Alptraum-Sommer
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 138 von Jason Dark, erschienen am 29.09.1992, Titelbild: Vicente Se...
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Alptraum-Sommer
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 138 von Jason Dark, erschienen am 29.09.1992, Titelbild: Vicente Segrelles
»Und wie alt bist du wirklich?« fragte ich den etwa zwölfjährigen Jungen. »Hundert Jahre!« Die Antwort schockte mich. Seltsam, aber ich glaubte ihm. Denn sie paßte zu den Dingen, die uns nach Irland geführt hatten. Drei Männer waren spurlos verschwunden. Ein geheimnisvoller Wald hatte sie nicht mehr freigegeben. Wie aber war ihr Blut dann in den Körper mordlüsterner Alraunen gelangt? Und weshalb wuchs in dieser Gegend der normale Wald so dicht wie ein Dschungel? Und existierte die geheimnisvolle Riesenspinne tatsächlich, oder war sie nur ein Märchen? Fragen, die Suko und mich quälten. In der Hitze eines irischen Sommers begaben wir uns auf die Suche nach Antworten, um einen Alptraum ohnegleichen zu erleben...
»Verdammt noch mal, ich bin doch hier nicht im Dschungel von Brasilien!« Ben Culver blieb stehen, wischte den Schweiß von der Stirn, obwohl es keinen Sinn hatte, fluchte erneut und ließ sich neben dem Tümpel auf einem mit dickem Moos überzogenen Baumstamm nieder. Er war nicht am Ende, dafür erschöpft. Wieder wischte er über sein verschwitztes Gesicht, doch das Tuch war schon naß, und es würde in dieser verfluchten Schwüle auch nicht trocknen. Er schaute in die Höhe. Ein Dach aus Blättern befand sich hoch über seinem Kopf. Es bildete eine wellige grüne Ebene und war trotz des frühen Sommers oder späten Frühlings schon so dicht, daß es einen großen Teil der Sonne erst gar nicht bis zum Boden durchließ. Wer hier lief, bewegte sich in einer menschenfeindlichen Gegend. Eben wie im Dschungel. Nur befand er sich nicht in Südamerika, sondern in Irlands Süden, wo es zwar sehr warm war und auch Palmen wuchsen, bedingt durch den Golfstrom, aber ein derartiges Gelände hätte er hier nicht vermutet. Es war wie ein Gefängnis. Kein Ausweg, wohin er auch schaute. Überall dieser verdammte grüne Wald. Die hohen Bäume mit den dicken Stämmen, die mächtigen Kronen, das dichte Unterholz, der weiche, feuchte, auch schlammige Boden, die kleinen Tümpel mit den dunkelgrün schimmernden Oberflächen und den bunten Blumen dazwischen, das alles paßte einfach nicht in den Kontinent Europa. Und doch war es eine Tatsache. Ebenso wie die unzähligen Insekten, die den einsamen Mann unaufhörlich umsummten. Ansonsten waren es die einzigen Tiere in diesem verdammten Wald. Zumindest hatte Culver keine anderen zu Gesicht bekommen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn plötzlich ein Tiger aus dem Unterholz spaziert wäre, begleitet von einem Elefanten und einer Schlange. Culver verfluchte diesen Job, er verfluchte den Sommer, er verfluchte die Anzeige, die er in die Zeitung gesetzt hatte, und in der er sich als Mann für Sonderfälle ausgab. Jeden Job nahm er an. Okay, er hatte ihn bekommen. Er sollte das Gelände unter die Lupe nehmen und auch herausbekommen, was mit den Männern passiert war, die nicht mehr zurückgekehrt waren. Keiner wußte, ob sie noch lebten oder ob sie ums Leben gekommen waren. In diesem Wald war alles möglich. Dabei lag der nächste Ort knapp eine Meile Luftlinie entfernt. Für Culver war er so weit weg wie der Äquator. Seine Kleidung war durchgeschwitzt. Er hatte sich extra für diesen Job das Drillichzeug gekauft. Es bestand aus festem Stoff, selbst Dornen
konnten ihm so leicht nichts anhaben. Die Stiefel erlaubten es Culver, auch durch Wasser zu laufen, sie reichten mit ihren Rändern beinahe bis zu den Kniekehlen. Bisher hatte er nichts von den Verschwundenen entdeckt. Kein Wunder, es war auch der erste Ausflug in diese Hölle. Später wollte er in den Ort fahren, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Ben Culver war ein Typ, der irgendwie wild aussah. Ein kantiges Gesicht, auf dem Kopf verteilten sich Borstenhaare, seine Figur war durchtrainiert, und der Blick seiner blassen Augen verriet Entschlossenheit und einen Schuß Brutalität. Er war in der Welt herumgekommen, hatte zwei Ehen hinter sich und hatte sich schließlich als Mann für Sonderfälle selbständig gemacht. Er nahm fast alle Jobs an, hatte sich nie beschwert. An diesem Tag jedoch hätte er am liebsten alles hingeschmissen. Wenn da nicht das Erfolgshonorar gewesen wäre. Zehntausend Pfund! Das war nicht nur ein Klopfer, für ihn kam es schon einem Superhammer gleich. Um diese Summe zu verdienen, mußte eine alte Frau lange stricken. Culver wollte ebenfalls nicht ungerecht sein und fühlte sich bei der Berufsehre gepackt. Er mußte diesen Job durchziehen, koste es, was es wolle. Aber eine Pause war ihm vergönnt. Aus der rechten Seitentasche der Hose holte er eine Blechdose hervor, öffnete sie und grinste, als er einen Blick auf die kurzen Zigarillos warf. Der Qualm würde für eine Weile die Mücken vertreiben. So ließ er die ersten Wolken um seinen Kopf kreisen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich auflösten, denn unter dem grünen Blätterdach war es so gut wie windstill. Culver starrte auf den Tümpel. Die Fläche vor ihm war glatt. Sie erinnerte ihn an einen dunkelgrünen Spiegel, der das Bild einer bestimmten Person nur schwach widergab. In diesem Fall war es Culver selbst. Er sah sich auf der Oberfläche wie ein Schatten, der allmählich zerfloß, ohne die andere Seite des kleinen Teichs zu erreichen. Nur ab und zu bewegte sich das Wasser, wenn ein Insekt auf die Oberfläche hüpfte. Der Wald gefiel Culver nicht, die Stille noch weniger. An diese Ruhe hatte er sich nicht gewöhnen können. Aus seiner Zeit im Dschungel Südamerikas wußte er, daß auch der dichteste Wald Tag und Nacht von einem besonderen Leben erfüllt war. Da schrillte und kreischte es, da jammerten oder tirilierten die Vögel, so manches Fauchen peitschte in die übrigen Geräusche hinein, doch hier war alles ruhig. Bedrückend still…
Die Natur hält in dieser Gegend den Atem an. Daran hatte Ben Culver oft genug gedacht, sich aber keine weiteren Gedanken über den Vergleich gemacht – bis eben in dieser Minute, als er auf dem Baumstamm hockte und rauchte, umgeben von einer für europäische Verhältnisse anmutenden exotischen Welt. Immer wieder schaute er auf den Tümpel. Die Oberfläche schimmerte geheimnisvoll. Sie war wie eine Decke, die man darüber ausgebreitet hatte, um die schreckliche Tiefe zu verbergen. Niemand sollte sehen, was sich dort tat. Obwohl Culver schwitzte, spürte er ein Frösteln auf seinem Rücken. Auch das war nicht normal. Eine Warnung? Culver stand auf wie in Zeitlupe, es sah beinahe unbeholfen aus. Er schaute zur Seite, drehte sich weiter, rauchte zwei Züge und warf die Kippe weg. In diesem Augenblick glaubte er, eine Bewegung gesehen zu haben. Irgendwo vor ihm. Etwas war durch das Unterholz gehuscht. Einige hohe Halme schwangen jetzt noch nach, pendelten aus, waren wieder starr. Ein Tier? Culver überlegte. Platsch! Er wirbelte auf der Stelle herum, weil er sehen wollte, was hinter ihm geschehen war. Es war nichts zu erkennen. Doch, auf der Oberfläche waren einige Ringe entstanden, die dem Ufer entgegenliefen. Und dann schwamm dort etwas… Culver räusperte sich. Er schaute hin, wollte sich abwenden, schaute wieder hin, schüttelte den Kopf. Zwei Schritte ging er vor. Seine Füße sanken in den Schlamm des Ufers ein. Er blieb stehen und verfolgte den Gegenstand, der ins Wasser gefallen sein mußte, dicht unter der Oberfläche schwamm und dabei leicht hüpfte. Ein Ball war es nicht. Es erinnerte mehr an einen Korken, obwohl es nicht so regelmäßig geformt war. Aber es näherte sich dem Ufer an der Stelle, wo er stand. Es sah so aus, als wäre jemand dabei, den Gegenstand mit einem Faden näher heranzuziehen. Komisch… Ben Culver wartete. Manchmal tauchte der Gegenstand unter, aber ebenso schnell erreichte er auch wieder die Oberfläche, wo er ihn besser erkennen konnte. Auf einmal wußte er, was es war. Ein Stück Wurzel, ziemlich dick sogar, größer als eine Männerhand, oval geformt, so daß ihm der Vergleich mit einem Kopf in den Sinn kam. Und noch etwas kam hinzu. Auf einer Seite war die Baumwurzel glatt, auf der anderen aufgerauht, als hätte dort jemand etwas hineingeschnitzt, um sein Zeichen zu hinterlassen.
Culver war gespannt darauf. Er wollte es wissen und konnte es kaum erwarten, bis die Wurzel ans Ufer trieb. In dieser Umgebung war sie für ihn etwas Besonderes, ein Geschenk, das ihm ein Wassergeist überlassen wollte. Nicht mehr als eine Armlänge noch, dann konnte Culver es bequem fassen. Die Wurzel drehte sich noch einmal unter die Oberfläche, wurde wieder hochgedrückt und bekam Kontakt mit einer Männerhand, die Culver in das warme Wasser des Tümpels gestreckt hatte. Mit den Fingern umfaßte er ein glitschiges Etwas, zog es ans Ufer und ließ sich wieder auf dem Baumstamm nieder. Ein komisches Stück Wurzel, dachte er und überlegte, ob es tatsächlich menschliche Züge aufwies. Eigentlich war es mehr ein Oval, konnte auch als eine in die Länge gezogene Zwiebel durchgehen, und das obere Ende sah aus wie eine Zipfelmütze, die zusätzlich jemand auf die Wurzel gesetzt hatte. Der Fund war naß und glatt. Culver drehte ihn herum, ließ ihn auf seiner kräftigen Hand liegen – und erschrak. Er schaute in ein Gesicht. »Das gibt es nicht«, flüsterte er. »Das bildest du dir ein. Das kann kein Gesicht sein…« Er rieb sich die Augen, dann lachte er und sagte sich, daß er sich tatsächlich getäuscht hatte. Es war kein Gesicht. Es hatte nur so ausgesehen. Wieder suchte Ben nach einem Vergleich, der ihm auch in den Sinn kam. An dieser Wurzel hatte jemand herumgeschnitzt, war allerdings noch nicht fertig geworden. Da waren die Andeutungen dieser Merkmale zu erkennen. Der Mund, die Nase, auch die Augen, und alles wirkte sehr flach, beinahe wie aufgemalt. Culver fuhr mit der Fingerkuppe darüber hinweg. Er war ebenfalls der Meinung, daß er sich beim ersten Hinsehen getäuscht hatte. Aber komisch war dieser Fund schon. Er paßte ihm persönlich zwar nicht, doch in dieses große Rätsel des stockigen Waldes fügte es sich seiner Meinung nach nahtlos ein. Seltsam… Culver schaute es an, überlegte, merkte auch, daß dieses Wurzelstück gar nicht so hart war. Schon beim leichten Druck verzog es sich. Vielleicht konnte er auch daran herumschnitzen. Von der letzten Möglichkeit war er sehr angetan, und die Hand glitt in die Tasche, wo ein Messer steckte. Er klappte es auf. Ein verirrter Sonnenstrahl traf die Schneide und ließ sie funkeln. In der linken Hand hielt Culver die Wurzel, in der rechten das Messer. Er wollte an der oberen Seite beginnen und die weiche Masse mit einem Schnitt zerteilen.
Culver setzte das Messer an – und schnitt nicht. Wie eine Sirene gellte etwas in seinem Kopf. Es war ein Schrei, eine Warnung, die ihm klarmachte, es nicht zu tun. Nicht verletzen! Ben schüttelte den Kopf. Gleichzeitig spürte er den Schauer. Er drehte sich um. Da war nichts, was ihn hätte mißtrauisch werden lassen. Nur die dumpfe Stille des Waldes. Trotzdem diese Warnung! Wer hatte sie ihm zugerufen! Warum war sie ausgerechnet in seinem Kopf aufgegellt? Für ihn gab es keinen anderen Grund als eine Täuschung. Jemand hatte sich einen Scherz erlaubt. Das bedeutete auch, daß sich Culver nicht mehr allein in dieser Umgebung befand. Irgend jemand war noch da, lauerte im Hintergrund, hatte gerufen, was auch Unsinn war, denn die Warnung hatte er auf keinen Fall als Rufen gehört, sondern nur mehr als Signal in seinem Kopf. Rätselhaft… Wieder schaute er auf die Wurzel. Er sah auch das Messer, und Culver war ein Mensch, der gewissen Dingen auf den Grund ging, auch wenn er sich dabei selbst in Gefahr brachte. Hier wollte er es einfach wissen und sich nicht aus dem Rennen schlagen lassen. Das Messer war scharf. Es würde dieses feuchte Wurzelstück mit einer Leichtigkeit durchschneiden, als bestünde es aus weichem Fett. Er setzte die Klinge an, und zwar dort, wo sich – hätte es tatsächlich ein Gesicht gegeben – die Stirn befinden mußte. Er wollte nur eine kleine Kappe von der Wurzel schneiden. Culver drückte die Klinge hinein. Sie glitt weiter. Er lächelte. Es war ganz einfach, und er kam sich vor, als würde er eine Kartoffel schälen. Nur rann aus denen niemals Saft hervor. Hier war es anders. In der Wurzel war eine dicke Flüssigkeit verborgen gewesen, vergleichbar mit dem Sirup. Sie quoll aus der Schnittwunde und benetzte Ben Culvers Finger. Culver schnitt plötzlich nicht mehr weiter. Seine Augen hatten sich geweitet. Was er sah, wollte er nicht glauben. Es war für ihn unmöglich, Grusel und Tragik zugleich. Nein, die Flüssigkeit hatte nur wie Sirup ausgesehen. Sie war etwas ganz anderes. Er tupfte dennoch mit einer freien Fingerspitze nach, schaute genau hin, und in seinem Magen brodelte es, als würde dort eine Säure kochen. An seinem Finger klebte Blut! ***
Ben Culver wollte es nicht glauben, daß es Blut war, was noch immer aus der schmalen Schnittwunde quoll. Blut! Wieso Blut? Der Mann, der schon einiges hinter sich hatte, zitterte plötzlich. Er wurde kalt, und über seinen Körper wirbelten kleine Schauer hinweg. Schweiß stand ihm ebenfalls auf der Stirn. Wenn er nach Luft schnappte, sah es aus, als würde er trinken. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, und Culver fühlte sich wie ein Mensch, der erkannt hatte, einen Fehler gemacht zu haben. Es gibt leichte, es gibt schwere, es gibt aber auch tödliche Fehler. War dieser Fehler von ihm tödlich gewesen? Im Hals spürte er das Kratzen. Er dachte an diesen verdammten Dschungel, der überhaupt nicht in diese Gegend hineinpaßte, und in einem Anfall von Wut schleuderte er das Fundstück wieder zurück ins Wasser. Es glitt durch einen Sonnenstrahl und verlor dabei einige Blutstropfen, die wie rote Regentropfen auf die Oberfläche des Tümpels klatschten. Er atmete keuchend aus, erhob sich und spürte, daß seine Beine zitterten. Das Fundstück schwamm auf dem Wasser. Als Culver noch einmal hinschaute, überkam ihn das Wissen, einen verdammten Fehler begangen zu haben. Das war kein normales Stück Wurzel gewesen, das irgendwo abgerissen worden war. Es mußte etwas Außergewöhnliches sein. Ein Gegenstand, den es nirgendwo sonst gab, nur eben in diesem so unnatürlichen Urwald im Süden Irlands. Er dachte über sein Honorar nach. Es war fast unverschämt hoch gewesen. Niemand warf Geld zum Fenster hinaus. Für diese Summe hatte man ihn in eine Hölle geschickt. Er lachte böse auf, als er daran dachte. Die Hölle, das genau war es gewesen. Er steckte inmitten einer verdammten Hölle, ohne Hilfe, ohne Partner, und er mußte sich durchschlagen, bis er sein Ziel erreichte. Es lag ja nicht weit entfernt. Culver wollte den Wald so schnell wie möglich verlassen. Er haßte die drückende, schwüle Sommerluft. Die Dunstschwaden zwischen manchen Bäumen widerten ihn an. Sie hingen dort wie Gespenster, an einigen Stellen vom Licht der Sonne beleuchtet. Er trug einen Kompaß bei sich. Die Richtung stand fest. Ben Culver mußte nach Norden. Wenn er den Wald verlassen hatte, sah die Welt wieder ganz anders aus. Dann würde er sich mit seinem Auftraggeber in Verbindung setzen und alles mit ihm besprechen, was es noch zu bereden gab. Es konnte auch gut möglich sein, daß er auf den Job verzichtete, denn er sah sich in diesem Fall mehr als Opfer an.
Mit diesen ähnlichen Gedanken beschäftigte er sich, bahnte sich seinen Weg und hatte dabei immer wieder den Eindruck, verfolgt zu werden oder in eine Falle zu laufen. Des öfteren drehte er sich um, da war nichts. Kein Schatten bewegte sich hinter ihm, es war nur die bedrückende Stille geblieben, die ihm ebenfalls aufs Gemüt schlug. Sein Atem ging nicht mehr regelmäßig. Er keuchte, er fand oft nicht den richtigen Pfad, schlug sich dann mit beiden Händen den Weg frei und hätte sich manches Mal eine Machete gewünscht, die viele Hindernisse zur Seite räumte. Der Wald wurde nicht lichter. Die Bäume standen weiterhin so dicht zusammen, daß sich ihr Astwerk ineinander verkrallt hatte. Oft genug mußte sich Culver ducken. Dem Mann fiel auf, daß er so gut wie keine Nadelbäume gesehen hatte. Was hier wuchs, konnte schon als tropische Vegetation bezeichnet werden. Manche Pflanzen waren dick und fleischig. Sie hingen ihm im Weg, und er mußte sie immer wieder zur Seite schaufeln. Manchmal bekam Culver überhaupt nicht mit, woher er ging. Er lief einfach weiter, und irgendwann schöpfte er neuen Mut, denn seine Umgebung hatte sich erhellt. Ben Culver hatte eine Lichtung erreicht, einen sonnigen Platz. Hoffnung? Er lachte laut auf, einfach weil er das Gefühl hatte, es tun zu müssen. So konnte er sich Luft verschaffen und seinen verdammten Frust ein wenig lindern. Er lief weiter. Da passierte es. Der Widerstand war plötzlich da. Culver faßte es noch nicht. Es dauerte Sekunden, bis für ihn feststand, daß er irgendwo gegen gelaufen war. Vor ein langes Hindernis, das ihn festhalten wollte. Es sah aus wie eine schräg in den Boden gerammte Lanze, ein Riesenspeer, sehr hell, so bleich wie Knochen. Er wollte zurückweichen. Es ging nicht. Plötzlich fluchte er, schaute nach vorn und stellte fest, daß er klebte. Dieser Pfahl war mit einer klebrigen Masse oder einem Leim beschmiert worden, der sich direkt mit seiner Kleidung verbunden hatte und ihn nicht mehr losließ. »Scheiße, ich…« Sein nächstes Wort verstummte in einem Gurgeln, denn ein harter Schlag hatte ihn zwischen den Schulterblättern getroffen und wuchtete ihn nach vorn. Mit dem Gesicht fiel er gegen den klebrigen Stab, der nachgab wie weiches Gummi, ihn aber nicht losließ.
Plötzlich sah er andere Stäbe heranfliegen. Von allen Seiten huschten sie auf ihn zu. Er war noch nicht bewegungsunfähig, versuchte, sich immer wieder zur Seite zu drehen und den Stäben (oder waren es Fäden) zu entgehen. Unmöglich! Der unbekannte Feind zielte haargenau. Nicht jeder Stab oder nicht jede Leine erwischte ihn mit der Wucht eines Faustschlags. Einige wischten auch heran und drehten sich um seine Hüfte, die Beine, selbst die Arme ließen sie nicht aus. Allmählich wurde ihm doch klar, in welch eine Falle er gerannt war. So etwas hatte er nur in Filmen gesehen, in diesen Schockern, wo sich die Tiere gegen die Menschen erhoben und sie es waren, die Fallen stellten. Dieses klebrige Zeug, die langen Bänder, die kreuz und quer gegen ihn geschossen worden waren, konnten nur bedeuten, daß er in einem Spinnennetz gefangen war. Und die Spinne selbst, die so etwas produzierte und aus ihrer Drüse hervorschoß, mußte ein riesiges Tier sein. Ein gewaltiges Monstrum, das ihn unter Kontrolle gehalten hatte. Culver gab nicht auf. Er hatte die Zähne zusammengebissen. Sein Gesicht war gerötet. Der Schweiß lief in Strömen darüber hinweg. Er schnappte immer wieder nach Luft, um Energien in sich hineinzupumpen, die er unbedingt brauchte. Er kam nicht durch. Die Fäden, manche nur fingerdick, andere wiederum dick wie ein Kinderarm, gaben einfach nicht nach. Sie hielten ihn eisern fest, obwohl er immer wieder versuchte, den Griff zu sprengen, wobei er sich drehte und wendete, doch keinen Erfolg erzielte. Culver blieb in dem Spinnennetz hängen wie ein völlig normales Opfer. Sonst fingen die Spinnen Fliegen und andere Insekten, diese hier hatte es auf Menschen abgesehen. Aber wo steckte sie? Er hatte kaum den Gedanken beendet, da hörte er über sich ein Rascheln und Knacken. Kleine Zweige fielen auf ihn herab, und Culver legte den Kopf in den Nacken, um in die Höhe schauen zu können. Zunächst sah er kaum etwas, weil sich über ihm das Astwerk zu einem Dach zusammenfügte. Es war sehr dicht und verfilzt. Dazwischen schimmerten goldene Plättchen, Flecken des Sonnenlichts, die ihn blendeten. Es dauerte eine Weile, bis Culver erkannte, was dort tatsächlich geschah. Eine Bewegung. Schillernde Facettenaugen, dabei riesengroß, fast wie die Optik von Schußwaffen. Gnadenlos glotzten die Augen auf ihn nieder. Augen einer Riesenspinne, die ihren Platz im starken Astwerk der Bäume gefunden hatte.
Von dort aus hatte sie ihre Fäden abgeschossen, und Culver zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Er dachte an seine Waffe. Diese Riesenspinne befand sich in einer günstigen Schußweite, und er konnte mit einem Revolver umgehen. Nur kam er nicht an ihn heran. Ein klebriger Netzarm klemmte seinen rechten Arm gegen den Körper. Ben zerrte und ruckte, es half nichts, die Spinne hatte ihr Netz mit einer tödlichen Sicherheit geschlossen, und ihm war klar, daß er aus eigener Kraft nicht mehr entwischen konnte. Allmählich machte er sich auch mit einem schlimmeren Gedanken vertraut. Er wußte, daß Spinnen Zeit hatten und darauf warteten, bis ihr Opfer erschöpft war. Dann erst lösten sie sich von ihrem Platz, kamen herbei und fraßen das Opfer auf. Seine Zukunft sah düster aus, und Ben Culver überfielen die ersten Schauer der Angst… *** Er wußte nicht, wie lange er in diesem verdammten Spinnennetz gehangen hatte. Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, und erstes Dämmerlicht sickerte in diesen makabren Wald, um ihn zu verzaubern. Die Schatten bewegten sich lautlos, sie nahmen eine dunkelgrüne Farbe an. Konturen lösten sich auf, der Wald bekam einen noch geheimnisvolleren Glanz und war plötzlich voller Geräusche. Ben Culver war zu schwach, um die einzelnen Tierlaute voneinander unterscheiden zu können. Er hatte alles versucht, seine Kräfte nicht geschont, doch es war ihm nicht gelungen, auch nur eine der Fesseln zu lösen. Auch an sein Messer war er nicht herangekommen. Es steckte nach wie vor in der Tasche, ebenso wie der Revolver. Beide Waffen kamen ihm lächerlich vor. Er war fertig. Die Muskeln schmerzten. Er stand auch nicht mehr so gerade auf dem Boden. Seine Beine wollten das Gewicht nicht mehr tragen. Er war zur Seite gekippt und hing schräg in diesem verfluchten Spinnennetz, den Mund weit aufgerissen, nach Luft schnappend, wobei er nicht vermeiden konnte, daß kleine Insekten hineinflogen. Sein Herz schlug noch. Hin und wieder sogar schneller, wenn er genauer über sein Schicksal nachdachte. Zumeist jedoch lehnte er apathisch in dieser klebrigen Klammer und wartete. Worauf wartete er eigentlich? Auf den Tod!
Darauf, daß sich die Riesenspinne aus dem Astwerk über ihm löste und allmählich nach unten kletterte. Geschickt, elegant und tödlich. Sie würde ihn aussaugen, fressen, vernichten, so wie es die Macher in den Filmen gezeigt hatten. Ab und zu vernahm er ein Rascheln, wenn sich das Monstertier über ihm bewegte. Er konnte es nicht sehen, aber er stellte es sich vor. Die und auch die anderen Geräusche kamen zusammen. Sie vereinigten sich zu einem Pegel, der ihm die kalte Furcht einjagte und auch das Entsetzen in ihm hochtrieb. Auf seinem Gesicht traf das letzte Tageslicht mit den Schatten zusammen, und es entstand dort ein gräuliches Muster, das von einer dicken Schicht aus Schweiß überdeckt wurde. Culver war am Ende. Er konnte nicht mehr, er wollte auch nicht. Er wartete nur noch. Flüsterstimmen klagten, schrien manchmal. Es raschelte um ihn herum. Der Boden schien sich zu bewegen und zu Hügeln zu formen. Etwas rollte wellenartig heran, überspülte ihn, umsummte und umtanzte seinen Kopf. Er sah huschende Bewegungen. Eichhörnchen oder vielleicht Füchse. Culver war nicht mehr in der Lage, dies auseinanderzuhalten. Und immer wieder umwirbelten ihn die Insekten. Gerade die ersten aggressiven Sommermücken hatten sich ihn als Ziel ausgesucht. Ben hielt nicht mehr nach, wie oft er gestochen worden war. Die Spinne lauerte… Immer wenn er daran dachte, überfloß ihn ein kalter Schauer, der sich dann zu einem bedrückenden Gefühl der Angst in seinem Magen zusammenklumpte, so daß er sich einem Erstickungsanfall nahe fühlte. Wann kam sie? Manchmal knackte und raschelte es über ihm, wenn das junge Laub bewegt wurde. Jedenfalls war er einer Ohnmacht nahe, aber die Spinne ließ sich Zeit. Die Geräusche verstummten wieder. Noch konnte er sehen, auch wenn der Schweiß immer wieder von der Stirn her in die Augen rann. Die Brauen schafften es kaum, die Ströme aufzuhalten. Dann brannten die Augen, und auch im Kopf durchzogen ihn die Schmerzen wie harte Stiche. Wieder knackte und raschelte es über ihm. Da schob sich der Chitinpanzer der Spinne an der Rinde entlang, und diesmal hörten die Geräusche nicht auf. Kam sie? Culver fing an zu zittern. Die Hitze war für ihn verschwunden. Er dachte nur noch an das Schreckliche, das ihm bevorstand, und es kostete ihn eine wahnsinnige Überwindung, den Kopf nach hinten zu drücken, um in die Höhe zu schauen. Ja, da bewegte sich etwas!
Wegen der schlechten Lichtverhältnisse war es ihm nicht möglich, Einzelheiten zu erkennen. Die Spinne sah er nur als einen hügeligen kompakten Schatten, und er rechnete damit, daß sie sich zu ihm hin nach unten bewegte und dabei ihre Netzfäden als Stütze benutzte. Das trat nicht ein. Die Spinne wollte gar nichts von ihm, denn sie bewegte sich von ihm weg. Warum? Er lachte plötzlich. Zuerst war es ein Kichern, leise, mehr glucksend. Dann aber steigerte sich das Geräusch, wurde zu einem scharfen Lachen, das in den dichten Wald hineinschallte, wo sich die Echos wie helle Peitschenklänge anhörten. Die Spinne verschwand, sie wollte gar nichts von ihm. Er lachte weiter und weinte dabei, und die Erlösung war für ihn wie ein Schock. Eine Last rutschte von ihm ab. Er würde am Leben bleiben und… Das Lachen brach ab. Urplötzlich war ihm ein furchtbarer Gedanke gekommen. Die Spinne brauchte gar nicht aus der Höhe zu ihm hinkriechen. Sie konnte sich ihm auch von vorn über den Boden nähern. Er verkrampfte sich. Sein Hals trocknete noch stärker aus. Er hatte sowieso das Gefühl, keinen Speichel mehr in der Kehle zu haben, sondern nur mehr Sandpapier. Eine kalte Hand bewegte sich zitternd über seinen Rücken. Seine Lage war relativ ›günstig‹. Er konnte den Weg der Spinne auch am Boden verfolgen. Sie hatte ihn bereits erreicht und war für den Gefangenen noch immer ein mächtiger Schatten, mehr ein wandelnder Hügel auf dürren Beinen. Dafür aber tödlich. Die Riesenspinne setzte ihren Weg fort. Sie wußte genau, was sie wollte, und es gab auch kein Hindernis, das sie hätte aufhalten können. Was sich auch vor ihr aufbaute, es wurde durch den Druck des mächtigen Körpers regelrecht zermalmt. Aber sie kam nicht zu ihm. Sie drehte sich, sie verschwand, als wäre er für sie nicht mehr interessant genug. Der Mann begriff die Welt nicht mehr. Allerdings war er über diese Reaktion der Spinne erleichtert, auch wenn ihn der Schwindel umfangen hielt und er jetzt sogar froh war, von den Fäden des Netzes gehalten zu werden, denn auf eigenen Beinen hätte er nicht mehr stehen können. Vielleicht bekam er doch eine Chance, sich zu befreien. Wenn er den Druck der lauernden Riesenspinne nicht mehr spürte, würde er auch wieder klarer denken können. Dann konnte ihm möglicherweise etwas einfallen, um aus dieser Lage herauszukommen. Das mutierte Tier sah er nicht mehr, er hörte es nur noch. Ihr Weg war von zahlreichen Geräuschen begleitet. Mal von einem Rascheln, dann
wieder knackte es. Culver hörte auch, daß andere Tiere vor der Riesenspinne flohen. Noch immer konnte er sich keinen Grund denken, weshalb sie gerade ihn am Leben gelassen hatte, wobei sie sich schon eine sehr große Mühe mit dem Aufbau des Netzes… Er dachte nicht mehr weiter. Etwas hatte ihn abgelenkt. Schritte? Es hatte sich so angehört, aber Culver wollte es nicht glauben. Das waren keine normalen Schritte, das war ein Trippeln, hastig und schnell. Dazwischen ein Schleifen, als wären irgendwelche Personen dabei, die Füße nachzuziehen. Culver starrte in die schattige Dunkelheit des Waldes. Sie wirkte wie eine Malerei mit finsterem Hintergrund, wobei dann vorn die Bäume, die Büsche und alles andere hineingemalt worden waren. Er schloß die Augen. Culver wußte, daß die Gefahr noch nicht vorbei war. Er war gewissermaßen vom Regen in die Traufe geraten, obwohl er noch nichts sah. Allein die Geräusche drückten wieder die Furcht in ihm hoch. Sie waren deshalb so schlimm, weil er nichts sehen konnte, die Finsternis fraß das Licht auf. Er wartete. Seine Kehle war wie zugeklemmt. Irgendwo hoffte er auch, sich geirrt zu haben. Alles war Einbildung gewesen, er hatte die Geräusche gar nicht gehört. Seine überreizten Nerven hatten ihm da einen Streich gespielt. Oder nicht? Schließlich war die Riesenspinne auch keine Einbildung gewesen. In diesem Wald kam er sich vor wie ein Verfluchter. Da war er eingesperrt und zusätzlich gefesselt. Culver sah sich als Opfer an. An die Spinne brauchte er nicht mehr zu denken. Er hatte zudem den Kopf gedreht und in eine andere Richtung, weil er wissen wollte, was vor ihm geschah. Schatten, tiefgrün jetzt, lagen deckengleich über dem Boden. Krochen an den Stämmen hoch oder vermengten sich mit dem dichten Astwerk der Büsche und wuchtigen Inseln, aus denen jeden Moment der Tod in Form eines harten Fadens schießen konnte. Ben Culver zwinkerte. Er hatte etwas gesehen, war sich aber nicht im klaren darüber, ob es ihm auch tatsächlich aufgefallen war oder ob ihm die Phantasie einen Streich gespielt hatte. Bewegungen in den Schatten… Sehr hurtig, schleichend, dabei schnell und leise raschelnd. Ein Geräusch, das er deutlicher vernahm, als es sich ihm näherte. Das Rascheln hörte sich tatsächlich an, als würden kleine Füße herbeitrippeln und dabei jede Menge Laub in die Höhe schleudern.
Culver hörte sich selbst lachen, weil ihm eine irre Idee gekommen war. Man konnte sie als blödsinnig bezeichnen, aber so blödsinnig war sie doch nicht, wenn er genauer darüber nachdachte. Er hatte eine Riesenspinne gesehen, er war sogar in ihrem Netz gefangen. Wenn schon eine Riesenspinne existierte, warum sollte es nicht auch Zwerge geben. Riesen und Zwerge! Eine Märchenwelt für Kinder oder für Menschen, die ihr kindliches Gemüt glücklicherweise bewahrt hatten. In diesem verwunschenen Wald war alles möglich. Da konnte es eigentlich keine Überraschungen mehr geben, so dachte er, als er seinen Blick nach vorn richtete, um erkennen zu können, was sich ihm da näherte. Jedenfalls bewegte sich dieses Fremde dicht über dem Boden. Es war nicht groß, und er dachte wieder an die Zwerge. Genaues konnte er nicht erkennen, aber es waren mehrere Schatten, die sich ihm in einem Halbkreis näherten. Klar, sie wollten zu ihm. Etwas wischte von der Seite her hoch und klatschte dicht unter seinem Hals vor die Brust. Culver zuckte zusammen. Kein Spinnenfaden, aber so etwas Ähnliches. Ein brauner Faden, eine Liane, an der sich jemand hochziehen konnte. Die nächste umwickelte seinen Hals. Ben hatte sie erst gar nicht zu Gesicht bekommen, sie war heimlich geworfen worden. Er bekam kaum noch Luft, denn vom Boden her wurde sie von einer anderen Kraft zugezogen. Der Mann röchelte, die Adern auf seiner Stirn traten dick hinter der Haut hervor. Er war zwar wehrlos gemacht worden, fiel aber nicht in die Bewußtlosigkeit hinein, denn er merkte deutlich das ruckhafte Zucken der um seinem Hals liegenden Schlinge. In regelmäßigen Intervallen bewegte sich das Band. Culver würgte. Er spürte Schleim in seinem Mund, vermischt mit einem gallenbitteren Geschmack. Er spie ihn aus, saugte nach der rettenden Luft, doch die Zuckungen blieben. Er wußte nicht, was sie zu bedeuten hatten. Ihn überkam auch keine Ahnung, wenig später allerdings sah er, was man von ihm wollte. Und es waren diesmal keine Spinnen, die an ihm hochkletterten. Andere Wesen fanden ihren Weg. Culver konnte es nicht begreifen. Sie klebten wie Klumpen an dieser Liane. Hintereinander und in gewissen Abständen kletterten sie hoch, und plötzlich wußte er Bescheid. Das waren lebende Wurzeln!
Ovale, kompakte Körper, nach oben hin spitz zulaufend, als würden sie einen Hut tragen. Culver besaß zwar eine gewisse Allgemeinbildung, doch er hatte noch nichts von den Alraunen gehört, den kleinen Wichtelmännchen, den Galgenmännchen und dem Begriff Mandragora. Das alles war ihm unbekannt, und er wußte auch nicht, wie grausam die Erdmännchen sein konnten. Einen hatte er schwer verletzt. Andere waren gekommen, um ihn zu rächen. Culver dachte so, und er dachte nicht falsch. Er wunderte sich nur, wie es die Erdmännchen schafften, sich an seiner Kleidung festzuklammern. Beim ersten Hinsehen hatte er weder Hände noch Füße gesehen, jetzt aber konnte er erkennen, daß aus den kleinen Körpern gewisse Greifer hervorgefahren worden waren wie Antennen, die an ihren Enden mit kleinen Klauen ausgestattet waren, nicht viel dicker als Grashalme. Aber sehr fest, hart und auch spitz. Demnach gefährlich. Auch Gulliver war damals im Reich Liliput von Zwergen überwältigt worden. Er erlebte hier das gleiche, obwohl Culver an so etwas nie geglaubt hatte. Das war einfach verrückt. Er räusperte sich. Dabei hatte er reden wollen, das war ihm nicht möglich. Etwas hatte seine Kehle geschlossen und die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen. Statt dessen durchflutete ihn das kalte Grauen, als zwei dieser lebenden Wurzeln sich auf seiner Brust bewegten und ihre Klauen dabei den Drillichstoff umklammerten. Sie hatten ihn in scharfe Falten gelegt, an denen sie sich auch hochziehen konnten. Das wollten sie… Sie kamen näher und näher. Seine Kehle lag frei. Ben Culver weinte jetzt. Er war fertig, er bereute, er flehte die kleinen Erdmännchen an, daß er es nicht gewollt hatte, daß es ihm leid tat, daß er gern Buße tun würde… Sie aber ließen sich nicht beirren. Sie hatten ihren Weg einmal eingeschlagen und setzten ihn auch fort. Gnadenlos, ohne aufzuhören. Schon bald spürte Culver ihre kleinen, zangenartigen Klauen nicht mehr auf seiner Brust. Sie waren höher gewandert und hatten seine Kehle erreicht. Erste Wunden entstanden, aus denen das warme Blut des Mannes nach unten sickerte. Ben Culver konnte sich auch jetzt nicht bewegen. Nach wie vor hing er in einer Schräglage, den Kopf nach hinten gezerrt, damit sein Hals freilag. Die lebenden Wurzeln bissen sich fest.
Nicht nur in seinem Hals, er spürte die Bisse an den Händen, den Armen und den Waden ebenso wie an seinem Bauch. Jeder für sich war nicht sehr heftig oder allzu schmerzhaft, aber gemeinsam vereinigten sie sich zu einer wahren Symphonie aus Schmerzströmen, die durch seinen Körper rasten und ihn peinigten. Das war die Folter vor dem Tod… Er verlor Blut. Er hörte ein Saugen, Schmatzen und Schlürfen. Waren die Wichtelmänner damit beschäftigt, sein Blut zu trinken? Konnte man sie vielleicht als Waldvampire bezeichnen? Es wollte ihm einfach nicht mehr gelingen, noch klar zu denken. Eine fremde Kraft schien die Gedanken aus seinem Geist herausgesaugt zu haben. Gleichzeitig damit war die Schwäche gekommen. So wie er mußte sich ein Schmetterling im Oktober fühlen, wenn ihn die Kraft der Sonne verlassen hatte. »B… bitte…«, keuchte er. Es war das letzte Wort in Culvers Leben. Etwas erwischte seinen Hals mit einer kaum beschreibbaren Grausamkeit. Der folgende Schmerz tötete einfach alles ab. Die Schatten der Bäume vereinigten sich zu der tiefen Dunkelheit, aus der es kein Entrinnen mehr gab und die ihn schließlich hinein in den Tod riß. Der Wald und der Alptraum-Sommer hatten ihr drittes Opfer gefunden. *** Der Tag war warm gewesen, schon heiß, und viele Menschen hatten sich nach der Dämmerung und der kühleren Dunkelheit gesehnt, die dann gekommen war. Jetzt lag die Landschaft in einem tiefblauen Schatten, nur mäßig erhellt vom Licht der Sterne oder den einsamen Lichtern des kleinen Ortes, der an den Barrow River grenzte. Ich saß am Heck des Hausbootes und starrte auf das Wasser. Es lag ruhig da, wie ein dunkler Spiegel. Ich sah auch keine Insekten mehr, die wilde Tänze aufführten, und hörte nur an ihrem Summen, daß sie noch da waren. Urlaubsstimmung in Südirland. Die Romantik einer Frühsommernacht am Fluß. Das alles stimmte. Es stimmte auch die Ruhe, die Entspannung, die Natur, die sich von den Menschen und ihren Häusern überhaupt nicht gestört fühlte, und trotzdem war es für mich und meinen Partner kein Urlaub, der uns an den Barrow River und zu dem kleinen Ort Berris getrieben hatte.
Es war ja chic, sich ein Hausboot zu mieten und die irischen Flüsse zu befahren. Auch wir hatten uns dafür entschieden, denn es war wirklich die beste Tarnung gewesen. Wir suchten drei Männer! Drei verschwundene Männer, die wie vom Erdboden verschluckt waren. Man hatte nichts mehr von ihnen gefunden. Sie waren weg, abgetaucht in ein geheimnisvolles Dunkel, aus dem es kein Zurück mehr gab. Nun, es verschwanden immer wieder Menschen, wenn wir jedem hätten nachlaufen sollen, hätten wir viel zu tun gehabt, aber bei diesen Männern lag es anders. Die waren nicht nur einfach so untergetaucht, die hatten einen Job gehabt, einen sehr gut bezahlten sogar. Zwei von ihnen waren verheiratet, hatten Familie, führten eine normale Ehe, da haute man nicht so einfach ab. Es mußte etwas anderes dahinterstecken. Natürlich gab es Hinweise. Drohbriefe, die an eine Versicherung gerichtet waren. Man warnte die Männer des Direktoriums, sich weiter um einen gewissen Landstrich zu kümmern. Wenn sie es nicht taten, würde dafür gesorgt werden, daß die Geister der Natur zurückschlugen. Einer der Versicherungsbosse hatte sich daraufhin an Scotland Yard gewandt. Da der Begriff Geister in diesem Drohbrief vorgekommen war, war alles an Sir James weitergeleitet worden, und der hatte Suko und mich rufen lassen. Begeistert hatten wir uns von der neuen Aufgabe nicht gezeigt. »Wenn nichts dabei herauskommt, nehmen Sie es einfach als zusätzlichen Urlaub«, hatte Sir James gesagt. »Aber daran glauben Sie selbst nicht – oder?« »Nein, Suko. Wenn ich Natur und Geister in einen Zusammenhang bringe, fällt mir automatisch ein dritter Begriff ein.« »Mandragoro!« »Exakt, Inspektor!« Nun, das hatte uns schließlich überzeugt, und so hatten wir dann unsere Vorbereitungen getroffen, uns bei einem Reiseveranstalter das Boot gemietet und waren ein wenig über den Barrow River getuckert, bis wir in Berris angelegt hatten. Das genau war der Ort und das Gebiet, um das es eigentlich ging. Hier waren die drei Männer verschwunden, die für die Versicherung arbeiteten und nachforschen sollten, ob sich in dieser Gegend ein von der Versicherung finanziertes Urlaubsparadies errichten ließ. Das mußte sich herumgesprochen haben. Die Bevölkerung stand natürlich dem Projekt skeptisch gegenüber, und auf einmal hatte es dann die drei Männer nicht mehr gegeben. Dafür die schriftlichen Warnungen, wobei niemand wußte, wer sie geschrieben hatte. Ein Geist war es nicht gewesen, auch kein Dämon.
Wir rechneten mit einem Bewohner aus Berris, der dort praktisch die Führung der Gegenliga übernommen hatte. Soweit waren wir noch nicht. Wir waren bei Anbruch der Dämmerung eingetroffen und wollten uns erst am anderen Morgen im Ort umschauen und mit bestimmten Leuten reden. Ich hatte mir auch keine großen Gedanken gemacht und lange Theorien gewälzt, an diesem Abend oder in dieser Nacht wollte ich die Stunden am Fluß noch genießen. Das Boot gehörte in die kleinere Kategorie. Es war für vier Passagiere ausgelegt, die dann allerdings ein wenig Rücksicht aufeinander nehmen mußten, da es doch eng wurde. Für Suko und mich war Platz genug. Wir hatten nach unserer Ankunft das Boot am Ende des Liegeplatzes vertäut und hielten uns in einer relativen Einsamkeit auf, denn die anderen Boote lagen weiter hinter uns. Es waren insgesamt nur drei, die Hochsaison begann erst. Wenn ich gegen die beiden Uferstreifen schaute, so kam ich mir vor wie in Brasilien. Es war alles dicht bewachsen – ausgenommen die Umgebung von Berris –, aber schon dicht hinter den letzten Häusern drängten sich mächtige Bäume und dichtes Strauchwerk bis an die Uferstreifen heran. In der klaren Luft zeichnete sich der gegenüberliegende Uferstreifen wie eine kantige unterschiedlich hohe Gebirgslandschaft ab. Nur manchmal, wenn tatsächlich so etwas wie ein Lüftchen aufkam, bewegten sich die Kronen zitternd, als wollten sie es den Wellen gleichtun, die der leichte Wind produzierte. Hinter mir hörte ich Schritte. Das Boot wiegte sich leicht. Licht schaukelte heran. Suko trug die schmale Laterne, deren Schein zuckend über das blanke Deck huschte und erst zur Ruhe kam, als der Inspektor die Lampe festhakte. Ich saß auf einem der befestigten weißen Stühle und drehte kaum den Kopf, als Suko neben mir Platz nahm. »Nun?« fragte er. Ich lachte leise. »Was willst du?« »Nur mal schauen, was du so toll findest.« Ich streckte die Hand aus. »Ja, sieh dich um. Da ist der Fluß. Da hinten liegt das Ufer, da steht der Wald, da ist das Unterholz ein stummer Zeuge…« »Zeuge für was?« unterbrach mich Suko. »Für drei Morde etwa?« »Kann sein«, sagte ich und streckte langsam die Beine aus. »Daran habe ich nicht einmal gedacht.« »Solltest du aber.« »Nicht jetzt.« Suko winkte ab. »Das ist klar. Heute haben wir Urlaub, ab morgen wird es rundgehen.«
»Meinst du?« Er nickte. »Was macht dich denn so besorgt?« »Ich weiß es nicht, John.« Suko schaute gegen seine Füße, die von Segeltuchschuhen umschlossen wurden. Ihre Ränder blinkten so hell, als wären sie mit Leuchtfarbe angestrichen worden. »Ich empfinde diese Ruhe als trügerisch. Da kannst du lachen, mich für verrückt halten, aber die Gegend und das Klima gefallen mir nicht.« »Ansichtssache.« »Nein, John, so kannst du nicht denken. Das hier ist einfach nicht normal gewesen. Ich meine damit den vergangenen Tag. Der war heiß, zu heiß, wie ein Alptraum.« »Sag doch gleich Alptraum-Sommer.« »So ungefähr.« Ich tippte einige Male auf die rechte Lehne. »Du bist also der Meinung, daß uns noch etwas bevorsteht.« »Bin ich.« »Gegen wen, gegen was?« »Auch gegen den Schreiber der Drohungen.« Ich beobachtete einige Insekten, die vom Licht der Lampe angelockt worden waren und sich im hellen Schein wohlfühlten. Er fiel wie ein schiefes Rechteck in unsere Richtung, streifte dabei nur die Beine. »Kannst du dich da genauer ausdrücken?« »Noch nicht, John. Ich finde nur, daß jemand anderer noch hinter dem Schreiber steht.« »Wer könnte das nur sein?« summte ich. »Hör auf, Alter! Du hast doch den gleichen Verdacht wie ich. Wenn die Natur und die Geister in einen gewissen Einklang gebracht werden, gibt es nur eine Möglichkeit.« »Mandragoro!« »Glückwunsch.« »Aber er ist unser Freund«, sagte ich mit einem Tonfall in der Stimme, der leicht fragend klang. »Ist er das tatsächlich?« »Ich gehe mal davon aus.« »Solange sich unsere Interessen nicht berühren.« Ich ließ meinen linken Arm nach unten sinken. Die Finger streiften über den Deckel der Kühlbox hinweg, bis sie den Verschluß erreicht hatten, den ich öffnete und dann den Deckel hochzog. Aus der Box holte ich eine Dose Bier. »Cheers«, sagte Suko. »Du auch eine?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich lege mich gleich hin. Irgendwo bin ich müde. Da uns morgen einiges bevorsteht, möchte ich demnach ziemlich fit sein.« Es zischte, als ich den Verschluß abriß. »Da hast du recht, aber ich habe Durst.« »Wohl bekomm’s«, sagte er, stand auf, klopfte mir auf die Schulter und ging davon. »Bringst du die Laterne mit?« »Mach’ ich.« Das Bier schmeckte gut. Es war auch noch kühl genug. Wie ein kalter Schaumstreifen schoß es in meine Kehle und löschte den ersten Brand. Ich brauchte die Flüssigkeit, denn tagsüber hatten wir in der Sonne stark geschwitzt. Dieses Wetter kam mir einfach nicht normal vor. An einer Schleuse hatten wir mit einem Einheimischen darüber gesprochen. Für den waren klimatische Verhältnisse wie diese hier keine Seltenheit. So etwas gab es immer mal wieder. Leider hatte es sich auch in dieser frühen Nacht kaum abgekühlt. Noch immer stand die Luft über dem Fluß. Nebel hatte sich nicht gebildet, aber nach den ersten Schlucken fühlte ich mich bereits wie ein Schwamm, der Wasser aufgesaugt hatte, obwohl ich nur ein Hemd und eine Hose trug. Der Körper hatte sich eben noch nicht auf diese extremen Temperaturen eingestellt. Unter dem Himmel hing eine leichte Wolkendecke. Nur deshalb sahen die Sterne nicht mehr so klar aus und funkelten kaum. Der Mond war ebenfalls nicht mehr als eine bleiche Sichel und schien doppelt so weit entfernt zu sein wie sonst. Vom Ort her hörte ich kaum etwas. Hin und wieder das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos, mal den knatternden Motor eines Mopeds, aber keine Stimmen. Die Menschen verhielten sich ruhig, als hätten sie Furcht davor, daß ihnen jemand zuhören konnte. Auch Suko lag längst in seiner Koje. Er hatte darauf verzichtet, das Radio einzustellen und mir damit unbewußt einen Gefallen getan. So konnte ich mich auf die Geräusche des nahen Flusses konzentrieren. Der Barrow River war fischreich, und jetzt, wo es dunkel war, trauten sich die Fische auch mehr an die Oberfläche. Oft genug hörte ich das leise Platschen, wenn ihre Mäuler aus dem Wasser tauchten, nach Insekten schnappten und dann wieder verschwanden. Die kleinen Tiere umschwirrten auch mich. Hin und wieder erwischte ich eine Mücke, ihre toten Körper klebten wie kleine Sommersprossen an meinen Armen. Nicht daß ich die Stille nicht gemocht hätte, ich hatte sie schließlich selbst gewählt, aber sie war doch anders, als ich sie kannte. Es fiel mir schwer, sie zu beschreiben. Vielleicht kam sie mir klebrig vor wie eine
Kraft, die irgendeine Luft aus meiner Nähe absaugen wollte, damit mir noch ein Rest blieb. Das konnte auch an der hohen Luftfeuchtigkeit liegen, doch Dunst oder Nebel hatten sich noch nicht gebildet. Der Fluß lag still. Hin geheimnisvoller schwarzgrüner Streifen, der tief in das Land hineinschnitt und südlich von uns in den Atlantik mündete. Lau umfächerte mich die Luft, manchmal roch das Wasser auch. Da hatte ich den Eindruck, daß es in bestimmten Wellen heranwehte. Ich schaute wieder zum gegenüberliegenden Ufer und gegen die sich dort abzeichnende Schwärze des Waldes. Ein normaler Wald, der mir in diesem Augenblick nicht so vorkam, sondern wie eine unheimliche Grenze wirkte, die andere davor warnte, sie zu übertreten. Da rührte sich auch nichts. Kein Schrei eines Nachtvogels hatte in der letzten Zeit den Fluß als Echo überquert. Die Natur lag eingepackt in einer dumpfen, brütenden Stille. Ich kippte die Dose und nahm wieder einen kräftigen Schluck Bier, das so herrlich kühl durch meine Kehle rann. Rechts von mir stand die Lampe. Sie wirkte wie ein vergessenes Licht am Ende der Welt. Ihr gelber Schein umflorte das Metall wie eine Insel, und durch das helle Rechteck auf den Planken schob sich ein Schatten, als ich meine Füße wieder vorstreckte und abermals zur Bierdose griff. Mit einem dritten Schluck leerte ich sie und stellte das Gefäß zurück in die Kühlbox. Alt würde ich hier auch nicht mehr werden. Suko hatte schon recht. Morgen stand uns nicht gerade ein Urlaubstag bevor. Wir würden versuchen, Spuren zu finden, die es eigentlich nicht gab. Etwas störte mich. Es war nicht mehr als ein Reflex, den ich aus dem rechten Augenwinkel wahrgenommen hatte. Ich schaute gegen die Lampe. Sie stand normal da, aber in ihrem Schein hatte sich etwas verändert, denn da war neben meinem eigenen Schatten noch ein zweiter hinzugekommen. Er hielt sich direkt neben mir auf, und ich zog die Beine zurück, um ihn besser sehen zu können. Was ich da entdeckte, war gar nicht mal komisch, obwohl es so aussah. Der Gegenstand erinnerte mich an einen ovalen Kopf, dem eine Zipfelmütze aufgesetzt worden war. Was war das? Ich schaute genauer hin und erkannte ein Material, das nicht den Namen Holz verdiente, es war irgendwie anders, obwohl es eine gewisse Ähnlichkeit besaß. Zäh, hart und trotzdem weich…
Wie eine Baumwurzel oder zumindest ein Teil davon. Und sie befand sich an Deck. Auf unserem Boot. Wie hatte sie das geschafft? Wer war sie überhaupt? Über meine Schultern floß ein kühler Schauer, was nicht an der Außentemperatur lag, das hatte einen anderen Grund. Ich gab dem Besuch daran die Schuld. Es war kein Tier, auch das hatte ich mittlerweile festgestellt. Im Licht schimmerte die Haut ungewöhnlich blaß, als wäre dieses alte Wurzelholz getrocknet worden. Ich dachte noch immer darüber nach, wie dieses Wesen auf das Boot gekommen war. Gebracht hatte es mit Sicherheit niemand. Komisch… Aber hatte nicht der unbekannte Warner davon geschrieben, daß sich die Natur mit den Geistern und den alten Kräften verbündete? Gehörte dieses ›Ding‹ dazu? Sein Erscheinen jedenfalls war mehr als rätselhaft für mich. Es mußte sich auf das Boot geschlichen haben, ohne von Suko oder mir bemerkt worden zu sein. Wenn das stimmte, dann konnte es sich bewegen. Doch es hatte einen langen Weg zurücklegen müssen, und wie sollte dieses Ding das ohne Arme geschafft haben? Ich mußte es mir genauer ansehen. Ich streckte den Arm aus wie jemand, der sich mit aller Vorsicht einem Hund oder einer Katze nähern will, um sie vor dem ersten Streicheln nicht zu erschrecken. Die verzogene, übergroße ›Zwiebel‹ bewegte sich nicht. Sie ließ meine Hand näher heran, ich tippte sie an, ohne daß sie sich rührte. Dadurch begünstigt, wurde ich mutiger, umschloß das Ding mit einer Hand und hob es an. Es fühlte sich kühl, naß und trotzdem warm an. Wärme, die von innen kam, als befände sich dort ein gewisses Leben. Das war interessant. Ich setzte mich wieder normal hin. Die Beine preßte ich zusammen. Darauf stellte ich meinen Fund ab, hielt ihn allerdings noch weiterhin fest, um eine Reaktion abzuwarten. Da tat sich nichts. Wie eine dicke feuchte Kartoffel lag es in meiner Hand. Ich drückte mit den Fingerkuppen an verschiedenen Stellen gegen den Körper, der auch leichte Beulen bekam, und gleichzeitig zuckte das Wesen zusammen, als würde es Schmerzen verspüren. Konnte das sein? Wenn ja, dann war dieses Wesen tatsächlich lebendig. Ich spürte meine eigene Aufregung, tastete mich zum ›Kopf‹ hoch, drückte noch einmal – und hörte das Zischen.
Es kam mir vor, als hätte jemand in meiner Nähe eine Gasflasche geöffnet, aber das Zischen war aus dem Spalt am Kopf des Wesens gedrungen, der sich wie ein breiter Mund geöffnet hatte. Fast hätte ich es vor Schreck losgelassen, statt dessen lockerte ich nur den Griff. Das Zischen verstummte. Wer war dieses unbekannte Ding? Es war leider zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber die Haut war nicht glatt, das hatte ich schon längst fühlen können. Ein Mund war also vorhanden. Gab es auch Augen, eine Nase? Vielleicht irgendwelche Hände oder Füße, die noch nicht zu sehen waren. Allmählich hatte ich mich auch an den geheimnisvollen Fund gewöhnt und begann, über ihn nachzudenken. Dabei brauchten sich meine Schlußfolgerungen nur um ein bestimmtes Gebiet zu drehen, das in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der magischen Seite der Natur stand und damit auch mit Mandragoro. Er war ein Dämon. Er war so etwas wie ein magischer Umweltschützer, ein Grüner aus metaphysischen Tiefen, und er war ein Wesen, der es im Prinzip gut mit der Welt meinte. Wir hätten auf seiner Seite stehen können. Daß wir es nicht so richtig taten, lag allein an den Methoden, die er anwendete. Ich will es mal kurz fassen. Er ging nicht gerade gesetzlich vor. Wir aber waren an die bestehenden Gesetze gebunden, wir konnten keine Rache nehmen, mußten uns an Richtlinien halten, was ich im allgemeinen auch gut fand. Mandragoro nicht. Er tat das, was er für richtig hielt, und das endete oft genug mit dem Tod bestimmter Personen, die sich zu seinen Feinden gezählt hatten. Es gab da genügend Beispiele, die ich hätte anführen können. Und Mandragoro war nicht allein, obgleich man ihn zu den Einzelgängern hätte zählen können. Wenn er jedoch etwas befahl, gab es genügend Helfer, die ihm gehorchten. Mittlerweile war ich davon überzeugt, daß auch dieses kleine Wesen zu seinen Freunden gehörte. Bisher hatte ich mich zu sehr mit Mandragoro beschäftigt. Es war besser, wenn ich mich auf meinen Fund konzentrierte. Die kleine Lampe trug ich nicht bei mir, so mußte ich meine Sitzhaltung ein wenig verändern, um das Licht der Laterne gegen die Gestalt fließen lassen zu können. Wichtig war zunächst nicht die Form des Körpers, sondern das Material. Ich hatte in der Zwischenzeit genug tasten und fühlen können, um mir ein Bild zu machen. Dieses Wesen bestand aus einer Wurzel. Aus Wurzelholz, und genau dafür gab es einen bestimmten Namen. Alraune!
Oder auch Alraunwurzel genannt, abgeleitet aus dem gotischen Runa, das soviel wie Geheimnis bedeutet. Die Alraune ist praktisch der puppenbalgähnliche fleischige Wurzelstock der im klassischen Altertum als Zaubermittel und Amulett gebrauchten Pflanze Mandragora. Also setzte man Alraune gleich mit Mandragora, nicht mit Mandragoro. Selbst in den Texten des Moses kam die Alraune schon vor. Jahrhundertelang hatte sie ihre magische Wunderkraft behalten, und die Menschen hatten sich ihr schließlich angenommen. Man gab ihr eine zumeist männliche Gestalt und verschiedene Namen. Erdgeist, Wichtelmännchen, Galgenmännchen, und im deutschen Altertum wurden sie sogar als Hausgötter betrachtet und in geheimen Verstecken verborgen. Oft prächtig gekleidet und am Samstag in Weingeist oder Wasser gebadet, damit die Alraune auch bei Laune blieb und dem Hausbesitzer Reichtum, Gesundheit und Glück brachte. Ich zweifelte nicht mehr daran, daß ich eine Alraune in der Hand hielt. Nur unterschied sie sich von den Alraunen, die in der Literatur und Mystik erwähnt wurden. Diese hier lebte. Und weil dem so war, mußte hinter ihr ein mächtiger Geist stecken. Mein ›Freund‹ Mandragoro! Warum hatte er das getan? Wie gefährlich war das kleine Ding? Welche Kräfte hielten es zusammen? Bisher hatte ich nur einen Mund entdecken können, auch der war blitzschnell entstanden. Ansonsten verschwanden seine Umrisse in der rissigen Haut der Wurzel. Mit der linken Hand hielt ich die Alraune fest. Mit der rechten tastete ich nach. Die Fingerkuppe fuhr über den Körper, der gleichzeitig auch ein Gesicht war. Ich spürte die rissige Haut. Ebensogut hätte ich auch Baumrinde betasten können, es wäre auf das gleiche hinausgelaufen. Noch immer kam mir der Körper unverhältnismäßig warm vor. Ich ließ mich davon vielleicht zu stark ablenken, denn plötzlich öffnete sich der Mund des Wesens und klappte sofort wieder zu. Dabei hatte er sich noch gedreht und nach meinem Finger geschnappt. Im allerletzten Moment hatte ich ihn zurückgezogen. Die hellen, spitzen Zähne erwischten mich nicht. Sie hackten ins Leere. Dann drehte sich die Alraune in meiner Hand, die nicht mehr so fest geschlossen war. Mit einer ruckartigen Bewegung befreite sie sich und sprang an der linken Seite zu Boden. Bevor ich mich hochstemmen konnte, hatte sie schon eine gehörige Distanz zwischen uns gebracht. Ich kam zu spät. Sie huschte unter dem Geländer der Reling hindurch, stieß sich ab, dann war sie weg.
Ich hörte noch das Platschen, als die Alraune in den Fluß eintauchte. Als ich an der Reling stand und auf die Wasserfläche starrte, entdeckte ich nur die Wellenringe, die sich allmählich ausbreiteten und schließlich verschwanden. Ich schüttelte den Kopf. Es wollte einfach nicht in mein Gehirn, daß diese Alraune plötzlich erschienen war. Warum gerade zu uns auf das Boot? Es gab nur eine Erklärung, und die hing mit Mandragoro zusammen. Er wußte, daß wir uns um den Fall kümmerten, und er hatte sie gewissermaßen als einen Warnung geschickt. Nur dachte ich nicht im Traum daran, den Rückweg anzutreten. Wenn, dann wollte ich auch Klarheit haben, schließlich waren drei Männer verschwunden. Es lag auf der Hand, daß sie im Endeffekt auf Mandragoros Konto kamen. Ich inspizierte noch einmal das gesamte Deck im Schein der Laterne. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Keine weitere Alraune hielt sich hier auf. Am Niedergang blieb ich stehen und schaute zurück an das Ufer, wo nur noch in wenigen Häusern Licht brannte. Die meisten Einwohner des kleinen Ortes hatten sich längst zur Ruhe gelegt und schliefen dem nächsten Tag entgegen. Mit eingezogenem Kopf überwand ich den Niedergang. Die Tür zur Kabine stand offen. Suko lag in einer Koje und schlief. Er hatte sich die an der Backbordseite ausgesucht, ich nahm die an der Steuerbordseite. Beide benutzten wir die untere Ebene. Die Luft hier unten war nicht gut. Um wenigstens etwas Frische hereinzulassen, öffnete ich eines der kleinen Fenster. Dann zog ich mich aus und legte mich hin. Ich trug keinen Schlaf-, sondern einen Jogginganzug. Die Laterne löschte ich zuletzt. Dunkelheit fiel über den Raum. Ich hörte Sukos Atem, sonst nichts. Hin und wieder bewegte sich das Boot ein wenig, aber es war kaum zu merken. Eigentlich hätte ich müde sein sollen, war es auch, konnte aber nicht einschlafen. Ich hatte den Eindruck, in einem Gefängnis zu liegen, dessen Mauern und Decke immer mehr auf mich zukamen, die Luft zusammendrückten und auch mein Atmen erschwerten. Irgendwann schlief ich doch ein. Ich sackte einfach weg. Tief hinein in einen Tunnel, aus dem es kein Zurück gab… *** Warum ich wieder erwachte, wußte ich nicht!
Ich wußte auch nicht, wieviel Zeit verstrichen war, denn ich hatte das Gefühl, gefesselt zu sein und mich nicht rühren zu können. Ausgestreckt lag ich auf dem Bett, umhüllt von einer dunstigen Glocke, die einen ungewöhnlichen Geruch ausströmte. Konnte es daran liegen, daß es in der Kabine noch wärmer und feuchter geworden war? Aber woher kam der Geruch? Es war schwierig, die Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. In dieser Kabine waren wir nicht mehr allein, etwas anderes war noch hinzugekommen und hatte uns erwischt wie ein fremder unheimlicher Besuch. Wer oder was? Ich sah es nicht. Es war überhaupt nicht geläufig. Ich wußte nur, daß es vorhanden war und auf meiner Brust lastete wie ein pechschwarzer Alp. Der Jogginganzug war durchgeschwitzt und klebte an meinem Körper. Ich lag auf dem Rücken, die Augen jetzt offen, starrte gegen die Decke, die sich wie ein fahler, aschgrauer Himmel über mir abzeichnete, ohne Licht und Hoffnung. Nirgendwo sah ich Licht. Durch das Fenster kam die feuchte Luft und strich über mein Gesicht. Dabei erinnerte sie mich an eine nässende Totenklaue, die sich für einen Moment auf meine Lippen preßte, bevor sie wieder verschwand. Kopfschmerzen verspürte ich keine. Der Druck in meinem Schädel zeigte mir jedoch an, daß sich dies bald ändern würde. Ich konzentrierte mich auf meinen eigenen Herzschlag. Er ging viel zu schwer. Das Herz hatte Schwierigkeiten, das Blut durch die Adern zu pumpen. Es schien dicker geworden zu sein. Jeden Schlag registrierte ich als Echo in meinem Kopf. Dumpf und hallend. Da war jemand dabei, mit einem kleinen Hammer gegen die Innenseite der Schädeldecke zu schlagen. Ich blieb ruhig liegen und versuchte, meine eigenen Sorgen zu vergessen, da ich mich auf Suko konzentrieren wollte. Er schlief ruhig und fest, nur mich hatte es erwischt. Ja, ich lag auf dem Boot, ich lag in der Kabine, aber dümpelten wir noch immer am selben Ort? Eine Antwort konnte ich mir nicht geben, weil ich es einfach nicht schaffte, mich aufzurichten. Ich wollte aber aufstehen, verdammt! Meine Arme lagen rechts und links des Körpers, als wäre ich wie ein Toter zurechtgelegt worden. Still, ruhig, und ich konzentrierte mich auf meinen rechten Arm. Ja, ich konnte ihn heben.
Auch wenn er schwer war. Aber das Blut war nicht durch flüssiges Eisen ausgetauscht worden. Ich kam wieder zurecht, und meine Hand fand sogar Halt. Mit der Innenfläche streifte ich über etwas hinweg. Es war relativ dünn, nicht dicker als ein Finger. Ich berührte es, wollte die Hand wieder zurückziehen – und blieb daran hängen. Ein zweiter Versuch. Wieder nichts. Noch blieb ich still liegen, weil ich einfach nicht überriß, was mit mir geschehen war. Etwas hatte sich in meiner unmittelbaren Umgebung verändert, und ich bekam meine Hand nicht mehr los. Warum nicht, verdammt? Ich versuchte es noch einmal und setzte auch mehr Kraft ein. Es war nicht möglich. Zwar gab dieses Hindernis nach, aber meine Hand hielt es nach wie vor fest. Ein klebriges Band mußte da gespannt worden sein. Das wollte ich, verdammt noch mal, nicht hinnehmen, deshalb wollte ich mich aufrichten. Es blieb beim Versuch. Das heißt, um eine Kleinigkeit kam ich doch hoch. Dann schnellte ich wieder zurück, weil ich auch an der Brust gefesselt war. Deshalb dieser Druck, dieser verdammte Alp, der mich so stark gequält hatte. Warum, wieso? »Du bist ganz ruhig, Sinclair, ganz ruhig…« Eine wispernde Stimme, die sich anhörte wie leises Blätterrauschen, erreichte meine Ohren. Nicht Suko hatte gesprochen, sondern einer, der mir im Moment unbekannt war. Als ich länger darüber nachdachte, erinnerte ich mich an die Stimme. War er das? Ja, das mußte er sein. Alles, worüber ich bisher nur theoretisiert und spekuliert hatte, war nun zur Wahrheit geworden. Mit mir sprach Mandragoro, der Umwelt-Dämon! »Hörst du mich, Sinclair?« wisperte er. »Ja – ist schon okay.« »Wunderbar…« Meine Anspannung lockerte sich. Ich wußte, daß er meinen Tod nicht wollte. Irgendwo standen wir beide auf derselben Seite. Nur die Mittel, die wir einsetzten, waren verschieden. Ich war sehr gespannt, was er von mir wollte. Eine Warnung hatte er mir schon geschickt. Aber die lebende Alraune hatte wohl nicht gereicht. Meine Hand klebte auch weiterhin an diesem Faden fest. Sehr deutlich bekam ich das leichte Zittern mit, wußte aber nicht, wie ich es einordnen
sollte. Ferner war mir völlig unbekannt, wogegen ich die Hand gepreßt hielt. Es war keine Stange aus Metall. Glasfiber auch nicht, das hier war ein Material, das ich nicht kannte. Mein Herz schlug noch immer sehr schnell. Die Luft war feucht und dumpf, sie drang in Schwaden durch den Spalt am offenen Fenster. Als wäre das Boot von einer riesigen Nebelglocke gefangen worden. Zwar wurde ich von dieser ungewöhnlichen Brustfessel gehalten, den Kopf konnte ich noch drehen, verrenkte mir die Augen und schielte dem Fenster entgegen. War etwas zu sehen? Nebel, mehr nicht. Und ein Schatten. Ein Umriß, sehr düster, zitternd, leicht wabernd, aber im Zentrum heller. Ich hatte etwas gesehen, dessen Gestalt ich nicht begriff. Ich wußte nur, daß Mandragoro eingegriffen hatte, und ich kannte auch die Stärken des Umwelt-Dämons, dem die Natur zu gehorchen schien. Ich hatte ihn als pflanzliches Etwas erlebt, als Riesenblüte, aber auch als weit verzweigtes lebendiges Wurzelwerk. Er war im Prinzip ein Geist, der sich trotz allem in die Natur einfügen konnte wie das letzte Stück in einem Puzzle. Die Fesseln blieben. Meine Handfläche, die den dehnbaren Stab berührte, juckte. Ich dachte an die Elastizität, und dabei kam mir etwas in den Sinn, das ich in eine Verbindung zu Mandragoro brachte. Konnte es sein, daß er mich mit irgendwelchen Pflanzenfasern gefesselt hatte? Umschlangen mich lianenartige Gewächse, die nur ihm gehorchten? Es wäre eine Möglichkeit gewesen. Je länger ich über sie nachdachte, um so konkreter wurde sie für mich. Ja, das mußte es sein! Mandragoro hatte sich in den letzten Minuten still verhalten. Auch der Dunst hatte sich nicht mehr verdichtet. Es war beinahe wie die Ruhe vor dem Sturm. Wieder begann es mit einem leisen Zischen. Dann die Stimme. Rauschend und wispernd zugleich. »Ich habe dir bewußt Zeit gegeben, John Sinclair, um dich ans Nachdenken zu bringen. Es ist nicht gut für dich, wenn du hier meine Kreise störst. Die Menschen haben begriffen, wie sinnlos es ist, die Natur zu zerstören. Ich habe sie auf meine Seite bekommen, sie spielen mit. Wir sind keine Feinde, sondern haben uns zu einer Gemeinschaft geformt. Wir alle werden gegen diejenigen ankämpfen, die uns vernichten wollten. Die es darauf anlegen, die Natur zu zerstören, um ihren Gewinn zu machen. Ich weiß, was hier geschehen sollte. Es hatte eine Umänderung geben sollen. Alles sollte anders gewesen sein. Man wollte hier ein Paradies erschaffen, in dem Menschen sich wohl fühlen konnten. Ich kenne ihren Hang nach Paradiesen, ich weiß sehr gut, was sie damit meinen. Jeder möchte
seinem Leben entfliehen, seinem Beruf, seinem Alltag. Und nur Paradiese bieten diese Fluchtchancen. Perfekt gestylte künstliche Paradiese. Die einzige heile Welt. Zentren ohne Verbrechen, nur dem Vergnügen zugänglich. Man bringt die Tropen nach London. Man baut Hawaii unter einer gewaltigen Glaskuppel auf. Klinisch reine Tropen, ohne Insekten und wohl temperiert. Das alles wird schon gemacht, und hier will man ebenfalls die Landschaft verändern. Eine große Gesellschaft hat es sich vorgenommen, es wurden Männer geschickt, die sich umschauten, die mit den Menschen hier sprachen, über Landverkäufe redeten und den Bewohnern erste Summen boten…« »Und drei sind tot!« »Verschwunden, John!« »Wohin?« Ich hörte sein zischendes Lachen. »Du wirst sie nicht mehr finden, John. Keiner wird es schaffen. Sie haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sie erlebten den Alptraum-Sommer. Sie werden nie mehr zurückkehren, für sie ist es vorbei.« Da ich Mandragoro kannte und auch wußte, daß er kein Aufschneider war, glaubte ich ihm jedes Wort. Er war besser über die Hintergründe des Falles informiert. Aber was sollte ich tun? Ihm recht geben, meine Sachen packen und verschwinden? Ich atmete laut in den faulig riechenden Dunst aus. »Du hast recht, Mandragoro, und das weißt du auch. Aber du kennst mich, und du weißt, weshalb ich unterwegs bin. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen, ich bin derjenige, der diesen Fall aufklaren soll. Gemeinsam mit Suko, der dir auch nicht unbekannt sein dürfte. Deshalb kann ich dir zwar recht geben, aber ich darf nicht handeln, wie du es dir wünschst. Ich muß hier in Berris bleiben und meine Nachforschungen anstellen.« »Du wirst dabei kein Glück haben.« »Das weiß ich nicht. Es hat Morde gegeben, und ich kenne deine weiteren Pläne nicht. Wahrscheinlich wirst du es nicht darauf beruhen lassen, nehme ich an.« »Da hast du recht.« »Und wie weit willst du gehen?« »So weit wie möglich!« erklärte er. »Ich bin derjenige, der das Spiel in Gang gebracht hat. Ich kann es auch wieder abstellen. Doch erst dann, wenn ich es will.« »Du bist nicht allein.« »Das weiß ich, John, aber die Menschen stehen auf meiner Seite. Sie sind begeistert. Sie werden den Alptraum-Sommer hinter sich bringen, und wenn er dann vorbei ist und die Natur wieder stirbt, ist hier eine Welt geschaffen worden, wie ich sie für richtig halte. An diesem Teil des Flusses wird es keinem Konzern gelingen, irgendwelche Ferienwohnungen oder Hochhäuser zu bauen, das kann ich dir
schwören. Hier wird alles anders werden, das heißt, es ist schon anders geworden. Du wirst es sehen, wenn du dich umschaust.« »Ich werde nicht aufgeben, Mandragoro, das weißt du!« Er kannte mich, er wußte, daß ich hart blieb, und ich hörte ein Geräusch, das beinahe wie ein Seufzen klang. »Leider wirst du weitermachen, John. Du und Suko…« »Es kommt zur Entscheidung.« »Die ich nicht will.« »Dann laß uns in Ruhe.« Wieder wisperte mir seine Stimme entgegen. »Nein, ich werde euch nicht in Ruhe lassen. Ich hoffe darauf, daß ihr beide irgendwann zur Vernunft kommt. Ich gebe euch die Chance, zu schauen und zu sehen. Noch ist es dunkel, aber es kommt die Stunde, wo der Tag die Nacht ablöst. Da solltet ihr dann eure Augen offenhalten.« Es hatte sich angehört wie ein abschließendes Wort. Hätte ich jetzt eine Frage gestellt, ich hätte keine Antwort mehr bekommen. Plötzlich zitterte dieser seltsame Stab oder auch die Liane an meiner Hand. Das Jucken verstärkte sich, dann war der Druck verschwunden. Ich konnte den Arm wieder völlig normal bewegen. Und der Druck war plötzlich von meiner Brust genommen. Die Liane peitschte in die Höhe. Ich hörte, wie sie gegen die Decke der Kabine klatschte, dann zuckte sie wie eine außer Kontrolle geratene Schlange durch den Raum und verschwand. Ich richtete mich auf. Das Fenster lag in meiner Reichweite. Rasch hatte ich es ganz geöffnet und schaute hinaus. Nebel wallte wie ein dicker Vorhang um das Boot. Nicht einmal Umrisse konnte ich erkennen. Keine Lichter, keinen Himmel, nur das dicke, unnatürliche Grau. Ich stand auf, fühlte mich etwas benommen und preßte meine Hand gegen die Stirn. Ich überlegte, ob ich Suko wecken sollte, ließ es bleiben. Er brauchte auch seinen Schlaf. Normalerweise war Suko beim geringsten fremden Geräusch wach. Es mußte Mandragoro gelungen sein, ihn in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen. Wenn ich Suko jetzt wecke, verlor ich zuviel Zeit. Ich taumelte geduckt weiter. Noch immer war ich nicht richtig da. Der Schwindel trieb mich dicht neben dem Ausgang gegen die Wand, von der ich mich wieder abstützte. Mit taumeligen Bewegungen kletterte ich den Niedergang hoch und erreichte das Deck. Dort blieb ich stehen und saugte den feuchten Nebel ein. Ich erkannte kaum die Reling, so dicht war die Suppe geworden, ging hin und stützte mich daran ab, wobei ich meinen Oberkörper nach vorn beugte und versuchte, über das Wasser zu schauen.
Es war nicht einmal zu erkennen. Auf der Oberfläche des Flusses waberten die Wolken wie grauer dicker Schleim, in dessen Mitte sich jedoch ein mächtiger Schatten bewegte. Das mußte Mandragoro sein! Verdammt, ich hätte ihn noch nach den Wurzelmännchen fragen wollen, nach der Alraunen-Magie, denn damit stand er in einer sehr engen Verbindung. Zischend drang der Atem aus meinem Mund. Hinter meinen Schläfen pochte es, und allmählich löste sich der Nebel auf. Ein gewaltiger Quirl rührte in ihm um. Die Sicht wurde besser. Der Schatten war noch da. Über dem Wasser schwebte er. Sehr dunkel, teerschwarz. Kompakt, aber trotzdem irgendwo elegant. Auch mit einem hellen Fleck in der Mitte, als würde dort eine Laterne leuchten, deren Licht sich zitternd bewegte, als der Schatten ging. Was war das? Zeigte sich Mandragoro als gewaltiges Wurzelgeflecht, das sich auf dem Wasser bewegen konnte? Leider war der Dunst noch zu dicht. Meine Augen schmerzten schon vom langen Schauen, aber ich hatte bereits gesehen, daß sich der Schatten auf ›Stelzen‹ bewegte. Dem Umwelt-Dämon traute ich alles zu. Er blieb nicht auf eine Gestalt begrenzt. Er gehörte zur Natur, er war ein Stück Natur, er konnte sich verändern und warum nicht in der Gestalt eines Tieres auftreten? Noch einmal zuckte das helle Gesicht in der Mitte, dann verschwand der Körper am gegenüberliegenden Ufer in der Böschung. Zurück blieb ich. Mein Blick fiel auf eine leere Wasserfläche, auf der die Dunstschwaden dabei waren, sich zu verteilen und dabei zu sehr dünnen Tüchern wurden. Es sah so aus, als besäße das Wasser die Kraft, den Dunst zu verschlucken. Allmählich bildete sich die normale Umgebung zurück. Die Dunkelheit war nicht so dicht, als daß ich nicht die Umrisse der Häuser hätte erkennen können. Sie sahen aus wie ein künstliches Dorf, das jemand an das Flußufer hingestellt hatte, als wollte er dadurch gewisse Lebensbedingungen testen. Die dumpfe Schwüle war mit dem Nebel ebenfalls verschwunden. Es gelang mir wieder, frei zu atmen, und ich freute mich darüber, daß die Luft kühler geworden war. Dann trat ich zurück. Meine Gedanken drehten sich natürlich um Mandragoro und dessen Pläne. Daß Suko und ich sie stören würden, lag auf der Hand. Wir mußten uns einfach in die Quere kommen. Bisher hatte ich ihm in gewisser Hinsicht vertrauen können. Es war immer zu einem Kompromiß gekommen. Wir hatten uns beide nichts vorwerfen können. Diesmal aber würden wir seine Pläne direkt stören. Er war dabei, sich etwas
aufzubauen, das für ihn Modellcharakter besaß. Daß er sich da vertreiben ließ, wollte ich nicht glauben. Uns standen schwere Zeiten bevor, denn ich dachte nicht daran, den Rückzug anzutreten. Hinter mir hörte ich leise Schritte. Ich wußte, daß es Suko war. Er stellte sich neben mich, schaute ebenfalls auf das Wasser. Nach einer Weile sagte er: »Ich denke, du hast mir etwas zu sagen, John.« »Das denke ich auch.« »Und was habe ich verpaßt?« »Wie kommst du darauf, daß du etwas verpaßt haben könntest?« Er drehte den Kopf und lachte leise. »Das ist ganz einfach. Wenn jemand schläft, merkt er normalerweise nicht, wenn etwas mit ihm dabei geschieht. Vor allen Dingen dann nicht, wenn aus dem Schlaf ein Zustand der Lethargie wird. Ich hatte plötzlich den Eindruck, sehr tief zu fallen.« »Kann sein.« »Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich wußte, daß um mich herum einiges geschah, aber es war mir nicht möglich, dies nachzuvollziehen. Du begreifst, was ich damit sagen will?« »In etwa schon.« »Da dir das nicht passiert ist, könntest du mir berichten, was sich abgespielt hat.« Ich schaute zum gegenüberliegenden Ufer und murmelte: »Mandragoro hat uns besucht.« Suko erwiderte nichts. Falls er überrascht war, hatte er es gut verstanden, seine Überraschung zu verbergen. Da Suko schwieg, berichtete ich weiter. »Er hat uns gewarnt!« »Das kann ich mir denken. Wildern wir in seinem Revier?« »Alles deutet darauf hin.« »Er hat natürlich Pläne.« »Sicher.« »Dabei störten ihn drei Männer, die nun tot oder verschwunden sind, nehme ich an.« »Stimmt auch.« Suko räusperte sich. »Hat Mandragoro die Männer getötet? Gab er das dir gegenüber zu?« »Nicht direkt. Er blieb dabei, daß die Männer verschwunden sind. Wie sie ums Leben kamen, hat er mir nicht gesagt.« »Was ist dein Fazit?« »Wir können diesmal davon ausgehen, daß Mandragoro nicht auf unserer Seite steht. Es muß ihm auch gelungen sein, den Bewohnern von Berris ein anderes Bewußtsein einzupflanzen. Sie stehen auf seiner Seite und werden uns als Fremde wohl kaum akzeptieren.«
»Das habe ich befürchtet«, flüsterte Suko und fügte sofort eine Frage hinzu. »Wie sehen deine Pläne aus, John? Hast du welche? Gibt es sie? Bist du sicher, daß…?« »Nein, ich habe keine konkreten. Für uns ist es wichtig, den Tag abzuwarten.« Mein Freund nickte etwas gedankenverloren. »Und wie hast du ihn gesehen?« fragte er. »In welch einer Gestalt ist er dir entgegengekommen?« »Es war schwer, ihn zu erkennen.« »Du weichst mir aus, John.« »Nicht bewußt, aber wenn ich dir eine Antwort gebe, basiert sie mehr auf einer Vermutung.« »Das ist besser als nichts.« Ich schaute wieder über das Wasser und stellte mir noch einmal die Nebelwolken darauf vor. Ebenfalls den Schatten, der sich im Zentrum des Nebels bewegte. »Er hat durch den Dunst keine konkrete Gestalt bekommen, Suko. Ich konnte nur mehr raten, und ich hatte dabei den Eindruck, daß sich Mandragoro als Geschöpf einer mutierten Fauna zeigte.« »Keine pflanzliche Gestalt?« »Ja. Er war…«, ich räusperte mich. »Er trat mir als eine Riesenspinne entgegen.« Mein Freund schwieg. Für ihn war das neu, für mich war es ebenfalls nicht normal, denn bisher hatte ich Mandragoro immer als Geschöpf der Flora angesehen. Wenn er sich nun als Monstrum zeigte, mußte das auch einen Grund haben. »Nachdenklich?« »Sicher, John. Hat er sich geändert?« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Wobei ich über eine zweite Möglichkeit nachdenke«, erklärte mein Freund. »Es kann doch sein, daß die Spinne, die einmal normal war, allein durch die mächtigen Kräfte unseres Freundes mutiert und deshalb auch so gewachsen ist.« »Kann durchaus sein.« »Ist das nicht wunderbar?« Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie kannst du nur so reden?« »Wir brauchen nur eine Riesenspinne zu finden und sie zu vernichten, John. Mehr nicht. Arachnophobia diesmal nicht als Film, sondern in der Realität.« »Du hast eine wunderbare Art, alles zu vereinfachen, das muß ich dir sagen.« »So reagiere ich nur, wenn ich nicht weiter weiß.« »Ich sehe auch keine Möglichkeit.«
Er schlug mir auf die Schulter. »Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Tag abzuwarten und dann mit gewissen Leuten im Ort zu sprechen.« »Da wirst du gegen eine Wand laufen.« »Man kann Lücken hineinschlagen.« »Optimist.« »Immer.« »Aber du warst nicht von einem Spinnenfaden gefangen. Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr sehe ich unsere Chancen sinken.« »Das mußt du mir genauer erzählen.« Ich tat es, und Sukos Optimismus sank dem Nullpunkt entgegen. Dennoch beschlossen wir, uns hinzulegen, um wenigstens noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Wir gingen beide davon aus, daß in dieser Nacht nichts mehr passieren würde… *** Der neue Tag weckte uns mit einer brütenden Hitze. Schon sehr früh schickte die Sonne ihre Strahlen aus dem wolkenlosen Himmel, und da wurde es in unserer Kabine rasch stickig. Die Kleidung klebte am Körper fest, nicht einmal durch das offene Fenster wehte ein kühler Luftzug. Das war wie im Dschungel. Suko hockte auf der Kante seiner Koje und hatte sein Kinn auf eine Handfläche gestützt. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie er einige Male den Kopf schüttelte. »Was hast du?« »Ich fühle mich wie gerädert und habe schreckliche Kopfschmerzen. Vielleicht hilft mir eine Dusche.« Er stemmte sich mit müden Bewegungen hoch. So kannte ich ihn nicht. Suko war zumeist agil oder zumindest gut drauf. Die letzte Nacht hatte bei ihm Spuren hinterlassen, was mir gar nicht gefiel, doch auch mir ging es nicht besser. Ich fühlte mich ebenfalls wie gerädert und fragte mich inzwischen, ob das nicht schon der erste Angriff auf uns war. Im Boot gab es eine Dusche, die Wassermenge jedoch war begrenzt, so daß wir mit dem Wasser haushalten mußten. Ich kroch aus der Koje, hörte Sukos Schimpfen über die Enge der Kabine und betrat wieder das Deck. Strahlende Helligkeit überfiel mich. Die Umgebung schien in der Morgensonne regelrecht explodiert zu sein. Ich trug leider keine Sonnenbrille und mußte meine Augen vor der strahlenden Kraft der Sonne mit der Hand schützen. Der Fluß sah anders aus. Nicht mehr so dunkel, sondern glitzernd, als wäre er mit Edelsteinen bestreut worden.
Der Wald am anderen Ufer sah aus wie eine Masse aus Knetgummi, durch die Farben in einem unterschiedlichen Grün schimmerten. Von sehr hell – fast golden – bis zu einem satten dunklen Grün, das bereits einen Stich ins Schwarze bekommen hatte. Unter dieser Helligkeit liegend, hätte mir der Wald eigentlich einladend und freundlich vorkommen müssen. Das war er nicht. Selbst jetzt sah er aus wie eine Warnung, erinnerte mich mehr an einen dichten Dschungel, dessen Ausläufer bis an den Rand des Ufers wuchsen und sogar noch darüber hinweg, denn manche Arme irgendwelcher Sträucher und Ranken schwebten über dem Wasser. Unter ihnen hatten sich düstere Tunnel gebildet, die dort endeten, wo die mächtigen Wurzeln der Bäume in das Erdreich hineingriffen und teilweise sogar aus ihm hervorschauten wie bleiche Arme mit kralligen Fingern, vergleichbar mit dem Mangrovenwald in den tropischen Regionen. Das also war Mandragoros neues Reich. Aber nicht nur an dieser Uferregion, auch hinter mir, wo sich der kleine Ort Berris an den Fluß schmiegte, hatte er seine Spuren bei den Menschen hinterlassen. Wenn ich ein Fazit ziehen wollte, mußte ich davon ausgehen, daß hier alles viel üppiger wucherte und wuchs als in einer vergleichbaren Region. Das war also kein normaler Wald. Hier hatte sich etwas verändert, und Mandragoro war daran nicht unschuldig. Ich war gespannt, was uns der Tag bringen würde. Suko rief nach mir. Die kleine Dusche war jetzt frei. »Fühlst du dich jetzt besser?« fragte ich ihn. »Nur äußerlich.« »Was ist mit deinem Innern?« »Kann ich dir nicht sagen, John. Jedenfalls nicht zum Jubeln.« Er grinste schief und wandte sich ab. Ich kam mit dem Rest des Wassers genau aus und atmete einige Male tief durch, als ich wieder das Deck betrat. Die frische Kleidung hatte ich übergestreift. Das Jackett war zwar zu warm, doch in Hemd und Hose konnte ich nicht gehen, weil ein jeder sonst meine Waffe entdeckt hätte. Suko stand an der Reling und schaute auf die Anlegestelle. Da wir am Rand festgemacht hatten, herrschte hier kaum Betrieb. Auf den beiden Nachbarbooten war niemand zu sehen. »Ich habe sogar Hunger, John.« »Dann geht es dir wieder gut.« »Manchmal trügt auch der Schein.« »Wie du willst.« »Wo sollen wir etwas essen?« »Drüben im Ort. Vielleicht wird man uns da etwas erzählen, wenn wir geschickt genug fragen.«
»Das werden die drei Verschwundenen auch getan haben«, gab ich zu bedenken und betrat den schmalen Holzsteg, der als Sicherheit zwischen der Kaimauer und unserem Boot angelegt worden war. Das Holz bewegte sich leicht unter meinen Füßen, gab aber nicht nach. Wir standen allein auf dem Kai. Etwa fünfzig Yard weiter erhob sich ein kleines Holzhaus, das mit all dem vollgepackt worden war, was Angler und Bootsfahrer so brauchten. Ein weißbärtiger Mann war dabei, Getränkekisten vor dem Haus aufzubauen. Durch die frühe Uhrzeit herrschte kaum Betrieb. Auch wir wollten es langsam angehen lassen und versuchten, uns wie Touristen zu benehmen. Den Anfang machten wir bei dem Mann. Als er unsere Schritte hörte, stellte er schnell eine Kiste ab und drehte sich um. So alt war er noch nicht, der Bart hatte, aus der Distanz gesehen, getäuscht. »Hi«, grüßte er und nickte. Wir grüßten zurück. »Schöner Tag heute, nicht?« »Klar, Mister.« Er grinste mich an. »Ein ideales Wetter, um mal richtig zu faulenzen.« »Was Sie ja nicht können.« »Nein, ich bereite mich auf das Sommergeschäft vor.« »Ach ja, Sommer«, sagte Suko und schaute sich dabei um. »Ist das hier um diese Jahreszeit immer so heiß und schwül?« Der Verkäufer wischte Schweißperlen von seiner Stirn. Das Gesicht verzog sich, er blickte zum anderen Ufer hin und meinte: »Vergleichen Sie Irland nicht mit England. Wir haben hier ein anderes Klima.« »Aber so heiß. Das ist schon ein Alptraum.« »Kann ich Ihnen auch nicht sagen. Es gibt halt diese Sommer, wo alles sehr früh beginnt. Dafür beginnt er im nächsten Jahr wieder später – oder auch nicht.« »Was sagen denn die übrigen Bewohner dazu?« fragte ich. Der Bärtige holte ein Tuch aus der Tasche und wischte von einer Standtafel die Angebote des letzten Tages ab. »Nichts. Was sollen sie auch sagen? Man muß es einfach nehmen, wie es kommt. Ist doch so – oder?« »Im Prinzip schon.« »Seien Sie froh, daß die Sonne scheint. Genießen Sie Ihren Urlaub, alles andere ist doch zweitrangig.« »Was meinen Sie damit?« fragte Suko. »Habe ich etwas gesagt?« »Nein, nein, schon gut.« Das Mißtrauen war in ihm entfacht. »Warum stellen Sie eigentlich so komische Fragen? Was haben Sie vor?«
Suko und ich schauten einander an, hoben die Schultern und taten ahnungslos. »Wie meinen Sie das, Mister?« wollte ich wissen. »Sind die Fragen so komisch.« »Ja.« »Können Sie das erklären?« Er strich durch seinen Bart und schaute uns scharf an. »Nein, das werde ich nicht erklären, aber wir hier in Berris mögen es nicht, wenn uns Fremde aushorchen wollen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Ist das denn schon passiert?« Er nickte mir zu. »Nicht nur einmal.« »Und weiter?« »Ich habe zu tun!« sagte er und wandte uns demonstrativ den Rücken zu. Da konnte man nichts machen. Wir gingen weiter und hatten einen ersten Eindruck von dem mitbekommen, was uns erwartete. Ich drehte mich noch einmal und sah das Fenster an der Schmalseite der Hütte. Da es im Schatten lag, sah ich hinter der Scheibe den Umriß des Mannes in einer bestimmten Position. So stand nur jemand da, der einen Telefonhörer ans Ohr drückte. »Er telefoniert schon«, sagte ich zu Suko. »Ist nicht verwunderlich. Ich nehme an, daß er einige Personen warnen wird. Wir scheinen nicht die ersten gewesen zu sein, die ihm solche Fragen gestellt haben. Und jetzt sind die anderen drei Frager verschwunden.« »Daraus folgt«, sagte ich, »daß man für uns dasselbe Schicksal vorgesehen hat.« »Ist anzunehmen.« Es gab keine direkten Wege oder Pfade, die vom Kai her in den Ort hineinführten. Alles war hier noch so wie vor hundert Jahren. Möglicherweise war das Pflaster erneuert worden, ansonsten beherrschte hier die Vergangenheit die Gegenwart. Der Kai und ein schmaler Platz gingen ineinander über. Die ersten Häuser standen im grellen Licht der Sonne. Dahinter führte die Straße her, auf der nur hin und wieder ein Wagen fuhr. Jenseits der Straße wohnten die Menschen. Es war relativ flach hier, nur hier und da lockerte ein Hügel die Landschaft auf. Wer hier gebaut hatte, hatte meist noch ein großes Grundstück. Die meisten Parzellen waren von Hecken oder Steinmauern umgeben, so daß von den Häusern nur die Dächer zu sehen waren. Es gab auch so etwas wie ein Zentrum. Es befand sich nahe der einzigen richtigen Straße. Dort hatte man neuere Häuser gebaut, denn man wollte den Touristen etwas bieten. Auch ein Ort wie Berris kam nicht ohne Geschäfte aus.
Wir dachten noch immer an unser Frühstück. Eigentlich suchte ich ein Cafe, das aber gab es nicht. Dafür eine Bäckerei, die schon geöffnet hatte. Suko schnupperte, als er den Duft frischer Brötchen roch. »Ist das nicht was für uns?« »Okay, gehen wir hin.« Ein junges Mädchen war dabei, frische Brote in die Auslage zu legen. Eine andere Frau, doppelt so alt, putzte den Laden. Sie war fertig und verschwand mit ihren Utensilien im Hintergrund. Die altbackene Einrichtung fiel uns auf. So etwas gab es in London nicht zu sehen. Wuchtiges Holz, dickes Glas, eine stabile Theke und einen Durchgang zur Bäckerei, der nur durch einen Vorhang vom Geschäft getrennt war. Das Mädchen fragte nach unseren Wünschen. Es war blond und hatte ein Puppengesicht. Der breite Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Können wir hier ein Frühstück bekommen?« fragte ich. »Ja.« »Dann hätten wir gern zwei.« Es gab Kaffee, frische Hörnchen und Brötchen. Dazu servierte uns das Mädchen Konfitüre, die sehr gut schmeckte und hausgemacht war. Wir hatten uns an einen der drei runden Tische gestellt und ließen es uns schmecken. »Das tut gut«, sagte Suko. »Da fühlt man sich doch gleich besser, finde ich.« »Das stimmt.« »Man sieht die Welt mit anderen Augen.« »Du hast recht.« Er ärgerte sich über meine einsilbigen Antworten und stieß mich deshalb an. »He, was ist los mit dir? Was hast du? Warum redest du so komisch?« Ich stand günstiger an der Schaufensterscheibe, hob den Daumen und deutete nach links. »Schau mal hinaus. Was siehst du?« Suko drehte den Kopf. »Vier Männer.« »Richtig. Die waren vorhin nicht da. Sie benehmen sich so unauffällig auffällig, daß ich direkt mißtrauisch werde.« Suko nickte. Seine gute Laune verschwand. »Der Telefonierer auf dem Kai.« »Genau.« »Sieht nicht gut aus.« »Da kommt noch ein fünfter hinzu.« »Haben sie Waffen?« »Nicht sichtbar.« Suko runzelte die Stirn. »Du schaffst es tatsächlich, mir den Appetit zu verderben.«
»Dann iß schneller.« »Danke.« Ich verließ den Platz und ging zur Theke, wo ich die Rechnung bezahlte. Das Mädchen lächelte wieder freundlich, und ich wies sie auf die Männer auf der Straße hin. »Kennen Sie die Leute?« »Klar, die gehören zu uns.« »Dann wohnen sie hier?« »Sicher.« »Danke.« Als ich zu Suko zurückkehrte, wischte dieser sich mit einer Serviette den Mund ab. »Es ist noch einer hinzugekommen, John. Jetzt sind sie zu sechst.« »Scheint wohl die Alarmtruppe zu sein.« »Oder Mandragoros Garde.« Ich wiegte den Kopf. »Nein, Suko, das glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich darauf verläßt. Er hat doch ganz andere Möglichkeiten.« »Das sagst du. Aber kann es nicht sein, daß er auch hier umdenken muß?« »Ich weiß es nicht.« »Jedenfalls halten sie uns unter Kontrolle. Auch wenn es heimlich geschieht, sie fallen auf.« Wir verließen das Geschäft. Vor der Tür blieben wir stehen und taten so, als würden wir in die Sonne blinzeln. Über dem Ort lag eine sommerliche Wärme, allerdings war es nicht schwül, sondern frisch und auch von blumigen Gerüchen durchzogen. »Wohin jetzt?« fragte Suko. »Mandragoro finden.« »Toll. Sollen wir die Typen dort mal fragen?« »Das machen wir auch.« Wir gingen nach dem Motto vor, daß Angriff die beste Verteidigung ist. Als die sechs Einheimischen sahen, daß wir sie direkt ansteuerten, kam Bewegung in die Gruppe. Sie liefen zwar nicht weg, aber sie fühlten sich plötzlich unwohl, flüsterten miteinander und nahmen eine abwartend mißtrauische Haltung an. »Guten Morgen«, grüßten wir gemeinsam. »Gibt es bei Ihnen irgendwelche Probleme, Gentlemen?« Einer trat vor. Er trug eine Schiebermütze auf dem Kopf und eine zu enge Cordjacke. »Wir mögen keine Fremden, verstehen Sie? Keine, die dumme Fragen stellen.« »Wir haben gar nichts gesagt«, erklärte ich. »Uns nicht, aber dem Mann am Kai.« »Ist das verboten?« »Keine Fragen.«
Ich nickte. »Ja, ich weiß, daß man es hier nicht gern hat, wenn jemand fragt. Es gibt Beispiele genug.« »Wieso?« Ich hob drei Finger. Mehr tat ich nicht. Die Männer schauten sich an. Ich befürchtete schon, daß es zu einer Auseinandersetzung kommen würde, aber sie schwiegen. Wir ließen sie stehen. Als wir ihnen den Rücken zudrehten, spürte ich schon das Kribbeln auf der Haut, doch ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie uns hinterrücks angriffen. Ich behielt recht. Das Dorf war nicht groß. Nur wenige Gassen und Pfade führten an Hecken und Vorgärten vorbei. Aus dem dichten Grün mancher Hecken schimmerten bunte und dicke Blüten hervor. Sehr groß waren sie, auch ungewöhnlich farbig. In dieser Pracht hatte ich sie noch nie erlebt. Auch Suko wunderte sich darüber. Er blieb stehen und faßte eine Blüte an. »Wie Fleisch«, sagte er. »Mandragoro.« »Kann sein.« Wir gingen langsamer an der Hecke weiter. Gegenüber befand sich ein kleiner Friedhof. Seinen hinteren Abschluß bildete der wuchtige Glockenturm einer schmalen Kirche. Auch der Friedhof war so dicht bewachsen, daß es uns kaum gelang, die einzelnen Grabsteine hinter diesem Flechtwerk zu erkennen. »Das ist nicht normal«, sagte Suko. »Hier ist magisch manipuliert worden, glaube es mir.« »Das nehme ich auch an.« Die Hecke wurde durch ein Tor unterbrochen. Es war nicht hoch, der obere Rand reichte uns bis zum Gürtel. Vom Tor her führte ein schmaler Weg auf ein kleines Haus zu, dessen Fassade von fettig wirkenden Pflanzen und Blättern überwuchert war, daß nur mehr Lücken für die Fenster freiblieben. Ein altes Auto parkte neben dem Haus, und seine Tür schwang plötzlich auf. Wir sahen zwei in Turnschuhen steckende Füße, nackte Beine, dann einen Körper, der zu einem Jungen gehörte. Er trug eine Jeans und ein rotes T-Shirt. Der Junge hatte uns gesehen. Mit schnellen Schritten lief er auf das Tor zu. »Hi«, sagte er ein wenig atemlos und strahlte uns aus blauen Augen an. »Wollt ihr zu meinem Großvater?« »Vielleicht.« »Er ist zu Hause.« »Okay, und wie heißt du?« »Ich bin Kelly.« »Ein toller Name«, lobte Suko.
»Klar.« Kelly strich durch sein braunes Haar. Es war modern geschnitten, an den Seiten kurz, das Deckhaar länger. »Ich bin auch toll, und ich werde bald meine Prinzessin finden.« »Tatsächlich?« staunten wir. »Ja.« Er nickte einige Male. »Sie wohnt hier. Das weiß ich genau. Ich muß nur eben hin.« »Wer hat dir das denn gesagt?« »Ich habe sie gehört.« »Wo?« »In der Nacht.« »Okay, mein Junge, dann wünsche ich dir viel Glück«, sagte ich lächelnd, bevor ich mich nach seinem Großvater erkundigte. »Ja, er ist da. Grandpa sitzt in seiner Werkstatt und schnitzt. Er hat wieder Nachschub bekommen.« »Was ist mit deinen Eltern?« fragte Suko. »Die sind für einige Wochen verreist. Nach Rußland.« Stolz schimmerte in Kellys Augen. »Da muß mein Vater nämlich arbeiten. Er ist Ingenieur in einem Atomkraftwerk und sorgt dafür, daß alles sicher wird.« »Das ist auch nötig«, bestätigte Suko. Ich hatte eine andere Frage. »Was schnitzt denn dein Großvater? Und was bedeutet der Nachschub?« »Er hat ihn aus dem Wald geholt. Wurzeln. Richtige Klötze. Daraus macht er dann die kleinen Männchen. Kennt ihr die Galgenmännchen, die Erdmännchen oder die Wichtel?« Nicht nur bei mir schlug eine Alarmglocke an. Suko erging es ebenso, und er schaute mich mit einem Blick an, der eigentlich alles sagte. »He, warum antwortet ihr nicht?« Kelly stützte sich auf den oberen Torrand und sprang hin und her. »Habe ich euch erschreckt? Glaubt ihr, daß ich ein Märchen erzählt habe?« »Vielleicht.« »Es gibt sie. Sie sind toll. Wir lieben sie alle hier. Alle, die hier wohnen.« »Und dein Großvater stellt sie her?« erkundigte ich mich noch einmal. »Ja, er ist der beste. Er sagt immer, daß es keine so guten Wächter gibt wie sie. Sie bringen uns Glück, auch meinen Eltern, die immer viel unterwegs sind. Großvater sagt auch, daß dies ein besonderer Ort ist, ein auserwählter. Habt ihr noch nicht bemerkt, wie toll die Blumen riechen? In diesem frühen Sommer ist das super. Es wird hier alles anders werden.« »Sagt das auch dein Großvater?« »Ja.« »Dann werden wir mit ihm sprechen.« »Gern.« Der Junge öffnete das Tor. »Soll ich ihm sagen, daß Besuch da ist?« Er wollte schon loslaufen, doch ich schnappte mir seinen Arm. »Nein, wir werden ihn finden.«
»Gut, ich muß nämlich einkaufen.« »Gehst du nicht in die Schule?« fragte Suko. »Nein.« »Das ist aber komisch«, sagte Suko. »Warum? Ich brauche das nicht.« »Bist du so gut?« »Weiß ich nicht. Ich kann aber alles, glaubt mir.« Er lachte und drängte sich an uns vorbei. »Wieso kannst du alles?« rief ich ihm nach. Nach drei Schritten drehte er sich herum. Ein Schatten huschte über sein Gesicht und veränderte es für einen winzigen Moment. Ich hatte den Eindruck, nicht mehr in ein normales Gesicht zu schauen, sondern in eine rindenartige Fratze. Quatsch, jetzt bildete ich mir schon etwas ein. »Ich bekomme noch eine Antwort von dir!« Kelly lachte kindhell auf. Er warf die Arme hoch, als wollte er den hellen, seidigen Himmel berühren. »Ganz einfach, Mister, weil ich über hundert Jahre alt bin…« Dann rannte er weg! *** Ich stand da und hatte das Gefühl, in einem kalten Keller zu stehen, nur nicht mehr in der Hitze. Sehr langsam hob ich die Hand und strich über das Nackenhaar. »Hast du das gehört, Suko?« »Ich bin nicht taub.« »Und was sagst du dazu?« Er räusperte sich. »Ich kenne den Jungen nicht, ich kann ihn nicht einschätzen. Er könnte ein Aufschneider sein, braucht es aber nicht. Wo es Riesenspinnen gibt, können auch Kinder existieren, die hundert Jahre und älter sind. Oder etwa nicht?« fragte er mich mit einem beißenden Spott in der Stimme. »Keine Ahnung.« Der Inspektor deutete auf das Haus. »Eine Frage mal, Alter. Müssen wir ›beide‹ diesen Großvater besuchen? Oder reicht einer von uns dabei völlig aus?« Ich lächelte schief. »Du willst hinter dem Jungen her, nicht wahr?« »Das hatte ich mir vorgestellt. Er wollte doch seine Prinzessin suchen. Vielleicht kann ich ihm dabei helfen.« Ich winkte ab. »Kindermund.« »Bei einem Hundertjährigen?«
Mein Lächeln fiel verzerrt aus. »Okay, ich merke schon, worauf alles hinauslaufen wird. Wenn du willst, schau mal nach, wohin sich unser Freund gewendet hat.« »Gern, und du kannst dann den Großvater mal fragen, ob er dann dreihundert Jahre zählt. Müßte ja in der Relation hinkommen.« »Okay, okay, viel Spaß.« »Danke gleichfalls.« Uns war nicht nach Lachen oder einem Scherz zumute. Das letzte Gespräch war eher in einem bissigen Tonfall geführt worden. Wir ahnten beide, daß uns der Junge keinen Bären aufgebunden hatte und daß etwas auf uns zuschwebte, vergleichbar mit einer unsichtbaren Würgeschlinge, die sich allmählich um unsere Hälse zuzog. Suko war verschwunden. Ich konnte mir die Hecke noch von der Innenseite anschauen und stellte fest, daß die dicken, farbigen Blüten ein regelrechtes Muster bildeten. An verschiedenen Stellen hatten sie sich in das helle Grün eingedrängt, und manche von ihnen bewegten ihre langen und oft breiten Blätter wie Mäuler, die drauf warteten, etwas in den Rachen geworfen zu bekommen. Ich dachte an fleischfressende Pflanzen und auch daran, daß ich so etwas schon einmal erlebt hatte. Nur hatten diese Pflanzen sich auf Menschen spezialisiert und sie verschlungen, angetrieben von einem teuflischen Gärtner. Da ich dicht hinter dem Tor mitten auf dem Weg stand, konnte man mich vom Haus aus gut sehen. Sicherlich war ich schon entdeckt worden, aber dieser Großvater des ›Hundertjährigen‹ (klang wie ein Witz) ließ sich nicht blicken. Gemächlich, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen, schlenderte ich auf das Haus zu. Der grüne Pflanzenwuchs sah aus, als wollte er es begraben und hatte wirklich nur die Fenster freigelassen. Sogar auf dem Dach hatte er sich ausgebreitet und rankte über die Dachrinnen hinweg. Die Tür des Hauses befand sich genau in der Mitte und bildete die Rückseite eines Windfangs. Ich versuchte, mich auf das Haus zu konzentrieren und auf seine Aura. Jedes Gebäude besitzt so etwas. Da überkommt einen Menschen dann ein gewisses Gefühl, ob das Haus positiv oder negativ eingestellt ist. Ich spürte hier nichts. Etwas anders war es schon, trotz des Sonnenlichts düster, das aber mochte an den dichten Gewächsen liegen, die die Hauswand wie einen mächtigen Farbanstrich umgaben. Der Weg war nicht gepflastert, sondern mit grauen Steinen bestreut, die unter meinen Schritten knirschten. Die Haustür schälte sich allmählich aus dem Düster des Windfangs hervor. Sie war fensterlos und dunkel gestrichen, möglicherweise auch grün, und wurde plötzlich von innen her aufgezogen.
Dabei entstand ein Geräusch wie in einer Mühle, wo Knochen zermalmt wurden. Ich blieb stehen. Im Ausschnitt der offenen Tür erschien eine Gestalt. Sie war so groß wie ich, trug ein kariertes Hemd, eine Cordhose, an der auf beiden Beinen kleine Holz- oder Wurzelsplitter hingen. Für mich ein Zeichen, daß ich den Mann bei der Arbeit gestört hatte. Er war älter als ich. Sein Gesicht hatte vom Haaransatz bis zur unteren Hälfte einen hellen Schein bekommen, doch es war nicht der Heiligenschein, sondern der dichte Pelz eines weißen Barts, der im leichten Windzug zitterte. Die übrige Gesichtshaut zeigte eine gesunde sonnenbraune Farbe, wobei mich die Nase des Mannes an eine dicke Knolle erinnerte und mir der Vergleich mit dem Filmschauspieler Karl Maiden in den Sinn kam. Kleine Augen blinkten mir entgegen, und die einladende Handbewegung bedeutete, daß ich doch näher kommen wollte. Was ich auch tat. Ich ging locker, obgleich ich innerlich sehr gespannt war. Die drei Verschwundenen wollten mir nicht aus dem Sinn, und mir, dem Vorgewarnten, sollte es nicht auch so ergehen. Der Mann lächelte, als er sich vorstellte. »Mein Name ist Patrick O’Hara, Mister. Wie ich sehe, wollen Sie mir einen Besuch abstatten. Mein Enkel hat ja schon mit Ihnen geredet. Seien Sie mir also herzlich willkommen.« Er reichte mir die Hand, in die ich meine nach einem kurzen Zögern legte. Die Haut fühlte sich rauh an, so daß ich mir vorkam wie jemand, der einen Backstein umschlossen hatte. Der Griff war kräftig, es war eben eine Hand, die das Arbeiten gewohnt war. »Ich heiß John Sinclair.« »Fremd hier, nicht?« »Ja.« »Seien Sie mir trotzdem willkommen, Mr. Sinclair.« Er ließ meine Hand los und gab den Weg in sein Haus frei. Ich ging vor. Bisher hatte ich gelächelt, doch das gefror mir kurze Zeit später schon auf den Lippen, als ich den Geruch wahrnahm, den ich verdammt gut kannte. Es roch nach Blut! *** Suko wußte nicht, ob er richtig gehandelt hatte, als er sich dazu entschloß, den Jungen zu verfolgen. Jetzt waren er und John getrennt, das gefiel ihm nicht. Auf der anderen Seite hatten sie es oft so gehalten,
daß sie getrennt marschierten und vereint zuschlugen. Er konnte sich gut vorstellen, daß sowohl der Großvater und dessen angeblich hundertjähriger Enkel von einem Geheimnis umgeben waren, in dem Mandragoro, die Alraunen und dieser Sommer mit dem dschungelartigen Bewuchs eine Rolle spielten. Es war ja nicht nur einfach ins Leere hineingedacht. Suko brauchte nur in die Gärten zu schauen, um seinen Verdacht bestätigt zu bekommen. Was dort alles wuchs und gedieh, war wesentlich üppiger und größer als in anderen Regionen der Insel. Suko hatte zudem Glück gehabt. Der Vorsprung des Jungen war nicht so groß gewesen, als daß er den Kleinen aus den Augen verloren hätte. Und Kelly benahm sich wie ein normales Kind in seinem Alter. Da wies nichts auf sein angeblich hohes Alter hin. Über eines wunderte sich Suko ein wenig. Der Junge hatte nicht die Sonnenbräune, die er bei einem derartigen Wetter hätte haben müssen. Seine Haut war ziemlich blaß. Ihr fehlte die gesunde Frische. Warum? War er zu lange im Haus gewesen? Hatte er sich nur bei seinem Großvater in der Werkstatt aufgehalten? Da konnte es zahlreiche Gründe geben, die aber waren für Suko momentan nicht wichtig. Er mußte Kelly unter Kontrolle halten, um zu erfahren, was er vorhatte. Der Junge verhielt sich wie jedes normale Kind in seinem Alter. Wenn er sich bewegte, dann sprang er mehr, als daß er lief. Er hüpfte an den Vorgärten und Mauern entlang, bevor er sich scharf nach rechts wandte und eine Abkürzung nahm, die dort endete, wo sich das Zentrum des Ortes befand. Als Suko am Beginn der Gasse stehenblieb und sich unter den Zweigen blühender Kirschbäume hinwegduckte, die über eine hohe Mauer hinwegwuchsen, konnte er jenseits des Gassenendes bereits die Bäckerei erkennen, in der er zusammen mit John das Frühstück eingenommen hatte. Die Sonne schickte ihre Strahlen gegen die Scheibe des Schaufensters und ließ sie aufglänzen wie einen Spiegel. Erst als der Junge nicht mehr zu sehen war – er hatte sich nach links gewandt – setzte auch Suko seinen Weg fort. Er ging zügig voran, leicht geduckt, weil er mit dem Kopf nicht gegen die Zweige schlagen wollte. Am Ende der Gasse blieb er stehen. Ein Lächeln umhuschte seine Lippen, als er das Ziel des Jungen sah. Es war einer dieser fahrenden Händler, die in ihrem Wagen Eis verkauften. Kelly stand dort zusammen mit zwei anderen Jungen und leckte an einem Rieseneis.
Suko lächelte in sich hinein, als er daran dachte, daß sich so kein Hundertjähriger benahm. Er fragte sich allerdings, wie der Junge darauf gekommen war, so etwas zu sagen. Hatte er sich das nur ausgedacht? Es war wirklich schwer, so etwas nachzuvollziehen, und Suko wollte sehen, wie er sich weiter verhielt. Hoffentlich lief er nicht zu seinem Haus zurück, das hätte nichts gebracht. Er hörte einen schrillen Pfiff. Sofort schaute Suko nach rechts. Dort lag die Bäckerei. Und vor ihrem Schaufenster entdeckte er drei der Männer, die zu den sechs gehört hatten, die ihm überhaupt nicht gefielen. Wem der Pfiff galt, erfuhr Suko nicht, aber die Männer trennten sich und schlenderten betont langsam davon. Suko drehte sich um. Es geschah aus einem Instinkt heraus, und er hatte recht damit getan. Die drei anderen standen hinter ihm. Einer hielt in der rechten Hand einen knotigen Knüppel, den er lässig gegen seine linke Handfläche schlug, als wollte er sich durch das dabei entstehende klatschende Geräusch selbst Mut machen. Sein Gesicht zeigte einen wütenden, verbissenen Ausdruck, und er ließ unter dem Hemd die Oberarmmuskeln spielen. »Da bist du ja noch!« sagte er. »Und diesmal allein.« Es waren die Worte für seine Kumpane gewesen. Sie schoben sich näher heran. Auch sie waren mit Knüppeln bewaffnet. Suko runzelte die Stirn. Vielleicht wunderten sich die Typen, daß er keine Angst zeigte, aber in derartigen Situationen blieb der Inspektor gelassen, da er sie nicht zum erstenmal in seinem Leben erlebte. »Ja, ich bin noch da. Mir gefällt es hier. Berris ist ein hübscher Ort, um Urlaub zu machen.« »Stimmt, darauf sind wir auch stolz.« »Darf ich das bezweifeln?« Der Sprecher grinste schief. »Wir wollen nur nicht jeden haben, der hier herumschnüffelt und dumme Fragen stellt. Kannst du das nicht kapieren, Chinese?« »Habt ihr schlechte Erfahrungen damit gemacht?« »Und ob.« »Was ist denn mit den Fragern geschehen? Ich möchte das wissen, damit ich mich darauf einstellen kann.« Suko sprach leise, er lächelte dabei sogar. »Die sind nicht mehr hier…« »Ähm… ihr habt sie hinausgeprügelt.« »So ungefähr.« »Aber doch nicht erschlagen – oder?« Der Sprecher war jetzt still. Er überlegte, dann ging er einen Schritt vor. »Was soll das heißen, Chink?«
»Die drei Männer sind verschwunden. Das steht fest. Oder wollen Sie mir widersprechen?« »Weiß nicht.« »Deshalb frage ich mich, wo sie sein könnten? Hätten Sie da keine Antwort für mich?« »Du bist nicht nur neugierig, Chink, du bist auch dummdreist. Wir werden dir mal aufs Haupt klopfen. Du weißt doch, leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen.« »Dann haben Sie aber zuwenig davon bekommen«, erklärte Suko mit weicher Stimme und einem provozierenden Lächeln. Das war zuviel. Der Kerl sprang vor, holte aus und drosch zu. Suko hörte, wie der knotige Knüppel durch die Luft pfiff. Ein Treffer hätte ihn zertrümmern können, aber der Inspektor war schnell. Er tauchte in dem engen Gang nach rechts weg. Gleichzeitig schoß sein Arm schräg in die Höhe, dann kollidierte seine Handkante mit dem Unterarm des Mannes. Der Schrei hörte sich an wie das Röhren eines Büffels. Die Augen des Mannes waren plötzlich blutunterlaufen. Zu einem zweiten Hieb ließ Suko den Kerl nicht kommen. Diesmal drosch er ihm die Faust ins Gesicht. Der Mann flog herum und prallte mit dem Kopf gegen die Innenseite der rauhen Mauer. Er schlug sich die Nase ein, heulend ging er in die Knie. Die anderen Kerle überwanden ihren Schock und wollten sich gemeinsam auf Suko stürzen, der aber hielt plötzlich seine Beretta in der Hand, und dieser Anblick wirkte wie eine Wand, gegen die die beiden Typen gelaufen waren. Sie standen starr. »Laßt am besten eure Zahnstocher fallen«, sagte Suko. Als die Knüppel zu Boden fielen, schaute er auf den Anführer. Der hielt sein Gesicht in den Händen verborgen. »Wenn du schießt, Chinese, geht es dir dreckig!« »Wie dreckig denn?« »Das wirst du schon sehen.« »Wie den drei fremden und jetzt verschwundenen Männern?« hakte er nach. Die Männer schwiegen. Allerdings so überhastet und verbissen, daß es schon verdächtig und unnatürlich wirkte, wie sie ihre Kiefer zusammenpreßten. »Wo sind die drei?« »Wissen wir nicht!« »Sind Sie tot?« »Wissen wir nicht.« »Könnt ihr auch etwas anderes sagen?« »Wer bist du?«
»jemand, der…« Suko beendete seine Antwort, denn er hatte Kellys Stimme gehört. Der Junge rief seinen Kameraden zu: »Bis später dann.« »Wann denn?« »Heute abend!« Suko fuhr herum. Er sah, wie Kelly weglief und dabei den Weg zum Fluß eingeschlagen hatte. »Wir reden später«, erklärte Suko den beiden Schlägern und ließ die Beretta verschwinden. Dann nahm er die Verfolgung auf. Er ging davon aus, daß Kelly ein bestimmtes Ziel hatte. Suko erinnerte sich daran, daß der Junge eine Prinzessin suchen wollte. Das konnte natürlich eine Ausrede gewesen sein, brauchte es aber nicht unbedingt, denn was hier lief, war kaum zu durchschauen. Hier waren geheimnisvolle Kräfte am Werk gewesen, die es auch verstanden, Menschen zu manipulieren und sie zum wichtigen Teil einer großen Sache zu machen. Kelly bemerkte nicht, daß ihm jemand auf den Fersen blieb. Zum Glück bot der Ort genügend Deckungsmöglichkeiten, hinter denen sich Suko immer wieder zurückziehen konnte. Mochte er auch manchen Zeugen verdächtig erscheinen, das war ihm egal. Sie näherten sich dem Fluß. Das war nicht nur zu sehen, auch zu riechen. Von ihm aus zogen weiche, dunstige Schleier heran, die einen bestimmten Geruch absonderten. Es stank nach Fäulnis, abgestorbenen Pflanzen und nach Feuchtigkeit. Über dem Wasser lagen hauchdünne Schleier wie Gespenster des Tages. Sie ließen das Dorf hinter sich. Es existierte ein schmaler Weg, der dem Flußlauf parallel folgte und ideal für Wanderer und Radfahrer war. Hier konnte man noch gut Urlaub machen, vorausgesetzt, man liebte die Natur, der Suko in diesen Minuten skeptisch gegenüberstand, wenn er sich das Unterholz und die Bäume genauer anschaute. Es wuchs alles zu hoch, auch zu üppig. Diese Vegetation paßte in die Tropen, aber nicht zu Irland. Das war einfach zu extrem. Hier hatte eine andere Kraft manipuliert, und das traute Suko einem Wesen wie Mandragoro ohne weiteres zu. Hin und wieder wuchsen die Zweige über dem Weg zusammen. Dann verschwand er trotz des hellen Sonnenlichts stets in einem dämmrigen, feuchten, grünen Tunnel, der aus dem laufenden Jungen eine schattenhafte Gestalt machte. Auf einmal war er weg, war dort verschwunden, wo einer dieser kurzen Tunnel endete.
Suko lief langsamer weiter. Er hatte nicht gesehen, an welcher Seite der Junge in das Unterholz eingetaucht war, aber er mußte sich einfach für eine entscheiden. Es war still, bis auf das Summen der zahlreichen Insekten. Deshalb hörte er auch die schleifenden und knackenden Geräusche von der linken Seite her. Da war Kelly verschwunden. Suko entdeckte so etwas wie einen schmalen Pfad. Auch zu erkennen, weil einige Zweige abgerissen waren und das Gras zertreten war. Dieser Weg führte zum Fluß. Geduckt schlich der Inspektor hinter Kelly her. Er hielt seinen Blick nach vorn gerichtet, konnte aber nicht viel sehen. Die vor ihm liegende Umgebung erinnerte ihn an eine grüngraue Decke, in die an zahlreichen Stellen Löcher geschnitten worden waren, damit helleres Licht hindurchfallen konnte. Es schimmerte, es spiegelte und zuckte. Vor allen Dingen dann, wenn die Sonnenstrahlen gegen die Wellen hüpften, so daß sie gewisse Reflexionen in die Ufergegend streuen konnten. Plötzlich hörte er Kellys Stimme. Was der Junge sagte, verstand er nicht. Er sprach mit sich selbst. Dem Klang nach zu urteilen, mußte er ziemlich fröhlich sein. Sorgen belasteten ihn nicht. Wahrscheinlich dachte er an seine Prinzessin, die er bald treffen würde. Suko tauchte unter. Er bewegte sich wie ein Apache auf dem Kriegspfad weiter, rutschte über den Boden. Pflanzen und Blätter streiften dabei an seiner Haut entlang. Als sich der Wald lichtete und das Unterholz direkt vor ihm lag, kroch er an einem Brombeerstrauch vorbei, hinter dem das fett wirkende Gras nicht so hoch wuchs, so daß ihm ein guter Blick auf den Fluß gestattet war und auf den hangen. Kelly stand am Ufer. Es sah aus, als wäre er sich noch nicht schlüssig, was er in den folgenden Minuten unternehmen sollte, denn er schaute über den Fluß hinweg zum anderen Ufer, wo sich der urwaldähnliche Wald im leichten Wind bewegte und aussah wie ein grünes breites Tuch, das zitternd auf der Stelle geschwenkt wurde. Kelly bückte sich. Er ging auch vor. Die platschenden Geräusche deuteten Suko an, daß er sich bereits durch das Wasser bewegte. Es ging etwas bergab, seine Gestalt wurde kleiner. Dabei schienen die Schilfrohre und das Gras noch höher zu wachsen. Schließlich war Kelly ganz verschwunden, aber nur, weil er sich gebückt hatte. Suko wußte nicht, was der Junge da vorhatte. Bewegungslos jedenfalls stand er nicht. Sein Rücken schob sich hin und her. Er mußte sich mit
irgendeinem Gegenstand beschäftigen, der auf dem nahen Uferwasser schwamm. Suko ging davon aus, daß es ein alter Kahn war. Und richtig. Als Kelly wieder hochkam, schob sich vor ihm etwas Langes durch den Schilfgürtel und bog die Zweige zur Seite. Sie zeigten sich widerspenstig wie lange Arme, die es nicht zulassen wollten, daß jemand ihren Wuchs durchbrach. Wenig später bewegte sich Kelly hektisch. Wasser spritzte hoch. Die Tropfen glitzerten wie kostbare Perlen, bevor sie wieder in den Fluß zurückfielen. Ein Sprung, und der Junge hatte den Kahn geentert. Er griff nach den Rudern, stocherte damit im nahen Uferschlick herum und sorgte für eine Vorwärtsbewegung. Es dauerte nicht lange, bis er den Schilfbereich hinter sich gelassen hatte und auf die Flußmitte zuruderte. An den Bewegungen erkannte Suko, daß Kelly nicht zum erstenmal ruderte. Sie waren glatt und geschmeidig, beim Eintauchen der Blätter spritzte es kaum. Suko drückte sich vorsichtig hoch – und zuckte sofort wieder zurück in Deckung, weil Kelly sich im Boot umgedreht hatte und zum Ufer zurückschaute. Hatte er etwas bemerkt? Suko sah für einen Moment das Gesicht des Jungen. Er hatte es als ziemlich blaß in Erinnerung. In dieser winzigen Zeitspanne aber kam es ihm alt, verschorft, dunkel bis hellbraun vor, wie eine Baumrinde, die jeden Moment abbröckeln konnte. Danach drehte sich Kelly wieder um und nahm seine Ruderbewegungen auf. Er wollte an das andere Ufer. Genau dorthin, wo der Wald wie ein feindliches Gebirge stand. Suko ärgerte sich, daß er den Jungen so gut wie verloren hatte, und er hoffte, ein zweites Boot zu finden. Vergeblich, denn als er die Stelle erreichte, sah er nur das zertretene Gras. Von einem weiteren Boot war nichts zu sehen. Er hockte sich nieder. Der Junge hatte bereits die Flußmitte erreicht und ruderte noch immer kräftig weiter. Die Strömung war an dieser Stelle nicht sehr stark, so wurde Kelly auch kaum abgetrieben, wenn doch, schaffte er es rasch wieder, auf Kurs zu bleiben. Suko preßte die Lippen zusammen. Es gab nun zwei Möglichkeiten für ihn. Entweder, er ließ Kelly fahren, oder er schwamm ihm hinterher, um zu sehen, wie es weiterging. Suko gehörte zu den Menschen, die immer Nägel mit Köpfen machten. Es hatte auch keinen Sinn, wenn er jetzt zu John Sinclair zurücklief und ihm von seiner Panne berichtete. Er mußte dranbleiben. Das heißt, durch den Fluß schwimmen.
Hatte er noch vor kurzem auf die Hitze geschimpft, so kam sie ihm jetzt gelegen. Die Hitze der letzten Tage hatte sicherlich auch das Wasser angenehm warm werden lassen. Suko zog seine Schuhe aus und steckte sie in die Hosentaschen. Die leichte Lederjacke band er sich so über den Kopf, daß sie nicht so schnell naß wurde. Dann erst schaute er wieder zu Kelly hin. Der Junge und sein Boot waren nicht mehr als ein verschwommener Fleck auf dem Wasser. Sie erinnerten den Inspektor an eine treibende Insel, die als Ziel die Dunkelheit hatte. Sie ballte sich besonders dicht am Ufer zusammen, weil die Zweige und starkes Astwerk so weit vorstanden und eben diesen Schutz bildeten. Deshalb erinnerte ihn das Flußufer an eine Reihe aneinandergelegter Höhleneingänge. Einige Zweige bewegten sich zitternd, als Kelly und sein Boot darunter verschwanden. Danach war von beiden nichts mehr zu sehen. Suko hatte sich die Stelle genau eingeprägt. Er ging einige Schritte vor, spürte den weichen Schlamm unter seinen Füßen und hoffte, daß er in keine Scherbe trat. Er hatte Glück. Zudem kippte der Grund sehr bald ab, so daß Suko schwimmen mußte. Nur sein Kopf schaute aus dem Wasser hervor, als er sich dem anderen Ufer näherte… *** Kelly duckte sich, als der Kahn gegen das zur Hälfte aus dem Wasser hervorragende Wurzelwerk eines Baumes schrammte und nach Backbord abgedriftet wurde. Die Ruder hatte der Junge bereits eingeholt. Er nutzte jetzt nur den letzten Schwung des Bootes aus, der ihn ans Ufer bringen sollte. Er griff in seiner geduckten Haltung nach oben, erwischte einen starken Ast und hielt sich daran fest. Das Boot glitt noch weiter, die Sitzbank berührte dabei seine Waden, was einen Stoppeffekt eintreten ließ. Geschafft. Ein Tau befand sich ebenfalls im Kahn. Mit einem Ende war es an einem Haken am Bug befestigt. Kelly nahm das andere Tauende in die Hand und visierte bereits eine bestimmte Stelle zwischen dem hellen Wurzelwerk an. Sie war klein, aber flach und würde ihm einen ausreichenden Halt bieten, wenn er sie beim Springen nicht verfehlte. Es klappte wunderbar. Er hatte das Tau mitgenommen und knotete das Ende an einem knorrigen Ast fest.
Tief atmete er durch, drehte sich und hockte sich nieder. In dem mächtigen Wurzelwerk und unter dem ebenfalls sehr großen Baum kam er sich klein und winzig vor. Zudem umgab ihn eine bedrückende Stille, die sich mit der hinzukommenden Feuchtigkeit wie ein Anzug um seinen Körper legte. Der Wald wirkte wie tot, ausgebrannt, aber Kelly wußte, das dem nicht so war. Man erwartete ihn, er würde bald Freunde treffen, die ihn endlich zu seinem Ziel führten. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er daran dachte. Noch einmal schaute er zurück auf den Fluß. Durch das herabhängende Zweigwerk, das zudem durch Spinnweben verklebt war, die im Laufe der Zeit sogar einen grünlich schimmernden Überzug bekommen hatten, sah er nicht viel vom Barrow River. Nicht einmal bis zur Mitte konnte er schauen. Das Wasser war ruhig, und das machte ihn sicher, obwohl er in der letzten Zeit über die beiden Männer nachgedacht hatte, die seinen Großvater besuchen wollten. Es waren Fremde gewesen, wie auch die anderen drei. Letztere gab es nicht mehr, das jedenfalls hatte ihm der Großvater mit einem feinen wissenden Lächeln auf den Lippen erklärt. Kelly ahnte, daß etwas Schlimmes geschehen war, doch er wollte darüber nicht nachdenken. Er verließ seinen schmalen Platz und kletterte höher. Es ging ganz einfach, da er sich an den zahlreichen Armen des Wurzelstocks immer gut festhalten konnte. Schon bald hatte er die mächtige Baumwurzel hinter sich gelassen und stand im normalen Wald, wo er sich ebenfalls vorkam wie ein Zwerg, der sich in das Gebiet der Riesen verirrt hatte. So hoch und mächtig kamen ihm die Bäume vor. Es gab nur wenige Lücken, denn die wuchtigen Zeugen der Vergangenheit waren durchweg miteinander verzweigt und verastet. In Bodennähe jedenfalls kam er besser voran, da mußte er sich nur durch das hohe Gras und die fächerförmigen Farne bewegen. In dieser Umgebung herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit. Dafür waren die zahlreichen Tümpel und Feuchtgebiete verantwortlich. Das alles nahm Kelly nur am Rande wahr. Er bewegte sich durch den Wald wie in einer Kirche. So vorsichtig, so voller Ehrfurcht. Sein rundes Gesicht wirkte erstarrt, die Augen waren weit geöffnet, und der Blick zeigte ein gewisses Staunen, wie das eines Kindes zu Weihnachten, wenn es Geschenke sieht, mit denen es nicht gerechnet hat. Bunte Schmetterlinge durchflogen taumelnd die Luft. Sie flatterten hinein in die schmalen Streifen des Sonnenlichts, das nicht überall seinen Weg fand und so aussah, als bestünde es aus Vorhangstreifen, die jemand am Himmel festgehakt hatte. Kelly ging langsam. Er versuchte, sich möglichst geräuschlos zu bewegen. Obwohl noch ein Kind, hatte er trotzdem das Gefühl, wie ein
Störenfried zu wirken. Er war jedoch nicht grundlos gekommen. Er wußte genau, daß er in diesem Wald seine Erfüllung finden konnte. Er dachte an die Prinzessin. Schon auf dem Fluß hatten sich seine Gedanken um sie gedreht, und wieder huschte ein schon sehnsuchtsvolles Lächeln über sein Gesicht. Lange schon hatte er sie gesucht, hatte von ihr geträumt und wußte doch, daß er sie finden würde. Heute, versteckt in diesem Wald, der ihm so groß vorkam. Es gab keinen Zweifel, er mußte zu ihr. Erst dann würde sein Glück vollkommen sein. Auch seinem Großvater war dies bewußt. Er hatte nichts getan, um den Enkel zurückzuhalten, sondern ein großes Verständnis gezeigt, da er ja wußte, welches Schicksal seinem Liebling beschieden war. Das Gesicht glänzte feucht. Kleine Tropfen hatten sich auf der Haut gebildet. Manchmal blieb Kelly stehen und suchte nach dem richtigen Weg. Es gab keine Pfade, nur Hindernisse, wie quer liegende Baumstämme, die von einem mächtigen Sturm gefällt worden waren und nun dalagen wie schlafende Riesen, die ihre mächtigen Arme noch ausgestreckt hatten, bevor sie für immer erstarrten. Oft genug kletterte er über die Stämme hinweg, duckte sich auch, weil er von keinem Zweig getroffen werden wollte, glitt über die weiche Erde, suchte immer den besten Weg und sank manchmal ziemlich tief in den weichen Boden ein, besonders nahe der kleinen Tümpel. Über ihre Oberfläche tanzten die Mücken und Fliegen. Vögel huschten und flogen durch den Wirrwarr der Blätter, sangen dabei oder schrien auch. Da nicht alle Sonnenstrahlen den Boden erreichten, entstanden Licht- und Schatteninseln. Er blieb vor einem Tümpel stehen. Kein Windhauch kräuselte die glatte Oberfläche. Kelly sah sich selbst. Sein Spiegelbild war nicht mehr als ein langgezogener Schatten. Er zielte auf die Mitte des Tümpels zu, wo der Kopf aussah, als wäre er dann vom Wasser geschluckt worden. Die grüne Oberfläche erinnerte ihn an einen geheimnisvollen Spiegel, der bewußt nicht viel zurückgab, als wollte er das meiste für sich behalten. Kelly wußte nicht, wie tief der Tümpel war. In seiner Phantasie jedoch malte er sich aus, daß dieses Gewässer den Zugang zu einer anderen, unheimlichen Welt bildete, die jenseits der seinen lag und wo all das wahr wurde, was in den Märchen und Legenden geschrieben stand. Der See ließ ihn träumen und auch an sein eigenes Schicksal denken, das mit dem eines normalen Kindes nicht zu vergleichen war. Er war nicht normal. Er sah nur so aus. Er war alt, sehr alt sogar. Hundert Jahre und mehr…
Kelly wußte es selbst. Er löste sich von diesen Überlegungen und versank wieder in seinen Träumereien, in denen er sich vorkam wie auf einem Boot sitzend. Es trieb ihn weg in die fernen Welten, hinein in die Schlösser des Himmels, die in einer wunderbaren Pracht erstrahlten und oft aus purem Gold bestanden. Dort warteten die Könige, Königinnen und auch die Prinzessinnen, von denen Kelly immer so schwärmte. Man hatte ihm gesagt, daß er ›seine‹ Prinzessin finden würde. Er mußte sie nur suchen, denn sie verbarg sich in diesem geheimnisvollen Zauberwald, wo er seiner Phantasie freien Lauf lassen konnte. Eine Wunderwelt… Er atmete tief ein. Dann hörte er das Rascheln. Nicht er hatte es verursacht, aber es war ganz in seiner Nähe aufgeklungen, direkt am Ufer des kleinen Teiches. Der Junge schaute nach rechts, wo grüne Wasserpflanzen farbige Blüten umschlossen wie Arme. Er sah die Glotzaugen eines Frosches wie zwei Kreise durch eine Lücke schauen, dann zog sich das Tier wieder zurück und war nicht mehr zu sehen. Das Geräusch blieb. Es näherte sich ihm. Kelly schaute auf die langen Halme. Durch ihre Bewegungen zeichneten sie den Weg des Abkömmlings nach, der schon zum Greifen nahe war, aber noch gedeckt wurde. Kelly atmete schneller. Er wartete, bis er eine feine Stimme vernahm. »Willst du mich nicht begrüßen, Kelly?« Die Stimme war so wunderbar weich. Sie konnte zu keinem Menschen gehören, nein, das war nicht möglich. Es war eine Fee, eine Elfe, ein geheimnisvolles Waldwesen, das nur hier lebte und seine Heimat niemals verließ. Die Stimme hatte wie das Bimmeln leiser Glocken geklungen. Ein Lächeln legte sich auf Kellys Lippen, als er sich bückte und dabei einen Arm ausstreckte, weil er das Wesen zu sich hinlocken wollte. »Komm doch… bitte… komm doch…« »Siehst du mich denn nicht?« »Nein…« »Schau genau nach. Du mußt nur das Gras zur Seite biegen, dann kannst du mich sehen.« Er nickte. Wenig später streichelten die Halme seine Haut an den Händen. Kelly ging sehr vorsichtig zu Werke, er wollte auf keinen Fall etwas zerstören. Vor lauter Freude zitterten seine Hände. Die Zunge zog die Lippen nach, seine Augen brannten, er spürte einen Kloß im Hals, und dann hatte er es geschafft. Er sah den Sprecher! »Du?« hauchte er.
Das Wurzelmännchen nickte. »Ja, ich bin es, mein kleiner König. Ich habe dich erwartet, wir haben dich erwartet. Wir wußten, daß du kommen würdest.« »Du bist nicht allein, mein Freund?« »Wir sind viele, das weißt du doch.« Kelly saß jetzt in der Hocke und wischte über seine Stirn. »Ja, das weiß ich. Aber ich hatte es nur vergessen. Es tut mir leid.« »Nicht schlimm.« Die kleine Alraune lächelte. Kelly schaute genau hin. Das Gesicht sah sehr alt aus. Es war in das Wurzelwerk hineingeschnitzt worden. Es hatte einen Mund, Augen und auch eine Nase. Der Mund bestand aus sehr breiten und schmalen Lippen, die sich wie eine Klappe öffneten, wenn das Wesen sprach. Dabei funkelten dann auch seine Augen, und es fragte: »Weißt du eigentlich, daß ich deinem Großvater sehr dankbar bin?« »Ja, das glaube ich dir.« »Du gehörst zu uns und zu ihm. Unsere Dankbarkeit wird sich auf dich übertragen. Wir sind diejenigen, die dir helfen werden, mein kleiner Freund.« »Das ist schön«, flüsterte der Junge. »Dann weißt du auch, weshalb ich gekommen bin?« »Wir wissen es alle.« »Kannst du mich denn zu ihr bringen? Ich… ich möchte sie so gern sehen, ich mag sie so.« »Deine Prinzessin, nicht?« »Ja, das stimmt.« »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich werde dich ganz bestimmt zu ihr bringen.« »Befindet sie sich hier im Wald? Hält Sie sich hier versteckt?« Plötzlich war Kelly aufgeregt. Sein Blut schoß schneller durch die Adern und drängte in seinen Kopf. »Sicher, sie ist hier.« »Nahe?« »Warte es ab, mein Kleiner. Ich bringe dich hin. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Es klang schon etwas lustig, als das Wurzelmännchen Kelly als Kleinen bezeichnete. Aus seinem wie geschnitzt wirkenden Körper lösten sich plötzlich krumme und starr wirkende Arme. Antennengleich fuhren sie hervor, waren nur nicht so lang und an ihren Spitzen verzweigt, so daß sie Hände und auch so etwas wie Füße bilden konnten. Dabei schaffte es das Wesen trotzdem nicht, der menschlichen Form näherzukommen. Alles wies doch noch sehr auf Zweige und dünnes Wurzelwerk hin. Kelly hatte verstanden, was dieses kleine Wesen wollte. Mit einer leichten Bewegung nahm er es auf den Ann und umlegte es schützend mit seiner Hand. Langsam
hob er es an, bis es sich in seiner Augenhöhe befand und sie sich anblicken konnten. Die Alraune bewegte ihre Augen wie ein Mensch. Das Wurzelmaterial fühlte sich etwas rauh und knotig an, als hätte es eine Nagelpfeile bearbeitet. Aber sein Inneres war nicht kalt. Es strömte die Wärme einer normalen Haut aus. Unter dieser Schale floß und bewegte sich etwas. Eine warme Flüssigkeit, vergleichbar mit einem Saft oder Lebenssaft, auch Blut genannt. Von zwei verschiedenen Seiten her strich Kelly mit den Daumenkuppen über die Frontseite des kleinen Wesens. Eine zärtliche Berührung, und die Alraune produzierte so etwas wie ein feines Lächeln. Um ihren Mund herum bildete sich ein Muster aus winzigen Falten, das rasch wieder verschwand, als es die Lippen aufeinanderlegte. »Bringst du mich jetzt zu ihr?« flüsterte Kelly. »Ja, laß uns gehen.« »Und wohin?« »Du mußt nur tun, was ich sage, kleiner König. Dann wird alles so werden, wie du es dir vorgestellt hast.« Kelly nickte. »Gern.« Er bekam die ersten Anweisungen. »Geh an dem Tümpel vorbei und dorthin, wo sich die Bäume lichten und nicht mehr so dicht zusammenstehen. Da wirst du dein Glück erleben.« Kelly jubilierte innerlich. Wie sich das anhörte. Glück erleben. Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Wie oft hatte er davon geträumt, tage- und nächtelang. Eingeschlossen in seinem Zimmer, doch seine Gedanken waren auf die Reise gegangen und hineingetaucht in die Welten der Phantasie, die nun endgültig zu einer Wahrheit für ihn werden sollten. Das konnte er kaum fassen. Sie passierten den Tümpel an der rechten Seite und hielten den direkten Kurs bei, um dorthin zu gelangen, wo der Wald so etwas wie eine Lichtung bildete, die trotzdem stark bewachsen war, allerdings von niedrigeren Büschen und Sträuchern. Kelly hielt den Wichtelmann wie eine Mutter ihr Baby im Arm. Er gab acht, daß er nicht stolperte und womöglich noch hinfiel. Es wäre furchtbar gewesen, wenn dem Kleinen ein Leid geschehen wäre. Über ihnen war der Himmel bisher eine Kappe aus dunstigem Licht gewesen. Dieser Dunst war nun verschwunden. Die Klarheit des Sommers brach durch, die Wärme verschaffte sich freie Bahn und trieb dem Jungen den Schweiß auf die Stirn. Das Licht war grell, es flimmerte vor seinen Augen, da baute sich etwas auf, das es nicht gab. Er sah die hellen Gestalten, wunderschöne Gesichter, seine Prinzessin in mehrfacher Ausführung, und als er nach ihr rufen wollte, da waren die Gestalten wieder verschwunden und hatte dem Kreis der Sonne Platz geschaffen.
Es waren die Wunschträume des Jungen. Er konnte noch immer nicht fassen, daß sie sich bald erfüllen sollten. Die Prinzessin, seine Prinzessin… Dann hörte er die Stimme der Alraune. »Wir sind da, mein Freund.« Der Junge blieb stehen. Er öffnete die Augen. Grelles Licht blendete ihn. Hitze umwaberte seinen Körper. »Wo ist die Prinzessin?« erkundigte er sich mit flüsternder Stimme. »Ganz in deiner Nähe…« »Ich sehe sie nicht.« »Du mußt es eben lernen, noch zu sehen, mein kleiner König. Aber jetzt triff deine Vorbereitungen und zieh deine Kleider aus. Dann mußt du genau tun, was ich dir sage…« *** Ich spürte unter mir das harte Holz der Sitzbank und dachte daran, daß meine Trennung von Suko erst einige Minuten zurücklag. Mir kam es vor, als wären Stunden vergangen. Es mochte auch daran liegen, daß diese neue Umgebung für mich völlig fremd war und ich es auch nicht geschafft hatte, mich daran zu gewöhnen. Trotz seiner ersten Einladung war ich nicht sehr begeistert aufgenommen worden, denn Patrick O’Hara hatte mir sehr schnell erklärt, daß er noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hätte. »Dabei will ich natürlich nicht stören«, sagte ich ihm und hatte mich trotzdem hingesetzt. »Ach, es macht auch nichts. Im Augenblick jedenfalls nicht.« Er winkte mit beiden Händen ab. Auf den ungewöhnlichen Blutgeruch war er nicht eingegangen. Nach wie vor hing er zwischen den Wänden. Ich wollte nicht sagen, daß ich diesen Geruch tagtäglich wahrnahm, aber ich kannte mich aus. Schon zu oft hatte ich ihn riechen müssen. Sein Haus – oder dieser Raum nur – war seltsam eingerichtet. Mehrere kleine Fenster ließen verhältnismäßig wenig Licht herein, doch die Strahlen konzentrierten sich auf bestimmte Orte, die ich als Arbeitsplätze identifizierte. Ich war zwar kein Fachmann, aber der Raum glich eigentlich der Werkstatt eines Schnitzers. Schleif-, Dreh- und Hobelbänke sah ich ebenso wie Schnitzmesser unterschiedlichster Größe und Aussehens. Sie alle waren sehr scharf, erinnerten mich manchmal mehr an chirurgische Bestecke. Um sie richtig zu führen und einzusetzen, brauchte man wirklich Talent. Das interessierte mich nur am Rande. Wichtig für mich war eigentlich das Material.
Holz – Wurzelholz. Es lagerte an einem offenen Kamin. Klumpig und starr sah es aus. Die älteren Stücke hatten eine bleiche Farbe angenommen, sie erinnerten mich an Gebeine. Das frischere Holz besaß auch ein frischeres Aussehen. Durch seine Adern zog sich mehr Farbe. Er schimmerte an manchen Stellen beige oder rosa. Eines hatten sie jedoch gemeinsam. Das knorrige Aussehen im Zentrum. Nur an den Rändern, wo einige ›Arme‹ abstanden, wirkte es filigraner. Eine Seite der Werkstatt bestand aus einem Regal. Die Bretter waren in unterschiedlicher Höhe zueinander eingebaut worden. Sie konnten die schon fertigen Arbeiten aufnehmen. Sie glichen sich. Kleine Männchen, Alraunen, Wurzelzwerge der unterschiedlichsten Größe. Manche glatt, andere wieder mit Gesichtern. Ich glaubte auch, Nasen, Ohren und Augen erkennen zu können, wenn auch meist nur angedeutet. Nicht weit von mir entfernt hatte der Mann kleine Fässer aufgebaut. Sie alle waren durch Deckel gesichert, so daß ich keinen Blick mehr hineinwerfen konnte. Das Sonnenlicht tupfte gegen die Fensterscheibe, drang auch hindurch. Ich sah es als sehr bleich, klar und scharf an, aber zur Mitte des Raumes hin verlor es sich. Da überwogen die Schatten, eigentlich wurden nur die Arbeitsplätze richtig beleuchtet. Elektrisches Licht war natürlich auch vorhanden. Lampen verteilten sich zwischen den Deckenbalken, die wie dicke Arme aussahen. Die Strahler hatte O’Hara nicht eingeschaltet, er sah auch nicht so aus, als wollte er mit seiner Arbeit fortfahren. Der Mann machte mehr den Eindruck, als befände er sich auf dem unmittelbaren Sprung. Dennoch versäumte er es nicht, mir einen Drink anzubieten, den ich aber ablehnte. »Keinen Selbstgebrannten Holunderschnaps?« »Nein, danke.« »Schade.« »Nehmen Sie einen.« »Ich kenne ihn ja. Allein trinke ich sowieso wenig. Ich brauche immer einen Grund.« Er setzte sich mir schräg gegenüber auf einen Schemel, und sein Gesicht blieb teilweise im Schatten. Durch den weißen Bart sah es aus, als wäre es mit einem verrutschten Heiligenschein verziert worden, der von der Stirn her seinen Weg zum Kinn gefunden hatte. Mir fiel auf, daß er mich sehr genau beobachtete und versuchte, in meinem Gesicht zu ›lesen‹. Er konnte mich nicht einordnen, ich ihn ebenfalls nicht, aber beide würden wir auf der Hut sein. Wahrscheinlich hielt er mich für eine Person, die etwas mit denen zu tun hatte, die verschwunden waren, und ich ließ ihn zunächst in diesem Glauben. Lächelnd schaute ich mich um,
bevor ich anerkennend nickte. »Eine sehr interessante Werkstatt haben Sie hier, Mr. O’Hara.« »Ich schnitze.« »Was?« »Eigentlich alles, was meine Kunden wünschen. Im Moment arbeite ich vor. Der richtige Sommer beginnt erst, obwohl dieses Wetter meine Worte Lügen straft. Es ist unnatürlich, diese Temperaturen sind ein Alptraum. Hin und wieder kommt es vor, und wir hier in Berris finden uns damit ab. Es wird auch nicht mehr lange andauern, denke ich. Die Temperaturen normalisieren sich schnell.« »Aber Sie beschäftigen sich zumeist mit Wurzelholz, wie ich sehe, Mr. O’Hara.« Er folgte meinem Blick und schaute auf sein Lager. »Ja, das stimmt. Es sind eben die Besonderheiten meiner Arbeit.« »Woher bekommen Sie es?« O’Hara lächelte. »Die Frage ist gut. Ich will Sie Ihnen beantworten. Ich muß in den Wald, um mir den nötigen Nachschub zu holen. Das Gelände jenseits des Flusses.« »Ist das nicht mühselig?« »Ich kann rudern.« Wir wußten beide, daß wir um den heißen Brei herumredeten. Mir war auch klar, daß der Mann darauf wartete, daß ich mich zu erkennen gab und ihm den Grund nannte, weshalb ich gekommen war. Der Blutgeruch blieb. Ich ließ meine Blicke wandern und suchte nach der Ursache. Etwas mußte es geben, das diesen Gestank absonderte, doch ich sah nichts. Entdeckte keine Quelle und traute mich auch nicht, den Mann direkt danach zu fragen. Statt dessen kam ich auf seinen Enkel zu sprechen, lobte ihn als intelligenten und aufgeweckten Jungen, was mir der Großvater durch sein Nicken bestätigte. »Ja, das ist er.« In die Augen des Mannes trat ein Leuchten. »Wir sind stolz auf ihn.« »Wer ist wir?« »Seine Eltern und ich.« »Die aber nicht hier sind.« »Nein, sie sind unterwegs. Mein Sohn ist Ingenieur, ein Spezialist, was Atomkraftwerke angeht. Ein Nuklearexperte, man braucht ihn im Osten.« »Das kann ich mir denken.« »Deshalb sind er und seine Frau nur selten hier. Meine Schwiegertochter reist immer mit.« »Und Kelly bleibt bei Ihnen.« »So ist es. Zudem macht es ihm nichts aus, da wir uns prächtig verstehen.«
»Das hat man gesehen, obwohl ich nur kurz mit ihm gesprochen habe. Nun ja«, ich holte Luft, »es ist wirklich außergewöhnlich, denn als ich nach seinem Alter fragte, da gab er mir eine Antwort, die auf eine sehr große Phantasie seinerseits schließen ließ.« »Ach ja?« Mehr sagte O’Hara nicht. Mir kam er vor, als wollte er zunächst einmal abwarten. »Stellen Sie sich vor, er bezeichnete sich selbst älter als hundert Jahre.« »Oh. Sie haben sich nicht verhört?« »Bestimmt nicht.« »Das ist seltsam.« »Inwiefern?« O’Hara hob seine Hände und ließ sie wieder fallen. Die Flächen klatschten auf die Schenkel. »Normalerweise sagt er einem Fremden nicht so ohne weiteres die Wahrheit.« Zack, das hatte gesessen. Nie und nimmer hätte ich mit einem derartigen Geständnis gerechnet. Mir blieb die Spucke weg, und ich spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildete. »Überrascht, Mr. Sinclair?« »In der Tat.« »Das ist eben so. Sie dürfen es ruhig als einen großen Vertrauensvorschuß hinnehmen. Kelly würde nicht jedem sein wahres Alter verraten, das können Sie mir glauben.« »Das nehme ich auch an. Aber bleiben wir beim Thema. Sie sind also auch der Meinung, daß er so alt ist?« »Möglich.« Ich schluckte meinen anfliegenden Ärger herunter. O’Hara stand auf, er kam nicht mehr auf dieses Thema zurück, sondern ging zu seinem Regal und entnahm ihm eine Alraune. Behutsam faßte er sie an, als wäre sie ein Lebewesen. Dann hielt er sie ins Licht. »Wissen Sie, was ich hier in der Hand halte, Mr. Sinclair?« »Eine Alraune.« »Gut. Was sagt Ihnen das?« Ich hatte beschlossen, mit meinem Wissen nicht hinter dem Berg zu halten. Er sollte ruhig erfahren, daß ich auf diesem Gebiet kein Laie war. »Man nennt sie auch Mandragora. Sie ist der puppenbalgähnliche Wurzelstock. Im klassischen Altertum wurde die Alraune als Zaubermittel gehandelt.« »Exakt, sehr gut.« Er lobte mich. »Aber nicht nur im klassischen Altertum. Man glaubt noch immer an die Kraft der Alraune. Und ich muß sagen, zu Recht, Mr. Sinclair.« »Ach ja…« Er drehte die Puppe in den Händen. Der Mann hatte ihr durch seine Arbeit einen menschlichen Körper gegeben und betrachtete diesen mit
stolzen Blicken. »Sie bekamen auch andere Namen und wurden bei vielen Menschen als Hausgötter angesehen, Mr. Sinclair. Erdmännchen, Galgenmännchen und so weiter. Viele von ihnen waren sehr prächtig gekleidet. Man hütete sie in geheimen Kästchen, badete sie in Wasser oder Weingeist und war ihnen sehr zugetan.« »Das kann ich mir vorstellen«, gab ich zu. »Sie, Mr. O’Hara, reden, als würden sie daran glauben.« »Tue ich das?« »In der Tat.« Er blieb vor dem Regal stehen und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Dann wird es wohl stimmen. Ich glaube nicht nur daran, ich weiß auch, daß all die Dinge, die über die Alraunen gesagt worden sind, stimmen. Man muß nur den richtigen Weg finden, um sie aus ihrem Schlaf zu wecken. Dann ist das Wurzelholz längst keine tote Materie mehr. Dann offenbart es sich und beweist, welche Kräfte in ihm stecken.« »Sind sie heute nicht wertlos?« fragte ich etwas provozierend und hatte Glück damit. Zischend stieß der Mann seinen Atem aus. »Wertlos, sagen Sie? Wie können Sie das nur behaupten? Nein, sie sind nicht wertlos. Das haben sie schon bewiesen.« »Bei wem?« »Es spielt keine Rolle.« Ich hatte einen bestimmten Verdacht und scheute mich auch nicht, ihn auszusprechen. »Kann es sein, daß es mit den drei verschwundenen Männern zu tun hat?« O’Hara sagte nichts. Zunächst nichts. Er ließ beide Hände sinken, schaute an mir vorbei und auf das Fenster. Die Sonne schien gegen es, und so wirkte es wie ein gleißender Spiegel. »Sie fragen sehr direkt, Mr. Sinclair.« »Das bin ich gewohnt.« »Gehören Sie auch zu den dreien?« »Ich möchte es Ihrer Phantasie überlassen.« »Das kann ich nicht glauben. Auf eine derartige Stufe stellen Sie sich nicht. Dann hätten Sie anders gefragt.« Er lächelte freudlos. »Möglich.« O’Hara schaute auf die Puppe. Er drehte sie in der Hand. »Ja, sie ist schon etwas Besonderes. In ihr steckte eine ungewöhnliche Kraft. Alte Legenden haben sich in ihr vereinigt und sind zu bestimmten Wahrheiten geworden.« »Zu Morden.« Der Bärtige runzelte die Stirn. »Das kann ich nicht unterschreiben. Zu einem Mord gehört eine Leiche, Mr. Sinclair. Aber Leichen hat es wohl nicht gegeben, nehme ich an.«
»Das stimmt.« »Dann sind wir ja wieder auf einer Linie vereint.« »Nicht ganz«, dämpfte ich seinen Optimismus. »Ich denke, da gibt es noch andere Dinge, die ich klären muß.« »Müssen Sie?« »Ja.« »Und weshalb?« »Sagen wir so, Mr. O’Hara, ich interessiere mich eben für bestimmte Dinge, die den Kreislauf des Normalen verlassen. Ich möchte gern hinter die Kulissen schauen.« »Und Sie glauben, den Vorhang bei mir ein wenig lüften zu können?« spottete er. »Nicht nur ein wenig.« »Ganz?« »Fast.« O’Hara nickte. »Halten wir fest, Mr. Sinclair. Sie interessieren sich für das Verschwinden der drei Männer?« »Auch.« »Und verdächtigen mich.« »Zumindest gehe ich davon aus, daß Sie mehr wissen. Sie sind mir ein Rätsel.« »Ich bin ein Künstler!« korrigierte er mich. Ich schaute auf meine Finger. »Das streite ich nicht einmal ab. Ich brauche mir nur Ihre Kunstwerke anzusehen. Sie sind schon etwas Besonderes.« »Ja, das sind sie!« bestätigte O’Hara mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Da er nicht weitersprach, sondern nur Interesse für sein Wurzelmännchen zeigte, sprach ich weiter. »Ich denke, daß Ihre kleinen Kunstwerke etwas mit dem Verschwinden der drei Männer zu tun haben. Ich glaube sogar, daß sie unmittelbar daran beteiligt sind. Daß Sie diese nicht nur als Hausgötter ansehen, sondern als Beschützer in einem gewissen Sinne. Möglicherweise sogar als Leibwächter.« »Ach ja…?« »Ich kann Ihnen noch einen Hinweis geben, der mich sehr gestört hat, als ich Ihr Haus betrat.« »Bitte.« »Es ist der Blutgeruch, der einfach nicht weichen will, Mr. O’Hara. Für ein Haus immerhin recht selten, denn, sagen Sie mir ehrlich, wo riecht es schon nach Blut?« Er bewegte seinen Mund, als er schluckte. »Gut, Mr. Sinclair, sehr scharfsinnig.« »Es ist also Blut.«
Der Mann löste sich von seinem Standplatz und durchwanderte den Raum. Das Echo seiner Tritte auf dem Holzboden begleitete ihn. »Es ist sogar ein bestimmtes Blut«, gab er zu und blieb nahe den verschlossenen Gefäßen stehen. »Ich mußte es haben, denn es ist das Blut der Feinde, das ich aufbewahrt habe.« Ich gab ihm eine andere Antwort. »Ist es das Blut der drei verschwundenen Männer?« Er lächelte und nickte. »Ja, das ist es!« bestätigte er. »Schön«, sagte ich, obwohl ich es gar nicht so meinte. »Dann hätte ich gern noch gewußt, wofür Sie dieses Menschenblut benutzen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie es trinken. Wie ein Vampir sehen Sie nicht gerade aus?« »Ich brauche es auch nicht.« »Wer dann?« »Ist das wirklich so schwer?« flüsterte er und streckte die Hand mit seinem Galgenmännchen vor. »Er braucht es. Er ist kein anderer, Mr. Sinclair…« *** Ich war nicht total überrascht. So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Ich hob nur die Augenbrauen an und schaute auf den puppenhaften Balg, der ein wenig zitterte, weil sich auch die Hand des Mannes leicht bewegte. »Jetzt wissen Sie Bescheid.« »In der Tat.« O’Hara ließ sich auf einem anderen Schemel nieder. »Ich habe mir erlaubt, das Blut der Männer zu nehmen, zu zapfen, wenn Sie wollen, denn es mußte sein.« »Sie erlauben, daß ich anders darüber denke?« »Aber sicher doch. Jeder hat seine Meinung.« Er lächelte breit. »Die Männer haben es nicht verdient gehabt, weiter am Leben zu bleiben. Sie sind gewarnt worden, zumindest die ersten beiden, aber sie wollten nicht hören. Sie wollten aus diesem alten Land, das für uns so etwas wie ein Paradies ist, eine Hölle machen. Eine Touristenhölle, sage ich Ihnen. Es sollte hier gebaut werden, man wollte in die Natur eingreifen, aber man dachte nicht daran, daß auch die Natur bewacht werden könnte.« »Durch Mandragoro?« fragte ich. O’Hara zuckte zusammen. Mit einer derartigen Antwort hatte er nicht gerechnet. Für einen Moment wirkte er fahrig, schaute auf seine Alraune, dann sah er mich wieder an, strich über seine Stirn und nickte schließlich. »Sie wissen viel, Mr. Sinclair. Sie sind der erste Fremde, der mir diesen Namen nennen konnte.«
»Das dachte ich mir.« »Dann hat man Sie geschickt!« »Stimmt.« O’Hara hustete, räusperte sich dann und hob die Schultern. »Trotz allem halte ich Sie für einen intelligenten Menschen, Mr. Sinclair. Ich meine, wir stehen ja auf verschiedenen Seiten. Und ich wundere mich darüber, daß Sie überhaupt gekommen sind, wenn Sie doch wußten, daß es hier auch um den Hüter der Natur geht.« »Vielleicht bin ich gerade deshalb gekommen!« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Noch nie gewann ein Mensch gegen Mandragoro. Auch die drei anderen haben es versucht. Es gibt sie nicht mehr.« »Brachte er sie um?« »Mehr oder weniger«, gab der Mann zu. »Er sorgte dafür, daß der Wald Humus bekam. Menschen sind organisch. Sie… verfaulen, sie werden wieder eins mit der Natur.« »Und ihr Blut?« »Das überließ man mir.« Ich war doch leicht geschockt über dieses Geständnis. O’Hara fühlte sich verdammt sicher, obwohl Mandragoro sich nicht in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt. Ich kannte erst einen Teil der Wahrheit, denn ich ging davon aus, daß die Alraunen und auch der kleine Kelly noch eine wichtige Rolle spielten. »Es haben sich natürlich weitere Fragen gebildet. Darf ich Sie stellen, Mr. O’Hara?« »Ich bitte darum.« »Da man Sie beim besten Willen nicht als einen Vampir bezeichnen kann, der Menschenblut braucht, um sein untotes Leben fortführen zu können, für was haben Sie dann das Blut der drei Männer genommen? Sie haben es doch sicherlich nicht gesammelt?« »Das stimmt.« »Wozu brauchten Sie es?« Über das Gesicht des Mannes glitt ein wissendes und zugleich stolzes Lächeln. »Ich benötigte es für meine kleinen Freunde. Sie verstehen, Mr. Sinclair?« »Für die Alraunen?« »Treffer.« Ich schaute ihn an. Er lächelte noch immer. Er war siegessicher. Er verließ sich auf die Kraft eines mächtigen Helfers im Hintergrund. »Sie benötigten es dringend, glauben Sie mir.« »Darf ich denn den genauen Grund erfahren?« »Wie Sie wollen. Sie wissen, daß die Menschen früher von der Zauberkraft der Alraunen gesprochen haben. Man hat sie als Beschützer in die Häuser genommen. Ich will das alles nicht wiederholen. Ich gebe
auch zu, daß es in den meisten Fällen auf reinem Aberglauben basierte, wie gesagt, in den meisten Fällen. Es gab auch Ausnahmen, Mr. Sinclair, und mit diesen Ausnahmen habe ich mich beschäftigt. Meine Freunde, die Alraunen, sehen so tot aus. Ein Teil des Wurzelstücks eines Baumes, leblos, aber trotzdem mit einer gewissen Kraft bestückt, vorausgesetzt, sie befinden sich in Mandragoros Nähe, dem Vater der Natur. Denn sie wurden ja Mandragora genannt, es gibt dort also gewisse Übereinstimmung, wie Sie erkennen können. Aber die Kraft reichte nicht. Man mußte sie aktivieren, und zusammen mit der des mächtigen Walddämons sind sie dann so gut wie unbesiegbar geworden.« »Gaben Sie Ihren Geschöpfen das Blut der Menschen?« »Ja, Mr. Sinclair!« Nun ja, ich wußte Bescheid. Was ich hier erfahren hatte, glich einem gewissen Vampirismus. Es war also einfach. Durch Menschenblut wurde die latente magische Kraft der Alraunen aktiviert. Es verwandelte sie in gewisse Lebewesen, die streng auf der Seite des Umwelt-Dämons Mandragoro standen. O’Hara lachte. »Was geht Ihnen jetzt durch den Kopf?« flüsterte er mir zu. »Ich habe den Faden gefunden.« »Dann glauben Sie an meine Blutinjektionen.« »In der Tat.« Er hob den Balg hoch. »Können Sie sich vorstellen, daß ich sie infiziert habe?« »Immer.« »Aber Sie haben recht, Mr. Sinclair, es gibt das Blut. Ich bewahre es auf. Es befindet sich in dem Trog, den sie so oft angeschaut haben. Das Blut dreier Menschen. Und ich will Ihnen sagen, daß ich einige meiner kleinen Freunde infiziert habe. Ich brachte sie dann in die richtige Umgebung, wo sie ihrer wahren Aufgabe nachkommen können.« »In den Wald zu Mandragoro?« »Exakt. Er wartete auf sie.« »Und was taten sie dort?« O’Hara lächelte versonnen. »Er hat sie zu seinen Wächtern gemacht. Sie beschützen den Wald und dessen Freunde.« »Zu denen Sie ebenfalls gehören?« »Ja, ich bin akzeptiert«, erklärte er mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Und ich bin auch stolz darauf, das sollte Ihnen klar sein.« »Ist es auch Ihr Enkel?« O’Hara seufzte schwer und verzog die Lippen. »Dieser Kleine ist etwas Besonderes.« »Wie sagte er mir? Über hundert…«
»Er hat recht!« fiel mir der Mann ins Wort. »Er hat hundertprozentig recht. Er hat es gar nicht nötig, Ihnen eine Lüge aufzutischen, denn er ist etwas Besonderes. Er liebt den Wald noch mehr als ich. Die Alraunen sind seine besten Freunde. Endlich hat er welche gefunden, und wann immer es möglich ist, geht er zu ihnen.« »Auch als ich ihn traf? Da wollte er weg.« »Genau, er wollte zu seinen Freunden. Er ist ein Sucher seiner eigenen Identität. Er will seine Prinzessin sehen, man hat sie ihm sogar versprochen.« »Wer tat es? Mandragoro?« »Kelly und er sind Freunde.« Meine Gedanken glitten ab. Ich dachte an Suko, der dem Jungen gefolgt war. Sollte Kelly sein Vorhaben in die Tat umgesetzt haben, dann befand er sich jetzt im Wald. Aber bestimmt nicht allein, denn Suko, so gut kannte ich ihn, würde ihm auf den Fersen bleiben und ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Es gefiel mir überhaupt nicht, Suko in diesem verwunschenen Waldstück zu wissen. Ich merkte, daß mein Adrenalinspiegel anstieg. Ich bekam den gewissen Kick, der mich in die Höhe trieb. »Wollen Sie weg, Mr. Sinclair?« »Das dachte ich.« Der Bärtige lächelte süffisant. »Wahrscheinlich in den geheimnisvollen Wald – oder?« »Richtig getippt.« O’Hara überlegte. »Das paßt mir nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nein, das paßt mir gar nicht. Wer immer Sie auch sind und was immer Sie auch wissen mögen, Mr. Sinclair, ich kann Ihnen keine andere Behandlung zugestehen als den drei Männern vor ihnen auch.« »Das heißt, Sie wollen mein Blut?« »Sie haben es sehr drastisch ausgedrückt, aber sie liegen damit nicht daneben.« Er kümmerte sich in den folgenden Sekunden nicht um mich, sondern fixierte einzig und allein seinen Puppenbalg. »Sieht er nicht wunderschön aus, Mr. Sinclair? Ist er nicht ein kleines Kunstwerk? Ja, das ist er und noch mehr. Er gehört zu meinen Leibwächtern. Was ich nicht will, das will er auch nicht.« Ich hatte begriffen. »Sie und die Alraunen wollen mich also aufhalten?« »Wir müssen«, flüsterte er mir mit gespitzten Lippen zu. »Ja, wir müssen es.« Nach dieser Antwort ließ er die Alraune kurzerhand fallen. Es sah so aus, als hätte er den Puppenbalg fortgeworfen, was allerdings nicht stimmte. Die Alraune polterte auf den Holzboden. Noch in der Bewegung veränderte sie sich. An den Seiten wuchsen ihr plötzlich kleine Arme, die mir vorkamen wie Zweige.
Auch Füße bildeten sich. Winzige, gestrüppartige Dinger. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf die kleine, jetzt lebendige Figur, so daß ich für andere Dinge, die in meiner Umgebung geschahen, keine Augen mehr hatte. Ein Fehler. Sie standen in den Regalen, manche versteckt in den Ecken, wo das Licht nicht hinreichte. Ich hörte sie erst und sah sie auch, als sie sich über die Kanten wuchteten und nach unten fielen. O’Hara streckte beide Hände aus. »Da, Sinclair, da! Schauen Sie genau hin. Sie wollen Ihr Blut! Sie brauchen es. Keiner darf uns stören. Auch Sie nicht!« Ich stand auf. Leider konnte ich nicht sehen, wie viele dieser feindlichen Alraunen sich in meiner Umgebung aufhielten. Eine aber sprang mich an. Sie erwischte mich in Schulterhöhe und klammerte sich dort an meinem Rücken fest, wobei ich das Gefühl hatte, von einer Ratte erwischt worden zu sein. O’Hara lachte. Sein ausgestreckter Zeigefinger zeigtet auf mich wie die Spitze einer Lanze. »Jetzt geht es dir ans Blut, Schnüffler!« *** Suko stand in einer heißen, dampfenden Hölle und spürte die Gefahr, obwohl er sie nicht sah. Alles war in diesem Wald anders. Er konnte ihn mit keinem anderen europäischen vergleichen. Das hier war ein mächtiges Stück Dschungel, das einfach nicht nach Irland gehörte, sondern nach Südamerika oder Asien. Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel und sorgte für diese alptraumhafte Hitze, die auch das Wasser nicht verschonte und dabei war, einen Teil von ihm zu verdunsten. Deshalb schaute Suko auch gegen die Dunstschleier, die zwischen den Bäumen hingen und dort in die Höhe stiegen, wo sich die zahlreichen Tümpel verteilten. Er hatte es gut geschafft, den Fluß hinter sich zu lassen. Seine Kleidung war nicht so schnell getrocknet, es war einfach zu feucht, und Suko hatte seine Jacke übergestreift. Durch geschicktes Klettern hatte er den Bereich der mächtigen, mangrovenartigen Wurzeln hinter sich gelassen und endlich den eigentlichen Wald betreten. Eine Hölle für sich. Dichter Bewuchs, der über ihm das Licht der Sonne filterte. Alles war vermoost und mit zahlreichen Ranken bedeckt, die sich auch an den Stämmen in die Höhe wanden wie Schlangen.
Ein weicher Untergrund dämpfte seine Tritte. Nahe der Tümpel war der Boden naß, dann drückte sich jeder Schritt tief in das Erdreich hinein, so daß Spuren zurückblieben, die sich allmählich von den Rändern her mit Wasser füllten. Die gesamte Umgebung war eine unheimliche Welt für sich, wo sich Dinge konzentriert hatten, die jenseits des Wissens lauerten. Ein Stück magischer Natur, und Suko spürte oder ahnte zumindest die Hand des Umwelt-Dämons Mandragoro. Er kannte ihn. Er wußte auch, wie er sich den Menschen hin und wieder zeigte. Da nahm er dann die Gestalt eines Baumes oder eines Busches an, dessen Zweige dann so etwas wie ein Gesicht bildeten, so daß Mandragoro zu erkennen gab, wie menschlich er manchmal war. Suko wußte nicht, welchen Weg er nehmen mußte. Aber er hatte bei jedem Schritt Spuren hinterlassen. Da er nicht davon ausging, daß Kelly fliegen konnte, mußten auch seine Fußabdrücke noch im weichen Untergrund zu sehen sein, zumindest an bestimmten Stellen und auch sehr nahe bei den Tümpeln. Suko ging systematisch vor und hatte einen zunächst ziemlich großen Kreis geschlagen. Er zog ihn dann kleiner, den Blick zu Boden gerichtet, aber seine Sinne waren auf Alarm gestellt, weil er sich nach wie vor einer Gefahr bewußt war, auch wenn er sie nicht sofort erkennen konnte. Daß er nicht allein war, hörte er auch anhand der Geräusche. Nur waren es keine menschlichen Stimmen. Da kreischten manche Vögel wie Affen sonst im Dschungel, und in dieses Schreien hinein mischte sich das Summen der zahlreichen Insekten, die Suko umtanzten und in seinem Blut eine willkommene Beute sahen. Er fand den ersten Abdruck! Ein kleiner Fuß hatte sich in das weiche Moos gedrückt und eine der weißen Blüten zertrampelt. Hier also war der Junge hergegangen. Suko gestattete sich ein Lächeln. Er ging davon aus, daß er sehr bald einen zweiten und auch einen dritten Abdruck finden würde, was dann auch so war. Er blieb stehen. Die Spur war gefunden. Suko schaute nach vorn. Zwei querliegende Baumstämme bildeten ein über Kreuz geschaffenes Hindernis. Wie Arme ragten die Äste und das Zweigwerk dem Inspektor entgegen. Durch sie wollte er sich nicht gerade seine Bahn brechen. Er suchte nach einem anderen Weg, überkletterte dann den Baumstamm – und sackte mit dem rechten Fuß weg, weil der Boden hinter dem Stamm tiefer lag als vor ihm.
Dichte Bodengewächse hatten so etwas wie ein Dach gebildet und die kleine Mulde verdeckt. Suko schaute nach vorn. Er sah einen Tümpel. Dessen Oberfläche zeigte einen dunkelgrünen Schimmer, wobei dieser von den bunten Blüten der träge schwimmenden Wasserblumen unterbrochen wurde. Er sah sogar die Spuren des Jungen, die rechts an diesem Tümpel vorbeiführten. Die feuchte Hitze drückte nieder. Er schaute hoch. Hinter dem grünen Dach aus Laub gleißte der Himmel. Die Sonne brannte auch weiter auf ihn nieder. Etwas griff nach seinem rechten Fuß! Zuerst nahm es Suko kaum zur Kenntnis. Es konnte ein kratziges Stück Unterholz sein, mußte es aber nicht. Er zerrte seinen Fuß in die Höhe, es blieb beim Versuch, und der verdammte Griff um seinen Knöchel verstärkte sich. Suko hatte das Gefühl, als wären zahlreiche kleine Finger dabei, sich in seine Haut zu bohren. Er riß sein Bein noch einmal hoch, schleuderte es vor und sah die kleine Gestalt, die seinen Knöchel umklammert hielt. Es war eine Alraune! Ein böses Erdmännchen mit einem fratzenhaft verzogenen Gesicht und kleinen dunklen Augen. Eigentlich ein Wesen, über das man lachen konnte, aber Suko lachte nicht, als er gegen das Maul schaute und darin die Zähne schimmern sah. Es wollte zubeißen. Mit der linken Hand packte der Inspektor zu. Bevor die kleinen Zähne Haut von seinem Knöchel reißen konnte, hatte er die Alraune weggerissen. Sein Socken war dabei in Fetzen gegangen, dunkelrote Streifen schimmerten auf der hellen Haut des Knöchels, aber er hielt diesen verfluchten Parasiten fest und starrte ihn an. Die Alraune bewegte ihr Maul. Suko drückte zu. Es sah so aus, als wollte er eine Kartoffel zerquetschen, denn damit wies das Erdmännchen eine gewisse Ähnlichkeit auf. Täuschte er sich, oder gab es tatsächlich einen zischenden Schmerzlaut von sich. Wie dem auch war, er drückte weiter. Die leicht runzlige Haut gab nach. Im Innern knackte etwas, und plötzlich quoll aus den Augen der kleinen Gestalt eine Flüssigkeit hervor. Das war Blut… Suko schleuderte seinen ›Gegner‹ zu Boden. Die Alraune bewegte die kratzigen Hände und auch die beiden an dünnen Zweigen hängenden Stümpfe, die wohl Füße bilden sollten.
Der bösartige Wichtelmann versuchte wegzukriechen, was Suko nicht zulassen wollte. Zumindest mußte er einen bestimmten Test hinter sich bringen. Er zog seine Dämonenpeitsche und schlug einmal den Kreis. Drei Riemen rutschten hervor. Die Alraune war nicht schnell genug und schaffte es auch nicht, sich in das Unterholz zu verkriechen. Fast sanft ließ Suko die drei Riemen schräg von oben nach unten gleiten und erwischte den kleinen Flüchtling mit dem ersten Schlag. Die Alraune hatte noch versucht, sich zur Seite zu werfen und dabei die kleinen Arme hochgerissen. An einem verfing sich ein Riemen der Dämonenpeitsche. Während eines winzigen Augenblicks wurde die Gestalt auf den Rücken gedreht. Das ›Gesicht‹ verzerrte sich. Suko rechnete mit einem Schrei, doch er hörte nur einen platzenden Laut, und dann spritzte aus der zerstörten Oberfläche der Alraune etwas in einem hohen Bogen hervor. Die dunkle Flüssigkeit, das Blut! Das Erdmännchen bewegte sich nicht mehr. Es sah beinahe hilflos aus, wie es dalag, und Suko spürte schon so etwas wie Mitleid. Aber die Blutlache paßte nicht dazu. Ihr Anblick dämpfte sein Mitleid, und er ging davon aus, daß diese Alraune eben nur durch das Blut am ›Leben‹ erhalten worden war, und dabei fiel ihm der Vergleich mit einem Vampir ein. Er schloß für einen Moment die Augen. Seine Kehle wurde rauh. Alraunen waren zu Bluttrinkern oder Vampiren gemacht worden. Er konnte nicht fassen, wieso dies geschehen war und welch eine Magie dahintersteckte. Natürlich dachte er an Mandragoro, aber das entsprach nicht seinem Stil. Eigentlich schlug der UmweltDämon anders zurück. Suko sinnierte darüber nach. Er schaute sich auch dabei um und behielt seinen Blick ziemlich lange am Boden. Wo eine Alraune war, konnte sich durchaus eine zweite oder dritte aufhalten. Für ihn waren sie kleine Wächter, und er dachte dabei auch an den Jungen, der durch den Wald gelaufen war. Wahrscheinlich war er ebenfalls den Erdmännchen begegnet, nur würden sie Kelly nichts getan haben. Sie würden ihm sogar den Weg freigemacht haben. Der Weg zu welchem Ziel? Suko dachte darüber nach, während er mit langsamen Schritten auf den Tümpel zuging. Eigentlich gab es hier nur ein Ziel, und das hieß Mandragoro. Er war der Herrscher in diesem verwunschenen Waldstück, das so gar nicht in diese Welt passen wollte, und Suko spürte abermals einen kalten Schauer auf seinem Rücken.
Er schluckte, weil ihn plötzlich ein bitterer Geschmack plagte. Mandragoro konnte überall sein. In seinem ureigenen Element war er einfach nicht zu fassen. Da hatte er tausend Augen und Ohren. Er hörte alles, er würde seine Feinde unter Kontrolle halten. Suko stoppte seine Schritte neben dem Tümpel. Er blickte über die kleine Fläche und entdeckte auch eine Wasserpflanze, die ihre Blätter ausgebreitet hatte. Auf einem Blatt, es sah dick und fleischig aus, hockte eine Alraune. Sie hatte eine schlanke, puppenähnliche Form, wirkte allerdings noch etwas unfertig, wobei sie Ähnlichkeit mit einer Flasche hatte. Auch aus ihrem Körper wuchsen dünne Zweige als Arme. Sie hatte sie ausgestreckt und die ›Hände‹ ins Wasser gedrückt. Mit Paddelbewegungen versuchte sie, auf dem Blütenblatt voranzukommen. Sie benutzte es als Boot und schaffte es auch, sich zu bewegen, wobei sie sich von Suko entfernte. Hatte sie Furcht? Es war dem Inspektor egal. Für ihn allein zählte, daß er jetzt wußte, woran er war, und er würde sich von einer weiteren Alraune nicht mehr überraschen lassen. Er ließ das Erdmännchen, wo es war und bewegte sich weiter durch diesen unnatürlichen Dschungel. Manchmal war er direkt eingeschlossen. Da mußte er nach Möglichkeiten suchen und auch kleinere Umwege in Kauf nehmen, um den Wald zu durchforsten. Er hatte sich längst an die verschwommenen Lichtreflexe mit ihren zahlreichen Inseln gewöhnt, doch das meiste davon blieb in der grünen Finsternis zurück und auch in den Dunstschwaden, die er immer wieder durchquerte. Manchmal raschelte es verdächtig in seiner Nähe. Suko nahm an, daß er von den Alraunen verfolgt wurde, aber er bekam niemals eines dieser Erdmännchen zu Gesicht. Sie hielten sich alle versteckt, duckten sich unter Blättern und großen Blüten, und nur dann, wenn sie sich zu schnell bewegten, zitterten auch die Gewächse. Er ging weiter. Einfach so. Vielleicht auch ziellos, obwohl er daran dachte, den Jungen zu finden. Doch Suko hatte einfach den Eindruck, sich nicht ohne Ziel durch diesen Wald zu bewegen. Es war keine Kraft, die ihn anzog, aber etwas anderes hatte schon seine Spuren im Wald hinterlassen. Ein magischer Magnetismus, der seine Fühler ausgestreckt hielt und ihn in eine bestimmte Richtung zog. Nach vorn, immer nach vorn. Und zwar dorthin, wo hinter einer grünen Wand, die nicht nur aus Ästen und Zweigen bestand, sondern auch aus einem Wirrwarr von ineinander
verschlungenen Lianen, ein sehr helles Licht aufstrahlte, als wäre dort ein Scheinwerfer aufgestellt worden, dessen breiter Strahl versuchte, die grüne Hölle zu durchdringen. Jedenfalls explodierte hinter der grünen Wand das Licht zu einer regelrechten Wolke, und Suko ging davon aus, daß sich dort eine Lichtung ausbreitete. Ein Ziel? Suko wußte es nicht, er gehorchte nur seinem Gefühl und ließ sich treiben. Plötzlich blieb er stehen. Es geschah nicht aus Müdigkeit, da steckte ein anderer Grund dahinter. Er hatte etwas gehört. Ein Geräusch, das für ihn nicht zu identifizieren, trotzdem aber in sein Bewußtsein gedrungen war, weil es sich von den anderen unterschied. Ein rätselhaftes Schaben oder Zischeln, als würde ein bestimmter Körper über einen fremden Gegenstand reiben und so dafür Sorge tragen, daß jemand aufmerksam wurde. Der Inspektor lauschte. Ein ungutes Gefühl kroch in ihn hinein. Er schaute zu, wie sich seine Härchen auf den Handrücken aufrichteten. Es war der Schauer einer gefährlichen Vorahnung. Er gehörte zu den Menschen, die sehr wohl darauf achteten und auch deshalb überlebt hatten. Als er stand, kam ihm die Hitze noch schwerer und klammer vor. Die Schwaden, die heranwehten, erinnerten ihn an dünne Tücher. Sie strichen über sein Gesicht, als wollten sie ihn waschen, doch davon ließ er sich nicht ablenken. Die Bäume bewegten sich nicht. Er schaute hoch in ihr Geäst, das sich ihm als verschlungene eigene Welt präsentierte und so dicht war, daß sie bestimmten Gegnern Schutz geben konnte. Nicht nur den kleinen Alraunen, auch größeren. Was konnte hier noch lauern? Der Wald war für jede Überraschung gut. Wenn Mandragoro ihn beherrschte, brauchte sich Suko nicht darüber zu wundern, wenn Bäume oder Unterholz zu einem eigenen Leben erwachten, angetrieben von der Magie dieses Umwelt-Dämons. Suko fürchtete sich nicht vor ihm. Er, John und Mandragoro hatten oft genug zusammengearbeitet, aber er wußte auch, wie unberechenbar der Waldgeist war. Falls Suko seine Pläne störte, konnte er keine Rücksicht erwarten. Wieviel Zeit vergangen war, wußte er nicht. Irgendwann, weil sich auch das Geräusch nicht wiederholt hatte, setzte er seinen Weg fort. Diesmal noch aufmerksamer und gespannter. Jeden Augenblick konnte diese trügerische Stille zerbrechen und sich der Wald in eine Hölle verwandeln.
Man ließ ihn in Ruhe, und Suko kam dem gleißenden Licht allmählich näher. Er stellte auch fest, daß sich der Wald lockerte, die Bäume standen weiter auseinander, auch das Unterholz zeigte an gewissen Stellen Risse und wuchs nicht mehr so dicht wie zuvor. Wo, zum Teufel, hielt sich die Gefahr versteckt? Sie war da, sogar in seiner Nähe, das spürte Suko sehr deutlich, aber er konnte sie nicht fassen, nicht greifen oder sehen. Nur das Licht… Normalerweise bedeutete es Hoffnung. Suko aber hatte das untrügliche Gefühl, daß es diesmal nicht stimmte. Dieses Licht war eine Quelle einer kaum begreifbaren Kraft, und möglicherweise verbarg sich sogar Mandragoro darin. Und doch zog es ihn immer wieder an. Er konnte seine Schritte nicht zur Seite lenken, das helle Licht der Sonne war wichtiger. Je mehr er sich dem Zentrum näherte, um so besser konnte er gewisse Dinge unterscheiden. Es war nicht nur die gleißende Helligkeit, die sich dort ausbreitete, in ihrem Zentrum sah er etwas Dunkles, Kompaktes, von dem schwache Schattenrisse in verschiedene Seiten wegliefen. Suko konnte sich keinen Reim darauf machen. Er spürte jedoch instinktiv, daß er sich der Lösung näherte. Er fand Lücken, durch die er gehen konnte. Das Unterholz war zwar nicht gewichen, es hatte sich nur verändert, war weicher und durchlässiger geworden. Nicht mehr dornenbewehrte Zweige kratzten an Sukos Kleidung oder glitten über die Haut hinweg, sondern etwas Weiches, Fleischiges streifte ihn wie eine behandschuhte Hand, die ihn streicheln wollte. Es waren nur Farne und Gräser, die so unwahrscheinlich in die Höhe wuchsen. Er schaute nach rechts. Dort war es etwas dunkler, weil hohe Büsche eine gewisse Insel bildeten. Sie besaßen an ihrem oberen Ende eine sehr breite, kelchartige Form, als wollten sie Regenwasser in sich aufnehmen und es für längere Zeit verwahren. War das der Ort, wo sich alles traf und die Rätsel einer Lösung entgegenstrebten? Suko kam nicht mehr dazu, sich Gedanken darüber zu machen, denn er hörte wieder das seltsame Geräusch. Diesmal links von ihm, auch lauter. Es hatte sogar einen gefährlichen Klang bekommen. Er drehte sich. Im selben Augenblick erhob sich etwas Großes, Halbrundes und gleichzeitig Kompaktes nicht weit entfernt. Ein Zischen erklang. Es hörte sich an, als würde Gas aus einer Stahlflasche strömen.
Suko sprang zur Seite, er duckte sich, und das war sein Glück. Kaum eine Armlänge von ihm entfernt, rammte etwas in den Boden, das zitternd steckenblieb und wie eine helle Gummilanze aussah. Leider war es das nicht. Suko hütete sich, den Gegenstand zu berühren. Er dachte auch an den dunklen Körper, den er gesehen hatte und wußte, daß diese angebliche Lanze das klebrige Netzteil einer Riesenspinne war… *** Kelly war nicht nur wenig überrascht, als er die Anordnung hörte, daß er sich ausziehen sollte. Sein Blick flackerte, er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, aber er traute sich nicht, seinen Begleiter noch einmal zu fragen. Das Erdmännchen lächelte ihn an. Kelly spürte eine ungewöhnliche Vertrautheit zwischen ihm und dem Kleinen. Sie hatte sich in den letzten Minuten aufgebaut, sie war einfach da, sie würde auch nicht vergehen, weil Kelly wußte, daß er und dieses kleine Wesen nicht nur zusammengehörten, sondern auch so etwas wie verwandt miteinander waren. »Bitte, Kelly…« Er nickte. »Soll ich mich ganz ausziehen?« »Nein, du kannst deine Unterhose anbehalten.« »Ja, gern.« Wie komisch das alles klang. Mußte man sich so verhalten, wenn man seine Prinzessin finden wollte? Daran erinnerte er sich nicht mehr, das war früher, vor mehr als hundert Jahren, nicht so gewesen. Er hätte sich bestimmt daran erinnert. »Bitte!« flüsterte der Alraunenbalg. »Ja, danke. Ich danke dir. Ich weiß doch, daß du es gut mit mir meinst«, erwiderte er leise. Dann fing er an. Das Licht hüllte ihn ein. Er konnte nicht den Kopf heben und in die Sonne schauen. Die Strahlen waren einfach zu stark. Sie blendeten ihn, sie drückten wie grelle Gewichte gegen seine Augen. Was damals sein Ende gefunden hatte, würde heute wieder zurückkehren. Er hatte schon immer gewußt, daß es nur ein vorläufiges Ende war. Viele waren ja etwas Besonderes, und er gehörte zu ihnen, nur hatte er den Weg zu den Menschen gefunden, im Gegensatz zu all den anderen. Vielleicht war er sogar der einzige, der nun auf die ihm vorgeschriebene Vermählung mit der Prinzessin wartete, obwohl er ein Kind war und kein Erwachsener. Die Schuhe streifte er ab, zog seine Socken aus und griff nach dem Rand des dünnen T-Shirts. Auch dieses Hemd fand seinen Weg über den Kopf hinweg. Dann folgte die lange Hose. Er stieg aus ihr hervor und
stand, nur mit der Unterhose bekleidet, neben dem fleischigen, mit dicken Blüten bewachsenen Gebüsch. Es kam ihm so weich vor wie ein Bett. Die bunten Blumen strahlten einen wunderschönen süßen Duft aus, der von ihm eingesaugt wurde, so daß er sich danach so leicht fühlte. Wie jemand, der jeden Augenblick wegfliegen würde, ohne sich erst in ein Insekt verwandeln zu müssen. Er schaute den Schmetterlingen nach, die in seiner Nähe tanzten. Sie kamen ihm plötzlich wie gute Freunde vor, als sie mit taumelnden Bewegungen durch die Luft flatterten. Sie liebten den Duft der Blüten und huschten manchmal mit lautlosen Flügelschlägen über sie hinweg. Der Wichtelmann stand neben ihm. Er hielt seinen Körper gereckt, das kleine Gesicht dem Jungen zugewandt und nickte ihm aufmunternd zu. »Das ist dein Platz, Kelly, wir haben ihn für dich ausgesucht. Hier wirst du dein Glück finden.« Kelly fror plötzlich trotz der Wärme. Allerdings nur für einen winzigen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefangen und fragte mit leiser Stimme: »Kommt sie denn?« »Ich verspreche es dir!« »Wie sieht sie aus?« »Sie ist wunderschön, Kelly.« »Wie schön.« »Wie die Sonne so hell und klar. Sie kommt aus der Märchenwelt zu dir. Sie ist eine wunderschöne Elfe oder Fee. Du wirst sie liebhaben, wenn du sie siehst.« »Ja, das möchte ich auch«, flüsterte der Junge. Er unterstrich die Antwort durch ein kräftiges Nicken. Die Alraune reckte sich. »Dann geh bitte hinein«, flüsterte sie. »Dieses wunderschöne Gebüsch ist dein Bett. Es wird weich wie Daunen sein, du kannst dich darin nur wohl fühlen. Dort legst du dich hin und wartest auf die Prinzessin.« Kelly zögerte noch. Mit einer Geste der Verlegenheit strich er über sein Gesicht. Für einen winzigen Moment erschrak er, denn seine Haut fühlte sich so anders an. So rauh und hart, als wäre sie von einer Paranußschale gebildet. Plötzlich bekam er Angst. Wie von einem kalten Schauer wurde er damit überschüttet. Ein Anflug von Kälte durchtoste ihn. Er hatte Angst. Vor ihm verwandelte sich die Pflanze plötzlich in dunkle, menschenfressende Schlangen, als wollten sie ihm ein Zeichen für die Zukunft setzen. »Geh, Kelly, geh!« Die Stimme der Alraune riß ihn aus seinem Sekunden-Alptraum hervor, und er nickte.
Bevor er der Aufforderung nachkam, strich er noch einmal über sein Gesicht. Unter seinen Fingern befand sich eine glatte Kinderhaut. Von einer Schale war da nichts mehr zu spüren, und er glaubte, daß er zuvor möglicherweise einem Irrtum verfallen war. Der Junge streckte die Arme aus, bis die Handflächen über die ersten, schräg nach unten wachsenden Blätter des Strauchs streiften. Sie fühlten sich so herrlich weich an, gleichzeitig fleischig und trotzdem fest, so daß sie sein Gewicht bestimmt tragen würden. Sie hingen an gebogenen Stengeln, die auch die Blätter trugen. Für den Jungen waren die Stengel Stangen, an denen er sich festhalten und sich auch in die Höhe schwingen konnte. Er packte zu. Kaum gab der Stengel nach, so daß Kelly es wagte, einen Klimmzug zu versuchen. Es klappte. Schon immer war er gut und sicher geklettert. Dieses Training machte sich hier bemerkbar, und so bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, höher zu klettern und sich dem Zentrum des mächtigen Busches zu nähern, der zu seinem Wartebett werden sollte. Er kletterte weiter hinauf. Dabei hatte er das Gefühl, unter sich einen weichen, nachgiebigen Teppich zu spüren, der aber sein Gewicht immer hielt. Dann kroch er vor. Sein Blick fiel auf das Zentrum des ausladend wachsenden Busches. In dessen Mitte befand sich so etwas wie eine Mulde, ein übergroßer Blütenkelch. Ohne daß man ihm einen Befehl gegeben hätte, bewegte er sich kriechend darauf zu. Unter ihm federte der weiche Boden. Grelle Blumen umwuchsen ihn. Sie strahlten in einer tiefroten und auch sehr gelben Farbe. Manchmal berührten Schatten sein Gesicht. Die Schmetterlinge flogen so dicht an ihm vorbei, daß er manchmal von den Rändern ihrer bunten, filigranen Flügel gestreift wurde. Es kam ihm vor, als wollten ihn diese Tiere durch Liebkosungen willkommen heißen. Eine wilde Vorfreude durchwehte ihn, als er seinen Platz endlich erreicht hatte. Ja, es war das Zentrum. Es war die Mitte. Es war sein Bett, sein Platz, um auf die Dinge zu warten, die unweigerlich folgen würden. Lange genug hatte sie sich Zeit gelassen. Mehr als hundert Jahre, da mußte sie einfach kommen. Die Prinzessin, seine Prinzessin!
Er lag auf dem Rücken, hielt die Arme ausgestreckt, so daß sie zwischen den weichen Blättern verschwanden. Ein Lächeln umwehte nicht nur die Lippen des Jungen, es lag auch wie ein feiner Sonnenschein auf seinem Gesicht und gab etwas von der großen Vorfreude wider, die er empfand. Die Sonne schien. Nicht mehr so heiß und so grell, als daß ihre Strahlen seine Haut verbrannt hätten. Nein, sie waren nun weich, sie liebkosten sein Gesicht und auch den Körper. Er fror nicht, obwohl er nur seine Unterhose trug. Die Pflanze war warm, in ihrer Mitte fühlte er sich geborgen wie in einem sicheren Schoß. Die Zeit war nicht mehr wichtig. Kelly wußte jetzt, daß seine Prinzessin erscheinen würde und all das wahrmachte, was er sich erträumt und ersehnt hatte. Er lag da und wartete… Der Junge hörte sein eigenes Herz überlaut schlagen. Jedes Pumpen hinterließ in seinem Kopf ein Pochen, manchmal schloß er auch die Augen, weil er sich dann besser auf die Geräusche in seiner unmittelbaren Umgebung konzentrieren konnte. Wie würde es sein, wenn sie kam? Würde er sie hören? Würde sie jubeln, würde sie singen und sich in seine Arme werfen? Kelly spürte, daß eine Veränderung mit ihm vorging. Die Aufregung zerrte an seinen Nerven. Er veränderte sich. In seinem Innern rollte und bewegte sich etwas. Säfte bildeten sich, er hörte es schmatzen, er hörte es fließen, er nahm seinen eigenen Geruch wahr, der ihm so fremd war. Er roch nach Gras, Moos und Feuchtigkeit, nach süßlichem Pollenstaub aus irgendwelchen Blüten. Er hörte das Summen der Bienen und Wespen, beobachtete sie. Dann hörte er das Knacken. Ein widerliches Geräusch, das so überhaupt nicht in die Harmonie des Waldes hineinpassen wollte. Der Junge schaute in die Höhe. Er verdrehte dabei die Augen. Eigentlich hätte dieser Fleck des Himmels unter dem Sonnenlicht explodieren müssen, aber da war auf einmal nichts mehr. Kein grelles Strahlen, dafür ein ungewöhnlicher Schatten, der aussah wie das Dach eines Pilzes und sich trotzdem auf langen, leicht eingeknickten und stelzenartigen Beinen fortbewegte. Das war nicht die Prinzessin! Plötzlich überkam Kelly eine bedrückende Angst. Er wollte sich aufrecht hinsetzen und schauen, wer sich ihm da näherte. Das war nicht zu schaffen.
Die Blüten hielten ihn fest. Sie klebten an ihm, sie hatten plötzlich Hände, die so klebrig waren, als hätte sie jemand mit einer dicken Leimschicht beschmiert. Der Schatten wanderte weiter. Rascheln im Gras, das Knacken der Zweige, das schrille Schreien der Vögel, die hoch über ihm kreisten und mit wilden Flügelschlägen das Geäst durcheilten. Sie schrien, weil sie warnen wollten. Das Ungeheuer kam. Es war nicht zu stoppen. Es bahnte sich seinen Weg zu einem Ziel, das keine Chance gegen es hatte. Dann fiel der mächtige Schatten über den liegenden Kelly… *** Suko lag auf dem weichen Boden. Es war ihm gelungen, auch dem zweiten ›Schuß‹ zu entgehen, doch er wußte genau, daß ihm zum Ausruhen keine Zeit mehr blieb. Er hatte das Untier nicht gesehen, aber dieser Riesenfaden reichte ihm aus. Vielmehr die beiden Fäden, da mußte eine Monsterspinne zu ihm unterwegs sein, und Suko wußte sehr gut, wie schnell die Spinnen es schafften, ihr Netz zu flechten. Zwangsläufig hatte er sich beide Fäden aus der Nähe ansehen können und festgestellt, daß sie mit einer Schleimschicht überzogen waren, an der alles klebenbleiben würde, was damit in Berührung kam. Deshalb hütete sich Suko davor, die Fäden auch nur mit einer Fingerspitze zu berühren. Er war sich nicht sicher, ob er sie würde wieder lösen können. Flach, aber mit angezogenen Beinen lag er auf dem Boden und nahm den Geruch des Grases in sich auf, das auch von einem schweren betäubenden Blütenduft durchweht wurde. Hier kam alles zusammen. Eine üppige Natur und das Grauen, das sich durch diesen dschungelartigen Bewuchs bewegte. Als Suko an die Riesenspinne und gleichzeitig an Kelly dachte, bekam er eine Gänsehaut. Er traute es der Bestie durchaus zu, daß sie sich ein Kind als Opfer ausgesucht hatte. Er stellte sich Schreckensbilder vor. Der Junge eingeklemmt in diesem verdammten Netz, dessen Fäden ihn wie gierige Arme festhielten. Noch immer warten und lauern… Die Zeit tickte dahin. Er hatte nichts weiter gehört. Kein Schaben, Knacken oder Rascheln. Die Spinne schien sich auszuruhen, um neue Kraft für eine weitere Attacke zu schöpfen.
Trotz des Angriffs hatte Suko sein Ziel nicht aus den Augen verloren. Es lag zwar vor ihm, um es jedoch zu erreichen, mußte er nach links ausweichen, wo das Licht noch immer wie eine grelle Lampe leuchtete, aber auch einen Schatten preisgab, der vom Boden her in die Höhe wuchs. Suko kam dieser Schatten vor wie ein besonders mächtiges Gebüsch. Er konnte sich vorstellen, daß auch die Spinne in dessen Nähe lauerte, weil sie dort eine Deckung bekommen hatte. Noch tat er nichts. Er hörte aber das Schreien der Vögel. Aus ihrer luftigen Höhe hatten sie das Untier längst entdeckt und gaben ihre Warnungen ab. Suko hatte die Peitsche ausgefahren und in den Gürtel gesteckt. Wenn die Spinne einen magischen Ursprung besaß, konnte er sich gut vorstellen, daß die Riemen auch das Netz zerstörten. Er kniete sich hin. Geduckt, sehr klein, mit hellwachen Sinnen. Dann zog er die Peitsche hervor. Er visierte den Spinnenfaden direkt an. Blitzschnell schlug er zu. Die Peitsche wickelte sich um den harten Faden. Suko hörte ein surrendes Geräusch. Der Faden zuckte, bevor er dort riß, wo ihn die drei Riemen erwischt hatten. Plötzlich zischte er mit einer kreisenden Bewegung in die Höhe und verdampfte. »Also doch«, sagte der Inspektor und nickte. Um den ersten Faden kümmerte er sich nicht. Er wollte so schnell wie möglich weg, und das war auch sein Glück, denn die in sicherer Deckung hockende Monsterspinne hatte mitbekommen, was mit ihrem Netz geschehen war. Sie schoß einen weiteren Faden ab. Suko hörte noch das Singen. Er sah vor sich den dünnen Baumstamm, wuchtete sich nach rechts, überschlug sich und jagte wieder an dem Faden vorbei. Wie eine nach oben huschende Schlange umringelte der Faden den Stamm und kam zur Ruhe. Schnaufend atmete Suko aus. Da hatte er wieder Glück gehabt. Auch deshalb, weil sich die Riesenspinne nicht aus ihrer Deckung löste. Hätte sie das getan und sich einen besseren Ausgangspunkt ausgesucht, wäre es nicht so günstig verlaufen. Entgegen kam ihm auch, daß sie immer nur einen Faden abschoß. Suko wollte sein Glück nicht überstrapazieren. Gleichzeitig mußte er an seine Aufgabe denken. Mochte Kelly auch von zahlreichen Rätseln umgeben sein, letztendlich war er nur ein kleiner Junge, der sich in dieser Umwelt nicht wehren konnte. Oder steckte er mit dem Monstrum unter einer Decke? Das war auch möglich, wobei sich Suko gleichzeitig die Frage stellte, welche Rolle Mandragoro spielte? Die Probleme drängten sich ihm dermaßen auf, daß er an die Gefahr kaum dachte. Zudem sagte er sich,
daß ihn das sirrende Geräusch des heranschießenden Fadens schon früh genug warnen würde. Sein Ziel waren das Licht und der mächtige Busch, der dort in die Höhe wuchs. Oben sah der breite Kelch aus wie ein bequemes Bett, mit Ausmaßen, die auch einer gewaltigen Spinne entgegenkamen. War das möglicherweise ihr Nest? Wieder schoß ein Faden heran. Diesmal sehr flach über dem Boden. Glücklicherweise hatte Suko das Sirren gehört. Er preßte sich bäuchlings auf den weichen Untergrund und machte sich so flach wie möglich. Hautnah sirrte das Ding über seine Schulterblätter hinweg, traf einen knorrigen Busch und riß dort beinahe die Zweige auseinander, so groß war die Wucht gewesen. Der Faden versperrte ihm den Weg. Suko hämmerte deshalb mit der Dämonenpeitsche zu. Der Faden verzischte. Suko setzte seinen Weg fort. Keine Bäume umstanden ihn sicher. Er kam relativ gut voran, auch wenn die Büsche jetzt so hoch wuchsen, daß sie sein Kopfende erreichten. Hin und wieder mußte er sich ducken oder Farne und Halme zur Seite schieben. Aber er näherte sich dem Ziel. Von der Spinne entdeckte er nichts, auch dann noch nicht, als er vor dem hohen Buschwerk stand und an ihm hochschaute wie an einem monströsen Pilz. Aber die Fläche war nicht glatt. An Ranken und Ausbuchtungen konnte er sich hochziehen. Suko gehörte zu den guten Kletterern. Es würde ihm keine Schwierigkeiten bereiten, die obere Schale zu erreichen. Da hörte er das Rascheln. Er schaute nach links und sah die Alraune! Sie lebte, sie glotzte ihn starr und böse an. Ihren Mund hatte sie verzogen, aus den Augen strömte Haß. Bevor Suko noch etwas gegen sie unternehmen konnte, drehte sie sich um und huschte weg. Sie war so schnell, daß es für Suko keinen Sinn hatte, ihr zu folgen. Er hatte auch andere Dinge zu erledigen. Es gab keinen konkreten Hinweis darauf, daß Kelly sich in unmittelbarer Nähe aufhielt, Suko folgte einfach seinem Gefühl. Er wollte außen hochklettern und schauen, ob sich der Junge in der großen Blütenwanne aufhielt. Es blieb beim Vorsatz. Er hörte das Knacken, das Rascheln und das leise Stampfen gewaltiger Beine. Die Spinne kam. Und diesmal so nahe, daß er sogar ihren mächtigen Schatten sehen konnte… ***
Ich zog meinen Dolch! Es war die einzige Waffe, die ich gegen diese verdammten Alraunen einsetzen konnte, ausgenommen die Beretta, aber ich wollte in diesem Raum keine Schüsse abgeben. Patrick O’Hara hörte ich böse lachen. Er war aufgestanden und hatte sich neben das Faß mit dem Blut der Opfer gestellt. Das Sonnenlicht reichte dort nicht hin, und er verschmolz mit der Düsternis der Wand. Nur sein Gesicht war klarer zu sehen. Es hatte einen sehr angespannten Ausdruck bekommen, die Augen darin leuchteten. Wenn mich nicht alles täuschte, strahlte aus ihnen ein wilder Fanatismus. Ihm würde mein Tod nichts ausmachen, er würde zuschauen, wenn die Alraunen versuchten, mich zu vernichten. In ihnen steckte eine derart starke Boshaftigkeit, so daß ich mich fragte, ob tatsächlich Mandragoro hinter ihnen stand und sie an der langen Leine hielt. Wir kannten uns, und für mich war der Umwelt-Dämon kein Killer. Ich konnte ihn nicht mit den normalen Dämonen vergleichen, auf keinen Fall wollte er meinen Tod. Wir hatten uns immer wieder irgendwie einigen können, obwohl wir im Prinzip auf zwei verschiedenen Seiten standen. Deshalb begriff ich das Vorgehen der Alraunen nicht. Ich hörte ein komisches Geräusch. Es wollte nicht in diesen Rahmen hineinpassen. Als ich zu O’Hara schaute, sah ich, wie er seine Hände bewegte und die Handflächen rhythmisch gegeneinanderschlug. Der Mann klatschte, er lachte dabei, und dieses Klatschen animierte die Alraunen zum Angriff. Ich hatte nicht gesehen, wie viele dieser Wesen sich in meiner Nähe tummelten. Für mich war es nur wichtig, den Rücken freizuhaben, damit ich sie von vorn sah. Deshalb ging ich einen großen Schritt zurück und hatte damit die Wand erreicht. Schon sprang die erste Alraune. Sie sah aus wie eine übergroße Kartoffel, eigentlich ein lächerliches Gebilde mit dünnen, zweigähnlichen Armen, die sich in meine Kleidung klammern wollten. Mein Dolch war schneller. Der Treffer spießte das Wesen für einen kurzen Moment auf. Aus der Wunde sprühte das rote Blut wie eine Wolke hervor, die sich schnell verteilte. Ich glaubte sogar einen Schrei zu hören, dann fiel die Alraune zu Boden und rührte sich nicht mehr. Ich war bereits wieder unterwegs. Eine zweite Alraune hebelte ich hoch. Ich hatte die Klinge dicht über dem Boden geführt und damit den Wurzelbalg erwischt. Es sah für einen Moment so aus, als wollte sich das Wesen an der Klinge festklammern, dann zerriß die scharfe Schneide den Wurzelkörper und vernichtete ihn.
Eine dritte Alraune köpfte ich. Blitzschnell führte ich den Schlag von rechts nach links. Dann bestand der kleine gefährliche Wurzelmann nur mehr aus zwei Hälften. Während dieser Aktion war ich nie an einer Stelle stehengeblieben, hatte mich sehr schnell bewegt, mußte mich ducken, als ein gefährlicher Wichtelmann sich aus den höheren Regionen des Regals löste und mich dabei ansprang. Ich hatte mich nicht rasch genug geduckt. Er erwischte mich im Nacken und klammerte sich am Kragen fest. Seine Krallen kratzten über meine Haut. Ich riß den linken Arm hoch, führte die Hand seitlich an meinem Hals vorbei und griff zu. Etwas Weiches klemmte zwischen meinen Fingern. Ich riß die Alraune los, behielt sie noch in der linken Hand, Heß sie dann fallen und führte blitzschnell und zielsicher den Dolch nach vorn. Treffer! Sie zappelte noch, und wieder hatte ich den Eindruck, eine Kartoffel erwischt zu haben. Aber da war das Blut, das zusammen mit dem Wesen zu Boden klatschte. »Nein, nein, nein!« Die Stimme des Weißbärtigen gellte auf, und er schüttelte wütend den Kopf. Dann überschlugen sich seine Worte, weil er sie so schnell sprach. Sie waren nicht für mich bestimmt und galten den Alraunen. Aus verschiedenen Winkeln des ziemlich großen Raumes hörte ich ein hastiges Kratzen und Schaben, das sich von mir entfernte und mir vorkam wie Fluchtgeräusche. »Laß es, Sinclair, laß es!« Den Worten folgte ein heftiges Atmen, und Patrick O’Hara verließ seine Deckung. Er ging geduckt, als hätte er unter einer schweren Last zu leiden. »Ich will nicht, daß sie alle sterben, das haben sie nicht verdient!« »Es sind kleine Monster!« »Sie verteidigen nur ihr Reich, Sinclair.« Ich wischte die Klinge an einem dunklen Handtuch ab, das neben einer kleinen Schnitzbank lag. Als Zeichen meiner Kompromißbereitschaft ließ ich es verschwinden und konzentrierte mich auf O’Hara. »In ihnen steckt das Blut der Menschen!« hielt ich ihm vor. »Und Sie tragen daran einen Großteil der Schuld.« »Das weiß ich.« »Es hat Ihnen nichts ausgemacht, die drei Menschen zu töten. Sie leben mit dem Bewußtsein, ein dreifacher Mörder zu sein. Die Leute haben Ihnen nichts getan. Sie wurden von ihnen nicht körperlich attackiert, man hat Sie in Ruhe gelassen…« »Ich bin nicht der Mörder!« »Nein?«
Er stand vor mir, hatte die Hände zu Fäusten geballt, schwitzte so, daß ich es roch und fuhr mit der Hand über sein verklebtes Haar. »Nein, ich bin nicht der Mörder!« »Und das Blut der Menschen?« »Man hat es mir gebracht!« »Okay, das glaube ich Ihnen. Dann sagen Sie mir, wer die drei Männer umgebracht hat.« Er drückte seine Wangen ein. »Wer?« flüsterte er, bevor er lachte. »Es war der Wald, Mr. Sinclair. Der Wald auf der anderen Seite des Flusses. Er hat die drei Männer getötet, obwohl sie davor gewarnt wurden, ihn zu betreten. Aber sie waren gierig, sie wollten Geschäfte machen, sie wollten Land kaufen, sie wollten es verändern. Der Wald sollte weichen. Riesige Bagger würden kommen und ihn roden. Natur sollte zerstört werden. Unsere Natur, ein Teil unseres Lebens, verstehen Sie? Das ließ man nicht zu.« »Wer ließ es nicht zu?« »Der Wald!« Ich schüttelte den Kopf. »Das glaube ich Ihnen nicht, O’Hara. Der Wald wird sie nicht getötet haben.« Er senkte den Kopf. »Nicht direkt«, gab er zu. »Aber darin existiert etwas. Dort gibt es Leben, es ist ein kleines Paradies geworden, eine Heimat der Alraunen. Durch das Blut ihrer Feinde wurden sie stark, und dieser Wald wird von Kräften beherrscht, die uns Menschen über sind. Die wir kaum begreifen können.« »Heißt die Kraft Mandragoro?« O’Hara schluckte. Er wagte nicht, mich anzuschauen. Sein Blick blieb gesenkt. Er verknotete die Finger ineinander und wirkte wie ein Mann, der ein schlechtes Gewissen hatte. »Stimmt es?« »Ja.« »Also Mandragoro!« Er hob die Schultern. »Wir wollen nicht, daß die Natur zerstört wird. Sie hat sich hier aufgebaut. Kein Mensch hat eingegriffen. Der Wald konnte wachsen, er konnte bisher seine Geheimnisse bewahren, es ist ein wundervoller Flecken Erde, der von keinem Menschen mehr entweiht werden darf. Begreifen Sie das denn nicht? Hier ist die Heimat der Alraunen, sie können sich hier wohl fühlen, und hier werden sie mit Menschen Kontakt aufnehmen, die es gut mit ihnen meinen.« »Kann ich ein Beispiel sagen?« »Bitte!« »Ihr Enkel Kelly?« O’Hara kam einen Schritt vor. Diese Geste entbehrte nicht einer gewissen Symbolik. Er kam aus dem Schatten, aber er erreichte das Licht, diesen feinen hellen Schleier, der durch die Fenster fiel und sich
an gewissen Stellen im Raum verteilte. Bei Erwähnung seines Namens hatte der alte Mann regelrecht aufgelebt, und als er vor mir stehenblieb, da sah ich den Stolz auf seinen Gesichtszügen. »Ist es so?« hakte ich nach. »Sie haben recht!« »Dann befindet sich Kelly im Wald?« »Es ist seine Heimat«, erwiderte er leise, aber sehr betont und verständlich. »Bei mir hat er nur gewohnt, aber der Wald ist sein eigentliches Terrain.« Ich runzelte die Stirn. Irgend etwas hakte bei mir. Ich konnte ihm nicht folgen. »Was sagen denn Kellys Eltern dazu?« »Welche Eltern?« Ich verbarg meine Überraschung gut. »Nun, es wurde ja von den Personen gesprochen, die seine Eltern sind. Sind Sie nicht unterwegs, um Atomkraftwerke zu überprüfen und…« »Glauben Sie das, Sinclair?« Ich hob die Augenbrauen und ließ die Luft aus meinen Nasenlöchern strömen. »Sagen wir so, Mr. O’Hara, allmählich bekomme ich meine berechtigten Zweifel.« »Stimmt.« »Und weiter?« »Können Sie sich den Rest nicht denken?« O’Hara ließ sich auf einem Schemel nieder. »Nicht sehr gut.« »Was hat Kelly Ihnen denn gesagt?« »Einiges.« »Sprach er nicht über sein Alter?« »Ja, das stimmt.« O’Hara flüsterte die Antwort dem Fußboden entgegen. »Dabei hat er nicht gelogen, Sinclair. Er sieht zwar aus wie elf oder zwölf, tatsächlich aber zählt er mehr als hundert Jahre. In diesem Haus ist er nur aufgenommen worden. Hier hat er eine gewisse Sicherheit gehabt. Er konnte bei uns seine Rolle spielen. Mein Sohn und meine Schwiegertochter haben ihn akzeptiert. Es geschah mit meinem Einverständnis, es war unser gemeinsamer Wille.« »Dann führt Kelly so etwas wie eine Doppelexistenz?« O’Hara lächelte. »Ja, wir haben es geschafft, die Menschen zu täuschen.« Okay, das nahm ich hin. Aber ich wollte mehr wissen und fragte: »Für das alles muß es doch einen Grund geben, zum Teufel! Er sieht aus wie ein normales Kind. Wie ist es möglich, daß er sich hundert und mehr Jahre so gehalten hat.« »Das ist die zweite Existenz, die Täuschung. Er ist in Wirklichkeit kein Kind.«
»Was dann? Ein Dämon, ein…« »Nein, das ist er auch nicht.« In den folgenden Worten des Mannes schwang ein gehöriger Stolz mit. »Kelly ist eine Alraune. Er ist der erste große Versuch gewesen, einen Menschen mit einer Alraune zu mischen. Verstehen Sie das? Er ist der König der Alraunen, was er nicht einmal so richtig weiß. Hin und wieder aber erreichen ihn die Träume. Sie kommen dann zu ihm, sie berichten ihm von einer Vergangenheit, die es einmal für ihn gegeben hat. Und dann steigen die Erinnerungen in ihm hoch. Dann sieht er die Welt mit anderen Augen. Dann träumt er von Reichen, in denen es Könige und Prinzessinnen gibt. Er wartet noch immer, denn in der Erinnerung hat es eine Prinzessin gegeben.« Das war mir alles noch etwas wirr. Ich wollte wissen, wie er entstanden war und wer seine Eltern waren. »Keine Menschen.« »Mandragoro?« »Nein oder ja?« O’Hara hob die Schultern. »Man hat ihn geschaffen. Es war eine sehr große Alraune, ein riesiger Wurzelstock, mehr als menschengroß. Und er ist aus einem Land gekommen, wo es all das gab, das wir in unseren Märchen nacherzählt bekommen. In diesem Land gibt es eben Alraunen, sie halten sich dort auf. Die Menschen des Altertums mochten ihr Wissen von dort gehabt haben, und dieses Land hat Kelly als einen Boten geschickt. Als eine Alraune, die in unserer Welt eine menschliche Gestalt angenommen hat und unter dem Schutz eines mächtigen Dämons steht, den auch Sie kennen.« »Das ist Mandragoro. Soweit komme ich klar. Nur über das andere Land denke ich noch nach.« Das war leicht gelogen, ich konnte mir schon vorstellen, woher Kelly kam. O’Hara schaute mich mit einem Blick an, in dem ich Mitleid las. »Es hat keinen Sinn, wenn ich über das Land spreche, von dem uns Kelly erzählt hat. Sie werden es nicht kennen. Es ist den meisten Menschen nicht bekannt. Es liegt auch nicht in dieser Welt…« »Es ist Aibon, nicht?« O’Hara reagierte auf meinen leisen Zwischenruf. Allerdings nicht mit Worten, er krampfte seine Hände zusammen. Sie bildeten so harte Fäuste, daß die Knöchel scharf hervortraten und die Haut sich wie Papier über sie spannte. »Habe ich recht.« Patrick O’Hara stöhnte auf. »Sie… Sie kennen das Land?« »Ja, relativ gut sogar.« »Woher?« »Das spielt jetzt keine Rolle. Sie sehen aber, daß ich nicht unvorbereitet zu Ihnen gekommen bin. Ich kenne mich ein wenig aus, und meinem Partner ergeht es ebenso. Aber kommen wir zurück zu Kelly. Er ist also in Aibon erschaffen worden als Alraune, wurde in diese Welt geschickt
und nahm eine menschliche Gestalt an, obwohl er nach wie vor zu den Alraunen hin tendiert.« »Er bereitet ihnen hier den Weg. Im Wald jenseits des Flusses nahm alles seinen Anfang. Zusammen mit Mandragoro wollte er einen Platz für seine Brüder schaffen. Man hat ihm versprochen, als Lohn die Prinzessin zu schicken, die ihm nicht aus dem Sinn geht. Er muß sie in Aibon schon gesehen haben, und auch sie soll in diese Welt kommen. Er wartete auf sie, deshalb ist er gegangen. Er hat Beschützer im Wald. Es sind die Alraunen, und sie wissen, wo sich die Prinzessin aufhält. Sie wird zu ihm kommen, und er wird glücklich werden. Sie werden im Wald eine neue Heimat bekommen, deshalb durfte er nicht abgeholzt werden. Wir mußten diese Männer ausschalten. Sie sind im Wald gestorben, sie haben sich dort aufgelöst. Ihre Körper sind zu Humus geworden, was sehr schnell ging. Aber ihr Blut habe ich gesammelt und die Alraunen damit gespritzt. So fügt sich alles zusammen.« »Und Kelly ist jetzt dort.« »Ja, er rudert über den Fluß. Er befindet sich jetzt in seiner Welt, dort wird er glücklich sein.« »Nur ist er nicht allein«, sagte ich. »Das weiß ich. Andere werden…« »Davon rede ich nicht. Ihr Enkel, Mr. O’Hara, hat einen Verfolger gehabt.« Der Weißbärtige schaute hoch. »Wie bitte?« hauchte er. »Wer hätte ihn verfolgen sollen?« »Mein Freund und Kollege Suko.« »Dann hat er den Wald betreten?« »Davon gehe ich aus.« Ob O’Hara tatsächlich erschrak oder mir dieses Erschrecken nur vorspielte, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls wurde er bleich, und gleichzeitig schluckte er. »Es tut mir leid für Ihren Freund. Er wird es nicht überleben.« »Das werde ich feststellen.« O’Hara stand auf. »Heißt das, daß Sie auf die andere Seite des Flusses wollen?« »So ist es.« »Sind Sie lebensmüde, Mr. Sinclair?« »Auf keinen Fall. Ich möchte nur eine Sache beenden, die ich begonnen habe. Ich will zudem mit Mandragoro in Kontakt treten, denn wir beide kennen uns.« »Dann gehe ich mit.« »Ich schaffe es schon allein.« »Nein, nein.« O’Hara entwickelte sich plötzlich zu einem Hektiker. »Lassen Sie mich. Ich kann Ihnen den Weg zeigen. Ich habe auch ein Boot am Ufer liegen.«
Verbieten konnte ich es ihm nicht. Es hatte auch keinen Sinn, an seine Vernunft zu appellieren. Wäre ich allein gefahren, er hätte mich bestimmt verfolgt. Wenn er bei mir war, konnte ich wenigstens ein wachsames Auge auf ihn haben. »Gut, Mr. O’Hara, dann lassen Sie uns bitte keine Zeit mehr verlieren. Ich habe das Gefühl, daß wir sonst etwas versäumen.« »Bin schon fertig.« Er war so schnell, daß er sogar vor mir sein Haus verließ. Ich schaute auf den Fluß hinaus. Von dieser Stelle aus sah ich ihn als dunkles Band, auf dem leichte Dunstschwaden schwebten, wobei das Sonnenlicht die Wellen mit schimmernden Reflexen betupfte. Dahinter jedoch, am jenseitigen Ufer, stand der Wald wie ein düsterer Moloch. Eine Warnung für jeden Fremden, ihn nicht zu betreten, falls er nicht gerade lebensmüde war. Darüber dachte ich nicht nach. Wenn ich mich von derartigen Überlegungen treiben ließ, konnte ich meinen Job gleich hinwerfen… *** Zu spät, dachte Suko. Verdammt noch mal, es war zu spät. Das würde er nie mehr schaffen. Er hatte sich bisher in einer nahezu bedrückten Stille bewegt, die nun völlig zerrissen worden war, denn die den Weg der Spinne begleitenden Geräusche zerrten an seinen Nerven und ließen auch die Hilflosigkeit in ihm aufsteigen. Trotzdem wollte Suko nicht untätig bleiben. Er mußte etwas tun. Er konnte den Jungen nicht diesem Monstrum überlassen, dessen Schatten weiterwanderte, wie Suko ziemlich gut erkennen konnte, weil er seinen Kopf angehoben hatte und schräg in die Höhe schaute. Der Schatten sah schlimm aus. Seine Pilzform erinnerte Suko an ein UFO, wie man es in den alten Filmen der fünfziger und sechziger Jahre gezeigt hatte. Mit ihren langen, staksigen Beinen wühlte sie sich vor. Bei jedem Tritt, bei jeder Bodenberührung, knackten Zweige, raschelte Laub, und es erklang auch jedesmal ein dumpfer Laut, wenn die Beine den Boden berührten. Den Jungen hatte Suko bisher noch nicht gesehen, jetzt aber hörte er seine Stimme, und Kelly kleidete seine Worte in eine Frage. »Bist du die Prinzessin?« Suko verzog das Gesicht. Er konnte die Frage nicht nachvollziehen. Wie war es möglich, daß Kelly ein derartiges Untier als seine Prinzessin ansah? So etwas wollte ihm einfach nicht in den Kopf, doch er war dazu verurteilt, etwas zu tun. Es hatte keinen Sinn, am Boden hocken zu
bleiben. Er mußte hoch, trotz der Gefahr, und er hoffte noch immer, daß die Spinne zu nahe gekommen war. Es würde ihm keine Schwierigkeiten bereiten, an der Außenseite des gewaltigen Strauchs in die Höhe zu klettern. Das war kein Problem, das schaffte er leicht, und er wollte die Spinne für diese Zeit auch vergessen. Mit beiden Händen zugleich packte Suko das Gesträuch. Er spürte es zwischen den Fingern. Die Blätter oder Lianen kamen ihm feucht und auch fleischig vor. Sie steckten voll im Saft, deshalb würden sie auch nicht so leicht brechen. Er kletterte hoch. Dann erwischte es ihn. Suko hörte das Singen, er dachte auch daran, auszuweichen, nur war das nicht mehr möglich. Er hing an der Außenseite des Busches fest und spürte den Schlag im Rücken. Der nächste folgte sofort. Da wickelte sich der zweite Faden um seine Beine. Suko wollte sich noch zur Seite drücken, als der dritte Faden heranschoß. Abermals übernahm er die Funktion eines Lassos, und plötzlich konnte der Inspektor seine Arme nicht bewegen. Er gestand sich ein, einen Fehler begangen zu haben. Er hatte die Riesenspinne unterschätzt, weil er damit rechnete, daß sie sich allein um Kelly kümmern würde. Doch sie hatte ihn nicht vergessen. Er hing in einer schrägen Lage. Er klammerte sich auch an den Zweigen und Blättern fest, doch die Spinne war ihm überlegen. Der plötzliche Ruck erwischte ihn an drei Stellen zugleich. Suko wollte nicht aufgeben, die Kraft zerrte ihn trotzdem zurück. Da er seinen Halt noch immer nicht losließ, kam es ihm vor, als würden sich die Zweige wie starke Gummibänder ihm entgegenbiegen. Dann fiel er. Es war kein harter Fall, mehr ein Schweben, denn die Fäden hielten ihn fest. Dumpf schlug er auf. Die Augen hatte Suko weit geöffnet. Da er in einem falschen Winkel lag, war es ihm nicht möglich, das Riesentier zu sehen. Dafür hörte er aber wieder dieses verdammte Zischen und anschließend das singende Geräusch. Die nächsten Fäden erwischten ihn nicht. Sie wischten über den Boden, mal flach, mal steil, trafen auch das Gebüsch, und die Spinne schaffte es innerhalb weniger Sekunden ein Riesennetz zu spinnen. Gleichzeitig besaß es noch Verbindung mit den Fäden, die über und auf dem Erdboden lagen, wobei einige von ihnen sogar im dichten Gras verschwanden. Die Falle war perfekt.
Suko versuchte trotzdem, sich aus dieser Lage zu befreien. Er dachte daran, daß Spinnen andere Insekten in ihr Netz lockten, um sie anschließend zu verspeisen. Er hatte es mit einem Untier zu tun, x-mal so groß wie eine normale Spinne, mehr eine magische Mutation, deshalb konnte er sich auch vorstellen, daß es ihr nichts ausmachte, den Hunger mit einem Menschen zu stillen. Bewegen konnte er sich noch. Allerdings keine Arme und auch keine Beine. Er schaffte es nur, den Körper zu rollen, doch schon nach zwei Umdrehungen spannten sich die Fäden dermaßen stark, daß er es lieber aufgab. Von Kelly hörte er nichts mehr. Dafür kam die Spinne. Ihre Beine kratzten über den Boden. Laub wurde hochgewirbelt. Suko lag diesmal günstig. Er konnte nach rechts sehen, wenn er den Kopf drehte, und dachte zuerst, daß es ein Schatten war, der sich ihm näherte. Nein, diesmal nicht. Diesmal war es die echte Spinne, und selbst Suko, der einiges gewohnt war, bekam Herzrasen. Welch ein Monstrum! Nicht nur riesig, sondern pechschwarz wie die Nacht. Suko hielt den Atem an, denn bisher hatte er angenommen, daß Spinnen so gut wie kein Gesicht hatten. Ein Irrtum. Diese hier war mit einem Gesicht ausgestattet, doch das paßte wiederum nicht, weil es die Fratze eines Monstrums war und an diesem Körper sehr fremd wirkte. Sie bestand aus einem Maul und kalten, gelben Augen. Das Maul war weit aufgerissen, so daß es einen Schlund bilden konnte. Er schimmert tief im Hintergrund orangefarben, an der Vorderseite mehr weiß, und aus dem Oberkiefer wuchsen zwei fingerdicke, ebenfalls weiße Zähne hervor, die wie Hauer aussahen. Insgesamt gesehen besaß die Fratze Ähnlichkeit mit der eines Gorillas. Aus einer gewissen Höhe starrte der Kopf des Monstrums auf das Opfer herab. Suko wurde fixiert und fühlte sich dabei seelisch seziert. Dieses Monstrum strahlte etwas ab, über das er nicht hinwegkam und das er nicht einordnen konnte. Es war nicht die Aura der Gewalt und des Tötens, er hatte vielmehr den Eindruck, als brächte es etwas mit, das es in dieser Welt einfach nicht gab. Einen Hauch Magie, einen Hauch Jenseits und auch einen Hauch Legende. Würde sich die Monsterspinne zuerst um ihn oder um den Jungen kümmern?
Suko rechnete damit, daß sie ihn vernichtete, aber sie drehte sich plötzlich auf ihren langen, zuckenden Spinnenbeinen zur Seite, als wollte sie in den Ball der Sonne hineinspringen, der heiß und gleißend am Himmel stand. Suko atmete nicht auf. Er spürte auch keine Erleichterung, denn seine Gedanken drehten sich um den Jungen. Wenn er recht hatte, würde ihn das Monster vor seinen Augen verspeisen, bevor es sich ihm zuwandte. Als Suko daran dachte, bekam er das Würgen im Hals, und vom Magen stieg der bittere Geschmack hoch. Das Monstrum ging. Andere kamen. Suko spürte die Bewegungen im Netz. Die Fäden zuckten und vibrierten, was sich auch auf seinen gefangenen Körper übertrug. Jemand schien irgendwo auf die Fäden zu drücken, sie erst in Spannung zu versetzen, um sie dann wieder hochschnellen zu lassen. Die Spinne war es nicht. Sie hatte ihren mächtigen Körper gedreht und ihre. Fratze dem Jungen zugewandt. Wer war es dann? Suko wartete. Zum Glück konnte er den Kopf noch anheben. Zwar gefiel ihm diese Haltung nicht, weil sich die Muskeln in seinem Nacken spannten, doch in dieser Lage gelang es ihm, einen Teil der Netzfäden zu überblicken, die sich in Bodenhöhe dahinzogen. Dort bewegte sich etwas. Es gab da gewisse Wesen, die auf den Fäden balancierten wie ein Tänzer auf dem Seil. Nur waren es diesmal keine Menschen, die ihm zur Seite gestanden hätten, es waren ebenfalls Wesen, die er nicht zu seinen Freunden zählen konnte. Alraunen kamen. Die Wurzelbälger mit ihren unförmigen Gestalten schafften es tatsächlich mit einer gewissen Leichtigkeit, über die Fäden zu turnen. Sie alle hatten sich verwandelt. Sie hatten angedeutete Gesichter, zu denen natürlich auch die Mäuler gehörten, die mit kleinen, scharfen Zähnen ausgezackt waren. Sie gehörten zu der Riesenspinne, und Suko dachte an seinen Freund John Sinclair, der diese verdammte Spinne nachts im Fluß gesehen hatte. Für einen Moment wurde er durch Kellys dünne Stimme abgelenkt, als dieser fragte: »Bist du nicht die Prinzessin?« Damit hatte er wohl die Spinne gemeint, aber Suko konnte damit nichts anfangen. Er hatte verloren, und kleine, gierige Mordteufel warteten darauf, ihn zu töten. Er dachte an die drei verschwundenen Männer. Jetzt konnte er sich vorstellen, wie sie ums Leben gekommen waren. Wahrscheinlich würde man von ihm auch nichts mehr finden. Die schnellen Bewegungen der
Mäuler in den Alraunengestalten ließen darauf schließen, daß diese Erdmännchen verdammt hungrig waren. Sie kamen näher. Sie turnten geschickt über die Fäden hinweg, und seltsamerweise klebten sie daran nicht fest. Suko versuchte es noch einmal. Er gehörte nicht gerade zu den schwachen Menschen. Er drückte seinen Körper hoch, aber es blieb bei einem eher lächerlichen Versuch, denn sehr schnell prallte er wieder zurück und blieb auf dem weichen Boden liegen, umgeben vom Geruch des Grases und einiger fremder Blüten. Da war nichts zu machen… Dafür kam die Alraunen näher. Von verschiedenen Seiten turnten und balancierten sie auf den gefangenen Inspektor zu. Und alle waren hungrig… *** Der Schatten war über den Jungen gefallen, als wäre die Sonne urplötzlich hinter einer Wolke verschwunden. Er hörte sich selbst aufatmen, er spürte die Kühle und richtete seinen Blick so in die Höhe, daß er den Kopf der Spinne sehen konnte. Das Monstrum war sehr groß. Es überragte sogar noch den Busch, auf dessen Plattform Kelly lag. Er sah das Gesicht und wollte wissen, ob sie die Prinzessin war. Das Monstrum antwortete nicht. Statt dessen zog es sich zurück, als hätte die Frage es erschreckt. Der Schatten verschwand. Sonnenlicht verwandelte diesen Tag wieder in einen Alptraum-Sommer und brannte auf die Haut des halbnackten Jungen. Da war jemand gekommen, das wußte er auch. Er hatte erst fragen wollen, es dann gelassen und schließlich die Bewegungen an der Außenseite des Busches gespürt, doch erschienen war niemand. Wenig später war dieses Zischen erklungen. Auch der Busch hatte die Erschütterungen mitbekommen, für den Jungen blieben die Rätsel weiterhin bestehen. Wie sollte es weitergehen? Er holte sich seine Wunschträume zurück. Kelly schaute gegen die Sonne, die für ihn plötzlich zu einer Bühne wurde, auf der er eine feine Gestalt mit schwarzen Haaren sah, mit einer Kette aus Glocken um den Hals. Seine Prinzessin…
Plötzlich lächelte er und bewegte sich zum erstenmal stärker. Das andere hatte er vergessen, er richtete sich auf, um gegen die Sonne schauen zu können, wo sie wartete. Mit einer matten Bewegung hob er den rechten Arm, und ebenso matt winkte er ihr zu. Doch sie verschwand. Die Strahlen der Sonne lösten sie auf, dampften sie einfach weg, und das Trugbild blieb nur mehr in der Erinnerung des Jungen zurück. Er senkte den Kopf, schaute sich dabei in seiner Umgebung um und kam sich vor wie ein Vogel im Nest. Mit der Handfläche strich er über die warme Unterlage, die weich und trotzdem fest war, so daß er nie in Gefahr lief, durch- oder einzusacken. Nein, das war sie nicht gewesen. Er hatte umsonst gewartet. Es gab die Prinzessin hier nicht. Sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten, und seine Erinnerungen glitten zurück. Sie durchbrachen einen Nebel, der zwei Welten voneinander trennte. Er sah sich wieder in einem Wald, aber er fühlte, daß ihn nicht die menschliche Gestalt umgab. Sein Körper bestand aus etwas anderem, für das er keinen richtigen Namen hatte. Er war so knorrig, so hart, gleichzeitig aber weich und trotzdem beweglich. Helle Schatten glitten an ihm vorbei. Er hörte das Klingen von Glocken. Seine Nase nahm den Duft blühender Sommerblumen war. Er schaute in die Höhe und kam sich so klein vor. Dieser wunderbare Himmel war unendlich weit entfernt. Dann gerieten Schatten in sein Blickfeld, und ein Gesicht schaute auf ihn herab. Es war feingeschnitten, von dunklen Haaren umrahmt, hatte eine sehr helle Haut und unergründliche Augen. Es trug ein Kleid aus Nebelstreifen, und die Glocken der Kette klingelten bei jeder Bewegung. Ja, das war seine Prinzessin. So kannte und so liebte er sie, und er hörte sie sogar sprechen. Ihre Stimme klang wie das feine Streicheln des Windes, als sie sagte: »Schaut ihn euch an, ist er nicht wunderbar? Er ist Mandragoros Geheimnis, er ist die Wurzel, die lebt. Er ist der lebendige Beweis für manche Sage, die es auf der menschlichen Welt gibt.« »Willst du ihn nehmen?« Kelly wußte nicht, woher die Stimmen kamen. Es mußten sich noch andere Wesen nahe der Prinzessin aufhalten, doch er konnte sie nicht entdecken. »Nein, ich nehme ihn nicht.« »Bitte, für uns…« »Was soll ich…?«
»Man kann ihn richtig gern haben.« »Das habe ich auch!« »Dann hol ihn. Schau nur, wie er dich ansieht. Er hat sich in dich verliebt. Du mußt ihn mit zu uns nehmen, zu uns Elfen und Feen, wir werden auf ihn achtgeben…« »Meint ihr?« »Ja, ja, ja…« Die Stimmen klangen im Chor, und auch Kelly spürte in der Erinnerung, wie ihn das Gefühl einer wahnsinnigen Sehnsucht überkam, einer Liebe zu dieser Prinzessin, von der er immer wieder geträumt hatte… »Später, nicht jetzt!« Eine dumpfe Stimme unterbrach den Zauber des Augenblicks. »Ihr werdet ihn später nehmen.« »Wann denn?« »Irgendwann…« Aus dem Hintergrund löste sich eine Gestalt, die Kelly in der Erinnerung nur als Schatten wahrnahm. Sie war nicht konkret, sie wirkte wie ein Stück Natur, aber sie konnte reden, und er bekam ihre Pläne mit. »Er ist noch eine Alraune, aber ich werde dafür sorgen, daß er sich bald in einen Menschen verwandelt. Das kann hundert und mehr Jahre dauern. Ich allein bestimme den Zeitpunkt.« »Und warum du?« fragte die Gestalt. »Weil ich Mandragoro bin und genau weiß, daß seine Zeit erst später kommen wird, wenn die Menschen ihre Vernunft verloren haben und dabei sind, die Natur zu vernichten. Dann wird er eingreifen und zu schätzen wissen, wer und was er ist. Dann wird er mir mithelfen, unser Refugium zu verteidigen, und er wird es gelernt haben, sich den Menschen anzupassen, so daß er nicht mehr auffällt.« Kelly hatte sich dagegen wehren wollen, aufschreien und weglaufen, aber die Prinzessin gehorchte. Sie zog sich zurück. Ihr Bild verschwand, es war für ihn nur mehr eine Erinnerung. Er blinzelte mit den Augen, denn jetzt schaute er wieder in das grelle Licht der Sonne. Kelly war aus seinen Träumen erwacht. Die Vergangenheit existierte nur noch in der Erinnerung, und er dachte wieder daran, was er in der Zwischenzeit, als er zu einem Menschen geworden war, alles gelernt hatte. Die Kraft der Alraune steckte jedoch noch in ihm. Es war ihm nicht mehr möglich, die Erinnerungen zurückzuholen, und auch der Nebel hatte sich bei ihm gelichtet, denn nun mußte er sich wieder auf die Geräusche der realen Welt konzentrieren. Er hörte die Bewegungen der Riesenspinne, deren Kopf plötzlich bei ihm auftauchte.
Er schaute ihn an. Er sah ein gräßliches Maul, und trotzdem wollte er wissen, ob sie die Prinzessin war. Nein, das war sie nicht. Das konnte sie nicht sein. Sie war ein Feind, er spürte es deutlich. Etwas geschah mit seinem Körper. Das Blut hatte sich verändert. Er kam sich steifer vor als sonst, und als er mühsam einen Arm hob, um nach seinem Gesicht zu tasten, da spürte er wenig später nicht mehr die Glätte einer Kinderhaut. Spalten, Runzeln, dazwischen das harte, rauhe Holz. Er hatte sich verwandelt, er war zurückgekehrt in den Zustand, in dem er einmal geboren war. Kelly war wieder zu einer Alraune geworden. Zu einem Wesen aus dem Lande Aibon. Vor ihm hockte die Spinne. Ihr Maul stand weit offen. Tief in ihrem Schlund quoll ein grüngrauer Schleim, aus dem diese Spinnenabart ihr Netz wob. Sie würde ihn mitnehmen, doch der Junge wußte nicht, wer sie überhaupt war und was er ihr getan hatte. Kelly pendelte zwischen beiden Zuständen hin und her. Er wußte nicht mehr, ob er sich als Mensch oder als eine Alraune fühlen sollte. Mal war er das, mal das andere. Zerbrochen waren seine Träume von einer wunderschönen Prinzessin mit nachtschwarzen Haaren. Der Traum würde sich niemals in eine Realität verwandeln, auch wenn es eine starke Kraft geschafft hatte, Zeiten, Gestalten und Welten miteinander zu mischen, so daß sich alles auf ein geheimnisvolles Waldstück konzentrieren konnte, das nicht mehr für ihn als eine Erinnerung an das Land Aibon bleiben würde, an seine wunderbare Geburtsstätte. Aber er hatte Feinde. Die Spinne gehörte dazu. Und Kelly spürte genau, wie er sich zurückverwandelte. Er würde kein Mensch mehr bleiben. Die Menschen zerfielen, wenn sie tot und begraben waren, irgendwann zu Staub, er aber würde wieder zu einer Alraune werden, und damit war die einmalige Doppelexistenz aufgehoben. Die Spinne war da, um ihn zu holen. Ihr gehorchten auch die kleinen Alraunen in diesem Wald. Es war alles anders geworden, es war den Feinden gelungen, einzudringen. Alten Feinden. Gefährlichen Feinden. Nicht von dieser Welt, sondern aus der, die Kelly nur wundersam erlebt hatte. Ein Feind aus Aibon! Dieser Gedanke traf ihn wie ein Paukenschlag. Er brachte für einen Moment die Erinnerung wieder in sein allmählich starr werdendes Gehirn zurück.
Gab es nicht zwei Teile dieses wunderbaren Landes? Und hatte nicht immer der böse, der unheimliche Teil versucht, den anderen zu schlucken? Kelly erinnerte sich. Ein Name erschien vor seinem geistigen Auge. GUYWANO. Er war der Gegenpol, der Böse, der Dunkle. Ein mächtiger Druide, ein Schwarzmagier, der verbannt worden war, um die Qualen des ewigen Fegefeuers zu erleiden. Doch er hatte es geschafft, sich mit dem Grauen zu arrangieren und Helfer zu finden. Wie die Spinne! Der Junge bewegte seinen Mund. Er merkte sehr deutlich, wie schwer es ihm fiel, weil auch die Kiefer immer hölzerner wurden. Und die Verwandlung wollte einfach nicht aufhören. »Guywano…«, keuchte er, »hat dich Guywano geschickt…?« Das Maul klaffte noch weiter auf. Für einen Moment sah Kelly tief im Schlund einen Umriß. Ein kantiges, grünliches Gesicht mit kalten, bösen Augen. Eine Projektion des grauenvollen Herrschers. Ja, sie gehörte zu ihm. Und sie wollte nicht, daß Kelly überlebte, daß die andere Seite des Landes Aibon Fuß faßte. Der Junge wollte sich herumrollen, aber er war bereits zu sehr erstarrt. Dann hörte er das Zischen. Aus dem Schleim des Rachens löste sich ein Faden. So schnell, daß Kelly nichts dagegen tun konnte. In rasender Geschwindigkeit umwickelte er den Körper des Jungen wie ein unzerreißbares Band und preßte auch dessen Arme fest. Ein erstickt klingender Schrei drang aus dem Mund des Kindes. Es stemmte noch seine Hacken in die weiche Unterlage, doch es war ihm kein Erfolg beschieden. Aibons böse Kraft war stärker. Sie zog ihn auf das Maul der Spinne zu. Ein fast verholztes Wesen mit dem Körper eines Kindes, doch mit dem uralten Gesicht eines nahezu hundertjährigen Mannes… *** »Kommen Sie, Mr. Sinclair, kommen Sie schnell!« Mein Begleiter hatte es schrecklich eilig. Ich wunderte mich, woher der alte Mann die Kondition hatte, schließlich hatte er uns schon über den Fluß gerudert, und wir waren dann gemeinsam in einen so feuchten und fremden Wald eingetaucht, in dem die Hitze wie ein gewaltiges Polster lag und uns mit einem regelrechten Dunstschleier umgab.
O’Hara kannte sich aus. Er wußte, welchen Weg wir zu nehmen hatten, und er trieb mich immer wieder voran. »Was ist los? Warum…?« »Fragen Sie nicht, Sinclair.« »Kann es zu spät sein?« »Ja, verdammt!« Es war seine letzte Antwort, die ich von ihm bekam. Nun kümmerte er sich nur um den Weg, und der war schwierig genug, weil die Natur zahlreiche Hindernisse aufgebaut hatte, die aus gefallenen und quer liegenden Bäumen ebenso bestanden wie aus dichtem Gestrüpp, das manchmal dick wie eine Wand wirkte. Wir hetzten weiter, und die verdammte Hitze setzte mir zu. Ich hatte mehr als einmal den Eindruck, durch eine schwülfeuchte Waschküche zu laufen. Patrick O’Hara ließ sich durch nichts aufhalten. Er stampfte weiter, er keuchte dabei. Manchmal bewegte er seine Arme wie Windmühlenflügel, dann wieder wie Dreschflegel, wenn er irgendwelche Hindernisse aus dem Weg räumte. Das Waldgebiet war ziemlich groß. Ich bewunderte O’Haras Zielstrebigkeit, mit der er sich voranbewegte. Er schien genau zu wissen, wo unser Ziel lag, und ich hatte tatsächlich Mühe, ihm auch auf den Fersen zu bleiben. Einmal rutschte er weg. Ich fing ihn ab, er bedankte sich keuchend und drückte seinen Rücken dann gegen einen mit Moos bewachsenen Baumstamm. Er atmete keuchend mit offenem Mund. Eine Hand hielt er auf seine linke Brustseite gepreßt. Um die hervorquellenden Augen herum zeichnete sich ein Muster aus malvenfarbenen Äderchen ab. »Was haben Sie, O’Hara?« »Ich… ich spüre es.« »Wen oder was?« »Die andere Kraft, die zweite Macht aus diesem Land. Die Gegenseite. Das müssen Sie doch auch wissen, Sinclair, wenn Sie Aibon kennen, oder etwa nicht?« »Guywano?« »Jaaa…«, röchelte er mich an. »Ja, verdammt. Guywano. Er und kein anderer. Er will es nicht. Er hat es damals torpediert, das weiß ich. Und er wird nicht aufgeben. Das Böse in Aibon soll stärker werden, nicht das Gute…« »Ist es so?« »Ich… ich hoffe nicht.« Er gab sich einen Ruck. »Sinclair, wir müssen weiter, schnell!« Ich hielt ihn an der Schulter fest. »Wohin, O’Hara? Wo liegt unser Ziel? Sagen Sie es mir wenigstens.«
Mit einer erschöpften Bewegung schaffte er eine halbe Drehung und streckte anschließend seinen Arm vor. »Nicht mehr weit«, keuchte er. »Es ist nicht mehr weit… wirklich nicht. Sie… sie müssen hingehen, wo das Licht strahlt. In die Sonne, Sinclair, in die Sonne.« Er starrte mich an, und dabei zuckte sein Gesicht, bevor es so seltsam bläulich anlief. Seine Augen öffneten sich noch weiter. Die Zunge schnellte plötzlich aus dem Mund, und er brachte seine nächsten Worte nur mühsam über die Lippen. »Laufen Sie, Sinclair, laufen Sie zum Licht.! Vielleicht… vielleicht können sie ihn noch retten. Töten Sie das Monstrum, die Spinne… sie ist… Guywano hat sie…« Seine Worte rissen ab. Er wurde plötzlich schwer in meinem Griff. Ich hielt ihn noch immer fest, aber ich merkte Sekunden später, daß ich einen Toten stützte. Es war zuviel für Patrick O’Hara gewesen. Sein Herz war dieser Belastung nicht mehr gewachsen. Behutsam ließ ich den Mann zu Boden gleiten. Er lag im weichen Gras, wo ich ihm die Augen schloß. Dann hielt mich nichts mehr… *** Böse Alraunen, haßerfüllte kleine Galgen- oder Wurzelmännchen näherten sich dem gefangenen Suko, der nur ihre Körper mit den bösen, flachen Gesichtern anzusehen brauchte, um zu wissen, daß sie ihm nicht den Hauch einer Chance lassen würden. Vier kleine Mörder. Ein Quartett aus Wurzelbälgern würde ihn mit Hilfe der Spinne vernichten. Und es würde ein langsamer Tod werden, das stand für Suko fest. Er dachte an die drei verschwundenen Männer. Auch sie mußten auf die gleiche Weise ums Leben gekommen sein. Zurückgeblieben war dann nichts von ihnen. Suko schwitzte, als hätte man ihn mit Wasser übergossen. Sein eigener Körpergeruch vermischte sich mit dem Duft der Sommerblumen, und er hörte das Summen der Insekten in seiner Nähe wie eine irre Musik. Mit jeder Sekunde, die verstrich, sanken seine Chancen immer mehr. Auch wenn er sich bewegte, die Arme bekam er nicht frei, er konnte nur seinen Oberkörper von einer Seite auf die andere rucken. Manchmal dachte er auch an den Jungen. Was mit ihm geschah, bekam er nicht direkt mit. Da mußte er sich schon auf den Schatten der Spinne verlassen, der schräg über ihm aufgetaucht war und sich auf die Mitte dieses Gebüschnetzes zubewegte. Er brauchte nur an das widerliche Maul zu denken, um zu wissen, was die Spinne vorhatte. Gnade kannte sie nicht.
Aber auch nicht die Alraunen. Die erste war Suko so nahe gekommen, daß sie ihn mit einem Sprung erreichte. Sie löste sich mit einer geschmeidigen Bewegung von ihrem Faden und landete auf der Brust des Inspektors, dicht unter dessen Kinn. Sie war so nahe bei ihm, daß er ihren Geruch wahrnehmen konnte. Die Alraune roch nach Erde und Holz, aber auch nach altem, stockigen Blut, das in ihr floß. Ihr Maul hatte sie verzogen, so daß es einen nach unten gekippten Halbmond bildete, damit die kleinen, spitzen Zähne entblößt waren, die Suko schon an das Blatt einer Säge erinnerten. Damit konnte sie zubeißen. Und sie biß zu. Suko fluchte, als die Zähne sich in seinem Hemd verhakten und an dem Stoff rissen, bevor sich das Maul von einer Seite zur anderen bewegte und dabei tatsächlich die Funktion einer Säge annahm. Gleichzeitig sprangen zwei andere Alraunen auf seine dicht an den Körper gedrückten Arme, um dort mit dem gleichen Werk beginnen zu können. Sie fingen an zu nagen und behielten ihre Plätze bei, obwohl sich Suko ruckartig bewegte. Dann hörte er einen Schrei. Kelly hatte ihn ausgestoßen. Es mußte der Moment sein, wo der Junge im Rachen der Monsterspinne verschwand. Und dann fiel ein Schuß! *** Kelly brüllte seine Not hinaus. Dicht vor sich sah er den Rachen. Er bildete den Eingang zu einer anderen Welt, in der es brodelte und kochte, wobei ein Licht entstand, das wie ein orangefarbenes Feuer zuckte und an den Innenwänden in die Höhe glitt. Die Spinne würde ihn schlucken, fressen und verdauen. Von ihm würde nichts mehr zurückbleiben. Guywano hatte gewonnen, seine Welt trug den Sieg davon. »Es gibt keine Prinzessin«, flüsterte Kelly. »Nein, es gibt sie nicht…« Dann schrie er noch einmal, bevor er in den Schlund der verdammten Riesenspinne eintauchte… *** Ich sah das Monster und war entsetzt. Ein riesiger widerlicher, schwarz behaarter Spinnenkörper, der auf hohen Beinen stand und sein ›Gesicht‹ dorthin gerichtet hatte, wo ein großer
Strauch oder Busch an seinem oberen Ende eine flache Mulde oder Plattform bildete, auf der Kelly seinen Platz gefunden hatte. Er befand sich in Lebensgefahr. Ich hatte ihn bereits schreien gehört, war aber noch zu weit entfernt gewesen. Jetzt stand ich nahe der Spinne, schaute mich kurz um und glaubte, links von mir den Körper meines Freundes Suko auf dem Boden regungslos liegen zu sehen. Bevor ich mich darum kümmern konnte, hörte ich abermals einen Schrei. Diesmal so schlimm und gellend, daß er den Begriff Todesschrei verdiente. Da zog ich die Waffe. Ich schoß auf den Spinnenkörper! Die geweihte Silberkugel jagte in einem schrägen Winkel von unten nach oben in die Unterseite des Spinnenkörpers, durchschlug ihn, und die Spinne zuckte plötzlich in die Höhe. Ich konnte nicht davon ausgehen, daß die verfluchte Spinne vernichtet war, auch eine geweihte Silberkugel ist kein Allheilmittel. Ich hoffte nur, daß ich das Monstrum so weit verunsichert oder verletzt hatte, daß es von seinem Vorhaben abließ. Deshalb schoß ich noch einmal. Etwas spritzte dort auseinander, wo die Kugel getroffen hatte. Eine dicke Flüssigkeit fiel in schweren Tropfen nach unten. Ich wollte nicht getroffen werden, huschte zur Seite und sah dabei, daß sich die Spinne ebenfalls bewegte. Sie zuckte dabei herum. Ihr Vorderteil bewegte sich, etwas fiel aus dem Maul, und als dieser Gegenstand zu Boden fiel, sah ich, daß es der Junge war. Um ihn konnte ich mich nicht kümmern, weil die Spinne sich drehte und ihren neuen Gegner suchte. Ich war schneller als sie. Diesmal nahm ich den Dolch. Schon gegen die Alraunen hatte er mir gute Dienste erwiesen. Diesmal umfaßte ich seinen Griff mit beiden Händen und setzte ihn ein wie ein Schwert. Mein Ziel waren die Beine der Spinne. Diese dürren, aber starken Stelzen, die auf den Boden stampften und sich zuckend in meiner Nähe bewegten. Ich schlug zu. Mein Dolch hieb immer wieder gegen die Beine. Sie knickten ein, dann splitterten sie, ich empfand das dabei entstehende Knacken wie Musik in meinen Ohren. Die Spinne taumelte.
Sie bewegte sich jetzt im Kreis, sie sackte ein. Ich hämmerte weiter zu und mußte achtgeben, daß mich der schwere Körper, wenn er fiel, nicht erdrückte. Meine Arme bewegten sich rasend. Mir flogen Beinsplitter um die Ohren. Ich hörte die Spinne fauchen. Aus ihrem Maul schossen Fäden. Sie kamen mir vor wie schnelle Kondensstreifen, die schräg in die Luft jagten und irgendwo im Astwerk entfernt wachsender Bäume hängenblieben. Dann fiel sie. Der Körper bewegte sich nach links. Hastig lief ich ein paar Schritte zurück und mußte noch springen, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Zwei Beine hatte die Riesenspinne verloren. Sie lag in einer steifen Haltung auf der Seite, bewegte ihre restlichen Beine, wühlte damit den Boden auf, und sie drehte auch den Kopf in meine Richtung, weil sie endlich ausgemacht hatte, wo ich stand. Und ich blieb stehen. Die Mündung der Beretta zielte dabei gegen das Maul. Ich kümmerte mich nicht um den in meine Augen rinnenden Schweiß, ich drückte dreimal ab und jagte die Kugeln in den Schlund. Starb sie? Der Monsterkopf bewegte sich hin und her. Er ruckte hoch, und plötzlich explodierte sie in einer zeitlupenhaften Bewegung. Eine Mischung aus Rauch und zertrümmerten Körperteilen jagte in die Höhe. Begleitet von einem Zischen, dann sackte der Rest zusammen und löste sich in einer stinkenden Wolke auf. Das bekam ich mehr am Rande mit, denn ich war bereits auf dem Weg zu Kelly… *** Suko hatte die Beretta am Klang erkannt. Plötzlich war die Hoffnung wieder da, trotz der Alraunen, die ihn fressen wollten. Sie aber machten weiter. Suko spürte bereits an einigen Stellen ihre Zähne auf der Haut, die wie scharfe Sägen darüber hinwegglitten. Noch trat kein Blut hervor. Die nächsten Bisse würden nicht so glimpflich ablaufen. Wieder hörte er Schüsse. Danach ein Krachen, keine Schreie, dafür wölkte eine mächtige Rauchwolke auf. Und plötzlich kippten die Alraunen weg. Sie fielen von seinem Körper. Wo sie gestanden hatten, blieben sie als klobige Wurzeln im Gras liegen,
und ihre Gesichtszüge verschwanden, als wären sie von einem Radiergummi ausgelöscht worden. Die Fäden faulten weg. Sie ringelten sich zusammen wie ölig glänzende Lianen, zuckten noch einmal durch den Grasteppich und blieben dann liegen. Suko war nicht mehr gefesselt. Er brauchte kaum Kraft, um sich aufzurichten. Er saß auf dem weichen Boden und suchte seinen Freund Sinclair, der im richtigen Augenblick gekommen war. Der aber war verschwunden. *** Ich stand vor einem Toten! Dabei wußte ich nicht einmal, ob man Kelly als tot bezeichnen konnte, weil er im eigentlichen Sinne kein Mensch gewesen war. Vor mir lag ein Körper mit zwar menschlichen Umrissen, aber eigentlich war er mehr eine Alraune. Er hatte sich wieder zurückverwandelt. Die erste Verbindung zwischen einem Menschen und einer Alraune existierte nicht mehr. Es war ein Versuch gewisser Kräfte gewesen, etwas für die Rettung der Natur zu tun, aber das hatte nicht geklappt. Die andere Seite des Landes Aibon war stärker gewesen. So hatten sich in dieser Welt die beiden anderen Hälften des Landes Aibon bekämpft, und wir waren zwischen die Mühlsteine geraten. Ich hörte Schritte. »Bleib ruhig sitzen«, sagte Suko, der herangehumpelt kam. Er sah ziemlich ramponiert aus. Jemand hatte seine Kleidung an verschiedenen Stellen zerfetzt. Da schimmerte dann die Haut durch, aber auch sie war mit blutigen Striemen gezeichnet. Er würde mir schon erzählen, was passiert war. Zunächst blieb er neben mir stehen und starrte in das Gesicht der Alraune. Es war alt, sehr alt. Runzeln, Falten, Kerben, als wäre es unter die Hand eines Schnitzers geraten, wie auch der übrige Körper, der als Alraune ebenfalls gealtert war. »Kelly wird nie mehr seine Prinzessin finden«, flüsterte Suko, und ich sah, wie er schluckte. »Ja, es ist vorbei.« Ich stand auf, schaute in die Runde. Trotz der Hitze fröstelte ich. Als ich Suko vom Tod des Großvaters berichtete, schüttelte mein Freund den Kopf. »Und was haben wir erreicht, John?« Ich fuhr mit dem Zeigefinger in meinen Kragen und über den fettig wirkenden Hals. »Ich weiß es nicht, Alter. Wir können nur hoffen, daß alles so bleibt, wie es ist.«
»Daß also nicht gebaut wird?« »Richtig.« »Und wie willst du Sir James die drei Toten erklären? Ich meine, wir haben den Fall irgendwie ja nicht aufgeklärt.« »Er wird es begreifen.« »Und diese Baufirma…?« Ich hob die Schultern und schaute gegen die Sonne. »Das soll unsere Sorge nicht sein, Suko…«
ENDE