenschen zuteil geworden war. Ich konnte mich freilich nicht darüber beklagen, denn ich hatte selbst zu lange niemandem mehr
meine Aufmerksamkeit geschenkt, um sie von anderen zu erwarten. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihre Anteilnahme aufsog wie ein Verdurstender einen Trunk Wasser. Wo ich doch gerade gestern der Mittelpunkt der Liebe und Aufmerksamkeit meiner Eltern gewesen war. Ich hatte Gewissenbisse, weil ich zwischen Keis wirklicher Liebe und der unwirklichen meiner Eltern einen Unterschied machte. Und das, obwohl ich am Abend zuvor, als ich nach Hause kam, das Kartenspiel, das mein Vater mir beigebracht hatte, beherrscht und mich im Lexikon vergewissert hatte, dass die Karten nach Monaten geordnet waren, genau wie mein Vater es gesagt hatte. Während ich Kei von meinen Eltern erzählte, wuchs in mir das Gefühl, dass mein Vater und meine Mutter in Asakusa Wesen waren, die es nicht geben konnte.
10
In meiner Ehe war mein Verhalten stets mehr oder weniger auf meine Frau bezogen gewesen. Sie kontrollierte mich nicht direkt, doch hatte ich häufig das bedrückende Gefühl, es ihr recht machen zu müssen. Auch nach unserer Trennung hielt dies eine Weile an. Ich konnte mich gut an die Befreiung erinnern, die ich empfand, als mir eines Tages klar wurde, dass mein Verhalten nun niemanden mehr etwas anging. Am Tag, nachdem ich Kei alles erzählt hatte, verspürte ich seit längerem wieder einen Anflug der alten Beklemmung. Erneut hatte ich ein schlechtes Gewissen dabei, eine Sache zu verheimlichen. Ich plante einen heimlichen Ausflug nach Asakusa. »Du musst mir versprechen«, hatte Kei am Abend zuvor gesagt, »nie wieder zu ihnen zu gehen.« Ihre Argumente waren so vernünftig und überzeugend, dass ich ihnen nichts entgegensetzen konnte. Ganz gleich, wie fern meinen Eltern Niedertracht und böse Absichten liegen mochten, sie waren längst Verstorbene. Mir selbst war klar, dass ein Wiedererscheinen von Toten die Ordnung der Lebenden grundlegend stören musste. Daher stimmte ich im Grunde mit Kei überein, sie von nun an lieber zu meiden. Dessen ungeachtet konnte ich meine eigenen Eltern kaum als böse Geister betrachten und sie bekämpfen. »Du kannst nicht behaupten, dass sie ausschließlich gute Wesen sind. Wie ausgemergelt du bist! Man braucht sich bloß deine eingesunkenen Augen anzusehen.«
Auch am folgenden Morgen konnte ich im Spiegel nichts von der Abgezehrtheit entdecken, von der sie sprach. »Glaub mir«, wiederholte sie mehrmals. »Du siehst schlimm aus.« Oft nehmen Betroffene den eigenen desolaten Zustand nicht wahr, während er für andere ganz offensichtlich ist. Daraus hätte ich vielleicht eine Lehre ziehen sollen, von einem Spiegel wollte ich mich aber eigentlich nicht belehren lassen. »Zeig es mir«, forderte ich ihn heraus. »Zeig mir mein wahres Gesicht.« Ich sah noch immer nichts als mein robustes, gesundes Spiegelbild. Also würde ich es mir erlauben können, meine Eltern wenigstens ein letztes Mal zu sehen. »Komm bald wieder«, hatten sie mich gebeten, und ich hatte es ihnen versprochen. Es erschien mir zu grausam, nun einfach fortzubleiben, warteten die beiden ja geduldig und rücksichtsvoll in ihrer Wohnung in Asakusa auf mich, obwohl sie auch hierher hätten kommen können, wenn sie gewollt hätten. Sie ohne Abschied zu verlassen, wäre einfach zu egoistisch. Dann büßte ich eben weiter von meiner Lebenskraft ein. Ich war ohnehin nicht überzeugt, ob ein Leben, das ich auf Kosten meiner Eltern zu schützen beabsichtigte, überhaupt lebenswert war. Ich hatte Kei, setzte jedoch kein besonderes Vertrauen mehr in die Liebe zwischen Mann und Frau. Das Gleiche galt vielleicht auch für mein Vertrauen in die elterliche Liebe. Andererseits schienen meine Eltern jetzt nur um meinetwillen zu existieren. Ich hielt sie für hilflose Wesen, die verschwinden würden, wenn ich mich von ihnen abwandte. Ich wollte bloß richtig Abschied von ihnen nehmen. An diesem Abend verriet ich Kei. Nachdem ich fast den ganzen Nachmittag an dem Konzept für die zweite Folge gearbeitet hatte, rief ich bei Kei an, um sicherzugehen, dass sie nicht zu Hause war. Dann machte ich
mich zum Ausgehen bereit. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie mich von irgendwoher beobachtete. Um es abzuschütteln, sagte ich, als ich in den Hausflur trat, mit lauter Stimme: »Dann will ich mal irgendwo etwas Gutes essen.« Kei saß um diese Zeit an ihrem Computer in der Buchhaltung der Lebensmittelfirma in Tsukiji. Unmöglich konnte sie sich frei nehmen, um mich zu überwachen. Ich hatte mich ja ihrer Abwesenheit vergewissert und hätte also das Öffnen der Aufzugstür gelassen erwarten können, ohne Magendruck. Meine Aufregung trieb mich aber fast dazu, geduckt und außer Sichtweite ihres Fensters vom Hauseingang wegzuschleichen. Dann lief ich beinahe fluchtartig die große Verkehrsstraße entlang. Es belastete mich mehr als erwartet, das Kei gegebene Versprechen zu brechen. Liebte ich sie mehr, als ich mir eingestand? Im Taxi nach Asakusa beschäftigten mich Gedanken an ihren ernsten Blick und an ihren weißen Po. »Vater, Hideo ist da!«, rief meine Mutter, als sie mich die Treppe hochkommen sah. Offenbar war sie im Begriff, einkaufen zu gehen. Sie nickte lächelnd zu mir herunter und verschwand wieder. Dann rief sie meinem Vater erneut zu, dass ich hier sei. Ich überlegte, ob es die Nachbarn stören würde, wenn sie im Haus so laut schrie. Doch ich war ja nicht einmal sicher, ob auch andere ihre Stimme hören konnten. Als ich im ersten Stock ankam, stand meine Mutter vor der Tür und empfing mich mit einem einladenden Lächeln. »Willkommen!«, sagte sie. »Hallo.« Spontan lächelte ich zurück. »Ich gehe jetzt einkaufen, Vater ist drinnen.« Wir schlüpften aneinander vorbei, und ich sah, wie sich mein Vater, der sich ausgeruht hatte, einen Fächer in der Hand, aufrichtete.
»Hallo.« »Guten Tag.« »Wollen wir Bier trinken?« Er stand auf und öffnete den Kühlschrank. »Mir genügt es, wenn wir eins zum Essen trinken.« »Ach was. Seit heute Mittag warte ich schon darauf. Weil Mutter sonst schimpft, habe ich ständig nur Wasser getrunken, mir vorgestellt, es wäre Bier. Was meinst du, wie es in meinem Bauch gluckert!« Im Fernsehen lief wieder ein Baseballspiel der Oberschulliga. Wir setzten uns im Schneidersitz davor und tranken Bier. »Hast du es schon mit jemandem gespielt?« »Was denn?« »Das Blumenquartett.« »Ich hatte noch keine Zeit.« »In deinem Alter ist es nicht gut, so viel zu arbeiten. Später ist man dann zu alt, um sich richtig zu amüsieren.« »Wir drei könnten heute mal Neunerstich spielen.« »Ich komme mir vor wie deine Gouvernante, aber was soll’s. Schließlich bin ich selbst schuld, wenn mein einziger Sohn als Mann in mittlerem Alter nicht mal Karten spielen kann.« Anschließend hielt er mir einen Vortrag über die verschiedenen Möglichkeiten der Manipulation beim Kartenspiel. Kiebitzen, schmieren, zinken, absahnen, sogar ein Trick namens Arschgucker war dabei. Als meine Mutter zurückkam, hatten wir drei Flaschen Bier geleert. »Wollen wir nicht lieber Essen bestellen?« Mein Gesicht war vom Alkohol gerötet, ich lächelte sie an. »Ich habe doch so viel eingekauft.« Eingekauft, ganz bestimmt. Das war sicher gelogen. Alles war ein Theater, das sie mir vorspielten. »Du sollst nicht arbeiten, Mutter. Wir bestellen was und spielen zusammen Neunerstich.«
»Schrecklich. Du wirst deinem Vater immer ähnlicher.« »Was ist so schlimm daran, wenn der Sohn dem Vater ähnelt?«, fragte mein Vater. »Wir bestellen Aal. Ich lade euch ein. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich verdiene schon ein bisschen mehr als der Durchschnitt.« »Dann gehe ich mal bestellen«, sagte Mutter. »Aber nicht bei dem da«, sagte Vater. »Geh zu dem anderen gegenüber von Katsumasa.« »Und keinen Eintopf, sondern lieber gegrillte Aalleber, den besten Teriyaki-Aal und vielleicht noch eine Suppe. Reis dazu, bitte!« Ich versuchte, den gebieterischen Ton meines Vaters zu imitieren. »Was soll ich mit euch beiden nur machen?«, meinte Mutter fröhlich. Als sie zurückkam, spielten wir Neunerstich. Beide waren routinierte und gewitzte Spieler. »Und jetzt über die Dörfer!« »Bist du aber lahm!« »Du musst dein Blatt schon ein bisschen besser ausspielen, wenn ich bitten darf!« »Los, mehr Kampfgeist, hältst du jetzt dagegen oder nicht?« Obwohl sie ja nur mit ihrem Sohn spielten, ereiferten sie sich sehr. Besonders überrascht war ich, dass meine Mutter den Zockerjargon so mühelos beherrschte. Diese temperamentvolle und forsche Spielweise stand ihr gut an. Als wir später aßen, sagte mein Vater nachdenklich: »Wenn wir am Leben gewesen wären, hätten wir dich nicht zu so einem Bauerntölpel erzogen. Aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern.« »Wir hätten doch einem Zwölfjährigen nicht das Zocken beibringen können«, sagte Mutter.
»Es ist schon immer meine Lebensphilosophie oder besser gesagt meine Strategie für das alltägliche Leben gewesen…« »Rede nicht so geschwollen daher«, zog meine Mutter ihn auf. »Schweig still! Ich habe auch das ein oder andere gelehrte Buch gelesen. Aber auch ohne Bücher kann ich Gut und Böse unterscheiden.« »Dann rede gefälligst, wie es zu dir passt.« »Ich gehe nur auf ihn ein. Bei meiner Arbeit habe ich tagtäglich mit den verschiedensten Gästen zu tun. Wenn ich nicht mit Leuten umgehen könnte, liefe gar nichts. Das SushiGeschäft ist keine französische Cuisine. Die Köche können leicht überheblich tun und in ihrer Küche, wo die Gäste nichts zu sagen haben, den Chef herauskehren. Aber wir sehen den Gästen Tag für Tag direkt ins Auge. Wir sind Schauspieler, sozusagen. Schauspieler, Köche und Verkäufer in einem. Glaubst du, das kann einer durchhalten, ohne sich ab und zu ein bisschen zu amüsieren? Unsereins steht unter Dauerstress.« »Ob das stimmt?« »Da siehst du’s. So sind die Frauen. Ihre Männer arbeiten sich ab, und sie lachen nur darüber.« Sie sagten es nicht ausdrücklich, aber es war offenkundig, wie sehr sie die Zeit mit mir genossen. Sie waren so guter Dinge, dass ich ihnen wieder nicht gestehen konnte, dass es mein letzter Besuch bei ihnen sein sollte. Auch diesmal begleiteten die beiden mich bis zur Internationalen Straße und riefen mir zum Abschied nach: »Komm bald wieder! Wir warten auf dich.«
11
Die Selbstlosigkeit meiner Eltern bewegte mich noch auf der Heimfahrt im Taxi. Sie sagten, was sie sagen wollten, äußerten aber nie den Wunsch, mich in meiner Wohnung zu besuchen. Das erfüllte mich etwas mit Traurigkeit und auch mit Gewissensbissen, da mir ihre Zurückhaltung im Grunde ganz recht war. Ich hatte keine Einladung ausgesprochen. Vielleicht war es ihnen und mir instinktiv klar, dass zwischen uns die Grenze von Realität und Irrealität verlief. Wir vermieden stillschweigend, sie anzutasten. Eines Tages erinnerte ich mich an Shigeki, meinen Sohn. Sich an den Sohn »erinnern« zu müssen, klingt schrecklich. Shigeki hatte sich während der Scheidung nahezu völlig von mir abgewandt und ganz auf die Seite seiner Mutter gestellt. Er ignorierte mich, wenn ich ihn ansprach, ging mit seiner Mutter dagegen sehr vertraut um. Das war insofern nicht unverständlich, da er nach der Scheidung bei ihr wohnen sollte. Und wenn mein 19-jähriger Sohn durch seine Abneigung mir gegenüber eine größere Nähe zu seiner Mutter entwickelte, war es vielleicht besser, meine Bemühungen um seine Liebe aufzugeben. Ich musste es wohl akzeptieren, dass er mich hasste und seine Mutter dafür umso mehr liebte. Aus diesem Grund versuchte ich, ihn zu vergessen. Wusste Shigeki jetzt aber nicht von der Beziehung zwischen seiner Mutter und Mamiya? Ein junger Mann im zweiten Studienjahr war nicht mehr so empfindlich, doch eventuell brauchte Shigeki manchmal noch väterliche Zuwendung. Schließlich wurde mir momentan selbst
viel elterliche Liebe zuteil, die ich vielleicht an Shigeki weitergeben sollte. »Entschuldigen Sie, könnten Sie mich nach Akasaka bringen?«, sagte ich zu meinem Taxifahrer und fügte den Namen eines Hotels hinzu. Auf diese Weise konnte ich es vermeiden, Kei heute Abend belügen zu müssen. Am nächsten Tag würde ich mich in dem Hotel mit Shigeki zum Mittagessen treffen und ihm ein großzügiges Taschengeld geben. Mir fehlte allerdings die Zuversicht, ob er auf diesen unerwarteten Vorstoß seines Vaters reagieren würde.
»Imamura«, ertönte die Stimme meiner Exfrau. Imamura war Ayakos Mädchenname. »Ich bin’s.« »Shigeki, bist du’s?«, fragte sie. »Nein, ich.« »Oje.« Ihre Stimme klang nach einem verlegenen Lächeln. »Ich habe mich schon ein bisschen über das ›Ich bin’s‹ gewundert.« Auch ich lachte verlegen, da wir seit der Scheidung das erste Mal miteinander sprachen. »Es sind nur eure Stimmen, die fast unangenehm ähnlich klingen.« »Tut mir leid.« Bis jetzt verlief das Gespräch entspannter, als ich es zu hoffen gewagt hatte. »Shigeki ist nicht da?« »Er ist in Amerika. Ein Freund von ihm studiert gerade für ein Jahr an der Universität Arizona. Shigeki besucht ihn ungefähr drei Wochen bei seiner Gastfamilie. Es sind Sommerferien.«
»In Arizona ist es ziemlich heiß, oder?« »Er ist ja noch jung.« »Wolltest ihn wohl los sein?« »Was willst du damit sagen?« »Weiß Shigeki von ihm?« »Wovon redest du eigentlich?« »Von Mamiya.« »Es ist zu früh, um ihm davon zu erzählen.« »Du triffst dich doch mit ihm.« »Ich bin dir keine Erklärungen schuldig.« »Natürlich nicht. Du hättest mich aber zumindest unterrichten können. Ich habe lange mit dem Mann zusammengearbeitet, das ist jetzt unmöglich geworden.« »Warum? Was hat die Arbeit mit dem Privatleben zu tun?« »Ganz so einfach ist das nicht.« »Ach nein? Du warst es doch, der die Trennung wollte. Also hast du auch keinen Grund zur Eifersucht. Es müsste dir völlig egal sein, was zwischen mir und Mamiya ist, oder?« »Ich bin nicht eifersüchtig.« »Dann ist es doch merkwürdig, wenn man noch an etwas festhält.« »Der Vernunft zufolge stimmt das. Für Mamiya ist der Umgang mit mir auch schwierig.« »Hat er mir gesagt. Aber schließlich haben wir keinen Ehebruch begangen. Was stört dich denn so? Wir sind geschieden.« »Du hattest bestimmt schon vor der Scheidung was mit ihm, oder?« »Was redest du da?« »Geht das Ganze nicht ein bisschen schnell? Die Scheidung liegt kaum einen Monat zurück, und schon habt ihr ein Verhältnis.«
»Du bist ekelhaft. Zwischen dir und mir war ja schon lange alles abgekühlt. Ich hätte am ersten Tag nach der Scheidung mit dem Erstbesten, der mir ein nettes Wort sagt, etwas angefangen.« »Wollt ihr heiraten?« »Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dir keine Erklärungen schuldig bin.« »Shigeki ist auch mein Sohn. Es ist ganz normal, dass ich mir über die Auswirkungen auf ihn Gedanken mache.« »Ach, auf einmal. Seit wann machst du dir Sorgen um ihn?« »Ich rufe an, weil ich mich mit ihm treffen wollte.« »Du bist wirklich widerlich. Tut mir leid, aber ich lege jetzt auf. Mir wird übel, wenn ich mit dir spreche.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Andernfalls hätte ich sicher hinzugefügt, wie dankbar sie für die Scheidung von einem so widerlichen Mann wie mir sein müsse. Und dass sie mir eigentlich etwas schuldig sei, wegen des Geldes, das sie mir skrupellos abgenommen hatte. Ich war eben, wie sie sagte, ein widerlicher Kerl und wurde gemein, selbst wenn ich es nicht vorhatte. Es passierte zwangsläufig, wenn ich mit Ayako sprach. Auch sie wurde gemein, wenn sie mit mir sprach. Wann hatte das angefangen? Was war nur aus uns geworden? Mein Hotelzimmer lag im 9. Stock. Vom Fenster aus waren die Lichter eines anderen Hotelkomplexes und der Verkehrsfluss auf der Aoyama-Straße zu sehen. Sicher war es Shigeki nicht anzulasten, dass wir uns nicht treffen konnten. Doch während ich auf den steten Strom der Scheinwerfer und der roten Rücklichter blickte, dachte ich, dass er mich immer enttäuscht hatte. Dieses Gefühl begleitete mich, seit Shigeki in die 7. Klasse gekommen war. Wahrscheinlich setzte ich falsche Erwartungen in ihn, und er trug meist keine Schuld an meiner
Enttäuschung. Die Persönlichkeit eines Kindes entwickelte sich nicht immer nach den Wünschen seiner Eltern. Obwohl mir das bewusst war, ärgerte ich mich jedes Mal, wenn er meine Gefühle missachtete oder sich grundlos gegen mich auflehnte. Mein Zorn führte nie zu den gewünschten Ergebnissen. Als Shigeki in die Oberstufe kam, hatte ich bereits resigniert, da die ganzen fruchtlosen Streitereien mich nur zermürbten. Seither war ich bei Shigeki innerlich auf eine Enttäuschung eingestellt. Das ging so weit, dass ich, wenn ich ihn fragte, ob wir zusammen Kaffee trinken wollten, und er ohne Zögern mit »Sicher, Papa« antwortete, überrascht war. Selbstverständlich war ich selbst dafür verantwortlich. Sowohl als Vater wie auch als Ehemann hatte ich versagt. Im Grunde in allem. Nicht, dass ich das in der Tat glaubte, aber es verschaffte mir eine gewisse Befriedigung, alles möglichst schwarz zu malen und dabei aus dem Fenster auf das nächtliche Panorama zu starren.
Kurz nach zehn am nächsten Morgen checkte ich aus. Nachdem ich bezahlte hatte und durch das Foyer zur Tür gehen wollte, sah ich, wie Mamiya das Hotel betrat. Es wäre zu auffällig gewesen, abrupt die Richtung zu ändern, also blieb ich unentschlossen stehen und beobachtete, wie Mamiya durch die automatische Drehtür ging. Ich hoffte, er würde mich nicht bemerken. Er schaute sich kurz um und wollte gerade in Richtung Coffee Shop gehen, als er mich entdeckte. Er sah mich mit einem äußerst überraschten Blick an. Ich lächelte und nickte ihm zu, freute mich sogar, ihn wieder zu sehen. Ayako hatte Recht. Wir sollten nicht zulassen, dass Privates die Beziehung zwischen uns zerstörte.
Mamiya starrte mich regungslos und mit leicht geöffnetem Mund von der Seite an, als hätte er eine unheimliche Begegnung. So schlimm ist es ja nun auch nicht, dachte ich, als ich auf ihn zuging. Schnell setzte er ein Lächeln auf. »Hallo«, begrüßte er mich. »Was führt dich denn so früh hierher?«, fragte ich. Für Leute vom Fernsehen ist zehn ziemlich früh. »Ich habe eine Verabredung.« Er blickte zum Coffee Shop hinüber, ein Mann winkte ihm zu. Auch ein Drehbuchautor, einer mit viel mehr Erfolg als ich. Mamiya winkte zurück, und ich verbeugte mich leicht in Richtung des erfolgreichen Drehbuchautors. Er bedeutete Mamiya mit einer Handbewegung, er solle sich ruhig Zeit lassen, und setzte sich wieder. Ich wusste nicht, worüber ich mit Mamiya sprechen sollte. Wäre die Begegnung nicht so überraschend gewesen, hätte ich sicher etwas zu sagen gehabt, aber so ohne Vorlauf wollte ich ihm eine erneute Zusammenarbeit nicht vorschlagen. »Was ist los mit dir?«, fragte Mamiya. »Nichts. Auch ich darf ja wohl einmal im Hotel übernachten.« »Nein, ich meine körperlich. Irgendwie siehst du auf einmal so…« »Körperlich?« »Es ist gar nicht so lange her, dass wir uns gesehen haben. Du hast ziemlich abgenommen, nicht wahr?« »Sieht das so aus?« »Vielleicht geht es mich ja nichts an, aber ich bin überrascht.« »Wirke ich irgendwie angegriffen?« »Nicht direkt, was ist denn mit dir?« »Ich bin ein bisschen überarbeitet.« »Das ist aber nicht gut.«
»Wenn man allein lebt, kann man sich schwer bremsen.« »Warst du beim Arzt?« »Nein. Ich habe keine Schmerzen.« Außerdem sehe ich im Spiegel nicht im Geringsten abgezehrt aus, fügte ich in Gedanken hinzu. »Du solltest aber gehen.« »Mach mir keine Angst.« »Du musst. Du hast einfach zu viel abgenommen, das ist nicht normal.« »Gut, ich gehe. Also dann.« Ich winkte und machte mich auf den Weg zum Ausgang. »Wohin willst du?« »Nach Hause.« Er wollte noch etwas sagen, aber ich kehrte ihm den Rücken zu und ging. Es war, wie ich es insgeheim befürchtet hatte. Die Zeit, die ich mit meinen Eltern verbrachte, laugte mich offenbar mehr und mehr aus. Ich lief zum Taxistand. Es wäre mir egal, wenn ich, ohne es zu merken, immer schwächer würde und eines Tages stürbe. Ein Mensch, der seine verstorbenen Eltern Wiedersehen durfte, konnte nicht viel mehr verlangen. Wie ein Märtyrer stand das Apartmenthaus mit geschlossenen Fenstern vom Verkehrslärm umtost in den Abgaswolken. Auch Keis Fenster war geschlossen. Es reflektierte die Mittagssonne und gab keinen Hinweis auf menschliches Leben. Ich entriegelte den Schließmechanismus, drückte die dicke Glastür auf und betrat die Lobby. In einer dämmrigen Ecke stapelten sich sieben oder acht Pappkartons gleicher Größe. Daneben stand ein hoch
gewachsener junger Mann, der vermutlich auf sie aufpasste. Er wirkte geistesabwesend und reagierte nicht auf meine Blicke. Die Aufzugtür stand offen, und ich ging hinein. Ich drückte den 7. Stock. Ehe sich die Tür schloss, sah ich noch einmal zu dem jungen Mann hinüber, der mich nun unerwartet intensiv ansah. Als sich unsere Blicke trafen, sah er sofort weg, dennoch hatte ich Neugier erkennen können. Bestimmt, weil ich so auffällig abgemagert war. Wieso war das für mich nicht erkennbar? Hatten meine Eltern das ausgeheckt? Der Aufzug hielt an. Wir waren bestimmt noch nicht im 7. Stock. Auf der Anzeige leuchtete die Ziffer 3 auf. Keis Stockwerk. Die Tür öffnete sich. Kei stand davor. »Oh«, sagte ich, »hast du frei?« Schweigend musterte sie mich. Sie trug ein weißes knöchellanges Kleid ohne Ärmel, ähnlich einem Neglige. Sie stieg nicht ein. Ich drückte weiter auf den »Öffnen«-Knopf und lächelte. »Was gibt’s?«, fragte ich. Ein mitleidiger Ausdruck huschte über Keis ernstes Gesicht. »Wo warst du?«, fragte sie, ohne sich zu rühren. »Ich habe im Hotel gearbeitet. Ich brauchte ein bisschen Abwechslung.« »Du lügst«, sagte sie leise, aber bestimmt und stieg in den Aufzug, ohne den Blick von mir zu lassen. Sie kam mir so nah, dass ich glaubte, sie wolle mich küssen. »Du lügst schon wieder.« Der Duft eines süßlichen Parfüms umgab mich. Die Tür ging zu. »Das ist das erste Mal«, sagte ich sanft, während ich ihren Blick erwiderte und sie in die Arme nahm. Keis Körper versteifte sich leicht. »Zum ersten Mal rieche ich Parfüm an dir.«
»Ich habe aus dem Fenster gesehen und gewartet. Die ganze Zeit. Nun bist du endlich zurück.« Sie sprach langsam, als würde sie aus einem Buch vorlesen. Sie schien verärgert. »Hast du Urlaub?« Ehe sie antworten konnte, öffnete sich die Aufzugstür. Sie betrat vor mir den Flur im 7. Stock. Ich holte den Schlüssel aus der Tasche. Sie bezog sehr aufrecht Stellung neben meiner Tür und beobachtete jede meiner Bewegungen. Ich schloss auf. »Ich gehe vor. Ich muss die Vorhänge öffnen und die Klimaanlage anmachen. Seit kurzem ist es sehr heiß jeden Tag, nicht wahr?« An Keis Gesicht konnte ich ablesen, dass ich wohl ziemlich elend aussah. Ich hatte mich jedoch nicht dementsprechend schwach zu geben. Absichtlich bemühte ich mich um einen unbekümmerten Tonfall, schaltete die Klimaanlage ein und zog die Vorhänge zurück. Die schwere Wohnungstür aus Stahl fiel mit einem metallischen Geräusch ins Schloss. »Es ist schon Mittag. Essen wir gekühlte Nudeln? Ich habe alles da, Schinken, Gurke und Eier.« Während ich auf einem Stuhl stand, um die Windrichtung der Klimaanlage zu ändern, glitt Kei leise zu mir herüber und legte ihre Arme um meine Hüften. »Warum musstest du wieder dorthin gehen? Warum hast du dein Versprechen gebrochen?«, fragte sie vorwurfsvoll. Ich suchte nach Worten, wand mich, aber es hatte keinen Sinn zu lügen. »Ich wollte Abschied nehmen. Ich kann die Sache nicht beenden, indem ich einfach nicht mehr auftauche.« »Und? Hast du dich von ihnen verabschiedet?«
Ich lächelte verlegen. »Lass mich erst einmal los. Ich will heruntersteigen.« Aber Kei ließ mich nicht los. »Hast du ihnen Lebwohl gesagt?« »Du bist ja wie meine Mutter.« »Lenk nicht ab. Hast du ihnen gesagt, dass du sie nie wieder besuchen kannst?« »Das konnte ich nicht.« »Wieso nicht?« »Mein Vater und meine Mutter haben nichts getan. Nichts, weshalb ihr Sohn ihnen sagen müsste, dass er sie nie Wiedersehen will.« Kei ließ mich los. »Komm herunter.« »Ich habe es einfach nicht über die Lippen gebracht.« Ich stieg vom Stuhl. »Komm«, sagte sie und starrte mir in die Augen. »Wohin?« Ungeduldig ergriff sie meine rechte Hand und zerrte mich, als ob sie an einem Seil zog, vor die Badezimmertür. Sie öffnete sie und schaltete das Licht ein. Wieder standen wir zusammen vor dem Spiegel. »Siehst du was?« »Natürlich.« »Und was siehst du?« Mein Spiegelbild sah vollkommen normal aus. »Ich sehe gesund aus. Meine Gesichtsfarbe ist gut.« Sie umarmte mich heftig und rief: »Man muss ihn retten! Bitte rette ihn!« Mich hatte sie nicht gemeint, als sie um Hilfe bat. Kei ersuchte jemanden um Hilfe. Sie hing keinem Glauben an, doch jemand sollte mich retten. Ich wusste nicht, wie ich auf diese ehrliche Sorge um mich reagieren sollte. Es
überraschte mich, dass es Menschen gab, die so für einen anderen beten konnten. »Bitte«, sagte sie am meinem Ohr. »Bitte. Bitte, hilf uns.« Weinend betete sie für mich. Plötzlich fühlte ich Keis Liebe. Ich schloss sie fest in meine Arme. »Ich danke dir«, sagte ich. Ohne zu antworten wiederholte Kei nur immer wieder: »Rette ihn! Oh, bitte, hilf ihm.« Sie klammerte sich an mich, als wolle sie mich nie wieder loslassen. Plötzlich überkam mich eine heftige Müdigkeit. Kei wurde mir zu schwer. Ich konnte nicht mehr stehen. »Entschuldige«, sagte ich und schwankte. »Ich bin auf einmal schrecklich müde.« Alle Kraft wich aus meinen Beinen, und ich konnte Kei nicht mehr halten. Dann brach ich auf dem Boden des Badezimmers zusammen. Das Atmen fiel mir schwer. »Was ist mit dir?« Kei kniete sich neben mich. »Ich weiß nicht. Irgendwie bin ich furchtbar erschöpft.« »Schau in den Spiegel.« Was redete sie da? Allein den Kopf zu heben war mir zu anstrengend. »Vielleicht siehst du es jetzt endlich selbst. Schau in den Spiegel.« Was sollte ich da sehen? Ich konnte kaum die Augen offen halten. Ich wollte nur noch liegen. »Schau in den Spiegel.« Kei stand auf und zog an meinem Arm. »Ich kann nicht.« »Schau in den Spiegel.« Mit größter Mühe hob ich den Kopf. Kei versuchte, mir aufzuhelfen, damit ich mein Gesicht im Spiegel sehen konnte.
Sie schob eine Hand unter meine rechte Achsel und zog mich mit aller Kraft nach oben. Schließlich erreichte ich die richtige Höhe, um mich im Nebel meiner überwältigenden Müdigkeit im Spiegel zu sehen. Ich sah einen alten Mann und begriff entsetzt, dass ich es war. Das bleiche Gespenst mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und den eingefallenen Wangen war ich. Ich stieß einen Schrei aus. Meine Stimme war so kraftlos, dass er sich anhörte wie ein dumpfer Seufzer. Auf allen vieren schleppte ich mich ins Wohnzimmer und brach dort zusammen. Kei legte sich schützend neben mich. Zitternd schloss ich die Augen. Das Grauen nagte an meinen Eingeweiden. Meine Vorstellung, ruhig sterben zu können, falls meine Eltern es wünschten, war verschwunden. »Namu Amidabutsu, Namu Amidabutsu, Namu Amidabutsu – gepriesen sei der AmidaBuddha«, betete ich in meinem Herzen voller Verzweiflung.
12
Nach etwa einer Stunde erholte ich mich von meinem Schwächeanfall. Ich spürte, wie die Lebensenergie bis in meine Finger- und Zehenspitzen zurückströmte, und fühlte mich kräftiger. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich gerade eben noch zu schwach gewesen war, um aufzustehen. Ich öffnete die Augen und betrachtete meine Hände. Vorhin waren sie mir weiß und fast fleischlos erschienen, nur aus Adern und Knochen bestehend, doch nun waren es wieder die vertrauten Hände. Solche Kraft durchströmte mich, dass ich nicht mehr still liegen konnte. Langsam richtete ich mich auf. »Was war denn mit dir?«, fragte Kei besorgt. »Merkwürdig. Jetzt fühle ich mich wieder ganz wohl. Sehe ich noch immer so schlecht aus?« Sie nickte. »Ich fühle mich gar nicht mehr schlecht. Im Moment könnte ich sogar im Zimmer herumspringen.« Ihre Augen füllten sich mit Furcht. Das war nur natürlich. Ein Mann, der nur noch ein geisterhafter Schatten seiner selbst war, wollte herumspringen. Es wies vielleicht darauf hin, dass ich einer Kraft aus dem Jenseits ausgeliefert war. Dem Jenseits, dem mein Vater und meine Mutter angehörten. »Kann ich irgendetwas für dich tun?« Flehend blickte Kei mich an. »Wenn ich dir nicht zu unheimlich bin, bleib bitte bei mir.« »Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen.«
»Entschuldige.« Sie hatte Recht. Es war gemein, das zu einer Frau zu sagen, die mich in ihre Arme nahm und für mich betete. Allein bei dem Gedanken, wie bleich und ausgezehrt ich im Spiegel aussah, war es mir unverständlich, wie sie bei einem solchen Mann bleiben konnte. Zudem war ich fünfzehn Jahre älter als sie. An ihrer Stelle wäre ich längst schreiend davongerannt. In einer langjährigen Beziehung war es vielleicht möglich, doch dass sie sich nach so kurzer Zeit auf diese Weise um mich kümmerte, brachte mich zur Einsicht. Ich hatte mich in meinen Mitmenschen getäuscht. Auch in den Frauen. »Danke«, sagte ich. Ich konnte sie dabei nicht ansehen. Ich hätte sie gerne angelächelt und in die Arme genommen. Wenn ich mich ihr mit meiner geisterhaften Fratze näherte, würde ich sie eventuell ängstigen. »Ich habe Hunger.« »Ich mache dir was.« Kei stand auf und ging in die Küche. Ich platzte fast vor Energie und hätte mich am liebsten selbst an den Herd gestellt, entschied mich aber, es ihr zu überlassen. Wir tranken nach dem Mittagessen Kaffee, es war bereits nach zwei Uhr. Unentwegt hatten wir uns über dieses und jenes unterhalten. Kei sagte, sie habe immer geglaubt, Drehbuchautoren hätten ein aufregenderes Leben. Solche Autoren gebe es durchaus, erklärte ich ihr, aber man müsse viel Zeit allein verbringen, um schreiben zu können. Der amerikanische Schriftsteller Paul Theroux machte sich in einer seiner Geschichten darüber lustig, wie fast lächerlich einsam die Schriftsteller in London waren, obwohl sie nach außen hin ein aufregendes gesellschaftliches Leben zu führen schienen. Ich konnte nichts Lächerliches an der Einsamkeit finden. Aber ich litt auch nicht darunter.
»Wirklich nicht?«, fragte Kei. »Natürlich freut es mich, dass du bei mir bist. Du bist mir eine große Stütze«, sagte ich. Das stimmte. Eventuell konnte ich die Einsamkeit doch nicht so gut ertragen. Vielleicht hatte ich mich nur von den Fesseln der Familie befreien wollen und spürte nun, als ich nach der Trennung tatsächlich allein war, die Einsamkeit umso mehr. Diese Einsamkeit hatte, ohne dass sie mir bewusst war, vermutlich die Begegnung mit meinen Eltern heraufbeschworen. Als wir darauf zu sprechen kamen, waren unsere Kaffeetassen leer. Kei verfiel in kurzes Schweigen. Auch ich schwieg. In Gedanken beschäftigte ich mich unentwegt mit meinen Eltern, auch wenn ich über anderes sprach. Bremsen quietschten auf der Straße unter uns. Es klang wie ein Schmerzensschrei. In Erwartung des Zusammenstoßes hob ich den Kopf. Kei blickte ebenfalls auf. Das Krachen blieb aus, und der Verkehr rauschte weiter. »Heute Abend…«, sagte ich. »Was?« »Werde ich noch einmal zu meinen Eltern gehen.« »Das wird dein Tod sein.« »Wenn ich hier bleibe, läuft es auf das Gleiche hinaus.« »Meinst du?« »Meine Hände, die in deinen Augen abgemagert sind, sehen für mich anders aus. Ich muss die Geschichte heute zum Abschluss bringen.« »Lass dir doch lieber Zeit. Vielleicht werden diese Kräfte schwächer, und alles geht einfach vorbei.« »Ich kann es nicht auf diese Weise enden lassen. Meine Eltern finden dann in der anderen Welt vielleicht keine Ruhe.
Der Gedanke lässt mich nicht los. Sie sind so gütige Menschen.« »Sie haben dich sehr geschwächt.« »Ich glaube nicht, dass das ihre Absicht war. Es ist der Umgang mit der anderen Welt, der mich auszehrt. Vermutlich wissen sie nicht einmal etwas von meinem Zustand. Wie ich können sie ihn nicht wahrnehmen. Ja, das wird es sein. Andernfalls würden sie sich große Sorgen um mich machen.« »Was für ein treuer Sohn.« Es war nicht als Lob gemeint, sondern ironisch. Eigentlich untypisch für Kei. »Es mag naiv sein«, fuhr ich fort. »Was?« »Mein Leben mit dir ist mir in der Zukunft sehr wichtig. Deshalb möchte ich jetzt alles klären.« »Wenn du stirbst, haben wir keine Zukunft.« »Was sollten wir tun? Die Polizei rufen können wir nicht.« »Wir könnten einen Tempel oder einen Geisterbeschwörer um Hilfe bitten.« »Ich will niemanden dafür bezahlen, dass er meine Eltern austreibt.« »Du bist zu arglos. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist nicht so einfach.« »Ich bin seit meinem zwölften Lebensjahr Waise und vielleicht deshalb zu unbedarft.« »Warte noch einen Tag. Ich frage jemanden um Rat.« »Wen denn?« »Irgendjemanden. Auch in einer Kirche könnte man fragen. Ich hole Hilfe.« »Ich weiß es genau.« »Was weißt du?« »Dass meine Eltern alles verstehen werden.«
»Das ist nur ein Gefühl. Willst du deshalb dein Leben aufs Spiel setzen?« »Es wird gut gehen. Ich komme ganz sicher heil zurück. Bis zehn oder elf bin ich wieder da.« Sie stand auf. »Bleib bitte bis vier Uhr hier.« »Nein.« »Dann bis halb vier.« Ihre Besorgnis schmeichelte mir. »Du bleibst bis halb vier, bitte, versprochen?« Kei rannte zur Tür. »Versprochen? Du musst unbedingt hier bleiben.« Die schwere Tür ging auf und fiel dann zu. Für Kei waren meine Eltern gefährliche böse Geister. Sie taten mir leid, weil Kei sie so verabscheute. Wenn ich sie nicht in Schutz nehme, sind sie verloren, dachte ich. Ich ging ans Fenster. Kei müsste bald unten zu sehen sein. Vielleicht war der Aufzug noch nicht gekommen? Oder ging die Aufzugstür erst in diesem Moment im 7. Stock auf? Jetzt stieg sie ein. Der Aufzug setzte sich nach unten in Bewegung. Schneller, als ich denken konnte, kam sie aus der Haustür. Ich sah sie in ihrem langen weißen Hauskleid und in den Sandalen zur Straße laufen. Ich prägte mir den Anblick ihrer zierlichen Schultern ein. Vielleicht sah ich sie zum letzten Mal. Langsam ging ich zur Tür.
13
»Wie schön, dass du uns schon heute wieder besuchst«, begrüßte mich mein Vater lächelnd. Er stand in der Küche, den Yukata hatte er abgestreift und wischte sich den Schweiß vom Oberkörper. »Du sollst doch nicht die Arbeit schwänzen wie dein Vater.« Meine Mutter war gerade dabei, den Wandschrank aufzuräumen. »Ich habe uns eine halbe Wassermelone mitgebracht.« Ich stellte die Plastiktüte mit der Melone auf dem Küchenboden ab und zog die Schuhe aus. »Ich habe extra eine genommen, die schon gekühlt ist.« »Dann können wir sie ja gleich essen.« Meine Mutter stand auf und kam in die Küche. »Ja, essen wir sie gleich«, pflichtete ihr mein Vater bei. Er ging in das Acht-Tatami-Zimmer und zog seinen Yukata wieder über. »Wassermelone ist jetzt genau das Richtige.« »Wirklich heiß heute. Da bekommt man fast einen Hitzeausschlag«, meinte Mutter und wusch sich die Hände. »Hideo, steh nicht rum. Zieh doch das Hemd aus«, rief mir mein Vater zu. »Wollen wir vielleicht heute mal auswärts essen? Wie wäre das?« Ich trat zu ihm hin. »Auswärts?« Meine Mutter wandte sich zu mir um. »Wir haben noch nie zusammen Sukiyaki im Restaurant gegessen, oder?« »Damals konnten wir uns so etwas nicht leisten.« Mein Vater stellte den Ventilator auf Schwenkmodus und schob ihn zurecht.
»Ich würde euch heute Abend gern einladen.« »Wollen wir nicht lieber zu Hause essen?« Die Stimme meiner Mutter klang angespannt. Mein Vater rührte sich nicht. »Wenn ihr lieber hier essen wollt…« Fast hätte ich mein Angebot zurückgenommen, aber mein Vater sagte: »Eigentlich nicht.« Meine Mutter wirkte noch immer unentschlossen. Ich hatte gedacht, ein Besuch eines Sukiyaki-Restaurants beim Kaminari-Tor würde kein Problem darstellen. Aber für meine Eltern schien es eine Hürde zu bedeuten, nach draußen zu gehen. »Nein, nein, war nur so eine Idee von mir.« Andererseits würde mir der Abschied in einem großen Sukiyaki-Restaurant, wo sich viele Gäste und Kellner befanden, leichter fallen als in ihrer Wohnung. Auf keinen Fall wollte ich meine Eltern zu etwas zwingen. »Eigentlich haben wir nicht die richtige Jahreszeit für Sukiyaki. Na ja, machen wir’s halt hier«, sagte mein Vater. »Ja, gute Idee! Ich habe mir eben gedacht, es wäre schön, wenn wir drei einmal gemütlich zusammensitzen könnten, vor uns den Sukiyaki-Topf.« »Ohne Klimaanlage ist es zu heiß für Sukiyaki«, sagte meine Mutter. »Schon gut. So wichtig ist es nicht.« »Steh nicht rum, willst du nicht lieber die Wassermelone aufteilen?«, sagte mein Vater ein wenig barsch zu meiner Mutter. Die harmonische Atmosphäre war gestört, und mir wurde klar, wie zerbrechlich unsere gemeinsame Welt war. Eigentlich hatte ich den beiden Schwerwiegendes mitzuteilen, brachte aber nur hervor: »Da möchte ich am liebsten gleich wieder zu euch kommen.« »Schön, komm so oft, wie du willst.«
»Natürlich…« »Wollen wir Karten spielen?« »Ja, können wir machen.« Ich hegte die unbestimmte Furcht, dass sich die Gestalten meiner Eltern zu etwas Seltsamem und Fürchterlichem wandeln würden, zu etwas, das mich verfolgte, sobald ich ihnen meine Absicht kundtat. Andererseits glaubte ich nicht, dass sie sich aus eigenem Antrieb gegen mich wenden würden, sondern zu ihrem eigenen Leidwesen dazu gezwungen sein könnten. Wir aßen die Wassermelone und spielten dann Karten. Meine Mutter vergaß ihre bedrückte Stimmung und spielte mit ihrem üblichen Geschick. Es wurde vier Uhr, dann fünf. Ich wollte aufhören, brachte es jedoch nicht fertig, davon zu sprechen, weil sie sich so gut amüsierten. Leise kam die Abenddämmerung. Panik ergriff mich. Ich musste unbedingt mit ihnen reden, bevor es dunkel wurde. Im Dunkeln würde mich vielleicht der Mut verlassen. Und ich konnte diesmal nicht nach Hause gehen, ohne es ihnen gesagt zu haben. »Machen wir Licht an? Wie spät ist es?«, fragte mein Vater und stand auf. »Kurz nach sechs«, antwortete meine Mutter. Sie schalteten das Licht ein, und das letzte Glühen der Abenddämmerung, das durch das Fenster geleuchtet hatte, verschwand. »Ach, ich muss ja noch einkaufen gehen.« »Zum Einkaufen ist es wohl zu spät. Du hast doch gestern erst eingekauft, oder?« »Das haben wir schon zu Mittag gegessen. Jetzt haben wir nur noch Natto – vergorene Sojabohnen.« »Das können wir Hideo nicht anbieten.«
»Vater, Mutter«, meldete ich mich zu Wort. »Was?«, fragte mein Vater. »Ich koche. Trinkt zuerst Bier. Das Essen ist gleich fertig«, sagte Mutter. »Ich habe euch etwas zu sagen.« »Du willst uns etwas sagen?« »Ich muss mich entschuldigen. Ist es euch recht?« »So recht auch wieder nicht. Was gibt’s denn?« Ich nahm eine respektvolle Haltung ein, senkte tief den Kopf. »Was ist los mit dir?«, fragte meine Mutter. »Ja, was denn?« Mein Vater setzte sich ebenfalls auf. »Heute ist das letzte Mal, dass ich euch besuche.« »Warum denn nur?«, riefen die beiden entsetzt, als hätte man ihnen sehr Trauriges und völlig Sinnloses mitgeteilt. Es war ganz offensichtlich, dass sie meinen schlechten körperlichen Zustand nicht wahrnahmen. »Es ist so schön bei euch, und ich bin so glücklich, dass ich euch Wiedersehen durfte. Wie gern würde ich weiter zu euch kommen, auch wenn das meinen Tod bedeuten würde…« »Deinen Tod?« »Was soll das heißen?« Ich erzählte ihnen, wie der Fernsehproduzent und Mamiya mich auf mein schlechtes Aussehen aufmerksam gemacht hatten. Auch dass ich dieses ausgezehrte Bild von mir im Spiegel gesehen hatte, verschwieg ich nicht. Nur die Beziehung zu Kei ließ ich aus und musste deshalb ein wenig schwindeln, hielt es jedoch so für besser. Ich fürchtete mich vor einem eventuell auch ungewollten Racheanschlag meiner Eltern aus der anderen Welt, der Kei gelten würde. Schließlich war es sie, die mich von meinen Eltern zu trennen versuchte. Vielleicht würde es zu guter Letzt nichts fruchten, Keis Existenz zu verschweigen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie sich täuschen ließen.
Als ich zu Ende erzählt hatte, verbeugte ich mich noch einmal tief und bat, beide Hände auf die Tatami gelegt, meine Eltern um Verzeihung. Beide schwiegen. Ein paar Karten lagen noch auf dem Kissen, das uns als Unterlage gedient hatte. Aus Angst, dass sie sich in Ungeheuer verwandelt hatten und im Begriff standen, mich anzufallen, konnte ich den Kopf nicht heben. Ich zitterte. Nichts geschah. »Verstehe«, sagte mein Vater milde. »Also doch.« Meine Mutter klang traurig. »Ich habe ja nicht geglaubt, dass es lange so weitergehen würde.« Noch immer wagte ich nicht aufzuschauen. Am liebsten wäre ich verschwunden. »Nicht zu ändern«, sagte mein Vater. »Du hast Recht«, pflichtete ihm meine Mutter bei. »Wenn unser Wiedersehen auch nur von kurzer Dauer war, sind wir doch sehr glücklich.« »Wollen wir gehen?«, sagte mein Vater. »Wohin?« Unwillkürlich hob ich den Kopf und sah ihn an. »Ins Restaurant. Wir essen im Sommer in einem klimatisierten Lokal viel, viel Sukiyaki. Was haltet ihr davon?« »Wäre das denn möglich?«, fragte ich. »Sicher«, sagte meine Mutter den Tränen nah. »Es ist doch unser Abschiedsessen.« In der schwindenden Abenddämmerung gingen wir drei den Bürgersteig in Richtung Kaminari-Tor entlang. Als wir die Internationale Straße überquerten, kamen wir an einem Lokal für Aal vorbei, vor dem die Leber auf kleinen Spießen gegrillt wurde. Mein Vater blieb stehen. »Ein Spieß für jeden von uns?«, fragte er.
Da erst merkte ich, dass wir unterwegs kein Wort miteinander geredet hatten. »O ja«, stimmte ich freudig zu. »Drei, bitte.« »Muss das sein, jetzt vor dem Sukiyaki?«, sagte Mutter in traurigem Ton. »Sei nicht so geizig«, meinte Vater. »Er muss Nahrhaftes essen, das weißt du doch.« »Es wird dir schmecken, Mutter.« Ich reichte ihr einen Spieß. »Danke.« Wir gingen weiter, bald geriet das Gespräch wieder ins Stocken. »Seht mal«, sagte mein Vater, wohl um uns aufzuheitern, und blieb stehen. »Was ist?« Auch ich bemühte mich, so gut es ging, ein fröhliches Gesicht zu machen. »War da nicht eben eine Ningyoyaki-Bude? Ich hole eine Tüte.« »Gute Idee. Ich hole sie. Geht ihr schon mal weiter, ich komme gleich nach.« Ich ging zurück an den Stand und kaufte eine Tüte voll kleiner Kuchen, die die Form des Kannon-Tempels oder der Sieben Glücksgötter hatten. Während ich auf das Wechselgeld wartete, sah ich mich nach den beiden um. Sie standen noch an derselben Stelle und warteten auf mich. Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, der unter Aufsicht seiner jungen Eltern etwas kaufte. Da wurde mir noch etwas klar. Der Abschied von mir bedeutete für sie auch den Abschied von Asakusa. Heute war wahrscheinlich ihr letzter Tag hier. Mein Vater wollte noch einmal in Erinnerungen schwelgen. Ich rannte zu ihnen zurück. »Vater«, rief ich. »Ein paar Kräcker aus der Straße mit den Sushi-Restaurants wären auch nicht schlecht, oder?«
»Sicher, sehr gut.« »Ich hole welche, wartet hier.« Leider waren die Reiskräcker in dem Geschäft in der Nähe des Kinoviertels schon ausverkauft. Schade, ausgerechnet jetzt. Meine Eltern boten einen etwas kläglichen Anblick zwischen all den Menschen. »Ausverkauft, so ein Pech«, jammerte ich, ein Mann in mittlerem Alter, wie ein Kind. »Macht nichts«, sagte mein Vater bemüht tapfer. Meine Mutter sah mich nur an. »Wollen wir zuerst ein wenig durch die Ladengasse vor dem Tempel schlendern? Dabei essen wir die Kekse, dann besuchen wir den Kannon-Tempel, und anschließend gehen wir ins Restaurant.« »Das wäre schön, aber es geht nicht.« Mein Vater schien es von ganzem Herzen zu bedauern. »Wir dürfen nicht.« »Ich würde sehr gern mit dir in den Tempel gehen, aber…« Meine Mutter schluchzte fast. Sie sah furchtbar niedergeschlagen aus, ein ganz anderer Mensch. Von der Frau, die gerade noch so vergnügt und gewitzt Karten gespielt hatte, war nichts mehr geblieben. Ich wollte ihnen schon versprechen, dass ich sie nie und nimmer verlassen und ganz sicher wiederkommen würde, schluckte die Worte jedoch hinunter. »Los, gehen wir ins Restaurant«, sagte mein Vater. »Essen wir reichlich Sukiyaki. Wir essen uns richtig satt.« »Nur herein!«, begrüßte uns der etwa siebzigjährige Mann, der am Eingang die Schuhe entgegennahm, mit rauer Stimme. »Wir sind zu dritt. Haben Sie noch einen Tisch frei?« »Tisch für drei Personen!«, rief er ins Innere. »Sofort!« Eine etwas rundliche, blasse Mittvierzigerin kam im Eilschritt aus dem Lokal. »Hier entlang bitte«, rief sie.
In einem großen mit Tatami ausgelegten Raum, der durch etwa einen Meter hohe Wandschirme in Abteile getrennt war, standen mehrere Tische, auf denen jeweils ein kleiner Gasherd installiert war. Es war noch viel frei, auf nur knapp der Hälfte der Tische dampfte eine Pfanne. Ich fand es gerade richtig so. Im Winter war es vielleicht gemütlich, wenn es voll war und so hoch herging, dass schon mal ein Wandschirm umkippte, weil ein betrunkener Gast dagegen stieß. Im Hochsommer dagegen wäre es selbst bei aufgedrehter Klimaanlage viel zu heiß. Meine Eltern nahmen am letzten Tisch an der Wand Platz, und ich ließ mich ihnen gegenüber nieder. Ich orderte umgehend Bier und das teuerste Menü für uns drei. »Wir können beliebig viel Fleisch und Gemüse nachbestellen«, sagte ich. »Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie etwas brauchen. Das Bier kommt sofort.« Auf der Stirn der Kellnerin standen Schweißperlen. »Musstest du das mit dem Nachbestellen sagen?«, sagte meine Mutter bedrückt. »Ach, lass doch«, wies mein Vater sie ungeduldig zurecht. »Ich kann aber nicht so viel essen.« »Das brauchst du auch nicht. Der Junge wird jedes Mal weniger, wenn er uns besucht. Man sieht es ihm nicht an, aber er ist erschöpft.« »Ich weiß.« »Dann halt den Mund. Er muss sich stärken.« »Nein, ihr sollt essen. Nicht ich.« »Halt keine Predigt. Hör zu, ich kann es nicht laut sagen, aber Fleisch zu essen bringt einem Toten überhaupt nichts. Die Ningyoyaki-Kekse sind völlig ausreichend für uns.« »Aber Sukiyaki schmeckt euch doch trotzdem, oder?«
»Sicher.« »Also dann esst, so viel ihr wollt.« »Du hast eigentlich Recht. Ohne dich könnten wir ja nicht essen gehen. Also, lassen wir es uns schmecken.« Die Kellnerin brachte das Bier. »Fräulein, was sind wir Ihrer Meinung nach?« »Natürlich ein Ehepaar, oder?« »Ganz recht. Die Dame neben mir ist meine Frau. Ich meine den da. Was meinen Sie, in welchem Verhältnis wir stehen?« »Ist er Ihr Stammkunde?« »Was für ein Stammkunde?« »Sie sind vielleicht Sushi-Koch und…« »Nicht schlecht.« »… heute lädt er Sie mal ein.« »Gut geraten!« Die Kellnerin lachte und ging. »Es gehört sich nicht, dass du in diesem Moment mit der Kellnerin flirtest.« Meine Mutter machte ein trauriges Gesicht. »Du bist komisch. Ich bemühe mich, irgendwie gute Stimmung zu machen, und du zerstörst sie wieder.« »Wie kannst du nur so vergnügt sein?« »Mutter, hör jetzt auf«, sagte ich. »Wir müssen nicht gezwungen lustig tun, aber ich kann Vater verstehen. Lasst uns in Ruhe zusammen trinken.« Ich schenkte den beiden Bier ein. »Wetten, dass niemand uns für Eltern und Sohn halten würde.« Mein Vater lächelte traurig. Nun goss er mir Bier ein. »Prosit« erschien mir unpassend, und auch jeder andere Trinkspruch hätte meine Mutter bestimmt nur zum Weinen gebracht. Stattdessen sagten wir nur »Also dann«, als wie
unsere Gläser erhoben. Die Kellnerin brachte die Pfanne, fettete sie ein und fing an, das Sukiyaki zuzubereiten. »Der da«, sprach mein Vater die Kellnerin an. »Wie reden Sie denn von Ihrem Gastgeber?« »Da haben Sie Recht.« »Macht nichts«, sagte ich, »ich habe nichts dagegen.« »Also, er hier hat mit zwölf seine Eltern verloren.« »Wirklich?« »Er hat es schwer gehabt. Und trotzdem ist etwas aus ihm geworden. Er war sehr tapfer.« Die Kellnerin musterte mich. »Haben Sie sich ganz alleine durchschlagen müssen?« »Nicht ganz allein. Ich hatte meinen Großvater und später haben sich mein Onkel und meine Tante um mich gekümmert.« »Trotzdem war er meistens allein. Er hat es ganz allein geschafft. Und nun lädt er uns zum Sukiyaki ein. Wir dürfen so viel Rindfleisch essen, wie wir wollen. Er hat Karriere gemacht.« »Sie haben ja schon einen Schwips«, ermahnte ihn die Kellnerin scherzhaft. »Sie können jetzt gehen«, sagte meine Mutter fröhlich zu ihr. Überrascht sah ich sie an. »Ich kümmere mich um das Sukiyaki. Wenn ich was brauche, sage ich Ihnen Bescheid.« Meine Mutter lächelte. »Oh, vielen Dank. Wie nett von Ihnen. Zwei von unseren jungen Kellnerinnen sind nämlich noch nicht aus ihrem ObonUrlaub zurück…«, antwortete die Kellnerin höflich, bedankte sich noch einmal bei meiner Mutter und verschwand. »Gib ihr was, wenn wir gehen«, sagte mein Vater und wies mit dem Kinn auf die Kellnerin. Er meinte ein Trinkgeld. »In Ordnung.«
»Heutzutage gibt man keine Trinkgelder mehr«, wandte Mutter ein. »Doch, doch. Ein Mann von Welt gibt immer Trinkgeld. Hundert Yen genügen. Ach nein, nicht hundert, sondern tausend. Tausend Yen? Unglaublich, in was für einer Zeit du da lebst, Hideo.« »Es ist vielleicht nicht erwähnenswert«, setzte meine Mutter an. »Alles ist erwähnenswert«, sagte mein Vater, während er die Zutaten in der Pfanne verteilte. »Sag frei heraus, was du sagen willst.« »Ich kann noch immer nicht fassen, dass du schon achtundvierzig bist.« Meine Mutter starrte mich an. »Ja, kaum zu glauben«, antwortete ich. »Ich dagegen bin glücklich, dass du so jung und hübsch bist.« »Redet man so mit seiner Mutter?«, sagte mein Vater etwas verlegen. Als ich in seinem Alter war, hätte ich mich bestimmt nicht so ausgedrückt. Aber nun mit achtundvierzig fand ich, dass solche Floskeln tatsächlich Gefühle übermittelten. »Du warst sehr tapfer. Die ganzen sechsunddreißig Jahre bist du ohne uns zurechtgekommen.« »Immerhin hatte er ja auch eine Frau«, sagte mein Vater. »Letzten Endes schlägt sich ein Kind doch irgendwie allein durch«, fuhr meine Mutter fort. »Was bleibt ihm übrig, wenn es seine Eltern verloren hat.« »Kannst du nicht mal den Mund halten, bitte.« »Wie redest du denn mit mir?« »Merkst du nicht, dass wir keine Zeit mehr für solche Scherze haben?« Mutters Stimme bebte. »Keine Zeit? Seid ihr in Eile?« Erschrocken ließ ich meinen Blick von einem zum anderen wandern. »Ja, deshalb habe ich die Kellnerin weggeschickt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Mein Vater sah aus, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. »Was soll das heißen?«, rief ich. »Ach, nichts.« Mit ernster Miene schüttelte mein Vater den Kopf. Das sah nicht gerade nach »nichts« aus. »Hör zu.« Meine Mutter setzte sich aufrecht hin. »Ich bin zu nervös, um die richtigen Worte zu finden, aber wir haben dich sehr lieb.« »Müsst ihr gehen?« Ich hatte es geahnt. »Es war schön, dich wieder zu sehen. Du bist ein guter Sohn«, sagte mein Vater. »Das stimmt«, pflichtete meine Mutter ihm bei. »Nein, ich bin kein so ein guter Mensch, wie ihr es euch vorstellt. Ich war weder ein guter Ehemann noch ein guter Vater. Ihr seid viel bessere Eltern. Ihr seid so warmherzig. Wäre ich nur auch so ein guter Vater. Jetzt spiele ich den fürsorglichen Sohn, aber wer weiß, ob ich mich um euch kümmern würde, wenn ihr noch am Leben wärt? Ich habe auch nichts Besonderes geleistet. Ich war nur von Ehrgeiz getrieben…« Mitten im Satz brach ich ab. Die Schultern meiner Mutter schienen sich aufzulösen. Ihre Umrisse waren noch vorhanden, aber ich konnte durch ihren Körper hindurch sehen. In Panik sah ich meinen Vater an und bemerkte, dass sein Oberkörper ebenfalls in Auflösung begriffen war. So also ging das vor sich. Auf diese Weise verließen sie mich. Vor Entsetzen wie gelähmt riss ich den Mund auf, ohne einen Ton herauszubringen. »Du brauchst nichts zu sagen«, sagte mein Vater. »Wir sind sehr stolz auf dich«, fügte meine Mutter hinzu. »Und quäle dich nicht ständig selbst. Wer soll dich lieben, wenn du dich selbst nicht liebst?«
»Bitte, geht nicht!«, jammerte ich wie ein Kleinkind. »Leider hängt die Entscheidung nicht von uns ab. Ich hatte gehofft, wir hätten ein bisschen mehr Zeit.« »Nein!«, klagte ich. »Pass gut auf dich auf.« »Wahrscheinlich werden wir uns nicht Wiedersehen.« Unaufhaltsam schwanden die Schultern meines Vaters, und auch die Züge meiner Mutter verschwammen immer mehr. Ich riss die Augen auf. Mein Vater war nahezu verschwunden. »Danke. Ich danke euch. Vielen Dank«, flüsterte ich. Hoffentlich würde mich in diesem Augenblick niemand stören. »Leb wohl.« Meine Mutter war kaum noch zu sehen. »Also dann.« Mein Vater war bereits völlig verschwunden. Meine Erschütterung war so groß, dass ich nicht einmal weinen konnte. »Lebt wohl«, sagte ich leise. Nur ihre Essstäbchen, Schüsseln, Biergläser, die Tüte mit den Ningyoyaki, die Flecken auf dem Tisch und ihre zerknitterten Sitzkissen waren geblieben. Meine Eltern waren spurlos verschwunden. Die Pfanne dampfte noch. »Ihr habt ja gar nichts gegessen. Keinen Bissen«, murmelte ich und fühlte mich unendlich müde. Ich war dermaßen erschöpft, dass ich am liebsten mit dem Kopf auf den Tisch gesunken wäre. Ich stützte beide Ellbogen auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Wussten sie denn, wo die Toilette ist?«, hörte ich die Stimme der Kellnerin sagen. »Sie sind schon gegangen.« Ich nahm die Hände von meinem Gesicht, hielt jedoch den Kopf weiter gesenkt. Gewiss sah ich fürchterlich aus. Ich wollte die Bedienung nicht erschrecken. »Ach, schon?«
Die Kellnerin konnte sich denken, dass etwas vorgefallen war. Kein Wunder, sie hatten ja kaum etwas gegessen. »Die Rechnung bitte.« »Wirklich?« »Ja, bitte.« »Entschuldigen Sie, sehr unaufmerksam von mir. Ich habe nicht mal bemerkt, dass die beiden gegangen sind. Einen Moment bitte. Soll ich das Gas abdrehen?« »Ja, bitte.« »War etwas nicht in Ordnung? Sie haben doch so fröhlich miteinander getrunken.« Ich konnte meinen Kummer nicht verbergen. Sie schaltete das Gas aus und ging die Rechnung holen. Zum Weinen blieb mir keine Zeit. Ich musste mir ein Erinnerungsstück an sie sichern. Ihre Essstäbchen! Mit größter Anstrengung griff ich nach den Stäbchen, die meine Eltern gerade noch benutzt hatten, und wickelte sie sorgsam und konzentriert in das Taschentuch, das ich aus meiner Hosentasche gezogen hatte. »Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat. Bitte sehr, Ihre Rechnung.« Es kostete mich unendliche Mühe, den Betrag zu lesen, meine Geldbörse hervorzuziehen und zu bezahlen. »Ist Ihnen schlecht?« Die Kellnerin klang besorgt. Sie hatte wohl mein eingefallenes Gesicht gesehen. »Hier, bitte.« Ich reichte ihr das Geld, und sie machte sich auf den Weg zur Kasse. Langsam stand ich auf. Nachdem ich vier oder fünf Schritte gegangen war, drehte ich mich noch einmal um. Die drei Plätze wirkten wie eine leere Hülle, einsam und verlassen. Ich überlegte, ob ich die Kekse mitnehmen sollte, aber ich hatte nicht mehr die Kraft, die Tüte zu holen.
Ich ging in den Flur und wartete, dass mir die Kellnerin das Wechselgeld brachte. Wie mein Vater es mir aufgetragen hatte, gab ich ihr tausend Yen und ein paar Münzen. »Der Gast von Tisch 23 bricht auf!«, rief sie dem Alten an der Schuhtheke zu. Ich hoffte, die Schuhe meiner Eltern würden noch dort sein, aber der Alte holte nur meine hervor, als wüsste er über alles bestens Bescheid. »Beehren Sie uns bald wieder.« Natürlich hatte er keine Ahnung von dem, was gerade geschehen war.
14
Aus der Dunkelheit wehte mir leichter Parfümduft entgegen, der sich mit dem Geruch eines Körpers mischte. Das Parfüm diente eventuell dazu, ihn zu verdecken. Die Tarnung sollte mich eigentlich täuschen, aber sie verlockte mich dazu, den Geruch zu identifizieren. Je wacher ich wurde, desto schwächer wurde der Parfümduft, desto stärker nahm ich den süßen Duft und die Wärme eines Frauenkörpers wahr. Als ich die Augen leicht öffnete, sah ich weiße Haut. Ich fühlte mich berauscht von der Vorstellung, von dieser weißen Haut umhüllt zu sein. »Wie geht es?«, fragte Keis Stimme. Es war also Kei. »Kei«, sagte ich. »Fühlst du dich besser?« Wie spät es wohl war? Ich hatte das Gefühl, sehr lange geschlafen zu haben. Als ich mit dem Taxi aus Asakusa kam, war Kei durch den Hausflur auf mich zugelaufen, um mich zu stützen. Ich schob sie beiseite, wollte allein gehen. Sie verdiente eine Erklärung, aber mir fehlte die Kraft zu sprechen. Es kam mir unpassend vor, nach dem Abschied von meinen Eltern zu meiner Geliebten zurückzukehren. Von Sexuellem wollte ich mich fernhalten. Kei konnte das natürlich nicht wissen. Ihr Blick verriet Kränkung ob der Zurückweisung. In einigem Abstand folgte sie mir in den Aufzug. Sie schien mich förmlich zu umzingeln, obwohl es sich bei ihr ja nur um eine Person handelte. Ich deutete dies als ihre Absicht, mich jederzeit halten zu können,
falls ich strauchelte. Ich hätte ihr dankbar sein müssen, verspürte jedoch Widerstand. Als ich im 7. Stock den Gang betrat und meine Beine nachgaben, stieß ich Keis helfende Hände zurück. Ich hätte das nicht tun sollen. Warum war ich so hartherzig zu ihr? Sie traf keine Schuld. Auch als ich in die Knie sank, weil ich den Schlüssel nicht ins Schlüsselloch stecken konnte, lehnte ich ihre Hilfe ab. Jetzt lag ich im Bett. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich hineingelangt war. Ob ich es geschafft hatte, die Tür zu öffnen, wusste ich nicht mehr. Ganz vage entsann ich mich, dass ich Kei nicht an mich heranlassen wollte. Doch das war Vergangenheit, denn nun schien es mir gar nichts mehr auszumachen, in ihren Armen zu liegen. »Wie fühlst du dich?«, fragte Kei noch einmal. »Mmm.« »Noch immer erschöpft?« Wie fühlte ich mich denn? Eigentlich normal. Keine Spur von Erschöpfung war zu spüren. Ich öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass ich nicht mehr müde sei, stattdessen drückte ich meine Lippen wie magisch angezogen auf die weiße Haut vor mir. Es war die Haut oberhalb der weißen Bandage um ihre Brüste. Ungeduldig versuchte ich, den Stoff zu entfernen, während ich meine Lippen über ihr Dekollete gleiten ließ. »Nein!«, rief Kei kurz. »Ich habe es dir bereits gesagt. Ganz gleich, wie deine Narbe aussieht, es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich.« »Lass das bitte.« Kei zitterte. Sie legte schützend die Arme vor die Brust und drehte sich rasch auf den Bauch. Ihre weißen Schultern wirkten verkrampft.
Es war doch in Ordnung. Warum glaubte sie mir nicht? Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. »Alles ist gut«, sagte ich. »Du sollst dich entspannen und wohl fühlen.« Ich streichelte ihre weiße Haut, küsste sie und fuhr mit der Zunge darüber. Ihr weißer, geschwungener Rücken war ebenfalls von der Bandage, die ihre Brüste schützte, bedeckt, aber ich versuchte nicht mehr, sie ihr mit Gewalt abzunehmen. Ich liebkoste sie, und als ich behutsam die um ihren Unterleib geschlungene Decke löste, rückte sie mit dem nackten Po schreckhaft zur Seite. Berauscht von seiner Schönheit, berührte ich ihn, streichelte und küsste ihn, bis ich in ihrem Fleisch zu versinken schien. Mitten in unserem Liebespiel keuchte Kei: »Es ist zu Ende, nicht wahr?« »Die beiden sind fort«, stieß ich keuchend hervor. Das Bedauern, das in meiner Stimme mitschwang, war nur schwach.
Es war nach drei Uhr am Nachmittag, und wir wollten essen gehen. Angesichts der großen Hitze und der Abgaswolken, die über dem Gehsteig lagen, bemühte ich mich, wie ich es mir schon angewöhnt hatte, weniger tief einzuatmen, was jedoch meiner guten Laune keinen Abbruch tat. Keis Laune war offenbar nicht so gut wie meine, und sie machte den ganzen Weg zum Restaurant, das etwa einen Kilometer weit entfernt lag, nörgelnde Anspielungen darauf, dass ich kein Auto hatte. »Ich habe es meinem Sohn geschenkt. Wenn ich mit dem Drehbuch, an dem ich gerade arbeite, fertig bin, könnte ich zum Beispiel einen Honda Accord kaufen.« »Ja bitte, kauf einen«, bettelte Kei. »Mache ich. Und umziehen werden wir auch.«
»Irgendwohin, wo es ruhig ist.« »Und in eine größere Wohnung!« »Abends soll es aber wieder nur unser beider Ort werden.« Als wir das spanische Restaurant endlich erreichten, stellte sich heraus, dass sie vor halb sechs nur Kaffee servierten. »Kuchen haben wir auch«, erklärte die Wirtin und lächelte. Mittlerweile fehlte es uns an Energie, den klimatisierten Raum zu verlassen und wieder in die Hitze hinauszugehen, um ein anderes Restaurant zu suchen. Also bestellten wir Kaffee und Kuchen. Außer uns war nur noch ein Paar im Lokal. Wir setzten uns möglichst weit von ihnen entfernt an einen Tisch. Durch die Scheiben wirkte die Straße, die in der sengenden Sonne lag, wie eine andere Welt. Es lief keine Musik, und es war sehr still. Träge durchquerte eine Katze das nachmittäglich ruhige Lokal. Meine Eltern würden das nie erleben können. Eine leichte Trauer bemächtigte sich meiner. »Das reicht dir bestimmt nicht, oder?« Kei kicherte. »Was reicht nicht?« »So ein Stück Kuchen. Schließlich hast du seit gestern Abend nichts gegessen.« »Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte ich, ohne zu lächeln. Keis arglose Fröhlichkeit ging mir auf die Nerven. Meine Eltern hatten sich gerade erst voller Liebe für mich geopfert! Allerdings hatte ich ihr auch nichts von den Ereignissen erzählt. Ich brauchte Zeit, um alles noch einmal genau zu durchdenken. Mithin konnte ich ihr ihre Freude über das Verschwinden der »bösen Geister« kaum vorwerfen. In Wirklichkeit war ich auch nicht ärgerlich auf Kei. Ich hatte nur Schuldgefühle, weil ich die Arme so gierig nach dem Glück
mit ihr ausstreckte. Weil ich meine Eltern verlassen hatte und am nächsten Tag einer schönen Frau in die Augen sah. »Ich muss dir etwas sagen«, fing ich an. Kei lächelte. »Du machst mir Angst.« »Ich habe schon eine gescheiterte Ehe hinter mir. Ich bin nicht einmal ein guter Vater und es wahrscheinlich nicht wert, von jemandem wie dir geliebt zu werden.« »Und weiter?« »Mach dir bitte keine Illusionen über mich.« »Was für welche denn?« »Keine Ahnung. Aber ich frage mich immer wieder, was du an mir findest. Ich glaube, du kennst mich einfach nicht.« »Jeder hat Illusionen.« »Ja, natürlich. In Wahrheit bin ich ein nutzloser Kerl. Das will ich dir nur gesagt haben.« »Ach, und nun willst du von mir hören, dass ich gerade das an dir liebe?« »Kann sein.« »Feigling. Wenn du dich für einen wertlosen Kerl hältst, versuch doch, mal weniger wertlos zu sein. Es wäre ziemlich egoistisch, einfach von mir zu verlangen, dich so zu akzeptieren, wie du bist.« Sie hatte natürlich Recht. Noch bei ihrem Verschwinden hatten meine Eltern mich akzeptiert, wie ich war, aber von einer Frau konnte man das nicht erwarten. »Wenn ich so etwas sage…« Kei lächelte ein bisschen. Kaffee und Kuchen wurden gebracht. Als Kei mit gesenktem Blick abwartete, bis die Wirtin gegangen war, fand ich sie sehr schön. »Wenn du so etwas formulierst?«, forderte ich sie zum Weiterreden auf. Sie nickte und fuhr fort. »Erweckt das vielleicht den Eindruck, ich sei gescheit, aber…«
»Aber das bist du doch. Du bist klug, hübsch und selbstbewusst.« »Vielleicht zeige ich mich dir auch nur von meiner besten Seite. Warum würde ich sonst meine Brüste vor dir verstecken?« »Ich bin nicht sonderlich bescheiden, aber selbst wenn ich alle meine positiven Seiten zusammenzählen würde, wäre ich nicht einmal halb so gut wie du.« »Ich habe sehr schlechte Seiten. Eine ganz üble Mischung.« »Ich auch.« »Manchmal hasse ich diese Seiten an mir so sehr, dass ich mich…«, sie zögerte, suchte nach Worten, »selbst auslöschen möchte.« Ihre Worte klangen so aufrichtig und echt, dass ich fürchtete, sie würde sich sofort in Luft auflösen, ohne dass ich sie daran hindern konnte. »So darfst du nicht sprechen«, sagte ich und wiederholte: »Sag so etwas nicht.« Kei nickte. Ihre Konturen waren noch deutlich zu erkennen. Ich starrte sie an und war glücklich und erleichtert, dass sie wirklich vor mir saß.
Auf dem Heimweg bat ich sie, mir doch einmal ihre Wohnung zu zeigen. »Ja«, antwortete sie spontan. Dann verstummte sie jedoch. »Ist es vielleicht nicht aufgeräumt?«, fragte ich schließlich. »Aber nein.« »Wenn es dir unangenehm ist, muss es nicht ja unbedingt heute sein.« »Wie kommst du darauf, dass es mir unangenehm sein könnte?« »Weil du so schweigsam bist.«
»Ich hab in Gedanken noch einmal alles inspiziert. Eine Wohnung verrät viel über seine Bewohner.« »Ich möchte dich verstehen.« »Ob das so gut ist? Wäre man nicht glücklicher, wenn man ein paar gegenseitige Missverständnisse zuließe?« »Ich warte hier im Flur, während du die Saat der Missverständnisse in deiner Wohnung säst.« »Nein, nein, kein Problem. Meistens räume ich für Besuch auf, aber heute habe ich Lust, alles so zu lassen.«
Ihr Apartment Nr. 305 lag neben einer großen VierzimmerEckwohnung am Ende des Flurs. Von außen hatte ich bereits gesehen, dass es sich um eine Einzimmerwohnung mit Küche und Essecke handelte. Dennoch konnte die Miete in dieser Gegend nicht ganz billig sein. Vielleicht unterstützten ihre Eltern sie ein wenig. Was sie wohl davon hielten, dass ihre Tochter mit dreiunddreißig noch nicht verheiratet war? Ob sie von ihren Verbrennungen wussten? Vermutlich. Andererseits hätte sie es sicher leicht vor ihnen verbergen können, wenn sie wollte, da ihre Eltern eine Stunde von Toyama entfernt auf dem Lande wohnten. Vielleicht hatte sie ihnen auch gar nichts davon erzählt, damit sie sich nicht einmischen konnten. Für mich spielte es ohnehin keine Rolle, ob sie es wussten oder nicht. »Bitte sehr.« Kei schloss die Tür auf. »Macht es dir wirklich nichts aus?« »Habe ich dir doch gesagt. Es wird ein bisschen dauern, bis es kühler ist, aber hier im Flur ist es genauso heiß.« Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das eine Zimmer Tatamiboden hatte. »Ich wusste gar nicht, dass es in diesem Haus Wohnungen mit Tatami gibt.«
»Meine ist die einzige, glaube ich. Früher sollen es mehrere gewesen sein.« »Die meisten werden ja auch als Büros benutzt.« »Sie renovieren die Wohnungen und vermieten sie dann als Büros.« »Ich hatte mir ein Bett so groß wie das halbe Zimmer vorgestellt.« »Hier ist die Essecke«, sagte sie und breitete die Arme vor der Küche aus, als ich gerade in das Tatamizimmer hineinspähen wollte. »Es ist sehr ordentlich bei dir.« Auf dem braunen Kunststoffboden stand ein kleiner weißer Tisch mit Resopalplatte. Die indigoblauen Kissen auf den beiden weißen Stühlen passten nicht so ganz dazu. »Hättest du gern einen eisgekühlten Gerstentee? Hier oder drüben?« »Wenn es dir nichts ausmacht, lieber im Tatamizimmer.« »Bitte.« Dort standen ein billiger weißer Kleiderschrank, eine Kommode und ein niedriges japanisches Esstischchen im Volkskunststil. Ich hatte mir die Wohnung anders vorgestellt, irgendwie mehr Keis Alter entsprechend. Die Einrichtung erschien mir nicht ganz stilsicher. Sie ist doch noch ein Mädchen, dachte ich gerührt. Vielleicht fällte ich auch ein vorschnelles Urteil. Wenn sie nicht so viel Geld hatte, konnte sie die Möbel, die sie mit zwanzig gekauft hatte, nicht einfach wegwerfen und neue Möbel kaufen, die dem Geschmack einer Dreißigjährigen entsprechen würden. Dass ihre Einrichtung eine Stilmischung zwischen dem Geschmack einer Zwanzig- und dem einer Dreißigjährigen war, ließ nicht den Schluss zu, dass sie noch den Charakter eines jungen Mädchens hatte.
Dann bemerkte ich zwei erstaunlich große Reproduktionen an der Wand. »Eigentlich wollte ich nicht, dass du die siehst.« Kei beobachtete mich, während sie in der Küche den Gerstentee einschenkte. Es klang allerdings nicht richtig verlegen, sondern eher vergnügt. Beide waren Nihonga – Gemälde im japanischen Stil. »Ich liebe die japanische Malerei. Die Impressionisten und die modernen Amerikaner sind neuerdings modern, aber mir sind Nihonga viel lieber.« »Sind sie von Maeda Seison?« »Du kennst ihn?« »Hier ist seine Signatur.« »Hast du die Bilder nur daran erkannt?« »Das hier habe ich schon einmal gesehen.« »Das Original ist so groß.« Sie breitete die Arme ganz aus und lächelte. Ein Krieger aus dem Altertum lag in einem steinernen Sarg. Dennoch vermittelte das Bild keinen düsteren Eindruck. Die Innenseite des Sarges war grell zinnoberrot gemalt, und auch das Gewand des Kriegers war sehr schön, was dem Bild eher etwas Prächtiges verlieh. »Und das andere?« »Auch von Maeda Seison.« »Was ist das?« »Das ist mir noch ein bisschen peinlicher.« Einige Männer in japanischen Gewändern, wahrscheinlich aus der Edo-Zeit, hatten sich um eine liegende, unbekleidete junge Frau versammelt. Die Rücken der Männer verdeckten den größten Teil von ihr, und nur ihre Brüste waren zu sehen. Ein Tablett mit zwei Bechern Gerstentee in der Hand, stand Kei neben mir. »Weißt du, was es darstellt?«
»Zwei von den Männern haben die Hände gefaltet, als würden sie beten.« »Es ist eine Autopsie.« »Ach, sie sezieren sie.« »Es gefällt mir, obwohl man sicher einiges dazu anmerken könnte.« Vielleicht sagte die Anordnung des Bildes – mehrere Männer gruppieren sich um eine nackte, liegende Frau – wirklich etwas über ihre sexuellen Neigungen aus. Andererseits war es gewiss kein Vergleich mit den obszönen Phantasien, die Männer manchmal haben. Bedeutsamer erschien mir, dass das Bild nur die Brüste zeigte, während Kei sie so konsequent verbarg. Das Bild war keineswegs obszön. Es war ein ästhetisches Bild, auf dem jede Einzelheit von Zurückhaltung und Spannung geprägt war. Eine weitere Interpretation ließ daran ablesen, dass es in beiden Gemälden um eine schöne Leiche ging. Allerdings bin ich kein Freund der Psychoanalyse. Als ich mich auf einem sommerlichen Sitzkissen mit hellblauem Blumenmuster vor dem Gerstentee niederließ, fühlte ich mich wieder einmal wie ein älterer Mann, der sich in das Leben einer jungen Frau drängt. Sie hatte auch eine kleine Stereoanlage. »Dann magst du sicher Nagauta – japanische Volksballaden?« Eine etwas dümmliche Verlegenheitsfrage. »Ich mag Puccini.« »Aha?« »Ich habe da ein Lieblingslied.« »Aus einer Oper?« »›Väterchen, teures, höre‹.« »Kenne ich nicht.« »Wir hören es uns mal an.« Kei erhob sich. In einem Ständer auf der Kommode befanden sich etwa dreißig CDs.
»Die Oper heißt ›Gianni Schicchi…‹. Die Oper als solche berührt mich kaum. Aber diese eine Arie liebe ich: ›Väterchen, teures, höre, er ist doch nur mein Schätzelein, ich geh zur Porta Rossa und kaufe dort ein Ringelein! Jawohl da will ich hingehen, und wollt Ihr ihn mir nicht geben, gehe ich zum Pontevecchio – und nehme mir das Leben.‹« »Spielt die Geschichte in Florenz?« »Richtig.« Die Arie war schön. Die Bilder auch. Aber man musste kein Kenner der Psychoanalyse sein, um eine gewisse Hinwendung zum Tod bei Kei festzustellen. Lag es an einem Hang zur Selbstzerstörung, dass sie sich zu einem älteren Mann wie mir hingezogen fühlte? »Väterchen, teures…« Kei warf sich in meine Arme. Wir küssten uns, sanken auf den Tatamiboden und vergaßen die Arie. In jener Nacht geschah es.
15
Ich musste mich an die zweite Folge der Fernsehserie machen. Da mir die erste so erstaunlich gut von der Hand gegangen war, würde mir die Ausarbeitung der zweiten sicher auch keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Ich aß noch bei Kei zu Abend – Mikrowellen-Pizza, Salat und eine Fertigsuppe. Wir beide waren wohlig erschöpft, doch ich ging dann nach Hause und fing gegen sieben Uhr mit der Arbeit an. Ich brachte keine einzige Zeile zu Papier. Rasch verstrich eine Stunde. Kei hatte mich abgelenkt, aber die Geschichte mit meinen Eltern schlug mich nun wieder mit aller Kraft in ihren Bann. Jede Szene, die ich mir für die Serie ausdachte, war farblos im Vergleich dazu. Es war mir unmöglich, meine Erlebnisse einfach beiseite zu schieben und eine triviale Episode über Männer und Frauen zu schreiben, die Billard und Tennis spielten. »Schöne Bescherung.« Ich konnte mir noch solche Mühe geben, es nützte nichts. Die Geschichte, die mir einmal so viel versprechend vorgekommen war, erschien mir nun banal und war es nicht wert, daran zu arbeiten. Auch die Charaktere waren für mich nicht mehr lebendig. Wenn das so blieb, würde ich nicht liefern können. Für einen gefragteren Autor vielleicht kein Problem, für mich würde es ein Existenz bedrohender Schlag sein.
Was sollte ich tun? Wenn ich Unterstützung brauchte, musste ich das so schnell wie möglich ankündigen. Welchen Grund sollte ich nennen? Die Geschichte mit meinen Eltern würde mir niemand glauben. Sollte ich eine Krankheit vortäuschen? Andererseits brauchte ich das Geld. Schließlich hatte ich Kei versprochen, ein Auto zu kaufen. Es läutete. Ohne Arbeit konnte ich nicht einmal diesen Lebensstandard aufrechterhalten, geschweige denn mir ein Auto oder eine neue Wohnung leisten. Es läutete wieder. Vielleicht war es mein Produzent. Er hatte sich wegen der ersten Folge noch nicht gemeldet. Oder hatte er mich nur nicht erreicht? Ich war ziemlich lange unterwegs gewesen und hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten. Ich drückte auf den Knopf der Sprechanlage. Es war Mamiya. »Kann ich mal kurz raufkommen?«, fragte er. Ich hatte keine Lust, mir etwas über seine Beziehung zu meiner Exfrau anzuhören. Ihn abzuweisen, täte mir jedoch auch nicht gut. Es würde mir sowieso keine Ruhe lassen. »Bitte«, sagte ich und ließ ihn ins Haus. Die Arbeit betraf einen anderen Sender, so konnte ich ihn schlecht um Unterstützung bitten. Gewiss kannte er aber den einen oder anderen begabten jungen Drehbuchautor, der meine Arbeit fortsetzen konnte. Ich nahm mir vor, mich beiläufig bei ihm zu erkundigen. Es klingelte erneut. Als ich öffnete, musterte er mich durchdringend. »Geht es dir gut?« Ach, es ging wieder darum. Ich musste lächeln. Er kam vorbei, weil er mich in dem Hotel in so schlechtem Zustand gesehen hatte und sich nun Sorgen machte. Das hatte sich bereits erledigt. »Wie du siehst.«
Wortlos betrat er die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. »Damals hatte ich ein Problem, das mich stark belastete. Es ist inzwischen gelöst. Jetzt geht es mir wieder gut. Erstaunlich, dass man von heute auf morgen abnimmt und dann wieder zunimmt, oder? Es besteht kein Grund zur Sorge mehr.« Mamiya starrte mich weiter an. »Du musst sehr viel abgenommen haben.« »Ich sage es dir doch, an dem Tag…« »Du siehst noch ausgemergelter aus als letztes Mal.« Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Ich verbarg meinen Schrecken und lächelte gezwungen. »Als letztes Mal?« Ich hob meine rechte Hand und musterte sie unauffällig von beiden Seiten. Sie wirkte normal, nicht knochig, und die Adern traten auch nicht hervor. »Bin ich wirklich so abgemagert?« Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. »Benutzt du nie den Spiegel?« »Ich habe mich nicht angeschaut, seit ich zu Hause bin. Ach doch, ich habe einen kurzen Blick in den Spiegel geworfen, als ich auf der Toilette war.« »Schau dich bitte genau an. Wie kann dir das nicht auffallen?« Kei hatte das Gleiche gesagt. Mamiya setzte sich mir gegenüber. Meine Eltern waren fort. Ob sie noch immer Macht über mich hatten? Ich betrachtete erneut meine Hände. Sie waren nicht mehr die eines jungen Mannes, aber auch nicht besonders mager. »Wie sehen denn meine Hände aus?« »Wie…?« Er zögerte. »Nur Haut und Knochen?«, fragte ich.
Mamiya nickte. Bedeutete das, dass meine Eltern mir eine Art Scheinvitalität gaben, um mich weiter meiner Lebensenergie zu berauben? Nein, bestimmt nicht meine Eltern. Aber vielleicht ließ das Etwas, das es meinen Eltern gestattet hatte, wieder für kurze Zeit in dieser Welt zu leben, mich nicht los? »Du hattest eine Frau bei dir, nicht wahr?« »Eine Frau?« »Gestern Abend war hier eine Frau.« »Du warst hier?« Gestern Abend war ich zusammengebrochen und nicht bei Bewusstsein gewesen. Aber Kei war wirklich bei mir gewesen. Falls Mamiya hier gewesen war, musste Kei ihm aufgemacht haben. Warum hatte sie mir nichts davon erzählt? »Du sahst so schlecht aus in dem Hotel, dass ich am Nachmittag nach dir sehen wollte. Du warst nicht da.« Vermutlich war ich zu dem Zeitpunkt in Asakusa gewesen. »Anschließend hatte ich noch etwas zu erledigen, da machte ich mir plötzlich Sorgen um dich. Vielleicht warst du gar nicht fort, dachte ich, sondern liegst im Bett und kannst nicht aufstehen. Also kam ich gegen neun Uhr abends ein zweites Mal vorbei. Ich sah Licht und klingelte. Niemand öffnete. Da gerade jemand aus dem Haus ging, schlüpfte ich hinein, fuhr mit dem Aufzug hoch und klingelte an deiner Wohnungstür. Wieder keine Antwort. Ich bekam Angst, hämmerte an die Tür und rief deinen Namen. Diese Frau machte auf und sagte, du schliefst.« Geschlafen hatte ich wohl wirklich. »Als ich ihr sagte, dass du in dem Hotel so schlecht ausgesehen habest, und sie nach deinem Befinden fragte, antwortete sie, du würdest nur sehr erschöpft sein. Es bestünde kein Grund zur Sorge. Dann schloss sie die Tür.«
Es ärgerte mich, dass er von Kei nur als »der Frau« sprach. Er hätte zumindest »die Dame« sagen können. Vielleicht war sie ihm unsympathisch, weil sie die Tür geschlossen hatte, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. »Ich wollte schon gehen, hatte aber noch immer das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sicher ist es ganz normal, dass du eine Freundin hast. Aber irgendeine Sache war ungewöhnlich. Im Aufzug fiel mir dann ein, dass ich durch den Türspalt in die Wohnung hatte blicken können. Obwohl die Frau davor stand. Eigentlich hätte mir die Sicht versperrt sein müssen. Ich erinnerte mich genau, dass ich in die Wohnung sehen konnte, durch den Körper der Frau.« Ich verzog keine Miene. Zorn kochte in mir hoch. Nicht auf Mamiya und auch nicht auf Kei, sondern auf das Etwas, das meine Eltern immer schwächer hatte werden lassen, bis sie erloschen. Was würde es Kei antun? »Aber«, fuhr er fort, »das kann es nicht geben. Es muss eine Sinnestäuschung gewesen sein. Mir war unwohl bei dem Gedanken, dich in der Obhut einer Frau zu lassen, die behauptet, alles sei in Ordnung, obwohl du furchtbar verfallen aussahst. Ich traute ihr nicht und kam deshalb heute kurz nach Mittag noch einmal vorbei.« Obwohl ich wusste, dass Mamiya mir gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte – oder nein, vielleicht gerade deshalb –, hatte ich nicht erwartet, dass er sich so um mich kümmern würde. »Als ich aus dem Taxi stieg, kamst du gerade mit der Frau aus dem Haus. In dem Moment zögerte ich, dich anzusprechen, nicht weil du mit der Frau zusammen warst, sondern weil du mir wie ein anderer Mensch vorkamst. Du sahst völlig gesund aus, wirktest sogar fülliger. Wie ist es möglich, dass ein tags zuvor noch dermaßen ausgemergelter Mann sich über Nacht so erholt? Ich war sprachlos. Auf einmal sah ich, wie ein Mann,
der die Hecke neben dem Eingang gestutzt hatte, sich aufrichtete. Ich fragte ihn spontan: ›Das ist doch Herr Harada, oder?‹ Er machte nicht den Eindruck eines Gärtners, der nur zufällig an dem Tag dort arbeitete, sondern schien der Hausmeister zu sein. Außerdem starrte er dir ebenfalls nach. ›Ja, das ist er‹, antwortete er. ›Es ist direkt unheimlich.‹ Ich fragte ihn, wieso. Weil die Frau der Mieterin aus der Wohnung 305 so ähnlich sei.« Warum auch nicht, dachte ich, Kei wohnt tatsächlich in Nummer 305. »Ich fragte ihn, ob sie ausgezogen sei. Im Grunde ist ja nichts Unheimliches dabei, mit einer ehemaligen Nachbarin zusammen zu sein. Aber dann sagte er…« Mamiya holte tief Luft, wie um die Spannung zu steigern. »… sie habe Mitte Juli Selbstmord begangen.« So ein Unsinn. Der Hausmeister musste sich irren. Kei lebte seit Jahren in 305, war demnach die einzige Frau, die in 305 hätte Selbstmord begehen können. Mamiya schien meine Reaktionen genau zu beobachten. Ich verzog keine Miene. Mehr als vor ihm, wollte ich die Wirkung seiner Geschichte auf mich vor mir selbst verbergen. Auf so einen Unsinn wollte ich nicht reagieren. »Zu dem Zeitpunkt habe ich mir bei dem, was der Hausmeister sagte, nichts gedacht«, fuhr Mamiya fort. »Es gibt viele Frauen, die einander ähnlich sehen. Mir ging es nur darum, dich persönlich zu sprechen. Vielleicht war meine Sorge unbegründet. Es kam mir merkwürdig vor, dass du an dem einen Tag so schlecht aussahst und dich am nächsten so gut erholt hattest. Das war mir irgendwie unheimlich. Also wartete ich im Hausflur. Ihr wart sicher nicht weit fort gewesen, denn ihr hattet nichts dabeigehabt. Natürlich wusste ich nicht, wann ihr zurück sein würdet. Vielleicht machte ich mir auch überflüssige Gedanken. Der Hausmeister lud mich in
sein Büro ein und erzählte mir mehr von der Selbstmörderin. Sie soll sich mit einem Messer sieben Mal in die Brust gestochen haben. Zumindest laut Polizeibericht. Man benachrichtigte ihre Familie, die alles korrekt und ohne großes Aufsehen abwickelte. Der Hausmeister versicherte mir, er habe mit niemandem darüber gesprochen. Da die Frau von vorhin ihn so sehr an die aus 305 erinnert habe, sei ihm seine Bemerkung spontan herausgerutscht. Die Wohnung sei renoviert worden und jetzt an eine Firma für Vollwertkost vermietet.« Und was hat das mit Kei zu tun?, trotzte ich Mamiya schweigend. »Auf einmal gab der Hausmeister mir einen Wink. Durch das kleine Portierfenster beobachtete ich, wie ihr gerade in den Aufzug stiegt. Ich eilte hinaus und sah, dass der Aufzug im 3. Stock anhielt. Ich rannte die Treppe hinauf, spähte vorsichtig in den Gang. Die Frau schloss die Tür auf, ihr gingt in die Wohnung. Der Hausmeister flüsterte mir von hinten ins Ohr, dass es die Wohnung Nr. 305 sei und die Frau der Selbstmörderin beängstigend ähnlich sehe. Ich fand, auch am helllichten Tag sollte ich dich dort nicht alleine lassen. Also ging ich geradewegs auf die Tür zu, klingelte und klopfte. Der Hausmeister immer hinter mir. Sofort öffnete ein junger Mann. Ich sagte, ich wolle den Herrn sprechen, der gerade gekommen sei. Es sei niemand gekommen, antwortete er. ›Falsch, natürlich ist einer zu Ihnen hineingegangen‹, kam mir der Hausmeister zu Hilfe. ›Dann treten Sie ein und sehen selbst nach.‹ Der junge Mann ließ uns hinein. Das Büro war so winzig, dass uns schnell klar war, dort konntest du nicht sein. Zur Sicherheit schauten wir in der Toilette und im Bad nach, aber weder von dir noch von der Frau war etwas zu sehen.« Nachdem Mamiya seinen atemlosen Bericht beendet hatte, sah er mir fest in die Augen. »Wo warst du?«
»Die Frau«, erwiderte ich. »Warum hat sie Selbstmord begangen?« »Sie soll schreckliche Verbrennungen auf der Brust gehabt haben. Die kosmetischen Eingriffe, die sie vornehmen ließ, waren wohl nicht sehr erfolgreich. Sie hatte kaum Kontakt zu anderen Menschen. Wahrscheinlich konnte sie ihre Einsamkeit nicht mehr ertragen.« Ich schloss die Augen. »Sie hieß Katsura Fujino. In den Mietvertrag schrieb sie aber Kei. Ich habe mir vom Hausmeister den Schlüssel geben lassen. Wollen wir mal nachschauen, ob 305 die Wohnung ist, in der du heute Nachmittag gewesen bist?« »Nicht nötig.« »Ich finde, du solltest sie sehen, damit du die Kraft hast, dich zu wehren.« Gegen wen? Gegen Kei? »Ich weiß nicht, ob das etwas bringt.« Mamiya zog zwei Gebetsketten aus einer Tasche des Sakkos, das er über dem Arm trug. »Eine ist für dich.« »Vergiss es.« »Nein, das geht nicht. Bitte, steh auf.« »Es ist schon peinlich genug, getäuscht worden zu sein. Jetzt zwingst du mich, mir Gewissheit zu verschaffen.« »Du machst es dir zu einfach. Das passt gar nicht zu dir. Dann sag wenigstens, dass ich spinne und mir etwas zurechtfabuliere? Ist doch alles Unsinn, oder?« Mamiya wusste nichts vom Erscheinen meiner Eltern. So war es verständlich, dass ihn die Bereitwilligkeit überraschte, mit der ich ihm die Spukgeschichte abnahm. Ich hatte bereits resigniert. Eben noch hatte ich mir ein Leben an Keis Seite ausgemalt. Nun war mir klar, dass alles vorbei war. Was immer ich tat, es würde nichts mehr nützen.
»Also gut«, sagte Mamiya. »Wir müssen hier weg. So schnell wie es geht. Wenn du willst, kannst du heute bei mir übernachten. Ich kann dir auch ein Hotelzimmer besorgen, wenn dir das lieber ist.« Ich starrte auf meine Hände. Wahrscheinlich war ich noch immer außerstande, ihren realen Zustand zu erkennen. Ich sah nur die altvertrauten Hände, die angeblich bis auf die Knochen abgemagert waren. Offenbar stand ich im Bann von Keis Kräften. Ob sie wusste, dass sie entlarvt war? Könnte ich ihr nur Lebewohl sagen! Sie hatte Recht gehabt: Es wäre besser gewesen, die Illusion aufrechtzuerhalten. Um wie viel glücklicher wäre ich, wenn ich sie weiter für einen lebenden Menschen halten und lieben könnte. »Gehen wir. Dann können wir immer noch überlegen, was zu tun ist.« Ich nickte und stand auf. Solange Mamiya bei mir war, würde Kei auf keinen Fall erscheinen. Abschütteln konnte ihn nicht so ohne weiteres. Dazu rührte mich seine Fürsorge zu sehr. »Ich muss noch die Klimaanlage ausmachen«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen. »Das übernehme ich schon.« Ich hatte gehofft, Mamiya würde sich nicht gleich zurechtfinden, aber blitzschnell schaltete er die Anlage aus, stand im selben Moment an der Tür und wartete auf mich. Ich nahm mein Portemonnaie aus der Schublade, steckte es in die Gesäßtasche und fing an, mir die Schuhe anzuziehen. Da spürte ich, dass Mamiya, der bereits draußen war, zusammenzuckte. Er hielt die Tür offen und starrte in Richtung des Aufzugs. Erschrocken und bewegungslos stand er da. Kei. Es musste Kei sein. »Komm nicht raus«, flüsterte er mir zu.
Ohne ihn zu beachten, trat ich in den Hausflur. Sie stand etwa zehn Meter von mir entfernt vor dem Aufzug und blickte in unsere Richtung. Sie trug das negligeartige bodenlange weiße Gewand ohne Ärmel. »Kei!« »Sprich sie nicht an, Harada«, zischte Mamiya, vermutlich ohne besonderen Grund. Vielleicht war ihm die Überlieferung in den Sinn gekommen, dass man mit Toten nicht reden soll. Kei schaute mich an. Ihr Blick war ernst. Mamiya warnte mich erneut, sie anzusprechen. Kei, die mir gerade so nah gewesen war, hatte sich nun, da ich wusste, dass sie tot war, in ein feindliches Wesen verwandelt. Aber als ich sie so sah, war mir dieser Gedanke zuwider. Was wäre mein Leben noch wert, wenn ich diese Frau meiden und vertreiben würde, die Frau, die ihre Arme um meinen Hals gelegt und für mich gebetet hatte? »Kei, ich habe alles erfahren«, sagte ich. »Geh fort!« Mamiya hob die gefalteten Hände mit der Gebetskette und schleuderte ihr die buddhistische Formel »Namu myoho renge-kyo – gepriesen sei der Lotos des guten Gesetzes« entgegen. In der Hoffnung, die Formel ihrer Wirkung zu berauben, bevor sie Kei erreichte, schrie ich: »Kei, wir bleiben zusammen. Auch wenn du ein Geist bist, wir bleiben zusammen!« »Was redest du da?«, fuhr Mamiya mich an und reckte seine Gebetskette hoch. Kei machte einen Schritt auf uns zu. Hastig trat Mamiya zurück und rief abermals: »Namu myoho renge-kyo!« Kei tat noch einen Schritt. »Welcher Religion gehört sie an, Harada?«, fragte Mamiya. »Ich glaube, sie hat keine religiöse Überzeugung.«
»Aber ihre Familie, oder?« »Keine Ahnung.« »Verdammt! Tu nicht so gelassen, als ginge dich das alles nichts an.« Ich fixierte Kei, sie starrte zurück. Den Blick auf mich geheftet, kam sie Schritt für Schritt auf mich zu. »Sie kommt, sie kommt immer näher«, schrie Mamiya am ganzen Körper zitternd. »Aus dem Weg, Mamiya«, sagte ich, während ich Kei weiter im Auge behielt. »Wie denn? Ich stehe doch schon an der Wand.« Tatsächlich saßen wir am Ende des Flurs vom 7. Stock in der Falle. »Keine Angst, Mamiya, sie tut dir nichts.« Kei kam immer näher. Natürlich würde sie keinem etwas tun. Sie rückte noch näher. Fünf Schritte, und sie würde direkt vor mir stehen. Gab es denn gar keinen Ausweg? Keine Möglichkeit für uns zusammenzuleben? Ich rührte mich nicht. Wieso nicht? Wieso stand ich wie angewurzelt da? Warum ging ich nicht zu ihr und nahm sie in die Arme? Kei war nun ganz nah. Stand direkt vor mir. »Kei…«, sagte ich. Ihre Augen waren kalt. Die ganze Zeit hatte ich nach einem Ausdruck in ihnen gesucht, aber selbst jetzt, wo sie unmittelbar vor mir stand, war nichts mehr von der früheren Wärme in ihnen. Sie fixierte mich mit ihrem eisigen, starren Blick. Kei bewegte den Mund, als wolle sie etwas sagen. Ihre bleichen Lippen öffneten sich. »Erinnerst du dich?«, fragte sie mit tiefer, vorwurfsvoller Stimme.
»Woran?« Meine Stimme zitterte vor Furcht, da die ihre so männlich war. »An die Nacht mit dem Champagner.« »…Ja.« Damals hatte ich sie kühl zurückgewiesen, weil ich selbst am Boden zerstört und außerstande gewesen war, mich eines anderen Menschen anzunehmen. Allerdings hatte ich meine Kälte unverzüglich bereut. Auch wenn ich einen Selbstmord nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte, war ich doch beunruhigt gewesen und hatte spät nachts im Regen zu ihrem Fenster hinaufgeschaut. Sie hatte sich also in jener Nacht erstochen. »Ich nehme dich mit mir.« Kei kam noch näher. Instinktiv wich ich zurück. Wieder machte sie eine Bewegung auf mich zu. Ich versuchte, die Stellung zu halten, aber der Hass in ihren Augen zwang mich, weiter zurückzuweichen. Es fühlte sich an, als würde ich physisch gestoßen. Demnach hatte sie alles nur gespielt? Um mich mit sich in den Tod zu reißen? Hinter der liebevollen Fassade hatte sie ihren Hass verborgen? Also hatte sie auch nicht aus Liebe für mich gebetet? Mich angefleht, von meinen Eltern Abschied zu nehmen, weil ich sterben würde? Hohn lag in ihrem Blick, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Wie naiv du doch bist«, sagte sie. Doch im Grunde war ihre Rache fehlgeleitet. Es war absurd, einen fremden Mann mit sich in den Tod zu reißen, weil er ihre Einladung zu einem Glas Sekt ausgeschlagen hatte. Auch wenn so etwas im Leben öfters geschieht. Ich spürte die Wand im Rücken. Weiter zurückweichen konnte ich nicht mehr.
»Du darfst leben«, sagten Keis Augen. Die Worte kamen aus ihren Lippen, doch weil sie so dicht vor mir stand, konnte ich sie nur in ihren Augen lesen. »Behalte dein kümmerliches Leben.« Sie würde mich nicht mit sich reißen? »Ich würde schon«, verrieten ihre Augen. »Aber ich kann es leider nicht. Dein Herz gehörte mir bereits nicht mehr. Obwohl du all die schönen Worte vom Zusammenleben gesprochen hast, hast du dich entfernt.« Es war mir nicht bewusst gewesen, doch nun, wo sie es sagte, kam es mir nicht unwahrscheinlich vor. Jetzt begriff ich. Wenn ich nicht aus ganzem Herzen an ihr hing, hatte sie keine Macht über mich. Die Gesetze jener anderen Welt waren mir unbekannt. »Ich werde gehen, ohne dich zu töten, aber eins sage ich dir: Du brauchst nicht zu glauben, dass ich dich auch nur im Geringsten liebe.« Mir wurde schwindlig. Jäh entfernte Kei sich in einem großen Schwung, als würde sie über Eis gleiten. Sie hatte sich in kleinen Schritten genähert, doch nun war sie mit einem Schlag vier Meter weit fort. Sie war auf dem Rückweg in die andere Welt. Auf der Brust ihres weißen Kleides war etwas zu erkennen. Ein schwarzer Fleck erschien. Nein, er war nicht schwarz, sondern rot. Der rote Fleck breitete sich rasch auf dem weißen Kleid aus. Es war frisches Blut. Aus ihrer Brust, die sie mir nie hatte zeigen wollen, quoll wie bei einem lebenden Wesen frisches rotes Blut hervor. Im Rhythmus eines Herzens pulsierend, strömte es in mehreren schmalen Bahnen bis an den Saum ihres langen Kleides hinunter. Ich sah Kei in die Augen.
Sie rührte sich nicht, stand still, als erdulde sie diesen Blutstrom. Ihre Konturen verschwammen. Wie bei meinen Eltern ging nun alles sehr schnell. Sie wurde zusehends durchsichtiger, und ehe ich mich versah, war von ihrer Gestalt nur noch ein Abglanz aus warmer Luft vorhanden, der sich sogleich auflöste und verschwand. Zurück blieb der halbdunkle Flur des 7. Stockwerks. Kein Tropfen Blut war zu sehen. Mamiya atmete geräuschvoll aus. Ich konnte mich nicht rühren. Trotz des Hasses in ihren letzten Worten glaubte ich, eine gewisse Traurigkeit, ja echten Abschiedsschmerz in ihren Augen gelesen zu haben, ehe sie völlig verschwand. Ich lastete es schließlich meiner Sentimentalität an.
16
Die nächsten 22 Tage verbrachte ich in der Staatlichen Klinik in Komazawa. Mein Verfall war gravierend, das Haar nahezu ergraut, die Sehkraft angegriffen. Man verabreichte mir täglich Infusionen. Langsam erholte ich mich, aber ganz erreichte ich meine alte Form nicht. Als ich fünf Tage vor der Entlassung probeweise meine Sachen anzog, stellte ich fest, dass ich den Gürtel um zwei Löcher enger schnallen konnte. Mein Gesicht war ohne Glanz und blass. Immerhin sähe ich so durchgeistigter und vornehmer aus, trösteten mich einige Freunde. An ein Drehbuch war jedenfalls nicht zu denken. Als der Produzent mich in meinem halbtoten Zustand sah, verzichtete er auf eine Entschädigung und beauftragte anstandslos einen Autor Mitte dreißig, die Drehbücher ab der zweiten Folge zu übernehmen. »Er ist noch jung und hat deshalb einen Draht zu dem, was lifestyle-mäßig aktuell ist«, sagte der Regisseur boshaft, als er mich besuchen kam. »Der Stoff ist wie für ihn gemacht. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen.« Ich nahm sein Gerede klaglos hin. Schließlich hatte ich ihm einige Probleme bereitet. Mitte September wurde ich aus der Klinik entlassen und zog in eine Wohnung in Kyodo, die Mamiya mir besorgt hatte. Sie war etwas größer bei nahezu gleicher Miete. Mamiya, Ayako und mein Sohn erledigten den Umzug für mich. Am Abend meiner Entlassung rief ich meine Exfrau an, um ihr zu danken. Bei Shigeki wollte ich mich auch bedanken.
»Ja, tu das«, sagte Ayako. »Er hat wirklich viel gemacht.« Als ich hörte, wie sie nach Shigeki rief, sah ich das Haus vor mir, in dem ich so lange mit ihnen gelebt hatte. »Wie geht’s dir?«, hörte ich plötzlich Shigekis Stimme. »Gut«, erwiderte ich. »Prima.« »Du hattest viel Arbeit mit dem Umzug, stimmt’s?« »Nicht besonders«, sagte er knapp. Seine Ausdrucksweise hatte sich nicht verändert, aber ich hatte nicht mehr so den Eindruck wie früher, dass er unser Gespräch möglichst schnell beenden wollte. Vielleicht entspannte sich unser Verhältnis, jetzt wo wir nicht mehr unter einem Dach lebten. Dementsprechend ermutigt fragte ich ihn, ob wir vielleicht einmal abends zusammen essen gehen könnten. Es entstand eine kurze Pause. »Sicher, irgendwann«, antwortete er. Was sollte ich machen? So war es eben.
Zwei Tage später machte ich mich mit Mamiya auf den Weg nach Asakusa. Er wirkte ein wenig besorgt wegen meines geschwächten Zustands. Doch ich hatte mit der Sache bereits im Krankenhaus emotional abgeschlossen. Meine Eltern und Kei würden nicht mehr erscheinen. Als wir in Tawara-machi aus der U-Bahn stiegen und die Internationale Straße entlanggingen, wurde mir bewusst, dass der Sommer endgültig vorbei war. Es stimmte mich ein wenig traurig. Auch in den Abgaswolken, die den Gehweg einhüllten, war die herbstliche Stimmung zu spüren. Sogar die Passanten bewegten sich anders als in der Hitze des Hochsommers. Mit dem Sommer waren auch meine Eltern und Kei entschwunden.
»Harada-san«, sprach Mamiya mich unterwegs etwas förmlich an. »Was?« »Du hattest mir im Krankenhaus erzählt, dass du noch einmal herkommen wolltest, nicht wahr?« »Genau.« »Entschuldige, ich hätte es dir sagen sollen. Ich war vor vier Tagen schon einmal hier.« »Wirklich?« »Nicht etwa, weil ich etwas Außergewöhnliches erwartete. Ich fand es nur besser, mich vorher umzusehen.« »Verstehe.« »Da ist nur ein leeres Grundstück.« Ich hatte das Gefühl, stumm in einen tiefen Abgrund zu stürzen. So stark war die Einsamkeit, die sich meiner bemächtigte. »Das Haus ist im Mai abgerissen worden. Auch ein paar von den umliegenden Gebäuden sollen noch abgerissen werden, damit hier ein Hochhaus gebaut werden kann.« »Also war hier schon seit Mai nur ein leeres Grundstück…?« »Richtig.« Wir bogen von der Internationalen Straße nach links ab, gingen die Einkaufsstraße entlang, bis die Straße, in der das Mietshaus gestanden hatte, in Sicht kam. Der Weg war mir vertraut. Doch als wir in die Straße kamen, war, wie Mamiya gesagt hatte, nichts mehr da, kein Haus, keine eiserne Außentreppe. Nichts. Nichts als ein kleines, verlassenes, von Unkraut überwuchertes Grundstück, umgeben von den schmutzigen Mauern der angrenzenden Häuser. Das Unkraut wirkte hier, wo sonst kein Baum und kein Strauch wuchs, so fremd, als hätte sich jäh eine andere Welt aufgetan. »Du sagtest, die Wohnung deiner Eltern sei ganz am Ende gewesen, oder?«
»Ja.« »Ich habe dort, wo ich sie vermutete, das Unkraut entfernt.« Mamiya betrat vor mir das Grundstück. Das Unkraut wuchs hüfthoch. Stellenweise war es vertrocknet oder niedergetreten, so dass es nach dem langen Sommer ziemlich schäbig und schmutzig aussah. Schutt und leere Dosen erschwerten das Gehen. »War es hier?« Mamiya blieb stehen. Er hatte richtig vermutet. Mamiya hatte dort, wo meine Eltern gewohnt haben mussten, das Unkraut herausgerissen und zwei Betonblöcke wie Grabsteine aufgestellt. »Die Blöcke habe ich zufällig hier gefunden.« »Sie haben zwar im zweiten Stock gewohnt, aber genau hier muss es gewesen sein. Du hast die Stelle ziemlich perfekt geortet.« Mamiya zog ein mit Zeitungspapier umwickeltes Päckchen aus einer Kaufhaustüte. »Ich habe Räucherstäbchen und einen Halter mitgebracht.« »Ach, ich auch.« »Wir hätten uns absprechen sollen.« »Macht doch nichts. Wir stellen vor beiden Steinen Räucherstäbchen auf.« Auch ich packte meine Räucherstäbchen, den Halter und einen kleinen, in Zeitungspapier gerollten Chrysanthemenstrauß aus. Das Grab meiner Eltern befand sich in der Präfektur Aichi. Zwei Jahre war ich schon nicht mehr dort gewesen. Ich zündete die Räucherstäbchen mit meinem Feuerzeug an, stellte sie auf und faltete die Hände. Mamiya tat das Gleiche. Mir fielen die Essstäbchen ein, die die beiden zuletzt benutzt hatten. Beim nächsten Mal würde ich sie hier verbrennen und beten. So habe ich doch noch einen Grund, wieder zu euch zu kommen, Vater, Mutter.
»Vielleicht ist das nicht der geeignete Moment…«, setzte Mamiya an, »aber Ayako und ich möchten Anfang nächsten Jahres heiraten.« »So.« »Nicht angenehm für dich, oder?« »Aber nein. Zuerst habe ich mich hintergangen gefühlt, jetzt wünsche ich euch alles Gute.« »Würdest du auch wieder mit mir zusammenarbeiten?« »Sehr gerne sogar.« »Gut, dann machen wir ein richtig gutes Projekt zusammen.« »Ich hätte nie erwartet, dass du dich so um mich sorgen würdest.« »Ich kann dich eben ziemlich gut leiden. Sogar so gut, dass ich mich am Ende in deine Frau verliebt habe.« »Das finde ich dann doch etwas übertrieben, aber ich wünsche euch viel Glück.« »Sie ist wirklich eine wunderbare Frau. Ich denke mir oft, wie es nur möglich sein konnte, dass du sie verlassen hast.« »Ich wiederum verstehe nicht, wie es nur möglich sein kann, dass du sie heiraten willst.« »So ist es meistens. Es gilt für alle, die sich fragen, wie kann es nur möglich sein. Wir haben in dem Gebäude etwas Unglaubliches gesehen, aber als es vorbei war, war kein einziger Blutstropfen mehr da. Also war es nicht real. Wir müssen uns damit abfinden, dass man sich in unserem Fall auch fragt, wie es nur möglich sein kann.« »Meinst du?« »Am besten wir vergessen die Sache. Wie sollen wir sonst weiterleben? Es fällt einfach in die gleiche Kategorie. Du solltest dich ebenso nicht zu intensiv mit deinen Eltern beschäftigen. Du hast dir alles bloß eingebildet.« »Vielleicht hast du Recht.« »Gewiss. Du hast dir etwas eingebildet.«
Ich entgegnete nichts. Denn ich war sicher, dass ich es mir nicht bloß eingebildet hatte. Leb wohl Vater, leb wohl Mutter, leb wohl Kei. Ich danke euch.
Glossar
Akasaka – von Botschaften und Spitzenhotels geprägter Stadtteil von Tokio mit eher konventionellem Nachtleben. Asakusa – eines der älteren Viertel von Tokio, das bereits zu Beginn der Edo-Zeit (1600-1867; Edo ist der alte Name von Tokio) um den dortigen berühmten Kannon-Tempel entstand. Wegen der vielen Theater und des nahe gelegenen früheren Rotlichtviertels Yoshiwara war Asakusa ein sehr lebendiges Viertel. Obwohl im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, bewahrt es bis heute viel von seinem lebhaften Altstadt-Charme. Bon-Fest – eine Art »Allerseelen«; Fest im Hochsommer, bei dem verstorbener Verwandter gedacht wird. Ginza – eleganteste Einkaufsmeile von Tokio. Wie Asakusa zu den Altstadtvierteln gehörig. Kaminari-mon – das »Gewitter-Tor« des Kannon-Tempels ist das Wahrzeichen von Asakusa. Über dem Durchgang hängt ein großer roter Papierlampion, rechts und links davon residieren Donner- und Sturmgott, die die Kannon-Statue des Tempels beschützen. Kannon-Tempel – in Asakusa, ist eines der ältesten Heiligtümer in Tokio und Kannon, der Gottheit der Barmherzigkeit, geweiht, von der eine sagenumwobene Statue unter dem Tempel begraben sein soll.
Nakamise-Gasse – etwa 300 m lange Souvenirgasse zwischen den beiden großen Toren des Kannon-Tempels von Asakusa. Rakugo – Komischer Monolog, traditionelle Kleinkunstrichtung, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht. Das satirische Rakugo-Repertoire besteht aus alten Monologen, die ein dem modernen Zuhörer unbekanntes Milieu widerspiegeln, aber auch aus solchen, die sich zeitgenössischer Themen annehmen. Sake – Reiswein. Sukiyaki – beliebtes japanisches Gericht, bei dem dünne Rindfleischscheiben und verschiedene Gemüse in einer Pfanne am Tisch zubereitet werden. Tatami – genormte Fußbodenelemente aus Stroh und Binsen.